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German Pages 722 Year 2010
Historische Forschungen Band 93
Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz Justizkritik – politische Strafrechtsprechung – Justizpolitik
Von Uwe Wilhelm
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
UWE WILHELM
Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz
Historische Forschungen Band 93
Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz Justizkritik – politische Strafrechtsprechung – Justizpolitik
Von Uwe Wilhelm
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Habilitationsschrift angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-12972-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2006 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg / Brsg. als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde der Text übersichtlicher gegliedert, an verschiedenen Stellen erweitert und bibliographisch ergänzt. Die leitenden Fragestellungen, der grundsätzliche Aufbau und die wesentlichen Ergebnisse der Studie blieben hiervon unberührt. Das Manuskript wurde im Frühjahr 2008 abgeschlossen, so daß später erschienene Literatur nicht mehr berücksichtigt werden konnte. An dieser Stelle entspricht es guter Tradition, Dank zu sagen. Hier muß zuallererst mein wissenschaftlicher Lehrer, Herr Prof. Dr. Hans Fenske, genannt werden, der die Untersuchung ursprünglich angeregt hat und auf dessen fachliche Betreuung, aber auch menschliches Wohlwollen ich mich während der langen, von Wendungen nicht freien Auseinandersetzung mit dem Thema stets verlassen konnte. Dafür bin ich ihm – weit über das Wissenschaftliche hinaus – zu großem Dank verpflichtet. Nach Prof. Fenskes Emeritierung hat seine Freiburger Nachfolgerin, Frau Prof. Dr. Sylvia Paletschek, die Betreuung der Arbeit bereitwillig übernommen und mir auch während des Habilitationsverfahrens mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Auch hierfür möchte ich mich herzlich bedanken. Der „Wissenschaftlichen Gesellschaft“ am Ort habe ich für den großzügigen Kostenzuschuß zu danken, den sie mir für einen längeren Archivaufenthalt in Berlin gewährt hat. Gedankt sei ferner dem Geschäftsführer des Verlags Duncker & Humblot, Herrn Dr. Florian R. Simon, für die Aufnahme der Schrift in die „Historischen Forschungen“ sowie Frau Heike Frank für die sorgfältige Betreuung der Drucklegung. Widmen möchte ich die Arbeit meiner lieben Frau Sabina, die mir auf jede nur erdenkliche Weise „den Rücken freigehalten“ hat, deren Geduld ich aber dennoch mehr als einmal arg strapaziert habe. Freiburg / Brsg., im Herbst 2009
Uwe Wilhelm
Inhaltsverzeichnis Einleitung
15
1. Recht und Justiz im 19. Jahrhundert – eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
2. Thema und Konzeption der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
3. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Erster Teil Grundlagen des Rechts- und Justizsystems und Themenkreise der Justizkritik (1848 / 49 – 1878 / 79)
35
A. Von der Revolution 1848 / 49 bis zum Norddeutschen Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
I. Gerichtsverfassung und Verfahrensstruktur (Strafrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
1. Die Justizreform in Preußen und Bayern im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
2. Dimensionen des Schwurgerichtsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
a) Die Jury als politische Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
b) Die Jury als Rechtsinstitut und das Schöffengericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
3. Das Institut der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
4. Der Aufbau des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
II. Die Justiz im Verwaltungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
III. Die Ausbildungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
IV. Die politische Strafrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
1. Die Epoche der Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
2. Die Zeit des preußischen Verfassungskonflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Exkurs: Bismarck und die Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 V. Die 50er und 60er Jahre: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 B. Vom Norddeutschen Bund bis zur Reichsjustizreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 I. Die Reichsjustizreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Die Strafgerichte in der Fachdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
8
Inhaltsverzeichnis 2. Grundprobleme und Resultate der Gesetzgebung (Gerichtsverfassung und Strafprozeß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Aufbau und Kompetenzen der Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Die Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 c) Aspekte des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 d) Richteramt – Gerichtssprache – Reichsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 e) Zusammenfassung und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Die Ausbildungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4. Die Reichsjustizreform in Preußen und Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Das materielle Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Das Reichsstrafgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Die StGB-Novelle von 1876 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 III. Das Presserecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 IV. Das Koalitionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 V. Die Grundlagengesetze der „liberalen Ära“ – abschließende Bemerkungen . . . 169 VI. Die politische Strafrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Überblick und Einzelvorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2. Der Kulturkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3. Sozialdemokratie und Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 VII. Systematische Kritiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 VIII. Die „liberale Ära“: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Zweiter Teil Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900)
219
A. Die 80er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 I. Gerichtsverfassung und Verfahrensstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 1. Strafgerichte und Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 a) Schwerpunkte der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 b) Die Strafprozeßnovelle von 1885 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Das Zivilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 a) Struktur und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 b) Die Kostenproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 3. Die neuen Prozeßordnungen in der Praxis – ein kurzer Vergleich . . . . . . . . . . 268
Inhaltsverzeichnis
9
II. Die politische Strafrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1. Überblick und Einzelvorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2. Sozialistengesetz und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 III. Presse und Reichstag als Multiplikatoren der Kritik – zwei Beispiele . . . . . . . . . 299 IV. Allgemeine Probleme der Strafjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 V. Die Ausbildungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 VI. Die 80er Jahre: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 B. Die 90er Jahre: „Vertrauenskrise“ der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 I. Übergang zur allgemeinen „Vertrauenskrise“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 II. Die Strafrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 1. Die politische Strafrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 a) Preußen und das Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 b) Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 c) Bürgerliche Urteile über die politische Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 2. „Formalismus“ in der Strafrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 III. Strukturprobleme der preußischen Justiz und Richterkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 IV. Gerichtsverfassung und Verfahrensstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 1. Der Zivilrechtsbereich: Sondergerichte und Zivilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 419 2. Strafgerichte und Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 a) Schwerpunkte der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 b) Die Strafprozeßnovellen von 1894 und 1895 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 V. Die 90er Jahre: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
Dritter Teil Kritik und Reform (1900 – 1914)
479
I. Der Strafrechtsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 1. Die politische Strafrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 2. Der Vorwurf der Klassenjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 3. Die Strafrechtsnovelle von 1912 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 4. Der Versuch einer „großen“ Strafprozeßreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 a) Die Anfänge bis 1905 / 06 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 b) Im Umkreis der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
10
Inhaltsverzeichnis c) Fortgang und Scheitern der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 d) Zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 II. Der Zivilrechtsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 1. Der Weltfremdheitsvorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 2. Zivilverfahren und Sondergerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 3. Die Methodendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 III. Der Ausbildungskomplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 IV. Die Richterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 V. Börngen, Deinhardt und der Verein „Recht und Wirtschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 VI. Das neue Jahrhundert: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634
Resümee: Probleme der Justiz, Öffentlichkeit und politisches System im kaiserlichen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 A. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 B. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 C. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715
Abkürzungsverzeichnis AA
Auswärtiges Amt
AcP
Archiv für die civilistische Praxis (Tübingen 1818 ff.)
ADAV
Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein (Lassalleaner)
AE
Allerhöchster Erlaß
AfS
Archiv für Sozialgeschichte
AG
Amtsgericht
AH
Abgeordnetenhaus (Preußen)
ALR
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten
Anl.
Anlage(n)
AO
Allerhöchste Ordre
AR
Amtsrichter
AV
Allgemeine Verfügung
BA
Bundesarchiv (Abteilung Lichterfelde)
Beil.
Beilage(n)
Bek.
Bekanntmachung
BR
Bundesrat
DHV
Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Verband
DJT
Deutscher Juristentag
DJZ
Deutsche Juristen-Zeitung (Berlin 1896 ff.)
DRB
Deutscher Richterbund
Drks.
Drucksache
DVP
Deutsche Volkspartei
DRZ
Deutsche Richterzeitung (Berlin 1909 ff.)
EG
Einführungsgesetz
Entsch.
Entscheidungen (des Reichsgerichts)
Entschl.
Entschließung
FM
Finanzminister(ium)
FS
Festschrift
FsVg
Freisinnige Vereinigung (1893 – 1910)
FsVP
Freisinnige Volkspartei (1893 – 1910)
FVP
Fortschrittliche Volkspartei (seit 1910)
FZ
Frankfurter Zeitung (Frankfurt 1866 ff.)
GA
Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (Berlin 1853 ff.)
12
Abkürzungsverzeichnis
GBl
Gesetzblatt
Ger.Ass.
Gerichtsassessor
GerS
Der Gerichtssaal (Stuttgart 1849 ff.)
GG
Geschichte und Gesellschaft
GGG
Gewerbegerichtsgesetz
GKG
Gerichtskostengesetz
GO
Gewerbeordnung
GRUR
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Berlin 1896 ff.)
GS
Gesetzsammlung
GStA
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin-Dahlem)
GVBl
Gesetz- und Verordnungsblatt
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
GW
Gesammelte Werke Bismarcks (Friedrichsruher Ausgabe)
GWU
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
HGB
Handelsgesetzbuch
HH
Herrenhaus (Preußen)
HJb
Historisches Jahrbuch
HPBl
Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland (München 1838 ff.)
HStA
Bayerisches Hauptstaatsarchiv (München)
HZ
Historische Zeitschrift
IKV
Internationale Kriminalistische Vereinigung
IM
Innenminister(ium)
JA
Justizausschuß (des Bundesrats)
JAG
Justizausbildungsgesetz
JK
Justizkommission (des Reichstags)
JM
Justizminister(ium)
JMBl
Justiz-Ministerialblatt (Preußen: 1839 ff.; Bayern: 1863 ff.)
JPK
Justizprüfungskommission (Berlin)
JR
Justizrat
JuS
Juristische Schulung
JW
Juristische Wochenschrift (Berlin 1872 ff.)
K
konservativ / Deutsch-Konservative Partei
KdA
Kammer der Abgeordneten (Bayern, Württemberg)
KdR
Kammer der Reichsräte (Bayern)
KG
Kammergericht (Berlin)
KM
Kultusminister(ium)
KO
Konkursordnung
KrSt
Kriminalstatistik für das Deutsche Reich (Berlin 1884 ff.)
KV
Kölnische Volkszeitung (Köln 1869 ff.)
KZ
Kölnische Zeitung (Köln 1802 / 03 ff.)
Abkürzungsverzeichnis Leg.
Legislaturperiode
LG
Landgericht
LR
Landrichter
LV
Liberale Vereinigung (Bayern)
MdA
Mitglied des Abgeordnetenhauses (Preußen)
MdR
Mitglied des Reichstags
Mitt.
Mitteilungen
MNN
Münchner Neueste Nachrichten (München 1887 ff.)
MP
Ministerpräsident
MuW
Markenschutz und Wettbewerb (Berlin 1905 / 06 ff.)
NAZ
Norddeutsche Allgemeine Zeitung (Berlin 1861 ff.)
NFA
Neue Friedrichsruher Ausgabe
NL
nationalliberal / Nationalliberale Partei
NPL
Neue politische Literatur
NZ
National-Zeitung (Berlin 1848 ff.)
OAR
Oberamtsrichter
OJR
Oberjustizrat
OLG
Oberlandesgericht
OStA
Oberstaatsanwalt(schaft)
OT
Obertribunal (Preußen)
OVG
Oberverwaltungsgericht
PA
Patentanwalt
PD
Privatdozent
PJ
Preußische Jahrbücher (Berlin 1858 ff.)
Präs.
Präsident
Prot.
Protokoll
RA
Rechtsanwalt
RAO
Rechtsanwaltsordnung
RBl
Regierungsblatt
Rez.
Rezension
RG
Reichsgericht
RGBl
Reichsgesetzblatt
RJA
Reichsjustizamt
RJK
Reichsjustizkommission (1875 / 76)
RK
Reichskanzler
RP
Reichspartei
RPG
Reichspressegesetz
RStGB
Reichsstrafgesetzbuch
RStPO
Reichsstrafprozeßordnung
RT
Reichstag
13
14
Abkürzungsverzeichnis
RV
Rundverfügung
SAP
Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Eisenacher)
SAPD
Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (Gothaer)
Sess.
Session
SG
Sozialistengesetz
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
StA
Staatsanwalt(schaft)
Sten. Ber.
Stenographische Berichte
StGB
Strafgesetzbuch
StM
Staatsministerium (Preußen)
StPO
Strafprozeßordnung
Tab.
Tabelle
Übers.
Übersicht(en)
UWG
Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs
Verh.
Verhandlungen
Verz.
Verzeichnis
Vfg.
Verfügung
VO
Verordnung
Vors.
Vorsitzender
VZ
Volks-Zeitung (Berlin 1853 ff.)
Z
Zentrum
ZBLG
Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
ZGO
Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins
ZNR
Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte
ZR
Zirkularreskript
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Berlin / Leipzig 1881 ff.)
ZZP
Zeitschrift für deutschen Civilprozess (Berlin 1879 ff.)
Einleitung 1. Recht und Justiz im 19. Jahrhundert – eine Skizze Nicht nur in rechtsgeschichtlichen Darstellungen wird das 19. Jahrhundert häufig als „juristisches“ Jahrhundert charakterisiert. Das Beiwort kennzeichnet die Bedeutung, die Recht und Justiz für die Geschichte des Zeitalters besaßen. Diese geht in erster Linie auf die Tatsache zurück, daß das moderne Rechts- und Justizsystem im Laufe des Jahrhunderts zum Durchbruch gelangte. Der Modernisierungsprozeß umfaßte den Erlaß von Verfassungen (im heute geläufigen Sinn), die Verselbständigung der Judikative, die Gerichtsverfassung, das materielle Recht und die Verfahrensrechte, betraf aber ebenso die juristischen Professionen und den juristischen Ausbildungsgang. Zugleich stieg das Recht zum zentralen Steuerungsinstrument einer zunehmend komplexeren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität auf. Parallel dazu wurden die Rechtsmaterien stetig weiter ausdifferenziert. Für den deutschen Bereich läßt sich die Bedeutung des „Juridischen“ vor allem an vier Faktoren ablesen: der Tendenz zur Verrechtlichung immer größerer Lebensbereiche, der Rolle des Juristenstandes, der inneren Umstrukturierung und durchgreifenden Verwissenschaftlichung des Rechtsstoffes sowie dem hohen Rechtsbewußtsein der Bevölkerung. Sie sollen im folgenden mit einigen kurzen Strichen skizziert werden1. Der mit dem – schillernden, vieldeutigen und meist kritisch-pejorativ gemeinten – Begriff „Verrechtlichung“ umschriebene Prozeß reicht weit in die Frühe Neuzeit zurück (seine Anfänge sind in den Jahrzehnten der Reichsreform, also an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zu suchen), erfuhr im 19. Jahrhundert aber seinen entscheidenden, bis heute anhaltenden Dynamisierungsschub2. Als promi1 Wertvolle Hinweise verdankt die folgende Einführung den beiden gedankenreichen Skizzen von Chr. Dipper, Stationen der Verrechtlichung und Professionalisierung in Deutschland und Italien, in: ders. (Hg.), Rechtskultur, Rechtswissenschaft, Rechtsberufe im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 13 – 28 sowie L. Raphael, Rechtskultur, Verrechtlichung, Professionalisierung, in: ebd., S. 29 – 48. 2 Zur interdisziplinären Diskussion: R. Voigt, Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, in: ders. (Hg.), Verrechtlichung, Königstein / Ts. 1980, S. 15 – 37; J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt / M. 1981, S. 522 – 547; G. Teubner, Verrechtlichung – Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege, in: Fr. Kübler (Hg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, Baden-Baden 1984, S. 289 – 344; M. Bock, Recht ohne Maß, Berlin 1988; ders., Die Eigendynamik der Verrechtlichung in der modernen Gesellschaft, in: E.-J. Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, Frankfurt / M. 1997, S. 403 – 428.
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nentester Teil darf die Verwirklichung des Rechtsstaates gelten, über weite Strekken identisch mit derjenigen des modernen Verfassungsstaats. Legt man einen umfassenden Rechtsstaatsbegriff zugrunde (Garantie der Menschenrechte, Gewaltenteilung, Volkssouveränität, demokratische Willensbildung, Gesetzesprinzip einschließlich Bestimmtheitsgebot und Rückwirkungsverbot, Rechtsgleichheit und Rechtsschutz der Bürger, Unabhängigkeit der Rechtspflege, Gesetzesbindung des Richters, rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien, Verhältnismäßigkeitsprinzip, Trennung von Justiz und Verwaltung, Rechtmäßigkeit der Verwaltung, Verfassungsund Verwaltungsgerichtsbarkeit – die Liste ließe sich noch verlängern), so wurzeln seine einzelnen Elemente zwar in unterschiedlichen historischen Schichten, verbanden sich im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch zu einem rechtspolitischen Programm von großer Wirksamkeit und universaler Ausstrahlungskraft3. Für Deutschland sind die konkreten Ursprünge im friderizianischen Preußen und im josephinischen Österreich zu suchen. Bereits das aufgeklärt-absolutistische Preußen, um sich auf das hier interessierende Beispiel zu beschränken, erfüllte wesentliche Bedingungen moderner Rechtsstaatlichkeit. Zu nennen wären sein Charakter als Gesetzesstaat (unter der Bedingung einer staatszweckorientierten Gesetzgebung), die Gleichheit vor dem Gericht (wohlgemerkt: nicht vor dem Recht, dies hätte der sozialständischen Gliederung der Gesellschaft widersprochen), die relative Unabhängigkeit der Justiz (Verzicht auf königliche Machtsprüche), die Gewährleistung eines (freilich ungesicherten) Raums „bürgerlicher Freiheit“, das absolute Rückwirkungsverbot neuer Gesetze (Allgemeines Landrecht von 1794, Einleitung, § 14)4. Mit dem vielzitierten „il y a des juges à Berlin“, ursprünglich bezogen auf den berühmten Müller-Arnold-Fall, erlangte die in Preußen herrschende Rechtssicherheit geradezu sprichwörtliche Qualität5. Seine philosophische Grundlegung erfuhr der Rechtsstaatsbegriff dann durch Kant, der Terminus selbst entstammt der staatsrechtlichen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts (Welcker 1813, v. Aretin 1824, Mohl 1829)6. Konstitutionell mündete die Entwick3 Zum Begriff des Rechtsstaats: E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: H. Ehmke u. a. (Hg.), FS Arndt, Frankfurt / M. 1969, S. 53 – 76; E. Sarcevic, Begriff und Theorie des Rechtsstaats (in der deutschen Staats- und Rechtsphilosophie) vom aufgeklärten Liberalismus bis zum Nationalsozialismus, Saarbrücken 1991; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Berlin 2006 (systematische Grundlegung). 4 Vgl. H. Conrad, Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, Köln 1961; E. Schmidt, Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates, Berlin 1980; D. Willoweit, War das Königreich Preußen ein Rechtsstaat?, in: D. Schwab u. a. (Hg.), FS Mikat, Berlin 1989, S. 451 – 464. 5 Die Sentenz findet sich erstmals in dem 1799 verfaßten Gedicht „Le Meunier de Sans Souci“ von Francois Guillaume Jean Stanislaus Andrieux; zum Hintergrund: M. Dießelhorst, Die Prozesse des Müllers Arnold und das Eingreifen Friedrichs des Großen, in: K. Luig / D. Liebs (Hg.), Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition, Ebelsbach 1980, S. 335 – 369. 6 Vgl. Böckenförde, S. 54 – 57; zu Kant: W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 3. Aufl., Paderborn 2007.
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lung – über verschiedene Zwischenstufen hinweg – in die preußische Verfassung vom 31. 1. 1850, welche die Unabhängigkeit der Judikative garantierte, auch wenn eine Reihe von Lücken bestehen blieben. Daß es sich beim Deutschen Reich von 1871 – von seiner Rechtsverfassung her – um einen voll ausgebildeten Rechtsstaat handelte, gilt in der Forschung weithin als unbestritten7. Zum Prozeß der Verrechtlichung gehört ferner die kontinuierliche Zunahme von Gesetzen und Verordnungen, ein uns heute völlig geläufiges Phänomen. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Entwicklung zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der preußisch-rheinbündischen Reformen, äußerlich ablesbar an den überall entstehenden Regierungs- und Gesetzesblättern. Im Kaiserreich erfuhr die „Normenflut“ gleich eine doppelte Steigerung, und zwar zum einen durch die Notwendigkeit, die Rechts- und Lebensverhältnisse in den 25 Gliedstaaten normativ zu vereinheitlichen (sog. „innere Reichsgründung“ – für den hier interessierenden Zusammenhang sind vor allem das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, die Reichsjustizgesetze von 1879 sowie das BGB von Bedeutung), zum anderen durch den Übergang zum modernen Interventionsstaat, einsetzend mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung in den 1880er Jahren. Ein dritter, in den empirischen Befunden allerdings uneinheitlicher Aspekt bezieht sich auf die überproportionale, nicht allein aus der Bevölkerungsvermehrung zu erklärende Steigerung der Zivilprozesse in industrialisierten Gesellschaften, also die zunehmende Justizialisierung von Privatkonflikten8. Bei all dem ist zu bedenken, daß der Verrechtlichungsprozeß, strukturell gesehen, von einer fundamentalen Ambivalenz gekennzeichnet ist: Einerseits eröffnete er – in seiner Ausprägung als rechtewahrender Staat – dem einzelnen bislang unbekannte Schutz- und Freiheitsräume, andererseits etablierte er – durch Normierung zuvor ganz oder weitgehend ungeregelter, „rechtsfreier“ Lebensbereiche – eine „Herrschaft des Rechts“ und damit der Bürokratie, gingen (und gehen) Verrechtlichung und Bürokratisierung, einem ehernen Gesetz gleich, doch stets Hand in Hand. Insofern erscheint es sachlich geboten, zwischen „liberalem Rechtsstaat“ und „bürokratischem Rechtsstaat“ zu unterscheiden. Hiermit ist implizit bereits die Rolle der Juristen angesprochen. In Deutschland übernahmen sie in zweierlei Hinsicht die Funktion einer Elite. Als Experten des Rechts wurden sie zu Trägern des neuen, aus der Reformära zu Beginn des 19. Jahrhunderts hervorgehenden Beamtenstaats (ob in bürokratisch-absolutistischer oder in konstitutioneller Form), sollte das politisch-administrative Handeln fortan doch an Recht und Gesetz gebunden sein. Seinen sinnfälligen Ausdruck fand dies im Juristenmonopol der höheren Verwaltung – so führte Preußen 1817 das Rechtsstu7 Statt vieler: Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 2, München 1992, S. 182. 8 Vgl. Chr. Wollschläger, Zivilprozeßstatistik und Wirtschaftswachstum im Rheinland von 1822 bis 1915, in: Luig / Liebs (Hg.), S. 371 – 397; mit anderem Ergebnis: ders., Italiens gesellschaftlicher Bedarf an Ziviljustiz seit dem 19. Jahrhundert, in: Dipper (Hg.), S. 127 – 143.
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dium, die erste juristische Prüfung und die Gerichtsauskultatur als Voraussetzung für den Eintritt in den höheren Verwaltungsdienst ein9. Gefördert durch das Selbstverständnis der Beamtenschaft (bekanntlich hatte Hegel sie zum „allgemeinen Stand“ erklärt), wurden die Juristen zu „Sachwaltern der Allgemeinheit“ (Dipper). Nicht zuletzt hiermit dürfte es zusammenhängen, daß vor allem Richter und Rechtsanwälte als Wortführer der liberal-nationalen Bewegung in Erscheinung traten10. Bekanntlich waren sowohl die Paulskirche als auch die Berliner Nationalversammlung in hohem Maße Juristenparlamente, und noch im Abgeordnetenhaus der preußischen Konfliktszeit gaben die liberalen Kreisrichter den Ton an. Die Nähe zum Nationalen ergab sich aber auch aus den Ersatzfunktionen des Rechts und der Rechtswissenschaft. Seit dem berühmten Streit zwischen Thibaut und Savigny um die Notwendigkeit bzw. Möglichkeit einer gesamtdeutschen Kodifikation (1814) besaßen rechtspolitische Fragen höchste nationale Prioriät. Angesichts der nunmehr realen Aussicht auf Herstellung einheitlicher Rechtsverhältnisse traf dies unverändert auch noch auf das Kaiserreich zu: „Rechtspolitik galt als herausragend zentrale Aufgabe der Politik überhaupt“11. Auch die Professionalisierung der juristischen Tätigkeiten, verstanden als Umwandlung der alten Amts- in moderne Berufsstände mit klaren Qualifikationsnormen, exklusiven Zugangsregeln, einem festen Berufsbild sowie einem bestimmten (meist höheren) Status und Einkommen, machte im 19. Jahrhundert erhebliche Fortschritte. Während die Professionalisierung der Richterschaft, die bereits Mitte des 18. Jahrhunderts durch die friderizianischen Ausbildungs- und Besoldungsreformen wichtige Impulse erhalten hatte, mit Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze als weitgehend abgeschlossen gelten konnte (lediglich die berufsständische Interessenvertretung fehlte noch), brach sich die entsprechende Entwicklung bei der Rechtsanwaltschaft erst nach deren „Freigabe“ 1879 Bahn. Nur bedingt Erfolg hatten beide Professionen mit ihrem Anspruch auf ein monopolisiertes Berufsfeld: Sahen sich die Berufsrichter mit einem wachsenden Kreis von Laienrichtern konfrontiert (Geschworene, Schöffen, Laienbeisitzer in Sonder- und Schiedsgerichten), so mußten sich die Rechtsanwälte den Markt mit den heftig befehdeten, sozial an den Rand gedrängten Rechtskonsulenten teilen, die, minder qualifiziert, ihre Dienstleistungen erheblich preisgünstiger anboten, womit sie einem weitverbreiteten Bedürfnis entgegenkamen12. 9 Geschäfts-Instruktion v. 23. 10. 1817, § 49; ausführlich zur Durchsetzung des Juristenmonopols: W. Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, Berlin 1972 (hier S. 104 ff.). 10 Zum Liberalismus der preußischen Richterschaft in Vormärz und Revolution: Chr. v. Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen, Göttingen 1996. 11 Nipperdey, II, S. 182. 12 Vgl. hierzu U. Schneider, Vom Notabelnamt zur Amtsprofession, in: Dipper (Hg.), S. 63 – 85; Th. Ormond, Die Richter im Kaiserreich, in: ebd., S. 87 – 100; Eugen Schiffer, Die Rechtskonsulenten, Berlin 1897; zum Professionalisierungskonzept: H. Siegrist, Bürgerliche Berufe, in: ders. (Hg.), Bürgerliche Berufe, Göttingen 1988, S. 11 – 48.
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Der Siegeszug des Rechts und der Aufstieg der Rechtsexperten wären kaum denkbar gewesen ohne die innere Umstrukturierung des Rechtsstoffes und dessen durchgreifende Verwissenschaftlichung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfuhr das Privatrecht eine erhebliche Aufwertung gegenüber dem bis dahin dominierenden öffentlichen Recht, was sowohl der Logik der bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft als auch der Idee des liberalen Individualismus entsprach. Das Privatrechtssystem beruhte auf der Grundfigur des subjektiven Rechts, Leitprinzip war die Privatautonomie, wie sie in der Vertrags- und Eigentumsfreiheit in klassischer Weise zum Ausdruck gelangte13. Ihren krönenden Abschluß fand die Entwicklung mit der Verabschiedung des BGB im Jahre 1896. Eben dieses Privatrecht nun wurde zum Gegenstand der Pandektenwissenschaft, die in mühevoller Kleinarbeit das Recht aus allen außerjuristischen Zusammenhängen (religiöser, philosophischer, politischer oder sonstiger Art) löste und zu einer autonomen Wissenssphäre umgestaltete, allerdings um den Preis einer starken Abstraktion und Formalisierung. Ergebnis war die moderne Fachwissenschaft, ausgestattet mit einer eigenen Methodik und Denkweise, die seither als spezifisch juristisch gelten („formaljuristisch“)14. Der Vorgang besaß insofern auch eine politische Seite, als die Autonomie des Rechtlichen das wissenschaftliche Pendant zur konstitutionellen Unabhängigkeit der Richter bildete. Die Leistungen der Pandektistik begründeten das hohe internationale Ansehen der deutschen Zivilrechtswissenschaft und erklären „den fast unerschöpflichen öffentlichen Kredit“ (Wieacker), den die Jurisprudenz (und mit ihr die Figur des Rechtsprofessors) bis zum Ende des 19. Jahrhunderts genoß. Formales Recht und juristische Logik gelten seit Max Weber als wesentlicher Beitrag zur „Rationalisierung der Welt“15. Am wenigsten erforscht (aber auch am schwersten meßbar) sind die Auswirkungen der Verrechtlichung auf das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung. Es liegt auf der Hand, daß die zunehmende Regelungsdichte rechtskonformes Denken und Handeln förderte, ja in vielen Fällen erzwang. Als Indikator mag die Tatsache dienen, daß vormoderne Formen des Sozialprotestes im Laufe des 19. Jahrhunderts deutlich zurückgingen, während die Neigung, politisch-soziale Konflikte vor den Schranken des Gerichts auszutragen, entsprechend zunahm. Insbesondere die steigende Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen (Reichsgewerbeordnung, Gewerbegerichtsbarkeit, tarifvertragliche Regelungen etc.) dürfte weiten Teilen der Bevölkerung den Wert des Rechts handfest vor Augen geführt haben. Ferner zeitigte die 13 Vgl. D. Grimm, Bürgerlichkeit im Recht, in: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 149 – 188, hier S. 161 ff. Grimms Abhandlung ist eine pointierte, in mancher Hinsicht allerdings einseitige Skizze der Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts; zur Kritik: P. Landau, Kommentar, in: ebd., S. 189 – 195. 14 Nach wie vor grundlegend hierzu: Fr. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2., neubearb. Aufl., Göttingen 1967, S. 348 – 458; Näheres zum ganzen unten Dritter Teil, Kap. II / 3. 15 Siehe dazu Webers Rechtssoziologie in: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. Aufl., hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1980, S. 387 – 513.
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Einführung des Sozialversicherungswesens in den 80er Jahren den Nebeneffekt, daß staatliche Leistungen zunehmend als „Rechtsanspruch“ begriffen wurden, der im Falle seiner Geltendmachung in eine entsprechende Form zu kleiden war. Die starke Geltungskraft des Rechts zeigte sich auch auf der Ebene der „hohen Politik“, so etwa im Bemühen der bürgerlichen Revolutionäre von 1848, den revolutionären Prozeß möglichst rasch in rechtliche (und damit ruhigere) Bahnen zu lenken, in der strikten Weigerung der liberaldemokratischen Opposition im preußischen Verfassungskonflikt, die Regierung Bismarck anders denn auf rein legalem Wege zu bekämpfen (mit der einzigen Ausnahme Johann Jacobys, dessen Aufruf zur Steuerverweigerung ungehört verhallte) oder, um noch ein letztes Beispiel zu nennen, im Bekenntnis der vereinigten Sozialdemokratie, ihre Ziele „mit allen gesetzlichen Mitteln“ zu erstreben (Gothaer Programm von 1875), einer Haltung, der die Partei prinzipiell auch in den Jahren des Sozialistengesetzes treu blieb („An unserer Gesetzlichkeit müssen unsere Feinde zugrundegehen“)16. Auf der anderen Seite spricht viel dafür, daß die konstitutionell verbürgte Rechtsgleichheit die Sensibilität für fortbestehende Disparitäten im Recht (dies gilt vor allem für die Rechtsstellung der Frauen, des Adels, der Landarbeiterschaft und des Gesindes) ebenso geschärft hat wie für eine etwaige Ungleichbehandlung vor Gericht, namentlich auf dem heißumkämpften Feld der politisch-sozialen Strafrechtsprechung. Aber auch hier dürfen die frühneuzeitlichen Wurzeln der Entwicklung nicht übersehen werden. Das Alte Reich verstand sich zuvörderst als Rechts- und Friedensgemeinschaft, deren vornehmste Aufgabe – neben der Friedenswahrung nach außen – darin bestand, sämtliche Reichsglieder, ob unmittelbar oder mittelbar, in ihren „wohlerworbenen“ (wenn auch höchst unterschiedlichen) Rechten zu schützen und durch gerichtsförmige Regelung von Streitigkeiten für innere Stabilität zu sorgen. Die sich daraus ergebenden ausgeprägten Rechts- und Justiztraditionen – erinnert sei nur an den Ewigen Landfrieden von 1495, Ansehen und Bedeutung der beiden Reichsgerichte (Reichskammergericht, Reichshofrat), aber auch der territorialstaatlichen Obergerichte (Berliner Kammergericht, Bayerisches Oberstes Landesgericht etc.), das sozial breit verankerte, bis zum „gemeinen Mann“ hinabreichende Klagerecht (Untertanenprozesse), die Rechts- und Justizreformen des Aufgeklärten Absolutismus u. ä. m. – bereiteten dem hohen Rechtsbewußtsein des 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht den Boden. Hier liegen auch die Ursprünge des für die deutsche Entwicklung charakteristischen „Glaubens an die Kontrolle der Macht durch das Recht“17 – nicht zufällig ist der Begriff „Rechtsstaat“ in Deutschland geprägt worden. Der tieferen Bedeutung von Recht und Justiz kommt man vielleicht erst auf die Spur, wenn man sie in den Horizont des neuzeitlichen Säkularisierungsprozesses stellt, der vor allem nach 1850 rasch voranschritt. Eine Reihe von „Quasireli16 Zitate nach: H. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1970, S. 89 / 90. 17 So Landau, Kommentar, S. 192.
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gionen“ mit „Letzt-Wert-Qualität“ (Nipperdey) versuchten die vom traditionellen Christentum hinterlassene Lücke zu schließen – namentlich der durch Wissenschaft und Technik geförderte Fortschrittsglaube, der Historismus mit seiner Geschichtsfrömmigkeit, die Bindung an die Nation in ihren verschiedenen Spielarten, die sozialistische Revolutionsidee mit ihrer eschatologischen Dimension, die Bildungs- und Kunstreligion des akademischen Bürgertums18. Weniger auffällig, vielleicht aber umso nachdrücklicher traten auch Recht und Rechtswissenschaft als säkulare Sinnstifter auf. Im Zeichen schwindender religiöser Gerechtigkeitsvorstellungen übernahmen sie die „Hilfsfunktion eines Gerechtigkeitssurrogats“ (Wieacker). Hieraus leitete sich ein Deutungsmonopol ab, wie es zuvor nur der Religion zugekommen war: „Das ,Recht‘ wurde im 19. Jahrhundert zur einzigen universell anerkannten Form der Objektivierung und Kodifizierung von Werten“19. Anzeichen für eine solch sakrale Überhöhung – Raphael spricht von einer neuen „Metaphysik des Rechts“ – finden sich auf ganz verschiedenen Ebenen. Ins Auge fallen zunächst die stark gestiegenen Ansprüche an die moralisch-sittliche Integrität der Richter, wodurch diese von einem „Glorienschein umgeben“ wurden, „von dem frühere Geschlechter nichts gewußt haben“. In ihrem idealisierten Selbstbild nahmen sie den Platz „eines Gottes im Kleinen“ (Julius Hermann v. Kirchmann) ein, entsprechend geriet ihre Tätigkeit zu einem „göttlichen Amte“ (Christian Friedrich Koch). Dazu paßte die gängige Rede von der „Heiligkeit des Rechts“ und den „Priestern der Themis“ ebenso wie die Amtskleidung der verschiedenen juristischen Professionen (nicht nur der Richter), die nicht zufällig an einen „geweihten“ Stand erinnert. In dieselbe Richtung weisen das dem päpstlichen Konklave nachempfundene Ritual bei der Entscheidungsfindung im Verfahren vor dem Schwurgericht (auch wenn die Ursprünge hier älteren Datums sind) und nicht zuletzt die imposanten Justizpaläste des Kaiserreichs („Kathedralen des Rechts“), die gleichermaßen die „Würde des Rechts“ wie den Machtanspruch des Rechtsstaats dokumentieren sollten20.
2. Thema und Konzeption der Untersuchung Mit den vorstehenden Bemerkungen ist der rechtlich-juristische Rahmen abgesteckt, in dem sich das Thema der vorliegenden Arbeit bewegt. Ähnlich grundlegende Bedeutung besitzen zwei weitere Dimensionen, nämlich die machtpoliti18 Vgl. dazu Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1, München 1990, S. 507 ff., bes. S. 516 – 521; Nipperdey zählt auch Arbeit und Familie zu den Werten mit ersatzreligiöser Qualität. 19 Raphael, S. 48. 20 Zitate: E. Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, S. 40; die Äußerungen von Kirchmann und Koch bei v. Hodenberg, S. 154 f. (dort noch weitere Nachweise). Eine derartige Sakralisierung des Rechts findet man, namentlich in bezug auf die Ewigkeitspostulate des Grundgesetzes, gelegentlich auch heute noch: „Die Rechtlichkeit ist das Heiligtum des Modernen Staates“ (Schachtschneider, S. 27).
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schen Verhältnisse einerseits, die wirtschaftlich-soziale Dynamik andererseits. Indessen erscheint es wenig sinnvoll, diese als Abriß „en bloc“ der Arbeit voranzustellen; vielmehr sollen sie in den Gang der Untersuchung eingeflochten, also erst im Zuge der Darstellung entfaltet werden. Ausgangspunkt ist eine schlichte Beobachtung: Wirft man – nehmen wir das Jahr 1895 – einen Blick in eine größere deutsche Tageszeitung, eine der vielgelesenen politisch-kulturellen Zeitschriften oder ein juristisches Fachorgan, so wird man nicht lange suchen müssen, um auf eine Abhandlung über den neuesten Skandalprozeß, das Überhandnehmen der politischen Justiz, die Defizite des Strafverfahrens, die Unzulänglichkeiten des Zivilprozesses, die Mängel des Richterstandes u. dgl. m. zu stoßen. Nicht anders sah das Bild auf der parlamentarischen Ebene aus: In den jährlichen Haushaltsdebatten des Reichstags und des preußischen Abgeordnetenhauses nahmen justizpolitische Themen einen breiten (und zunehmend breiteren) Raum ein. Kurzum: Im kaiserlichen Deutschland war die Auseinandersetzung mit Richtern, Rechtsprechung und Gerichten – ganz anders als heutzutage – ein innenpolitisches Thema von Dauer und Gewicht. Bereits in den 70er Jahren – justizpolitisch stand die Rechtsvereinheitlichung auf der Tagesordnung – umfaßte die Diskussion sämtliche Elemente des Justizsystems: die Gerichtsorganisation, die Prozeßordnungen, das materielle Recht, die Politik der Justizverwaltungen, das beteiligte Personal und die Urteilspraxis. In der Folgezeit verdichtete sich die Debatte zu populären Schlagwörtern – die Rede war, um nur die wichtigsten zu nennen, von „Klassenjustiz“, richterlicher „Weltfremdheit“ und „Formalismus“. Zugleich kam das (Zerr-)Bild des monarchisch-konservativen, stramm obrigkeitshörigen Richters auf, personifiziert bzw. persifliert in der Figur des „schneidigen“ Reserveoffizierrichters. Spätestens seit den 90er Jahren muß von einer handfesten „Vertrauenskrise“ der Justiz gesprochen werden, die, trotz vielfältiger, teilweise durchaus erfolgreicher Reformbemühungen, bis 1914 andauerte. Daß die justiziellen Probleme zu einem allgemeinpolitischen Thema werden konnten, das im Bewußtsein der Öffentlichkeit einen prominenten Platz einnahm, verdankte sich nicht zuletzt der Tatsache, daß zur gleichen Zeit der publizistische Massenmarkt in Deutschland zum Durchbruch gelangte. Die justizkritische Debatte speiste sich aus zwei Hauptquellen: der Rechtsprechungspraxis der Gerichte und der Justizpolitik des Reiches und der Länder. Die föderale Teilung der Justizpolitik folgte dem noch heute gültigen Muster: Während die allgemeine Rechts- und Justizgesetzgebung in die Zuständigkeit des Reiches fiel, bildeten die Personal- und die Ausbildungspolitik sowie die Handhabung des ministeriellen Weisungsrechts gegenüber der Staatsanwaltschaft die klassischen Domänen der Landesjustizverwaltung. Dementsprechend gliederte sich die Justizkritik in einen jurisdiktionellen, einen materiellrechtlichen, einen institutionellprozeduralen und einen administrativ-personalen Zweig. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die drei genannten Bereiche – justizkritische Debatte, jurisdiktionelle Praxis und Justizpolitik – in ihrer wechselseitigen Verschränkung zu analysieren und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Als leitender Gesichtspunkt dient
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dabei das Verhältnis zwischen Justiz und Öffentlichkeit, was u. a. bedeutet, daß nur solche Problemkreise aufgenommen wurden, die einen gewissen Widerhall in der öffentlichen Meinung fanden. In systematischer Form ist eine derartige Synthese bislang noch nicht durchgeführt worden. Die Breite des Themas und die Fülle des Materials machen eine Reihe von Eingrenzungen erforderlich. Obwohl in jurisdiktioneller Hinsicht sowohl die Straf- als auch die Zivilrechtspflege Berücksichtigung finden, liegt das Schwergewicht doch auf der politischen Strafjustiz21. Drei Überlegungen waren hierfür maßgebend: Die politische Judikatur, welche die Gemüter stets am stärksten erregte und von daher die größte Öffentlichkeitswirkung erzielte, bildete so etwas wie den harten Kern der Justizkritik. Zudem stellt sie eine Konstante dar, die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Betrachtungszeitraum hindurchzieht. Eine gewisse Rolle spielte nicht zuletzt die Tatsache, daß es an einer größeren Darstellung zum Thema mangelt. Justizpolitisch konzentriert sich das Interesse auf das Verhalten der Reichsleitung, Preußens und Bayerns. Auch bei der Analyse der Gesetzgebung steht die Entwicklung des (materiellen und formellen) Strafrechts im Vordergrund. Aber auch die Probleme des Zivilprozesses einschließlich der entstehenden Sondergerichtsbarkeit kommen ausführlich zur Sprache, während der mittlerweile gut erforschte Komplex des BGB nur am Rande Erwähnung findet, und zwar im Zusammenhang mit der Methodendiskussion22. Die Untersuchung beschränkt sich auf „prosaische“ Formen der Justizkritik, ausgespart bleiben mithin – so reizvoll deren Einbeziehung wäre – alle künstlerischen, d. h. literarischen und bildlichen Darstellungsweisen23. Unter den Ländern liegt das Hauptaugenmerk auf Preußen, eine Perspektive, die sich angesichts der Rolle dieses Staates als Motor des kleindeutschen Einigungsprozesses und Hegemonialmacht des Deutschen Reiches anbietet24. Die Wahl ist aber auch sachlich begründet: Ausnahmslos alle Justizkonflikte waren in Preußen anzutreffen, zusätzlich verschärft wurde die Situation durch spezifisch preußische Probleme. Ein vergleichender Blick fällt immer wieder auf Bayern, ohne daß der Vergleich bis in alle Einzelheiten durchgeführt wird – insofern stellt die Arbeit 21 An dieser Stelle sei angemerkt, daß der Begriff „politisch“ in der vorliegenden Arbeit durchweg in einem weiten Sinne verwendet wird. Er bezieht sich auf alle grundsätzlichen Fragen der Staats- und Gesellschaftsordnung, umfaßt also etwa auch den kirchen- und den sozialpolitischen Sektor. 22 Zum BGB: U. Falk / H. Mohnhaupt (Hg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, Frankfurt / M. 2000; T. Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Tübingen 2001. 23 Dazu: E. Segelcke, Heinrich Manns Beitrag zur Justizkritik der Moderne, Bonn 1989; L. M. Wambach, Die Dichterjuristen des Expressionismus, Baden-Baden 2002; L. Schneider, Die populäre Kritik an Staat und Gesellschaft in München (1886 – 1914), München 1975, S. 270 – 279 (Volkssängerkabarett und Skandalblätter). 24 Zur allgemeinen Geschichte Preußens zwischen 1848 und 1914: H. Schulze, Preußen von 1850 bis 1871, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2, hg. v. O. Büsch, Berlin 1992, S. 293 – 374; K. E. Born, Preußen im deutschen Kaiserreich 1871 – 1918, in: ebd., Bd. 3, hg. v. W. Neugebauer, Berlin 2001, S. 15 – 148.
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keine komparatistische Studie (im strengen Sinne) dar25. Die übrigen Bundesstaaten finden nur punktuell Erwähnung, wobei insbesondere eine stärkere Einbeziehung Sachsens als Beispiel für das „dritte Deutschland“ lohnenswert erscheint26. Ein Vergleich mit dem Ausland – hier kämen in erster Linie Österreich (mit Karl Kraus als prominentem Justizkritiker), Frankreich (Dreyfus-Affäre) und England (Prozesse gegen Oscar Wilde) in Betracht – böte sicherlich erheblichen Erkenntnisgewinn (abgesehen davon, daß damit dem immer wieder geforderten sektoralen Ländervergleich Rechnung getragen wäre), würde den Rahmen der Untersuchung aber eindeutig übersteigen. Zeitlich setzt die Darstellung mit der Revolution von 1848 / 49 ein. Dies erfordert insofern eine nähere Begründung, als auch ein früheres Datum denkbar wäre. Immerhin fanden bereits seit 1815 – ausgehend von den linksrheinischen Gebieten, in denen das Französische Recht in Kraft blieb, und vor allem bezogen auf die Strafrechtspflege – intensive Debatten über Stellung und Aufbau der Gerichte, modernisierte Formen des Verfahrens, die Kodifikation des materiellen Rechts und die Trennung von Justiz und Verwaltung statt. In verschiedenen Bundesstaaten wurden darüber hinaus umfassende Reformprojekte in Angriff genommen, die im Einzelfall – hier ist in erster Linie Baden zu nennen – auch zum Abschluß gelangten. Und schließlich kam es immer wieder zu scharfen Konflikten zwischen einzelnen Regierungen und Gerichten / Richtern wie auch zu teilweise drakonischen Strafmaßnahmen gegen oppositionelle Kräfte („Demagogenverfolgung“, Hochverratsprozesse seit 1833). Im ganzen sind die Vorgänge in den spannungsreichen Prozeß der Ausbreitung liberaldemokratischer Rechts- und Verfassungsideen einzuordnen27. Daß die Wahl dennoch auf das spätere Datum fiel, erklärt sich vor 25 Zur allgemeinen Geschichte Bayerns zwischen 1848 und 1914: W. Volkert, Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in: A. Schmid (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV / 1, 2., völlig neu bearb. Aufl., München 2003, S. 235 – 317; D. Albrecht, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1871 – 1918), in: ebd., S. 318 – 438; A. Kraus, Geschichte Bayerns, 3., erw. Aufl., München 2004, S. 493 – 599; M. Treml, Königreich Bayern (1806 – 1918), in: Geschichte des modernen Bayern, hg. v. d. Bayer. Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1994, S. 13 – 145; K. v. Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808 – 1918, in: K. Schwabe (Hg.), Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten 1815 – 1933, Boppard 1983, S. 47 – 62 (S. 244 ff. Ministerliste 1815 – 1918); weiterhin: M. Krauss, Herrschaftspraxis in Bayern und Preußen im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1997 (beschränkt auf die Zeit 1848 – 1871, ohne Berücksichtigung des Rechts- und Justizwesens); S. Weichlein, Nation und Region, Düsseldorf 2004 (Integration Bayerns in das Reich). 26 Nach dem Fall der Mauer ist die kaiserzeitliche Geschichte Sachsens ein beliebtes Forschungsgebiet geworden. Dabei hat sich das Bild vom „dritten Deutschland“ – zwischen dem autoritären Preußen und dem liberaleren Süden – herauskristallisiert; eine systematische Untersuchung zu Justiz und Justizpolitik steht noch aus; siehe: S. Lässig / K.-H. Pohl (Hg.), Sachsen im Kaiserreich, Weimar 1997; J. Retallack (ed.), Saxony in German History, Ann Arbor 2000 (behandelt den Zeitraum 1830 bis 1933); S. Weichlein, Nation und Region, Düsseldorf 2004 (Integration in das Reich). 27 Zur Epoche bis 1848 / 49: E. Schwinge, Der Kampf um die Schwurgerichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung, Breslau 1926; G. Plathner, Der Kampf um die richterliche
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allem aus der Tatsache, daß die Epoche zwischen 1848 / 49 und 1866 / 71 den Charakter einer Reichsgründungszeit trägt. Dafür sprechen nicht zuletzt die rechtlichen und institutionellen Kontinuitäten, die zwischen der durch die Revolution geschaffenen Ausgangslage und dem späteren Deutschen Reich bestehen (Konstitutionalisierung Preußens, Einführung des „reformierten“ Strafprozesses, Preußisches Strafgesetzbuch, Verrechtlichung des Presse-, Vereins- und Versammlungswesens etc.). Den Schlußpunkt bildet das letzte Friedensjahr 1914, was angesichts der seit Kriegsausbruch gänzlich veränderten Situation kaum einer weiteren Erläuterung bedarf. Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zur politischen Strukturgeschichte des Kaiserreichs. Im einzelnen wird gefragt nach den Ursachen, den Erscheinungsformen und dem Verlauf der Justizkritik, dem Verhältnis zwischen inner- und außerjuristischen Faktoren, der Reaktion der politisch Verantwortlichen auf die anschwellende öffentliche Kritik, den Chancen einer Modernisierung insbesondere der Strafrechtspflege, dem Verhalten der Richter angesichts widersprüchlicher Anforderungen, dem Einfluß der wechselnden Rahmenbedingungen (Bismarckzeit, Modernisierungsschub nach 1900) auf Tätigkeit und Ansehen der Gerichte und insgesamt nach der Bedeutung der justiziellen Konflikte für die rechtsstaatliche Struktur, das politische System und die Legitimität des Kaiserreichs. Als Maßstab zur Beurteilung der Kritik, also der Einschätzung ihrer sachlichen Berechtigung, erscheint ein „mittlerer“ Rechtsstaatsbegriff als adäquat, wohl wissend, daß in vielen Fällen ein erheblicher Interpretationsspielraum bestehen bleibt. Was die Darstellungsform betrifft, so folgt die Arbeit, entsprechend den oben genannten Sachkomplexen, teils einem ideengeschichtlichen, teils einem narrativen Muster. Dabei lehnt sie sich eng an die ausgewählten Quellen an, was seinen Ausdruck nicht zuletzt in einer gewissen Zitierfreudigkeit findet. Dies ist nicht nur ganz allgemein dem historischen Charakter der Studie geschuldet, sondern folgt ebenso aus der gewählten Thematik, besteht eine zentrale Aufgabe doch darin, diskursive Zusammenhänge unterschiedlicher Art zu rekonstruieren. Auch für die Darstellung der Gesetzgebungsprojekte mit ihrem häufig wechselvollen Verlauf empfiehlt sich eine möglichst quellennahe Vorgehensweise. Und last but not least eröffnet sich hiermit die Möglichkeit, Stil und Schärfe der damaligen Auseinandersetzungen ein Stück weit wieder lebendig werden zu lassen28. Als Gliederungsprinzip wurde ein chronologischer Aufbau gewählt, da nur so die Dynamik des Gesamtprozesses, aber auch die vielfältigen Wechselbeziehungen Unabhängigkeit bis zum Jahre 1848, Breslau 1935; E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München 1954, S. 55 – 71; W. Wallmann, Einflußnahme der Exekutive auf die Justiz im 19. Jahrhundert, Marburg 1968; W. Schütz, Einwirkungen des preußischen Justizministers auf die Rechtspflege, Marburg 1970, S. 14 – 117; Chr. v. Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen, Göttingen 1996; M. Wienfort, Patrimonialgerichte in Preußen, Göttingen 2001. 28 Bei der Zitierweise wurde ein Kompromiß gewählt: Während die Quellentitel in originaler Form wiedergegeben werden, wurden Zitate aus dem Text in Orthographie und Punktuation behutsam modernisiert.
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zwischen den einzelnen Problembereichen in wünschenswerter Schärfe hervortreten. Im ersten Teil, der die drei Jahrzehnte zwischen der Revolution von 1848 / 49 und der Reichsjustizreform von 1877 / 79 umfaßt, werden die Grundlagen des kaiserzeitlichen Rechts- und Justizsystems sowie, damit untrennbar verknüpft, zentrale Themenkreise der Justizkritik entfaltet. Der zweite, bis zur Jahrhundertwende reichende Teil konzentriert sich auf den Prozeß der Ausweitung und Verdichtung der Kritik, einmündend in die allgemeine „Vertrauenskrise“ der Justiz, die seit den 90er Jahren unübersehbar ist. Den Schwerpunkt des dritten Teils, der sich mit den verbleibenden Friedensjahren bis 1914 beschäftigt, bilden – neben den unverändert lautstark vorgebrachten Gravamina – die unterschiedlichen Ansätze zur Umgestaltung des Justizwesens, die sich insgesamt als umfassende (aber auch in sich widersprüchliche) Modernisierungsbewegung darstellen. Abgeschlossen wird jeder Teil von einer bewußt knapp gehaltenen Zusammenfassung der Ergebnisse. Schließlich noch einige Bemerkungen zur Quellenlage. Wie so häufig bei Themen aus dem Bereich der jüngsten Geschichte, ist allein die Masse des gedruckten Materials kaum mehr überschaubar. Was die periodische Publizistik betrifft, so wurden zu etwa gleichen Teilen politisch-kulturelle Zeitschriften (als besonders ergiebig erwiesen sich die liberal-konservativen „Preußischen Jahrbücher“, die bismarcknahen „Grenzboten“, die fortschrittliche „Nation“ sowie die sozialistische „Neue Zeit“) und juristische Fachzeitschriften (hier seien vor allem die „Deutsche Juristen-Zeitung“, die „Deutsche Richterzeitung“ sowie „Das Recht“ erwähnt) herangezogen. Einen ausgezeichneten Überblick über die Stellungnahme der Tagespresse zu praktisch allen justiziellen Sach- und Streitfragen vermitteln die in den Ministerien angelegten, thematisch geordneten Sammlungen von Zeitungsausschnitten, die allerdings nur im Archiv einsehbar sind (eine fundierte Berichterstattung findet sich durchweg in der „National-Zeitung“, der „Frankfurter Zeitung“ und insbesondere der „Vossischen Zeitung“). Die nichtperiodische Publizistik umfaßt Prozeßberichte, Erinnerungen sowie sonstige Einzelveröffentlichungen zum Themenkreis; hinzu kommen Briefsammlungen sowie die gesammelten Reden und Schriften einzelner Persönlichkeiten. Das gedruckte amtliche bzw. halbamtliche Material ist höchst unterschiedlicher Provenienz. Im einzelnen setzt es sich zusammen aus den Verhandlungen der gesetzgebenden Körperschaften des Reiches, Preußens und Bayerns, den Protokollen des Preußischen Staatsministeriums, ministeriellen Berichten, Justizstatistiken, Gesetzes- und Ministerialblättern, Entscheidungssammlungen, Parteitags- und Verbandsverhandlungen, Aktenpublikationen und Kommissionsprotokollen. Das archivalische Material ist zum überwiegenden Teil den Beständen des Reichsjustizamts sowie des preußischen und des bayerischen Justizministeriums entnommen.
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3. Forschungsüberblick Da das Thema der vorliegenden Arbeit zwei wissenschaftliche Fachbereiche berührt, die Rechtsgeschichte und die allgemeine Geschichte, erscheint es zunächst angebracht, das Verhältnis der beiden Disziplinen zueinander kurz zu skizzieren. Noch stark der Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts verhaftet, geriet die Rechtsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg in eine tiefgreifende Sinn- und Legitimationskrise. Verantwortlich hierfür waren zum einen die weitgehend rechtsimmanente, auf die Herleitung rechtlicher Dogmen und Institutionen beschränkte Zielsetzung des Faches, zum anderen die Konzentration auf ältere Rechtsepochen, namentlich das klassisch-römische und das germanische Recht. Im Kern wurde das Recht als ein ideelles Phänomen mit tendenziell überzeitlichem Charakter angesehen, vornehmste Aufgabe der Rechtsgeschichte war es somit, einem vielzitierten Wort von Heinrich Mitteis entsprechend, den „Gang der Rechtsidee durch die Geschichte“ zu verfolgen. Das Fach lief damit Gefahr, zu einer Spezialwissenschaft mit stark antiquarischen Zügen zu verkümmern. Zudem tat sich eine zunehmende Kluft zwischen der Rechts- und der Allgemeingeschichte auf, wenngleich betont werden muß, daß die Verbindung zwischen beiden Fächern niemals wirklich abriß, wie namentlich das Gebiet der Verfassungsgeschichte zeigt. Entsprechend vehement forderten die Reformer im Zuge der in den 70er Jahren einsetzenden Grundlagendiskussion, die rechtsgeschichtlichen Gegenstände gezielt in den gesamthistorischen Kontext einzubetten, das Fach den modernen sozialwissenschaftlichen Methoden zu öffnen und die Forschung stärker auf die Gegenwart hin auszurichten29. Seither hat die „volle Historisierung der Rechtsgeschichte als einer Teildisziplin der Geschichtswissenschaft“ (Eisenhardt) erhebliche Fortschritte gemacht, was umgekehrt bedeutete, daß rechtsgeschichtliche Fragestellungen auch für Allgemeinhistoriker zunehmend attraktiv wurden. Ungeachtet dessen mußte sich die proklamierte Interdisziplinarität schon deshalb in Grenzen halten, weil das Fach – als Teil der juristischen Ausbildung – in den juristischen Fakultäten angesiedelt blieb, rechtshistorische Forschung also weiterhin überwiegend in den Händen von Juristen liegt. Die Forderung nach verstärktem Gegenwartsbezug führte zur Verselbständigung einer neuen Teildisziplin, der „Juristischen Zeitgeschichte“, die sich den rechtsgeschichtlichen Entwicklungen vor allem des 20. Jahrhunderts widmet und schon in der Namensgebung ihre enge Verbindung zur Geschichtswissenschaft zu erkennen gibt. Um kein einseitiges und damit falsches Bild entstehen zu lassen, sollte nicht unerwähnt bleiben, daß die Frage, ob das neue Fach überhaupt berechtigt sei und welchen zeitlichen Rahmen bzw. welche Gegenstandsbereiche es abzudecken habe, innerhalb der Zunft außerordentlich umstritten war30. 29 Siehe etwa: D. Grimm, Rechtswissenschaft und Geschichte, in: ders. (Hg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 2, München 1976, S. 9 – 34 (leidenschaftliches Plädoyer für eine erneuerte, methodisch reflektierte und historisch vertiefte Rechtsgeschichte); die wichtigsten Äußerungen sind verzeichnet in: U. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 4. Aufl., München 2004, S. 1.
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Aus Sicht der Geschichtswissenschaft ergibt sich die Notwendigkeit einer Kooperation mit der Rechtsgeschichte schon von der Sache her. Wenn es zutrifft, wie oben behauptet, daß dem Verrechtlichungsprozeß, insbesondere der Entwicklung des modernen Verfassungs-, Rechts- und Interventionsstaats, fundamentale Bedeutung für die Geschichte der letzten zweihundert Jahre zukommt, so ist der Erwerb rechtsgeschichtlicher, aber auch rechtswissenschaftlicher Grundkenntnisse für den Historiker der Neuesten Geschichte resp. der Zeitgeschichte unerläßlich31. Nichtsdestoweniger besteht bei vielen Allgemeinhistorikern nach wie vor eine gewisse Reserve, ja Scheu gegenüber rechtsgeschichtlichen Themen und Fragestellungen, häufig verbunden mit dem entschuldigenden Hinweis, man sei eben „kein Jurist“. Hierin äußert sich die altbekannte Tatsache, daß die Welt des Rechts für den Nichtjuristen fremdartig anmutet, schwer zugänglich ist und zudem als „trocken“ gilt – womit wir an sich schon mitten im Thema wären, bildete die zunehmende Infragestellung der stark formalistisch-abstrakten Methode der herrschenden Jurisprudenz mit ihrer maßgeblichen Prägung der juristischen Denkweise doch ein zentrales Element der kaiserzeitlichen Justizkritik. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien kurz noch einige weitere Forschungsschwerpunkte in den beiden genannten Disziplinen skizziert. Nach dem Abflauen der Sonderwegsdebatte und befördert durch die „kulturalistische“ Wende der Geschichtswissenschaft hat sich die historische Kaiserreichsforschung – lange Zeit, anknüpfend an Hans-Ulrich Wehlers berühmt-berüchtigte Darstellung aus dem Jahre 1973, ein beliebtes Experimentierfeld für methodisch-theoretische Innovationen – verstärkt der politischen Kultur zugewandt. Dabei stehen drei Aspekte im Vordergrund: das Ausmaß der noch vor der Jahrhundertwende einsetzenden Fundamentalpolitisierung (steigende Wahlbeteiligung, Entstehung eines politischen Massenmarktes, Aufstieg von Gewerkschaften und Verbänden), das Verhältnis zwischen den regionalen politischen Kulturen und dem Prozeß der Nationsbildung sowie die Bedeutung der soziokulturellen Fragmentierung der reichsdeutschen Gesellschaft, insbesondere für die Entwicklung des politischen Systems32. Der rechtsgeschichtlichen Forschung ist nach dem Zusammenbruch des Sozialismus mit der 30 Der von Thomas Vormbaum (Hagen) geleitete „Arbeitskreis Juristische Zeitgeschichte“, der verschiedene Schriftenreihen herausgibt, versteht sich ausdrücklich als „Informationsverbund für die Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“; zur Auseinandersetzung um die neue Disziplin s. die Beiträge in: M. Stolleis (Hg.), Juristische Zeitgeschichte – ein neues Fach?, Baden-Baden 1993. Denselben Zusammenhängen verdankt die 1979 gegründete „Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte“ (ZNR) ihre Entstehung. 31 Grundlegend hierzu: H. Fenske, Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft, in: D. Grimm (Hg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 2, München 1976, S. 35 – 52 (fordert die Verklammerung von jüngerer Rechtsgeschichte und Neuester Geschichte, namentlich Zeitgeschichte, im Studiengang). 32 Forschungsüberblicke: Th. Kühne, Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918 und seine politische Kultur: Demokratisierung, Segmentierung, Militarisierung, in: NPL 43 (1998), S. 206 – 263; Berghahn, Kaiserreich (Anm. 33), S. 31 – 41; H.-P. Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich 1871 – 1918, 2. Aufl., München 2005; E. Frie, Das Deutsche Kaiserreich, Darmstadt 2004 (Forschungskontroversen).
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„Aufarbeitung“ des Rechts- und Justizsystems der Ostblockstaaten, namentlich der DDR, ein neues, auch politisch relevantes Aufgabenfeld erwachsen – zugleich ein bevorzugtes Arbeitsgebiet der „Juristischen Zeitgeschichte“. Erwähnt sei schließlich noch die „Europäische Rechtsgeschichte“, die sich – historisch begründet in der Tatsache, daß zahlreiche Rechtsentwicklungen staatenübergreifenden, wenn nicht gemeineuropäischen Charakter besaßen, politisch in der von Brüssel vorangetriebenen Rechtsvereinheitlichung, namentlich der ins Auge gefaßten Kodifikation eines gemeineuropäischen Privatrechts – im Zuge der allgemeinen Europäisierung als neuer Forschungszweig herausgebildet hat. Läßt man nunmehr die Forschungslage zur kaiserzeitlichen Justizgeschichte Revue passieren, so bestätigt sich zunächst der vorstehend beschriebene Befund: Das Themenfeld stellt nach wie vor eine Domäne der Rechtshistoriker dar, während allgemeinhistorische Arbeiten weiterhin die Ausnahme bilden. Auch wenn man dafür die oben erwähnten Gründe uneingeschränkt gelten läßt, so ist dies dennoch überraschend, wurde die Epoche des Kaiserreichs in den vergangenen dreißig Jahren – unter lebhafter Beteiligung der angloamerikanischen Forschung – doch mit steigender Intensität erforscht, so daß sich nicht nur unsere Kenntnisse des Zeitalters in ungeahntem Maße erweitert, sondern auch die behandelten Sachgebiete erheblich an Zahl zugenommen haben – Berghahn spricht in Bezug auf den mittlerweile erreichten Stand der Forschung bereits von einem „embarras de richesse“. Ein äußerliches Indiz illustriert die Verhältnisse vielleicht am besten: Von den zahlreichen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Kaiserreichs, die in den letzten 25 Jahren – mit Schwerpunkt in den 90er Jahren – erschienen sind und in Perspektive, Wertung und Zuschnitt naturgemäß erheblich differieren, räumt allein das imponierende Werk von Thomas Nipperdey, zugleich das umfassendste und differenzierteste seiner Art, dem Komplex „Recht und Justiz“ einen gebührenden Platz ein33. Erst seit etwa zehn Jahren läßt sich eine verstärkte Hinwendung von Allgemeinhistorikern zu Themen der deutschen Rechts- und Justizgeschichte des 19. Jahrhunderts beobachten34. 33 Nipperdey, I, S. 655 – 665 / II, S. 182 – 201; weiterhin zu nennen wären: M. Stürmer, Das ruhelose Reich, Berlin 1983; W. J. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat, Frankfurt / M. 1993; ders., Bürgerstolz und Weltmachtstreben, Frankfurt / M. 1995; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995; D. Hertz-Eichenrode, Deutsche Geschichte 1871 – 1890, Stuttgart 1992; ders., Deutsche Geschichte 1890 – 1918, Stuttgart 1996; H.-P. Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, Frankfurt / M. 1995; W. Loth, Das Kaiserreich, München 1996; V. Ullrich, Die nervöse Großmacht, Frankfurt / M. 1997; J. Retallack, Germany in the Age of Kaiser Wilhelm II., Houndsmill 1996; D. Blackbourn, The Fontana History of Germany 1780 – 1918, London 1997; V. R. Berghahn, Imperial Germany, 1871 – 1914, Providence 1994 (rev. and exp. ed., New York 2005); ders., Das Kaiserreich 1871 – 1914, Stuttgart 2003 (Justiz als Organ der „Repression“); H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1, München 2000, S. 213 – 377 (Neuauflage der Sonderwegsthese). 34 Zu nennen wären vor allem: Chr. v. Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen, Göttingen 1996; H. Siegrist, Advokat, Bürger und Staat, 2 Bde., Frankfurt / M. 1996; Chr. Dipper (Hg.), Rechtskultur, Rechtswissenschaft, Rechtsberufe im 19. Jahrhundert, Berlin 2000; M. Wienfort, Patrimonialgerichte in Preußen, Göttingen 2001.
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Aufs Ganze gesehen bietet die Forschungslage zur kaiserzeitlichen Justizgeschichte ein heterogenes und disparates Bild35. Auf die vielfältige Richterkritik im ausgehenden Kaiserreich machte erstmals ein Aufsatz von Rainer Schröder aus dem Jahr 1983 aufmerksam36. Die daran anschließende Dissertation von Linnemann reicht – abgesehen von der Schilderung des Kwilecki-Prozesses (1904) – über eine Materialsammlung zum Thema „Klassenjustiz“ und „Weltfremdheit“ in der wilhelminischen Ära kaum hinaus, während die ältere Arbeit von Vossieg über parlamentarische Justizkritik in Preußen mit dem Jahr 1870 endet37. Die Justizdebatte bildet den Hintergrund für das breit angelegte Werk von Thomas Ormond über Dienstrecht, politische Betätigung und Disziplinierung der Richter in Preußen, Hessen und Baden, das den Ursachen für das Verschwinden des liberalen Kreisrichtertums nachgeht – nach wie vor die beste Teilstudie zur kaiserzeitlichen Justizgeschichte, nicht zuletzt aufgrund ihrer breiten historischen Fundierung38. Eine Gesamtdarstellung zur politischen Strafrechtsprechung zwischen 1848 / 1871 und 1914 liegt nicht vor, so daß sich der historisch Interessierte immer noch mit den entsprechenden (stark kursorischen) Kapiteln im Überblickswerk von Blasius behelfen muß39. Einzelstudien existieren zur Strafjustiz im preußischen Kulturkampf, zur strafrechtlichen Bekämpfung des politischen Terrorismus, zur Presserechtsprechung in der Bismarckzeit, zur Streik- und Koalitionsjustiz sowie zur Handhabung des Vereins- und Versammlungsrechts40. Über die Entwicklung der 35 Literatur- / Quellenverzeichnisse: E. Holthöfer, Deutsche Justizgeschichte des 19. Jahrhunderts im Spiegel der neueren Forschung, in: Ius Commune 17 (1990), S. 223 – 291; W. Sellert / H. Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 2, Aalen 1994, S. 107 – 176; H. Rüping / G. Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 5. Aufl., München 2007, S. 97 – 111. 36 R. Schröder, Die Richterschaft am Ende des Zweiten Kaiserreiches unter dem Druck polarer sozialer und politischer Anforderungen, in: A. Buschmann u. a. (Hg.), FS Gmür, Bielefeld 1983, S. 201 – 253; weiterhin: H. Rottleuthner, Die gebrochene Bürgerlichkeit einer Scheinprofession, in: Siegrist (Hg.), S. 145 – 173 (These von der „mehr oder weniger mißlungenen Professionalisierung“ infolge der Abhängigkeit von der Justizverwaltung). 37 G. Linnemann, Klassenjustiz und Weltfremdheit, Kiel 1989; M. A. Vossieg, Parlamentarische Justizkritik in Preußen (1847 – 1870), Kiel 1974; weiterhin: R. Schmitt-Fassbinder, Die sogenannten Krisen in der Strafrechtsprechung, Trier 1978, S. 121 – 190; Cl.-R. Nerius, Johannes Lehmann-Hohenberg (1851 – 1925), Frankfurt / M. 2000 (Spezialstudie zur völkischen Rechts- und Justizkritik). 38 Th. Ormond, Richterwürde und Regierungstreue, Frankfurt / M. 1994. 39 D. Blasius, Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland (1800 – 1980), Frankfurt / M. 1983, S. 47 – 69. 40 M. Scholle, Die preußische Strafjustiz im Kulturkampf 1873 – 1880, Marburg 1974 (konzentriert sich auf das Vorgehen gegen die Bischöfe); J. Wagner, Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871, Hamburg 1981 (mit konflikt- und revolutionstheoretischem Ansatz); H.-W. Wetzel, Presseinnenpolitik im Bismarckreich (1874 – 1890), Frankfurt / M. 1975; K. Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich, Düsseldorf 1974 (behandelt die Zeit nach der Jahrhundertwende; einseitig); R. Schröder, Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach 1988; W. Schultze, Öffentliches Vereinigungsrecht im
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allgemeinen Kriminalität im Kontext der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche geben die Arbeiten von E. A. Johnson Auskunft41. Die systematische Erforschung der Normengeschichte des Strafgesetzbuchs in Form von längsschnittartigenden Untersuchungen der einzelnen Tatbestände oder Tatbestandsgruppen hat sich die „Juristische Zeitgeschichte“ zum Ziel gesetzt42. Einen Überblick über das politische Strafrecht Preußens und des Reichs gibt die ältere Habilitationsschrift von Schroeder, neuere Arbeiten informieren über das vielfältige Nebenstrafrecht sowie, als wichtigen Teilaspekt desselben, über das Wettbewerbsgesetz von 189643. Zum Problem der Strafzumessung ist nach wie vor auf das klassische Werk von Exner aus dem Jahre 1931 zu verweisen, auch wenn sein Schwerpunkt auf der Weimarer Zeit liegt44. Einen traditionellen Schwerpunkt der rechtsgeschichtlichen Forschung bildet das Organisations- und Prozeßrecht – hier sind in erster Linie die Arbeiten von Landau und Schubert zur Reichsjustizgesetzgebung zu nennen45. Was die gescheiterten Versuche einer Strafprozeßreform (einschließlich der entsprechenden Teile der Gerichtsverfassung) betrifft, so ist die Forschung über die Vorkriegsdissertationen aus der Schule von Eduard Kern, die sich ausschließlich auf publizierte Quellen stützen, nicht nennenswert hinausgelangt46. Die zentralen Institute des Kaiserreich (1871 – 1908), Frankfurt / M. 1973; weiterhin: A. Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy, Cambridge 1977, S. 67 ff. (behandelt die SPD-Presse nach 1890; einseitig); G. Stöber, Pressepolitik als Notwendigkeit, Stuttgart 2000 (Einzelhinweise für die wilhelminische Zeit). 41 E. A. Johnson, Patterns of Crime in Imperial Germany, Ann Arbor 1977; ders., Urbanization and Crime, Cambrige 1995; weiterhin: H. Reif (Hg.), Räuber, Volk und Obrigkeit, Frankfurt / M. 1984; B. C. Hett, Death in the Tiergarten, Cambridge 2004 (Spezialstudie über die Bestrafung des Mordes im kaiserlichen Berlin). 42 Als Beispiele seien genannt: F. Prinz, Diebstahl – §§ 242 ff. StGB, Baden-Baden 2002 (seit 1870); F. Korn, Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB, Berlin 2003 (1870 – 1933); S. Putzke, Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit, Berlin 2003. 43 Fr.-Chr. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, München 1970, S. 73 – 82 / 86 – 108; R. Weber, Die Entwicklung des Nebenstrafrechts 1871 – 1914, BadenBaden 1999; H. v. Stechow, Das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs vom 27. Mai 1896, Berlin 2002. 44 F. Exner, Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, Leipzig 1931. 45 P. Landau, Die Reichsjustizgesetze von 1879 und die deutsche Rechtseinheit, in: Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, hg. v. Bundesministerium der Justiz, Köln 1977, S. 161 – 211; W. Schubert, Die deutsche Gerichtsverfassung (1869 – 1877), Frankfurt / M. 1981, S. 22 – 257; weiterhin: H. Müller, Die Entstehungsgeschichte des Gerichtsverfassungs-Gesetzes, Tübingen 1939. 46 P. O. Bolder, Der Versuch einer Reform des Strafverfahrens und der Strafgerichtsverfassung in den Jahren 1885, 1894 und 1895, Freiburg 1934; G. Intrator, Inhalt, Zweck und Schicksale des gescheiterten Strafprozeßentwurfs von 1908, Freiburg 1934; zusammenfassend: E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München 1954, S. 86 – 126 (mit Verzeichnis der älteren Literatur).
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„reformierten“ Strafverfahrens, das Schwurgericht und die Staatsanwaltschaft, sind für die Epoche zwischen 1848 und 1871 erheblich besser erforscht als für die spätere Zeit. Genauere Kenntnisse über die Geschichte des Schwurgerichts im Kaiserreich existieren nur punktuell47. Standen bisher Diskussion und Gesetzgebung im Vordergrund, so ist mit dem Schwurgericht Bayreuth jetzt erstmals ein einzelner Gerichtshof zum Gegenstand einer Studie gemacht worden48. Hinsichtlich der Staatsanwaltschaft hat sich die Forschung auf die Entstehungsphase und die einzelstaatlichen Regelungen konzentriert. Die neuere Dissertation von Collin über das Preußen der Reaktionszeit geht insofern darüber hinaus, als sie, auf archivalischer Grundlage, die ministerielle Anleitung der Anklagebehörde mit in den Blick nimmt – ein Ansatz, der in der vorliegenden Arbeit fortgeschrieben wird49. Daneben sind auch andere strafprozessuale Aspekte von rechtsgeschichtlicher Seite aufgegriffen worden50. Als wichtigste Untersuchungen zum Zivilprozeß dürfen die Habilitationsschrift von Damrau, die sich in erschöpfender Weise mit der Entwicklung zentraler Prozeßmaximen beschäftigt, sowie die Studie von Dannreuther über die zivilprozessuale Gesetzgebung zwischen 1871 und 1945 gelten51. Zum Problemkreis der Sondergerichte (Gewerbe- und Kaufmannsgerichte) einschließlich der weiteren Bemühungen um eine Spezialgerichtsbarkeit liegen nur knappe Überblicke vor52. 47 E. Schwinge, Der Kampf um die Schwurgerichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung, Breslau 1926; D. Blasius, Der Kampf um die Geschworenengerichte im Vormärz, in: H.-U. Wehler (Hg.), FS Rosenberg, Göttingen 1974, S. 148 – 161; G. Hadding, Schwurgerichte in Deutschland, Kassel 1974 (kursorisch); P. Landau, Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland im 19. Jahrhundert bis 1870, in: A. P. Schioppa (Hg.), The Trial Jury in England, France, Germany 1700 – 1900, Berlin 1987, S. 241 – 304; weiterhin: W. W. Hahn, Die Entwicklung der Laiengerichtsbarkeit im Großherzogtum Baden während des 19. Jahrhunderts, Berlin 1974. 48 H. Paulus, Der Oberfränkische Schwurgerichtshof, Bayreuth 2004. 49 E. Carsten, Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart, Breslau 1932; E. Blankenburg / H. Treiber, Die Entstehung der Staatsanwaltschaft in Deutschland, in: Leviathan 6 (1978), S. 161 – 175; W. Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft, Berlin 1994, S. 43 – 207 (einzelstaatliche Bestimmungen); P. Collin, „Wächter der Gesetze“ oder „Organ der Staatsregierung“?, Frankfurt / M. 2000; weiterhin: J. W. Knollmann, Die Einführung der Staatsanwaltschaft im Königreich Hannover, Berlin 1994. 50 B. Malsack, Die Stellung der Verteidigung im reformierten Strafprozeß, Frankfurt / M. 1992 (für die Zeit bis 1870); P. G. Krattinger, Die Strafverteidigung im Vorverfahren im deutschen, französischen und englischen Strafprozeß, Bonn 1964 (bes. S. 220 ff. für die Zeit nach 1877); J. Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, Bonn 1971; H. Behr, Die Rechtsmittel gegen Strafurteile in der Reformdiskussion und der Partikulargesetzgebung des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1984; P.-P. Alber, Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren, Berlin 1974. 51 J. Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen seit der Reichszivilprozeßordnung von 1877, Paderborn 1975; D. Dannreuther, Der Zivilprozeß als Gegenstand der Rechtspolitik im Deutschen Reich 1871 – 1945, Frankfurt / M. 1987. 52 A. v. Saldern, Gewerbegerichte im wilhelminischen Deutschland, in: K.-H. Mangold (Hg.), FS Treue, München 1969, S. 190 – 203; Dannreuther, S. 145 – 162; zur Entstehung des Gewerbegerichtsgesetzes: H.-J. v. Berlepsch, „Neuer Kurs“ im Kaiserreich?, Bonn 1987, S. 84 ff.
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Nach wie vor unentbehrlich für das Verständnis der juristischen Methode ist das bahnbrechende Werk von Franz Wieacker über die Entwicklung der deutschen Privatrechtswissenschaft53. Dem preußischen Obertribunal hat die Forschung bislang nur geringes Interesse entgegengebracht, insbesondere die politische Rechtsprechung harrt noch einer genaueren Analyse54. Zum Reichsgericht liegt seit einigen Jahren eine institutionengeschichtliche Darstellung vor, die sich mit der Struktur des Gerichtshofs und der Reichsrichterschaft beschäftigt. Bezüglich der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Forschungslage gespalten: Während die Judikatur in Zivilsachen durch Einzelstudien fortlaufend weiter erhellt wird, besitzen Arbeiten zur (politischen) Strafrechtsprechung bis 1914 nach wie vor Seltenheitswert – erst für die Weimarer Zeit ändert sich hier das Bild55. Eine fundierte sozialgeschichtliche Untersuchung über die preußische Richterschaft, die sich auf die Personalakten des Justizministeriums stützen und genaueren Aufschluß über die immer wieder beklagte Verschiebung „nach unten“ geben müßte, stellt weiterhin ein Desiderat dar – ein Umstand, der gleichermaßen für die Staatsanwaltschaft gilt56. Kaum besser sieht es in dieser Hinsicht übrigens für das außerpreußische Deutschland aus. Als gut erforscht darf hingegen die Geschichte der preußischen Juristenausbildung gelten, allerdings leiden sämtliche Arbeiten darunter, daß sie über den Tellerrand ihres Themas kaum hinausblicken, den Bezug zur zeitgenössischen Justizkritik also bestenfalls kursorisch herstellen57. 53 Fr. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2., neubearb. Aufl., Göttingen 1967, S. 348 ff.; Überblick bei: H. Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 10., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Heidelberg 2005, S. 143 ff. 54 Fr. H. Sonnenschmidt, Geschichte des Königlichen Ober-Tribunals zu Berlin, Berlin 1879 (OT-Rat seit 1853; Gedenkschrift); Bemerkungen zur ministeriellen Besetzungspraxis bei Ormond, S. 37 f., 387 – 389. 55 K. Müller, Der Hüter des Rechts, Baden-Baden 1997; Wagner, S. 327 – 354 (Rechtsprechung zum politischen Terrorismus); R. Schröder, Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach 1988; aus DDR-Sicht: H. Kuntschke, Die geschichtliche Stellung des Reichsgerichts im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin (Ost) 1964 (Rechtsprechung gegenüber der Arbeiterklasse). 56 Einen wichtigen Teilaspekt behandelt: B. Strenge, Juden im preußischen Justizdienst 1812 – 1918, München 1996 (einschließlich der Assessoren, Referendare und Rechtsanwälte). 57 K. Weber, Die Entwicklung des juristischen Prüfungs- und Ausbildungswesens in Preußen, in: ZZP 59 (1935), S. 1 – 53 / 96 – 168 / 253 – 290 (aus Sicht der Justizverwaltung); H.-H. Jescheck, Die juristische Ausbildung in Preußen und im Reich, Berlin 1939 (nationalsozialistisch gefärbt); U. Bake, Die Entstehung des dualistischen Systems der Juristenausbildung in Preußen, Kiel 1971 (bis 1849); I. Ebert, Die Normierung der juristischen Staatsexamina und des juristischen Vorbereitungsdienstes in Preußen (1849 – 1934), Berlin 1995 (s. hierzu die Rezension von H. Fenske, in: HJb 116, 1996, S. 240 – 242); weiterhin: J. Penz, Die Geschichte der Juristenausbildung in Württemberg, Freiburg 1985; zur Ausbildung für den höheren Verwaltungsdienst: W. Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, Berlin 1972 (mit breiterem Ansatz).
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Einleitung
Über die bayerische Justizgeschichte zwischen 1848 / 1871 und 1914 ist vergleichsweise wenig bekannt. Am besten erforscht ist noch das Wirken der Justizverwaltung, und zwar dank des materialreichen, von Gerichtsassessoren, Staatsanwälten und Amtsrichtern verfaßten Werks über die bayerischen Justizminister des konstitutionellen Zeitalters aus dem Jahre 193158. Im übrigen ist man auf Einzelstudien, kursorische Überblicke und verstreute Informationen angewiesen59.
58 Die Kgl. Bayerischen Staatsminister der Justiz in der Zeit von 1818 bis 1918, hg. v. Staatsministerium der Justiz, 2 Bde., München 1931. Das preußische Pendant hierzu, wenngleich in viel kleinerem Maßstab, bildet: A. Thiesing, Die Geschichte des Preußischen Justizministeriums, in: F. Gürtner (Hg.), 200 Jahre Dienst am Recht, Berlin 1938, S. 11 – 172. 59 H.-W. Wetzel, Presseinnenpolitik im Bismarckreich (1874 – 1890), Frankfurt / M. 1975, pass.; Fr. Hartmannsgruber, Die bayerische Patriotenpartei 1868 – 1887, München 1986, pass.; H. Rumschöttel, Auf dem Weg zum modernen Rechtsstaat, in: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“, München 1990, S. 201 – 249 (Ausstellungskatalog); P. Schweisthal, Das bayerische Strafgesetzbuch von 1861, München 1992; O. Kollmann, Zur Entwicklung des Ausbildungsund Prüfungswesens für Richteramt, höheren Verwaltungsdienst, Rechtsanwaltschaft und Notariat in Bayern, in: FS Laforet, München 1952, S. 445 – 472; U. Kühn, Die Reform des Rechtsstudiums zwischen 1848 und 1933 in Bayern und Preußen, Berlin 2000 (der Titel ist irreführend, da ein systematischer Vergleich nicht stattfindet); R. Heydenreuter, Kriminalgeschichte Bayerns, Regensburg 2003, S. 287 – 306; H. Paulus, Der Oberfränkische Schwurgerichtshof, Bayreuth 2004.
Erster Teil
Grundlagen des Rechts- und Justizsystems und Themenkreise der Justizkritik (1848 / 49 – 1878 / 79) A. Von der Revolution 1848 / 49 bis zum Norddeutschen Bund Wie in der Einleitung bereits erwähnt, setzte die moderne, an rechtsstaatlichen Kriterien orientierte Justizkritik lange vor der Revolution von 1848 / 49 ein. Gleichwohl erscheint es von der Sache her geboten, die Untersuchung erst mit der Revolution beginnen zu lassen, bestanden doch erst zwischen ihr (genauer gesagt: ihren „Ergebnissen“) und dem Deutschen Reich von 1871 klare rechtliche und institutionelle Kontinuitäten. Damit war der Rahmen geschaffen, in dem sich die Diskussion über Recht und Justiz fortan bewegte. Dies gilt zuallerst für die konstitutionellen Grundlagen. Mit dem Übergang Preußens zum Verfassungsstaat fanden zwei parallele Entwicklungen ihren vorläufigen Abschluß: die Verselbständigung der Rechtsprechung zur „dritten Gewalt“ im staatlichen Institutionengefüge und die Sanktionierung richterlicher Unabhängigkeit. Die revidierte Verfassung vom 31. 1. 1850 legte sowohl die sachliche Unabhängigkeit der Rechtsprechung (strenge Bindung des Richters an das Gesetz) als auch die persönliche Unabhängigkeit der Richter (Anstellung auf Lebenszeit, Rechtsschutz gegen Amtsenthebung und -versetzung) fest (Art. 86 / 87)1. Daß gleichwohl eine Reihe effektiver Einwirkungsmöglichkeiten bestehen blieben, die verstärkten Rechtsgarantien aber auch zu höheren Ansprüchen an eine wirklich unabhängige Rechtsprechung führten, zeigte sich spätestens im preußischen Verfassungskonflikt, der von einer dezidiert gouvernementalen Handhabung der politischen Strafjustiz gekennzeichnet war. Folgerichtig markiert die Ära des Verfassungskonflikts den ersten Höhepunkt der nachrevolutionären Justizkritik, mit vielfältigen Ausstrahlungen in die nachfolgende Kaiserzeit hinein. Zur Politisierung der Justiz trug nicht zuletzt die Verrechtlichung der Vereinsund Versammlungstätigkeit (Gesetz v. 11. 3. 1850) sowie des Pressewesens (Gesetz 1 E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München 1954, S. 79; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, Stuttgart 1988, S. 62 f. / 121 – 123; Th. Ormond, Richterwürde und Regierungstreue, Frankfurt / M. 1994, S. 46 – 48; allgemein zum Problemkreis: D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975.
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1. Teil: Grundlagen des Rechts- und Justizsystems (1848 / 49 – 1878 / 79)
v. 12. 5. 1851) bei, wodurch den Gerichten genuin politische und überaus konfliktträchtige Materien zugeführt wurden. Auch im „alten“ Verfassungsstaat Bayern fanden die genannten Bereiche erst jetzt ihre gesetzliche Regelung (Gesetze v. 26. 2. bzw. 17. 3. 1850). Als weiteres Bindeglied wäre der „reformierte“ Strafprozeß zu nennen, der in fast allen deutschen Staaten im Zuge der Revolution eingeführt wurde und in modifizierter Form auch dem Strafverfahren des Deutschen Reiches zugrundelag. Er bildete den Bezugspunkt für langanhaltende Kontroversen über Institutionen, Kompetenzen und Prozeduren der staatlichen Strafgewalt. In denselben Zusammenhang gehört das Preußische Strafgesetzbuch von 1851, das dem zwanzig Jahre später verabschiedeten Reichsstrafgesetzbuch als Grundlage diente. Jenseits des Verfassungs- und Strafrechts ist auf die systematische Zurücksetzung der Justiz gegenüber der Verwaltung in Preußen zu verweisen, die mit der Justizreform von 1849 ihren Anfang nahm. Was schließlich die preußische Juristenausbildung anging, so konnten weder die Vereinheitlichung der Qualifikation (1849 / 51) noch das Justizausbildungsgesetz von 1869 (JAG) deren strukturelle Defizite beheben. Kurzum: In den zwei Jahrzehnten zwischen der Revolution von 1848 / 49 und den ausgehenden 1860er Jahren bildeten sich die Grundlagen des kaiserzeitlichen Rechts- und Justizsystems heraus. Zugleich entstanden bzw. verdichteten sich zentrale Themenkreise der späteren Justizkritik. Auf der anderen Seite bestanden zwischen den 50er und den 60er Jahren erhebliche Unterschiede, namentlich in rechtspolitischer und jurisdiktioneller Hinsicht. Beide Stränge sollen im folgenden näher beleuchtet werden. Dabei gilt es folgende Aspekte zu behandeln: den Aufbau der Strafgerichte und des Strafverfahrens (Kap. I), die Stellung der Justiz im Verwaltungsstaat (Kap. II), die Ausbildungsdiskussion (Kap. III) und schließlich die politische Strafrechtsprechung (Kap. IV), ergänzt um einen Exkurs über Bismarcks Verhältnis zur Justiz.
I. Gerichtsverfassung und Verfahrensstruktur (Strafrecht) 1. Die Justizreform in Preußen und Bayern im Überblick Zu den grundlegenden Errungenschaften der Revolution von 1848 / 49 zählt die Modernisierung der Gerichtsverfassung und der Strafrechtspflege in den deutschen Einzelstaaten. 1. In Preußen wurde die Justizreform mit der Verordnung vom 2. 1. 1849 eingeleitet, die das Gerichtswesen in den acht altländischen Provinzen auf eine neue Grundlage stellte2. Durch Aufhebung aller standesherrlichen, städtischen und 2 VO v. 2. 1. 1849 über die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit und des eximierten Gerichtsstandes sowie über die anderweitige Organisation der Gerichte (GS, S. 1 ff.); Kern, S. 77 f.; Huber, III, S. 41 ff.
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patrimonialen Gerichte sowie aller eximierten und privilegierten Gerichtsstände für Personen, Behörden und Grundstücke wurde die gesamte Zivil- und Strafgerichtsbarkeit in staatliche Regie überführt. Von der Reorganisation waren nicht weniger als 6.616 Patrimonialgerichte und 533 kleinere und größere Untergerichte betroffen. An die Stelle der alten, „feudalen“ Gerichtsvielfalt trat ein vereinfachtes System: Fortan gliederten sich die Gerichte (und analog dazu der Instanzenzug) in die drei Stufen Stadt- und Kreisgerichte (Kollegien mit drei Mitgliedern) – Appellationsgerichte (vom Umfang her deckungsgleich mit den Regierungsbezirken; je 5 Mitglieder) – Obertribunal in Berlin (je 7 Mitglieder). Am 1. 4. 1849 traten 21 Appellations-, 5 Stadt- und 236 Kreisgerichte ins Leben, daneben zahlreiche Gerichtskommissionen (Einzelrichter) und Gerichtsdeputationen (Kollegien) mit wechselnder Besetzung (1870: 42 Deputationen, 500 Kommissionen; 1879: 55 Deputationen). Das Gerichtswesen in der Rheinprovinz, das von der Reorganisation unberührt blieb, wies bis 1879 folgende vierstufige Gliederung auf: Friedensgerichte (125) – Landgerichte (9) – Appellationsgerichtshof in Köln – Rheinischer Senat beim Obertribunal (seit 1852)3. Einen Tag später erschien die Verordnung vom 3. 1. 1849, mit der Preußen den modernen, „reformierten“ Strafprozeß adaptierte4. Er löste den gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß ab, dessen Abschaffung seit Jahrzehnten von fachwissenschaftlicher Seite gefordert worden war. Namentlich die Mißachtung der subjektiven Rechte des Beschuldigten bzw. die unbegrenzten staatlichen Eingriffsrechte, der Zwangscharakter des Verfahrens, die Vereinigung unterschiedlicher Funktionen (Ankläger, Urteiler, Verteidiger) in der Person des Richters sowie das geheime und schriftliche Prozedere galten als absolutistisch und antiquiert. Die Januarverordnung, auf Vorgaben der oktroyierten Verfassung vom 5. 12. 1848 beruhend (Art. 92 – 94), führte in den altländischen Provinzen ein: die Staatsanwaltschaft als Organ des Anklageprozesses, Mündlichkeit und Öffentlichkeit des Hauptverfahrens, freie Beweiswürdigung und die Schwurgerichte (im Rheinland galt der reformierte Prozeß bereits seit den Tagen Napoleons). Allein die Schwurgerichte dürfen als echtes Kind der Revolution gelten, alle übrigen Neuerungen knüpften an vor3 In den 1866 annektierten Provinzen waren die Gerichte wie folgt angeordnet: Amtsgerichte (299) – Stadtgericht (Frankfurt / M.), Kreisgerichte (14), Obergerichte der Provinz Hannover (11) – Appellationsgerichte (5) – Oberappellationsgericht in Berlin (1867 – 1874). Neben den ordentlichen Gerichten existierten überall zahlreiche Sondergerichte. Angaben nach: G. Fischer, Vor 60 Jahren, in: DJZ 14 (1909), S. 418 f.; Bericht über den Stand der Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1882, Übers. S. 49; Ormond, S. 49 (Schaubild); ausführliche Darstellung bei: H. A. Fecht, Die Gerichts-Verfassungen der Deutschen Staaten, Erlangen 1868, S. 88 – 229. 4 VO v. 3. 1. 1849 über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen (GS, S. 14 ff.); Kern, S. 77 f.; Huber, III, S. 41 ff.; M. A. Vossieg, Parlamentarische Justizkritik in Preußen 1847 – 1870, Kiel 1974, S. 41 – 44 / 80 – 89; P. Collin, „Wächter der Gesetze“ oder „Organ der Staatsregierung“?, Frankfurt / M. 2000, S. 88 ff.; P.-P. Alber, Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren, Berlin 1974, S. 144 ff.
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1. Teil: Grundlagen des Rechts- und Justizsystems (1848 / 49 – 1878 / 79)
revolutionäre Überlegungen und Initiativen der Regierung an. Wie von der Verfassung gefordert, mußten beide Verordnungen Gesetzeskraft erlangen, was – ohne einschneidende Änderungen – mit Gesetz v. 3. 5. 1852 geschah. Zur preußischen Justizreform jener Jahre zählten weiterhin das Strafgesetzbuch vom 14. 4. 1851 sowie das Gesetz vom 26. 4. 1851, das die Qualifikationsnormen für die richterliche Tätigkeit anhob und vereinheitlichte. Es beseitigte die bisherigen Abstufungen in der richterlichen Ausbildung und schrieb für alle Richterund Staatsanwaltsstellen die bestandene „große“ Staatsprüfung (Assessorexamen) vor5. Die Neuregelung war insofern geboten, als sich – verglichen mit den älteren Untergerichten – die Kompetenzen der neuen Stadt- und Kreisgerichte, nunmehr zuständig für die gesamte Rechtspflege erster Instanz, berächtlich erweitert hatten, was darüber hinaus eine erhebliche Vermehrung des Personals erforderlich machte. 2. In Bayern verlief die Entwicklung der Sache nach ähnlich, allerdings mit dem Unterschied, daß der Landtag am Prozeß der Willensbildung von vornherein beteiligt war und der Reformgang sich über einen längeren Zeitraum erstreckte6. Parallel zur Aufhebung der standes- und gutsherrlichen Gerichtsbarkeit sowie der privilegierten Gerichtsstände stellte das an den pfälzischen Einrichtungen orientierte Grundlagengesetz vom 4. 6. 1848 eine umfassende Gerichts- und Verwaltungsreform, eine Neuordnung des Straf- und Polizeirechts sowie eine Modernisierung des Prozeßrechts in Aussicht. Noch im gleichen Jahr wurden die Schwurgerichte (3. 8.) und der reformierte Strafprozeß (10. 11.) in den rechtsrheinischen Landesteilen eingeführt7. Im Zeichen der konservativ-reaktionären Wende, die auch in Bayern nicht ausblieb, geriet die Justizreform dann für ein Jahrzehnt ins Stocken. Mit Rückendeckung Maximilians II. behandelte die Regierung, angeführt von Ludwig von der Pfordten (leitender Minister 1849 – 59) und Innenminister Reigersberg (1852 – 1859), die weitere Umsetzung des Reformprogramms dilatorisch. Der – gleichermaßen politisch wie finanziell motivierte – Versuch, das Grundlagengesetz zurückzunehmen, scheiterte am Widerstand der Abgeordnetenkammer, in der eine konservativ-liberale, gemäßigt reformbereite Mittelpartei den Ton angab (1855). Erst 5 Vgl. I. Ebert, Die Normierung der juristischen Staatsexamina und des juristischen Vorbereitungsdienstes in Preußen, Berlin 1995, S. 31. 6 Allgemein zu Bayern: W. Volkert, Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in: A. Schmid (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV / 1, 2. Aufl., München 2003, S. 237 ff. 7 Gesetz v. 4. 6. 1848, die Grundlagen der Gerichtsorganisation, das Verfahren in Zivilund Strafsachen und das Strafrecht betr. (GBl, S. 137 ff.); Gesetz v. 3. 8. 1848 über die Einführung der Schwurgerichte (GBl, S. 193 ff.); Gesetz v. 10. 11. 1848, die Abänderungen des zweiten Teiles des Strafgesetzbuchs von 1813 betr. (GBl, S. 233 ff.); vgl. Die Kgl. Bayerischen Staatsminister der Justiz, hg. v. Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, München 1931, S. 473 – 477; weiterhin: P. Schweisthal, Das bayerische Strafgesetzbuch von 1861, München 1992, S. 54 ff.
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der umfassende Ministerwechsel des Jahres 1859 löste die Blockade: Dank der Reformfreudigkeit der neuen Minister Mulzer (Justiz) und Neumayr (Inneres) einigten sich Regierung und Landtag rasch darauf, die Versprechen des Jahres 1848 endlich einzulösen. Mit Datum vom 10. 11. 1861 wurden verkündet: ein Gerichtsverfassungsgesetz (vollständige Trennung von Justiz und Verwaltung), ein neues Strafgesetzbuch in Verbindung mit einem Polizeistrafgesetzbuch und einem Einführungsgesetz zu beiden (Überweisung der Übertretungen, bisher der Polizeistrafgewalt unterliegend, an die Gerichte, Herstellung der materiellen Strafrechtseinheit) und ein Notariatsgesetz. Den Schlußstein der Justizreform bildete die neue Zivilprozeßordnung vom 29. 4. 18698. Seit 1861 wiesen die Gerichte in den rechtsrheinischen Landesteilen folgende Struktur auf: Stadt- und Landgerichte (267; Einzelrichter) – Bezirksgerichte (34; Kollegien mit drei Mitgliedern) – Appellationsgerichte (7; vom Umfang her deckungsgleich mit den Kreisen; je fünf Mitglieder) – Oberappellationsgericht in München. Das auf der französischen Gesetzgebung beruhende Gerichtswesen in der Rheinpfalz blieb unverändert. Es gliederte sich bis 1879 in Landgerichte (31), Bezirksgerichte (4), das Appellationsgericht in Zweibrücken (mit Schwurgericht) und den Kassations- und Revisionshof beim Oberappellationsgericht in München (bis 1870; zuständig für Zivilsachen)9. Unter den genannten Neuerungen kamen dem Schwurgericht und der Staatsanwaltschaft zweifellos die größte Bedeutung zu, bildeten sie doch die Kontrapunkte im Gefüge des neuen Strafprozesses.
2. Dimensionen des Schwurgerichtsproblems a) Die Jury als politische Institution Seit dem 18. Jahrhundert gehörte die Beteiligung des Volkes an der Strafrechtspflege in Form des Schwurgerichts zu den Kernforderungen des politischen Liberalismus. Die kontinentale Diskussion wurde maßgeblich von Montesquieu geprägt, für den die Jury – orientiert am englischen Vorbild – zu den unverzichtbaren Bestandteilen wahrer „politischer Freiheit“ zählte. In seinem Verfassungsmodell aus dem „Esprit des Loix“ (1748), entwickelt im berühmten 6. Kapitel des XI. Buches, stellt das Volksgericht die alleinige und allzuständige, für die gesamte Zivil8 Zur legislativen Entwicklung: Staatsminister, I, S. 548 – 557 sowie II, S. 615 – 619 / 623 – 627 / 654 – 670 / 800 – 803; Schweisthal, S. 57 ff. Karl Christoph von Mulzer (1805 – 1875) war vom 1. 5. 1859 bis zum 31. 7. 1864 bayerischer Justizminister (Staatsminister, II, S. 647 – 719). 9 Gesetz v. 10. 11. 1861, die Gerichtsorganisation betr. (GBl, S. 209); VO v. 24. 2. 1862 (Ausführungsbestimmungen). Die Bezirksgerichte waren bereits per Gesetz v. 1. 7. 1856 eingeführt worden (teilweise mit anderen Zuständigkeiten). In beiden Rechtsgebieten existierten darüber hinaus zahlreiche Sondergerichte; ausführliche Übersicht bei Fecht, S. 230 – 290; weiterhin: W. Volkert (Hg.), Handbuch der bayerischen Ämter, Gemeinden und Gerichte 1799 – 1980, München 1983, S. 116 – 126.
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und Strafrechtspflege verantwortliche Gerichtsform dar. Das liberale Programm Montesquieus wurde in Deutschland zwar in breiter Form rezipiert, allein die Schwurgerichtsidee stieß vergleichsweise auf geringe Resonanz10. Hier dürften die Verbesserungen im Rechts- und Justizwesen ins Gewicht gefallen sein, die von den reformabsolutistischen Staaten mit Nachdruck betrieben worden waren. 1791 durch die revolutionäre Constituante in Frankreich eingeführt, wurde die Jury seit 1797 auf die neuen linksrheinischen Gebiete übertragen, wo sie als Bestandteil des Rheinischen Rechts auch nach Ende der französischen Herrschaft bestehen blieb. Den gesamten Vormärz über in politischer Öffentlichkeit und Rechtswissenschaft kontrovers beurteilt, ging der Ruf nach dem Schwurgericht später in die berühmten Märzforderungen ein11. Nichts kennzeichnet die damalige Stimmungslage wohl besser als die Tatsache, daß die liberale Paulskirchenmehrheit das Institut praktisch ohne Diskussion in die Reichsverfassung aufnahm. Obwohl das nationale Einigungswerk scheiterte, wurden Geschworenengerichte – mit Modifikationen im einzelnen, im ganzen aber dem französischen Vorbild folgend – seit 1848 in fast allen deutschen Staaten installiert12. 1. In Preußen bestanden zunächst 88 (seit 1856: 89) Schwurgerichte, nach den Annexionen des Jahres 1866 erhöhte sich ihre Zahl auf 11013. Sie setzten sich aus zwölf Geschworenen und fünf Berufsrichtern zusammen und waren den fünf Stadtsowie etwa einem Drittel der Kreisgerichte zugeordnet. Der Streit um das Institut, durch die Januarreform in voller Schärfe entbrannt, bewegte sich zunächst noch weitgehend in den vormärzlichen Bahnen. Im Kern ging es um die Frage, ob der Beteiligung von Laien überhaupt eine innere Berechtigung zukomme, den Kontrapunkt bildeten mithin die herkömmlichen, aus rechtsgelehrten Richtern bestehenden Gerichtskollegien. In der Debatte, die auf parlamentarischer, publizistischer und fachwissenschaftlicher Ebene ausgetragen wurde, standen politische Argumente im Vordergrund, aber auch rechtsimmanente Aspekte spielten von Beginn an eine nicht unerhebliche Rolle14. 10 Vgl. dazu U. Wilhelm, Montesquieu und die Theorie der Mischverfassung, in: Saeculum 53 / 1 (2002), S. 75 – 91, hier S. 90; zum Kontext: ders., Der deutsche Frühliberalismus, Frankfurt / M. 1995. 11 Bemerkenswerterweise forderte die Mannheimer Volksversammlung vom 27. 2. 1848, mit der die Revolution auf Deutschland übersprang, ausdrücklich „Schwurgerichte nach dem Vorbilde Englands“ (Text bei: H. Fenske, Hg., Vormärz und Revolution 1840 – 1849, Darmstadt 1976, S. 264 f.). 12 Zur Forschungsliteratur s. Einl., Anm. 47; weiterhin: W. Schubert, Die deutsche Gerichtsverfassung (1869 – 1877), Frankfurt / M. 1981, S. 205 – 235. 13 Angaben nach: Zur Statistik der Preußischen Schwurgerichte, in: GA 9 (1861), S. 171 – 177; G. Fischer, Ein statistischer Rückblick auf die Tätigkeit der Schwurgerichte, in: DJZ 14 (1909), S. 754 – 756. 14 Überblicke bei: H. Ortloff, Der Schwurgerichtsstreit in Deutschland, in: Kritische Ueberschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 6 (1859), S. 385 – 432; H. A. Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. 1, Göttingen 1861, S. 72 – 84; die rechtlichen Aspekte sind im folgenden Abschnitt behandelt.
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Politisch lassen sich drei Grundpositionen unterscheiden: Den preußischen Hochkonservativen war das Volksgericht schon wegen seines revolutionären Ursprungs ein Dorn im Auge. Dennoch zeigten sie sich im Abgeordnetenhaus kompromißbereit und verzichteten – mit Rücksicht auf die öffentliche Stimmung – auf die Forderung, das Institut umstandslos wieder zu beseitigen15. In der Publizistik war man weniger zurückhaltend: Hier lautete die Parole – um den Titel einer anonymen, im Umkreis der Revisionsverhandlungen von 1852 veröffentlichten Broschüre zu zitieren – schlicht und einfach „Fort mit den Geschworenen“16. Dem hielten die Liberalen verfassungs- und rechtspolitische Argumente entgegen: Als „Palladium der Freiheit“ – so die wiederkehrende Formel – bilde das Schwurgericht das gerichtsorganisatorische Äquivalent zur konstitutionellen Verfassungsform. Es wirke vertrauensbildend, da das Rechtsbewußtsein des Volkes darin unmittelbar zum Ausdruck gelange, wohingegen die gelehrten Richter mit ihrer römischrechtlichen Denkweise zu unverständlichen und sophistischen Urteilen neigen würden. Und es erfülle eine volkspädagogische Aufgabe, indem es den Sinn für Recht und Gerechtigkeit allgemein stärke17. In vielfacher Abwandlung ziehen sich diese Denkfiguren durch die Schriften von Carl Joseph Mittermaier, des prominentesten Verfechters der Schwurgerichtsidee im mittleren Drittel des Jahrhunderts. Mittermaier, bezeichnenderweise kein Preuße, betrachtete es geradezu als wissenschaftliche Lebensaufgabe, die Jury in Deutschland populär zu machen. In zahlreichen Beiträgen legte er immer wieder die Vorzüge des Instituts dar, ohne für die Geburtsfehler und notwendigen Verbesserungen blind zu sein18. Mittermaier argumentierte von einem klassisch-liberalen, prinzipiell staatskritischen Standpunkt aus, der sich bei seinen Nachfolgern deutlich abschwächte. Zu den ideologischen Voraussetzungen gehörte die Vorstellung von einer breiten liberalen Mittelstandsgesellschaft mit relativ homogenen Wert- und Rechtsbegriffen, so daß die Urteile der aus ihrer Mitte entnommenen Volksrichter zugleich als Ausspruch der Gesamtgesellschaft gelten konnten. Angesichts der sich verschärfenden Klassengegensätze verlor diese Sozialidee (und mit ihr der Schwurgerichtsgedanke) im letzten Jahrhundertdrittel zunehmend an Überzeugungskraft19. Vgl. Geppert, Sten. Ber. 2. Kammer, 13. 3. 1852, S. 738 f. Anon., Fort mit den Geschwornen [sic], Berlin 1852. 17 Der Topos vom Rechtsbewußtsein des Volkes fand seine klassische Ausformulierung im Werk von Georg Beseler, Volksrecht und Juristenrecht (1843); vgl. dazu Landau, S. 290 – 292. 18 Exemplarisch sei auf die letzte Schrift verwiesen: C. J. Mittermaier, Das Volksgericht in Gestalt der Schwur- und Schöffengerichte, Berlin 1866. Carl Joseph Mittermaier (1787 – 1867), gleichbedeutend als liberaler Politiker und Rechtswissenschaftler, war Präsident der 2. Kammer des Badischen Landtags und des Frankfurter Vorparlaments sowie führendes Mitglied der Paulskirchenversammlung (Württemberger Hof). Seit 1821 Professor in Heidelberg, lag der Schwerpunkt seines außerordentlich umfangreichen Werkes auf dem Gebiet des Strafrechts und Strafverfahrens; zu Mittermaier: W. Küper (Hg.), Carl Joseph Anton Mittermaier, Heidelberg 1988; A. Koch, Carl Joseph Anton Mittermaier und das Schwurgericht, in: ZNR 22 (2000), S. 167 – 187. 15 16
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Eine dritte Gruppe von Autoren bemühte sich um eine vermittelnde Position: Sie betonte den Wert des Schwurgerichts als Rechtsinstitut, ohne die politischen Dimensionen aus dem Blick zu verlieren. Hierbei war die Absicht leitend, die Diskussion zu entpolitisieren und somit zu versachlichen. Als Hauptvertreter dieser Richtung darf Rudolf Gneist gelten: „Wie kann man aber im Ernst glauben, daß in dem lebenskräftigen praktischen England eine Rechtsanstalt seit sechs Jahrhunderten in täglicher Übung bestehen könnte, wenn sie vom rechtlichen Standpunkt aus unhaltbar oder gebrechlich wäre?“20. Aber nicht nur seiner Entstehungsgeschichte nach stellte die Jury eine genuin politische Institution dar. In dieselbe Richtung wies die Kompetenzfrage. Ausgehend von entsprechenden Beschlüssen der Nationalversammlung und analog zu anderen deutschen Staaten waren der Jury auch in Preußen – neben den schweren Straftaten – alle „politischen und Preßvergehen“ übertragen worden21. Damit waren die neuen Gerichte ab ovo dem rauhen Sturm der politischen Kämpfe ausgesetzt. Ein letztes Moment betraf den Auswahlmodus der Geschworenen22. In Altpreußen übernahm man einfach die für die rheinischen Gebiete geltenden Bestimmungen. Danach war die Fähigkeit zum Geschworenenamt an einen hohen Steuersatz (Zensus) oder an bestimmte Bildungsvoraussetzungen (Kapazitäten) gebunden, mit dem Ergebnis, daß die Schwurgerichte ein Reservat des Besitz- und Bildungsbürgertums blieben23. Das weitere Prozedere unterlag bürokratischer Kontrolle: 19 Allgemein dazu: L. Gall, Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“, in: HZ 220 (1975), S. 324 – 356. 20 Rudolf Gneist, Die Bildung der Geschworenengerichte in Deutschland, Berlin 1849, S. 19 – 23, Zitat S. 23; ähnlich: Adolph Buchner, Die politische Auffassung des Geschwornengerichts [sic] und ihre Folgen in Deutschland, in: GerS 5 / 2 (1853), S. 192 – 223. Wie kaum ein zweiter verkörperte Rudolf Gneist (1816 – 1895, 1888 nobil.) den Typus des „politischen Professors“. Seine lebenslange akademische Tätigkeit in Berlin (1839 habil.) und sein politisches Wirken (1859 – 93 MdL, 1867 – 1884 MdR, zunächst Linkes Zentrum, dann nationalliberal) stehen gleichberechtigt nebeneinander. Praktische Bedeutung erlangten seine Selbstverwaltungslehre (Kreisordnung von 1872) und sein Eintreten für eine selbständige Verwaltungsjustiz (Verwaltungsgerichte 1872 / 75). Gneist war eine schillernde, durchaus widersprüchliche Persönlichkeit: Theoretisch messerscharfe Analysen kontrastierten mit großer politischer Flexibilität; zu Gneist: E. J. Hahn, Rudolf von Gneist 1816 – 1895, Frankfurt / M. 1995. 21 Grundrechte des deutschen Volkes v. 27. 12. 1848, § 46; Reichsverfassung v. 28. 3. 1849, Abschnitt VI, Art. IV, § 143 Abs. 3 und Art. X, § 179 Abs. 2; Preußen: Verfassung v. 5. 12. 1848, Art. 92, 93 sowie VO v. 3. 1. 1849, §§ 60, 61. Die älteren Schwurgerichte in Rheinpreußen, Rheinhessen und Rheinbayern besaßen ursprünglich ebenfalls politische Kompetenzen; diese waren ihnen aber, in Rheinpreußen 1821, im Zuge der Restauration entzogen worden (vgl. Blasius, S. 152). 22 Vgl. Hadding, S. 31 – 33; Landau, S. 269 – 276. 23 Der Zensus betrug 18 Taler Klassensteuer, 20 Taler Grundsteuer oder 24 Taler Gewerbesteuer. Als Kapazitäten galten: Ärzte, Notare, Rechtsanwälte, Professoren sowie alle Beamten mit einem Jahresgehalt von mindestens 500 Talern (VO v. 3. 1. 1849, § 63); vgl. Gneist, S. 149 f.
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Aus der Urliste, die alle zum Geschworenendienst Berechtigten umfaßte, wählte der Regierungspräsident für jeden Schwurgerichtsbezirk die sog. Jahres- oder Dienstliste aus. Die hohen Zugangshürden und die „gouvernementale“ Bildung der Dienstliste stießen bei den Liberalen auf heftige Kritik. Gneist plädierte für einen „möglichst niedrigen Zensus“ (er dachte an 4 Taler jährlicher Klassensteuer) und schlug vor, die Reduktion der Urliste gemeinsam vom Vorsitzenden der Kreisversammlung und vom Kreisgerichtsdirektor vornehmen zu lassen24. Auch Mittermaier sprach sich für eine Berechtigung „auf einer breiten Grundlage“ aus, wobei minderbemittelte Personen sich befreien lassen dürften. Für die Herstellung der Dienstliste empfahl er ein zweistufiges Verfahren durch gewählte Vertreter, unter der Maßgabe, daß möglichst „jeder Einfluß von Beamten entfernt bleibt“25. 2. Ihre erste Bewährungsprobe hatten die neuen Gerichte bei der strafrechtlichen „Aufarbeitung“ des Revolutionsgeschehens zu bestehen, die sich bis Ende des Jahres 1851 hinzog. Dabei erwiesen sich die Schwurgerichte als ausgesprochen wirksame Barriere gegen alle Versuche, mit Hilfe des Strafrechts gegenrevolutionäre „Rache“ zu üben. In dem Verfahren gegen 42 Abgeordnete der Preußischen Nationalversammlung wegen ihrer Beteiligung am Aufruf zur Steuerverweigerung – die Anklage lautete auf Aufruhr – befanden die Geschworenen nur einen einzigen Angeklagten für schuldig. Bezeichnend war der Ausgang der Untersuchungen gegen die 19 preußischen Teilnehmer am Stuttgarter Rumpfparlament wegen Hochverrats. Während alle fünf Angeklagten, die sich vor einem Schwurgericht zu verantworten hatten, freigesprochen wurden, kam es bei den übrigen Angeklagten, spätestens letztinstanzlich, zu einer Verurteilung, was sich der Tatsache verdankte, daß auf sie, als Flüchtige, die Bestimmungen des Abwesenheitsverfahrens (Kontumazialverfahren) zutrafen, so daß die Sache ausschließlich in den Händen von Berufsrichtern lag (VO v. 3. 1. 1849, § 80). Auch Benedikt Waldeck, Führer der Linken in der Preußischen Nationalversammlung, wegen Mitwisserschaft eines hochverräterischen Unternehmens und unterlassener Anzeige an die Obrigkeit angeklagt, konnte nach mehrtägiger Verhandlung (28. 11. – 3. 12. 1849) den Berliner Schwurgerichtssaal als freier Mann verlassen. Wie namentlich der Königsberger Prozeß gegen den bekannten Demokraten Johann Jacoby, Mitglied der Preußischen Nationalversammlung und des Rumpfparlaments, zeigte, war es den Behörden auch bei sorgfältigster Auswahl der Laienrichter nicht möglich, die gewünschte Verurteilung herbeizuführen. Im übrigen waren alle genannten Verfahren mit großen Beweis- und Rechtsproblemen behaftet26. Nicht anders sah das Bild bei politischen Gneist, S. 171 – 177 (Zitat S. 173), 221. C. J. Mittermaier, Die Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren nach ihrer neuesten Fortbildung, Erlangen 1856, S. 260 f. 26 Zu den genannten Verfahren: Collin, S. 253 ff.; E. Silberner, Johann Jacoby, Bonn 1976, S. 244 – 260; U. Kötschau, Richterdisziplinierung in der preußischen Reaktionszeit, Kiel 1976, S. 77 – 100 (Waldeck); Prozeßbericht: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen vor dem Geschwornen-Gerichte zu Berlin gegen den Ober-Tribunals-Rath Dr. Waldeck und den Kaufmann Ohm, Berlin 1849 (zur Beratung benötigten die Geschworenen gerade 24 25
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Alltagsdelikten, in der Regel mündliche oder schriftliche Meinungsäußerungen, aus: Zwischen 1849 und 1851 endete rund die Hälfte der wegen Majestätsbeleidigung angestrengten Verfahren mit einem Nicht-Schuldig der Laienrichter27. Da Schwurgerichtsurteile seit altersher als unanfechtbar galten („vox populi, vox Dei“) – eine Rechtstradition, der sich auch die Januarverordnung angeschlossen hatte (§ 142) – war eine Korrektur in höherer Instanz, von gravierenden prozessualen Verstößen abgesehen, ausgeschlossen28. Regierung und Konservative erblickten in der Urteilspraxis eine ernsthafte Gefahr für die staatliche Ordnung. Da es ihnen an juristischen Kenntnissen und richterlichem Pflichtgefühl mangele, so das Standardargument, könnten die Laien gar nicht anders als ihren politischen Instinkten und Leidenschaften folgen. Faktisch trete damit Willkür an die Stelle von Rechtssicherheit29. Die Gegenposition wurde von der liberalen Kammeropposition und der Rechtswissenschaft vertreten30. Mittermaier bestritt keineswegs, daß hier und da bedenkliche Freisprüche vorgekommen seien, was angesichts der politisch bewegten Zeiten ja auch gar nicht verwundere. Gänzlich verfehlt wäre es indessen, aus diesem Umstand auf bewußte Mißachtung der Gesetze, fehlende monarchische Loyalität oder politische Voreingenommenheit der Laien zu schließen. Die Ursachen lägen vielmehr in der Natur politischer Delikte, die „eine große Verschiedenheit der Auffassung“ zuließen, sowie in den spezifisch preußischen Verhältnissen, vor allem in der irreführenden Fragestellung an die Geschworenen, der einseitigen Voruntersuchung und dem Verfolgungseifer der Staatsanwälte31. Angesichts der Tatsache, daß das politische Strafrecht zu einer stumpfen Waffe zu werden drohte, entschloß sich die preußische Regierung, die politischen Kompetenzen der Jury zu eliminieren. Dies gelang – als Teil der nachrevolutionären einmal fünf Minuten, nach Verkündung des Urteils äußerte der Vorsitzende offen seine Freude über den Freispruch Waldecks). Die vorhandenen Statistiken weisen nur die eingeleiteten Untersuchungen aus, was der Zahl der Prozesse entspricht. Danach konzentrierten sich die Verfahren wegen Hochverrats auf die Revolution und ihre Nachwehen (1847: 1; 1848: 18; 1849: 54; 1850: 31; 1851: 10; 1852: 3). 27 Detaillierte Angaben bei: C. J. Mittermaier, Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte in Deutschland, vorzüglich in Preußen, in: GerS 4 / 1 (1852), S. 299 – 334, hier S. 311 – 319. Die Zahl der Majestätsbeleidungsprozesse ging bis Mitte der 50er Jahre wieder auf den vorrevolutionären Stand zurück: 1846: 76; 1847: 63; 1848: 272; 1849: 562; 1850: 302; 1851: 157; 1852: 150; 1853: 144; 1854: 107; 1855: 121; 1856: 68 (W. Starke, Verbrechen und Verbrecher in Preußen 1854 – 1878, Berlin 1884, S. 190, Übers. XXXVIII). 28 Justizminister Simons gelang es allerdings, die Ausnahmeregelungen zu erweitern, indem nunmehr auch die Nichtigkeitsbeschwerde gegen eine fehlerhafte Fragestellung des Richters erlaubt war (vgl. Collin, S. 230 ff.). 29 Vgl. Fort mit den Geschwornen, S. 8 – 10; Vossieg, S. 72 – 75. 30 Zu den Kammerdebatten Vossieg, S. 59 – 65, 76 – 80. 31 C. J. Mittermaier, Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte in Deutschland. Erster Beitrag, in: GerS 4 / 1 (1852), S. 3 – 39, hier S. 11 – 14 (Zitat S. 12) sowie ders., Preußen, S. 319 – 322.
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Verfassungsrevision – in einem komplizierten, teilweise hochgradig manipulativen Prozeß. Für die erforderliche Mehrheit im Parlament sorgte die liberal-konservative Wochenblattpartei, die sich den Initiativen von Staatsministerium und Herrenhaus anschloß, wenn auch aus dem Motiv heraus, den Fortbestand des Volksgerichts als Rechtsinstitut damit prinzipiell sicherzustellen. Der Entpolitisierungsprozeß vollzog sich über mehrere Stufen32. Zu nennen wären: die Vereins- und Versammlungsverordnung vom 29. 6. 1849, deren Strafvorschriften eine Beteiligung von Laien von vornherein ausschlossen; die Presseverordnung vom 30. 6. 1849, die der Jury die Beleidigung von Beamten und staatlichen Körperschaften entzog (§ 39); die Verfassung vom 31. 1. 1850, die Ausnahmeregelungen erlaubte (Art. 94) sowie einen Schwurgerichtshof für Hochverrat und ähnliche Staatsverbrechen vorsah (Art. 95); das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 14. 4. 1851, das die Zuordnung zwischen strafbaren Handlungen und Gerichten zwar eindeutig regelte (Art. XIII – XV), aber für Pressevergehen noch eine Ausnahme zuließ (Art. XIX); schließlich das Pressegesetz vom 12. 5. 1851, das den Geschworenen nur noch Presseverstöße mit einer Strafdrohung von mehr als drei Jahren beließ (§ 27). Mit Recht verwiesen die Liberalen auf die Verfassungswidrigkeit der letztgenannten Bestimmung33. Da Pressedelikte in aller Regel mit geringeren Strafen bedroht waren, wurden sie seit Mitte 1851 faktisch nicht mehr vor der Jury verhandelt34. Die erforderliche Verfassungsänderung kam erst nachträglich zustande (Gesetz v. 21. 5. 1852), wobei zugleich an die Stelle des vorgesehenen „Schwurgerichtshofs“ ein einfacher „Gerichtshof“ trat (Art. 95)35. Die Funktion als Staatsgerichtshof übernahm ein Senat des Berliner Kammergerichts (Gesetz vom 25. 4. 1853). Die letzten Reste an Laienmitwirkung tilgte das Gesetz vom 6. 3. 1854, das alle politischen und Pressevergehen, „zur Beseitigung jeden Zweifels bei den Gerichten“, ausdrücklich den üblichen Zuständigkeitsregeln unterwarf36. Als sich das kurz darauf erlassene Bundespressegesetz vom 6. 7. 1854 gegen eine schwurgerichtliche Vorzugsbehandlung der Presse aussprach, konnte sich der Frankfurter Bundestag auf das preußische Vorbild berufen37. Das preußische Vorgehen fand in fast allen nord- und mitteldeutschen Staaten seine Parallele – lediglich in Oldenburg, Bayern, Württemberg und Baden blieb die ursprüngliche Regelung in Kraft38. Die Revision stellte eine Weichenstellung 32 Die Vorgänge sind in der Literatur verkürzt und teilweise widersprüchlich dargestellt: vgl. Huber, III, S. 172 / 174; Vossieg, S. 73 – 80; Collin, S. 231 f. / 286 f. / 290 f.; E. Kern, Der gesetzliche Richter, Berlin 1927, S. 121 – 124; Kötschau, S. 154 – 164 (zum Staatsgerichtshof). 33 Vgl. Ludwig v. Rönne, Das Gesetz über die Presse vom 12. Mai 1851, Breslau 1851, S. 162 – 173; zur Debatte: Sten. Ber. 2. Kammer, 3. 5. 1851, S. 1254 – 1270. 34 So auch M. Behnen, Das Preußische Wochenblatt (1851 – 1861), Göttingen 1971, S. 28 gegen Huber, der diesen Zustand erst mit dem Gesetz vom 6. 3. 1854 als erreicht ansieht. 35 Zur Debatte: Sten. Ber. 2. Kammer, 31. 3. 1852, S. 1052 – 1073. 36 Die Regierungsvorlage ist abgedr. in: GA 2 (1854), S. 138 / 139 (Zitat aus den Motiven). 37 Bundespressegesetz, § 22; allgemein dazu: R. Kohnen, Pressepolitik des Deutschen Bundes, Tübingen 1995.
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von kaum zu überschätzender Bedeutung dar: Bedenkt man, daß die politische Strafjustiz im Kaiserreich den Nukleus der Justizkritik bildete, so verwundert es nicht, daß der Streit um das adäquate Forum bis 1914 nicht mehr abriß. Zahlreiche parlamentarische und publizistische Vorstöße verfolgten das Ziel, die ursprüngliche Kompetenzzuschreibung via Landesrecht oder auf dem Umweg über das Reichsrecht wiederherzustellen – allesamt ohne Erfolg. 3. In den rechtsrheinischen Landesteilen Bayerns waren die Schwurgerichte, wie in Preußen aus zwölf Laien- und fünf Berufsrichtern bestehend, den Bezirksgerichten angegliedert. Ihre Anzahl entsprach der Zahl der Kreise (7). Auch in Bayern wurde die Jury ihrem Ruf als liberale Institution gerecht. Trotz intensiver Vorbereitungen (einschließlich des mißlungenen Versuchs, das Verfahren den Geschworenen zu entziehen) und sorgfältigster Auswahl der Laienrichter endete der Mammutprozeß gegen 333 Teilnehmer der Pfälzer Mairevolution nicht mit dem von der Regierung gewünschten Ergebnis: Todesurteile wurden nur gegen Abwesende gefällt (der Großteil der Angeklagten war flüchtig), die vor Gericht Erschienenen kamen mit glimpflichen Strafen davon, im übrigen sprachen die Geschworenen rund hundert Personen frei (Oktober 1851)39. Beträchtliches Aufsehen erregte auch das Verfahren gegen den Bamberger Arzt Heinrich Heinkelmann, als überzeugter Demokrat und Republikaner einer der Anführer der fränkischen Protestbewegung in den ersten Monaten des Jahres 1849, der vom Schwurgericht Augsburg von der Anklage des versuchten Hochverrats freigesprochen wurde (12. 9. 1850). In seinem Bericht an den Innenminister folgerte der zuständige Regierungspräsident von Schwaben und Neuburg, daß „man mit den Verweisungen politischer Prozesse vor die Schwurgerichte sehr behutsam sein“ solle und daß „das Institut der Geschworenen für politische Verbrechen durchaus unbrauchbar“ sei40. Was die Pressedelikte betraf, so lag die Freisprechungsquote in den ersten Jahren mit über 80% noch wesentlich höher als in Preußen41. 38 Kurhessen: prov. Gesetz v. 22. 7. 1851, § 5; Nassau: prov. Gesetz v. 23. 12. 1851, § 1; Hessen-Darmstadt: Gesetz v. 27. 3. 1852; Hannover: VO v. 22. 12. 1855; vgl. Zachariae, Bd. 1, S. 290, Anm. 12. Einige Zahlen zu Hannover: In den Jahren 1850 – 54 setzten die Geschworenen sämtliche Personen, die wegen Staats- und Landesverrat (12) und wegen Aufruhr (10) vor Gericht standen, auf freien Fuß. Von den 22 Personen, deren Anklage auf Majestätsbeleidigung lautete, wurden 18 freigesprochen und 4 verurteilt. Bei Preßvergehen betrug das Verhältnis 9:3 (C. J. Mittermaier, Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte in Europa und Amerika, Erlangen 1865, S. 430, Anm. 22). 39 Einzelheiten bei: H. Ziegler, Die Jahre der Reaktion in der Pfalz (1849 – 1853), Speyer 1985, S. 97 – 108; ders., Gebremste Reaktion, in: H. Fenske / J. Kermann / K. Scherer (Hg.), Die Pfalz und die Revolution 1848 / 49, Bd. 2, Kaiserslautern 2000, S. 221 – 262, hier S. 245 – 249. 40 Vgl. R. Heydenreuter, Kriminalgeschichte Bayerns, Regensburg 2003, S. 289 – 291 (dort auch das Zitat). 41 Zwischen 1850 und 1854 wurden von den 69 wegen Preßvergehen angeklagten Personen 55 freigesprochen und nur 14 verurteilt (1850 / 51: 13:3; 1851 / 52: 11:6; 1852 / 53: 14:3; 1853 / 54: 17:2); Zahlen nach: GA 4 (1856), S. 187.
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Infolgedessen sah sich auch die bayerische Regierung zum Handeln genötigt. Nachdem die gerade errungene Pressefreiheit durch das Pressegesetz von 1850 in wesentlichen Punkten wieder beschnitten worden war, erfolgte zwei Jahre später der „Großangriff“ auf die politische Kompetenz der Jury. Ein der Abgeordnetenkammer am 30. 4. 1852 vorgelegter Gesetzentwurf sah vor, auf Pressedelikte künftig nur noch die allgemeinen Zuständigkeitsregeln anzuwenden, wodurch das Schwurgericht praktisch bedeutungslos geworden wäre. In ihrer Geringschätzung der Laienrichter kann die Begründung geradezu klassisch genannt werden: „Nach den bisherigen Erfahrungen dürfte sich wohl jedem Unbefangenen ergeben haben, daß die Schwurgerichte, wenigstens nach ihrer dermaligen Zusammensetzung, nicht qualifiziert sind, den Staat und die bürgerliche Ordnung gegen die aus dem Mißbrauche der Presse drohenden Gefahren zu schützen. Die Ursache ist eine sehr naheliegende. Um ein Preßerzeugnis in seiner ganzen Bedeutung und Tragweite aufzufassen [ . . . ], dazu wird ein Grad höherer Befähigung und wissenschaftlicher Ausbildung vorausgesetzt, der sich bei den Mitgliedern der Schwurgerichte zwar allerdings finden kann, aber keineswegs immer wirklich findet. So oft aber diese Befähigung zum vollen Verständnisse der inkriminierten Schrift den Geschworenen oder der Mehrzahl derselben mangelt, so oft gebricht auch ihrem Wahrspruche jede verläßliche Basis, und er wird sein Gepräge lediglich nach den Wechselfällen der herrschenden Tagesmeinung, der politischen Parteiansicht oder nach dem zufälligen Umstande erhalten, ob der Staatsanwalt oder der Verteidiger mit größerer Redegewandtheit seine Sätze dem Ideenkreise der Geschworenen zu akkommodieren vermag“. Eine zweite Vorlage sollte die Liste strafwürdiger Presseäußerungen nochmals erweitern. Gleichzeitig ging der Kammer der Reichsräte ein Gesetzentwurf zu, der die Aburteilung politischer Staatsverbrechen einem mit neun Berufsrichtern besetzten Staatsgerichtshof übertrug. Sämtliche Entwürfe stießen in der zweiten Kammer auf derart starke Widerstände, daß sich die Regierung schließlich zum Einlenken veranlaßt sah und das ganze Projekt aufgab. In richtiger Einschätzung der Stimmungslage hatte Justizminister Kleinschrod im Staatsrat dringend von einer Vorlage abgeraten, wenn die Regierung nicht zugleich die ausstehenden Reformgesetze zusichern würde – ein Junktim, das Maximilian II. strikt ablehnte42. Weitere Revisionsversuche erfolgten nicht. Schon bald erfreute sich das Schwurgericht in Bayern allgemeiner Beliebtheit. Die Gründe waren vielfältig und lagen – folgt man Mittermaier – vor allem in der politischen Kompetenz, dem Auswahlmodus für die Laienrichter, dem Schlußvortrag des Präsidenten und der Fragestellung an die Geschworenen. Ähnlich den in Preußen geltenden Vorschriften beruhte das bayerische Auswahlverfahren auf dem Zensus-Kapazitäten-System, der Zensus war allerdings erheblich niedriger (20 Gulden), er galt nicht für Bürgermeister und Gemeinderäte, und die Bildung der Jahresliste erfolgte durch einen Wahlausschuß, der sich überwiegend aus Vertretern 42 Zu den Vorgängen: Staatsminister, I, S. 544 – 547 (dort auch das Zitat); Mittermaier, Gesetzgebung, S. 49, Anm. 36. Karl Joseph Freiherr von Kleinschrod (1797 – 1866) war vom 5. 3. 1849 bis zum 27. 2. 1854 bayerischer Justizminister (Staatsminister, I, S. 511 – 576).
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der Gemeinden rekrutierte. In seinem Schlußvortrag setzte der Richter den Geschworenen die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale des in Frage stehenden Delikts auseinander, womit er über die reine Rechtsbelehrung hinausging, ohne, wie beim französischen Resumé, das Ergebnis der Beweisaufnahme faktisch vorwegzunehmen. Die Fragestellung beruhte auf einer gelungenen Kombination aus gesetzlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten und erlaubte eine relativ flexible Handhabung43. Melchior Stenglein, einer der renommiertesten und ranghöchsten bayerischen Juristen der zweiten Jahrhunderthälfte, meinte rückblickend, niemand könne in Abrede stellen, „daß die in der Sturm- und Drangperiode von 1848 erfolgte Aufpfropfung des Schwurgerichtsinstituts und des mündlichen Verfahrens auf mehr oder minder veraltete Gesetzgebungen nirgends mit mehr Genialität durchgeführt wurde als in Bayern“44. 4. In der juristischen Fachwelt blieb die Zuständigkeitsfrage umstritten. Der 2. Deutsche Juristentag, der 1861 in Dresden zusammentrat, sprach sich zwar dagegen aus, der Jury nachträglich politische Delikte zu entziehen. Weiterreichende Anträge, die darauf abzielten, politische Tatbestände den Geschworenen vorzugsweise oder gar prinzipiell zu überweisen, fanden hingegen keine Mehrheit. Ausschlaggebend hierfür war der Unwille, die geltenden Zuständigkeitsregeln zugunsten von Spezialdelikten zu durchbrechen, also ein rechtstechnisch-formaler Vorbehalt45. An dieser Stelle erscheint ein kurzes Wort zu den Beschlüssen des Juristentages, auf die im folgenden wiederholt Bezug genommen wird, angebracht. Sie können – aus ganz verschiedenen Gründen – nur bedingt als repräsentativ gelten. Die Versammlung war, da sie sämtliche juristischen Professionen umfaßte (Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Universitätslehrer, Regierungsvertreter, Verwaltungsbeamte, kommunale Beamte, Wirtschaftsjuristen etc.), in ihrer Zusammensetzung ausgesprochen heterogen (eine starke Kohorte bildeten regelmäßig die Anwälte), die Frequentierung wechselte je nach Dringlichkeit der behandelten 43 Vgl. C. J. Mittermaier, Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte in Deutschland, vorzüglich in Bayern, in: GerS 4 / 2 (1852), S. 3 – 38; kritisch gegenüber dem Urteilsvermögen der Geschworenen angesichts des niedrigen Zensus: Peter Kammerer, Ueber Schwurgerichte in Bayern, München 1858 (Appellationsgerichtsrat). 44 Stenglein, Bemerkungen zur Revision der deutschen St.P.O. II, in: GerS 34 (1883), S. 161 – 183, hier S. 178 f. Melchior Stenglein (1825 – 1903) war 1849 – 1872 im bayerischen Justizdienst tätig und arbeitete danach für einige Jahr als Rechtsanwalt in München. 1863 – 1879 Mitglied der bayer. Abgeordnetenkammer (Liberale), 1873 – 76 auch des Reichstags (NL). 1879 wurde er zum Reichsanwalt beim RG, 1889 zum RG-Rat ernannt; Herausgeber des „Gerichtssaals“ und Mitbegründer der DJZ (1896). 45 Verh. d. 2. DJT, Bd. 2, Berlin 1862, S. 692. Der Ausschußantrag hatte gelautet: „Bei Vergehen, welche politischer Natur sind oder durch die Presse begangen worden, ist wegen dieser Natur, beziehungsweise wegen des gewählten Mittels, die Entscheidung der Tatfrage durch Geschworene mehr geeignet als eine Aburteilung durch Richterkollegien“. Einen Überblick über die Verhandlungen des Juristentages zur Schwurgerichtsfrage bis zur 17. Versammlung (1886) gibt: G. Pfizer, Recht und Willkür im deutschen Strafprozeß, Hamburg 1888, S. 41 ff.
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Themen stark, und schließlich hingen Komposition und Abstimmungsergebnisse nicht zuletzt von der Wahl des Tagungsortes ab46. In der Bilanz seiner jahrzehntelangen rechtsvergleichenden Studien faßte der alte Mittermaier die politische Seite des Schwurgerichtsproblems noch einmal bündig zusammen. Politische Vergehen seien in besonderer Weise geeignet, „das leicht gegen Staatsrichter vorkommende Mißtrauen“ zu erregen, da die Richter in vielfältiger Weise von der Regierung abhängig wären. Dieses Mißtrauen führe dazu, „die Achtung vor dem Richterstand überhaupt zu untergraben“, so daß „die Rechtsprechung der Richter gefährdet wird“. Der Urteilsspruch einer Jury würde den Interessen der Regierung imgrunde besser dienen, da er „einen weit größeren Eindruck hervorbringt“. Schließlich gelte es zu bedenken, daß gerade die politischen Straftatbestände „dehnbar und unbestimmt“ formuliert seien. Deshalb „widersprechen häufig die Strafurteile dem Volksrechtsbewußtsein, weil es der Gewandtheit der Richter leicht wird, durch scharfsinnige, gelehrte Auslegungen einen Schuldausspruch zu rechtfertigen“, während Geschworene infolge ihrer wirklichkeitsnäheren Betrachtungsweise zu „richtigeren Wahrsprüchen“ gelangen würden47. Auf der anderen Seite dürfte die politische Entschärfung dazu beigetragen haben, dem Laienprinzip endgültig zum Durchbruch zu verhelfen, so daß der Ruf nach Rückkehr zum reinen Juristengericht im Laufe der 50er Jahre verstummte. In dieselbe Richtung wirkte die allgemeine Spruchtätigkeit der preußischen Schwurgerichte. Im wesentlichen hatten sie über folgende Tatbestandsgruppen zu entscheiden: Tötungsdelikte aller Art, schwere Körperverletzung, schwerer Diebstahl, Urkundenfälschung, Sittlichkeitsverbrechen, Meineid, Brandstiftung, Raub und Erpressung, betrügerischer Bankrott, Verbrechen im Amte und Münzverbrechen. Entgegen vielfachen Befürchtungen blieb die Quote an Freisprüchen begrenzt. Mit durchschnittlich 18% lag sie zwar höher als bei den Gerichtskollegien, aber deutlich niedriger als im herkömmlichen Verfahren. Freilich war die Bandbreite enorm: Besonders verurteilungsfreudig zeigten sich die Geschworenen bei den Eigentumsdelikten, was sich mit der bürgerlichen Komposition der Geschworenenbank erklären dürfte (1854 – 59: zwischen 91 % und 95 % aller Fälle). Hohe Freisprechungsraten waren hingegen bei Amtsverbrechen, Brandstiftung, Abtreibung und Bankrott zu verzeichnen (1854 – 59: zwischen 25 % und 59 %)48. 46 Allgemein hierzu: H. Conrad / G. Dilcher / H.-J. Kurland, Der Deutsche Juristentag 1860 – 1994, München 1997. 47 C. J. Mittermaier, Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte in Europa und Amerika, Erlangen 1865, S. 735 – 739. 48 Als einzige preußische Gerichtsform sind die Schwurgerichte für die Zeit bis 1880 statistisch gut erfaßt (Statistik der Preußischen Schwurgerichte, Berlin 1854 – 1880). Die Zahl der Angeklagten bewegte sich zwischen 4.751 im Kriegsjahr 1871 und rund 9.500 im Jahr 1869. Die niedrigste Freisprechungsrate lag bei 14 % (1856), die höchste bei 22 % (1863). Die rund 200 Richter, die jährlich zu Vorsitzenden des Geschworenengerichts ernannt wurden, bekleideten durchweg höhere Ränge. Zwischen 1854 und 1880 hatte nur sechsmal ein einfacher Kreisrichter den Vorsitz inne (vgl. G. Fischer, Schwurgerichte; Landau, S. 287 – 289; detaillierte Angaben zu den Jahren 1854 – 1859 in: GA 9, 1861, S. 171 – 177).
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So konnte Zachariae, neben Mittermaier der prominenteste Strafprozessualist seiner Zeit, nach gut einem Jahrzehnt feststellen (1861): „Unleugbare Tatsache ist, daß namentlich in Deutschland bei vielen die früher gehegten theoretischen Skrupel durch die gemachten Erfahrungen widerlegt worden sind und daß auch in den deutschen Staaten, welche das Schwurgericht adoptiert haben, dasselbe sich besser bewährt hat, als manche zu erwarten geneigt waren“49. Folgerichtig sprach sich der 2. Deutsche Juristentag mit großer Mehrheit dafür aus, daß Schwurgerichte auch in denjenigen Staaten eingerichtet werden sollten, in denen dies bislang noch nicht geschehen sei50.
b) Die Jury als Rechtsinstitut und das Schöffengericht Neben der politischen stand von Beginn an eine rechtsimmanente Kritik, die sich auf die materielle Gerechtigkeit der Schwurgerichtsurteile bezog. Bereits bei den Verhandlungen zur Revision der Verordnung vom 3. 1. 1849, die 1852 im preußischen Abgeordnetenhaus stattfanden, kamen alle diesbezüglichen Aspekte zur Sprache51. Trotz weitreichender Reformvorschläge erlangte sie ohne substantielle Änderungen Gesetzeskraft, mit der Folge, daß die Diskussion unvermindert anhielt. Dabei wurde die Frontstellung Schwurgericht – ständiges Gericht im Laufe der Zeit von der Alternative Schwurgericht – Schöffengericht abgelöst. Die rechtstechnischen Bedenken zielten auf den Kern des schwurgerichtlichen Prinzips, der strikten Trennung von Richter- und Geschworenenbank, die unabhängig voneinander zum Endurteil beitragen sollten52. Der Einrichtung lag die Montesquieusche Idee der Gewaltenverteilung zugrunde: Institutionell getrennte Organe partizipierten an ein und derselben Grundfunktion, hier der Bildung des Strafurteils. Zweck der Konstruktion war es, das Machtgefälle zwischen den Organen (Übergewicht der Juristenrichter über die Volksrichter) auszugleichen, um auf 49 Zachariae, I, S. 80. Der Göttinger Ordinarius Heinrich Albert Zachariae (1806 – 1875), dessen Arbeitsschwerpunkte im Strafprozeßrecht und im Staatsrecht lagen, war Mitglied des Vorparlaments, der Nationalversammlung sowie der Gothaer Versammlung. Seit 1867 gehörte er dem Reichstag und dem preußischen Herrenhaus an (als Vertreter der Universität Göttingen). Politisch liberal, blieb er Bismarck gegenüber zeitlebens reserviert. Seinen Bemühungen, die Bundesverfassung dem Frankfurter Vorbild anzunähern, war nur geringer Erfolg beschieden; zu Zachariae: D. Bandemer, Heinrich Albert Zachariae, Frankfurt / M. 1985. 50 Verh. d. 2. DJT, Bd. 2, Berlin 1862, S. 681 – 694. Zum damaligen Zeitpunkt besaßen von den größeren Staaten lediglich Österreich, Sachsen und die beiden Mecklenburg keine Schwurgerichte. 51 Siehe dazu: Berichte der Justizkommission, Sten. Ber. 2. Kammer 1851 / 52, Anl., Bd. 2, Drks. Nr. 107 und 107a; Vossieg, S. 80 ff. 52 Zum folgenden: A. W. Goetze, Ueber die preußischen Schwurgerichte und deren Reform, mit einigen Zusätzen hg. v. D. F. L. Keller, Berlin 1851; Fort mit den Geschwornen, S. 10 ff.; die Schriften von Schwarze (Anm. 58); Hadding, S. 38 – 42; Landau, S. 278 f., 292 ff.; Schubert, S. 208 ff.; Hahn, Baden, S. 129 ff.
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diese Weise die Gerechtigkeit des „Endprodukts“ sicherzustellen. Die deutschen Partikulargesetzgebungen nach 1848 hatten – wiederum dem französischen Beispiel folgend – die Trennung insofern noch verstärkt, als den Geschworenen lediglich die Tatfrage (Entscheidung über die Faktenlage), den Berufsrichtern hingegen der gesamte rechtliche Komplex (die sog. Rechtsfrage) übertragen worden war. In der Praxis erwies sich die strikte Trennung indessen als undurchführbar, was zu einer Kompetenzverschiebung führte: Normativ oder faktisch wurde den Geschworenen die Aufgabe zugewiesen, die festgestellten Tatsachen unter die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale zu subsumieren (Schuldfrage), während sich die Rechtsfrage im wesentlichen auf die Festsetzung des Strafmaßes (Straffrage) beschränkte. Im Trennungsprinzip wurzelten weitere Prozeßregeln, die nicht minder umstritten waren, allen voran die berüchtigte Fragestellung. Die Laien hatten ihren Wahrspruch in Form einer Antwort auf bestimmte Fragen abzugeben, die nach Abschluß der Beweisaufnahme vom Gerichtshof aufgestellt wurden53. Nur mit einer richterlichen Rechtsbelehrung versehen, zogen sie sich daraufhin in das Beratungszimmer zurück, in dem sie so lange verbleiben mußten, bis alle Fragen vorschriftsmäßig beantwortet waren – ein Verfahren, das deutlich an das Konklave der Papstwahl erinnert. Das Verdikt wurde ohne Entscheidungsgründe abgegeben und war nur unter eng begrenzten Bedingungen korrigierbar. Daß ein solches Prozedere nicht ohne Widerspruch bleiben konnte, liegt auf der Hand. Hinzu kamen – wenn auch noch nicht im späteren Maße – Beschwerden über die Belastungen, die mit dem Geschworenenamt verbunden waren. Bis zur Reorganisation von 1879 traten die preußischen Schwurgerichte durchschnittlich drei- bis viermal pro Jahr zusammen, wobei die Dauer von 10 Tagen in der Regel nicht überschritten wurde54. Allerdings differierte die Zahl der Sitzungsperioden erheblich: In den Jahren 1854 – 59 tagte das beim Stadtgericht Berlin ansässige Schwurgericht im Durchschnitt dreimal im Monat, in weitem Abstand gefolgt von Breslau mit acht bis zehn Sitzungen jährlich. An zahlreichen Schwurgerichtssitzen fanden weniger als drei Perioden pro Jahr statt55. Die Tätigkeit als Laienrichter war eine ehrenamtliche, erstattet wurden lediglich Reisekosten. Der erhebliche Aufwand an Zeit und Geld diente als Hauptargument für die zensitäre Begrenzung des in Frage kommenden Personenkreises. Die prozessualen Mängel wurden von den Anhängern der Jury keineswegs geleugnet. Im Gegenteil: Ein Großteil der frühen Schwurgerichtspublizistik entsprang dem Bemühen, die Garantien für eine gerechte Urteilsbildung zu erhöhen. So gut wie alle in dieser Richtung entwickelten Vorschläge stimmten darin überein, Zur partikularstaatlichen Fragestellung vor 1879 vgl. Stenglein, Revision, S. 170 – 177. Bis 1867 bewegte sich die Zahl der jährlichen Sitzungsperioden zwischen 300 und 336. Die Zahl der Sitzungstage lag anfänglich im Durchschnitt bei 3.300, sank von 1858 an auf 2.400 bis 2.700, stieg seit 1868 wieder auf über 3.000 und erreichte 1878 mit 3.639 Tagen ihren Höchststand (vgl. G. Fischer, Schwurgerichte, S. 754). 55 Angaben nach GA 9 (1861), S. 172. 53 54
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die beiden Richterbänke stärker miteinander zu verzahnen56. Als Vorbild diente die englisch-amerikanische Form der Jury, die dem Richter – hier saß nur ein Richter den zwölf Geschworenen gegenüber – eine ungleich autoritativere Stellung einräumte. Eine Fragestellung war im angelsächsischen Verfahren unbekannt, und der Wahrspruch unterlag in hohem Maße der Kontrolle durch den Vorsitzenden, der den Laienrichtern eine verbindliche Rechtsbelehrung erteilte (die sog. charge), bevor er sie ins Beratungszimmer entließ57. Das konsequenteste Modell, dergestalt, die geteilte Entscheidungsfindung ganz aufzuheben, entwickelte der sächsische Generalstaatsanwalt v. Schwarze. Damit war die moderne Form des Schöffengerichts geboren, das an die Stelle des Schwurgerichts ein aus Juristen und Laien gemischtes Gericht setzte. Freilich waren die Befugnisse bei Schwarze ungleich verteilt: Bei prozessualen Fragen und bei der Strafzumesssung sollten die Schöffen nicht mitwirken58. Die Attraktivität des Modells verdankte sich dem Umstand, daß es die Mängel des Schwurgerichts mit einem Schlage beseitigte: Die Einheit des Gerichtshof war wiederhergestellt, die formalisierte Fragestellung entfiel, das Urteil konnte mit Entscheidungsgründen versehen werden, die Hinzuziehung der Laien ließ sich leichter bewerkstelligen, die Aburteilung erfolgte rascher. Auf Schwarzes Initiative hin führte Sachsen 1868 – neben Schwurgerichten für schwere Straftaten – Schöffengerichte für mittelschwere Delikte (3 Richter, 4 Schöffen) ein. Denselben Schritt tat, ebenfalls 1868, allerdings aus anderen Beweggründen, Württemberg, wobei die Laienrichter hier in der Minderheit blieben (3 Richter, 2 Schöffen, bei schweren Straftaten 4 Richter, 3 Schöffen)59. Älteren Vorbildern folgend führte Preußen 1867 in den neuen Landesteilen kleine Schöffengerichte (1 Richter, 2 Schöffen) ein, die für die Aburteilung geringfügiger Delikte, der sog. Polizeistrafsachen, zuständig waren60. Kein Zweifel: Seit den 60er Jahren befand sich der Schöffengerichtsgedanke auf dem Vormarsch. 56 So wiederholt in den Schriften Mittermaiers; Überblick über die wichtigsten Positionen bei Zachariae, I, S. 83 / 84. 57 Vgl. Rudolf Gneist, Vier Fragen zur Deutschen Strafproceßordnung, Berlin 1874, S. 146 – 156 / 163 – 168; allgemein dazu: E. Knittel, Das englische Schwurgericht, Bonn 1968. 58 Fr. O. Schwarze, Geschwornengericht [sic] und Schöffengericht, Leipzig 1864; ders., Das deutsche Schwurgericht und dessen Reform, Erlangen 1865; dazu: Landau, S. 295 – 297; Schubert, S. 214 f. Friedrich Oscar v. Schwarze (1816 – 1886) leitete seit 1856 die sächsische Staatsanwaltschaft. Als Mitglied des Reichstags (1867 – 84, freikonservativ) war er führend am Prozeß der Rechtsvereinheitlichung beteiligt (StGB, Reichsjustizgesetze); literarisch ungemein produktiv. 59 Zu Sachsen: Schubert, S. 213 – 217; zu Württemberg: Landau, S. 297 – 301; E. Holthöfer, Ein deutscher Weg zu moderner und rechtsstaatlicher Gerichtsverfassung, Stuttgart 1997, S. 56 f. 60 Strafprozeßordnung v. 25. 6. 1867, § 7. Die kleinen Schöffengerichte waren erstmals 1850 in Hannover eingerichtet worden. Verschiedene Staaten folgten dem Beispiel, etwa Oldenburg (1857) und Baden (1864); zu den Einzelheiten: R. Herrmann, Die Schöffen in den Strafgerichten des kapitalistischen Deutschland, Berlin (Ost) 1957, S. 43 – 86.
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Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf Schwarzes Motive zu werfen. Einerseits bediente er sich einer rechtspolitischen Begründung: Das „volkstümliche Element des Rechts“ sei schon deshalb unverzichtbar, weil die bis zu einem gewissen Grad unvermeidliche Kluft zwischen dem reinen Juristenrecht und dem Rechtsbewußtsein des Volkes überbrückt werden müsse61. In der Ersten Kammer des sächsischen Landtags sprach er indes auch von der Notwendigkeit, „die Justizhoheit wieder aufzurichten und die Volkssouveränität in der Jury durch Kräftigung des richterlichen Elements wieder auf ihr gehöriges Maß zurückzuführen“62. Hier argumentierte Schwarze verfassungsrechtlich, aber auch standespolitisch, gelte es doch, so der Redner weiter, die Dominanz berufsrichterlicher Rechtsprechung, die mit der Französischen Revolution verlorengegangen sei, wiederherzustellen. Von daher sollte die in der Literatur vertretene Ansicht, Schwarzes Denken sei maßgeblich vom Eigenwert der Laienmitwirkung bestimmt gewesen, zumindest relativiert werden63. Genau an diesem Punkt setzten die Kritiker an, die unverzüglich auf den Plan traten. Sie werteten das Modell als Versuch, die Laienrichter bürokratischer Kontrolle zu unterwerfen, wenn nicht gar auf kaltem Wege zu beseitigen. Julius Glaser, der spätere österreichische Justizminister, sah den entscheidenden Vorzug des schwurgerichtlichen Arrangements gerade darin, daß die richterlichen Verantwortlichkeiten klar verteilt seien. Demgegenüber wäre im Schöffengericht alles „dem Zufall anheim gegeben“. Fehle es, wovon man im Regelfall ausgehen müsse, an Schöffen, die dem Richter an Bildung, Energie des Charakters und Geschäftsgewandtheit die Waage halten könnten, „so belästigt man ruhige und fleißige Staatsbürger nutzlos, um – die Allmacht des Richters durch eine schützende Scheinkollegialität zu erhöhen!“64. Linksliberale Autoren machten zudem auf die innere Verwandtschaft von Nationalliberalismus und Schöffengerichtsidee aufmerksam. Beide Phänomene, nicht zufällig zur gleichen Zeit entstanden, stellten den – mißglückten – Versuch dar, unversöhnliche Gegensätze zu vereinen. So wie im Nationalliberalismus der Liberalismus vom nationalen Prinzip aufgesogen werde, so unterwerfe man im Schöffengericht die Laien den beamteten Richtern65. Zitat Schwarze, Schwurgericht, S. 111. Sitzung vom 5. 8. 1864 (zit. nach Schubert, S. 214). 63 So vor allem Landau, S. 296 / 297. Bei den GVG-Beratungen unternahm Sachsen wiederholt den Versuch, die mittleren Schöffengerichte einzuführen. Hinter den Bestrebungen stand maßgeblich Schwarze. 64 Julius Glaser, Zur Juryfrage (1864), in: Schwurgerichtliche Erörterungen, 2. Aufl., Wien 1875, S. 69 – 154, hier S. 140 – 154 (Zitate S. 144, 148); ähnlich: Mittermaier, Volksgericht, S. 33 – 40. 65 So August Munckel, Vom 18. deutschen Juristentage, in: Nation 3 (1885 / 86), S. 751 – 754, hier S. 752 f. August Carl Munckel (1837 – 1903), Rechtsanwalt in Berlin und 1881 – 1903 MdR, war justizpolitischer Sprecher des linken Liberalismus. Bekannt geworden war er als Verteidiger im ersten Arnim-Prozeß; zu Munckel: [Erich Sello], Aus dem Leben Munckels, in: Vossische Zeitung v. 17. 4. 1903. 61 62
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Die Kontroverse um Schwarzes Schöffenmodell eröffnete die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die Frage, ob das Schwurgericht oder das Schöffengericht als adäquate Form der Laienbeteiligung in der Kriminaljustiz anzusehen sei. 3. Das Institut der Staatsanwaltschaft Das Gegenstück zum Schwurgericht stellte die als Anklagebehörde konzipierte Staatsanwaltschaft dar. In ihren Ursprüngen auf das „ministère public“ des napoleonisch-französischen Rechts zurückgehend, bildete sie, gleich der Jury, seit den Tagen der Franzosenherrschaft einen festen Bestandteil des rheinischen Strafverfahrens66. Im Rahmen der Vorarbeiten zur Revision des Strafprozesses setzten Ende der 1820er Jahre in Preußen Bestrebungen ein, die Einrichtung auf die altländischen Provinzen zu übertragen. Dabei standen zwei Motive im Vordergrund: die Effektivierung der Strafverfolgung sowie ein stärkerer Einfluß der Regierung auf die Strafrechtsprechung, namentlich in Prozessen mit politischer Färbung. Ein separates Anklageorgan forderten auch die Liberalen, meinten sie doch, das Akkusationsprinzip auf andere Weise nicht durchsetzen zu können. Nachdem das neue Institut 1846 zunächst für den Bezirk des Kammergerichts eingeführt worden war, wurde es durch die Verordnung vom 3. 1. 1849 auf das gesamte Staatsgebiet ausgedehnt67. Auch in den übrigen deutschen Staaten gehörte die Staatsanwaltschaft – wiederum mit zahlreichen Abweichungen im einzelnen – zum Grundrepertoire des „reformierten“ Strafprozesses68. 1. In Preußen erhielt das neue Institut folgende Gestalt: Die Staatsanwaltschaft war dem Justizminister unterstellt und als Behörde mit streng hierarchischer Binnenstruktur und durchgängiger Anweisungsbefugnis organisiert (VO § 3). Die Staatsanwälte bedurften der Qualifikation zum Richteramt, mußten aber nicht als Richter tätig gewesen sein. Sie waren ständige nichtrichterliche Beamte mit eigener Dienstlaufbahn und eigenem Besoldungssystem, was einen Wechsel zwischen richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Laufbahn indes nicht ausschloß. Dementsprechend konnten sie jederzeitig abgesetzt oder versetzt werden. Darüber hinaus unterstanden sie dem Disziplinargesetz vom 21. 7. 1852, das den politischen Beamten eine besondere Treuepflicht auferlegte und als schärfste Waffe die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand kannte69. Die Kompetenzen der neuen Be66 Zur Forschungsliteratur s. Einl., Anm. 49; weiterhin: K. Elling, Die Einführung der Staatsanwaltschaft in Deutschland, Breslau 1911. 67 Das Gesetz vom 17. 7. 1846 spiegelte die leitenden Motive, die sich regierungsseitig mit dem Institut verbanden, deutlich wider: Es handelte sich um ein Ausnahmegesetz, dessen ausschließlicher Zweck darin bestand, eine rasche und sichere Aburteilung der Teilnehmer des polnischen Aufstandes vom Februar des Jahres zu gewährleisten. Hierbei erhielt die Behörde bereits weitgehend ihre spätere Gestalt (vgl. Carsten, S. 25; Collin, S. 83 – 90). 68 Überblick bei Carsten, S. 28 – 33. 69 Vgl. Reskript vom 3. 11. 1849, § 4 (Ab- und Versetzbarkeit) und Disziplinargesetz für die nichtrichterlichen Beamten vom 21. 7. 1852, § 20 und § 87 (Treuepflicht und einstweiliger
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hörde waren weitreichend: Sie besaß das uneingeschränkte Anklagemonopol (VO § 2), war also alleinig befugt, das Verfahren einzuleiten und Anklage zu erheben. Mit Ausnahme schwerer Straftaten stand es in ihrem Ermessen, die Voruntersuchung selbst durchzuführen oder einem Untersuchungsrichter zu übertragen (VO § 5). Aufschlußreich ist ein Vergleich mit den übrigen deutschen Staaten: Zwar war die Anklagevertretung überall als hierarchisch-weisungsgebundene Behörde organisiert, in Preußen hatten das Anklageprinzip und die funktionale Trennung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht jedoch die schärfste Ausprägung gefunden. Die preußische Staatsanwaltschaft war mithin am stärksten bürokratisiert70. Gestützt auf sein Weisungsrecht, nahm Justizminister Simons die konkrete Ausgestaltung des Instituts vor71. Faktisch wurde dabei das Opportunitätsprinzip durchgesetzt: Es war ins Belieben der Staatsanwälte gestellt, ob sie – nach Maßgabe eines fallweise zu interpretierenden „öffentlichen Interesses“ – in Aktion treten wollten oder nicht. Ihre Position gegenüber dem Gericht wurde gestärkt, gegenüber der Polizei hingegen geschwächt72. Im ganzen erhielt der öffentliche Ankläger einen widersprüchlichen Charakter: Einerseits war er Organ der Rechtspflege, gleichberechtigt neben dem Gericht stehend, andererseits abhängige Verwaltungsbehörde73. Die Zwiespältigkeit spiegelte sich in den grundlegenden Funktionszuschreibungen wider: Zum einen hatten die Staatsanwälte als „Wächter des Gesetzes“ dafür Sorge zu tragen, daß die gesetzRuhestand); zu letzterem: H.-J. Rejewski, Die Pflicht zur politischen Treue im preußischen Beamtenrecht (1850 – 1918), Berlin 1973. 70 In einigen Staaten (Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Württemberg) rekrutierten sich die Staatsanwälte aus der Richterschaft und blieben richterliche Beamte, die ihr Amt kraft widerrufbaren Auftrags ausübten. Ein ausschließliches Anklagemonopol bestand ansonsten nur noch in Hannover und den thüringischen Staaten, während es in den übrigen deutschen Staaten und auch in der Rheinprovinz eingeschränkt war (Einschreiten der Gerichte von Amts wegen oder Beschwerderecht des Verletzten an das Gericht); Überblick bei Carsten, S. 39 – 42. 71 Louis Simons (1803 – 1870), der mit seinem „gemäßigten bürgerlichen Konservativismus“ (Huber, III, S. 273) nicht als strikter Vertreter des Reaktionskurses galt, bekleidete das Justizressort vom 10. 4. 1849 bis zum 17. 12. 1860. Politisch schwach, mußte er dem Druck von König und Ministerkollegen verschiedentlich nachgeben, blieb aber bemüht, die Eigeninteressen der Justiz zu wahren. Aus diesem Grunde überstand er das Revirement zu Beginn der „Neuen Ära“ unbeschadet. Seine Stellung wurde in dem Maße unhaltbar, in dem die in den 50er Jahren geübte Polizeiwillkür ans Licht der Öffentlichkeit drang (vgl. Huber, II, S. 749 sowie III, S. 125, 273, 288; Collin, S. 240 – 242). 72 Einzelheiten bei Collin, S. 236 – 238. Zum zahlenmäßigen Umfang der Staatsanwaltschaft: 1853: 265; 1854: 262; 1856: 272; 1858: 285; 1860: 286; 1862: 232; 1864: 228; 1866: 232; 1868: 234; 1870: 235 (zur Herkunft der Zahlen s. Anm. 134). 73 Die Gleichrangigkeit der Stellung schränkte die Verhandlungsführung des Vorsitzenden erheblich ein: Nach Beschwerde eines Schwurgerichtspräsidenten stellte Simons ausdrücklich klar, daß es dem Vorsitzenden nicht zustehe, den Staatsanwalt in gleicher Weise zur Ordnung zu rufen wie den Verteidiger; im Falle eines Konfliktes sollten die vorgesetzten Behörden entscheiden (Reskript an den Oberstaatsanwalt in Hagen v. 19. 5. 1853, abgedr. in: GA 2, 1854, S. 799).
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lichen Vorschriften streng befolgt wurden, und insbesondere „nicht bloß darauf zu achten, daß kein Schuldiger der Strafe entgehe, sondern auch darauf, daß niemand schuldlos verfolgt werde“ (VO § 6). Zum anderen war ihre politische Funktion klar definiert: Sie galten als „Organe der Staatsregierung für die Wahrnehmung des öffentlichen Interesses in den durch die Gesetze näher bestimmten Angelegenheiten“74. Damit hatte die preußische Staatsanwaltschaft eben jene Gestalt erhalten, die sie zum Vorbild für das Deutsche Reich machen sollte. In ihrer vollen Bedeutung erschließen sich die Vorgänge erst, wenn man sie zur Veränderung des politischen Gefüges in Beziehung setzt. Der Übergang Preußens zum Verfassungsstaat zog einen grundsätzlichen Funktionswandel der Bürokratie nach sich. Mit der Bildung einer gesamtstaatlichen Vertretung büßte die Beamtenschaft ihre seit der Reformära – zumindest in ihrem Selbstverständnis – wahrgenommene Rolle eines Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft ein. Sie mutierte zu einem ausführenden Organ der Regierung, die ihre neue Position im Verfassungssystem ebenfalls erst finden und festigen mußte75. In diesen Kontext ist auch die Rolle der Staatsanwaltschaft einzuordnen: Mit ihrer Hilfe kompensierte die preußische Regierung den Einflußverlust, den die konstitutionell verbürgte Unabhängigkeit der Rechtsprechung bedeutete. Mit guten Gründen läßt sich sogar behaupten, daß die Stellung der Exekutive gegenüber der Judikative gestärkt wurde76. Die akkumulierten Befugnisse des neuen Instituts (Einleitung der Untersuchung, Erhebung der Anklage, Einlegung von Rechtsmitteln) gestatteten ein hohes Maß an Kontrolle über Verfahrensgang und Urteilspraxis. Zumindest potentiell lief die Ordnung des Verfahrens auf einen Zustand hinaus, den man als „staatsanwaltschaftliche Prägung der Strafjustiz“ bezeichnen könnte. Hierin lag der Stein des Anstoßes, den das Institut seither bildete. Im Kern kreisten alle Einwände um die Sorge, die administrativ abhängige Staatsanwaltschaft werde das hohe Amt des Richtens zu „bürokratischer Rechtsprechung“ herabdrücken. Ob der Vorwurf berechtigt war, mußte freilich erst die Zukunft erweisen. 2. Kurz wiederum ein Vergleich mit den bayerischen Verhältnissen: Die bayerische Staatsanwaltschaft, eingeführt durch das Gesetz vom 10. 11. 1848, entsprach in bezug auf innere Organisation und bürokratische Unterordnung dem gemeindeutschen Muster. Wesentliche Unterschiede zum preußischen Modell bestanden in bezug auf die Kompetenzen und die Stellung: Die Staatsanwaltschaft besaß kein 74 Geschäftsregulativ für die preußische Staatsanwaltschaft vom 13. 11. 1849, § 1, in: JMBl, S. 460 ff. 75 Dazu: R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 2. Aufl., Stuttgart 1975, S. 385 ff.; G. Grünthal, Grundlagen konstitutionellen Regiments in Preußen 1848 – 1867, in: G. A. Ritter (Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S. 41 – 55, bes. S. 50 – 55 (S. 50: „Bureaukratisierung der nicht-richterlichen Beamtenschaft“). 76 So übereinstimmend das Fazit von Carsten, S. 33 / 34 und Collin, S. 414; vgl. auch E. Blankenburg / H. Treiber, Die Entstehung der Staatsanwaltschaft in Deutschland, in: Leviathan 6 (1978), S. 161 – 175, hier S. 168 / 170.
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Anklagemonopol, die Gerichte blieben somit in vollem Umfang befugt, von Amts wegen die Strafverfolgung einzuleiten. Dabei galt für die Staatsanwaltschaft das Opportunitätsprinzip, für den Untersuchungsrichter das Legalitätsprinzip (Anklagepflicht). Voruntersuchung und Ermittlungshandlungen lagen in den Händen des Untersuchungsrichters, der Staatsanwalt besaß lediglich eine allgemeine Aufsichtspflicht; zudem übte er die Kontrolle über die polizeilichen Organe aus. Insgesamt war die bayerische Staatsanwaltschaft – Pate stand auch hier das rheinpfälzische Vorbild – weniger als Eingriffs- und Steuerungsinstrument denn als Gesetzeswächter konzipiert77. Um der Gefahr einer „déformation professionelle“ vorzubeugen, führte Justizminister Bomhard 1864 den regelmäßigen Wechsel zwischen richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit ein78. Manipulationsmöglichkeiten gab es auch im bayerischen Modell, sie stießen aber rascher an institutionelle Grenzen. 3. Dies erklärt, weshalb den Kritikern, die alsbald auf den Plan traten, vornehmlich das preußische Modell vor Augen stand. Die Angriffe und Reformvorschläge umfaßten sämtliche Aspekte der neuen Einrichtung79. Frühzeitig und mit apodiktischer Schärfe wies Gneist auf das politische Gefahrenmoment hin: Als „ein bloßes Substitut seines Vorgesetzten, ein Organ des zeitigen Ministeriums auf Kündigung“ führe eine Staatsanwaltschaft, die über das Anklagemonopol verfüge, unweigerlich dazu, daß die Straf-, Presse- und Vereinsgesetze nur gegen den politischen Gegner Anwendung fänden, während die eigenen Parteigänger vor Strafverfolgung gesichert seien. „Die Staatsanwaltschaft ist also das Institut, mit welchem eine herrschende Partei sich einfach über die bestehende Rechtsordnung erhebt“80. Mit Anbruch der „Neuen Ära“ drängte das Thema über die Grenzen der Fachöffentlichkeit hinaus. Erwähnt sei eine Abhandlung, die 1859 in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschien81. Der Bericht des anonymen Verfassers, vermutlich ein höherer Richter, darf insofern besonderes Interesse beanspruchen, als er Einblicke in das Innenleben der Gerichtshöfe gewährt. Der Staatsanwaltschaft wird in dreierlei Hinsicht ein schädlicher Einfluß attestiert: Dem rechtssuchenden Publikum gegenüber bedeute sie eine Rechtsverweigerung, da sie den unmittelbaren Zugang des Bürgers zum Richter versperre und auch die bestbegründeten Anzeigen abweisen könne. Dem Angeschuldigten gegenüber verletze sie die Gleichheit der Partei77 Vgl. Carsten, S. 28 / 29; Wohlers, S. 119 – 121. Das Gesetzeswächteramt kam besonders darin zum Ausdruck, daß die Staatsanwaltschaft dem Justizminister regelmäßig Bericht über die Strafrechtspflege zu erstatten hatte. 78 Entschl. v. 4. 9. 1864. Eduard v. Bomhard (1809 – 1886) war vom 1. 8. 1864 bis zum 30. 4. 1867 bayerischer Justizminister (Staatsminister, II, S. 721 – 758). 79 Überblick bei Carsten, S. 34 – 37, 42 – 47. 80 Rudolf Gneist, Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Bd. 1, Berlin 1857, S. 704; ähnlich Mittermaier, Gesetzgebung, S. 178 f. 81 Anon., Das Institut der Staatsanwaltschaft in Deutschland, in: PJ 4 (1859), S. 22 – 42; weitere Stimmen bei Carsten, S. 44, Anm. 103.
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rechte, da ihr weit größere Machtmittel zur Verfügung stünden als der Verteidigung. Und den Gerichtsbehörden gegenüber bilde sie „ein zersetzendes und deren Integrität gefährdendes Element“, da sie den Richtern die im Ministerium herrschenden Anschauungen zur Kenntnis bringe82. Im übrigen seien wiederholt Staatsanwälte in höhere Richterstellen berufen worden. Ginge es nach dem Verfasser, so wäre das Institut komplett wieder abzuschaffen. Zumindest aber müßten der Behördencharakter und die Weisungsgebundenheit beseitigt, das Anklagemonopol durch die subsidiäre Privatklage ersetzt und dem Ankläger eine klare Parteistellung zugewiesen werden. Die Abhandlung erinnert an die berühmte Polemik von Aulus Agerius (Pseudonym), die dreieinhalb Jahrzehnte später in derselben Zeitschrift veröffentlicht wurde. In vielerlei Hinsicht stellt sie einen frühen Vorläufer derselben dar83. In Fachkreisen bestand weitgehend Einigkeit über die Reformbedürftigkeit der Anklagebehörde. Der 2. Deutsche Juristentag (Dresden 1861) beschloß die Einführung des Legalitätsprinzips und plädierte für ein abgestuftes System der Privatklage84. In der Tat zeigte sich die Regierung der „Neuen Ära“ ernsthaft an einer Änderung der Gesetzeslage interessiert. Ein erster, 1860 von Simons vorgelegter Entwurf, der den Appellationsgerichten die Befugnis geben wollte, die Strafverfolgung von Amts wegen einzuleiten, fand nicht die erforderliche Zustimmung des Staatsministeriums. Im folgenden Jahr sprach sich das Abgeordnetenhaus in einer vom Freiherrn v. Vincke, dem Führer der Altliberalen, eingebrachten Resolution ebenfalls dafür aus, daß das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft „modifiziert“ werde85. Als Begründung wurde namentlich auf die regelmäßige Weigerung der Staatsanwälte verwiesen, Untersuchungen gegen Beamte einzuleiten. Einen zweiten, Anfang 1862 der Kammer vorgelegten Entwurf, der dem Verletzten das Recht gewährte, im Falle der Anklageverweigerung zunächst die Oberstaatsanwaltschaft und schließlich das zuständige Appellationsgericht anzurufen, beantwortete die Justizkommission mit einer Gegenvorlage, welche die Privatklage favorisierte86. Der Regierungsvorschlag entsprach exakt dem Kompromiß, der anderthalb Jahrzehnte später nach langem Ringen zwischen Bundesrat und Reichstag in die Reichsstrafprozeßordnung eingehen sollte. Die weitere Behandlung fiel der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Ministerium und Landtag zum Opfer. 82 Institut, S. 25. Letzteres wird durch eine Äußerung des Staatsanwalts v. Stemann (Stettin) bestätigt, der eine der wichtigsten Aufgaben der Anklagebehörde darin sah, „die Ansichten der Staatsregierung über die materielle und prozessuale Übung der Strafrechtspflege den Gerichten darzulegen“ (C. v. Stemann, Ueber die Fortbildung des Instituts der Staatsanwaltschaft, in: GA 8, 1860, S. 41 – 53, hier S. 53). 83 Aulus Agerius, Der Einfluß der Staatsanwaltschaft in der preußischen Justiz, in: PJ 81 (1895), S. 1 – 29 (Näheres dazu Zweiter Teil, B, Kap. III). 84 Vgl. Carsten, S. 46 f. 85 Sten. Ber. AH, 26. 4. 1861, S. 908; Vossieg, S. 119. 86 Sten. Ber. AH, 22. 1. 1862, S. 33 sowie ebd. 1862, Drks. Nr. 1 und Nr. 59. Ferner: Votum Leonhardts v. 20. 11. 1876 über die §§ 148 bis 148c des StPO-Entwurfs, in: Schubert / Regge (Anm. 288), S. 654 – 656; Collin, S. 194 – 196.
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Der Verfassungskonflikt mit seiner forcierten Strafverfolgung machte die Staatsanwaltschaftsfrage endgültig zu einem brennenden Problem. Als unmittelbare Reaktion sind zwei Schriften von Franz von Holtzendorff zu lesen, die ein leidenschaftliches Plädoyer gegen den Mißbrauch der Strafjustiz beinhalten: „Der politisch beeinflußten Strafrechtspflege gilt es unserer Überzeugung nach entgegenzutreten. Ihr muß mit aller Macht des moralischen Bewußtseins der Garaus gemacht werden“87. Die mit Hilfe der Staatsanwaltschaft betriebene Politisierung zeige sich in zwei entgegengesetzten Richtungen: zum einen in unterlassenen Anklagen, namentlich gegen Beamte, zum anderen in übertriebener Strafverfolgung, insbesondere gegenüber der Presse. Zur Erläuterung entwirft Holtzendorff eine Art Psychologie der Strafverfolgung, ausgehend von der Annahme, daß die Ständigkeit des Anklagens ein hohes Maß von „Subjektivität und Einseitigkeit“ erzeuge. Dies bekunde sich „in der Neigung, die Grenzen des Strafgesetzes immer weiter und weiter auszudehnen, das Gebiet des freien persönlichen Handelns immer mehr und mehr einzuengen, neue Anwendungen des Gesetzes zu entdecken“. Ergebnis sei „eine Rechtsauffassung und ein Maßstab der Strafbarkeit, welche derjenigen gebildeter Laien geradezu unverständlich bleiben“88. Im Sinne einer möglichst gleichmäßigen Anklagepraxis schlägt er vor, die Oberaufsicht statt durch das Ministerium durch ein Richterkollegium ausüben zu lassen (vorzugsweise durch die Anklagesenate der Appellationsgerichte), den Staatsanwälten richterliche Unabsetzbarkeit zu verleihen und ihnen die gerichtliche Polizei zu unterstellen. Die Zielrichtung liegt auf der Hand: Die Staatsanwälte sollten von Verwaltungsbeamten zu echten Justizorganen umgestaltet werden. Der 5. Juristentag (Braunschweig 1865) folgte den Holtzendorffschen Überlegungen weitgehend und ging damit deutlich über seine 1861 gefaßten Beschlüsse hinaus89. An der Stellung der Staatsanwaltschaft lassen sich die inneren Verschiebungen ablesen, die im Gefüge des „reformierten“ Strafprozesses seit dessen Einführung stattgefunden hatten. Holtzendorff faßte die Entwicklung – mit Blick auf Preußen – Mitte der 60er Jahre treffend zusammen: „Schwurgericht und Staatsanwaltschaft waren seit 1848 in eine geschichtliche Wechselwirkung zueinander getreten. Jenes war gewünscht worden als eine Garantie staatsbürgerlicher Freiheit und persönlicher Sicherheit, diese war gewährt worden als ein Organ für die Machtinteressen der Regierung. Gemeinschaftlich war beiden Einrichtungen nur die 87 Franz von Holtzendorff, Die Reform der Staatsanwaltschaft in Deutschland, Berlin 1864 (Zitat S. 47); ders., Die Umgestaltung der Staatsanwaltschaft vom Standpunkt unabhängiger Strafjustiz, Berlin 1865. Franz von Holtzendorff (1829 – 1889), politisch dem Fortschritt nahestehend, war einer der angesehensten deutschen Juristen seiner Zeit. Er lehrte seit 1857 an der Berliner Universität, bevor er 1872 zum ordentlichen Professor für Staats-, Völker- und Strafrecht nach München berufen wurde. 88 Holtzendorff, Reform, S. 23 f., 34. 89 Vgl. Holtzendorff, Umgestaltung, S. 8; zur Diskussion in den 60er und 70er Jahren auch Carsten, S. 49 – 57.
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Richtung gegen die ehemalige Stellung des Richteramts, welches den Anhängern volkstümlicher Rechtsprechung zu bureaukratisch, den für ihren Einfluß besorgten Regierungsbehörden zu schwerfällig und unbeweglich erschien, um energisch und schnell eingreifen zu können. So kam es, daß die Richterkollegien einen Teil ihrer Amtsrechte an Staatsanwaltschaft und Schwurgericht abzutreten genötigt wurden. Ob diese Auseinandersetzung eine überall glückliche und gerechte war, kann hier dahin gestellt bleiben. Jedenfalls wurde der neue Teilungsrezeß sehr bald erheblich geändert. Die Geschworenen verloren nach und nach den wichtigsten Teil ihrer Kompetenz an Ausnahmegerichte, Staatsgerichtshöfe, Gerichtsabteilungen für Preßsachen. [ . . . ] Diesen Veränderungen der Schwurgerichtsverfassung entsprach auf der anderen Seite die Unwandelbarkeit der Staatsanwaltschaft: Ein sicheres Zeichen sowohl dafür, daß dieselbe den Machtinteressen als Organ der im Strafprozesse wirkenden Staatstätigkeit von Anfang an genügt haben mußte, als auch dafür, daß sie den eintretenden Änderungen der Regierungspraxis bequem angepaßt werden konnte“90. 4. Der Aufbau des Strafverfahrens 1. Stellung und Befugnisse der Staatsanwaltschaft hingen eng mit der Gesamtstruktur des Strafverfahrens zusammen. In erster Instanz bestand der „reformierte“ Strafprozeß aus drei Abschnitten: dem Vorverfahren, dem Zwischenverfahren (Eröffnungsverfahren) und dem Hauptverfahren (Hauptverhandlung)91. In Preußen lag das Vorverfahren entweder in den Händen des Staatsanwalts (Ermittlungs- bzw. Skrutinalverfahren, nichtförmliche Voruntersuchung) oder des Untersuchungsrichters (gerichtliche oder förmliche Voruntersuchung)92. Beide Formen verfolgten den Zweck, die vorliegenden Verdachtsmomente daraufhin zu prüfen, ob die Erhebung der Anklage geboten erschien. Vorverfahren und Hauptverhandlung waren durch das Zwischenverfahren getrennt, in dem ein richterliches Kollegium (beschließendes Gericht, Ratskammer) über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erhebung der Anklage und Einleitung des Hauptverfahrens entschied (Eröffnungs- bzw. Verweisungsbeschluß). Verfahrenskritik und Reformvorschläge, die nicht lange auf sich warten ließen, umfaßten sämtliche Stadien des Prozesses. Erhebliche Unterschiede bestanden indes im Ausmaß der Kritik, und auch die jeweiligen Motive dürfen nicht außer acht gelassen werden. An der Voruntersuchung erregte vor allem der geheime und schriftliche Charakter Anstoß, der allzu sehr an den alten Inquisitionsprozeß erinnerte. Zudem werde, so die Kritiker, in der Praxis gegen den Beschuldigten und nicht auch, wie vom Gesetz vorgeschrieben, zu seinen Gunsten ermittelt. Das AlHoltzendorff, Reform, S. 3 f. Vgl. Zachariae, II, S. 61 – 78. 92 VO v. 3. 1. 1849, § 5. Die gerichtliche Voruntersuchung war nur bei Schwurgerichtssachen zwingend vorgeschrieben (§ 75), ansonsten erfolgte sie auf Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 42). 90 91
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ternativmodell sah vor, die Voruntersuchung nach englischem Vorbild in ein mündliches und öffentliches Verfahren auf kontradiktorischer Grundlage umzugestalten. Danach wäre, unter Wegfall des Zwischenverfahrens, über die Anklageerhebung in einem der Hauptverhandlung angenäherten Verfahren entschieden worden, in dem die beiden Prozeßparteien (Anklage und Verteidigung) ihre jeweiligen Beweismittel vorgelegt hätten93. Aus den Reihen der Staatsanwaltschaft kam der entgegengesetzte Vorschlag, die gerichtliche Voruntersuchung fallen zu lassen und das Vorverfahren ganz in die Hände der Anklagebehörde zu legen94. Auf heftige Kritik stieß der leichtfertige Umgang mit der Untersuchungshaft. In einem Simonsschen Zirkularreskript vom Juni 1854 heißt es, aus eingegangenen Berichten und Untersuchungsakten habe der Justizminister die Überzeugung gewonnen, „daß dabei nicht immer mit der nötigen Umsicht verfahren und daß namentlich in vielen Fällen die Verhaftung beantragt und verhängt worden ist, in denen sie füglich hätte unterbleiben können“95. Am Zwischenverfahren wurde bemängelt, daß der gerichtliche Eröffnungsbeschluß realiter nicht, wie vom Gesetz beabsichtigt, als Filter gegen ungerechtfertigte Anklagen fungiere96. Den Grund sahen die Kritiker in übertriebener kollegialer Rücksichtnahme, beruhend auf der – psychologisch verständlichen – Abneigung der beschließenden Richter, den von Mitgliedern desselben Gerichtshofs erarbeiteten Antrag zurückzuweisen, selbst dann, wenn begründete Zweifel an der Tragfähigkeit der Anklage bestanden. Auch von staatsanwaltschaftlicher Seite wurde die Abschaffung des Eröffnungsverfahrens angeregt, mit dem eigenartigen Argument, übereilte oder mangelhaft vorbereitete Anklagen ließen sich am besten innerhalb der hierarchischen Anklagebehörde selbst korrigieren97. Zunehmend Anklang fand der Gedanke, den Richter in der Hauptverhandlung von den Aufgaben der Beweisaufnahme und des Zeugenverhörs zu entbinden und beides in die Hände der Parteien zu legen, meist verknüpft mit der Forderung, Ankläger und Verteidigung zu gleichberechtigten Konfliktparteien umzugestalten. Die Vorschläge liefen faktisch auf einen Paradigmenwechsel hinaus, wäre das französische Anklageverfahren doch durch den englischen Parteiprozeß abgelöst worden98. Von der Wissenschaft seit den 60er Jahren auf breiter Front verfochten, plä93 So Institut, S. 30 / 37; ähnlich, mit Bezug auf die Voruntersuchung bei Schwurgerichtssachen, Mittermaier, Schwurgerichte (1865), S. 762; dazu: B. Malsack, Die Stellung der Verteidigung im reformierten Strafprozeß, Frankfurt / M. 1992 (orientiert an Mittermaier). 94 Vgl. C. v. Stemann, Ueber die Fortbildung des Instituts der Staatsanwaltschaft, in: GA 8 (1860), S. 41 – 53, hier S. 42 – 45. 95 ZR v. 26. 6. 1854, in: JMBl, S. 287. 96 Vgl. Institut, S. 28 f.; Holtzendorff, Reform, S. 36 f. 97 Vgl. Stemann, S. 45 – 47. 98 Siehe etwa: Institut, S. 39 f.; Holtzendorff, Reform, S. 17 – 23; ders., Umgestaltung, S. 43 – 50; zum ganzen: J. Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, Bonn 1971, S. 52 – 64.
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dierten auch Vertreter der preußischen Staatsanwaltschaft dafür, die Beweisaufnahme nach englischem Vorbild umzubilden; insbesondere sollte das Kreuzverhör obligatorisch gemacht werden99. Zur Begründung wurden zwei Argumente ins Feld geführt, die durchaus einiges Gewicht besaßen: Die Wahrheitsfindung sei insofern befördert, als auch der bestgesinnte Richter, dessen Sachkenntnis notgedrungen stets auf den Akten beruhe, dazu neigen würde, die Verhandlung im Sinne der Anklage zu führen; und das Ansehen des Gerichts wäre stärker gewahrt, wenn der Richter, anstatt in den Kampf der Parteien hineingezogen zu werden, über diesen stünde100. Danach hätten sich die Aufgaben des Vorsitzenden darauf beschränkt, für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Verhandlung zu sorgen und Übergriffe seitens der Parteien zu unterbinden. Das Recht, den Angeklagten zu verhören und ergänzende Fragen an die Zeugen zu richten, sollte ihm allerdings verbleiben. Der scheinbare Gleichklang der Forderungen darf nicht über die unterschiedliche Motivlage hinwegtäuschen: Ging es den Vertretern der Wissenschaft vor allem um Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung, so hatten die Staatsanwälte letztlich die Herrschaft über den Gang des Verfahrens im Auge, liefen ihre Vorschläge doch allesamt darauf hinaus, die Stellung der Anklagebehörde zu stärken. Von daher war ihre Verfahrenskritik auch ein gutes Stück – leicht durchschaubare – Interessenpolitik101. Der Dresdner Juristentag (1861) sprach sich für ein gleiches Fragerecht von Ankläger und Verteidiger in der Hauptverhandlung aus, erteilte dem Modell der Staatsanwaltschaft als reiner Prozeßpartei aber eine Absage102. Die skizzierten Ideen und Forderungen, die sich größtenteils am liberalen englischen Prozeßrecht orientierten, steckten den argumentativen Rahmen ab, in dem sich die Diskussion über die Struktur des erstinstanzlichen Verfahrens in der Folgezeit bewegte. 2. Auch die Debatte um die Appellation (Berufung), die später eine zentrale Bedeutung erlangen sollte, verschärfte sich in jenen Jahren. Von der Sache her war sie keineswegs neu103: Mit Einführung des Mündlichkeitsprinzips wurde die Ap99 Das preußische Gesetz v. 3. 5. 1852 hatte das Kreuzverhör nur in sehr eingeschränktem Maße gestattet: Es war auf Schwurgerichtsverfahren begrenzt und nur bei einem übereinstimmenden Antrag von Staatsanwaltschaft und Verteidigung möglich, dem der Richter zustimmen mußte (Art. 77). In der Praxis kam es so gut wie überhaupt nicht vor. 100 „Vor allen Dingen aber ist das Ansehen des Vorsitzenden vielfach gefährdet, wenn er zugleich die Verrichtungen des Inquirenten ausüben soll und damit in das Gewirre der Aktion sich begibt, zu leidenschaftlichen Erregungen geführt wird und an Fragen, Vorhaltungen und Auftritten sich beteiligt, welche die Würde des Richteramtes benachteiligen können“ (Stemann, S. 48); ähnlich Goetze / Keller, S. 66. 101 Die Vorschläge Stemanns etwa sollen „die Staatsanwaltschaft ein- für allemal sicherstellen gegen die Versuche, sie zu einem bloßen Parteiorgan herabzudrücken“ (S. 53). 102 Vgl. Holtzendorff, Reform, S. 17 f. 103 Überblicke über die Entwicklung: Anl. 1 zu den Motiven des Entwurfs einer Deutschen Strafprozeß-Ordnung, in: Hahn (Anm. 288), III / 1, S. 302 – 325; M. Stumpf, Die Berufung im deutschen Strafprozeß, Würzburg 1988, S. 34 – 37; K. H. Drews, Die historische Entwick-
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pellation im Sinne einer vollwertigen zweiten Tatsacheninstanz insofern problematisch, als die Grunddoktrin des reformierten Prozesses – ein gerechter Urteilsspruch ist nur in einem mündlichen Verfahren gewährleistet, in dem das gesamte Beweismaterial unmittelbar vor dem Richter ausgebreitet wird – eine zweite Hauptverhandlung, die auf Aktenkenntnis nie ganz verzichten konnte, im strengen Sinne ausschloß. Selbst bei vollständiger Wiederholung der Beweisaufnahme, so das Hauptargument, sei der Erkenntniswert geringer als in der ersten Instanz, da der größere zeitliche Abstand zum Geschehen dessen wahrheitsgemäße Rekonstruktion erschwere, wenn nicht gar unmöglich mache. Angesichts der Tatsache, daß das Appellationsgericht zumeist in der Provinzhauptstadt liege, mute man Zeugen und Sachverständigen außerdem einen unvertretbar hohen Aufwand an Zeit und Kosten zu. Die wichtigsten Stellungnahmen gegen die Berufung stammten von Glaser und Schwarze104. Demgegenüber verwiesen deren Verteidiger auf die Praxis: Häufig könne sich der Angeklagte, dem im Regelfall kein Rechtsbeistand zur Seite stünde, nicht adäquat auf seine Verteidigung vorbereiten, da er erst im Zuge der Hauptverhandlung (oder gar erst durch die Urteilsbegründung) volle Kenntnis über Umfang und Richtung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe erlange. Von daher sei die Berufung aus Gründen des Rechtsschutzes unverzichtbar. Die partikularen Gesetzgebungen reagierten unterschiedlich auf die Problemlage: Während Preußen die Appellation auf neue Tatsachen resp. Beweismittel beschränkte, wurde sie in verschiedenen Staaten weitgehend, wenn nicht vollständig abgeschafft. Als Ausgleich dienten die sog. Garantien des Verfahrens, die bereits in erster Instanz ein gerechtes Urteil sicherstellen sollten. Im wesentlichen handelte es sich dabei um folgende Maßregeln: Hinzuziehung von Schöffen (Württemberg, Sachsen), Einstimmigkeit bei Bejahung der Schuldfrage (Braunschweig, Oldenburg), Verstärkung des Richterkollegiums (Baden). In einer Reihe von Staaten blieb die Berufung als vollwertige Rechtsmittelinstanz erhalten (Bayern, Hessen, Lübeck)105.
II. Die Justiz im Verwaltungsstaat Mit der Reorganisation des Jahres 1849 begann in Preußen die systematische Zurücksetzung der Justiz gegenüber der Verwaltung106. Trotz der erheblichen Aufwertung, die der Berufsstand faktisch erfahren hatte, wurden die Richter verhältlung der Berufung im Strafverfahren, Wiesbaden 1998; mit breiterem Ansatz: H. Behr, Die Rechtsmittel gegen Strafurteile in der Reformdiskussion und der Partikulargesetzgebung des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1984. 104 Julius Glaser, Ueber das Rechtsmittel der Berufung, Wien 1862; Fr. O. Schwarze, Die zweite Instanz im mündlichen Strafverfahren, Wien 1863. 105 Preußen: VO v. 3. 1. 1849, § 126; Gesetz v. 3. 5. 1852, Art. 101; StPO v. 25. 6. 1867, § 378; Bayern: Gesetz v. 10. 11. 1848, Art. 328 ff. 106 Zum folgenden: Anon., Die Stellung des Richters, Berlin 1874, S. 7 ff.; Ormond, S. 58 f., 63 f.
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nismäßig gering besoldet und im Rang niedrig eingestuft. Laut Allerhöchstem Erlaß vom 19. 3. 1850, der das Dienstalterssystem sowie die Besoldungs- und Rangverhältnisse der richterlichen Beamten regelte, bewegte sich das Gehalt der Stadtund Kreisrichter (von den Direktoren abgesehen) zwischen 600 und 1.100 Talern. Im Rahmen der fünf Rangklassen der höheren preußischen Beamtenschaft rangierten die erstinstanzlichen Räte zwar weiterhin zwischen der vierten und fünften Klasse, da die übrigen Stadt- und Kreisrichter aber der fünften Stufe zugeschlagen wurden, verminderte sich die Zahl der zur vierten Klasse gehörigen Richter beträchtlich. Für das Gros der Betroffenen bedeutete dies eine doppelte Kränkung: Zum einen befand man sich rangmäßig auf einer Stufe mit Subalternbeamten, zum anderen waren die nach Ausbildung und Tätigkeitsprofil vergleichbaren Regierungsräte finanziell erheblich bessergestellt und zählten bereits als Assessoren zur vierten Klasse. Mochten die Entscheidungen vorrangig auch fiskalisch begründet gewesen sein, so stellten sie objektiv doch eine Deklassierung der Justiz dar. De facto wirkten sie wie der Preis, den die Richterschaft für ihre Entlassung in die konstitutionelle Unabhängigkeit zu zahlen hatte. Die Zurücksetzung wirkte traditionsbildend und setzte sich bis zum Ende des Kaiserreichs fort. Die Folgen für die Eigen- und Fremdwahrnehmung der Justizjuristen, aber auch für die Zusammensetzung des preußischen Richterstandes waren gravierend. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten und geringer Aufstiegschancen einerseits, unveränderter Besoldungslage andererseits verschärften sich die ohnehin angespannten finanziellen Verhältnisse des Richterstandes. Selbst Richter höherer Gehaltsstufen bewarben sich um die ungleich besser dotierten Rechtsanwaltsstellen, über deren Vergabe bis zur Justizreform von 1879 der Justizminister disponierte. Da sich in der Regel nur die selbständigeren Persönlichkeiten zu diesem Schritt entschlossen, gingen der Richterschaft zahlreiche tüchtige Kräfte verloren. Der Effekt verstärkte sich durch den Umstand, daß die Verwaltung ihren Nachwuchs aus dem Kreis der Referendare bzw. Assessoren frei auswählen konnte107. Bereits 1874 sprach ein anonymer Autor von der „sprichwörtlich gewordenen stiefmütterlichen Behandlung der Justiz gegenüber der Verwaltung“ und konstatierte rückblickend: „Der geeignete Zeitpunkt für Feststellung eines angemessenen Rangverhältnisses der Richter war in Preußen bei der Gerichtsorganisation im Jahre 1849 eingetreten. Der Übergang der gesamten Rechtspflege erster Instanz auf die Kreisgerichte wies klar darauf hin. Indem die damalige Leitung des Justizwesens dies versäumte, hat sie eine schwere Verantwortung auf sich geladen und zur Schädigung des Ansehens der Justiz den Grundstein gelegt“108. Mit anderen Worten: Dem öffentlichen Ansehensverlust der Justiz ging deren gouvernementale Zurücksetzung voraus. 107 Zu den skizzierten Zusammenhängen: Gustav Pescatore, Zur Würdigung des preußischen Richterstandes und seiner Leistungen, Landsberg a. W. 1877, S. 29 ff.; Ormond, S. 60. 108 Stellung des Richters, S. 8, 15.
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III. Die Ausbildungsproblematik Wohl über kein anderes rechtspolitisches Thema wurde mit solcher Ausdauer und Inbrunst gestritten wie über die juristische Ausbildung. Der tiefere Grund dürfte in dem Umstand zu suchen sein, daß Qualifikationsprozesse eben nie nur mit dem Erwerb positiver Kenntnisse zu tun haben, sondern immer auch Fragen der Persönlichkeitsbildung, der kritischen Urteilsfähigkeit und der Denkweise betreffen. Andererseits beruhte die Diskussion auf einem relativ begrenzten Repertoire an Argumenten und Vorschlägen, so daß es im Laufe der Zeit zu mancherlei Wiederholungen kam. Aufgrund seiner spezifischen Rechtsentwicklung konzentrierte sich die Debatte weitestgehend auf Preußen109. 1. Trotz revolutionär bedingter Umgestaltung des Gerichtsaufbaus und der Verfahrensrechte beschränkte sich die anschließende Reform der Juristenausbildung in Preußen auf technische Adaptationen. Gesetzliche Grundlage bildete weiterhin die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793 (AGO). Als wichtigste Neuerung wurde 1849 ein einheitlicher Ausbildungsgang für alle Richter, Staatsanwälte und Advokaten vorgeschrieben. Bestehen blieb die herkömmliche Dreiteilung in Studium, Auskultatur und Referendariat, wobei das Referendarexamen, bislang Befähigungsnachweis für Richterstellen an kleineren Untergerichten und für die Advokatur, insofern gegenstandslos wurde, als nunmehr alle Richter die dritte „große“ Staatsprüfung abzulegen hatten110. Zunächst ein kurzer Überblick über den Ausbildungsgang. Als Mindeststudienzeit waren seit 1804 drei Jahre vorgeschrieben (Triennium), realiter verkürzte sich das Studium in vielen Fällen auf rund zweieinviertel Jahre, falls der Student während dieser Zeit seinen Wehrdienst ableistete. Den Abschluß bildete das Auskultatorexamen, zu dem sich der Kandidat bei einem Appellationsgericht seiner Wahl anmelden konnte. Die Prüfung bestand aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil und bezog sich fast ausschließlich auf das gemeine Recht. Als Prüfer fungierten zunächst zwei resp. drei Praktiker, 1864 traten zwei Hochschullehrer hinzu, die vom Kultusminister jeweils für zwei Jahre berufen wurden. Dies machte die Einschränkung der Prüfungsorte auf diejenigen Obergerichte erforderlich, in deren Nähe sich eine juristische Fakultät befand (Berlin, Breslau, Köln, Greifswald, Königsberg, Naumburg). Gleichzeitig wurden die Zwangskollegien abgeschafft, die bisherige Klausur durch eine Hausarbeit ersetzt und die Höchstzahl an parallel zu prüfenden Kandidaten von vier auf sechs erhöht111. Die anderthalb109 Zur Forschungsliteratur s. Einl., Anm. 57; zeitgenössische Gesamtdarstellungen: Levin Goldschmidt, Rechtsstudium und Prüfungsordnung, Stuttgart 1887; H. B. Gerland, Die Reform des juristischen Studiums, Bonn 1911 (Prof. in Jena); Verzeichnis wichtiger Beiträge in: A. v. Kirchenheim, Reform des Rechtsunterrichts und der Richtervorbildung, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 4 (1910 / 11), S. 582 – 591, hier S. 588 – 591 (Prof. in Heidelberg). 110 Vgl. Regulativ v. 10. 12. 1849 (JMBl, S. 491 ff.) und Gesetz v. 26. 4. 1851 (GS, S. 181 ff.). 111 Vgl. AO v. 26. 11. 1864 und AV v. 5. 12. 1864 (JMBl, S. 378 ff.).
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jährige Auskultatur, die an einem Stadt- oder Kreisgericht zu absolvieren war, bestand – aus Gründen der Kostenersparnis – zu einem Großteil aus Protokolldiensten. Das Referendarexamen, faktisch zu einer Zwischenprüfung der praktischen Ausbildung geschrumpft, fand ebenfalls vor der Prüfungskommission des zuständigen Appellationsgerichts statt. Es war teils schriftlicher, teils mündlicher Natur, der Prüfungsstoff stammte vornehmlich aus dem preußischen Landesrecht. Hieran schloß sich das zweieinhalbjährige Referendariat mit fest vorgeschriebener Stationenfolge an. Im ganzen erstreckte sich der Vorbereitungsdienst somit über vier Jahre (bis 1849 hatte die Gesamtdauer lediglich drei Jahre betragen). Am Ende des langen Weges stand das Assessorexamen vor der altehrwürdigen, 1755 von Friedrich II. ins Leben gerufenen Immediat-Justiz-Examinations-Kommission in Berlin, bestehend aus Proberelation, wissenschaftlicher Arbeit, Aktenvortrag und mündlicher Prüfung. Die Probleme der preußischen Juristenausbildung wurzelten allesamt in derselben Ursache – der Diskrepanz zwischen Studium auf der einen, Vorbereitungsdienst und Rechtspraxis auf der anderen Seite. Der Grund war zunächst ein wissenschaftsinterner: Während sich der romanistische Zweig der Historischen Rechtsschule zu einer hochdifferenzierten systematisch-methodischen Zivilrechtswissenschaft mit internationaler Ausstrahlung (Pandektenwissenschaft) entwikkelte, fristete das geltende Landesrecht – das Allgemeine Landrecht von 1794 sowie die im Zuge der 1826 von Justizminister Danckelmann eingeleiteten „Gesetzrevision“ vorgenommenen Änderungen – in theoretischer Hinsicht ein kümmerliches Dasein112. Als Folge davon stand das Landesrecht auch im Universitätsunterricht völlig im Schatten des Römischen Rechts, so daß das Studium – unter der Annahme, die Kenntnis der Wissenschaft vom gemeinen Recht bilde die Grundlage für das Verständnis des preußischen Rechts – zu einer Art Propädeutikum herabsank. Anstatt auf einen Ausgleich bedacht zu sein, vertieften Politik und Verwaltung die bestehende Kluft. So wurde der erste und für lange Zeit einzige Lehrstuhl für preußisches Landesrecht erst 1845 in Berlin eingerichtet. Andererseits sollte nicht übersehen werden, daß die Pandektenwissenschaft eine nationale Aufgabe erfüllte: Angesichts der fortdauernden Rechtszersplitterung im Deutschen Bund stellte sie „die Einheit der Rechtsdogmatik, des Rechtsunterrichts und der wissenschaftlichen Rechtsprechung auch außerhalb der Geltungsgebiete des Gemeinen Rechts“ sicher und knüpfte damit „ein unauffälliges, aber starkes Band deutscher Einheit“113. 112 Preußen zerfiel – in bezug auf das Bürgerliche Recht – in vier Rechtsgebiete: das Gebiet des ALR (Altpreußen, Westfalen), des Gemeinen Rechts (Vorpommern, Hannover, Hessen-Nassau), des Französischen Rechts (Rheinprovinz) und des Jütisch Low, des Friesischen und des Dänischen Rechts (Teile Schleswig-Holsteins); siehe: Deutsche Rechts- und Gerichtskarte [1896], neu hg. v. D. Klippel, Goldbach 1996. 113 Fr. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2., neubearb. Aufl., Göttingen 1967, S. 443; ausführlicher zur Pandektenwissenschaft und zur privatrechtlichen Methode unten Dritter Teil, Kap. II / 3.
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Gneist faßte die preußische Entwicklung wie folgt zusammen: „Unsere preußische Praxis lebt leider schon zu lange auf gespanntem Fuße mit der ,bloßen Theorie‘. Die Universitäten haben so lange das preußische Landesrecht vornehm ignoriert und die preußische Gerichtsordnung verspottet, die preußischen Praktiker haben so lange ihre geringe Meinung von der ,bloßen Theorie‘ zur Schau getragen, daß in unserem Lande eine gegenseitige Entfremdung entstehen konnte, welche in den übrigen deutschen Gebieten kaum verständlich ist. Ein sachlicher und persönlicher Zusammenhang zwischen beiden Seiten hat in Preußen allmählich ganz aufgehört, seitdem die Tätigkeit der Juristenfakultäten als Spruchkollegien erlischt; seitdem kaum noch ein Praktiker zur Universität übergeht; seitdem kein Professor mehr in die Gerichtskollegien eintritt; seitdem die unfreundlichen Maßregeln der Justizverwaltung jede gleichzeitige Tätigkeit der Praktiker bei den Universitäten grundsätzlich hindern; seitdem die Budgetbeschlüsse des Abgeordnetenhauses jede Tätigkeit der Universitätslehrer an den Gerichten unmöglich machen“114. Levin Goldschmidt, jahrzehntelang Vorkämpfer für eine durchgreifende Ausbildungsreform, konstatierte „in einem sehr beträchtlichen und einflußreichen Teile des preußischen Juristen- und Beamtenstandes eine erschreckende, nahezu zynische Verachtung aller juristischen Wissenschaft, die blinde Vergötterung einer mehr als Rademacherschen rohen Empirie und Routine“, für die es „bei jedem anderen Bildungszweige in Preußen selbst, für das Gebiet der Rechts- und Staatswissenschaften in jedem anderen Lande europäischer Kultur [ . . . ] an jedem Analogon fehlt“115. Das Auseinanderfallen von Theorie und Praxis hatte gravierende Folgen, und zwar in verschiedener Hinsicht. Am stärksten ins Auge fiel die notorische „Faulheit“ bzw. „Bummelei“ der preußischen Jurastudenten. Die Dominanz des Römischen Rechts, mit dem sich der Student in den ersten Semestern herumschlagen mußte, und die herkömmliche Lehrmethode (systematische Vorlesungen mit Diktat eines Kollegienheftes) verdarben auch dem Gutwilligsten rasch die Lust am Studieren116. Goldschmidt schrieb: „Es ist eine leider feststehende Tatsache, [ . . . ] daß unter allen deutschen Rechtsstudenten gerade die preußischen, ungeachtet ihrer vortrefflichen Schulbildung, der Rechtswissenschaft mit dem geringsten Eifer ob114 Rudolf Gneist, Die Studien- und Prüfungsordnung der Deutschen Juristen, Berlin 1878, S. 36 (Gutachten für den 14. DJT). 115 Levin Goldschmidt, Das dreijährige Studium der Rechts- und Staats-Wissenschaften, Berlin 1878, S. 27. Levin Goldschmidt (1829 – 1897), der Begründer der modernen Handelsrechtswissenschaft, wurde 1855 in Heidelberg habilitiert, wo er seit 1860 eine Professur innehatte. 1870 – 75 arbeitete er als Rat am Reichsoberhandelsgericht in Leipzig, 1875 übernahm er den ersten Lehrstuhl für Handelsrecht in Berlin; zu Goldschmidt: L. Weyhe, Levin Goldschmidt, Berlin 1996 (ohne Berücksichtigung der Ausbildungsthematik). 116 Anschauliche Schilderung bei: Franz Adickes, Das Rechtsstudium und die deutschen Universitäten, in: PJ 29 (1872), S. 195 – 214, hier S. 195 – 198 („junge Leiden“; mit Entwurf einer neuen Studienordnung mit Wechsel zwischen Studium und Vorbereitungsdienst und überwiegend praktischen Übungen).
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liegen. Daran trägt nun freilich der eben gerügte Mangel jeder praktischen Anleitung, das Mißverhältnis zwischen dem Studium des gemeinen Rechts, welches nur wissenschaftliche Grundlage, und des Landesrechts, welches allein anwendbar ist, einen beträchtlichen Teil der Schuld. So wird das gemeine Recht nicht studiert, weil man es höchstens im Examen braucht, und das Landesrecht nicht, weil man es nur in der Praxis braucht! Geradezu verderblich aber ist die Einrichtung der Prüfungen“117. Entgegen der Prüfungsordnung (die AV v. 5. 12. 1864 umfaßte neben den materiellen und formellen Kernfächern Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte, Kirchen-, Lehn-, Völker- und Staatsrecht sowie „Grundbegriffe der Staatswissenschaften“), dafür aber in Übereinstimmung mit der Studienpraxis, beschränkte sich das Examen fast ausschließlich auf das Römische Recht, schon deshalb, weil die Examinatoren die übrigen Disziplinen meist nur unzureichend beherrschten. Inkompetenz und Desinteresse der Praktiker machten die erste Prüfung derart leicht, daß sie als „Karikatur“ (Gierke) galt und ihr Nichtbestehen geradezu ein „Kunststück“ (Lasker) war118. Den Kenntnisstand der Examinierten faßte der Bonner Ordinarius der Staatswissenschaften Erwin Nasse, zugleich langjähriger Vorsitzender des „Vereins für Socialpolitik“ und freikonservatives Mitglied des Abgeordnetenhauses, treffend wie folgt zusammen: „Wir dürfen wohl, ohne Widerspruch zu befürchten, behaupten, daß mit seltenen Ausnahmen unsere juristischen Studierenden mit einer ausschließlich zivilistischen Bildung ohne irgend gründliche Kenntnis weder im Staatsrecht noch in anderen Teilen der Staatswissenschaft, von der Nationalökonomie ganz zu schweigen, die Universität verlassen“119. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, daß viele Studenten lieber dem „dolce vita“ fröhnten oder sich der Burschenherrlichkeit hingaben als ordnungsgemäß zu studieren. Nahte das Examen, so gab es ja immer noch den Repetitor, bei dem man den nötigen Prüfungsstoff kurzfristig „einpauken“ konnte120. Gefördert wurde das Verhalten durch soziale Konventionen: Viele Studenten ahmten das Vorbild ihrer Väter nach, in manchen Verbindungen galt es geradezu als unehrenhaft, ins Kolleg zu gehen, und einer späteren Karriere stand die „Bummelei“ offenkundig nicht im Wege, wie sich nicht zuletzt am Beispiel Bismarcks zeigte, der aus der Tatsache, daß er seine Jahre als Jurastudent durchaus „standesgemäß“ verbracht hatte, nie einen Hehl machte. Man braucht gar nicht das humanistische Bildungsideal der Zeit bemühen, um sich zu vergegenwärtigen, daß die Konsequenzen weit über das Fachliche hinausreichten und etwa auch das Maß an kritischer Urteilsfähigkeit sowie Fragen der Persönlichkeitsbildung betrafen (Ausnahmen wie Bismarck bestätigten nur die Regel). 117 [Levin Goldschmidt], Das preußische Recht und das Rechtsstudium, insbesondere auf den preußischen Universitäten, in: PJ 3 (1859), S. 29 – 57, hier S. 52. 118 Angaben zur Prüfungsstatistik für die Jahre 1849 bis 1852 bei Ebert, S. 39. 119 Erwin Nasse, Ueber die Universitätsstudien und Staatsprüfungen der preußischen Verwaltungsbeamten, Bonn 1868, S. 11. 120 Zum Repetitorwesen: S. Lueg, Die Entstehung und Entwicklung des juristischen Privatunterrichts in den Repetitorien, Berlin 1992.
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Damit aber noch nicht genug: Fehlender Studienfleiß und einseitig zivilistische Denkweise erklären mühelos eine Reihe von Vorwürfen, die seit den 80er Jahren immer lauter gegen die Rechtsprechung erhoben wurden. Die unzureichenden analytisch-theoretischen Fähigkeiten förderten die Neigung, sich ängstlich an den Buchstaben des Gesetzes zu klammern („Buchstabengläubigkeit“), höchstrichterliche Entscheidungen kritiklos zu übernehmen („Präjudizienkult“) oder sich in mechanische Routine zu flüchten („handwerkliche Verknöcherung“). Der Mangel an öffentlich-rechtlichen und staatswissenschaftlichen Kenntnissen erschwerte eine sachgerechte Entscheidungsfindung in Prozessen politischer, sozialer oder ökonomischer Art, während die Dominanz des Privatrechtlichen mit seiner abstrakten Methode eine lebensfremde Handhabung der Gesetze („Formalismus“) ebenso begünstigte wie deren extensive Auslegung („grober Unfug“). Die Antwort der Justizverwaltung bestand in wiederkehrenden Ermahnungen, deren Alibicharakter nur allzu offensichtlich war. Noch einmal Gneist: „Reskripte über Reskripte verlangen ein ,ernstes‘ Examen und geben einen stattlichen Katalog von Gegenständen, während man doch wußte, daß eine extemporierte Kommission so vielerlei Dinge nicht in ein paar Stunden abfragen kann. Die Justizverwaltung hatte für die ganze Angelegenheit eben nur leere Ermahnungen und Instruktionen, deren Nichtbefolgung dem Justizminister so gut bekannt war wie allen übrigen“121. Die positiven Effekte, die von der – im übrigen nur widerwillig zugestandenen – Hinzuziehung der Universitätslehrer ausgingen, wurden durch die Neuregelung des Jahres 1869 größtenteils wieder zunichte gemacht. Imgrunde versuchte die Justizverwaltung überhaupt nicht zu verbergen, daß ihr an einer soliden wissenschaftlich-theoretischen Ausbildung des Nachwuchses nicht ernsthaft gelegen war, hätte dies die Prägung durch die allein als relevant angesehene Praxis doch nur unnötig erschwert. Der prinzipielle Konflikt zwischen Theoretikern und Praktikern durchzog bereits die erste Jahrhunderthälfte122. Auch die nachrevolutionäre Reformdiskussion, die 1859 mit Beiträgen von Goldschmidt und dem Bonner Ordinarius Hugo Hälschner einsetzte, wurde fast ausnahmslos von Hochschullehrern getragen. Einmütig forderte man eine drastische Verschärfung der ersten Prüfung, die Mehrzahl plädierte zudem für eine Verlängerung der Studienzeit auf vier Jahre bei gleichzeitiger Erweiterung des Lehrplans um staatswissenschaftliche und ökonomische Disziplinen (Quadriennium). An die eigene Adresse erging die Mahnung, die herkömmliche rezeptiv-theoretische Lehrmethode (Kollegien) einzuschränken und stattdessen vermehrt produktiv-anschauliche Unterrichtsformen (exegetische und praktische Übungen, Seminare) zur Anwendung zu bringen. Die Zielsetzung war klar: Der Schwerpunkt der Qualifikation sollte vom praktischen auf den theoretischen Teil verlagert werden123. Gneist, Studienordnung, S. 38. Ausführlich hierzu: U. Bake, Die Entstehung des dualistischen Systems der Juristenausbildung in Preußen, Kiel 1971. 121 122
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Den Anstoß zur gesetzlichen Neuregelung gaben die Annexionen des Jahres 1866. Im Interesse einheitlicher Ausbildungsregeln beseitigte das Justizausbildungsgesetz vom 6. 5. 1869 (JAG) die Auskultatur und reduzierte die Zahl der Prüfungen auf zwei, das theoretische Referendarexamen und das (überwiegend) praktische Assessorexamen. Bei den Beratungen standen drei Fragen im Vordergrund: die Mindeststudienzeit, die Dauer des Vorbereitungsdienstes und die Einführung einer obligatorischen einjährigen Verwaltungsstation im Rahmen der praktischen Tätigkeit (mit der Perspektive, die Ausbildung der Justiz- und Regierungsreferendare zusammenzuführen). Als Ergebnis eines Tauschgeschäftes zwischen der Regierung, die den vierjährigen Vorbereitungsdienst zu einer Lebensfrage für die preußische Justiz hochstilisierte, und dem Abgeordnetenhaus, das die Verwaltungsstation ablehnte und ein auf drei Jahre verkürztes Referendariat befürwortete, blieb es bei den bisherigen Bestimmungen (dreijähriges Studium, vierjähriger Vorbereitungsdienst ohne Verwaltungsstation)124. In der Diskussion um das JAG wurden die Vorbehalte gegen die formalistische Privatrechtswissenschaft mit ihrer Neigung zur „Weltfremdheit“ bereits deutlich artikuliert, vor allem seitens der Regierung. In seinem Votum zum Gesetzentwurf schrieb Bismarck: „Der allgemeinste und begründetste Vorwurf aber, den man bisher der Ausbildung unserer Juristen gemacht hat, ist der, daß sie, dem wirklichen Leben entfremdet, sich überwiegend in einem abstrakten Formalismus bewegen. Es ist unleugbar, daß der Fehler der Ausbildung schon auf der Universität beginnt, und kann ich mich deshalb auch nur dem Vorschlage des Kultusministers anschließen, daß man indirekt durch den Inhalt der ersten Prüfung die Studierenden der Jurisprudenz nötigt, sich außer mit den eigentlichen Brotstudien auch noch mit solchen Disziplinen zu beschäftigen, welche ihnen die Kenntnis des realen Lebens erschließen. Hierzu rechne ich außer der Geschichte die Nationalökonomie und Verwaltungslehre, wenigstens in ihren allgemeinen Umrissen. Eine Verschärfung der ersten juristischen Prüfung in dieser Richtung erscheint deshalb notwendig“. Aus demselben Grunde trat Bismarck dafür ein, die von Justizminister Lippe nur fakultativ ins Auge gefaßte Tätigkeit bei einer Verwaltungsbehörde als Zwangsvorschrift in den Gesetzentwurf aufzunehmen, wie es dann ja auch geschah125. Ganz ähnlich begründete Lippes Nachfolger Leonhardt die Verwaltungsstation im Abgeordnetenhaus: „Wenn mich nicht alles täuscht, entfremdet sich die Jurisprudenz immer mehr und mehr dem Leben; das Wort der Römischen Juristen: Jurisprudenz 123 Siehe: Hugo Hälschner, Das juristische Studium in Preußen, Bonn 1859; ders., Sten. Ber. HH, 19. 12. 1868, S. 122 f.; [Levin Goldschmidt], Das preußische Recht und das Rechtsstudium, in: PJ 3 (1859), S. 29 – 57; Erwin Nasse, Ueber die Universitätsstudien und Staatsprüfungen der preußischen Verwaltungsbeamten, Bonn 1868; H. Göppert, Bemerkungen zu dem Entwurf eines Gesetzes über die juristischen Prüfungen und die Vorbereitung zum höheren Justizdienst, Berlin 1869 (Prof. in Breslau). 124 Zu den Verhandlungen Ebert, S. 183 f., 205 – 209; Text des Gesetzes: GS, S. 656 ff. 125 Votum Bismarcks v. 16. 11. 1867, in Auszügen abgedr. bei: H. Poschinger, Bismarck als Jurist, in: DJZ 16 (1911), S. 22 – 28, hier S. 24 f.
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sei Kenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge, wird immer mehr zur Unwahrheit, und die Jurisprudenz steht in Gefahr, zur Juristerei herabzusinken“. In der Jurisprudenz existiere „ein Trieb sich zu isolieren“. Als Grund verwies Leonhardt auf die abstrakte Methode in der Rechtswissenschaft und, hieraus folgend, in den Lehrvorträgen auf der Universität126. Das neue Referendarexamen gliederte sich in einen schriftlichen (eine innerhalb von sechs Wochen anzufertigende „wissenschaftliche Arbeit“) und einen mündlichen Abschnitt, den Gegenstand sollten die Disziplinen des öffentlichen Rechts, des Privatrechts und der Rechtsgeschichte sowie die „Grundlagen der Staatswissenschaften“ bilden. Über die Zusammensetzung der Prüfungskommission schwieg sich das Gesetz aus, das nachfolgende Regulativ bestimmte als Regelfall eine dreiköpfige Kommission, was zur Folge hatte, daß stets nur noch ein Rechtslehrer hinzugezogen wurde, dessen Berufung darüber hinaus nicht mehr durch den Kultusminister, sondern zunächst durch den Justizminister, schließlich durch den Präsidenten des zuständigen Appellationsgerichts erfolgte. Dadurch gelang es der Justizverwaltung, den jüngst gewonnenen Einfluß der Theoretiker zu minimieren – ein Vorgang, den Goldschmidt in das Bild von der „Professoren-Schwindsucht“ faßte127. Die Prüfungsgruppen umfaßten weiterhin bis zu sechs Kandidaten, die Prüfungszeit betrug vier bis fünf Stunden. Als Prüfungsorte traten neben die bestehenden sechs alten drei neue Appellationsgerichte (Kiel, Celle, Kassel). In der Abfolge der Referendarstationen gewährte das Gesetz gewisse Freiheiten. An der abschließenden großen Staatsprüfung änderte sich wenig: Zuständig war die zentrale, in Justiz-Prüfungskommission umbenannte Prüfungsbehörde in Berlin, das Examen selbst zerfiel in zwei schriftliche Arbeiten, den Aktenvortrag und die mündliche Prüfung. Im Kern beschränkte sich das JAG auf die 1849 ausgebliebene Umstellung von einer drei- auf eine zweigliedrige Ausbildung. Da eine durchgreifende Reform, deren oberstes Ziel eine deutliche Aufwertung von Studium und erster Prüfung hätte sein müssen, ausblieb, verschärften sich die Strukturprobleme der preußischen Juristenausbildung. 2. Das Gegenmodell verkörperte Bayern. Ein Antagonismus zwischen Theorie und Praxis blieb hier unbekannt, da das kurbayerische Landrecht von 1756, der Codex Maximilianeus Bavaricus civilis, auf gemeinrechtlichem Boden stand128. Leonhardt, Sten. Ber. AH, 22. 2. 1869, S. 1826. Goldschmidt, Studium, S. 41; zu den parlamentarischen Verhandlungen Ebert, S. 168 f.; Regulativ v. 29. 12. 1869, § 2 (JMBl, S. 277 ff.). Die späteren Regulative v. 6. 12. 1875, 22. 8. 1879 und 1. 5. 1883 erwähnten die Berufung von Rechtslehrern überhaupt nicht mehr, was an der Praxis indes wenig änderte. In seiner Besprechung der Goldschmidtschen Schrift bemerkte Otto Mittelstädt: „Die Appellationsgerichtsräte behielten das Regiment im ersten Examen, die zähe Ausdauer der Praktiker triumphierte noch einmal über die petulanten Ansprüche der grauen Theorie“ (O. M., Eine Schicksalsfrage der preußischen Justiz, in: Im neuen Reich 8 / 1, 1878, S. 201 – 212, hier S. 206). 128 Auch Bayern gliederte sich – in bezug auf das Bürgerliche Recht – in vier Rechtsgebiete: das Gebiet des Bayerischen Landrechts (Kurbayern), des Gemeinen Rechts (Schwa126 127
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Im Anschluß an die Hauptdienstpragmatik von 1805 wurde der Ausbildungsgang für Beamtenanwärter erstmals in der Verordnung vom 20. 9. 1809 festgelegt. Die endgültige Regelung erfolgte mit der Verordnung vom 6. 3. 1830, die über Jahrzehnte hinweg in Kraft blieb129. Während sich in Preußen die Wege von Justizund Regierungsreferendaren nach den ersten Monaten des juristischen Vorbereitungsdienstes trennten, wurden die Anwärter für den höheren Justiz- und Verwaltungsdienst in Bayern bis zum Ende gemeinsam ausgebildet. Dies verlieh der Qualifikation von vornherein einen ungleich breiteren Zuschnitt und schloß die Gefahr einer einseitig privatrechtlichen Bildung aus. Das auf mindestens vier Jahre festgelegte Studium umfaßte eine Reihe philosophischer (allgemeinbildender) Pflichtvorlesungen (ihre Zahl wurde später auf acht festgesetzt), für die ein ganzes Studienjahr (gemeinhin das erste) vorgesehen war – eine Vorschrift, die bis in den Ersten Weltkrieg hinein (1917) Bestand hatte. Ein offizieller Studienplan existierte nicht, Zwangsmaßnahmen zur Sicherung des Studienfleißes entfielen im Jahre 1848. Der Militärdienst fand auf die Studienzeit keine Anrechnung, Studenten mit und ohne Militärjahr wurden nach bestandener Prüfung im Dienstalter gleichgestellt. Die erste Prüfung war ein Universitätsexamen: Sie fand an der Hochschule statt und wurde von Professoren der Juristischen und Staatswirtschaftlichen Fakultät, die jeweils nur für ihr Fachgebiet zuständig waren, abgenommen. Den Vorsitz führte ein höherer Staatsbeamter, dessen Votum bei Stimmengleichheit den Ausschlag gab. Die Prüfung war mündlich, jeder Kandidat wurde einzeln zwei Stunden lang examiniert. Neben den juristischen Kernfächern waren folgende Prüfungsgebiete vorgeschrieben: Philosophische Rechtslehre, allgemeines und bayerisches Staatsrecht, katholisches und protestantisches Kirchenrecht, Polizeiwissenschaft und Polizeirecht, Nationalwirtschaft und Staatsfinanzwirtschaft. Außerdem sollte der allgemeine Bildungsstand der Kandidaten festgestellt werden. Es folgte ein zweijähriger Vorbereitungsdienst, der je zur Hälfte bei einem Gericht und einer Verwaltungsbehörde niederer Stufe abzuleisten war. Den Schlußpunkt bildete die große Staatsprüfung (Staatskonkurs) vor einer gemischten, aus Richtern und Verwaltungsbeamten bestehenden Kommission. Sie besaß einen überwiegend praktischen Charakter und bestand aus einem umfangreichen schriftlichen Teil (in jeder Disziplin der beiden Abteilungen Justiz und Verwaltung mußten zwei Aufgaben bearbeitet werden, des weiteren ein praktischer Fall pro Abteilung) und einer kleineren mündlichen Prüfung. Mit Ausnahme der ben), des Französischen Rechts (Rheinpfalz) und des ALR (Ansbach-Bayreuth); siehe: Deutsche Rechts- und Gerichtskarte [1896], neu hg. v. D. Klippel, Goldbach 1996. 129 VO v. 20. 9. 1809, die Conkurs-Prüfungen der Adspiranten zum Staatsdienste betr. (RBl, S. 1737 – 1749); VO v. 6. 3. 1830, die Conkurs-Prüfung der zum Staatsdienste adspirirenden Rechts-Candidaten betr. (RBl, S. 581 – 603); weiterhin: Satzungen für die Studierenden an den Kgl. bayerischen Universitäten, Tit. II; zum folgenden: O. Kollmann, Zur Entwicklung des Ausbildungs- und Prüfungswesens für Richteramt, höheren Verwaltungsdienst, Rechtsanwaltschaft und Notariat in Bayern, in: FS Laforet, München 1952, S. 445 – 472, hier S. 457 – 463; U. Kühn, Die Reform des Rechtsstudiums zwischen 1848 und 1933 in Bayern und Preußen, Berlin 2000, pass.; Bleek, S. 264 – 267.
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Philosophischen Rechtslehre waren die Gegenstände dieselben wie in der ersten Prüfung. Abschließend wurden die Kandidaten in eine feste Reihenfolge eingeordnet (Klassifikation). Beide Examina stellten anerkannt strenge Anforderungen, was eine Vorbereitung im Wege des Repetitoriums praktisch unmöglich machte. Studiendauer, Studieninhalte und erste Prüfung verbürgten ein im Vergleich zu Preußen hohes Niveau an fachtheoretischem Wissen und allgemeiner Bildung. Die Verhältnisse sollten aber auch nicht idealisiert werden: Auch in Bayern traf man auf Klagen über die dürftige universitäre Vorbildung der Juristen, insbesondere die Vernachlässigung der philosophischen Studien130. In Umfang und Intensität blieben sie jedoch deutlich hinter der preußischen Diskussion zurück. Im Anschluß an die endgültige Trennung von Justiz und Verwaltung (1862) wurde der Vorbereitungsdienst bei den Gerichten um sechs Monate verlängert, wodurch sich die Gesamtdauer auf zweieinhalb Jahre erhöhte (VO v. 7. 8. 1863).
IV. Die politische Strafrechtsprechung 1. Die Epoche der Reaktion Will man sich ein Bild vom tatsächlichen Verhalten der Strafverfolgungsorgane „auf dem heiklen Feld der verfassungssichernden Strafrechtspflege“ (Huber) verschaffen, so bieten sich zuvörderst die Pressevergehen an. Als politisches Alltagsdelikt spiegeln Presseprozesse die Haltung von Richtern und Staatsanwälten zuverlässiger wider als spektakuläre Verfahren etwa mit landes- oder hochverräterischem Hintergrund, die schon aufgrund ihres gesteigerten öffentlichen Interesses stets unter besonderen Vorzeichen standen. Mit der Revolution von 1848 / 49 begann das spannungsreiche und wechselvolle Verhältnis zwischen Presse und Justiz, das sich wie ein roter Faden auch durch die Jahrzehnte des Kaiserreichs zieht. Die Konstitutionalisierung hatte zu einer Verrechtlichung der Pressekontrolle geführt, so daß im Konfliktsfall – anders noch als bei der vormärzlichen Zensur – das letzte Wort nunmehr bei den Gerichten lag131. Damit wurde die Justiz in die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Presse unmittelbar hineingezogen. Gleichsam das Komplementärstück hierzu bildete die neue Öffentlichkeit des Strafverfahrens, die der Presse den Weg in die Gerichtssäle bahnte. Schon die politischen Verfahren der Revolutionszeit wurden von einer ausführlichen Berichterstattung begleitet. Seit den 60er Jahren verstetigte sich die Gerichtsreportage dann immer mehr. Wann und wo immer ein überregional bedeutZum letztgenannten Punkt Staatsminister, II, S. 770 ff. Vgl. E. Naujoks, Von der Reaktionszeit bis zum Reichspressegesetz (1849 – 1874), in: H.-D. Fischer (Hg.), Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts, München 1982, S. 114 – 130, hier S. 114 – 116. 130 131
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samer Prozeß stattfand, berichteten die größeren Zeitungen detailliert über die einzelnen Sitzungen, teilweise mit wörtlicher Wiedergabe der Verhandlungen. Eine wichtige Rolle spielten zudem die von interessierter Seite vertriebenen Prozeßberichte, die, für wenige Groschen erwerbbar, häufig reißenden Absatz fanden, so daß nicht selten nach kurzer Zeit eine Neuauflage erforderlich wurde. Viele Zeitungen richteten darüber hinaus besondere Spalten ein, in denen sich der Leser über die Vorgänge am lokalen Gericht informieren konnte. Wie im folgenden näher darzulegen sein wird, verschoben sich die Gewichte zwischen Presse und Justiz im Laufe der Zeit deutlich zugunsten der ersteren. 1. Für Preußen läßt sich der oben entwickelte Maßstab erstmals an die konservativ-reaktionäre Regierung Manteuffel (1850 – 1858) anlegen, die, auf veränderter rechtlicher Grundlage, eine scharfe Pressekontrolle ausübte. Treibende Kräfte hierbei waren Innenminister v. Westphalen und der Berliner Polizeipräsident v. Hinckeldey, seines Zeichens zugleich Leiter der politischen Polizei132. Die preußische Verfassung von 1850 sprach zwar ein ausdrückliches Verbot der Zensur aus, die nähere Regelung stand jedoch unter Gesetzesvorbehalt (Art. 27). Im übrigen sollten Preßvergehen den allgemeinen Strafgesetzen unterliegen (Art. 28). Das daraufhin erlassene Pressegesetz vom 12. 5. 1851 enthielt einen umfangreichen Katalog von Administrativvorschriften und Strafdrohungen. Es gab den Polizeibehörden das Recht zur Nachzensur (repressive Zensur), indem sie Periodika vorläufig mit Beschlag belegen konnten, falls sie eine strafbare Äußerung entdeckt zu haben meinten. Die Staatsanwaltschaft war von der Konfiskation innerhalb von 24 Stunden in Kenntnis zu setzen und hatte ihrerseits die Druckschrift freizugeben oder, binnen derselben Frist, eine gerichtliche Untersuchung zu beantragen. Das Gericht schließlich mußte innerhalb von 8 Tagen entscheiden, ob die Beschlagnahme endgültig aufzuheben oder ein Presseprozeß nach den allgemeinen Verfahrensregeln einzuleiten sei133. Abgesehen von den Schwurgerichten geben die preußischen Justizstatistiken über die Urteilspraxis bis zum Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze (1879) nur lückenhaft und summarisch Auskunft. Erfaßt wurden lediglich die eingeleiteten Untersuchungen in einzelnen Deliktsgruppen, was der Zahl der Verfahren entspricht. Erhebungen über Anzahl und Ergebnis der Voruntersuchungen, die staatsanwaltschaftlichen Strafanträge, die Urteile in erster und zweiter Instanz, die Behandlung der Nichtigkeitsbeschwerde (dritte Instanz) sowie die Verwendung von 132 Otto Ferdinand von Westphalen (1799 – 1876) hatte die gesamte Ära Manteuffel über das Amt des Innenministers inne (Dezember 1850 bis November 1858). Carl Ludwig v. Hinckeldey (1805 – 1856) wurde 1854 zusätzlich zum Generalpolizeidirektor im Innenministerium ernannt, womit er faktisch die Funktion eines Polizeiministers ausübte; zu Hinckeldey: H. v. Sybel, Carl Ludwig von Hinckeldey 1852 – 1856 [1890], in: HZ 189 (1959), S. 108 – 123; B. Schulze, Polizeipräsident Carl von Hinckeldey, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 4 (1955), S. 81 – 108. 133 Zum preußischen Pressegesetz: Ludwig v. Rönne, Das Gesetz über die Presse vom 12. Mai 1851, Breslau 1851; Naujoks, S. 118 f.; Huber, III, S. 107 f.
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Rechtsmitteln überhaupt fehlen gänzlich134. Immerhin läßt sich ersehen, daß die Zahl der in der gesamten Monarchie verhandelten Presseprozesse bis Mitte der 50er Jahre noch relativ hoch lag, um sich dann bis zum Beginn des Verfassungskonflikts auf niedrigem Niveau einzupendeln135. Genauere Kenntnisse über die Handhabung des Pressegesetzes und das Verhalten der Justizbehörden liegen für Berlin vor, das als Sitz des zentralen Polizeipräsidiums, aber auch führender Oppositionszeitungen im Brennpunkt des Geschehens stand136. Neben einer extensiven, teils gesetzwidrigen Anwendung administrativer Mittel (polizeiliche Verwarnung, Entzug des Postdebits und der Konzession) drangen Westphalen und Hinckeldey immer wieder auf ein strafrechtliches Einschreiten gegen mißliebige Zeitungen. Als Handhabe standen die Staatsschutzbestimmungen des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 zur Verfügung, die nicht zuletzt als Korrelat zur Aufhebung der Zensur gedacht waren: die Majestätsbeleidigung (§ 75), die Aufforderung zum Ungehorsam gegenüber Gesetzen und staatlichen Anordnungen (§ 87), die berüchtigten Haß- und Verachtungsparagraphen (§§ 100, 101), schließlich die Beleidigung von politischen Körperschaften, Behörden, Beamten und Armeeangehörigen (§ 102)137. Per Zirkularreskript vom 25. 6. 1851 134 Angaben für 1851 – 1853 in: Jahrbuch der Preußischen Gerichtsverfassung 3 (1854), S. 1 ff. Seit 1856 wurden statistische Jahresübersichten im JMBl veröffentlicht. Für die Jahre 1854 bis 1870 siehe: JMBl 1856, S. 291 ff.; JMBl 1857, S. 311 ff.; JMBl 1859, S. 403 ff.; JMBl 1860, S. 336 ff.; JMBl 1861, S. 292 ff., 300 ff.; JMBl 1862, S. 171 ff., 183 ff.; JMBl 1863, S. 166 ff., 179 ff.; JMBl 1864, S. 294 ff.; JMBl 1865, S. 209 ff.; JMBl 1866, S. 148 ff.; JMBl 1868, S. 25 ff., 35 ff., 364 ff.; JMBl 1870, S. 25 ff., 356 ff.; JMBl 1872, S. 27 ff. (1867 bis 1870 ohne die annektierten Gebiete). 135 Presseprozesse: 1851: 160; 1852: 156; 1853: 87 (Angaben außer Departement Köln); 1854: 104; 1855: 131; 1856: 76; 1857: 72; 1858: 69; 1859: 66; 1860: 62; 1861: 71; 1862: 200(!). 136 Vgl. M. Behnen, Das Preußische Wochenblatt (1851 – 1861), Göttingen 1971, S. 17 – 36. Zu den wichtigsten regierungskritischen Zeitungen Berlins zählten: die Vossische Zeitung, die National-Zeitung, die Urwählerzeitung (seit 1853: Volks-Zeitung), die Constitutionelle Zeitung, der Publicist, das Preußische Wochenblatt sowie – auf ihre Weise – die hochkonservative Kreuzzeitung. 137 § 87: „Wer zum Ungehorsam gegen die Gesetze oder Verordnungen oder gegen die Anordnungen der Obrigkeit öffentlich auffordert oder anreizt, oder wer Handlungen, welche in den Gesetzen als Verbrechen oder Vergehen bezeichnet sind, durch öffentliche Rechtfertigung anpreist, wird mit Geldbuße bis zu zweihundert Talern oder mit Gefängnis von vier Wochen bis zu zwei Jahren bestraft“. § 100: „Wer den öffentlichen Frieden dadurch gefährdet, daß er die Angehörigen des Staates zum Hasse oder zur Verachtung gegeneinander öffentlich anreizt, wird mit Geldbuße von zwanzig bis zu zweihundert Talern oder mit Gefängnis von einem Monate bis zu zwei Jahren bestraft“. § 101: „Wer durch öffentliche Behauptung oder Verbreitung erdichteter oder entstellter Tatsachen oder durch öffentliche Schmähungen oder Verhöhnungen die Einrichtungen des Staates oder die Anordnungen der Obrigkeit dem Hasse oder der Verachtung aussetzt, wird mit Geldbuße bis zu zweihundert Talern oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft“. Zu den Staatsschutzbestimmungen des preußischen StGB: Fr.-Chr. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, München 1970, S. 73 – 82.
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wies Westphalen die Polizeipräsidien an, insbesondere die §§ 87 und 101 gegen die Presse zur Anwendung zu bringen. Ergänzend trug Justizminister Simons den Beamten der Staatsanwaltschaft auf, regelmäßig Anklage zu erheben und gegen freigebende Beschlüsse des Untergerichts Beschwerde beim Kammergericht einzulegen, sofern ihnen „ein entsprechender Wunsch der Polizeibehörden mitgeteilt“ werde (RV v. 25. 11. 1851). Paradigmatisch zeigt sich hier die für die Reaktionsperiode typische Tendenz, die Staatsanwaltschaft den Interessen der Polizei unterzuordnen138. Dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) fiel das Ergebnis enttäuschend aus: Die Staatsanwälte hielten sich keineswegs streng an die Vorgaben, und auch die Gerichtsabteilungen zeigten sich alles andere als verurteilungsfreudig139. Letzteres ist umso bemerkenswerter, als Pressevergehen seit Mitte 1851 faktisch ja nur noch von Berufsrichtern abgeurteilt wurden. Einige Beispiele mögen dies belegen: In den Jahren 1851 – 1856 kam es zu 16 Beschlagnahmen des liberal-konservativen „Preußischen Wochenblattes“. Einige Male beschloß die Staatsanwaltschaft, die betreffende Nummer freizugeben, in der Mehrzahl der Fälle schloß sich jedoch eine Gerichtsverhandlung an, die aber nur in drei Fällen mit einer Verurteilung endete (was Vernichtung der betreffenden Nummer und zumeist Geld- oder Haftstrafe für den verantwortlichen Redakteur bedeutete). Die Freisprüche erfolgten überwiegend bereits in erster Instanz vor dem Berliner Stadtgericht140. Von den insgesamt 16 Nummern, die von der (damals noch linksliberalen) „National-Zeitung“ zwischen 1850 und 1858 konfisziert wurden, gab die Staatsanwaltschaft sieben sofort wieder frei, während sie in neun Fällen Anklage erhob. Die acht daraus resultierenden Prozesse führten lediglich zu zwei Verurteilungen, wobei fünfmal die zweite Instanz und einmal sogar das Obertribunal angerufen wurde141. Die erstaunlichste Quote findet sich bei der am linken Rand des Berliner Pressespektrums angesiedelten „Volks-Zeitung“: Den insgesamt 28 Beschlagnahmen aus den Jahren 1853 – 1858 steht nur eine einzige Verurteilung gegenüber, die zudem noch auf einem formalen Verstoß gegen das Pressegesetz beruhte142. Zwischen 1850 und 1854 wurde auch die „Kreuzzeitung“, das Organ der Altkonservativen um die Gebrüder von Gerlach, rund zehnmal konfisziert, und mindestens in zwei Fällen kam es zur Anklageerhebung. Daß die Verfahren rasch 138 Zum Reskript Westphalens: Behnen, S. 23; Abdr. der Simonsschen Verfügung in: Sten. Ber. AH 1856 / 57, Anl., 2. Teil, Nr. 98, Beil. I, S. 516 (aufgehoben durch Beschluß des StM vom 25. 1. 1874); eingehend zur Rolle der Polizei in Preußen zwischen 1848 und 1918: A. Funk, Polizei und Rechtsstaat, Frankfurt / M. 1986. 139 So soll die Staatsanwaltschaft des Stadtgerichts Berlin zwischen 1851 und 1856 nur in 40 % der Fälle Beschwerde gegen Freigabebeschlüsse des Gerichts eingelegt haben (Sten. Ber. AH 1856 / 57, Anl., 2. Teil, Nr. 98, Beil. I, S. 507). 140 Vgl. Behnen, S. 51 – 53. 141 E. G. Friehe, Die Geschichte der Berliner „National-Zeitung“ in den Jahren 1848 bis 1878, Leipzig 1933, S. 25 – 35 (mit zahlreichen Details); 1853 erfolgten auch zwei Verurteilungen durch das Stadtgericht Elbing. 142 J. Frölich, Die Berliner „Volks-Zeitung“ 1853 bis 1867, Frankfurt / M. 1990, S. 73 – 78; leider wird nicht ersichtlich, in wie vielen Fällen Anklage erhoben wurde.
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niedergeschlagen wurden, war dem persönlichen Eingreifen Friedrich Wilhelms IV. zu verdanken143. Bei all dem ist allerdings zu berücksichtigen, daß schon die Konfiskation den gewünschten Effekt in hohem Maße erzielte, da die beanstandete Nummer für längere Zeit – bis zur endgültigen Entscheidung des Gerichts vergingen mehrere Wochen, wenn nicht Monate – aus dem Verkehr gezogen wurde, so daß das öffentliche Interesse an der betreffenden Sache zum Zeitpunkt der endgültigen Freigabe in der Regel erlahmt war. Nichtsdestoweniger klagte Hinckeldey angesichts der geschilderten Justizpraxis 1852 darüber, seine Tätigkeit werde durch die Gerichte „geradezu kompromittiert“, und 1854 mußte er resigniert feststellen, „daß eine energische Handhabung der Preßpolizei in der bei den hiesigen Gerichtshöfen vorwaltenden Anschauung der politischen Tagesfragen ein nicht hoch genug anzuschlagendes Hemmnis findet“144. Wie ist das Verhalten der Richter und (in eingeschränkterem Maße) der Staatsanwälte zu erklären? Eine nicht zu unterschätzende Rolle dürfte der Selbstbehauptungswille der Gerichte und Staatsanwaltschaften gespielt haben, die sich der Polizei gegenüber systematisch zurückgesetzt fühlten. Zudem hielten die Justizjuristen daran fest, die – durchaus dehnbaren – gesetzlichen Bestimmungen restriktiv auszulegen, wie es der juristischen Tradition und Ausbildung entsprach. Dies belegen die wiederholten, aber erfolglosen Versuche Hinckeldeys und Westphalens, bei der Staatsanwaltschaft eine extensivere Interpretation der einschlägigen Strafvorschriften durchzusetzen145. Hier dürfte der Umstand zum Tragen gekommen sein, daß sich das Personal der neuen Anklagebehörde zunächst aus der Richterschaft rekrutierte. Schließlich: Angesichts des polizeilich-administrativen Drucks, der auf den Zeitungen lastete, sowie der erzwungenen Vorsicht in der Kommentierung, die nicht selten einer Selbstzensur gleichkam, sahen es die Richter als ihre Aufgabe an, die verfassungsmäßig garantierte Pressefreiheit nicht völlig aushöhlen zu lassen. Während der großen, von ihm angeregten Pressedebatte im Abgeordnetenhaus (April 1857) beschrieb Mathis, einer der führenden Vertreter der Wochenblattpar143 Zahlen nach: D. E. Barclay, Anarchie und guter Wille, Berlin 1995, S. 344 und H.-Chr. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach, Bd. 2, Göttingen 1994, S. 609 – 619; zum wiederholten Eingreifen des Königs: Unter Friedrich Wilhelm dem Vierten, hg. v. H. v. Poschinger, Bd. 2, Berlin 1901, S. 368, 379 – 381, 435 – 437. Das Vorgehen gegen die „Kreuzzeitung“, sicherlich in mancher Hinsicht ein Sonderfall, wurde von Manteuffel und Hinckeldey betrieben, während sich Westphalen, der den Altkonservativen nahestand, zurückhielt. 144 Briefe an Westphalen v. 22. 1. 1852 und 13. 10. 1854 (zit. n. Behnen, S. 23 und S. 26). Insofern war die „Hoffnung auf den Rechtsweg“ alles andere als „schwach“, wie Naujoks meint, dessen Bild von den 50er Jahren ohnehin erheblich zu negativ ausfällt (Reaktionszeit, S. 116). 145 In einem Brief an Manteuffel vom August 1854 spricht Westphalen, in bezug auf den § 100 StGB, von seinen „seit längerer Zeit“ anhaltenden Bemühungen, der von ihm „für richtig gehaltenen Interpretation dieses § zunächst bei dem Herrn Justiz-Minister und durch diesen bei den Staatsanwaltschaften, eventuell aber auch bei den Gerichten Eingang zu verschaffen“ (zit. n. Behnen, S. 26).
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tei, die Situation wie folgt: Zwar hätten die Gerichte die Pflicht, Verwaltung und Presse voreinander zu schützen, die Willkür der Exekutive hätte die Richter aber dazu gebracht, „sich wesentlicher als den Schutz der Presse anzusehen“146. Hier wird der entscheidende Grund sichtbar: Deutlicher als auf anderen Feldern zeigt sich an der Pressejustiz, daß der politische Liberalismus, der den preußischen Richterstand im Vormärz ausgezeichnet hatte, auch im nachrevolutionären Jahrzehnt maßgebend blieb147. 2. Noch krasser fallen die Zahlen für Bayern aus. Die Rechtslage war hier eine ähnliche wie in Preußen: Das „Gesetz zum Schutze gegen den Mißbrauch der Presse“ (17. 3. 1850) stellte einen umfangreichen Katalog strafbarer Äußerungen auf und legte weitreichende polizeiliche Kontrollrechte fest. Konfiszierte Auflagen mußten innerhalb von acht Tagen freigegeben werden, falls kein Prozeß eingeleitet wurde148. In den Jahren 1850 bis 1857 verfügten die Polizeibehörden in den rechtsrheinischen Landesteilen ca. 2.520 Beschlagnahmen, von denen die Staatsanwaltschaft in 1.375 Fällen eine gerichtliche Untersuchung beantragte. Von diesen wurden lediglich 303 Sachen an die Anklagesenate der Appellationsgerichte überwiesen, die ihrerseits nur in 72 Fällen auf Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht erkannten. Von den insgesamt 86 Angeklagten sprachen die Geschworenen nur 27 Personen schuldig. Rein rechnerisch kamen damit auf je 100 vorläufige Konfiskationen nicht einmal drei Presseprozesse und lediglich eine einzige Verurteilung149. Um das prominenteste Beispiel zu nennen: Der 1848 von Ernst Zander gegründete „Volksbote für den Bürger und Landmann“, in den 50er Jahren die meistgelesene katholisch-konservative Tageszeitung Bayerns (und wohl auch Deutschlands), wurde zwischen 1852 und 1859 insgesamt 88mal beschlagnahmt. Lediglich in 14 Fällen bestätigten die Gerichte das Verbot, und nur dreimal stand Zander vor dem Schwurgericht; alle drei Prozesse endeten mit Freispruch150. Auch in Bayern verstanden sich die Gerichte als Hüter der verfassungsmäßigen Rechte. Bei Beratung einer Eingabe an den Landtag, in der Zander über das gesetzSten. Ber. AH, 16. 4. 1857, S. 770. Für die Zeit bis 1848 / 49: Chr. v. Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen, Göttingen 1996; weiterhin: G. Dilcher, Der deutsche Juristenstand zwischen Ancien Régime und bürgerlicher Gesellschaft, in: G. Köbler / H. Nehlsen (Hg.), FS Kroeschell, München 1997, S. 163 – 185, hier S. 179 f. 148 So auch schon § 8 des Gesetzes über die Freiheit der Presse v. 4. 6. 1848; zur Rechtslage: E. Richter, Die Entwicklung des bayerischen Presserechts von 1848 – 1874, München 1952 (zum Pressegesetz von 1850 S. 37 – 61). 149 Angaben von Karl Brater in der Sitzung der Abgeordnetenkammer v. 14. 3. 1859. Brater (1819 – 1869), später Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, war führender Vertreter des kleindeutschen, entschiedenen Liberalismus in Bayern und Mitbegründer der dortigen Fortschrittspartei (1863); s. auch Marquardsen in der RT-Sitzung v. 23. 3. 1874 (Sten. Ber., S. 488). 150 Vgl. E. Roeder, Der konservative Journalist Ernst Zander und die politischen Kämpfe seines „Volksboten“, München 1972, S. 104 f. 146 147
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widrige Verhalten der Pressepolizei Beschwerde führte, meinte der zuständige Ausschußreferent der Kammer der Reichsräte, der Oberkonsistorialpräsident v. Harleß, er habe den Eindruck, „es bewegten sich in Bayern Polizei und Gerichte auf ganz entgegengesetztem Boden: das Gericht auf dem Boden des Gesetzes, die Polizei auf dem Boden des willkürlichen Ermessens“ (März 1859)151. 3. Zurück zu Preußen: Das Bild, das sich aus der Handhabung der Pressejustiz ergibt, bestätigt sich beim Blick auf andere Felder des politischen Strafrechts. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Zahl politisch motivierter Verfahren seit 1853 / 54 deutlich zurückging – ein Umstand, für den gleichermaßen das repressive innenpolitische Klima wie die allgemeine nachrevolutionäre Resignation verantwortlich zeichneten. So bewegte sich die Zahl der wegen Majestätsbeleidigung angestrengten Verfahren – sie deckt sich teilweise mit derjenigen für Pressesachen, da die inkriminierte „Ehrfurchtsverletzung“ schriftlich oder mündlich erfolgen konnte – zwischen Mitte der 50er Jahre und Einsetzen des Verfassungskonflikts auf niedrigem Niveau152. Über den Umfang der Untersuchungen, die wegen Verstoßes gegen das Vereins- und Versammlungsgesetz vom 11. 3. 1850 eingeleitet wurden, liegen keine gesicherten Angaben vor153. Aber auch sie kamen nach 1853 praktisch kaum mehr vor: Während sich demokratische und Arbeitervereine seit 1849 von selbst auflösten, sorgten einzelne Strafurteile gegen Anführer der als umstürzlerisch eingestuften freireligiösen Gemeinden einige Jahre später für denselben Effekt154. Auch das strafrechtliche Vorgehen gegen die nationalpolnische Bewegung, die nach dem Scheitern ihrer Hoffnungen im „Volkerfrühling“ des Jahres 1848 weitgehend zum Erliegen gekommen war, bewegte sich bis in die frühen 60er Jahre hinein in engen Grenzen155. Drei Ausnahmen stechen vom allgemeinen Bild ab: die Behandlung von Staatsverbrechen, die Rechtsprechung des Obertribunals und die Anklagepraxis in Beleidigungssachen. Sowohl der berühmte Kommunistenprozeß, der im Oktober / November 1852 vor dem Kölner Schwurgericht verhandelt wurde, als auch das Verfahren gegen die radikaldemokratische Gruppe Ladendorf, das im Oktober Zit. n. Roeder, S. 111. Zahl der eingeleiteten Untersuchungen: 1851: 157; 1852: 150; 1853: 144; 1854: 107; 1855: 121; 1856: 68; 1857: 60; 1858: 93; 1859: 119; 1860: 91; 1861: 69; 1862: 87; 1863: 191(!) (Starke, S. 190, Übers. XXXVIII). 153 Zu den vereinigungsrechtlichen Regelungen: H. Tillmann, Staat und Vereinigungsfreiheit im 19. Jahrhundert, Gießen 1976, S. 37 – 47 (S. 238 – 243 Abdr. d. preußischen Vereinsund Versammlungsgesetzes von 1850). 154 Vgl. dazu Collin, S. 298 – 317. 155 Vgl. S. Baske, Praxis und Prinzipien der preußischen Polenpolitik vom Beginn der Reaktionszeit bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 9 (1963), S. 7 – 268, hier S. 47 / 48, 85 – 89; allgemein zu Forschungsgeschichte und Forschungsstand: W. Molik, Die preußische Polenpolitik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: H. H. Hahn / P. Kunze (Hg.), Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 29 – 39. 151 152
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1854 vor dem neu eingerichteten Staatsgerichtshof stattfand, lösten in der Öffentlichkeit heftige Proteste aus. Beide Verfahren – die Anklage lautete jeweils auf Hochverrat – endeten für den Großteil der Angeklagten mit hohen Freiheitsstrafen, obwohl die manipulativen Machenschaften der politischen Polizei im Laufe der Verhandlungen aufgedeckt worden waren156. In den folgenden Jahren kamen Anklagen wegen Hochverrats nur noch vereinzelt vor157. Einsetzend mit dem Sieg der Reaktion schwenkte das Obertribunal auf eine streng gouvernementale Linie ein, sobald der zur Entscheidung anstehende Fall auch nur entfernt eine politische Dimension aufwies158. Dieser Umstand, an dem sich in den folgenden Jahrzehnten nichts mehr änderte, trug maßgeblich zur Diskreditierung und schließlichen Auflösung des Obertribunals bei (1879). Die Politisierung war das Ergebnis gezielter Personalpolitik: Mittels seines Ernennungsrechtes hatte Simons dafür gesorgt, daß die Strafsenate eine streng konservative Färbung erhielten. Mit dem ehemaligen Justizminister v. Uhden als Präsident (1854 – 1878) und seinem Stellvertreter Goetze (1857 – 1876) standen zwei ausgewiesene Hochkonservative an der Spitze des Gerichtshofs159. Zumindest in den 70er Jahren, also der Zeit des Kulturkampfs, blieben die Strafsenate für Richter katholischer Herkunft verschlossen. Ebensowenig konnten Katholiken zu Senatspräsidenten aufsteigen160. Dabei wurde früh sichtbar, daß die Tribunalsrichter auch vor offenem Rechtsbruch nicht zurückschreckten161: Als Oskar Graf von Reichenbach im Dezember 1849 aufgrund seiner Teilnahme am Stuttgarter Rumpfparlament wegen Hochverrats angeklagt und in Haft genommen werden sollte, lehnten die beiden allein zuständigen Instanzen, das Kreisgericht in Oppeln und das Appellationsgericht in 156 Zu den Verfahren: Aaron Bernstein, Die Jahre der Reaktion, Berlin 1881, S. 98 – 130; K. Bittel, Der Kommunistenprozeß zu Köln 1852 im Spiegel der zeitgenössischen Presse, Berlin (Ost) 1955; R. Herrnstadt, Die erste Verschwörung gegen das internationale Proletariat, Berlin (Ost) 1958; Chr. Golsong, Der Kölner Kommunistenprozeß von 1852 aus rechtshistorischer Sicht, Köln 1995 (im wesentlichen zustimmend); H. Löwenthal, Die Ladendorffsche Verschwörung, in: Staat und Recht 3 (1954), S. 488 – 522; Collin, S. 317 – 329; zum Staatsgerichtshof: Fr. Holtze, Geschichte des Kammergerichts in Brandenburg-Preußen, Bd. 4, Berlin 1904. 157 Hochverratsprozesse: 1852: 3; 1853: 2; 1854: 3; 1855: 1; 1856: 1; 1857: 3; 1858: 0; 1859: 1; 1860: 0; 1861: 0 (Starke, S. 187, Übers. XXXVII). 158 Zum OT: Unsere Zeit 7 (1863), S. 410 – 412; Fr. H. Sonnenschmidt, Geschichte des Königlichen Obertribunals zu Berlin, Berlin 1879; F. C. Oppenhoff, Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, 4. Aufl., Berlin 1864; Ormond, S. 37 f., 387 – 389; richtungweisende Urteile wurden im Amtsblatt des Justizministeriums veröffentlicht. 159 Zu Uhden: E. Ross, Carl Alexander von Uhden (1798 – 1878), in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 37 (1986), S. 176 – 190. 160 Vgl. Rintelen, Sten. Ber. RT, 17. 1. 1895, S. 398 (der Katholik Rintelen war 1877 zum OT-Rat ernannt worden). 161 Zum folgenden: Schütz, S. 140 ff.; Unsere Zeit 7 (1863), S. 415 ff.; [Wilhelm Wehrenpfennig], Der Obertribunalsbeschluß vom 29. Januar, in: PJ 17 (1866), S. 321 – 338, hier S. 321 f.
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Ratibor, die Einleitung der Untersuchung ab. Entgegen der ausdrücklichen Vorschrift der Verordnung vom 3. 1. 1849 (§ 12) beanspruchte das Obertribunal die Letztentscheidung und ordnete die Durchführung der staatsanwaltschaftlichen Anträge an. Während die Weigerung der beiden Untergerichte, der Anweisung Folge zu leisten, die disziplinarische Bestrafung einer Reihe von Richtern nach sich zog, wurde der Graf vom zuständigen Geschworenengericht freigesprochen. Die Vorgänge, die in juristischen Kreisen in Erinnerung blieben und den Ansehensverlust des Obertribunals einleiteten, bildeten das Vorspiel zur – noch zu behandelnden – Affäre Twesten, die anderthalb Jahrzehnte später ungleich höhere Wellen schlug. Besondere Bedeutung kam der Judikatur zum Presse- und Vereinsrecht zu – beides Materien, die erst kürzlich ihre gesetzliche Regelung gefunden hatten, eine beständige Rechtsprechung mithin noch nicht existierte. In beiden Richtungen lassen die Entscheidungen des Obertribunals eine ausdehnende, die Freiheitsrechte einschränkende Auslegung erkennen162. Im Umkehrschluß bedeutet dies freilich auch, daß sich die höchstrichterlichen Präjudizien vorerst noch kaum in den Untergerichten durchsetzen konnten. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß die politische Rechtsprechung nur Teil einer allgemeinen Regel war. Holtzendorff bemerkte Mitte der 60er Jahre sarkastisch: „Hätte man den preußischen Kammern, als das Strafgesetzbuch beraten wurde, den fünf Jahre später entstandenen Kommentar des Oberstaatsanwalts Oppenhoff vorzeigen können, so würde man aus den darin registrierten verurteilenden Erkenntnissen des Obertribunals vielleicht Anlaß genommen haben, dem verbietenden Teil des Strafgesetzbuchs einen Anhang hinzuzufügen, in welchem die unter allen Umständen erlaubten Handlungen zu verzeichnen gewesen wären“163. Seit den 50er Jahren stieg die Zahl der wegen Beleidigung eingeleiteten Untersuchungen, ungeachtet kurzfristiger Rückschläge, kontinuierlich an. Von 1854 (5.564 Untersuchungen) über 1868 (9.211) bis 1878 (11.850) betrug die Steigerungsrate in den alten Provinzen 111,1 %, während die Bevölkerung im gleichen Zeitraum nur um 27 % wuchs. Die politische Relevanz lag in dem Umstand, daß der Löwenanteil (zwischen 80 % und 90 %) aus Beleidigungen von Behörden und Beamten bestand. So wurden 1854 allein 4.886 Untersuchungen dieses Typs eingeleitet, 1868 lautete die entsprechende Zahl 7.964. Der exakte Umfang läßt sich nur für die Zeit bis 1870 beziffern, da das Reichsstrafgesetzbuch das Delikt – im Gegensatz zu seinem preußischen Vorgänger (§ 102) – nicht mehr gesondert aufführte, sondern den allgemeinen Vorschriften über die Injurien subsumierte (§§ 185 ff.). An der Tatsache als solcher dürfte sich dadurch wenig geändert haben. In der vermehrten Verfolgung der Behörden- und Beamtenbeleidigung – das Phä162 Zur Pressejudikatur: GStA, Rep. 77, Abt. II, Sekt. 8, Tit. 380, Nr. 1, Beiheft 2 (Erkenntnisse und Beschlüsse aus den Jahren 1853 – 1864); zur Vereinsjudikatur: W. Schultze, Öffentliches Vereinigungsrecht im Kaiserreich 1871 bis 1908, Frankfurt / M. 1973 (mit zahlreichen Nachweisen). 163 Holtzendorff, Reform, S. 33.
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nomen ist im übrigen bereits für die 1830er und 40er Jahre zu beobachten – spiegelt sich nicht zuletzt die zunehmende Bürokratisierung und Reglementierung des gesellschaftlichen Lebens wider164. Die geschilderten Ausnahmen, die späteren Entwicklungen den Boden bereiteten, trüben das Gesamtbild nicht unerheblich ein. Dennoch läßt sich für die 50er Jahre feststellen, daß die preußischen Gerichte, vor allem in den unteren Instanzen, ihre Unabhängigkeit zu wahren wußten. Aufs Ganze gesehen belegt die Gerichtspraxis den ungebrochenen Liberalismus der preußischen Richterschaft. Dies mußten auch die linksliberal-demokratischen Kommentatoren konzedieren, die ansonsten mit beißender Kritik an der gouvernementalen Rechts- und Justizpolitik nicht sparten. Aaron Bernstein, langjähriger Chefredakteur der Berliner „Volks-Zeitung“, schrieb im Rückblick: „Wir haben so viel erlebt in der traurigen Reaktionszeit, daß es schwer hält, zu sagen, wo das Schimmste an den Tag trat. Für unser Gefühl lag das Allertraurigste in den eifrig betriebenen Künsten, die Gerichtshöfe zu korrumpieren und sie um den alten Ruhm zu bringen, daß es gegenüber aller Regierungswillkür noch ,ein Gericht in Berlin gibt‘ [ . . . ] Als merkwürdig müssen wir hier noch die Tatsache anführen, daß in der schwärzesten Epoche der Reaktion gerade die höheren Gerichtshöfe weniger ihre Unabhängigkeit wahrten als die niedrigen Instanzen. Die Kreisgerichte haben oft die Ehre des preußischen Richterstandes besser gewahrt als die oberen Gerichtshöfe“165. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte der anonyme Verfasser einer kenntnisreichen Darstellung des Reaktionszeitalters, die 1862 / 63 im „Jahrbuch zum Conversations-Lexikon“ erschien. Im Kapitel über Recht und Justiz heißt es: „So entfaltete die Regierung außerordentliche Machtvollkommenheiten gegenüber der Rechtspflege. Daß diese letztere, abgesehen von einer zu weit gehenden Nachgiebigkeit gegen die Justizaufsichtsbehörden und die Staatsanwaltschaft, ihren sittlichen Kern nicht verlor und im ganzen und großen ihrer Mission treu blieb, lag sicherlich nicht an denjenigen, welche den preußischen Staat leiteten“166. Aus der Perspektive der 1890er Jahre hob auch Franz Mehring, der an der preußisch-deutschen Justiz ansonsten kaum ein gutes Haar ließ, die vormalige Zurückhaltung der Behörden hervor: „In den fünfziger Jahren wurden auf Grund der strafgesetzlichen Kautschukparagraphen verhältnismäßig seltene Anklagen erhoben und verhältnismäßig geringe Strafen verhängt. Eine Gefängnisstrafe wegen Beleidigung, wegen Erregung von Haß und 164 Vgl. dazu Starke, S. 121 – 126, insb. S. 123, Übers. XXIV. Starke, Vortragender Rat im preußischen Justizministerium, führte die überproportionale Zunahme des Delikts einerseits auf „das Sinken der Achtung vor der Autorität des Gesetzes und der zur Handhabung desselben berufenen Beamten“, andererseits auf ein verstärktes behördliches Eingreifen, bedingt durch Bevölkerungswachstum und gesteigertes Verkehrsleben, zurück. 165 Bernstein, S. 119 f.; zu Bernstein: J. H. Schoeps, Aaron Bernstein, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 28 (1976), S. 223 – 244. 166 Anon., Preußen seit Abschluß des Staatsgrundgesetzes bis zur Einsetzung der Regentschaft. Zweiter und Dritter Artikel, in: Unsere Zeit 7 (1863), S. 39 – 78 (bes. S. 56 – 69) u. S. 401 – 460 (bes. S. 409 – 440), Zitat S. 419 / 420.
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Verachtung, wegen Schmähung von Staatseinrichtungen u. s. w. war damals schon ein Ereignis, und wenn auf sie erkannt wurde, bemaß sie sich nach Tagen oder höchstens nach wenigen Wochen“167.
2. Die Zeit des preußischen Verfassungskonflikts 1. Nachdem die preußische Justiz in der „Neuen Ära“ weitgehend unbehelligt geblieben war, änderten sich die Verhältnisse in den Jahren des Verfassungskonflikts grundlegend168. Obwohl angesichts der innenpolitischen Polarisierung zu erwarten war, daß sich der Druck auf die Strafgerichte wieder erhöhen würde, so überrascht doch die Entschiedenheit, mit der die Kehrtwende erfolgte. Sie läßt sich auf die beteiligten Personengruppen zurückführen, und zwar in erster Linie auf die verantwortlichen Minister und die Staatsanwälte, in zweiter Linie auf die Richter. Justizminister des Kabinetts Hohenlohe-Ingelfingen, das den endgültigen Bruch zwischen Krone und Parlament herbeiführte und das Ende der „Neuen Ära“ besiegelte, wurde im März 1862 der hochkonservative Graf zur Lippe169. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, auch zu Simons, hegte Lippe keinerlei Bedenken, die Justiz in den Dienst gouvernementaler Interessen zu stellen. Für die oppositionelle Richterschaft wurde er zum bestgehaßten Mitglied der Regierung. Einer ihrer Vertreter charakterisierte den Minister und seine Amtsführung im Rückblick wie folgt: „Dabei war seine [Lippes] allgemeine Bildung nicht größer wie seine juristische, diese wiederum nicht größer, als sie bei einem geborenen Geheimrat von Haus aus mit genauer Notdurft zu sein braucht, und beide reichten lange nicht so weit als sein Bemühen, den guten Ruf der Preußischen Justiz in den Augen aller ehrlichen Leute zu ruinieren. Sein Wohlwollen gegen die Beamten seines Ressorts trat lediglich in der Angewöhnung zu Tage, von ,meinen‘ Kreisrichtern zu sprechen; daß die Richter auch leben wollten, scheint ihm ebenso unbekannt geblieben zu sein wie die gründliche Mißachtung, welche seine ganze Amtstätigkeit begleitet hat“170. 167 Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 3, 11. Aufl., Stuttgart / Berlin 1921, S. 126 (zuerst Stuttgart 1897 / 98); fast wörtlich übernommen aus: ders., Zweihundertsiebenundzwanzig Jahre, in: Neue Zeit 15 / 1 (1896 / 97), S. 513 – 516, Zitat S. 515 (auch abgedr. in: D. Joseph, Hg., Rechtsstaat und Klassenjustiz, Freiburg 1996, S. 253 – 259). 168 Zum Verfassungskonflikt detailliert Huber, III, S. 275 – 369; weiterhin: Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, München 1983, S. 749 – 768. 169 Leopold Graf zur Lippe-Biesterfeld (1815 – 1889) wurde, nach langjähriger Tätigkeit als Staatsanwalt, am 18. 3. 1862 zum preußischen Justizminister ernannt. Seine Abberufung erfolgte am 5. 12. 1867. 170 Serenus Albus [Pseud.], Der drohende Niedergang des Preußischen Richterstandes, Breslau 1897, S. 24 f. Otto Mittelstädt, damals Hilfsarbeiter bei der Staatsanwaltschaft am Stadtgericht Berlin, schrieb: „Graf zur Lippe war viel zu sehr Staatsanwalt und Parteimann, als daß er die Würde der Justiz vor der ihr zugemuteten Rolle politischer Dienstleistung zu schützen Beruf in sich gefühlt hätte“ (O. Mittelstädt, Der deutsche Reichskanzler und die
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Entscheidende Rückendeckung erhielt der Justizminister, als Bismarck am 22. September 1862 preußischer Ministerpräsident wurde. Neben all den sonstigen Weichenstellungen, die dieses Datum zur Folge hatte, bedeutete es auch für die preußische Justiz einen kaum zu überschätzenden Einschnitt. Der Grund lag in Bismarcks Verhältnis zur staatlichen Strafgewalt, auf das im nachstehenden Exkurs näher eingegangen werden soll. Hier mag zunächst die Feststellung genügen, daß Bismarck eine ausgeprägte Neigung besaß, die Mittel des Strafrechts gegen politische Gegner einzusetzen. Binnen kürzester Frist leitete das neue Ministerium einen beamten- und pressepolitischen Kurswechsel ein. Auf der Grundlage einer Allerhöchsten Order wies Lippe Ende März alle Justizbeamten öffentlich auf ihre allgemeinen Dienstaufgaben, insbesondere aber ihre politischen Loyalitätspflichten bei den bevorstehenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus hin. Die Richter sollten „nicht außer acht lassen, daß sie der Würde ihres Berufs nur dann zu entsprechen vermögen, wenn sie bei der Verrichtung ihrer Amtsgeschäfte von den Interessen der Parteien unbeeinflußt bleiben. Aber auch außerhalb ihrer eigentlichen Berufstätigkeit wird es geboten erscheinen, sich davon fern zu halten, der einen oder der anderen politischen Partei persönlich eine hervorragende Unterstützung zu gewähren, weil dadurch der entgegengesetzten Partei das Zutrauen genommen werden würde, mit welchem auch sie sich an den Richter zu wenden hat“. Deshalb sei es nicht zu billigen, wenn sich die Justizbeamten „bei den in der nächsten Zeit bevorstehenden Wahlagitationen in einer Weise beteiligten, welche es in Zweifel geraten ließe, ob sie jene unparteiische Stellung nach allen Richtungen hin einzunehmen und festzuhalten gewillt oder imstande seien“171. Gegen den Erlaß erhoben 34 Kreisrichter des Departements Insterburg öffentlich Protest. In einer von der „National-Zeitung“ abgedruckten Erklärung wiesen sie die ministeriellen Insinuationen zurück und pochten auf die unabhängige Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte. Gegen die unterzeichnenden Richter wurden unverzüglich Disziplinarverfahren eingeleitet. Den nichtöffentlichen Weg wählten die Handelsgerichte in Trier, Koblenz, Krefeld und Gladbach sowie acht Rechtsanwälte des Departements Bromberg, die im Justizministerium Verwahrung gegen den Erlaß einlegten172. Anfang April wies Lippe die Staatsanwaltschaft an, öffentliche Reden und Schriften verstärkt zu überwachen. Die Erfahrung habe gezeigt, „daß die auf die Wahlen zum Hause der Abgeordneten gerichteten Parteibestrebungen sich nicht überall innerhalb der erlaubten Grenzen halten“. Dergleichen Vorgänge, „welche die Unabhängigkeit oder Unbefangenheit der Wähler bei Ausübung des Wahlrechts gefährden“, hätten „am allerwenigsten auf eine ähnliche Exemtion von der Strafjustiz, in: Im neuen Reich 6 / 1, 1876, S. 8 – 19, hier S. 12). Knappe Charakterisierung auch in: Otto v. Bismarck, GW, Bd. 15 (Erinnerung und Gedanke), Berlin 1932, S. 207. 171 AV an die Ersten Präsidenten der Obergerichte und die Beamten der Staatsanwaltschaft v. 31. 3. 1862, in: JMBl, S. 106 f.; die AO v. 19. 3. 1862 ebd., S. 107. 172 Vgl. NZ v. 19. 4. 1862 (Nr. 184); das entsprechende Aktenmaterial findet sich in: GStA, Rep. 84a, Nr. 5681.
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gerichtlichen Beurteilung Anspruch, wie solche für die Meinungsäußerungen innerhalb des Landtags verfassungsmäßig besteht“173. Wenige Tage später beschloß das Staatsministerium, Zeitungsredakteure im Falle einer Beleidigung der Regierung strafrechtlich verfolgen zu lassen174. Weitere Reskripte folgten: Nach einer Beschwerde des stellvertretenden Berliner Polizeipräsidenten und auf Ersuchen von Innenminister v. Jagow wies Lippe die Gerichtshöfe im Bezirk des Kammergerichts Mitte 1862 an, beschlagnahmte Presseerzeugnisse beschleunigt zu behandeln. Angesichts der steigenden Beschlagnahmezahlen wiederholte er seine Aufforderung drei Monate später175. Als Jagow in einem geheimen Erlaß vom 24. 10. 1862 schließlich die strenge Kontrolle des gesamten öffentlichen Lebens anordnete, glaubte Lippe von einer erneuten Anweisung an die Staatsanwälte absehen zu können, da das Aprilreskript, obwohl formal nur auf die Wahlen bezogen, „dieselbe Anregung beabsichtigt und, wie ich inzwischen anzuerkennen Gelegenheit gehabt, auch erreicht hat“176. Endlich ist eine im November 1865 ergangene Verfügung zu erwähnen, mit der sichergestellt werden sollte, daß gegen strafbare Artikel, die in mehreren Zeitungen erschienen waren, in jedem einzelnen Fall eingeschritten würde177. Keinen Erfolg hatte die Regierung mit ihrem Vorhaben, eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen herbeizuführen: Die berüchtigte Preßordonnanz vom 1. Juni 1863, die praktisch einer Aufhebung der Pressefreiheit gleichkam, indem sie die Verbotsentscheidung den Provinzialbehörden übertrug, mußte bereits im November zurückgenommen werden, da das Abgeordnetenhaus, wie nicht anders zu erwarten, seine Zustimmung versagte. Eine das Pressegesetz verschärfende Novelle kam erst gar nicht über das Herrenhaus hinaus178. In der Öffentlichkeit löste die Preßordonnanz einen Sturm der Entrüstung aus. Ein vielbeachteter Prozeß gegen sieben führende Berliner Zeitungen, die eine gemeinsame Protesterklärung veröffentlicht hatten, endete vor dem Stadtgericht mit einem Freispruch179. RV an die Oberstaatsanwälte v. 3. 4. 1862, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 5681. Beschluß des StM vom 14. 4. 1862 (Protokolle, Bd. 5, Nr. 217). 175 Jagow an Lippe, 16. 6. 1862; Vfg. an den Präsidenten des KG und den dortigen Oberstaatsanwalt v. 21. 6. 1862, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 3927, Bl. 5 f.; Vfg. an den Oberstaatsanwalt beim KG sowie die Präsidenten des Berliner Stadtgerichts und des KG v. 17. 9. 1862, in: ebd., Nr. 46725. 176 Erlaß Jagows an die Regierungspräsidenten und den Berliner Polizeipräsidenten v. 24. 10. 1862, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4533, Bl. 91 f.; Lippe an Jagow, 31. 10. 1862, in: ebd., Bl. 93 f. 177 RV an die Beamten der Staatsanwaltschaft v. 11. 11. 1865, erneuert am 2. 9. 1891 (letztere abgedr. in: JMBl, S. 218). 178 Vgl. I. Loeber, Bismarcks Pressepolitik in den Jahren des Verfassungskonfliktes (1862 – 1866), München 1935, S. 32 – 42; I. Fischer-Frauendienst, Bismarcks Pressepolitik, Münster 1963, S. 18 – 20; Naujoks, Reaktionszeit, S. 124 ff.; weiterhin: Heinrich v. Treitschke, Das Schweigen der Presse in Preußen, in: Grenzboten 22 / 3 (1863), S. 111 – 116 (wiederabgedr. in: ders., Historische und Politische Aufsätze, Bd. 4, Leipzig 1897, S. 126 – 135; scharfe Kritik am Verhalten der „Preußischen Jahrbücher“). 179 Prozeßbericht: Der Preß-Prozeß vom 18. September 1863, Berlin 1863. 173 174
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Gleichwohl wären die ministeriellen Bemühungen mehr oder weniger ins Leere gelaufen, hätten die Justizorgane nicht ihren Teil zum Kurswechsel beigetragen. Wie die Anklage- und Urteilspraxis zeigt, verfehlte der administrative Druck seine Wirkung nicht. Die Staatsanwaltschaft verstand sich zunehmend als verlängerter Arm der Regierung, weshalb für jene Jahre erstmals von einer „staatsanwaltschaftlichen Prägung der Strafjustiz“ gesprochen werden kann. Das Resultat läßt sich auf verschiedenen Ebenen beobachten: Die Anweisungen wurden prompt ausgeführt, so daß die Zahl eingeleiteter Untersuchungen rasch nach oben schnellte. Besonders in politischen Prozessen bürgerte es sich ein, daß die Staatsanwaltschaft gegen aus ihrer Sicht „unbefriedigende“ Urteile Rechtsmittel einlegte, also zunächst Berufung beim Appellationsgericht und schließlich, hatte auch dies noch nicht zum gewünschten Ergebnis geführt, Nichtigkeitsbeschwerde beim Obertribunal. Letztere war formell zwar nur bei Rechtsverstößen zulässig, was ihre Anwendbarkeit aber kaum einschränkte180. Der Rechtsmittelweg wurde auch bei erstinstanzlichen Freisprüchen eingeschlagen – eine Verfahrensweise, deren rechtsmoralische Problematik auf der Hand liegt. Holtzendorff schätzte die Zahl entsprechender Fälle als ungewöhnlich hoch ein181. Im Gegensatz dazu weist die richterliche Spruchpraxis ein uneinheitliches Bild auf. Dies deckt sich mit der Tatsache, daß der für die Zukunft wichtige Mentalitätswandel erst langsam Konturen annahm. Otto Mittelstädt, seit 1855 im preußischen Justizdienst tätig und mehr als vierzig Jahre lang kritischer Beobachter der Szenerie, notierte über die mittleren 60er Jahre: „Dem jüngeren Juristengeschlecht jener Tage, ich meine den über das 30. Lebensjahr noch nicht hinausgewachsenen jungen Männern, war überhaupt bereits ein Zug von kühlem, ironischem Indifferentismus in politischen Dingen eigentümlich, der sich dann seit 1866 und noch mehr seit 1870 in den folgenden Generationen weiter entwickelt hat“182. Mit anderen Worten: Der verstärkte politische Druck traf auf eine Richterschaft, die sich in einem generationellen Umbruch befand. Mit den nachrückenden Jahrgängen verflüchtigte sich der traditionelle Liberalismus des preußischen Richterstandes, ein Prozeß, der sich vordergründig als Entpolitisierung darstellte. Weiterhin fiel aufmerksamen Beobachtern auf, daß sich zwischen dem Strafantrag der StaatsanwaltVgl. exemplarisch die in GStA, Rep. 84a, Nr. 49764 verzeichneten Untersuchungen. Holtzendorff, Umgestaltung, S. 59. 182 [Otto Mittelstädt], Die Lebenserinnerungen des Otto Samuel Ludwig Mittelstaedt, Leipzig 1939, S. 55 (die Memoiren blieben unvollendet). Otto Mittelstädt (1834 – 1899) arbeitete als Staatsanwalt in Posen, Berlin, Altona und Hamburg, bevor er 1876 Richter am Hanseatischen OLG wurde. Im März 1881 erfolgte seine Berufung an das Reichsgericht. Parteipolitisch den Nationalliberalen nahestehend, war er ein scharfer und unbestechlicher Beobachter seiner Zeit, der sich immer wieder auch zu allgemeinpolitischen Themen äußerte; in späteren Jahren übernahm er kulturkritische Positionen. Als profilierter bürgerlicher Justizkritiker kommt Mittelstädt, ein glänzender Stilist von außergewöhnlicher Sprachgewalt, im folgenden wiederholt zu Wort; zum Biographischen: H. Hattenhauer, Justizkarriere durch die Provinzen. Das Beispiel Otto Mittelstädt, in: P. Nitsche (Hg.), Preußen in der Provinz, Frankfurt / M. 1991, S. 35 – 62. 180 181
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schaft und dem vom Gerichtshof verhängten Strafmaß weit häufiger als früher eine tiefe Kluft auftat183. Hier zeichnete sich ein Kompromißmuster ab, das für den Umgang mit politischen Alltagsdelikten typisch werden sollte: Der staatsanwaltschaftliche Druck vermochte zwar eine höhere Verurteilungsquote zu erzeugen, dafür aber blieben die Richter im Gegenzug deutlich unter dem beantragten Strafmaß. Damit schien ein modus vivendi gefunden, der es beiden Seiten erlaubte, das Gesicht zu wahren184. In welchem Maße die strafrechtlichen Zügel angezogen wurden, verrät ein Blick in die Strafverfolgungsakten des preußischen Justizministeriums: Von den insgesamt 20 Bänden mit Materialien zu Untersuchungen wegen öffentlicher Kritik an den staatlichen Institutionen (vor allem dem Staatsministerium, den Ministern und den beiden Häusern des Landtags) aus den Jahren 1849 bis 1869 entfallen 17 auf die Zeit zwischen Juni 1862 und Mai 1869185. Während zwischen Ende 1850 und Ende 1859 lediglich 33 Strafsachen justizministeriell aktenkundig wurden, betrug die Vergleichszahl allein für das letzte Quartal des Jahres 1863 insgesamt 82 Fälle186. Wie zu erwarten, trat der Wandel am augenfälligsten in der Behandlung der Presse zu Tage. Seit 1862 stieg die Zahl der Beschlagnahmen und der Presseprozesse sprunghaft an. Dasselbe gilt, mit gewisser Verzögerung, für Untersuchungen wegen Majestätsbeleidigung187. Der prominenteste Fall jener Jahre dürfte der von Johann Jacoby gewesen sein. In einer kurz nach seiner Wahl ins Abgeordnetenhaus in Berlin gehaltenen Rede hatte Jacoby an die „Selbsthilfe“ und den „gesetzlichen Widerstand“ des Volkes appelliert, ohne mit irgendeinem Wort auf konkrete Maßnahmen einzugehen (13. 11. 1863). Auf konservativer Seite deutete man die Rede als Aufruf zur Steuerverweigerung, insofern nicht zu Unrecht, als Jacoby darin in der Tat die adäquate Antwort auf den Verfassungsbruch des Ministeriums sah. Daraufhin wurde er – auf direkte Intervention Bismarcks hin – wegen Ehrfurchtsverletzung gegen den König und Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Steuergesetze in den Anklagestand versetzt. In erster Instanz verurteilte ihn die Presse-Deputation des Stadtgerichts zu sechs Monaten Gefängnis (1. 7. 1864). Das Kammergericht – sowohl der Staatsanwalt als auch der Beschuldigte waren in die zweite Instanz gegangen – bestätigte den Richterspruch (9. 1. 1865), das Obertribunal wies die von Jacoby eingelegte Vgl. Holtzendorff, Umgestaltung, S. 59 ff. Holtzendorff konstatierte treffend: „Maßlosen Anklagen folgt, wenn sie häufig wiederholt werden, allmählich die Konzession einer Verurteilung“ (Reform, S. 35). 185 Es handelt sich um die Bestände GStA, Rep. 84a, Nr. 49757 bis Nr. 49776. 186 Vgl. GStA, Rep. 84a, Nr. 49758 und Nr. 49764. 187 Presseprozesse in Preußen: 1861: 71; 1862: 200; 1863: 295; 1864: 274; 1865: 247; 1866: 320; 1867: 193; 1868: 153; 1869: 91; 1870: 126; Untersuchungen wegen Majestätsbeleidigung: 1862: 87; 1863: 191; 1864: 188; 1865: 123; 1866: 375; 1867: 177; 1868: 106; 1869: 74; 1870: 132 (Starke, S. 190, Übers. XXXVIII); Presseprozesse vor dem Berliner Stadtgericht: 1861: 24; 1862: 74; 1864: 175; 1866: 136 (Loeber, S. 93, Anm. 6; VZ v. 11. 1. 1867). 183 184
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Nichtigkeitsbeschwerde zurück (23. 6. 1865). Verbüßt hat Jacoby die Strafe in seiner Heimatstadt Königsberg188. Für die eigentlichen Presseprozesse ist die Tatsache kennzeichnend, daß die Verurteilungsquote um einiges höher lag als in den 50er Jahren. Hierzu wiederum einige Beispiele: In den Jahren 1862 – 67 erfolgten insgesamt 24 Konfiszierungen der Berliner „Volks-Zeitung“, wobei nur sieben Ausgaben seitens der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts wieder freigegeben wurden. Von den 21 Prozessen, in die die Zeitung wegen presse- oder strafrechtlicher Delikte verwickelt war, endeten lediglich sechs mit Freispruch, und von den 15 Verurteilungen lauteten immerhin sechs auf Gefängnisstrafe189. Zwischen September 1862 und November 1865 wurden insgesamt 19 Nummern der „National-Zeitung“ von der Polizei beschlagnahmt oder direkt der Staatsanwaltschaft übergeben. In sieben Fällen kam es zu baldiger Freigabe, in weiteren vier beließ es das Gericht dabei, die Einziehung zu bestätigen. Achtmal wurde Anklage gegen den leitenden Redakteur erhoben, wobei sieben Verurteilungen nur ein einziger Freispruch gegenübersteht190. Bei den 136 Presseprozessen, die 1866 vor dem Stadtgericht Berlin zur Verhandlung kamen, standen insgesamt 70 Personen unter Anklage, von denen lediglich 14 freigesprochen wurden. Die verhängten Strafen summierten sich immerhin auf 21 Monate, 33 Wochen und 70 Tage Gefängnis sowie 1.719 Taler Geldbuße191. Auf eine wahre Knebelung liefen die Verhältnisse in Königsberg hinaus, das, wie es scheint, als Durchgangsstation für junge und ehrgeizige Richter und Staatsanwälte diente. Wiederholt erfolgten Anklagen resp. Verurteilungen wegen des Abdrucks von Artikeln, die andernorts unbeanstandet geblieben waren. Hier stößt man erstmals auch auf eine Taktik, die fortan immer wieder Anwendung finden sollte: Herausgeber und Redakteure mißliebiger Periodika wurden mit Untersuchungen und Anklagen geradezu überschüttet, um sie auf diese Weise mürbe zu machen. Daß die Wahl gerade auf Königsberg fiel, dürfte alles andere als zufällig gewesen sein: Der entschiedene, auf Kant zurückgehende ostpreußische Liberalismus war der preußischen Regierung schon seit vormärzlichen Zeiten ein Dorn im Auge, folgerichtig besaß die 1861 gegründete Fortschrittspartei in der damals Ostund Westpreußen umfassenden Provinz Preußen einen ihrer regionalen Schwerpunkte192. 188 Ausführlich zu Rede, Prozeß und Gefängnisaufenthalt Jacobys Silberner, S. 319 – 322 / 333 – 344 / 350 – 356. 189 Vgl. Frölich, S. 79 – 81. 190 Vgl. Friehe, S. 90 – 98. 191 Angaben nach VZ v. 11. 1. 1867. 192 Zu den Königsberger Verhältnissen: Walesrode (Anm. 199), S. LXVI f., LXXIII; S-n., Unsere Preßverhältnisse, in: Im neuen Reich 2 / 1 (1872), S. 388 – 393, hier S. 391 f. (mit aufschlußreichen Details); Anon., Aus der preußischen Anklage-Praxis, in: Allgemeine Deutsche Strafrechtszeitung 5 (1865), S. 127 f.; Moeller, Sten. Ber. AH, 30. 5. 1865, S. 1769 – 1772. Betroffen waren vor allem die altehrwürdige „Königsberger Hartung’sche Zeitung“, „Der Verfassungsfreund“ und die „Montags-Zeitung“. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Be-
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Sicherlich darf man bei einer sachgerechten Beurteilung der Pressejustiz nicht übersehen, mit welcher Verbitterung der Verfassungskampf ausgetragen wurde und in welchem Maße das innenpolitische Klima zu jener Zeit vergiftet war. Aus ihrer Sicht völlig zu Recht wiesen konservative Sprecher immer wieder auf die „maßlosen Ausschreitungen“ hin, die sich die oppositionelle Presse zu Schulden kommen lasse193. Für das Epochenjahr 1866 ist ferner zu berücksichtigen, daß der Krieg gegen Österreich heftige antipreußische Reaktionen, naturgemäß vor allem in nichtpreußischen Zeitungen, auslöste, was den damaligen Höchststand an Presse- und Majestätsbeleidigungsprozessen erklären dürfte. Eine in ihrer Wirkung im einzelnen schwer faßbare, insgesamt aber nicht zu unterschätzende Rolle spielte die mangelhafte personelle Unabhängigkeit der Gerichte. Der Justizminister verfügte über weitreichende Möglichkeiten, auf die Besetzung der Richterbänke Einfluß zu nehmen194. Dies betraf zum einen die wechselnden Kommissionen und Deputationen für Strafsachen, zum anderen die als Hilfsrichter angestellten Gerichtsassessoren, deren rechtliche und finanzielle Stellung nur unzureichend abgesichert war. Hierzu muß man wissen, daß es sich beim Hilfsrichtertum – auch später ein vielgerügter Gegenstand – um ein preußisches Spezifikum handelte, das in erster Linie auf pekuniären Erwägungen beruhte. Graf zur Lippe machte von seinem Besetzungsrecht offensichtlich ausgiebig Gebrauch, namentlich in Großstädten. Das Ergebnis war ein fließender Zustand, der mit dem in der Verfassung festgelegten rechtsstaatlichen Prinzip, daß niemand „seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe“ (Art. 7), nur schwer in Einklang zu bringen war. Gneist beschrieb die Verhältnisse bündig wie folgt: „In allen Instanzen wird diese flugsandartige Kommissionsbildung verschlimmert durch Hilfsarbeiter, welche nach dem Ermessen einer vorgesetzten Verwaltungsstelle in kurzen Perioden abwechselnd eintreten“195. Deutlich gestiegen war die Bedeutung des Obertribunals, das die Spruchpraxis der Untergerichte jetzt weitaus stärker präjudizierte als noch im Reaktionsjahrzehnt. In praktisch allen öffentlichrechtlichen Angelegenheiten deckte sich die Judikatur des obersten Gerichtshofs mit den Regierungsinteressen. Die jurisdiktionelle „Schieflage“ läßt sich an der Behandlung der Nichtigkeitsbeschwerde ablesen: Legte der Verurteilte die Beschwerde ein, so erfolgte ganz überwiegend Zurückweisung, bediente sich hingegen der Staatsanwalt des Rechtsmittels, so durfte richt über Holtzendorffs „Reform der Staatsanwaltschaft“, ein Werk, gegen das nirgendwo in Deutschland eingeschritten wurde, zog in Königsberg eine vierwöchige Gefängnisstrafe nach sich; zum geistig-politischen Profil der Stadt neuerdings: J. Manthey, Königsberg, München 2005 (zur Bismarckzeit S. 535 ff.). 193 So etwa Innenminister Eulenburg, Sten. Ber. AH, 20. 5. 1865, S. 1619. 194 Gesetzliche Grundlage bildete die VO v. 2. 1. 1849; im einzelnen hierzu Ormond, S. 48 ff. 195 Rudolf Gneist, Verwaltung, Justiz, Rechtsweg, Berlin 1869, S. 528; vgl. auch ders., Freie Advocatur, Berlin 1867, S. 31 ff.; Walesrode (Anm. 199) spricht von „Tendenzgerichtshöfen“ (S. LXVI).
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er in aller Regel mit einem Erfolg rechnen. Jacoby schrieb an einen Freund (Februar 1865): „[ . . . ] das Lippe-Preußische Obertribunal! Eher sind vom Dornbusch Feigen zu erwarten als von diesen Richtern Gerechtigkeit“196. Eine kritisch-systematische Besprechung strafrechtlicher Entscheidungen des Obertribunals unternahm der prominente Strafrechtler Richard John197. Seine 19 Abhandlungen umfassende Sammlung von Einzelbesprechungen behandelt rechtsdogmatische, methodische und prozessuale Probleme. Der Schwerpunkt liegt auf der Presse- und Beleidigungsjudikatur, der zusammen allein sieben Beiträge gewidmet sind. Den Abschluß und zugleich den Anstoß, die Besprechungen, die in ihrer Mehrzahl zuvor in der Holtzendorffschen „Strafrechtszeitung“ anonym erschienen waren, gesammelt herauszugeben und dabei das Visier zu öffnen, bildet der Obertribunalsbeschluß vom 29. 1. 1866 zur Redefreiheit der Abgeordneten, auf den noch einzugehen sein wird. Johns Fazit fällt ausgesprochen pessimistisch aus, seine Schlußfolgerungen sind weitreichend und scharfsinnig. Er sieht vom Obertribunal, seiner Stellung und Rechtsprechung, grundsätzliche Gefahren für die preußische Justiz ausgehen: Zum einen werde das „selbständige juristische Denken“ und der „kritische Sinn“ der Instanzrichter erlahmen, da sie sich der Rechtsauffassung des höchsten Gerichts akkommodieren würden, und zwar auch dann, wenn sie gesetzlich dazu gar nicht verpflichtet seien. Zum anderen bürgere sich eine inkorrekte juristische Methode – hiermit ist im wesentlichen die extensive Auslegung der Strafvorschriften gemeint – ein, wodurch Rechtssicherheit und richterliche Unabhängigkeit auf dem Spiel stünden198. Ein in kräftigen Farben gemaltes, im ganzen aber durchaus zutreffendes und zudem auf intimer Sachkenntnis beruhendes Bild von der Pressejustiz zeichnet eine Streitschrift des Publizisten Ludwig Walesrode199. Soweit ersichtlich, stellt sie die einzige zeitgenössische Erörterung des Themas dar, die darüber hinaus jenseits der preußischen Grenzen verlegt werden mußte – beides sichere Indizien für die fak196 Zit. n. Silberner, S. 343; weiterhin zur Rechtsprechung des OT: Walesrode (Anm. 199), S. LXVII – LXIX; Twesten, Sten. Ber. AH, 20. 5. 1863, S. 1613 – 1615.; L. Hartmann, Das Gesetz über die Presse vom 12. Mai 1851, Berlin 1865 (Entscheidungen zum Presserecht); Schultze, a. a. O. (zahlreiche Beispiele zum Vereins- und Versammlungsrecht). 197 Richard Eduard John, Kritiken strafrechtlicher Entscheidungen des preußischen Obertribunals, Berlin 1866. Richard Eduard John (1827 – 1889), seit 1860 ord. Professor für Strafrecht in Königsberg, vertrat während der Konfliktszeit die Fortschrittspartei im Abgeordnetenhaus und beteiligte sich danach aktiv an der Gründung der Nationalliberalen Partei. Seit 1876 lehrte er in Göttingen, das er als seine akademische Heimat betrachtete. Während der StGB-Beratungen trat der „feinsinnige Kriminalist“ (H. Hartmann) mit eigenen Strafrechtsentwürfen hervor. 198 Siehe das Vorwort zum Johnschen Band. 199 Ludwig Walesrode, Preßfreiheit und Justiz in Preußen, Leipzig 1866. Ludwig Walesrode (1810 – 1889), politisch als Demokrat einzuordnen (enger Freund Jacobys), war von 1837 bis 1854 als Schriftsteller und Journalist in Königsberg tätig. 1862 übernahm er die Redaktion des Wochenblattes „Der Fortschritt“ in Berlin, sah sich wegen anhaltender Schikanen und Verfolgungen aber bald veranlaßt, nach Gotha auszuweichen; seit 1866 lebte er in Stuttgart; zu seinen Königsberger Jahren jetzt Manthey, S. 472 – 476.
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tische Wirksamkeit der Presserepression. Walesrode beklagt vor allem die Neigung der Staatsanwälte, leichtfertig und ohne gründliche Prüfung der Sachlage Anklage zu erheben. Oftmals könnten sie der Argumentation der Gegenseite gar nicht recht folgen, gefielen sich dafür aber in Beleidigungen des Angeklagten. Auch das Dreimännergremium des Berliner Stadtgerichts vermittele nicht gerade den Eindruck, „daß hier die Intelligenz zu Gerichte sitze über die Intelligenz“. In der Regel genüge es den Richtern zu wissen, „welches Blatt, welcher Schriftsteller zur Anklage gestellt ist, um ihr Urteil fertig zu haben“. Entgegen aller Logik würden die Gerichte gerade in Presseprozessen die Öffentlichkeit häufig ausschließen200. Walesrode bewertete, wie er im einzelnen ausführt, die Pressejudikatur lediglich als Teil eines umfassenden Systems „neupreußischer Tendenzjustiz“. Preußen habe, so sein Fazit, aufgehört, „ein Rechtsstaat zu sein“201. 2. Kurz wieder ein Seitenblick auf Bayern. Auch hier verstärkte sich in den 60er Jahren der Druck auf die Presse, die wie in Preußen einen starken Aufschwung erlebte. Die Zahl der Presseprozesse stieg, während die Freisprechungsquote sank: Von den 480 Verfahren, die zwischen 1860 und 1875 im rechtsrheinischen Bayern stattfanden, endeten 204 Fälle mit Verurteilung und 276 mit Freispruch. Dabei wurden von den 228 angeklagten Personen 106 verurteilt und 122 freigesprochen. Mithin lag die Freisprechungsrate „nur“ noch bei 57,5 %202. Die veränderte Praxis entsprach einer Forderung Maximilians II., der 1864 an seine zuständigen Minister schrieb: „Die Preßgesetzgebung Bayerns ist Meinen bisherigen Beobachtungen zufolge durchaus ungenügend für das Bedürfnis einer Regierung, welche in der Handhabung liberaler Grundsätze nicht so weit gehen will, daß sie die nötige Kraft verliert und in selbstverschuldeter Schwäche von dem ersten Sturme fortgerissen wird“203. Obwohl die Zügel spürbar angezogen wurden, blieb der ,liberale‘ Abstand zum Nachbarn im Norden gewahrt. Walesrode, S. LI – LIII, LVI – LIX, LXV – LXVI (Zitate). Ebd., S. VIII, XXXIV. Im Anhang dokumentiert Walesrode den Presseprozeß gegen Heinrich Bernhard Oppenheim, Redakteur der „Deutschen Jahrbücher“, und Eduard Lasker, damals Gerichtsassessor und MdA. Oppenheim war im Mai 1864 vom Stadtgericht wegen Majestätsbeleidigung sowie Beleidigung Bismarcks und des Staatsministeriums zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Kammergericht und Obertribunal bestätigten das Urteil, obwohl nach Ansicht der Juristenfakultäten von Erlangen und Heidelberg, die Rechtsgutachten erstattet hatten, keine strafbaren Handlungen vorlagen (das Heidelberger Gutachten stammte aus der Feder Mittermaiers). Lasker, angeklagt wegen eines „Jahrbuch“-Artikels über das Budgetrecht der Volksvertretung, wurde zwar in zwei Instanzen freigesprochen, sah sich anschließend aber mit einem Disziplinarverfahren konfrontiert. Daraufhin quittierte er den Staatsdienst. 202 Angaben nach: P. Landau, Die Reichsjustizgesetze von 1879 und die deutsche Rechtseinheit, in: Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, hg. v. Bundesministerium der Justiz, Köln 1977, S. 161 – 211, hier S. 177; vgl. auch Justizminister Fäustle, JA, 4. 4. 1876 (Schubert, S. 869). 203 Signat an das Innen- und Justizministerium v. 20. 1. 1864, abgedr. in: H. Rumschöttel, Auf dem Weg zum modernen Rechtsstaat, in: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“, München 1990, S. 248 f. 200 201
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3. Zurück zu Preußen: Hier bekam nicht nur die liberaldemokratische Opposition die härtere Gangart zu spüren. Dasselbe gilt für die sozialistische Arbeiterbewegung, die sich in jenen Jahren formierte und in Ferdinand Lassalle, vom demokratischen Republikanismus herkommend, eine charismatische Führerfigur fand204. Wie ein roter Faden ziehen sich die Kämpfe mit den Justizbehörden durch die Zeit seiner Agitation für die Rechte der Arbeiterschaft, die nur etwas mehr als zwei Jahre, von April 1862 bis zu seinem Duelltod im August 1864, umfaßte. Drei Prozesse ragen heraus: Bereits das „Arbeiterprogramm“, in dem sich Lassalle erstmals mit der Lage des „vierten Standes“ auseinandergesetzt hatte, führte nach § 100 StGB zu der Anklage, „die besitzlosen Klassen zum Haß und zur Verachtung gegen die Besitzenden öffentlich angereizt zu haben“. Vom Berliner Stadtgericht in erster Instanz zu vier Monaten Gefängnis verurteilt (16. 1. 1863), setzte das Kammergericht das Urteil auf 100 Taler herab (12. 10. 1863), was praktisch einem Freispruch gleichkam, aber auch bedeutete, daß die inkriminierte Schrift verboten blieb. Die Flugschrift „An die Arbeiter Berlins“ hatte eine Anklage wegen Hochverrats zur Folge, die – in krassem Widerspruch zum Antrag des Staatsanwalts, der drei Jahre Zuchthaus gefordert hatte – mit einem Freispruch endete (12. 3. 1864)205. Ein dritter großer Prozeß, der auf einer Anklage wegen Verstoßes gegen die §§ 100 und 101 in der „Rheinischen Rede“ beruhte, spielte sich im liberalen Rheinland ab. Die Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis, die das Düsseldorfer Landgericht in contumaciam ausgesprochen hatte (22. 4. 1864), konnte Lassalle in der Berufungsinstanz um die Hälfte reduzieren (27. 6. 1864). Die Appellation an den Kassationshof in Köln war bei seinem Tode noch anhängig. Den Vorgängen kommt in verschiedener Hinsicht richtungweisende Bedeutung zu. Ungeachtet seines ungebrochenen Kampfeswillens zeigte sich Lassalle von den „chronischen Prozessen“ zunehmend ermüdet206. Diese Abnutzungsstrategie, die darin bestand, den Betroffenen in ein Netz immer neuer Anklagen und Prozesse zu verstricken und ihn auf diese Weise erheblichen psychischen und physischen Belastungen auszusetzen, sollte Schule machen. Sie wiederholte sich etwa – von bei204 Zu Lassalle: S. Na’aman, Lassalle, Hannover 1970 (politisch-programmatisch); H. P. Bleuel, Ferdinand Lassalle, München 1979 (persönlich-psychologisch); weiterhin: Mehring, III, S. 125 – 132. Bereits im Umfeld der 48er-Revolution hatte Lassalle reichlich Bekanntschaft mit Gerichtshöfen und Gefängniszellen gemacht. 205 Die Anklage war von Hermann v. Schelling, später Staatssekretär des RJA und preußischer Justizminister, angestrengt worden, damals Staatsanwalt am Stadtgericht. Lassalle hatte ihn immer wieder mit Zitaten seines Vaters, des berühmten Philosophen, düpiert, weshalb er meinte, die Anklage sei „reiner Blödsinn“ und habe „ihren Quell bloß in persönlicher Rachsucht des Staatsanwalts v. Schelling“ (zit. n. Mehring, S. 130 f.). Neben dem politischen wird hier ein psychologisches Motiv sichtbar: Man darf davon ausgehen, daß der Gestus der Überlegenheit und die schneidende Arroganz, mit denen Lassalle den Staatsanwälten und Richtern begegnete, entsprechende Gegenreaktionen auslöste. 206 Siehe den Brief an die Gräfin von Hatzfeldt vom 28. 7. 1864 (dort auch die zitierte Wendung), zit. n.: Ferdinand Lassalle, Reden und Schriften, hg. v. Fr. Jenaczek, München 1970, S. 519.
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den Fällen wird noch die Rede sein – in der Affäre Twesten oder im Vorgehen gegen den polnischen Agitator Miarka. Wie das Königsberger Beispiel zeigt, bürgerte sie sich ebenso gegen oppositionelle Presseorgane ein, allerdings mit dem Unterschied, daß sich die Lasten hier besser verteilen ließen. Auf der anderen Seite nahm Lassalle das spätere Verhältnis der Sozialdemokratie zur Justiz vorweg. Seit der ersten Anklage war er entschlossen, den Gerichtssaal in ein politisches Forum umzufunktionieren: „Angeklagt, muß und werde ich immer die Anklagebank als Tribüne für politische Propaganda benutzen“207. Seine Verteidigungsreden, ihrem Charakter nach politisch-ökonomische Traktate, wurden allesamt veröffentlicht. Zugleich ließ sich auf diese Weise das Interesse der Zeitungen und damit die öffentliche Aufmerksamkeit steigern. Stilbildend wurde auch die Justizkritik, die Lassalle in seinen Reden entfaltete. In der Appellationsrechtfertigung vor dem Kammergericht verhöhnt er mit beißendem Spott die wissenschaftliche Unkenntnis der Richter und des Staatsanwalts erster Instanz und spricht ihnen praktisch die Kompetenz ab, über ihn zu urteilen208. Mit Verweis auf eine Rede Ernst Engels, der Koryphäe der preußischen Statistik, in der dieser ganz ähnliche Thesen zur gleichen Zeit vor einem bürgerlichen Publikum vertreten hatte, ohne damit den Staatsanwalt auf den Plan zu rufen, hält er den Richtern entgegen: „Gestehen Sie also, meine Herren, was schon durch jenen Vortrag des Geheimen Rats Engel evident ist: es ist hier nicht verurteilt worden – wozu allein der Strafrichter ein Recht hat – das, was gesagt worden ist, der Inhalt. Sondern es wurde verurteilt die Person, die es gesagt hat, und der Ort, wo es gesagt wurde!! Es wurde verurteilt, weil ich es gesagt habe und weil es vor Arbeitern gesagt worden ist! Ist das Gerechtigkeit, meine Herren oder welches äußerste nicht zu benennende Gegenteil derselben? Die Gerechtigkeit soll geübt werden ohn’ Ansehung der Person, und was den Ort betrifft, so darf der Richter nach § 100 des Strafgesetzbuchs nur darauf sehen, ob er ein öffentlicher ist. Ein öffentlicher Ort ist die Singakademie wie die Arbeitervereine. Was an dem einen öffentlichen Ort nicht strafbar ist, darf es nicht an dem andern sein. Der Richter, welcher, was an einem öffentlichen Ort überhaupt, in einer öffentlichen Versammlung der Bourgeoisie nicht strafbar wäre, für strafbar erklärt in einer öffentlichen Versammlung von Arbeitern – begeht eine Machtüberschreitung ohnegleichen, schafft ein neues Verbot, welches das Strafgesetzbuch nicht kennt, übt Klassenunterdrückung!“209. Zitat aus dem Nachlaß (zit. n.: ebd., S. 491 f.). Ferdinand Lassalle, Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen, in: ebd., S. 224 – 347. 209 Ebd., S. 330. Lassalle konnte auf einen Brief von Engel (1860 – 1882 Direktor des Statistischen Bureaus in Berlin) verweisen, in dem dieser die Parallelität der beidseitigen Ausführungen bestätigte und empfahl, daß „in allen einen fachwissenschaftlichen Ursprung habenden Prozessen der Schwerpunkt ebenso in das Gutachten der Sachverständigen gelegt werden sollte, wie dies der Fall ist, wenn es sich um den Rechtsspruch in medizinischen, technischen, kommerziellen Angelegenheiten handelt“ (ebd., S. 329). 207 208
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Hier liegen die Ursprünge des Klassenjustizvorwurfs, der zwei Jahrzehnte später, unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes, in den ehernen Bestand sozialdemokratischer Kampfparolen einging. Zwar verfügte Lassalle noch nicht über den terminus technicus, der Sache nach arbeitete er den Topos aber präzise heraus: eine klassenspezifisch ungleiche Rechtsanwendung bei formal gleicher Rechtslage. Mit Lassalles Auftreten begann der facettenreiche, im einzelnen kaum zu überblickende Dauerkonflikt zwischen sozialistischer Arbeiterbewegung und Justiz. Lassalles Nachfolger im Vorsitz des ADAV, Johann Baptist v. Schweitzer, wurde 1865 / 1866 wegen verschiedener Artikel im „Sozial-Demokrat“ von Berliner Gerichten zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Nach entsprechenden Beschlüssen von Stadt- und Kammergericht mußte der örtliche Zweig des ADAV geschlossen werden210. Unter Berufung auf den kurzlebigen „Frankfurter Volksfreund“ gibt Eduard Bernstein die Zahl von 2.843 Strafprozessen an, die zwischen dem Auftreten Lassalles und Mitte 1877 reichsweit gegen Sozialdemokraten angestrengt worden wären. Davon hätten rund 650 Verfahren bereits vor der Reichsgründung stattgefunden211. 4. Noch eine dritte Oppositionsgruppe geriet in die Fänge der politischen Justiz. Als gegen Ende der 50er Jahre die polnische Nationalbewegung zu neuem Leben erwachte, traten die Strafverfolgungsorgane sofort wieder auf den Plan212. Größeres Aufsehen erregte eine Entscheidung des Berliner Staatsgerichtshofs vom April 1862, wodurch der Redakteur des Culmer „Nadwislanin“, eines führenden nationalpolnischen Blattes, zu zwei Jahren, der Verfasser des inkriminierten Artikels zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurden. Der Artikel hatte die polnische Bevölkerung dazu aufgerufen, einen Notgroschen für – nicht näher bezeichnete – „nationale Angelegenheiten“ zurückzulegen. Die Staatsanwaltschaft sah hierin eine auf Wiederherstellung des Königreichs Polen abzielende Bestrebung und erhob Anklage wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens. In Holtzendorffs Strafrechtszeitung hieß es dazu: „Unserer völlig unbefangenen Überzeugung nach wäre in dem vorliegenden Fall von jedem Schwurgericht der Provinz Posen, selbst wenn es aus lauter Deutschen zusammengesetzt worden wäre, eine Freisprechung zu erwarten gewesen“. Das Urteil enthalte „alle Subtilitäten einer fein geschliffenen Logik und den höchsten Scharfsinn politischer Zukunftskombinationen“213. Nichtsdestoweniger machte das Vorgehen Schule: Mit ähnlicher Begrün210 Vgl. Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung, Bd. 1, Berlin 1907, S. 142 ff. 211 Angaben ebd., S. 293. 212 Zu den ersten Jahren (1860 – 1862) s. die Schilderung in den Memoiren von Mittelstädt, damals Hilfsarbeiter bei der Oberstaatsanwaltschaft am Appellationsgericht Posen (Lebenserinnerungen, S. 30 – 32). 213 Anon., Ausnahmegerichtliches in Preußen, in: Allgemeine Deutsche Strafrechtszeitung 2 (1862), S. 269 – 272.
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dung erkannte der Staatsgerichtshof im folgenden Jahr gegen einen weiteren Redakteur derselben Zeitung auf zwei Jahre Zuchthaus mit anschließender Polizeiaufsicht214. Die Verfahren bildeten das Vorspiel zum großen Polenprozeß, der zwischen Juli und Dezember 1864 vor dem Staatsgerichtshof stattfand. Nach mehr als einjähriger Untersuchungshaft wurden 128 Polen, die den im Januar 1863 im russischen Teilungsgebiet ausgebrochenen Aufstand unterstützt hatten, wegen Hochverrats angeklagt215. Angesichts der Tatsache, daß sich der Aufstand nicht direkt gegen Preußen gerichtet hatte, war es unter Juristen durchaus strittig, ob überhaupt eine strafbare Handlung vorläge. Dagegen setzte sich die staatspolitische Auffassung Bismarcks durch, der wie kein zweiter die preußische Staatsräson mit der Unterdrückung nationalpolnischer Bestrebungen identifizierte216. Für den Ministerpräsidenten stand außer Frage, daß die Insurrektion, da letztlich auf die Wiederherstellung eines polnischen Staates in den Grenzen von 1772 zielend, auch die Abtrennung der preußischen Teilungsgebiete im Auge hatte. Trotz ausführlicher Voruntersuchung erwies sich das Beweismaterial – teilweise war es von den Posener Polizeibehörden gefälscht worden – in der Hauptverhandlung als derart dürftig, daß die Staatsanwaltschaft für 63 Angeklagte Freispruch beantragen mußte217. Obwohl sie für die übrigen Angeklagten drastische Strafen (bis hin zur Todesstrafe) forderte, fielen die Urteile insgesamt moderat aus, wobei die Anschuldigung des Hochverrats fallengelassen wurde218. Rudolf Gneist, einer der Hauptverteidiger, sprach lapidar von einem „normalen Tendenzprozeß“219. Otto Mittelstädt, aus Schneidemühl (Provinz Posen) stammend und des Polnischen mächtig, war als zweiter Staatsanwalt ebenfalls am Prozeß beteiligt. Er legte den Finger auf den wunden Punkt, die politische Überforderung des Gerichts: „Noch einmal entwickelte der Beginn der öffentlichen Hauptverhandlung im Mittsommer 1864 den breiten imposanten Apparat einer großen Staatsaktion. Dann nahm die Vgl. Berliner Börsen-Zeitung v. 20. 5. 1863 (Nr. 229). Zum Kontext: F.-H. Gentzen, Großpolen im Januaraufstand, Berlin (Ost) 1958; H.-W. Rautenberg, Der polnische Aufstand von 1863 und die europäische Politik, Wiesbaden 1979; zum Prozeß: Baske, S. 92 f.; Holtzendorff, Umgestaltung, S. 60; Walesrode, S. XLVI – LI; Prozeßbericht: Der Polen-Prozeß im Jahre 1864, Berlin 1865. 216 Zum Polenbild Bismarcks Nipperdey, II, S. 268 f. 217 Zur Kritik an Beweismaterial und juristischer Deduktion vgl. Gneist an Mittermaier, 7. 8. 1864, in: E. J. Hahn (Hg.), Briefwechsel Karl Josef Anton Mittermaier – Rudolf von Gneist, Frankfurt / M. 2000, S. 139 – 145. 218 Die Staatsanwaltschaft hatte für 15 Angeklagte die Todesstrafe, für weitere 61 Zuchthaus zwischen 6 und 15 Jahren beantragt (insgesamt 483 Jahre). Der Gerichtshof sprach zwar 11 Todesurteile aus, allesamt aber gegen abwesende Angeklagte, denen zudem, sollten sie sich den Behörden stellen, eine Revisionsverhandlung zugesagt wurde. Von den Anwesenden wurden am 21. 12. 1864 gegen 27 und in einem Nachprozeß am 28. April 1865 gegen 7 weitere Angeklagte Freiheitsstrafen zwischen einem und drei Jahren verhängt. 219 Gneist, Briefwechsel, S. 139; Gneists große Verteidigungsrede in: Polen-Prozeß, Nr. 60 (75. Sitzung v. 17. 11. 1864), S. 4 – 27. 214 215
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Szenerie in der improvisierten Gerichtshalle des Moabiter Zellengefängnisses [ . . . ] schnell den Charakter eines polnischen Reichstages an, man diskutierte fünf Monate hindurch zwischen Anklage und Verteidigung allerlei politische Fragen in buntestem Durcheinander, die Formen einer geordneten Gerichtsverhandlung wurden immer unkenntlicher, und von dem peinlichen Verfahren blieb eigentlich nichts übrig, als das peinvoll stechende Gefühl aller bei der Sache amtlich Beteiligten, an einer die preußische Justiz kompromittierenden, für sie unlösbaren Aufgabe mitzuwirken. Wer die geheime Geschichte des ,Polenprozesses‘ kennt, weiß, wie nahe im kritischen Momente der Eklat eines skandalösen Zusammensturzes der ganzen Prozedur lag und wie viel Mühe es kostete, den öffentlichen Anstand durch die Verurteilung einiger der am schwersten Belasteten zu einigen Jahren Festungshaft mit der notdürftigen Mehrheit einer Stimme im Staatsgerichtshofe zu retten. Die Politik mag immerhin auch dabei ihre Rechnung gefunden haben, und wir haben uns über russischen Undank nicht zu beklagen gehabt. Unter den preußischen Juristen jener Zeit hat es, glaube ich, wenig Männer gegeben, die, gleichviel auf welchem politischen Parteistandpunkte sie sonst standen, den ,Polenprozeß‘ nicht als eine schwere Schädigung der Justiz empfunden und beklagt hätten“220. Personalpolitisch hatten die Vorgänge zur Folge, daß während der Amtszeit des Grafen zur Lippe bei den Gerichten der Provinz Posen keine Polen mehr angestellt wurden221. In Ausübung seines landesherrlichen Gnadenrechts amnestierte Wilhelm I. nach dem Sieg über Österreich alle wegen politischer Verbrechen und Vergehen Verurteilten, sofern die Strafen noch nicht vollstreckt waren222. Die Maßnahme mochte die bei den Betroffenen vorhandene Verbitterung lindern, war aber kaum dazu angetan, die Vorgänge aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen. 5. Ein weiteres Konfliktfeld eröffnete sich durch die zahlreichen Disziplinaruntersuchungen, die gegen oppositionelle Richter eingeleitet wurden223. Das Disziplinargesetz für richterliche Beamte vom 7. Mai 1851 gab einen weiten Spielraum an die Hand: Nach § 1 konnte ein Richter disziplinarisch belangt werden, „welcher durch sein Verhalten in oder außerhalb des Amtes der Achtung und des Vertrauens, die sein Beruf verlangt, sich unwürdig zeigt“. Das Gesetz vom 26. März 1856 regelte die Zuständigkeiten: Im Regelfall waren die Appellationsgerichte (und zwar das Plenum) erstinstanzlich zuständig. Als Berufungsinstanz diente das Obertribu220 Otto Mittelstädt, Der deutsche Reichskanzler und die Strafjustiz, in: Im neuen Reich 6 / 1 (1876), S. 8 – 19, hier S. 11 f.; zahlreiche Einzelheiten zum Polenprozeß auch in Mittelstädts Lebenserinnerungen, S. 34 – 52. 221 Vgl. Ormond, S. 456. 222 Allerhöchste Gnadenerlasse v. 20. 9. und 2. 10. 1866, in: JMBl, S. 254, 270; Materialien zur Anwendung auf Preßvergehen (Einzelfälle) in: GStA, Rep. 77, Abt. II, Sekt. 8, Tit. 380, Nr. 28. Ein gleichlautender Erlaß wurde zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges am 3. 8. 1870 verkündet (JMBl, S. 234). 223 Zum folgenden: Twesten, Sten. Ber. AH, 20. 5. 1865, S. 1616 f.; Waldeck, ebd., 30. 5. 1865, S. 1774 – 1777; Ormond, S. 35 ff., 47.
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nal, das zudem über einen eigenen Disziplinarsenat verfügte. In der Konfliktszeit stieg die Zahl eingeleiteter Verfahren etwa um das Doppelte224. Über ihren Ausgang liegen keine verläßlichen Angaben vor. Schließlich offenbarte sich die gouvernementale Orientierung des höchsten preußischen Gerichts in den sog. Stellvertretungsprozessen225. Obwohl die preußische Verfassung den Mitgliedern des Abgeordnetenhauses Reisekosten und Diäten gewährte (Art. 85) und Beamte für die Zeit ihrer parlamentarischen Tätigkeit keinen Urlaub nehmen brauchten (Art. 78 Abs. 2), legte das Staatsministerium mit Beschluß vom 22. 9. 1863 den gewählten Beamten die Kosten für ihre Stellvertretung im Amt auf. Als die Betroffenen daraufhin Zivilklage gegen den Fiskus einreichten, erhielten sie in den ersten beiden Instanzen zumeist Recht, während das Obertribunal die Klagen ausnahmslos zurückwies. 6. Sah sich die Presse zu taktisch bedingter Zurückhaltung gezwungen, so entlud sich der Unmut über die Politisierung der Justiz im Abgeordnetenhaus umso heftiger. Speerspitze des Protestes bildete die Fortschrittspartei, die in der Justizverwaltung gleichsam den Ausfluß des aus ihrer Sicht verfassungswidrigen Gesamtministeriums sah. Bereits in ihrem Gründungsprogramm vom Juni 1861 hatte sich die neue Partei die „strenge und konsequente Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaats“ auf ihre Fahnen geschrieben. Im einzelnen wurden „wirklich unabhängige Richter“, die Beseitigung des staatsanwaltschaftlichen Anklagemonopols, volle rechtliche Verantwortlichkeit der Beamten und die Wiederherstellung der schwurgerichtlichen Kompetenz für politische und Preßvergehen gefordert226. Die parlamentarischen Auseinandersetzungen erreichten ihren ersten Höhepunkt im Mai 1865, als die gesamte Palette der Vorwürfe zur Sprache kam227. Im Zentrum der Angriffe stand die Pressejustiz, meist gepaart mit Kritik an der Staatsanwaltschaft und der Rechtsprechung des Obertribunals; wiederholt wurde auch auf den Polenprozeß Bezug genommen228. Als Hauptschuldigen machten die Liberalen Justizminister Lippe aus, dem sie systematische Eingriffe in die Richterkollegien, eine parteipolitisch einseitige Beförderungspolitik und den Mißbrauch des Disziplinarrechts vorwarfen229. Die Gravamina steigerten sich zu Generalverdikten Disziplinarverfahren vor den Appellationsgerichten: 1862:64; 1866:123. Vgl. Ormond, S. 40 f. Deutliche Parallelen bestehen zu den Diätenprozessen der Jahre 1885 / 86 (dazu unten Zweiter Teil, A, Kap. II / 1). 226 Gründungsprogramm der Deutschen Fortschrittspartei, in: W. Mommsen (Hg.), Deutsche Parteiprogramme, 2. Aufl., München 1964, S. 132 – 135, hier S. 133 f. 227 Es handelt sich um die Sitzungen vom 20. 5. und 30. 5. 1865. In ersterer stand die Beratung des Justizhaushalts auf der Tagesordnung, in letzterer wurde über einen Bericht der Justizkommission über eingegangene Petitionen verhandelt. 228 v. Hennig, Sten. Ber. AH, 20. 5. 1865, S. 1606 – 1608, 1611 f.; Twesten, ebd., S. 1612 – 1615; Becker, Sten. Ber. AH, 30. 5. 1865, S. 1767 f.; Moeller, ebd., S. 1769 – 1772; Waldeck, ebd., S. 1772 – 1774. 224 225
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über die Degenerierung der einstmals so ruhmreichen preußischen Justiz: „Das Unrecht hat alle Scham verloren“ (Twesten) – „Das Volk trauert über den Verfall der Justiz in Preußen“ (v. Hennig) – „Die Themis hat die Binde abgetan von ihren Augen, und ihre Waage ist falsch, wie die eines betrügerischen Marktweibes“ (Moeller)230. Mit großer Mehrheit nahm das Abgeordnetenhaus eine Resolution an, in der eine durchgreifende Revision des Pressegesetzes, die Aufhebung der Disziplinargesetze von 1851 und 1856 sowie die Wiedereinführung der schwurgerichtlichen Kompetenz für politische und Preßvergehen als vordringlichste Aufgaben bezeichnet wurden231. Gleichsam spiegelverkehrt war die Kritik, die von konservativer Seite an der Strafrechtspflege geübt wurde. Die Vorwürfe richteten sich gegen den Typus des liberalen Stadt- und Kreisrichters, der sein Richteramt häufig mit politischem Engagement verband. Sie entbehrten insofern nicht einer pikanten Note, als sich die parlamentarische Opposition zu erheblichen Teilen aus jenen Kreisen rekrutierte232. Als Topos in den 50er Jahren entstanden, verfestigte sich die antiliberale Richterkritik während der Konfliktszeit. Es sei eine „bekannte Tatsache, daß ein sehr großer Teil unseres Gerichtspersonals einer extremen politischen Richtung angehört“. Dies schlage sich in der Gerichtspraxis nieder: „Auf dem politischen Gebiete existiert die volle Unparteilichkeit preußischer Richter nicht mehr, [ . . . ] namentlich in Untergerichten“. Als Beleg wurde insbesondere auf die nachgiebige Pressejudikatur verwiesen233. Für Bismarck bildete die liberale Richterschaft geradezu ein bevorzugtes Haßobjekt. Um nur ein Beispiel zu nennen: 1868 verhöhnte er den Stadt- und Kreisrichter als „konstitutionellen Hausarzt“, der allein wisse, wie die Verfassung auszulegen sei234. Auch wenn beide Seiten den Vorwurf der Parteilichkeit erhoben, so spiegelte sich die unterschiedliche Erfahrungslage doch deutlich wider: Während die fortschrittliche Kritik mit dem Gestus der persönlichen Betroffenheit auftrat und mit harten Fakten aufwarten konnte, verblieben die konservativen Gravamina meist im Allgemein-Politischen. Mitunter wirkten sie 229 v. Hennig, S. 1608, 1611; Twesten, S. 1615 f.; Waldeck, S. 1774 – 1777; Wachsmuth, Sten. Ber. AH, 30. 5. 1865, S. 1779 – 1781. 230 Twesten, S. 1617; v. Hennig, S. 1612; Moeller, S. 1772. 231 Sten. Ber. AH, 30. 5. 1865, S. 1788; vgl. auch den Bericht der Kommission für das Justizwesen über Petitionen, ebd. 1865, Drks. Nr. 139. Derartige „Generalabrechnungen“ mit der Lippeschen Justizverwaltung kamen auch weiterhin vor: siehe Lasker, Sten. Ber. AH, 30. 11. 1866, S. 783 – 788. 232 Insgesamt bewegte sich die Zahl der Richter, die zwischen 1862 und 1866 im Abgeordnetenhaus saßen, zwischen 20 % und 25,6 %; in ihrer großen Mehrheit gehörten sie der Fortschrittspartei und dem Linken Zentrum an. Genaue Angaben bei: A. Hess, Das Parlament, das Bismarck widerstrebte, Köln 1964; weiterhin Ormond, S. 33 ff. 233 Zitate: v. Krassow, Sten. Ber. HH, 18. 11. 1863, S. 20 f.; v. Below-Hohendorf, ebd., S. 28. Gegenstand der Debatte war die Preßordonnanz, der das Herrenhaus mit überwältigender Mehrheit zustimmte; vgl. Vossieg, S. 142 ff. 234 Bismarck, Sten. Ber. AH, 22. 4. 1868; Näheres zu Bismarcks Verhältnis zur Justiz im folgenden Exkurs.
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wie eine etwas hilflose Replik auf die plazierten Angriffe von „links“235. Ungeachtet dessen bleibt festzuhalten: In der zugespitzten Situation des Verfassungskonflikts geriet die Strafjustiz erstmals offen zwischen die politischen Fronten. Besondere Bedeutung erlangte die Rede, die Karl Twesten, Stadtgerichtsrat in Berlin und einer der Führer der Fortschrittspartei, am 20. 5. 1865 im Abgeordnetenhaus hielt. In Aussage, Stil und Tonfall eine rüde Philippika, die vor Schmähungen nicht zurückschreckte, stellte sie gleichsam die Probe aufs Exempel dar. Namentlich den Richtern des Obertribunals unterstellte Twesten, in ihrer Auslegung der Gesetze nicht einem Rechtsirrtum zu unterliegen, sondern mit „bösem Willen“ vorzugehen, also mala fide zu handeln, wohl der schlimmste Vorwurf, der einem Richter gemacht werden kann. Den Justizminister bezichtigte er der „systematischen Korruption“ des Obertribunals und der Appellationsgerichte. Die gegenwärtigen Verhältnisse faßte er in einem berühmten Diktum des Freiherrn v. Vincke zusammen („Das Unrecht hat alle Scham verloren“), und am Ende könnte, so Twesten, ein Zustand stehen, in dem der preußische Beamtenstand zu dem erhebenden Bewußtsein herabgedrückt sei: „Hunde sind wir ja doch“. Gneist, der dem Linken Zentrum angehörte, trat den Ausführungen Twestens „unverhüllt und unbedingt“ bei, wechselte dann aber unverzüglich das Thema236. An die Rede schloß sich der berühmte Prozeß Twesten an, dessen Verlauf kurz skizziert sei237. Auf Betreiben Bismarcks strengte Graf zur Lippe gegen den Fortschrittler ein Verfahren wegen Verleumdung des Staatsministeriums an. Während Stadtgericht und Kammergericht die Anklageerhebung ablehnten, erklärte das Obertribunal die Eröffnung des Hauptverfahrens per Plenarbeschluß vom 29. 1. 1866 für zulässig, indem es einen sophistischen Unterschied zwischen (straffreien) „Meinungen“ und (strafbaren) „Äußerungen“ konstruierte. Den Ausschlag gaben die Stimmen zweier Hilfsrichter, die erst kürzlich in die vereinigten Strafsenate berufen worden waren. Die Entscheidung stand in offenem Widerspruch zu Art. 84 der preußischen Verfassung, der die Redefreiheit der Abgeordneten in der Kammer garantierte. Dieser „schreiende Mißbrauch der richterlichen Gewalt“ löste in der liberalen Öffentlichkeit helle Empörung aus. Zachariae verfaßte umgehend eine Broschüre (erschienen im März), um die Unhaltbarkeit der höchstrichterlichen Auslegung in jeder nur erdenklichen Richtung (historisch, staatsrechtlich, politisch und wortlogisch) darzulegen238. Ferner wurden dem Verurteilten zahlreiche Solidaritäts235 Dies gilt etwa für die Rede von Moritz v. Blanckenburg, Sten. Ber. AH, 30. 5. 1865, S. 1777 – 1779. 236 Rede Twestens: Sten. Ber. AH, 20. 5. 1865, S. 1612 – 1617; Zitat Gneist: ebd., S. 1622. 237 Zum folgenden, teilweise mit erheblichen Abweichungen: Schütz, S. 150 – 167; Vossieg, S. 155 – 163, 169 – 171; Huber, III, S. 328 – 330, 373 – 375; Ormond, S. 38 – 40, 368 f.; Sonnenschmidt, S. 347 – 356; H. Canditt, Der Prozeß gegen Twesten, in: Die Justiz 4 (1928 / 29), S. 415 – 443; Abdr. des OT-Beschlusses in: JMBl, S. 58 – 60. 238 Zitat: Hermann v. Beckerath an Heinrich v. Sybel, 5. 2. 1866, in: J. Heyderhoff (Hg.), Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks, Bd. 1, Bonn 1925, Nr. 216 (s. auch die Nrn.
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bekundungen zuteil. So beschäftigte sich der fortschrittliche „Berliner Arbeiterverein“ am 16. und 18. 2. 1866 in zwei großen Versammlungen mit dem Beschluß. In der verabschiedeten Resolution hieß es, die versammelten preußischen Männer „erachten in dem tief verletzten Rechte ihrer Abgeordneten ihr eigenes Recht verletzt und sind entschlossen, die den Vertretern des Volkes in dem entbrannten Rechtskampfe bei der Erfüllung ihrer Pflicht angedrohten Gefahren männlich mit ihnen zu teilen“239. Zwei große Debatten im Abgeordnetenhaus – sie bilden den zweiten Höhepunkt der parlamentarischen Justizkritik jener Jahre – mündeten in eine mit breiter Mehrheit angenommene Resolution, die den Obertribunalsbeschluß für verfassungswidrig und darauf gegründete Urteile für rechtsungültig erklärte240. Die beiden Tatsacheninstanzen, denen die Sache nunmehr zur Entscheidung vorlag, sprachen Twesten frei (das Stadtgericht im Juni 1866, das Kammergericht Anfang November 1866). Obwohl der Verfassungskonflikt mittlerweile beigelegt war, ging der Rechtsstreit weiter: Der auf Weisung des Justizministers eingelegten Nichtigkeitsbeschwerde (Februar 1867) gab das Obertribunal am 26. 6. 1867 statt, womit die Instanzurteile aufgehoben waren. Daraufhin verurteilte das Stadtgericht Twesten am 11. 11. 1867 zur zulässigen Höchststrafe von zwei Jahren Gefängnis241. Das Kammergericht, das der höchstrichterlichen Interpretation offen widersprach, reduzierte das Strafmaß auf 300 Taler Geldstrafe (27. 1. 1868). Die von Twesten eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde wies das Obertribunal zurück, womit das Kriminalverfahren sein Ende fand (29. 4. 1868). Parallel dazu lief seit Februar 1867 ein ebenfalls vom Obertribunal eingeleitetes Disziplinarverfahren gegen Twesten, das mit seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Staatsdienst endete (Juni 1868). Twesten, von Natur aus von schwächlicher Konstitution und durch die behördlichen Maßnahmen psychisch stark angegriffen, starb im Oktober 1870 im Alter von gerade einmal fünfzig Jahren. Man darf davon ausgehen, daß die geschilderten Vorgänge zu seinem frühen Tod ihren Teil beigetragen haben242. Der Affäre kam in verschiedener Hinsicht eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Sie trug maßgeblich zum Sturz des Grafen zur Lippe bei (5. 12. 1867), der 214, 215, 217 und 219); H. A. Zachariae, Ueber Art. 84 der Preußischen Verfassungsurkunde, Leipzig 1866 (die Schrift wurde in Berlin konfisziert); vgl. auch ders., Sten. Ber. HH, 15. 2. 1868, S. 150 – 152. 239 Zit. n. Bernstein, I, S. 146. 240 Siehe die AH-Sitzungen v. 9. und 10. 2. 1866 (Sten. Ber., S. 110 – 178), vor allem die Reden von Gneist, Twesten und Simson; zur unterschiedlichen Bewertung in der Literatur Vossieg, S. 158 – 160 und Huber, III, S. 330. 241 Als Reaktion beschloß das Abgeordnetenhaus eine Deklaration zu Art. 84 im Sinne unbedingter Redefreiheit (Sitzungen v. 27. 11. 1867, 2. 12. 1867 und 8. 1. 1868); das Herrenhaus lehnte sie am 16. 2. 1868 ab; dazu: Heyderhoff, Nrn. 306 – 310. 242 Kurz vor seinem Tod, am 12. Juli 1870, schrieb Twesten an einen Freund: „So scheide ich denn aus der politischen Tätigkeit – mit einem zerbrochenen Arm, Verlust von Amt und Einkommen, gänzlich zerrütteter Gesundheit –, ohne etwas gewirkt und erreicht zu haben“ (zit. n. Canditt, S. 443). Twestens rechter Arm war in einem politisch motivierten Duell mit dem General von Manteuffel zerschmettert worden.
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der angestrebten Verständigung zwischen Bismarck und den Nationalliberalen im Wege stand. Sein Nachfolger wurde der frühere hannoversche Justizminister Leonhardt, der sich, ganz anders als sein Vorgänger, ausschließlich als Fachminister verstand und keinerlei politische Ambitionen hegte. Leonhardts Ernennung löste unter den altpreußischen Richtern zwar zunächst erhebliche Verärgerung aus, befreite die Justizbehörden aber vom politischen Druck der Ära Lippe, was ihm den dauerhaften Dank der Beteiligten sicherte243. Das Obertribunal büßte den letzten Rest an politischer Glaubwürdigkeit ein244. Als der Reichstag 1878 um den Sitz des zukünftigen Reichsgerichts stritt, war es nicht zuletzt der Fall Twesten, der den Ausschlag gegen Berlin und zugunsten Leipzigs gab. Weit über liberale Kreise hinaus prägten sich die Vorgänge dem öffentlichen Bewußtsein ein. Anspielungen auf den Prozeß Twesten – sie finden sich bis in das neue Jahrhundert hinein – sind Legion. Ohne Übertreibung darf man feststellen, daß er einem Großteil der späteren Kritik an der Strafrechtspflege als Projektionsfläche und Resonanzboden diente. Die Affäre geriet zur Chiffre für eine politisch korrumpierte Strafjustiz einschließlich ihrer desaströsen Folgen und dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, daß sich ein vergleichbarer Fall offenen Rechtsbruchs im Kaiserreich nicht wieder ereignete. Zwei prominente Stimmen mögen die Langzeit- und Tiefenwirkung belegen. Während der Beratung der Reichsjustizgesetze schrieb Otto Mittelstädt über die Causa Twesten: „Die parlamentarische Redefreiheit erhob sich aus der Katastrophe mit verjüngter und rechtlich neubefestigter Kraft. Wer allein den Schlag innerlich nicht wieder verwunden hat, das ist die preußische Justiz selbst. Beweis dessen ist das tiefe endemische Mißtrauen gegen die politische Unparteilichkeit des staatlichen Richteramtes und der ganze Wirrwarr diffuser Anschauungen, die über der Zukunft der deutschen Gerichtsverfassung, der Organisation der künftigen deutschen Strafgerichte trübe lasten“245. Otto Bähr, der noch vor Abschluß des Prozesses den Nachweis zu führen versucht hatte, daß Twesten auch bei Auslegung des Art. 84 im Sinne des Obertribunals hätte freigesprochen werden müssen, resümierte 1895 anläßlich der Neuauflage seiner Abhandlung: „Die Redefreiheit der Abgeordneten, um die damals so heftig gekämpft wurde, ist heute durch Artikel 30 243 Zum Ministerwechsel: H. Brunck, Bismarck und das Preußische Staatsministerium 1862 – 1890, Berlin 2004, S. 174 – 182; GW, Bd. 7, S. 228 f.; Heyderhoff, Nrn. 311 – 314 und Anhang III. Ende November / Anfang Dezember 1867 führte Bismarck mehrere Gespräche mit Bennigsen und Forckenbeck, den beiden Führern der Nationalliberalen, bei denen es auch um die Ablösung Lippes ging. Dabei erkundigte er sich bei Bennigsen über dessen Landsmann Leonhardt. Bennigsen soll geantwortet haben: „Wenn Bismarck einen Minister haben wolle, der ein ausgezeichneter Jurist und bewährter Organisator sei, so möge er Leonhardt nehmen, wenn er einen Politiker haben wolle, so sei Leonhardt dafür nicht zu brauchen“ (zit. n. R. v. Sydow, Der Kampf um die Reichsjustizreform vor 50 Jahren, in: Deutsche Rundschau, 221, 1929, S. 204 – 209, hier S. 205). Adolf Leonhardt (1815 – 1880), 1865 / 66 letzter hannoverscher Justizminister, stand der preußischen Justiz vom 5. 12. 1867 bis zum 30. 10. 1879 vor; zu ihm auch Brunck, S. 182 – 184; eine umfassende biographische Würdigung fehlt. 244 Vgl. Holtze, S. 238 ff. 245 Mittelstädt, Strafjustiz, S. 12.
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der Reichsverfassung und § 11 des Strafgesetzbuchs vollkommen gesichert. Gleichwohl bleibt der Prozeß Twesten ein geschichtlich und juristisch höchst bedeutungsvolles Ereignis. Seine geschichtliche Bedeutung liegt darin, daß er mehr als alles andere den damaligen Kampf verbittert und daß er andauernd den verhängnisvollsten Einfluß auf die Stellung der Justiz in der öffentlichen Meinung Deutschlands geübt hat“246. Das maßgeblich von Lasker konzipierte Gründungsprogramm der Nationalliberalen (Juni 1867) reflektierte die Erfahrungen der Konfliktszeit sehr genau. Zum Zwecke größeren Rechtsschutzes wurden folgende Forderungen erhoben: unabhängige Richter, Unabhängigkeit und Erweiterung des Rechtsweges, Aufhebung des Staatsgerichtshofes und schwurgerichtliche Zuständigkeit für politische Strafsachen247. In dieselbe Richtung zielte ein Ende 1868 von Eberty (Fortschritt) eingebrachter Initiativantrag der Linken, demzufolge alle politischen und Pressedelikte den Schwurgerichten (rück-)übertragen werden sollten. Nach Beratung in der Justizkommission wurde er ein knappes Jahr später mit 158 : 121 Stimmen vom Abgeordnetenhaus angenommen248.
Exkurs: Bismarck und die Justiz Wie das Vorstehende deutlich zu machen versucht hat, bedeutete der Amtsantritt Bismarcks auch für die preußische Justiz eine tiefgreifende Zäsur. Insofern liegt es nahe, Bismarcks grundsätzliche Einstellung zu Strafrecht, Strafjustiz und Richterschaft etwas genauer unter die Lupe zu nehmen249. Die linksliberale Bismarckkritik, die in dem Reichsgründer seit jeher einen prinzipienlosen Machtpolitiker machiavellistischer Prägung gesehen hat, war sich stets darin einig, daß ihm Macht vor Recht gegangen sei250. So einfach liegen die Dinge indessen nicht. Bismarcks 246 Otto Bähr, Die Redefreiheit der Volksvertretung und der Prozeß Twesten, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 253 – 265 (Zitat S. 254, einleitende Bemerkungen); zuerst in: PJ 21 (1868), S. 313 – 325; ausführlich zu Bähr unten Zweiter Teil, A, Kap. I / 2a. 247 Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei, in: Mommsen, S. 147 – 151, hier 150. Zu Lasker, in der liberalen Ära (neben Gneist) der führende Rechtspolitiker der Nationalliberalen: J. F. Harris, Eduard Lasker 1829 – 1884, Lanham 1984; A. Laufs, Eduard Lasker, Göttingen 1984. 248 Sten. Ber. AH, 19. 11. 1868, S. 115 und 22. 10. 1869, S. 168 – 182. 249 Eine spezielle Untersuchung zum Problemkreis fehlt. Wertvolle Hinweise finden sich in: H. Kober, Studien zur Rechtsanschauung Bismarcks, Tübingen 1961; Bartolomäus, Fürst Bismarck und der preußische Richterstand, in: PJ 99 (1900), S. 177 – 181; H. Goldschmidt, Bismarcks Stellung zur Justiz, in: DJZ 37 (1932), S. 437 – 442; zu Bismarcks Verhältnis zur Zivilrechtspflege s. unten Zweiter Teil, A, Kap. I / 2a. 250 Der Topos geht zurück auf die Adreßdebatte des Abgeordnetenhauses vom 27. 1. 1863, in welcher der Altliberale und frühere Innenminister Graf Schwerin die Ausführungen Bismarcks zur Verfassungslage im Sinne eines Primats der Macht interpretierte; vgl. GW, Bd. 10,
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kritische Einstellung zur Justiz speiste sich aus vielfältigen Quellen, von denen mindestens vier unterschieden werden müssen: weltanschaulich-staatstheoretische Axiome, politisch-praktische Erwägungen, persönliche Erfahrungen sowie psychologische Motive. Seit seiner Begegnung mit dem pommerschen Pietistenkreis um Marie von Blanckenburg Mitte der 40er Jahre war Bismarcks Lebens- und Staatsverständnis religiös fundiert251. Getreu lutherischer Glaubensüberzeugung sah er im Staat eine von Gott gestiftete Daseinsordnung inmitten einer chaotischen, durch die sündige Menschennatur verderbten Welt. Der vorrangige, ja alleinige Zweck des weltlichen Regiments bestand darin, den Bürgern Frieden und Rechtsschutz zu gewähren. Mehr noch: Der Obrigkeit war die unabweisbare Pflicht auferlegt, die stets gefährdete Staatsordnung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen und aufrechtzuerhalten. In diesem Zusammenhang kam der staatlichen Strafgewalt eine überragende Bedeutung zu – sie stellte geradezu „das Herzstück des staatlichen Rechts, der Staatsgewalt“ (Kober) dar. Dieses voraufklärerische Staats- und Rechtsverständnis bildete den ideellen Hintergrund für die auffällige Disposition, sich des Strafrechts als politischer Waffe zu bedienen, sowie überhaupt die Rücksichtslosigkeit, mit der Bismarck gegen politische Gegner vorgehen konnte – ein Phänomen, das auch viele seiner Verehrer und Freunde irritierte. In seiner Staatsbezogenheit traf sich die Bismarcksche Auffassung mit der für den inneren Bestand des Kunstgebildes „Preußen“ so wichtigen borussischen Staatsräson. Ein derartiges Ethos des Strafens und, in Verbindung damit, die streng etatistische Gesinnung vermißte Bismarck beim preußischen Richterstand. Bereits 1849 monierte er die „notorische Schlaffheit unserer Gerichte“, und 1850 schrieb er – im Zusammenhang mit dem jüngst vorgelegten Entwurf des Pressegesetzes – an Hermann Wagener: „Mit dieser Bureaukratie, inklusive Richterstand, können wir eine Preßverfassung haben wie die Engel, sie hilft uns doch nicht durch den Sumpf. Mit schlechten Gesetzen und guten Beamten (Richtern) läßt sich immer noch regieren, bei schlechten Beamten aber helfen uns die besten Gesetze nichts“. Aus demselben Grund war Bismarck ein entschiedener Gegner des Schwurgerichts, dessen alleiniger Zweck darin bestünde, eine „Garantie gegen die Bestrafung politischer Verbrechen“ zu bieten252. In seiner 1870 gehaltenen Rede zur Todesstrafe, in der seine Auffassung vom Richteramt wohl am klarsten zum Ausdruck gelangt, beklagt er die „Scheu vor der Verantwortung“, die der Richter mit der „Handhabung des Richtschwertes“ übernommen habe, eine „schwächliche AbS. 152 – 157; H. Fenske, Otto von Bismarck, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte, N. F. 10 (2000), S. 85 – 119 / 157 – 195, hier S. 183 ff. (wiederabgedr. in: ders., Preußentum und Liberalismus, Dettelbach 2002, S. 447 – 504). 251 Das folgende nach Kober, S. 26 ff.; zu Bismarcks religiösen Überzeugungen Fenske, S. 87 – 91. 252 Zitate: Sten. Ber. 2. Kammer, 8. 3. 1849, S. 88; Bismarck an Wagener, 30. 6. 1850, abgedr. in: Hermann Wagener, Erlebtes, 2. Aufl., Berlin 1884, S. 56; Sten. Ber. 2. Kammer, 5. 4. 1851, S. 855.
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neigung“, die er als „kränkliche Sentimentalität der Zeit“ brandmarkt. Der allgemeine Rückgang der Verbrechen sei, so Bismarck, vor allem eine Folge „der Jahrhunderte lang streng geübten Handhabung der obrigkeitlichen Strafgewalt“253. Derselbe Vorwurf richtete sich gegen die Gesetzgebung. In der ersten Stellungnahme zur Novellierung des Strafgesetzbuchs ist zu lesen: „Es ist mir nicht bekannt, welche der verschiedenen Strafrechtstheorien bei der Redaktion des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich obgewaltet und wo man die Grenze zwischen dem rechtlich Strafbaren und dem sittlich Verwerflichen hat ziehen wollen. Aber abgesehen von allen Theorien hat meines Erachtens der friedliche Bürger den Anspruch, durch die Strafgesetzgebung mindestens mit derselben Vorsicht und demselben Eifer in seinem Leben und Eigentum geschützt zu werden, womit unsere Gesetzgebung den Verbrecher gegen jede zu große Härte in dem Strafmaße zu schützen sucht. Es scheint mir, daß in neuerer Zeit das zweite Bedürfnis zu stark auf Kosten des ersten befriedigt wird“254. Eher praktisch-politischen Erwägungen entsprang der vielfach variierte Gegensatz zwischen „politischer“ und „juristischer“ Sichtweise, stets in der Absicht, den Primat der ersteren zu unterstreichen. Leonhardt gegenüber führte er bei derselben Gelegenheit aus: „Wenn ich in der Beurteilung des in Preußen und jetzt auch in Deutschland geltenden Rechtes von Eurer Exzellenz Ansichten abweiche, so findet das seine natürliche Erklärung darin, daß ich, meiner Stellung in dem Staatsministerium und der Reichsregierung entsprechend, mehr den politischen Teil als den juristischen und mehr die praktische Wirksamkeit der Gesetze als ihren systematischen Wert ins Auge fasse“255. In Bismarcks Unmut über die Richterschaft flossen aber auch persönliche Erfahrungen. Prägende Wirkung besaßen in dieser Hinsicht die als leidvoll empfundene Zeit als Auskultator am Berliner Stadtgericht sowie die Jahre des Verfassungskonflikts256. Dabei bildeten sich zwei Einstellungen heraus, an denen er zeitlebens festhielt: der Unwille, dem richterlichen Walten eine höhere Gerechtigkeit zuzuschreiben als dem administrativen sowie das Mißtrauen gegenüber der politischen Voreingenommenheit des preußischen Richterstandes. Im Rückblick auf den Vorbereitungsdienst als Regierungsreferendar heißt es in den Erinnerungen: „Nach meinen Erfahrungen aus jener und der späteren Zeit möchte ich übrigens den Vorzug der Unparteilichkeit im Vergleiche zwischen richterlichen und administrativen Entscheidungen nicht den ersteren allein einräumen, wenigstens nicht durchgängig. Ich habe im Gegenteil den Eindruck behalten, daß Richter an den kleinen und 253 Sten. Ber. RT, 1. 3. 1870, S. 130, 129. Dabei stellte Bismarck den Zusammenhang zwischen religiöser Überzeugung und Strafgewalt explizit her: „Eine menschliche Kraft, die keine Rechtfertigung von oben in sich spürt, ist allerdings zur Führung des Richtschwerts nicht stark genug!“. Weitere Nachweise bei Bartolomäus, S. 180 f. 254 Bismarck an Leonhardt, 27. 2. 1874, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8397, Bl. 46 ff., hier Bl. 50 (jetzt auch in: NFA, III / 2, Nr. 70). 255 Ebd., Bl. 47; weitere Nachweise bei Bartolomäus, S. 179. 256 Zur Ausbildungszeit siehe die Schilderung in GW, Bd. 15, S. 9 f.
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lokalen Gerichten den starken Parteiströmungen leichter und hingebender unterliegen als Verwaltungsbeamte; und es ist auch kein psychologischer Grund dafür erfindlich, daß bei gleicher Bildung die letzteren a priori für weniger gerecht und gewissenhaft in ihren amtlichen Entscheidungen gehalten werden sollten als die ersteren“257. Verstärkt wurde Bismarcks Argwohn durch die schlechten Erfahrungen, die er in den ersten Jahren seiner Zeit als Ministerpräsident mit Beleidigungsprozessen machte, deren Urteile seiner Überzeugung nach häufig selbst eine Beleidigung darstellten. Bei verschiedener Gelegenheit kam er auf ein Erkenntnis des Kreisgerichts Stendal zurück, das in der Begründung die Schwere der Injurie zwar zugegeben, die Verurteilung des Angeklagten zur Mindeststrafe von zehn Talern aber damit motiviert habe, daß er, Bismarck, ja „wirklich ein übler Minister“ sei258. Hieraus erklärt sich seine Überzeugung, daß die Richter, nicht zuletzt zu ihrem eigenen Besten, vom passiven Wahlrecht auszuschließen seien259. Schließlich dürfen die psychologischen Faktoren nicht außer acht gelassen werden. Die Tatsache, daß sich die Justiz als einziger Sektor der Exekutive dem ministeriellen Zugriff in beträchtlichem Maße entzog, bildete für den von seiner höheren politischen Einsichtsfähigkeit überzeugten Reichskanzler eine Art dauerhafter narzißtischer Kränkung. Nur so läßt sich das eigenartige Phänomen erklären, daß sich Bismarck „satirischer Seitenhiebe“ (Bartolomäus) auf den Richterstand auch dann nicht enthalten konnte, wenn sie vom Zusammenhang her überhaupt nicht zu erwarten waren. Ferner muß die von Bismarck-Biographen immer wieder hervorgehobene agonale Persönlichkeitsstruktur des Reichsgründers berücksichtigt werden. Nipperdey bemerkt dazu: „Bismarck hatte die Tendenz, Probleme unter die Kategorie des Kampfes zu stellen. Das besaß eine dynamisierende Wirkung: Er sah mehr und mehr Konflikte, mehr und mehr die Notwendigkeit, offensiv und repressiv vorzugehen“260. Es liegt auf der Hand, daß eine derartige Disposition die Hinwendung zum Strafrecht außerordentlich begünstigte. Die genannten Faktoren erklären die tiefe Mißstimmung, die fast alle Äußerungen Bismarcks über Richterstand und Strafjustiz durchzieht. Bisweilen konnte sie sich zu boshafter Gehässigkeit steigern. Als in der bekannten Frankfurter „Friedhofsaffäre“ vom Juli 1885 – ein starkes Polizeiaufgebot hatte unprovoziert die Teilnehmer eines sozialdemokratischen Leichenzuges angegriffen, wobei zahlreiche 257 Ebd., S. 13; vgl. dazu auch die weiter unten zitierte Aktennotiz Bismarcks über Mittelstädt (B, Kap. VII). 258 GW, Bd. 15, S. 350; weiterhin die RT-Reden v. 28. 3. 1867, S. 430 f. und v. 3. 3. 1881, S. 139. 259 So in den RT-Reden v. 28. 3. 1867 und 3. 3. 1881. 260 Nipperdey, II, S. 269. Nur nebenbei sei angemerkt, daß die Metapher des Kampfes eine Leitkategorie des zeitgenössischen Wissenschafts- und Ideologiediskurses bildete, mit den bekannten Ausstrahlungen in das 20. Jahrhundert hinein: Was bei Darwin und den Sozialdarwinisten der „Kampf ums Dasein“ war, der sich bei den Rassenideologen zum Rassenkampf steigerte, wandelte sich bei Marx zum Klassenkampf und tauchte bei Freud als agonale Auseinandersetzung zwischen „Ich“ und „Es“ wieder auf.
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Personen leicht verletzt worden waren – die am stärksten belasteten Polizeibeamten vergleichsweise milde Strafen erhielten (17. 3. 1886), kommentierte Bismarck dies vier Tage später im Staatsministerium mit folgenden Worten: „Gerade so wenig, wie man im Krieg Soldaten, welche unnötige Brutalitäten begingen, dem Feind ausliefere, dürfe man Beamte, welche ihre Befugnisse überschritten hätten, den ,Richtern‘ übergeben“ – eine Analogie, so der Gewährsmann weiter, welche den Justizminister – das war damals Friedberg – sehr kränkte261. Bismarcks ethisch verankerte, in der Konsequenz stark instrumentelle Beziehung zur staatlichen Strafgewalt, die für den Wert der Unabhängigkeit und die spezifischen Empfindlichkeiten der Justiz wenig Raum ließ, prägte das Verhältnis von Politik und (politischer) Rechtsprechung bis zur Jahrhundertwende maßgeblich. Erst mit dem Ende der „langen Bismarckzeit“ (Kühne) um 1900 änderten sich die Verhältnisse spürbar.
V. Die 50er und 60er Jahre: Zusammenfassung Die Ursprünge der kaiserzeitlichen Justizkritik liegen in den zwei Jahrzehnten zwischen der Revolution von 1848 / 49 und dem Norddeutschen Bund. Als zentrale Errungenschaft der Revolution führten fast alle deutschen Staaten den „reformierten“ Strafprozeß ein, mit dem urliberalen Schwurgericht und der gouvernementalen Staatsanwaltschaft als Kontrapunkte. Im Zuge der nachrevolutionären Reaktion gelang es den meisten Regierungen, die Jury politisch zu entschärfen, indem man ihr die Zuständigkeit für politische und Preßdelikte entzog. Unter den Mittelstaaten behielten allein Bayern, Württemberg und Baden die ursprüngliche Rechtslage bei. Nicht minder harsche Kritik zog das Schwurgericht als Rechtsinstitut auf sich. Auf der anderen Seite sicherten sich die Regierungen mit der administrativ abhängigen Staatsanwaltschaft einen erheblichen Einfluß auf die Strafrechtsprechung. Unter den prozeduralen Streitpunkten erlangten der Parteiprozeß nach englischem Muster sowie die Berufungsfrage die größte Bedeutung. In den 60er Jahren erweiterte sich die Diskussion durch theoretische Neuerungen (Schwarzes Schöffenmodell) und eine rege partikularstaatliche Gesetzgebung (bayerisches StGB 1861; StPO Preußens, Sachsens und Württembergs 1867 / 1868). Beides machte die Aufgabe der Rechtsvereinheitlichung, die sich seit Gründung des Norddeutschen Bundes stellte, nicht gerade leichter. Die preußische Justiz sah sich darüber hinaus mit spezifischen Problemen konfrontiert. Mit der Neuordnung des Jahres 1849 setzte die dauerhafte Diskriminie261 Lucius v. Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen, Stuttgart 1920, S. 339 (der Verfasser war 1879 – 1890 Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten); zum Kontext: Karl Frohme, Politische Polizei und Justiz im monarchischen Deutschland, Hamburg 1926, S. 40 – 49; V. Eichler, Sozialistische Arbeiterbewegung in Frankfurt am Main 1878 – 1895, Frankfurt / M. 1983, S. 173 – 180.
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rung der Justiz gegenüber der Verwaltung ein, die als politischer Preis für die errungene konstitutionelle Unabhängigkeit angesehen werden kann. Die preußische Juristenausbildung litt an strukturellen Defiziten, Resultat einer Theorie-PraxisSpaltung, die vom JAG (1869) als ungelöste Aufgabe an die Zukunft weitergereicht wurden. Für die politische Strafjustiz markieren die Jahre des Verfassungskonflikts den entscheidenden Wendepunkt. War die Reaktionszeit noch weitgehend vom vormärzlichen Liberalismus der preußischen Richterschaft geprägt, so nutzte die Regierung Bismarck die vielfältigen Einwirkungsmöglichkeiten – das im Institut der Staatsanwaltschaft liegende Steuerungspotential, das ministerielle Besetzungsrecht sowie disziplinarische Mittel – ungleich effektiver als ihre Vorgänger. Dem erhöhten politisch-administrativen Druck gaben die Richter partiell nach. Auch wenn die Spruchpraxis uneinheitlich blieb, wandelte sich das Strafrecht – zumindest der Intention und Tendenz nach – zu einer politischen Allzweckwaffe, die vor allem gegen die liberale, polnische und sozialistische Opposition eingesetzt wurde. Dabei verwischte sich der Unterschied zwischen unter- und obergerichtlicher Judikatur, ohne allerdings völlig zu verblassen. Als Menetekel einer korrumpierten Strafjustiz blieb der Prozeß Twesten im öffentlichen Bewußtsein über Jahrzehnte hinweg lebendig. Die verstärkte Politisierung bescherte der preußischen Justiz eine handfeste Vertrauenskrise. Diese fand ihren Ausdruck in systematischer Justizkritik, die in jenen Jahren – Forum war vor allem das Abgeordnetenhaus – einen ersten Höhepunkt erreichte. Auch wenn die Vorgänge nicht vom größeren Zusammenhang des Verfassungskonflikts zu trennen sind, so reicht ihre Bedeutung doch darüber hinaus. Sie bildeten den Erfahrungshintergrund für die unmittelbar darauf einsetzenden Bemühungen um eine Vereinheitlichung des deutschen Rechts- und Justizwesens. Mehr noch: Sie stellten ein reichhaltiges Tatsachenmaterial zur Verfügung, aus dem sich Zielvorgaben und Einzelforderungen für eine grundlegende Liberalisierung des Justizsystems ableiten ließen. Die Regierungsmaßnahmen korrelierten mit strukturellen Veränderungen innerhalb der preußischen Richterschaft. Mehrere Faktoren wirkten dabei in die gleiche Richtung, weshalb die Voraussetzungen für die spätere Richterkritik ebenfalls in jenen Jahren zu suchen sind. Die Zurücksetzung der Justiz gegenüber der Administration, die alles andere als üppige finanzielle Lage der Richter sowie das Vorrecht der Verwaltung, ihren Nachwuchs aus den Reihen der Justizreferendare bzw. Gerichtsassessoren frei auswählen zu dürfen, führten dazu, daß der Justiz immer wieder tüchtige Kräfte verlorengingen. Zudem setzte ein politischer Mentalitätswandel ein, dergestalt, daß die jüngere Juristengeneration von der liberalen Tradition ihrer Vorgänger abzurücken begann. Summa summarum läßt sich mithin feststellen: Die mittleren 60er Jahre bilden die Wasserscheide zwischen der älteren, liberal geprägten Rechtsübung und der stärker konservativ-gouvernementalen Praxis der Kaiserzeit.
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B. Vom Norddeutschen Bund bis zur Reichsjustizreform Das Jahrzehnt zwischen 1867 und 1878 stand innenpolitisch im Zeichen der „liberalen Ära“, die sich – in vielem vergleichbar mit der Reformphase zu Beginn des 19. Jahrhunderts – durch eine grundlegende Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auszeichnete. Es war, wie Wehler schreibt, „eine glanzvolle Reformzeit, in der bis heute tragende Fundamente der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft und der modernen Staatsbürgergesellschaft gelegt wurden“. Via Modernisierung vollzog sich – im wesentlichen in Form der Rechtsvereinheitlichung – der Prozeß der „inneren Reichsgründung“. Eine Vielzahl von Gesetzen stellte die Rechts- und Lebensverhältnisse zunächst für den Bereich des Norddeutschen Bundes und sodann für das neugegründete Reich auf eine einheitliche Grundlage. Voraussetzung war ein „Vereinbarungsparlamentarismus“ (Pollmann), beruhend auf einer engen Kooperation zwischen der nationalliberalen Reichstagsmehrheit, Bismarck resp. dem von Rudolf Delbrück geführten Kanzleramt und dem preußischen Staatsministerium, das seit Ende 1867, beginnend mit dem Sturz Lippes, zunehmend ein liberales Gepräge aufwies262. Zu Beginn der 70er Jahre machte sich eine gegenläufige Tendenz bemerkbar. Mit Bismarcks Versuch, das Zentrum als politische Vertretung des deutschen Katholizismus auszuschalten, sowie Bebels Rechtfertigung der Pariser Kommune (Reichstagsrede vom 25. 5. 1871) setzte der Kampf gegen den Ultramontanismus bzw. die sozialistische Arbeiterbewegung ein263. Die Konfrontation mit den als „Reichsfeinde“ stigmatisierten Kräften, letztlich der Sorge um den Fortbestand des jungen, noch wenig gefestigten Reiches entspringend, ließ die innenpolitischen Spannungen rasch anwachsen. Für Preußen markierte das Frühjahr 1873 den entscheidenden Wendepunkt: Parallel zur Verabschiedung der Maigesetze, durch die der Kulturkampf in voller Schärfe entbrannte, faßte das Staatsministerium in seiner Sitzung vom 3. 4. den Beschluß, der sozialistischen Agitation ebenso wie der seit Jahren anhaltenden Streikwelle mittels Verschärfung des Presse-, Vereins- und Koalitionsrechts sowie Einschränkung der Freizügigkeit auf breiter Front entgegenzutreten264. Über verschiedene Zwischenstufen hinweg mündete der Prozeß in das 262 Vgl. Wehler, III, S. 307 – 313 (Zitat S. 311) / 866 – 868; Nipperdey, II, S. 46 – 48 / 359 – 364; Mommsen, I, S. 353 – 384; K. E. Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867 – 1870, Düsseldorf 1985; M. Stürmer, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871 – 1880, Düsseldorf 1974; M. Stolleis, „Innere Reichsgründung“ durch Rechtsvereinheitlichung 1866 – 1880, in: Chr. Starck (Hg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, Göttingen 1993, S. 15 – 41. 263 Zum ersteren Nipperdey, II, S. 369 – 374; zum letzteren ausführlich: G. Grützner, Die Pariser Kommune, Köln 1963. 264 Prot. StM, 3. 4 1873, in: GStA, Rep. 90a, B III 2b Nr. 6, Bd. 85, Bl. 140 – 144 (Teilabdr. in: M. Stürmer, Hg., Bismarck und die preußisch-deutsche Politik 1871 – 1890, München 1970, S. 63 – 65). Über die Presse- und Vereinsgesetze hatte das Staatsministerium erstmals am 16. 9. 1872 beraten.
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Sozialistengesetz von 1878265. Aufs Ganze gesehen war die innenpolitische Szenerie der 70er Jahre mithin vom Spannungsfeld zwischen „Ausbau und Konflikt“ (Nipperdey) gekennzeichnet. Ähnlich wie auf anderen Feldern stellte sich auch im engeren Bereich der Rechts- und Justizpolitik die diffizile Aufgabe, die vielgestaltigen Partikularregelungen zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufügen. Die Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht, die Organisation der Gerichte sowie das Zivil- und das Strafverfahren ging bereits im Norddeutschen Bund auf die Zentralgewalt über, so daß die legislativen Arbeiten schon vor der Reichsgründung in Angriff genommen wurden266. Ergebnis waren – nach langem und kontroversem Entscheidungsprozeß – die Reichsjustizgesetze, bestehend aus dem Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), den beiden Prozeßordnungen (StPO / ZPO), der Rechtsanwaltsordnung (RAO) und der Konkursordnung (KO), allesamt im Januar / Februar 1877 verkündet und am 1. 10. 1879 in Kraft getreten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen die politisch relevanten Aspekte, allen voran die Organisation der Strafgerichte, die Stellung und Befugnisse der Staatsanwaltschaft, der Aufbau des Strafverfahrens und die Unabhängigkeit der Richter – ihnen gilt auch im folgenden die Hauptaufmerksamkeit. Des weiteren ist ein Blick auf die Ausbildungsfrage und die Umsetzung der Justizreform in Preußen und Bayern zu werfen. Die Zivilprozeßordnung, bei ihrer Verabschiedung weitgehend unstrittig, soll hingegen erst im folgenden Teil zur Sprache kommen (Kap. I). Von den übrigen Grundlagengesetzen der „liberalen Ära“ sind zu behandeln das Reichsstrafgesetzbuch von 1870 einschließlich der StGB-Novelle von 1876 (Kap. II) sowie, als politisch brisante Materien, das Presserecht (Kap. III) und das Koalitionsrecht (Kap. IV). Leitender Gesichtspunkt ist dabei durchweg die Frage, welche Gefahren die neuen Regelungen für Stellung und Ansehen der Gerichte in sich bargen. Abgeschlossen wird dieser Komplex mit einigen zusammenfassenden Bemerkungen (Kap. V). Wie im Jahrzehnt zuvor konzentrierte sich die Kritik an der Rechtsprechung auf die politische Strafjustiz, wobei das Schwergewicht zunächst auf dem Kulturkampf, dann auf dem Vorgehen gegen die sozialistische Arbeiterbewegung lag (Kap. VI). Zum Schluß sollen einige zeitgenössische Abhandlungen, in denen sich zentrale Probleme der Justiz thematisiert finden, etwas näher betrachtet werden (Kap. VII).
265 Vgl. dazu: W. Pöls, Sozialistenfrage und Revolutionsfurcht, Lübeck 1960, S. 25 – 47; D. Fricke, Bismarcks Prätorianer, Berlin (Ost) 1962, S. 25 – 40; Stürmer, a. a. O. 266 Vgl. hierzu Landau, Reichsjustizgesetze, S. 166 f.
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I. Die Reichsjustizreform 1. Die Strafgerichte in der Fachdiskussion Unter allen Einzelproblemen, die auf dem dornenreichen Weg der Justizvereinheitlichung zur Entscheidung anstanden, besaß die Frage nach der Organisation der Strafgerichte die größte Tragweite. Angesichts der vielfältigen Konfliktlinien, die Staat und Gesellschaft des neuen Reichs durchzogen, war unschwer vorhersehbar, daß ein Großteil der politisch-sozialen Konflikte vor den Schranken der Gerichte zum Austrag kommen würde. Von daher entschied die Organisationsfrage in hohem Maße über die zukünftige Reputation der Justiz. Indessen konnte der innerjuristische Diskussionsprozeß, so sehr er sich von den legislativen Aufgaben beflügelt zeigte, noch keine praktisch verwertbaren Ergebnisse vorweisen. Verschiedene Grundmodelle, jeweils vertreten von prominenten Autoren, standen sich unversöhnlich gegenüber, was immerhin den Vorteil mit sich brachte, daß die konkurrierenden Positionen in scharfer Konturierung hervortraten267. Zu Beginn der 70er Jahre wies der Aufbau der Strafgerichte in den deutschen Staaten folgende Struktur auf: Bis auf die beiden Großherzogtümer Mecklenburg hatten alle größeren Länder Schwurgerichte zur Aburteilung der schwersten Straftaten eingeführt. Die Gerichte mittlerer Ordnung waren zumeist mit Berufsrichtern besetzt – Ausnahmen bildeten Sachsen, Württemberg und Hamburg, wo Schöffen mitentschieden. Die leichten Straffälle waren entweder reinen Juristengerichten oder kleinen Schöffengerichten zugewiesen268. Für das reine Beamtengericht, bestehend aus rechtsgelehrten Richtern, plädierte Karl Binding269. Binding behandelt das Problem als reine Rechtsfrage, sei es imgrunde doch undenkbar, daß die Politik eine vom Recht abweichende Lösung favorisieren könne. Nur die Parteien, allen voran der Liberalismus, habe aus der Rechts- eine Parteifrage gemacht. Unter der Voraussetzung, daß die Beamtenrichter wirkliche Kenner des Rechts und in jeder Hinsicht unabhängige Männer seien, bringt Binding der deutschen Richterschaft ein ungebrochenes Vertrauen entgegen: „Die Machtfülle eines solchen richterlichen Kollegiums hat für mich nicht wie für Glaser [österreichischer Justizminister] etwas Erschreckendes, sondern im Gegen267 Summarische Überblicke bei Binding (Anm. 269), S. 13 sowie bei Schubert, GV, S. 222 f. 268 Detailliert hierzu: H. A. Fecht, Die Gerichts-Verfassungen der deutschen Staaten, Erlangen 1868; knapper Überblick bei Binding (Anm. 269), S. 6. 269 Karl Binding, Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts, Leipzig 1876. Unter Karl Binding (1841 – 1920), der von 1873 – 1913 in Leipzig lehrte, erlangte die juristische Fakultät hohe Reputation und konkurrierte mit Berlin um die Führung in Deutschland. Am herkömmlichen Sühnegedanken der Strafe festhaltend, wurde er zum Haupt der „klassischen“ Strafrechtsschule in ihrer Auseinandersetzung mit der modernen, soziologisch orientierten Richtung um Franz v. Liszt. Binding, dessen Denken positivistisch-konstruktiv geprägt war, verfaßte bedeutende Handbücher zu Strafrecht und Strafprozeß; zu Binding: D. Westphalen, Karl Binding (1841 – 1920), Frankfurt / M. 1989.
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teil etwas Beruhigendes und zugleich Imponierendes“. Da Binding seine Position – in richtiger Einschätzung der Meinungsverhältnisse – nicht für mehrheitsfähig hält, optiert er notgedrungen für den ersten GVG-Entwurf mit seiner durchgängigen Schöffenverfassung. Auf die Dauer sollten die Schöffen aber ebenso aus den Gerichten verschwinden wie jetzt bereits die Geschworenen. Obwohl das Schwurgericht in seinen Augen „auf der niedersten Stufe prozessualischer Organisation“ steht, macht Binding, um die widerstreitenden Forderungen nach Rechtseinheit und Volkstümlichkeit zu versöhnen, den beachtenswerten, politisch durchaus klugen Vorschlag, den Bundesstaaten die Wahl zwischen Schwur- und Schöffengericht als dem Gericht oberster Ordnung freizustellen270. Den Gegenpol bildete das Schwurgericht, das in Hermann Seuffert, Gneist, John und Rudolf Heinze seine mächtigsten Wortführer fand. Seuffert, der gleichsam die bayerische Sicht der Dinge vertrat, trennt scharf zwischen der juristisch-technischen und der rechtspolitischen Seite der Frage, mit Priorität der letzteren271. In erstgenannter Hinsicht plädiert er für eine grundlegende Umgestaltung aller Verfahrensabschnitte nach englischem Muster sowie eine Reform der Fragestellung. In der Jury, die „den deutschen Nationalsinn und die deutsche Rechtsanschauung“ verkörpere, sieht er die Grundform der gesamten Gerichtsverfassung, von daher dürfe sie nicht auf die schwersten Straftaten beschränkt bleiben. Rechtspolitisch sprächen vor allem drei Gründe für das Schwur- und gegen das Schöffengericht: Nur die Jury böte die Gewähr für eine wirklich volkstümliche Rechtsprechung. Nur sie könne Vertrauen erwecken, und zwar infolge des Gewaltenteilungsprinzips: „Die Strafgewalt greift so einschneidend in das Leben der Bürger ein, daß es gefährlich erscheinen muß, sie ganz und ungeteilt in dieselben Hände zu legen. Wie in wohlgeordneten Staaten die Staatsgewalt ein Gesetz nicht eher zur Befolgung verkünden darf, als bis ihr Vorschlag die Billigung der Volksvertretung gefunden hat: So soll die Staatsgewalt auch keine Strafe verhängen und vollziehen, als bis ihr die Gemeinde – vertreten durch die Geschworenen – den Angeklagten als einen Schuldigen übergeben hat“272. Schließlich könne nur die Jury den Sinn für das Recht im Volk stärken. Wie unschwer zu erkennen, wurzelte Seufferts Argumentation tief in der Ideenwelt des klassischen Liberalismus – stellenweise meint man geradezu den alten Montesquieu herauszuhören. Im Gegensatz zu manch anderem blieb Seuffert zeitlebens ein warmherziger Verfechter des Schwurgerichtsgedankens. Gneist legt das Schwergewicht auf die rechtliche Begründung, ohne die politische Seite aus dem Blick zu verlieren273. Rechtlich spräche gegen das SchöffenBinding, S. 77, 85. Hermann Seuffert, Über Schwurgerichte und Schöffengerichte, München 1873. Hermann Seuffert (1836 – 1902), Sohn des bekannten bayerischen Juristen und Publizisten Johann Adam Seuffert (1794 – 1857), bekleidete, nach Habilitation in München und verschiedenen Zwischenstationen, seit 1890 den Lehrstuhl für Strafrecht in Bonn. Als einer der bedeutendsten Strafrechtler seiner Zeit setzte er sich insbesondere für die bedingte Verurteilung und den Besserungsgedanken im Sinne der modernen Strafrechtsschule ein. 272 Seuffert, S. 65, 73. 270 271
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gericht in erster Linie die informelle und geheime Entscheidungsfindung, wodurch die Rechtssicherheit zur Makulatur werde. Um die beiden Bestandteile des Schwurgerichts organisch zusammenzuführen, erachtet er eine verbindliche Rechtsbelehrung des Vorsitzenden nach angloamerikanischem Muster für unabdingbar. Aus politischer Sicht ist das Schöffengericht für Gneist indiskutabel: „Der politische Standpunkt fragt vor allem: Wie soll sich ein solches Gericht in dieser Gestalt bewähren in Zeiten politischer Leidenschaft, als ein Rechtsschutz gegen die Verfolgungssucht mächtiger Parteien und Gewalthaber?“274. John rügte vor allem den innerlich unwahren Charakter des Schöffengerichts, das sich als Volksgericht gerieren, realiter aber dem Berufsrichter den entscheidenden Einfluß zugestehen würde275. Rudolf Heinze schließlich empörte sich über die Geringschätzung, die in dem neuen Begriff „Laie“ liege, und entwarf ein detailliertes Konzept für ein reformiertes Schwurgericht (repräsentative Zusammensetzung sowie Verkleinerung der Geschworenenbank, Einschränkung des Ablehnungsrechts, beratende Mitwirkung eines Richters bei der Entscheidung über die Schuldfrage, desgleichen der Geschworenen bei der Strafabmessung)276. Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich das Schöffengericht, als dessen wärmste Fürsprecher Schwarze, Mittelstädt und Zachariae auftraten277. Schwarze, der nicht müde wurde, auf die positiven Erfahrungen zu rekurrieren, die man in Sachsen mit dem neuen Gericht gemacht habe, argumentierte insofern nicht ungeschickt, als er die politische Dimension der Frage in der rechtlichen aufgehen ließ und damit gleichsam zum Verschwinden brachte: „Die politische Macht und Bedeutung einer Rechtsanstalt ist die einfache Konsequenz einer dem Postulate der Gerechtigkeit entsprechenden Organisation“278. Ausführlich setzt er sich mit dem Vorwurf der Marginalisierung der Laien auseinander, wobei er den Spieß umkehrt: Nur in der unbeschränkten, gleichzeitig aber strukturierten Diskussion, durch die sich die schöffengerichtliche Beratung auszeichnen würde, sei eine adäquate Berücksichtigung der Laien möglich. Gleichwohl ist kaum zu übersehen, daß das von 273 Rudolf Gneist, Vier Fragen zur Deutschen Strafproceßordnung, Berlin 1874, S. 142 – 185. Gneists Werk war als Denkschrift vom preußischen Justizministerium in Auftrag gegeben worden. 274 Ebd., S. 184. 275 Richard E. John, Ueber Geschwornengerichte [sic] und Schöffengerichte, Berlin 1872, S. 43 ff. Johns Schrift war eine Replik auf die unten (Anm. 277) zitierte Abhandlung von Otto Mittelstädt im „Neuen Reich“; eine Duplik Mittelstädts findet sich ebd. 2 / 1 (1872), S. 660 – 664. 276 R. Heinze, Strafprocessuale Erörterungen, Stuttgart 1875, S. 59 – 112. Rudolf Heinze (1825 – 1896), bedeutender Strafrechtler liberaler Provenienz, lehrte seit 1865 als Professor für Strafrecht, Strafprozeß und Rechtsphilosophie an der Universität Leipzig; 1873 folgte er einem Ruf nach Heidelberg. 277 Fr. O. Schwarze, Das Schöffengericht, Leipzig 1873; Otto Mittelstädt, Ueber Schwurund Schöffengerichte, in: Im neuen Reich 1 / 2 (1871), S. 656 – 663; H. A. Zachariae, Das moderne Schöffengericht, Berlin 1872. 278 Schwarze, S. 2.
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Schwarze gezeichnete Bild idealisierende Züge trägt, was seine Überzeugungskraft erheblich abgeschwächt haben dürfte. Für Zachariae, ursprünglich Anhänger des Schwurgerichts, hebt das Schöffengericht den alten Gegensatz zwischen Juristengericht und Volksgericht auf. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der skizzierten Positionen, die allesamt in die spätere Strafgerichtsordnung des Reiches eingingen, dürften deutlich geworden sein: Binding, Seuffert und Schwarze stimmten darin überein, daß der Bildung der Strafgerichte ein einheitliches Prinzip zugrundeliegen müsse, was föderale oder organisatorische Abweichungen keineswegs ausschloß. In verfassungstheoretischen Kategorien gefaßt, vertrat Binding die monistische, Seuffert die gewaltenteilige, Schwarze die gewaltenvermischte Variante. Die Unterschiede resultierten aus den politisch-staatsrechtlichen Prämissen sowie der Beurteilung des richterlichen Personals. Während Binding eine Außenseiterposition vertrat, war die Alternative reformiertes Schwurgericht oder allgemeines Schöffengericht noch nicht spruchreif. Die Mehrzahl der Autoren, die sich zu der Frage äußerten, dürfte eine Jury auf verbesserter Grundlage favorisiert haben. Ähnlich zwiespältig fielen die Beschlüsse der organisierten Juristenschaft aus. Während der 9. Deutsche Juristentag (Stuttgart 1871) das Schöffengericht für geringe und mittelschwere Straftaten empfahl, sprach sich der im folgenden Jahr in Frankfurt / M. stattfindende Kongreß mit großer Mehrheit für die Beibehaltung der Jury als Gericht oberster Ordnung aus279. Die Wortmeldungen lassen erkennen, daß die Sympathie für das Schwurgericht nach wie vor politisch motiviert war und sich aus altliberaler Staatsskepsis speiste. Hermann Becker, Oberappellationsgerichtsrat in Oldenburg und später Mitglied der Reichsjustizkommission (NL), bekannte: „Es kommt ein anderer Grund hinzu, und der ist für mich der allerentscheidendste. Wenn ich vielleicht kein Schwurgericht hätte und dann vielleicht aus juristischen Gründen die Schöffengerichte jetzt einführen würde, so hat ein historisches Moment in Deutschland unfehlbar auch früher zur Einführung der Schwurgerichte mitgewirkt. Das ist ein berechtigtes Mißtrauen des Volkes gegen das richterliche Element, hervorgerufen durch Versuche von seiten der Staatsregierungen, das richterliche Element zu beeinflussen, namentlich in politischen Prozessen. (Sehr richtig). Ehe es nicht in Deutschland zur vollständigen Unmöglichkeit geworden ist, daß jemals eine Staatsregierung nur den Versuch einer solchen Einschüchterung macht, und ehe nicht das ganze Volk das glaubt, eher stimme ich nicht für Aufhebung der Schwurgerichte zugunsten einer anderen Einrichtung (Stürmischer Beifall)“280. Wie der Gesetzgebungsprozeß belegt, besaß das Schwurgericht seinen stärksten Rückhalt in den süddeutschen Staaten und in der öffentlichen Meinung, die in den 70er Jahren noch eindeutiger als später liberal eingestellt war281. Vgl. Verh. d. 10. DJT, Bd. 2, Berlin 1872, S. 143 – 176, 311 f.; Seuffert, S. 24 f. Verh., S. 167. Zum besseren Verständnis sei angemerkt, daß politische Straftaten in Oldenburg vor das Schwurgericht kamen. 279 280
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Schien der Frankfurter Beschluß auch eine eindeutige Sprache zu sprechen, so sind doch gewisse Zweifel angebracht. Folgt man Schwarze und Mittelstädt, so spiegelte das Votum nicht die wirkliche Stimmungslage wider. Glaubwürdig versichern beide, daß viele Richter nur öffentliche Lippenbekenntnisse zugunsten der Jury abgeben würden, privat aber ganz anderer Meinung seien282. Psychologisch gesehen spricht einiges dafür: Immerhin mußten die Richter einen langen Ausbildungsweg (Studium, Vorbereitungsdienst) durchlaufen, dem sich in der Regel noch eine mehrjährige Beschäftigung als Assessor anschloß, ehe sie selbständig Recht sprechen durften, so daß es einer narzißtischen Kränkung gleichkam, wenn man ihnen gerade bei den schwersten Fällen rechtsunkundige Laien „vor die Nase setzte“. Die Jury symbolisierte halt – siehe das obige Zitat von Becker – das Mißtrauen gegen die Berufsrichterschaft. Ferner darf der Beschluß nicht als Plädoyer für die politische Zuständigkeit des Schwurgerichts verstanden werden. Hiermit taten sich die Juristen schwer. Unter den genannten Autoren spricht sich lediglich John für die politische Kompetenz aus, da die Jury ihre Geburtsfehler seit langem überwunden habe und zu einem anerkannten Organ der Rechtspflege herangereift sei283. Hingegen klammert selbst ein so entschiedener Verfechter des Schwurgerichts wie Seuffert die Frage explizit aus284. Gneist wendet sich ausdrücklich gegen eine Ausnahmeregelung für die Presse, und zwar mit dem Argument, dies würde in den Geschworenen den irrigen Glauben erzeugen, „sie wären der souveräne Herr des Falles für das politisch interessante Sondergebiet“285. Otto Mittelstädt verweist zwar auf das „lange Sündenregister politischer Judikatur der preußischen Gerichtshöfe“ während des Verfassungskonflikts, lehnt eine Pressekompetenz der Jury aus übergeordneten Gründen, die der Bismarckschen Auffassung sehr nahekommen, aber gleichwohl ab: „Solange das Reich noch von so losem Gefüge, der Staatsgedanke, das Staatsbewußtsein in unserem Volke noch so fragwürdige Gestalt zeigt, bleibt es ein Wagnis von allerbedenklichster Tragweite, den Schutz der Obrigkeit und ihrer Organe, den Schutz der Minderheit gegen die Mehrheit, die Aufrechthaltung des öffentlichen Friedens gegen die Leidenschaften einer undisziplinierten Tagespresse schrankenlos den unberechenbaren Strömungen politischer Geschworenenkonventikel preiszugeben“286. Hier wogen staatspolitische Bedenken – sonst stets zweitrangig für 281 In gewohnt pointierter Diktion sprach Mittelstädt in diesem Zusammenhang von „der Gedankenlosigkeit und dem Terrorismus unserer öffentlichen Meinung“ (Schwur- und Schöffengerichte, S. 663). 282 Vgl. Schwarze, S. 6 f.; Mittelstädt, S. 661 f.; ähnlich C. v. Bülow, Die Reform unserer Strafrechtspflege, Berlin 1893, S. 40 f. 283 John, S. 18 ff. 284 Vgl. Seuffert, S. 27. 285 Gneist, Sten. Ber. AH, 22. 11. 1876, S. 276; ähnlich JK, 19. 5. 1876, in: Hahn (Anm. 288), I / 1, S. 793. 286 Otto Mittelstädt, Die Competenz der Geschworenengerichte für Preßvergehen, in: PJ 38 (1876), S. 436 – 450, Zitate S. 442, 443.
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Mittelstädt – schwerer als die Sorge um die Integrität der Gerichte. Die mit Fragen des Pressestrafrechts betraute Abteilung des Frankfurter Juristentages einigte sich darauf, Pressedelikte „nach den allgemeinen strafrechtlichen und strafprozessualischen Grundsätzen zu beurteilen“, der zuständige Referent betonte jedoch ausdrücklich, daß die Kompetenzfrage damit nicht präjudiziert sei. Das Plenum wollte in eine Diskussion des heiklen Problems erst gar nicht eintreten287.
2. Grundprobleme und Resultate der Gesetzgebung (Gerichtsverfassung und Strafprozeß) Im folgenden soll es nicht darum gehen, den verwickelten und komplexen Entscheidungsprozeß, der zur Verabschiedung der Reichsjustizgesetze führte, en détail nachzuzeichnen. Ebensowenig sollen die legislativen Ergebnisse in ihrer Gesamtheit ausgebreitet werden. Die Aufgabe, die sich hier stellt, ist zugleich enger und weiter: Die Untersuchung beschränkt sich auf diejenigen Aspekte, die in der justizkritischen Diskussion seit 1848 / 49 im Vordergrund standen, also: Aufbau und Kompetenzen der Kriminalgerichte erster Instanz, Stellung und Befugnisse der Staatsanwaltschaft, Aufbau des Strafverfahrens, Unabhängigkeit der Richter. Dies geschieht unter der leitenden Perspektive, welche Bedeutung die Reichsjustizgesetze für das zukünftige Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Justiz, genauer gesagt: für das öffentliche Ansehen der Gerichte, besaßen. Im Zusammenhang damit ist der Frage nachzugehen, inwieweit die gefundenen Lösungen als adäquate Antwort auf die politische Instrumentalisierung der Strafjustiz, wie sie namentlich in Preußen stattgefunden hatte, anzusehen sind. Dabei wird sich zeigen, daß der Entscheidungsprozeß maßgeblich von zwei gegenläufigen Tendenzen bestimmt wurde: außerjuristischen, insbesondere ordnungs-, macht- und parteipolitischen Erwägungen einerseits, juristisch-technischen Prinzipien andererseits288.
a) Aufbau und Kompetenzen der Strafgerichte 1. Die ersten Entwürfe zum Gerichtsverfassungsgesetz und zur Strafprozeßordnung, die im preußischen Justizministerium gefertigt wurden, kennzeichnet das Bemühen, einen Kompromiß zwischen unitarischen und liberalen Forderungen zu finden. Ein vom späteren Justizminister Friedberg ausgearbeiteter StPO-Entwurf Verh. d. 10. DJT, Bd. 2, S. 284 f. / 294 – 297 / 300 f. Quellen: C. Hahn (Hg.), Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, I, 1 / 2: Gerichtsverfassungs-Gesetz; III, 1 / 2: Strafprozeßordnung, Berlin 1879 / 80; Schubert, GV, S. 259 – 1026; W. Schubert / J. Regge (Hg.), Entstehung und Quellen der Strafprozeßordnung von 1877, Frankfurt / M. 1989; zur Haltung der Fortschrittspartei: Eugen Richter, Im alten Reichstag, Bd. 1, Berlin 1894, S. 150 f. / 160 – 162; Literatur: Schubert, GV, S. 22 – 257; Landau, Reichsjustizgesetze; Kern, S. 86 – 126; H. Müller, Die Entstehungsgeschichte des Gerichtsverfassungs-Gesetzes, Tübingen 1939. 287 288
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für den Norddeutschen Bund (November 1870) ging erstmals vom Prinzip allgemeiner Laienbeteiligung aus und sah Schwurgerichte sowie große und kleine Schöffengerichte vor289. Innerministerielle Beratungen, die im einzelnen nicht mehr rekonstruierbar sind, führten zur Beseitigung des Schwurgerichts und zum Konzept einer durchgängigen Schöffenverfassung. Dieser „kühne Gedanke“ (Leonhardt) lag dem ersten GVG-Entwurf zugrunde, der aus der Feder des Vortragenden Rats Franz Foerster stammte (September 1872)290. Sieht man einmal vom Sonderfall Württemberg ab, so war dem Prinzip der Laienbeteiligung damit in höherem Maße Rechnung getragen als in jeder partikularen Strafgerichtsordnung. Im übrigen kam die Konzeption den Absichten Leonhardts entgegen, der die Richterzahl vermindern und die Berufung abschaffen wollte. Gemäß der Bundesratsvorlage zum GVG (November 1873) sollten am Amtsgericht kleine Schöffengerichte (1 Richter, 2 Schöffen), am Landgericht mittlere (3 Richter, 4 Schöffen) sowie große Schöffengerichte (3 Richter, 6 Schöffen) gebildet werden291. Eine offizielle Denkschrift, die zeitgleich mit der Bundesratsvorlage zur StPO (Januar 1873) der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, bekannte sich uneingeschränkt zu der Grundidee, „daß kein Strafurteil ohne die Mitwirkung von Laien gefällt werden kann“292. Daß sich das Schöffenmodell dennoch nicht durchsetzen konnte, lag in zwei Faktoren begründet, die sich in ihrer Wirkung wechselseitig verstärkten: der Popularität des Schwurgerichts in Süddeutschland und der Verschärfung der innenpolitischen Spannungen im Reich. Bereits bei der Konferenz der Justizminister der größeren Bundesstaaten (Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden), die im Dezember 1872 in Berlin stattfand, sprachen sich Bayern und Württemberg für den Erhalt des Geschworeneninstituts aus. Während die Einführung der Schöffen bei den Amtsgerichten allgemeine Zustimmung fand, ließen Bayern und Württemberg die Frage offen, ob auch die mittleren Strafgerichte mit Laien besetzt werden sollten, wohl in erster Linie mit Blick auf mögliche Kompensationsgeschäfte293. Im Laufe des Jahres 1873 verfestigten sich die Positionen zunehmend: Nach Bekanntwerden des preußischen Entwurfs fanden in Bayern und Württemberg eindrucksvolle Sympathiekundgebungen zugunsten des Schwurgerichts statt, die Züge 289 Entwurf einer Strafprozeß-Ordnung für den Norddeutschen Bund, §§ 228, 265, 272 (Schubert / Regge, S. 48 – 110). 290 Das Zitat stammt aus der Sitzung des StM v. 20. 10. 1871, in der Leonhardt um Zustimmung für sein Konzept warb (Schubert, S. 337); zum Foersterschen Entwurf Schubert, S. 63 f. 291 Entwurf eines Gesetzes über die Verfassung der Gerichte im Deutschen Reich für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen, §§ 38, 39 (Schubert, S. 541 – 573). 292 Denkschrift über die Schöffengerichte, Berlin 1873; die wichtigsten Passagen auch in: GA 21 (1873), S. 40 – 56, hier S. 42. 293 Vgl. Prot. d. Konferenz der Justizminister v. 16. 12. 1872 (Schubert, S. 406 – 408). Zum Einfluß Bayerns auf die Reichsjustizgesetzgebung, namentlich in Person von Justizminister Fäustle, auch Staatsminister, II, S. 847 – 851. Johann Nepomuk v. Fäustle (1828 – 1887) war vom 23. 8. 1871 bis zum 17. 4. 1887 bayerischer Justizminister (Staatsminister, II, S. 815 – 897).
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einer regelrechten Volksbewegung annahmen. Die württembergische Abgeordnetenkammer forderte schon im Januar 1873 mit großer Mehrheit den Fortbestand des Geschworenengerichts, ihr bayerisches Pendant folgte ein Jahr später nach294. Zur gleichen Zeit geriet die Frage in den Sog der innenpolitischen Konflikte, die im Staatsministerialbeschluß vom 3. 4. 1873 sowie den Maigesetzen ihren Niederschlag fanden. In diesem Zusammenhang ließ die preußische Regierung die Foerstersche Konzeption definitiv fallen, um ein politisch zuverlässiges Gericht – und dies konnte nur heißen: ein aus Berufsrichtern bestehendes Mittelgericht – als Faustpfand in der Hand zu behalten. Im März 1874 begründete Leonhardt den Kurswechsel im Staatsministerium mit der „Rücksicht auf die Bedenken, welche sich aus der jetzigen Bewegung auf kirchlichem und sozialem Gebiete gegen die Einführung der Schöffengerichte ergeben“295. Den weiteren Argumenten, in den östlichen Provinzen fehle es, sollte es beim Schwurgericht bleiben, an einer ausreichenden Zahl geeigneter Schöffen und die Bürger seien durch die neue Kreisverordnung (1872) ohnehin schon stark in Anspruch genommen, kann hingegen kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden. Sie ließen sich nicht gänzlich von der Hand weisen, dienten in erster Linie aber doch als Schutzbehauptungen. Nach dieser Kehrtwende waren die Bedingungen für eine Verständigung nach dem Prinzip do ut des geschaffen. Die Entscheidung über die künftige Gestalt der Strafgerichte fiel faktisch bereits am 27. 2. 1874 im Justizausschuß des Bundesrats296. Württemberg hatte einen ausführlich motivierten Antrag auf allgemeine Laienbeteiligung gestellt, wobei die Gerichte unterer und mittlerer Ordnung Schöffengerichte, diejenigen höchster Ordnung Geschworenengerichte sein sollten. Dem Schöffengericht wurde im Antrag entgegengehalten, man könne „in der ganzen Begründung des neuen Projekts das Bestreben finden, das Laienelement unter dem Scheine voller Gleichberechtigung zum unschädlichen Gehilfen des prävalierenden Staatsrichters herabzudrücken“ – eine erstaunliche Formulierung für einen Bundesstaat, der sich als Vorkämpfer des Instituts verstand297. Als sich Leonhardt mit Schwurgericht und kleinem Schöffengericht einverstanden erklärte, für die mittleren Gerichte aber Strafkammern mit rechtsgelehrten Richtern ins Spiel brachte, 294 Verh. Württ. KdA, 30. 1. 1873, S. 3759 (mit 62:17 Stimmen); Verh. Bayer. KdA, 13. 1. 1874, S. 189 – 198 (nahezu einstimmig). Zudem entwickelte sich eine regelrechte Petitionsbewegung; vgl. Sten. Ber. RT 1873, Bd. 4 (Anl.), Anhang, 13. Petitionsverzeichnis, S. 76 f.; Landau, S. 177 f. 295 Prot. StM, 4. 3. 1874 (Schubert, S. 612 f.). Quellenmäßig wird der Kurswechsel erstmals faßbar, als Leonhardt in seinem Gesamtvotum zu den Gesetzentwürfen vom 9. 1. 1874 davon spricht, es müsse vermieden werden, „daß die Interessen einer festen und kräftigen Strafrechtspflege nicht dem politischen Parteiwesen zum Opfer fallen“ (Schubert / Regge, S. 363); vgl. auch seine Stellungnahme in JK, 8. 11. 1875 (Hahn, I / 1, S. 433 – 435). 296 Der Justizausschuß des Bundesrats bestand aus den sieben festen Mitgliedern Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Hessen, Lübeck und Braunschweig; Stellvertreter waren Baden und Schwarzburg-Rudolstadt. 297 JA, 27. 2. 1874 und Antrag Württembergs zum StPO-Entwurf (Schubert, S. 621 – 629, Zitat S. 624).
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ergriffen die Vertreter der beiden süddeutschen Königreiche unverzüglich die ausgestreckte Hand und stimmten ohne weitere Diskussion zu. Gegen die Einigung votierte lediglich Sachsen. Daß man nicht gewillt war, von dem gefundenen Kompromiß noch einmal abzurücken, zeigte sich im Juni des Jahres, als Sachsen, um seine mittleren Schöffengerichte zu retten, den württembergischen Antrag im Plenum des Bundesrats de facto erneuerte. Die Vertreter der beiden süddeutschen Königreiche erklärten sich zwar theoretisch mit der Begründung des Antrags einverstanden, lehnten ihn aber unter Hinweis auf die preußische Haltung ab298. Zu Beginn des Jahres 1876 kam die Laienfrage noch einmal auf die Tagesordnung, als die Justizkommission des Reichstags in erster Lesung beschloß, „große Schöffengerichte“ (2 Richter, 3 Schöffen) als Mittelgerichte einzuführen. Die Behauptung, es fehle an ausreichendem Schöffenmaterial, wurde von verschiedener Seite in Zweifel gezogen. Peter Reichensperger, justizpolitischer Sprecher des Zentrums, brachte die Zumutung, die der Entwurf darstellte, mit der Bemerkung auf den Punkt, dessen Annahme „hieße nach momentanen Regierungsinteressen Instanzen schaffen“299. Im Gegenzug bediente sich Leonhardt eines Hilfsmittels, dessen gute Dienste selten versagten, wenn es galt, sich gegen unerwünschte Ansprüche autoritative Rückendeckung zu verschaffen: Er forderte die Präsidenten der Appellationsgerichte und die Oberstaatsanwälte zu einer gutachtlichen Stellungnahme auf. Gerade die obersten Justizbeamten kannten die Anschauungen ihres jeweiligen Chefs nur allzu gut und begriffen eine derartige Aufforderung stets als willkommene Gelegenheit, dem Minister ihre Reverenz zu erweisen. Gegen das Prozedere ließ sich fernerhin einwenden, daß das Votum einer Handvoll von Behördenleitern nur begrenzte Aussagekraft besaß. Auch in diesem Fall wurde der Ressortchef nicht enttäuscht: Von den je 27 Gerichtspräsidenten und Oberstaatsanwälten sprachen sich 24 bzw. 21 gegen den Kommissionsbeschluß aus, wobei rechtliche, praktische und politische Gründe geltend gemacht wurden. Am schwersten wogen letztere: Bedenke man, „wie endlich ganz besonders die bestehende Staatsordnung und vielfach der Staatsgedanke selbst durch sozialistische und ultramontane Parteibestrebungen angefeindet werde und wie die im Deutschen Reiche befindlichen fremden Nationalitäten, die polnische und französische, sich nur widerwillig unter das deutsche Joch, wie sie sagten, beugten, so ließe sich die Befürchtung gar nicht unterdrücken, daß die großen Schöffengerichte in ausgedehnten Teilen des Deutschen Reichs eine Garantie für eine dem Rechte gemäße Rechtsprechung in der Tat nicht gewähren würden. [ . . . ] Der Oberstaatsanwalt zu Münster bemerkt geradezu, daß die sogenannten Maigesetze bei Einführung der Schöffengerichte im Bezirke des ehemaligen Bistums Münster nur noch ein Blatt Papier würden“300. Vgl. Antrag Sachsens und BR-Sitzung v. 16. 6. 1874 (Schubert, S. 770 – 772, 781 f.). JK, 12. 1. 1876 (Hahn, I / 1, S. 561 – 569, Zitat S. 568); der entsprechende Antrag Becker / Schwarze wurde mit 18:6 Stimmen angenommen. Zur Zusammensetzung der Justizkommission siehe die Zusammenfassung unter e). 298 299
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Aus denselben Gründen lehnte die bayerische Regierung den Vorschlag der Justizkommission ab. Zwar wurde der Kulturkampf in Bayern wesentlich milder ausgetragen, im harten Vorgehen gegen die Sozialdemokratie stand man Preußen aber kaum nach. Um sich argumentativ zu wappnen, forderte auch Justizminister Fäustle die Appellationsgerichte und Oberstaatsanwälte zu einer Meinungsäußerung auf301. Von den 13 abgegebenen Gutachten sprachen sich 12 gegen die „großen Schöffengerichte“ aus. Als Begründung wurde darauf verwiesen, daß die Strafrechtspflege in Bayern das Vertrauen der Bevölkerung besäße, so daß weder in juristischen noch in bürgerlichen Kreisen ein Verlangen nach volkstümlicherer Besetzung der Gerichte aufgetreten sei. Zudem fehle es am erforderlichen Laienmaterial, und schon der Geschworenendienst werde häufig als Last empfunden. Den breitesten Raum nahmen politische Bedenken ein: Es sei ein Fehlschluß zu glauben, das Laienurteil zeichne sich durch Unbefangenheit und Freiheit aus, die Berufsrichter könnten leicht überstimmt werden, und angesichts der „politischen und konfessionellen Kämpfe der Gegenwart“ bestünde die Gefahr, daß ein und dieselbe Tat ganz gegenteilig beurteilt werde. Die Folge sei, daß „die Rechtsprechung in ein Schwanken und in eine Unsicherheit geraten würde, welche mit den bedenklichsten Folgen für das Ansehen der Gerichte, für die öffentliche Sicherheit und das Staatswohl notwendig verbunden wäre“302. Die Parallelität zwischen den preußischen und den bayerischen Äußerungen ist frappierend. Die Argumente sind so gut wie identisch, und auch die Motivlage ist erkennbar dieselbe. Hier wie dort waren die Vorbehalte gegenüber den Laienrichtern in erheblichem Maße von juristischen Standesinteressen diktiert – wenigstens in den Strafkammern, dem Mittelpunkt der künftigen Strafrechtspflege, wollten die gelehrten Richter unter sich bleiben. Nachdem Preußen und Bayern im Justizausschuß ihre ablehnende Haltung bekundet hatten, hielten auch Württemberg und Baden ihre Anträge auf „große Schöffengerichte“ nicht weiter aufrecht, so daß in der Schlußabstimmung lediglich Sachsen und Lübeck für die Gerichtsform votierten303. Ebenso wurde der sächsische Antrag auf fakultative Einführung nur vom Vertreter der Hansestädte unterstützt. Offenkundig fürchtete man gerade jene Entwicklung, für die Krüger, der 300 Zusammenfassung der in den Gutachten enthaltenen Gründe und Bedenken vom März 1876 (Schubert, S. 813 – 827; Zitate S. 825, 826); knappe Übersicht auch in JMBl, S. 49 – 52. Einen Monat später erklärte Leonhardt im JA: „In einer Zeit, wo kirchenpolitische und sozialistische Agitationen die Bevölkerung stark erregt haben, könne Preußen die Aburteilung der Vergehen wider den Staat und die Rechtsordnung nicht einer Majorität von Schöffen überlassen. Ebenso würde deren Einführung in Elsaß-Lothringen schlechterdings unmöglich sein“ (Bericht des Hanseatischen Bevollmächtigten Krüger über die Sitzung v. 3. 4. 1876; Schubert, S. 866). 301 Entschl. v. 4. und 8. 2. 1876; die Antworten sind zusammengestellt in: HStA, MJu 14031. 302 Ebd., S. 22. 303 Vgl. JA, 3. 4. 1876, die Anträge Sachsens, Württembergs und Badens sowie den Bericht von Krüger (Schubert, S. 834 f., 849 – 858, 866 – 868).
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hanseatische Vertreter, warb: „Es sei um der zukünftigen Rechtsentwicklung willen sogar in hohem Grade wünschenswert, daß der Versuch freigelassen werde, jene Gerichte in Deutschland einzubürgern“304. Angesichts der relativ geschlossenen Bundesratsfront lenkte die Justizkommission ein und stimmte in zweiter Lesung den Strafkammern nolens volens zu305. In der Folgezeit wurde der heikle Fragenkomplex nicht noch einmal aufgegriffen. Daß die ursprüngliche Absicht, die Strafgerichtsverfassung auf dem Prinzip allgemeiner Laienbeteiligung aufzubauen, sich nicht verwirklichen ließ, lag weniger, wie von rechtshistorischer Seite meist behauptet wird, an der süddeutschen Vorliebe für das Schwurgericht306. Wäre dies der Fall gewesen, so hätte sich als Ausweg immerhin angeboten, den Bundesstaaten die Entscheidung über das Gericht oberster Ordnung freizustellen – ein Gedanke, der sich aus den Beschlüssen des Juristentags ergab und prominente Fürsprecher besaß307. Angesichts der bekannten Konzessionsbereitschaft Bismarcks süddeutschen Sonderwünschen gegenüber wäre die Idee nicht von vornherein chancenlos gewesen. Daß sie nicht einmal in Erwägung gezogen wurde, verweist darauf, daß die Ursache in anderer Richtung gesucht werden muß. Ausschlaggebend war der innenpolitisch bedingte Wille Preußens, ein reines Beamtengericht zu konservieren, coûte que coûte. Es ist davon auszugehen, daß Preußen in jedem Fall eine Kehrtwendung vollzogen hätte, die südlich des Mains herrschende Neigung erleichterte lediglich deren Durchsetzung. Zufrieden mit der Rettung des Geschworenengerichts, waren die süddeutschen Staaten zunächst zur Aufopferung des Laienprinzips bereit, um dann ihrerseits – dies gilt zumindest für Bayern – zum Verteidiger des Juristengerichts zu werden. Im Ergebnis blieb von den ursprünglichen Intentionen, die Gerichtsorganisation auf eine einheitliche Grundlage zu stellen und zugleich zu liberalisieren, nicht mehr viel übrig. 2. Auch bei der Auswahl der Schöffen und Geschworenen gelang lediglich eine Teilliberalisierung. Unter Abschaffung des alten Vermögens- und Bildungszensus erklärte das GVG grundsätzlich jeden männlichen Deutschen über 30 Jahre für berechtigt, das Schöffen- oder Geschworenenamt auszuüben – eine Regelung, die faktisch durch das Reichstagswahlrecht präjudiziert war308. Bestimmte Personenkreise wurden als unfähig, untauglich oder unabkömmlich (Minister, Religionsdiener, Volksschullehrer, aktive Militärpersonen) oder aufgrund ihrer Amtsstellung (politische Beamte, Richter, Staatsanwälte) ausgeschlossen (§ 85 GVG). Ferner besaßen gewisse Berufs- und Personengruppen ein Ablehnungsrecht, namentlich Ebd., S. 867. Vgl. JK, 13. 5. 1876 (Hahn, I / 1, S. 722 – 742); die „großen Schöffengerichte“ wurden mit 17:11 Stimmen abgelehnt. 306 So Landau, S. 178; auch Schubert veranschlagt die nicht-justiziellen Gründe viel zu gering (vgl. ebd., S. 50, 226 f.). 307 Vgl. Binding, S. 80 f. 308 Zum folgenden Kern, Gerichtsverfassungsrecht, S. 109 – 117. 304 305
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dann, wenn die Tätigkeit mit unzumutbaren Belastungen verbunden war (§ 35 GVG). Da bis 1913 nur Reisekosten, nicht aber Tagegelder erstattet wurden, führte dies faktisch zum Ausschluß der wirtschaftlich schwächeren Bevölkerungskreise. Die Beschränkung auf die besitzenden Schichten verstärkte sich durch das Auswahlverfahren, dem ein Kompromiß zwischen Staats- und Selbstverwaltungsprinzip zugrundelag. Zentrales Wahlorgan war der Vertrauensausschuß, der aus dem aufsichtsführenden Amtsrichter, einem hohen Verwaltungsbeamten und sieben Vertrauensmännern bestand. Letztere wurden von den kommunalen Vertretungskörperschaften bestimmt, die in weiten Teilen des Reiches auf beschränkten und ungleichen Wahlen beruhten309. Die Verteilung der Schöffen auf die einzelnen Sitzungen erfolgte durch das Los. Außerdem schlug der Vertrauensausschuß eine Anzahl von Geschworenen vor (Vorschlagsliste), aus denen mittels eines komplizierten Verfahrens (Jahresliste – Spruchliste – Ablehnungsrecht der Parteien) die für jede Hauptverhandlung gesondert zu bildende Geschworenenbank hervorging. Namentlich für Preußen bedeuteten die Bestimmungen eine (begrenzte) soziale Öffnung und verminderten Staatseinfluß. Insgesamt jedoch sicherten sie ein hohes Maß an sozialer Exklusivität, an dem später der Vorwurf der Klassenjustiz ansetzen sollte310. 3. Eng mit der Organisationsfrage verknüpft war das Problem der politischen Zuständigkeit des Schwurgerichts, wie zu erwarten einer der brisantesten Streitpunkte überhaupt. Zunächst einmal gilt es zu konstatieren, daß sich die Auseinandersetzung weitgehend auf Pressevergehen beschränkte. Eine gewisse Rolle spielte zudem die Behandlung von Staatsverbrechen. Anträge auf Laienbeteiligung bei vereins- und versammlungsrechtlichen oder gar kirchen- oder streikrechtlichen Delikten wurden, soweit ersichtlich, von keiner Seite gestellt, in der Hauptsache wohl wegen fehlender Erfolgsaussichten. Nachdem die Durchbrechung des Laienprinzips dazu geführt hatte, daß Pressedelikte den Strafkammern zufielen, zeigten sich die süddeutschen Staaten und die Reichstagsmehrheit fest entschlossen, den Geschworenen die Zuständigkeit für Pressevergehen zu übertragen. In der Folge wurden die Vorstöße Bayerns bzw. des Reichstags regelmäßig von Preußen bzw. dem Bundesrat zurückgewiesen. Infolgedessen gelangte der Gegenstand auf die Liste der 18 Punkte, die der Bundesrat am 12. 12. 1876 für unannehmbar erklärte311. Bayern, Württemberg und Baden be309 In Preußen wurden die Vertrauensmänner in den Landkreisen durch den Kreistag, in den Städten durch die Stadtverordnetenversammlung gewählt (Preuß. Ausführungsgesetz zum GVG, § 35). Das Wahlrecht zum Kreistag war auch nach der Kreisordnung von 1872 noch halbständisch, in den Städten galt das Dreiklassenwahlrecht. 310 Überblick über die Änderungen in Organisation und Verfahren des Schwurgerichts gegenüber den früheren Partikulargesetzen bei Hadding, S. 50 ff. 311 Siehe: JA, 24. 4. 1874 (Schubert, S. 636); JK, 14. 1. 1876 (Hahn, I / 1, S. 589 – 591); JA, 4. 4. 1876 (Schubert, S. 838); JK, 19. 5. 1876 (Hahn, I / 1, S. 792 – 794; Annahme mit 21:7 Stimmen); JA, 20. 10. 1876 und Bericht Krügers (Schubert, S. 906, 915); Sten. Ber. RT, 21. 11. 1876 (Hahn, I / 2, S. 1254 – 1306; Annahme mit 212:105 Stimmen); Prot. StM, 6. 12.
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gründeten ihr abweichendes Votum damit, daß „die Schwurgerichtsurteile in Preßsachen eher zur Stärkung als zur Schwächung der Regierung beigetragen hätten“. Demgegenüber verwies Bismarck auf die innenpolitischen Konfliktherde: „Durch das Überwiegen ultramontaner Elemente in dem einen, radikaler Elemente in dem anderen Verkehrszentrum werde, wenn man dem Schwurgerichte alle Preßdelikte überwiese, die Rechtseinheit gefährdet“312. Erst der Schlußkompromiß – zwischen dem 14. und 16. 12. 1876 in geheimen Verhandlungen zwischen Leonhardt (in enger Absprache mit Bismarck) und den Führern der Nationalliberalen (Bennigsen, Miquel, Lasker) ausgehandelt – führte, unter Durchbrechung des Einheitsprinzips, eine Einigung herbei. Danach sollte die Regelung in denjenigen Ländern, in denen sie per Landesgesetz bestand, erhalten bleiben (Bayern, Württemberg, Baden, Oldenburg). Dem Kompromiß stimmte der Reichstag in dritter Lesung mit 198 gegen 146 Stimmen zu313. Schon bald sollte sich die Einschätzung Fäustles bewahrheiten, der die bayerische Haltung u. a. damit begründet hatte, „die Regierung habe den Vorteil, daß sie dem Vorwurf der Tendenzprozesse entgehe, der sonst schwer vermieden werde“314. Das schwurgerichtliche Zuständigkeitsproblem betraf auch die Behandlung von Staatsverbrechen. Nach § 107 Abs. 1 der Reichstagsvorlage zum GVG sollte das Reichsgericht als erste und letzte Instanz für Fälle von Hoch- und Landesverrat gegen Kaiser und Reich zuständig sein. In der Justizkommission wurde seitens des Fortschritts der Antrag eingebracht, die entsprechenden Sachen einem am Reichsgericht zu bildenden Reichsschwurgericht zu übertragen. Die detaillierten Pläne sahen vor, die Geschworenen aus den Mitgliedern des Reichstags, eventuell auch aus der Vorschlagsliste eines ausgewählten Landgerichtsbezirks auszulosen. Da erhebliche Bedenken gegen die Auswahlmodi bestanden, wurde der Antrag gegen sechs Stimmen abgelehnt315. In der zweiten Plenardebatte des Reichstags kam das Problem nochmals zur Sprache. Vertreter des Zentrums (Windthorst) und des Fortschritts (Eberty, Hänel) traten erneut für das Schwurgericht als adäquates Forum für Hoch- und Landesverratsprozesse ein. Als abschreckendes Beispiel verwiesen sie auf den – noch zu behandelnden – Arnim-Prozeß, der im Vorjahr vor dem preußischen Staatsgerichtshof stattgefunden hatte. Entsprechende Änderungsanträge wurden, da ohne Aussicht auf Erfolg, zurückgezogen316. 4. Bis zum Schluß umstritten blieben auch die beiden Presseregelungen, die im Rahmen der Strafprozeßordnung zur Entscheidung anstanden: der Gerichtsstand 1876 (Schubert, S. 930); BR-Sitzung und Schreiben des RK an d. RT-Präs. v. 12. 12. 1876 (Schubert, S. 958; Hahn, I / 2, S. 1479). 312 Bericht von Krüger über die BR-Sitzung v. 12. 12. 1876 (Schubert, S. 961). 313 Anträge Miquel u. Gen. v. 16. 12. 1876 zu § 5a des EG zum GVG (Hahn, I / 2, S. 1482); RT-Sitzung v. 19. 12. 1876 (ebd., S. 1577 – 1594). 314 Bericht von Krüger über die JA-Sitzung v. 4. 4. 1876 (Schubert, S. 869). 315 JK, 22. 5. 1876 (Hahn, I / 1, S. 826 – 830). 316 Sten. Ber. RT, 23. 11. 1876 (Hahn, I / 2, S. 1333 – 1341).
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bei Pressedelikten und das Zeugnisverweigerungsrecht der Beteiligten. Während der Reichstag den Gerichtsstand bei Pressevergehen auf den Erscheinungsort der Druckschrift beschränken wollte, hielten Bundesrat und Preußisches Staatsministerium an der Auffassung fest, daß die strafbare Handlung an jedem Ort erfolgen könne, wohin diese im Zuge ihrer Verbreitung gelange. Ebenso wurde ein von der Justizkommission neu aufgenommener Artikel, wonach Verlegern, Redakteuren und Druckern das Zeugnisverweigerungsrecht zustehen sollte, wiederholt von der Ländervertretung verworfen. Erneut war es Bismarck, der sich entschieden gegen jegliches „Privilegium“ der Presse aussprach und darauf insistierte, daß der strafrechtliche Spielraum gegenüber dem gedruckten Wort ohne Abstriche erhalten bliebe. In den abschließenden Kompromißverhandlungen gaben die Nationalliberalen beide Regelungen preis317. Der sog. „ambulante“ oder „fliegende“ Gerichtsstand der Presse, der die Anklageerhebung ortsunabhängig machte (§ 7 StPO), und die Zeugnispflicht des verantwortlichen Redakteurs, die im Falle der Nichterfüllung Haftstrafe nach sich ziehen konnte (Zeugniszwangshaft), belasteten das Verhältnis zwischen Presse und Gerichten über Jahrzehnte hinweg erheblich. b) Die Staatsanwaltschaft Wie an den Resolutionen des Juristentags ablesbar, hatte sich die fachinterne Diskussion über die Staatsanwaltschaft zu konkreten Reformvorschlägen verdichtet. Dabei standen sich zwei Modelle gegenüber, die, obwohl keineswegs unvereinbar, doch auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt waren. Das radikalere Konzept setzte beim staatsrechtlichen Verhältnis des öffentlichen Anklägers zur Regierung an, das moderatere bei den administrativen Befugnissen der Anklagebehörde. Der weitere Entscheidungsprozeß wurde dadurch präjudiziert, daß eine Verschiebung vom ersten zum zweiten Modell eintrat. Den Ausgangspunkt bezeichnete das bereits erwähnte Votum des 5. Juristentags (Braunschweig 1864), der sich ausführlich mit der Stellung des Anklagevertreters beschäftigte. Unter dem Eindruck der preußischen Verhältnisse lehnten die Versammelten ein ministerielles Weisungsrecht ab und plädierten dafür, die Staatsanwaltschaft den Anklagesenaten der höheren Gerichte zu unterstellen. Zudem sollte den Staatsanwälten richterliche Unversetzbarkeit gewährt werden. Ein Jahrzehnt später sprach sich der 12. Juristentag (Nürnberg 1875), dem die Frage der staatsanwaltschaftlichen Befugnisse zur Abstimmung vorlag, für ein konkurrierendes Anklagerecht in Form der allgemeinen subsidiären Privatklage (Popularklage) aus. Im Falle einer Ablehnung der Strafverfolgung seitens der Staatsanwaltschaft sollte jeder volljährige, im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte befindliche Deutsche berechtigt sein, die Gerichte anzurufen318. 317 Anträge Miquel u. Gen. v. 16. 12. 1876 zu § 7 Abs. 2 und § 54 StPO (Hahn, I / 2, S. 1483); vgl. Schubert / Regge, S. 28 ff. 318 Vgl. Carsten, S. 56 f.
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Hauptvertreter dieses Modells war Rudolf Gneist. Gneist sah in der Strafverfolgung im wesentlichen eine Polizeifunktion, weshalb der abhängige Behördencharakter der Staatsanwaltschaft erhalten bleiben müsse. Um ihre Schlagkraft zu erhöhen, schlug er vor, sie außer dem Justizminister auch dem Innenminister zu unterstellen. Da andererseits aber auch die Gefahr einer parteiischen Strafverfolgung, wie in Preußen geschehen, zu bannen sei, bliebe als Ausweg nur die Einführung eines konkurrierenden Anklagerechts319. Demgegenüber hielt Mittelstädt in seiner Besprechung der Gneistschen Schrift an der weiterreichenden Konzeption fest. Die Einführung der Privatklage sei zwar kein Unglück, aus den preußischen Erfahrungen folge aber „mit innerster Notwendigkeit nur ein Postulat: die Strafverfolgung und die strafverfolgenden Staatsorgane müssen der willkürlichen ministeriellen Verfügungsgewalt, persönlich und sachlich, unbedingt entzogen werden!“. Es gehe darum, „durch Gewährung richterlicher Unabhängigkeit die Staatsanwaltschaft in die Rechtsordnung der Justiz“, aus der sie herausgefallen sei, „wieder einzurenken“320. Die thematische Verschiebung bestimmte auch den Gesetzgebungsprozeß. Dies zeigte sich am Verhalten des Reichstags, der die Kardinalfrage, ob die Staatsanwaltschaft als abhängiges Verwaltungsorgan oder unabhängiges Justizorgan einzurichten sei, überhaupt nicht ernsthaft debattierte321. Somit verzichteten die Abgeordneten von vornherein auf jeden Versuch, das Institut grundlegend umzugestalten. Zwei Ursachen dürften den Ausschlag gegeben haben: zum einen die Überlegung, daß die Regierungen ein so effizientes Steuerungsinstrument, wie es die Staatsanwaltschaft darstellte, ohnehin nicht aus der Hand geben würden, zum anderen die Tatsache, daß auch die liberale Reichstagsmehrheit angesichts der unsicheren innenpolitischen Verhältnisse nicht gewillt war, die Strafverfolgung gleichsam sich selbst zu überlassen. Damit hatte die Gneistsche Linie den Sieg davongetragen. Die Linksliberalen, bislang entschiedene Gegner des Instituts (zumindest in seiner preußischen Form), führten für ihre Entscheidung prozessuale Gründe ins Feld, deren Überzeugungskraft allerdings begrenzt war: Eine größere Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft, so Albert Hänel, kollidiere mit der übergeordneten Zielsetzung, die Parteirollen im Strafverfahren möglichst scharf hervortreten zu lassen322. Somit blieb es Windthorst überlassen, auf die grundsätzliche Problematik – mit Blick auf den Kulturkampf – aufmerksam zu machen: „Wenn ich sehe, wie in einem großen deutschen Staate [Preußen] die Staatsanwälte geradezu gehetzt werden zu Verfolgungen, wenn man liest, wie man ihnen InstrukVgl. Gneist, Vier Fragen, S. 54 ff. Otto Mittelstädt, Die deutsche Staatsanwaltschaft, in: PJ 34 (1874), S. 19 – 33, hier S. 27 / 28. 321 Zu den RT-Beratungen: Carsten, S. 57 – 71; H. Ortloff, Der Kampf um die staats- und processrechtliche Stellung der Staatsanwaltschaft im deutschen Reichstage 1876, in: Grünhut’s Zeitschrift 23 (1896), S. 1 – 30. 322 Vgl. Hänel, Sten. Ber. RT, 23. 11. 1876 (Hahn, I / 2, S. 1350 f.); zu Hänel: S. Graf Vitzthum, Albert Hänel 1833 – 1918, Freiburg 1971. 319 320
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tionen von oben herab erteilt zur Verfolgung von kaum definierbaren Verbrechen, dann, das muß ich gestehen, haben wir volle Ursache, uns zu fragen, ob wir eine Institution in dem Prozeß forterhalten wollen, wie die jetzige Vorlage sie gibt. Die Stellung der Staatsanwälte in dem gegenwärtigen Prozeß ist mit der Freiheit absolut unvereinbar“323. Das Vermeiden der Prinzipienfrage hatte zur Folge, daß bei den GVG-Beratungen nur sekundäre Verbesserungen ins Auge gefaßt wurden. Der Foerstersche Entwurf sah vor, die Staatsanwälte aus der Richterschaft zu entnehmen und ihr Amt aufgrund eines dauerhafen, aber jederzeit widerruflichen Auftrages ausüben zu lassen. Nach Widerruf des Auftrages sollten sie in den richterlichen Dienst zurückkehren324. Zur Begründung hieß es in den Motiven, die preußische Einrichtung, „daß junge Beamte alsbald nach Ablegung der letzten Prüfung in der Eigenschaft von Staatsanwaltsgehilfen in die Staatsanwaltschaft eintreten und in der letzteren sodann dauernd verbleiben“, habe sich nicht bewährt325. Während sich der Vorschlag auf der Justizministerkonferenz vom Dezember 1872 gegen die Stimmen Bayerns und Sachsens noch knapp behaupten konnte, wurden die entsprechenden Paragraphen vom Bundesrat gestrichen. Rekrutierung und Stellung der Staatsanwaltschaft blieben somit landesrechtlicher Regelung vorbehalten326. In der Justizkommission des Reichstags fand ein gleichlautender Antrag in erster Lesung nochmals eine knappe Mehrheit, nachdem der Bundesratsausschuß ihn mehrheitlich abgelehnt hatte, wurde er in zweiter Lesung fallengelassen327. Noch größere Kompromißbereitschaft legte der Reichstag in der Frage der Weisungsgebundenheit an den Tag. Schon der Foerstersche Entwurf hielt an der herkömmlichen Regelung fest, und auch unter den Justizministern herrschte in dieser Hinsicht völliges Einverständnis328. Ebenso wurde in der Justizkommission „die Notwendigkeit einer unbedingten Befolgung dienstlicher Anweisungen“ allseitig anerkannt. Lediglich ein von Reichensperger eingebrachter Antrag, den Staatsanwalt zumindest nach Abschluß der Beweisaufnahme in seinen Ausführungen und Anträgen von etwaigen Anweisungen freizustellen, wurde angenommen (RT323 Windthorst, Sten. Ber. RT, 24. 11. 1874 (Hahn, I / 1, S. 225); ähnlich in der Sitzung v. 23. 11. 1876 (Hahn, I / 2, S. 1348 f.); zu Windthorst: M. L. Anderson, Windthorst, Oxford 1981 (dtsch. 1988). 324 Entwurf eines Gesetzes über die Verfassung und Einrichtung der Gerichte im Deutschen Reich, § 139 (Schubert, S. 357 f.). Eine derartige Regelung bestand in Württemberg, Braunschweig und Oldenburg. 325 Zit. nach Schubert, S. 127. 326 Abgesehen von Württemberg behielten die Einzelstaaten ihre Regelungen bei; Überblick bei Carsten, S. 73. 327 Prot. d. Konferenz der Justizminister v. 16. 12. 1872 (Schubert, S. 410 f.); JA, 25. 4. 1874 (Schubert, S. 638); JK, 19. 1. 1876 (Hahn, I / 1, S. 637 – 642); JA, 4. 4. 1876 und Bericht von Krüger (Schubert, S. 839, 870); JK, 22. 5. 1876 (Hahn, I / 1, S. 817 – 819). 328 Entwurf eines Gesetzes über die Verfassung und Einrichtung der Gerichte im Deutschen Reich, §§ 134, 135 (Schubert, S. 357); Prot. d. Konferenz der Justizminister v. 16. 12. 1872 (ebd., S. 411).
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Vorlage § 118 Abs. 3). Nach zweimaliger Ablehnung durch den Bundesratsausschuß beharrte die Justizkommission nicht weiter auf dem Beschluß. Auch im Plenum fand Reichensperger keine Mehrheit für seinen Antrag329. Die eigentliche Auseinandersetzung fand somit unterhalb der staatsrechtlichen Ebene statt. Sie betraf den Umfang des staatsanwaltschaftlichen Anklagerechts und erfolgte im Rahmen der Beratungen zur Strafprozeßordnung. Im Kern ging es um die sog. „negative Strafjustiz“, also um Vorkehrungen gegen die Verweigerung des Rechtsweges. Einig waren sich die verbündeten Regierungen in der Grundentscheidung, das Reichsstrafverfahren als Anklageprozeß mit öffentlichem Ankläger einzurichten. Auch diejenigen Staaten (Bayern, Württemberg, Sachsen und Hessen), in denen die Gerichte bislang noch von Amts wegen einschreiten konnten, widersetzten sich der vollen Durchsetzung des Anklageprozesses nicht. Damit stieg das preußische Modell, das den Gedanken bisher am reinsten realisiert hatte, zum allgemeinen Vorbild auf. Auch hier darf man vermuten, daß die politische Attraktivität der Anklagebehörde eine größere Rolle spielte als die theoretische Modernität des Anklageverfahrens, auf die zur Begründung gerne verwiesen wurde. Umso stärker rückten nunmehr Begrenzung und Kontrolle des Anklagerechts in den Blickpunkt. Die Reichstagsvorlage zur StPO verlieh der Staatsanwaltschaft das Anklagemonopol und schrieb das Legalitätsprinzip vor, also die Verpflichtung, alle zu ihrer Kenntnis gelangten strafbaren Handlungen zu verfolgen, sofern zureichende Verdachtsmomente vorlagen (§ 134)330. Zwei Einschränkungen waren vorgesehen, die indes nicht sonderlich ins Gewicht fielen: zum einen das Recht des Verletzten, bei der vorgesetzten Behörde (Oberstaatsanwaltschaft) Beschwerde einzulegen, falls der zuständige Staatsanwalt ein Einschreiten ablehnen sollte (sog. Klageerzwingungsverfahren, § 146), zum anderen die Privatklage des Verletzten, bezogen auf den kleinen Kreis der Antragsdelikte, und zwar die prinzipale Privatklage (selbständige Anklage ohne vorherige Anrufung des Staatsanwalts) bei Beleidigungen und leichten Körperverletzungen (§ 356), die subsidiäre bei allen übrigen Antragsvergehen (§ 335). Der Reichstagsmehrheit griffen diese Bestimmungen erheblich zu kurz. Die weitere Debatte wurde von zwei Modellen beherrscht, die denselben Grundgedanken verfolgten, aber unterschiedliche Wege beschritten. Gneist warb für seinen Vorschlag eines alternativen Anklagerechts in Form der subsidiären Popularklage. Das Gegenkonzept setzte beim Beschwerderecht an und wollte dieses zu einem veritablen Gegengewicht ausbauen. Danach sollte die Beschwerde nicht nur dem Verletzten, sondern jedem Staatsbürger (dem sog. Antragsteller) zustehen, und im Falle einer Ablehnung durch die vorgesetzte Behörde sollte das Oberlandesgericht 329 Bericht d. JK (Hahn, I / 2, S. 964 f.; dort auch das Zitat); JA, 4. 4. 1876 und Bericht von Krüger (Schubert, S. 839, 870); JA, 20. 10. 1876 (Schubert, S. 907); JK, 10. 10. 1876 (Hahn, I / 2, S. 1050); Sten. Ber. RT, 23. 11. 1876 (ebd., S. 1341 – 1351). 330 Zum letztgenannten Punkt: H. Marquardt, Die Entwicklung des Legalitätsprinzips, Mannheim 1982.
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letztinstanzlich über die Sache entscheiden. Damit hätten die Gerichte das Kontrollrecht über die staatsanwaltschaftliche Klagebefugnis erhalten. Diese Konzeption, für die sich die linksliberalen Vertreter und der Nationalliberale Wolffson, Rechtsanwalt aus Hamburg, stark machten, konnte sich in der Justizkommission durchsetzen, vor allem deshalb, weil die Popularklage eine Reihe von Kautelen erforderlich gemacht hätte, um der Gefahr des Denunziantentums vorzubeugen. Zugleich wurde die subsidiäre Privatklage der Vorlage verworfen, die prinzipale hingegen angenommen331. Im weiteren Diskussionsverlauf blieb das Beschwerdekonzept, das noch einzelne Modifikationen erfuhr, zwischen Bundesrat und Parlament umstritten, so daß es sich schließlich auf der Liste der unannehmbaren Punkte wiederfand. Namentlich Preußen drang darauf, nicht über die ursprünglichen Bestimmungen hinauszugehen. Im Justizausschuß blieb der preußische Standpunkt mehrfach in der Minderheit, durchsetzen konnte er sich erst im Plenum des Bundesrats. Die Mehrzahl der Mittelstaaten (vor allem Württemberg und Hessen, aber auch Bayern) war nicht gewillt, der Staatsanwaltschaft weit größere Befugnisse als bisher einzuräumen. Darüber hinaus bestand die Sorge, der Reichstag könne auf die Popularklage zurückgreifen, was als völlig inakzeptabel galt332. In Anbetracht der Lage empfahl auch Leonhardt, der eine Vermischung von rechtsprechender und verfolgender Tätigkeit an sich ablehnte, dem Reichstag entgegenzukommen333. Damit stieß er auf den entschiedenen Widerspruch Bismarcks, dessen kompromißlose Haltung sich in Staatsministerium und Bundesrat durchsetzte. Bismarck reduzierte das Problem auf seinen politischen Gehalt: Durch ein Beschwerderecht an das Gericht werde „der kalumniatorischen Verfolgung der Beamten, namentlich der höchsten Staatsbeamten, aus Parteifanatismus oder politischer Chikane Tür und Tor geöffnet und den Gegnern der Regierung eine Angriffswaffe bei Parteikämpfen gegeben“334. Im 331 JK, 30. 6. 1875 (Hahn, III / 1, S. 728 – 734) sowie die ausführliche Erörterung des Komplexes in den Sitzungen v. 18. – 22. 9. 1875 (ebd., S. 1065 – 1105). In der 2. Lesung wurde der Gneistsche Antrag mit 14:11 Stimmen erneut abgelehnt (JK, 21. 6. 1876; Hahn, III / 2, S. 1415 f.). Weiterhin: JK, 12. 11. 1876 (ebd., S. 1630 – 1632); Sten. Ber. RT, 30. 11. 1876 (ebd., S. 1839 – 1862). 332 Vgl. JA, 6. 4. 1876 (Schubert / Regge, S. 467); JA, 21. 10. 1876 und Bericht von Krüger (ebd., S. 623, 634 f.); BR, 31. 10. 1876 und Bericht von Krüger (ebd., S. 637 f.); JA, 9. 12. 1876 und Bericht von Krüger (ebd., S. 658 – 661); BR, 12. 12. 1876 und Bericht von Krüger (ebd., S. 662 – 665). 333 Vgl. das ausführliche Votum Leonhardts zu den §§ 148 bis 148c des StPO-Entwurfs vom 20. 11. 1876 (Schubert / Regge, S. 650 – 657). 334 So Bismarck, Prot. StM, 6. 12. 1876 (Schubert / Regge, S. 649). In der entscheidenden BR-Sitzung führte er aus: „Die Besorgnis liege nahe, daß der Rekurs an den Richter in dem aufgeregten Parteileben als ein erweitertes Verleumdungsmittel benutzt werde. [ . . . ] Die ohnehin nicht große Neigung, Minister zu werden, dürfe durch den Mißbrauch nicht erschwert werden, der mit jenen Mitteln getrieben werden könne. Die Schwierigkeit des konstitutionellen Systems liege darin, Männer zu finden, welche die starken Nerven hätten, alle erdenklichen persönlichen Angriffe auszuhalten. Durch solche Reibungen würden die meisten matt und müde“ (Bericht von Krüger über die Sitzung v. 12. 12. 1876; Schubert / Regge, S. 664 f.).
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Schlußkompromiß gelang es Leonhardt, das Beschwerderecht auf den Verletzten zu begrenzen335. Obwohl der Begriff des „Verletzten“ in seiner Reichweite umstritten blieb, war das Problem aus Sicht der preußischen Regierung damit entschärft. Mit Recht betonte Eysoldt, Rechtsanwalt aus Pirna und Mitglied der Justizkommission (Fortschritt), in der abschließenden Reichstagsdebatte, daß die ursprüngliche Absicht, einer parteiischen Handhabung des Anklagerechts vorzubeugen, nicht eingelöst worden sei. Als Kronzeugen berief er sich pikanterweise auf Gneist, der seinerseits – als Vertreter der Nationalliberalen – die Kompromißlösung verteidigte336. Eysoldt zitierte eine Stelle aus Gneists „Vier Fragen“: „Da wo die Gefahr der ministeriellen Parteiregierung praktisch anfängt, hört eben die Privatklage des Beschädigten auf. Oder bin ich etwa ,Beschädigter oder Verletzter‘, wenn der Staatsanwalt die bestehenden Preß- und Vereinsgesetze in offenkundiger Parteilichkeit auf seine Parteifreunde nicht anwendet? Bin ich ein Beschädigter, wenn der Einschätzungsbeamte mich nach dem Gesetze voll einschätzt, die politischen Freunde aber nur zur Hälfte? Bin ich Geschädigter, wenn die Polizeigesetze gegen mich zur Anwendung gebracht, gegen die Wohlgesinnten im Orte nicht angewendet werden?“337. Bismarck ging der Kompromiß hingegen schon zu weit: „Die Beschränkung des Klagerechts auf ,den Verletzten‘ werde wenig nutzen, weil man z. B. durch die Maigesetze sehr viele Verletzte erhalten habe“338. Geradezu paradigmatisch wird an dem Beispiel sichtbar, in welchem Maße die juristischen Begriffe politisch aufgeladen waren. Das herrschende Mißtrauen gegenüber der Anklagebehörde dokumentierte sich auch noch in anderer Hinsicht. Als (relativer) Schutz gegen eine ungleiche Anklagepraxis stieß die Einführung des Legalitätsprinzips auf wenig Widerstand. Ferner konnte sich der Reichstag mit seiner Forderung durchsetzen, die staatsanwaltschaftlichen Befugnisse im Vorverfahren zu begrenzen, die richterlichen hingegen auszuweiten. Dies betraf vor allem die Untersuchungshaft: Im Rahmen seiner Ermittlungstätigkeit durfte der Staatsanwalt bei Übertretungen höchstens vierzehn Tage, bei Vergehen und Verbrechen höchstens vier Wochen Untersuchungshaft verhängen. Kam es innerhalb der genannten Fristen nicht zur Erhebung der öffentlichen Klage, so mußte gerichtliche Voruntersuchung beantragt werden (§ 126 StPO)339. Zweifellos verfolgte die Vorschrift den Zweck, die Untersuchungshaft abzukürzen und die betreffenden Sachen so rasch wie möglich in die Hände des Anträge Miquel u. Gen. v. 16. 12. 1876 zu § 171 StPO (Hahn, III / 2, S. 1995). Vgl. Gneist, Sten. Ber. RT, 18. 12. 1876 (Hahn, I / 2, S. 1536 f.). 337 Eysoldt, ebd., 20. 12. 1876 (Hahn, III / 2, S. 2078). Windthorst prophezeite, der Begriff „Verletzter“ werde juristisch auf ein Minimum zusammenschrumpfen (Hahn, I / 2, S. 1531). 338 Bericht von Krüger über die BR-Sitzung v. 12. 12. 1876 (Schubert / Regge, S. 664). 339 Weiterhin bestimmte das Gesetz, daß U-Haft nur verhängt werden durfte, wenn dringende Verdachtsgründe vorlagen und Flucht- oder Kollusionsgefahr (Verdunkelungsgefahr, Zeugenbeeinflussung etc.) bestand (§ 112 StPO). Erlittene U-Haft konnte ganz oder teilweise auf die erkannte Strafe angerechnet werden (§ 60 StGB). 335 336
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ordentlichen Richters gelangen zu lassen. Allerdings war der Untersuchungsrichter an keinerlei Fristen gebunden, und das Gesetz schrieb auch nicht vor, innerhalb welchen Zeitraums der Staatsanwalt, an den die Initiative nach abgeschlossener Voruntersuchung zurückging, die Anklageschrift einzureichen hatte, so daß die Haftdauer nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens völlig im Ermessen der mit der Sache betrauten Beamten lag. Eine ähnliche, gegen die Anklagebehörde gerichtete Tendenz wiesen die lange umstrittenen Beschlagnahme- und Durchsuchungsrechte der Staatsanwaltschaft auf340. Ungeachtet dessen fiel das Ergebnis einigermaßen paradox aus: Anstatt das preußische Modell, das zuvor im Brennpunkt der Kritik gestanden hatte, in zentralen Punkten umzugestalten, wurde es grosso modo auf das Reich übertragen. Die Staatsanwaltschaft blieb nicht nur eine bürokratisch organisierte, weisungsabhängige Behörde, sondern wurde darüber hinaus mit einem nur unwesentlich eingeschränkten Anklagemonopol ausgestattet. Gemessen daran besaßen die Einschränkungen der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit lediglich sekundäre Bedeutung. c) Aspekte des Strafverfahrens 1. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um den Aufbau des Strafverfahrens stand das Berufungsproblem. Es war insofern eng mit der Laienfrage verknüpft, als beide Aspekte für die Außenwirkung der Justiz von zentraler Bedeutung waren: Der Umfang der Laienbeteiligung und die Einrichtung einer zweiten Tatsacheninstanz bestimmten maßgeblich den Grad an Vertrauen, das dem Strafverfolgungssystem seitens der nichtjuristischen Öffentlichkeit entgegengebracht wurde, oder, kürzer gesagt, den öffentlichen „Ruf“ desselben. Dabei schlossen sich beide Elemente streng genommen aus oder standen zumindest in einem Spannungsverhältnis zueinander. Das vertrauensbildende Potential war in dem Augenblick zerstört, in dem ein unter Mitwirkung von Laien zustandegekommenes Urteil der Nachprüfung durch ein rein berufsrichterliches Kontrollorgan unterlag. Aus diesem Grunde galten Schwurgerichtsurteile seit altersher als inappellabel, und es war nur folgerichtig, daß Sachsen und Württemberg bei Einführung der mittleren Schöffengerichte (1868) die Berufung abgeschafft hatten. In der Fachwelt hatte sich mehr und mehr die Überzeugung durchgesetzt, daß eine zweite Tatsacheninstanz mit einem auf Mündlichkeit und Unmittelbarkeit beruhenden Strafverfahren unvereinbar sei. Diejenigen Staaten, in denen die Appellation beseitigt worden war, zeigten sich in einer im Juli 1870 vom preußischen Justizministerium durchgeführten Umfrage mit den Ergebnissen ausgesprochen zufrieden341. Von daher schlugen alle StPO-Entwürfe bis hin zur Reichstagsvorlage Siehe dazu Schubert / Regge, S. 30. Die Antworten sind abgedr. in: Anl. 1 zu den Motiven des Entwurfs einer Deutschen Strafprozeß-Ordnung (Hahn, III / 1, S. 326 – 377); zum folgenden auch Stumpf, S. 38 – 55. 340 341
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die Abschaffung der Berufung vor. Als Rechtsmittel sollten künftig nur noch die Nichtigkeitsbeschwerde resp. Revision gegen die Verletzung materieller und prozessualer Normen sowie die Beschwerde gegen Beschlüsse und Verfügungen des Untergerichts zulässig sein342. Der konsensuale Eindruck täuschte allerdings, denn insbesondere die bayerische Regierung neigte weiterhin einer uneingeschränkten Kontrollinstanz zu343. Dennoch war es kein Zufall, daß der Streit um die Berufung erst in dem Augenblick entbrannte, als sich die Volksvertreter mit der Frage beschäftigten. In der Auseinandersetzung standen sich zwei Standpunkte gegenüber: ein engerer, rechtstechnisch-theoretischer und ein weiterer, der den Aspekt sozialer Akzeptanz betonte. Die Gegner des Instituts gingen von der Annahme aus, die zweite Instanz durch verstärkte Garantien in Vorverfahren und Hauptverhandlung überflüssig machen zu können. Demgegenüber warnte Miquel, warmherziger Fürsprecher der Berufung, bereits in der ersten Plenardebatte davor, das Gesetz zu verkomplizieren und seine Anwendung von gelehrtem Rechtsbeistand abhängig zu machen. Man müsse sich hüten vor einem Gesetz, „lediglich berechnet für die gebildeten und bemittelten Klassen“. Im Ausschluß der Appellation sah er „die höchste Gefahr für die Rechtssicherheit, für die Verteidigung und für die Unschuld“. Windthorst setzte noch fundamentaler an und argumentierte rein anthropologisch: „Es ist tief in der Menschennatur begründet, daß sie bei so wichtigen Sachen eine abermalige Prüfung und abermalige Prüfung durch andere Leute haben will als durch die, welche das erste Erkenntnis geben, da der Mensch sehr wohl, in seinem Innersten wenigstens, sich sagt, wie weit er entfernt ist von der Gabe, stets das Richtige zu treffen“344. In erster Lesung stimmte die Justizkommission mit knapper Mehrheit (14:13 Stimmen) für Einführung der Berufung gegen die Urteile der (kleinen) Schöffengerichte und der Strafkammern, also der vom Entwurf vorgesehenen Gerichtsformen. Zugleich sollte das Berufungsrecht nur dem Angeklagten, nicht aber dem Staatsanwalt zustehen und die Beweisaufnahme in zweiter Instanz weitgehend reproduziert werden345. Als die Beschlüsse im Justizausschuß zur Beratung kamen, 342 Vgl. StPO-Entwurf für den Norddeutschen Bund, §§ 293 ff. (Schubert / Regge, S. 89 ff.); BR-Vorlage, §§ 234 ff. (ebd., S. 134 ff.); StPO-Entwurf der BR-Kommission, §§ 240 ff. (ebd., S. 334 ff.); RT-Vorlage, §§ 284 ff. (Hahn, III / 1, S. 37 ff.). 343 Vgl. die Stellungnahme von Loé (stellvertr. BR-Bevollmächtigter) in JK, 13. 5. 1876 (Hahn, I / 1, S. 741 f.); zu Max v. Loé (1824 – 1885; später Staatsrat): Staatsminister, II, S. 1072 f. Der bayerische Entwurf einer revidierten StPO aus dem Jahre 1870 hatte die Berufung in vollem Umfange beibehalten. 344 Sten. Ber. RT, 26. 11. 1874 (Hahn, III / 1, S. 514 f., 543). Die statistischen Erhebungen sprachen für die Berufung: Zwischen 1866 und 1868 wurde rund gegen ein Viertel der Erkenntnisse des Stadtgerichts Berlin Berufung eingelegt, wovon wiederum ein Viertel Erfolg hatte. In Bayern fand in den Jahren 1867 – 1873 gegen 17 – 20 % der bezirksgerichtlichen Urteile Appellation statt, in 35 – 40 % der Fälle erfolgte eine Abänderung; vgl. Anl. 1 zu den Motiven des StPO-Entwurfs (Hahn, III / 1, S. 311 f.) sowie Völk in JK (Hahn, I / 1, S. 738 f.; III / 1, S. 999 f.).
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wurde offensichtlich, daß die Haltung der Länder alles andere als einheitlich war. Die Diskussion war geprägt von beträchtlicher Unsicherheit in der Sache selbst sowie der Sorge, der Reichstag könne für den Wegfall der Berufung weitere Kompensationen, etwa ein mündliches und öffentliches Vorverfahren, fordern. Leonhardt hielt die volle (materielle und prozessuale) Überprüfung schöffengerichtlicher Urteile für ein „unentbehrliches Korrektiv“, wollte aus dem Streitpunkt aber keine „Kabinettsfrage“ machen – offensichtlich betrachtete er das Problem als strategisches Faustpfand. Dementsprechend beschloß der Justizausschuß mit 4:3 Stimmen, die Appellation bei schöffengerichtlichen Sachen zuzulassen, bei landgerichtlichen indessen auszuschließen. Überraschenderweise stimmte auch Bayern gegen eine Berufung auf mittlerer Ebene, allerdings unter dem Vorbehalt, daß ein energischer Zugriff im Vorverfahren erhalten bleibe. Hier dürfte sich die Haltung Fäustles durchgesetzt haben, der die theoretischen Bedenken gegen eine zweite Tatsacheninstanz teilte. Die Beschlüsse bewegten sich insofern auf schwankendem Boden, als zu diesem Zeitpunkt (April 1876) die Besetzung der mittleren Strafgerichte noch nicht definitiv geklärt war. So ging der Antrag Württembergs, der dem auf die Landgerichte bezogenen Beschluß zugrundelag, noch von „großen Schöffengerichten“ aus346. Objektiv bestand in der Frage mithin ein beträchtlicher Handlungsspielraum. Anstatt diesen aber auszuloten, schloß sich die Reichstagskommission den Beschlüssen umstandslos an (die landgerichtliche Berufung wurde mit 17:11 Stimmen abgelehnt)347. Bei Lektüre der Protokolle meint man die Erleichterung mancher Kommissionsmitglieder zu verspüren, daß die Entscheidung der Gegenseite ihnen weitere Streitigkeiten erspart hatte. Wie eng Berufung und Laienbeteiligung miteinander verknüpft waren, geht aus dem Umstand hervor, daß die Appellation gegen das Mittelgericht uno actu mit den „großen Schöffengerichten“ wegfiel. Von daher stellt die Kommissionssitzung vom 13. 5. 1876 – nach dem Organisationskompromiß vom 27. 2. 1874 – den zweiten großen Wendepunkt des Entscheidungsprozesses dar. Für die Mehrheit dürfte der Wunsch ausschlaggebend gewesen sein, die „dicksten Brocken“ aus dem Weg zu räumen, um damit den Fortgang des Gesetzgebungswerks zu sichern. Zugleich wurde das Berufungsrecht gegen die Urteile der Schöffengerichte auch dem Staatsanwalt zugestanden. Damit war die Laienbeteiligung auf unterer Ebene weitgehend entwertet, da die Berufung an die Strafkammer des Landgerichts, also ein rein berufsrichterliches Gremium, ging348. 345 Vgl. die ausführliche Diskussion in der Sitzung v. 13. 9. 1875 (Hahn, III / 1, S. 991 – 1013). 346 Zum ganzen: JA, 7. 4. 1876, die Anträge Preußens und Württembergs sowie der Bericht von Krüger (Schubert / Regge, S. 471 – 474, 487 – 489, 508 – 512, 574 – 580, Zitate S. 576). 347 JK, 13. / 17. 5. 1876 (Hahn, I / 1, S. 722 – 743, 765 – 768); vgl. auch die Sitzung vom 17. 6. 1876 (Hahn, III / 2, S. 1385 f.). 348 Vgl. zum ganzen auch den Bericht d. JK (Hahn, III / 2, S. 1576 – 82).
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Nach dieser Grundsatzentscheidung rückte die Frage in den Vordergrund, wie die Einbuße an Rechtsschutz, die für den Angeklagten mit dem Wegfall der Berufung verbunden war, in der ersten und nunmehr einzigen Instanz kompensiert werden könne. Zu diesem Zweck wurden eine Reihe zusätzlicher Bestimmungen, die sog. Garantien des Verfahrens, in die Strafprozeßordnung eingebaut, die das Prozedere erheblich verkomplizierten und verzögerten. Die wichtigsten dieser meist von Lasker angeregten Kautelen waren: die Besetzung der erkennenden Strafkammern mit fünf Richtern (§ 77 GVG); eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen zur Bejahung der Schuldfrage, bei Strafkammersachen also mindestens vier Stimmen (§ 262 StPO); das sog. Zwischenverfahren, das dem Angeschuldigten nach Erhalt der Anklageschrift binnen einer bestimmten Frist das Recht gab, Voruntersuchung oder weitere Beweiserhebungen zu beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorzubringen (§ 199 StPO); der unbeschränkte Umfang der Beweisaufnahme, die sich auf sämtliche geladenen Zeugen und Sachverständigen sowie alle herbeigeschafften Beweismittel erstreckte (§ 244 StPO); ein erleichtertes Wiederaufnahmeverfahren (§ 399 StPO). Weitergehende Vorstöße, die darauf abzielten, für alle Strafkammersachen die richterliche Voruntersuchung und / oder die Stellung eines Verteidigers vorzuschreiben, fanden keine Mehrheit. Zwar wurde die obligatorische Voruntersuchung, ursprünglich nur für Straftaten, die in die Zuständigkeit des Reichsgerichts fielen, vorgesehen, auf Schwurgerichtssachen ausgedehnt. Bei Anklagen vor dem Landgericht blieb sie jedoch vom Antrag des Staatsanwalts oder des Angeschuldigten abhängig, wobei letzterer erhebliche Gründe für sein Begehren geltend machen mußte (§ 176 StPO). Gegen eine Ausdehnung sprachen vor allem der finanzielle und personelle Mehraufwand sowie die Verzögerung der Strafverfolgung349. Ähnlich sah das Ergebnis bei der notwendigen Verteidigung aus: In der Regierungsvorlage auf Verfahren vor dem Reichs- und Schwurgericht beschränkt, gelang eine Ausweitung auf die Landgerichtsebene nur in begrenztem Maße. Nach § 140 StPO wurde dem Angeklagten ein Verteidiger zur Seite gestellt, wenn er eines Verbrechens beschuldigt war und einen entsprechenden Antrag gestellt hatte. Die große Gruppe der Vergehen, zu denen auch sämtliche politischen Delikte zählten, blieb mithin ausgeschlossen. Weitergehende Regelungen scheiterten zum einen an der Personalund Kostenfrage (zumal dann, wenn, wie in Preußen, noch keine freie Advokatur bestand), zum andern an der Haltung des Bundesrats, der sich einer Einbeziehung von Strafkammersachen bis zuletzt widersetzte350. Ausführlich kam der Komplex noch einmal zur Sprache, als das Zentrum in der zweiten Lesung des Reichstags einen letzten Versuch unternahm, die Berufung auf Strafkammerurteile auszudehnen351. Windthorst äußerte die feste Überzeugung, daß die eingebauten Rechtsgarantien keinen adäquaten Ersatz bilden würden, woVgl. JK, 1. 7. 1875 und 10. / 12. 6. 1876 (Hahn, III / 1, S. 735 – 51; III / 2, S. 1289 – 1307). Vgl. JK, 9. 9. 1875 und 9. 6. 1876; Sten. Ber. RT, 29. 11. 1876; BR-Beschluß v. 12. 12. 1876 zu § 141 StPO (Hahn, III / 1, S. 957 – 962; III / 2, S. 1269 – 73, 1820 – 25, 1993). 351 Sten. Ber. RT, 1. / 2. 12. 1876 (Hahn, III / 2, S. 1921 – 1967). 349 350
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bei er das Augenmerk wiederum auf die Außenwirkung lenkte: „Die Surrogate für die Berufung sind deshalb in der Tat illusorisch, und mit so illusorischen Surrogaten das im Volke lebende Bewußtsein der Notwendigkeit einer zweiten Instanz zu verletzen, halte ich für im äußersten Grade mißlich und bedenklich“. Berufsrichter, deren Urteile keiner Kontrolle durch eine höhere Instanz unterlägen, würden durch die tägliche Routinearbeit abstumpfen und ihre Aufgabe nurmehr „handwerksmäßig“ erledigen352. Miquel, Vorsitzender der Reichstagskommission, versuchte das Verhalten des Gremiums zu exkulpieren: „Ich bin überzeugt, wenn die Regierungen, die selbst in der Berufungsfrage schwankend sind, auch keine klar ausgesprochene Stellung haben, von vornherein die Berufung akzeptierten, sie in ihrer Vorlage aufnahmen, so wäre der Strafprozeß uns viel leichter geworden, die Verständigung nach allen Richtungen viel eher gegeben gewesen, und das Resultat würde dem Gesamtbewußtsein der Nation viel mehr entsprechen als mit der Beseitigung der Berufung, die ich immer noch für ein reines Experiment halte“353. Da die Mehrheit an ihren theoretischen Bedenken festhielt oder aber, wie Miquel, davor zurückscheute, das „Gesetzespaket“ nochmals „aufzuschnüren“, wurde der Antrag mit 178:89 Stimmen abgelehnt. Damit stand endgültig fest, daß der Schwerpunkt der reichsdeutschen Strafrechtsprechung bei einem Kollegium aus rechtsgelehrten Richtern liegen würde, dessen Urteile inappellabel waren. 2. Gemessen an der Berufungsfrage nahmen die Strukturprobleme des Strafverfahrens, die, ausgehend vom englischen Vorbild, in Wissenschaft und Publizistik so eifrig erörtert worden waren, nur einen geringen Raum ein. Die Ursache war rein pragmatischer Natur: Sollte das komplizierte Werk der Rechtsvereinheitlichung überhaupt Aussicht auf Erfolg haben, so galt es auf strukturelle Eingriffe von vornherein zu verzichten. Aus diesem Grunde knüpfte bereits die Regierungsvorlage an das französisch geprägte Verfahren an, das fast allen partikularen Prozeßordnungen zugrundelag354. Zwei in der Justizkommission unternommene Vorstöße sollten nicht unerwähnt bleiben. Die nationalliberalen Abgeordneten v. Puttkamer und Marquardsen stellten den Antrag, anstelle der geheimen, schriftlichen und inquisitorischen Voruntersuchung ein öffentliches, mündliches und kontradiktorisches Verfahren einzuführen, den modernen Prozeßprinzipien also auch im Vorverfahren zum Durchbruch zu verhelfen355. Zudem sollte das Zwischenverfahren durch einen entsprechenden Windthorst, ebd., S. 1958, 1928. Miquel, ebd., S. 1953. Gut zehn Jahre später stellte Miquel rückblickend fest: „Damals herrschte in der Kommission nicht bloß, sondern vielleicht in der ganzen Juristenwelt, auch in Regierungskreisen, eine Art Hyperorthodoxie der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit. Was nicht dem Prinzip entsprach, wenn es die Praxis des Lebens und der wirklichen Verhältnisse auch unbedingt erforderte, wurde verworfen“ (Sten. Ber. RT, 18. 1. 1888, S. 375). 354 Siehe hierzu die Motive der RT-Vorlage (Hahn, III / 1, S. 71 f.). 355 JK, 2. 7. 1875 (Hahn, III / 1, S. 751 – 766); die Anträge ebd., S. 737 – 39; vgl. auch Wohlers, S. 187 – 189. 352 353
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Beschluß des vorsitzenden Untersuchungsrichters ersetzt werden. Faktisch verschlechterte der Vorschlag die Rechtsstellung des Angeschuldigten, da die gesamte Beweisermittlung in die Hände von Staatsanwalt und Polizei gelegt worden wäre, während dem Angeschuldigten in der Regel kein Verteidiger zur Seite gestanden hätte. Konsequenterweise wurde der Antrag, als „in jeder Beziehung der bürgerlichen und politischen Freiheit nachteilig“, von der Mehrheit abgelehnt356. In der Fachwelt hatten die Bestrebungen, die Struktur der Hauptverhandlung dem englischen Parteiprozeß anzunähern, insbesondere die Beweisaufnahme den Parteien zu überlassen, immer mehr Anhänger gefunden. So sprach sich der 11. Deutsche Juristentag (Hannover 1873) im Anschluß an Gneists „Vier Fragen“ für das Kreuzverhör aus357. Als die Sache dann spruchreif wurde, zeigte sich indes ein anderes Bild: Der von Gneist in der Justizkommission gestellte Antrag, die Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen durch die Parteien unter der Voraussetzung obligatorisch zu machen, daß ein Verteidiger am Verfahren beteiligt sei, stieß auf Ablehnung. Unterstützt wurde er von den Vertretern des Fortschritts, ohnehin die stärksten Befürworter einer klaren Rollenverteilung im Strafprozeß. Auf vielen Seiten erkenne man mittlerweile an, so der Abgeordnete Herz, daß „durch das Kreuzverhör die Vernehmung eingehender, gründlicher, exakter werde, das ganze Verfahren an Lebendigkeit und Anschaulichkeit gewinne, die Stellung des Präsidenten unparteiischer und unbefangener werde“. Bei der Mehrheit überwog hingegen die Sorge vor einer ungebührlichen Behandlung der Zeugen sowie einem bedrohlichen Übergewicht des Staatsanwalts. Hinzu kam ein kulturelles Argument: Wiederholt wurde betont, daß der stark auf Außenwirkung, ja bisweilen auf bloßen Effekt abzielende angloamerikanische Prozeß mit dem auf ernsthafter und gründlicher Wahrheitssuche beruhenden deutschen Verfahren unvereinbar sei358. Von Einzelstimmen abgesehen, kam die Strukturdebatte damit für mehr als zwanzig Jahren zum Erliegen. Erst nach der Jahrhundertwende lebte sie infolge der massiven Angriffe auf die Strafrechtspflege wieder auf, wobei man im wesentlichen auf die alten Forderungen zurückgriff. Die kontrafaktische Frage, ob sich die spätere „Vertrauenskrise“ der Justiz durch eine stärkere Orientierung am angloamerikanischen Prozeß hätte vermeiden lassen bzw. nur in abgeschwächter Form aufgetreten wäre, dürfte zu verneinen sein. Zum einen bildete die Verfahrensordnung lediglich einen Stein des Anstoßes, und innerhalb derselben war die Frage der Parteistruktur eher zweitrangig. Bestenfalls hätte eine interne Verschiebung der Diskussion stattgefunden, dergestalt, daß die Richterschaft weniger, Staatsanwalt356 Zitat des Zentrumsabgeordneten Krätzer (Hahn, III / 1, S. 764); die Ablehnung erfolgte mit 17:9 Stimmen. 357 Vgl. Gneist, Vier Fragen, S. 113 ff.; zum ganzen Herrmann, S. 64 – 72; Wohlers, S. 189 – 191. 358 JK, 9. 7. 1875 (Hahn, III / 1, S. 837 – 845; das Zitat S. 839). Der Antrag Gneist wurde mit 17:9 Stimmen abgelehnt. Analog zur früheren preußischen Regelung band die RStPO das Kreuzverhör an einen übereinstimmenden Antrag von Staatsanwaltschaft und Verteidigung (§ 238), weshalb die Bestimmung in der Praxis so gut wie bedeutungslos blieb.
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schaft und Verteidigung dafür umso mehr ins Rampenlicht der Kritik geraten wären. Zum anderen ist davon auszugehen, daß die politisch-sozialen Konflikte noch stärker Einzug in die Gerichtssäle gehalten hätten, als dies ohnehin schon der Fall war. Die tendenzielle Überforderung der Justiz wäre somit verschärft worden. Schließlich sollte das kulturelle Argument nicht geringgeschätzt werden.
d) Richteramt – Gerichtssprache – Reichsgericht 1. Der Foerstersche GVG-Entwurf enthielt einen umfangreichen Abschnitt über das Richteramt, der detaillierte Bestimmungen über Ausbildung, Anstellung, Gehalt, Unabhängigkeit und Disziplinarrecht umfaßte359. Er fiel den föderalistischen Einwänden Bayerns und Württembergs zum Opfer, da beide Länder Eingriffe in das einzelstaatliche Beamtenrecht ablehnten. Auf Initiative der Justizkommission gelangten dann zumindest Rahmenvorschriften in das Gesetz (§§ 2 – 11 GVG). Als Qualifikationsnorm schrieb § 2 ein mindestens dreijähriges Jurastudium sowie einen Vorbereitungsdienst von gleicher Länge vor, während § 8 die persönliche Unabhängigkeit der Richter festlegte. Über die geltende preußische Rechtslage griffen die Regelungen nicht hinaus. Anders verhielt es sich mit der Geschäftsverteilung und der Kammerbesetzung bei den Kollegialgerichten. Hier gelang es den Liberalen, die ministeriellen Eingriffsrechte weitgehend zu beseitigen und die Selbstverwaltung der Gerichte gesetzlich zu verankern (§§ 61 – 68 GVG). Der Justizminister behielt lediglich die Befugnis, die am Landgericht tätigen Untersuchungsrichter zu ernennen (§ 60). Alle gerichtsinternen Entscheidungen traf nunmehr das aus dem Landgerichtspräsidenten, den Direktoren und dem dienstältesten Richter bestehende Präsidium. Damit gehörte das preußische Deputations- und Kommissionswesen der Vergangenheit an. Aber auch hier hatte die Medaille eine Kehrseite: Das assessorale Hilfsrichtertum, zwischen Liberalen und preußischer Regierung bis zuletzt umstritten, blieb bestehen. Zwar wurde die hilfsrichterliche Tätigkeit an eine Reihe von Kautelen gebunden, die prinzipiell mit dem Institut verbundenen Gefahren konnten dadurch aber nicht beseitigt werden (§ 69 GVG)360. Ein von Windthorst und Brüel (Welfe) eingebrachter Antrag, den Richtern ein weitgehendes Titel- und Ordensverbot aufzuerlegen, fand nicht die erforderliche Mehrheit des Reichstags361. 2. Die Frage der Gerichtssprache verquickte sich mit der von Bismarck betriebenen antipolnischen Sprachenpolitik362. Bislang war in den polnischen TeilungsAusführlich dazu Ormond, S. 108 ff., 132 ff., 141 ff. Andere Beurteilung bei Ormond, S. 143 f. 361 Sten. Ber. RT 1876, Drks. Nr. 43; Hahn, I / 2, S. 1124 ff.; vgl. Ormond, S. 117 ff. 362 Dazu Nipperdey, II, S. 268 – 271. In der Arbeit von E. Rimmele, Sprachenpolitik im Deutschen Kaiserreich vor 1914, Frankfurt / M. 1996 ist der Aspekt der Gerichtssprache nicht berücksichtigt. 359 360
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gebieten – neben der Hinzuziehung eines Dolmetschers – ein Nebenprotokoll in polnischer Sprache vorgeschrieben, sobald ein Beteiligter, der des Deutschen nicht hinreichend mächtig war, prozeßrelevante Aussagen zu machen hatte. Darüber hinaus erhielten, um die Kosten für Übersetzungsdienste zu sparen, deutsche Richter im Bezirk des Appellationsgerichts Posen eine Gehaltszulage („polnische Zulage“), falls sie in der Lage waren, die Verhandlungen in polnischer Sprache zu führen. Dazu bedurfte es lediglich einer einfachen Erklärung, eine Sprachprüfung wurde nicht verlangt. Die mangelnden Sprachkenntnisse der Richter, aber auch die unzureichende Ausbildung der Dolmetscher bildeten denn auch ein Dauerthema polnischer Klagen363. Im Februar 1872 ließ Bismarck – im Rahmen eines Maßnahmenkatalogs zur „Germanisierung“ der polnischsprachigen Landesteile – den Justizminister durch das Staatsministerium förmlich ersuchen, bei der bevorstehenden Justizorganisation auf das Deutsche als ausschließliche Gerichtssprache Bedacht zu nehmen und das bisherige Nebenprotokoll in Wegfall zu bringen364. So geschah es denn auch: Der GVG-Entwurf strich das Nebenprotokoll, womit entsprechende Vorschriften des Geschäftssprachengesetzes von 1876, das Deutsch als Amts- und Gerichtssprache verpflichtend einführte, vorweggenommen wurden. Wiederholt unternahmen die polnischen Abgeordneten daraufhin den Versuch, das Polnische als gleichberechtigte Gerichtssprache im neuen Gesetz festzuschreiben, zumindest aber das Nebenprotokoll zu retten. Während die Justizkommission, in der kein polnisches Mitglied vertreten war, einfach zur Tagesordnung überging, lehnte die Reichstagsmehrheit die Anträge dreimal ab, obwohl diese, wie auch sonst üblich, vom Zentrum unterstützt wurden. Einem nationalliberalen Antrag folgend, bestand die einzige Konzession darin, daß fremdsprachliche Aussagen und Erklärungen in das Protokoll aufgenommen werden konnten, falls der Richter dies für notwendig erachtete (§§ 186, 187 GVG). Daß Mißverständnissen damit Tür und Tor geöffnet waren und der Rechtsschutz wesentlicher Garantien entbehrte, bedarf kaum weiterer Erläuterungen365. Auch alle späteren Vorstöße der Polen, eine für sie günstigere Regelung der Sprachenfrage zu erzielen, blieben – ähnlich wie die entsprechenden Bemühungen der Dänen – letztlich ohne Erfolg. Zu erwähnen ist namentlich ein 1886 vom Reichstag angenommener Gesetzentwurf, demzufolge ein Dolmetscher hinzugezogen werden sollte, falls ein Prozeßbeteiligter der deutschen Sprache 363 Die richterliche Zulage beruhte auf den Kabinettsordres v. 7. 1. 1850 und 1. 4. 1867; in späterer Zeit betrug sie 300 Mark jährlich (vgl. H. Müller, Hg., Die Preußische Justizverwaltung, 6. Aufl., Bd. 1, Berlin 1909, S. 214); zur polnischen Kritik: Radziwill, Sten. Ber. RT, 19. 12. 1876 (Hahn, I / 2, S. 1606 – 08). 364 Bismarck an sämtliche Staatsminister, 13. 2. 1872, in: NFA III / 1, Nr. 246. 365 Vgl. JK, 24. 5. 1876 (Hahn, I / 1, S. 842); Sten. Ber. RT, 23. / 24. 11. und 19. 12. 1876 (Hahn, I / 2, S. 1355 – 84, 1601 – 10); weiterhin v. Komierowski, ebd., 18. 12. 1876 (Hahn, I / 2, S. 1546 f.); zum ganzen auch D. Dannreuther, Der Zivilprozeß als Gegenstand der Reichspolitik im Deutschen Reich 1871 – 1945, Frankfurt / M. 1987, S. 95 – 99; zur polnischen RT-Fraktion jetzt: A. S. Kotowski, Zwischen Staatsräson und Vaterlandsliebe, Düsseldorf 2007.
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nicht mächtig war, und im Bedarfsfall auch fremdsprachliche Anträge, Erklärungen und eidliche Aussagen in das Protokoll oder eine Anlage aufzunehmen waren – aus dem bloßen richterlichen Ermessen sollten also obligatorische Vorschriften werden. Aber schon diese geringfügige Lockerung der strengen Sprachenregelung ging dem preußisch dominierten Bundesrat zu weit366. In anderer Hinsicht hielt die Justiz allerdings ihre schützende Hand über die Polen: Indem es strikt zwischen Geschäfts- und Versammlungssprache unterschied, legte das preußische Oberverwaltungsgericht bereits 1876 den Grundsatz fest, daß die Auflösung einer Versammlung wegen Verwendung einer nichtdeutschen Sprache unzulässig sei. Damit konnten sich die Polen in Versammlungen ungehindert ihrer Mutterspache bedienen. In späteren Entscheidungen bekräftigte das OVG seine diesbezügliche Haltung367. 3. Die Frage der Errichtung eines obersten Reichsgerichts griff tief in die einzelstaatliche Justizhoheit ein. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß vor allem der Zuschnitt der Zuständigkeiten zwischen Preußen und den Mittelstaaten lange umstritten blieb. Während Leonhardt das Reichsgericht in umfassender Weise als Revisionsinstanz in bürgerlichen und Strafsachen einrichten wollte, da ihm nur so eine einheitliche Rechtsentwicklung gewährleistet schien, plädierten die Mittelstaaten zunächst für einen „Reichsrechtshof“, der nur bei divergierenden Entscheidungen oberster Gerichtshöfe in Funktion treten sollte. Erst nach langwierigen Verhandlungen, an deren Ende Bayern ein eigenes Oberstes Landesgericht für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zugestanden wurde, konnte sich die Leonhardtsche Konzeption wenigstens dem Prinzip nach durchsetzen. Damit eröffnete sich zugleich die Möglichkeit, die beiden höchsten Gerichte Preußens, das Obertribunal und den Staatsgerichtshof, beide gleichermaßen unbeliebt, auf „kaltem Wege“ zu beseitigen368. Erhebliche Tragweite besaß die Entscheidung über den Sitz des Reichsgerichts, was sich schon äußerlich in der Tatsache dokumentierte, daß die Frage eine separate gesetzliche Regelung fand (Gesetz vom 11. 4. 1877)369. Um die Vergabe des Reichsgerichts konkurrierten Berlin und Leipzig, dem 1869 die Vorgängerinstitution, das Bundesoberhandelsgericht, zugesprochen worden war. Während Leonhardt, als Ausgleich für das aufgehobene Obertribunal, wiederholt und entschieden für Berlin eintrat, optierte Bismarck, der sich in der Frage ansonsten zurückhielt, Zu den wiederholten Initiativen Dannreuther, S. 195 – 204. OVG-Urteile v. 26. 9. 1876, 5. 10. 1892 und 20. 3. 1903 (Entsch. Bd. 1, S. 347; Bd. 32, S. 395; Bd. 43, S. 432); vgl. Tillmann, S. 162 f. 368 Zum Entscheidungsprozeß: Schubert, S. 157 – 173; zum äußeren Ablauf: ders., Die Aufhebung des Berliner Obertribunals im Jahre 1879, in: G. Köbler (Hg.), FS Kroeschell, Frankfurt / M. 1987, S. 419 – 441; zum RG: K. Müller, Der Hüter des Rechts, Baden-Baden 1997 (institutionengeschichtlicher Überblick); A. Lobe (Hg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht, Berlin 1929 (Verz. der Mitglieder in Anl. I, S. 338 – 389). 369 Dazu Schubert, S. 173 – 181; Landau, S. 208 – 210; Müller, S. 36 – 45. 366 367
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gegen die Reichshauptstadt, um dem preußischen Partikularismus keinen weiteren Auftrieb zu geben und bei den übrigen Bundesstaaten das Gefühl der Gleichberechtigung zu stärken370. Dies führte dazu, daß im Bundesrat eine Zufallsmehrheit für Leipzig zustande kam (30:28 Stimmen), ein Ergebnis, in das vielfältige Partikularinteressen hineinspielten371. Erst das Votum des Reichstags fiel eindeutig zugunsten Leipzigs aus (213:142 Stimmen). Neben der Frage, ob eine unitarische oder eine bundesstaatliche Lösung vorzuziehen sei, spielte die Befürchtung eine große Rolle, in Berlin könne die Unabhängigkeit der Reichsrichter Schaden leiden. Dabei dachte man weniger an direkte Manipulationen als vielmehr an inkommensurable Einflüsse, die aus der Nähe zu den politischen Zentralstellen des Reiches resultierten. Wiederholt wurde auf das abschreckende Beispiel des Obertribunals verwiesen, wobei der Erinnerung an den Fall Twesten erhebliche Bedeutung zukam. Ludwig Bamberger, der für Berlin plädierte, meinte: „Wäre der Fall Twesten nicht in den Annalen des preußischen Obertribunals, so hätten wir vielleicht heute diese Frage im Reichstage nicht“. Joseph Völk, führender bayerischer Nationalliberaler und Leipzig-Befürworter, brachte die Überlegungen, die den Ausschlag für die sächsische Metropole gaben, auf folgende Formel: „Denn nicht nur darauf kommt es an, daß die Urteile richtig sind, sondern auch darauf, daß man an ihre Richtigkeit glaubt und ein felsenfestes, sicheres Vertrauen hat, daß sie nicht anders als richtig sein können“372. Die Unabhängigkeitsrhetorik, mit der für Leipzig gestritten wurde, verliert viel von ihrem Glanz, wenn man einen Blick auf das Verfahren zur Auswahl der Reichsrichter wirft373. Ein von Lasker in der Justizkommission unternommener Versuch, dem Reichstag ein Mitspracherecht bei der Stellenbesetzung einzuräumen, stieß auf den entschiedenen Widerspruch der Bundesregierungen, die die Hoheit über die Personalpolitik unter keinen Umständen aus der Hand geben wollten. Das GVG beschränkte sich auf die Vorschrift, daß die Richter und Staatsanwälte am Reichsgericht auf Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser ernannt werden sollten (§§ 127, 150). In der Praxis beruhten die Ernennungen auf einem komplizierten Zusammenspiel zwischen den Bundesstaaten, die eifersüchtig über die ihnen zustehenden Stellen wachten, dem Reichsjustizamt, dem Reichskanzler und dem Bundesrat (Justizausschuß und Plenum). Die Verteilung auf die einzelnen Länder erfolgte zunächst nach der Bevölkerungszahl, seit 1890 wurden die neu geschaffenen Stellen nach Maßgabe der anhängigen Revisionssachen vergeben. Dadurch erhöhte sich der Anteil preußischer Richter kontinuierlich, während Bayern – als Folge seines Obersten Landesgerichts – zunächst unterrepräsentiert blieb; nach Einführung des BGB schwächte sich das Mißver370 Zur Haltung Bismarcks: Wendt zu Eulenburg (i. Vertr.) an Delbrück, 24. 6. 1874, in: GW, Bd. 6c, Nr. 61 (auch in: NFA, III / 2, Nr. 98; Stürmer, Hg., S. 73 f.). 371 Vgl. BR, 28. 2. 1877 und Bericht von Krüger (Schubert, S. 1021 – 1024). 372 Bamberger, Sten. Ber. RT, 21. 3. 1877, S. 306; Völk, ebd., S. 311 f.; vgl. auch Frankenberger, ebd., 19. 3. 1877, S. 238 f. 373 Zu den Regelungen im einzelnen Müller, S. 107 – 114.
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hältnis ab374. Zudem stellte Preußen den Reichsgerichtspräsidenten und den Oberreichsanwalt. Bereits bei den legislativen Beratungen war absehbar, daß der Rekrutierungsmodus für eine überwiegend konservativ ausgerichtete Reichsrichterschaft sorgen würde. So entstammte der Großteil der preußischen Richter bei der Erstbesetzung 1879 dem aufgelösten Berliner Obertribunal. Für Bismarck rangierte die politische Einstellung ohnehin ganz oben: „Die Hauptfrage ist immer nicht die der Anciennität und der Staatsangehörigkeit, sondern die der Befähigung und der Zuverlässigkeit in reichstreuer Gesinnung“375. Infolge der inneren Entwicklung Preußens, aber auch Sachsens, änderte sich an der politischen Grundfärbung in den kommenden Jahrzehnten wenig. Dies erklärt, weshalb die liberalen Erwartungen, die sich an die Vergabe des Gerichtshofs nach Leipzig knüpften, mehr oder weniger enttäuscht wurden. Namentlich die Sozialdemokraten übten immer wieder scharfe Kritik an der höchstrichterlichen Judikatur. Andererseits stand die Legitimität des Reichsgerichts niemals in einem solchen Maße in Frage, wie dies beim Obertribunal der Fall war. e) Zusammenfassung und Ergebnis In der rechtshistorischen Forschung genießen die Reichsjustizgesetze einen guten bis sehr guten Ruf. Für Franz Wieacker waren sie „politische und geistige Schöpfungen eines fachlich und moralisch hochqualifizierten Richterstandes“ und zugleich „Zeugnis eines geglückten politischen Ausgleichs zwischen einem noch immer kraftvollen Obrigkeitsstaat und den Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft auf wirtschaftliche und politische Selbstbestimmung“. Daran anknüpfend stuft Peter Landau sie als durchaus „sachgerechte, gelungene Gesetze“ ein, die „mehr als alle anderen Gesetze des 19. Jahrhunderts eine Tradition von Rechtsstaatsprinzipien in Deutschland begründet“ hätten. Werner Schubert meint, angesichts der divergierenden partikularen Rechtstraditionen stelle die gemeinsame Justizorganisation „eine große politische Leistung dar“. Inbesondere für Preußen seien das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strafprozeßordnung außerordentlich bedeutsam gewesen: „Gerade in der Liberalisierung der preußischen Justiz dürfte die Hauptbedeutung der Justizgesetze liegen, wenn man einmal von der durch sie begründeten Rechtseinheit absieht“376. Das Urteil ist von den Allgemeinhistori374 Bei seiner Gründung 1879 umfaßte das Reichsgericht – bei fünf Zivil- und drei Strafsenaten – 68 Richterstellen, von denen 40 auf Preußen, je 4 auf Bayern, Sachsen und Württemberg, drei auf Baden und zwei auf Elsaß-Lothringen entfielen. Im Jahre 1913 stellte von den insgesamt 100 Richtern, verteilt auf sieben Zivil- und fünf Strafsenate, Preußen 63, Bayern 10, Sachsen 8, Baden und die Hansestädte je 4, Württemberg 3 und Hessen 2. 375 Randbemerkung zu einem Bericht des RJA über die Besetzung einer Senatspräsidentenstelle, 3. 6. 1886 (zit. n. Müller, S. 125). 376 Zitate: Wieacker, S. 467; Landau, S. 210 f.; Schubert, S. 112, 114; weiterhin: W. Sellert, Die Reichsjustizgesetze von 1877 – ein gedenkwürdiges Ereignis?, in: JuS 17 (1977), S. 781 – 789 (trotz des Fragezeichens fällt auch Sellert ein positives Gesamturteil).
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kern – sofern sie den Gegenstand überhaupt einer näheren Betrachtung unterzogen haben – übernommen worden. So sieht Thomas Nipperdey das GVG „im ganzen und die damit eingeführte Gerichtsverfassung vom moderat liberalen Rechtsstaatsgeist erfüllt“, und auch die Strafprozeßordnung sei in den Augen der Zeitgenossen eine „liberale Errungenschaft“ gewesen377. Die positive Einschätzung dürfte nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß die Gesetzeswerke im Laufe der Zeit zwar zahllose Einzeländerungen erfahren haben, bis heute aber nicht in toto revidiert worden sind. Die obigen Ausführungen ergeben ein weniger günstiges Bild. Gefragt wurde zum einen nach den Schlußfolgerungen, die der Gesetzgeber aus der politischen Instrumentalisierung der Strafjustiz, wie sie namentlich in Preußen manifest geworden war, gezogen hat, zum anderen nach der Bedeutung der getroffenen Regelungen für das zukünftige Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Justiz. Die ursprünglichen Entwürfe waren deutlich von dem Bemühen geprägt, die Strafrechtsprechung unparteiischer und zugleich ein Stück populärer zu machen. Zahlreiche preußische Anträge in der Justizkommission zielten in dieselbe Richtung378. Gemessen daran fielen die legislativen Resultate enttäuschend aus: Praktisch in allen politisch bedeutsamen und für die liberale öffentliche Meinung entscheidenden Fragen (Laienbeteiligung, Staatsanwaltschaft, Berufung, Unabhängigkeit der Richter, Stellung der Presse) kam es zu Lösungen, die auf breite Zustimmung kaum hoffen durften. Ganz im Gegenteil: Namentlich die berufsrichterlich-inappellablen Strafkammern, die Befugnisse der Anklagebehörde und das Hilfsrichtertum riefen ernste Befürchtungen hervor, stellten sie doch potentielle Einfallstore politischer Einflußnahme dar. Wie läßt sich das Ergebnis erklären? In chronologischer Reihenfolge kristallisieren sich aus dem verzweigten Entscheidungsprozeß vier Hauptgründe heraus: Erstens: Spätestens seit Ende 1873 stand die preußische Haltung unter dem Primat des Kampfes gegen die „Reichsfeinde“. Namentlich Bismarck beurteilte die juristischen Fragen so gut wie ausschließlich unter staatspolitischen Gesichtspunkten. Als sich Bayern der preußischen Position in wesentlichen Belangen anschloß, stand fest, daß mit einer durchgreifenden Liberalisierung der Strafgerichtsbarkeit nicht mehr gerechnet werden konnte. Zweitens: Die Justizkommission zeigte sich frühzeitig, und zwar spätestens nach der ersten Lesung, in den für die öffentliche Wirkung relevanten Themen (Laienbeteiligung, Berufung) kompromißbereit379. Gerade in den Grundsatzfragen war Nipperdey, II, S. 185, 191. Dies bestätigt der stellvertr. Vorsitzende v. Schwarze: „Man hat namentlich seitens der dem Königreiche Preußen angehörenden Mitglieder der Justizkommission vielfache Beschwerden über die strafgerichtliche Praxis daselbst erhoben und in einzelnen Vorgängen, die man als charakteristisches Merkmal früherer Zustände bezeichnete, das Motiv zu erheblichen Ausnahmevorschriften gefunden“ (v. Schwarze, Der Reichstag und die Justizgesetze, in: GerS 29, 1877, S. 92 – 119, hier S. 95 f.). 379 Vgl. die Schilderung bei Schwarze, S. 101 f. 377 378
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das Gremium tief gespalten, was sich zum einen aus den unterschiedlichen Rechtstraditionen, zum anderen aus der Tatsache erklärt, daß die preußischen Erfahrungen andernorts nicht (oder zumindest nicht in demselben Maße) geteilt wurden. Als kleinsten gemeinsamen Nenner einigte man sich auf Lösungen, die stark juristisch-technisch geprägt waren, während sozialpsychologische Aspekte und politische Erfahrungswerte, aber auch schlichte Zweckmäßigkeitserwägungen zweitrangig blieben. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht ein Blick auf die Zusammensetzung der Kommission. Faktisch bestand das Gremium ausschließlich aus Juristen (unter den 28 Mitgliedern befand sich nur ein einziger Laie)380. Als solche waren sie stark von den Grundsätzen und Methoden der Pandektenwissenschaft geprägt, maßgebend blieben mithin „das wissenschaftliche System und der juristische Begriff, die Lückenlosigkeit der geschriebenen Rechtsordnung, die Bindung des Richters an die wissenschaftlichen Methoden und die politische Neutralisierung der Rechtspflege durch diese Wissenschaftlichkeit“381. Dies erklärt, weshalb außerjuristische Überlegungen nur von einer Minderheit – hier sind an erster Stelle Miquel, Bähr und Reichensperger zu nennen – konsequent verfochten wurden. Erschwerend kam hinzu, daß das Organ kein getreues Abbild der parlamentarischen Kräfteverhältnisse war: Während die Nationalliberalen 12, das Zentrum 8 und die beiden konservativen Parteien sowie die Fortschrittspartei jeweils 4 Vertreter stellten, fehlten die kleineren „reichsfeindlichen“ Parteien (Sozialdemokraten, Welfen, Polen, Elsaß-Lothringer), die im Plenum zusammen immerhin über 42 Mandate verfügten (bei insgesamt 397 Abgeordneten), völlig. Auch Bismarck betrachtete die juristische Einseitigkeit und politische Voreingenommenheit des Gremiums mit unverhohlener Skepsis. Unter Hinweis auf die Beschlüsse erster Lesung über die Handelsgerichte, die Pressevergehen, den Zeugniszwang für Journalisten sowie die Verteidigung bei der Voruntersuchung meinte er: „Ich fürchte, daß sich in der Kommission, so wie sie zusammengesetzt ist, der wissenschaftliche Idealismus, die fortschrittliche Wahlreklame und der reichsfeindliche Pessimismus dergestalt in die Hände arbeiten, daß kaum Aussicht auf ein annehmbares Ergebnis bleibt“382. Ein übriges dürfte die asymmetrische Verhandlungssituation, Folge des konstitutionellen Regierungssystems, getan haben. Während die Mitglieder des Bundesratsausschusses „unter sich“ berieten und entschieden, setzte sich die Reichstags380 Den Vorsitz in der Kommission hatte Miquel (NL) inne, sein Stellvertreter war v. Schwarze (RP); biographische Skizzen der Mitglieder bei Schubert / Regge, S. 21 – 25; zur Rolle Miquels: H. Herzfeld, Johannes von Miquel, Bd. 1, Detmold 1938, S. 292 ff. 381 So Wieacker, S. 460; zusammenfassend zur Pandektenwissenschaft unten Dritter Teil, Kap. II / 3. Für die in der Kommission vorherrschende Sichtweise ist Schwarze repräsentativ. Im Rückblick beurteilte er den zwischen Bundesrat und Reichstag ausgehandelten Kompromiß allein unter dem Gesichtspunkt „erheblicher juristischer Bedeutung“, mit dem Ergebnis, dieser sei „vom Justizstandpunkte“ aus annehmbar (Schwarze, S. 107, 108). 382 Bismarck an Delbrück, 6. 7. 1875, in: GW, Bd. 6c, Nr. 70 (auch in: NFA, III / 2, Nr. 274).
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kommission aus Parlamentariern und Regierungsvertretern zusammen, was zwar kurze Kommunikationswege und mancherlei Vorabsprachen ermöglichte, aber auch die Freiheit der Entscheidungsfindung gefährdete. Man darf davon ausgehen, daß dies bei einigen Abgeordneten die Neigung verstärkte, sich den – tatsächlichen oder vermeintlichen – Wünschen der Regierung anzuschließen383. Hier liegt auch ein Grund für die auf den ersten Blick verwunderliche Tatsache, daß die finalen 18 Punkte des Bundesrats keine Strukturfragen mehr betrafen, sondern nurmehr organisatorische und prozessuale Einzelprobleme. Drittens: Die Reichstagsmehrheit legte zwar zunächst eine größere Entschiedenheit an den Tag, tendierte aber dazu, den Wert formaler Rechtseinheit für die innere Konsolidierung des Reiches zu verabsolutieren. Der Effekt war derselbe: Erneut traten materiellrechtliche und sozialpsychologische Erwägungen zurück. Zwei Zitate mögen den Unterschied beleuchten: Lasker notierte resümierend (24. 12. 1876): „Die deutsche Einheit in der Gerichtsorganisation und im Gerichtsverfahren ist von unübersehbarem Wert für die Freiheit und für das nationale Leben des Volkes“. Dagegen Windthorst wenige Tage zuvor im Reichstag (18. 12. 1876): „Ich wünsche die Rechtseinheit, aber nicht auf Kosten der Rechtssicherheit, und ich experimentiere mit dem Leben und der Freiheit und mit der Ehre meiner Mitbürger nicht“384. Die unterschiedliche Prioritätensetzung erklärt, weshalb das Plenum in den Prinzipienfragen den Kommissionsanträgen folgte. Ebensowenig war man gewillt, flexiblere Lösungen, die der föderalen Struktur des Reiches in vielem angemessener gewesen wären, ernsthaft in Erwägung zu ziehen, obwohl es sich dabei, wie der Kompromiß in der Frage der Schwurgerichtskompetenz zeigte, durchaus um einen erfolgversprechenden Weg handelte. Schließlich lassen die Debatten erkennen, daß das Vertrauen in die Richterschaft cum grano salis noch intakt war. Deshalb gab man sich mit prozessualen Kautelen zufrieden statt auf handfesten institutionellen Sicherungen zu bestehen. Auf die Gefahren, die mit den genannten Präokkupationen verbunden waren, wies nachdrücklich immer wieder das Zentrum hin, allen voran Windthorst. Viertens: Das Ausscheren der Nationalliberalen aus der parlamentarischen Front machte den Entschluß des Reichstags, bei den verbliebenen Streitpunkten „hart“ zu bleiben, zur Makulatur. Mit Blick auf die bevorstehenden Reichstagswahlen (10. 1. 1877) setzte sich in der Partei die Ansicht durch, einen zählbaren Erfolg vorweisen zu müssen. Vorhandene Zweifel wurden in der Hoffnung beiseite geschoben, das Erreichte Stück für Stück verbessern zu können – eine Annahme, die 383 Um freie Hand bei der endgültigen Beschlußfassung zu behalten, ließ Bismarck den Regierungsvertretern in der Kommission untersagen, im Namen des Reichs Erklärungen über die Annehmbarkeit der gefaßten Beschlüsse abzugeben (s. ebd.). 384 P. Wentzcke (Hg.), Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks, Bd. 2, Bonn 1926, S. 164; Hahn, I / 2, S. 1533. Auch Bismarck veranschlagte den Wert der Rechtseinheit eher gering: „Im ganzen glaube er, man gebe sich einer auf Überschätzung beruhenden Täuschung hin in Betreff der Wirkung einer einheitlichen Rechtspflege auf die politische Konsolidation des Reichs“ (Prot. StM, 4. 12. 1876; Schubert, S. 925).
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schon damals leicht als Selbsttäuschung zu entlarven war. Die divergierenden Interessen machten eine größere Revision in absehbarer Zeit sehr unwahrscheinlich, wie die Geschichte der gescheiterten Reformversuche bis 1914 dann ja auch zeigte. Immerhin meinte die Parteiführung, sich für ihr Verhalten öffentlich rechtfertigen zu müssen385. Das Alternativszenario, die Wähler über den Konflikt entscheiden zu lassen, hätte den Gesetzgebungsprozeß zwar weiter in die Länge gezogen, aber zunächst einmal vom Zeitdruck befreit und die Chance, zu weniger widersprüchlichen und im ganzen liberaleren Lösungen zu gelangen, offengehalten – der faktische Einigungszwang wäre ja bestehen geblieben. Sogar Leonhardt hielt eine nochmalige Überarbeitung der Vorlagen sachlich für die sauberste Lösung386. Bei den Kompromißverhandlungen befand sich Bismarck, der den Gang der Dinge seit Herbst 1876 energisch in die Hand genommen hatte, insofern in einer strategisch günstigeren Position, als die Reichsleitung das Scheitern der Gesetzentwürfe weniger zu fürchten brauchte als die Mehrheitsparteien387. Daß Bismarck die Gelegenheit nicht dazu nutzte, den seit längerem ins Auge gefaßten Bruch mit den Nationalliberalen, zumindest aber die Abspaltung ihres linken Flügels um Lasker und Bamberger, herbeizuführen, erklärt sich aus der parteipolitischen Konstellation: Eine neue parlamentarische Basis zeichnete sich erst in Umrissen ab, im Falle eines Aufschubs der Justizreform drohte vielmehr ein linksliberaler Wahlsieg. Nichtsdestoweniger endete die Kooperation zwischen Bismarck und den Nationalliberalen mit Verabschiedung der Reichsjustizgesetze 388. In der Schlußsitzung des Reichstags (21. 12. 1876) votierten Zentrum und Fortschrittspartei gegen das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strafprozeßordnung; Sozialdemokraten, Polen, Elsaß-Lothringer und Welfen waren der Abstimmung aus Protest von vornherein ferngeblieben. Auch in weiten Teilen der bürgerlichen Öffentlichkeit, insbesondere der linksliberalen und katholischen Presse, überwogen Skepsis und Vorbehalte389. Im Ergebnis kehrt sich die herrschende Forschungsmeinung – namhafte Stimmen wurden eingangs zitiert – um. Ohne verkennen zu wollen, daß die Rechts385 Vgl. Die deutschen Justizgesetze, in: Annalen des Deutschen Reichs 1877, S. 444 – 449 (Ansprache des nationalliberalen Zentral-Komités); Joseph Völk, Nüchterne Betrachtungen über die „achtzehn Punkte“ des Kompromisses in den Reichsjustiz-Gesetzen, in: ebd., S. 450 – 470. 386 Vgl. Hänel, Sten. Ber. RT, 20. 12. 1876 (Hahn, II / 2, S. 2003 f.); Leonhardt, Prot. StM, 4. 12. 1876 (Schubert, S. 924 – 926). 387 Anläßlich eines Besuches des württembergischen Ministerpräsidenten v. Mittnacht in Varzin äußerte sich Bismarck diesem gegenüber am 21. 8. 1875 wie folgt: „Daß man die Reichsjustizgesetze in der nächsten Session oder daß man sie überhaupt bekomme, sei bei der Neigung zu übertriebener Humanität nicht notwendig“ (v. Mittnacht, Erinnerungen an Bismarck, 2. Aufl., Stuttgart 1904, S. 57); weiterhin: Bismarck an Hofmann (Präs. d. Reichskanzleramts), 22. 10. 1876, in: NFA, III / 2, Nr. 427. 388 Schlußvoten: Prot. StM, 4. 12. 1876 sowie JA, 17. 12. 1876 (Schubert, S. 924 – 927, 962 – 964); zum politischen Zusammenhang: Stürmer, S. 143 – 145. 389 Sammlung von Pressestimmen in: GStA, Rep. 84a, Nrn. 3123 / 3124 (GVG) und Nrn. 8008 / 8009 (StPO).
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vereinheitlichung eine Vielzahl von Einzelproblemen aufwarf und die Regelungen für Preußen manchen Fortschritt mit sich brachten, blieben GVG und StPO, als Ganzes betrachtet, doch erheblich hinter den liberalen Forderungen der Zeit zurück. Sie trugen weder dem Gedanken hinreichend Rechnung, daß gerade die Strafjustiz der sozialen Akzeptanz bedarf, noch trafen sie ausreichende Vorkehrungen gegen den Versuch politischer Einflußnahme. In den Augen kritischer Beobachter war die Chance, die Strafgerichtsbarkeit auf ein tragfähiges Fundament zu stellen, verspielt worden. Otto Mittelstädt schrieb wenige Jahre später (1882): „Die heutige Ordnung unserer Strafgerichte enthält eine ernsthafte Gefährdung der Gerechtigkeit. [ . . . ] Was ist das für eine buntscheckige, zusammenhangslose, unvernünftige Ordnung: unten Schöffengerichte mit Vertretung des Laienelements und mit Berufung, in der Mitte die Strafkammern, nur aus rechtsgelehrten Berufsrichtern ständig zusammengesetzt ohne Berufung, an der Spitze Schwurgerichte, als reine Volksgerichte gedacht und aufgezogen, wiederum inappellabel! Wann ist einem großen, seiner endlichen Rechtseinheit frohen Kulturvolke schon ein ähnlich verzwickter, unharmonischer, in allen Bestandteilen widersinniger Aufbau seiner Gerichtsordnung zur dauernden Behausung geboten worden! Man muß sich die ganze verworrene Vorgeschichte der Reichsjustizgesetze und den zwiespältigen Charakter der legislativen Baumeister vergegenwärtigen, um überhaupt zu begreifen, wie ein solches Werk zustande kommen konnte“390. 3. Die Ausbildungsdebatte Das Justizausbildungsgesetz von 1869 hatte, wie oben dargelegt, die strukturellen Mängel des preußischen Ausbildungswesens nicht beseitigt. Insofern verwundert es nicht, daß sich die Diskussion in dem Maße verstärkte, in dem die Reichsjustizgesetze in greifbare Nähe rückten, verband sich mit der Aussicht auf ein gemeinsames Recht doch die Hoffnung, auf dem Umweg über die Reichsgesetzgebung die preußischen Verhältnisse „aufbrechen“ zu können. Im ganzen bilden die Jahre 1875 – 78 den ersten Höhepunkt der kaiserzeitlichen Ausbildungsdebatte. Eine gründliche wissenschaftliche Schulung erschien umso dringlicher, als der neue mündliche Zivilprozeß weit weniger geeignet war, für eine solide Ausbildung der Referendare zu sorgen, als das alte gemeinrechtliche Verfahren, das auf dem Schriftlichkeitsprinzip beruhte. An der Frontstellung zwischen Justizverwaltung und Praktikern auf der einen, Theoretikern auf der anderen Seite änderte sich kaum etwas. Die Wünsche der Hochschullehrerschaft blieben die bekannten: Einführung des Quadrienniums unter entsprechender Kürzung des Vorbereitungsdienstes; vollwertiger Ausbau des Fächerkanons (öffentliches Recht, Nationalökonomie, preußisches Landesrecht), zumeist verbunden mit der Forderung, den Ausbildungsgang 390 Otto Mittelstädt, Die Berufung in Strafsachen, in: PJ 50 (1882), S. 181 – 197, Zitat S. 196 f.
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für den höheren Justiz- und Verwaltungsdienst zu vereinheitlichen; Verbesserung der Unterrichtsmethoden im Sinne größerer Praxisnähe (Übungen) bzw. stärkerer Wissenschaftlichkeit (Seminare), verstanden als Selbstverpflichtung; Einführung eines Zwischenexamens (umstritten); Verschärfung der ersten Prüfung391. Nach Auffassung von Otto Gierke, einem der Wortführer der Bewegung, sollten die Grundzüge des Prüfungswesens gesetzlich festgelegt werden, während das Gesamtministerium über die erforderlichen Ausführungsbestimmungen und Instruktionen zu entscheiden hätte; zumindest sei dem Unterrichtsminister ein Mitspracherecht einzuräumen. Die Prüfungskommissionen müßten einen ständigen Charakter erhalten und erheblich besser besoldet werden. Für die Prüfung selbst schlug er eine Gliederung in drei nach Fächergruppen getrennte Abteilungen vor (erste Gruppe: römisches und deutsches Privatrecht, Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie; zweite Gruppe: öffentliches Recht und Staatswissenschaften; dritte Gruppe: Strafrecht, Prozeßrecht, Landesrecht). Jede Abteilung sei mit zwei oder drei Fachleuten (Universitätslehrer, Praktiker, Verwaltungsbeamte) zu besetzen und hätte eine mehrstündige Prüfung abzunehmen. Mithin würde sich das Examen auf zwei bis drei Tage verlängern, das Gesamtresultat wäre in gemeinsamer Schlußsitzung festzustellen392. Die Reformpläne von Gneist und Goldschmidt bewegten sich in ganz ähnlicher Richtung393. Der 14. Deutsche Juristentag (Jena 1878), wie immer 391 Siehe: Th. Muther, Die Reform des juristischen Unterrichts, Weimar 1873 (Prof. in Jena); G. Meyer, Das Studium des öffentlichen Rechts und der Staatswissenschaften in Deutschland, Jena 1875 (Prof. in Jena); F. Dahn, Zur Reform des Rechtsstudiums an den preußischen Hochschulen, in: Zeitschrift für die deutsche Gesetzgebung und für einheitliches deutsches Recht 8 (1875), S. 662 – 672 (Prof. in Königsberg); M. A. v. Bethmann-Hollweg, Ueber Gesetzgebung und Rechtswissenschaft als Aufgabe unserer Zeit, Bonn 1876 (ehem. preuß. Unterrichtsminister); O. Gierke, Die juristische Studienordnung, in: Schmollers Jahrhuch, N. F. 1 (1877), S. 1 – 32; ders., Gutachten für den 14. DJT, in: Verh., Bd. 1, Berlin 1878, S. 3 – 24; R. Gneist, Die Studien- und Prüfungsordnung der Deutschen Juristen, Berlin 1878 (Gutachten für den 14. DJT); L. Goldschmidt, Das dreijährige Studium der Rechts- und StaatsWissenschaften, Berlin 1878 (dazu auch die Rez. von O. Mittelstädt, Eine Schicksalsfrage der preußischen Justiz, in: Im neuen Reich 8 / 1, 1878, S. 201 – 212); v. Kräwel, Die Mängel unserer ersten rechtswissenschaftlichen Prüfung, in: Gruchots Beiträge 23 (1879), S. 720 – 732 (Appellationsgerichtsrat in Naumburg; gegen Verlängerung des Studiums); zur gleichzeitigen Kritik an der Vorbildung der höheren Verwaltungsbeamten Bleek, S. 163 – 170. 392 Vgl. Gierke, Studienordnung, S. 27 – 30. Otto Gierke (1841 – 1921, 1911 nobil.), Kriegsteilnehmer 1866 und 1870 / 71, wurde 1872 als Ordinarius nach Breslau berufen; 1884 wechselte er nach Heidelberg, 1887 schließlich nach Berlin. Als führender Germanist seiner Zeit widmete er sich der Erforschung des Deutschen Privatrechts, insb. des Genossenschaftsrechts, das er zu einem Gegenwartsrecht umzuformen suchte. Von dieser Warte aus tadelte er scharf den „unsozialen“ Charakter des BGB; zu letzterem: Th. Haack, Otto von Gierkes Kritik am ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches, Frankfurt / M. 1997; Chr.-M. Pfennig, Die Kritik Otto von Gierkes am ersten Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches, Göttingen 1997. 393 Gneist, S. 28 ff.; Levin Goldschmidt, Rechtsstudium und Prüfungsordnung, Stuttgart 1887, S. 293 – 341; weiterhin die Petition der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Straßburg an den Reichstag (14. 2. 1878), in: BA, R 3001, Nr. 4301, Bl. 45 – 52.
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mehrheitlich von Praktikern besucht, konnte sich hingegen nur zu einer Kompromißlösung durchringen: Er hielt eine Verlängerung des dreijährigen Studiums nicht für erforderlich, sprach sich aber für die Beseitigung der bisherigen Anrechenbarkeit des Militärdienstes aus, um so die vorgeschriebene Mindeststudienzeit zu gewährleisten (Beschluß der IV. Abteilung). Des weiteren votierte er für das Zwischenexamen (Tentamen)394. Was vor 1870 noch als bloße Gefahr erscheinen mochte, konnte dem Auge des kritischen Beobachters jetzt nicht mehr entgehen. Gierke konstatierte „bedenkliche Mängel“, die auf einen „beginnenden Niedergang“ des preußischen Beamtentums schließen ließen. Mancher warme Verehrer desselben habe „in den gegenwärtigen richterlichen wie administrativen Sphären und vornehmlich in deren jüngeren Schichten kopfschüttelnd manche Anzeichen einer ungünstigen Veränderung bemerkt, die großenteils mit Sicherheit auf den Mangel tieferer wissenschaftlicher Bildung zurückzuführen ist: gar zu sehr überwuchert die Routine, die in ihrer Handwerksmäßigkeit schließlich gleichwohl nicht vor dem Verfall der wahren Technik schützt; bedenklich mindert sich der echte Unabhängigkeitssinn, wobei zugleich das Hervorgehen des Juristenstandes aus immer niederen sozialen Schichten nachteilig wirkt; recht sehr fehlt es oft an der Weite des Bildungshorizonts und am Blick auf das Ganze; immmer mehr büßt der Beamte an freier Persönlichkeit ein und sinkt vom lebendigen Glied eines großen Organismus zu einem Teilchen der rastlos arbeitenden Maschine herab; und nur allzu leicht knüpfen sich daran noch unerfreulichere Erscheinungen, wie das sogenannte Strebertum mit allen seinen Folgen“395. Ganz ähnlich Goldschmidt: „Wer ohne ordentliches Wissen mindestens vom öffentlichen Recht und von politischer Ökonomie gegenwärtig in das öffentliche Leben tritt, weiß nur einen Teil des Unerläßlichen, steht ratlos und jedem Windhauch öffentlicher Meinung preisgegeben da in dem immer gewaltiger anschwellenden Kampf der sozialen Interessen“396. Nachlassende Leistungsfähigkeit wurde nicht nur bei Gerichten und Verwaltungsbehörden diagnostiziert, sondern ebenso bei den Parlamenten mit ihren zahlreichen Juristen. Hier kristallisierten sich zentrale Elemente der Richterkritik heraus, die unter dem Rubrum „Niedergang des preußischen Richterstandes“ zwei Jahrzehnte später ihren Höhepunkt erreichen sollte: unzureichende wissenschaftliche Schulung, lückenhafte fachliche Kenntnisse, mangelnde Charakterstärke, fehlende Widerstandskraft gegenüber außerjuristischen Einflüssen, Neigung zum Strebertum. Allen Angriffen zum Trotz überstand das Modell der preußischen Juristenausbildung auch die Reichsjustizreform unbeschadet. Das Gerichtsverfassungsgesetz, in den Vorschriften über das Richteramt ja betont zurückhaltend, war bemüht, in die bestehenden Landesgesetze so wenig wie möglich einzugreifen. Als Mindestdauer von Universitätsstudium und Vorbereitungsdienst wurden jeweils drei Jahre 394 395 396
Zu den Verhandlungen: Goldschmidt, Rechtsstudium, S. 21 – 28. Gierke, Studienordnung, S. 13. Goldschmidt, Studium, S. 62.
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bestimmt, mit der Option für die Einzelstaaten, längere Zeiträume festzulegen (§ 2). Daraufhin beließ es Preußen im Ausführungsgesetz zum GVG (24. 4. 1878) bei der bisherigen Regelung397. Bayern mußte seinen bislang zweieinhalbjährigen Vorbereitungsdienst um ein halbes Jahr verlängern, wobei nunmehr zwölf Monate bei einer Behörde der inneren Verwaltung, achtzehn Monate bei Gerichten und zum Abschluß sechs Monate bei einem an einem Kollegialgericht zugelassenen Rechtsanwalt zu absolvieren waren398. Gleichwohl dauerten die Bemühungen um eine reichseinheitliche Richterausbildung fort: Anknüpfend an einen Beschluß der Justizkommission zur Anwaltsordnung, verabschiedete der Reichstag am 21. 5. 1878 eine Resolution, in welcher der Reichskanzler zur Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfs aufgefordert wurde. Damit gaben die Abgeordneten dem Drängen der Juristenschaft nach: Der 14. Deutsche Juristentag hatte reichsgesetzliche Vorschriften als ein dringendes Bedürfnis bezeichnet, und die Juristischen Fakultäten der Universitäten Straßburg, Berlin, Bonn, Königsberg und Breslau hatten in demselben Sinne an den Reichstag petitioniert, nicht ohne zugleich kräftig für eine vierjährige Studienzeit zu werben399. Da die Bundesstaaten nicht gewillt waren, weitere Eingriffe in ihre Justizhoheit hinzunehmen, scheiterte die Initiative am Einspruch des Bundesrats (21. 6. 1878)400. 4. Die Reichsjustizreform in Preußen und Bayern 1. Für Preußen bedeutete die Reichsjustizreform eine „Rationalisierung großen Stils“ (v. Sydow). Die Unterschiede im Gerichtsaufbau zwischen den altländischen Gebieten, den neuen Territorien und der Rheinprovinz wurden durch Einführung eines einheitlichen und flächendeckenden Systems beseitigt. Fortan existierten in der Monarchie 13 Oberlandesgerichte (ein OLG pro Provinz plus Frankfurt / M.), 91 Landgerichte und 1.090 Amtsgerichte. Die Gesamtzahl der Gerichtsbehörden erhöhte sich von 1.151 auf 1.194, die der Gerichtssitze von 1.068 auf 1.090. Infolge der vergrößerten Bezirke der Kollegialgerichte, der veränderten Besetzung und Zuständigkeit, der Einschränkung der Berufung sowie der Auflösung des Obertribunals sank die Zahl der etatmäßigen Richter von 4.319 auf 3.936, wobei das Minus vor allem höhere Stellen betraf. Desgleichen verringerte sich das Personal der Staatsanwaltschaft von 314 auf 230 Beamte. Die Pensionierung vieler älte397 Zu den GVG-Beratungen samt Übersicht über die landesrechtlichen Regelungen vor 1879: Goldschmidt, Rechtsstudium, S. 44 – 51; zu den Verhandlungen über das preußische Ausführungsgesetz ebd., S. 62 – 66. 398 VO v. 25. 4. 1880, in: JMBl, S. 97 ff.; Überblick über die nach 1879 geltenden Vorschriften: G. Mollat, Die juristischen Prüfungen und der Vorbereitungsdienst zum Richteramte, Berlin 1886. 399 Sämtliche Petitionen in: BA, R 3001, Nr. 4301; dazu auch: Goldschmidt, Rechtsstudium, S. 28 – 31. 400 BR, Session 1878, Prot. § 389.
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rer Richter und die gleichzeitige Übernahme eines Großteils der Assessoren – nach dem 1. 10. 1879 blieben nur noch 299 Anwärter ohne Festanstellung – bewirkten eine Verjüngung des Richterstandes, freilich bei stark gesunkenen Aufstiegschancen401. Die prononciert von Eckart Kehr vorgetragene These, die preußische Justizverwaltung hätte die Pensionierungswelle gezielt dazu benutzt, die Richterschaft von den verbliebenen liberalen Elementen zu säubern, darf inzwischen als widerlegt gelten, auch wenn sich eine stärkere „Anbindung“ der neuen Provinzen nicht verkennen läßt402. Als bedeutsam sollte sich indessen ein anderer Gesichtspunkt erweisen: Die im Vergleich zu den früheren Appellationsgerichtsbezirken wesentlich größeren OLG-Bezirke erschwerten eine Einigung über die Berufungsfrage, zentrales Anliegen aller künftigen Strafprozeßreform, ganz außerordentlich. Im Zeichen der bevorstehenden Rechtseinheit verstärkte sich die Forderung nach Gleichstellung der Justiz mit der Verwaltung403. Zwar stiegen die Richtergehälter 1872 um ein rundes Drittel, die Aufbesserung erfolgte jedoch im Rahmen einer allgemeinen Anhebung der Beamtengehälter, so daß der Abstand zu den Verwaltungsbeamten erhalten blieb404. Eindringlich beschworen wurden nunmehr die Folgen für die Qualität des Personals: „In einem Staatswesen namentlich, welches sich den Charakter eines Rechtsstaates vindiziert, ist es geboten, nicht nur das Gebiet des materiellen Rechts zu pflegen, sondern auch den Organen der Rechtsübung eine geachtete Stellung zu geben, wozu vor allen anderen Dingen die Gleichstellung des Richterstandes mit den bisher so bevorzugten Verwaltungsbeamten erforderlich ist. Nur wenn dies geschieht, ist zu erwarten, daß die besten Kräfte dem Richterstande erhalten bleiben und daß ein frischer Geist, ein reges wissenschaftliches Streben den Juristenstand dauernd beseelen wird“405. Was hier noch als Menetekel an die Wand gemalt wurde, sollte zwanzig Jahre später zum Gegenstand vielstimmiger Klagen werden. Daran änderte auch die relativ großzügige, diesmal ausschließlich den Richtern gewährte Gehaltsaufbesserung nichts, die mit der Reichsjustizreform einherging und einer Anregung Laskers entsprang. Leonhardt wollte die Situation sogar dazu nutzen, die Ungleichbehandlung der Justiz ein für allemal zu beseitigen. Der ent401 Vgl. Bericht über den Stand der Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1882, Übers. S. 49 / 51 / 52; R. v. Sydow, Der Kampf um die Reichsjustizreform vor 50 Jahren, in: Deutsche Rundschau 221 (1929), S. 204 – 209; 222 (1930), S. 44 – 52, hier S. 51 f. (Sydow war Protokollant in der RJK). 402 Ausführlich dazu Ormond, S. 398 – 411. 403 Vgl. Anon., Der Preußische Kreisrichter – ein Subalternbeamter, Berlin 1872; Anon., Die Stellung des Richters, Berlin 1874. 404 AE v. 20. 3. 1872. Die Gehälter der Stadt- und Kreisrichter bewegten sich jetzt zwischen 2.400 und 4.500, die der Regierungsräte zwischen 4.200 und 6.000 Mark; vgl. Stellung des Richters, S. 11 f.; Ormond, S. 60 f. 405 Stellung des Richters, S. 14 f.; ganz ähnlich: Nicolaus Planenberg, Der Preussische Richter von seiner Schattenseite, Loebau 1877, S. 40 f.; Anon., Gegen Herrn Nicolaus Planenberg und für ihn, Thorn 1877, S. 15.
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sprechende Antrag einer von ihm 1878 eingesetzten Kommission höherer Justizbeamter, deren Aufgabe darin bestand, die persönlichen Verhältnisse der Richterschaft zu prüfen, stieß bei Bismarck allerdings auf taube Ohren406. Immerhin hielt es aber auch der Reichskanzler für angebracht, den Abschied von den hergebrachten Einrichtungen, der vielen altpreußischen Richtern schwerfiel, materiell zu „versüßen“. In einem Schreiben an Vizekanzler Stolberg-Wernigerode vom Februar 1879 offenbarte er ein ansonsten ganz untypisches Verständnis für die Richterschaft: „Dabei verkenne ich durchaus nicht, wie wenig politisch erwünscht es ist, wenn die Richter demnächst die Aufbesserung ihrer Gehälter nicht sowohl der Initiative der Regierung als Anträgen der Landesvertretung zu verdanken haben werden. Indessen erachte ich diesen Mißstand immerhin noch für geringer als den anderen, einen mit seiner wirtschaftlichen Lage unzufriedenen Richterstand im Lande zu haben, zumal die Reorganisation schon sonst dem Richterpersonal vielfache und schwer empfundene Opfer auferlegen wird, während es doch der ganzen Hingebung des letzteren bedürfen wird, damit das Ergebnis jener Reorganisation ein befriedigendes werde“407. Freilich handelte es sich um ein rein situationsbedingtes Zugeständnis: Wenige Jahre später plädierte Bismarck im Reichstag dafür, das durch die einseitige Erhöhung entstandene Ungleichgewicht zwischen Justiz und Verwaltung wieder zu beseitigen408. Infolge der Aufstockung des Jahres 1879 lagen die richterlichen Bezüge um einiges höher als im altpreußischen System, wobei die Gehälter der Amts- und Landrichter – einer Vorschrift des preußischen Ausführungsgesetzes zum GVG folgend – gleich bemessen wurden409. Damit verringerte sich zwar die Kluft gegenüber der Verwaltung, diese bot ihren Bediensteten aber weiterhin ungleich günstigere Anstellungs- und Beförderungschancen, ganz abgesehen von der rangmäßigen Bevorzugung, an der sich wenig änderte410. Von daher blieb das Thema auf der Tagesordnung. Verschärfend kam hinzu, daß sich die einzelnen Oberlandesgerichtsbezirke aufgrund getrennter Besoldungsetats erheblich voneinander unterschieden, was die Aussicht auf Avancement, aber auch die tatsächliche Höhe des Gehalts von Richtern, die auf derselben Stufe der Nomenklatur standen, betraf 411.
406 Vgl. Serenus Albus, Der drohende Niedergang des preußischen Richterstandes, Breslau 1897, S. 25 („ein mächtigerer, von Erbitterung gegen die Richter erfüllter Wille stemmte sich entgegen“). 407 Zit. nach H. Goldschmidt, Aus den Akten zur Vereinheitlichung des Rechts 1873 – 1881, in: DJZ 35 (1930), S. 59 – 71, hier S. 62. 408 Bismarck, Sten. Ber. RT, 12. 6. 1882, S. 358. 409 Amts- und Landrichter erhielten jetzt zwischen 2.400 und 6.000 Mark (vormalige Kreisrichter: 2.400 bis 4.500 Mark; Regierungsräte: 4.200 bis 6.000 Mark); vgl. Ormond, S. 165 ff. 410 Zu den Rangverhältnissen Ormond, S. 174 f. 411 Detailliert zu den Rang- und Gehaltsverhältnissen nach 1879: Schwartz, Die Stellung der Richter in Preußen, in: Schmollers Jahrbuch, N. F. 10 (1886), S. 769 – 801 (AR auf Pellworm / Nordfriesl.); zur großen Resonanz der Schrift Serenus Albus, S. 3.
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2. In Bayern erhielten die Rheinpfalz und die rechtsrheinischen Gebiete erstmals eine gemeinsame Gerichtsstruktur. Der Gerichtsaufbau blieb vierstufig: An der Spitze stand das Bayerische Oberste Landesgericht in München, zuständig für Revisionen und Beschwerden in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Senate mit 7 Mitgliedern), gefolgt von fünf Oberlandesgerichten (Augsburg, Bamberg, München, Nürnberg, Zweibrücken), 28 Landgerichten und 270 Amtsgerichten. Die Zahl der etatmäßigen Richter betrug 1.152, die der Staatsanwälte 105412. Im gesamten Deutschen Reich existierten nunmehr 28 Oberlandesgerichte, 171 Landgerichte (mit 137 Schwurgerichten sowie 65 Kammern für Handelssachen) und 1.910 Amtsgerichte, von denen 805 (42 %) mit nur einem Richter, 630 (33 %) mit nur zwei Richtern besetzt waren. Die Gesamtzahl der richterlichen Beamten belief sich auf 7.026, die der staatsanwaltschaftlichen auf 487413.
II. Das materielle Strafrecht 1. Das Reichsstrafgesetzbuch Stand der Gesetzgeber bei Ausarbeitung der Reichsjustizgesetze vor der grundsätzlichen Schwierigkeit, die partikularen Rechtsentwicklungen zu einer halbwegs tragfähigen Einheit zusammenschweißen zu müssen, so war die Aufgabe beim materiellen Strafrecht insofern eine einfachere, als man auf ein bestehendes Regelwerk zurückgreifen und den neuen Kodex somit in eine lebendige Rechtstradition stellen konnte. Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund (31. 5. 1870), das mit geringfügigen Änderungen ein Jahr später zum Reichsstrafgesetzbuch erhoben wurde (15. 5. 1871, in Kraft getreten am 1. 1. 1872), beruhte auf dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851. Dieses wiederum lehnte sich an den napoleonischen Code pénal von 1810 an, vor allem in dogmatischer Hinsicht (Aufnahme „mildernder Umstände“, Dreiteilung der strafbaren Handlungen in Übertretungen, Vergehen und Verbrechen, Gleichbehandlung von versuchter und vollendeter Tat, desgleichen von Täter und Teilnehmer), nicht so sehr in den Strafdrohungen, die weniger rigide und um einiges milder ausgefallen waren. Eine zweite Quelle, wenn auch von geringerer Bedeutung, bildete das von Feuerbach ausgearbeitete Strafgesetzbuch für Bayern aus dem Jahre 1813414. Nichtsdestoweniger sah sich der preußische Strafkodex dem Vorwurf ausgesetzt, seine Vorschriften seien übertrieben hart und zu eng gefaßt. Bereits bei den gesetzlichen Beratungen hatte die Frage der Strafdrohungen im Zentrum gestanden. Die Novelle vom 9. 3. 1853 nahm gewisse Milderungen vor, vermochte an der allge412 Zahlen nach: C. Pfafferoth (Hg.), Jahrbuch der Deutschen Gerichtsverfassung, Bd. 1, Berlin 1880, S. 389 ff.; weiterhin: Staatsminister, II, S. 858 ff.; Volkert, Handbuch, S. 126 ff. 413 Pfafferoth, S. 498 und Übers. S. 499 – 503. 414 Kurze Charakteristik des preußischen StGB bei: E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., Göttingen 1965, S. 319 – 321.
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meinen Ungunst aber wenig zu ändern415. Das bayerische Strafgesetzbuch von 1861, am preußischen Vorbild orientiert, aber auch Feuerbachschen Traditionen verpflichtet, enthielt durchweg mildere Strafsätze, am wenigsten bei den politischen Straftaten und den Sittlichkeitsdelikten416. Im Zuge seiner Entstehungsgeschichte trug das Reichsstrafgesetzbuch der Kritik in steigendem Maße Rechnung417. Schon der erste Entwurf, im preußischen Justizministerium unter Federführung Friedbergs ausgearbeitet, versuchte sich vom Stigma unzeitgemäßer „Härte“ zu befreien. Die folgenden Änderungen – zunächst durch eine siebenköpfige Bundesratskommission, dann durch die Reformkoalition des Reichstags unter Führung der Nationalliberalen – zielten in dieselbe Richtung418. Im Ergebnis entstand ein 370 Paragraphen umfassender Kodex, dessen Signatur in doppeltem Sinne dem liberalen Geist der Epoche entsprach: in der Humanisierung und Individualisierung des Strafrechts, aber auch in seinem „kapitalistischen“ Charakter. Einige typische Momente seien genannt419: Die Strafdrohungen waren durchschnittlich etwa um die Hälfte herabgesetzt. Die Todesstrafe wurde von 14 auf 2 Verbrechen beschränkt (gemeiner Mord, Hochverrat in Form von Mord / Mordversuch am Kaiser oder Landesherrn), die zeitige Zuchthausstrafe auf 1 bis 15 Jahre (bisher 2 bis 20 Jahre) festgelegt (§ 14), die zeitige Festungshaft auf 15 Jahre (bisher 20) begrenzt (§ 17). Durchweg fand eine Erweiterung des Strafrahmens statt: In vielen Fällen war ein Strafminimum überhaupt nicht angegeben, häufig bestand die Wahl zwischen einer schwereren und einer leichteren Strafart (Zuchthaus vs. Festungshaft, Gefängnis vs. Geldbuße), das System der „mildernden Umstände“ wurde ausgeweitet, wobei die Richter unter das jeweilige Mindeststrafmaß 415 Schwarze stellte in bezug auf die preußischen Strafsätze lapidar fest, „über ihre zum Teil ganz ungerechtfertigte Härte herrscht nur eine Stimme“ (Fr. O. Schwarze, Der Entwurf des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund und die Kritiker des Entwurfs, in: GerS 22, 1870, S. 146 – 220, hier S. 172). 416 Vgl. P. Schweisthal, Das bayerische Strafgesetzbuch von 1861, München 1992, S. 138 ff. 417 Zur Entstehungsgeschichte: Hans Rüdorff, Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 4. Aufl., hg. v. M. Stenglein, Berlin 1892, S. 9 – 26; Rüdorff, damals Kreisrichter, war als Hilfsarbeiter im JM an der Ausarbeitung des ersten Entwurfs beteiligt; Materialien: W. Schubert / Th. Vormbaum (Hg.), Entstehung des Strafgesetzbuchs, 2 Bde., Baden-Baden 2002 / Berlin 2004; neueste Textausgabe: Th. Vormbaum / J. Welp (Hg.), Das Strafgesetzbuch, Bd. 1, Baden-Baden 1999, S. 1 – 89; weiterhin: W. Schubert, Der Ausbau der Rechtseinheit unter dem Norddeutschen Bund, in: FS Gmür, hg. v. A. Buschmann (u. a.), Bielefeld 1983, S. 149 – 189 (äußerer Ablauf); A. Roth, Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 bis 1918, in: Th. Vormbaum / J. Welp (Hg.), Das Strafgesetzbuch. Supplementband 1, Berlin 2004, S. 1 – 37. 418 Zusammenstellung der RT-Beschlüsse bei Rüdorff, S. 22 f. Die Reformmehrheit des Norddeutschen Reichstags (297 Abgeordnete) bestand aus den Nationalliberalen (84), der Fortschrittspartei (30) und den Freikonservativen (36). Sie wurde fallweise von Mitgliedern der kleineren liberalen Gruppierungen, aber auch der konservativen Fraktion (70) ergänzt. 419 Zum folgenden Rüdorff, S. 28 – 34 sowie die Zeitungsausschnitte in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49477.
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herabgehen konnten. Insgesamt war der richterliche Ermessensspielraum erheblich ausgedehnt worden. Beim Versuch (§§ 43 – 46) und bei der Teilnahme (§§ 47 – 50) war man zur milderen deutschen Rechtsauffassung zurückgekehrt. Die Zuchthausstrafe zog nicht mehr unweigerlich den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nach sich, und Zuchthäusler verloren nicht mehr das Verfügungsrecht über ihr Vermögen, was bislang die Bestellung eines Vormunds erforderlich gemacht hatte (§§ 31 – 36). Die Polizeiaufsicht, früher bei schweren Verbrechen obligatorisch, wurde stark eingeschränkt (§§ 38, 39). Neu für Preußen waren die „vorzeitige Entlassung“ wegen guter Führung, wenn drei Viertel, mindestens aber ein Jahr der Strafe verbüßt worden war (§§ 23 – 26), sowie die Möglichkeit, erlittene Untersuchungshaft ganz oder teilweise auf die Strafhöhe anzurechnen (§ 60). Der Kreis der Antragsdelikte (strafbare Handlungen, deren Verfolgung nur auf Antrag des Verletzten eintrat) wurde beträchtlich erweitert (Ehebruch, Notzucht, Beleidigung, leichte Körperverletzung, Nötigung, Sachbeschädigung, Offenbarung von Privatgeheimnissen). Neben der praktischen Absicht, die Strafverfolgungsbehörden zu entlasten, entsprang die Tendenz einem kantianisch geprägten Menschenbild: Leitvorstellung war das sittlich autonome (bürgerliche) Individuum, das über die Ahndung der erlittenen Rechtsverletzung in freier Selbstbestimmung entscheiden konnte und sollte. Der „kapitalistische“ Charakter des Reichsstrafrechts kam vor allem in der Tatsache zum Ausdruck, daß dem Eigentum ein deutlich höherer Rechtsschutz gewährt wurde als der Person – das Gesetzbuch bestrafte Vermögensdelikte erheblich strenger als Körperverletzungen. So waren Geldstrafen oder mildernde Umstände beim einfachen Diebstahl ausgeschlossen, und der Rückfall galt nur bei Verstößen gegen das Eigentum als Strafverschärfungsgrund420. Während der zeitgenössische Diskussionsprozeß vom Problem der Todesstrafe beherrscht wurde, liegt das Augenmerk in dem hier interessierenden Zusammenhang auf den politischen Strafvorschriften. Wie bei den späteren Justizgesetzen stellt sich die Frage, in welchem Maße die preußischen Erfahrungen in die gesetzlichen Regelungen einflossen, so daß von einem (relativen) Schutzwall gegen politische Inanspruchnahme gesprochen werden kann. Ähnlich wie sein Vorgänger enthielt das Reichsstrafgesetzbuch einen umfangreichen Katalog von Bestimmungen zum äußeren und inneren Schutz des Staates: Die ersten sieben Abschnitte des zweiten Teils umfaßten die politischen Verbrechen und Vergehen, wobei der zweite („Beleidigung des Landesherrn“), der sechste („Widerstand gegen die Staatsgewalt“) und der siebte Abschnitt („Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche Ordnung“) in der Praxis besondere Bedeutung erlangten421. Hinzu kamen diejeni420 Zur Entwicklung der Tatbestandsgruppen neuerdings: F. Prinz, Diebstahl – §§ 242 ff. StGB, Baden-Baden 2002 (1870 bis heute); F. Korn, Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB, Berlin 2003 (1870 – 1933). 421 Infolge der bundesstaatlichen Erweiterung hatte sich die Zahl der politischen Straftatbestände erhöht: Das preußische StGB umfaßte 60, die ursprüngliche Fassung des RStGB 66 politische Vorschriften; Überblick über die Entwicklung der Staatsschutzbestimmungen
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gen Tatbestände, die, wie etwa die Beleidigungsdelikte, nicht unter die Staatsschutzbestimmungen fielen, politisch aber gleichwohl erhebliche Tragweite besaßen. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, daß den Liberalen ernsthaft an einer Entschärfung der obrigkeitsstaatlichen Vorschriften gelegen war422. Ihre Bemühungen sollen im folgenden kurz bilanziert werden. Auf der Habenseite stehen die auf Antrag Twestens neu aufgenommenen §§ 11 und 12, die die Redefreiheit der Abgeordneten in den einzelstaatlichen Kammern sowie die Straflosigkeit der Parlamentsberichte in vollem Umfange garantierten – Forderungen, die ernsthaft nicht mehr bestritten wurden423. Eher in den Bereich des Symbolischen gehörte die Durchbrechung der bisherigen Praxis, politische Verbrechen mit Zuchthaus zu ahnden und dadurch als ehrlos zu brandmarken. Bei fast allen politischen Verbrechen (Abschnitte 1 – 5) sah das Gesetz nunmehr neben der Zuchthausstrafe alternativ Festungshaft von gleicher Dauer vor, mithin eine Strafart, bei der die Ehrbarkeit als nicht angetastet galt (custodia honesta). Darüber hinaus bestimmte der neu aufgenommene § 20, daß auf Zuchthaus nur bei festgestellter ehrloser Gesinnung erkannt werden dürfe424. Eine Ausnahme bildeten lediglich die schwersten Fälle von Landesverrat (§§ 90 und 92), bei denen Leonhardt die Regelung für unannehmbar erklärte425. In diesem Zusammenhang versuchten die Liberalen, die politischen Verbrechen den Schwurgerichten zu übertragen. Der Antrag, der an sich gegen den Staatsgerichtshof gerichtet war, wurde mit 80:134 Stimmen abgelehnt, im wesentlichen deshalb, weil er zwei unterschiedliche Forderungen enthielt426. Unter Abkoppelung der Juryfrage stellte Lasker daraufhin den Antrag, alle politischen Verbrechen den ordentlichen Landesgerichten zuzuweisen, womit dem Staatsgerichtshof die Existenzgrundlage entzogen worden wäre. Das Amendement fand eine knappe Mehrheit (82:80 Stimmen), wurde aber, nachdem es Leonhardt namens der preußischen Regierung für inakzeptabel erklärt hatte, wieder zurückgenommen427. Ein weiteres Kapitel bildeten die politischen Alltagsdelikte, wobei vor allem Presseprozesse, aber auch Anklagen wegen Widerstands gegen Beamte regelmäßig für böses Blut sorgten. Hier bestand die Aufgabe darin, die unbestimmten und dehnbaren Tatbestandsmerkmale des preußischen Strafrechts zu präzisieren und zu begrenzen. So wurde die nebulöse „Verletzung der Ehrfurcht“ vor dem König (§ 75) durch die intentionale Majestätsbeleidigung ersetzt. Weiterhin schränkte zwischen 1871 und 1914: Fr.-Chr. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, München 1970, S. 86 – 108. 422 Die erwähnten sieben Abschnitte wurden, neben dem allgemeinen Teil, nicht der zur Beratung der Vorlage eingesetzten Kommission überwiesen, sondern im Plenum behandelt. 423 Sten. Ber. RT, 8. 3. und 23. 5. 1870, S. 226 – 233, 1128, 1141 f., 1147. 424 Sten. Ber. RT, 15. 3. und 23. 5. 1870, S. 298 – 313, 1142 – 1145. 425 Sten. Ber. RT, 21. und 24. 5. 1870, S. 1092, 1167 f. 426 Sten. Ber. RT, 15. 3. 1870, S. 298 – 313; Antrag Meyer (Thorn) u. Gen., Drks. Nr. 58 / I. 427 Sten. Ber. RT, 8. 4., 21. 5. und 24. 5. 1870, S. 772 – 775, 1092, 1178.
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man die Strafbarkeit der Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze, Verordnungen und Anordnungen staatlicher Organe (§ 87) auf „rechtsgültige“ Verordnungen und von der Obrigkeit „innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffene“ Anordnungen ein und strich den Passus, der die Anpreisung rechtswidriger Handlungen (sog. Glorifikation) für strafbar erklärte. Ein weitergehender Antrag, „Ungehorsam“ durch „Widersetzlichkeit“ zu ersetzen, fand keine Mehrheit428. Ganz ähnlich sollte der Widerstand gegen Beamte (§ 89 preuß. StGB) zukünftig nur noch strafwürdig sein, wenn dieser sich in der „rechtmäßigen Ausübung seines Amtes“ befand (§ 113 RStGB)429. Auch die berüchtigten Haß- und Verachtungsparagraphen des preußischen Strafrechts (§§ 100, 101) erhielten eine engere Fassung. Schon die Regierungsvorlage hatte den § 100 auf „Feindseligkeiten“ beschränkt, ein Merkmal, das der Reichstag weiter auf „Gewalttätigkeiten“ einengte430. Der auf Planck zurückgehende Zusatz zu § 101, der die Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen nur dann unter Strafe stellte, wenn der Betreffende um den wahrheitswidrigen Charakter der behaupteten Tatsachen wisse, schränkte die praktische Anwendbarkeit des Paragraphen erheblich ein. Die Vorschrift einfach zu streichen, war die Mehrheit hingegen nicht bereit: Der entsprechende Antrag fiel mit 111:88 Stimmen durch431. In der Summe fiel das Ergebnis zwiespältig aus. Sicherlich war der liberale Bodengewinn größer als bei den Reichsjustizgesetzen von 1879. Wie die späteren Kontroversen um die politische Strafjustiz belegen, stellten die erwähnten Kautelen durchaus wirkungsvolle Barrieren dar, die nur um den Preis einer extensiven, zunehmend als widerrechtlich empfundenen Auslegungspraxis überschritten werden konnten. Andererseits hielt sich die Liberalisierung in bestimmten Grenzen. Die Nationalliberalen waren in erster Linie darauf bedacht, den polizeistaatlichen Auswüchsen durch verstärkte Rechtsgarantien Schranken zu setzen. Vor einschneiden428 Sten. Ber. RT, 18. / 19. 3. und 24. 5. 1870, S. 388 – 393, 399 – 413, 1168; Antrag Fries u. Gen., Drks. Nr. 65 / II / 1; Antrag Planck, Drks. Nr. 69. Der neue § 110 lautete: „Wer öffentlich vor einer Menschenmenge oder wer durch Verbreitung oder öffentlichen Anschlag oder öffentliche Ausstellung von Schriften oder anderen Darstellungen zum Ungehorsam gegen Gesetze oder rechtsgültige Verordnungen oder gegen die von der Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen auffordert, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft“. 429 Sten. Ber. RT, 21. 3. und 24. 5. 1870, S. 428 – 431, 1168 f.; Antrag Lasker u. Gen., Drks. Nr. 193 / 4; ebenso in § 117 in bezug auf Forst- und Jagdbeamte. 430 Sten. Ber. RT, 21. 3. 1870, S. 439 f.; Antrag Fries u. Gen., Drks. Nr. 65 / II / 12. Der neue § 130 lautete: „Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten gegeneinander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft“. 431 Sten. Ber. RT, 21. und 23. 3. 1870, S. 440 – 446, 461 – 465; Antrag Planck, Drks. Nr. 76 / I; Antrag Fries u. Gen., Drks. Nr. 65 / II / 13. Der neue § 131 lautete: „Wer erdichtete oder entstellte Tatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft“.
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den materiellen Änderungen schreckten sie zurück, da ein hohes Maß an strafrechtlich sanktioniertem Staatsschutz erhalten bleiben sollte. Keiner der strittigen Paragraphen wurde gestrichen, weitergehende Anträge stießen wiederholt auf Ablehnung, und die hohen Strafdrohungen, die gerade für die politischen Alltagsdelikte typisch waren, tastete man nicht an (die Obergrenze lag weiterhin bei zwei Jahren Gefängnis, mildernde Umstände waren unzulässig). Insgesamt lassen die Regelungen erkennen, daß die Aufrechterhaltung einer starken monarchischen Staatsgewalt durchaus im Interesse des liberalen Ordnungs- und Besitzdenkens lag. Die Rechnung bliebe unvollständig, wenn man übersehen würde, daß ein Großteil des gewonnenen Terrains durch die Bestimmungen über die Beleidigungstatbestände wieder verlorenging. Die politische Bedeutung der Injuriendelikte lag auf der Hand, da, wie die „Staatsbürger-Zeitung“ konstatierte, „die meisten aller Preßvergehen auf eine Beleidigung hinauslaufen“432. Der Reichstag setzte zwar eine interne Differenzierung der Tatbestände durch, beließ es aber beim Ansatz des Entwurfs, die mittels der Presse verübten Beleidigungen strenger zu ahnden (§§ 186 / 187 RStGB). Erstaunlicherweise kamen die politischen Implikationen des Injurienkomplexes im Plenum nicht adäquat zur Sprache433. Hierbei mag die Tatsache zum Tragen gekommen sein, daß alle beteiligten Organe (preußisches Staatsministerium, Bundeskanzleramt, Bundesrat, Reichstag) an einer möglichst zügigen und reibungslosen Verabschiedung des Gesetzes interessiert waren. Die liberale Zurückhaltung fiel umso stärker ins Gewicht, als die preußische Regierung damals noch um einiges konzessionsbereiter war als einige Jahre später. So wurden lediglich drei vom Reichstag beschlossene Amendements für unannehmbar erklärt, wobei wohl einzig die Abschaffung der Todesstrafe preußischerseits eine conditio sine qua non darstellte434. Insgesamt spiegelte sich der liberale Charakter des Reichsstrafgesetzbuchs in den politischen resp. politiknahen Abschnitten am wenigsten wider. Insofern überrascht es nicht, daß sich vor allem linksliberale Kommentatoren enttäuscht zeigten. Nach den Beschlüssen zweiter Lesung monierte die „Volks-Zeitung“, der Reichstag habe das „lehrreiche Thema“ der preußischen Strafjustiz nicht hinreichend aufgenommen: „Wir haben in Preußen gar so viel erlebt, daß es sich wohl geziemt hätte, wenn am Reichstage das große Buch bitterer Erfahrungen aufgeschlagen worden wäre, um die Gefahr strenger Strafbestimmungen für politische Vergehen zu zeigen“435. Scharf attackiert wurden auch die unklaren Bestimmungen der Beleidigungsparagraphen436. Ob die gefundenen Lösungen ausStaatsbürger-Zeitung v. 25. 2. 1870 (archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49477). Sten. Ber. RT, 4. 4. 1870, S. 645 – 652; Antrag Lasker u. Gen., Drks. Nr. 106 / I / 6. 434 Pollmann kommt zu dem Schluß, die Liberalen hätten es versäumt, für die Beibehaltung der Todesstrafe Kompensationen im Bereich des politischen Strafrechts zu fordern (S. 496 f.). Das Gesetzbuch wurde am 25. 5. 1870 vom Reichstag mit „sehr großer Majorität“ angenommen (Sten. Ber., S. 1187). 435 VZ v. 30. 3. 1870; ähnlich Berliner-Börsen-Zeitung v. 22. 3. 1870 (beide archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49477). 436 Staatsbürger-Zeitung v. 2. 1. und 25. 2. 1870 (archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49477). 432 433
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reichten, um das Strafgesetzbuch politisch einigermaßen „wetterfest“ zu machen, konnte indes erst die Zukunft erweisen. 2. Die StGB-Novelle von 1876 1. Bereits bei Verabschiedung des Strafgesetzbuches hatte sich Leonhardt dafür ausgesprochen, das neue Recht nach Ablauf einer Übergangsfrist von etwa fünf Jahren einer Generalüberprüfung zu unterziehen437. In der Tat erwiesen sich eine Reihe von Bestimmungen schon nach kurzer Zeit als änderungsbedürftig. Den Anstoß zur Revision gaben praktische Unzuträglichkeiten, deren Ursprung teils in den gesetzlichen Bestimmungen, teils in der Rechtsprechung der Gerichte lag. Politische Motive spielten anfänglich noch keine dominierende Rolle, gewannen dann aber mehr und mehr an Gewicht und beherrschten die öffentliche Diskussion schließlich völlig. Auf Initiative Bismarcks faßte das Staatsministerium am 14. 1. 1874 den Beschluß, Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs vorzunehmen. Auch bei dieser Gelegenheit konnte sich der Reichskanzler einen Seitenhieb auf die Richter nicht verkneifen: „Im allgemeinen sei ein großes Mißverhältnis zwischen der Bestrafung solcher Vergehen eingetreten, bei denen die Richter die Möglichkeit der eigenen Gefährdung im Auge haben könnten, und solchen, bei denen dies weniger der Fall sei“438. Der Bundesrat, am 31. 1. 1874 über das preußische Vorhaben in Kenntnis gesetzt, stimmte einer Revision grundsätzlich zu (21. 2. 1874) und forderte die Bundesregierungen auf, sich über etwaige Änderungswünsche zu äußern. Die Initiative mündete in die Strafrechtsnovelle vom 26. 2. 1876, der umfangreichsten ihrer Art im Kaiserreich439. Im wesentlichen kreiste die Diskussion um vier Sachkomplexe. Erstens: Große Teile der Öffentlichkeit empfanden die richterliche Strafzumessung als zu milde. Der Vorwurf tauchte gleichermaßen in der Presse wie in der Fachpublizistik auf und richtete sich namentlich gegen die Urteilspraxis bei Körperverletzungen (Raufhändel, Messerstechereien u. ä.)440. Für erhebliches Aufsehen sorgte ein Artikel der „Volks-Zeitung“ vom Dezember 1873, in dem die „Sicherheitspflege“ im Bezirk des Appellationsgerichts Hamm, der auch das westfälische Industrierevier umfaßte, vehement angegriffen wurde. Ein daraufhin von Leonhardt angeforderter Bericht des zuständigen Oberstaatsanwalts verteidigte die Urteilspraxis der Ge437 Leonhardt, Sten. Ber. RT, 23. 5. 1870, S. 1133; ebenso Leonhardt an Bismarck, 22. 1. 1874, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8397, Bl. 9 ff. 438 Prot. StM, 14. 1. 1974 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8397, Bl. 6 ff. 439 Neueste Textausgabe bei Vormbaum / Welp, I, S. 92 – 107 (redig. Fassung des StGB ebd., S. 108 – 200); aus der zeitgenössischen Literatur: Carl Fuchs, Zur Revision des Deutschen Strafgesetzbuchs, Breslau 1875; zur Haltung der Fortschrittspartei Richter, I, S. 128 – 130; beschränkt auf den politischen Komplex: Pöls, S. 36 – 40; Stürmer, S. 139 – 143. 440 Aus der Literatur: Rudolf Medem, Ueber Strafzumessung und Strafmaß, in: GerS 26 (1874), S. 590 – 607; Medem, Kreisgerichtsrat in Greifswald, spricht von einem „unerträglichen Rechtszustand“, der „verwirrend und geradezu depravierend“ wirke.
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richte und plädierte stattdessen für eine Verschärfung der Strafvorschriften. Im Justizministerium sah man das, wie aus einer Randnotiz hervorgeht, ganz anders – hier gab man den Richtern die Schuld an der Misere441. Über die Ursachen des Problems bestand weithin Einigkeit: Die hohen Strafsätze des preußischen Kodex hatten die Richter veranlaßt, sich bei der Strafzumessung an den gesetzlichen Mindestbeträgen zu orientieren – eine Art Kollektivreaktion gegen die als übertrieben hart empfundenen Strafdrohungen442. Das veränderte Strafensystem des neuen Strafgesetzbuchs – gesenkte bzw. beseitigte Strafminima, Zulassung mildernder Umstände, alternative Androhung von Gefängnis- oder Geldstrafe – hatte die bestehende Praxis gleichsam sanktioniert und damit weiter befestigt. Daß Fälle von Körperverletzung besonderes Aufsehen erregten, kann angesichts der sozialpolitischen „Schieflage“ des Gesetzbuchs nicht verwundern. Besagter „Volks-Zeitungs“-Artikel dürfte den letzten Anstoß zu einer Verfügung gegeben haben, die Leonhardt, der mit ministeriellen Anweisungen ansonsten sparsam umging, zu Beginn des Jahres 1874 an alle Staatsanwälte ergehen ließ. Sie enthält eine eindringliche Mahnung an die Richter, mit ihrem Urteilsrecht verantwortungsvoll umzugehen. Die weiten Strafrahmen des neuen Gesetzbuchs hätten die Richter, so Leonhardt, in den Stand versetzen wollen, „der Individualität des einzelnen Falles nach freiem Ermessen gerecht zu werden“. Keinesfalls aber dürfe das Strafmaß aus einer „schematisierenden Berechnungsweise“ hervorgehen, bei der das jeweilige Minimum zugrundegelegt werde. Wo sich eine derartige Gewohnheit herausgebildet habe, hätte die Staatsanwaltschaft die Pflicht, von ihrer Rechtsmittelbefugnis „einen gleich maßvollen wie nachhaltigen“ Gebrauch zu machen, und zwar in der Erwartung, daß „die Rechtsprechung der Berufungsgerichte dazu beitragen wird, eine ungerechtfertigte Milde in der Bestrafung Schuldiger zu beseitigen und damit einen Mißstand in der Strafrechtspflege aufhören zu machen, der nicht ohne Grund bereits als eine der ganzen bürgerlichen Gesellschaft drohende Gefahr empfunden wird“443. Leonhardts Reskript glich dem sprichwörtlichen Kampf gegen Windmühlenflügel, erwies sich die Tendenz zu immer milderen Urteilen doch als unaufhaltsam. Zweitens: Unzuträglichkeiten hatten sich auch auf dem Gebiet der Antragsdelikte ergeben, deren Zahl auf Drängen des Reichstags erheblich vermehrt worden war. Namentlich bei Verstößen gegen die Sittlichkeit (Notzucht und ähnliche Unzuchtshandlungen, §§ 176 / 177 StGB) sowie die persönliche Freiheit (Nötigung, Bedrohung mit einem Verbrechen, §§ 240 / 241 StGB) waren nachweislich schwere Straftaten ungesühnt geblieben. Ausgehend von der Bestimmung, daß der Antrag 441 In der Randnotiz heißt es: „Nicht das Gesetz trifft der Vorwurf, sondern die verkehrte Handhabung desselben in ungerechtfertigter Milde“ (GStA, Rep. 84a, Nr. 8397, Bl. 15 – 21, hier Bl. 18). 442 Vgl. Lasker, Sten. Ber. RT, 3. 12. 1875, S. 389 f.; Rüdorff, S. 35. 443 AV v. 12. 1. 1874, in: JMBl, S. 31 f. Wie aus einer bereits am 8. 1. 1873 an die Oberstaatsanwälte erlassenen Verfügung hervorgeht, folgten auch viele Staatsanwälte bei ihren Strafanträgen dem kritisierten Muster.
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bis zur Verkündung eines auf Strafe lautenden Urteils zurückgenommen werden konnte (§ 64 StGB), war mancherorts ein regelrechter Handel zwischen Täter und Verletztem um den Abkauf der Strafe eingerissen. In einem Bericht der Regierung in Aachen hieß es: „Die einzelnen Vergehen und Verbrechen haben jetzt ihre Preisskala, und die Staatsanwaltschaft und die Gerichte werden in Bewegung gesetzt, um die Preise auf der richtigen Höhe zu halten“444. Binnen weniger Jahre hatte sich mithin gezeigt, daß die liberale Vorstellung, der Verletzte werde verantwortungsvoll mit seinem Antragsrecht umgehen, auf allzu idealistischen Annahmen beruhte. Drittens: Die Festsetzung der Strafmündigkeit auf das vollendete 12. Lebensjahr (§ 55 StGB) hatte zur Folge, daß vermehrt Eigentumsverletzungen von Kindern begangen wurden, wobei die Eltern als Anstifter fungierten. Überwiegend handelte es sich um Fälle von Holzdiebstahl und Feldfrevel, also Tatbestände, die auf sozialer Notlage beruhten445. Der Reichstag, in der Lagebeurteilung mit der Exekutive weitgehend einig, übernahm die Vorschläge des Regierungsentwurfs, wenn auch meist nicht im vorgesehenen Umfang. Als neuer Tatbestand trat die gefährliche Körperverletzung, versehen mit erhöhter Strafdrohung und von Amts wegen zu verfolgen, hinzu (§ 223a StGB), die meisten Antragsvergehen wurden in Offizialdelikte rückverwandelt (übrig blieben nur die Beleidigung und die leichte Körperverletzung), eine Rücknahme des Antrags war künftig nur noch in wenigen Fällen zulässig, und für Kinder unter 12 Jahren sah das Gesetz die Möglichkeit von Erziehungs- und Besserungsmaßregeln vor446. Im ganzen erhielten 44 Paragraphen eine geänderte Fassung, sieben Straftatbestände wurden neu eingefügt. In der Debatte verwahrte sich Lasker gegen den Vorwurf, das Gesetzbuch leiste einer zu großen Milde Vorschub. Er bestritt keineswegs, daß die Judikatur nicht immer mit der wünschenswerten Strenge vorginge, erklärte dies aber mit Übergangsschwierigkeiten, die sich mit zunehmender Eingewöhnung legen würden. Bismarck lenkte die Aufmerksamkeit auf die sozialpolitische Problematik: Er beklagte die tiefe Kluft, die zwischen Urteilen in Eigentumssachen und solchen in Fällen von Körperverletzung bestünde, und warf den Richtern „strafbare Gutmütigkeit“ vor447. Ganz anders lagen die Verhältnisse beim vierten Komplex, den politischen Delikten. Schon seit längerem sann Bismarck, aufgeschreckt durch die sozialistische Agitation, auf strafrechtliche Verschärfungen. Bei ihrem Treffen in Gastein (August 1871) war er sich mit dem österreichisch-ungarischen Reichskanzler Beust 444 Votum Eulenburgs v. 30. 4. 1875, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8398, Bl. 301; ebenso Leonhardt an Bismarck, 22. 1. 1874, Bl. 10 f. 445 Vgl. Leonhardt an Bismarck, 22. 1. 1874, Bl. 11. 446 Vgl. Rüdorff, S. 190 ff., 209, 220 f., 486 f., 490 f.; weiterhin: Fr. O. Schwarze, Die Strafrechtsnovelle und der Reichstag, in: GerS 28 (1876), S. 367 – 385 (Schwarze war Vorsitzender der RT-Kommission). 447 Sten. Ber. RT, 3. 12. 1875, S. 388 – 390 (Lasker) sowie S. 400 f. (Bismarck).
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– neben der Notwendigkeit sozialpolitischer Maßnahmen – darin einig, „staatsgefährliche Agitationen durch Verbots- und Strafgesetze zu hemmen, soweit es geschehen kann, ohne ein gesundes öffentliches Leben zu verkümmern“448. Im Dezember 1871 forderte er Leonhardt in zwei Punkten zu einer legislativen Nachbesserung auf: Zum einen sollten die Antragsdelikte vermindert, insbesondere die durch Zwang herbeigeführte Teilnahme an Streiks von Amts wegen verfolgt werden, zum anderen hielt es Bismarck für geboten, die Aufforderung zum bzw. Anpreisung von Verbrechen schärfer zu bestrafen bzw. überhaupt unter Strafe zu stellen449. Vor diesem Hintergrund überrascht es ein wenig, daß von den politischen Aspekten kaum die Rede war, als die preußische Regierung die Revision des Strafgesetzbuchs schließlich in Angriff nahm. In der Ministerbesprechung vom 14. 1. 1874 wies nur der von Bismarck gemachte Vorschlag, Widerstandshandlungen gegen Exekutivbeamte strenger zu ahnden, in diese Richtung, und in einer ersten Übersicht, die Leonhardt über die revisionsbedürftigen Materien gab, fehlten politische Tatbestände völlig450. Wie aus dem weiteren Schriftwechsel zwischen Bismarck, Leonhardt und den übrigen Ressortministern – der Entwurf wurde im preußischen Justizministerium unter Federführung Friedbergs gefertigt – hervorgeht, gewannen die politischen Überlegungen dann Schritt für Schritt an Bedeutung. Wesentliche Impulse gingen vom Reichskanzler selbst aus, der zahlreiche Vorschläge unterbreitete 451. Dabei bestätigt sich einmal mehr, daß Bismarck das Strafrecht als ein universell einsetzbares Instrument betrachtete, und zwar in einem Maße, daß die Gefahr der Überdehnung nicht von der Hand zu weisen war. Zum einen plädierte er für eine stark kasuistisch geprägte Erweiterung und Verschärfung des Regelwerks, zum anderen warb er für den Gedanken einer „Präventiv-Justiz“, da die Gesetzgebung nicht nur die Aufgabe besäße, begangene Verbrechen zu bestrafen, sondern auch beabsichtigte oder geplante zu erschweren resp. ganz zu verhindern. Seine zum Teil unorthodoxen Vorschläge sind entweder ausländischen 448 Bismarck an Itzenplitz (preußischer Handelsminister), 21. 10. 1871, in: NFA, III / 1, Nr. 201. Den Erinnerungen Beusts zufolge forderte Bismarck „die Aufnahme neuer Bestimmungen in die Strafgesetze“, wodurch „die Pönalität solcher Handlungen ausgesprochen und der Bestrafung überwiesen werden würde, welche als Vorbereitung der kommunistischen Verbrechen als z. B. Brandstiftung gelten können, wohin namentlich die Haltung rechtfertigender und glorifizierender Vorträge zu rechnen wäre“ (Fr. Ferd. Graf v. Beust, Aus drei ViertelJahrhunderten, Bd. 2, Stuttgart 1887, S. 489). Auf Betreiben Bismarcks beschäftigte sich auch die österreichisch-preußische Arbeiterkonferenz, die vom 7. bis 29. 11. 1872 in Berlin tagte und sozialen Fragen gewidmet war, mit dem Thema (vgl. P. Kampffmeyer / B. Altmann, Vor dem Sozialistengesetz, Berlin 1928, S. 87 – 92). 449 Bismarck an Leonhardt, 7. 12. 1871, in: NFA, III / 1, Nr. 219 (s. auch Nr. 278). 450 Leonhardt an Bismarck, 22. 1. 1874, Bl. 9 ff. 451 Zum folgenden: Bismarck an Leonhardt, 27. 2. 1874, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8397, Bl. 46 ff. (jetzt auch in: NFA, III / 2, Nr. 70); Bülow (Staatssekretär des Auswärtigen Amts, i. Vertr.) an Leonhardt, 13. 11. 1874, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8398, Bl. 27 ff. (jetzt auch in: NFA, III / 2, Nr. 149); Votum v. 18. 6. 1875, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8399, Bl. 13 ff.
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Rechtsordnungen (namentlich dem englischen Recht) bzw. älteren deutschen Strafgesetzbüchern entlehnt, oder sie verdanken sich konkreten politischen Vorkommnissen. Ungeachtet aller auf der Hand liegenden Einwände bestechen Bismarcks Stellungnahmen durch ihre Sachkenntnis und Gedankenschärfe (die entsprechenden Informationen dürften auf seinen Auftrag hin im Reichskanzleramt gesammelt worden sein). Leonhardts Reaktion bestand in einer Art hinhaltenden Widerstands: Er versuchte die Vorschläge stillschweigend unter den Tisch fallen zu lassen, indem er – selbstverständlich ohne Erfolg – schlicht auf die Vergeßlichkeit des vielbeschäftigten Reichskanzlers setzte, er schob sie mit dem Argument auf die lange Bank, sie würden so tief in das bestehende Normensystem eingreifen, daß eingehende Erwägungen erforderlich seien, oder er erhob konkrete fachliche Einwände. Diesen gegenüber betonte Bismarck immer wieder „das Interesse der Politik“, dem die „teils aus Gründen der Wissenschaft, teils aus Rücksichten der Systematik und Symmetrie geltend gemachten Bedenken“ unterzuordnen seien452. Im einzelnen schlug der Reichskanzler vor: die Einführung einer vorbeugenden Friedensbürgschaft453; die Strafbarkeit der Aufforderung, des Erbietens oder der Verabredung zur Begehung eines Verbrechens (Attentatsplan des Belgiers Duchesne)454; eine erhöhte Strafdrohung für das „fehlgeschlagene Verbrechen“ bzw. den „beendigten Versuch“ (Kullmann-Attentat) 455; die Bestrafung der Verbreitung falscher Nachrichten, die geeignet seien, „eine die öffentliche Ruhe und Sicherheit gefährdende Aufregung zu veranlassen“ (Krieg-in-Sicht-Krise); die Beseitigung aller Beschränkungen (verbürgte Gegenseitigkeit, Stellung eines Strafantrags) bei der Verfolgung feindlicher Handlungen gegen befreundete Staaten (Unterstützung der Aufstände in den russischen Teilungsgebieten durch preußische Polen); die Bestrafung von Beleidigungen des preußischen Staates als Ganzen und nicht nur einzelner Staatsorgane oder Hoheitsträger (preußenfeindliche Haltung süddeutscher Blätter); die drastische Anhebung der Strafen für das Zerstören, Beiseiteschaffen oder Beschädigen von Akten resp. die gesonderte Ahndung von Dienstvergehen So Bismarck in seinem Votum v. 18. 6. 1875, Bl. 13. Die Friedensbürgschaft war als zusätzliche Strafart gedacht und sollte eine Straftat bzw. deren Wiederholung verhindern. Nach § 39 des preußischen Entwurfs konnte sie 30 bis 3.000 Mark betragen und für die Dauer von einem Monat bis zu einem Jahr verhängt werden. Insbesondere sollte sie bei Vergehen gegen die §§ 110 und 130 StGB sowie bei Mißbrauch des geistlichen Amtes Anwendung finden. In den Motiven heißt es in diesem Zusammenhang mit entwaffnender Offenheit: „Die richterliche und die polizeiliche Gewalt müssen den staatlichen Zwecken gleichmäßig dienstbar sein“ (BR, Session 1875, Drks. Nr. 73). 454 Der belgische Kesselschmied Duchesne Ponselett aus Serain hatte sich in einem Schreiben vom 9. 9. 1873 an den Erzbischof von Paris erboten, gegen eine Summe von 60.000 Francs den Reichskanzler zu ermorden. Die belgische Regierung ließ Duchesne unbehelligt, da nach belgischem Recht kein strafwürdiges Verhalten vorlag. Der Vorfall belastete das wegen des Kulturkampfes ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Berlin und der katholisch-konservativen Regierung in Brüssel zusätzlich; Einzelheiten bei: J. B. Kißling, Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche, Bd. 3, Freiburg 1916, S. 160 ff. 455 Am 13. 7. 1874 hatte der katholische Böttchergeselle Kullmann in Kissingen ein Attentat auf Bismarck verübt, bei dem der Reichskanzler an der Hand verletzt worden war. 452 453
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durch Angehörige des Auswärtigen Amtes (Affäre Arnim); die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Verleitung zur Auswanderung; und schließlich: eine dem englischen „contempt of court“ nachgebildete Bestimmung, mit der die Verächtlichmachung von Gerichtshöfen, Richtern oder gerichtlichen Akten unter Strafe gestellt werden sollte. Der letztgenannte Vorschlag verdient in dem hier interessierenden Zusammenhang insofern besondere Beachtung, als er jegliche Kritik an Richtern und Gerichten pönalisiert hätte. Nach Rücksprache mit Leonhardt ließ Bismarck den Gedanken, an dem er offenkundig großen Gefallen gefunden hatte, fallen. Erwartungsgemäß versuchte die preußische Regierung, die für die Meinungsund Pressefreiheit einschlägigen Paragraphen (§§ 110, 130, 131 StGB) in ihrem Anwendungsbereich zu erweitern und mit schärferen Strafdrohungen zu versehen. Die Fassungen des Entwurfs bildeten das Resultat eines komplexen Zusammenspiels zwischen Kultusminister Falk, der ursprünglich nur Sondervorschriften für katholische Geistliche ins Auge gefaßt hatte, Innenminister Eulenburg, der die sozialistischen Angriffe auf Ehe, Familie und Eigentum unter Strafe stellen wollte, sowie Bismarck, der einen umfassenden Ausbau des politischen Strafrechts für erforderlich hielt. Im Laufe des Beratungsprozesses verschärften sich die Bestimmungen immer mehr, so daß die endgültigen Vorschläge sogar erheblich über die StGB-Vorlage von 1870 hinausgingen und in ihrer Dehnbarkeit den früheren preußischen Vorschriften nur wenig nachstanden456. Auch Leonhardt sah in einer Verschärfung „mit Rücksicht auf die von Jahr zu Jahr wachsende Zügellosigkeit der Tagespresse“ durchaus „einen Gewinn für die Strafrechtspflege“, riet von einer allgemeinen Erhöhung des Strafmaßes aber ab, da mit einer Zustimmung des Reichstags kaum gerechnet werden könne457. Dies vermochte Bismarck nicht zu schrecken: Eine Ablehnung der Regierungsvorschläge bot immerhin die Möglichkeit, die Verantwortung für die innenpolitischen Spannungen auf die Volksvertretung abzuwälzen und die Liberalen damit in Mißkredit zu bringen458. Bayern schloß sich der preußischen Linie an, ohne dabei das Recht auf Meinungsfreiheit ganz aus den Augen zu verlieren. In einer Vorbesprechung im Justizausschuß des Bundesrats (September 1874) erklärte der bayerische Vertreter: 456 Zum Entscheidungsprozeß: Votum Falks v. 3. 4. 1875; Bismarck an Leonhardt, 29. 4. 1875; Votum Eulenburgs v. 30. 4. 1875; Votum Falks v. 9. 6. 1875, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8398, Bl. 270 ff., 284 f., 301 ff. sowie Nr. 8399, Bl. 9 ff. (das Schreiben Bismarcks jetzt auch in: NFA, III / 2, Nr. 248). Der § 110 wurde um die Tatbestandsmerkmale des Anreizens und der Glorifikation erweitert und sah Gefängnisstrafe ohne nähere Zeitangabe vor, was einen Strafrahmen von einem Tag bis zu fünf Jahren bedeutete (§ 16 StGB). In § 130 fiel die Qualifikation der „Gewalttätigkeiten“ weg, als neuer Tatbestand trat der öffentliche Angriff auf Ehe, Familie und Eigentum hinzu, angedroht wurde ebenfalls unbestimmte Gefängnisstrafe. In § 131 war die Voraussetzung der wissentlichen Verbreitung gestrichen, der Tatbestand der Verächtlichmachung verschärft und auf das Reich als Ganzes sowie die einzelnen Bundesstaaten ausgedehnt (BR, Session 1875, Drks. Nr. 73). 457 Leonhardt an Bismarck, 4. 5. 1875 und Votum Leonhardts v. 18. 5. 1875, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8398, Bl. 290 ff., 322 ff., Zitat Bl. 324. 458 Zum Kalkül des Reichskanzlers, cäsaristisch zugespitzt, Stürmer, S. 140 – 142.
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„Wenn tagtäglich die urteilslose Menge in der gehässigsten Weise und zum Teil mittels schamloser Lügen gegen die gebildeteren Klassen gehetzt oder zu religiösem Fanatismus aufgestachelt werden darf, wenn die Regierungen es schutzlos hinnehmen müssen, daß durch planmäßige Verbreitung unwahrer oder entstellter Tatsachen das öffentliche Vertrauen erschüttert und ihr Ansehen untergraben wird, so darf wohl angenommen werden, daß das Gesetz die richtige Mitte in Wahrung der verschiedenen, hier einander gegenüberstehenden Interessen nicht getroffen habe. Die bayerische Regierung erachtet deshalb, ohne einer in den Grenzen des Anstandes sich bewegenden Kritik der Regierungshandlungen ihr Recht verkümmern oder den loyalen Austausch der verschiedenen politischen Anschauungen verhindern zu wollen, doch im Interesse der Erhaltung der öffentlichen Ordnung eine Verschärfung der in den §§ 130 und 131 enthaltenen Bestimmungen für unabweisbares Bedürfnis“. Der § 130 sollte um das Merkmal der mittelbaren Gefährdung des öffentlichen Friedens erweitert sowie der Ausdruck „Klassen der Bevölkerung“ durch das allgemeinere „Bevölkerungsteile“ ersetzt, im § 131 der Nachweis der wissentlichen Verbreitung unwahrer Tatsachen gestrichen werden; zudem schlug man vor, die Vorschrift auf die „Beunruhigung der Staatseinwohner“, die „Störung des öffentlichen Vertrauens“ und das Hervorrufen von „Gehässigkeiten“ auszudehnen459. Im Bundesrat wurden der Vorlage einige allzu scharfe Kanten abzuschliffen, ohne jedoch in ihre Substanz einzugreifen. So entfielen die Friedensbürgschaft und die strafbare Verbreitung falscher Nachrichten, der § 110 wurde um mildernde Umstände und Geldstrafe ergänzt, der § 131 sprachlich gestrafft460. Hatte bereits der preußische Entwurf heftigste Proteste in der liberalen Öffentlichkeit hervorgerufen, so vermochte auch die entschärfte Version die Gemüter kaum zu beruhigen. Verschiedentlich wurden dabei auch die Auswirkungen auf die Richterschaft ins Auge gefaßt. Die nationalliberale „Kölnische Zeitung“ etwa schrieb: „Solche sogenannte Kautschuk-Paragraphen, wie der Novellen-Entwurf deren leider mehrere enthält, bringen – zumal sie gerade Preß- und überhaupt politische Vergehen betreffen – höchst bedenkliche Gefährdungen der Berufsmoralität im Richterstande und vor allem des Vertrauens und der sittlichen Achtung gegen Gesetz und Staat im Volksgemüte mit sich. Mit heuchlerischen Phrasen über eine absolute Unabhängigkeit des deutschen Richterstandes von Gunst und Ungunst der Regierung oder auch von unbedingter Charakterfestigkeit gegenüber allem Einflusse von Gunst und Ungunst – wolle man uns in einer ernsthaften und aufrichtigen Diskussion vom Halse bleiben!“461. Bismarck hielt die Pressekritik schlichtweg für interessengeleitet: „Die Urteile der Presse über die Novelle zum Strafgesetzbuch stehen, wie zu erwarten war, mehr auf dem Standpunkt des PreßgewerAbschrift der Erklärung in: HStA, MJu 17324. Vgl. Rüdorff, S. 36 sowie die RT-Vorlage (Sten. Ber. 1875 / 76, Drks. Nr. 54); zur bayerischen Haltung gegenüber den vorgeschlagenen §§ 130 und 131: HStA, MJu 17324. 461 Zit. nach: [Julius Bachem], Strafrechtspflege und Politik. Von einem rheinpreußischen Juristen, Köln 1877, S. 10 f. 459 460
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bes als auf dem der Politik eines großen Reiches“. Was die bevorstehenden Verhandlungen im Reichstag anging, so fürchtete er „bittere Kämpfe“, zumal „ich nicht der Unterstützung aller derer gewiß bin, welche gleich mir den amtlichen Beruf haben, für die Kräftigung der strafenden Justiz einzutreten. Die krankhafte Neigung, den Verbrecher mit mehr Garantien zu schützen als den ehrlichen Mann, hat in alle Kreise Eingang gefunden“462. In der Tat wehrte sich der Reichstag entschieden gegen den kriminalpolitischen Rückschritt, den der Entwurf in seinen Augen darstellte, indem er Änderungen an den zentralen §§ 85, 110, 111, 128, 130 und 131 StGB in Bausch und Bogen ablehnte. In diesem Zusammenhang machte Lasker das Wort von den „Kautschukparagraphen“ populär, die in ihrer Dehnbarkeit und Unbestimmtheit eine Quelle eklatanter Rechtsunsicherheit seien463. Damit war die Gefahr einer ungebremsten Politisierung der Gerichte zunächst einmal gebannt. Von einigen isolierten Materien abgesehen (§ 130a: Zusatz zum Kanzelparagraphen; § 49a: Aufforderung und Erbieten zum Begehen eines Verbrechens, sog. Duchesne-Paragraph; § 353a: Dienstvergehen von Beamten des Auswärtigen Amtes, sog. Arnim-Paragraph) trat eine Verschärfung des politischen Strafrechts imgrunde nur auf einem Gebiet ein: Der Strafrechtsschutz für Exekutivbeamte (§§ 113 / 114 / 117 StGB) wurde durch Erhöhung der Strafminima (14 Tage Gefängnis) verstärkt. Dabei handelte es sich um eine Lieblingsidee Bismarcks, die er bereits in der Ministerbesprechung vom Januar 1874 zur Sprache gebracht hatte. Zunächst schien der Gedanke ad acta gelegt, da Leonhardt Einspruch erhoben und darauf verwiesen hatte, daß im Gegenteil mehrfach eine Herabsetzung des Strafmaßes auf dem Gnadenwege hätte beantragt werden müssen. Gestützt auf die Berichte der Provinzialbehörden, konnte auch Eulenburg ein dringendes Bedürfnis nicht erkennen464. Bismarck wartete indes nur einen günstigen Augenblick ab: In letzter Minute drängte er darauf, die Änderungen in die Regierungsvorlage einzufügen – diesmal mit Erfolg. Zur Begründung heißt es in den Motiven, es würden „seitens der Verwaltungsbehörden mannigfache Klagen darüber geführt, daß die von den Gerichten verhängten Strafen in zahlreichen Fällen der Bedeutung nicht entsprechen, welche jenen Strafbestimmungen für die Wahrung der Autorität der Staatsgewalt beiwohnt“465. Der Reichstag stimmte einer Verschärfung zu, senkte für den Fall mildernder Umstände aber das Strafmaß. 2. Damit ist freilich die Frage noch nicht beantwortet, wie sich die strittigen Bestimmungen in der Praxis bewährten. Eine Antwort findet sich in den Berichten über die Anwendung der §§ 110, 111, 130, 131 StGB, welche die preußischen 462 Zitate: Bismarck an Delbrück, 18. 10. 1875, in: NFA, III / 2, Nr. 300; Bismarck an Wilhelm I., 23. 10. 1875, in: GW, Bd. 6c, Nr. 73 (auch in: NFA, III / 2, Nr. 303). 463 Lasker, Sten. Ber. RT, 3. 12. 1875, S. 391 ff.; Pöls, S. 38 f. 464 Eulenburg an Leonhardt, 29. 10. 1875, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8399, Bl. 246 f. 465 Prot. StM, 7. 11. 1875 (Auszug) und BR-Antrag Preußens v. 9. 11. 1875, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8399, Bl. 252 f.; ebenso Bismarck, Sten. Ber. RT, 3. 12. 1875, S. 401 f.
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Oberstaatsanwälte auf Anweisung Leonhardts zwischen Juli und August 1878 erstellten. Den Hintergrund bildeten die beiden Attentate auf Kaiser Wilhelm I., in deren Gefolge der Plan einer Strafrechtsverschärfung – parallel zur Ausarbeitung eines Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie – wieder aufgegriffen wurde. Unter Hinweis auf die ultramontane und die sozialdemokratische Agitation erbat sich Leonhardt Auskunft über „hervorragende Fälle“, in denen die Staatsanwälte wegen Aussichtslosigkeit das Verfahren eingestellt hätten, die Anklage abgewiesen worden oder ein freisprechendes Urteil ergangen sei. Die Berichte belegen, daß den „mittleren“ Lösungen, für die sich die Liberalen bei Beratung des Strafgesetzbuchs stark gemacht hatten, zumindest ein Teilerfolg beschieden war466. Ungeachtet der Tatsache, daß die Frequenz in der Anwendung der Bestimmungen je nach katholischem Bevölkerungsanteil und / oder Stärke der Arbeiterbewegung erheblich variierte, waren sich die Berichterstatter darin einig, daß die engere Fassung den praktischen Wert der Vorschriften erheblich eingeschränkt habe. Zahlreiche Fälle würden von den Polizeibehörden erst gar nicht zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft gebracht oder von dieser nicht weiter verfolgt467. Teilweise wird auch die vor den Attentaten übliche „laxere“ Praxis der Gerichte für die mangelnde Repression verantwortlich gemacht468. Im Bezirk des Appellationsgerichts Köln etwa, einem Zentrum des Kulturkampfs, war eine Verurteilung häufig erst in zweiter Instanz zustande gekommen (insgesamt umfaßt die eingereichte Liste 65 Fälle)469. Als Ausweg wird durchweg die Rückkehr zu den §§ 87, 100 und 101 des preußischen Strafgesetzbuchs empfohlen. Der Kölner Generalprokurator Sekkendorff sprach für die große Mehrheit seiner Kollegen: „Den Ultramontanen wie den Sozialdemokraten gegenüber gewähren die in Rede stehenden §.§. des heutigen St.G.B. dem Reiche und Staate keinen ausreichenden Schutz und werden durch vorsichtige Umgehung ihres Wortlauts oft unwirksam gemacht, wo Bestrafung am nötigsten wäre. Die Erfahrungen, welche während des Kulturkampfs einesteils und des Wachstums der Sozialdemokratie andernteils gemacht worden sind, sprechen unbedingt für die wesentliche Herstellung der bezüglichen §.§. des Preußischen Strafgesetzbuches“470. Etwas anders stellten sich die Verhältnisse in der Provinz Posen dar, worauf später zurückzukommen sein wird471. 466 ZR an die Oberstaatsanwälte v. 6. 7. 1878, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7994 und Nr. 8431 (dort auch die gesammelten Berichte). 467 Nach Ansicht von OStA Irgahn (Hamm) war das Material an solchen Fällen „überreich“ (ebd., Nr. 8431, Bl. 64). Sein Kieler Kollege Giehlow sah einen wesentlichen Grund „in der Energielosigkeit, der Gleichgültigkeit und der Unsicherheit“ der Polizeibehörden (ebd., Bl. 93); ähnlich der Bericht aus Königsberg (ebd., Bl. 97). 468 So der Bericht aus Königsberg (ebd., Bl. 97). 469 Bericht aus Köln (ebd., Bl. 40 ff.). Der Verfasser, Generalprokurator Seckendorff, erwähnt einzelne Fälle einer extensiven Auslegung des § 110 StGB durch die Appellationskammer Cleve, hält diese „in Berücksichtigung der für die Interpretation der Strafgesetze anerkannten Regeln“ aber nicht für verallgemeinerungsfähig (Bl. 40 f.). 470 Ebd., Bl. 42 f. 471 Siehe dazu unten Kap. VI / 2.
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Der von Kommissaren des preußischen Justizministeriums aufgestellte Entwurf einer Strafgesetznovelle reproduzierte im wesentlichen die Vorschläge der 75erVorlage (Verschärfung der §§ 130 und 131, Strafbarkeit der Verbreitung falscher Nachrichten, Bestrafung der Glorifikation gesetzlichen Ungehorsams und krimineller Handlungen). Er wurde zugunsten des Sozialistengesetzes zunächst ad acta gelegt472.
III. Das Presserecht Bei der Analyse der Grundlagengesetze der 70er Jahre darf das Presserecht, das mit dem Gesetz vom 7. 5. 1874 eine reichseinheitliche Regelung fand, nicht fehlen. Wiederum soll nicht der Gesetzgebungsprozeß im einzelnen rekonstruiert werden, sondern die Aufmerksamkeit gilt denjenigen Punkten, die – infolge politischer Nutzanwendung – eine potentielle Gefahr für die Integrität der Gerichte darstellten473. Der im März 1873 gemeinsam von Mitgliedern des Fortschritts, der Nationalliberalen und der Reichspartei eingebrachte Gesetzentwurf, der die Aburteilung aller von der Presse verübten Verbrechen und Vergehen durch Schwurgerichte (§ 7) sowie den kompletten Verzicht auf das Recht zur vorläufigen Beschlagnahme (§ 9) vorsah, wurde auf Veranlassung Bismarcks durch eine preußische Vorlage ersetzt, die Ende Mai 1873 dem Bundesrat zuging474. Mit dem § 20 enthielt sie einen Kampfparagraphen, der dazu ausersehen war, die staatlich-gesellschaftliche Ordnung umfassend gegen Presseangriffe zu immunisieren475. Als Gegenleistung wurden alte Forderungen der Presse erfüllt (Wegfall des Konzessions- und Kautionszwangs, Beseitigung der Zeitungssteuer). Besagte Vorschrift, für Bismarck „der Schwerpunkt des ganzen Entwurfes“, bildete das praktische Ergebnis des bereits mehrfach erwähnten Staatsministerialbeschlusses vom 3. 4. 1873476. In jener Sitzung war Bismarck für eine „Verstärkung der richterlichen Repression“ bei Pressevergehen eingetreten, um dann mit einem überraschenden Vorschlag aufzuwarten: 472 Leonhardt an Eulenburg, 28. 6. 1878, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8458, Bl. 146 – 148; Prot. StM, 15. 7. 1878 (Auszug), in: ebd., Bl. 199 – 201. 473 Literatur: E. Naujoks, Die parlamentarische Entstehung des Reichspressegesetzes in der Bismarckzeit, Düsseldorf 1975; Pöls, S. 32 – 36; zur Haltung der Fortschrittspartei Richter, I, S. 94 – 96. 474 BR, Session 1873, Drks. Nr. 102; Sten. Ber. RT 1873, Drks. Nr. 11. 475 § 20 lautete: „Wer in einer Druckschrift die Grundlagen der staatlichen Ordnung, insbesondere die Familie, das Eigentum, die allgemeine Wehrpflicht, in einer Sittlichkeit, den Rechtssinn oder die Vaterlandsliebe untergrabenden Weise angreift oder zu Handlungen auffordert, welche das Gesetz als strafbar bezeichnet, oder wer solche Handlungen als nachahmenswert, verdienstlich oder pflichtmäßig darstellt oder Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise erörtert, wird mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft“. Auf Wunsch des Kaisers wurde noch ein Passus eingefügt, der die Vergehen nach § 166 StGB (Gotteslästerung und Beschimpfung korporativer Religionsgesellschaften) strenger ahndete, falls diese durch die Presse verübt worden waren. 476 Zitat: Bismarck an Wilhelm I., 17. 5. 1873, in: NFA, III / 1, Nr. 438.
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„An die Stelle der gelehrten Richter, bei welchen die antistaatliche Tendenz und gewisse oppositionelle Neigungen noch nicht ganz verschwunden seien, könnten Geschworenengerichte mit Deplazierungsbefugnis der Regierung oder Schöffen treten; dieselben würden, wie neuere Beispiele lehrten, schärfer und strenger wie die nicht selten in abstrakten Rechtstheorien befangenen gelehrten Richter erkennen“. Seine Ministerkollegen übergingen den für Bismarcks machtpolitischen Pragmatismus typischen, allerdings nur, soweit ersichtlich, bei dieser Gelegenheit ventilierten Gedanken mit höflichem Stillschweigen477. Nach Bekanntwerden des Entwurfs brach gegen den § 20 in der Öffentlichkeit ein Sturm der Entrüstung los, der an die Reaktion auf die Preßordonnanz von 1863 erinnerte. Aus Sorge um ihre liberaleren Pressegesetze erhoben auch die süddeutschen Regierungen warnend ihre Stimme: In einer Stellungnahme des bayerischen Justizministeriums vom Juni 1873 wurde die „vage, schwer angreifbare Definition der Tatbestandsmerkmale“ der „neu konstruierten“ Vergehen, die zu höchst unterschiedlichen Interpretationen durch die Gerichte führen werde, scharf gerügt. Ebensowenig vermochte die Umformung der Vorschrift zu einem verschärften § 110 StGB, die der Justizausschuß des Bundesrats daraufhin vornahm, an der Haltung Bayerns und Württembergs etwas zu ändern. Auch in dieser gemilderten Form lehnte der Reichstag bis in die Reihen der Konservativen hinein den Paragraphen ab478. Eine zweite, die Autorität der Gerichte unmittelbar berührende Frage betraf das Recht von Polizei und Staatsanwaltschaft, Druckschriften vorläufig zu konfiszieren. Während der Regierungsentwurf eine Befugnis zur Beschlagnahme bei allen Straftaten vorsah, wollte sie der Reichstag – von formalen Verstößen gegen das Presserecht abgesehen – auf die Verbreitung unzüchtiger Schriften (§ 184 StGB) beschränken. Als Kompromiß einigte man sich darauf, daß nur bei einer eng begrenzten Zahl von Tatbeständen (§§ 85, 95, 111, 130, 184 StGB) eine nichtrichterliche Konfiskation zulässig sein sollte (§ 23 Abs. 3 RPG). Das juristisch heikelste Problem betraf die Verantwortlichkeit für die durch die Presse verübten Delikte. Hier fiel die Wahl nach längerem Schwanken auf ein System, das infolge seiner Ausdehnbarkeit nicht unproblematisch war: Der Redakteur wurde als diejenige Person definiert, die für den gesamten Inhalt der Druckschrift verantwortlich und dementsprechend als Täter zu bestrafen sei, was indessen die Möglichkeit nicht ausschloß, weitere Beteiligte (Verfasser, Verleger, Drucker, Verbreiter) als Mittäter oder Teilnehmer zu belangen (§ 20 RPG). Obwohl auch das Reichspressegesetz aus einem Kompromiß zwischen Reichstag und verbündeten Regierungen hervorging, kam die Einigung relativ rasch und auf breiter Grundlage zustande. Dies ist vor allem auf drei Umstände zurückzufüh477 Prot. StM, 3. 4. 1873, in: GStA, Rep. 90a, B III 2b Nr. 6, Bd. 85, Bl. 143 (auch bei Stürmer, Hg., S. 64). 478 Vgl. dazu Naujoks, S. 120 (Zitate), 136 f., 140 f.; Sten. Ber. RT, 18. 3. 1874, S. 469 (Abstimmung) sowie Drks. Nr. 23 und Nr. 116.
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ren: Einige besonders brisante Punkte, namentlich die Zuständigkeitsfrage bei Pressevergehen und der Zeugniszwang, blieben mit Blick auf die Reichsjustizgesetze zunächst unerledigt. Um seinen diesbezüglichen Willen zu Protokoll zu geben, nahm der Reichstag nach Abschluß der dritten Lesung mit beachtlicher Mehrheit (164:119) einen auf die Kommissionsberatungen zurückgehenden Resolutionsantrag an, in dem der Bundesrat aufgefordert wurde, im StPO-Entwurf die Pressedelikte den Schwurgerichten zu übertragen479. Weiterhin bestand frühzeitig Einvernehmen darüber, das Pressegewerbe von den erwähnten administrativen und finanziellen Fesseln zu befreien, deren Beseitigung der modernen Massenpresse endgültig zum Durchbruch verhalf. Schließlich scheiterte der Versuch, das Gesetz zu einem innenpolitischen Kampfinstrument umzufunktionieren. Dabei darf nicht übersehen werden, daß Bismarck an den Schlußberatungen krankheitshalber nicht teilnehmen konnte, was die Kompromißbereitschaft des Staatsministeriums, verglichen mit der entsprechenden Situation bei den Reichsjustizgesetzen, erkennbar beförderte. Insofern konnte die Justiz mit den neuen Bestimmungen gut leben: In den Jahren 1874 – 1890 gingen nur rund 4 % aller Pressedelikte auf Verstöße gegen das Reichspressegesetz zurück, und auch das Problem der Beschlagnahme, das bei den Beratungen noch einen breiten Raum eingenommen hatte, verlor rasch an Bedeutung480.
IV. Das Koalitionsrecht Zu den Grundlagengesetzen der „liberalen Ära“, denen unmittelbare Bedeutung für die Reputation der Gerichte zukam, zählte auch die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. 6. 1869, später unverändert vom Reich übernommen. Sie hob sämtliche bis dahin geltenden Koalitionsverbote auf und gewährte Koalitionsfreiheit und Streikrecht (§ 152), stellte den Koalitionszwang aber unter Strafe (§ 153)481. Die letztgenannte Bestimmung lief faktisch auf ein Ausnahmerecht für Arbeiter in Streiksituationen hinaus, was schon bald zu vielfachen und bitteren Klagen Anlaß geben sollte. Ferner sah der § 108 GO die Errichtung paritätisch besetzter kommunaler Schiedsgerichte zur Schlichtung gewerblicher Streitigkeiten vor – eine 479 Bericht der VII. Kommission, Sten. Ber. RT 1874, Drks. Nr. 67, S. 17; ebd., 25. 4. 1874, S. 1123 ff. Der Antragsteller, wiederum Eberty, führte zur Begründung an, die Jury sei „die geeignete Institution“, um „auch ein weniger gutes Preßgesetz erträglicher zu machen“. 480 Vgl. hierzu H.-W. Wetzel, Presseinnenpolitik im Bismarckreich (1874 – 1890), Frankfurt / M. 1975, S. 28 ff., 302. 481 Der § 152 gestattete „Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit“. § 153 lautete: „Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzung oder durch Verrufserklärung bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) teilzunehmen oder ihnen Folge zu leisten, oder andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt“.
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Möglichkeit, von der indes nur selten Gebrauch gemacht wurde, da sie die Initiative und Zustimmung beider Konfliktparteien voraussetzte. Mit der Liberalisierung des Koalitionsrechts reagierte die Reichstagsmehrheit nicht zuletzt auf die zahlreichen „illegalen“ Streiks, die sich in den Jahren zuvor spontan entwickelt hatten. Entgegen den Erwartungen ihrer Urheber dämmte die Neuregelung die Arbeitskämpfe nicht ein, sondern fachte diese im Gegenteil erst richtig an. In den Jahren 1869 – 74, nur kurzzeitig unterbrochen vom Kriegsgeschehen, erlebte Deutschland die erste große Streikwelle seiner Geschichte. Auf ihrem Höhepunkt 1871 – 1873 umfaßte die Bewegung, zusätzlich angeheizt durch die fieberhafte Wirtschaftsentwicklung der „Gründerzeit“, fast 800 Streiks mit geschätzten 200.000 Ausständigen482. Im Gegenzug forderten zahlreiche Unternehmerorganisationen mit Unterstützung der ihnen nahestehenden Presse immer nachdrücklicher gesetzliche Maßnahmen gegen den „Mißbrauch“ der Koalitionsfreiheit. Als geeigneter Ansatzpunkt kam schon bald der sog. Kontraktbruch, also die Verletzung des zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschlossenen Arbeitsvertrags, in den Blick, ein „Vergehen“, das bei fast allen Streiks zwangsläufig auftrat. Das preußische Staatsministerium gab dem Druck der Unternehmer nach einigem Zögern nach und einigte sich in seiner mittlerweile hinlänglich bekannten Sitzung vom 3. 4. 1873 auf eine „Regelung und Beschränkung des Koalitionsrechts“. Daraufhin wurde im Handelsministerium in großer Eile ein Gesetzentwurf zur Abänderung der Gewerbeordnung ausgearbeitet, der bereits Ende Juni 1873 dem Reichstag zuging. Diese sog. Kontraktbruchnovelle sah im wesentlichen drei Neuerungen vor: Mittels eines Normalstatuts sollten die in § 108 GO ins Auge gefaßten Gewerbegerichte eine Reihe von exekutiven Befugnissen erhalten, insbesondere das Recht zur Beschlagnahme des Lohns; die Bestimmungen des § 153 GO waren präzisiert und verschärft worden, die Höchststrafe lautete nunmehr auf sechs Monate Gefängnis; und der neu eingefügte § 153a schrieb die Ahndung des widerrechtlichen Kontraktbruchs mit Geldstrafe bis zu 150 Mark oder Haft vor. Faktisch erinnerten die Regelungen an die Quadratur des Kreises: Das Streikrecht sollte nachhaltig eingeschränkt werden, ohne die erst jüngst zugestandene Koalitionsfreiheit wieder aufzuheben. Von daher fiel es Lasker, der für die bürgerliche Opposition gegen das Projekt sprach, bei der ersten Lesung im Reichstag nicht schwer, die dilettantische Machart des Entwurfs, das willkürliche Kreieren eines neuen, wenig greifbaren Straftatbestandes sowie die fehlende Gleichheit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer scharf anzuprangern483. Nachdem die Kommission, an die der Entwurf zwecks Überarbeitung weitergeleitet worden war, mit der Bestra482 Dazu: L. Machtan, Streiks im frühen deutschen Kaiserreich, Frankfurt / M. 1983 (zwei Fallbeispiele); ders., Streiks und Aussperrungen im Deutschen Kaiserreich, Berlin 1984 (Dokumentation für die Jahre 1871 – 1875; ohne Angaben zur Strafverfolgung); ders., „Giebt es kein Preservativ, um diese wirthschaftliche Cholera uns vom Halse zu halten?“, in: Jahrbuch Arbeiterwegung 1981, S. 54 – 100 (Reaktionen der Unternehmer, der Presse und der preußischen Regierung; danach auch das Folgende). 483 Die Laskersche Rede ist nachzulesen in: Sten. Ber. RT, 20. 2. 1874, S. 135 – 144.
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fung des Kontraktbruchs und dem Recht zur Lohnbeschlagnahme zwei Eckpunkte desselben gestrichen hatte, zog die Reichsleitung noch vor Beginn der zweiten Lesung die Vorlage zurück (Oktober 1874). Die Konsequenzen für die Rechtsprechung hatte das liberale Unternehmerorgan „Der Arbeitgeber“ schon zuvor in aller Deutlichkeit herausgestrichen. Das intendierte Gesetz müsse, so hieß es dort, „verderblich sein, weil es [ . . . ] nur leicht überdeckt dem Klassengegensatz, der sich ohnedies unleidlich bemerkbar macht, einen rechtlichen Ausdruck gibt und weil es, zum Teil aus letzterem Grunde, dem Parteigegensatz gerade in Beziehung auf das Klasseninteresse das Gebiet der Rechtspflege preisgibt“484.
V. Die Grundlagengesetze der „liberalen Ära“ – abschließende Bemerkungen Die im Jahrzehnt zwischen 1867 und 1878 verabschiedeten Grundlagengesetze, die bis 1914 keine strukturellen Änderungen mehr erfahren sollten, stellten allesamt einen Kompromiß zwischen liberaler Reichstagsmehrheit und preußischem Staatskonservatismus dar (einzige Ausnahme bildete die Zivilprozeßordnung, die aus diesem Grund auch erst im nächsten Abschnitt behandelt wird). Von daher blieben manche Wünsche nach Sicherung einer unparteiischen, vertrauenswürdigen und volkstümlichen Rechtsprechung, wie sie namentlich von seiten der Linksliberalen und des Zentrums formuliert wurden, unerfüllt. Allerdings fiel das „Gefahrenpotential“ für die zukünftige Reputation der Gerichte unterschiedlich aus: Die größten Risiken bargen die neue (Straf-)Gerichtsorganisation und die Strafprozeßordnung in sich, die geringsten das Pressegesetz – das Strafgesetzbuch mit seinen moderaten Lösungen bewegte sich in der Mitte zwischen beiden Polen; dasselbe galt imgrunde für das Koalitionsrecht, auch wenn die Streikrechtsprechung später zu einem Hauptansatzpunkt sozialdemokratischer Justizkritik wurde. Sicherlich nicht allein, aber doch auch unter diesem Gesichtspunkt sollte das Wirken Leonhardts beurteilt werden. Als federführendem Minister hätte es an sich zu seinen vornehmsten Aufgaben gehört, für die Integrität und das Ansehen der Gerichte Sorge zu tragen, zumal in einer Zeit rapiden Rechtswandels. Derartige Überlegungen waren ihm zwar keineswegs fremd, offensichtlich maß er ihnen aber nicht höchste Priorität zu – seine größte (und bleibende) Leistung in dieser Hinsicht bestand darin, die offene Politisierung der Ära Lippe ohne viel Federlesens beendet zu haben. Der Gerechtigkeit halber sollte allerdings nicht übersehen werden, daß die gesamte Reichsjustizgesetzgebung in Leonhardts Amtszeit fiel, auf seinen Schultern also eine enorme, ganz außergewöhnliche Arbeitslast ruhte, deren Bewältigung er imgrunde mit seiner Gesundheit bezahlte (bei seiner Pensionierung bereits schwerkrank, starb er ein gutes halbes Jahr später in Hannover). Obwohl 484
Der Arbeitgeber Nr. 881 v. 21. 3. 1874 (zit. n. Machtan, Preservativ, S. 82).
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rechtspolitisch den Liberalen nahestehend, begriff er sich, wie bereits erwähnt, als reiner Fachminister ohne irgendwelche politischen Ambitionen. Prägend dürften in dieser Hinsicht seine Erfahrungen aus Hannover gewesen sein, wo er einer rechtsstaatlich korrekten Justizverwaltung vorgestanden hatte. Leonhardts ministerielle Einlassungen waren entweder rechtstechnischer Art, bezogen sich also auf die innere Systematik und Stringenz der zur Diskussion stehenden Rechtsfiguren, oder sie betrafen Fragen der rechtspolitischen Kontinuität. In dieser Hinsicht konnte er denn auch eine gewisse Entschiedenheit an den Tag legen: Hielt er ein Projekt für unausgereift (was namentlich bei der Strafprozeßordnung, aber auch beim Strafgesetzbuch der Fall war), riet er von einer übereilten Verabschiedung ab und trat für die nochmalige Prüfung des Ganzen ein. Stets aber ordnete er – und hierauf kommt es in unserem Zusammenhang an – seine juristischen Vorbehalte der politischen Generallinie, wie sie von Bismarck bzw. der Mehrheit des Staatsministeriums vorgegeben wurde, widerspruchslos unter. Entsprechend schwach war seine Stellung im Ministerrat485. Im Laufe der Zeit mehrte sich denn auch die Kritik an seiner Amtsführung. Im Rückblick machte Otto Bähr, der schärfste Kritiker des neuen Zivilprozesses, einen Mangel an materiellem Gerechtigkeitssinn als Wesensmerkmal der von Leonhardt inspirierten Gesetzgebung aus. Leonhardt habe, so Bähr, einem juristischen „Radikalismus“ zugeneigt486.
VI. Die politische Strafrechtsprechung 1. Überblick und Einzelvorgänge 1. Es wurde bereits erwähnt, daß der forcierte Einsatz des politischen Strafrechts in Preußen mit Beilegung des Verfassungskonflikts, spätestens jedoch mit dem Amtsantritt Leonhardts ein vorläufiges Ende fand. Diese Feststellung gilt indes nicht für die 1866 von Preußen annektierten Territorien, insbesondere diejenigen, in denen die Siegermacht auf größeren Widerstand stieß. Vor allem im ehemaligen Königreich Hannover, wo die welfische Opposition in Form der Deutschhannoverschen Partei (DHP) nach kurzer Zeit eine parteipolitische Plattform fand, wurden preußenfeindliche Aktivitäten und Äußerungen strafrechtlich verfolgt487. Besonderes Aufsehen erregten die Hochverratsprozesse gegen 485 Dies wird durch eine Bemerkung von Robert Bosse, später Staatssekretär des RJA und preußischer Kultusminister, über eine Staatsministerialsitzung aus dem Jahre 1878 bestätigt: „Auf den Justizminister Leonhardt und seine etwas polternden Zwischenbemerkungen achtete niemand“ (Erinnerungen von Robert Bosse, in: Grenzboten 63 / 2, 1904, S. 285). 486 Otto Bähr, Der deutsche Civilprozeß in praktischer Bethätigung, in: Jherings Jahrbücher 23 (1885), S. 339 – 434, hier S. 340 – 359 (Zitat S. 342); ausführlich zu Bähr unten Zweiter Teil, A, Kap. I / 2a. Weiterhin: Anon., Gegen Herrn Nicolaus Planenberg und für ihn, Thorn 1877, S. 16 ff.
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acht hannoversche Offiziere (April 1868) und den ehemaligen Staatsminister Graf v. Platen (Juli 1868), die, in Abwesenheit der Angeklagten, vom Berliner Staatsgerichtshof zu zehn resp. fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Die Verfahren dienten in erster Linie dazu, den öffentlichen Beweis für die Gefährlichkeit der immer wieder behaupteten „welfischen Verschwörung“ zu erbringen488. Juristisch gesehen waren sie in mancherlei Hinsicht anfechtbar. So hatten sich Zachariae und der Wiener Völkerrechtler Neumann gutachtlich gegen die Annahme des Gerichts gewandt, Platen sei als preußischer Staatsangehöriger anzusehen, womit der Anklage die rechtliche Grundlage entzogen worden wäre489. Als weiteres prominentes Opfer ist der Altorientalist Heinrich Ewald, einer der Göttinger Sieben und führendes Reichstagsmitglied der DHP, zu nennen. Ewald, der wegen Verweigerung des Huldigungseides auf den neuen Landesherrn als einziger Professor der Georgia Augusta entlassen worden war, prangerte in einer Reihe von Pamphleten die preußische Machtpolitik scharf an. Eigenen Angaben zufolge brachte ihm dies bis 1872 sechs Anklagen wegen Majestäts- und Bismarckbeleidigung ein, die indessen allesamt mit Freispruch endeten490. Da Ewald wegen seiner Rechtstreue und Charakterfestigkeit im Göttinger Raum großes Ansehen genoß, kam es 1868 in diesem Zusammenhang sogar zu einiger Unruhe unter der Bevölkerung491. Bei der Spruchpraxis wirkte sich die Tatsache aus, daß der Hannoveraner Leonhardt seine schützende Hand über die Gerichtskollegien hielt. Zwangspensionierungen „welfischer“ Richter erfolgten kaum, und auch der Austausch zwischen hannoverschen und altpreußischen Richtern kam nur schleppend in Gang, obwohl Bismarck sich für beides stark machte492. Erst Leonhardts Nachfolger Friedberg kündigte eine veränderte Personalpolitik an493. Aber auch diese hielt sich in Grenzen: Als zu Beginn der 90er Jahre eine erneute Repressionswelle gegen die Welfenpartei anhob, zeigte sich, daß deren Anhänger unter den Justizbeamten immer noch erhebliche Sympathien genossen494. 487 Die Vorgänge sind, soweit ersichtlich, systematisch noch nicht untersucht; zum Hintergrund: H. Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat, Hildesheim 1983; H.-G. Aschoff, Welfische Bewegung und politischer Katholizismus 1866 – 1918, Düsseldorf 1987. 488 Vgl. H. Maatz, Bismarck und Hannover 1866 – 1898, Hildesheim 1970, S. 45. 489 Ausführlich dazu der Prozeßbericht: Der Berliner Hochverrathsproceß gegen den königlich hannöverschen Staats-Minister Grafen Adolf von Platen zu Hallermund, München 1868 (Gutachten S. 31 ff.); der rechtskundige Verfasser spricht wiederholt von „juristischer Monstruosität“. 490 Vgl. Ewald, Sten. Ber. RT, 19. 3. 1873, S. 32 – 34 sowie 20. 2. 1874, S. 157 – 159; Th. Wehber, Zwischen Hannover und Preußen, Göttingen 1995, S. 214. 491 Die Vorgänge sind dokumentiert in GStA, Rep. 84a, Nr. 8215. 492 Vgl. dazu Ormond, S. 374 ff., 477 ff. 493 Vgl. Prot. StM, 14. 4. 1880 (Protokolle, Bd. 7, Nr. 38). Unmittelbarer Anlaß war der im Vorjahr erfolgte Freispruch des bekannten hannoverschen RT-Abgeordneten Brüel durch das Appellationsgericht Celle. 494 Näheres dazu unten Zweiter Teil, B, Kap. II / 1a.
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Ähnlich stellte sich die Situation in der ehemals Freien Stadt Frankfurt dar, wo das tonangebende liberale Handels- und Finanzbürgertum den neuen Machthabern ebenfalls mit offener Ablehnung begegnete. Wohl auch deshalb wurde die Stadt mit v. Madai, der später als Berliner Polizeipräsident noch zu zweifelhafter Berühmtheit gelangen sollte, einem energischen Zivilkommissar unterstellt. Sein harter Pressekurs brach sich nur anfänglich an der Judikative: Im Jahre 1867 wurden die drei führenden liberal-demokratischen Blätter der Stadt („Frankfurter Zeitung“, „Frankfurter Journal“ und „Frankfurter Beobachter“) zusammen zwar 30mal polizeilich konfisziert, das Stadtgericht sprach aber lediglich eine einzige Verurteilung aus, die zudem nur auf Vernichtung der inkriminierten Nummer lautete. Bereits ein Jahr später aber erfolgten bei 46 Beschlagnahmen immerhin 14 Verurteilungen, unter denen sich auch einige Gefängnisstrafen befanden495. Die gerichtliche Verfolgung hielt, wie vor allem die fortwährenden Auseinandersetzungen um die „Frankfurter Zeitung“ zeigen, auch in der Folgezeit an. Da auch das Frankfurter Richterpersonal zunächst unverändert blieb, handelte es sich im wesentlichen um einen (rasch vollzogenen) Prozeß der Selbstanpassung an die neuen Verhältnisse496. Besagte „Frankfurter Zeitung“ war die größte überregionale Tageszeitung demokratischer Couleur im Reich. Als Vertreter der „Deutschen Volkspartei“ hielt ihr Herausgeber, Leopold Sonnemann, über Jahre hinweg das Fähnlein des demokratischen Republikanismus im Reichstag hoch. In den 70er Jahren sah sich die Zeitung fortlaufend behördlichen Repressalien ausgesetzt, die ihre besondere Note dadurch erhielten, daß sich das Blatt der persönlichen Feindschaft Bismarcks erfreute. Etliche der rund 40 Monate Freiheitsentzug, die zwischen 1871 und 1879 gegen Redakteure und Mitarbeiter verhängt wurden, gingen auf Anklagen wegen Beleidigung des Reichskanzlers zurück497. Dabei kam erneut der Mechanismus zum Tragen, der oben als „staatsanwaltschaftliche Prägung der Strafjustiz“ beschrieben wurde: Während die erste Instanz, die Strafkammer des Stadtgerichts, die Angeklagten häufig freisprach oder nur geringfügige Strafen verhängte, gelangte das Appellationsgericht, nachdem der Staatsanwalt Berufung eingelegt hatte, regelmäßig zu einer Verurteilung oder Strafverschärfung. Hierbei dürfte der Umstand eine Rolle gespielt haben, daß zuvor altpreußische Richter in das Kollegium aufgenommen worden waren, so u. a. der spätere preußische Justizminister Schönstedt, der von 1875 – 79 zu den Appellationsgerichtsräten zählte498. 495 W.-A. Kropat, Obrigkeitsstaat und Pressefreiheit, in: Nassauische Annalen 77 (1966), S. 233 – 288, hier S. 256 ff. 496 Vgl. hierzu Ormond, S. 383 f.; Kropat hingegen geht von erheblichen personellen Eingriffen aus, ohne dies indes weiter zu belegen (ebd., S. 259). Bereits im August 1867 konstatierte Madai, die Frankfurter Gerichte würden sich „in der Beurteilung von Preßerzeugnissen immer mehr den Anschauungen der altländischen korrekten Gerichte anschließen“ (zit. nach Kropat, S. 259). 497 Ausführliche Beschreibung in: Geschichte der Frankfurter Zeitung 1856 bis 1906, Frankfurt / M. 1906, S. 346 – 371 (Zahlenangabe S. 371). 498 Vgl. ebd., S. 352.
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Zwei Prozesse erregten beträchtliches Aufsehen. Im Jahre 1875 wurde gegen die „Frankfurter Zeitung“ ein Zeugniszwangsverfahren durchgeführt, das sich erstmals nicht gegen einen einzelnen Redakteur, sondern eine Reihe von Mitarbeitern einer Zeitung richtete. Es endete mit insgesamt siebeneinhalb Monaten Gefängnishaft. Die Verurteilung, die auf einer zweifelhaften, vom Obertribunal bestätigten Deduktion des Appellationsgerichts beruhte, löste heftige Proteste bis über die Grenzen des Reichs hinweg aus499. Zwei Jahre später hatte sich der bekannte Dichter, Kunstkritiker und Publizist Ludwig Pfau wegen Beleidigung der preußischen Regierung, begangen in einem kulturpolitischen Artikel, vor den Frankfurter Gerichten zu verantworten500. In seiner brillanten Verteidigungsrede vor dem Stadtgericht drehte Pfau den Spieß um und stellte seinerseits das „preußische Regiment“, insbesondere das Rechtssystem und die Pressepolitik, an den Pranger. Ähnlich wie die Sozialdemokraten nutzte der Radikaldemokrat Pfau die öffentliche Bühne des Gerichtssaals zu einer Generalabrechnung mit dem ihm verhaßten „Borussianismus“. Die Rede fand weite Verbreitung: Sie wurde von zahlreichen, auch nichtdemokratischen Zeitungen abgedruckt und erschien zudem als Separatausgabe501. Am Urteilsmechanismus änderte dies wenig: Das Stadtgericht verurteilte Pfau zu hundert Mark Geldstrafe (Februar 1877), das Appellationsgericht erhöhte die Strafe auf drei Monate Gefängnis (Mai 1877). Im Rückblick auf jene Jahre heißt es im Jubiläumsband der „Frankfurter Zeitung“: „Hier zeigte sich so recht, wie rückschrittlich das herrschende Regime war, das keine abweichende Meinung und Kritik ertragen konnte, und so wurden die Niederlagen vor den Gerichten zu moralischen Erfolgen nach außen, während das Ansehen der Rechtspflege stark beeinträchtigt wurde“502. 499 Dazu: Geschichte der FZ, S. 354 – 364; Alexander Giesen, Der Zeugniszwang gegen die Presse, Frankfurt / M. 1906, S. 49 – 54; Wetzel, S. 150 ff. 500 Vgl. R. Ullmann, Ludwig Pfau, Frankfurt / M. 1987, S. 30 f. In seinem (zweiten) Bericht über eine Kunstausstellung in München vom 5. 7. 1876 hatte Pfau geschrieben: „Ist es nicht genug, daß uns das kulturschädliche preußische Regiment ökonomisch, moralisch und intellektuell zugrunde richtet, indem es die Gewalt an die Stelle des Rechts setzt und die soziale Freiheit, diese Grundbedingung jedes menschlichen Fortschritts, systematisch zu Tode hetzt – sollen wir uns auch noch ästhetisch von ihm ruinieren lassen?“. In vielem ähnelt das Verfahren dem 1883 / 84 in Stuttgart gegen Pfau geführten Preßprozeß (ausführlich dazu Zweiter Teil, A, Kap. II / 1). Ludwig Pfau (1821 – 1894), 1849 Mitglied des württembergischen Landesausschusses, emigrierte nach der Revolution zunächst in die Schweiz, dann nach Frankreich. Ende 1863 nach Stuttgart zurückgekehrt, begründete er (zusammen mit C. Mayer u. J. Haußmann) die Württembergische Volkspartei (Mai 1864), die ein antipreußisch-föderalistisches Programm verfolgte; sie ging später in der Deutschen Volkspartei auf (September 1868). Zunächst eine Art Chefideologe der Partei, setzte sich Pfau auch später immer wieder für die DVP ein. Als radikaldemokratischer Republikaner war er ein Preußen- und Bismarckhasser sans phrase („ceterum censeo Borussiam esse delendam“). 501 Abdr. der Rede in: FZ v. 21. 2. 1877; „Beobachter“ v. 23. 2. 1877; Separatdruck: Ludwig Pfau, ,Das preußische Regiment‘ vor Gericht, Zürich 1877; die ausführliche Berichterstattung über den Prozeß in der FZ und im „Beobachter“ ist zusammengestellt bei Ullmann, S. 426. 502 Geschichte der FZ, S. 371.
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Im ersten Jahrzehnt des neuen Reichs lag der Schwerpunkt der Presseüberwachung jedoch nicht bei den linksbürgerlichen, sondern bei den katholischen und sozialistischen Periodika503. Quantitative Aussagen zur Pressejudikatur sind indes nur begrenzt möglich. Den exakten Zahlenangaben, die sich in der Untersuchung von Wetzel finden, ist Vorsicht gegenüber geboten, spiegeln sie doch eine Objektivität vor, die das vom Autor verwendete Quellenmaterial (Akten und Zeitungsberichte) nicht zuläßt504. Die einzig verläßlichen Angaben für Preußen enthalten die – von Wetzel nicht konsultierten – statistischen Mitteilungen des Justizministeriums, die über eine grobe Geschäftsübersicht allerdings nicht hinausgehen505. Danach fanden zwischen 1871 und 1878 insgesamt 2.286 Presseprozesse statt, wobei ab 1874 ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen ist, der die gesamte zweite Hälfte des Jahrzehnts über anhielt, mit einem Höhepunkt im Jahre 1875. Die Freisprechungsquote lag relativ konstant bei knapp 20 %506. Materiellrechtlich machten die Beleidigungstatbestände den Löwenanteil aus, erst mit einigem Abstand folgten die genuin politischen Delikte (§§ 110 / 130 / 131 StGB), während Verstöße gegen das Pressegesetz praktisch zu vernachlässigen sind507. Diese interne Verteilung änderte sich in der Folgezeit nicht mehr grundlegend. Die Zahlen machen erneut deutlich, daß die liberalen Entschärfungsbemühungen durchaus Früchte trugen, aber nicht gerade einen „qualitativen Sprung“ in der Sicherung der Pressefreiheit bedeuteten. Unter den Beleidigungsdelikten ragten die Majestäts- und die Bismarckbeleidigung heraus, die durch Wort, Schrift oder Bild erfolgen konnten. Die Anklagen wegen Majestätsbeleidigung gravitierten das Jahrzehnt hindurch um einen Mittelwert von etwa 200 pro Jahr, um 1878 infolge der Kaiserattentate explosionsartig auf fast 2.000 emporzuschnellen508. Anklagen wegen Bismarckbeleidigung, die, Näheres dazu in den beiden folgenden Abschnitten. Wetzel zufolge fanden zwischen 1874 und 1890 reichsweit 3.287 Presseprozesse statt, in denen über 4.924 Artikel verhandelt wurde. Insgesamt kommt der Autor, da in vielen Artikeln mehrere Verstöße vorlagen, auf 5.975 Pressedelikte. Zu dem Wetzelschen Zahlenwerk (S. 159 – 168 / 203 – 205 / 299 – 304) ist folgendes zu bemerken: Den Weg in die Akten des preußischen und bayerischen Justizministeriums haben nur bedeutendere Fälle gefunden, so daß man statistische Übersichten hier in der Regel vergeblich sucht. Auch die Presse bietet nur selten Zahlenmaterial von größerer Reichweite. Dies erklärt, weshalb Wetzel quellenmäßige Belege schuldig bleibt. Von daher geben seine Zahlen nicht mehr als ungefähre Größenverhältnisse wieder. 505 Für die Jahre 1871 bis 1878 siehe: JMBl 1873, S. 14 ff.; JMBl 1874, S. 13 ff., 358 ff.; JMBl 1875, S. 225 ff.; JMBl 1876, S. 243 ff.; JMBl 1877, S. 249 ff.; JMBl 1878, S. 175 ff.; JMBl 1880, S. 165 ff. (jeweils ohne die neupreußischen Gebiete); wegen der Reorganisation der Justizbehörden liegen für 1879 keine Zahlen vor. 506 Presseprozesse in Preußen: 1871: 78; 1872: 133; 1873: 171; 1874: 302; 1875: 487; 1876: 386; 1877: 350; 1878: 379; ferner Wetzel, S. 160, 204. 507 Beleidigungsdelikte machten im Durchschnitt zwei Drittel aller Fälle aus, die Vergehen gegen den Staat und die öffentliche Ordnung bewegten sich zwischen einem Drittel und einem Fünftel, Verstöße gegen das RPG beliefen sich auf höchstens 3 % (vgl. die Zahlen bei Wetzel, S. 303). 503 504
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als Privatbeleidigung, eines vorherigen Antrags seitens des Betroffenen bedurften, erlebten in den 70er Jahren eine wahre Hochflut, deren Umfang sich allerdings nicht exakt angeben läßt. Die für gewöhnlich gut informierte „Frankfurter Zeitung“ zählte bis zum 1. November 1874 insgesamt 784 Bismarcksche Strafanträge gegen Redakteure „reichsfeindlicher“ Blätter, in deren Folge 610 Verurteilungen in einer Gesamthöhe von 39 Jahren und 9 Monaten Gefängnis ergangen seien (Geldstrafen nicht mitgerechnet)509. Damit wären auf jeden Verurteilten durchschnittlich 23 Tage Gefängnis entfallen. Insgesamt wird man für die 70er Jahre von mehr als 1.000 Anträgen ausgehen dürfen. Für den preußischen Justizminister brachte das delikate Delikt Probleme ganz eigener Art mit sich, entwickelte es doch eine beträchtliche Eigendynamik. Um die Prozeßfreudigkeit des Reichskanzlers wissend, warteten einige Staatsanwälte den Eingang des Strafantrags erst gar nicht ab, sondern wandten sich direkt an den Beleidigten, falls sie eine strafwürdige Meinungsäußerung entdeckt zu haben meinten. Mehr als einmal sah sich Leonhardt deshalb veranlaßt, an die Einhaltung des Dienstweges zu erinnern510. Daraufhin spielte sich bei Beleidigungen Bismarcks, aber auch anderer Mitglieder des Staatsministeriums folgendes Prozedere ein: Unter Vermittlung des Oberstaatsanwalts informierten die Ersten Staatsanwälte – gleichsam von Amts wegen – den Justizminister über verdächtige Äußerungen. Dieser nahm eine Vorauswahl vor und leitete die ihm geeignet erscheinenden Fälle an den Reichskanzler weiter, der dann über den Strafantrag entschied. Damit gelang es Leonhardt – wenn auch mehr schlecht als recht – die Anklagepraxis unter ministerielle Kontrolle zu bringen und den behördlichen Wildwuchs einzudämmen511. Auf Schwierigkeiten stieß die Verfolgung von Bismarckbeleidigungen in Baden und Braunschweig. In beiden Ländern sahen die Einführungsgesetze zum Reichsstrafgesetzbuch vor, daß Injurien in der Regel nur auf dem Weg der Privatklage verfolgbar waren. Eine Ausnahme bildeten Beamtenbeleidigungen, bei denen öffentliche Anklage erhoben werden konnte, falls die dem Beleidigten vorgesetzte Stelle einem entsprechenden Antrag zustimmte. Von daher betrachteten die Justizbehörden – formal völlig korrekt – den von Bismarck selbst unterzeichneten Strafantrag als Grundlage der Anklageerhebung für nicht ausreichend, so daß man auf Hilfskonstruktionen zurückgreifen mußte512. 508 Zahl der eingeleiteten Untersuchungen: 1871: 193; 1872: 134; 1873: 149; 1874: 254; 1875: 264; 1876: 181; 1877: 202, 1878: 1994 (Starke, S. 190, Übers. XXXVIII); zu den Prozessen des Jahres 1878 s. unten Kap. VI / 3. 509 Angaben von Sonnemann in der RT-Sitzung vom 16. 12. 1874 (Sten. Ber., S. 741); weiterhin: H. J. Reiber, Die katholische deutsche Tagespresse unter dem Einfluß des Kulturkampfes, Görlitz 1930, S. 133. 510 Reskripte an den Oberstaatsanwalt beim KG v. 3. 4. 1873 und in Königsberg v. 10. 1. 1874, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8138. 511 Vgl. ebd.; weiterhin dazu Zweiter Teil, A, Kap. II / 1. 512 Vgl. Bülow an Leonhardt, 6. 11. 1874, in: NFA, III / 2, Nr. 147.
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Mit seiner Antragsflut hatte Bismarck beachtlichen Erfolg. Bei Beratung der Bundesverfassung im Jahre 1867 hatte er die Absicht der verbündeten Regierungen, den richterlichen Beamten das passive Wahlrecht zu entziehen, noch mit den lächerlich geringen Strafen begründet, die in den ersten Jahren seiner Amtsführung für Beleidigungen des Ministerpräsidenten ausgesprochen worden seien: „Für 10 Taler hatte jeder die Freiheit, mir die schmachvollsten Injurien öffentlich zu sagen oder drucken zu lassen, die er wollte“. In einzelnen Erkenntnissen hätte es sogar geheißen, „es lägen doch mildernde Umstände vor, denn dieses Ministerium tauge wirklich nichts“513. Zwölf Jahre später konnte Bebel, ohne auf Widerspruch zu stoßen, im Reichstag feststellen, daß der Injurienbegriff stark ausgeweitet worden sei und bei Bismarckbeleidigungen nicht mehr Geldstrafen, sondern, im Einzelfall hoch bemessene, Gefängnisstrafen an der Tagesordnung wären514. Die Entwicklung ist nicht schwer zu erklären: Wie bereits erwähnt, legten die Staatsanwälte bei Beleidigungen des Reichskanzlers besonderen Ehrgeiz an den Tag, und auf das eine oder andere Richterkollegium dürfte die Person des Antragstellers durchaus Eindruck gemacht haben. Politisch sensible Rechtsgebiete stellten weiterhin das Vereins- und Versammlungsrecht sowie das Koalitionsrecht dar. Während letzteres, wie bereits beschrieben, in der Gewerbeordnung von 1869 eine reichsrechtliche Regelung gefunden hatte, blieben die einzelstaatlichen Bestimmungen über das Vereinswesen, da das Reich von seiner Rechtsetzungskompetenz lange Zeit keinen Gebrauch machte, bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908 in Kraft. Beide Felder, für die verläßliches Zahlenmaterial über die Urteilspraxis für die 70er Jahre nicht vorliegt, werden in den beiden folgenden Kapiteln näher behandelt515. Auch nach Gründung des Norddeutschen Bundes blieb das preußische Obertribunal seiner regierungsnahen Rechtsprechung treu, nunmehr ergänzt um eine arbeitgeberfreundliche Tendenz516. Einige Schlaglichter mögen dies beleuchten: Im Bereich des Presserechts erklärten die Richter Artikel auch dann für strafbar, wenn sie zuvor in anderen Zeitungen abgedruckt worden waren, ohne eine behördliche Reaktion hervorzurufen – eine Ungleichbehandlung, die zu erheblicher Rechtsunsicherheit führte und immer wieder heftige Proteste auslöste517. Ältere Ansätze aufgreifend, wurden die Grundbegriffe des preußischen Vereins- und Versammlungsrechts sukzessive ausgedehnt, um effizienter gegen das katholische Ver513 Bismarck, Sten. Ber. RT, 28. 3. 1867, S. 431. Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle „große andauernde Heiterkeit“. 514 Bebel, Sten. Ber. RT, 5. 3. 1879, S. 294 f. Interessante Aufschlüsse über die Behandlung des Delikts in Bayern dürfte ein im Bayerischen Hauptstaatsarchiv befindliches Konvolut erbringen, das zahlreiche Bismarckbeleidigungsfälle aus den Jahren 1874 – 79 enthält (HStA, MA 65859). 515 Über die Anwendung des § 153 GO gibt erst die seit 1882 erscheinende Kriminalstatistik des Deutschen Reiches umfassend Auskunft. 516 Zur personellen Besetzung des Obertribunals in den 70er Jahren Ormond, S. 387 – 389. 517 Als Beispiel: OT-Erkenntnis vom 13. 10. 1875.
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einswesen und die sozialistischen Organisationen vorgehen zu können518. Eine ähnlich extensive Auslegung erfuhr die Vorschrift des § 153 GO im Zusammenhang mit der ersten größeren Streikwelle zu Beginn der 70er Jahre519. Seine besondere Fürsorge ließ das Obertribunal dem Schutz der Exekutivbeamten, namentlich der Polizeiorgane, angedeihen, indem es einen quasi unbegrenzten Begriff der Amtshandlungen konstruierte – hier erwies es sich ganz als getreuer Diener Bismarcks, dem dieser Punkt stets besonders am Herzen lag520. Bei all dem darf nicht vergessen werden, daß die preußische Spruchpraxis den Obergerichten der übrigen Bundesstaaten häufig als Vorbild diente. 2. Daß sich die Verhältnisse in Bayern nach wie vor günstiger gestalteten, hatte verschiedene Ursachen. Die Personalpolitik des Ministeriums Lutz (1871 – 1890) sorgte dafür, daß die liberalere Färbung der bayerischen Beamtenschaft erhalten blieb. De facto lag das Regierungssystem in den Händen einer „Oligarchie aus liberalen Ministern und ihrer Bürokratie im Verbunde mit Teilen des gehobenen Bürgertums und der adeligen Oberschicht, die ihre Macht weder mit dem Landtag noch mit dem Monarchen zu teilen bereit waren“521. Das Parteiensystem hingegen war geprägt vom Gegensatz zwischen den preußenfreundlich-national orientierten Liberalen, die mit der Regierung eng kooperierten, und der Patriotenpartei unter Führung von Edmund Jörg, einer katholisch-konservativen, preußenfeindlich-föderalen Sammlungsbewegung, die in der Abgeordnetenkammer seit 1869 dauerhaft die Mehrheit stellte522. Dies engte den legislativen Spielraum der Regierung erheblich ein, wie sich vor allem im Kulturkampf zeigte, der weitgehend auf administrative Maßnahmen beschränkt blieb. Hinzu kam, daß die noch stark agrarisch bestimmte Struktur des Landes der radikalen Arbeiterbewegung nur punktuell einen günstigen Nährboden bot (Nürnberg, München, Augsburg). Die genannten Faktoren wirkten sich vor allem auf die Pressejustiz aus. Nach wie vor wurden die bayerischen Gerichte weit weniger mit Pressesachen behelligt als die preußischen: Zwischen 1874 und 1879 spielten sich im ganzen nur 302 Presseprozesse im Königreich ab523. Vor dem Hintergrund des nunmehr gemeinDetailliert dazu, bezogen auf die Arbeiterbewegung, Schultze, S. 295 ff. Beispiele bei Schultze, S. 635 f. 520 Vgl. die Bemerkungen von Meyer (NL) und Mende (SPD) im Reichstag, 21. 3. 1870 (Sten. Ber., S. 430 f.); Pressestimmen zu einem entsprechenden OT-Urteil aus dem Jahre 1876: Staatsbürger-Zeitung, Nr. 198 („Polizei und Justiz“); Berliner Tageblatt, Nr. 165 („§ 111“); Vossische Zeitung, Nr. 166, alle archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7994. 521 Treml, S. 99. Johann v. Lutz (1826 – 1890) war vom 18. 9. 1867 bis zum 23. 8. 1871 zunächst bayerischer Justizminister; 1869 bis 1890 bekleidete er das Amt des Kultusministers, 1880 erhielt er zudem offiziell den Vorsitz im Ministerrat (Staatsminister, II, S. 759 – 814). 522 Übersicht über die Mandatsverteilung bei Treml, Tab. S. 88; eingehend zur Patriotenpartei: Fr. Hartmannsgruber, Die bayerische Patriotenpartei 1868 – 1887, München 1986. 523 1874: 42; 1875: 70; 1876: 43; 1877: 47; 1878: 62; 1879: 38 (Angaben nach: HStA, MInn, Nr. 65613). 518 519
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samen Straf- und Presserechts trat der prozessuale Unterschied umso schärfer hervor: Die Tatsache, daß in Bayern Männer „aus dem Volk“ über Pressevergehen zu Gericht saßen, bewahrte das Medium vor übertriebener Strafverfolgung und sicherte praeter propter die verfassungsrechtlich garantierte Pressefreiheit. Zwar ging die Freisprechungsquote im Laufe der Jahre von über 50 % auf etwa 30 % zurück, damit lag sie aber immer noch deutlich höher als in Preußen. Dennoch wurde auch die Strafjustiz in die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Kammermehrheit hineingezogen. Wiederholt führten Abgeordnete der Patriotenpartei Beschwerde darüber, daß die oppositionelle Presse von der Staatsanwaltschaft weit schärfer angefaßt werde als die liberale524. Ferner konnten auch die bayerischen Geschworenen im Einzelfall harte Urteile fällen. Insbesondere das von Johann Baptist Sigl (1830 – 1902) seit 1869 herausgegebene „Bayerische Vaterland“, das zumindest bis 1877 dem extremen Flügel der patriotischen Presse zuzurechnen ist und zunächst eine betont partikularistische, klerikal-demokratische Richtung vertrat, geriet immer wieder ins Visier von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten. Der Grund lag vor allem in seiner derb-kraftvollen, nicht selten beleidigenden Sprache, die dem Blatt – trotz wechselnder politischer Ausrichtung – über Jahrzehnte hinweg eine große Popularität sicherte. Wegen ihrer erklärten Gegnerschaft zum Deutsch-Französischen Krieg erlebte die Zeitung 1870 in sechs Wochen 86 Konfiskationen, von denen jedoch keine einzige zur Anklageerhebung führte. Dennoch wurde Sigl im Laufe seines Lebens insgesamt zu 34 Monaten Festungshaft resp. Gefängnis sowie zu zahlreichen Geldstrafen verurteilt, zumeist wegen Majestäts- oder Bismarckbeleidigung. Als längste Einzelstrafe verbrachte er 1875 / 76 nicht weniger als 14 Monate „hinter Gittern“525. Angesichts dieser Situation ging die Patriotenpartei frühzeitig dazu über, völlige Pressefreiheit zu fordern. In der „Augsburger Postzeitung“, dem Hauptblatt des gemäßigt konservativen Katholizismus, hieß es in einer „Preßfreiheit“ betitelten Artikelserie Anfang 1871: „Die Grundsätze des Rechts und der Gerechtigkeit sind viel besser gewahrt, wenn das Schwert beseitigt wird, dessen Schärfe bisher fast nur nach einer Seite gewendet schien, während sich andererseits die Preßfrechheit fast ungeahndet breitmachte [ . . . ]. Mit den Beschränkungen, die nur für uns da zu sein scheinen, fällt dann auch der Ausnahmezustand, welcher den Grundsätzen der Rechtsgleichheit, Gerechtigkeit und Sittlichkeit zuwider ist“526. Allerdings richtete sich die Klage eher gegen die Polizeibehörden denn gegen die Gerichte. Genauer besehen läßt das Siglsche Beispiel nämlich ein Muster erkennen, das für die bayerische Situation kennzeichnend blieb: Die Angriffe gegen die politische Judikatur Dazu Staatsminister, II, S. 778 – 782. Zu Sigl und seinem „Vaterland“: H. Zitzelsberger, Die Presse des bayerischen Partikularismus von 1848 – 1900, Schloß Birkeneck 1937, S. 32 – 64 / 68 – 73; R. Sigl, Dr. Sigl, Rosenheim 1977 (bes. S. 20, 220 ff.); Wetzel, S. 147 ff.; Hartmannsgruber, S. 262 / 301 – 303; weiterhin Sigls eigene Schilderung in der RT-Sitzung v. 11. 1. 1895 (Sten. Ber., S. 283 f.; erste Lesung der Umsturzvorlage). 526 Zit. n. Hartmannsgruber, S. 262. 524 525
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bezogen sich in aller Regel auf Einzelfälle, erreichten also kaum einmal die Stufe systematischer und generalisierter Justizkritik, wie dies in Preußen und auf Reichsebene der Fall war. 3. Wie spannungsgeladen das Verhältnis von Justiz und Politik mittlerweile geworden war, belegen auch die berühmten Arnim-Prozesse der Jahre 1874 – 1876527. Der Konflikt Bismarcks mit Harry Graf von Arnim, vormals Botschafter beim Heiligen Stuhl und in Paris, dem eine längere Vorgeschichte vorausging, beruhte zum einen auf politischen Meinungsunterschieden, vor allem hinsichtlich der römischen Kirchenfrage und der Frankreichpolitik, zum anderen auf verschiedenen dienstrechtlichen Verfehlungen Arnims, die ihren Grund in der selbstherrlichen, zur Pflichtvergessenheit neigenden und der Subordination unfähigen Persönlichkeit des Botschafters hatten. Die Auseinandersetzung kulminierte in einer Anklage gegen Arnim wegen Unterschlagung amtlicher Schriftstücke, die im In- und Ausland ein gewaltiges, überwiegend kritisches Presseecho auslöste. In verschiedenen Vorkommnissen meinte man eine politische Lenkung des Verfahrens zu erblicken, zudem wurde die Tatsache gerügt, daß ein Strafprozeß eingeleitet worden war und nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, nur eine Disziplinaruntersuchung. Zwar strebte auch Arnim – um der größeren Resonanz willen – ein ordentliches Verfahren an, Bismarck favorisierte diese Lösung aber von vornherein ebenso wie er großen Wert auf die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung legte, beides mit dem Ziel, die Allgemeinheit über Arnims Dienstvergehen ins Bild zu setzen und seine Stellung als Vorgesetzter zu befestigen528. Die Vorwürfe traten in so massierter Form auf, daß sich der Präsident des Stadtgerichts, Krüger, zu einer öffentlichen Ehrenerklärung für sein Gericht veranlaßt sah529. Dasselbe Motiv bewog Holtzendorff, dem Angeklagten ansonsten eher kritisch gegenüberstehend, als Mitverteidiger aufzutreten: „Ich spreche für den Angeklagten, weil ich die schwere Besorgnis empfunden habe, daß ein Übermaß politischer Erwägungen eindringen könnte in die Heiligtümer der preußischen Rechtspflege“530. Der erste Prozeß – die Anklage beruhte auf § 348 Abs. 2 StGB, der Beamte mit Gefängnis nicht unter einem Monat für den Fall bestrafte, daß Aktenstücke ver527 Ausführliche Darstellung bei: G. Kratzsch, Harry von Arnim, Göttingen 1974; zur Vorgeschichte: G. O. Kent, Arnim and Bismarck, Oxford 1968; Bericht über den ersten Prozeß: Der Arnim’sche Prozeß, Berlin 1874; Bismarcks eigene Schilderung der Affäre in: GW, Bd. 15, S. 356 – 360; zahlreiche Aktenstücke zum Gesamtkomplex in den Bänden III / 1 und III / 2 der NFA. 528 „Mir kam es nur darauf an, als Vorgesetzter die amtliche Autorität zu wahren; ein Straferkenntnis gegen Arnim habe ich weder erstrebt noch erwartet“ (GW, Bd. 15, S. 358) – die letztzitierte Bemerkung überrascht etwas, handelte es sich doch immerhin um ein Strafverfahren; vgl. Kratzsch, S. 67. 529 Reichs- und Staatsanzeiger v. 14. 10. 1874 (Kratzsch, S. 72); ähnlich die in der Sitzung vom 14. 12. 1874 verlesene Erklärung des Untersuchungsrichters Pescatore (Der Arnim’sche Prozeß, S. 266 – 268). 530 Ebd., S. 313. Als weiterer Verteidiger trat August Munckel auf, später langjähriger linksliberaler Abgeordneter des Reichstags.
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nichtet, beiseite geschafft oder beschädigt worden waren – endete im Dezember 1874 mit der Verurteilung Arnims zu drei Monaten Gefängnis. Im Juni 1875 erhöhte das Kammergericht – bei geänderter rechtlicher Begründung – das Strafmaß auf neun Monate Gefängnis. Die von Arnim eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde wies das Obertribunal zurück. Darüber hinaus wurde er disziplinarisch belangt (Versetzung in den einstweiligen Ruhestand). Kritische Beobachter sahen die Justiz – ähnlich wie beim Polenprozeß zehn Jahre zuvor – unter der Last der „großen Politik“ zusammenbrechen. Nach Abschluß der ersten Prozeßrunde schrieb Otto Mittelstädt: „Der Reichskanzler hat sicherlich keinen Grund, nach dem Ausgange des Prozesses Arnim zu bedauern, daß die strafrechtliche Behandlung der Angelegenheit den Vorrang vor der disziplinären behalten hat, und die Politik des leitenden Staatsmannes hat in der trüben Beleuchtung der Berliner Gerichtssäle nichts von ihrer Größe, ihrer Klarheit, ihrem Glanze eingebüßt. Man kann nicht dasselbe von der Strafjustiz selbst sagen“. Erneut hätte sich gezeigt, „wie ein für den einfachen geraden Rechtsweg des ordentlichen Strafverfahrens ungefüger politischer Stoff den festen Rahmen des Kriminalprozesses sprengt, fortgesetzt zu außerordentlichen Prozeduren anreizt und trotz aller aufgewandten Mühe, den Gang Rechtens nicht beirren zu lassen, durch Rücksichten fremdartiger Natur, die Politik schließlich doch triumphiert über Strafrecht, Prozeßform und selbst die Disziplin des Richteramtes“ 531. Arnims Verteidigungsschrift „Pro nihilo“ zog ein zweites Verfahren, diesmal vor dem Staatsgerichtshof, nach sich, in dem die Anklage auf Landesverrat sowie Beleidigung des Kaisers, des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes lautete. Im Oktober 1876 wurde Arnim in Abwesenheit zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Da er es vorzog, im Ausland zu bleiben, konnte er die Verbüßung der Strafe abwenden532. Überblickt man den gesamten Prozeßverlauf, so läßt sich feststellen, daß die kritischen Begleittöne doch erheblich über das Ziel hinausschossen: Beide Verfahren zeichneten sich durch einen streng rechtsstaatlichen Charakter aus, von einer ungebührlichen Vereinnahmung der Justiz durch die Politik konnte in diesem Fall keine Rede sein. Andererseits verwundert es nicht, daß die direkte Involvierung Bismarcks sowie die einschlägigen Erfahrungen mit politischen Prozessen entsprechende Befürchtungen und Überreaktionen auslösten. Als unmittelbare Auswirkung der Affäre fügte die StGB-Novelle von 1876 den sog. Arnim-Paragraphen (§ 353a) in das Strafgesetzbuch ein, der für Amtsvergehen von Angehörigen des Auswärtigen Dienstes Gefängnis oder Geldstrafe bis zu fünftausend Mark vorsah. Bismarck zufolge besaß der Paragraph nicht den Zweck, die Arbeitsbedingungen der Diplomaten zu verschlechtern, „sondern nur Mittelstädt, Strafjustiz, S. 14 f. Seinen Erinnerungen zufolge hielt Bismarck die Urteile in beiden Prozessen für überzogen (GW, Bd. 15, S. 358 f.). 531 532
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unser Staatsrecht klarer zu legen und dem Minister den Platz zu gewähren, der ihm von oben nicht selten versagt wird. Praktische Bedeutung hat er nicht, nur theoretisch konstitutionelle“533. Darüber hinaus trat die Rückständigkeit der preußischen Strafprozeßordnung offen zu Tage. Infolge der Abwesenheit des Angeklagten wurde das Urteil des Kammergerichts ohne vorherige Anhörung der Verteidigung, unter Ausschluß der Öffentlichkeit und ohne weitere Verhandlung verkündet. Das Prozedere, obwohl vollkommen legal, rief allgemeines Unverständnis hervor. Im Reichstag faßte der Fortschrittler Hänel die Reaktionen dahingehend zusammen, „daß der Fall Arnim in der Behandlung vor dem Staatsgerichtshof einen allgemein peinlichen Eindruck gemacht hat und sowohl im Inlande als auch im Auslande geradezu als barbarische Prozedur angesehen wurde“534. Zu diesem Zeitpunkt galt es allerdings bereits als beschlossene Sache, Abwesenheitsverfahren künftig auf Bagatellsachen zu beschränken (RStPO § 319). Im folgenden sollen die beiden Hauptarenen der politischen Strafverfolgung in den 70er Jahren, der Kulturkampf und das Vorgehen gegen die sozialistische Arbeiterwegung, näher untersucht werden.
2. Der Kulturkampf Auseinandersetzungen zwischen dem modernen Staat und der katholischen Kirche fanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern mit starkem katholischen Bevölkerungsanteil statt. Im Kern ging es überall um die Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses auf die Gesellschaft, also um eine weitere Etappe im neuzeitlichen Prozeß der Säkularisierung. In Deutschland beruhte der Konflikt, für den sich rasch der von Rudolf Virchow geprägte Begriff „Kulturkampf“ einbürgerte, im wesentlichen auf drei Antriebskräften: dem ausgeprägten Antiklerikalismus der Liberalen, die im Katholizismus den Hauptfeind einer verabsolutierten kulturellen Moderne sahen, der Politik der Römischen Kirche, die im „Syllabus errorum“ Pius’ IX. (1864) eben jener Moderne eine kategorische, „ultramontane“ Absage erteilt hatte, und den staatspolitischen Interessen Bismarcks, dem in erster Linie an einer Ausschaltung des jüngst gegründeten Zentrums gelegen war, einer Partei, die in seinen Augen den fragilen Binnenzustand des neuen Reichs gefährdete. Da die Bundesstaaten Träger der Kulturhoheit waren, fanden die Auseinandersetzungen weitgehend auf Länderebene statt535. 1. Seine schärfste Ausprägung erfuhr der Kulturkampf bekanntlich in Preußen. Dazu trug nicht zuletzt die Tatsache bei, daß die Konfrontation hier in hohem Bismarck an Hohenlohe (Botschafter in Paris), 4. 1. 1876, in: NFA, III / 2, Nr. 316. Hänel, Sten. Ber. RT, 23. 12. 1876, S. 307; ähnlich Windthorst ebd. („absolut stilles Gericht“). 535 Instruktive Einführung: Nipperdey, II, S. 364 ff. Materialreiche ältere Darstellungen (teilweise parteiisch): P. Majunke, Geschichte des „Culturkampfes“ in Preußen-Deutschland, 533 534
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Maße in juristischen Bahnen verlief. Im Gegensatz zu Bismarck, der rein administrativen Maßregeln den Vorzug gab, beharrten die Liberalen – allen voran Kultusminister Falk, aber auch die nationalliberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses – darauf, das behördliche Vorgehen auf eine eigene gesetzliche Grundlage zu stellen, um rechtsstaatliche Garantien zu wahren536. Dieser formalrechtliche Vorbehalt, der über den zivilreligiösen Eifer der Liberalen nicht hinwegtäuschen sollte, führte in drei Wellen zu den Kampfgesetzen der Jahre 1873, 1874 und 1875537. Namentlich in die Maigesetze des Jahres 1873, mit denen der Staat tief in die innere Autonomie der Kirche eingriff, hatte man vorsorglich eine Reihe von Strafbestimmungen aufgenommen. In einer Kollektiveingabe an das Staatsministerium vom 26. 5. 1873 erklärten sich die preußischen Bischöfe außerstande, am Vollzug der Gesetze mitzuwirken, da die Kirche „das Prinzip des heidnischen Staates, daß die Staatsgesetze die letzte Quelle allen Rechtes seien und die Kirche nur die Rechte besitze, welche die Gesetzgebung und die Verfassung des Staates ihr verleiht, nicht anerkennen“ könne538. Spätestens an diesem Punkt erreichte der Konflikt eine denkbar prinzipielle Dimension, standen sich nunmehr doch das Selbstverständnis der Kirche als einer metaphysisch begründeten Institution und der Souveränitätsanspruch des säkularen Staates unversöhnlich gegenüber. Weitgehend eigenlogisch hatte sich die Auseinandersetzung zu einem „Existenzkampf zwischen Staat, protestantischem Liberalismus und Kirche“ (Nipperdey) entwickelt539. Die Aufkündigung des Gesetzesgehorsams durch den Episkopat hatte massenhafte Rechtsverstöße zur Folge, so daß sich das Konfliktgeschehen zunehmend vor die Schranken der preußischen Kriminalgerichte verlagerte. Ungewollt rückten diese in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, wobei insbesondere die Verfahren gegen die Bischöfe gewaltiges Aufsehen erregten. Richter und Gerichte gerieten dadurch in eine komplizierte, teilweise prekäre Lage. Als unmittelbare Folge erhöhte sich der Druck, den Regierung und Staatsanwaltschaft auf die Gerichtsbehörden ausübten. Im Mittelpunkt der strafrechtlichen Auseinandersetzungen stand das Gesetz vom 11. 5. 1873, das – neben der Unterstellung der kirchlichen Ausbildungsstätten unter staatliche Kontrolle und einer Umgestaltung des priesterlichen Ausbildungsgangs – eine Anzeigepflicht bei der Paderborn 1886; J. B. Kißling, Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche, 3 Bde., Freiburg 1911 – 1916; K. Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei, Bde. 3 und 4, Köln 1927 / 28; E. Schmidt-Volkmar, Der Kulturkampf in Deutschland 1871 – 1890, Göttingen 1962; zur Strafjustiz, mit Schwerpunkt auf dem Vorgehen gegen die Bischöfe: M. Scholle, Die preußische Strafjustiz im Kulturkampf 1873 – 1880, Marburg 1974. 536 Nachweise für die Bismarcksche Haltung bei Kober, S. 170, Anm. 21; zu Falk: E. Foerster, Adalbert Falk, Gotha 1927 (aus protestantischer Sicht). 537 Zu den Bestimmungen im einzelnen Huber, IV, S. 709 ff. 538 Abgedr. bei Nikolaus Siegfried, Actenstücke betreffend den preußischen Culturkampf, Freiburg 1882, Nr. 94. 539 Bereits 1872 hatte Bismarck unmißverständlich klargestellt, daß der Staat „weder geistig noch körperlich nach Canossa gehen“ wolle (Sten. Ber. RT, 14. 5. 1872, S. 356).
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Anstellung von Geistlichen in Verbindung mit einem Einspruchsrecht des Oberpräsidenten statuierte (§ 15). Letzteres lief auf ein staatliches Vetorecht in Personalfragen hinaus, ein für die Kirche völlig inakzeptabler Subordinationszwang. Die systematische Mißachtung der Anzeigepflicht brachte die Bischöfe fortwährend in Kollision mit § 22 des Gesetzes, der im Unterlassungsfall hohe Geldstrafen vorsah, während die (niedriger bemessenen) Strafsätze der §§ 23 und 24, welche die Vornahme unerlaubter geistlicher Handlungen unter Strafe stellten, auf die Pfarrgeistlichen Anwendung fanden. In einem Erlaß Falks an die Oberpräsidenten vom 24. 10. 1873 kam der Durchsetzungswille des Staates unmißverständlich zum Ausdruck: „Um daher jene gesetzwidrig angestellten Geistlichen zu zwingen, ihre Funktionen einzustellen, ist es unerläßlich, daß jede einzelne Amtshandlung derselben, sobald sie zur Kenntnis der Behörden gelangt, sofort zum Gegenstande einer strafrechtlichen Untersuchung gemacht und die Geistlichen auf diese Weise unausgesetzt mit immer neuen Strafanträgen verfolgt werden, bis sie dem Gesetze sich fügen. Würde dies alsbald dahin führen, daß jene Geistliche, weil sie die sich vermehrenden Geldstrafen nicht zu erlegen vermögen, zur Haft gebracht würden, so ist dies eine Eventualität, vor welcher bei dem Ernste der Sache und den schweren Folgen, welche sich an das Funktionieren der gesetzwidrig angestellten Geistlichen knüpfen, in keiner Weise zurückzuschrecken ist. Vielmehr ist es zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung durchaus erforderlich, jene Geistlichen die volle Strenge des Gesetzes empfinden zu lassen“540. Ungeachtet dessen klagten die Ende 1873 einlaufenden Berichte der Oberpräsidenten über das schleppende Vorgehen und die milden Urteile der Gerichte gegen gesetzwidrig angestellte Geistliche541. Endgültig zum Problem wurde die Rechtsprechung, als einzelne Gerichte erster Instanz dazu übergingen, Neugeistliche freizusprechen, obwohl die Anzeigepflicht mißachtet worden war542. Den Hintergrund bildete zum einen eine Reinterpretation der betreffenden Bestimmungen, zum anderen die Umgehungstaktik der Bischöfe, die vakante Pfarreien einfach ohne offiziellen Auftrag vergaben, woraufhin die Gerichte erklärten, die §§ 22 und 23 seien auf diese Fälle nicht anwendbar. Einem entsprechenden Erkenntnis der Gerichtsdeputation in Tarnowitz hatten sich bis Ende 1873 immerhin schon sechs Gerichte angeschlossen, ein weiteres Umsichgreifen galt als wahrscheinlich. Realiter stand die Gefahr im Raum, daß der Zweck des Gesetzes konterkariert würde. Bismarck bewertete die Entwicklung als „große Gefahr für die Autorität des Staates“ und forderte eine authentische Interpretation, in der alle Amtshandlungen gesetzwidrig angestellter Geistlicher samt und sonders für ungültig erklärt werden sollten543. Auch Falk haderte mit der Ju540 Abgedr. bei Siegfried, Nr. 112. Eine entsprechende Anweisung des Justizministers an die Oberstaatsanwälte ist offenbar nicht ergangen, was darauf schließen läßt, daß Leonhardt die Führung zunächst Falk überließ. 541 S. dazu Schmidt-Volkmar, S. 124 f. 542 Dazu: Falk an das Staatsministerium, 31. 12. 1873, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 10868, Bl. 16 ff. 543 Votum zur obligatorischen Zivilehe, 6. 11. 1873, in: GW, Bd. 6c, S. 43 ff., Zitat S. 44.
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stizpraxis, habe „die bisherige Handhabung der Strafvorschriften der Maigesetze durch einzelne Gerichte {. . . ] doch gezeigt, wie die äußerste Vorsicht geboten ist, um nicht neuen gewagten Interpretationen freien Raum zu lassen“544. Bismarck monierte die „Neigung unserer Gerichte zu buchstäblicher Auslegung“, die zu Deutungen Anlaß gäbe, „die nicht im Sinne des Gesetzgebers wären“545. Das Gesetz vom 21. 5. 1874, mit dem das Vorjahresgesetz deklariert und ergänzt wurde, beseitigte die Unklarheiten nur zum Teil. Als klares Mißtrauensvotum gegen die Richter ließ sich die Umkehrung der Beweispflicht verstehen, mußten die angezeigten Pfarrer nunmehr doch selbst den Nachweis erbringen, ihr Amt auf gesetzliche Weise angetreten zu haben546. Damit waren die Vorbehalte der Regierung freilich noch nicht ausgeräumt. Bekanntlich beruhte die Kulturkampfjustiz nicht nur auf den eigentlichen Sondergesetzen, sondern dem gesamten Arsenal an politischen Strafverfolgungsmöglichkeiten, das gegen den Klerus und die ihn tragenden Bevölkerungsteile in Stellung gebracht wurde. Den Anschlag, den der katholische Böttchergeselle Kullmann am 13. 7. 1874 in Bad Kissingen auf Bismarck verübte, nahmen Innen- und Justizminister umgehend zum Anlaß, die Provinzialbehörden resp. Oberstaatsanwälte zu einer verschärften Überwachung des katholischen Vereins- und Pressewesens anzuweisen547. Mit den Resultaten zeigte sich Falk ein dreiviertel Jahr später alles andere als zufrieden. In einem ausführlichen Votum vom April 1875, das eine Reihe weiterer Kampfmaßnahmen vorschlug, verlangte er, die §§ 110, 130 und 130a des Strafgesetzbuchs um scharfe Sondervorschriften gegen Geistliche zu erweitern sowie alle katholischen Vereine per Gesetz vorübergehend zu politischen Organisationen zu erklären und der diskretionären Gewalt der Staatsregierung zu unterstellen548. Den Hintergrund bildete die Tatsache, daß die angeklagten Vereinsgeschäftsführer in der Mehrzahl freigesprochen und die polizeilich verfügten Schließungen wieder aufgehoben worden waren, da die Richter den Nachweis einer politischen Tätigkeit im Sinne des § 8 des preußischen Vereinsgesetzes vom 11. 3. 1850 nicht als erbracht ansehen konnten (oder wollten). Dies galt namentlich für den 1872 als katholische Sammlungsbewegung gegründeten „Mainzer Verein der deutschen Katholiken“, auf den Eulenburg in seiner Verfügung ausdrücklich Falk an das Staatsministerium, 31. 12. 1873, Bl. 18. Votum zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Verwaltung erledigter katholischer Bistümer, 9. 1. 1874, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 10868, Bl. 47 ff., hier Bl. 47 (jetzt auch in: NFA, III / 2, Nr. 4). 546 Abgedr. bei Siegfried, Nr. 128. 547 Die Verfügungen des IM, beide datierend vom 15. 7. 1874, bei Siegfried, Nr. 131 und Nr. 132; vgl. Huber, IV, S. 729 ff. Über das Vereinszirkular setzte Leonhardt die Oberstaatsanwälte wenige Tage später (18. 7. 1874) per Rundschreiben in Kenntnis (GStA, Rep. 84a, Nr. 5370). 548 Votum betr. die weitere Regelung des Verhältnisses zwischen dem Staat und der katholischen Kirche vom 3. 4. 1875, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 10831, Bl. 42 ff., bes. Bl. 53 – 55 / 64 – 66. Die strafrechtlichen Vorschläge wiederholte Falk in seinem Votum zur StGB-Novelle mit Datum vom selben Tag (GStA, Rep. 84a, Nr. 8398). 544 545
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hingewiesen hatte549. Es bedürfe, so Falk, gerade in dieser Richtung eines „rücksichtslosen und energischen Eingreifens“, welches nur möglich sei, „wenn die Staatsregierung ihre Maßnahmen frei von allen Schranken, namentlich ungehemmt durch eine beengende richterliche Kontrolle“, treffen könne550. Mit anderen Worten: Nach zwei Jahren harten Kulturkampfs wollte Falk die Gerichte durch Verschärfung des Strafrechts an die kurze Leine legen bzw. ihre Mitwirkung vorübergehend ganz ausschalten. Faktisch übernahm Falk damit die Position Bismarcks, der sich im Konflikt mit der Kirche von Beginn an hauptsächlich auf die abhängigen Verwaltungsorgane stützen wollte. Bereits im Juli 1874, unmittelbar nach dem Kissinger Attentat, forderte er, alle konfessionellen Vereine als politische zu behandeln. Sollten die Gerichte anders entscheiden, sei unverzüglich eine gesetzliche Novellierung anzustreben551. Entsprechend kritisch fiel sein Urteil über Falk aus: Der Kultusminister sei ein „pater dubiorum“, was sein „juristisches Blut“ mit sich brächte (Falk war von Haus aus Richter). Im ganzen vermißte Bismarck „die angreifende Strategie, die Initiative. Wir verkümmern in abwartender Defensive, mit welcher allein bekanntlich keine Stellung haltbar ist“552. Es lohnt sich, den gouvernementalen Unmut noch etwas genauer zu beleuchten. Was die erwähnte (Nicht-)Anwendung des Gesetzes vom 11. Mai 1873 betrifft, so liegt wohl ein Fall von gezielter Rechtsumgehung vor. Angesichts der eindeutigen Intentionen des Gesetzes dürften die Richter nach einer Formulierungslücke gesucht haben, um die für die Kirche fatalen Konsequenzen abzuwenden. Von daher ist die Verwunderung, ja Empörung, die aus den Stellungnahmen der verantwortlichen Minister spricht, durchaus verständlich. Demgegenüber verweist der Bismarcksche Formalismus-Vorwurf auf eine prinzipielle Differenz. Infolge der Tatsache, daß die ordentlichen Gerichte von der Entscheidung über Verwaltungsstreitigkeiten ausgeschlossen waren, spielte das öffentliche Recht, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, im Rahmen der juristischen Ausbildung nur eine marginale Rolle. Die Denkweise der Juristen war stark privatrechtlich geprägt und damit an buchstabengetreuer Auslegung orientiert. Diese aber ließ sich mit einer Rücksichtnahme auf die Staatsräson resp. „höhere“ politische Interessen, wie sie Bismarck ganz unverhohlen von den Richtern verlangte, kaum vereinbaren. Ohnehin stellten sich die Dinge aus Sicht der Gerichte anders dar, brachte die Anwendung der Kulturkampfgesetze doch erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Die Jurisdiktion war durch große Rechtsunsicherheit gekennzeichnet, ablesbar an den zahlreichen widersprüchlichen Urteilen bei vergleichbarer Sachlage. Dies galt 549 Schließlich hatte das behördliche Vorgehen aber doch Erfolg: Ein Urteil des Appellationsgerichts Münster, das vom Obertribunal bestätigt wurde, veranlaßte den Verein im Februar 1876, seine Selbstauflösung zu erklären; zum ganzen Kißling, III, S. 128 – 134. 550 Votum Falks v. 3. 4. 1873, Bl. 66. 551 Bismarck an Bülow, 25. 7. 1874, in: NFA, III / 2, Nr. 108. 552 Bismarck an Bülow, 5. 8. 1874, in: NFA, III / 2, Nr. 122.
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etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, für die Frage der Strafbarkeit einzelner Amtshandlungen gesetzmäßig angestellter Pfarrer in vakanten Nachbargemeinden oder des Lesens stiller Messen durch gesetzwidrig amtierende Geistliche553. Die Streitpunkte lassen erkennen, wo die tieferen Probleme lagen: Zum einen waren die gesetzlichen Bestimmungen, namentlich die im Anstellungsgesetz bezeichneten „geistlichen Amtshandlungen“, viel zu unbestimmt und abstrakt, um für jeden Einzelfall eine sichere Entscheidungsgrundlage abzugeben. Zum anderen mangelte es den meisten Richtern an den erforderlichen sachlichen und kirchenrechtlichen Kenntnissen, so daß sich bei manchem ein Gefühl der Überforderung eingestellt haben dürfte. Es war namentlich Windthorst, der immer wieder auf das fehlende „feste Substrat für richterliche Tätigkeit“ hinwies und davor warnte, intrikate kirchenrechtliche Fragen „in das Urteil des Kreisrichters“ zu legen, dem nichts anderes übrig bliebe, als „nach subjektivem Ermessen“ zu entscheiden554. Auch das Phänomen der ausdehnenden Rechtsprechung kam wieder zu Ehren. Als Motor der Entwicklung fungierte einmal mehr das Obertribunal, auf das sich die Regierung auch im Kulturkampf verlassen konnte555. Es resultierte aber auch aus einer Eigendynamik, deren Ursprung im Verfolgungseifer der Staatsanwälte lag556. Mit eindringlichen Worten beschrieb der Kreisgerichtsrat und Zentrumsabgeordnete Sarrazin im Parlament die zersetzende Wirkung, welche die Kulturkampfjustiz auf nachdenkliche, an klaren Rechtsgrundsätzen festhaltende Richterpersönlichkeiten ausübte, wobei die Gewissensnöte eines katholischen Richters unüberhörbar durchklingen: „Sie werden mir alle zugeben, wenn ein Richterkollegium gezwungen ist, sich anhaltend mit solchen Dingen [geistliche Amtshandlungen 553 Zum erstgenannten Problem: v. Jaz ` dzewski, Sten. Ber. AH, 10. 3. 1876, S. 562 ff.; Schreiben Jaz`dzewskis an Leonhardt v. 25. 9. 1875, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 10869 (beklagt die willkürliche Anklagepraxis der Staatsanwälte in Posen); Berichte der Petitionskommission d. AH v. 21. 1. 1878 (Drks. Nr. 208) und 13. 12. 1879 (Drks. Nr. 104). Eine Anweisung an die Staatsanwälte erging in dieser Frage nicht; vgl. Friedberg an Puttkamer, 20. 1. 1880, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 10869; zum ganzen auch Scholle, S. 243 ff. 554 Zitate aus den Reden Windthorsts im RT v. 25. 11. 1871 und 23. 4. 1874 sowie im AH v. 18. 3. 1873, alle abgedr. in: Ausgewählte Reden des Staatsministers a. D. und Parlamentariers Dr. Ludwig Windthorst, 3 Bde., Osnabrück 1902 / 03. Daß die prozessualen Schwierigkeiten bis zum Ende des Kulturkampfs anhielten, belegt ein Prozeßbericht aus der Spätzeit: Ein maigesetzlicher Prozeß im Juni 1882, Ehrenfeld 1882 (Verurteilung von vier Geistlichen wegen verschiedener „maigesetzwidriger Amtshandlungen“ zu je 100 M. Geldstrafe durch die Strafkammer des Landgerichts Köln). 555 Zum OT: Windthorst, Sten. Ber. AH, 21. 2. 1877; Majunke, S. 450 – 452; Schultze, S. 543, Anm. 720; zahlreiche Beispiele in: GStA, Rep. 84a, Nr. 10868 und Nr. 10869. Instruktiv: Anon., Die Maigesetze über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen vom 11. Mai 1873 und 21. Mai 1874 in der Auffassung des Obertribunals, Münster 1876. In der sachlich gehaltenen Schrift werden 46 höchstrichterliche Erkenntnisse aus der Zeit zwischen März 1874 und März 1876, geordnet nach zentralen Gesetzesbegriffen, dokumentiert. Deutlich treten die große Unsicherheit in der Anwendung, aber auch die Tendenz zur Ausweitung der Bestimmungen hervor. 556 Zur Kritik an den Staatsanwälten Virchow, Sten. Ber. AH, 18. 12. 1877, S. 1001.
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etc.] zu beschäftigen, Dingen, bei denen es unmöglich ist, die subjektive Auffassung des Glaubensgebiets und der Tagespolitik außer Spiel zu lassen, wenn ein Richterkollegium ferner gezwungen ist, sich anhaltend mit Beleidigungen des Staatsministeriums, mit Vergehen gegen den § 131 des Strafgesetzbuchs, mit Findung eines Urteils darüber, ob jemand wider besseres Wissen entstellte Tatsachen behauptet hat, sich zu beschäftigen, dann ist es nicht möglich, daß das ohne Einfluß bleibt auf die Unbefangenheit der Rechtsfindung, auf die Jurisprudenz und auf das Ansehen dieses Gerichts. Meine Herren, wohin soll es kommen, wenn heute ein Gericht so entscheidet und ein anderes umgekehrt über dieselbe Frage? Ich finde die Sache durchaus psychologisch motiviert; es fällt mir nicht ein, andere Gründe zu suchen, die man aber natürlich bei so flagranten Verschiedenheiten sucht“557. Falk, dem derlei Bedenklichkeiten an sich nicht fremd gewesen sein dürften, wischte dieselben mit leichter Hand vom Tisch: „Ich weiß, daß die Entscheidungen verschieden waren, aber, meine Herren, die tatsächlichen Verhältnisse sind auch verschieden, und nebenbei ist es verschieden, wie die einzelnen Richter dieselben tatsächlichen Verhältnisse beurteilen. Da kommt man ganz einfach zu verschiedenen Entscheidungen“558. Blickt man auf die realen Verurteilungszahlen, so erscheint die gouvernementale Unzufriedenheit reichlich übertrieben. Im übrigen sicherten eine Reihe flankierender Faktoren die Bindung des Richters an das Gesetz ab. Neben der ministeriellen und staatsanwaltschaftlichen Kontrolle, von der bereits die Rede war, sei daran erinnert, daß der Justizminister bis 1879 die Befugnis besaß, zentrumsnahe katholische Richter von den Straf- in die Zivilabteilungen „abzuschieben“ sowie zuverlässige ad-hoc-Spruchkörper zu bilden. Eine größere Welle von Disziplinarverfahren ähnlich derjenigen in der Konfliktszeit fand hingegen nicht statt559. Nicht ohne Einfluß dürfte zudem die mangelnde „Parität“ der Katholiken innerhalb der preußischen Richterschaft geblieben sein – ein Problem, das für die gesamte (namentlich höhere) Beamtenschaft galt und dessen Beseitigung katholischerseits immer wieder gefordert wurde560. Ein übriges tat die höchstrichterliche Rechtsprechung. Die Liste an Strafurteilen liest sich eindrucksvoll. Einige Angaben mögen zur Illustration genügen: Elf der zwölf preußischen Bischöfe, deren Diözesen ganz 557 Sarrazin, Sten. Ber. AH, 19. 3. 1875, S. 935; Franz Joseph Maria Sarrazin (1828 – 1895), seit 1856 im preußischen Justizdienst und zuletzt Kreisgerichtsrat in Bocholt, gab 1875 sein Richteramt wegen des Kulturkampfs auf; vgl. Ormond, S. 394. Sogar die „National-Zeitung“ bedauerte die Polizei- und Justizbehörden „wegen der Rolle, die man sie spielen läßt“ (NZ v. 30. 5. 1873, archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 10831). 558 Falk, Sten. Ber. AH, 10. 3. 1876, S. 566. 559 Zur Personalpolitik während des Kulturkampfes Ormond, S. 391 – 394; zu Münster Scholle, S. 122. 560 Nach einer Zählung aus dem Jahr 1872 waren 22,3 % der preußischen Richter katholischer Konfession (Ormond, S. 488). Damit lagen die Katholiken 33,5 % hinter ihrem Bevölkerungsanteil zurück (Gesamtbevölkerung Preußens 1871: 24.640.000, Katholiken: 8.268.200, Protestanten: 16.040.750). Zum Paritätsproblem: M. Baumeister, Parität und katholische Inferiorität, Paderborn 1987 (behandelt im wesentlichen die Zeit ab 1890).
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oder überwiegend in Preußen lagen, wurden mit Geldstrafen belegt, die, da jeder einzelne Verstoß geahndet wurde, bald zu horrenden Summen aufliefen. Fünf Bischöfe verbüßten ersatzweise längere Freiheitsstrafen, einer entzog sich der Festnahme durch die Flucht561. Was die Pfarrgeistlichkeit betrifft, so wurden bis Ende 1879 in den Erzdiözesen Posen-Gnesen 60 sowie in Köln 57, in den Diözesen Trier 52 sowie in Paderborn und Breslau jeweils 28 Kleriker – in der Regel mehrfach – zu Geld- und Haftstrafen verurteilt562. Hinzu kamen mannigfache Bestrafungen von Laien, die ihre Sympathie mit den verfolgten Geistlichen bekundet oder bei gesetzwidrigen Amtshandlungen mitgewirkt hatten563. Gegen katholische Redakteure und Verleger ergingen insgesamt 15 Jahre und 2 Monate Gefängnis sowie 40.000 Mark Geldstrafe (dabei handelt es sich um eine Mindestangabe, die auf einer erst Jahrzehnte später erfolgten Umfrage beruht)564. In den politischen Prozessen, die in den ersten vier Monaten des Jahres 1875 geführt wurden und in den allermeisten Fällen mit dem Kulturkampf in Verbindung standen, sprachen die Gerichte gegen 241 Geistliche, 210 Bürger und 135 Redakteure insgesamt 55 Jahre, 11 Monate, 6 Tage Gefängnisstrafe sowie 24.843 Mark Geldstrafe aus. Die Freisprechungsquote fiel mit rund 11 % ausgesprochen niedrig aus, wobei von den 41 Prozessen wegen Majestätsbeleidigung lediglich 2, von den 68 wegen Bismarckbeleidigung lediglich 3 mit einem Freispruch endeten565. Die herrschende Rechtsungleichheit ließ sich vor allem an der Behandlung der Presse ablesen. Als die päpstliche Enzyklika „Quod nunquam“ vom 5. 2. 1875 – sie erklärte die preußischen Kirchengesetze für null und nichtig („irritas“), „weil sie der göttlichen Einrichtung der Kirche schlechthin widersprechen“ – von zahlreichen katholischen Blättern ganz oder teilweise abgedruckt bzw. in paraphrasierter Form wiedergegeben wurde, brach eine Flut von Prozessen über die Verantwortlichen herein. Das Urteilsspektrum war breit: 17 Redakteure erhielten eine Gefängnisstrafe zwischen einem Jahr und 14 Tagen, gegen 16 weitere ergingen Geldstrafen zwischen 400 M. und 50 M., immerhin zehn Verfahren endeten mit Freispruch566. Das Phänomen kehrte auf der Ebene einzelner Zeitungen wieder. So sah sich die Berliner „Germania“ mit Anzeigen und Strafanträgen regelrecht überschüttet – bis Mitte 1879 wurde die Redaktion mit ca. 10 Jahren Gefängnis und 561 Ausführlich zu den Bischofsprozessen: Kißling, II, S. 400 ff. sowie III, S. 89 ff.; Scholle, S. 54 ff.; Huber, IV, S. 727 f. 562 Schmidt-Volkmar, S. 168; weitere Angaben bei Scholle, S. 242 f., 263. 563 Einen Eindruck vom rigorosen Vorgehen der Behörden und Gerichte vermittelt die der „Trierischen Landeszeitung“ entnommene Chronik des Kulturkampfes in Trier, die sich bei Siegfried, S. 408 ff. findet; zu Trier auch: U. Fohrmann, Trierer Kulturkampfpublizistik im Bismarckreich, Trier 1977 (mit Verzeichnis der Maßnahmen gegen Trierer Blätter 1873 – 1881, S. 334 / 338). 564 Zur katholischen Presse: Reiber, S. 126 ff.; Wetzel, S. 119 ff. 565 Reiber, S. 132 f.; die Angaben basieren auf dem „Kulturkampfkalender“, den die „Frankfurter Zeitung“ von Januar bis April 1875 führte. 566 Zum ganzen Wetzel, S. 131 – 136 sowie Anhang, Übers. 13.
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20.000 Mark Geldstrafe belegt. In einer eigenen Rubrik mit dem Titel „Presseprozesse der Germania“ unterrichtete das Blatt seine Leser ausführlich über die Verfahren567. Verglichen hiermit fielen die Strafurteile gegen die zweite große katholische Tageszeitung des Reiches, die „Kölnische Volkszeitung“, kaum ins Gewicht. Die Prozesse endeten in der Mehrzahl mit Geldstrafen, vereinzelt kam es auch zu Freisprüchen – der einzige Freiheitsentzug lautete auf zwei Monate Festungshaft(!). In seiner Jubiläumsschrift zum 50jährigen Bestehen der „Volkszeitung“ bescheinigte Hermann Cardauns, 1876 – 1907 Chefredakteur des Blattes, den Kölner Richtern, sie hätten „in vornehmster Form zu erkennen gegeben, daß sie sich im Kulturkampfe nicht als Vollzugsorgane einer unseligen Gewaltpolitik, sondern als unabhängige richterliche Behörden fühlten, für die nur das Gesetz maßgebend ist“568. Eine Reihe von Gründen flossen in die Ungleichbehandlung ein: Die „Germania“ befleißigte sich durchweg eines schärferen Tons (bedingt auch durch das Temperament ihres Chefredakteurs, Paul Majunke), zudem hatte sie sich als Zentrumsorgan die persönliche Feindschaft des Reichskanzlers zugezogen, ein Umstand, der sich in zahlreichen Bismarckbeleidigungsprozessen niederschlug. Es entsprach aber auch der Tradition, daß die Presse in Berlin und den östlichen Provinzen schärfer kontrolliert wurde als im „liberalen“ Rheinland. Besonders rigorose Formen nahm der Kulturkampf in den polnischsprachigen Gebieten an, vor allem in der Provinz Posen, wo die Polen die Bevölkerungsmehrheit stellten (1870: 900.000 Polen vs. 600.000 Deutsche). Die Verschränkung von Kirchenkampf und Nationalitätenkonflikt führte dazu, daß sich die nationalpolnische Agitation radikalisierte und zunehmend auch die bislang unpolitischen Massen erfaßte569. Die Niederschlagung des polnischen Aufstandes von 1863 hatte den „Polonismus“ in Posen und Westpreußen keineswegs zum Schweigen gebracht. Die Reaktion der preußischen Regierung bestand zum einen in verstärkter Repression, zum anderen in einer Politik der Germanisierung, die zunächst noch auf das Gebiet der Sprache beschränkt blieb. So wurde im Justizwesen Deutsch als Gerichtssprache verpflichtend gemacht (Geschäftssprachengesetz v. 28. 8. 1876; GVG § 186). Auf die Personalpolitik wirkte sich der Kulturkampf indes noch kaum aus, obwohl der Anteil polnischer Richter gering blieb. Befanden sich 1869 in der Provinz Posen 567 Zur Germania: Reiber, S. 11 – 13; dort, S. 127 – 129, auch eine Liste der wichtigeren Verurteilungen; Wetzel, S. 136 f. 568 Hermann Cardauns, Fünfzig Jahre Kölnische Volkszeitung, Köln 1910, S. 35. In der Zeit vom 9. 7. 1872 bis 2. 5. 1875 wurden rund 30 Nummern der „Volkszeitung“ konfisziert oder nachträglich mit einer Anklage belegt. In sieben Fällen gab die Staatsanwaltschaft die Nummer wieder frei, in vier Fällen erkannten die Gerichte auf Freispruch; die verhängten Geldstrafen bewegten sich zwischen 30 M. und 450 M. (Angaben ebd., S. 35 f.); zur KV auch Reiber, S. 18 f. 569 Dazu: L. Trzeciakowski, The Kulturkampf in Prussian Poland, New York 1990; R. Blanke, Prussian Poland in the German Empire, New York 1981, S. 17 ff.; Schmidt-Volkmar, S. 170 ff.
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unter 156 erstinstanzlichen Richtern 27 Polen, so waren 1883 unter insgesamt 242 Richtern 30 polnischer Abstammung. In Schlesien entfielen zu dieser Zeit auf 509 Richter sogar nur 14 Polen570. Die systematische Zurückdrängung des polnischen Elements im Richterstand setzte erst mit der Radikalisierung der preußischen Polenpolitik in den Jahren 1885 / 86 ein. Bereits in den frühen 70er Jahren verschärfte sich die Kontrolle der polnischen Presse. Gegen den bekannten Agitator Karol Miarka, Herausgeber des im oberschlesischen Königshütte erscheinenden „Katolik“, ergingen seit 1871 rund 20 Anklagen, die ihn für viele Monate ins Gefängnis brachten. Miarka hatte den Fehler begangen, sich auf eine persönliche Fehde mit Bismarck einzulassen – sozusagen das polnische Pendant zur „Frankfurter Zeitung“ und zur „Germania“571. Während des Kulturkampfes trafen die meisten Anklagen den in Posen erscheinenden klerikalen „Kuryer Poznanski“, dessen Chefredakteur Kantecki 1876 / 77 eine juristisch umstrittene, politisch hohe Wellen schlagende Zeugniszwangshaft von fast fünfmonatiger Dauer verbüßte572. Die Unerbittlichkeit, mit der die Auseinandersetzung in Posen geführt wurde, läßt sich an der Behandlung der Symbolfigur des polnisch-katholischen Widerstands, des Grafen von Ledochowski, Erzbischof von Gnesen und Posen, ablesen. Ledochowski war nicht nur der erste preußische Bischof, gegen den strafrechtlich eingeschritten wurde, sondern auch der einzige, der die gesetzliche Höchststrafe von zwei Jahren Gefängnis verbüßte. Auch nach seiner Absetzung und Exilierung riß die Kette an Prozessen und Verurteilungen nicht ab. Dies entsprach dem ausdrücklichen Wunsch Bismarcks, daß gegen den Erzbischof „jedes zulässige Strafverfahren“ einzuleiten sei. Insgesamt ergingen gegen Ledochowski zehn Strafurteile573. Unter dem Druck der Verhältnisse deformierte sich das politische Strafrecht. Dies belegt der Bericht über die Anwendung der §§ 110, 111, 130, 131 StGB, den Oberstaatsanwalt Stuke auf das bereits erwähnte Reskript Leonhardts vom 6. 7. 1878 hin nach Berlin einsandte574. Schon die Zahl der Verurteilungen lag deutlich 570 Zahlen nach Ormond, S. 456 und Trzeciakowski, S. 135; 1886 zählte das Justizministerium in der Provinz Posen unter 170 vor 1879 angestellten und noch amtierenden Richtern 26 Polen (Ormond, S. 459, Anm. 8). 571 Trzeciakowski, S. 147 – 149. Die langen Gefängnisstrafen ruinierten Miarkas Gesundheit, so daß er sich schließlich in den österreichischen Teil Galiziens absetzte, wo er 1882 starb. Zur preußischen Politik gegenüber den Oberschlesiern zwischen 1807 und 1914: M. Czaplinski, Der Oberschlesier – Staatsbürger oder Untertan?, in: H. H. Hahn / P. Kunze (Hg.), Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 81 – 91. 572 Zur Affäre Kantecki: Giesen, S. 58 f.; Wetzel, S. 139 ff. Bei Wetzel finden sich auch, bezogen auf die Jahre 1874 – 1877, Angaben über die Zahl strafbarer Artikel in fünf führenden polnischen Zeitungen (S. 138); leider bleibt die Herkunft der Zahlen wieder einmal im dunkeln. 573 Zitat: Bülow (i. Vertr.) an Falk, 28. 8. 1876, in: NFA, III / 2, Nr. 394; zu den einzelnen Verfahren Scholle, S. 59 ff.; zu den Urteilen gegen weitere Mitglieder des Posener Domkapitels Schmidt-Volkmar, S. 176.
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höher als in anderen Teilen der Monarchie: In den Jahren 1873 – 77 gingen im Bezirk des Appellationsgerichts Posen insgesamt 98 Anzeigen wegen Vergehen gegen die genannten Paragraphen ein (§ 110:33; § 111:25; § 130:9; § 131:31). In 59 Fällen kam es zu einer Verurteilung (§ 110:19; § 111:13; § 130:1; § 131:26), Pressevergehen wurden sogar zu einhundert Prozent bestraft (§ 110:13; § 130:1; § 131:20)575. Diese „Erfolgsquote“ verdankte sich einer extensiven, teilweise offen rechtswidrigen Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen. So genügte zu einer Verurteilung nach den §§ 110 und 111 StGB anstatt der vom Gesetz geforderten direkten „Aufforderung“ (zum Ungehorsam bzw. zur Begehung einer strafbaren Handlung) regelmäßig bereits eine mittelbare Aufforderung sowie eine „Anreizung“, und auch die aus dem Gesetz gestrichene Glorifikation war als Strafgrund unter der Hand wieder zu Ehren gekommen. In bezug auf den § 131 StGB heißt es mit verblüffender Offenheit: „Die Rechtsübung hat angesichts der die Gefahr erkennbar machenden Wirklichkeit das Bedürfnis gefühlt, den Mißgriff der Gesetzgebung wenn auch nicht auszugleichen, doch tunlichst zu mildern. Die interpretative Erweiterung des Begriffs ,Tatsache‘ [ . . . ] legt davon Zeugnis ab, wie unbehaglich sich die Judikatur unter dem Zwange einer tatbestandlichen Einschränkung gefühlt hat, die bei pedantisch doktrinärer Beachtung den Zweck des Gesetzes in den weitaus meisten und erheblichsten Fällen vereitelt haben würde. Gestattete diese ausdehnende Auffassung des gedachten Grundbegriffs die Annahme des Merkmals: Vorbringung erdichteter oder entstellter Tatsachen, so haben die Gerichte nur ausnahmsweise [ . . . ] Anstand genommen, die Wissentlichkeit aus der Notorietät vermittelst freier Beweiswürdigung zu finden“576. Mit anderen Worten: Die auch anderswo zu beobachtende Tendenz, gesetzliche Bestimmungen extensiv auszulegen, war in Posen in gezielte Rechtsbeugung übergegangen. Die Selbstverständlichkeit, mit der dies hier geschildert wird, verweist darauf, daß sich der Berichterstatter im Einvernehmen mit seinem Justizminister wähnte. Als passionierter Jurist mag Leonhardt einen solchen Verfall der Rechtssitten mißbilligt haben – Gegenmaßnahmen ergriff er, soweit ersichtlich, nicht. Daß sich die Posener Richter nicht mehr als Diener, sondern eher als Herren des Gesetzes verstanden, mag sich auch aus der Personalpolitik erklären. Hierauf verweist eine Bemerkung von Virchow, einem der liberalen Vorkämpfer des Kirchenkonflikts, aber auch großer Bismarckhasser. Die in Posen herrschenden Mißstände in der Justiz, so Virchow im Abgeordnetenhaus, seien nicht verwunderlich, da die Provinz seit geraumer Zeit als „Verbannungsort“ für „gemaßregelte Kreisrichter“ diene, so daß ihr „eine Sammlung von allen möglichen Unfähigkeiten und zum Teil sogar Schlechtigkeiten“ aufgebürdet worden wäre577. Woher der Redner seine 574 Bericht aus Posen v. 27. 7. 1878, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8431, Bl. 151 – 153; s. dazu auch oben Kap. II / 2. 575 Zur scharfen Anwendung der §§ 110, 130 und 131 StGB auf die polnische Presse vgl. auch v. Donimirski, Sten. Ber. RT, 25. 4. 1874, S. 1114 f. (3. Beratung des RPG). 576 Bericht aus Posen, Bl. 153. 577 Virchow, Sten. Ber. AH, 18. 12. 1877, S. 1000.
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Kenntnisse hatte, verriet er allerdings nicht. Schließlich dürfen die psychologischen Bedingungen nicht übersehen werden: Man darf davon ausgehen, daß sich die Richter der „höheren“ Rückendeckung durch den Reichskanzler bewußt waren, der eine oder andere mag seine Tätigkeit gar als zivilisatorische Mission aufgefaßt haben. Es liegt auf der Hand, daß die Unmenge an Kriminalstrafen sowie die Art und Weise, wie die Gesetze gehandhabt wurden, auf vielfältige Ablehnung stießen. Die Artikulationsformen reichten von sachlich-objektiver Kritik über scharfe Polemiken bis hin zu affektgeladenen Reaktionen. Angesichts des immensen Wachstums, das die katholische Publizistik gerade in jenen Jahren erlebte, ist die Zahl justizkritischer Äußerungen Legion578. Kaum zu überschätzen ist die emotionale Wirkung, die von der Solidarisierung der katholischen Bevölkerung ausging. Greifbar wurde sie etwa, wenn es bei der Verhaftung des örtlichen Gemeindepfarrers zu lautstarken Protesten kam oder die Entlassung eines „Märtyrers“ aus dem Gefängnis mit einem Volksfest begangen wurde, auf dem obendrein noch kämpferische Reden zu hören waren. Derartige Massenkundgebungen, von denen die katholische Kulturkampfliteratur reichlich zu erzählen weiß, erzeugten in weiten Teilen der Bevölkerung einen zwar schwer meßbaren, aber umso nachhaltigeren Affekt gegen die Strafgerichtsbarkeit. Zwei prominente Stimmen seien herausgegriffen. Als der Fraktionsvorsitzende des Zentrums im preußischen Abgeordnetenhaus, Freiherr v. Schorlemer-Alst, bekannt für schneidige Reden, bei der Beratung des Kulturetats im Februar 1877 ein vorläufiges Fazit des Kulturkampfs zog, richtete er sein Augenmerk auch auf die Rechtspflege: „Es hat sich infolge des Kulturkampfes eine wahrhaft schmähliche Denunziations- und Verfolgungssucht entwickelt, der Kulturkampf ist sozusagen die Parole geworden für alle Streber und ist auch eingedrungen in den Richterstand, und er hat unbedingt Einfluß auf die Rechtsprechung und erschüttert das Vertrauen in die Rechtsprechung“. Nach dieser Bemerkung brachen die Liberalen in lautstarke Proteste aus, was Schorlemer-Alst zum Anlaß nahm, längere Passagen aus der berühmten Twestenrede des Jahres 1865 zu zitieren, wobei er keinen der markigen Kernsätze vergaß („Der Glaube an die Unabhängigkeit der Richter ist im Volk erschüttert“ – „Das Unrecht hat alle Scham verloren“ – „Hunde sind wir ja doch“)579. Damit erreichte er dreierlei: Er schlug eine Brücke zwischen der Konfliktära und dem Kulturkampf, die ja in mehr als einer Hinsicht vergleichbar waren, er hielt den Liberalen einen Spiegel vor, und er unterstrich seine Auffassung in den kräftigsten Farben, ohne sich dem Vorwurf unparlamentarischer Redeweise auszusetzen. Gezielt wurde die Twestenrede hier als Folie drastischer Justizkritik eingesetzt. 578 Als Beispiel aus der Publizistik: B – p., Aphorismen über den preußischen Richterstand, in: HPBl 80 (1877), S. 452 – 462. 579 Schorlemer-Alst, Sten. Ber. AH, 27. 2. 1877, S. 950. Burghard Frhr. v. Schorlemer-Alst (1825 – 1895) war 1870 – 89 Mitglied des Abgeordnetenhauses (seit 1875 Fraktionsvorsitzender), 1875 – 87 vertrat er das Zentrum auch im Reichstag.
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Paul Majunke, Chefredakteur der „Germania“ und mit den harten Berliner Anklagebänken bestens vertraut, konstatierte rückblickend eine im Vergleich zur Konfliktszeit wesentlich schärfere Pressejustiz. Damals seien zahlreiche liberale Blätter, die wegen Beleidigung der Regierung angeklagt waren, freigesprochen worden, weil sie nicht konkrete Personen, sondern Parteirichtungen, etwa den Konservatismus oder „die kleine, aber mächtige Partei“, angegriffen hätten: „Die katholische Presse glaubte das jetzt ebenso machen zu können und zog gegen den ,Liberalismus‘ los; viele Staatsanwälte aber versuchten nachzuweisen, daß unter dem ,Liberalismus‘ die Augenbraunen des Fürsten Bismarck und der ungepflegte Scheitel des Dr. Falk zu verstehen seien. Der Gerichtshof schloß sich dieser ,Auffassung‘ an und sprach demnach sein Verdikt aus“580. Den „Höhepunkt“ des Kulturkampfs sah Majunke mit der Entscheidung des Obertribunals erreicht, das Urteil gegen den Kaplan Bruns in Geldern zu bestätigen. Bruns war zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden, weil er sich geweigert hatte, dem örtlichen Bürgermeister, der das Vermögen einer Pfarrstelle beschlagnahmt hatte, die Absolution zu erteilen (Februar 1877). Damit, so Majunke, sei der Staat in „das innerste Heiligtum der Gewissen“ eingedrungen581. 2. Zum Vergleich sei noch ein kurzer Blick auf die übrigen Kulturkampfländer geworfen. Den preußischen Verhältnissen am nächsten kam das liberale Baden, das als erster deutscher Staat, beginnend 1860, den Kirchenkonflikt eröffnete582. Ihren Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen während der Amtszeit von Julius Jolly (1866 – 76 Innenminister, seit 1868 zugleich Ministerpräsident). In Anlehnung an die preußischen Maigesetze machte das Gesetz vom 19. 2. 1874 die Übertragung eines Kirchenamtes sowie überhaupt die Ausübung geistlicher Funktionen von der Ablegung des bereits 1867 eingeführten Kulturexamens abhängig (mit der Möglichkeit des Dispenses, von der jedoch kein Gebrauch gemacht wurde). Zuwiderhandlungen waren mit Kriminalstrafen bedroht, die deutlich höher lagen als in Preußen. Als der Freiburger Bistumsverweser Lothar v. Kübel unter gezielter Mißachtung der neuen Vorschrift frisch ordinierten Priestern Seelsorgerdienste übertrug, zeigten sich in Baden dieselben Tendenzen der Rechtsunsicherheit und der Manipulation583. Nachdem die Kreisgerichte in Konstanz, Waldshut und Offenburg die angeklagten Priester freigesprochen hatten, führte erst ein Erkenntnis des Karlsruher Oberhofgerichts, für das ein jüngst berufenes Mitglied verantwortlich zeichnete, zur Verurteilung der 32 Neupriester – im Volksmund in Anlehnung an das Sperrgesetz rasch „Sperrlinge“ getauft – zu rund 4.900 Mark Geldstrafe oder ersatzweise 13 Jahren, 5 Monaten Haft. Da die Strafsummen nicht Majunke, S. 358 f. Ebd., S. 450 ff. (mit Abdr. der Urteilsbegründung); zum Bruns-Urteil auch Windthorst, Sten. Ber. AH, 21. 2. 1877. 582 Zum badischen Kulturkampf: J. Becker, Liberaler Staat und Kirche, Mainz 1973 (bes. S. 326 ff.); H. Fenske, Der liberale Südwesten, Stuttgart 1981, S. 131 – 133 / 162 – 166; Bachem, IV, S. 357 – 418; Huber, IV, S. 753 ff. 583 Ausführlich dazu: J. Schofer, Sperrgesetz und Sperrlingslos, Karlsruhe 1930, S. 89 ff. 580 581
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aufgebracht werden konnten, blieb nur der Gang ins Gefängnis. Gegen den Bistumsverweser erkannte das Hofgericht Freiburg auf eine hohe Geldstrafe. Wegen der unscharfen gesetzlichen Bestimmungen sowie einer fragwürdigen Umgehung des Rückwirkungsverbots waren die Urteile juristisch außerordentlich umstritten584. Das Schicksal der „Sperrlinge“ erregte die katholische Bevölkerung Badens nicht minder als vergleichbare Vorgänge in Preußen585. In Hessen enthielten die Kirchengesetze der Jahre 1874 / 75, obwohl gleichfalls stark an den preußischen Vorbildern orientiert, keine Strafbestimmungen, so daß die Gerichte außerhalb der eigentlichen Kampfzone blieben586. Auch in Bayern mußte sich die Regierung – hier trat Kultusminister Lutz (1869 – 1890, seit 1880 zugleich Vorsitzender des Ministerrats) als treibende Kraft auf – weitgehend mit administrativen Maßnahmen begnügen, da die patriotenparteiliche Mehrheit in der Abgeordnetenkammer einer Kulturkampfgesetzgebung im Wege stand587. In beiden Ländern waren die Gerichte nur indirekt vom Kirchenstreit betroffen, und zwar dann, wenn kulturkampfbedingte Verstöße gegen das reguläre Strafrecht oder strafrechtliche Nebengesetze (Vereins- und Versammlungsrecht) vorlagen. 3. Fassen wir zusammen: Namentlich in Preußen, in geringerem Maße auch in Baden, spielte sich der Kulturkampf nicht zuletzt in den Gerichtssälen ab. Er wurde, wenn man so will, „auf dem Rücken“ der Gerichte ausgetragen. Vor allem die Liberalen instrumentalisierten die Autorität der Justiz, um dem Vorgehen einen rechtsstaatlichen Anstrich zu verleihen. Für den inneren Wandlungsprozeß von der Fortschrittspartei zum Nationalliberalismus ist es bezeichnend, daß gerade die Liberalen, die einige Jahre zuvor den Mißbrauch der Justiz am eigenen Leibe erfahren und entsprechend lautstark angeprangert hatten, nur wenig Bedenken trugen, sich als Juniorpartner der Regierung desselben Mittels zu bedienen. Auf der anderen Seite verstieß der Klerus gezielt und systematisch gegen das geltende Recht, um die Unannehmbarkeit der staatlichen Forderungen vor aller Augen zu demonstrieren. Bei dieser Sachlage konnten Richter und Gerichte nur verlieren. Wie das Posener Beispiel zeigt, drohte der starke politische Druck, der in den Kulturkampfzentren herrschte, die Grundlagen einer geordneten Strafrechtspflege zu unterminieren. Die Gerichte gerieten zwangsläufig zwischen die Fronten und zogen sowohl den Unmut der Regierenden als auch die Empörung der Betroffenen auf sich. Für die katholische Bevölkerung ebnete sich der Unterschied zwischen 584 Hierzu: [Heinrich Maas], Das strafgerichtliche Verfahren gegen die gesperrten Geistlichen in Baden und den Erzbistumsverweser von Freiburg, in: HPBl 76 (1875), S. 920 – 938; Maas, bekannter Kirchenhistoriker und -jurist, versuchte den Nachweis zu führen, daß das Vorgehen der Strafverfolgungsorgane in beiden Fällen rechtswidrig gewesen sei. 585 Plastische Schilderungen in den mehrfach aufgelegten Erlebnisberichten dreier „Sperrlinge“: Hermann Oechsler, Sperrlingsleben, Offenburg 1891; Andreas Jerger, Tempi passati, Lahr 1896; Karl Sauer, Aus stürmischer Zeit, [o. O.] 1899. 586 Zu Hessen: Bachem, IV, S. 419 – 438; Huber, IV, S. 761 ff. 587 Zu Bayern: G. E. Southern, The Bavarian Kulturkampf, Ann Arbor 1977; Bachem, IV, S. 316 – 346; Huber, IV, S. 746 ff.
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Polizei und Verwaltung auf der einen, Justiz auf der anderen Seite weitgehend ein. Ganz allgemein waren die Vorgänge, wie sogar die „National-Zeitung“ zugeben mußte, dazu angetan, „das Rechts- und Autoritätsgefühl im Volke“ zu erschüttern588. Die Erfahrungen des Kulturkampfs prägten Sichtweise und Einstellung der Katholiken nachhaltig. Ein affektiv gefärbtes Mißtrauen gegenüber der staatlichen Strafgewalt blieb lange lebendig. Dies zeigte sich etwa in der Justizpolitik des Zentrums, die, in der Nachfolge Windthorsts, eine kritisch-reformorientierte Grundhaltung beibehielt, für die Namen wie Lieber, Rintelen, Trimborn und Gröber stehen. Im ganzen bildet der Kulturkampf ein Beispiel für die Folgen einer politischen Überspannung des Strafrechts. Es sollte sich, unter anderen Vorzeichen, im Kampf gegen die sozialistische Arbeiterbewegung wiederholen.
3. Sozialdemokratie und Gerichte Neben dem Ultramontanismus bildete die sozialistische Arbeiterbewegung den zweiten Schwerpunkt der politischen Strafjustiz in den 70er Jahren. Aus diesem Grunde erscheint es zunächst angebracht, die beiden Verfolgungsvorgänge kurz miteinander zu vergleichen. Ins Auge fallen die zeitlichen und geographischen Unterschiede: Während die „klerikale“ Verfolgung auf eine relativ kurze Zeitspanne (im wesentlichen die Jahre 1873 bis 1877) begrenzt blieb, stellte der Kampf gegen die sozialistische Arbeiterbewegung das gesamte Kaiserreich hindurch einen Brennpunkt der politischen Kriminalität dar. Und während der Kirchenkonflikt nur in Preußen und Baden schroff obrigkeitsstaatlich-repressive Formen annahm, beschränkten sich die strafrechtlichen Maßnahmen gegen Sozialisten nicht auf einzelne Länder (was regionale Schwerpunkte selbstverständlich nicht ausschloß). Die Differenzen verweisen auf die unterschiedliche Reichweite der Konflikte: Auch in den Zeiten schärfster Verfolgung ging es im Kulturkampf stets „nur“ um eine Neubestimmung des Kräfteverhältnisses zwischen Kirche und Staat, niemals um den grundsätzlichen Fortbestand der Institution „Kirche“ (auch wenn dies von der katholischen Propaganda immer wieder behauptet wurde). Dagegen bestand das erklärte Ziel des Kampfes gegen die Sozialdemokratie in deren möglichst vollständiger Unterdrückung. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß der soziale Gegensatz im Laufe des 19. Jahrhunderts den konfessionellen an Bedeutung überflügelt hatte. In der vielfältig zerklüfteten Gesellschaft des Kaiserreichs stellte der Antagonismus zwischen „Bürgern“ und „Arbeitern“ die stärkste und tiefste Bruchlinie dar, zumindest in der Wahrnehmung der Zeitgenossen589. Sozialpsychologisch darf hierbei die NZ v. 30. 5. 1873, archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 10831. Vgl. dazu die differenzierten Überlegungen Nipperdeys: Auch wenn man die vielfältigen Abstufungen innerhalb des Bürgertums und der Arbeiterschaft sowie die Ausblendung 588 589
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Wirkung der Revolutionsfurcht nicht unterschätzt werden, die die politische Mentalität Bismarcks, der preußischen Führungsschichten sowie großer Teile des Bürgertums prägte und sich zu einer „Art von cauchemar des révolutions“ (Th. Schieder) steigern konnte590. Diese Rahmenbedingungen verliehen dem Verhältnis von Arbeiterbewegung und Rechtsprechung eine spezifische Schärfe. Aus sozialdemokratischer Sicht kam die Klassenscheidung schon rein äußerlich in der Trennung zwischen bürgerlichen Richtern (Berufs- und Laienrichter) und „proletarischen“ Angeklagten sinnfällig zum Ausdruck. Richterliche Gewissensnöte oder latente Obstruktion, wie sie im Kulturkampf zu beobachten waren, blieben in Prozessen gegen Sozialdemokraten unbekannt. Auf der anderen Seite herrschte weder bei der Regierung noch bei den Ordnungsparteien allfällige Zufriedenheit mit den Strafgerichten. Dies belegen zum einen die preußischen Initiativen zur Verschärfung des Presse-, Koalitionsund Strafrechts, zum anderen die Versuche, die Spruchpraxis in die gewünschte Richtung zu lenken, namentlich über den Hebel der Staatsanwaltschaft591. Schließlich noch ein Wort zur Quellenlage: Unsere Kenntnisse über die frühe Verfolgungs- und Prozeßgeschichte beruhen zu erheblichen Teilen auf sozialdemokratischer Überlieferung. Ungeachtet der Tatsache, daß die sozialdemokratischen Autoren auf faktische Korrektheit stets großen Wert legten, ist der Perspektive der „Opfer“ gegenüber selbstverständlich eine gewisse Vorsicht am Platz. In vielen Fällen lassen sich sachlich berechtigte Kritik und propagandistische Überformung nicht streng voneinander trennen. Insbesondere die auf den ersten Blick eindrucksvollen Summen an Freiheitsstrafen, die in den Quellen immer wieder auftauchen, bedürfen zu ihrer sachgerechten Beurteilung einer Einbettung in den strafgerichtlichen Kontext. Dabei wären das Verhältnis zwischen Verurteilungen und Freisprechungen, die Höhe der staatsanwaltschaftlichen Strafanträge, die Einordnung in den gesetzlichen Strafrahmen und der Vergleich mit der allgemeinen richterlichen Strafzumessungspraxis zu berücksichtigen – Daten, die in ihrer Gesamtheit für das frühe Kaiserreich nur in Einzelfällen zur Verfügung stehen. 1. Als erster Bundesstaat ging Sachsen mit Beginn der 70er Jahre zu einer aktiven Repressionspolitik über. Mit seiner dichten Gewerbestruktur, seinem hohen Verstädterungsgrad, seinem rasanten Bevölkerungswachstum und seiner starken, bis in die Zeit der 48er-Revolution zurückreichenden demokratisch-republikanischen Tradition war Sachsen zur Geburtsstätte der sozialistischen Arbeiterbewegung in der gesamten ländlichen Gesellschaft berücksichtige, bliebe, so Nipperdey, „eine leichte Zentrierung der deutschen Gesellschaft auf die Zwei-Klassen-Scheidung hin, auf den Gegensatz zwischen einem hegemonialen Bürgertum und dem ,Proletariat‘. Diese Akzentuierung jedenfalls galt für das Bewußtsein, für die Art, gesellschaftliche Erfahrung zu interpretieren. [ . . . ] Dieser Klassengegensatz wurde doch als Hauptgegensatz erlebt, nicht allbeherrschend, dazu waren andere Gegensätze zu stark, aber doch von besonderer Wichtigkeit“ (I, S. 426 f.). 590 Vgl. Pöls, S. 27 f.; Nipperdey, II, S. 383 f. 591 Zu den legislativen Vorstößen Pöls, S. 28 ff. und Fricke, S. 25 ff.
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Deutschland geworden592. Da das Landtagswahlrecht von 1869 zensitär begrenzt war, trat die reale Stärke der Sozialdemokratie erst bei den Reichstagswahlen zutage: Bereits 1874 kamen Lassalleaner und Eisenacher zusammen auf 35,8 % der Wählerstimmen, 1877 erreichte die vereinigte „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAPD) 38 % der Stimmen593. Dies forcierte die Polarisierung des Parteiensystems, die im sächsischen Wahlrecht ohnehin angelegt war: 1877 verloren die Liberalen ihre Kammermehrheit, zwischen 1881 und 1909 beherrschten die Konservativen neben der Ersten auch die Zweite Kammer. In dieser Zeit verfolgte Sachsen eine hochkonservative Innenpolitik, die um die Eindämmung der Sozialdemokratie gravitierte. Ihren Höhepunkt erreichte sie mit der Einführung eines modifizierten Dreiklassenwahlrechts im Jahre 1896, in dessen Gefolge die SPD sämtliche Landtagsmandate verlor. Als „Musterstaat der Reaktion“ ließ sich Sachsen, was Rigorosität und Intensität der antisozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen anbetraf, von keinem anderen Bundesstaat den Rang ablaufen. In diesem Zusammenhang spielte die Strafjustiz von Beginn an eine wichtige Rolle594. Die Marschroute gab der bekannte Hochverratsprozeß gegen Liebknecht, Bebel und Hepner vor, der vom 11. bis 26. 3. 1872 vor dem Leipziger Schwurgericht verhandelt wurde595. Obwohl das umfangreiche Belastungsmaterial den Nachweis eines konkreten Umsturzplans nicht zu erbringen vermochte, wurden Liebknecht und Bebel zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, während die Geschworenen den kaum bekannten Hepner (er war zweiter Redakteur des „Volksstaats“) freisprachen. In der „ungehaltenen“ Rede Liebknechts heißt es: „Verbrecherische Handlungen kann uns der Herr Staatsanwalt nicht nachweisen und versucht nicht, es zu tun. Was er versucht, ist, uns verbrecherische Bestrebungen, staatsgefährliche Tendenzen nachzuweisen, aus denen mit der Zeit, früher oder später, verbrecherische Handlungen hervorgehen müßten, für die wir im voraus zu strafen seien. Eine solche Anklage widerstreitet allerdings den Prinzipien des 592 Skizze der Entstehungsbedingungen bei: K. Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik (1871 – 1923), Weimar 1995, S. 34 – 51 (die Zeitangabe im Titel ist irreführend, systematisch behandelt werden lediglich die Jahre 1914 – 1923). 593 Vgl. Rudolph, S. 44, 47. 594 Im Gegensatz zu Preußen trat die Politisierung der sächsischen Justiz erst durch die Konfrontation mit der Arbeiterbewegung ein. Eine forcierte Strafverfolgung der Liberalen hatte es in Sachsen zuvor nicht gegeben; vgl. die Bemerkungen von Eysoldt (Fortschritt), Sten. Ber. RT, 20. 12. 1876, S. 977. 595 Prozeßbericht: Der Leipziger Hochverratsprozeß vom Jahre 1872, neu hg. v. K.-H. Leidigkeit, Berlin (Ost) 1960; weiterhin: Grützner, S. 67 ff.; August Bebel, Aus meinem Leben, Bd. 2, Stuttgart 1911, S. 245 – 253. Wohl auf Veranlassung Bismarcks waren Liebknecht, Bebel und Hepner am 17. 12. 1870 in Leipzig verhaftet, am 28. 3. 1871 mangels Beweisen aber wieder aus der Untersuchungshaft entlassen worden. In seinen Memoiren berichtet Bebel, Bismarck habe sich bei der Eröffnungsfeier des ersten deutschen Reichstags (23. 3. 1871) beim sächsischen Generalstaatsanwalt v. Schwarze nach dem Stand des Verfahrens erkundigt. Auf dessen „Gar nichts wird“ soll Bismarck erwidert haben: „Dann hätte man die Leute auch nicht einstecken sollen; jetzt fällt das Odium des Prozesses auf uns“ (S. 245).
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Strafrechts, das bloß Handlungen und nicht Bestrebungen in den Kreis seiner Wirksamkeit zu ziehen hat, es entspricht indes wenigstens der Theorie des Tendenzprozesses, die zwar juristisch nicht zu verteidigen, jedoch durch die herrschende Parteipolitik zur richterlichen Praxis erhoben worden ist“596. Der Bewertung als Tendenzprozeß schloß sich die Presse bis weit in das nationalliberale Lager hinein an597. Besondere Kritik zogen die parteiische Prozeßführung des Vorsitzenden, die einseitig besitzbürgerliche Zusammensetzung der Jury, der offenkundige Mangel an Intelligenz bei einzelnen Geschworenen, die Beeinflussung der Laienrichter und die konstruktivistische Methode der Anklage und Urteilsbegründung auf sich598. Nach Meinung der beiden Hauptangeklagten hatten die Geschworenen das „Todesurteil“ über das „Institut der heutigen Schwurgerichte“ gefällt. Namentlich Bebel bewahrte zeit seines Lebens eine deutliche Reserve gegenüber dem Geschworenengericht599. Daneben darf die Kehrseite nicht übersehen werden: Wie zuvor bereits Lassalle verstanden es auch Liebknecht und Bebel bestens, den Gerichtssaal in eine politische Tribüne umzuwandeln. Dabei spielte ihnen die Strategie des Staatsanwalts, die darauf abzielte, den Hochverratsvorwurf aus dem gesamten sozialistischen Schrifttum zu deduzieren, ungewollt in die Hände: „Das erste Mal seit Anfang unserer Bewegung hatte der demokratische und revolutionäre, in der Sozialdemokratischen Partei zu Fleisch und Bein gewordene Sozialismus sich in seiner ganzen Gestalt und von allen Seiten dem Volke gezeigt“600. Ohne die täglichen ausführlichen Berichte in der überregionalen Presse wäre der Effekt allerdings kaum denkbar gewesen. Diese gleichsam dialektische Funktion des öffentlichen Verfahrens blieb ein durchgängiges Merkmal im Verhältnis von Sozialdemokratie und Gerichten. Das Leipziger Urteil, das mit der Ablehnung der seitens der Verteidigung eingelegten Nichtigkeitsbeschwerde durch das Dresdner Oberappellationsgericht Rechtskraft erlangte, bildete indes nur die Spitze des Eisbergs. Gut drei Monate später, im Juli 1872, wurde Bebel wegen Majestätsbeleidigung vom Leipziger Be596 Leidigkeit, S. 327. Die Rede erschien als selbständige Broschüre unter dem Titel „Hochverrat und Revolution“; vgl. auch die Einleitung von Liebknecht zur Ausgabe des Prozeßberichts von 1894 (Leidigkeit, S. 385 – 404). 597 „Tendenzprozeß im schlimmsten Sinne des Wortes“ (FZ v. 28. 3. 1872); Sammlung von Pressestimmen in: GStA, Rep. 77, Abt. II, Sekt. 11, Tit. 500, Nr. 42 Adhib. 598 Siehe: Demokratische Zeitung v. 31. 3. 1872; Der Beobachter, Nr. 73; Mittelrheinische Zeitung v. 15. 3. 1872 („juristischer Nonsens dieser Konstruktionsmethode“), alle archiv. in: GStA, Rep. 77, Abt. II, Sekt. 11, Tit. 500, Nr. 42 Adhib.; Volksstaat, Nr. 27 (Leidigkeit, S. 315 ff.); Schraps, Sten. Ber. RT, 19. 3. 1873, S. 40; Vahlteich, ebd., 12. 3. 1874, S. 306. 599 Volksstaat, Nr. 26 (Leidigkeit, S. 313). Der demokratische „Beobachter“, Organ der schwäbischen DVP, bedauerte es außerordentlich, daß der Prozeß dazu angetan sei, „das Ansehen der Jury im Volke zu diskreditieren“ (Nr. 73); zur Haltung Bebels: ders., Sten. Ber. RT, 11. 12. 1895, S. 59. 600 So Liebknecht in seiner Einleitung zur Ausgabe von 1894 (Leidigkeit, S. 396).
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zirksgericht zu weiteren neun Monaten Gefängnis verurteilt, wobei die Richter deutlich über den Antrag des Staatsanwalts hinausgingen601. Johann Most, mit den sächsischen Verhältnissen bestens vertraut, nennt allein für die Jahre 1870 – 74 die Zahl von etwa 50 Sozialdemokraten, die zu rund 500 Monaten Gefängnis verurteilt worden seien602. Die Chemnitzer Gerichte verhängten zwischen 1871 und 1876 über 20 lokale Partei- und Gewerkschaftsführer insgesamt fast 18 Jahre Gefängnis603. Bereits in den 70er Jahren bildeten die sächsischen Richter die Gewohnheit aus, bei den Strafen gegen Sozialdemokraten weit „nach oben“ zu greifen. Den Hauptverantwortlichen für die arbeiterfeindliche Haltung sah Bebel in Justizminister Abeken. In seinen Memoiren findet sich folgende Charakterisierung: „Herr v. Abeken war im Gegensatz zu seinem Kollegen, dem Minister des Innern, ein kleiner hagerer Mann mit einem kalten, fanatischen Gesicht. Ich bezeichnete ihn den Parteigenossen als ein Gegenstück zum Großinquisitor der spanischen Inquisition, Torquemada. In dessen Zeitalter hätte er gepaßt. Ein äußerst scharfsinniger Jurist, aus dessen ohne Tonfall mit einer scharfen, trockenen Bureaukratenstimme vorgetragenen Reden man nur an einem leisen Beben die innere Erregung heraushörte, verteidigte er mit äußerster Konsequenz die Taten seiner Staatsanwälte und Richter. Er wirkte damit im höchsten Grade unheilvoll auf die Justiz seines Landes ein, wie denn für einen erheblichen Teil der Anklagen gegen uns der Justizminister der Anreger war“604. 2. In Preußen galt die Aufmerksamkeit der Regierung zunächst den Arbeitskämpfen, während die zahlenmäßig noch schwache Sozialdemokratie erst in deren Gefolge ins Visier der Behörden geriet. Die in der Gewerbeordnung verankerte Bestrafung des Koalitionszwangs (§ 153) wurde aktuell, als, wie bereits erwähnt, in den Jahren 1869 – 74 die erste große Streikwelle über Deutschland hereinbrach. Bereits in der Anfangszeit scheint die Bestimmung nicht gerade selten Anwendung gefunden zu haben. So schrieb die „Demokratische Zeitung“ gegen Ende des Jahres 1871: „Täglich lesen wir in den Gerichtszeitungen irgend ein ,kleines Nachspiel‘ zu einem Streik. Diese ,kleinen Nachspiele‘ bestehen in mehr oder minder schweren Strafen, die die Gerichte anläßlich von Vorgängen während Arbeitseinstellungen, gewöhnlich auf Grund des Paragraphen 153 der Norddeutschen Gewerbeordnung, über Arbeiter verhängen“. Infolge der genannten Vorschrift sei das Koalitionsrecht nur eine Freiheit „mit einem Galgen daneben“605. Vgl. Bebel, II, S. 257 f.; weitere Fälle ebd., S. 373. Johann Most, Die Behandlung politischer Gefangener in Preußen, in: ders., Dokumente eines sozialdemokratischen Agitators, hg. v. V. Szmula, Bd. 2, Grafenau 1989, S. 72 – 78, hier S. 73 (zuerst im „Volksstaat“ v. 11. 12. 1874). 603 Vgl. Ernst Heilmann, Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz und dem Erzgebirge, Chemnitz 1912, S. 99 – 101 (mit Verurteilungsliste); Albrecht (Anm. 622), S. 205. 604 August Bebel, Aus meinem Leben, Bd. 3, Stuttgart 1914, S. 213. Abeken (1826 – 1890) war von 1871 – 1890 sächsischer Justizminister; vgl. D. Peschel, Christian Wilhelm Ludwig von Abeken, in: Sächsische Justizminister 1831 bis 1950, Dresden 1994, S. 41 – 65. 605 Demokratische Zeitung v. 2. / 3. 11. 1871 (zit. n. Machtan, Preservativ, S. 95, Anm. 40). 601 602
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Bald schon mischte sich auch die Politik in die gewerblichen Auseinandersetzungen ein, und zwar sowohl auf legislativer (Kontraktbruchnovelle) als auch auf administrativer Ebene. Den Anstoß gab wieder einmal Bismarck. In einem Schreiben an Justizminister Leonhardt vom April 1872 äußerte er sich verwundert über die Tatsache, daß von den Gesellen, die wegen Koalitionszwangs, ausgeübt während des letztjährigen großen Bauhandwerkerstreiks in Berlin, vor Gericht gestanden hätten, nicht wenige freigesprochen worden seien, und zwar mit der Begründung, daß der für den § 240 StGB (Nötigung) erforderliche Strafantrag des Verletzten gefehlt habe (das neue Strafgesetzbuch hatte den Tatbestand zu einem Antragsdelikt herabgestuft). Als Alternative verwies Bismarck auf den – antragsunabhängigen – § 153 GO, darüber hinaus brachte er, zögerlich noch, den Gedanken einer gesetzlichen Änderung aufs Tapet. In seinem Antwortschreiben bemühte sich Leonhardt nach Kräften, die Bedenken des Kanzlers zu zerstreuen, so wie er auch einer Verschärfung der Gesetzeslage widerriet. Gleichwohl gab die Sachlage Bismarck in gewisser Weise recht: Von den 93 Angeklagten hatte das Stadtgericht immerhin 32 in erster Instanz freigesprochen, zudem seien, so der berichterstattende Oberstaatsanwalt, eine Reihe von Anklagen erst gar nicht erhoben worden. Überlegungen von Hermann Tessendorf, damals noch Staatsanwalt am Kreisgericht Magdeburg, aufgreifend, wies Innenminister Eulenburg die Unterbehörden im September 1872 daraufhin „in vertraulicher Form“ an, fortan „jedem Mißbrauche des Koalitionsrechtes energisch entgegenzutreten“ und alle Arbeitswilligen „gegen jede gesetzwidrige Pression zu schützen und sie in den Stand zu setzen, sich die volle Freiheit ihrer Entschließung zu bewahren“. Zu diesem Zweck empfahl er, im Falle eines heraufziehenden Streiks die Gesetzeslage durch öffentlichen Anschlag in Erinnerung zu rufen, insbesondere aber auf eine „schleunige und energische Handhabung der strafrechtlichen Repressionsmittel“ Bedacht zu nehmen. Speziell machte er auf die §§ 152 und 153 der Gewerbeordnung sowie die §§ 110, 111, 113 bis 116 (Widerstand gegen Beamte) und 134 (Abreißen oder Beschädigung von öffentlichen Anschlägen) des Strafgesetzbuchs aufmerksam. In Wortwahl und erteilten Direktiven verrät die Verfügung noch eine gewisse Unsicherheit, was sich mit der Neuartigkeit des Streikphänomens erklären dürfte. Wenige Tage später wurde sie vom Justizminister den Oberstaatsanwälten zur Kenntnis gebracht606. Mit den beiden Reskripten war der Dauerkonflikt zwischen Gerichten und streikender Arbeiterschaft eröffnet. Bald schon machte ein geflügeltes Wort des liberalen „Kathedersozialisten“ Lujo Brentano die Runde: „Der deutsche Arbeiter hat das Koalitionsrecht, aber wenn er es gebraucht, wird er bestraft“607. 606 Bismarck an Leonhardt, 8. 4. 1872; Leonhardt an Bismarck, 10. 4. 1872; Bericht von Adelung (OStA) v. 16. 4. 1872, alle in: GStA, Rep. 84a, Nr. 1248, Bl. 17, 18 ff., 23 ff.; der besagte Maurerstreik – Ziel war der 10stündige Normalarbeitstag unter Beibehaltung des bisherigen Minimallohns – hatte vom 17. 7. – 28. 8. 1871 angedauert und mindestens 3.500 Teilnehmer umfaßt (Einzelheiten bei Machtan, Streiks und Aussperrungen, S. 78 – 84); RV Eulenburgs an alle Regierungen und Landdrosteien v. 11. 9. 1872, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 1248, Bl. 48 (im Entwurf lag der Erlaß bereits am 21. 7. vor); RV Leonhardts an die Oberstaatsanwälte v. 19. 9. 1872, in: ebd., Bl. 50; zum ganzen auch Machtan, Preservativ, S. 65 ff.
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Eine weitere Verschärfung erfolgte zu Beginn des Jahres 1874, wozu sowohl das gute Abschneiden der Sozialdemokraten bei der Reichstagswahl vom 10. 1. als auch das nach der ersten Lesung im Reichstag absehbare Scheitern der Kontraktbruchnovelle (19. / 20. 2.) beigetragen haben dürften. Anfang März informierten Eulenburg und Leonhardt die ihnen unterstellten Behörden über ein bereits im Juli 1873 ergangenes Urteil des Obertribunals, das den Anwendungsbereich des § 130 StGB beträchtlich erweiterte. Danach sei es nicht erforderlich, „daß zu alsbaldigen Gewalttätigkeiten direkt aufgefordert werde; es genüge vielmehr eine Anreizung zu Gewalttätigkeiten in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise, also eine Einwirkung, welche geeignet sei, eine Mißstimmung gegen eine Volksklasse hervorzurufen, die zu einem gewalttätigen Bruche des öffentlichen Friedens führen könne“ – ein Musterbeispiel für die „Kunst“, eine ohnehin nicht sonderlich präzise Vorschrift bis zur Unkenntlichkeit aufzuweichen. Zugleich wies der Innenminister die Polizeibehörden an, „daß die verderblichen Hetzereien und Aufreizungen gegen die Arbeitgeber, gegen die besitzenden Klassen, die Bourgeoisie, die Kapitalisten usw., wie sie in der Presse und in öffentlichen Versammlungen nur zu häufig vorkommen, keineswegs erlaubt und straflos, sondern daß diejenigen, welche sich solcher Ausschreitungen [ . . . ] schuldig machen, dem Strafgesetz verfallen sind“608. Die „staatsanwaltschaftliche Prägung der Strafjustiz“, von der bereits mehrfach die Rede war, verkörperte idealtypisch der oben erwähnte Hermann Tessendorf, der im Herbst 1873 zum Ersten Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht, damals der größte Gerichtshof Preußens, berufen wurde609. Im Zusammenwirken mit den „Blutrichtern“ (Bebel) der siebten Deputation setzte ein systematischer Straffeldzug gegen sozialdemokratische Agitatoren und Organisationen ein, der als „Ära Tessendorf“ in die Parteigeschichtsschreibung eingegangen ist610. Sie zeichnete sich durch eine Reihe spezifischer Merkmale aus: In ausgedehntem Maße kam das Mittel der Untersuchungshaft zur Anwendung, deren Dauer nur in Ausnahmefällen auf das Strafurteil angerechnet wurde. Der Strafzumessung lag eine verschärfte Version des aus der Konfliktszeit bekannten Musters zugrunde: Die staatsanwaltschaftlichen Strafanträge, die ein Jahr Gefängnis kaum einmal unterschritten, wurden vom Stadtgericht um ein gewisses Quantum gekürzt und in zweiter Instanz (Kammergericht) meist noch einmal herabgesetzt, so daß unter dem Strich immerZit. n. Frohme, S. 171. Beide Reskripte zit. n. Machtan, Preservativ, S. 90. Kampffmeyer / Altmann sehen in den beiden Rundschreiben den entscheidenden Schritt zur antisozialistischen Kampfstellung der Justiz: „Ein gehässiger Parteigeist ergriff die preußische und deutsche Gerechtigkeitspflege“ (ebd., S. 111). 609 Hermann Ernst Christian Tessendorf (1831 – 1895) hatte bereits in Magdeburg, wo er seit 1867 als Erster Staatsanwalt tätig war, den Ruf eines „Sozialistenfressers“ erworben. Nach seiner Berliner Zeit (ab 1879) amtierte er als Senatspräsident, zunächst in Königsberg, dann in Naumburg. Gekrönt wurde seine Laufbahn 1886 mit der Ernennung zum Oberreichsanwalt; die immer wieder angemahnte Biographie Tessendorfs steht weiterhin aus. 610 Zum folgenden Bernstein, I, S. 289 ff.; Mehring, IV, S. 80 ff.; Bebel, II, S. 308 ff. 607 608
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hin mehrere Monate Gefängnis übrigblieben611. Wiederholt machten die Richter – wohlgemerkt: in der mündlichen Urteilsverkündung – keinen Hehl aus ihrer Ansicht, daß die Tätigkeit für die Sozialdemokratie einen Strafverschärfungsgrund darstelle, was der verfassungsmäßig garantierten Rechtsgleichheit Hohn sprach612. Schließlich führten die Betroffenen immer wieder Klage über die unzumutbaren Haftbedingungen, vor allem in den Untersuchungsgefängnissen613. Der bekannteste unter den damaligen Prozessen fand im Mai / Juni 1874 gegen Johann Most, den „Feuerkopf“ (Enzensberger) der frühen Sozialdemokratie, statt. Wegen einiger Äußerungen in einem Vortrag über die Pariser Commune und Beleidigung des preußischen Heeres wurde Most zu 19 Monaten Gefängnis verurteilt, wobei das Kammergericht das erstinstanzliche Strafmaß noch erhöhte614. Gegen die zu Beginn des Jahres 1876 ins Leben gerufene „Berliner Freie Presse“, alsbald die auflagenstärkste sozialistische Zeitung im Reich, wurde ein regelrechter „Vernichtungskrieg“ (Bernstein) in Szene gesetzt, dergestalt, daß sich gleich dutzendweise Anklagen über die verantwortlichen Redakteure ergossen. Nach eigenen Angaben wurden in den ersten beiden Jahren ihres Bestehens 115 Prozesse gegen die Zeitung anhängig gemacht, die zu 77 Monaten Gefängnis führten615. Ähnlich erfolgreich ging Tessendorf gegen die sozialistischen Organisationen vor. Nach vorläufiger Schließung durch die Polizeibehörde erklärte das Stadtgericht die Berliner Mitgliedschaften der Lassalleaner (23. 2. 1875) und der Eisenacher (18. 3. 1875) sowie eine Reihe von Gewerkschaften und sonstiger Arbeitervereine endgültig für geschlossen. Den Höhepunkt bildete das Verbot der SAPD für den gesamten Geltungsbereich des preußischen Vereinsgesetzes (23. 1. 1877)616. Die rechtliche Begründung war stets dieselbe: Die betreffende Organisation wurde zu einem selbständigen „politischen Verein“ erklärt und damit dem Verbindungsverbot des preußischen Vereinsgesetzes vom 11. 3. 1850 unterworfen (§ 8 Abs. b), dessen Verletzung die Schließung zur Folge hatte. Pate stand einmal mehr das Obertribunal mit seiner extensiven Auslegung der maßgebenden Gesetzesbegriffe („Verein“, „Versammlung“, „öffentliche Angelegenheit“, „politischer Gegenstand“), aber auch des tatsächlichen Inverbindungtretens617. Aus sozialdemokratischer Sicht war die Rechtspraxis doppelt verletzend: Die Qualifizierung als Eine Liste von Verurteilungen bei Bernstein, I, S. 295. Dokumentiert bei Most, Pariser Commune (Anm. 614), S. 22, 63 f. 613 Vgl. Most, Politische Gefangene; Neuer Social-Demokrat v. 9. 6. 1875. 614 Prozeßbericht mit interessanten Details: Johann Most, Die Pariser Commune vor den Berliner Gerichten, Braunschweig 1875. Unter Einschluß der Untersuchungshaft sowie eines weiteren zwischenzeitlich rechtskräftig gewordenen Urteils saß Most insgesamt 26 Monate in Plötzensee ein. 615 Berliner Freie Presse v. 8. 5. 1878, archiv. in: GStA, Rep. 77, CB, Sachen, Nr. 315; weiterhin: Bernstein, I, S. 356 f., 360 f., 372 ff.; Ignaz Auer, Von Gotha bis Wyden, Berlin 1901, S. 13. 616 Vgl. Kampffmeyer / Altmann, S. 124, 138 ff.; Bernstein, I, S. 326 f. 617 Ausführlich dazu Schultze, S. 295 ff., 509 ff. 611 612
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„politischer Verein“ erfolgte völlig undifferenziert, so etwa auch dann, wenn nur über Lohnfragen diskutiert worden war; und gegen bürgerliche Vereine, die ganz offen gegen das Affiliationsverbot verstießen, schritten Polizei und Staatsanwaltschaft nur in Ausnahmefällen ein618. Zumindest zeitweilig wurde das Vereinigungsrecht somit für Teile der Bevölkerung faktisch außer Kraft gesetzt. Sein gesetzwidriges Rechtsverständnis soll Tessendorf in einer am 5. 9. 1876 stattgefundenen Gerichtsverhandlung mit folgenden Worten umrissen haben: „Wenn einmal ein Verein behördlich geschlossen ist, so haben die Mitglieder desselben für immer das Vereinsrecht verwirkt, und jeder Versuch, der seitens solcher Persönlichkeiten gemacht wird, einen anderen Verein zu gründen, muß als Fortsetzung des geschlossenen Vereins angesehen werden“619. Die „Ära Tessendorf“ bezeichnet indes nicht nur die spezifischen Verhältnisse in Berlin, sondern die verschärfte Strafverfolgung auf gesamtpreußischer Ebene. Mehring zufolge wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 1874 in ganz Preußen allein 87 Lassalleaner in 104 Prozessen zu insgesamt 211 Monaten Gefängnis verurteilt620. Nach der bereits erwähnten Statistik des „Frankfurter Volksfreunds“ entfielen von den rund 2.200 Prozessen, die zwischen Reichsgründung und Mitte 1877 reichsweit gegen Sozialdemokraten angestrengt wurden, gut drei Viertel auf die Zeit ab Anfang 1874. 3. Auch Bayern nahm den Kampf gegen die sozialistische Arbeiterbewegung auf. Die Unterdrückungsmaßnahmen schlossen die Gerichte mit ein, deren politische Judikatur sich bislang, wie bereits mehrfach erwähnt, durch eine liberale Signatur ausgezeichnet hatte. Im rechtsrheinischen Bayern lagen die Verhältnisse insofern anders als in den übrigen Teilen des Reiches, als die Lassalleaner hier bereits im Juni 1870 mit der SAP zusammengegangen waren621. Parallel zur Entwicklung in Preußen setzte mit Beginn des Jahres 1874 eine Verbotswelle gegen die örtlichen Mitgliedschaften der SAP und verschiedener Gewerkschaften ein622. Als bayerisches Pendant zu Tessendorf darf der Münchener Polizeidirektor Max v. Feilitzsch gelten, später langjähriger bayerischer Innenminister (1881 – 1907). Im September 1874 erklärte Feilitzsch alle sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen in der Hauptstadt für aufgelöst623. Den Hebel hierzu bildete das bayerische Vereins- und Versammlungsgesetz vom 26. 2. 1850, das die preußische Unterschei618 Vgl. die Reden Hasenclevers und des Verteidigers in: Herr Tessendorf und die deutsche Social-Demokratie, Berlin 1875 (Bericht über den im März 1875 vor dem Berliner Stadtgericht verhandelten Prozeß gegen den ADAV und eine Reihe von Gewerkschaften). 619 Zit. n. Bernstein, I, S. 304. 620 Mehring, IV, S. 81. 621 Zu den komplizierten Vorgängen: H. Hirschfelder, Die bayerische Sozialdemokratie 1864 – 1914, Erlangen 1979, Bd. 1, S. 129 ff. 622 Zum folgenden: Hirschfelder, I, S. 214 ff.; W. Albrecht, Fachverein – Berufsgewerkschaft – Zentralverband, Bonn 1982, S. 202 ff. 623 Über Anschauungen und Wirken des Polizeidirektors Kampffmeyer / Altmann, S. 147 – 152.
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dung zwischen „öffentlichen“ und „politischen“ Angelegenheiten nicht kannte und ebenfalls ein Verbindungsverbot für politische Vereine enthielt (Art. 17). Es war insofern noch rückständiger als sein preußisches Gegenstück, als die Verbotsentscheidung – eine Verwaltungsgerichtsbarkeit existierte zum damaligen Zeitpunkt noch nicht – ausschließlich in den Händen der Exekutivbehörden lag, mit dem Innenminister als oberster Beschwerdeinstanz. Die Gerichte traten erst in Funktion, wenn Verstöße gegen die Strafvorschriften des Vereinsgesetzes oder das allgemeine Strafrecht vorlagen624. Die relative Unabhängigkeit der bayerischen Gerichte setzte sich gegenüber der Sozialdemokratie zunächst fort. So endeten die seitens der Exekutive angestrengten Prozesse – in erster wie in zweiter Instanz – häufig mit Freispruch, obwohl die Verwaltung an ihrer Verbotsverfügung festhielt. Im Frühjahr 1874 berichtete der preußische Gesandte v. Werthern nach Berlin, Feilitzsch beklage sich sehr „über die Laxheit der Gerichte“. Zur Abhilfe regte dieser eine engere Zusammenarbeit an: „Es wäre ihm [Feilitzsch] deshalb erwünscht, von interessanten Erkenntnissen, die über sozialdemokratische Umtriebe von preußischen Gerichten ergehen, Kenntnis zu erhalten, teils seiner eigenen Belehrung wegen, teils, um sie den hiesigen Gerichten vorzuhalten“625. Es dürfte maßgeblich dem Einfluß des Polizeidirektors zuzuschreiben sein, daß das Münchener Oberappellationsgericht den Konflikt zwischen Verwaltung und Rechtsprechung schließlich zugunsten der ersteren entschied: In einem Grundsatzurteil vom 13. 10. 1874 erklärte es die Einstufung der Nürnberger Mitgliedschaft der SAP als selbständigen politischen Verein für rechtens, womit das behördliche Vorgehen legalisiert war626. Die Instanzgerichte paßten sich dem Präjudiz an, ohne ihrer Linie gänzlich untreu zu werden: Die Strafen, die in den beiden großen Münchener Sozialistenprozessen (Juni 1875 / Juli 1876) verhängt wurden, fielen – vor allem im Vergleich zu Preußen – moderat aus. Im ersten Prozeß, der auf Verletzung des Vereins- und Genossenschaftsgesetzes beruhte, wurden von den 76 Angeklagten 37 zu Gefängnisstrafen zwischen 3 Monaten und 3 Tagen verurteilt; daneben ergingen zahlreiche Geldstrafen. Im zweiten Verfahren – die Anklage lautete auf Fortsetzung eines verbotenen Vereins – standen über 90 Angeklagte vor Gericht, von denen 57 Gefängnisstrafen zwischen 21/2 Monaten und 14 Tagen erhielten627. In Einzel624 Zum bayerischen Vereinsrecht Schultze, S. 281 f., 511; Hartmannsgruber, S. 210 ff. Im März 1875 regte Bismarck an, das preußische Vereinsgesetz nach dem Muster des bayerischen umzugestalten (vgl. Bismarck an Eulenburg, 7. 3. 1875, in: NFA, III / 2, Nr. 214). 625 Zit. n. Kampffmeyer / Altmann, S. 148. Als langjähriger preußischer Gesandter in München (1867 – 1888) übte Georg Frhr. v. Werthern (1816 – 1895) beträchtlichen Einfluß auf die bayerische Politik aus. Dabei war stets darum bemüht, die bundesfreundliche Haltung der Staatsregierung zu unterstützen. 626 Tenor des Urteils bei Hirschfelder, I, S. 224 f. Werthern übermittelte das Erkenntnis unverzüglich nach Berlin (Bericht an Bismarck, 16. 10. 1874, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 5370, Bl. 298). Am Schluß seines Berichts zollte er dem Polizeidirektor generös „die größte Anerkennung“.
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fällen kam es aber auch in Bayern zu harten Urteilen, für die namentlich Schwurgerichte verantwortlich zeichneten628. Insgesamt konnte Feilitzsch im Juni 1876 mit Befriedigung feststellen, „daß Staatsanwälte und Gerichte mit der Polizeibehörde Hand in Hand gehen und in neuerer Zeit in allen Fällen polizeilicher Anregung Strafeinschreitungen, Verurteilungen erfolgt sind. Auch werden die Haftstrafen intensiver und dadurch wirksamer“629. 4. In ihren justizpolitischen Vorstellungen blieb die frühe Sozialdemokratie teils vage, teils widersprüchlich, teils rein negativ auf die vorgefundenen Verhältnisse bezogen. Während das Eisenacher Programm von 1869 immerhin Unabhängigkeit der Gerichte, Geschworenen- und Fachgewerbegerichte, ein öffentliches und mündliches Verfahren sowie unentgeltliche Rechtspflege forderte, war im Gothaer Vereinigungsprogramm von 1875, abgesehen vom letztgenannten Punkt, nur noch von der „Rechtsprechung durch das Volk“ die Rede630. Wilhelm Liebknecht, Referent der Programmkommission, erläuterte dazu: „Wenn wir Rechtsprechung durch das Volk verlangen, so verstehen wir darunter nicht, wie die Gegner behaupten, um uns lächerlich zu machen, die alte griechische, römische und urdeutsche Sitte, auf öffentlichem Markte von dem gesamten versammelten Volke Recht sprechen zu lassen, sondern wir wollen, daß die Rechtsprechung ebenso wie die Gesetzgebung ein Ausfluß der Volkssouveränität sein soll. [ . . . ] Die Justiz soll aufhören, ein Klassenmonopol zu sein. Nur in der sozialistischen Gesellschaft wird die Justiz zur Gerechtigkeit“631. Der ein Jahr später ebenfalls in Gotha abgehaltene Sozialistenkongreß verwies den Streit um die Besetzung der Strafgerichte, der damals hohe Wellen schlug, umstandslos ins Reich des Ideologischen: „Der Kongreß nimmt zu der Frage, ob Schwurgerichte, Schöffengerichte oder juristische Berufsrichter, dem sozialdemokratischen Programm gemäß Stellung, indem er erklärt, daß im Klassenstaat keine Form der Gerichtsverfassung Recht und Gerechtigkeit verbürgen kann und daß darum freie Volksgerichte, auf Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts gebildet, zu erstreben sind“632. Stärker konturiert ist das Zukunftsmodell, das Johann Most, der wie kaum ein zweiter Bekanntschaft mit Gerichtssälen und Gefängnissen machte, der „gegenwärtigen Juristerei“ entgegensetzte: „Was man heutigen Tages Rechtspflege nennt, 627 Vgl. Albrecht, S. 204; andere Beurteilung bei Kampffmeyer / Altmann, S. 151. Die unveränderte Reserve der Gerichte veranlaßte den Nürnberger Bezirksamtmann Keyßler 1877 zu der Klage, seine Behörde und der Magistrat seien von den Gerichten „gänzlich im Stich gelassen“ und „in ihrem Ansehen im Publikum schwer geschädigt worden“ (Schreiben an die Regierung von Mittelfranken v. 22. 2. 1877; zit. n. Hirschfelder, I, S. 224). 628 Beispiele bei Kampffmeyer / Altmann, S. 152; Bebel, II, S. 311, 373. 629 Zit. n. Kampffmeyer / Altmann, S. 151. 630 Mommsen, Parteiprogramme, S. 312, 314. 631 Die ersten deutschen Sozialisten-Kongresse, hg. v. d. Frankfurter Volksstimme, Frankfurt / M. 1906, S. 98 f. 632 Wilhelm Schröder, Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1863 bis 1909, München 1910, S. 473.
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ist nur die Organisation und Systematisierung der Klassenherrschaft, bedeckt mit einem schillernden Mäntelchen scheinheiliger Gerechtigkeitsphrasen“633. Das herrschende Bestrafungssystem vermehre bloß das meist aus sozialer Not geborene Verbrechen anstatt Abhilfe zu schaffen. In einer sozialistischen, mithin gerechten Gesellschaft würden sich Rechtsverstöße hingegen auf ein Minimum beschränken. Für den verbleibenden Rest schlägt Most eine Rousseau nachempfundene, an der antiken Polis orientierte Organisationsform vor: „Zu Richtern könnte nur das Volk berufen werden. Man hätte jährlich die geeignete Anzahl von Vertrauensmännern zu wählen, die einen Ausschuß einsetzten. Letzterem wären etwaige Klagen bekanntzumachen, worauf dann durch denselben Gerichtstag anzuberaumen sein würde. Zur Verteidigung genügte es, wenn der Angeklagte, und zur Begründung der Anklage, wenn der Ankläger Zeugen herbeirufen ließe, denn Staatsanwälte und Advokaten suchen die Sachlage meist nur zu entstellen und zu verwirren. Das Urteil hätten die Vertrauensmänner zu fällen. Appellationen könnte man allenfalls an die öffentliche Volksversammlung richten, vor’s Forum bringen. Was sich bei den Alten schon bewährt hat, dürfte auch später nicht schlecht sein“634. Most stand mithin jenes Modell vor Augen, das Liebknecht wegen seiner angeblichen Rückwärtsgewandtheit ausdrücklich ablehnte. 5. Hatten die preußischen Gerichtshöfe schon wiederholt zu harten Strafen gegen Sozialdemokraten gegriffen, so kann von einer geordneten Rechtspflege im Zusammenhang mit den beiden Kaiserattentaten des Jahres 1878 kaum mehr die Rede sein. Die Anschläge auf den volkstümlichen Monarchen, die der „Umsturzpartei“ zumindest moralisch zur Last gelegt wurden, lösten eine antisozialistische Hetzstimmung aus, der sich, zumindest anfänglich, auch die Richter nicht zu entziehen vermochten. Besonders nach dem Nobilingschen Attentat (2. 6. 1878) setzte eine Flut von Majestätsbeleidigungsprozessen ein, bei deren Behandlung die Gerichte die erforderliche Rationalität vermissen ließen. Die Anzeigen gingen meist auf schnöde Denunziationen zurück, häufig handelte es sich um achtlos hingeworfene Äußerungen von Angehörigen unterer Bevölkerungsschichten, und nicht selten blieb die Beweislage unsicher, so daß die Normen des § 95 StGB gar nicht oder nur bedingt erfüllt waren. Zudem stand lediglich eine Minderheit unter den Beschuldigten der Sozialdemokratie nahe. Dennoch kam es in rascher Folge zu Aburteilungen in teilweise drakonischer Höhe635. Triumphierend meldete Tessendorf bereits am 8. 6. 1878 die ersten sieben Verurteilungen an seinen obersten Dienstherrn. Sie lauteten auf insgesamt 22 1/2 Jahre Gefängnis, darunter zweimal die Höchststrafe von fünf 633 Johann Most, Briefe an einen Philanthropen, in: Dokumente, II, S. 79 – 128, hier S. 119. Bei den Briefen handelt es sich um eine zwischen Mitte 1875 und Anfang 1876 in der „Chemnitzer Freien Presse“ erschienene Artikelserie. 634 Ebd., S. 121. 635 Zahlreiche Beispiele bei Bernstein, I, S. 368 ff. Um der Prozeßflut Herr zu werden, mußte das Berliner Stadtgericht über viele Wochen hinweg Sondersitzungen anberaumen.
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Jahren636. Nach Angaben Bernsteins standen in den zwei Monaten vom 2. 6. bis 2. 8. 1878 in ganz Deutschland 563 Personen wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht, von denen nur 42 freigesprochen wurden, während die übrigen zusammen 811 Jahre und 11 1/2 Monate Gefängnis erhielten. Dies bedeutete im Durchschnitt immerhin mehr als anderthalb Jahre Gefängnis für jeden Verurteilten. Bernsteins Fazit: „Weil ein Malkontenter ein Attentat auf den Kaiser begangen hatte, mußten unzählige Attentate auf das Recht verübt werden“637. Nachdem die öffentliche Erregung abgeklungen war, nahm die Zahl an Freisprechungen zu, da sich bei ruhigerer Prüfung der Sachlage immer häufiger herausstellte, daß die Bezichtigungen auf Verleumdung beruhten638. Insgesamt stieg die Zahl der wegen Majestätsbeleidigung eingeleiteten Untersuchungen, zuvor durchschnittlich bei 200 pro Jahr liegend, im Attentatsjahr auf die astronomische Höhe von 1994, wobei die große Masse auf die Sommermonate und auf Preußen entfiel. Das Verhalten der Richter ist umso bemerkenswerter, als sich ministerielle Anweisungen in den Akten nicht finden lassen639. Die Erklärung liegt wohl in einer Mischung aus persönlicher Empörung und antisozialistischen Reflexen. Offenbar teilten viele Richter die weitverbreitete Empfindung, das Gemeinwesen befände sich in einem Zustand der Notwehr. Eine Rolle dürfte zudem die Absicht gespielt haben, dem gängigen Vorwurf allzu großer Milde von vornherein den Boden zu entziehen. Bei dem einen oder anderen mögen karrieretaktische Überlegungen hinzugekommen sein. Eine pointierte Kritik findet sich in einer unter Pseudonym (Nicolaus Planenberg) publizierten Schrift, hinter der sich der westpreußische Kreisrichter Joseph Kolkmann verbarg, der in jenen Jahren mit verschiedenen justizkritischen Pamphleten an die Öffentlichkeit trat640. In der Handhabung des an sich untadeligen 636 Tessendorf an Leonhardt, 8. 6. 1878, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8458. In seinem ersten Bericht an Leonhardt v. 6. 6. hatte Tessendorf „allerschleunigste Aburteilung“ versprochen (ebd.). Vgl. VZ, Nr. 139 und Nr. 145; Bernstein, I, S. 368. 637 Bernstein, I, S. 370. Bereits Anfang Juli stellte die „Vossische Zeitung“ ihre Statistik mit den Worten ein: „Nachdem wir über die auswärtigen Verurteilungen in einer Gesamthöhe der erkannten Strafen von 500 bis 600 Jahren berichtet haben, widerstrebt es uns, die traurige Liste weiterzuführen“. 638 Vgl. dazu Starke, S. 192 f. 639 Im Reichstag dementierten Eulenburg und Friedberg (damals Staatssekretär des RJA) anderslautende Zeitungsberichte, auf die sich Reichensperger berufen hatte (Sten. Ber., 15. 10. 1878, S. 273 f., 282 – 284). 640 Nicolaus Planenberg, Die Majestätsbeleidigungen und die Preussische Justiz, Loebau 1878. Als polemischer Geist kam Joseph Kolkmann, Kreisrichter in Löbau und Rosenberg (Westpr.), fast zwangsläufig in Konflikt mit den Behörden. 1875 / 76 aufgrund mehrerer Artikel über das Mönchswesen wegen Beschimpfung einer Religionsgemeinschaft (§ 166 StGB) angeklagt, wurde er in allen drei Instanzen freigesprochen, disziplinarisch aber bestraft (vgl. J. Kolkmann, Die Königl. Preuss. Staatsanwaltschaft und die Freie Rede, Loebau 1876). Seine 1877 erschienene Polemik gegen den preußischen Richterstand brachte das Faß dann zum Überlaufen: Kolkmann wurde umgehend aus dem Staatsdienst entlassen (ausführlich zur letztgenannten Schrift unten Kap. VII).
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Gesetzes fehlt es Kolkmann zunächst an der nötigen Differenzierung: „Die entsetzliche Konfusion der Begriffe, die in den Köpfen unserer heutigen Juristen bezüglich der Lehre von der Beleidigung überhaupt ihr Unwesen treibt, mußte naturnotwendig auch auf die Lehre von der Majestätsbeleidigung ihre nachteiligen Wirkungen ausüben. Denn wie man dort die Grenze zwischen gesellschaftlicher Taktlosigkeit, Grobheit, Unart, moralischer Entrüstung einerseits, welche alle sehr wohl recht verletzend und beleidigend sein können, und der eigentlichen juristischen Beleidigung, welche nur in Beschimpfung und Verleumdung besteht, längst verwischt und damit beinahe jede freie sich auf Personen beziehende Meinungsäußerung unmöglich gemacht hat, so behandelt man heute als Majestätsbeleidigung im juristischen Sinne unbedenklich auch jede taktlose, lieblose, nichtswürdige Redensart über die Person des Kaisers“641. Sodann fehle häufig der Nachweis des animus injuriandi, der Absicht zu beleidigen, die sozusagen als in der Natur der Äußerung liegend angesehen werde. Das Strebertum der Staatsanwälte habe dafür gesorgt, daß so viele Anklagen vor die Gerichte gekommen seien „wie in einer gleich kurzen Zeitspanne wohl noch niemals zuvor in irgendeinem Lande der Welt“. Den Richtern spricht Kolkmann das „Verständnis des Lebens und juristischen Takt“ ab, die Strafzumessung hält er für objektiv ungerecht, da sie nicht nach den Umständen des einzelnen Falles fragen würde, ganz abgesehen davon, daß Sozialdemokraten von vornherein eine härtere Bestrafung zu gewärtigen hätten642. Auch Leonhardt zeigte sich über die Entwicklung beunruhigt. Anfang Juli wies er die Oberstaatsanwälte an, nähere Angaben über die Beschuldigten, die Umstände und den Wortlaut der inkriminierten Äußerung und das Urteil einzureichen, bezogen auf den Zeitraum vom 10. 5. bis 10. 8. 1878643. Die Berichte bestätigen die hohe Verurteilungsquote (zahlreiche Verfahren waren noch in der Schwebe), ergeben ansonsten aber ein wenig einheitliches Bild. Während in den polnischen Landesteilen überwiegend Deutsche vor Gericht standen (Bromberg – insgesamt 79 Fälle), kamen in den Zentren des Kulturkampfs kaum Anklagen wegen Majestätsbeleidigung vor (Paderborn, Münster). Nach Auffassung des Paderborner Oberstaatsanwalts sei dies auf den Einfluß der Geistlichkeit zurückzuführen sowie auf die Tatsache, „daß die Bevölkerung durch die vielfachen Erfahrungen der letzten Jahre daran gewöhnt ist, daß jede strafbare politische Regung sofort von den Behörden unnachsichtig verfolgt und unterdrückt wird“644. Die höchsten Verfahrenszahlen weisen Marienwerder (170), Hamm (151), Breslau (140) und Berlin (131) auf. Als Motive werden sozialdemokratische, ultramontane und partikularistische Antriebe (Celle, Hamm), aber auch „allgemeine sittliche Verwilderung“ Planenberg, S. 11 f. Zitate ebd., S. 20, 22. 643 Verfügung an die Oberstaatsanwälte v. 6. 7. 1878, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8216, Bl. 1 f.; Sammlung der Berichte in: ebd., Nrn. 8216 und 8217. 644 Ebd., Nr. 8217, Bl. 44. 641 642
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(Celle) genannt645. Interessant ist eine Bemerkung des Oberstaatsanwalts in Halberstadt, der Zweifel an der unterschiedslosen Anwendbarkeit des § 95 StGB äußert, da – im Gegensatz zur Ehrfurchtsverletzung des früheren preußischen Strafrechts – die Frage des dolus (Vorsatz) ungeklärt sei646. Das breite Meinungsspektrum, aber auch die Tatsache, daß die Strafen mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom Geschehen abnahmen, dürften Leonhardt bewogen haben, auf weitere Schritte zu verzichten. 6. Bekanntlich ebneten die Ereignisse den Weg zum Sozialistengesetz. War der erste Entwurf vom Reichstag noch mit großer Mehrheit abgelehnt worden, so schloß sich das neugewählte Parlament – nach dem zweiten Attentat hatte Bismarck unverzüglich Neuwahlen anberaumen lassen – der preußischen Auffassung an. Nunmehr bestand Einigkeit darüber, daß die Sozialdemokratie erfolgreich nur durch ein Ausnahmegesetz bekämpft werden könne und dieses – im Gegensatz zu den Kulturkampfgesetzen – die Form eines Verwaltungsgesetzes mit beschränkten Rechtskontrollen erhalten müsse647. Rudolf Gneist, Mitglied der Reichstagskommission zur Beratung der Regierungsvorlage, hielt ein Justizgesetz schlechterdings für untauglich, „weil die Merkmale einer gemeingefährlichen sozialdemokratischen Agitation sich nicht als Tatbestand eines Vergehens rechtlich begrenzen lassen“. Auch die strafrechtlichen Begriffe von „Haß und Verachtung“ oder „Erregung des Klassenhasses“ hätten sich als untauglich erwiesen: „Wer an dem neuen deutschen Strafgesetzbuch und an dem Preßgesetz in langer schwerer Arbeit mit tätig gewesen, wird sich überzeugt haben, daß aus solchen Elementen ein Strafgesetz sich nicht zusammenfügen läßt, daß jede Konstruktion von ,Tendenzverbrechen‘ bisher vergeblich gewesen ist“. Echte Abhilfe sei deshalb nur von einer „Reichspolizeiordnung gegen die sozialdemokratischen Elemente der Presse und des Vereinswesens“ zu erwarten648. Dennoch besaß das Sozialistengesetz für die ordentlichen Gerichte erhebliche Tragweite. Bereits der preußische Entwurf sah Geld- oder Gefängnisstrafen bei Verstößen gegen ein polizeilich verhängtes Vereins-, Druckschriften- oder Geldsammelverbot vor, die weitgehend unverändert in das fertige Gesetz übergingen (§§ 17 – 20 SG). Zusätzlich band der Reichstag die Beschränkung des Aufenthaltsortes an ein Gerichtsurteil (§ 22 SG). Zwar hieß es in den Motiven, eine „gerichtliche Kontrolle“ der Verwaltungsmaßnahmen würde dem Zweck des Gesetzes widersprechen, doch ließen sich die Gerichte schon wegen des festzusetzenden Strafmaßes nicht übergehen649. Zudem zwang der erwähnte § 22, der sich auf § 1 Ebd., Nr. 8216, Bl. 189. Ebd., Nr. 8217, Bl. 34. 647 Zur Entstehungsgeschichte: W. Pack, Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878 – 1890, Düsseldorf 1961 (mit Abdruck der verschiedenen Entwürfe). 648 Rudolf Gneist, Das Reichsgesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, Berlin 1878 (Zitate S. 5, 12). 649 Vorlage: Sten. Ber. RT 1878 / 79, Drks. Nr. 4 (Zitat S. 6). 645 646
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mit seinen vagen Tatbestandsmerkmalen bezog, die Richter dazu, in eine materielle Prüfung des Sachverhalts einzutreten650. Relevant wurde das Problem richterlicher Kontrolle im Zusammenhang mit der Konstruktion der Beschwerdeinstanz. Schon der preußische Entwurf schlug eine Mehrheit von etatmäßig angestellten Richtern für das neunköpfige „Reichsamt für Vereinswesen und Presse“ vor. Die Bestimmung ging auf Leonhardt zurück, der darin „eine größere Garantie“ sah und versicherte, „jedenfalls sei nicht etwa zu befürchten, daß Richter ihrer Aufgabe im Sinne der von den Regierungen zu hegenden Erwartungen nicht entsprechen würden“651. Bismarck behagte das richterliche Element überhaupt nicht, „weil der preußische Jurist meist Buchstabenjurist“ sei. Er hielt den Bundesrat für das geeignete Gremium652. Ebenso lehnten eine Reihe von Landesregierungen, denen der Entwurf vertraulich mitgeteilt worden war, die Regelung ab, da sie um die Durchschlagskraft des Sondergesetzes fürchteten. Für den württembergischen Ministerpräsidenten Mittnacht widersprach der Gedanke, „in letzter Instanz die Ausführung des Gesetzes zu einem Gegenstand richterlicher Entscheidung, formeller Rechtsprechung zu machen“, dem polizeilichen Charakter des Gesetzes653. Als sich Bayern weigerte, das vorgesehene Reichsamt anzuerkennen, einigten sich Mittnacht, den Bismarck um Vermittlung gebeten hatte, und der bayerische Ministerpräsident Pfretzschner stattdessen auf einen Bundesratsausschuß als Beschwerdeinstanz. Die Länderkammer folgte der Absprache und beschloß ein siebenköpfiges Gremium654. Wie zu erwarten, griff die Reichstagskommission den Gedanken einer richterlichen Mitwirkung wieder auf, und auch im Plenum kam die Frage nochmals ausführlich zur Sprache. Dabei konnten sich die Liberalen mit ihrem Wunsch, ein gewisses Maß an Rechtsschutz zu gewährleisten, gegen die Regierungsvertreter durchsetzen, die ein reines Verwaltungsorgan favorisierten655. Im Ergebnis setzte sich das in Reichsbeschwerdekommission umbenannte Gremium aus vier Bundesratsmitgliedern und fünf Richtern der obersten Reichs- oder Landesgerichte zusammen (§ 26 SG). Von besonderem Interesse sind die Einschätzungen des Justizpersonals, die in diesem Zusammenhang abgegeben wurden. Bezog sich die zitierte Äußerung 650 Vgl. die kritischen Bemerkungen von Reichensperger, Sten. Ber. RT, 15. 10. 1878, S. 272 f. („Wir begeben uns damit auf einen Weg, wo nur die Willkür herrschen wird“). 651 Prot. StM, 15. 7. 1878 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8458, Bl. 199 ff., Zitat Bl. 200. 652 Vgl. H. v. Mittnacht, Erinnerungen an Bismarck. Neue Folge, Stuttgart 1905, S. 13 f., Zitat S. 14 (die Äußerung fiel während eines Besuchs von Mittnacht in Bad Kissingen am 10. oder 11. 8. 1878). 653 Mittnacht an Stolberg-Wernigerode, 30. 7. 1878, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8458, Bl. 242 ff., Zitat Bl. 243; ähnlich die Stellungnahme der Großherzogl. Sächsischen Regierung v. 4. 8. 1878, in: ebd., Bl. 245 ff. 654 Vgl. dazu Mittnacht, Erinnerungen, S. 14 f. 655 Vgl. die RT-Debatte v. 15. 10. 1878 (Sten. Ber., S. 292 – 305).
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Leonhardts nur auf die Besetzung der Beschwerdekommission, so ging er in der Ministerratssitzung vom 20. 10. 1878, als die Ernennung der Kommissionsmitglieder zur Diskussion stand, noch einen Schritt weiter und erklärte – ohne erkennbare Not – die preußischen Richter in ihrer Gesamtheit für politisch sehr zuverlässig. Bismarck fuhr ihm umgehend in die Parade, indem er bemerkte, wenn alle preußischen Juristen so wären wie Staatsanwalt Tessendorf, dann seien sie in der Rekursinstanz gut zu gebrauchen, aber leider fühlten sich die Staatsanwälte meist nicht als Regierungsbeamte, sondern als souveräne Richter656. Mögen Leonhardts Einlassungen auch in erster Linie darauf berechnet gewesen sein, die Anerkennung der Ministerrunde zu erheischen, so spricht andererseits nichts dagegen, daß sie den im Justizministerium herrschenden Anschauungen entsprachen. Bei den parlamentarischen Debatten über die Gesetzentwürfe gaben die nichtsozialistischen Parteien (mit Ausnahme des Zentrums und der mit ihm verbundenen Gruppierungen) den Justizbehörden eine gehörige Mitschuld an den „instabilen“ Zuständen. Sprecher beider liberaler Parteien rügten das allzu nachsichtige Verhalten der Staatsanwälte gegenüber der Sozialdemokratie 657. Der Führer der Deutschkonservativen, v. Helldorff-Bedra, plädierte für ein Sondergesetz auch deshalb, weil „die Praxis der Gerichte sich doch wohl vielfach mehr von der Humanität als von der notwendigen Rücksicht auf die Erhaltung der Staatsautorität hat leiten lassen“658. Bismarck machte sich wieder einmal über die „so gutmütigen Richter“ lustig, woraufhin ihm der hannoversche Zentrumsabgeordnete Brüel die jüngst gefällten Urteile in den Majestätsbeleidigungsprozessen entgegenhielt659. Publizistisch gab Heinrich von Treitschke dieser Stimmung Ausdruck. Noch unter dem frischen Eindruck der Ereignisse stehend, schrieb er in gewohnt bildmächtiger Diktion: „Auch die allzu milde Anwendung der Gesetze ist nicht schuldlos an den Greueln dieser jammervollen Wochen. Eine schlaffe, gefühlsselige Philanthropie droht wieder, wie einst in dem matten Jahrzehnt vor der Jenaer Schlacht, den alten guten Geist preußischer Strenge zu verdrängen. An einen ewigen Richter glauben die Demagogen nicht, und der weltliche schwingt sein Richterschwert oft nur wie einen zierlichen Galanteriedegen. Je zärtlicher der Staat den Leib des Verbrechers behütet, um so tiefer sinkt der Wert des Menschenlebens in den Augen der Masse, um so schwächer wird ihr der Abscheu vor dem Blute. Allgemein glaubt man im Volke, die Todesstrafe sei abgeschafft und – man handelt auch danach! Was uns vor allem not tut, ist Ernst, strenger Ernst in der Handhabung der 656 Erinnerungen von Robert Bosse, in: Grenzboten 63 / 2 (1904), S. 285. Bosse bezeichnet die Äußerung Leonhardts als „wenig taktvoll und geschickt“. 657 Vgl. Bennigsen, Sten. Ber. RT, 23. 5. 1878, S. 1521; Richter, ebd., S. 1522; Lasker, ebd., S. 1537. 658 Helldorff-Bedra, Sten. Ber. RT, 16. 9. 1878, S. 35; vgl. auch die Bemerkungen v. Schmids (freikonservativ), ebd., 15. 10. 1878, S. 297 („angewöhnte Indifferenz des Richters für Wirkungen und Erfolge seiner Entscheidungen mit Bezug auf das gemeine Wohl“). 659 Sten. Ber. RT, 9. 10. 1878, S. 126 (Bismarck) und S. 136 f. (Brüel).
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Gesetze. Die Majestät des Rechts muß wieder zu Ehren kommen“660. Mit anderen Worten: In der zugespitzten Situation des Jahres 1878 steigerte sich das weitverbreitete Unbehagen an der milden Judikatur der Strafgerichte zum Vorwurf der politischen Verantwortungslosigkeit. 7. Als Zusammenfassung mögen einige kurze Bemerkungen genügen: Regionale Schwerpunkte der strafrechtlichen Verfolgung der Sozialdemokratie in den 70er Jahren waren Preußen, Sachsen und – mit einigem Abstand – Bayern. Trotz fehlenden Zahlenmaterials ist für die beiden erstgenannten Länder davon auszugehen, daß die verhängten Strafen im Durchschnitt über der ansonsten milden Zumessungspraxis lagen. Dies änderte nichts daran, daß die Gerichte außer von „links“ auch von „rechts“ unter Beschuß gerieten. Analog zum Kulturkampf drohte die politische Überforderung die Integrität der Rechtsprechung zu untergraben, wie sich besonders deutlich an den Majestätsbeleidigungsprozessen des Jahres 1878 zeigt. Was Preußen betrifft, so spricht vieles dafür, daß die Zurückdrängung des liberalen Richtertums, die in den sechziger Jahren begonnen hatte, Ende der 70er Jahre zu einem gewissen Abschluß gekommen war. An der sozialistischen Kritik fällt auf, daß der terminus technicus „Klassenjustiz“ damals noch nicht in Gebrauch war.
VII. Systematische Kritiken Wie sich aus dem Vorstehenden ersehen läßt, war das erste Jahrzehnt des neuen Reiches durch eine Hochflut politischer Strafrechtsprechung gekennzeichnet. An kritischen Erörterungen konnte es infolgedessen nicht fehlen. Aus dem Schrifttum ragen drei 1876 / 77 erschienene Abhandlungen heraus, die sich mit je einem zentralen Aspekt des Komplexes beschäftigen – zwei bezogen sich explizit auf die Strafjustiz, die dritte widmete sich der preußischen Richterschaft. 1. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1876 setzte sich Otto Mittelstädt, an sich ein Bewunderer Bismarcks, kritisch mit der Rolle des Reichskanzlers auseinander661. Mittelstädt identifiziert ihn als den eigentlichen Urheber der Politisierung der Justiz, die für die Eigen- und Fremdwahrnehmung der Strafgerichte gleichermaßen schädlich sei. Die Abhandlung reflektiert den Umstand, daß sich die Bismarcksche Prädisposition, die in seinen Anfangsjahren noch als Aushilfsmittel eines schwer bedrängten Politikers erscheinen mochte, mittlerweile als durchgängiges Handlungsprinzip erwiesen hatte. Es sei unverkennbar, so Mittelstädt, „daß Fürst Bismarck eine bemerkenswerte Vorliebe dafür bekundet, die Strafjustiz in hervor660 Heinrich v. Treitschke, Der Socialismus und der Meuchelmord, in: PJ 41 (1878), S. 637 – 647, Zitat S. 641 (auch separat Berlin 1878; ebenso in: ders., Zehn Jahre Deutscher Kämpfe, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin 1897, S. 502 – 514); zu Treitschke zuletzt: U. Langer, Heinrich von Treitschke, Düsseldorf 1998. 661 Otto Mittelstädt, Der deutsche Reichskanzler und die Strafjustiz, in: Im neuen Reich 6 / 1 (1876), S. 8 – 19.
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ragender Weise für die Zwecke seiner Politik in Bewegung zu setzen. Ja, dieser eigentümliche kriminalpolitische Charakterzug hat sich in der langen staatsmännischen Laufbahn des Reichskanzlers an entscheidenden Wendepunkten seiner Geschicke so oft beobachten lassen, daß der kommende Geschichtsschreiber ihn wird einreihen müssen unter die für das Gesamtbild der historischen Erscheinung wesentlichen individuellen Merkmale. [ . . . ] Der Jurist von seinem idealen Standpunkte unentwegter Gerechtigkeit wird freilich bei solchem Rückblicke kaum den Wunsch zurückhalten können, die Politik hätte die Justiz nicht so oft in ihren Dienst zu ziehen nötig befunden. Denn es wird ihm nicht leicht sein zu entscheiden, ob es mehr eine Überschätzung der Leistungsfähigkeit der Strafrechtspflege, ihrer Mittel und ihres Ansehens oder mehr eine Unterschätzung ihres Wertes und parteilosen Waltens gewesen ist, was den Reichskanzler für politische Strafprozesse so häufig prädisponiert gezeigt hat“662. Zum Beleg führt Mittelstädt ein langes Sündenregister auf (Polenprozeß 1864, Affäre Twesten, Bismarckbeleidigungsprozesse, Affäre Arnim). Der eigentliche Schaden liege in der Wirkung des Politischen auf das Rechtliche: „Das politische Strafverfahren zersetzt alle positiven Rechtsbegriffe und treibt den der großen Menge so schwer verständlichen Unterschied zwischen Meinung und Beweis aus der Kriminalpraxis“663. Da man von einem „tatkräftigen Staatsmann“ nicht erwarten könne, daß er auf die besonderen Belange der Justiz Rücksicht nehme, müsse letztere sich wieder stärker auf ihre eigene Würde besinnen und politische Zumutungen selbstbewußt zurückweisen. Deshalb sei es dringend erforderlich, daß die Justiz – das Reichsjustizamt existierte zum damaligen Zeitpunkt noch nicht – in der Reichsleitung über eine eigenständige und kraftvolle Vertretung verfüge. Mittelstädts pointiert-kritische Beleuchtung der Rolle Bismarcks – auf bürgerlicher Seite singulär in ihrer Art – blieb für den Verfasser nicht ohne Folgen. Schelling, erster Staatssekretär des Reichsjustizamtes, hatte ihn ursprünglich für eine Ratsstelle in seiner Behörde vorgesehen. Nach Lektüre des Aufsatzes im „Neuen Reich“ kamen ihm Zweifel an Mittelstädts Eignung, weshalb er den Artikel an Bismarck sandte, mit der Bitte, dieser möge endgültig über die Personalie entscheiden. Bismarck lehnte den Kandidaten mit einer für ihn charakteristischen Begründung ab: „Bei allem persönlichen Wohlwollen für mich spricht aus seinen Darstellungen die idealistische Überschätzung der Mission der Justiz, welche ich als Krankheit des heutigen Richterstandes ansehe. ,Gerechtigkeit‘ vermag ein Mensch nicht zu üben, nur Gott; ich sehe nicht ein, warum ein richterlicher Beamter des Staates an sich das Präjudiz, ,gerecht‘ zu handeln, in höherem Maße für sich haben sollte als ein Regierungsrat, Diplomat, Postdirektor oder Major. Diese Überschätzung der richterlichen Attribution durch die Träger derselben und durch parlamentarischen Sprachgebrauch schädigt unser Staatsleben und unsere Gesetzgebung und steht außer Verhältnis zu den Schäden, welche politischer Parteihaß, unzuläng662 663
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liche Besoldung und kleinstädtische Verknöcherung im vorhandenen Personal angerichtet haben“664. Immerhin wurde Mittelstädt einige Jahre später zum Reichsgerichtsrat ernannt (1881). 2. Eine 1877 anonym veröffentlichte Flugschrift, verfaßt von dem bekannten Zentrumspolitiker und Publizisten Julius Bachem, rückte das Problem der extensiven Gesetzesauslegung in den Mittelpunkt. Das Pamphlet ist deutlich von den Erfahrungen des Kulturkampfs geprägt, schöpft aber auch aus dem vorstehend behandelten Aufsatz Mittelstädts665. Seine Grundthese, die Tendenz zur Ausdehnung habe in bedenklicher Weise zugenommen und zu großer Unsicherheit in der Anwendung des öffentlichen Rechts geführt, exemplifiziert Bachem an vier Beispielen: dem § 131 StGB, dessen einzelne Kriterien häufig nicht mit der erforderlichen Strenge geprüft würden, dem § 186 StGB, bei dem nicht hinreichend zwischen tatsächlicher Beleidigung der Person eines Staatsmannes und sachlicher Kritik an seiner politischen Tätigkeit unterschieden werde, den zahlreichen Fällen „indirekter Majestätsbeleidigung“ nach § 95 StGB, schließlich der Handhabung des preußischen Vereinsgesetzes. Im Ergebnis, so der Autor, würde alles „auf den einen Fundamentalsatz hinauslaufen, daß im Interesse der Strafrechtspflege und zur Wahrung der Autorität und des Ansehens des Richterstandes extensive Interpretationsbestrebungen zugunsten irgendeines im Vordergrund stehenden politischen, kirchenpolitischen oder sozialen Tagesinteresses auf das strengste ferngehalten werden müssen“666. 3. Das rechtsprechende Personal nahm eine Broschüre des bereits erwähnten Joseph Kolkmann ins Visier, die 1877 unter Pseudonym erschien. Das Pamphlet sorgte für erheblichen Wirbel, war der preußische Richterstand, zumal aus den eigenen Reihen, doch nie zuvor in solcher Schärfe angegriffen worden667. Kolkmanns Vorwürfe richteten sich gleichermaßen gegen Straf- und Zivilrichter und 664 Zit. nach: H. Goldschmidt, Bismarcks Stellung zur Justiz, in: DJZ 37 (1932), S. 437 – 442, hier S. 439; s. dazu auch den Exkurs über Bismarcks Verhältnis zur Justiz (Erster Teil, A). 665 [Julius Bachem], Strafrechtspflege und Politik. Von einem rheinpreußischen Juristen, Köln 1877 (der Schrift lagen verschiedene Beiträge aus den „Historisch-politischen Blättern“ zugrunde); zur Autorschaft: ders., Erinnerungen eines alten Publizisten und Politikers, Köln 1913, S. 33. Julius Bachem (1845 – 1918), von Haus aus Volljurist, leitete zusammen mit Hermann Cardauns den innenpolitischen Teil der „Kölnischen Volkszeitung“ (bis 1914). In den frühen 70er Jahren war er maßgeblich an der Konzipierung des Zentrums beteiligt, als dessen Vertreter er 1876 – 1891 im Abgeordnetenhaus saß. 1906 löste er mit seinem Aufsatz „Wir müssen aus dem Turm heraus“, einem Plädoyer für die überkonfessionelle Öffnung der Partei, einen heftigen Richtungsstreit aus. Bachem war Mitbegründer der Görres-Gesellschaft, deren Staatslexikon er in den ersten vier Auflagen herausgab. 666 Bachem, Strafrechtspflege, S. 30. 667 Nicolaus Planenberg, Der Preussische Richter von seiner Schattenseite, Löbau 1877. Um den Verfasser ausfindig zu machen, belegte man den Verleger, Richard Skrzeczek, mit Zeugniszwangshaft. Nachdem seine Autorschaft feststand, wurde Kolkmann, disziplinarisch bereits vorbelastet, aus dem preußischen Justizdienst entlassen.
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sparten auch die Justizverwaltung nicht aus. Auffälligstes Merkmal der Schrift ist ihre ungezügelte, stellenweise haßerfüllte Sprache, die deutlich Züge persönlicher Verbitterung trägt. Einige Kostproben seien herausgegriffen: Kolkmann beschimpft seine Kollegen als „lederne Landrechtsjuristen“ (S. 15), „charakterlose Schreiberseelen“ (S. 23), „juristische Tagelöhner“ (S. 30), „Philistervolk“ und „pedantische Aktenmenschen“ (S. 31) und unterstellt ihnen „geistige Verkommenheit“ (S. 23). Ausgangspunkt ist ein Richterideal, das weit über das Juristische hinausreicht. Kolkmann zufolge sollte ein wahrer Richter an der sozialen, sittlichen und politischen Vervollkommnung der Bevölkerung arbeiten und neben fundierten juristischen Kenntnissen weitgespannte geistige Interessen besitzen. Der Umgang mit dem Prozeßstoff müsse auf einer „freien, wissenschaftlichen, gründlichen Behandlung“ beruhen. Verglichen damit zeichne sich die Wirklichkeit durch mangelhafte juristische und allgemeine Bildung der Richter, vollständige Absorption durch die Dienstpflichten und sklavische Übernahme höchstrichterlicher Erkenntnisse aus. Entsprechend hart fällt Kolkmanns Urteil aus: „Leider stehen mindestens zwei Drittel aller preußischen Richter hart an der Karikatur, während nur ein Drittel das höhere Streben in sich fühlt, das Ideal zu erreichen“668. Fünf Ursachen macht er für die Mißstände verantwortlich: den fehlerhaften Ausbildungsgang mit seiner Bummelei und Einpaukerei, das grassierende Strebertum, die auf der typisch preußischen „Knickerwirtschaft“ beruhende Unterbezahlung, die mit einem „elenden Bureaukratismus“ einhergehende Arbeitsüberlastung und den aus dem Militärischen übernommenen Korpsgeist mit strenger Subordination und Disziplinargewalt669. Das übrige besorge ein Mentalitätswandel: „Gerade am preußischen Richtertume zeigt sich ein erschreckender materialistischer Zug, ein krasser Realismus, der besorgniserregend für die Zukunft ist“670. Angesichts der maßlosen Kolkmannschen Diktion fiel es der von Gustav Pescatore verfaßten Gegenschrift nicht schwer, das gezeichnete Bild als falsch oder zumindest stark übertrieben zurückzuweisen671. Der Autor hält eine außerdienstliche Zurückhaltung der Richter für geboten, unterstreicht den Wert von Kollegialität und ehrlichem Streben, erachtet die Fachkenntnisse für ausreichend, wendet sich gegen das Verständnis des Rechtsprechens als einer wissenschaftlichen Tätigkeit Zitate ebd., S. 26, 5. „Wer dies Schweifwedeln an manchen preußischen Appellationsgerichten schon jemals mit angesehen hat, wie alles sich vor ihm, dem Chef, bückt und wie dieser eher den Eindruck eines Rittmeisters a. D. macht als den eines gewiegten Juristen, dem alles in der Welt außer Recht und Wahrheit und Freiheit egal ist, der wird den Ekel vor solcher Streberwirtschaft schon mit empfunden haben“ (S. 40) 670 Ebd., S. 31. 671 Gustav Pescatore, Zur Würdigung des preußischen Richterstandes und seiner Leistungen, Landsberg a. W. 1877. Pescatore (1850 – 1916), Geheimer Justizrat, habilitierte sich 1875 in Marburg und bekleidete seit 1884 eine Professur für römisches und bürgerliches Recht in Greifswald. 668 669
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und widerspricht dem Vorwurf der Präjudizienreiterei. Aber auch Pescatore kann nicht umhin, bedenkliche Schattenseiten zu konstatieren. Zum einen stellt er einen Mangel an „freier und selbständiger Auffassung des Sach- und Rechtsverhältnisses“ fest, ein Phänomen, das vorrangig auf die Lückenhaftigkeit des Preußischen Landrechts zurückzuführen sei672. Zum anderen beklagt er die Tatsache, daß es die Politik nach Abschaffung der Patrimonialgerichte versäumt habe, „der Justiz eine ihrer würdige Stellung zu verschaffen“. Namentlich die „entsetzliche Knauserei“ sowie die Abwanderung der tüchtigsten Kräfte in die Verwaltung und Rechtsanwaltschaft hätten „Formlosigkeit und biedere Barschheit“, beruhend auf dem „Glauben an die eigene Unfehlbarkeit“, erzeugt673. Sieht man genauer hin, so liegen Kritik und Antikritik gar nicht weit auseinander. Breite Übereinstimmung bestand mit einem dritten anonymen Diskutanten, der sich imgrunde nur am Stil der Kolkmannschen Schrift stieß: „Herr Nikolaus Planenberg hätte für das in seiner Schrift Gesagte die Zustimmung des bei weitem größten Teils der unbefangenen Sachkundigen gefunden, hätte er Maß gehalten, Übertreibungen und die geradezu verletzende Form gemieden, in der er mit seinen Kollegen ins Gericht geht“674. Im übrigen versucht der Autor Verständnis für die Richter zu wecken, indem er auf die obwaltenden Rahmenbedingungen aufmerksam macht. Die fehlende Wissenschaftlichkeit verdanke sich dem kasuistischen Landrecht, der Flut moderner, häufig wenig ausgereifter Gesetze (Grundbuchordnung, Vormundschaftsordnung, Kulturkampfgesetze) sowie den falsch durchgeführten Prüfungen675. Die bürokratische Kontrolle habe zugenommen, und beim Strebertum gelte es zu berücksichtigen, daß das richterliche Gehalt für eine größere Familie kaum ausreiche, Versetzungen und Beförderungen aber maßgeblich vom Vorgesetzten abhingen. Die Präjudizienreiterei sei nicht zuletzt in der „Unlust eigenen Denkens“ begründet676. Die Diskussion um Kolkmanns Broschüre, die weite Kreise zog, ist Ende und Anfang zugleich677. Mit ihrem Ideal eines politisch und sozial engagierten Richters läßt sie sich als Schwanengesang auf den aussterbenden Typus des liberalen Kreisrichters verstehen678. Insofern meint man aus dem aggressiven Tonfall die Ebd., S. 28. Zitate ebd., S. 29, 33. 674 Anon., Gegen Herrn Nicolaus Planenberg und für ihn. Für die Preußischen Richter und gegen sie. Von einem Juristen, der nicht Preußischer Richter ist, Thorn 1877, S. 2. 675 „Die Verwirrung und Rechtsunsicherheit ist bei uns schon jetzt sehr groß geworden durch das unausgesetzte Schaffen neuer Gesetze“ (ebd., S. 9). 676 Ebd., S. 15. „Es gibt Erkenntnisse, in denen nicht eine Gesetzesstelle, wohl aber eine Menge Präjudize zur Begründung angezogen sind“ (S. 16). 677 Vgl. weiterhin: B – p., Aphorismen über den preußischen Richterstand, in: HPBl 80 (1877), S. 452 – 462. Angeregt durch die Schriften Kolkmanns und des Thorners macht sich der Autor seine eigenen Gedanken über den preußischen Richterstand. Vor dem Hintergrund der Kulturkampfjustiz gelangt er zu dem Schluß, daß die Richter weder in moralisch-politischer noch in staatsrechtlicher oder pekuniärer Hinsicht hinreichend unabhängig seien. 672 673
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Enttäuschung über das Ende einer Epoche herauszuhören. Auf der anderen Seite markiert sie – zeitgleich mit der Ausbildungsdebatte – den Beginn einer systematischen Richterkritik, die fortan nicht mehr verstummen sollte. Zentrale Topoi des Genres (mangelhafte Fachkenntnisse, fehlende Allgemeinbildung, Strebertum, Militarisierung, materielle Situation, bürokratische Unterordnung) finden sich hier erstmals zusammenhängend ausformuliert. Die Beiträge unterscheiden sich weniger in der sachlichen Analyse als in Wortwahl und Wertung, wobei die Tatsache, daß es sich um eine „östliche“ Debatte handelt, nicht ganz ohne Bedeutung sein dürfte. Funktional betrachtet, bildete die Richterkritik, die stets auch eine Spitze gegen die Justizverwaltung besaß, den Schnittpunkt, an dem verschiedene Problemstränge zusammenliefen.
VIII. Die „liberale Ära“: Zusammenfassung Nimmt man die „liberale Ära“ (1867 – 1878) unter justiziellen Gesichtspunkten in den Blick, so lassen sich gewisse Parallelen zwischen Gesetzgebung und Rechtsanwendung, den beiden hauptsächlichen Aktionsfeldern, kaum übersehen. Das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strafprozeßordnung gingen aus einer Vielzahl von Kompromissen hervor, die in den für die politische Kultur relevanten, die Öffentlichkeit primär interessierenden Fragen mehr oder weniger eindeutig zugunsten der Regierung ausfielen. In der gemeinsamen Ablehnung der Gesetzeswerke wurden, wenn auch zunächst noch unter negativem Vorzeichen, die Konturen der Reformkoalition aus Zentrum, linkem Liberalismus und Sozialdemokratie sichtbar, die in der Folgezeit für zahlreiche justizpolitische Initiativen verantwortlich zeichnete. Es handelte sich, wie eigens kaum betont zu werden braucht, um ein Bündnis eben jener Kräfte, die ihre je eigenen Erfahrungen mit dem politischen Strafrecht gemacht hatten. Bei den übrigen Grundlagengesetzen fielen das Maß, in dem die Gerichte politisch instrumentalisiert zu werden drohten, und damit die Gefahren für Ansehen und Stellung der Justiz in der Öffentlichkeit geringer aus: Während das Pressegesetz ein vergleichsweise liberales Gepräge erhielt, konnten beim Strafund beim Koalitionsrecht Verschärfungen, wie von der Reichsleitung gewünscht, immerhin mit Erfolg abgewehrt werden. Durch und durch liberal geriet lediglich die – später zu behandelnde – Zivilprozeßordnung. Im Kampf gegen die „Reichsfeinde“ wiederholten und intensivierten sich die erstmals während des preußischen Verfassungskonflikts zutage getretenen Tendenzen. Dabei zeigten sich die Gerichte mehr als einmal dem politischen, bisweilen auch dem öffentlichen Druck nicht gewachsen, so daß die rechtsstaatlich zulässigen Grenzen punktuell überschritten wurden (Provinz Posen, Majestätsbeleidigungsprozesse 1878). Begünstigt wurde die Entwicklung von einem Wandel 678 Bezeichnend ist die Liste an Namen, die Kolkmann als seine Vorbilder nennt: Waldeck, Schultze-Delitzsch, Forkenbeck, Lasker, Parisius und Simson (S. 30).
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in der Zusammensetzung des preußischen Richterstandes, dessen Ursprünge ebenfalls bis in die 60er Jahre zurückreichen. Beide Momente sorgten dafür, daß sich der preußische Richterliberalismus gegen Ende der 70er Jahre weitgehend verflüchtigt hatte, auch wenn der betreffende Personenkreis teilweise noch bis zur Jahrhundertwende im Amt blieb679. Nicht zufällig artikulierte sich zu jener Zeit – gespeist aus verschiedenen Quellen – erstmals eine Richterkritik, die seit den 90er Jahren das öffentliche Richterbild bestimmen sollte. Insgesamt läßt sich mithin feststellen, daß das Attribut „liberal“ – jedenfalls aus der Perspektive von Recht und Justiz – auf den so betitelten Zeitraum nur unter erheblichen Vorbehalten zutrifft.
679 Ormond bleibt in der zeitlichen Einordnung widersprüchlich, obwohl seine Untersuchung dem Fragenkomplex originär gewidmet ist. Einerseits datiert er das Verschwinden des liberalen Kreisrichters auf die 1890er Jahre, gar die große Pensionierungswelle um das Jahr 1900 (S. 441 f.), andererseits verweist er auf die Justizreform von 1879 als entscheidende Zäsur (S. 562 f.).
Zweiter Teil
Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900) A. Die 80er Jahre Mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze am 1. Oktober 1879 setzten die Bemühungen um eine Änderung der Strafgerichtsverfassung und des Strafverfahrens ein. Binnen weniger Jahre durften sich diejenigen bestätigt fühlen, die der neuen Organisation von vornherein skeptisch oder ablehnend gegenübergestanden hatten. Parallel zur – thematisch noch begrenzten – Reformdiskussion leitete Bismarck einen ersten Revisionsversuch ein. Erweitert wurde das Spektrum der Justizkritik um das neue Zivilverfahren, das bei seiner Verabschiedung so gut wie unumstritten war und bislang nur wenig öffentliches Interesse erregt hatte. Ein Vergleich der beiden Prozeßordnungen macht deutlich, daß die Verfahrensdefizite auf ähnlichen Ursachen beruhten (Kap. I). Die politische Strafjustiz rückte – nach einer Phase relativer Windstille – in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wieder ins Rampenlicht (Kap. II). Als wichtigste Multiplikatoren der jurisdiktionellen Kritik fungierten die immer mehr zur „Großmacht“ aufsteigende Presse sowie der Reichstag (Kap. III). Darüber hinaus hatte die Strafrechtspflege mit allgemeinen Problemen zu kämpfen, vor allem der milden Urteilspraxis, den kurzen Freiheitsstrafen sowie der Methode der Gesetzesauslegung (Kap. IV). Schließlich ist ein Blick auf die Ausbildungsdebatte zu werfen, die im Zeichen scharfer Kritik und begrenzter Reform stand (Kap. V).
I. Gerichtsverfassung und Verfahrensstruktur 1. Strafgerichte und Strafverfahren a) Schwerpunkte der Diskussion Die strafprozessuale Diskussion der 80er Jahre kreiste um drei Grundthemen: die Berufungsfrage, die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft und das Schwurgerichtsproblem. Hinzu kam die Forderung nach staatlicher Entschädigung für unschuldig erlittene Strafhaft, die in ihrer Bedeutung jedoch hinter den erstgenannten Punkten zurückblieb.
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1. Seit Beginn des Jahrzehnts berichtete die Presse – zumeist unter der Rubrik „Unschuldig verurteilt“ – regelmäßig über Urteile, die – nach gänzlicher oder partieller Verbüßung der Strafe – im Zuge eines Wiederaufnahmeverfahrens aufgehoben worden waren. Die Öffentlichkeit nahm die Mitteilungen mit wachsendem Interesse zur Kenntnis, so daß bald die Rede vom „Justizmord“ die Runde machte1. Nach der Strafprozeßordnung (§ 399) war die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens an das Vorbringen neuer Tatsachen oder Beweismittel (nova) gebunden, was zur Folge hatte, daß entsprechende Anträge nur relativ selten zum Erfolg führten2. Von daher lag die Vermutung nahe, daß zahlreiche Justizirrtümer unentdeckt blieben, da die Erkenntnisse der Strafkammern keiner umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Kontrolle unterlagen. Darüber hinaus wiesen Kritiker auf den hohen Prozentsatz an schöffengerichtlichen Urteilen hin, die in der Berufungsinstanz abgeändert oder aufgehoben wurden3. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß sich das Datenmaterial über die Justizpraxis im Reich mit Herstellung der Rechtseinheit erheblich verbesserte4. Ludwig Fuld, Rechtsanwalt aus Mainz, beschrieb die diffuse, aber weitverbreitete Stimmungslage wie folgt: „Allein das kann leider nicht geleugnet werden, daß bei einer im Verhältnis großen Anzahl von Fällen die Strafkammern Personen für schuldig erkannt und bestraft haben, deren Schuldlosigkeit in einem späteren Verfahren eklatant bewiesen wurde. Solche ungerechte Verurteilungen haben allerdings stets zu den wie es scheint unvermeidlichen Begleitern menschlicher Rechtspflege gehört, allein ihre Zahl hat sich seit der Einführung des Strafprozeßgesetzes Vgl. Franz v. Holtzendorff, Justizmorde, in: Deutsche Revue 7 / 2 (1882), S. 111 – 113. In Preußen bewegte sich der Prozentsatz der Verfahren, die in Strafkammer- und Schwurgerichtssachen zugunsten des Verurteilten wiederaufgenommen wurden, im Bereich von 0,1 %. Kam es zu einem neuen Verfahren, so erfolgte meist sofortige Freisprechung oder Aufhebung des früheren Urteils. Die folgenden Angaben bezeichnen die Zahl der Strafkammerund Schwurgerichtsurteile, der Wiederaufnahmeverfahren und der Freisprechungen resp. Aufhebungen: 1880: 58.511 + 4.982 (= 63.443) / 54 / 40; 1881: 66.585 + 5.163 (= 71.748) / 61 / 55; 1882: 66.800 + 5.086 (= 71.886) / 83 / 73 (nach: Leonard Jacobi, Der Rechtsschutz im Deutschen Strafverfahren, Berlin 1883, S. 60 f.). Angaben über die zurückgewiesenen Anträge auf Wiederaufnahme fehlen. Jacobi schätzt sie auf mehrere tausend. 3 In Preußen wurden 1880 – 1882 insgesamt 25.216 Schöffenurteile in der Berufungsinstanz aufgehoben. Dies waren von allen eingelegten Berufungen: 1880: 40,6 %; 1881: 40,3 %; 1882: 41,3 % (vgl. Jacobi, S. 61). Im Deutschen Reich lag die Aufhebungsquote 1881 – 1891 stets zwischen 38 % und 41 % (vgl. Ernst Beling, Die Wiedereinführung der Berufung in Strafsachen, Breslau 1894, S. 7). Gegen Schöffensprüche wurde relativ selten appelliert, teils aus Kostengründen, teils wegen der Geringfügigkeit der Strafen. 4 Zu den vorhandenen Statistiken: Die jährliche „Kriminalstatistik“ (Berlin 1884 ff.) gibt Auskunft über die abgeurteilten Straftaten und die persönlichen Verhältnisse der Beschuldigten. Eine Strafprozeßstatistik, bezogen auf die formalen Bestandteile des Verfahrens, enthält der Strafrechtsteil der „Deutschen Justiz-Statistik“ (Berlin 1883 ff.; zweijährig). Eine Gesamtpreußen umfassende Strafrechtsstatistik für das Jahr 1881 findet sich in: Zeitschrift des Königl. Preuß. Statistischen Bureaus, XIV. Erg.heft, Berlin 1883. Wenig ergiebig sind die seit 1881 im JMBl abgedruckten „Hauptübersichten“ über die Geschäfte der preußischen Gerichte. 1 2
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in einer solch auffallenden Weise vermehrt, daß das allgemeine Rechtsgefühl und der Glaube an die gerechte Handhabung der Rechtspflege dadurch in empfindlicher Weise geschädigt wurde“5. Die Regierung hielt den Vorwürfen entgegen, ein Freispruch im wiederaufgenommenen Verfahren beweise noch keineswegs die Unschuld des Verurteilten. In vielen Fällen habe sich im Laufe der Zeit lediglich der Belastungsbeweis abgeschwächt, so daß das Gericht notgedrungen ein „non liquet“ habe aussprechen müssen. In diesem Kontext entstanden der populäre Ruf nach Wiedereinführung der Berufung gegen die Strafkammerurteile erster Instanz und die Forderung nach Entschädigung für unschuldig erlittene Strafhaft. Letztere läßt sich kaum von der Tatsache trennen, daß vom Mittel der Untersuchungshaft im Zeichen des Sozialistengesetzes ein teilweise exzessiver Gebrauch gemacht wurde – nicht zufällig war es der SPD-Abgeordnete Frohme, der 1881 den ersten Antrag auf ein Entschädigungsgesetz im Reichstag einbrachte. Insbesondere die Berufungsfrage diente als großes Banner, unter dem sich die Gegner des neuen Verfahrens sammeln konnten. An die Spitze der Bewegung traten die liberalen und katholischen Zeitungen, die seit den frühen 80er Jahren mehr oder weniger lautstark für eine zweite Tatsacheninstanz warben. Ein im Reichsjustizamt erstellter Pressespiegel, der den Zeitraum von Frühjahr 1882 bis Mitte 1885 umfaßt, weist 67 Artikel in 22 Zeitungen aus, die für die Berufung das Wort ergriffen. Allein die „Berliner Zeitung“ trat in 13, die „Vossische Zeitung“ in 8 Artikeln für eine entsprechende Reform ein. Gegen die Berufung sprachen sich 10 Zeitungen, vornehmlich konservativer Provenienz, in 18 Artikeln aus, wobei einige liberale Blätter ihre Spalten für beide Positionen geöffnet hatten6. Neben der Presse bildete die Rechtsanwaltschaft die zweite Kohorte der Berufungsfreunde. Hierbei dürfte auch die Aussicht auf neue Tätigkeitsund Verdienstfelder eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Das öffentliche Echo rief die Verteidiger des berufungslosen Verfahrens auf den Plan. Erneut war es Otto Mittelstädt, der die Probleme in der ihm eigenen Schärfe beleuchtete 7. Zunächst erinnert er daran, daß die Beseitigung der Berufung niemals Ludwig Fuld, Zur Reform des deutschen Strafverfahrens, Leipzig 1885, S. 6. Ludwig Fuld (1859 – 1935), 1881 zum Doktor der Rechte promoviert, ließ sich zunächst in Gießen, dann in seiner Heimatstadt Mainz als Rechtsanwalt nieder; bis zum Ersten Weltkrieg vielfältig literarisch tätig, insbesondere auf den Gebieten der Sozialpolitik, der sozialen Gesetzgebung, des formellen und materiellen Strafrechts sowie des gewerblichen Rechtsschutzes; zu Fuld: W. Schubert, Gesetzgebung und Sozialpolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: M. Stolleis u. a. (Hg.), FS Gagnér, München 1991, S. 421 – 439. 6 Angaben nach: BA, R 3001, Nr. 5309, Bl. 20 ff. Der Überblick stand in Zusammenhang mit den Arbeiten am StPO-Entwurf. Nicht immer blieb die Argumentation sachlich: Die linksliberale „Berliner Zeitung“ meinte: „Zu keiner Zeit und in keinem Lande sind so viele Menschen unschuldig verurteilt worden als im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts im neuen Deutschen Reiche“ (Ausgabe v. 19. 7. 1882). 7 Otto Mittelstädt, Die Berufung in Strafsachen, in: PJ 50 (1882), S. 181 – 197. 5
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ein volkstümliches Postulat gewesen sei, sondern immer nur „juristischer Technik“ und „juristischer Logik“ entsprochen habe. Daß den Strafkammerurteilen kein rechtes Vertrauen entgegengebracht werde, sei schlichtweg als Tatsache anzusehen. Mittelstädt führt drei Ursachen ins Feld, die nachfolgend immer wieder bestätigt wurden: die große personelle Stabilität der Gerichte, die auf einer Geringschätzung der Strafrechtspflege beruhe und bei den Betroffenen zu einem „psychologischen Verhärtungsprozeß“ führe, die Hinzuziehung von Assessoren, die im Fünfmännergremium regelmäßig ihre ersten richterlichen Gehversuche unternehmen würden, und die Arbeitsüberlastung der Strafkammern, eine Folge der Reorganisation von 1879. All dies verhindere, daß die Tatfrage mit der erforderlichen Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit geprüft werde: „Der Handwerksbetrieb der Judikatur ist in seinen Grundzügen derselbe geblieben. Es ist dieselbe stiefmütterliche Behandlung der Urteilsgründe, die alte Dürftigkeit in der faktischen Motivierung, die gleiche Leere und Kurzatmigkeit in den juristischen Konklusionen. Immer wieder begegnet man einer so ausgeprägten Abneigung in Zulassung zweifelhafter, schlecht substantiierter Verteidigungsanträge, als sei man immer noch der Meinung, damit habe es für die zweite Instanz auch noch Zeit“8. Im übrigen hätten sich die künstlichen Kautelen, die als Ersatz für die Berufung ersonnen worden waren, in der Praxis nicht bewährt. Den eigentlichen Kern des Übels sieht Mittelstädt indes in der Prinzipienlosigkeit der Strafgerichtsverfassung. Hier habe die Justizreform anzusetzen: Anstatt die Berufung, die mit den Grundsätzen des modernen Prozesses unvereinbar sei und auf kaum lösbare organisatorische Schwierigkeiten stoße, zu reaktivieren, sollten die Laien aus der untersten Stufe entfernt und in die mittleren Gerichte verpflanzt werden. Die Mängelliste wurde vom sächsischen Generalstaatsanwalt von Schwarze – auf der Grundlage eigener Erhebungen – weitgehend bestätigt9. Ferner hob Schwarze einen Umstand hervor, an dem die späteren Kritiker des Vorverfahrens ansetzen sollten: Häufig erlange der Angeschuldigte erst durch die Anklageschrift oder gar die Hauptverhandlung volle Klarheit über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, so daß er in der ersten Instanz überhaupt nicht in der Lage sei, eine adäquate Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Dennoch lehnt auch Schwarze, aus denselben Gründen wie Mittelstädt, die Berufung ab und rät stattdessen dazu, die Rechtssicherheit der ersten Instanz durch eine Reihe von Einzelmaßnahmen weiter zu verstärken. Energisch spricht er sich gegen eine vorschnelle Teilrevision der Strafprozeßordnung aus, die sinnvollerweise nur als Ganzes und auf der Grundlage gesicherter Erfahrungen geändert werden könne. Faktisch wurden die Probleme damit auf die lange Bank geschoben. Im ganzen verrät Schwarzes Argumentation eben jene juristische Logik, die für die Mißstände wesentlich mitverantwortlich war. Zudem griff er auf die altbekannte Strategie der Vorwärtsverteidigung zurück: Zitate ebd., S. 182, 186, 191. Fr. O. Schwarze, Die Berufung im Strafverfahren und die Strafproceßordnung, in: GerS 35 (1883), S. 385 – 433, bes. S. 400 ff. (auch separat Stuttgart 1883). 8 9
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Zunächst werden die bestehenden Mängel in vollem Umfange anerkannt, um schließlich doch allen Reformwünschen – zumindest vorläufig – eine eindeutige Absage zu erteilen. Schwarzes – nur schwer nachvollziehbares – Fazit lautet: „Die Einführung bzw. die Wiedereinführung der Berufung würde nur nachteilig für den Angeklagten wirken“10. Auch in der liberalen Presse, die, wie bereits erwähnt, die Gegenposition vertrat, wurde regelmäßig Klage darüber geführt, daß die Strafkammern das vorliegende Material nicht mit der für eine einzige Tatsacheninstanz erforderlichen Sorgfalt prüfen würden und sich an eine schematische Arbeitsweise gewöhnt hätten11. Mit Bezug auf Mittelstädt und Schwarze wendet sich der Straßburger Anwalt v. Weinrich gegen die „doktrinären Bedenken“ der Berufungsgegner und plädiert dafür, „den Bedürfnissen des Lebens“ eine stärkere Geltung zu verschaffen12. Weinrich weist überzeugend nach, daß die dargelegten Verfahrensmängel gerade für die Installierung einer Kontrollinstanz sprächen. Zudem veranschlagt er den Aspekt des öffentlichen Vertrauens ungleich höher: „Ist die Einführung der Berufung wirklich ein dringendes Bedürfnis, dann darf damit auch nicht gewartet werden. Die Übelstände, wie sie Mittelstädt und namentlich Schwarze uns schildern, und welche, wie ich auszuführen versucht habe, zum großen Teil auf die Berufungslosigkeit der Strafkammerurteile zurückzuführen sind, fordern schleunige Abhilfe, soll nicht das Vertrauen in die Rechtspflege erschüttert werden. Wenn irgendwo, so gilt in Fragen der Gesetzgebung der Satz: vox populi, vox Dei“13. Von erheblicher Tragweite war die Frage, ob das Berufungsrecht auch dem Staatsanwalt zustehen solle, gleichbedeutend mit der Möglichkeit, in höherer Instanz zu einer Verurteilung bzw. Strafverschärfung zu gelangen (sog. reformatio in peius). Der 1884 von August Munckel, dem linksliberalen Vorkämpfer für die Appellation, eingebrachte Reichstagsantrag wollte der Staatsanwaltschaft bei politischen und religiösen Vergehen die Befugnis versagen, zum Nachteil des Angeklagten Berufung einzulegen. In allen übrigen Fällen sollte sie vom Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel abhängig sein14. Die Vorschläge, wenngleich ohne Chance auf Verwirklichung, spiegelten die Erfahrungen wider, die nicht nur Linksliberale mit einer stark staatsanwaltschaftlich geprägten Strafjustiz gemacht hatten. Ebd., S. 431. Vgl. Breslauer Zeitung v. 6. 3. 1884; Berliner Zeitung v. 1. 2. 1884 („Die Verknöcherung der Strafjustiz“); Berliner Tageblatt v. 23. 4. 1884 („Schutz für die Unschuldigen“); VZ v. 14. 6. 1884 („Das Mißtrauen gegen unsere Kriminaljustiz“); Augsburger Allgemeine Zeitung v. 15. 4. 1885 (nach: BA, R 3001, Nr. 5309, Bl. 6). 12 Alfred von Weinrich, Die Frage der Einführung der Berufung gegen die Urtheile der Strafkammern, Straßburg 1884, S. 25. 13 Ebd., S. 26 f.; weiterhin: Fuld, Reform, S. 3 ff. 14 August Munckel, Einführung der Berufung gegen die Urtheile der Strafkammern in erster Instanz, Berlin 1884; vgl. Antrag Munckel / Lenzmann, Sten. Ber. RT 1884, Drks. Nr. 27. Namentlich sollten die §§ 80 – 135, 139, 166 und 167 StGB von der Berufung im bezeichneten Sinne ausgeschlossen sein (§ 354). 10 11
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Damit war das Terrain, auf dem der Kampf zwischen Gegnern und Befürwortern der Berufung fortan ausgefochten wurde, abgesteckt. Zwar schwoll die Diskussion in der Folgezeit mächtig an, die argumentative Basis blieb aber weitgehend dieselbe15. Im Kern standen sich eine juristisch-technische und eine politisch-populäre Argumentation gegenüber. Einig war man sich darüber, daß die Qualität der Strafkammerurteile verbessert werden müsse, gestritten wurde über das Wie, teilweise auch über das Wann. Die erstgenannte Richtung, die wesentlich von Theoretikern getragen wurde, befürwortete einen weiteren Ausbau der ersten Instanz, die letztgenannte, deren Fürsprecher vor allem aus den Reihen der Praktiker kamen, hielt eine zweite Tatsacheninstanz aus Gründen der Gerechtigkeit und öffentlichen Akzeptanz für zwingend geboten. Die „Magdeburger Zeitung“ brachte den Gegensatz auf die eingängige Formel, „die Gründe für Abschaffung der Berufung hätten eine wesentlich theoretische Natur, die Gründe für die Einführung eine wesentlich praktische“16. Von Beginn an wies die Berufungsfrage über sich hinaus. Eigentliches Ziel des Angriffs war die berufsrichterliche Alleinherrschaft in den Strafkammern, wie aus zwei Umständen zu ersehen ist: Das Verlangen nach Berufung bezog sich so gut wie nie auf die ebenfalls inappellablen Schwurgerichtssprüche, und es verknüpfte sich häufig mit der Laienfrage. Seine Spitze richtete sich also exklusiv gegen die „politischen“ Gerichte innerhalb der reichsdeutschen Strafgerichtsverfassung. Obwohl das argumentative Reservoir rasch erschöpft war, griff der Topos in der Öffentlichkeit immer weiter um sich und entwickelte eine gewisse Eigendynamik. Dabei wechselte auch die Funktion: Spätestens seit Beginn der 90er Jahre diente die Berufungsforderung als Chiffre für ein diffuses, aber weitverbreitetes Unbehagen an der Strafjustiz überhaupt. Die preußische Justizverwaltung reagierte überraschend schnell und mit ungewohnter Offenheit auf die Mißstände. Hierin zeigte sich die Handschrift des neuen Justizministers Friedberg, der politisch dem Kronprinzen nahestand. In seiner Amtsführung griff Friedberg verstärkt auf das ministerielle Weisungsrecht zurück, was nicht zuletzt mit der Grundlinie seiner Politik zusammenhing: Den neuen Justizeinrichtungen sollte zunächst eine längere Phase des Einlebens gewährt werden, was einerseits hieß, vorschnellen Eingriffen des Gesetzgebers entgegenzutreten, andererseits aber auch, etwaige Übelstände administrativ zu bekämpfen17. 15 Eine Liste der Stimmen pro und contra findet sich bei Adolf Poppe, Der Kampf um die Berufung in Strafkammersachen seit Einführung der R.Str.P.O. bis zur Gegenwart, Hannover 1910, S. V – VII. 16 Ausgabe v. 8. 1. 1882, zit. n. BA, R 3001, Nr. 5309. 17 Vgl. dazu den Bericht über den Stand der Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1882, S. 31 f. Heinrich Friedberg (1813 – 1895) trat, nach mehrjähriger Tätigkeit als Staatsanwalt, 1854 als Vortragender Rat in das Justizministerium ein. Mit Beginn des Jahres 1877 übernahm er, maßgeblich unterstützt vom Kronprinzen, die Leitung des neugegründeten Reichsjustizamtes. Preußischer Justizminister war er vom 30. 10. 1879 bis zum 17. 1. 1889; zu Friedberg auch Brunck, S. 288 – 290.
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Im Vergleich zu seinem Vorgänger Leonhardt besaß Friedberg ein feineres Gespür für die außerjuristischen Existenzbedingungen des Justizwesens wie auch für die spezifischen Empfindlichkeiten der Strafgerichtsbarkeit. Sein vorrangiges Interesse galt einer rechtsstaatlich korrekten Justiz, wozu auch gehörte, politische Einflüsse möglichst fernzuhalten18. In einer Verfügung vom Oktober 1882 trat Friedberg „mit Entschiedenheit“ den Usancen bei der Kammerbesetzung entgegen, die „eine gewisse Unterschätzung der strafrichterlichen Tätigkeit“ verrieten, da eine ausschließlich zivilprozessuale Verwendung „geradezu als eine Anerkennung für größere Tüchtigkeit“ betrachtet werde. Grundsätzlich würden Straf- und Zivilrechtspflege gleich tüchtige Mitglieder erfordern. Ja, es sei zu berücksichtigen, daß Fehlsprüche des Strafrichters „meist viel schwerer und in weiteren Kreisen empfunden werden“ als solche des Zivilrichters und tatsächliche Irrtümer nicht mehr korrigiert werden könnten. Deshalb dürften Mitglieder, die „sich durch Frische der Auffassung“ auszeichneten, nicht von vornherein den Zivilkammern zugeteilt werden. Weiterhin wendet sich Friedberg gegen die übermäßige Zuweisung von Hilfsrichtern an die Strafkammern. Auf jeden Fall sollte vermieden werden, daß zwei Gerichtsassessoren an der Fällung des Urteils beteiligt seien, so daß ihre Voten den Ausschlag geben könnten. Schließlich empfiehlt er, bei der jährlichen Neubesetzung der Kollegien einen regeren Austausch zwischen den Straf- und Zivilkammern vorzunehmen, da langjährig tätige Strafrichter erfahrungsgemäß „der Gefahr einer gewissen Einseitigkeit“ ausgesetzt seien19. Die Parallelität zu den Ausführungen Mittelstädts in den „Preußischen Jahrbüchern“, die unmittelbar zuvor erschienen waren, ist frappierend. Es darf vermutet werden, daß Friedberg eigene Beobachtungen in dem Aufsatz bestätigt fand und es für geboten hielt, bereits auf die Ende des Jahres anstehende Kammerverteilung für 1883 einzuwirken; vielleicht war der Artikel aber auch lanciert (nachweislich verfügte Mittelstädt über gute Beziehungen zum Justizministerium). Allerdings ist zu berücksichtigen, daß der Minister nur Empfehlungen und Ermahnungen, nicht aber Anweisungen aussprechen konnte, da die Justizverwaltung mit dem neuen GVG ja jeden direkten Einfluß auf die Kammerbesetzung verloren hatte. Die Friedbergschen Bemühungen zeitigten bestenfalls kurzfristige Wirkung, wie die beiden Reskripte vom September 1890 und Februar 1892 erkennen lassen, die die Verfügung in Erinnerung riefen20. Nicht nur in Preußen ließ sich die innerjuristische Geringschätzung der strafrichterlichen Tätigkeit noch jahrzehntelang be18 Auch Mittelstädt beschreibt Friedberg als einen Justizminister, der „unbestritten kein politischer Parteimann“ sei, und es könne keine Rede davon sein, „ihn einer unzulässigen politischen Beeinflussung der Preußischen Staatsanwaltschaft zu verdächtigen“ (Otto Mittelstädt, Politische Strafprocesse, in: PJ 58, 1886, S. 589 – 596, hier S. 595). 19 AV an die OLG-Präs. v. 12. 10. 1882, in: JMBl, S. 306 (auch bei Müller, Justizverwaltung, S. 26 f.). 20 RVen an die OLG-Präs. v. 26. 9. 1890 und 8. 2. 1892, beide in: Müller, Justizverwaltung, S. 27.
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obachten, vordergründig gestützt durch die Tatsache, daß die Strafgewalt ja auch von Laien wahrgenommen wurde. Die Reformbewegung erreichte auch die parlamentarische Ebene. Die gesamten 80er und frühen 90er Jahre hindurch reihten sich im Reichstag Anträge aneinander, die zum einen auf Wiedereinführung der Berufung, zum anderen auf eine staatliche Entschädigung für unschuldig erlittene Strafhaft, verbunden mit einer Einschränkung des Wiederaufnahmeverfahrens, abzielten21. Die teilweise parallel betriebenen Initiativen gingen von den Linksliberalen (Munckel, Lenzmann, Phillips, Traeger) und vom Zentrum (P. Reichensperger, Rintelen) aus, wurden aber auch von einzelnen Nationalliberalen (Miquel) unterstützt22. Sie gelangten nicht zur Beratung, kamen nicht über das Stadium der Diskussion hinaus oder scheiterten, so vor allem 1886 / 87, am Einspruch des Bundesrats. Bei der Entschädigungsregelung galt es zudem diffizile Sachprobleme zu lösen: Strittig waren der berechtigte Personenkreis (nur vollstreckte Strafen oder auch erlittene Untersuchungshaft), der Anspruchsgrund (bloße Freisprechung im Wiederaufnahmeverfahren oder wirklicher Erweis der Unschuld), der Umfang der Entschädigungspflicht und die Entscheidung über den Entschädigungsanspruch (gerichtliches Verfahren oder ministerielles Ermessen). Bei den Beratungen zeigte sich ein teilweise ostentatives Desinteresse der Parlamentarier, das mehrere Ursachen besaß: Eine Einigung mit der Reichsleitung war, wie der Regierungsentwurf von 1885 drastisch vor Augen führte, vorerst nicht in Sicht. Die Nationalliberalen, Hauptverantwortliche des Kompromisses von 1876, standen einer Reform mehrheitlich noch ablehnend gegenüber. Schließlich dürften nicht wenige Abgeordnete vor dem Gedanken zurückgeschreckt sein, das unter so großen Mühen zustandegekommene „Justizpaket“ nach relativ kurzer Zeit wieder „aufzuschnüren“ und damit gleichsam die Büchse der Pandora zu öffnen. Es ließ sich nicht übersehen, daß nach den jahrelangen Debatten eine justizpolitische Erschöpfung eingetreten war, zumal andere Aufgaben, vor allem die große Sozialgesetzgebung, die politische Tagesordnung beherrschten. 2. Einen ähnlichen Tenor wiesen die Vorwürfe auf, die gegen das Selbstverständnis und die allgemeine Tätigkeit der Staatsanwaltschaft erhoben wurden. In ihrem Bemühen, die Kompetenzen der Anklagebehörde zu beschränken und ihr eine stärkere Parteistellung zu verleihen, hatte die Strafprozeßordnung die Vorstellung vom Amt des „Gesetzeswächters“ praktisch aufgegeben. Zwar war die alte Vorschrift, die Staatsanwaltschaft habe gleichermaßen für den Entlastungsbeweis zu sorgen, 21 Überblick bei P. O. Bolder, Der Versuch einer Reform des Strafverfahrens und der Strafgerichtsverfassung in den Jahren 1885, 1894 und 1895, Freiburg 1934, S. 9 ff., 30 ff.; siehe dazu auch den folgenden Abschnitt. 22 Julius Lenzmann (1843 – 1906) und Albert Traeger (1830 – 1912) waren – neben August Munckel – langjährige justizpolitische Sprecher der Linksliberalen. Miquel stellte 1888 mit Befriedigung fest, daß „Volksstimme und Richterstimme“ mittlerweile gleichermaßen die Berufung verlangen würden (Sten. Ber. RT, 18. 1. 1888, S. 376).
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beibehalten worden (§ 158 StPO), doch blieb dies kaum mehr als eine Floskel. Die Staatsanwälte verstanden sich primär als Ankläger und neigten dazu, die Verantwortung für alles weitere den Richtern zu überlassen. Zwangsläufig erhöhte sich damit die Zahl leichtfertig erhobener Anklagen – ein Umstand, der umso schwerer ins Gewicht fiel, als die Beschlußkammern der Gerichte nur einen geringen Prozentsatz der staatsanwaltschaftlichen Anträge auf Anklageerhebung zurückwiesen. Auch in dieser Hinsicht war es Schwarze, ansonsten nicht gerade als übermäßig „kritischer Geist“ bekannt, der die Vorwürfe bestätigte. Eindringlich ermahnte er seine Kollegen, mehr Mühe auf die Erhebung der Anklage zu verwenden. Ferner plädierte er dafür, die Beschränkungen des Instituts, die das Gesetz aus Gründen des bloßen Mißtrauens aufgerichtet habe, wieder rückgängig zu machen, damit die Staatsanwaltschaft ihrer Aufgabe im Sinne einer gerechten Strafrechtspflege ungehindert nachkommen könne23. Hier verrät sich deutlich das unpolitische oder, wenn man so will, idealistische Verständnis von Recht und Justiz, das für Schwarzes Denken überhaupt charakteristisch war. Schwarzes Nachfolger im Amt des sächsischen Generalstaatsanwalts, der Geheime Rat Held, ging noch einen Schritt weiter und griff zu einem ganz und gar ungewöhnlichen Mittel. Kurz nach seiner Amtsübernahme im Jahre 1885 wählte er das Forum des Gerichtssaals, um den Staatsanwälten in puncto Dienstpflichten eine öffentliche Lektion zu erteilen. Zeitungsberichten zufolge äußerte er sich anläßlich einer eigens herbeigeführten Freisprechung wie folgt: „Die deutsche Strafprozeßordung spricht nicht wie die frühere sächsische den Grundsatz aus, es solle die Staatsanwaltschaft darüber wachen, daß kein Unschuldiger gestraft werde. Der Grundsatz ist aber selbstverständlich. Die Staatsanwaltschaft, die ihn verleugnen wollte, würde ihren wahren Beruf verkennen, ihr Ansehen unterminieren, den Staat direkt schädigen. [ . . . ] Der Staatsanwalt soll nicht eine Verurteilung betreiben, wo es an ausreichenden Beweisen fehlt. Das Justizministerium erachtet ihn, wie es wiederholt ausgesprochen, für dienstlich verantwortlich, wenn er ohne genügende Beweise eine Anklage erhebt und eine Verurteilung beantragt, und läßt es nicht als Rechtfertigung gelten, daß dann die Verurteilung wirklich erfolgt ist“24. Helds Einlassung steht in vielfältigen Bezügen: Mit ihrer Kritik an der mangelhaften Prüfung des Tatbestandes erinnert sie sowohl an die Stellungnahme des sächsischen Justizministers Abeken zur Berufungsfrage als auch an die Haltung der sächsischen Regierung zur StPO-Vorlage von 1885 – beides wird im folgenden Abschnitt darzulegen sein. In der fortschrittlichen Presse wurde Helds Ansprache breit kommentiert und als autoritativer Beleg für die übertriebene Straffreudigkeit, ja Strafsucht der deutschen Staatsanwälte (und Richter) interpretiert25. Vgl. Schwarze, Berufung, S. 421 – 424. Zit. nach: Anon., Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren, in: Grenzboten 44 / 3 (1885), S. 444 – 447, hier S. 445. 25 Zitate und Paraphrasen finden sich im angeführten Grenzboten-Aufsatz; der Verfasser des Artikels rügt die Vorgehensweise Helds, da es für die oppositionelle Presse ein leichtes 23 24
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In erster Linie verweisen die Vorgänge, die noch weiterer Aufhellung bedürfen, auf tiefgreifende Konflikte zwischen Justizverwaltung und Staatsanwaltschaft in Sachsen. Daß aber auch Preußen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte, beweist die Reaktion Friedbergs. In einer Rundverfügung vom Januar 1883 monierte er die allzu große Selbständigkeit, die den beigeordneten Beamten und Hilfsarbeitern der Staatsanwaltschaft eingeräumt werde. Dies habe zu einer Reihe von Mißgriffen geführt, „welche bei der materiellen Behandlung der Sachen bemerkbar geworden sind“. Des weiteren seien wiederholt Verfügungen erlassen worden, deren äußere Form dazu angetan gewesen wäre, „die Staatsanwaltschaft geradezu zu kompromittieren“26. Die Rüge reagierte auf den Umstand, daß die Ersten Staatsanwälte an den Landgerichten derart mit Verwaltungsgeschäften (Gefängnissachen, Begnadigungsberichte etc.) überlastet waren, daß der eigentliche Prozeßbetrieb weitgehend von jungen und unerfahrenen Beamten versehen wurde27. Nach Rücksprache mit den Oberstaatsanwälten erließ Friedberg im April eine Allgemeine Verfügung, die den betroffenen Personenkreis der strikten Kontrolle durch die Ersten Staatsanwälte unterwarf. Namentlich das selbständige Zeichnungsrecht wurde ihnen fast vollständig entzogen, tüchtige Hilfsarbeiter sollten nicht vor Ablauf von sechs Monaten die Befugnisse eines etatmäßigen Staatsanwalts erhalten28. In der Folgezeit erwies sich die rigorose Subordination arbeitstechnisch indes als kontraproduktiv, weshalb das System Anfang der 90er Jahre wieder gelockert wurde29. Die Diskussion um die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft bildete einen Teil der größeren Debatte um die Verurteilung Unschuldiger, aus der auch – quasi als Komplementärstück – der Ruf nach Wiedereinführung der Appellation hervorging. Gleich der Berufungsforderung riß der Generalvorwurf, im Deutschen Reich werde zuviel und zu leichtfertig angeklagt, seither nicht mehr ab. gewesen sei, aus seinen Äußerungen politisches Kapital zu schlagen. Zur Diskussion weiterhin: Ludwig v. Bar, Zweifelhafte Rechtsfragen in der Strafjustiz, in: Nation 4 (1886 / 87), S. 65 f. Bar moniert die Neigung der Staatsanwälte, auch in unsicheren Fällen Anklage zu erheben und Rechtsmittel einzulegen; er rät dazu, weder bei politischen noch bei gemeinen Delikten „die strafgerichtlichen Entscheidungen gleichsam auf die Schneide des Zweifels zu drängen“ (ebd., S. 66). Dagegen: Otto Mittelstädt, Politische Strafprocesse, in: PJ 58 (1886), S. 589 – 596; allerdings betont auch Mittelstädt – wie bei dem Autor nicht anders zu erwarten – die mit einem Anwachsen politischer Strafprozesse verbundenen Gefahren. 26 RV an die Oberstaatsanwälte v. 29. 1. 1883, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4535. 27 Vgl. Mittelstädt, Strafprocesse, S. 592 f.; die Folgen seien, so der Autor, unüberlegte Anklagen und ein „unnützes Querulieren in der höheren Instanz“. 28 AV v. 5. 4. 1883, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4535 (auch bei Müller, Justizverwaltung, S. 46 f.). In der Verfügung heißt es u. a.: „Solchen Strafsachen, denen, sei es wegen der Persönlichkeit des Beschuldigten, sei es wegen der Natur des Gegenstandes, eine erhöhte Wichtigkeit beiwohnt, hat der Erste Staatsanwalt, sofern er dieselben nicht selbst bearbeitet, in allen Stadien des Verfahrens eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden“; weitere Bestimmungen über die Tätigkeit der Hilfsarbeiter bei den landgerichtlichen Staatsanwaltschaften enthielt die AV v. 24. 3. 1885 (GStA, Rep. 84a, Nr. 4536). 29 AV v. 22. 1. 1891, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4536 (auch bei Müller, Justizverwaltung, S. 47).
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3. Den dritten Schwerpunkt der justizpolitischen Diskussion bildete das Schwurgericht. Wie die empörten Reaktionen auf die 1885 von der Reichsleitung vorgeschlagene Kompetenzbeschneidung zeigten, galt die Jury in den liberalen Teilen der Öffentlichkeit weiterhin als sakrosankt30. Ein deutlicher Meinungswandel vollzog sich hingegen innerhalb der Juristenschaft. Die bisherige (zumindest nach außen bekundete) Zustimmung wich wachsender Skepsis, teilweise gar offener Ablehnung. Sichtbar wurde der Umschwung auf dem 18. Juristentag (Wiesbaden 1886), der von der Laienfrage dominiert wurde. Mit beachtlicher Majorität faßte die dritte Abteilung den Beschluß, daß die Schwurgerichte das ihnen geschenkte Vertrauen nicht mehr verdienen würden und die Schöffengerichte die geeignete Form der Laienbeteiligung seien. Zwar wurde das Votum vom Plenum mit großer Mehrheit beseitigt und durch den konzilianteren Beschluß ersetzt, das schwurgerichtliche Verfahren sei „dringend reformbedürftig“, doch änderte dies am Eindruck allgemeiner Ungunst wenig. Sogar Gneist, der alte Vorkämpfer der Jury, rückte von dem Institut in seiner klassischen Form ab und brachte eine Konstruktion ins Spiel, die an die itio-in-partes-Regelung des alten Reichstags angelehnt war. Wie die Versammlung über die Laienbeteiligung überhaupt dachte, blieb im dunkeln31. Unbestreitbar war indes, daß sich die echten Freunde des Schwurgerichts unter den Juristen seit den 80er Jahren in der Minderheit befanden. Den Wandel dokumentierten eine Reihe publizistischer Beiträge, in denen das Institut – erstmals seit den 50er Jahren wieder – einer schonungslosen Kritik unterzogen wurde. Zum Teil trugen sie den Charakter regelrechter Abrechnungen, wobei der gehässige Ton auf lang aufgestauten Unmut schließen läßt. Ganz unverhohlen wird der Überzeugung Ausdruck verliehen, daß Laien auf der Richterbank imgrunde nichts zu suchen hätten. Als frühes Beispiel sei eine längere Abhandlung genannt, die 1883 in den „Grenzboten“ erschien32. Der Autor, vermutlich ein höherer Richter, greift auf das gesamte Arsenal laienkritischer Argumente zurück, das sich im Laufe der Jahrzehnte kaum verändert hatte: Die Geschworenen seien keineswegs unparteiischer als die Berufsrichter, vielmehr unterlägen sie persönlichen Eindrücken und äußeren Einflüssen; ebensowenig spräche eine größere Lebenserfahrung für sie; sie besäßen keinerlei Rechtskenntnis, ein Mangel, der sich auch durch die richterliche Rechtsbelehrung nicht beheben ließe; und es fehle ihnen an den intellektuellen und moralischen Voraussetzungen, um zu gerechten Wahrsprüchen zu gelangen. Ferner sei das Verfahren mit seinen vielen Absonderlichkeiten (Ablehnungsrecht, Fragestellung, Teilung der Funktionen, fehlende Urteilsgründe, mangelnde Korrektur) völlig unhaltbar: „Die Gestaltung des schwurgerichtlichen Verfahrens enthält, bei Lichte besehen, eine wahrhaft vernichtende Pressespiegel in: BA, R 3001, Nr. 5309. Vgl. den Tagungsbericht von August Munckel, Vom 18. deutschen Juristentage, in: Nation 3 (1885 / 86), S. 751 – 754; Munckel selbst war überzeugter Anhänger des Schwurgerichts; Hadding, S. 62. 32 R. Keßler, Das Schwurgericht, in: Grenzboten 42 / 3 (1883), S. 9 – 20 / 66 – 76. 30 31
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Kritik des Gesetzgebers über sein eigenes Werk“33. Die Schwurgerichte sollten, so das Fazit des Autors, durch Strafkammern ersetzt werden. Dieselben Argumente und Schlußfolgerungen finden sich in einer 1886 anonym erschienenen Broschüre, hinter der sich Gustav Otto, damals Staatsanwalt am Landgericht I in Berlin, verbarg. Die Schrift sorgte für beträchtliches Aufsehen, nicht zuletzt wegen ihres hochmütigen Tonfalls, eines Brusttons der Unfehlbarkeit, der nicht wenigen Lesern als typisch „staatsanwaltschaftlich“ erschienen sein mochte34. Schließlich sei noch eine außerpreußische Stimme zitiert: Für den Ulmer Landgerichtsrat Pfizer beruht das Schwurgericht „von Anfang bis zu Ende auf Unwahrheit“. Deshalb sei es strukturell auch nicht verbesserungsfähig35. Vom juristischtheoretischen Standpunkt aus sieht auch Pfizer in rechtsgelehrten Gerichten die einzig adäquate Organisationsform, aus praktisch-politischen Gründen plädiert er jedoch für „große Schöffengerichte“, bestehend aus einem Vorsitzenden und zwölf Laien. Über die Schuldfrage sollten beide gemeinsam mit absoluter Stimmenmehrheit, über die Strafzumessung allein der Vorsitzende entscheiden. Im Falle einer Verurteilung und bei Bejahung „mildernder Umstände“ verfügt der Vorsitzende über ein Vetorecht36. Das Pfizersche Modell degradiert die Laien zur Staffage, denn welchen Zweck sollten, so konnte man mit Recht fragen, zwölf Geschworene mit beschränkten Kompetenzen neben einem übermächtigen Vorsitzenden noch haben. Wie ist der Meinungswandel zu erklären? Allgemeinpolitisch betrachtet lassen sich die Vorgänge in den Zusammenhang der konservativen Wende von 1878 / 79 einordnen. Dabei ist auch das Verschwinden des liberalen preußischen Kreisrichters (besagter Juristentag fand in Preußen statt!) zu berücksichtigen, mit dem das Volksgericht eine seiner stärksten Stützen verlor. Im übrigen dürfte sich der Stimmungswandel in Grenzen gehalten haben. Vieles spricht dafür, daß die Vorbehalte, die bislang, wie glaubhafte Kritiker immer wieder versichert hatten, nur hinter vorgehaltener Hand geäußert worden waren, unter den veränderten Bedingungen des „Zeitgeistes“ nunmehr ans Licht der Öffentlichkeit drängten37. Daneben gab es aber auch eine Reihe handfester Gründe. Nach 1879 stieg die Freisprechungsquote der Schwurgerichte beträchtlich an und übertraf diejenige der Ebd., S. 67. [Gustav Otto], Gegen die Schwurgerichte, Berlin 1886 (auch in: ZStW 7, 1887, S. 1 – 46); Gegenposition: Fritz Friedmann, Ueber die Schwurgerichte, Berlin 1886 (Friedmann, bekannter Rechtsanwalt aus Berlin, möchte die Jury beibehalten, plädiert aber für einschneidende Änderungen in Zuständigkeit und Verfahren); zu beiden: Ludwig Fuld, Der Kampf um die Schwurgerichte, in: Die Gegenwart 30 (1886), S. 369 f. Gegen Schwurgerichte und Laienbeteiligung hatte sich Otto bereits kurz zuvor in dem Pamphlet „Die Verbrecherwelt von Berlin“ (Berlin 1886) ausgesprochen, das ebenfalls für Aufsehen sorgte. Später verfaßte er die Jubiläumsschrift zum 50jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft in Preußen (Die Preußische Staatsanwaltschaft, Berlin 1899). 35 Pfizer, Recht und Willkür im deutschen Strafprozeß, Hamburg 1888, S. 52. 36 Vgl. ebd., S. 77 ff. 37 Der Abhandlung von Keßler ist das Motto „sapere aude“ vorangestellt. 33 34
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beiden anderen Strafgerichtstypen deutlich38. Dies erklärte sich vor allem aus dem Umstand, daß die Schwurgerichte zwar in ihrer Kompetenz beschnitten worden waren, aber eine Reihe von Verbrechen behalten hatten, bei denen der Nachweis der Schuld erfahrungsgemäß mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war (Meineid, Brandstiftung, betrügerischer Bankrott, Mord)39. Hinzu kam die Tatsache, daß die besser qualifizierten Gerichtseingesessenen meist zum Schöffenamt und nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, zum Geschworenendienst ausgewählt wurden. Die Vertrauensmänner des Wahlgremiums, in der Regel Angehörige der gebildeten und besitzenden Schichten, neigten dazu, ihren Standesgenossen das beschwerliche und kostspielige Geschworenenamt zu ersparen. Desgleichen richtete der vorsitzende Amtsrichter sein Augenmerk zuvörderst auf die befähigteren Personen, versprach dies doch eine reibungslosere Zusammenarbeit im Schöffengericht. Schon frühzeitig versuchten die Minister der Justiz und des Inneren der Entwicklung per Anweisung Einhalt zu gebieten40. Ein weiterer Erklärungsgrund liegt in den gesetzlichen Normen, die die Souveränität der Geschworenen nochmals gesteigert hatten. Um den richterlichen Einfluß auf die Laien zu minimieren, hatte die Strafprozeßordnung das früher übliche Resumé des Vorsitzenden, welches die tatsächlichen Ergebnisse der Verhandlung zusammenfaßte und vom Vortragenden häufig dazu benutzt worden war, seine Meinung über die Schuldfrage zum Ausdruck zu bringen, abgeschafft. Übriggeblieben war eine reine Rechtsbelehrung, die keinerlei Verbindlichkeit besaß (§ 300 StPO). Ferner unterlagen die Wahrsprüche der Laien, seit jeher schon berufungslos, nunmehr auch keiner umfassenden Rechtskontrolle mehr41. Formal in vollem Umfang zugelassen, konnte die Revision faktisch nur bei prozessualen Verstößen, nicht aber bei irrtümlicher Handhabung des materiellen Rechts korrigierend eingreifen. Die Gesetzesanwendung der Geschworenen, ihre Subsumtionstätigkeit, entzog sich insofern der Nachprüfbarkeit, als sich der Wahrspruch strikt 38 In den 80er Jahren bewegte sich der Prozentsatz der Freisprechungen bei den Schwurgerichten im Reich zwischen 25 % und 27 %, während vor 1879 in Preußen der Durchschnitt 17 % – 18 % betrug. In Berlin lag er mit 40 % (1883) und knapp 42 % (1884) sogar noch wesentlich höher. Demgegenüber sprachen die Schöffengerichte zwischen 20 % und 22 % der Angeklagten frei, während die Quote bei den Strafkammern am niedrigsten war, nämlich 12 % bis 14 %. Die Häufigkeit der Freisprechungen stieg in etwa proportional zur Beteiligung und Stellung der Laien (vgl. Justiz-Statistik 1891, S. 196; G. Fischer, Schwurgerichte, S. 754 f.; Otto, S. 5 f.). 39 Während die durchschnittliche Verurteilungsquote aller Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze 1882 bei 85,3 % lag, lautete der entsprechende Prozentsatz bei Meineid 63 %, bei Brandstiftung 67,6 %, bei betrügerischem Bankrott 69,4 % und bei Mord 75,3 % (KrSt 1882, S. 24 ff.). 40 RVen v. 27. 6. 1882, 8. 8. 1883 und 18. 8. 1883, alle in: Müller, Justizverwaltung, S. 15. 41 Zum folgenden: Stenglein, Bemerkungen zur Revision der deutschen St.P.O. II, in: GerS 34 (1883), S. 161 – 183; Otto Mittelstädt, Die Revisionsbedürftigkeit der deutschen Schwurgerichtsurtheile, in: GerS 37 (1885), S. 557 – 575 (S. 558 – 562 Skizze des Gesetzgebungsprozesses).
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am Wortlaut des entsprechenden Paragraphen orientierte und keine über die bloße Individualisierung der Tat (Ort und Zeit der Begehung) hinausgehenden Tatumstände (sog. Spezialisierung) enthielt (§ 293 StPO)42. Desgleichen waren Nebenfragen nach etwaigen Schuldausschließungsgründen (Zurechnungsfähigkeit, Notwehr, Willensunfreiheit etc.) ausgeschlossen (§ 295 StPO). Der gesamte Komplex galt bei Beantwortung der Hauptfrage stillschweigend als miterledigt. Damit hatte die alte Kontroverse um die Abgrenzung zwischen Tat- und Rechtsfrage „in der denkbar extremsten Weise“ (Stenglein) ihren Abschluß gefunden. Im Ergebnis war den Geschworenen eine „Stellung über dem Gesetz“ (Mittelstädt) eingeräumt worden, die weder in den früheren deutschen Partikularrechten noch in der ausländischen Gesetzgebung eine Parallele aufwies. Die Regelungen stellen ein Paradebeispiel für den dogmatischen Charakter der Reichsstrafprozeßordnung dar43. Von ganz anderer Art waren die Klagen über die Belastung durch den Geschworenendienst, die nach 1879 verstärkt auftraten. Wie vom GVG (§ 79) als Regelfall vorgeschrieben, bestand in Preußen an jedem Landgerichtssitz zugleich ein Schwurgericht, wodurch deren Zahl von 110 auf 91 gesunken war. Der Schöffen- und Geschworenendienst verstand sich weiterhin als Ehrenamt, vergütet wurden lediglich Reisekosten; im übrigen beschränkten sich die Ausführungsbestimmungen auf das Allernötigste44. Schon bald häuften sich die Beschwerden über die Dauer der Sitzungsperioden. Die durch das GVG bewirkte Verminderung des schwurgerichtlichen Geschäftskreises führte dazu, daß sowohl die Zahl der jährlichen Sessionen (vom OLG-Präsidenten festgelegt) als auch die Zahl der benötigten Laien (vom LG-Präsidenten bestimmt) häufig zu gering bemessen war. Daraufhin wies Friedberg die Verantwortlichen an, die Sitzungsperioden so einzurichten, daß in der Regel die Dauer von zwei Wochen nicht überschritten werde, notfalls seien außerordentliche Sessionen anzuberaumen. Eine weitergehende Erschwerung solle im Interesse des Instituts vermieden werden, „da die durch sie erzeugte Mißstimmung geeignet ist, die Ausübung des Geschworenenamtes bei den hierzu Berufenen mißliebig zu machen“45. Übergangsschwierigkeiten konnten, soweit ersichtlich, nach einiger Zeit behoben werden, was am grundsätzlichen Problem indes wenig änderte. In krasser Form trat das Überbürdungsphänomen in Bayern auf. Aufgrund der unter dem Reichsdurchschnitt liegenden Zahl der Gerichtseingesessenen hatte die 42 Der Ausspruch, „schuldig, am 1. Februar 1885 in Berlin eine inländische öffentliche Urkunde verfälscht und von derselben zum Zweck einer Täuschung Gebrauch gemacht zu haben“, enthielt alle gesetzlich erforderlichen Angaben (Mittelstädt, S. 559). 43 „Mit der dürren Folgerichtigkeit eines sterilen Prinzips allein ist auf dem Boden des Strafprozesses für die Dauer nicht gedeihlich zu wirtschaften. Unter den stolzen Auspizien unfehlbarer Logik und starrer Konsequenz ist hier nur allzuviel gesündigt worden. Es wäre hoch an der Zeit, daß man sich entschlösse, es auch einmal mit den Gesichtspunkten einfacher Zweckmäßigkeit zu versuchen“ (Mittelstädt, S. 574 f.). 44 Preuß. Ausführungsgesetz zum GVG v. 24. 4. 1878, §§ 36, 45; AV v. 22. 7. 1879, in: JMBl, S. 195 ff. 45 AV v. 22. 5. 1882, in: JMBl, S. 146 (auch bei Müller, Justizverwaltung, S. 30 f.).
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bayerische Justizverwaltung von der Befugnis des § 99 GVG Gebrauch gemacht, mehrere Landgerichtssprengel zu einem Schwurgerichtsbezirk zusammenzufassen. Das Königreich besaß – bei immerhin 28 Landgerichten – lediglich 8 Schwurgerichte, deren Bezirke sich in etwa mit den Kreisen deckten46. Des weiteren war per Verordnung bestimmt, daß an jedem Schwurgericht in der Regel vier Sitzungsperioden pro Jahr von nicht mehr als dreiwöchiger Dauer stattfinden sollten47. Angesichts der starken Verwurzelung der Jury in den bayerischen Landen trug die Justizverwaltung offenbar keine Bedenken, der Bevölkerung erheblich längere Sitzungsperioden zuzumuten als in Preußen. Diese genügten indessen immer noch nicht: Vor allem in München und Straubing wurden die festgelegten Obergrenzen in den ersten Jahren deutlich überschritten48. Daraufhin beantragte der versammelte Landrat von Oberbayern (München), die Sitzungen zu verkürzen, derjenige von Niederbayern (Straubing), neue Schwurgerichte zu installieren. In beiden Fällen bestimmte der königliche Abschied, daß außerordentliche Sitzungsperioden eingeschaltet werden sollten49. Eine durchgreifende Verkürzung der Sessionen trat indessen nicht ein: Von den insgesamt 98 Sitzungsperioden, die von den bayerischen Schwurgerichten in den Jahren 1893 – 95 abgehalten wurden, dauerten 95 länger als eine Woche, 64 länger als 2 Wochen und immer noch 10 länger als drei Wochen50. Während in der Abgeordnetenkammer die Forderung nach zusätzlichen Schwurgerichten erhoben wurde, konnte sich die Staatsregierung – nach längeren Beratungen – lediglich dazu entschließen, die Situation zu entzerren: Seit 1901 fanden jährlich 6 ordentliche Sitzungsperioden statt, die jeweils nicht länger als 12 Tage dauern sollten51. Die bayerischen Akten lassen auch die vielkritisierte Freisprechungsfreudigkeit der Schwurgerichte in einem differenzierten Licht erscheinen. Den Berichten der Schwurgerichtsvorsitzenden zufolge bürgerte sich schon bald folgende Praxis ein: 46 Bek. v. 20. 4. 1879, in: JMBl, S. 134 ff. Schwurgerichtssitze waren: München I, Straubing, Bayreuth, Würzburg, Amberg, Nürnberg, Augsburg und Zweibrücken; die Schwurgerichte in Augsburg und Zweibrücken waren für den gesamten OLG-Bezirk zuständig; als Einzelstudie liegt jetzt vor: H. Paulus, Der Oberfränkische Schwurgerichtshof, Bayreuth 2004. 47 Bek. v. 6. 8. 1879, in: JMBl, S. 354 ff. Die dreiwöchige Höchstdauer war bereits von Justizminister Mulzer eingeführt worden (Entschl. v. 9. 11. 1862, in: JMBl 1863, Erg.heft S. 57). 48 Frequenz und Länge der Sitzungsperioden: München I: 1879 / 80: 5 zu 30 / 36 / 21 / 20 / 27 Tagen; 1881: 4 zu 19 / 33 / 31 / 15 Tagen; 1882: 4 zu 20 / 17 / 18 / 34 Tagen; Straubing: 1879 / 80: 5 zu 9 / 22 / 23 / 26 / 21 Tagen; 1881: 4 zu 25 / 25 / 26 / 18 Tagen; 1882: 4 zu 18 / 25 / 27 / 16 Tagen. Auch bei den übrigen bayerischen Schwurgerichten dauerte die Sitzungsperiode durchschnittlich 15 – 20 Tage; eine Ausnahme bildete Zweibrücken, wo der Durchschnitt bei 9 Tagen lag (Angaben nach: HStA, MJu 14228). 49 Verh. d. Landrats von Oberbayern für 1883, Antrag v. 17. 11. 1882; Verh. d. Landrats von Niederbayern für 1883, Beschluß v. 18. 11. 1882; Abschiede in: GVBl 1883, Nr. 18 v. 27. 3. 1883 und Nr. 20 v. 31. 3. 1883 (HStA, MJu 14228). 50 Angaben in: HStA, MJu 14228. 51 Vgl. Orterer (Referent des Finanzausschusses), Verh. KdA 1891 / 92, 19. 2. 1892, S. 416 f.; Bek. v. 8. 1. 1901, in: JMBl, S. 43 ff.
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Sobald der Termin der Sitzungsperiode feststand (spätestens vierzehn Tage vor Verhandlungsbeginn), fertigten die Staatsanwälte noch rasch die Anklageschriften für die laufenden Sachen aus, denen die Strafkammern als beschließende Gerichte – ebenfalls aus Gründen des Zeitdrucks – ohne genauere Prüfung zustimmten. Die Folge waren schlecht vorbereitete Anklagen, obwohl die bei Schwurgerichtssachen obligatorische Voruntersuchung eine substantielle Prüfung der Beweislage an sich erforderlich gemacht hätte. Freisprüche in der Hauptverhandlung waren somit vorprogrammiert, und nicht selten zog der Staatsanwalt die Anklage zurück. Über Jahrzehnte hinweg versuchten die bayerischen Justizminister dem Mißstand entgegenzuwirken, stets ohne durchschlagenden Erfolg52. Auch die erwähnte Vermehrung der Sitzungsperioden im Jahre 1901 sollte nicht zuletzt einer sorgfältigeren Bearbeitung der Sachen dienen. Mithin beruhte die überdurchschnittlich hohe Freisprechungsquote der Schwurgerichte auf dreierlei Ursachen: dem Skrupel vieler Laienrichter, die Verantwortung für harte Strafen zu übernehmen, den Schwierigkeiten des Schuldbeweises bei einer Reihe von Delikten und schließlich der fehlenden Ständigkeit der Gerichtsform. Erstaunlicherweise tat die enorme zeitliche und finanzielle Belastung für die Bevölkerung der Popularität des Instituts in Bayern keinen nennenswerten Abbruch. Daß die Begeisterung auch hier nicht ungeteilt war, läßt sich aus den Memoiren des späteren Reichsgerichtsrats und Oberreichsanwalts Ludwig Ebermayer ersehen. Zunächst beschreibt Ebermayer, wohlgemerkt kein prinzipieller Gegner des Laienrichtertums, das unterschiedliche Verhalten ländlicher und städtischer Geschworener, eine Skizzierung, die in hohem Maße verallgemeinerungsfähig sein dürfte. Erstere seien – abgesehen von typisch ruralen Delikten wie Brandstiftung – vernünftiger Belehrung durchaus zugänglich gewesen und hätten mit ihrem gesunden Menschenverstand meist das Richtige getroffen; letztere hätten dagegen, im Glauben an die eigene Unfehlbarkeit, die „tollsten Sachen“ gemacht. Ebermayers Fazit – geschrieben nach Umwandlung der Jury in große Schöffengerichte (1924) – ist ganz an der Praxis orientiert: „Nach den Erfahrungen aber, die ich an den verschiedenen Schwurgerichten machte, habe ich nie begriffen, wie Richter und Staatsanwälte, die das alte Schwurgericht kannten, sich dafür begeistern und ihm den Vorzug vor dem neuen geben konnten. Es liegt mir dabei vollkommen fern, besondere Vorwürfe gegen die Geschworenen früherer Ordnung zu erheben. Man mutete ihnen eben vielfach Dinge zu, die sie beim besten Willen nicht leisten 52 Bek. v. 26. 4. 1881 (JMBl, S. 187); Fäustle an OStA Bamberg, 12. 11. 1884; Leonrod an OStA München, 14. 2. 1888; Entschl. v. 19. 2. 1890 und 15. 11. 1895; Leonrod an OStA München, 19. 12. 1899; Entschl. v. 5. 6. 1906 (alle in: HStA, MJu 14228). In der Entschließung v. 19. 2. 1890 macht Leonrod auf Weiterungen aufmerksam: „Zweifelhafte Fälle dieser Art brächten aber noch den weiteren Nachteil, daß das Mißtrauen der Geschworenen gegen die Anklage und deren Vertreter geweckt und nunmehr auch auf solche Fälle übertragen werde, welche an und für sich keinen Grund zu zweifeln abgeben“. Aus einer Aktennotiz Miltners, die der letztgenannten Entschließung beigefügt ist, geht hervor, daß bereits die StPO v. 10. 11. 1848 eine „überstürzte Sachbehandlung“ der Schwurgerichtsfälle zur Folge hatte. Das Problem besaß in Bayern also Tradition.
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konnten. Sie sahen sich, in ihrem Beratungszimmer allein gelassen, vielfach Fragebogen gegenüber, die dreißig bis vierzig Hauptfragen, Hilfsfragen und Nebenfragen enthielten, und waren häufig völlig ratlos. Wie oft haben einsichtige Geschworene mir das versichert. Konnte man sich wundern, wenn die seltsamsten Fehlsprüche herauskamen, ganz abgesehen von der ja bei dem Laienrichter ohnehin häufig beobachteten Neigung, weniger nach Kopf und Gesetz als nach Gefühl und Ermessen zu urteilen“53. Trotz des unbestreitbaren Popularitätsverlustes der Jury verfolgten die Linksliberalen ihr Lieblingsprojekt, die Übertragung der politischen und Pressedelikte an die Schwurgerichte, unverdrossen weiter. Ein erster Antrag kam 1884 im Reichstag nicht zur Beratung, ein zweiter, 1887 eingebrachter Entwurf fand zwar die Unterstützung von Zentrum und polnischer Fraktion, wurde wegen der Aussichtslosigkeit, von der Kartellmehrheit angenommen zu werden, schließlich aber zurückgezogen54. In der Debatte verwies der Antragsteller Munckel auf die grassierende Anwendung des „groben Unfugs“ (StGB § 361 Nr. 12) auf Presseerzeugnisse und rief erneut die Vorgänge um Twesten in Erinnerung. Windthorst kritisierte die handwerksartige Aburteilung in den Strafkammern, die Rechtsprechung in Pressesachen sowie den hohen Anteil „staatsanwaltschaftlichen Bluts“ in der Besetzung der Gerichte. 4. Berufungsfrage, Staatsanwaltskritik und Schwurgerichtstopos verwiesen auf ein und dasselbe Grundproblem: den mangelnden Rechtsschutz des neuen Verfahrens. Systematisch behandelt wurde das Thema in einem Werk von Leonard Jacobi, in dem sich zugleich ein umfassendes Programm für den Umbau der Strafgerichtsverfassung und des Strafprozesses findet55. Jacobis Forderungen lauteten: 1. Abschaffung des Schwurgerichts, das nur „unkontrollierbare Gottesurteile“ liefere 2. Einführung großer, mittlerer und kleiner Schöffengerichte mit gemeinsamer Verantwortung für das gesamte Urteil 3. Einstimmigkeit bei Verurteilung und Strafzumessung 4. Ersetzung des Staatsanwalts durch einen öffentlichen und unabhängigen Kläger 53 Vgl. L. Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht, Leipzig 1930, S. 40 – 43. Ebermayers Erfahrungen mit dem Schwurgericht beruhten auf seiner Zeit als Staatsanwalt am LG Straubing (1884) und LG Bayreuth (1889 bis 1894). 54 Antrag Phillips / Lenzmann, Sten. Ber. RT 1884 / 85, Drks. Nr. 78; Antrag Munckel, ebd. 1887 / 88, Drks. Nr. 16 sowie ebd., 7. 12. 1887, S. 143 – 152 (1. Beratung) und 29. 2. 1888, S. 1165 – 1173 (2. Beratung). 55 Leonard Jacobi, Der Rechtsschutz im Deutschen Strafverfahren, Berlin 1883. Leonard Simon Jacobi (1832 – 1900), 1859 in Berlin habilitiert, praktizierte seit 1862 als Rechtsanwalt, zunächst im Thüringischen, seit 1874 in Berlin. Schriftstellerisch auf verschiedenen Feldern tätig, lehrte er seit 1883 als Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität, wo er 1893 schließlich zum Professor ernannt wurde.
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5. allgemeine subsidiäre Privatklage 6. Gleichstellung von Anklage und Verteidigung in allen Prozeßstadien; Hauptverhandlung in Form des Parteiprozesses; obligatorisches Kreuzverhör 7. unparteiische Stellung des Untersuchungsrichters und des Vorsitzenden 8. möglichste Beschränkung der Untersuchungshaft 9. Öffentlichkeit der Voruntersuchung 10. Berufung und Revision gegen alle Endurteile 11. staatliche Entschädigungspflicht56. Jacobis Modell ist, wie unschwer zu erkennen, am angloamerikanischen Parteiprozeß orientiert. Im „fair trial“ sah er die dem Rechtsstaat adäquate Form des Verfahrens, da dieser dem einzelnen ein Höchstmaß an Rechtsschutz gewähre. Implizit waren seine Forderungen hochgradig politisch: Der skizzierte Prozeß setzte eine demokratisch-individualistische Staats- und Gesellschaftsstruktur voraus, von der sich die Verhältnisse im Reich doch in mancher Hinsicht unterschieden. Unabhängig davon darf Jacobi als früher Vorläufer des Programms einer umfassenden Justizreform gelten, das zwanzig Jahre später, verbunden mit dem Namen des Frankfurter Oberbürgermeisters Adickes, für beträchtliches Aufsehen sorgen sollte. Derselben Wurzel verdankte der „Verein für Rechtsschutz und Justizreform“, der im September 1882 in der Reichshauptstadt gegründet wurde, seine Entstehung. Die Initiative ging aus von Gustav Kauffmann, Rechtsanwalt in Berlin und später (1890 – 1902) Abgeordneter der Freisinnigen Volkspartei im Reichstag, der auch den Vorsitz des neuen Vereins übernahm. Weitere Gründungsmitglieder waren die Schriftsteller Hermann Trescher und Richard Reuter. Den unmittelbaren Anstoß gaben eine Reihe von Gerichtsurteilen, in denen schutzpolizeiliche Übergriffe mit erstaunlich geringen Strafen bedacht worden waren. Organisatorisch mit dem „Berliner Tageblatt“ verbunden, zählte der Verein bereits nach einigen Monaten über 600 Mitglieder57. Seit Juli 1883 bestand eine wöchentliche Korrespondenz, die an fortschrittliche Zeitungen versandt wurde. So druckte der „Beobachter“, das Zentralorgan der schwäbischen Demokratie, jede Woche mehrere Artikel aus dem „Rechtsstaat“ ab58. Der Verein verfolgte praktische, publizistische und politische Zwecke. Er wollte Rechtshilfe leisten, die öffentliche Aufmerksamkeit noch stärker auf Mißstände in Vgl. ebd., S. 97 – 124 (Zitat S. 98). Vgl. Hermann Trescher, Das Rechtsbewußtsein des Volkes und die Reichsjustiz, in: Die Gartenlaube 1883, S. 163 – 167. Als eines zivilisierten Staates unwürdig und unverzeihlichen Angriff auf die staatliche Autorität prangerten die bismarcktreuen „Grenzboten“ die Vorgänge schärfstens an: Anon., Rechtsschutz und Rechtssicherheit im Reiche, in: Grenzboten 42 / 3 (1883), S. 173 – 180. 58 Der genaue Titel lautete: „Der Rechtsstaat. Correspondenzblatt zur Aufklärung der Mängel der deutschen Rechtspflege“. 56 57
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Judikatur und Gesetzgebung lenken, auf die legislativen Faktoren Einfluß nehmen und die Rechtskenntnisse der Bevölkerung heben59. Die Reformvorhaben waren weitgespannt: Im Zivilrecht hielt man die Senkung der Gerichts- und Anwaltskosten, die Beseitigung des Anwaltszwanges und Änderungen im Verfahren der Zwangsvollstreckung für dringend geboten. Auf strafrechtlichem Gebiet unterstützte man die gängigen Forderungen nach Berufung und Entschädigung. Längerfristig wurde angestrebt, die Strafkammern um das Laienelement zu ergänzen, das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft und den Zeugniszwang abzuschaffen, die politische Kompetenz der Schwurgerichte wiederherzustellen, die Militärgerichtsbarkeit und den Kompetenzkonflikt zu liberalisieren. Als Leitmotiv galt, daß „künftig die Entwicklung unserer Gesetzgebung mit dem öffentlichen Rechtsbewußtsein Hand in Hand gehen“ sollte60. Im ganzen handelte es sich um ein dezidiert liberaldemokratisches Justizprogramm. Trotz anfänglicher Erfolge kam die Vereinstätigkeit nach einiger Zeit zum Erliegen. Hierbei mag politische Resignation eine Rolle gespielt haben. Vielleicht hatten aber auch die „Grenzboten“ recht, die argwöhnten, der Verein diene lediglich als Sprungbrett für dessen Vorsitzenden, um in den Reichstag einzuziehen, was Kauffmann dann ja auch gelang.
b) Die Strafprozeßnovelle von 1885 Angestoßen durch die Agitation in Presse und Reichstag, richtete das Reichsjustizamt Anfang 1884 ein Rundschreiben an die Justizministerien der Länder, in dem es sich nach der Haltung zur Berufungsfrage im Lichte der mehr als vierjährigen Geltung der Strafprozeßordnung erkundigte. Offenkundig waren die in der Öffentlichkeit erhobenen Forderungen für Staatssekretär Schelling, der die Berufung aus politischen Gründen befürwortete, ein willkommener Anlaß, die Frage auf die Tagesordnung zu setzen61. Mit Ausnahme von Hessen lehnten alle Mittelstaaten eine Wiedereinführung der Appellation ab62. Der preußische Justizminister 59 Im Gründungsaufruf vom 11. 9. 1882 hieß es: „In weitesten Kreisen unseres Vaterlandes haben vielfache Mängel unserer Rechtspflege eine Mißstimmung erzeugt, die durch Zerstörung des Gefühls der Rechtssicherheit das Gemeinwohl schwer zu schädigen droht. Angesichts dieser Gefahr hat sich hierorts ein Verein für Rechtsschutz und Justizreform gebildet, der es sich zur Aufgabe macht, Rechtsverletzungen auf dem Gebiete der Zivil- und Strafrechtspflege, soweit sie das öffentliche Interesse berühren, zu bekämpfen und die auf diesem Gebiete hervortretenden Mängel aufzudecken und auf deren Beseitigung hinzuwirken. Diesen Zweck will der Verein durch Erörterungen in öffentlichen Versammlungen, durch tatkräftiges Einschreiten in einzelnen Fällen erreichen“ („Beobachter“ v. 19. 9. 1882). 60 Vgl. Trescher, S. 167. 61 Rundschreiben Schellings v. 25. 1. 1884, in: BA, R 3001, Nr. 5285, Bl. 31. Ludwig Hermann v. Schelling (1824 – 1908), Sohn des berühmten Philosophen, fungierte, nach diversen Tätigkeiten im preußischen Justizdienst (Richter, Staatsanwalt, Administration), von 1879 bis 1889 als Staatssekretär des Reichsjustizamts. Anschließend war er preußischer Justizminister (31. 1. 1889 bis 14. 11. 1894). 62 Die Antworten sind gesammelt in: BA, R 3001, Nr. 5292 (ohne Blattzählung).
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hatte die Aufforderung an die Behördenchefs weitergeleitet, mit dem Ergebnis, daß sich alle OLG-Präsidenten (bis auf Naumburg) und alle Oberstaatsanwälte (bis auf Köln) gegen die Berufung erklärten. Auch Friedberg selbst konnte, zumindest für den gegenwärtigen Moment, kein Bedürfnis nach einer Änderung der gesetzlichen Lage erkennen63. Desgleichen hatten sich in Bayern die größeren Landgerichte, das unter den Obergerichten allein für Strafsachen zuständige OLG München sowie die Oberstaatsanwälte in München und der Pfalz gegen das Rechtsmittel ausgesprochen64. Der bayerische Bericht zeichnet ein völlig makelloses Bild vom berufungslosen Verfahren, was insofern skeptisch stimmen muß, als das Land bis 1879 ja eine zweite Tatsacheninstanz besaß. Auch hier dürfte ein Fall von Anpassung an die ministerielle Auffassung vorliegen, zumal Fäustle mittlerweile dezidiert gegen die Berufung Stellung bezogen hatte. Im übrigen war die Haltung der Gerichte vorhersehbar: Die wenigsten Richter sahen es gern, daß ihre Urteile der Kontrolle durch eine übergeordnete Instanz unterlagen, und ebensowenig konnte man erwarten, daß Zweifel an der Solidität der eigenen Praxis amtlich eingestanden wurden. Ganz anders der von Justizminister Abeken verfaßte sächsische Bericht, der sich bezeichnenderweise nicht auf die Meinung der Gerichte stützte. Die Erwartung, so Abeken, der Wegfall der Kontrollinstanz werde bei den Richtern zu einem höheren Verantwortungsbewußtsein und größerer Sorgfalt in der Urteilsbildung führen, habe sich keineswegs immer erfüllt. Nicht selten sei geradewegs das Gegenteil der Fall: Verstärkt werde das – ohnehin ausgeprägte – Gefühl eigener Unfehlbarkeit und infolgedessen die Subjektivität des Urteilens: „Bei starkem Selbstvertrauen und bei einem Temperament, welches die Leichtigkeit im Gewinnen einer persönlichen Überzeugung begünstigt, ist das uneingeschränkte Recht zu unkontrollierbarer Entscheidung das Gefühl der Pflicht strenger Selbstkontrolle, welche eine Rücksichtnahme auf die mögliche Kritik der zweiten Instanz nicht hätte verloren gehen lassen, abzuschwächen geeignet. Die unentbehrliche Fiktion der Unfehlbarkeit des Richterspruchs, den man gelten lassen muß, verleitet zu dem (unbewußt bleibenden) Gefühl einer persönlichen Unfehlbarkeit des Richters bei Ausübung des Richteramts. [ . . . ] Der eigene Glaube des Richters an das, was er in Ausübung des Richteramts tut, ist mitunter die Geneigtheit zu beeinträchtigen geeignet, auch das bescheidene non liquet gelten zu lassen. [ . . . ] Verurteilungen lassen sich nachweisen, die in Fällen erfolgt sind, in denen man bei vorsichtiger Beurteilung des Sachverhaltes außeramtlich kaum eine Beschuldigung auszusprechen gewagt haben würde“65. Abhilfe verspricht sich Abeken allerdings nicht von der Berufung, sondern von erhöhten Garantien des erstinstanzlichen Urteils. Er schlägt vor, den Berichterstatter des verweisenden Gerichts zur Hauptverhandlung zuzulassen, die Entscheidungsgründe sorgfältiger auszuarbeiten, die Selbstverwaltung der Gerichte 63 64 65
Friedberg an Schelling, 7. 3. 1884, in: ebd. Bericht von Crailsheim, 21. 3. 1884, in: ebd. Bericht von Abeken, 6. 2. 1884, in: ebd.
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rückgängig zu machen und die Strafkammern zu entlasten. Abekens Vorstellungen sollten im weiteren Entscheidungsprozeß erhebliche Bedeutung erlangen. Obwohl die Reaktion der Länder alles andere als ermutigend ausfiel, verfolgte Schelling das Projekt weiter. In enger Absprache mit Friedberg erklärte er in der Kommission des Reichstags die Bereitschaft der verbündeten Regierungen, die Frage einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen, falls das Parlament zu der Ansicht gelänge, daß der Ausschluß der Berufung „eine Verkürzung des Rechtsschutzes in sich schließe“. Dabei vergaß er nicht zu unterstreichen, daß das Rechtsmittel im Falle einer Einigung selbstverständlich auch dem Staatsanwalt zustehen müsse66. Die Bemühungen des Staatssekretärs wären wohl im Sande verlaufen, hätte sich nicht Bismarck in die Diskussion eingeschaltet. In einem Schreiben an Schelling vom August 1884 regte er durchgreifende Reformen im Zivil- und im Strafverfahren an, wobei er sich auf die gravierendsten Mißstände konzentrierte67. Bereits an dieser Stelle sei angemerkt, daß sich Bismarcks Intervention durch große Souveränität, profunde Sachkenntnis und zielstrebiges Handeln auszeichnete, mithin genau jene Attribute, die auch seinen Gegnern immer wieder Respekt abnötigten. Hinsichtlich des Strafverfahrens war Bismarcks Motiv ein doppeltes. Bei der Einführung der Berufung ging es ihm weniger um den Rechtsschutz des Angeklagten als vielmehr um die Wiedererlangung des gouvernementalen Einflusses auf die Jurisdiktion oder, wenn man so will, die Wiederherstellung der „staatsanwaltschaftlichen Prägung der Strafjustiz“: „Im Strafverfahren ist in den wichtigeren Fällen bei dem Mangel einer geordneten Berufung die Stellung des Richters eine völlig souveräne und unkontrollierbare; gegen bedenkliche Freisprechungen und allzu milde Strafen der Gerichte ist jede Remedur ausgeschlossen und die Einwirkung der Staatsanwaltschaft auf die Rechtsprechung nicht mehr von der früheren Bedeutung“. In dieser Richtung bewegte sich Bismarcks Vorstoß somit im Rahmen seiner oben dargelegten Auffassung von der höheren, gleichsam staatsphilosophisch begründeten Aufgabe der öffentlichen Strafgewalt. Ein weiteres Motiv, dem der Kanzler vielleicht sogar noch größere Bedeutung beimaß, zeigte sich in seiner Beurteilung der Justizgesetze nach der ökonomisch-sozialpolitischen Seite hin: „Vom wirtschaftlichen Standpunkte möchte ich es als einen besonderen Nachteil der neuen Gesetze bezeichnen, daß sie die Tätigkeit des einzelnen Bürgers zu sehr in Anspruch nehmen und ihn über Gebühr seinem eigentlichen Berufe entziehen“ 68. Zum Beleg verwies Bismarck auf das unbeschränkte Zeugenladungsrecht des Angeklagten, die überflüssige Laienbeteiligung bei geringfügigen Sachen, das aufwendige Verfahren zur Bildung der Urliste für Schöffen und Geschworene, die um66 Erklärung Schellings in der XII. Kommission, 11. 6. 1884, Sten. Ber. RT 1884 / 85, Drks. Nr. 149, Anl.; die Kommission beriet die auf Einführung der Berufung lautenden Anträge von Munckel / Lenzmann und Reichensperger (ebd., Drks. Nrn. 27 und 29). 67 Bismarck an Schelling, 17. 8. 1884, in: BA, R 3001, Nr. 5285, Bl. 52 f. Zu den parallelen Vorarbeiten für eine Reform des Zivilprozesses s. unten Kap. I / 2a. 68 Zitate Bismarck an Schelling, 17. 8. 1884, Bl. 52.
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fangreiche Spruchliste für die Geschworenenbank sowie das ausgedehnte Rekusationsrecht69. Schellings Antwortschreiben macht deutlich, daß sich seine Auffassung von der Funktion der Strafjustiz mit derjenigen Bismarcks weitestgehend deckte. Nachdem er darauf aufmerksam gemacht hatte, daß die Berufung bei Richtern und Mittelstaaten auf wenig Gegenliebe stoße, heißt es: „Ich bin jedoch, wie ich Eurer Durchlaucht bereits mündlich vorzutragen die Ehre hatte, der Ansicht, daß die Staatsregierung ihren legitimen Einfluß auf die Strafrechtspflege ohne ein System vollständiger, auch der Staatsanwaltschaft geöffneter Rechtsmittel nicht zu behaupten vermag, und möchte daher glauben, daß eine auf die allgemeine Wiedereinführung der Berufung gerichtete Reform auch auf die Gefahr eines zunächst eintretenden Mißerfolges zu erstreben sei“70. Allerdings wäre es erforderlich, die Vermehrung der Richterkräfte in der höheren Instanz durch eine Verminderung in der unteren auszugleichen. Um die übermäßige Beanspruchung der Laien abzumildern, schlug Schelling vor, die Schwurgerichte in Schöffengerichte umzuwandeln und die Laienbeteiligung bei den Vergehen unterster Ordnung zu beseitigen. Die Abschaffung der Jury hielt er mittlerweile für durchaus möglich: „Die Schwurgerichte haben die Sympathien des großen Publikums, wenn ich mich nicht täusche, mehr und mehr eingebüßt. Sie werden kaum noch wegen ihres sachlichen Nutzens, sondern fast nur noch von denjenigen geschätzt, welche in ihnen ein Bollwerk der politischen Freiheit erblicken. Der von dieser Seite zu erwartende Widerstand dürfte aber nicht mehr so stark sein wie in früheren Jahren, da die Kompetenz für politische und Preßvergehen den Geschworenen (außerhalb Bayerns) genommen ist“71. Schellings Lagebeurteilung beruhte zwar auf einem wahren Kern, fiel in ihren Schlußfolgerungen aber reichlich optimistisch aus. Daraufhin wies Bismarck seinen Staatssekretär an, konkrete Vorschläge zur Abänderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und beider Prozeßordnungen auszuarbeiten, wobei er ihm für eigene Wünsche ausdrücklich freie Hand ließ72. Um eine etwaige Vermehrung der Richterstellen zu vermeiden und mit Blick auf die Größe der Gerichtssprengel empfahl der Kanzler, die Berufungsinstanz bei den 69 In einer Ende 1884 an Bismarck gesandten Petition hatten Geschworene aus Ulm darum gebeten, die Geschworenenbank für alle Sachen bereits zu Beginn der Sitzungsperiode zu bilden und dem Schwurgericht einzelne Delikte abzunehmen, insbesondere Fälle von untergeordneter Bedeutung, deren Behandlung „das Ansehen dieses Instituts vor dem Volk beeinträchtigt“, sowie Beamtenvergehen (nach: BA, R 3001, Nr. 5309, Bl. 4). 70 Schelling an Bismarck, 25. 8. 1884, in: BA, R 3001, Nr. 5285, Bl. 54 ff., Zitat Bl. 54 f. 71 Ebd., Bl. 55 f. 72 Bismarck an Schelling, 8. 9. 1884, in: BA, R 3001, Nr. 5285, Bl. 63. Weitere änderungsbedürftige Bestimmungen würden sich, so der Kanzler, insbesondere „auf dem Gebiete der Strafprozeßordnung auffinden lassen, wo die Repression nicht mit der erforderlichen Schnelligkeit und Sicherheit zu erfolgen scheint. Es wird namentlich eine Beseitigung derjenigen für den Angeklagten aufgestellten Kautelen zu erstreben sein, welche einerseits Verschleppung und Verdunkelung ermöglichen, andererseits die Tätigkeit der Polizeiorgane und der Staatsanwaltschaft lähmen“.
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Landgerichten zu installieren. Die von Schelling Ende September vorgelegten „Grundzüge“ eines Gesetzentwurfs umfaßten folgende strafprozessuale Kernpunkte: Einführung von Berufungskammern bei den Landgerichten (5 Richter); Verkleinerung der Strafkammern (3 Richter); Zulassung des Berichterstatters zur Hauptverhandlung; Aufhebung der gerichtlichen Selbstverwaltung; Einschränkung der Beweisaufnahme, der Eidesleistung und des Wiederaufnahmeverfahrens; Erweiterung des Kontumazialverfahrens; ausführlichere Protokollierung in der Hauptverhandlung; Verlängerung der Untersuchungshaft im Ermittlungsverfahren73. Was den letztgenannten Punkt betrifft, so klagten die Staatsanwälte unisono darüber, daß die vorgeschriebenen Fristen für die Untersuchungshaft im Skrutinalverfahren – zwei Wochen bei Übertretungen, vier Wochen bei Vergehen und Verbrechen – vielfach zu kurz bemessen seien, um den Tatbestand hinreichend aufklären und öffentliche Klage erheben zu können. Häufig müsse die Sache, obwohl kurz vor dem Abschluß stehend, an den Untersuchungsrichter abgegeben werden. Dadurch werde die Haftdauer – entgegen den Absichten des Gesetzgebers – verlängert und nicht verkürzt. Zudem würden die neuen Bestimmungen einem öden Formalismus Vorschub leisten. Der Kölner Staatsanwalt Peterson hatte 1882 geschrieben: „Auf das nachdrücklichste ist aber zu betonen, daß die Fälle, in denen die Dauer der Untersuchungshaft in gar keinem Verhältnis zu der Straftat selbst steht und in denen die lange Freiheitsentziehung durch eine spätere Freisprechung den Charakter der gesetzlichen Grausamkeit erhält, noch viel zu häufig das Gerechtigkeitsgefühl des Publikums verletzt und den Betroffenen selbst auf das härteste geschädigt haben“74. An der Schellingschen Vorschlagsliste fällt auf, daß Bismarcks zweites Anliegen, die Entlastung der Laien, stillschweigend unter den Tisch gefallen war. Namentlich das Schwurgericht tastete Schelling – im Gegensatz zu seinen früheren vollmundigen Bemerkungen – nicht an. Man darf vermuten, daß sich Bismarck in seinem Argwohn bestärkt fühlte, seine aus gesamtpolitischer Verantwortung erwachsende Initiative könnte ins Leere laufen, sobald sich die Fachjuristen ihrer annehmen würden. Dies mag sein Bemühen erklären, Herr des weiteren Verfahrens zu bleiben. Ausgestattet mit der kaiserlichen Autorisierung zur Revision beider Verfahrensordnungen, setzte er gegen Ende des Jahres den preußischen Justizminister und die Bundesregierungen persönlich über die beabsichtigten Änderungen in Kenntnis. Friedberg gegenüber offenbarte er auch das engere politische Motiv für sein Vorgehen: Die Gegner der Regierung hätten den Anlaß bereits genutzt, „gegen zweifellose Übelstände auf dem Gebiete unserer Justizgesetzgebung demonstrativ aufzutreten, um sich das Verdienst der Initiative beizulegen und aus 73 Schelling an Bismarck, 28. 9. 1884, in: BA, R 3001, Nr. 5285, Bl. 66 ff.; zur Diskussion um das Eidesproblem umfassend: Th. Vormbaum, Eid, Meineid und Falschaussage, Berlin 1990. 74 Peterson, Die gesetzlichen Präklusivfristen der Haft im Vorermittlungsverfahren, in: GA 30 (1882), S. 322 – 339, hier S. 339.
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der Verstimmung im Volke über einzelne Einrichtungen Kapital für Parteiinteressen zu schlagen“75. In strafprozessualer Hinsicht hielt Bismarck es für ratsam, die Reform auf die Berufung und die „Belästigung des Publikums“ im schwurgerichtlichen Verfahren zu beschränken. Im einzelnen griff er auf die Schellingschen Punkte zurück, klammerte mit der Frage der gerichtlichen Selbstverwaltung und der erweiterten Untersuchungshaft aber zwei politisch überaus heikle Aspekte aus, um die Erfolgsaussichten des Projekts nicht von vornherein zunichte zu machen. Dafür unterbreitete Bismarck einen Vorschlag, der für seine durch und durch pragmatische Denkweise typisch war, bei vielen Juristen aber Verblüffung und Kopfschütteln ausgelöst haben dürfte. Er regte an, die Zahl der Urteilsgeschworenen auf sechs oder sieben herabzusetzen und das Rekusationsrecht auf diejenigen Gründe zu beschränken, die das Gesetz für die Ablehnung eines Richters vorschrieb – eine Lösung, die die Hilfsgeschworenen größtenteils entbehrlich gemacht hätte. Friedbergs ausführliches Antwortschreiben begann mit einer Situationsanalyse der preußischen Justiz nach Inkrafttreten der Reichsjustizreform. Bereits nach wenigen Jahren habe er die Überzeugung gewonnen, daß „die Reichsjustizgesetzgebung des Jahres 1879 uns Preußen vieles genommen, was wir bis dahin Besseres besessen hatten, und daß der Gewinn der Rechtseinheit auf diesen Gebieten durch Neuerungen erkauft worden sei, welche den hergebrachten Rechtsanschauungen und Rechtsgewohnheiten in unserem Lande, nicht minder bei Laien wie bei den Juristen, vielfach zuwider laufen, ja nicht selten geradezu als eine Verschlechterung gegen den früheren Zustand empfunden und bedauert werden“76. Den Zeitpunkt für eine Revision halte er indes noch nicht für gekommen, zumal nach der großen Umgestaltung zunächst einmal „Ruhe in der Gesetzgebung“ geboten sei77. Trotz seiner Versicherung, die Initiative des Kanzlers nach besten Kräften zu unterstützen, machte Friedberg aus seinen Vorbehalten gegen eine übereilte Reform mithin keinen Hehl. Vorrangig sei, so der Justizminister, eine Revision des Strafprozesses, wobei er sich mit den Vorschlägen Bismarcks durchweg einverstanden erklärte. Auch der Berufung stimmte er unter dem Vorbehalt zu, daß das Verfahren zweiter Instanz ebenfalls uneingeschränkt auf dem Grundsatz der Mündlichkeit beruhe. Hierbei handelte es sich nicht, wie man mit Blick auf seine zu Beginn des Jahres dargelegte Auffassung meinen könnte, um einen Meinungsumschwung, sondern lediglich um eine Konzession an den Kanzler – persönlich stand Friedberg der Berufung, wie sich auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren zeigen sollte, weiterhin ablehnend gegenüber. Hinsichtlich der Besetzung der Laienbank plädierte er für sechs Geschworene, auch wenn „die Zahl zwölf gewissermaßen als 75 Bismarck an Friedberg, 14. 12. 1884, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8332, Bl. 31 ff., Zitat Bl. 35; Werthern an Crailsheim, 18. 12. 1884, in: HStA, MJu 13132. 76 Friedberg an Bismarck, 29. 12. 1884, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8332, Bl. 37 ff., Zitat Bl. 38 f. 77 Ebd., Bl. 40; vgl. Bericht über den Stand der Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1882, S. 31 f.
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eine sakramentale gilt“78. Nicht zustimmen konnte er einer Beschränkung des Ablehnungsrechts, da der mit den örtlichen Verhältnissen vertraute Staatsanwalt dadurch der Möglichkeit beraubt werde, Geschworene auszuschließen, bei denen mit einem Freispruch zu rechnen sei. Friedbergs eigene Vorschläge betrafen Änderungen im Verfahren der Eidesabnahme, die Verlängerung der Untersuchungshaft im Ermittlungsverfahren und die Erweiterung der Zuständigkeit des Schöffengerichts. Daraufhin wurden im preußischen Justizministerium zwei separate Gesetzentwürfe ausgearbeitet, die sowohl die Anliegen Bismarcks als auch den größten Teil der ministeriellen Wünsche berücksichtigten. Die erste Vorlage, die im Februar 1885 an den Bundesrat gelangte, sah eine Verringerung der Urteilsgeschworenen auf sechs, der Spruchliste auf dreizehn Personen vor, verzichtete aber auf eine Einschränkung des Rekusationsrechts. Im März folgte ein zweiter Entwurf, der die Berufung sowie alle sonstigen Vorschläge umfaßte, wobei die Landgerichte als Berufungsinstanz fungieren sollten. Von einer Aufhebung der gerichtlichen Selbstverwaltung hatte man klugerweise Abstand genommen79. Die bayerische Regierung lehnte beide Vorlagen mit dem Argument ab, daß eine punktuelle Revision der Justizgesetze nach derart kurzer Geltungsdauer nur bei unbestreitbaren Mißständen angezeigt sei, eine Voraussetzung, die ihrer Ansicht nach nicht zutraf. Allerdings trat auch sie für eine Erleichterung des Geschworenendienstes ein, vorzugsweise durch Einschränkung der schwurgerichtlichen Zuständigkeit80. Auch die übrigen Mitglieder des Justizausschusses waren sich darüber einig, daß der ehrenamtliche Geschworenendienst schwer auf der Bevölkerung laste. Dennoch konnte sich der preußische Antrag in beiden Lesungen nicht durchsetzen81. Gegen eine Verringerung der Urteilsgeschworenen wurde vor allem eingewandt, daß die Gefahr ungerechtfertigter Urteile zunehme. Zudem würde ein Abgehen von der seit altersher mit dem Institut verknüpften Zwölferzahl in der Bevölkerung kein Verständnis finden. Letztlich sahen die Gegner in der Vorlage einen Angriff Friedberg an Bismarck, 29. 12. 1884, Bl. 64. BR, Session 1885, Drks. Nr. 18 v. 2. 2. 1885 und Nr. 45 v. 8. 3. 1885. Auf der Grundlage des Entwurfs Nr. 45 (fünfköpfige Strafberufungskammern, dreiköpfige Strafkammern) sowie der durchschnittlichen preußischen Berufungsquote vor 1879 (11,5 %) errechnete ein im RJA erstelltes Promemoria, daß bei Einführung der Berufung reichsweit etwa ein Viertel der mit Strafsachen erster Instanz beschäftigten Richter oder 4,5 % aller bei den Landgerichten angestellten Richter eingespart werden könnten (BA, R 3001, Nr. 5285, Bl. 139 ff.). 80 Vgl. die Schreiben Fäustles an die Staatsregierung v. 9. 2., 24. 2., 19. 3. und 21. 4. 1885, alle in: HStA, MJu 13132. Auf Antrag der Abgeordneten Tafel, Landauer und Göz forderte die württembergische Abgeordnetenkammer die Staatsregierung am 24. 3. 1885 mit großer Mehrheit auf, sich gegen eine Änderung der Schwurgerichtsverfassung auszusprechen (ebd.). 81 Vgl. die Berichte Kastners und Stengels (bayer. BR-Bevollmächtigte) über die Sitzungen v. 10. 2. und 20. 4. 1885 (ebd.) sowie den Antrag des JA v. 24. 4. 1885 (Drks. Nr. 72). Zu Wilhelm v. Kastner (1824 – 1898; später Staatsrat): Staatsministerium, II, S. 1073 f. 78 79
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auf die Existenz des Volksgerichts als solches. Da das Institut nicht mit einem Schlag beseitigt werden könne, so mutmaßte man, werde zunächst versucht, seine Popularität und Legitimität zu untergraben – Überlegungen, die sich zumindest für Bismarck nicht nachweisen lassen82. Als Alternative verständigte sich die Ausschußmehrheit darauf, die Zuständigkeit des Schwurgerichts zu beschränken und die Spruchliste auf 24 Personen (bisher: 30) zu begrenzen; außerdem sollte die Geschworenenbank für alle Sachen zu Beginn der Sitzungsperiode (anstatt wie bisher separat vor jeder Hauptverhandlung) gebildet werden, um die realen Dienstzeiten für die Einberufenen kalkulierbarer zu machen. Im Plenum erneuerte Preußen seinen Antrag dahingehend, daß die Geschworenenbank auf sieben, die Spruchliste auf 16 Personen herabgesetzt werden sollte83. Bismarck selbst übernahm die Begründung des Antrags. Er sei der eigentliche Urheber des Gedankens, „auf diesem einfachen und nächstliegenden Wege“ eine Entlastung der Bevölkerung herbeizuführen. Jahrelange Beobachtungen hätten ihn zu der Überzeugung geführt, daß die ständig steigenden Anforderungen des neuzeitlichen Staates in bezug auf öffentliche Dienstleistungen für die Bevölkerung, namentlich die ländliche, unerträglich zu werden begännen: „Mit diesen Dienstleistungen, als Geschworene, Schöffen, Gemeindebeamte p. p., hat man eine neue Art von Robot- und Frondiensten eingeführt, welche bei Mangel einer entsprechenden Entschädigung fast noch drückender empfunden werden als die Feudallasten ähnlicher Art, die durch Ablösung beseitigt wurden. In dieser wirtschaftlichen Seite der Sache liegt für mich der erste und wichtigste Grund für die Vorlage. Die juristische Seite steht für mich erst in zweiter Linie“84. Vornehmlich versuchte Bismarck den Einwand zu widerlegen, daß sich die Zahl von sieben Geschworenen negativ auf die Qualität der Urteile auswirke. Dem Ausschußantrag auf Einschränkung der schwurgerichtlichen Zuständigkeit räumte er im Reichstag wenig Chancen ein – eine Einschätzung, die mindestens in gleichem Maße auf seinen eigenen Vorschlag zutraf. In allen übrigen Punkten wolle er sich gern unterwerfen, auch bei der Wiedereinführung der Berufung, die „ohnehin nie mein eigener Gedanke“ war85. Bismarcks warmherziges Plädoyer für die Interessen der, wie er sie nannte, „contribuens misera plebs“ verfehlte seine Wirkung nicht: Gegen das Votum sämtlicher Mittelstaaten wurde der preußische Antrag in zweiter Lesung mit 29:28 Stimmen angenommen86. 82 „Es würde auch meines Erachtens nicht angezeigt erscheinen, das Institut der Schwurgerichte als solches zu beseitigen“ (Bismarck an Friedberg, 14. 12. 1884, Bl. 34). Es bedarf kaum der Erwähnung, daß nicht persönliche Vorlieben, sondern föderale Rücksichten für Bismarck den Ausschlag gaben. 83 BR, Session 1885, Drks. Nr. 73. 84 Aufzeichnung Lerchenfelds über die BR-Sitzung v. 30. 4. 1885 (die Rede Bismarcks nach der stenographischen Mitschrift Stengels), in: HStA, MJu 13132. 85 Ebd. 86 Vgl. BR, Session 1885, Prot. d. 19. Sitzung (5. 5. 1885), § 268; Bericht Stengels über die Sitzung, in: HStA, MJu 13132; Bremen enthielt sich mangels Instruktion der Stimme.
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Weniger Erfolg hatte Preußen in der Berufungsfrage. Der Justizausschuß lehnte die Wiedereinführung in erster Lesung mit 4:3 Stimmen ab, wobei Hessen und Braunschweig den preußischen Antrag unterstützten87. In der zweiten Lesung lautete das Ergebnis 5:2, da nur noch Hessen mit Preußen zusammenging. Zugleich wurden auf sächsischen Antrag hin die Kammerbesetzung und Geschäftsverteilung der Kollegialgerichte wieder auf die Justizverwaltung übertragen (§§ 61 – 63, 65 GVG). Die preußischen Vertreter, denen der Antrag ja auch persönlich entgegenkam, stimmten vor allem in der Hoffnung zu, auf diese Weise Sachsen, das sich in der Berufungsfrage kompromißbereit zeigte, für die eigene Sache gewinnen zu können88. Die Annahme des sächsischen Antrags veränderte die Vorlage substantiell. Zum einen bestand zwischen gerichtlicher Selbstverwaltung und Berufung kein sachlicher Zusammenhang, zum anderen erhielt der Entwurf eine scharfe antiliberale Note, die seine Annahme durch den Reichstag mehr als unwahrscheinlich machte. Vom Ergebnis her betrachtet, markieren die Ausschußbeschlüsse die entscheidende Weichenstellung im Beratungsprozeß und nehmen das Schicksal der Reichstagsvorlage vorweg. Der Dissens in der Berufungsfrage veranlaßte den Ausschuß zu einer doppelten Empfehlung: einen auf Ablehnung der Berufung beruhenden Prinzipalantrag und einen Eventualantrag für den Fall, daß die Berufung im Plenum eine Mehrheit finden sollte. Folgerichtig beantragte Preußen die Annahme des letzteren89. Auch im Plenum der Länderkammer verfiel die Berufung in erster Beratung mit 32:26 Stimmen der Ablehnung. Außer Preußen votierten nur noch Hessen und Braunschweig sowie einige Kleinstaaten für den Eventualantrag. Den Ausschlag gaben die vier Stimmen Sachsens, das als (weitere) Bedingung für eine Unterstützung des preußischen Antrags verlangte, daß die Berufung an die Oberlandesgerichte geleitet werden müsse. Mit der Ablehnung des sächsischen Antrags entschied sich auch die Hauptfrage. Der Vertreter des Großherzogtums Sachsen erklärte, daß seine Regierung die Berufung nicht prinzipiell ablehne, eine Änderung aber nur im Rahmen einer allgemeinen Revision der StPO für zweckmäßig halte; dieser Erklärung traten die übrigen thüringischen Staaten bei. Hugo Graf Lerchenfeld, seit 1880 bayerischer Bundesratsbevollmächtigter und später der Doyen unter den Ländervertretern, maß der Abstimmung große Bedeutung zu. Während seiner Amtszeit sei es zum ersten Mal vorgekommen, daß Preußen in einer wichtigen Angelegenheit seine Auffassung im Plenum nicht habe durchsetzen können. Dies werde „nach außen einen guten Eindruck machen und die Stellung des Bundesrats erhöhen“90. Vgl. den Bericht Kastners über die Sitzung v. 25. 3. 1885, in: HStA, MJu 13132. Vgl. den Bericht Stengels über die Sitzung v. 10. 4. 1885, in: ebd.; Anträge Sachsens zu Drks. Nr. 45 (unnummeriert), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8332, Bl. 104 ff. 89 BR, Session 1885, Drks. Nrn. 62 und 63 (beide v. 15. 4. 1885). 90 Vgl. BR, Session 1885, Prot. d. 17. Sitzung (23. 4. 1885), § 246; Antrag Sachsens, ebd., Drks. Nr. 66, Art. I; Bericht Lerchenfelds über die Sitzung v. 23. 4. 1885, in: HStA, MJu 13132; vgl. auch die undatierte, „Pro nihilia“ überschriebene Aktennotiz, in: BA, R 3001, 87 88
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Im Ergebnis deckte sich die Stimmabgabe der Mittelstaaten vollständig mit den Positionen, die sie ein Jahr zuvor anläßlich des Schellingschen Rundschreibens zu Protokoll gegeben hatten. Für die Mehrzahl der Kleinstaaten dürfte die Überlegung bestimmend gewesen sein, daß die Wiedereinführung der Berufung einen erneuten Umbau ihrer Gerichtsorganisation und damit nicht unbedeutende Mehrkosten zur Folge gehabt hätte91. Die zweite Lesung des Plenums vermochte an der Sachlage nichts mehr zu ändern. Nachdem der sächsische Antrag erneut abgelehnt worden war, verzichtete Preußen auf eine nochmalige Abstimmung. Gegen die Stimmen Bayerns, Lübecks und Hamburgs wurde schließlich der (leicht geänderte) Prinzipalantrag angenommen92. Die Reichstagsvorlage (9. 5. 1885), zu der die beiden Entwürfe zusammengezogen wurden, enthielt – neben zahlreichen Einzelregelungen – folgende Bestimmungen von prinzipieller Bedeutung: Erleichterung des Geschworenendienstes (verminderte Personenzahl, reduzierte Zuständigkeit, verändertes Auswahlverfahren, Bildung der Geschworenenbank zu Beginn jeder Session), Aufhebung der kollegialgerichtlichen Selbstverwaltung, Erweiterung des Kontumazialverfahrens, Erschwerung des Wiederaufnahmeverfahrens, Verlängerung der Fristen für die Untersuchungshaft im Ermittlungsverfahren, Änderungen in der Abnahme des Eides93. Gemessen an den ursprünglichen Intentionen Bismarcks hatte sich der Charakter des Entwurfs im Zuge des Beratungsprozesses grundlegend verändert. Bismarcks klar strukturierter, auf das Wesentliche beschränkter Ansatz beruhte zum einen – auch wenn seine Motivation eine andere war – auf einem Zugeständnis an die öffentliche Meinung (Berufung), zum anderen auf sozialpolitisch-ökonomischen Erwägungen. An diesen Kern lagerten sich in zwei Stufen (ministerielle Vorschläge, Forderungen der Länder) zunehmend fremde Elemente an. Zu guter Letzt wurde dann noch ein Teil des Kerns eliminiert. Ergebnis war eine Vorlage, die – ungeachtet mancher Verbesserungen in verfahrenstechnischen Details – im ganzen einen rückschrittlichen Charakter aufwies. Mehr oder weniger wirkte sie wie der plumpe Versuch, liberale Errungenschaften der Reichsjustizreform zurückzunehNr. 5285, Bl. 186 f. Für den preußischen Antrag stimmten außerdem noch Sachsen-Meiningen, Anhalt, Schwarzburg-Sondershausen und Waldeck. 91 So Lerchenfeld in einem Schreiben an Crailsheim v. 17. 4. 1885, in: HStA, MJu 13132. 92 Vgl. BR, Session 1885, Prot. d. 19. Sitzung (5. 5. 1885), § 267; Bericht Stengels über die Sitzung, in: HStA, MJu 13132. 93 Sten. Ber. RT 1885, Drks. Nr. 399; Bolder, S. 17 ff.; Ormond, S. 137 f. Folgende Delikte sollten künftig von den Strafkammern entschieden werden: Meineid (§§ 153 – 155 StGB), Unzucht (§ 176), Urkundenfälschung (§§ 268, 272, 273), Amtsverbrechen (§§ 349, 351), betrügerischer Bankrott (§§ 209, 212 KO). Bei der Urkundenfälschung traten häufig verwickelte Rechtsfragen, bei den übrigen Delikten komplizierte Tatbestände auf. Die Beurteilung von Sittlichkeitsverbrechen hing stark von populären Anschauungen ab, während Amtsverbrechen einen unmittelbar politischen Bezug besaßen. Um die geeigneteren Personen für den Geschworenendienst zu gewinnen, sah der Entwurf vor, die Auswahl umzukehren: Zunächst sollte das Landgericht die Geschworenen aus der Urliste auswählen, erst danach sollte der Amtsrichter unter den Verbliebenen die Schöffen bestimmen.
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men. Zudem mußte der konzentrische „Angriff“ auf das Schwurgericht den Verdacht erwecken, das Institut solle „auf kaltem Wege“ beseitigt werden. Eine ganz andere Frage ist es, ob eine Vorlage, die näher am ursprünglichen Ansatz geblieben wäre, das Plazet des Reichstags erhalten hätte. Mit den Linksliberalen und dem Zentrum hatten die beiden berufungsfreundlichen Gruppierungen bei der Wahl 1884 die Mehrheit verloren. In der Berufungsfrage hätten sie allerdings mit Stimmen aus dem nationalliberalen Lager rechnen können, die, wie etwa Miquel, nur auf eine Gelegenheit warteten, ihre Entscheidung von 1876 rückgängig zu machen. Die personelle Ausdünnung des Schwurgerichts, die von liberaler Seite sicherlich heftig angefeindet worden wäre, hätte wiederum bei den Konservativen einige Sympathie gefunden. Von daher wäre ein Kompromiß zumindest denkbar gewesen94. Auch über die Auswirkungen einer wiederbelebten Berufung läßt sich nur spekulieren. Sicherlich hätte sie den Strafkammerurteilen ihre das Gerechtigkeitsgefühl verletzende Ausschließlichkeit genommen und damit einen zentralen Kristallisationspunkt der Kritik beseitigt. Andererseits hätte es sich, da die Staatsanwaltschaft ebenfalls in den Besitz des Rechtsmittels gelangt wäre, um ein zweischneidiges Schwert gehandelt. Außerdem ist daran zu erinnern, daß die Berufungsfrage niemals Selbstzweck war. Vieles spricht dafür, daß sich die Öffentlichkeit mit diesem ersten Erfolg nicht zufriedengegeben, sondern sich alsbald dem eigentlichen Gegenstand des Unbehagens, dem berufsrichterlichen Monopol in den Strafkammern, zugewandt hätte. Die allgemeine Vertrauenskrise der Justiz, die sich in den 80er Jahren anbahnte und ein Jahrzehnt später ihren Höhepunkt erreichte, wäre durch Einführung der Berufung wohl nur graduell entschärft worden. Der reale Entwurf war im Reichstag chancenlos. Infolge des Endes der Session kam er zwar nicht mehr zur Beratung, die an die Öffentlichkeit gelangenden Äußerungen verrieten aber Befremden und Mißtrauen95. Wie erwartet fiel auch das Echo in der Presse überwiegend negativ aus. Insbesondere liberale Blätter reagierten empört auf die Verringerung der Geschworenenzahl. Die Rede war von einer „Verkümmerung des Schwurgerichts“, einem „Sturm auf das Schwurgericht“, dem „ersten Schritt“ zu seiner Beseitigung, der Axt, die „an die Wurzel der Institution gelegt“ sei, u. dgl. m.96. Ebenso wies man die, wie es die Gesetzesmotive lakonisch nannten, „anderweite Regelung der Geschäftsbehandlung bei den Kollegialgerichten“ zurück, wobei der Hinweis auf die politischen Implikationen selbstverständlich nicht fehlte97. Allgemein bedauert wurde das Fehlen der Berufung. Auch die fachwissenschaftliche Kritik war sich in der grundsätzlichen Ablehnung einig98. 94 Im 1884 gewählten Reichstag (397 Mandate) waren die größeren Parteien in folgender Stärke vertreten: Zentrum: 99, Linksliberale: zus. 67, Nationalliberale: 51, Freikonservative: 28, Konservative: 78 Mandate. 95 Kern, Gerichtsverfassungsrecht, S. 128. 96 Übersicht über die Pressestimmen in: BA, R 3001, Nr. 5309, Bl. 1 f. 97 Vgl. etwa NZ v. 14. 5. 1885 (nach: ebd., Bl. 7).
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Der offenkundige Mißerfolg veranlaßte Bismarck, seine Bemühungen vorerst einzustellen. Kurz vor Zusammentritt des Reichstags berichtete Lerchenfeld nach München, laut Boetticher, dem Staatssekretär des Innern, habe sich der Kanzler dagegen ausgesprochen, die Justiznovelle (sowie zwei weitere Gesetzentwürfe) erneut einzubringen, und zwar mit dem Argument, „die Bundesregierungen sollten nicht ihrerseits ein Bedürfnis dokumentieren, vielmehr es der Zeit überlassen, das Bedürfnis nach diesen Gesetzen im Schoße der Bevölkerung reifen zu lassen“99. Aus den Worten meint man die Enttäuschung Bismarcks darüber herauszuhören, für seinen Vorstoß nicht die erforderliche Rückendeckung gefunden zu haben. Insofern war es nur folgerichtig, das weitere Vorgehen von der öffentlichen Meinung abhängig zu machen. Nunmehr ging die Initiative wieder auf den Reichstag über. Bereits im November 1885 erneuerte Reichensperger seinen Antrag auf Wiedereinführung der Berufung, der am 15. 3. 1886 in dritter Lesung vom Plenum angenommen wurde100. Am gleichen Tage stimmte der Reichstag Gesetzentwürfen über die staatliche Entschädigungspflicht und die Einschränkung des Wiederaufnahmeverfahrens zu101. Sämtliche Vorlagen leitete der Bundesrat am 25. 3. 1886 an seinen Justizausschuß weiter. Die Frage, wie sich Preußen den Entwürfen gegenüber verhalten sollte, nahm Schelling zum Anlaß, seine ursprünglichen Reformpläne wieder aufzugreifen. In einer ausführlichen, dem Reichskanzler vorgelegten Stellungnahme kam er zu dem Schluß, daß die Vorschriften über Berufung und Wiederaufnahmeverfahren den preußischen Anschauungen entsprechen und insofern „eine Verbesserung des Rechtszustandes“ herbeiführen würden, riet aber dennoch zur Ablehnung, da die Berufungsfrage isoliert behandelt werde102. Stattdessen regte er einen Beschluß des Bundesrats an, in dem der Reichskanzler ersucht werden sollte, eine eigene Berufungsvorlage – unter Anlehnung an die Entwürfe des Parlaments und die Beschlüsse des Vorjahres – ausarbeiten und dem Reichstag in der nächsten Session zugehen zu lassen. Dadurch könne man zum einen eine umfassendere Revision ins Auge fassen, zum anderen auf die Bedürfnisse der thüringischen Staaten eingehen, die sich nicht prinzipiell gegen die Berufung ausgesprochen hätten. Schelling sah mithin die Chance gegeben, die Initiative des Vorjahres – diesmal auf erfolgversprechenderer Grundlage – zu wiederholen. 98 Vgl. Otto Mittelstädt, Glossen zur Reform des deutschen Strafprozesses, in: PJ 55 (1885), S. 561 – 579; Ludwig Fuld, Zur Reform des deutschen Strafverfahrens, Leipzig 1885; Bolder, S. 26 ff. 99 Lerchenfeld an Crailsheim, 6. 11. 1885, in: HStA, MJu 13132. 100 Dem Bericht Kastners zufolge war das Plenum sowohl in zweiter als auch in dritter Lesung faktisch beschlußunfähig. Bei der zweiten Beratung (11. 3. 1886) sollen kaum 150, bei der dritten kaum 70 Abgeordnete präsent gewesen sein. Zudem hätte eine nicht unerhebliche Minderheit, darunter viele Abgeordnete aus Bayern, gegen die Berufung gestimmt (Kastner an Crailsheim, 15. 3. 1886, in: HStA, MJu 13133). 101 Vgl. Bolder, S. 34 ff. 102 Schelling an Bismarck, 10. 4. 1886, in: BA, R 3001, Nr. 5286, Bl. 1 ff., Zitat Bl. 18.
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Nachdem Bismarck und Friedberg ihr Einverständnis erklärt hatten, stellte Preußen im Juni einen entsprechenden Antrag im Justizausschuß des Bundesrats103. Erst ein dreiviertel Jahr später, am 7. 3. 1887, fand die Ausschußberatung statt, wobei der Antrag in der Minderheit blieb. Seitens der preußischen Vertreter wurde er als rein symbolische Geste abgetan, der „nur den Zweck gehabt habe, die Stellung Preußens zur Berufungsfrage zu kennzeichnen“, und deshalb im Plenum nicht erneuert werde104. Aus den Akten Preußens und des Reiches geht der Grund für die ungewöhnlich lange Beratungspause nicht hervor. Nach der zitierten Äußerung darf indes angenommen werden, daß es Preußen – entgegen dem Schellingschen Kalkül – in der Zwischenzeit nicht gelungen war, die erforderliche Zahl von Kleinstaaten auf seine Seite zu ziehen. In diesem Zusammenhang darf auch die reformfeindliche Einstellung Friedbergs, allen Beteiligten natürlich bestens bekannt, nicht übersehen werden. So gesehen reduzierte sich das Bestreben Preußens darauf, eine erneute Blamage im Plenum zu vermeiden. Dort wurden die Reichstagsentwürfe am 17. 3. 1887 allesamt abgelehnt105. Nach diesem Epilog ruhte das Berufungsthema auf ministerieller Ebene für mehrere Jahre. Die ablehnende Haltung der bayerischen Regierung in der Berufungsfrage, an der sich auch unter Justizminister Leonrod, der das Amt nach dem plötzlichen Tod Fäustles übernommen hatte (1887), anfänglich wenig änderte, verlor in der Abgeordnetenkammer zunehmend an Rückhalt. Bei der Beratung des Justizetats für das Haushaltsjahr 1888 / 89 trat der Dissens offen zu Tage. Sprecher des Zentrums und der Liberalen äußerten die Ansicht, in Kammer, Presse und öffentlicher Meinung würde mittlerweile eine Mehrheit für die Appellation votieren. Dem Justizminister wurde geraten, nicht allein die Gerichtsvorstände und Staatsanwälte, sondern die gesamten Gerichtskollegien zu befragen, wolle er sich ein realistisches Bild von der Meinungslage verschaffen106. Der parlamentarische Widerspruch trug maßgeblich dazu bei, daß im Ministerium binnen weniger Jahre ein Umschwung eintrat. 103 Vgl. Reichskanzlei an Schelling, 16. 4. 1886, in: BA, R 3001, Nr. 5286, Bl. 25; Friedberg an Schelling, 10. 5. 1886, in: ebd., Bl. 30 f.; Antrag Preußens, in: ebd., Bl. 33. Zur unveränderten Position Bayerns und Württembergs: Kastner, Sten. Ber. RT, 26. 2. 1886, S. 1238 – 1241 sowie Schmid (württ. BR-Bevollmächtigter), ebd., S. 1241 f. (erste Beratung Antrag Reichensperger). 104 Vgl. den Bericht Hellers (bayer. BR-Bevollmächtigter) über die Plenarsitzung v. 17. 3. 1887, in: HStA, MJu 13133. Heller teilt auch den Inhalt eines Gesprächs mit Friedberg mit, das er nach der Abstimmung im Justizausschuß mit dem Minister geführt habe, worin dieser „seiner Befriedigung über die Ablehnung des preußischen Antrags unverhohlen Ausdruck gab und sich dahin aussprach, daß es ihm dermalen überhaupt noch nicht an der Zeit zu sein schien, an die Revision der Strafprozeßordnung die Hand zu legen“; Friedbergs Haltung hatte sich demnach nicht geändert. Zu Wilhelm v. Heller (1838 – 1909; später Staatsrat): Staatsminister, II, S. 1074 f. 105 Vgl. BR, Session 1887, Prot. d. 14. Sitzung, §§ 148, 150; Bericht Hellers über die Sitzung, in: HStA, MJu 13133. 106 Verh. KdA 1887 / 88, 19. 1. 1888, Bd. 2, S. 78 (Orterer) und S. 97 – 99 (v. Walter, Frankenburger, Gunzenhäuser und Keßler). Leopold v. Leonrod (1829 – 1905) war vom 24. 4. 1887 bis zum 30. 11. 1902 bayerischer Justizminister (Staatsminister, II, S. 899 – 933).
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Ein übriges dürften die in dieselbe Richtung zielenden Eingaben der bayerischen Anwaltskammern getan haben107. Etwas anders verlief die Entwicklung in der Entschädigungsfrage. Der Bundesrat lehnte den diesbezüglichen Reichstagsentwurf zwar ebenfalls ab (17. 3. 1887), sprach zugleich aber die Hoffnung aus, daß die Bundesstaaten ausreichende Geldmittel zur Verfügung stellen würden, um den nachweislich unschuldig Verurteilten eine billige Entschädigung zu gewähren. Als erstes Land kam Bayern der Aufforderung nach. Zwischen Anfang 1873 und Ende 1883 waren in Bayern 55 rechtskräftig verurteilte Personen im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen worden, von denen 13 ihre Strafe ganz oder teilweise verbüßt hatten108. In den Justizetat für die Jahre 1888 / 89 wurde erstmals ein Entschädigungsfonds von 5.000 Mark eingesetzt, dem die Volksvertretung ohne größere Diskussion zustimmte. Auch die Richtlinien für die Verwendung der Gelder, die Leonrod in der Kammersitzung vom 19. 1. 1888 erläuterte, fanden das Plazet der Abgeordneten. Danach beschränkte sich die Entschädigung auf erlittene Strafhaft, Fälle von Untersuchungshaft kamen nur bei besonderen Billigkeitsgründen in Betracht. Voraussetzung war ein Freispruch im Wiederaufnahmeverfahren, bei dem das Gericht festgestellt hatte, daß die Straftat vom Verurteilten nicht begangen worden war oder die betreffende Handlung nicht unter das Strafgesetz fiel – Fälle des „non liquet“ waren mithin ausgeschlossen. Die endgültige Entscheidung oblag der Justizverwaltung, die Entschädigungshöhe richtete sich nach dem eingetretenen wirtschaftlichen Schaden109. Neben Bayern traf zunächst nur noch Sachsen eine entsprechende Regelung, die übrigen Bundesstaaten folgten einige Jahre später. Die Zahl der in Frage kommenden Personen blieb gering. Zwischen 1888 und 1892 wurden in Preußen 1.800.451 Personen von einem Schöffengericht rechtskräftig verurteilt, von denen nur 234 im Wiederaufnahmeverfahren einen Freispruch oder eine Strafminderung erlangten; 55 von ihnen hatten ihre Strafe bereits angetreten oder verbüßt. Für die Strafkammern lauteten die entsprechenden Zahlen: 312.905 / 277 / 103, für die Schwurgerichte: 15.814 / 20 / 19. Im gleichen Zeitraum wurden im Bezirk des LG München I 4, im Bezirk des LG Dresden ebenfalls 4 und im Bezirk des LG Hamburg 20 Personen nachträglich freigesprochen110. Die bayerische Regierung halbierte die Fondssumme ab 1890 auf 107 Eingaben der Anwaltskammer München v. 11. 3. 1891 sowie der Vertretungen in Bamberg und Nürnberg v. 30. 6. 1891, alle in: HStA, MJu 13133. 108 Angaben von Orterer (Referent des Finanzausschusses), Verh. KdA 1887 / 88, 19. 1. 1888, Bd. 2, S. 115. 109 Vgl. Leonrod, ebd., S. 116 f. 110 Zahlen nach: Bericht der XI. Kommission, Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 294, Anl. C (für Preußen kamen noch 270 wegen Verletzung der Wehrpflicht Verurteilte, für Hamburg 46 in Abwesenheit verurteilte Reservisten und 5 in Abwesenheit verurteilte Wehrpflichtige hinzu); die XI. Kommission beriet den Ende 1895 eingebrachten Entwurf zur Strafprozeßnovelle.
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2.500 Mark, 1896 belief sich die Auszahlung auf gerade einmal 580 Mark, 1897 auf 1.925 Mark111. 2. Das Zivilverfahren a) Struktur und Prinzipien 1. Ebenso wie der Strafprozeß unterlag das Zivilverfahren im 19. Jahrhundert einem tiefgreifenden Wandel, der als „Weg vom schriftlich-mittelbaren Territorialzum mündlich-unmittelbaren Reichsprozeß“ beschrieben worden ist112. Liberales Vorbild war erneut der in den linksrheinischen Gebieten geltende französische Prozeß (Code de procédure, 1808), der aus einer einheitlichen mündlichen Verhandlung bestand. Demgegenüber zerfiel der ältere gemeinrechtliche Prozeß in zwei Abschnitte, die durch die sog. Eventualmaxime voneinander getrennt waren, jenseits derer neue Beweismittel nicht mehr vorgebracht werden durften. Beim preußischen Zivilprozeß handelte es sich um ein schriftliches Verfahren mit mündlicher Schlußverhandlung, ebenfalls geschieden durch eine Zäsur mit Präklusionswirkung, dem sog. Beweisinterlokut. Seit Mitte des Jahrhunderts gerieten Schriftlichkeit und Verfahrensteilung zunehmend in Mißkredit. So hatte sich Bayern 1869 eine Zivilprozeßordnung nach französischem Vorbild gegeben. Vor diesem Hintergrund waren sich die beteiligten Kreise über die reichsdeutsche Zivilprozeßordnung rasch einig113. Der Entwurf, im preußischen Justizministerium gefertigt und auf den Grundsätzen der Mündlichkeit und Einheitlichkeit aufbauend, darf als persönliche Schöpfung Leonhardts gelten. Abgesehen von der Wiederaufnahme der Berufung gegen die erstinstanzlichen Urteile der Landgerichte erfuhr die Vorlage nur noch geringfügige Änderungen und wurde vom Reichstag in dritter Lesung faktisch einstimmig angenommen. Dem Entscheidungsprozeß lag eine im Vergleich zu den kriminalpolitischen Debatten gänzlich andere Ausgangssituation zugrunde: In der Justizkommission bestand eine stabile Mehrheit, die sich in den Prinzipienfragen mit der Reichsleitung einig wußte114. Von daher schlossen sich die Fraktionen den Empfehlungen ihrer juristischen Vertreter widerspruchslos an, zumal es sich um eine verwickelte und vermeintlich wenig politische Materie handelte. Schon bald sollte sich jedoch herausstellen, daß Angaben von Leonrod, Verh. KdA 1897 / 98, 2. 5. 1898, Bd. 12, S. 387 f. G. J. Dahlmanns, Der Strukturwandel des deutschen Zivilprozesses im 19. Jahrhundert, Aalen 1971, S. 9; nach Dahlmanns auch das Folgende. 113 Zur Entstehungsgeschichte: Landau, Reichsjustizgesetze, S. 178 – 182, 189 f.; W. Schubert, Entstehung und Quellen der Civilprozeßordnung von 1877, Frankfurt / M. 1987, Bd. 1, S. 1 – 33; Hahn, II, 1 / 2; D. Dannreuther, Der Zivilprozeß als Gegenstand der Rechtspolitik im Deutschen Reich 1871 – 1945, Frankfurt / M. 1987, S. 55 ff. 114 Schon die RT-Vorlage rühmte Lasker als „Meisterwerk“ (Sten. Ber. RT, 24. 11. 1874, S. 284); der Bericht der RJK sprach von einem „Gesetzgebungswerk von bestem Bau“ (Hahn, II / 2, S. 1189). 111 112
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der Konsens auf zeitgebundenen Voraussetzungen und einseitigen Prämissen beruhte. Versucht man den „Geist“ des neuen Prozesses zu beschreiben, so fallen zwei Momente ins Auge. Das Verfahren war von strikt liberalen Wertvorstellungen und Denkfiguren durchzogen, während sozialpolitische Rücksichten fast völlig fehlten. 1885 stellte ein anonymer Kritiker in den bismarcknahen „Grenzboten“ fest: „Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß, während wir auf dem wirtschaftlichen Gebiete mit dem Manchestertum gebrochen haben, dasselbe auf dem juristischen Gebiete in voller Blüte steht. Während auf dem Wirtschaftsgebiete der Staat den Schwachen schützt und sorgend für ihn eintritt, herrscht auf dem juristischen der Grundsatz der freien Konkurrenz und des laisser-aller. [ . . . ] Die Zivilprozeßordnung trägt alle Merkmale jener Epoche in sich, die man jetzt mit dem Namen Delbrücks, als des leitenden inneren Ministers, bezeichnet; derselbe Bankrott, den seine Wirtschaftspolitik erfahren hat, droht auch der juristischen Reform“115. Die manchesterliberale Prägung trat auf verschiedenen Ebenen in Erscheinung. Grundsätzlich ist festzustellen, daß das Gewaltenteilungsprinzip auch im Zivilverfahren zum Durchbruch gelangte: Im Gegensatz zum altpreußischen Prozeß, bei dem das Gericht in jedem Abschnitt Herr des Geschehens blieb, waren die prozessualen Funktionen nunmehr zwischen Richter, Anwalt und Gerichtsvollzieher aufgeteilt. Die richterliche Tätigkeit beschränkte sich im wesentlichen auf die Urteilsbildung, während der Prozeßbetrieb, also die Einleitung, der Fortgang und das Ruhenlassen des Verfahrens, maßgeblich von den Parteien resp. ihren Vertretern bestimmt wurde (Parteibetrieb). Das neu geschaffene Institut des Gerichtsvollziehers war für den offiziellen Schriftverkehr samt Beurkundung (Zustellungswesen) und den Vollzug des Urteils (Zwangsvollstreckung) zuständig. In der Ablösung des Amts- durch den Parteibetrieb spiegelte sich die (liberale) Vorstellung wider, daß die Gesellschaft ihre zivilrechtlichen Konflikte selbst austragen müsse, während dem Staat lediglich die Rolle des Vermittlers oder Schiedsrichters zufalle. Das leitende Problemlösungsmodell war das der „Selbsthilfe“ – ein hochgradig voraussetzungsreiches Prinzip, das Zeit, Geld und Sachkenntnisse erforderte. 1884 hieß es in den „Grenzboten“, daß „das im Parteiprozeßbetriebe adoptierte Prinzip der Selbsthilfe auf dem Prozeßgebiete ein ebenso verkehrtes ist wie im wirtschaftlichen Leben. Wie im letzteren die Selbsthilfe nur von dem Starken mit Aussicht auf Erfolg geübt werden kann, während der Schwache dem Wucher und Bankrott rettungslos anheimfällt, ebenso kann im Prozesse nur der Bemittelte den Kampf um sein Recht aufnehmen, während der Unbemittelte dem Winkeladvokaten in die Hände fällt und schließlich auf den Rechtsweg verzichten 115 Anon., Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Betätigung, in: Grenzboten 44 / 3 (1885), S. 295 – 301, hier S. 300 f. Als Präsident des Kanzleramtes (1867 – 1876) war Rudolf Delbrück faktisch Stellvertreter des Reichskanzlers in der inneren Politik. Er galt als Symbolfigur für die freihändlerische Wirtschaftspolitik des Reiches.
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muß“116. In rechtstheoretischer Hinsicht gab der Grundsatz den Ausschlag, daß die privatrechtliche Verfügungsgewalt über den Streitgegenstand die Herrschaft über das Streitverfahren mit einschließe (Lehre vom „dominium litis“). Für alle Landgerichtssachen (Streitwert über 300 Mark) und entsprechend für alle Berufungsklagen galt der Anwaltszwang (§ 74 ZPO), was zur Folge hatte, daß der Prozeß formaliter als Konkurrenzkampf organisiert war, bei dem nicht unbedingt die gerechtere, sondern eventuell nur die geschickter vertretene Sache den Sieg davontrug117. Hinzu kamen die hohen Prozeßkosten, die objektiv die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten bevorteilten. Daß die Zivilprozeßordnung aus der Konvergenz zwischen dem traditionellen ökonomischen Liberalismus der preußischen Bürokratie und der liberalen Reichstagsmehrheit hervorgegangen war, lag offen zutage. Der Anwaltszwang leitet über zum zweiten Wesensmerkmal des neuen Verfahrens. In einem viel eminenteren Sinne als im Strafrecht handelte es sich um einen Juristenprozeß, und zwar in sachlicher wie in personeller Hinsicht. Die Ausgestaltung des Verfahrens orientierte sich in hohem Maße an doktrinären Prinzipien, vor allem hinsichtlich der Mündlichkeit und des Parteibetriebs. Die damit verbundene Verkomplizierung erzeugte faktisch einen Sachzwang, der die verstärkte Heranziehung von Rechtsvertretern legitimierte. Demgegenüber traten schlichte Praktikabilitätserwägungen und / oder die Interessen des Publikums fast völlig in den Hintergrund. So gesehen bildete der neue Prozeß das Komplementärstück zur Freigabe der Advokatur, der auf diese Weise ein ausreichendes Betätigungsfeld gesichert wurde. Die skizzierten Zusammenhänge machen die anfängliche Begeisterung der Juristenschaft für die neue Prozeßordnung verständlich. Es war, kurz gesagt, ein von Juristen für Juristen gemachter Prozeß. Das Verdienst, den Nimbus der „Fortschrittlichkeit“, mit dem das neue Verfahren zunächst umgeben war, zerstört und den Blick auf die weit nüchternere Realität gelenkt zu haben, gebührt dem Richter und Justizpolitiker Otto Bähr118. Bähr, in mancher Hinsicht ein Außenseiter seiner Zunft, war in seinen Rechtsanschauungen stark von Rudolph v. Jhering geprägt, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband. Als dezidierter Praktiker stand er jeglichem Formalismus sowie überhaupt theoretischen Doktrinen skeptisch gegenüber, eine Haltung, die ihn zum Gegner der herrschenden Begriffsjurisprudenz und zum Vorläufer einer interessengeleite116 Anon., Der Prozeßbetrieb durch die Parteien im Zivilrechtsstreite, in: Grenzboten 43 / 4, 1884, S. 112 – 119, hier S. 118. Leonhardt galt als ausgesprochener „Freund der Forderung des ,help yourself‘, ein Begünstiger der Selbstverwaltung“ (Sydow, Reichsjustizreform, S. 206). 117 Dazu: P. Hertel, Der Anwaltszwang, Hamburg 1979. 118 Otto Bähr (1817 – 1895) war bereits in Kurhessen in die höchsten Richterämter aufgestiegen, bevor er 1867 an das neue Oberappellationsgericht in Berlin, 1874 an das Obertribunal und 1879 schließlich an das Reichsgericht berufen wurde (1881 pensioniert). 1867 – 1880 vertrat er Kassel im Reichs- und Landtag (NL, Mitglied der RJK). Bähr war geistig vielseitig interessiert, der juristische Schwerpunkt lag auf zivilistischem Gebiet. Seine Memoiren blieben unvollendet (Erinnerungen aus meinem Leben 1817 – 1878, Kassel 1898); zu Bähr: B. Binder, Otto Bähr (1817 – 1895), Frankfurt / M. 1983.
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ten Rechtsprechung machte. Dabei verlagerte sich der Blickwinkel von innen nach außen: Bähr nahm konsequent die Perspektive des rechtssuchenden Publikums ein, während er seiner eigenen Zunft gegenüber eine kritische Distanz wahrte. Einige Zitate mögen die Ausgangspunkte des Bährschen Denkens näher beleuchten. Für die verfehlten Grundlagen des Prozesses machte er in erster Linie Leonhardt verantwortlich: „Der Sinn für das Materielle des Rechts schien wenig bei ihm entwickelt. Glänzend in der Form, waren seine Gesetzvorlagen in der Sache eine Art Manchestertum, dieses in die Jurisprudenz übertragen. Als solches huldigten sie den Schwächen des Juristenstandes, ließen aber die Interessen der Rechtssuchenden oft ohne zureichenden Schutz“119. Zum Juristenstand heißt es: „Die neuen Prozeßeinrichtungen sind nicht für das Volk gemacht. Sie sind nur für die Juristen. Sie sind geeignet, im Juristenstande diejenige Eigenschaft zu begünstigen und zu befördern, welcher dieser zufolge seiner Abgeschlossenheit ohnehin schon stark zuneigt, den Juristen-Egoismus“120. Und zum Verhältnis Volk-Justiz: „Hätte man in weiteren Volkskreisen eine Anschauung davon, wie sehr in diesem Prozeß die Rechtsinteressen gefährdet sind, so würde den verfehlten Bestimmungen desselben gar bald ein Ende gemacht sein. Wie würde es im Publikum laut werden, wenn ähnliche Mißstände z. B. im Eisenbahnbetrieb sich zeigten! Aber der Justiz gegenüber ist unser Volk mundtot. Noch heute, wie seit Jahrhunderten, erblickt es in der Justiz nur eine unverstandene Macht, in deren Wunderlichkeiten man sich zu schicken habe“121. Von diesen Prämissen aus unterzog Bähr das neue Verfahren einer fundamentalen Kritik. Dabei fanden alle problematischen Aspekte Beachtung, sein Hauptangriff galt jedoch dem Prinzip der „reinen Mündlichkeit“. Da laut ZPO das Urteil allein auf Grundlage der mündlichen Verhandlung ergehen sollte (§ 284 Abs. 3), war es Parteien und Gericht freigestellt, in welchem Umfang sie – wie im altpreußischen Verfahren – den Termin durch Schriftsätze vorbereiten wollten (§ 120); in der Verhandlung durfte auf etwaig gewechselte Schriftsätze nicht Bezug genommen werden (§ 128 Abs. 3). Zudem sah das Gesetz vor, daß der Richter den Streitstoff erst nach der mündlichen Verhandlung im sog. „Tatbestand des Urteils“ schriftlich fixierte (§ 284 Abs. 3), während es bislang Usus war, daß das Gericht (in Form eines Referentenvortrags) und die Parteien zu Beginn der Schlußverhandlung Einvernehmen über den Prozeßstoff herstellten. Die Gefahr von Irrtümern lag auf der Hand, zumal das Protokoll den Verhandlungsverlauf nur „im allgemeinen anzugeben“ hatte (§ 146 Abs. 1) und der richterliche Tatbestand in den höheren Instanzen nur noch bedingt korrigierbar war122. Im ganzen fehle dem neuen Pro119 Otto Bähr, Der deutsche Civilprozeß in praktischer Bethätigung, in: Jherings Jahrbücher 23 (1885), S. 339 – 434, hier S. 341. 120 Otto Bähr, Noch ein Wort zum deutschen Civilprozeß, in: Jherings Jahrbücher 24 (1886), S. 329 – 390, hier S. 388. 121 Otto Bähr, Die Prozeß-Enquête des Prof. Dr. Wach, Kassel 1888, S. 44 f. 122 Zu den Einzelheiten Bähr, Civilprozeß, S. 387 – 391; weiterhin: Dannreuther, S. 122 ff.
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zeß, so Bährs Fazit, die solide Grundlage, um dem materiellen Recht zum Sieg zu verhelfen. Seine eigentliche Sorge galt indes dem juristischen Nachwuchs, dem ein derart unstrukturierter Prozeß keine Unterlage für eine gründliche Ausbildung böte. Zum Zwecke empirischer Absicherung veröffentlichte Bähr die Ergebnisse einer privaten, weite Teile des Reiches abdeckenden Umfrage über den Umfang und die Verwendung der vorbereitenden Schriftsätze. Die eingereichten Antworten belegen die großen Unterschiede in der Praxis von Gerichten und Anwälten. Vor allem im regionalen Vergleich differierte der Rechtsgang außerordentlich, zumal es die elastischen Vorschriften des neuen Rechts gestatteten, ältere Gepflogenheiten beizubehalten. Zum Teil pflanzten sich die Unterschiede bis in die einzelnen Gerichtshöfe hinein fort: „Man sieht hieraus, daß innerhalb der Gerichte zur Zeit eigentlich völlige Anarchie herrscht“123. Von einem einheitlichen Reichszivilprozeß konnte zum damaligen Zeitpunkt beim besten Willen noch keine Rede sein. Wie nicht anders zu erwarten, löste Bährs Einspruch in Fachkreisen heftigen Widerspruch aus. In der weitgefächerten Diskussion fehlte es weder an polemischen Tönen noch an zustimmenden Wortmeldungen. Zum Bannerträger des neuen Verfahrens schwang sich der Leipziger Zivilist Adolf Wach auf. Auf noch breiterer Grundlage führte er eine Gegenenquête durch, deren Ergebnisse indessen eher geeignet waren, die Vorbehalte gegenüber dem neuen Prozeß zu bekräftigen statt Bährs Einwände zu widerlegen. Faktisch bestand vielerorts eine „Scheinmündlichkeit“, da die Anwälte ihre Akten in der Verhandlung einfach vorlasen124. Zu Recht fühlte sich Bähr bestätigt: Die Umfragen wiesen „einen fast ununterbrochenen Notstand der Gerichte auf, dem Buchstaben des Gesetzes zu genügen und doch dem Interesse der Sachen gerecht zu werden. Dem Gericht bleibt vielfach nur die Wahl zwischen Lüge und barem Unverstande“125. Mit dem Auftreten Bährs zerbrach der standesinterne Konsens und setzte die systematische Kritik an der Zivilprozeßordnung ein. Felix Vierhaus, Vortragender Rat im preußischen Justizministerium und so etwas wie das zivilistische Sprachrohr desselben, stellte anderthalb Jahrzehnte später fest, durch den Vorstoß Bährs sei „die Stellung der Zivil123 Bähr, Civilprozeß, S. 362; Zusammenstellung der Ergebnisse ebd., S. 364 – 387; zu den regionalen Typen S. 400 ff. 124 Zur Debatte: Bähr, Noch ein Wort, S. 329 – 376; ders., Ein Wort über meine Kritiker, in: Jherings Jahrbücher 24 (1886), S. 523 – 527; Adolf Wach, Die Reichscivilprozessordnung und die Praxis, Leipzig 1886; ders., Die civilprozessualische Enquête, in: ZZP 11 (1887), Erg.heft; Bähr, Prozeß-Enquête (Replik); Adolf Wach, Die civilprozessualische Enquête im Lichte Bähr’scher Kritik, in: ZZP 12 (1888), S. 172 – 177 (Duplik); (vorläufige) Liste der Beiträge in: Wilhelm Kulemann, Zur Reform des amtsgerichtlichen Civilprozesses, in: ZZP 11 (1887), S. 354, Anm. 1; zum ganzen auch: H.-G. Kip, Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip, Köln 1952, S. 66 ff.; zu Wach neuerdings: D. Unger, Adolf Wach und das liberale Zivilprozeßrecht, Berlin 2005 (zur Auseinandersetzung mit Bähr S. 212 – 217 / 221 – 226). 125 Bähr, Prozeß-Enquête, S. 27 f.
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prozeßordnung trotz des Schildes der prozessualischen Enquête, mit dem Wach sie schirmte, wesentlich erschüttert“ worden126. Einen weiteren Schwerpunkt der Diskussion bildete der erwähnte Parteibetrieb127. Er begünstigte eine Tendenz zur Prozeßverschleppung, waren die Parteien bzw. ihre Vertreter doch befugt, auf übereinstimmenden Antrag bereits begonnene Termine zu unterbrechen oder anberaumte Termine auszusetzen, wozu beiderseitiges Nichterscheinen genügte (§§ 205, 228 ZPO). In vielen Fällen lag der Grund in einer unzureichenden Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung128. Insbesondere die Anwälte machten vom Vertagungsrecht Gebrauch, am häufigsten im Departement Köln, wo infolge der Tradition des rheinischrechtlichen Verfahrens mit seiner uneingeschränkten Mündlichkeit eine aktenmäßige Vorbereitung der Verhandlung geradezu verpönt war129. Mit einer im September 1887 erlassenen Verfügung versuchte Friedberg dem Mißstand, „der mehr und mehr eine Schädigung der gesamten Rechtspflege herbeizuführen droht“, Einhalt zu gebieten130. Er hielt die Gerichte zu einer „energischen Handhabung“ des § 48 des Gerichtskostengesetzes an, der eine Strafgebühr für den Fall vorsah, daß ein Termin durch offensichtliches „Verschulden“ einer Partei nicht zustande kam. Notorische Terminsvereitler sollten zudem den Anwaltskammern zwecks etwaiger ehrengerichtlicher Bestrafung gemeldet werden. Die Verfügung blieb praktisch wirkungslos, da ein mutwilliges Verschulden nur in den seltensten Fällen nachweisbar war. Zudem sah sich Friedberg nach Protesten der Anwaltschaft veranlaßt, Teile des Reskripts zurückzunehmen131. Die Prozeßverschleppung stellte sich als Dauerproblem heraus, das immer wieder Anlaß zu lebhaften Klagen bot, die kurz nach der Jahrhundertwende ihren Höhepunkt erreichten. 126 Vierhaus, Besprechung von: Joh. Chr. Schwartz, Die Novelle vom 17. / 20. Mai 1898 und die künftige Civilprozessreform, in: ZZP 30 (1902), S. 565 – 571, Zitat S. 565. Felix Vierhaus (1850 – 1917), zuvor OLG-Rat in Kassel, trat 1891 als Vortragender Rat in das preußische Justizministerium ein; 1904 übernahm er die Leitung des OLG Kiel, ein Jahr später wechselte er an das OLG Breslau; Mitherausgeber der „Zeitschrift für deutschen Civilprozess“. 127 Dazu: J. Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen seit der Reichszivilprozeßordnung von 1877, Paderborn 1975, S. 36 ff. (S. 5 – 19 Überblick über die ZPO-Bestimmungen). Damraus materialreiche Arbeit, die bis zum Jahre 1950 reicht, setzt sich fast ausschließlich aus Quellenzitaten und -paraphrasen zusammen, während eine kritische Einordnung und Bewertung des Stoffes weitgehend fehlt. 128 Vgl. dazu Wach, Enquête, S. 30 ff.; Bähr, Prozeß-Enquête, S. 37 – 43. 129 Anteil der durch die Parteien verursachten Vertagungen an allen Terminen 1886 / 87: Königsberg 13 %, Frankfurt / M. und Kassel je 26 %, Köln 43 % (Damrau, S. 66); zur rheinischen Mündlichkeit: Goldenring, Begriff und Durchführung des Grundsatzes der Mündlichkeit im Civilprozeß, in: ZZP 14 (1890), S. 52 – 95 (LG-Rat in Straßburg). 130 AV v. 23. 9. 1887, in: JMBl, S. 257 f. und ZZP 11 (1887), S. 396 f. Die Anordnung stellt ein weiteres Beispiel für die „positive“ Verfügungspolitik Friedbergs dar. 131 Vgl. Bähr, Prozeß-Enquête, S. 42 f.; weiterhin: K. Schneider, Der Mißstand der überreichlichen Terminsvereitlungen bei den deutschen Kollegialgerichten und seine Beseitigung, München 1901, S. 9 – 15 (mit Abdr. der Verfügung; OLG-Rat in Stettin).
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Mit dem Wechsel zum Parteibetrieb ging auch die Übermittlung der offiziellen Schriftstücke auf die Parteien über132. Das neue Zustellungswesen verkomplizierte den Prozeß ungemein, warf eine Vielzahl prozessualischer Fragen auf und ließ zahlreiche Prozesse an formalen Hindernissen scheitern133. In den Rechtsgang war ein Formalismus eingezogen, der das materielle Recht zu ersticken drohte. Der Braunschweiger Richter Wilhelm Kulemann, der als erster mit einem umfassenden Reformplan an die Öffentlichkeit trat, schrieb: „Der Prozeß ist doch nur die Form, in welcher das Recht sich verwirklicht, und wenn es nie völlig zu vermeiden sein wird, daß in der Form das Recht nicht allein seinen Schutz, sondern auch zugleich seine Schranke findet, so ist es doch das Zeichen eines ungesunden Formalismus, wenn die Form ein Übergewicht erlangt, welches sie nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck erscheinen läßt“134. Mit dem bisher Gesagten ist die eigentliche Bedeutung des neuen Verfahrens noch gar nicht erfaßt. Diese lag vielmehr auf der Ebene sozialpsychologischer Tiefenwirkung. Wie erwähnt, tendierte der Prozeß dazu, den ungebildeten Laien zu überfordern, sobald er versuchte, sein gutes Recht ohne juristischen Beistand zu erlangen, obwohl die Prozeßordnung für das amtsgerichtliche Verfahren und damit für den Großteil der erstinstanzlichen Sachen eine selbständige Rechtsverfolgung durchaus vorsah135. Mehr noch: Die traditionellen Erwartungen des „gemeinen Mannes“, sich vertrauensvoll an „seinen“ Richter zu wenden, um von ihm Rechtshilfe zu erhalten, wurden enttäuscht. Insofern mußte sich das patriarchalische Nahverhältnis, das bislang vor allem in ländlichen Regionen zwischen Gericht und Gerichtseingesessenen bestanden hatte, lockern oder gar auflösen. Im Prinzip galt dasselbe für den landgerichtlichen Prozeß, in dem sich der Anwalt zwischen Rechtssuchenden und Richter schob. Auch die Rolle des Richters hatte sich geändert: War er früher von Amts wegen verpflichtet, sich der Sorgen und Nöte des Publikums anzunehmen, so blieb dies jetzt persönlichem Wohlwollen vorbehalten. Dies meinte Bähr, wenn er von einer „kalten Gesetzgebung“ sprach. Die mit dem neuen Verfahren verbundenen Entfremdungserfahrungen versuchte er anhand von idealtypischen Szenen zu veranschaulichen. Eine davon sei im folgenden wiedergegeben: Bei Aufruf der Sache meldet sich nur der Verklagte, ein Bauer aus einem 4 Stunden entfernten Dorfe. Richter: Sie können wieder nach Hause gehen; der Kläger ist nicht da. Dazu: Bähr, Noch ein Wort, S. 376 – 379; Kulemann, S. 374 – 384. Allein in den acht Monaten zwischen Oktober 1884 und Juni 1885 mußte das Reichsgericht über 22 Zustellungsfälle entscheiden (Bähr, Noch ein Wort, S. 376, Anm. 1); vgl. auch die Liste an RG-Entscheidungen bei Kulemann, S. 383, Anm. 48; Rintelen, Sten. Ber. RT, 21. 5. 1890, S. 209. 134 Kulemann, S. 383 f. 135 Im Durchschnitt der Jahre 1881 bis 1885 fanden 78 % aller vermögensrechtlichen Prozesse (ordentliche, Wechsel- und Urkundenprozesse) vor den Amtsgerichten und nur 22 % vor den Landgerichten statt (Kulemann, S. 360). 132 133
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Bauer: Wer bezahlt mir denn aber meinen Weg? Ich habe vier Stunden marschiert. Richter: Da kann ich Ihnen nicht helfen. Bauer: Aber der Jude ist ja bezahlt. Wie kann er mich denn hierher sprengen? (Einige in der Nähe sitzende Anwälte lachen. Einer von ihnen flüstert dem Bauer zu: „Tragen Sie auf Abweisung des Klägers an“). Bauer: Ich trage auf Abweisung des Klägers an. Richter: Wenn Sie beantragen wollen, daß Kläger abgewiesen und in die Kosten verurteilt wird, so weisen Sie mir die Zustellung nach. Bauer schweigt. Richter: Sie sollen mir nachweisen, daß Sie geladen sind. Geben Sie mir die Klage und die Zustellungsurkunde. Bauer: Ich habe keine Papiere mitgebracht. Ich dachte, das brauchte ich nicht. Richter: Nun dann können Sie nur wieder nach Hause gehn. Bauer: Ich bin aber doch auf heute hier vorgeladen worden und muß meinen Weg bezahlt erhalten. Richter: Ich habe Sie nicht vorladen lassen. Sie müssen mir nachweisen, daß der Kläger Sie hat laden lassen. Bauer: Es stand ja aber doch auf dem Papier, daß heute hier Termin sei, und darunter stand: „Königliches Amtsgericht“. Ich bin ja auch eben hier aufgerufen worden. Richter: Ich kann mich nun mit Ihnen nicht weiter aufhalten. Sie sehen, hier stehen noch viele Leute, die Termine haben. Wenn Sie glauben, daß Ihnen Unrecht geschieht, so nehmen Sie einen Rechtsanwalt an oder beschweren Sie sich. Der Bauer geht staunend ab.136
Damit war allen zivilprozessualen Reformbemühungen die Richtung gewiesen: Wollte man die „Entfremdung zwischen Volk und Recht“, wie es zwanzig Jahre später hieß, überwinden, so galt es, den Amtsgerichtsprozeß vom landgerichtlichen Verfahren abzukoppeln und zu einem vereinfachten, auch für den „gemeinen Mann“ praktikablen Prozeß umzugestalten. Ein dritter Problemkomplex – neben Mündlichkeit und Parteibetrieb – betraf das neue Institut der Gerichtsvollzieher. Das GVG hatte ihnen das Zustellungs- und Vollstreckungswesen zugewiesen, die nähere Regelung der Dienst- und Geschäftsverhältnisse aber dem Landesrecht überlassen (§ 155). Im Gegensatz zum altpreußischen Boten und Exekutor, die auf Weisung und unter Aufsicht des Gerichts in Aktion traten, handelte es sich beim Gerichtsvollzieher um ein selbständiges, eigenverantwortlich tätiges Rechtspflegeorgan, das seine Aufgaben im Auftrag der 136 Bähr, Noch ein Wort, S. 386, Anm. 1. Bähr bemerkt dazu: „Man könnte ja solche Szenen für komisch halten, wenn sie nicht das Traurige hätten, daß sie das Vertrauen des gemeinen Mannes zu der Justiz zerstören“ (S. 387). Der antisemitische Zungenschlag des Bauern verweist auf die kurhessische Heimat Bährs, in jenen Jahren ein Zentrum des ländlichen Antisemitismus unter Führung Otto Böckels, des „hessischen Bauernkönigs“. Auch Bähr war im Laufe der Zeit zu einem Judengegner geworden (vgl. Binder, S. 67 f.).
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Partei erledigte. Landesrechtlich entstanden drei Organisationstypen: das Bezirkssystem (Kleinstaaten, Preußen seit 1900), das auf der Zuteilung von Amtsbezirken sowie einer aus festem Gehalt und Gebührenanteilen gemischten Vergütung beruhte, das Amtssystem (die meisten Mittelstaaten), ebenfalls mit Bezirkseinteilung, aber nur mit festem Gehalt, und das System der freien Wählbarkeit (Hessen) ohne Bezirkszuweisung und ohne festes Gehalt, aber mit vollem Gebührenbezug137. Preußen war 1879 zunächst zum System der freien Wählbarkeit übergegangen, da das ältere Verfahren seit längerem als ineffektiv und überholt galt. Ein Grundgehalt von 1.800 Mark sowie eine Pension wurden gesetzlich zugesichert138. Das Personal rekrutierte sich überwiegend aus Militäranwärtern, was nicht zum mindesten die hohe Zahl von Dienstvergehen erklärt139. Gravierender noch wirkte sich ein anderer Umstand aus: Die Kombination aus hohen Gebührensätzen und Wahlfreiheit machte den Beruf faktisch zu einem gewinnträchtigen Gewerbe. Angesichts der überdurchschnittlich guten Verdienstmöglichkeiten betrieben die Gerichtsvollzieher ihre Amtsgeschäfte primär unter pekuniären Gesichtspunkten. 1886 / 87 lag das Durchschnittseinkommen bei 3.242 Mark und damit um ein Viertel höher als das Eingangsgehalt für Richter (2.400 Mark). Allerdings gab es beträchtliche Unterschiede: Von den rund 1.800 in Preußen angestellten Gerichtsvollziehern erreichten 345 nicht das gesetzliche Mindesteinkommen, während sich rund zwei Drittel oberhalb des richterlichen Erstgehalts bewegten. Die weitere Steigerung vollzog sich kontinuierlich bis hin zu einem Spitzeneinkommen von 16.000 Mark, womit das Gehalt eines OLG-Präsidenten noch übertroffen wurde140. Den Unterhalt des (vorgeschriebenen) Büros mußte der Gerichtsvollzieher selbst bestreiten, anfallende Auslagen (Schreibgebühren, Reisekosten) konnte er seinem Auftraggeber in Rechnung stellen. Da die Auftragslage in erster Linie von der Reputation abhing, wurden die Interessen des Gläubigers oft mit rücksichtsloser Härte verfolgt. Zudem rissen betrügerische Geschäftspraktiken ein: Unterschleif bei Zwangsversteigerungen war keine Seltenheit, und häufig taten sich Gerichtsvollzieher mit den Vorstehern der Anwaltsbüros zusammen, um sich gegen Beteiligung an den Gebühren Aufträge zuschieben zu lassen141. Die „National-Zeitung“ faßte die Entwicklung 1887 folgen137 Vgl. J. Schneider, Das Gerichtsvollzieherwesen in den deutschen Ländern, Leipzig 1934, S. 29 ff. 138 Gerichtsvollzieherordnung v. 14.7. 1879 und Geschäftsanweisung v. 24. 7. 1879. 139 Vgl. Bericht über den Stand der Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1882, S. 14. In den Jahren 1886 / 87 waren 45 Disziplinarverfahren gegen Gerichtsvollzieher anhängig, von denen 17 außerdem strafrechtlich verurteilt wurden (Bericht über die Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1882 – 1887, S. 19 f.). 140 Vgl. ebd., S. 21 und Anlage IV, S. 69; Otto Bähr, Die Justizorganisation von 1879 in ministerieller Beleuchtung, in: Grenzboten 48 / 4 (1889), S. 74 – 84 / 119 – 129, hier S. 82 ff. (Bährs Aufsatz wendet sich gegen die beschönigende Tendenz in den beiden Ministerialberichten aus den Jahren 1882 und 1887). 141 Vgl. Schneider, S. 33.
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dermaßen zusammen: „Die Zwangsvollstreckung ist in den Händen der Gerichtsvollzieher unverhältnismäßig kostspielig und unsicher geworden. Darüber sind Richter, Rechtsanwälte, Publikum einig, und selbst die Gerichtsvollzieher werden nicht widersprechen. Niemals sind so viele Beschwerden über Rechtsanwälte gekommen, als seitdem sie durch die Gerichtsvollzieher die Exekution betreiben. Die Gerichtsvollzieher selbst kommen zum großen Teile aus dem Disziplinarverfahren kaum heraus. Der Wettbewerb und der eigene Diensteifer, nicht minder das Drängen des Gläubigers nach einem Resultat bestimmen den Gerichtsvollzieher zu scharfem Vorgehen, denn andernfalls ist er in Gefahr, Ruf und Kundschaft zu verlieren. So arbeitet er hart an der Grenze der gesetzlichen Schranken der Exekution und ist in zweifelhaften Fällen leicht geneigt, nach der schärfsten Auslegung auszubiegen“142. In der Folgezeit kletterten die Einnahmen weiter in die Höhe. Von den 1898 / 99 tätigen 1.749 Gerichtsvollziehern blieben zwar 321 unter dem Mindesteinkommen, dafür aber verdienten 184 zwischen 4.600 und 6.000 Mark, 176 zwischen 6.000 und 8.000 Mark, 86 zwischen 8.000 und 10.000 Mark sowie 47 mehr als 10.000 Mark. Im Bericht, den der Justizminister 1901 an den König erstattete, heißt es dazu: „Die hohen Einnahmen wurden aber meist nur durch einen auf Kosten der Schuldner geführten Konkurrenzkampf erzielt. Die vielfachen Klagen, namentlich in den großen Städten, über die übermäßige Härte der Gerichtsvollzieher trafen gerade die am stärksten beschäftigten Beamten; sie fanden ihre Erklärung in dem Bestreben, sich den Ruf eines erfolgreichen Vollstreckungsbeamten und dadurch eine größere Zahl von Aufträgen zu verschaffen“143. Die Entwicklung hatte sich jeglicher Kontrolle entzogen, so daß sich die Justizverwaltung zu einem Systemwechsel veranlaßt sah: Mit Gesetz vom 31. 3. 1900 stellte Preußen auf das Bezirkssystem um. Nunmehr wurde jedem Gerichtsvollzieher ein eigener Amtsbezirk zugewiesen, verbunden mit dem Anspruch auf einen festen Anteil an den Gebühren. Die jüngeren Kräfte erhielten darüber hinaus ein Gehalt von 1.400 bis 1.800 Mark, die übrigen von 1.500 bis 2.700 Mark; ältere Beamte bezogen für die Dauer von 5 Jahren ihr letztes Durchschnittseinkommen bis zu einem Höchstbetrag von 4.500 Mark. Von interessierter Seite, nämlich den Anwälten, wurde immer wieder die Forderung erhoben, zum alten System zurückzukehren. Anstelle einer Zusammenfassung sei noch einmal Otto Bähr zitiert: „Durch die ganze Zivilprozeßordnung [ . . . ] geht ein gewisser Zug, welcher zu dem Gedanken verleiten kann, als ob es die Gesetzgebung für ihre Aufgabe gehalten, denen, welche Prozesse führen wollen, das Leben nicht so leicht zu machen und ihnen durch 142 Zit. nach: Anon., Die Lage der Prozeßkostenfrage, in: Grenzboten 46 / 3 (1887), S. 554 – 564, hier S. 559 f. Bähr meinte: „Es war der größte Fehler, Menschen von halber Bildung selbständig gegen Gebührenbezug mit Funktionen der Justiz zu betrauen, welche nicht minder wie die richterliche Tätigkeit vom Standpunkte objektiven Rechtes geübt werden sollten“ (Civilprozeß, S. 357). 143 Bericht über die Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1887 – 1901, Berlin 1901, S. 97 f.
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allerhand offen gehaltene Fährnisse zu Gemüte zu führen, daß das Prozessieren kein Scherz sei. [ . . . ] Eben daraufhin zielt auch, wenigstens dem Erfolge nach, die große Machtfülle, mit welcher das gesamte Justizpersonal je in seinem Bereiche ausgestattet wurde. Der Anwalt bekommt mit der ihm erteilten Vollmacht das gesamte Recht der Partei in seine Hand und ist auch in der Art der Führung des Prozesses so frei wie möglich gestellt. Dem Richter sind Befugnisse eingeräumt, welche ihn, wenn er zur Willkür neigt, zu deren Übung ohne Kontrolle in den Stand setzt. Und auch dem Gerichtsvollzieher, diesem echten Sprößling französischen Wesens, ist eine Machtstellung gegeben, welche die Parteien in nicht geringem Grade der Gefahr des Mißbrauchs aussetzt“144. Es fällt auf, daß Bährs antiliberaler Einspruch einen kulturkritischen Unterton trägt. Maßstab seiner Kritik war ein traditionelles, gewissermaßen altdeutsches Sozialverständnis, für das Tugenden wie Arbeit, Gewissenhaftigkeit und Pflichterfüllung („Grundbedingung einer guten Justiz ist ernster Fleiß und sorgfältige Arbeit“), aber auch patrimoniale Fürsorge für die rechtsunkundigen Laien zentrale Bedeutung besaßen. So gesehen reagierte er mit seiner Intervention auf einen grundlegenden Wertewandel, den er nunmehr auch in die Justiz einziehen sah und der sich mit Begriffen wie Verflachung, Scheinhaftigkeit und Substanzverlust umschreiben läßt145. Diese kulturpessimistische Haltung sollte sich, wie im folgenden zu zeigen sein wird, bei späteren Justizkritikern noch erheblich verstärken. Dennoch wäre es völlig verfehlt, Bährs Kritik als schlichte Sehnsucht nach vormodernidyllischen Rechtszuständen abzutun. Gerade das Gegenteil war der Fall: Die Gesetzgebung folgte der von ihm vorgegebenen Richtung à la longue in allen wesentlichen Punkten146. 2. Daß die Reichsleitung noch vor Bekanntwerden der Bährschen Enquête eine Reform der ZPO einleitete, ging auf die erwähnte Initiative Bismarcks zurück, der auch die Strafprozeßnovelle ihre Entstehung verdankte. In dem bereits zitierten Schreiben an Friedberg vom Dezember 1884, das seinem wesentlichen Inhalt nach auch den Bundesregierungen zuging, bemerkte der Kanzler: „Schon seit längerer Zeit haben sich im Justizwesen Unzuträglichkeiten herausgestellt, die als eine Folge der neueren Gesetzgebung anzusehen sind. Verschiedene Übelstände, welche bei der praktischen Anwendung der Zivilprozeßordnung zu Tage getreten sind, haben umso mehr meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als dieselben besonBähr, Civilprozeß, S. 357. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Äußerung eines von Bähr hochgeschätzten Anwalts, dessen Zuschrift er mitteilt: „Sie gehen in Ihren Ausführungen überall von der Ansicht aus, daß die Prozesse im Interesse der Parteien geführt und daß deshalb eine Prozeßordnung so gefaßt und möglichst so gehandhabt werden müsse, wie es das Interesse der Parteien, das der Vernunft und der Findung des wirklichen Rechts erfordere. Sie werden sich wohl darüber keine Illusionen machen, daß dieser Standpunkt veraltet ist oder wenigstens nur beim Publikum, nicht bei der Masse der Juristen Vertreter findet“ (Civilprozeß, S. 428). 146 Vgl. Kip, S. 74 ff.; Binder, S. 136 ff. 144 145
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ders die ärmeren Klassen der Bevölkerung treffen und das allgemeine Vertrauen auf den vom Staate zu gewährenden Schutz erschüttern“. Deshalb sei „das gerichtliche Verfahren mit denjenigen Grundsätzen in Einklang zu bringen, welche sich auf dem wirtschaftlichen Gebiete bereits als richtig bewährt haben“147. Es ist bezeichnend für Bismarck, daß er die aufgetretenen Mängel pragmatisch und ohne dogmatische Scheuklappen zu beheben versuchte: Er plädierte dafür, den landgerichtlichen Anwaltszwang abzuschaffen (und zwar sowohl in erster Instanz wie im Berufungsverfahren), die Parteierklärungen vor dem Amtsgericht stärker zu sichern, die Zustellungen von Amts wegen zu betreiben (und durch die Post ausführen zu lassen), die Zwangsvollstreckung wieder den Gerichten zu übertragen und für einen korrekten Ablauf der Zwangsversteigerungen zu sorgen. Die geplanten Änderungen würden, so der Kanzler, zwangsläufig eine Revision der Gerichtskosten nach sich ziehen, schon jetzt aber sei es vonnöten, die Beschwerde gegen Kostenentscheide zu gestatten148. Faktisch liefen Bismarcks Vorschläge auf eine Generalrevision der Zivilprozeßordnung und der Gebührengesetze hinaus. Obwohl Schelling und Friedberg den Vorschlägen im großen und ganzen zustimmten, wurden die Arbeiten am ZPO-Entwurf Mitte 1885 auf Weisung Bismarcks eingestellt149. Ausschlaggebend dürften die ernüchternden Erfahrungen gewesen sein, die der Kanzler mit der parallel betriebenen Strafprozeßreform gemacht hatte: Bei der divergierenden Haltung der Länder stand zu befürchten, daß die preußische Vorlage bereits im Bundesrat entstellt würde. Zudem ließ der zu erwartende Proteststurm in der Presse, den Standesorganen und im Reichstag die Aussichten des Entwurfs gegen Null tendieren150. Deutlicher noch als die Strafprozeßnovelle offenbart die ZPO-Initiative die andere Seite des Bismarckschen Verhältnisses zur Justiz. War seine Einstellung zum Strafrecht ganz überwiegend machtpolitisch bestimmt, so beurteilte er das Gebiet der Zivilrechtspflege im wesentlichen unter dem Aspekt staatlicher Fürsorgepflicht – ein Prinzip, das bei Bismarck feudal-patriarchalischen Ursprungs war. Insofern besteht – der Kanzler weist selbst darauf hin – ein unmittelbarer Zusammenhang mit der zur gleichen Zeit betriebenen Sozialgesetzgebung. Letztlich wurzelten beide Haltungen in der Überzeugung, daß die Schutzpflicht des Staates oberster Zweck seiner Existenz sei. Die Übereinstimmung zwischen Bismarck und Bähr, die sich 147 Bismarck an Friedberg, 14. 12. 1884, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8332, Bl. 31 ff., hier Bl. 31; Werthern an Crailsheim, 18. 12. 1884, in: HStA, MJu 13132. Ganz ähnlich an Schelling: „Im Gegensatz zu der altpreußischen, bis auf Friedrich Wilhelm I. und Friedrich den Großen zurückreichenden Tradition tritt in dem jetzigen Verfahren der richterliche Schutz, welcher für den weniger Bemittelten von hoher Bedeutung ist, in den Hintergrund“ (Bismarck an Schelling, 17. 8. 1884; zit. n. Damrau, S. 55). 148 Vgl. Werthern an Crailsheim, 18. 12. 1884, in: HStA, MJu 13132. 149 Vgl. Damrau, S. 55 ff. 150 Friedberg wies Bismarck ausdrücklich darauf hin, daß man sich mit den Vorschlägen viele „Unzufriedene“ und „politische Gegner“ verschaffen werde (Friedberg an Bismarck, 29. 12. 1884; zit. n. Damrau, S. 58).
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beide ohne Wenn und Aber auf den Standpunkt des durchschnittlichen Rechtssuchenden stellten, ist nicht zu übersehen. Juristisch unbefangen und frei von standespolitischen Rücksichten, hegte Bismarck keinerlei Skrupel, die Axt an die Wurzel des Übels zu legen. Wären seine Vorschläge verwirklicht worden, hätte sich das Reich eine jahrzehntelange zivilprozessuale Reformdiskussion erspart. Vielleicht hätte sich sogar der Umweg über die Sondergerichte, der 1890 mit Begründung der Gewerbegerichte eingeschlagen wurde, erübrigt. Ohne den notwendigen Rückhalt bei den Ländern wagte es allerdings auch Bismarck nicht, den Kampf gegen die organisierten Standesinteressen aufzunehmen. Man darf vermuten, daß sich Bismarck in seinen Aversionen gegen den Juristenstand wieder einmal bestätigt sah. 3. Im Gegensatz zur Exekutive wurde der Reichstag erst gegen Ende des Jahrzehnts aktiv: Auf der Grundlage früherer Vorschläge brachte der nationalliberale Abgeordnete Kulemann, damals Amtsrichter in Braunschweig, Ende 1888 einen Gesetzentwurf ein, der, abgesehen vom Mündlichkeitsproblem, alle wesentlichen Kritikpunkte aufgriff und einen detaillierten Plan für die Umgestaltung des amtsgerichtlichen Verfahrens enthielt151. Bei den beiden konservativen Parteien stieß der Entwurf auf einige Sympathie, der Majorität ging er allerdings entschieden zu weit. Wie beim Strafverfahren schreckte die Mehrheit vor einer Systemänderung zurück. Größeren Erfolg hatte ein von Rintelen (Zentrum) eingebrachter Alternativantrag, der sich auf das Zustellungswesen beschränkte, das, zumindest im Grundsatz, wieder den Gerichten übertragen werden sollte. Der Antrag mündete – unter Ausklammerung der Prinzipienfragen – in eine nahezu einstimmig angenommene Resolution, in der die Reichsleitung aufgefordert wurde, baldmöglichst einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen (30. 6. 1890)152. b) Die Kostenproblematik Die Diskussion um die prozessualen Mißstände erstreckte sich von Beginn an auch auf die Kostenfrage. Nicht anders als heute setzten sich die Prozeßkosten eines vollständigen Verfahrens aus drei Komponenten zusammen: den Gerichtskosten, den Anwaltsgebühren und den Nebenkosten. Vor der Justizreform von 1879 existierten in Deutschland zwei Kostensysteme nebeneinander153. Während die meisten Staaten auf die einzelnen Akte richterlicher oder anwaltlicher Tätigkeit Gebühren erhoben, bestand in Preußen das Sy151 Wilhelm Kulemann, Zur Reform des amtsgerichtlichen Civilprozesses, Berlin 1889 (zuerst in: ZZP 11, 1887, S. 353 – 396); Kulemann (1851 – 1926) gehörte dem Reichstag 1887 – 1890 an; zum folgenden auch Damrau, S. 74 ff. 152 Zu den Einzelheiten: Vierhaus, Die Verhandlungen des Reichstags über den Antrag Rintelen, in: ZZP 15 (1891), S. 463 – 476. Vierhaus sympathisierte zwar mit dem Antrag, bezweifelte aber dessen Prämisse, das Zustellungswesen isoliert reformieren zu können. 153 Zum folgenden: R. Sydow, Die deutsche Justizreform II, in: Schmollers Jahrbuch, N. F. 7 (1883), S. 53 – 83, hier S. 77 ff. (LR in Berlin).
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2. Teil: Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900)
stem der Pauschalsätze. Größere Abschnitte des Verfahrens wurden mit einer gleichmäßigen Gebühr belegt, die mit wachsendem Streitwert allmählich anstieg (Gesetze v. 12. 5. 1851). Die Anwaltsgebühren waren so reichlich bemessen, daß es für viele Richter attraktiv erschien, beim Justizminister den Wechsel in die Advokatur zu beantragen. Mit Gesetz vom 1. 5. 1875 erfuhren sämtliche Anwaltskosten noch einmal eine Erhöhung um 25 %. Als Motiv wurde offiziell die eingetretene Geldentwertung genannt, der eigentliche Grund dürfte aber in der Befürchtung gelegen haben, nicht genügend Nachwuchs für die Justiz zu finden. Die im Reichsjustizamt ausgearbeiteten Entwürfe für die beiden Gebührenordnungen (Gerichtskosten und Anwaltsgebühren) adaptierten das preußische System, das den Vorzug besaß, den Kostenaufwand im voraus kalkulierbar zu machen154. Zugleich hoben sie die Gebührensätze beträchtlich an. Höhere Gerichtskosten sollten dazu dienen, die Einnahmen des Fiskus auch nach erfolgter Reorganisation sicherzustellen und der in Teilen Preußens herrschenden Prozeßfreudigkeit Einhalt zu gebieten. Die großzügige finanzielle Ausstattung der Anwälte war als flankierende Maßnahme gedacht, mit der man die gesunde Entwicklung des Standes absichern wollte. Namentlich bestand die Befürchtung, die Freigabe der Advokatur könne ein Anwaltsproletariat erzeugen, das aus pekuniärer Not die Prozeßsucht anfachen würde. Im Parlament wiederholte sich die Situation der Jahre 1875 / 76: Die Interessen des rechtssuchenden Publikums erwiesen sich als nachrangig. In beiden Richtungen blieb der hohe Kostenansatz bestehen, auch wenn nicht die jeweils höchste zur Diskussion stehende Skala zum Gesetz erhoben wurde. Dabei versuchten die Vertreter der Advokatur ganz unverhohlen, die anwaltlichen Sätze in die Höhe zu treiben. Unterstützt wurden sie von einer öffentlichkeitswirksamen Lobbytätigkeit. Die schließlich verabschiedeten Anwaltsgebühren beruhten in hohem Maße auf Selbstveranlagung und juristischer Standessolidarität155. Wiederum war es Otto Bähr, der die Belange des Publikums gegen die Sonderinteressen seiner Zunft verteidigte. Seine pointierte Kritik galt vor allem der Anwaltsvergütung, welche die Rechtsverfolgung zu einem „Luxusartikel“ für Reiche 154 Zum folgenden: Anon., Die Höhe der Prozeßkosten, in: Grenzboten 42 / 3 (1883), S. 597 – 608 / 654 – 667; siehe auch die unter demselben Titel erschienene Replik von R. Schall (RA in Stuttgart) sowie die Duplik in: Grenzboten 43 / 2 (1884), S. 525 – 543; F. Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte 1871 – 1971, Essen 1971, S. 26 – 33 (einseitig aus Sicht der Advokatur). 155 Der erste Entwurf war einer aus acht Anwälten bestehenden Kommission vorgelegt worden, die die Gebührensätze fast um ein Viertel hochsetzte. Die Reichstagskommission, an die dieser (zweite) Entwurf überwiesen wurde, bestand aus zehn Anwälten und elf weiteren Juristen; Laien waren überhaupt nicht vertreten. Auch sie beantragte eine nochmalige Erhöhung um rund 10 %, was vom Plenum allerdings abgelehnt wurde; zu den einzelnen Tarifskalen s. die Tabelle in: Grenzboten 42 / 3, S. 607. Im damaligen Reichstag saßen 26 Rechtsanwälte (bei 397 Abgeordneten). Zwischen 1871 und 1912 schwankte der Prozentsatz der Anwälte zwischen 5,3 % und 10,1 %. Der Anteil der Juristen insgesamt lag natürlich wesentlich höher; vgl. H. Siegrist, Advokat, Bürger und Staat, Frankfurt / M. 1996, Bd. 2, S. 909 ff.
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und Wohlhabende mache. Im Rahmen der Reichstagsdebatte führte er aus: „Es handelt sich um einen durchaus nicht unbedeutenden, sondern höchst wichtigen Punkt für unsere ganze Justizpflege. Die ganze Freiheit des Rechtswegs wird illusorisch, wenn die Prozeßführung so hoch mit Kosten belastet wird, daß das Prozeßführen zum Unsinn würde. Meine Herren, ich weiß nicht, wie Ihr Beschluß ausfallen wird – das glaube ich aber sagen zu können, im Sinne unseres deutschen Volks liegt es nicht, dem Prozeß solche Kosten aufzuerlegen. Denn unser Volk will nicht eine solche Unterdrückung in seinen heiligsten Interessen durch den Juristenstand“156. Ein gemeinsam mit Peter Reichensperger eingebrachter Antrag, der den Kostenansatz auf das Niveau des ursprünglichen Regierungsentwurfs zurückführen wollte, fand nicht die erforderliche Mehrheit des Plenums157. Mit den beiden liberalen Parteien und einem Teil des Zentrums (angeführt von Windthorst) widersetzten sich eben jene Fraktionen einer größeren Kostensenkung, in deren Reihen überdurchschnittlich viele Rechtsanwälte saßen. Das Gerichtskostengesetz (18. 6. 1878) und die Gebührenordnung für Rechtsanwälte (7. 7. 1879) enthielten folgende Regelungen: Die richterliche Tätigkeit teilte sich in drei, die anwaltliche in vier Kategorien, für die jeweils die volle Gebühr zu entrichten war. Nebenakte und das Mahnverfahren wurden anteilig vergütet (Nebengebühren). Das Gebührensystem gliederte sich in 18 Wertklassen, deren Tarife in relativ großen Schritten anstiegen. Im Vergleich zur preußischen Skala erhöhten sich die Gerichtskosten um rund 33 %, was insbesondere in den unteren Wertklassen zu Buche schlug. Bei den Anwaltsgebühren betrug die Steigerung sogar 45 %. De facto fiel sie noch weit höher aus, da im preußischen Verfahren ein Anwaltszwang in erster Instanz überhaupt nicht und bei Bagatellsachen auch in zweiter Instanz nicht bestand; ebensowenig kannte man die Bestimmung, wonach der Unterlegene die gegnerischen Anwaltskosten auch bei nichtbestehender Vertretungspflicht (Amtsgericht) zu tragen hatte (ZPO § 87). Hinzu kamen die Nebenkosten, namentlich Schreibgebühren, Portoauslagen und Zustellungsgebühren, die sich zu erheblichen Summen „zusammenläppern“ konnten, zumal sie unabhängig vom Streitwert anfielen. Waren sie im preußischen Recht bei den Gerichten in der Pauschsumme enthalten, so wurden sie jetzt gesondert berechnet; Anwälten hatte früher nur eine geringe Schreibgebühr zugestanden. Die Anwaltsgebühren überstiegen die Gerichtskosten deutlich: Einer vorsichtigen Schätzung zufolge betrug ihr Verhältnis im Durchschnitt 8:5158. Fast regelmäßig entstanden weitere Nebenkosten. In allen Schuldensachen fielen Vollstreckungsgebühren an, die an den Gerichtsvollzieher gingen (GebührenordBähr, Sten. Ber. RT, 30. 4. 1879, S. 897, 900. Antrag Bähr-Reichensperger: Sten. Ber. RT 1879, Drks. Nr. 144. 158 Siehe die Berechnungen und Vergleichstabellen in: Grenzboten 42 / 3, S. 607 f., 661 ff. Einige Beispiele seien genannt (Gesamtgebühren nach preußischem und Reichstarif für einen vollständigen Prozeß mit zwei Anwälten): Wertklasse bis 20 M.: 8,40 M. – 30,90 M.; WK 450 – 650 M.: 261 M. – 363 M.; WK 2.100 – 2.700 M.: 826 M. – 1.175 M.; WK 8.200 – 10.000 M.: 1.299 M. – 1.978 M. 156 157
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2. Teil: Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900)
nung v. 24. 6. 1878). Die gänzlich veränderte Stellung der Vollziehungsbeamten hatte sich naturgemäß auch in den Gebührensätzen niedergeschlagen. Zudem durften sie – im Gegensatz zu den altpreußischen Exekutoren – in erheblichem Umfang Reisekosten abrechnen (sog. Meilengeld). Als letzter Posten konnten Gebühren für Zeugen und Sachverständige (Gebührenordnung v. 30. 6. 1878) hinzukommen. Die Fälle waren nicht selten, in denen die Prozeßkosten den Streitwert überstiegen. Die Verteuerung hatte gravierende Auswirkungen. Als unmittelbare Folge sank die Zahl der Zivilprozesse erster und zweiter Instanz in Preußen beträchtlich. War in den ausgehenden 70er Jahren ein stetiger Anstieg zu verzeichnen gewesen, so bewegte sich der Geschäftsanfall das gesamte folgende Jahrzehnt über auf niedrigem Niveau. Ein Vergleich der Jahre 1878 und 1886 etwa zeigt, daß sich in den altländischen Provinzen die Zahl der gewöhnlichen Prozesse um fast 40 %, die Zahl der eingelegten Rechtsmittel sogar um 51 % vermindert hatte. Erst 1890 setzte ein erneuter Anstieg ein, der sich gegen Ende des Jahrhunderts beschleunigte159. Die preußische Justizverwaltung begrüßte den Rückgang, da vor allem „frivole Prozesse“ betroffen seien, bei denen „bloße Streitsucht der Parteien, Nachlässigkeit oder böser Wille der Schuldner“ das Movens bilden würde160. In bezug auf die höhere Instanz, die früher – bei fehlendem Anwaltszwang – mit Bagatellsachen regelrecht überflutet worden war, mochte das Motiv berechtigt gewesen sein, ansonsten aber handelte es sich um eine unbewiesene Behauptung. Unter dem Strich verminderten sich die staatlichen Einnahmen aus der Zivilrechtspflege, da die angehobenen Gerichtskosten den Prozeßrückgang nicht auffangen konnten. Gleichzeitig stiegen – als Folge der Reorganisation von 1879 – die Gesamtausgaben für die Justiz161. Der wachsende Kostendruck erhöhte das in Preußen ohnehin 159 Der Geschäftsanfall vor und nach der Justizreform läßt sich nur eingeschränkt miteinander vergleichen, da die Umstrukturierung der Gerichtsorganisation, der Verfahrensarten und der Rechtsmittel zu berücksichtigen ist. Dennoch ist die Grundtendenz unbestreitbar. In den älteren Landesteilen (KG-Bezirk und Bezirke Königsberg, Marienwerder, Breslau, Posen, Stettin, Hamm und Naumburg) betrug die Zahl der jährlich neu anhängig gemachten gewöhnlichen Prozesse: 1874: 597.931; 1875: 642.628; 1876: 761.703; 1877: 863.645; 1878: 892.970; 1880: 567.679; 1881: 520.930; 1882: 500.515: 1883: 501.784; 1884: 513.661; 1885: 523.319; 1886: 538.263. Die Zahl der eingelegten Rechtsmittel belief sich auf: 1878 (Appellationen und Rekurse): 52.896; 1881 (Berufungen): 21.810; 1882: 23.985; 1883: 25.035; 1884: 25.667; 1885: 25.572; 1886: 26.063 (Bericht 1882, S. 21 ff.; Bericht 1887, S. 34 f. und S. 75, Anl. VIII). In Gesamtpreußen entwickelte sich die Zahl der erstinstanzlichen Neuzugänge vor den Amts- und Landgerichten wie folgt: 1880: 984.794; 1881: 911.749; 1882: 879.917; 1884: 874.689; 1886: 911.506; 1889: 965.378; 1890: 1.006.413; 1892: 1.240.143; 1894: 1.258.500; 1897: 1.277.326; 1900: 1.395.158 (errechnet nach: P. Schuster / S. Siebert, Tabellen zum Thema „Rechtsmittelstatistik“, in: P. Gilles, Hg., Rechtsmittel im Zivilprozeß, Köln 1985, S. 333 – 420, hier Tab. 3, S. 349 f.). 160 Bericht 1887, S. 35. 161 Vgl. Anon., Zu dem jüngsten Entwurf eines Prozeßkostengesetzes, in: Grenzboten 46 / 1 (1887), S. 352 – 363, hier S. 356, 358. Ausgaben und Einnahmen der preußischen Justiz (in Mark): 1877 / 78 (ohne Bezirke Köln, Celle und Frankfurt): 46.617.374:19.302.333; 1881 / 82 (gesamte Monarchie): 51.846.002:18.238.614; 1884 / 85: 57.850.202:15.240.671.
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starke Gewicht finanzieller Erwägungen und engte den Spielraum für justizpolitische Reformen weiter ein. Auf der anderen Seite verstärkte sich – hier wirkten freigegebene Advokatur und Gehaltserwartungen zusammen – der Andrang zur Rechtsanwaltschaft. Im Laufe der 1880er Jahre erhöhte sich die Zahl der Rechtsanwälte im Reich von 4.091 (1880 / 81) auf 5.249 (1890), was einer Steigerung von 28 % entsprach. Sie lag damit erheblich über dem Bevölkerungswachstum, so daß die Anwaltsdichte von 11.100 Einwohnern pro Anwalt (1880 / 81) auf 9.400 (1890) zunahm. Da sich der Trend in der Folgezeit beschleunigt fortsetzte, wurden in der Anwaltschaft seit den 90er Jahren Klagen über eine angebliche Überfüllung der Profession laut162. Gesunkener Geschäftsanfall auf der einen, steigende Anwaltszahlen auf der anderen Seite erhöhten den Konkurrenzdruck innerhalb des Standes und führten zu erheblichen Einkommensunterschieden – eine Entwicklung, zu der indessen auch andere Faktoren beitrugen (regionale Unterschiede, Stadt-Land-Gefälle, Lokalisierungszwang, Konzentration auf wenige „Star“-Anwälte). Mag ein Teil der Anwälte auch subjektiv das Gefühl gehabt haben, nicht standesgemäß entlohnt zu werden, so legen alle verfügbaren Daten den Schluß nahe, daß die materielle Lage der Advokatur – und zwar bis zum Ersten Weltkrieg – objektiv wenig Grund zur Klage bot. Die Einkommen erreichten zumindest das Niveau des richterlichen Eingangsgehalts, in der Regel lagen sie erheblich darüber163. Bis zum Jahre 1900 (Änderung des preußischen Gerichtsvollziehersystems) zeigt die innerprofessionelle Entwicklung bei Anwälten und Gerichtsvollziehern vergleichbare Tendenzen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß die Kostendebatte, die nach 1879 bruchlos fortgeführt wurde, hochgradig interessengeleitet war. Da weder Reichsleitung noch Anwaltschaft zu einschneidenden Kürzungen bereit waren, schoben sie sich gegenseitig den „schwarzen Peter“ zu164. Während die Rechtsanwälte im Reichstag vehement für sinkende Gerichtsgebühren eintraten, führten die Verbandsorgane beredt Klage über die düsteren Einkommensverhältnisse in der Advokatur. Dem wurde mit Recht entgegengehalten, daß es nicht genuine Aufgabe der Gebührenordnung sei, jedem Rechtsanwalt zu einem standesgemäßen Einkommen zu verhelfen. Faktisch neutralisierten sich die beiden Lager, mit der Folge, daß die Interessen der Rechtssuchenden erneut auf der Strecke blieben165. Namentlich die Handelskammern, die sich schon während der legislativen Beratungen kritisch zu Wort gemeldet hatten, sprachen sich wiederholt und dringend für eine HerVgl. Siegrist, II, S. 590 ff. Vgl. Siegrist, II, S. 618 ff. Für zumindest befriedigende Einnahmen spricht auch die Tatsache, daß sich die Anwälte trotz aller Klagen beharrlich weigerten, Auskunft über ihre Einkommenssituation zu geben. 164 Als Beispiele: Schelling, Sten. Ber. RT, 28. 4. 1881, S. 869 ff.; Payer, ebd., 15. 12. 1881, S. 352 ff. 165 „Der prozeßführende Laie aber, welcher die Kosten bezahlen muß, ist wie der stumme Gaul, der, wenn Kutscher und Passagier einig sind, laufen muß, wie diesen beliebt, ohne einen Laut der Klage“ (Grenzboten 42 / 3, S. 665). 162 163
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2. Teil: Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900)
absetzung beider Tarifordnungen aus166. Immerhin erfuhren die Gerichtskosten per Gesetz vom 29. 6. 1881 eine geringfügige Kürzung, indem gewisse Nebengebühren vermindert und einige Schreib- und Zustellungskosten abgeschafft wurden. Der 1887 unternommene Versuch, den Anwälten eine ähnlich moderate Senkung zuzumuten, scheiterte an der Volksvertretung und dem lautstarken Protest der Standesorgane (Deutscher Anwaltverein, Juristische Wochenschrift). Damit war ein Zustand zementiert, den ein anonymer Verfasser in den „Grenzboten“ treffend wie folgt beschrieb: „Doktrinarismus und Egoismus des Juristenstandes haben sich die Hand geboten, um ein Rechtsverfahren zu schaffen, das für den größten Teil Deutschlands keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt enthält. Und dieses Gebäude hat man überdies mit Kostengesetzen gekrönt, welche die Rechtsverfolgung in unerhörter Weise erschweren. [ . . . ] Ihre Höhe, die in vielen Fällen zur Unerschwinglichkeit wird, hat den Glauben, in der Justiz einen wirklichen Schutz des Rechtes zu besitzen, erschüttert. Vielfach wird schon jetzt lieber Unrecht hingenommen, als daß man die Kosten eines Prozesses daran wagt“167. Die hohen Prozeßkosten des Kaiserreichs waren das Resultat staatlich-fiskalischer Begehrlichkeit und erfolgreicher Lobbytätigkeit. Es spricht für sich, daß eine nennenswerte Aufstockung der Anwaltsgebühren – trotz anhaltender Agitation des Anwaltvereins – bis 1914 nicht mehr erfolgte. Lediglich einige Nebengebühren wurden im Zuge der Amtsgerichtsnovelle von 1909 erhöht168. Auch die Gerichtskosten und die Vollstreckungsgebühren erfuhren bis zum Ersten Weltkrieg keine wesentlichen Änderungen. Erwähnt sei nur, daß die Amtsgerichtsnovelle die gerichtlichen Schreib- und Portokosten an den Streitwert koppelte, indem sie die Einzelberechnung durch eine am Gebührensatz orientierte Pauschale (10 %) ersetzte. 3. Die neuen Prozeßordnungen in der Praxis – ein kurzer Vergleich Die Kritik an den beiden Hauptverfahrensarten, die unmittelbar nach Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze bzw. nur wenige Jahre später einsetzte, weist ähnliche Ursachen und inhaltliche Parallelen auf. Sowohl im Straf- als auch im Zivilprozeß lautete der zentrale Vorwurf auf mangelnden Rechtsschutz des Angeklagten resp. Geschädigten. In beiden Fällen lag eine Beschränkung der richterlichen Tätigkeit vor, die zu einer Verkürzung bzw. Erschwerung des Rechtsweges führte. Im Strafprozeß war die Berufung gegen landgerichtliche Urteile abgeschafft und die Revision gegen schwurgerichtliche Erkenntnisse eingeschränkt worden; hinzu kam die schwache Stellung des Beschuldigten im Vorverfahren. Im Zivilprozeß waren richterliche Befugnisse auf die Parteien und den Gerichtsvollzieher übergegangen, mit 166 Siehe die Liste in: Anon., Die Lage der Prozeßkostenfrage, in: Grenzboten 46 / 3 (1887), S. 554 – 564, hier S. 564. 167 Ebd., S. 564. 168 Vgl. Ostler, S. 58 f.
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der Folge, daß Anwaltszwang, Parteibetrieb und Kostendruck den Rechtsstreit erheblich erschwerten169. Hier liegen die Wurzeln für die spätere Forderung nach „Entfesselung“ des Richters von den Banden der Prozeßordnungen. Soziologisch setzten beide Verfahrensarten den wohlhabenden und gebildeten Rechtssuchenden voraus, der am ehesten im Bürgertum zu finden war (Verteidigung, Berufung, Parteibetrieb). Damit folgten auch die beiden Prozeßordnungen jenem „bürgerlichen Sozialmodell“, das Grimm zufolge der Rechtsordnung des Reiches zugrundelag und dessen Charakteristikum darin bestand, „daß es die materiellen Gelingensvoraussetzungen, die beim Bürgertum vorhanden waren, generell als gegeben unterstellte und daher nicht in die rechtliche Freiheitssicherung mit einbezog“170. Die Folgen dieser „bürgerlichen Schlagseite“ (Grimm) waren denn auch rasch sichtbar geworden. Insgesamt gesehen hatten juristisch-technische Prinzipien bei der Gesetzgebung die Oberhand behalten, während elementare Gerechtigkeitsvorstellungen und volkstümliche Erwartungen, insbesondere in bezug auf eine rasche, einfache und preiswerte Justiz, auf der Strecke geblieben waren. Vereinfacht könnte man die Verhältnisse auf folgende Formel bringen: War das Strafverfahren nicht liberal genug ausgefallen, so litt das Zivilverfahren an einem Übermaß an Liberalität. So gesehen spiegelten die Verfahrensordnungen das gespaltene Verhältnis zwischen Preußen und dem Liberalismus wider, war die preußische Regierung doch seit der Reformära wirtschaftsliberal eingestellt, während die Forderungen des politischen Liberalismus weitgehend abgelehnt wurden.
II. Die politische Strafrechtsprechung 1. Überblick und Einzelvorgänge Auch in den 80er Jahren entsprang die politische Judikatur im Deutschen Reich zweierlei Hauptquellen. Einen Schwerpunkt bildete nach wie vor die öffentliche Kritik an Staat und Gesellschaft. Daneben trat das – im folgenden Abschnitt behandelte – Sozialistengesetz, das eigene strafrechtliche Konsequenzen zeitigte. Die verschärfte Verfolgung der sozialistischen Bewegung löste den Kulturkampf ab, der als strafrechtliches Phänomen zu Beginn der 80er Jahre an sein Ende kam. Wiederum deckt sich die Zweiteilung nicht mit dem Gegensatz zwischen gemeinem Recht und Ausnahmerecht, da die „Umsturzpartei“ – wie zuvor schon der 169 Vgl. zum ganzen Bähr, Justizorganisation, S. 75 ff. In bezug auf den Zivilprozeß schreibt Bähr: „Wenn man dieses ganze System unbefangen in seiner Wirksamkeit betrachtet, so könnte man glauben, daß die Schöpfer desselben voller Bosheit gegen alle Rechtssuchenden gewesen und darauf ausgegangen seien, die Richter zu kalten und gleichgültigen Menschen zu erziehen. Jedenfalls bilden die Gefahren, mit denen die Beschreitung des Rechtsweges heute umgeben ist, einen wesentlichen Teil des Abschreckungssystems, das man gegen die Rechtsverfolgung errichtet hat“ (ebd., S. 77). 170 Grimm, Bürgerlichkeit, S. 180.
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ultramontane „Reichsfeind“ – ebenso mit den Mitteln des Strafgesetzbuchs bekämpft wurde. Von daher umfassen die nachfolgend behandelten Delikte und Deliktgruppen immer auch ein im einzelnen nicht näher bezifferbares Quantum an Anklagen gegen Sozialdemokraten. 1. Zunächst fällt ins Auge, daß Untersuchungen wegen Majestätsbeleidigung nach wie vor Konjunktur hatten. Auch wenn das verfügbare Datenmaterial einen unmittelbaren Vergleich zwischen den 70er und den 80er Jahren nicht zuläßt (die reichsweite Kriminalstatistik setzte erst mit dem Jahr 1882 ein), so ist die Tatsache einer Zunahme des Delikts doch unverkennbar, mit einer nochmaligen Steigerung gegen Ende des Jahrzehnts. Eine Ausnahme macht Bayern, dessen Zahlen eine gegenläufige Tendenz aufweisen. Zieht man Sonn- und Feiertage ab, so wurden im Reich während der 80er Jahre durchschnittlich ein bis zwei Personen pro Werktag wegen Beleidigung seiner Majestät des Kaisers verurteilt. Die Verurteilungsquote lag im Durchschnitt bei 80 %171. Damit unterschritt sie geringfügig den allgemeinen Hundertsatz an Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze, der sich während der gesamten 80er Jahre konstant zwischen 81 % und 82 % bewegte172. Gemessen am Strafrahmen des § 95 StGB, der seit der Novelle von 1876 auf Gefängnis oder Festungshaft zwischen zwei Monaten und fünf Jahren lautete, fielen die Strafen recht gering aus: In den Jahren 1886 – 1890 kamen auf jeden Verurteilten durchschnittlich 188 Tage, mithin 6 Monate Gefängnis; insgesamt wurden in jenen Jahren rund 1.250 Jahre Gefängnis verhängt173. Legt man hingegen die milde Urteilspraxis zugrunde, die sich durch die gesamte Strafrechtspflege hindurchzog, so stellt sich das Strafmaß als relativ hart dar174. Hier wirkte sich die Tatsache aus, daß das Gesetz weder mildernde Umstände noch ersatzweise Geldstrafe vorsah. Ferner ist davon auszugehen, daß ein Großteil der Anklagen auf mündlichen Äußerungen beruhte, da die Vertreter der schreibenden Zunft eine gewisse Vorsicht an den Tag legten, sobald die Person des Staatsoberhaupts ins Spiel kam. Aus diesem Grunde gestaltete sich die Beweislage nicht selten schwierig, nur allzu häufig handelte es sich um schnöde Denunziationen. 171 Wegen Verstoßes gegen die §§ 94 – 101 StGB – faktisch war nur § 95 von Bedeutung – abgeurteilte und verurteilte Personen: 1882: 525 / 430; 1883: 494 / 389; 1884: 467 / 381; 1885: 485 / 375; 1886: 485 / 402; 1887: 668 / 540; 1888: 700 / 554; 1889: 637 / 488; 1890: 690 / 509 (KrSt 1890, II. 2, Übers. 1); weiterhin die im RJA erstellten Übersichten in: BA, R 3001, Nr. 6157, Bl. 11 ff., 161 ff.; Preußen: 1881: 365 / 292 (Zeitschrift des Statistischen Bureaus, XIV. Erg.heft, S. 58). In den folgenden Jahren wurden in Preußen verurteilt: 1882: 257; 1883: 224; 1884: 228; 1885: 230; 1886: 253; 1887: 311; 1888: 383; 1889: 335; 1890: 333 (BA, R 3001, Nr. 6157, Bl. 161). Verurteilte in Bayern: 1882: 80; 1883: 82; 1884: 74; 1885: 52; 1886: 58; 1887: 66; 1888: 47; 1889: 45; 1890: 43 (ebd.). 172 1882 – 1886: 81,6 %; 1887 – 1891: 81,2 % (KrSt 1896, I. 16). 173 KrSt 1890, I. 40, Übers. 15. Von den 1881 in Preußen verurteilten 292 Personen erhielten mehr als die Hälfte (148) Haftstrafen zwischen drei Monaten und einem Jahr; bei 20 Angeklagten fiel das Strafmaß noch höher aus (Zeitschrift des Statistischen Bureaus, S. 60). 174 Näheres zur allgemeinen Strafzumessungspraxis unten Kap. IV.
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Das erhöhte Anklage- und Strafniveau läßt sich als Nachwirkung des explosionsartigen Anstiegs im Jahre 1878 deuten. Zwar blieben die fast 2000 Untersuchungen, die im Gefolge der Kaiserattentate stattfanden, ein ganz und gar singuläres Ereignis, der relativ niedrige Stand der frühen 70er Jahre wurde jedoch nicht wieder erreicht. Dafür sorgten nicht zuletzt verschiedene Erkenntnisse des Reichsgerichts, die den Tatbestand der Majestätsbeleidigung ausdehnend interpretierten und Angriffe auf Person und Handlungen des Staatsoberhaupts grundsätzlich für strafbar erklärten175. Auf linksliberaler Seite betrachtete man die Entwicklung mit Sorge und forderte, entweder die Anwendung des Gesetzes oder das Gesetz selbst zu ändern176. Trotz verbesserter Strafstatistik läßt sich die Zahl der Untersuchungen wegen Bismarckbeleidigung auch für die 80er Jahre nicht ermitteln. Einiges spricht dafür, daß die Quote rückläufig war. Zum einen dürfte die Antrags- und Anklageflut des vergangenen Jahrzehnts, die zu merklich höheren Strafen geführt hatte, ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Zum anderen schränkte der Reichskanzler die Verfolgung auf relevante Fälle ein. Als der Bürgermeister der Stadt Rees (Niederrhein) anregte, einen Strafantrag wegen beleidigender Äußerungen eines Handlungsgehilfen zu stellen, lehnte Bismarck dies mit der Begründung ab, „daß er wegen einfacher, gegen ihn gerichteter Verbalinjurien nur dann Strafanträge stelle, wenn ersteren nach der Zeit oder sonstigen Umständen ein politischer Charakter beiwohne“177. Andererseits bezeugt der Fall – besagter Handlungsgehilfe wurde vorsorglich in Haft genommen – erneut jene Eigenmächtigkeit der Behörden, die gerade für Bismarckbeleidigungen typisch war. Um den Ehrgeiz der Staatsanwälte, die in ihrem Übereifer die gesetzlichen Schranken nicht selten mißachteten, zu drosseln, gab Friedberg im Oktober 1884 Richtlinien für die zwecks Einholung des Strafantrags zu erstattenden Berichte bekannt. Zukünftig sollte der Bericht des Ersten Staatsanwalts Auskunft darüber geben, welche Erfolgsaussichten eine etwaige Anklage habe, welcher Ansicht der Oberstaatsanwalt sei, über welchen Ruf der Beschuldigte verfüge, „ob und eventuell in welcher Weise derselbe sich bisher politisch bemerkbar gemacht“ habe und ob Anklage wegen konkurrierender Vergehen erhoben werde178. Man sieht: Nach wie vor entfaltete das eigentümliche Delikt eine schwer kontrollierbare Eigendynamik. Im übrigen war die Rechtspraxis bei Bismarckbeleidigungen uneinheitlich. Auf Anfrage Friedbergs schilderte der Oberstaatsanwalt beim Kammergericht die in 175 Wegweisende Bedeutung besaß die Entscheidung v. 23. 6. 1880; vgl. Wetzel, S. 234; weiterhin: E. P. Oberholtzer, Die Beziehungen zwischen dem Staat und der Zeitungspresse im Deutschen Reich, Berlin 1895, S. 35 f. 176 Vgl. Karl Braun, Ueber die gegenwärtigen Majestätsbeleidigungsprozesse in Deutschland, in: Nation 2 (1884 / 85), S. 550 f. (RA beim RG). 177 AA an Friedberg, 31. 12. 1882, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8139, Bl. 61 f. 178 RV an die Oberstaatsanwälte, 8. 10. 1884, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8139, Bl. 83 f.; auch in: ebd., Nr. 4536. Das Reskript bezog sich zwar allgemein auf Beleidigungen der Regierung und ihrer Mitglieder, zielte hauptsächlich aber auf Bismarckbeleidigungen.
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Berlin üblichen Gepflogenheiten wie folgt: Beim Landgericht I entschied die Strafkammer über alle schwereren, „durch die Presse oder in größeren politischen Versammlungen oder von Personen in angesehenen und einflußreichen Lebensstellungen“ verübten Fälle, während leichtere, „nur gesprächsweise von untergeordneten Personen“ ausgegangene Beleidigungen, deren Verurteilung zudem nicht zweifelhaft war, auf Antrag des Staatsanwalts dem Schöffengericht überwiesen wurden (§ 75 GVG). Demgegenüber fanden die Verhandlungen beim Landgericht II ausnahmslos vor der Strafkammer statt. Nach Rücksprache mit Friedberg wies der Oberstaatsanwalt die Beamten seines Bezirks an, in Zukunft allein nach letztgenanntem Prozedere zu verfahren179. Abgesehen von den Spezialfällen der Majestäts- und Bismarckbeleidigung erfuhren die Beleidigungsdelikte eine ausgesprochen milde Beurteilung durch die Richter. Während die einschlägigen §§ 185 – 187 StGB (einfache Beleidigung – üble Nachrede – Verleumdung) Gefängnisstrafe bis zu einem resp. zwei Jahren vorsahen, betrug die durchschnittliche Urteilshöhe in den Jahren 1886 – 1890 gerade einmal zwanzig Tage180. Der Anteil der alternativ angedrohten Geldstrafe war außerordentlich hoch und stieg ständig weiter an: 1882 endeten 71,4 % aller Verurteilungen mit einer Geldstrafe, 1887 lag die Quote bei 74,79 %, 1890 bei 76,7 %181. Im Durchschnitt der Jahre 1882 – 87 belegte die Beleidigung mit 30,9% aller Geldstrafen den ersten Platz unter sämtlichen mit Geldstrafe belegten Delikten182. Wie die jährlichen Übersichten der Kriminalstatistik ausweisen, bewegten sie sich bezüglich der Höhe im unteren Bereich des Strafrahmens (die Strafmaxima lagen hier zwischen 200 und 1.500 Mark). Im übrigen setzte sich die Zunahme der Beleidigungsprozesse beschleunigt fort. In Preußen machten Beleidigungssachen 1881 mit 12,14 % aller Verbrechen und Vergehen bereits die drittgrößte Deliktgruppe aus183. Im Reich nahmen Beleidigungen mit rund 13% aller Fälle denselben Platz ein (übertroffen nur von einfachem Diebstahl und gefährlicher Körperverletzung). Wegen Beleidigungsvergehen standen jährlich mehr als fünfzigtausend Personen vor deutschen Gerichten. Die Verurteilungsquote der Jahre 1882 bis 1889, die mit durchschnittlich 75,06 % erstaunlich konstant blieb, lag um einiges niedriger als die allgemeine Strafrate, die 179 Friedberg an OStA beim KG, 22. 8. 1882; OStA an Friedberg, 13. 9. 1882, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8139, Bl. 51 ff. 180 KrSt 1890, I. 40, Übers. 15. Die Tabelle enthält eine Übersicht über die durchschnittliche Höhe der Strafzumessung. Dabei liegen die Beleidigungsdelikte unter den 43 erfaßten Deliktgruppen auf dem vorletzten Platz. Insgesamt wurden im genannten Zeitraum 9.639 Personen zu 524 Jahren Gefängnis verurteilt. 181 Angaben nach: KrSt 1911, I. 125, Übers. 40; KrSt 1887, I. 39, Tab. 20 und I. 45, Tab. 24; KrSt 1890, I. 36 / 37, Übers. 12. 182 KrSt 1899, I. 52. Gefolgt wurde die Beleidigung von der vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzung (19,9 %); auf beide Delikte entfielen mehr als die Hälfte aller Geldstrafen. 183 Vgl. Starke, S. 195.
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zwischen 81 % und 82 % pendelte184. Die übrigen 25 % entfielen zum größeren Teil auf Freisprechungen, zum geringeren auf Einstellung des Verfahrens, eine Art der Prozeßerledigung, die bei Beleidigungsklagen aus naheliegenden Gründen relativ häufig vorkam. Wie hoch der Anteil von Anklagen mit politischem oder sozialem Hintergrund war, läßt sich nicht beziffern. Legt man die bis 1870 für Preußen vorliegenden Angaben zugrunde, so ist davon auszugehen, daß es sich in der Mehrzahl der Fälle um Beleidigungen von Behörden oder Beamten handelte. Die Beleidigungsklagen bilden den strafgerichtlichen Ausdruck der vielfältigen Konfliktlinien, welche die politisch-soziale Landschaft des Deutschen Reiches durchzogen. Sie spiegeln die verbale Schärfe der Auseinandersetzungen wider, verweisen aber auch auf die weitverbreitete Neigung, im Streitfall Zuflucht bei den staatlichen Autoritäten zu suchen. Auf die diskursive Lernfähigkeit resp. die Entwicklung einer „Streitkultur“ zu vertrauen, mutete der politischen Mentalität noch etwas zuviel zu. Die freisinnige „Nation“ bemerkte Mitte 1886 hierzu treffend: „In den Beleidigungsprozessen tritt eine gewisse Unreife des öffentlichen Lebens zu Tage; deshalb sind sie bei politisch reiferen Völkern auch mit Recht mehr und mehr außer Gebrauch gekommen. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als in England. Wenn in Deutschland ein Politiker gegen einen Nachtwächter nur einzelne derjenigen Invektiven schleudern würde, mit denen der konservative Parteiführer und ehemalige Minister Lord Randolph Churchill gewohnheitsmäßig die gefeiertsten Männer Englands überschüttet, so würde er wahrscheinlich auf längere Zeit des Genusses der Freiheit beraubt werden“185. Aber auch der von „linker“ Seite immer wieder erhobene Vorwurf, die strafgerichtliche Verfolgung schränke die Meinungsfreiheit ein, erscheint angesichts der milden Urteilspraxis überzogen. Das „Damoklesschwert“ des Strafrechts, das über der Presse schwebte, mag die Liberalisierung der öffentlichen Meinung verzögert haben, verhindern ließ sie sich dadurch nicht. Einen erheblichen Bedeutungsverlust erlitten die einschlägigen Strafvorschriften zum Schutz von Staat und öffentlicher Ordnung (§§ 110, 111, 130, 131 StGB). Wiederholt fällt auch der hohe Prozentsatz an Freisprüchen ins Auge186. Deutlicher als anderswo spiegelt sich in den Zahlen die Überwindung des Kulturkampfes und die absorbierende Wirkung des Sozialistengesetzes wider. 2. Die politischen Beleidigungsprozesse hingen aufs engste mit der Tätigkeit der Anklagebehörde zusammen. Die Bestimmung des § 416 StPO, wonach die Staats184 KrSt 1890, II. 8 und II. 2, Übers. 1. Gesamtzahl der wegen Beleidigung (§§ 185 – 187, 189 StGB) rechtskräftig abgeurteilten und verurteilten Personen: 1882: 51.289 / 38.971; 1883: 52.645 / 39.911; 1884: 56.571 / 42.616; 1885: 54.779 / 40.859; 1886: 56.785 / 42.586; 1887: 58.929 / 44.084; 1888: 57.580 / 42.959; 1889: 58.596 / 43.600; 1890: 61.106 / 45.351. 185 Politische Wochenübersicht, in: Nation 3 (1885 / 86), S. 594 f. 186 Wegen Verstoßes gegen die §§ 110 / 111, 130 und 131 angeklagte und verurteilte Personen: 1882: 35 / 27; 13 / 8; 84 / 31 (KrSt, S. 134); 1884: 29 / 19; 14 / 9; 16 / 4 (KrSt, S. 134); 1887: 29 / 20; 33 / 14; 21 / 10 (KrSt, S. 134); 1890: 98 / 38; 27 / 3; 26 / 15 (KrSt, S. 152).
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anwaltschaft bei Antragsdelikten (Beleidigung, leichte Körperverletzung) öffentliche Klage erheben konnte, falls dies im öffentlichen Interesse lag, billigte ihr einen denkbar weiten Ermessensspielraum zu. Die Folgen ihrer Entscheidung waren weitreichend: Während bei Erhebung der öffentlichen Klage dem Beleidigten die Dienste der Polizeibehörden und des Staatsanwalts unentgeltlich zur Verfügung standen und die Staatskasse auch im Falle eines Freispruchs des Angeklagten die Kosten übernahm, mußte der auf den Weg der Privatklage Verwiesene etwaige Ermittlungen selbst anstellen, in der Regel einen Rechtsanwalt beauftragen, eine – bei der öffentlichen Klage ausgeschlossene – Widerklage gewärtigen und im Falle eines Freispruchs des Privatbeklagten sämtliche Kosten aus der eigenen Tasche zahlen. Unter diesen Umständen verzichteten viele Klagewillige auf eine Strafverfolgung. Ebenso wurde vom Recht, gegen den ablehnenden Bescheid der Staatsanwaltschaft Beschwerde einzulegen (zunächst bei der vorgesetzten Behörde, dann beim zuständigen OLG) nur selten Gebrauch gemacht, und wenn, dann nur mit äußerst bescheidenem Erfolg187. Beide Entwicklungen waren bei Beratung der Strafprozeßordnung vorausgesagt worden. Es war Eugen Richter, der Führer der Fortschrittspartei, der den parlamentarischen Angriff auf die ungleiche Rechtspraxis in Beleidigungssachen Anfang 1882 eröffnete188. Während die Staatsanwälte bei Ministern, hohen Beamten und konservativen Abgeordneten, so Richter, selbst die Initiative ergreifen und um die Genehmigung zur Strafverfolgung nachsuchen würden, lehnten sie den Antrag auf amtliche Verfolgung durchweg ab, sobald es sich um liberale Politiker handele. Die Diskrepanz sei umso auffälliger, als die offiziösen Blätter vor Beleidigungen aller Art nicht zurückschrecken würden. Als Beispiel verwies Richter auf die zahlreichen Anklagen wegen Beleidigung des Hofpredigers Stöcker, bei denen die Staatsanwälte regelmäßig öffentliches Interesse reklamieren würden. Auch beim Vereinsgesetz mache sich eine ungleiche Behandlung bemerkbar. Richters Fazit lautete: „Unsere Staatsanwälte sind politische Instrumente geworden in der Hand der jeweiligen Regierung, und diese Regierung macht politische Parteiinteressen 187 Zahl der von der Oberstaatsanwaltschaft in Preußen entschiedenen Beschwerden auf Erhebung der öffentlichen Klage (erfolgreiche vs. abgelehnte Anträge): 1880: 6 / 80; 1881: 12 / 136; 1882: 14 / 175; 1883: 8 / 185; 1884: 8 / 143; 1885: 10 / 130; 1886: 12 / 175; 1887: 9 / 187; 1888: 6 / 183; 1889: 11 / 223; 1890: 13 / 260 (JMBl 1881, S. 320; JMBl 1882, S. 264; JMBl 1883, S. 276; JMBl 1884, S. 200; JMBl 1885, S. 302; JMBl 1886, S. 234; JMBl 1887, S. 244; JMBl 1888, S. 284; JMBl 1889, S. 249; JMBl 1890, S. 321; JMBl 1891, S. 339). Über Umfang und Ausgang der letztinstanzlichen Beschwerde an das OLG geben die Geschäftsübersichten keine Auskunft. 188 Es handelt sich um folgende Debatten: Sten. Ber. RT, 10. 1. 1882, S. 497 – 502; Sten. Ber. AH, 16. 2. 1882, S. 274, 277 – 279, 281 – 284 und 27. 3. 1882, S. 1222 – 1224, 1227 f. Anlaß der Richterschen Intervention im Reichstag war die Anfrage des zuständigen Staatsanwalts, ob gegen die Verteiler eines sozialdemokratischen, in der Schweiz gedruckten Flugblattes, das während des Wahlkampfs im Mittelfränkischen verbreitet worden war, Anklage wegen Beleidigung des Reichstags erhoben werden solle; wie üblich lehnte das Parlament die Ermächtigung ab.
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geltend in der Verfolgung und Nichtverfolgung“189. Lasker, damals Führer der von den Nationalliberalen abgespaltenen „Liberalen Vereinigung“, trat den Ausführungen voll und ganz bei190. Sprecher der Freisinnigen Partei wiederholten die Vorwürfe in den folgenden Jahren bei verschiedener Gelegenheit191. Der Berliner Rechtsanwalt Richard Grelling, zweimal erfolgloser Kandidat für ein freisinniges Reichstagsmandat, wies mit Recht darauf hin, daß sich aus der Tatsache einer einseitigen Interpretation des „öffentlichen Interesses“ an sich noch kein Vorwurf gegen die Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue der Staatsanwälte ableiten lasse, handele es sich doch um abhängige, der politischen Treuepflicht unterworfene Beamte192. Die Folgen des Systems seien mithin zwangsläufig und politisch gewollt: „Das politische Glaubensbekenntnis der Beleidigten wird notwendig den Maßstab für die Entschließungen der Staatsanwaltschaft abgeben“. Umso stärker sei aber auch der rechtsstaatliche Grundsatz „gleiches Recht für alle“ gefährdet. Um das „in letzter Zeit bedenklich gestörte Gefühl der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit“ wiederherzustellen, schlug Grelling vor, im Gesetz diejenigen Beleidigungstatbestände zu spezifizieren, bei denen die öffentliche Klage zulässig sei, und im Falle eines ablehnenden Bescheids unverzüglich eine gerichtliche Entscheidung beantragen zu können193. Die Vorwürfe lassen erkennen, daß die Instrumentalisierung der Anklagepraxis auch unter den veränderten innen- und parteipolitischen Bedingungen der 80er Jahre Bestand hatte. Infolge des Übergangs zur Schutzzollpolitik und der Beendigung des Kulturkampfes wies das preußische Staatsministerium seit Sommer 1879 einen streng konservativen Zuschnitt auf. Protagonisten des damit verbundenen Kurswechsels waren Bismarck und Robert v. Puttkamer, seit März 1881 preußischer Innenminister (bis Juni 1888)194. In den Rahmen ihrer Personalpolitik, die ganz auf Sicherung eines zuverlässigen Beamtenkorps ausgerichtet war, ist auch der bekannte Sustentationsnachweis für Justizreferendare aus dem Jahre 1883 einRichter, Sten. Ber. RT, 10. 1. 1882, S. 501. Vgl. Lasker, ebd., S. 500 f. 191 Exemplarisch: Traeger, Sten. Ber. AH, 11. 2. 1886, S. 488 – 491 und Munckel, ebd., S. 496 f. 192 Richard Grelling, Das „öffentliche Interesse“ in Beleidigungssachen, in: ders., Streifzüge, Berlin 1896, S. 160 – 170 (zuerst in: Nation 3, 1885 / 86). Richard Grelling (geb. 1853), seit 1883 RA beim Landgericht I Berlin, wirkte erfolgreich in Presse- und Theaterprozessen. Daneben trat er als politischer Publizist und Verfasser justizkritischer Dramen hervor („Gleiches Recht“, 1892; „Ralsen wider Ralsen“, 1893; beide am Lessing-Theater uraufgeführt). Wiederholt setzte er sich für die internationale Friedensbewegung ein; seit 1907 lebte er in Florenz. 193 Zitate ebd., S. 169. „Dieses ,öffentliche Interesse‘ in Beleidigungssachen kommt im wesentlichen auf dasselbe hinaus wie die durch den Unfugsparagraphen geschützte ,öffentliche Ordnung‘“ (Grelling, Anm. 203, S. 17). 194 Ausführlich dazu: K. E. Born, Preußen im deutschen Kaiserreich 1871 – 1918, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 3, hg. v. W. Neugebauer, Berlin 2001, S. 15 – 148, hier S. 95 – 106. 189 190
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zuordnen. Die Richtlinien der Regierungs- und Beamtenpolitik legte die Allerhöchste Botschaft vom 4. 1. 1882 fest, die mit Nachdruck betonte, daß es sich bei den Regierungsakten um „selbständige Königliche Entschließungen“ handele, sowie die Treuepflicht der politischen Beamten auch bei Wahlen unterstrich: „Mir liegt es fern, die Freiheit der Wahlen zu beeinträchtigen, aber für diejenigen Beamten, welche mit der Ausführung Meiner Regierungsakte betraut sind und deshalb ihres Dienstes nach dem Disziplinargesetze enthoben werden können, erstreckt sich die durch den Dienstseid beschworene Pflicht auf Vertretung der Politik Meiner Regierung auch bei den Wahlen“195. Ferner sind die parteipolitischen Verschiebungen zu berücksichtigen: Da das Zentrum seine starre Oppositionsrolle Stück für Stück aufgab und die Sozialdemokratie in die Illegalität abgedrängt war, rückte wieder einmal der Linksliberalismus ins Visier Bismarcks. Verstärkt wurden seine Befürchtungen durch den Wahlsieg der „Linken“ – Liberale Vereinigung, Fortschritt und DVP erhielten zusammen 115 Mandate und wurden damit zur stärksten Gruppierung – bei der Reichstagswahl 1881 sowie den Zusammenschluß der beiden erstgenannten zur Deutschen Freisinnigen Partei (Frühjahr 1884), worin der Kanzler, mit Blick auf die jederzeit mögliche Thronübernahme des Kronprinzen, eine Vorstufe zur Parlamentarisierung des Regierungssystems sah. Als das Staatsministerium im Dezember 1884 über die weitere Behandlung der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten beriet, erklärte Bismarck: „An und für sich halte er das Anwachsen der Sozialdemokratie nicht für besonders bedenklich. Die in die Augen fallende Unausführbarkeit ihrer Ziele lasse sie minder gefährlich erscheinen als die Fortschrittspartei, die Furcht vor ihr könne sogar einen Teil der jetzigen Oppositionsmänner Mäßigung lehren. Offener Gewalttat zu begegnen, werde die Staatsregierung stark genug sein und, falls es dazu käme, hieraus erhöhte Stärke gewinnen“196. 3. In den 80er Jahren machte erstmals auch jener Strafparagraph von sich reden, der die wohl erstaunlichste kriminalpolitische Karriere im Kaiserreich durchlief: der berühmt-berüchtigte „grobe Unfug“197. Nach § 360 Nr. 11 StGB war mit Geld195 Reichs- und Staatsanzeiger 1882, Nr. 6; ebenso abgedr. bei Müller, Justizverwaltung, S. 462 sowie bei: H.-J. Rejewski, Die Pflicht zur politischen Treue im preußischen Beamtenrecht, Berlin 1973, S. 175; H. Fenske (Hg.), Im Bismarckschen Reich 1871 – 1890, Darmstadt 1978, S. 291. Zur Vorgeschichte, insbesondere der massiven amtlichen Wahlbeeinflussung im Kreis Herzogtum Lauenburg bei der Reichstagswahl 1881: ders., Der Landrat als Wahlmacher, in: Die Verwaltung 12 (1979), S. 433 – 456 (wiederabgedr. in: ders., Preußentum und Liberalismus, Dettelbach 2002, S. 561 – 579); bei der anschließenden RT-Debatte vom 24. 1. 1882 gab Bismarck dem Erlaß eine defensive Interpretation, mit der sich die Liberalen zufriedengaben. Weiterhin dazu: A. v. Puttkamer, Staatsminister von Puttkamer, Leipzig 1928, S. 146 ff.; per RV des Innenministers v. 20. 12. 1893 wurde der Erlaß, der bis zum Ende der Monarchie in Kraft blieb, in Erinnerung gerufen (Reichs- und Staatsanzeiger 1893, Nr. 304). 196 Prot. StM v. 8. 12. 1884 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8460, Bl. 260. 197 Zum Problemkreis: Fritz Frank, Ruhestörender Lärm und grober Unfug, in: GA 34 (1886), S. 145 – 158; Friedrich Hacke, Der grobe Unfug, Leipzig 1892; Gustav Kukutsch, Grober Unfug, Berlin 1892; Ernst Müller, Gegen den „groben Unfug“ in der heutigen Recht-
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strafe bis zu 150 Mark oder Haft zu bestrafen: „Wer ungebührlicher Weise ruhestörenden Lärm erregt oder wer groben Unfug verübt“. Der Paragraph ging auf eine Bestimmung des Allgemeinen Landrechts zurück (§ 183, Tit. 20, Teil II) und fand sich praktisch wortgleich bereits im preußischen Strafgesetzbuch von 1851 (§ 340 Nr. 9). Unter seinem Einfluß nahm das bayerische Strafgesetzbuch von 1861 eine ähnliche Bestimmung auf (Art. 60). Bei der Beratung des StGB-Entwurfs in der Kommission des Norddeutschen Reichstags äußerten nichtpreußische Mitglieder – unter ausdrücklichem Hinweis auf den Mangel eines greifbaren Tatbestandes und die Gefahr willkürlicher Auslegung – Bedenken gegen eine unveränderte Übernahme der Vorschrift. Der preußische Abgeordnete v. Luck, seines Zeichens Staatsanwalt, und der Regierungskommissar verteidigten die Bestimmung mit dem Argument, sie diene dazu, an sich schwerer zu bestrafende Delikte angesichts der Umstände oder der Person des Täters milder zu behandeln, da anderenfalls nur der Begnadigungsweg bliebe. Dies führte zur Annahme des Paragraphen, der das Plenum ohne weitere Diskussion passierte198. Die Vorgänge sind in zweierlei Hinsicht aufschlußreich: Obwohl eine mißbräuchliche Handhabung noch gar nicht stattgefunden hatte, war man sich über die mit der Vorschrift verbundenen Gefahren durchaus im klaren, und bereits damals war ihr eine subsidiäre Funktion zugedacht. Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs, die für den „groben Unfug“ charakteristisch werden sollte, setzte in den 70er Jahren ein und ging im wesentlichen auf obergerichtliche Entscheidungen zurück. Sachliche Voraussetzung war die Unbestimmtheit der Strafnorm: Es handelte sich um ein typisches Blankettgesetz, dem die für eine rechtsstaatliche Vorschrift erforderlichen normativen Tatbestandsmerkmale fehlten. Damit widersprach sie dem Bestimmtheitsgebot, einer zentralen Forderung des in klassischer Weise von Feuerbach formulierten Gesetzlichkeitsprinzips („nullum crimen, nulla poena sine lege“), das die Grundlage aller rechtsstaatlichen Strafrechtspflege bildet199. Als ausdehnungsfähige Merkmale erwiesen sich sowohl das zu schützende Rechtsobjekt („öffentliche Ruhe“, „öffentliche Ordnung“) als auch das Rechtssubjekt in Form des nicht näher bestimmten „Publikums“. Dabei entfernte sich der Bedeutungsgehalt immer stärker vom ursprünglichen Wortsinn, der eindeutig nur mutwillige „Gassenbubenstreiche“ unter Strafe stellen wollte. sprechung, Leipzig 1895 (Frühschrift von Ernst Müller-Meiningen; fundierteste zeitgenössische Darstellung); Heinrich Krauße, Der grobe Unfug, in: ZStW 16 (1896), S. 657 – 719 (rechtshistorisch-dogmatisch); zahlreiche Hinweise in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7880; Literatur: W. Zeder, Der „Grobe Unfug“, Zürich 1968 (unter Einbeziehung des schweizerischen Rechts); Fr.-Chr. Schroeder, Die Bestimmtheit von Strafgesetzen am Beispiel des groben Unfugs, in: Juristenzeitung 24 (1969), S. 775 – 780. 198 Nach den Erinnerungen von Eysoldt, RA aus Pirna und Mitglied der RT-Kommission, in: Vossische Zeitung v. 20. 10. 1896 (archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7880). 199 Das Gesetzlichkeitsprinzip war verankert in § 2 StGB; in der Weimarer Reichsverfassung findet es sich in Art. 116, heute im Grundgesetz Art. 103 Abs. 2 sowie in § 1 StGB; zur historischen Genese des Prinzips: H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, Frankfurt / M. 1976.
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Das preußische Obertribunal (Erkenntnis v. 16. 7. 1873) und der oberste Gerichtshof für Bayern (Entscheidung v. 19. 12. 1874) wandten die Vorschrift erstmals auf Presseerzeugnisse an, wenn auch zunächst noch in unpolitischen Zusammenhängen200. Diese Grenze überschritt Ende 1877 das Polizeigericht in Solingen, indem es den Redakteur des ultramontanen „Solinger Anzeigers“ wegen Verletzung des Vaterlandsgefühls, begangen in einem in der Zeitung erschienenen Artikel, nach § 360 Nr. 11 verurteilte201. Es dauerte jedoch noch bis zur Mitte der 80er Jahre, bis sich die Auffassung, daß „grober Unfug“ auch durch das gedruckte Wort verübt werden könne, bei den Gerichten durchsetzte. Erneut waren es obergerichtliche Erkenntnisse, die den Weg ebneten202. In Fachkreisen erhob sich heftiger Widerspruch gegen die neue Praxis. Politisch kritisierte man die Beschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, rechtlich wandte man ein, daß bei Presseerzeugnissen ein zentrales Requisit, die unmittelbare Einwirkung auf den äußeren Bestand der öffentlichen Ordnung, fehle203. Der spektakulärste Prozeß entzündete sich an einem Bericht der freikonservativen „Post“, wonach bei einem Militärmanöver wegen großer Hitze schwere Erkrankungen und sogar Todesfälle vorgekommen sein sollten. Obwohl die Informationsquelle verläßlich erschien, der Verfasser also bona fide handelte, stellten sich die Mitteilungen später als falsch heraus. Der verantwortliche Redakteur wurde von der Beleidigungsklage zwar freigesprochen, aber wegen „groben Unfugs“ verurteilt. Das Reichsgericht bestätigte die Rechtsauffassung der Strafkammer (Urteil vom 17. 5. 1887), wodurch der Tatbestand auf fahrlässig begangene Handlungen ausgeweitet wurde204. Der im Fluß befindlichen Entgrenzung des Tatbestandes versuchte das Reichsgericht mit seiner Entscheidung vom 3. 6. 1889 entgegenzuwirken, in der es sich 200 Vgl. Frank, S. 152 f., Müller, S. 56 f., 59. Das OT-Urteil bezog sich auf die Annonce einer Wahrsagerin, die bayerische Entscheidung auf einen Artikel unsittlichen Inhalts. 201 Vgl. Vorwärts v. 7. 12. 1877; Frank, S. 153 f., Müller, S. 29 f., 59. Es handelte sich um den Artikel „Die steigende Gespensterfurcht vor den Ultramontanen“ (Nr. 55), der sich in Ausfällen gegen das „deire“ Vaterland erging und die Erfolge des Krieges von 1870 / 71 herabwürdigte. In der zweiten Instanz wurde das Urteil wegen irriger Anwendung des „groben Unfugs“ aufgehoben. Diese Entscheidung wiederum kassierte das Obertribunal, das eine weitere Fassung des Begriffs zwar für zulässig erklärte, zunächst aber geprüft sehen wollte, ob der Artikel nicht gegen eine andere Strafvorschrift, namentlich den § 131 StGB, verstieß (Entsch. v. 9. 5. 1878). Die divergierenden Erkenntnisse belegen die Unsicherheit, die in der Frage damals noch herrschte. 202 Eine Liste entsprechender Erkenntnisse bei Müller, S. 56 ff. 203 Frank, S. 158; ders., Kann grober Unfug durch die Presse und durch Fahrlässigkeit verübt werden?, in: GA 36 (1888), S. 267 – 274; Richard Grelling, Preßfreiheit! [1888], in: ders., Streifzüge, Berlin 1896, S. 3 – 18; Ludwig v. Bar, Das Delikt des „groben Unfugs“, in: Nation 5 (1887 / 88), S. 214 – 217 („Wir müssen uns darein finden, daß Moral und Zartgefühl einerund rechtliche Freiheit andererseits insofern verschieden sind, als das Recht, um nicht in Willkür oder schrankenloses Ermessen sich zu verlieren, an verhältnismäßig leicht erkennbare Merkmale sich zu halten hat“); ausführliche Erörterung der rechtlichen Probleme bei Müller, S. 50 ff. 204 Ausführliche Schilderung des Falles bei Grelling, Preßfreiheit, S. 9 f.
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erstmals prinzipiell mit der Frage auseinandersetzte 205. Der dritte Strafsenat hob das Urteil gegen den Verfasser eines Artikels auf, in dem die Kartellparteien, gekleidet in die Form von „elf Geboten“, verhöhnt worden waren. Das Erkenntnis, für das Otto Mittelstädt als Berichterstatter verantwortlich zeichnete, erklärt die Subsumtion von Pressevergehen unter den Unfugsparagraphen zwar grundsätzlich für rechtens, bindet sie aber an enge, klar definierte Voraussetzungen. Die Vorschrift verpöne „nur solche den äußeren Bestand der öffentlichen Ordnung unmittelbar verletzenden Ungebührlichkeiten, durch welche das Publikum schlechthin, nicht also ein individuell begrenzter Personenkreis gefährdet oder belästigt und solchergestalt der öffentliche Friede im allgemeinen beunruhigt wird“. Ausdrücklich heißt es in der Urteilsbegründung weiter: „Wäre jede Verletzung der religiösen oder politischen Überzeugungen anderer schon um deshalb ,grober Unfug‘, weil die Möglichkeit niemals auszuschließen ist, daß solche Verletzungen im Streit der politischen und kirchlichen Parteien zu ,Erwiderungen, selbst Gewalttätigkeiten‘ führen, so fiele damit die gesamte politische Tagespresse und die ganze Streitschriftenliteratur, sobald sie in ihren Angriffen gegen die Meinungen anderer das vom Strafrichter für zulässig erachtete Maß überschreitet, unter die Zensur des § 360 Nr. 11 des Strafgesetzbuchs. Daß hierfür der in erster Reihe die polizeiliche Ordnung, die äußere Ruhe und den sittlichen Anstand auf den öffentlichen Straßen und Plätzen schützende § 360 Nr. 11 des Strafgesetzbuchs nicht bestimmt ist, bedarf keiner Ausführung“206. Bei allem Bemühen um eine restriktive Normierung gelang es der Entscheidung nicht, der fortschreitenden Diffusion des Tatbestands Einhalt zu gebieten. Dazu trug nicht zuletzt das Reichsgericht selbst bei, das einige Jahre später (1895) die von Mittelstädt aufgestellten Grundsätze umstieß. Bedenkt man die regierungsfreundliche Tendenz, die das Leipziger Gericht unter dem Einfluß des Sozialistengesetzes angenommen hatte, und berücksichtigt man weiter den geistigen Zuschnitt des federführenden Richters, so liegt es auf der Hand, daß Mittelstädt mit seinem Urteil vor allem ein Zeichen für die politische Unabhängigkeit des obersten deutschen Gerichtshofs setzen wollte. Die Ausdehnung des Unfugsbegriffs auf Pressevergehen bildete indes nur den weithin sichtbaren Teil eines umfassenderen Vorgangs. Das Delikt wurde zu einem allgemeinen „politischen groben Unfug“ (Müller) ausgestaltet, das sozialdemokratische, aber auch antisemitische Manifestationen aller Art erfaßte207. Mehr noch: 205 Entsch. Bd. 19, S. 294; auch in: JMBl, S. 264 – 266; Schelling machte in einer RV v. 1. 11. 1889 die Justizbehörden auf das Urteil aufmerksam (GStA, Rep. 84a, Nr. 4536); Müller, S. 28 f., 49 f., 83 f. 206 JMBl, S. 266. Die Vorinstanz, eine sächsische Strafkammer, hatte ausgeführt, der inkriminierte Artikel enthalte eine „an sich ungehörige Kundgebung“, sei geeignet, „den öffentlichen Frieden zu stören, insofern er den Anspruch der Staatsbürger auf Achtung ihrer politischen und religiösen Überzeugung verletze, dadurch zu Erwiderungen und selbst zu Gewalttätigkeiten anreize“, und „behellige das Publikum“ (ebd., S. 265). 207 Eine Liste obergerichtlicher Entscheidungen bei Müller, S. 76 ff.; Beispiele für antisemitischen „groben Unfug“ bei Krauße, S. 707 – 709. Das OLG München erklärte bereits
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Es nahm den Charakter einer allgemeinen Ersatzvorschrift an, mit deren Hilfe man Tatbestände zu ahnden suchte, die anderenfalls straffrei geblieben wären. In der zitierten Reichsgerichtsentscheidung v. 3. 6. 1889 heißt es, die Argumentation der Vorinstanz „würde in der Tat dahin führen, was abgelehnt werden muß, daß die bubenhaften Straßenunfug verbietende Strafnorm eine subsidiäre Strafvorschrift unbestimmtester Allgemeinheit wird, unter welche der Strafrichter alles zu subsumieren befugt ist, was ihm ,ungehörig‘ erscheint und doch unter die sonstigen Strafandrohungen mit ihren wohlerwogenen begrifflichen Grenzen nicht herunterpaßt“208. Dies galt insbesondere für Antragsvergehen (Beleidigung, leichte Körperverletzung), die auf diese Weise der privaten Entscheidungsgewalt entzogen und in Offizialdelikte umgewandelt wurden. Die „Frankfurter Zeitung“ faßte die Entwicklung bereits 1889 in der später immer wieder zitierten Sentenz zusammen: „Was man sonst nicht belangen kann, sieht man als groben Unfug an“209. Quantitatives Material zur Urteilspraxis liegt nicht vor, da Übertretungen von der Reichskriminalstatistik nicht erfaßt wurden. Die von Müller für Bayern mitgeteilten Gesamtzahlen geben indes eine Vorstellung von der Größenordnung des Delikts. Mit rund 40.000 Verurteilungen jährlich machte es rund ein Viertel aller Strafurteile wegen Übertretungen aus210. Die erwähnten Tendenzen erreichten ihren Höhepunkt in den 90er Jahren, der Blütezeit des „groben Unfugs“. Von der weiterhin auf dem Boden des gemeinen Rechts stehenden Presse sah sich in Preußen die polnische – ungeachtet des abflauenden Kulturkampfes – am härtesten bedrängt. Über die Redakteure der größeren polnischen Blätter ergingen wiederholt vielmonatige Gefängnisstrafen211. Angaben über die Gesamtzahl der Presseprozesse liegen nicht vor. Die ausgedünnte preußische Statistik enthielt eine entsprechende Spalte nicht mehr, und die Kriminalstatistik des Reiches verzichtete – in merkwürdigem Gegensatz zur sonstigen Verbesserung des Datenmaterials – darauf, Pressevergehen gesondert auszuweisen212. am 7. 2. 1883 den demonstrativen Gebrauch sozialdemokratischer Symbole an öffentlichen Orten (hier einem Wirtszimmer) für „groben Unfug“, da er geeignet sei, die nicht sozialdemokratisch gesinnten Anwesenden ungebührlich zu belästigen und auf diese Weise die öffentliche Ordnung zu stören. 208 JMBl, S. 265; zahlreiche Beispiele hierzu bei Müller, S. 58 f. 209 FZ v. 15. 10. 1889 (Geschichte der FZ, S. 729). 210 In Bayern wegen „groben Unfugs“ rechtskräftig verurteilte Personen: 1883: 37.250; 1884: 41.450; 1885: 41.014; 1886: 42.139; 1887: 37.064; 1888: 36.903; 1889: 37.158; 1890: 37.987; 1891: 38.063; 1992: 41.894 (Müller, S. 91 Anm.). 211 Beispiele bei Wetzel, S. 232. 212 Für die detaillierten Angaben zur Urteilspraxis, die sich bei Wetzel (S. 233 ff., 269 ff., S. 300 ff.) finden, gilt das bereits Gesagte: Die Zahlen entbehren der Nachprüfbarkeit, was insofern nicht verwundert, als das verfügbare Quellenmaterial eine präzise Quantifizierung nicht zuläßt. Im übrigen erscheint die Gesamtzahl von 2.534 Pressedelikten, die Wetzel für die Jahre 1880 – 1890 angibt, als zu niedrig gegriffen (ebd., S. 300).
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Für Preußen brachte die Thronbesteigung Friedrichs III. einen umfangreichen, der liberalen Grundhaltung des Monarchen entsprechenden Gnadenerlaß mit sich. Die Amnestie umfaßte alle Majestätsbeleidigungen, einen Großteil der wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt oder Verletzung der öffentlichen Ordnung ausgesprochenen Verurteilungen, sämtliche Pressevergehen und Verstöße gegen das Vereins- und Versammlungsrecht sowie alle Übertretungen und sonstigen kurzfristigen Freiheitsstrafen bzw. geringfügigen Geldstrafen213. 4. In Bayern zeichnete sich die Pressejudikatur weiterhin durch ein ungleich höheres Maß an Liberalität aus. In der diesbezüglichen Anwendung des Unfugsparagraphen hielten sich die Gerichte – trotz der extensiven Rechtsprechung des OLG München – lange Zeit zurück, was dem geschickten Agieren der Regierung zu verdanken war. Einer der ersten Fälle von „Preßunfug“ betraf den bereits erwähnten Johann Baptist Sigl, der wegen eines Artikels über die jüngst verstorbene Königinmutter Marie, erschienen in seinem „Bayerischen Vaterland“, vom Schöffengericht des Amtsgerichts München I zur Höchststrafe von 6 Wochen Haft verurteilt worden war (4. 6. 1889)214. Die Strafkammer des Landgerichts München I als Berufungsinstanz reduzierte das Urteil auf 100 M. Geldstrafe oder ersatzweise 10 Tage Haft (30. 10. 1889). Wegen „unrichtiger Anwendung“ des § 360 Nr. 11 legte Sigl Revision beim OLG München ein, die jedoch verworfen wurde (30. 1. 1890). Daraufhin wurde er – eigener Schilderung zufolge – vom Münchener Polizeipräsidenten v. Müller gedrängt, ein vom Ministerium abgefaßtes Begnadigungsgesuch zu stellen, da die Regierung anhand des aufsehenerregenden Falles ihre ablehnende Haltung in der Unfugsfrage demonstrieren wolle. In der Tat erfolgte die Begnadigung Sigls einschließlich Erstattung der Gerichtskosten. Die Taktik der Regierung ging zunächst auf: Bis zur Fuchsmühler Affäre 1894 / 95 hörte man von Unfugsklagen gegen die Presse nichts mehr. In „normalen“ Presseprozessen fand der staatsanwaltschaftliche Anklagewille immer wieder seine Grenze in der Urteilsmacht der Geschworenen. Als Beispiel seien die beiden Verfahren genannt, die Anfang Juli 1884 vor dem oberbayerischen Schwurgericht gegen die der Sozialdemokratie nahestehende „Süddeutsche Post“ verhandelt wurden. Die Anklagen gegen den Herausgeber, Louis Viereck, und seinen verantwortlichen Redakteur lauteten auf Beleidigung des Berliner Polizeipräsidenten v. Madai, bezogen auf eine Kritik an der Ungleichbehandlung der Parteien im Zeichen des Sozialistengesetzes, sowie eines sächsischen Polizeibeamten. Obwohl (oder vielleicht gerade weil) das Blatt kurz zuvor von der Reichsbeschwerdekommission endgültig verboten worden war, wurden die Angeklagten in beiden Punkten freigesprochen215. Mag hierbei auch die herzliche Abneigung gegen alles Allerhöchster Gnadenerlaß v. 31. 3. 1888, in: JMBl, S. 77 – 80. Zum folgenden: HStA, MInn 66251 und Sigl, Verh. KdA 1897 / 98, Bd. 12, 28. 4. 1898, S. 296 ff. 215 Prozeßbericht: Zwei Preßprozesse gegen die „Süddeutsche Post“, München 1884. Ein Artikel über die Beschlagnahme eines Wahlflugblattes der SPD in Berlin, das von der wel213 214
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Norddeutsch-Preußische eine Rolle gespielt haben, so sieht der Befund bei rein innerbayerischen Vorgängen nicht anders aus: Ein Großteil der Prozesse, die Ministerpräsident Lutz im Zusammenhang mit der „Königskatastrophe“ des Jahres 1886 (Absetzung und anschließender mysteriöser Tod Ludwigs II. im Starnberger See), die in der Öffentlichkeit wildeste Spekulationen und Verdächtigungen auslöste, anstrengen ließ, endete mit Freispruch216. 5. Die süddeutsch-demokratische Sicht auf die neudeutsche Strafjustiz dokumentiert ein württembergischer Presseprozeß aus den Jahren 1883 / 84. Darüber hinaus veranschaulicht er die starken Mobilisierungs- und Integrationseffekte, die vermeintliche „Märtyrer“ der Justiz für oppositionelle Gruppierungen mit sich bringen konnten. Im Zuge des württembergischen Landtagswahlkampfes hatte sich eine scharfe Kontroverse um die elsässische Sprachenfrage – das Recht der in den Landesausschuß, die elsaß-lothringische Landesvertretung, gewählten Abgeordneten, sich der französischen Sprache zu bedienen, sofern sie des Deutschen nicht mächtig waren – entsponnen. Den Anstoß bildeten Angriffe in der regierungsnahen Presse gegen den Heilbronner Reichstagsabgeordneten der DVP, Härle, der bei der Abstimmung über die betreffende Frage im Parlament dafür votiert hatte, die bisher geltende Übergangsfrist zu verlängern. Der bereits erwähnte Ludwig Pfau, eine der Galionsfiguren der schwäbischen Demokratie, wies die Vorwürfe in mehreren Artikeln entschieden zurück. Vorläufiger Schlußpunkt der sich rasch steigernden Polemik war eine Privatklage wegen Beleidigung, die der „Staatsanzeiger für Württemberg“, amtliches Organ der württembergischen Regierung, in Person seines Chefredakteurs, Prof. Heinrich Wieland, gegen Pfau anstrengte217. Das Verfahren durchlief nicht weniger als sechs Instanzen: Die Strafkammer erhöhte das Urteil des Stuttgarter Schöffengerichts, das auf eine Woche Gefängnis gelautet hatte (5. 4. 1883), auf einen Monat (5. 6. 1883). Unter zweifelhafter Berufung auf das Mündlichkeitsprinzip wurde dem Angeklagten untersagt, seine ausführliche Verteidigungsrede zu verlesen, was deren umgehende Verbreitung durch liberale Blätter zur Folge hatte. Das Urteil überraschte umso mehr, als Pfau überzeugend darlegen konnte, daß es sich bei den inkriminierten Äußerungen um eine fisch-konservativen „Deutschen Volkszeitung“ ungestraft abgedruckt worden war, hatte mit den Worten geendet: „Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe, und was sozialistengesetzlich von und für Arbeiter verboten ist, wird sozialistengesetzlich statthaft als konservative Meinungsäußerung“. Die Verteidigung hatte der wegen seiner Eloquenz gefürchtete Münchener Rechtsanwalt Maximilian Bernstein (1854 – 1925) übernommen, der später in politischen Großprozessen mitwirkte (Fuchsmühl, Moltke-Harden); zum Verbot der „Süddeutschen Post“ Wetzel, S. 226 ff. 216 Vgl. Wetzel, S. 252 f. 217 Ausführlich dazu: Anon., Der Preßprozeß des „Staatsanzeiger für Württemberg“ gegen Ludwig Pfau, Stuttgart 1884 (Entwicklung bis zum Urteil zweiter Instanz); weiterhin: R. Ullmann, Ludwig Pfau, Frankfurt / M. 1987, S. 35 f.; zu einem ähnlich gelagerten Prozeß gegen Pfau s. oben Erster Teil, B, Kap. VI / 1.
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– nach § 199 StGB straffreie – sofortige Erwiderung (Retorsion) gehandelt habe, und zwar nicht nur einer Beleidigung, sondern einer Verleumdung (Wieland hatte dem Angeklagten landesverräterische Absichten unterstellt). Über die Willkür der Justiz äußerte sich Pfau abschließend wie folgt: „Mit dem Gesetzbuch verhält sich’s wie mit der Bibel: Der Mensch mag handeln, wie er will, er findet immer einen Bibelspruch, auf den er sich berufen kann; die Justiz mag erkennen, wie sie will, sie findet immer einen Gesetzesparagraphen, der ihr zu Hilfe kommt. Was freilich der gesunde Menschenverstand und das öffentliche Rechtsgefühl zu gewissen Entscheidungen sagen, ist eine andere Frage, und die Justiz hat, sowohl in ihrem eigenen Interesse als in dem der Gesellschaft, schwerlich etwas dabei zu gewinnen, wenn sie sich so außerhalb der nichtjuridischen Ethik stellt, daß sie Urteile fällt, die mit dem Rechtsbewußtsein des Volks im entschiedensten Widerspruch stehen“218. Obwohl das Erkenntnis vom OLG Stuttgart annulliert wurde (5. 12. 1883), beharrte das Landgericht auf seiner Entscheidung (25. 1. 1884). Erst die nochmalige Aufhebung (28. 5. 1884) führte zum endgültigen Urteil von zwei Wochen Gefängnis (10. 7. 1884). Gang und Ergebnis des Verfahrens lösten – weit über die demokratischen Kreise und den engeren württembergischen Bereich hinaus – Proteste aus und ließen dem Verurteilten zahlreiche Sympathiebekundungen zuteil werden219. Den Höhepunkt bildete ein großes, in der Tradition des fortschrittlichen Bürgertums inszeniertes Protestbankett, das nach dem Urteil zweiter Instanz im Saale des Stuttgarter Schützenhofs veranstaltet wurde. In seiner Bankettrede ordnete Friedrich Payer, der Tübingen für die DVP im Reichstag vertrat, das Urteil in eine Reihe neuerer Richtersprüche ein, die als Ganzes Anlaß zu der Befürchtung gäben, daß „die Rechtsanschauung der Richter von dem Rechtsbewußtsein der Nation abzuweichen beginnt“. Die Gründe sieht er in der gestiegenen Urteilsmacht der Strafrichter, wodurch auch das Gefühl der eigenen Bedeutung gewachsen wäre. Ein erhöhtes Standesbewußtsein begänne sich auszubilden, „von dem bis zum Kastengeist, bis zur Organisierung eines sozusagen ,rechtsgelehrten Offiziercorps‘ nur ein Schritt ist“. In dieselbe Richtung wiese die lange Vorbereitungszeit der Juristen und der in Preußen eingeführte Sustentationsnachweis für die Referendare220. Pfau führte die Vorgänge auf den verhängnisvol218 Abdr. der Rede in: Preßprozeß, S. 10 – 39 (Zitat S. 38); leicht veränderter Auszug u. d. Tit. „Zum Injurienkapitel“, in: Nation 7 (1889 / 90), S. 652 – 654 (Zitat S. 654). Da weder das Gesetz noch die einschlägigen Kommentare klare Kategorien aufstellen würden („juridische Begriffsverwirrung“), entwickelte Pfau eine eigene Dogmatik. Unter dem Oberbegriff der „Ehrverletzung“ unterschied er genauestens zwischen „Beleidigung“, „Beschimpfung“ und „Verleumdung“. 219 Der „Beobachter“ berichtete ausführlich über den Verlauf des Prozesses und die vielfältigen Reaktionen (vgl. die Liste bei Ullmann, S. 427 ff.). Zahlreiche Solidaritätsadressen, u. a. von lokalen Volksvereinen, dem Berliner „Verein für Rechtsschutz und Justizreform“ sowie der „Frankfurter Zeitung“, sind abgedr. in: Preßprozeß, S. 63 ff. 220 Rede Payers in: ebd., S. 66 – 68.
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len Einfluß Preußens zurück: Es sei das erste Mal, „daß der stille Jammer über unsere Rechtszustände sich sammelt zu einem allgemeinen Aufschrei“. Zahlreiche Richtersprüche „aus allen Ecken und Enden des Reichs“ zeigten aufs klarste, daß „die Justiz in eine falsche Bahn eingelenkt hat, in die Bahn eines mechanischen Formalismus, der mit seiner Umschlingung das materielle Recht zu ersticken droht. Niemand kann leugnen, daß seit dem Aufgang der preußischen Macht ein Niedergang des deutschen Rechts eingetreten ist. Ein anderer Geist ist in unsere Rechtspflege gefahren, aber kein freierer, menschlicherer, sondern ein Geist, der an Blut und Eisen mahnt, der die Rechte deutet wie die Begriffe und der sich über jede inhumane Maßregel tröstet, wenn sie nur im Namen eines Gesetzes verhängt wird“221. In beiden Reden fehlte selbstverständlich nicht der Hinweis auf die politische Zuständigkeit des Schwurgerichts. Darüber hinaus wurden hier Topoi formuliert, die fortan zum Standardrepertoire demokratisch-freisinniger Justizkritik gehörten: kastenartige Absonderung und politische „Gleichschaltung“ des Richterstandes, formalistische Begriffsjurisprudenz, Entfremdung zwischen Volk und Recht, Vergewaltigung des Rechtsstaats durch den preußisch-bismarckschen Machtstaat. 6. Daß politische Justiz auch mit Hilfe des Privatrechts betrieben werden konnte, zeigen die Diätenprozesse der Jahre 1885 / 86. Obwohl in den meisten deutschen Einzelstaaten die Abgeordneten eine Aufwandsentschädigung für ihre Tätigkeit erhielten (einschließlich Preußens), war in der Reichsverfassung ein Diätenverbot verankert worden (§ 32), und zwar auf ausdrücklichen Wunsch Bismarcks, der eine tiefsitzende Abneigung gegen Berufspolitiker hegte. Im Sinne des klassischen Konstitutionalismus hielt er nur solche Personen zur wahren Repräsentation, d. h. zur uneigennützigen Verpflichtung auf das Gemeinwohl, für befähigt, die, neben der erforderlichen Bildung, über wirtschaftliche und damit auch politische Unabhängigkeit verfügten. Ein „gewerblicher Parlamentarismus“, so Bismarck, würde die Qualität des Personals unweigerlich sinken lassen, mit allen negativen Folgen. Zudem erschien die Diätenlosigkeit als Korrektiv gegen das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht, da es den Kreis der Kandidaten auf wohlhabendere Schichten zu begrenzen versprach. Und schließlich sollte sie dazu beitragen, die Reichstagssitzungen kurz zu halten und die parlamentarische Arbeit zu effektivieren222. Realiter führte das Verbot dazu, daß fast alle Parteien nach Mitteln und Wegen suchten, um den kostspieligen Aufenthalt ihrer Abgeordneten während der parlamentarischen Sessionen finanziell abzusichern. Offen mißachtet wurde es von der Sozialdemokratie und der Fortschrittspartei, die ihren gewählten Vertretern aus der Parteikasse resp. einem zu diesem Zweck eingerichteten Diätenfonds Zuschüsse Rede Pfaus in: ebd., S. 68 – 70. Vgl. hierzu H. Butzer, Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag, Düsseldorf 1999, insbes. S. 47 – 50 (Argumente der Entschädigungsgegner), S. 142 – 147 (Umgehung der Norm) und S. 181 – 188 (Diätenprozesse). 221 222
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zahlten. Da das Vorgehen strafrechtlich nicht geahndet werden konnte (die Verfassungsnorm enthielt keine entsprechenden Sanktionen), verfiel man im Reichskanzleramt auf den Gedanken, auf der Grundlage einiger Vorschriften des Allgemeinen Landrechts (§§ 172, 173, 205, 206 I. Teil, 16. Titel) privatrechtliche Zahlungsklagen durch den preußischen Fiskus anstrengen zu lassen. Nachdem das Staatsministerium im März 1885 – Bismarck redete einer Strafverfolgung entschieden das Wort – einen entsprechenden Beschluß gefaßt hatte, wurden im Juli gegen vier Abgeordnete der Freisinnigen Partei sowie drei Sozialdemokraten Untersuchungen eingeleitet223. Während die erstinstanzlich zuständigen Landgerichte sämtliche Klagen abwiesen (Oktober bis Dezember 1885), wurden fünf Abgeordnete in zweiter Instanz von den betreffenden Oberlandesgerichten zur Rückzahlung der empfangenen Zuwendungen verurteilt (März bis Mai 1886). Zwei Beschuldigte konnten glaubhaft machen, daß sie zu keinem Zeitpunkt Leistungen entgegengenommen hatten. Die von Dirichlet (Freisinn) und Hasenclever (SPD) eingelegte Revision wurde vom Reichsgericht verworfen (25. 11. 1886). Daß es bei den Untersuchungen in keiner Weise um finanzielle Belange ging, macht ein Blick auf die eingeklagten Beträge deutlich: Sie lagen zwischen 400 und 1.600 Mark224. In der Öffentlichkeit sorgten die Prozesse von Beginn an für großes Aufsehen und gerieten, wie nicht anders zu erwarten, zwischen die politischen Fronten. Während die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ die Urteile erster Instanz schärfstens angriff, monierten die Gegner des Verfahrens eine Reihe von Punkten: das ausschließliche Vorgehen gegen Mitglieder der Oppositionsparteien, den Rückgriff auf entlegene und halb vergessene Landrechtsparagraphen, der komplette Umschwung in der Rechtsauffassung zwischen erster und zweiter Instanz, schließlich die juristische Tragfähigkeit der gültigen Entscheidung225. Rechtsanwalt Tollkiemitt, der drei Beklagte vor dem OLG Naumburg vertrat, sah bei der Verfahrenswende, an ähnliche Vorgänge aus früherer Zeit erinnernd, nicht vorsätzliche Rechtsbeugung am Werk, sondern ein „unwillkürliches Nachgeben der Überzeugung“, sei es durch politische Einflüsse, sei es durch persönliche Schwächen. Weiter folgerte er: „Unsere Zeit ist zu solcher Deklination der Überzeugung wohl vorbereitet. Das starre Feststehen auf dem strikten Recht und der eigenen Meinung ist nicht mehr zeitgemäß, seitdem Verletzungen von Recht und Humanität aus Staatsräson sich zur Tugend ausbilden. Was Wunder, wenn sich diese Zeitstimmung auch in der Rechtsprechung fühlbar macht!“226. 223 Beschluß des StM v. 8. 3. 1885 (Protokolle, Bd. 7, Nr. 218); einschlägiges Aktenmaterial: GStA, Rep. 77, CB, Tit. 867, Nr. 16, Bd. 1, Bl. 26 – 29; Rep. 84a, Nr. 6349. 224 Nach Auskunft des Kassenberichts, den der Vorstand der SPD 1887 dem Parteitag in St. Gallen vorlegte, waren im Zeitraum vom 1. 4. 1883 bis 31. 8. 1887 Diäten in einer Gesamthöhe von 36.310 M. gezahlt worden (Die Kongresse der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands unter dem Sozialistengesetz, Bd. 2, Leipzig 1980, S. 159). 225 Vgl. NAZ v. 11. 11. 1885; Windthorst, Sten. Ber. RT, 26. 11. 1885, S. 93 f. („Das heißt von Justizwegen Politik treiben!“); Hasenclever, ebd., 1. 12. 1886, S. 40 f.; Traeger, Sten. Ber. AH, 11. 2. 1886, S. 491 – 493; Munckel, ebd., S. 495 f. („Attentate“ auf die Rechtspflege). Butzer hält die Urteile juristisch für korrekt (ebd., S. 186 f.).
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Das politische Ergebnis der Prozesse fiel mager aus: Die Entscheidung des Reichsgerichts galt ohnehin nur für preußische Abgeordnete, und die beiden betroffenen Parteien ließen sich auch fernerhin nicht davon abhalten, ihren Abgeordneten parteiinterne Entschädigungen zu zahlen227. Für die Justiz stellten sich die Dinge wieder einmal anders dar: Wie bei fast allen hochpolitischen Anklagen, hinter denen, wie jedermann wußte, Bismarck resp. das preußische Staatsministerium standen, blieb der Eindruck gouvernementaler Willfährigkeit zurück. Die nicht nur von Otto Mittelstädt vorgetragene These, daß die Strafgerichte – aufgrund ihres differenzierten und störungsanfälligen Prozederes – politischem Druck auf Dauer nicht standhalten könnten, bewahrheitete sich auch in diesem Fall.
2. Sozialistengesetz und Strafrecht Seiner Anlage nach handelte es sich beim Sozialistengesetz um ein Exekutivgesetz, das der Polizei weitreichende Eingriffsrechte an die Hand gab. Es besaß aber auch eine strafrechtliche Seite in Form einer Reihe pönaler Bestimmungen (§§ 17 – 20, 22, 25, 28 SG). Als folgenreicher erwiesen sich indessen die Rückwirkungen des Gesetzes auf das gemeine Strafrecht, denn auch in sozialistengesetzlicher Zeit beruhte die Mehrzahl der über Sozialdemokraten verhängten Freiheitsstrafen auf den Vorschriften des Strafgesetzbuchs228. Das Faktum ist umso erstaunlicher, als ein Großteil der potentiell strafbaren Handlungen durch die Unterdrückung des sozialdemokratischen Presse- und Vereinswesens ja weggefiltert wurde. Die Gründe liegen in einer extensiven Anwendung strafrechtlicher Zwangsmittel sowie einer Verlagerung der kriminellen Tatbestände, aber auch in der Neigung der Richter, die Ausnahmebestimmungen möglichst zu umgehen und sich auf den vermeintlich sicheren Boden des gemeinen Rechts zu stellen. Hinsichtlich der Periodisierung folgte die Gerichtspraxis nicht der üblichen Dreiteilung in der Handhabung des Gesetzes („harter Kurs“ 1878 – 1881, „milde Praxis“ 1882 – 1886, erneute Verschärfung 1887 – 1890), sondern gliederte sich in zwei Phasen, geschieden durch die Zäsur der Jahre 1885 / 86. In der ersten Phase befleißigten sich die Gerichte einer deutlichen Zurückhaltung. So wurden in Berlin bis Ende 1881 von den 359 Sozialdemokraten, die bei 226 Tollkiemitt, Eine Wendung in dem Verlauf der Diätenprozesse, in: Nation 3 (1885 / 86), S. 307 f. 227 Für die SPD: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Halle / Saale 1890, Berlin 1890, S. 36 f. 228 Vgl. Ignaz Auer, Nach zehn Jahren, Nürnberg 1913, S. 364 (zuerst 2 Bde., London 1889 / 90); die Auersche Denkschrift enthält, obwohl stark lückenhaft, immer noch die vollständigste Zusammenstellung aller zwischen Oktober 1878 und Oktober 1888 gegen Sozialdemokraten verhängten Freiheitsstrafen (ebd., S. 363 – 370); weiterhin zum SG: Mehring, IV, S. 153 ff.; Bernstein, II; Pack, a. a. O.; Fricke, S. 63 ff.; Schroeder, S. 101 – 104; Wagner, S. 355 – 378; P. Kampffmeyer, Unter dem Sozialistengesetz, Berlin 1928; V. L. Lidtke, The Outlawed Party, Princeton 1966.
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der Polizei denunziert worden waren, nur 26 verurteilt229. Auch die später so prominenten Verfahren wegen Bildung einer geheimen Verbindung (Geheimbundsprozesse) – die Anklagen erfolgten nach den §§ 128 und 129 StGB – stießen bei den Richtern zunächst auf wenig Gegenliebe. Bis Mitte 1886 wurden 24 Geheimbundsprozesse angestrengt, von denen zehn mit Einstellung des Verfahrens, sechs mit Freispruch und nur acht mit einer Verurteilung endeten230. Die Urteilspraxis war Ausdruck der Tatsache, daß der Kampf gegen die Sozialdemokratie primär in den Händen der Polizeibehörden lag, die Gerichte mithin ins zweite Glied gerückt waren. Von daher sprach schon das richterliche Selbstverständnis dagegen, sich ohne Not zum verlängerten Arm der Polizei machen zu lassen. Weiterhin ist davon auszugehen, daß viele Richter das Ausnahmegesetz aus rechtsstaatlichen Gründen ablehnten. Als Beispiel sei der Hamburger Landgerichtsdirektor Föhring genannt, der bei Erlaß des Gesetzes öffentlich erklärte, daß sich dieses mit seiner juristischen Überzeugung nicht vertrage und er sich aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen keinen Erfolg davon verspreche231. Schließlich dürfte die Richterschaft den größeren Bewegungsspielraum als Chance begrüßt haben, ihren vor allem durch die Majestätsbeleidigungsprozesse des Jahres 1878 arg ramponierten Ruf in der Öffentlichkeit wieder aufzupolieren232. Im preußischen Innenministerium beobachtete man das Verhalten der Gerichte mit wachsendem Unwillen. In einem Schreiben an Friedberg beklagte sich Puttkamer im Oktober 1881 über die seiner Ansicht nach vielfach zu geringen Strafen bei Vergehen gegen § 19 SG (Verbreitung verbotener Druckschriften), der am häufigsten herangezogenen Strafbestimmung des Ausnahmegesetzes. Daraufhin ermahnte der preußische Justizminister die Staatsanwälte, mit ihren Anträgen auf angemessene Strafen hinzuwirken und bei schöffengerichtlichen Erkenntnissen sorgfältig zu erwägen, ob vom Rechtsmittel der Berufung Gebrauch zu machen sei233. Wortwahl und Tonfall des Reskripts lassen indes erkennen, daß Friedberg in erster Linie seiner Kollegialitätspflicht Genüge tun wollte und ihm nicht daran gelegen war, Öl ins Feuer zu gießen. Nichtsdestoweniger besaß das Bild schon damals eine Kehrseite. Zwischen Juli 1880 und Januar 1882 verhängten die Dresdner Gerichte über 90 Sozialdemokraten insgesamt 171/2 Jahre Freiheitsentzug, wobei die Anklagen teils auf dem AusZahlen nach Mehring, S. 220. Zahlen nach Mehring, S. 286. 231 Erwähnt bei H. Laufenberg, Geschichte der Arbeiterbewegung in Hamburg, Altona und Umgegend, Bd. 2, Hamburg 1931, S. 339. 232 In seiner gewohnt bildmächtigen Diktion bemerkte Mehring dazu, „die verhältnismäßige Reserve der offiziellen Rechtspflege“ hätte „wieder eine Art grönländischen Sonnenscheins“ über sie ergossen. Ergänzend zitiert er eine Äußerung Bebels, der einmal gemeint habe, „man möge sagen, was man wolle, aber die Justiz sei immer doch noch ein ander Ding als die Polizei“ (S. 281). 233 Puttkamer an Friedberg, 25. 10. 1881, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8460, Bl. 37; RV an die Oberstaatsanwälte, 5. 11. 1881, in: ebd., Bl. 44. 229 230
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nahmegesetz, teils auf dem Strafgesetzbuch beruhten. Dabei ließ sich ein Phänomen beobachten, das im Kampf gegen die Sozialdemokratie keineswegs neu war, in den Jahren des Sozialistengesetzes aber seine schärfste Ausformung erfuhr: der exzessive Gebrauch der Untersuchungshaft, für deren Dauer das Gesetz (abgesehen vom staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren) keine Obergrenzen festschrieb. Von der erwähnten 171/2 Jahren entfielen allein 5 Jahre, 101/2 Monate auf Untersuchungshaft, wovon die Richter lediglich einen geringen Teil, nämlich 91/2 Monate, auf die Strafhaft anrechneten, und dies, obwohl es sich meist nur um leichte Vergehen handelte234. Indessen sollte Leipzig, über das Ende Juni 1881 der kleine Belagerungszustand verhängt wurde, das hauptstädtische Vorbild bald noch in den Schatten stellen235. Im sächsischen Landtag brachten Liebknecht und Bebel die Justizpraktiken ausführlich zur Sprache. In der Quintessenz liefen ihre Beschwerden darauf hinaus, daß der Unterschied zwischen geordneter Rechtspflege und willkürlichen Polizeimaßnahmen – Haussuchungen, Beschlagnahmen, kurzzeitige Sistierungen etc., allesamt nur mit richterlicher Genehmigung rechtens, fanden en masse statt – praktisch aufgehoben sei236. Materiellrechtlich spielten in den ersten Jahren Anklagen wegen Meineids (§§ 153 ff. StGB) eine besondere Rolle. Der religiöse Gehalt der Eidesleistung schlug sich in der Einstufung des Delikts als Verbrechen – womit es in die Zuständigkeit der Schwurgerichte fiel – sowie im hohen Strafmaß (Strafmaximum: zehn Jahre Zuchthaus) nieder. Der bekannteste Prozeß fand Anfang 1880 gegen Karl Ibsen, führender Parteifunktionär in Frankfurt, statt, der wegen angeblichen Meineids im Zusammenhang mit einer Zeugenaussage zugunsten eines angeklagten Parteigenossen zu drei Jahren Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf fünf Jahre verurteilt wurde. Als der „Sozialdemokrat“, das offizielle, in Zürich gedruckte Parteiorgan der SAP, das hohe Strafmaß rügte und auf die offenkundigen Milderungsgründe hinwies, wurde dies von gegnerischer Seite als Begünstigung, ja Legitimierung des Meineids gedeutet237. Seither sah sich die Sozialdemokratie mit dem Vorwurf konfrontiert, eine „Meineidspartei“ zu sein, ein Verdacht, den ihre erklärte Areligiösität zu bestätigen schien. Das Odium trug maßgeblich zu den zahlreichen Meineidsprozessen bei, die in den folgenden Jahren gegen Parteifunktionäre angestrengt wurden238. Angaben nach „Sozialdemokrat“ 1882, Nr. 7 (abgedr. bei Auer, S. 219). Vgl. Auer, S. 251 ff. „Heute kann es wohl ausgesprochen werden, daß von keinem deutschen Gerichtshof gemeinere und den Arbeitern feindlichere Urteile gefällt worden sind, als das in den letzten Jahren von dem Leipziger Landgericht geschah“; als Grund nennt Auer den korrumpierenden Einfluß des Reichsgerichts (ebd., S. 256). 236 Vgl. Verh. 2. Kammer, 26. 1. und 9. 2. 1882; letzteres auch als Separatdruck (Nürnberg 1882); Bebel, III, S. 212 ff. 237 Zum Fall Ibsen: Auer, S. 224 ff., „Sozialdemokrat“ 1880, Nr. 4 (die wichtigsten Passagen auch bei Auer); weiterhin: „Sozialdemokrat“ v. 29. 6. 1882 und 1888, Nr. 9 (Veröffentlichung eines Briefes von Ibsen, der nach Verbüßung seiner Strafe in die USA ausgewandert war, in dem er den Fall nochmals schildert und erneut seine Unschuld beteuert; Abdr. auch bei Auer); ausführlich zum Meineidsproblem Frohme, S. 117 – 142. 234 235
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Mit dem Jahr 1885 endete die Schonfrist für die Justiz. Die Ursache lag in der Erfolglosigkeit der bisherigen Strategie: Nach anfänglichem Zusammenbruch konnte sich die Sozialdemokratie weitgehend reorganisieren, so daß der Versuch einer mit ausnahmerechtlich-polizeistaatlichen Mitteln betriebenen Eliminierung der Partei als gescheitert gelten mußte. Zwangsläufig gerieten das gemeine Strafrecht und damit die Gerichte wieder in den Blick der maßgebenden Stellen. Ihre verstärkte Inanspruchnahme zeichnete sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1885 ab, als zur gleichen Zeit die erste Runde der Diätenprozesse und der Chemnitzer Geheimbundsprozeß stattfanden. Der Chemnitzer Prozeß leitete die eigentliche „Ära der Geheimbundsprozesse“ ein. Er besaß, wie die Diätenprozesse, eine längere Vorgeschichte239: Nachdem eine Reihe prominenter Sozialdemokraten auf der Rückreise vom Kopenhagener Kongreß im April 1883 inhaftiert worden waren, scheiterten zunächst alle Versuche, Anklage wegen Bildung einer geheimen Verbindung oder gar wegen Hochverrats zu erheben, an der ungenügenden Beweislage. Auch das Chemnitzer Landgericht, das eine Anklage nach den §§ 128 und 129 StGB schließlich zuließ, erkannte auf Freispruch, und zwar mit der Begründung, daß die fortbestehende Parteiorganisation nicht als geheime Verbindung im Sinne des Strafgesetzbuchs zu bewerten sei (7. 10. 1885)240. Erst mit der Aufhebung des Urteils durch das Reichsgericht – mittels einer extensiven Deutung des Verbindungsbegriffs – gelang der Durchbruch (23. 12. 1885). Nach Ansicht der Leipziger Richter war zur Bildung einer geheimen Verbindung nicht die ausdrückliche Willenserklärung der einzelnen Mitglieder erforderlich, sondern es genügten „konkludente Handlungen“, die den sicheren Schluß auf ihr Vorhandensein zuließen. Damit wurden die Richter der Notwendigkeit enthoben, die Existenz der inkriminierten Verbindung in concreto nachweisen zu müssen: „Mit Hilfe dieser weitgehenden Auslegung wurde es möglich, die Geheimorganisation der Sozialdemokratie durch die Waffen des gemeinen Rechtes in viel schärferer Weise zu bekämpfen als durch das Gesetz vom 21. Oktober 1878“241. Dem Landgericht Freiberg, an das die Sache zwecks er238 Vgl. „Sozialdemokrat“ v. 12. 1. 1882 (Fall Dietl), 20. 4. 1882 (Fall Hartmann), 15. 3. 1883 (Fall Voigt); allgemein dazu: „Sozialdemokrat“ 1886, Nr. 15; 1888, Nr. 3; Munckel, Sten. Ber. RT, 23. 1. 1890, S. 1190 – 93. 239 Zum folgenden: Auer, S. 138 ff.; Fricke, S. 211 ff.; Der Chemnitzer Monstre-Sozialisten-Prozeß, 3 Hefte, München 1885 / 86 (Prozeßberichte). 240 § 128 StGB lautete: „Die Teilnahme an einer Verbindung, deren Dasein, Verfassung oder Zweck vor der Staatsregierung geheim gehalten werden soll oder in welcher gegen unbekannte Obere Gehorsam oder gegen bekannte Obere unbedingter Gehorsam versprochen wird, ist an den Mitgliedern mit Gefängnis bis zu sechs Monaten, an den Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahre zu bestrafen ( . . . )“. § 129 StGB lautete: „Die Teilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken oder Beschäftigungen gehört, Maßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften, ist an den Mitgliedern mit Gefängnis bis zu einem Jahre, an den Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit Gefängnis von drei Monaten bis zu zwei Jahren zu bestrafen ( . . . )“.
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neuter Verhandlung verwiesen worden war, fiel es nun nicht mehr schwer, den Tatbestand mit der Verbreitung des „Sozialdemokrat“ und anderer verbotener Druckschriften als erfüllt anzusehen und die neun Angeklagten – sechs Angeklagte (Auer, Bebel, Frohme, Ulrich, Viereck und Vollmar) erhielten je neun Monate, drei (Dietz, Heinzel und Müller) je sechs Monate Gefängnis – zu insgesamt sechs Jahren Freiheitsentzug zu verurteilen (4. 8. 1886). Erwartungsgemäß verwarf das Reichsgericht die von der Verteidigung eingelegte Revision (11. 10. 1886)242. Überblickt man das gesamte Geschehen, so sind die Parallelen zu den zeitgleich stattfindenden Diätenprozessen kaum zu übersehen. In den liberalen Teilen der Öffentlichkeit löste das Urteil Unverständnis und Empörung aus, wobei die Kommentare von der Sorge um eine korrekte Rechtspflege beherrscht waren243. Die „National-Zeitung“ schrieb, der herangezogene Paragraph gehöre „zu jenen modernen kriminalistischen Erfindungen, welche weniger auf Grund des allgemeinen Bewußtseins von Recht und Unrecht in den Strafgesetzbüchern stehen als vermöge des Verlangens der Regierungen nach Waffen wider politische Gegner“. Als Ergebnis des Prozesses bliebe „zunächst eine Anzahl Bestrafungen, die auch in unbefangen urteilenden Volkskreisen offenbar einen peinlichen Eindruck machen, und dann die abermalige Bekräftigung der Erkenntnis, daß die durch das Sozialistengesetz geschaffenen Zustände unhaltbar“ seien. In der Unsicherheit der Rechtszustände läge „ein Element politischer Demoralisation, welches ebenso wie auf die Angreifer auch auf die Verteidiger wirkt“244. Die linksliberale „Berliner Volkszeitung“ resümierte zutreffend: „Die Vermischung des gemeinen Rechts mit dem Ausnahmegesetz ist die eigentümliche, aber keineswegs erfreuliche Kennzeichnung dieses Prozesses. Erst wird ein Ausnahmegesetz geschaffen, weil das gemeine Recht angeblich nicht ausreicht; dann wird das gemeine Recht für Straftaten herangezogen, für welche angeblich das Ausnahmegesetz ausreichen sollte. Das ist ein Durcheinander, welches schon im Interesse der deutschen Rechtsprechung hätte vermieden werden sollen“245. August Munckel, 241 Ludwig Fuld, Die Geheimbundsprozesse in Deutschland, in: Grenzboten 46 / 4 (1887), S. 165 – 170, hier S. 167. Ansonsten ist der Aufsatz für den hier interessierenden Zusammenhang unergiebig. Fuld ging es vor allem darum, den Verdacht auszuräumen, mit den Geheimbundsprozessen habe die in Süd- und Osteuropa verbreitete Neigung zu verschwörerischer Untergrundtätigkeit, dem deutschen Volkscharakter ohnehin wesensfremd, im Reich Einzug gehalten. 242 Prozeßberichte: Der Freiberger Sozialistenprozeß, München 1886; Der Chemnitz-Freiberger Sozialisten-Prozeß vor dem Reichsgericht, München 1886. 243 Sammlung von Presseäußerungen aus dem In- und Ausland, vornehmlich liberaler und demokratischer Provenienz, in: Preßstimmen über das am 4. August 1886 vom Landgericht zu Freiberg gefällte Urtheil, Nürnberg 1886; die FZ beschäftigte sich in mehreren Artikeln ausführlich mit dem Thema (zusammengestellt in: „Wochenblatt der Frankfurter Zeitung“, 1886, Nr. 32; abgedr. in: Preßstimmen, S. 55 – 66); weiterhin: „Sozialdemokrat“ v. 11. 8. und 18. 8. 1886. 244 NZ v. 10. 8. 1886 (Preßstimmen, S. 22). 245 Berliner Volkszeitung v. 8. 8. 1886 (Preßstimmen, S. 23).
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einer der Verteidiger der Freiberger Angeklagten, schloß seine – in überaus ironischem Ton gehaltene – Prozeßkritik mit einem Plädoyer für die Berufung, wodurch die irrtümlichen Tatsachenbehauptungen aller Wahrscheinlichkeit nach korrigiert worden wären246. Die Wirkung des Freiberger Urteils glich einem Dammbruch. In einer Rundverfügung teilte Friedberg den Staatsanwälten die Entscheidung auszugsweise mit, ohne damit jedoch, wie in der sozialdemokratischen Parteigeschichtsschreibung immer wieder zu lesen, eine direkte Anweisung zu verbinden247. Wahrscheinlich hätte es des „Winkes“ gar nicht bedurft, um eine Flut von Geheimbundsprozessen auszulösen, bei der sich das Verhältnis der ersten Phase umkehrte: Von den 55 Verfahren, die allein zwischen August 1886 und Januar 1889 eingeleitet wurden, endeten nur zehn mit Einstellung des Verfahrens und acht mit Freisprechung, während in 33 Prozessen 236 Personen Gefängnisstrafen erhielten (vier Untersuchungen waren zum damaligen Zeitpunkt noch in der Schwebe)248. Im Kern handelte es sich um den großangelegten Versuch, die sozialdemokratischen Parteistrukturen, die sich gegen das Instrumentarium des Sozialistengesetzes als resistent erwiesen hatten, durch (temporäre) Ausschaltung der Funktionärsschicht entscheidend zu schwächen oder gar zu zerstören – gleichsam ein zweiter Anlauf, diesmal mit den Mitteln des gemeinen Strafrechts. Als rechtlicher Ansatzpunkt diente die Tatsache, daß der Partei unter den Bedingungen des Ausnahmegesetzes gar nichts anderes übrig blieb, als sich konspirativ, formell also illegal, zu betätigen, wollte sie ihre Arbeit nicht von vornherein einstellen. Dabei erwies sich das öffentliche Forum des Gerichtssaals wieder einmal als zweischneidiges Schwert: In zahlreichen Prozessen wurden die skrupellosen, nicht selten mit krimineller Energie betriebenen Machenschaften der politischen Polizei, vor allem der Einsatz von Spitzeln und agents provocateurs, enthüllt249. Andererseits litt die Beweisführung der Staatsanwaltschaft immer wieder darunter, daß es den als Zeugen vernommenen Polizeibeamten untersagt war, ihre Informanten zu benennen. Es lohnt sich, die Geheimbundsprozesse noch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. In aller Regel lauteten die höchsten Strafen auf mehrmonatige Gefängnishaft, was zum einen erheblich unter den Strafmaxima der §§ 128 und 129 StGB (ein bzw. zwei Jahre Gefängnis) lag, zum anderen die jeweiligen Strafanträge der Staatsanwaltschaft deutlich unterschritt. Hierzu einige Beispiele: Der Düsseldorfer 246 A. Munckel, Drei Sozialisten-Prozesse, in: Nation 4 (1886 / 87), S. 33 – 35; rechtfertigend: J. Schwabe, Der Chemnitz-Freiberger Sozialisten-Prozess, in: Tribunal 2 (1886), S. 445 – 519 (der Autor, Oberstaatsanwalt in Chemnitz, versucht den Nachweis zu führen, daß es sich bei den beiden Prozessen rechtlich um zwei verschiedene Verfahren handelte). 247 RV an die Oberstaatsanwälte v. 9. 12. 1886, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8461, Bl. 102 f. 248 Zahlen nach Mehring, S. 286. 249 In Preußen stand die politische Polizei unter der Leitung des Berliner Polizeipräsidiums. Zum Spitzelwesen: Eugen Ernst, Polizeispitzeleien und Ausnahmegesetz 1878 – 1910, Berlin 1911, S. 33 – 97 (bezogen auf Berlin, mit vielen Einzelheiten zu den anschließenden Gerichtsverfahren); Frohme, pass.
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Prozeß (8. – 24. 11 1888) endete mit der Verurteilung von 12 Angeklagten zu Gefängnisstrafen zwischen sechs Monaten und einer Woche, während sechs Angeklagte freigesprochen wurden. Von den 36 Angeklagten des Frankfurter Prozesses (17. – 22. 1. 1887) erhielten 31 Gefängnisstrafen zwischen sechs und einem Monat (unter Anrechnung der teilweise langen Untersuchungshaft), vier Angeklagte wurden freigesprochen und ein Verfahren wurde eingestellt. Gegen die beiden Angeklagten des Stuttgarter Prozesses (5. 9. 1888) ergingen Strafen von sechs bzw. vier Monaten Gefängnis. Im Freiburger Prozeß (April 1888) betrug die höchste Strafe vier Monate Gefängnis. Im Großraum Hamburg fanden zwischen Oktober 1886 und November 1888 nicht weniger als sieben Geheimbundsverfahren statt, die untereinander mancherlei Querverbindungen aufwiesen; die Zahl der Angeklagten lag im geringsten Fall bei 2, im höchsten bei 28 Personen. Auch hier setzten die Richter die von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafen stets mehr oder weniger deutlich herunter (die höchste Einzelstrafe betrug 13 Monate Gefängnis), zudem rechneten sie die Untersuchungshaft meist bis zu einer gewissen Höhe an. Im großen Elberfelder Geheimbundsprozeß, bei dem (nach intensiver Vorbereitung) Ende 1889 nicht weniger als 87 Personen auf der Anklagebank saßen, erhielten 44 Angeklagte – wegen Bildung einer örtlichen Vereinigung – Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Wochen, während 43 auf freien Fuß gesetzt wurden, da das Gericht der Kernthese der Staatsanwaltschaft, in Deutschland existiere eine reichsweit operierende, unter Leitung der Reichstagsfraktion stehende sozialistische Geheimorganisation, nicht zu folgen vermochte. Nur Posen wich wieder einmal von der allgemeinen Regel ab: Im dortigen Prozeß (2. – 30. 1. 1888) wurden von den 17 Angeklagten 13 verurteilt, die sechs Hauptbeschuldigten zu Gefängnisstrafen zwischen 1 1/2 und 2 3/4 Jahren250. Sieht man vom letztgenannten Beispiel ab, so läßt sich feststellen, daß das für politische Massenverfahren charakteristische Kompromißmuster in der richterlichen Strafzumessung auch für die Geheimbundsprozesse gilt. Darüber hinaus finden sich immer wieder Hinweise auf den Unwillen der Gerichte, sich zum Büttel der Polizei machen zu lassen, bedingt sicherlich auch durch die häufig dubiose Art und Weise, wie das Beweismaterial zustande gekommen war. So klagte Stadtpolizeidirektor Hilbert im Vorfeld des Stuttgarter Prozesses darüber, bei den Gerichten stoße man nicht selten „auf eine gewisse Abneigung gegen Dinge polizeilicher Natur. [ . . . ] Es fehlt an einem planmäßigen Zusammenarbeiten von Gericht und 250 Zu den genannten Verfahren: N. Schloßmacher, „Reichsfeinde“ vor Gericht, Reinbek 1988 (Düsseldorf; mit instruktivem Vorwort); Chr. Rieber, Das Sozialistengesetz und die Sozialdemokratie in Württemberg 1878 – 1890, Bd. 2, Stuttgart 1984, S. 607 ff. (Stuttgart); Oskar Muser, Sozialistengesetz und Rechtspflege, Karlsruhe 1889 (Freiburg); Eichler, S. 186 f. (Frankfurt); Laufenberg, S. 510 – 521 / 541 – 557 / 610 – 622 (Hamburg / Altona); Fricke, S. 215 – 217 (Posen); zum Elberfelder Prozeß: Bebel, Sten. Ber. RT, 25. 1. 1890, S. 1232 ff.; Julius Lenzmann, Der Sozialistenprozeß in Elberfeld, in: Nation 7 (1889 / 90), S. 216 – 218; G. Bergmann, Das Sozialistengesetz im rechtsrheinischen Industriegebiet 1878 – 1890, Hannover 1970, S. 90 – 94 (dort auch S. 65 – 72 zur Leitung der polizeilichen Überwachung der sozialistischen Aktivitäten durch die Staatsanwaltschaft).
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Polizei“251. Ähnlich der Hamburger Polizeisenator Hachmann. Als der Senat der Hansestadt Ende März 1889 über die Pläne der preußischen Regierung beriet, das Sozialistengesetz durch ein verschärftes allgemeines Recht zu ersetzen, gab dieser der auch von anderer Seite geteilten Befürchtung Ausdruck, „daß den zu bekämpfenden sozialdemokratischen Bestrebungen nicht so wirksam entgegengetreten werden könne, wenn an die Stelle der bisherigen Befugnisse der Verwaltungsbehörde die Rechtsprechung der Gerichte trete“252. Vieles spricht somit dafür, daß sich die Richter ihrer Aufgabe bei den Geheimbundsprozessen eher pflichtgemäß denn mit besonderem Eifer entledigten. Dies änderte freilich nichts daran, daß die Prozeßserie maßgeblich zur Diskreditierung des Sozialistengesetzes im allgemeinen und der Justizorgane im besonderen beitrug. Die Verschärfung der Strafverfolgung beschränkte sich nicht auf die Geheimbundsprozesse. Eine Reihe ausgesprochen harter Urteile, die den Grundsatz der Proportionalität zwischen Tatbestand und Strafmaß kaum mehr wahrten, ergingen wegen Aufruhrs (§ 115 StGB)253. Ebenso wie der Meineid fiel das Delikt in die Kompetenz des Schwurgerichts mit seiner durchweg bürgerlichen Geschworenenbank. Wie namentlich das Hamburger Beispiel zeigt, bedienten sich die Gerichte weiterhin unbedenklich des Mittels der Untersuchungshaft, die faktisch den Charakter einer Zweit- oder Ersatzstrafe annahm. Nicht selten übertraf sie das schließliche Strafmaß, verschiedentlich mußten die Angeschuldigten nach mehrmonatiger Untersuchungshaft freigesprochen werden254. Vorgänge dieser Art waren es, die im Reichstag und in der Publizistik die Forderung laut werden ließen, nicht nur für unschuldig erlittene Strafhaft (nach vorherigem Wiederaufnahmeverfahren), sondern auch bei vergleichbaren Fällen von Untersuchungshaft dem Staat eine Entschädigungspflicht aufzuerlegen. Mit der Verschärfung der preußischen Polenpolitik, die Mitte der 80er Jahre einsetzte, nahm auch die Strafverfolgung polnischer Sozialdemokraten zu, und zwar sowohl in der Provinz Posen als auch in Berlin255. Das Wiedererstarken der sozialistischen Agitation spiegelt sich in den Untersuchungen wider, die aufgrund des Sozialistengesetzes eingeleitet wurden. Die Zahl der Anklagen kletterte 1887 sprunghaft in die Höhe und nahm beständig Schreiben an das Innenministerium v. 13. 7. 1888, zit. n. Rieber, II, S. 609 f. Zit. n. H. Kutz-Bauer, Arbeiterschaft, Arbeiterbewegung und bürgerlicher Staat in der Zeit der Großen Depression, Bonn 1988, S. 406 f. 253 Beispiele aus Leipzig und Spremberg bei Auer, S. 253 f., 278 f. Nachdem es in Spremberg zu Ausschreitungen unter Militärpflichtigen gekommen war (3. 5. 1886), verhängte das Staatsministerium den „Kleinen Belagerungszustand“ über die brandenburgische Landstadt (Beschluß des StM v. 8. 5. 1886; Protokolle, Bd. 7, Nr. 256). 254 Vgl. Auer, S. 238 f.; der Auerschen Strafstatistik zufolge standen in Hamburg-Altona 28 Jahren U-Haft lediglich 24 Jahre Strafhaft gegenüber (S. 367, 369). 255 Beispiele bei Fricke, S. 215 ff.; Bernstein, S. 226. Der Kurswechsel in der Polenpolitik kam in den Massenausweisungen der Jahre 1885 / 86, dem Ansiedlungsgesetz von 1886 und einer verschärften Schulsprachenpolitik zum Ausdruck; vgl. Nipperdey, II, S. 271 f.; Blanke, S. 39 ff.; H. Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preußen 1885 / 86, Wiesbaden 1967. 251 252
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weiter zu, wobei die Verurteilungsquote in den letzten vier Geltungsjahren des Gesetzes im Durchschnitt bei 75,7 % lag256. Auch die gewerkschaftliche Bewegung sah sich forcierter Strafverfolgung ausgesetzt. Hatte das Sozialistengesetz zunächst als Handhabe gedient, fast alle sozialdemokratischen Gewerkschaften und Fachvereine zu verbieten, so war es in der Phase der „milden Praxis“ (1882 – 85 / 86) zu einer Reorganisation vor allem der Fachvereine gekommen257. Gegen die wachsende Streiktätigkeit richtete sich der berühmte Streikerlaß des preußischen Innenministers Puttkamer vom 11. 4. 1886, der zum einen den verstärkten Schutz von Streikbrechern anordnete, zum anderen die Bestimmungen des Sozialistengesetzes, insbesondere die mit dem „Kleinen Belagerungszustand“ (§ 28) verbundenen Befugnisse, auf solche Arbeitskämpfe ausdehnte, die „ihren wirtschaftlichen Charakter abstreifen und einen revolutionären annehmen“258. In der Folgezeit bestätigten die Gerichte vielfach die polizeilichen Schließungen, indem sie die Gewerkschaftsorganisationen zu „politischen“ Vereinen erklärten und damit dem Verbindungsverbot der Landesvereinsgesetze unterwarfen, wobei die Erörterung von Lohnfragen als Nachweis des „politischen“ Charakters zumeist genügte. In zahlreichen Fällen erlitten die Angeklagten Geldoder Haftstrafen. Eine genauere Prüfung der Nachfolgeorganisationen erübrigte sich in der Regel: Die „Fortsetzung eines gerichtlich geschlossenen Vereins“ führte meist umstandslos zu neuen Anklagen. Auf diese Weise wurde die reichsgesetzlich verbürgte Koalitionsfreiheit (§ 152 GO) via Landesrecht faktisch außer Kraft gesetzt – eine Praxis, bei der sich die sächsischen Gerichte wiederum besonders hervortaten259. Schließlich: Im Zuge der Streikbewegung der Jahre 1889 / 90 (ausgelöst durch den großen Bergarbeiterstreik vom Mai 1889) erfolgte ein sprunghafter Anstieg der Untersuchungen wegen Verletzung der Koalitionsfreiheit. Insgesamt stellen die Anklagen nach § 153 GO ein Spiegelbild für das Auf und Ab der sozialdemokra256 Wegen Verstoßes gegen die §§ 17 – 20, 22, 25 und 28 SG angeklagte und verurteilte Personen: 1882: 117 / 69; 1883: 106 / 83; 1884: 140 / 113; 1885: 123 / 98; 1886: 122 / 92; 1887: 281 / 216; 1888: 319 / 258; 1889: 368 / 286; 1890: 401 / 270; durchschnittliche Verurteilungsquote: 75,1 % (KrSt 1882 bis 1888, jeweils S. 142; KrSt 1889, S. 144; KrSt 1890, S. 160 sowie Übers. 2, S. II. 4). 257 Ausführlich zur Entwicklung der Gewerkschaften Albrecht, Fachverein, S. 281 ff. sowie S. 544, Übers. 11 (Chronologie der Verbote 1878 – 1890); zum Verhältnis von Staat, Gewerkschaften und Arbeitskampf: K. Saul, Zwischen Repression und Integration, in: K. Tenfelde / H. Volkmann (Hg.), Streik, München 1981, S. 209 – 236, hier S. 210 – 225. 258 Vollständig abgedr. bei Albrecht, S. 286 f. 259 Ausführlich dazu: Das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter im Lichte der Thatsachen, hg. v. d. Agitationskommission der Maurer Deutschlands, Hamburg 1889, S. 56 ff. (bes. S. 72 f., wo das Zusammenwirken von Polizei, Staatsanwälten und Gerichten idealtypisch beschrieben wird); die Broschüre enthält eine Petition an den Reichstag zwecks Abänderung der §§ 152 und 153 GO nebst ausführlicher Denkschrift. Zu den polizeilichen Maßnahmen Fricke, S. 194 – 209; Albrecht, S. 287 f. sowie S. 544, Übers. 11; weiterhin: Mehring, S. 282 – 285.
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tischen Gewerkschaftsbewegung in den Jahren des Sozialistengesetzes dar260. Im Vergleich zu genuin politischen Delikten fällt zweierlei auf: Die jährliche Verurteilungsquote schwankte bei Streikvergehen erheblich stärker, und ihr durchschnittlicher Wert lag mit 63,4% deutlich niedriger. Nicht erst seither klagte man in Arbeiterkreisen bitter über die eklatante Ungleichbehandlung in der Anwendung der erwähnten Strafvorschrift. Nach Darlegung der beständigen Rechtsprechung zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen heißt es in der Denkschrift der Maurergewerkschaft: „Hält man sich an alle diese streng sachlichen, mit dem wirklichen Sinn des § 153 rechnenden juristischen Erwägungen, so erscheint es geradezu unbegreiflich, wie Arbeitgeber gegenüber der Arbeiter-Koalition fortgesetzt aufgrund des Systems der schwarzen Liste die Mitglieder der Koalition in rücksichtslosester Weise bedrohen, an der Ehre verletzen, in Verruf erklären, ja sie um Arbeit und Brot zu berauben vermögen, ohne daß sie der verdienten Bestrafung anheimfallen, während man gegenüber den unter Anklage des Vergehens wider § 153 gestellten Arbeitern seitens der Staatsanwälte und Gerichte eine haarscharfe Subtilität beobachtet“261. Den stark lückenhaften Erhebungen zufolge, die Auer im Auftrag der Parteileitung noch während der Geltung des Ausnahmerechtes vornahm, wurden bis Oktober 1888 von deutschen Gerichten im Zusammenhang mit dem Sozialistengesetz rund 611 1/2 Jahre Strafhaft und 219 1/2 Jahre Untersuchungshaft verhängt, zusammen mithin 831 Jahre Freiheitsentzug. Den Spitzenplatz der nach Städten geordneten Strafstatistik nimmt Leipzig (193 Jahre) ein, in weitem Abstand gefolgt von Berlin (92), Posen (87), Hamburg-Altona (52), Spremberg (50) und München (40)262. Nimmt man die drei Zentren der antisozialistischen Repression (Preußen, Sachsen, Bayern) etwas genauer unter die Lupe, so fällt auf, daß die bayerischen Gerichte insgesamt „nur“ rund 481/2 Jahre Freiheitsstrafe verhängten263. Von München einmal abgesehen, blieb die relative Liberalität gegenüber der Sozialdemokratie, die bereits in den 70er Jahren zu beobachten war, auch unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes erhalten. Demgegenüber konnten die sächsischen Richter mit zusammen 2491/2 Jahren Gefängnis die im Verhältnis höchste „Erfolgsquote“ vorweisen264. Nach Erlöschen des Gesetzes bezifferte die Parteiführung – verstanden als absolutes Minimum – den Gesamtumfang auf rund 1000 Jahre Freiheitsstrafe, verteilt auf 1500 Personen265. 260 Wegen Verstoßes gegen § 153 GO angeklagte und verurteilte Personen: 1882: 5 / 4; 1883: 19 / 9; 1884: 58 / 45; 1885: 150 / 80; 1886: 178 / 123; 1887: 68 / 37; 1888: 108 / 65; 1889: 320 / 212; 1890: 445 / 279 (KrSt 1882 bis 1888, jeweils S. 140; KrSt 1889, S. 142; KrSt 1890, S. 158). 261 Koalitionsrecht, S. 52; insgesamt dazu: ebd., S. 42 ff. (mit zahlreichen Beispielen). Das berüchtigte System der „schwarzen Listen“ diente dazu, „umstürzlerische“ Arbeiter unter den Arbeitgebern bekannt zu machen, um so ihre Anstellung zu verhindern. 262 Vgl. die Zusammenstellung bei Auer, S. 368 – 370; Zahlen für Frankfurt (1878 – 1890): 25 Jahre, 27 Tage Strafhaft sowie 2 Jahre, 1 Monat U-Haft (nach: Frankfurter Volksstimme v. 21. 10. 1903, archiv. in: GStA, Rep. 77, CB, Sachen, Nr. 315). 263 Vgl. Hirschfelder, II, S. 362 – 364. 264 Vgl. Vorwärts v. 13. 2. 1895, archiv. in: GStA, Rep. 77, CB, Sachen, Nr. 59.
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Fassen wir zusammen: Die strafrechtliche Bedeutung des Sozialistengesetzes lag weniger in der Existenz ausnahmerechtlicher Tatbestände als vielmehr in dem korrumpierenden Einfluß, den das Gesetz auf die Handhabung des gemeinen (formalen wie materiellen) Strafrechts ausübte. Diese Feststellung trifft namentlich auf die zweite Hälfte der 80er Jahre zu, als der Kampf gegen die Sozialdemokratie zunehmend von der Polizei auf die Justiz überging. Dabei verstärkte sich die Tendenz zu einer ausdehnenden Rechtsprechung, die zur gleichen Zeit – erinnert sei nur an den „groben Unfug“ – auch auf anderen Feldern der politischen Justiz hervortrat. Katalysatorische Wirkung kam der Judikatur des Reichsgerichts zu, dessen Verbindungserkenntnis vom Dezember 1885 kein Einzelfall blieb. Aufs Ganze gesehen zeichneten sich die Entscheidungen aus Leipzig durch eine regierungs- und unternehmerfreundliche Tendenz aus266. Die Erklärung liegt in einem Bündel von Faktoren: Das richterliche Auswahlverfahren begünstigte, wie bereits erwähnt, eine konservative Zusammensetzung des Gerichtshofs267. Darüber hinaus waren die Strafsenate überproportional stark mit erfahrenen Staatsanwälten besetzt. Zwischen 1879 und 1914 stellten sie fast ein Drittel der Mitglieder aller Strafsenate268. Der staatsanwaltschaftliche Einfluß wurde durch den „Strafkammereffekt“ verstärkt, der auch für das Reichsgericht galt: Da die Geringschätzung der strafrichterlichen Tätigkeit den Wechsel in einen Zivilsenat schwierig machte, blieben die Strafsenate in ihrer Komposition relativ stabil, mit den wiederholt beschriebenen Folgen einer Verkrustung und Mechanisierung der Alltagspraxis269. Schließlich sollte der Einfluß des sächsischen Umfeldes mit seiner dezidiert sozialistenfeindlichen Atmosphäre nicht unterschätzt werden. Zumindest was die Rechtsprechung 265 So Bebel in seinem Bericht an den Parteitag in Halle a. S., der vom 12. bis 18. 10. 1890 abgehalten wurde (Protokoll über die Verhandlungen, Berlin 1890, S. 30 f.). 266 Um zwei weitere Beispiele zu nennen: Seine ursprüngliche Position revidierend, erklärte das Reichsgericht auch den bloßen Bezug verbotener Druckschriften für strafbar (vgl. Auer, S. 365). Das Erkenntnis v. 3. 12. 1889 dehnte den Anwendungsbereich des § 110 StGB auf privatrechtliche Normen und damit auf den Kontraktbruch aus (Entsch. Bd. 20, S. 63, 105; JMBl, S. 297 – 300); ähnlich das Urteil v. 28. 1. 1891 (Entsch. Bd. 21, S. 299); weitere Beispiele in: H. Kuntschke, Die geschichtliche Stellung des Reichsgerichts im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin (Ost) 1964. 267 Vgl. oben Erster Teil, B, Kap. I / 2d. In diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache, daß Tessendorf 1886 zum Oberreichsanwalt am RG ernannt wurde. Zur Charakterisierung der politischen Ausrichtung des Reichsgerichts in den 80er Jahren sei die Überschrift des diesbezüglichen, nicht mehr ausgearbeiteten Kapitels in den Erinnerungen Mittelstädts zitiert: „Bourgeoisstandpunkt und hartgesottener Gouvernementalismus“ (Lebenserinnerungen, S. 14). 268 Detailliert dazu: R. Schröder, Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach 1988, S. 396 ff. 269 Wie sich aus den Memoiren von Ludwig Ebermayer, seit 1902 Mitglied des dritten Strafsenats des RG, ersehen läßt, hatte sich an dem Phänomen auch Jahrzehnte später wenig geändert (vgl. Ebermayer, S. 66 f.); ebenso Müller, Hüter, S. 72 f.
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zur Arbeiterbewegung betraf, erwies sich das ursprüngliche Motiv für die Wahl Leipzigs, das oberste Gericht von außerjuristischen Einflüssen so weit wie möglich freizuhalten, als Fehleinschätzung270. Der Ansehens- und Vertrauensverlust, den die Justiz in der Öffentlichkeit erlitt, war beträchtlich und ging weit über die betroffenen Gruppen hinaus. Propagandistisch zugespitzt, in der Tendenz aber zutreffend konstatierte Auer „die vollständige Erschütterung des Rechtsbewußtseins in weiten Volkskreisen und die völlige Zerstörung des Glaubens an die Unparteilichkeit des Richterstandes in der deutschen Arbeiterwelt“271. Von diesem Verdikt war die „National-Zeitung“ gar nicht weit entfernt, wenn sie – mit Blick auf Polizei und Justiz – von einer „Entwöhnung der Organe der Staatsgewalt von den Schranken einer festen Rechtsordnung“ sprach und mit der eingetretenen „Versumpfung“ ernsthafte Gefahren verbunden sah272. Die rechtszersetzende Wirkung des Sozialistengesetzes bildet auch das Thema einer Broschüre des Offenburger Rechtsanwalts Oskar Muser, der einige Jahre später zum führenden Demokraten Badens aufstieg273. Auf der Grundlage aktenmäßiger Fälle setzt sich Muser mit den Polizeipraktiken und dem Verhalten der Gerichte auseinander. Der erste Teil der Schrift ist dem willkürlichen, häufig gesetzwidrigen Vorgehen von Polizei und Verwaltung gegen das sozialdemokratische Vereins-, Versammlungs- und Pressewesen gewidmet. Im Anschluß dokumentiert Muser die tatsächlichen und rechtlichen Unstimmigkeiten in dem Geheimbundsprozeß gegen Adolf Geck, Journalist aus Offenburg und inoffizieller Führer der badischen Sozialdemokratie, sowie eine Reihe von Mitangeklagten, der im April 1888 vor der Strafkammer des Landgerichts Freiburg stattfand und bei dem Muser als Verteidiger fungierte. Von den zahlreichen Aspekten sei nur ein einziger herausgegriffen: Obwohl lediglich wegen Beihilfe zur Verbreitung verbotener Schriften angeklagt, erhielt Geck – unter Hinweis auf seine politische Stellung – eine höhere Strafe als die Hauptangeklagten (Geck wurde zu vier Monaten Gefängnis, die übrigen Angeklagten zu drei Monaten und weniger verurteilt)274. Das Reichsgericht, bei dem die Verteidigung Revision einlegte, konnte keinen Rechtsverstoß erkennen. 270 Zur sozialdemokratischen Kritik am Reichsgericht Auer, S. 364 f.; Hasenclever, Sten. Ber. RT, 1. 12. 1886, S. 41. 271 Auer, S. 365. Das sozialdemokratische „Berliner Volksblatt“ resümierte, das Sozialistengesetz habe „eine Korruption aller Rechtsbegriffe, eine Untergrabung der Staatsautorität, des öffentlichen Rechtsbewußtseins und der Rechtssicherheit erzeugt, die alles in den Schatten stellt, was bei seiner großen Beratung im Jahre 1878 als notwendige Wirkung desselben vorausgesagt wurde“ (Ausg. v. 4. 10. 1889, archiv. in: GStA, Rep. 77, Abt. II, Sekt. 11, Tit. 500, Nr. 46, Bd. 22); vgl. Bebel, Zum ersten Oktober, in: Neue Zeit 9 / 1 (1890 / 91), S. 3 – 10, bes. S. 8. 272 NZ v. 26. 10. 1889. 273 Oskar Muser, Sozialistengesetz und Rechtspflege, Karlsruhe 1889. Oskar Muser (1850 – 1935), über Jahrzehnte hinweg Anwalt in Offenburg, war von 1889 – 1919 Abgeordneter der zweiten badischen Kammer; zunächst Mitglied der DVP, hatte er von 1911 – 1918 den Fraktionsvorsitz der FVP inne.
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Den Schluß der Schrift bilden eine Reihe von Beispielen, die ein grelles Licht auf die Mißachtung der gesetzlichen Vorschriften über die Zulässigkeit der Untersuchungshaft, insbesondere die durch Tatsachen erhärtete Kollusionsgefahr, werfen: „Durch das Sozialistengesetz sind die Sozialdemokraten strafrechtlich in einen Ausnahmezustand versetzt; die Praxis bringt sie auch strafprozessualisch in einen solchen, wenn sie den für jeden Menschen in § 112 St.P.O. gewährleisteten Schutz der persönlichen Freiheit in Sozialistenprozessen verweigert und dadurch eine in die Augen springende Rechtsungleichheit vor einem für alle gleichmäßig geltenden Gesetze schafft“275. Mit Blick auf das ausgebreitete Material bleibt dem Verfasser nurmehr eine rhetorische Frage: „Und darf es da noch befremden, wenn vielfach gerade bei den Sozialdemokraten das für eine ersprießliche Wirksamkeit der Justiz unumgänglich notwendige Vertrauen in die Objektivität der Richter erschüttert oder gar abhanden gekommen ist?“276. Insgesamt belegt die Musersche Schrift eindrucksvoll, daß die Sozialistenprozesse ihrem Wesen nach Gesinnungsprozesse waren, in denen die Strafverfolgung höher rangierte als eine korrekte Rechtsübung. Dies dürfte den immensen Erfolg der Broschüre erklären, die weit über Badens Grenzen hinaus für Furore sorgte und noch im Erscheinungsjahr vier Neuauflagen erlebte277. Die Erfahrungen mit dem Sozialistengesetz machen verständlich, weshalb der Terminus „Klassenjustiz“ im sozialdemokratischen Milieu erst im Laufe der 80er Jahre in Gebrauch kam, obwohl die sozialistische Arbeiterbewegung – zumindest regional – in gewisser Hinsicht bereits vor dem Oktober 1878 unter Ausnahmerecht stand. Wie es scheint, entstand der Begriff im Umkreis des in Zürich gedruckten, unter Leitung von Julius Motteler und Eduard Bernstein stehenden „Sozialdemokrat“, dessen Artikel maßgeblich zu seiner Einbürgerung beitrugen. Gegen Ende des Jahrzehnts gehörte er zum ehernen Bestand sozialdemokratischer Kampfparolen. Die begriffsgeschichtliche Entwicklung ist ein Indiz für die Prägekraft der Erfahrungen, die die Partei mit Richtern und Gerichten in den Jahren des Sozialistengesetzes machte. Auf die relative Effektivität des gemeinen Strafrechts verweisen schließlich die 1889 von verschiedener Seite (preußische Regierung, nationalliberale Partei, Publi274 Die Urteilsbegründung verwies auf Gecks „Stellung als Haupt der sozialistischen Partei in Baden, seine gegenüber allen anderen Angeklagten hohe Bildung und Intelligenz und den großen Einfluß, welchen er bei Verleitung untergeordneter Personen zu strafbarem Treiben ausüben kann“ (Muser, S. 59); zum Prozeß auch: G. Haselier, Adolf Geck als Politiker und Mensch, in: ZGO 115 (1967), S. 331 – 430, hier S. 344 f. 275 Muser, S. 67 f. 276 Ebd., S. 64. 277 Gerade in den Landtag gewählt, brachte Muser eine mit 32 Fallbeispielen versehene Interpellation über die Handhabung des Versammlungsrechts in Baden ein, die am 20. 1. 1890 eine ausführliche Besprechung erfuhr (Verh. 2. Kammer 1889 / 90; Text der Interpellation v. 2. 12. 1889: ebd., 4. Beilagenheft, S. 102 f.); vgl. J. Schadt, Die Sozialdemokratische Partei in Baden, Hannover 1971, S. 87.
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zistik) unternommenen Vorstöße, das zunehmend ungeliebte Ausnahmegesetz durch eine Revision der allgemeinen Strafvorschriften zu ersetzen278. Ein von Preußen dem Bundesrat am 21. 3. 1889 übersandter Gesetzentwurf, der Änderungen des Straf- und Presserechts vorsah, erfuhr bei der ersten Beratung im Justizausschuß durch Annahme eines sächsischen Antrags eine nochmalige Verschärfung. Auf Drängen Bismarcks stimmte das Staatsministerium der geänderten Version zunächst zu, vollzog dann aber eine Kehrtwendung in der realistischen Annahme, daß eine derartige Kampfvorlage sogar im Kartellreichstag keine Aussicht auf Erfolg haben würde. Die Ministerrunde verzichtete auf die weitere Beratung des Entwurfs und beschloß, dem Reichstag stattdessen ein zeitlich unbegrenztes, aber mit verstärkten Rechtsgarantien versehenes Ausnahmegesetz vorzulegen279.
III. Presse und Reichstag als Multiplikatoren der Kritik – zwei Beispiele Ihre wichtigsten Foren fand die Justizkritik in der liberalen Presse und im Reichstag. Noch vor der Jahrhundertwende vollzog sich in Deutschland der Aufstieg der Presse zum Massenmedium und damit der Übergang zur „modernen Kommunikationsgesellschaft“ (Wehler). Die kaiserzeitliche Öffentlichkeit zeichnete sich nicht nur durch ein hohes Maß an Pluralität aus, sondern darüber hinaus konnte sich, einigermaßen überraschend, die liberale Meinungsführerschaft, die sich in den 1860er Jahren herausgebildet hatte, bis zum Ersten Weltkrieg behaupten280. Der Durchbruch des publizistischen Massenmarktes veränderte das Verhältnis zwischen Justiz und Presse nachhaltig und in vielfältiger Weise. Als auffälligstes Merkmal verstetigte sich das Phänomen der Skandal- oder Sensationsprozesse. Aufsehenerregende Verfahren mit großer Öffentlichkeitswirkung hatte es zwar seit eh und je gegeben (einige davon sind vorstehend geschildert worden), deutlich erhöhte sich nunmehr aber die Frequenz, mit der sie auftraten – praktisch riß ihre 278 Vgl. Ludwig Fuld, Die Aufhebung des Socialistengesetzes und die Aenderung des Strafgesetzbuches, Berlin 1889. Die Haltung bürgerlich-konservativer Kreise gab die Besprechung des Fuldschen Buches in den „Hamburger Nachrichten“ wieder: Grundsätzlich stelle eine Verschärfung des Strafrechts zwar eine Alternative zum Sozialistengesetz dar, es fehle aber – das Blatt verweist auf die milde Judikatur bei Körperverletzungen, die seit Jahren ergebnislos beklagt werde – an den notwendigen Garantien für die auch von Fuld geforderte „recht energische Anwendung“ (Ausg. v. 12. 2. 1889, archiv. in: GStA, Rep. 77, Abt. II, Sekt. 11, Tit. 500, Nr. 46, Bd. 22); zur Gesamtdiskussion: Pack, S. 194 – 203. 279 Siehe hierzu die Sitzungen des StM v. 24. 2. / 8. 3. / 5. 5. / 17. 8. / 5. 10. und 12. 10. 1889; einschlägiges Aktenmaterial in: GStA, Rep. 77, Abt. II, Sekt. 11, Tit. 500, Nr. 46, Bd. 22, Bl. 2 – 75 und Rep. 84a, Nr. 8462, Bl. 39 ff., 106 – 110; Votum Bismarcks v. 13. 2. 1889 in: GW, Bd. 6c, S. 409 f.; preußische Vorlage: BR, Session 1889, Drks. Nr. 35. 280 Dazu und zum folgenden: Wehler, III, S. 1232 – 1249; A. Schulz, Der Aufstieg der „vierten Gewalt“, in: HZ 270 (2000), S. 65 – 97; M. Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, Berlin 2005, S. 45 ff.; Ph. Müller, Auf der Suche nach dem Täter, Frankfurt / M. 2005.
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Kette seit den 80er Jahren nicht mehr ab. Konstitutives Merkmal dieser immer wieder in Berlin stattfindenden Verfahren – es handelte sich ausschließlich um Strafprozesse, die sowohl politischer als auch unpolitischer Natur sein konnten – war ein bis dahin unbekanntes Medieninteresse. Die forensische Berichterstattung befriedigte nicht nur die Sensationslust des großstädtischen Publikums, sondern diente darüber hinaus als Plattform für vielfältige Klagen über die Justiz. Es waren nicht zuletzt die causes célèbres, die Recht und Rechtsprechung dauerhaft zu einem öffentlichen Thema machten. Dies umso mehr, als sich der Typus rasch zu einem festen Bestandteil des kulturellen und politischen Lebens entwickelte: „Wenn künftig einmal ein Forscher, um Beiträge zu einer geistigen Physiognomik unserer Gegenwart zu sammeln, die Jahrgänge unserer heutigen Zeitungen durchblättert, so wird er sicherlich versucht sein, unsere Zeit das Zeitalter der cause célèbre zu nennen“281. Zudem sollte nicht vergessen werden, daß auch die traditionellen Prozeßberichte in Broschürenform, insbesondere bei politisch gefärbten Verfahren, bis ins neue Jahrhundert hinein ihre Funktion behielten. Einer der ersten Fälle, bei dem die neue Macht der Presse unübersehbar in Erscheinung trat, war der Schwurgerichtsprozeß Graef, der sich vom 28. 9. – 7. 10. 1885 in Berlin abspielte. Nach sechsmonatiger Untersuchungshaft war gegen den bekannten Kunstmaler Gustav Graef Anklage wegen wissentlichen Meineides, Anstiftung zum Meineid und unzüchtiger Handlungen mit Minderjährigen (vorgenommen an zwei Mädchen, die ihm Modell gesessen hatten) erhoben worden282. Wegen „Gefährdung der Sittlichkeit“ hatte der Vorsitzende die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung zwar ausgeschlossen, den Vertretern der Presse aber freien Zutritt gewährt, wodurch faktisch volle Publizität hergestellt war. Im Zusammenhang mit der Prozeßberichterstattung wurden nicht nur in der Klatschpresse, die das pikante Thema naturgemäß begierig aufgriff, sondern auch in seriösen Tageszeitungen sowie in der Publizistik diverse Vorwürfe erhoben, vor allem gegen das Berufsrichtertum (Plädoyer für das Schwurgericht), die Staatsanwaltschaft (Verfolgungseifer), die Verfahrensordnung (Vorschriften über die Untersuchungshaft), die Justizverwaltung (Besetzung höherer Richterstellen mit Staatsanwälten) sowie das 281 Erich Sello, Zur Psychologie der cause célèbre, Berlin 1910, S. 5. Sello zufolge zeichnen sich die causes célèbres durch ein hohes Maß an Massensuggestion aus, was die Wahrheitsfindung außerordentlich erschweren würde. Zur Abhilfe empfiehlt er eine fundierte psychologische Schulung der Strafrichter sowie eine deutliche Zurückhaltung der Presse bei ihrer Berichterstattung. Erich Sello (1852 – 1912), berühmter Rechtsanwalt in Berlin, war an verschiedenen Sensationsprozessen beteiligt, zumeist als Verteidiger. Stark schöngeistig interessiert, trat er auch als Lyriker hervor; zu Sello: G. Hoffmann, Der Prozeß um den Brand der Synagoge in Neustettin, Schifferstadt 1998, S. 293 – 305. 282 Ausführliche Schilderung der Vorgeschichte und des Prozesses: Paul Lindau, Idealismus und Naturalismus in Berlin. Proceß Gräf, in: Nord und Süd 35 (1885), S. 204 – 268 (auch in: ders., Interessante Fälle, Breslau 1888, S. 83 – 198). Gustav Graef (1821 – 1895), Königlicher Professor und Mitglied der Berliner Akademie der Künste, hatte sich zunächst mit historischen Sujets, dann als Porträtist einen Namen gemacht.
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materielle Recht283. Befriedigt zeigte man sich lediglich über den Ausgang des Verfahrens, einen Freispruch, womit der öffentlichen Meinung, die von Beginn an Partei für den Angeklagten ergriffen hatte, Genüge getan war. Die Angriffe kamen so überraschend und erfolgten mit solcher Wucht, daß man sich in juristischen Kreisen zur Gegenwehr entschloß. Zwar konzedierte man eine Reihe prozessualer Bedenklichkeiten, insbesondere die eigentümliche Handhabung der Öffentlichkeit, verwahrte sich aber entschieden gegen die zügellosen, unqualifizierten und parteiischen Presseattacken284. Otto Mittelstädt schloß seine Betrachtungen über den Fall mit einer eindringlichen Mahnung an die Richter: „Aber neben dem Byzantinismus nach oben hin gibt es auch einen Servilismus nach unten hin; es gibt Höflinge der Fürstengewalt und Höflinge der Volksgunst, Kreaturen der einen und Kreaturen der anderen Sorte. Daß das Richteramt seine Unabhängigkeit nach oben wie nach unten hin intakt erhalten soll, erscheint selbstverständlich. Mut und Furchtlosigkeit sind hier wie dort vonnöten, heutzutage vielleicht in noch stärkerem Grade den demokratischen wie den monarchischen Zumutungen gegenüber. Deshalb sollten unsere Richter sich mit dreifachem Erz wappnen gegen alles, was sich öffentliche Meinung nennt, und den Verdacht einer Gefügigkeit gegen die aura popularis nicht minder ängstlich meiden wie jeden sonstigen Anlaß, ihre Unbefangenheit und Unparteilichkeit in Zweifel zu ziehen“285. Die Erfahrungen mit dem Prozeß Graef trugen maßgeblich dazu bei, daß die Bestimmungen über den Ausschluß der Öffentlichkeit wenige Jahre später verschärft wurden (Gesetz v. 5. 4. 1888)286. Damit war der neuartige Einfluß der Presse aber noch keineswegs erschöpft. Mehr als einmal kam es vor, daß Staatsanwälte, als Reaktion auf entsprechende Angriffe in den Lokalblättern, ihre Amtshandlungen öffentlich rechtfertigten. In einer kurz vor dem Graefschen Prozeß erlassenen Rundverfügung mißbilligte Friedberg ein derartiges Vorgehen, „da es der Stellung der Staatsanwaltschaft nicht entspricht, in eine Polemik mit dem Publikum einzutreten“. Sollten Mitteilungen durch die Presse ausnahmsweise einmal geboten erscheinen, so sei zuvor Bericht an den Justizminister zu erstatten287. Auch mancher Vorsitzende änderte sein Ver283 Publizistische Äußerungen: Alexander Meyer, Der Prozeß Graef, in: Nation 3 (1885 / 86), S. 18 – 20; Portia [Pseud.], Das Fundament des Urtheils, in: ebd., S. 43 (fordert den Einsatz der Stenographie zum Zwecke sicherer Protokollierung; eine der frühesten Stellungnahmen einer Frau zu justiziellen Problemen); M. Heckscher, Der Prozeß Graef, Berlin 1885. 284 Otto Mittelstädt, Strafjustiz und Oeffentliche Meinung, in: PJ 56 (1885), S. 499 – 509; Fuchs, Zum Prozeß Gräf, in: GA 33 (1885), S. 401 – 430 (OLG-Rat in Jena); Anon., Der jüngste Berliner Skandalprozeß, in: Grenzboten 44 / 4 (1885), S. 142 – 150; Anon., Unser Strafgerichtsverfahren und der Proceß Graef, in: Die Gegenwart 28 (1885), S. 276 – 279 (der Verfasser war Staatsanwalt). 285 Mittelstädt, S. 508 f. 286 Dazu: Anon., Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung, in: Grenzboten 47 / 2 (1888), S. 164 – 172. 287 RV an die Oberstaatsanwälte v. 6. 8. 1885, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4536.
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halten. Aufmerksame Beobachter konstatierten eine bisher unbekannte Neigung zu weitschweifigen Reden und geistreichen Äußerungen, vor allem in aufsehenerregenden Prozessen. Nicht zufällig war es Otto Bähr, der kritisch bemerkte: „Früher war es der Ruhm des Richters, sich möglichst knapp und präzis auszudrükken, auch nicht ein Wort mehr zu sagen als die rechtliche Beurteilung des Falles erheischte. Heute betrachten viele Richter das Urteil als die Stelle, wo sie ihren Herzensergießungen freien Lauf lassen können“288. Umgekehrt häuften sich die Klagen, die Presse würde ihren Stoff allein unter kommerziellen Gesichtspunkten auswählen, den Prozeßberichten fehle es häufig an sittlichem Ernst, und die Gerichtsreporter besäßen nicht die erforderlichen juristischen Kenntnisse289. In ihrer Gesamtheit lassen die Erscheinungen nur einen Schluß zu: Das Konfliktverhältnis zwischen Justiz und Presse, bei dem die Justiz bis dato in der überlegenen Position gewesen war, hatte sich eindeutig in Richtung Presse verschoben. Neben der Presse ist der Reichstag zu nennen. Hier zeichneten sich die Konturen einer justizpolitischen Reformkoalition ab, bestehend aus Zentrum, linkem Liberalismus und Sozialdemokratie, also der Front der bisherigen Neinsager. Deutlich faßbar wurde das Zusammenspiel erstmals bei der ersten Beratung des von Reichensperger eingebrachten Antrags auf Wiedereinführung der Berufung, die Ende 1885 stattfand und einen frappierenden Gleichklang in der allgemeinen Lagebeurteilung offenbarte. Der Antragsteller sprach von einem „weitverbreiteten Mißtrauen in die bestehende Strafrechtspflege“, Munckel, der Sprecher des Freisinns, stellte fest, das Rechtsbewußtsein der Nation sei „durch die gegenwärtige Art der Rechtsprechung in Strafsachen vielfach auf das erheblichste gekränkt und beleidigt worden“, der früh verstorbene Abgeordnete Kayser von den Sozialdemokraten beklagte, die politischen Prozesse hätten „die ganze Rechtspflege verdorben“ und konstatierte insgesamt einen „Niedergang“ derselben, und auch der alte Windthorst meinte, insbesondere in der Kriminalrechtspflege sei „das Vertrauen zu der Justiz herabgestimmt“, und zwar durch die vielfachen „Tendenzprozesse“ sowie überhaupt die Tatsache, „daß man die Gerichte mehr oder minder in die politischen Streitigkeiten hineinführt“. Überhaupt komme es viel mehr auf die Personen denn auf die Formen an: „Sind die Richter wirklich feste, tüchtige Juristen, sind es vor allem auch feste Charaktere, die sich von außen nicht beeinflussen lassen, sind es keine Streber, die durch ihr Erkenntnis sich empfehlen wollen, so wird es mit schlechten Prozeßvorschriften selbst gut gehen“. Ob das überall der Fall sei, wollte Windthorst bei dieser Gelegenheit nicht erörtern, seine diesbezüglichen Zweifel ließ er aber deutlich durchblicken290. Welch hohe Wellen die Kritik schon damals 288 Otto Bähr, Das richterliche Urteil und die Phrase, in: Grenzboten 44 / 3 (1885), S. 7 – 14, hier S. 14 (auch in: Ges. Aufsätze, I, S. 432 – 444). 289 Exemplarisch: F., Die Presse im Gerichtssaal, in: Grenzboten 43 / 4 (1884), S. 158 – 164 (Bericht aus Stuttgart); Anon., Gerichtssaal und Presse, in: Grenzboten 50 / 3 (1891), S. 59 – 65. 290 Sten. Ber. RT, 26. 11. 1885, S. 80 (Reichensperger), S. 85 (Munckel), S. 91 (Kayser), S. 93 f. (Windthorst).
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schlug, zeigt die aggressive Reaktion der bismarckfreundlichen „Grenzboten“: Die Angriffe in Presse und Parlament wurden purer Parteileidenschaft zugeschrieben, ob ihrer autoritätszersetzenden Wirkung scharf gerügt und als reichsfeindlich denunziert291.
IV. Allgemeine Probleme der Strafjustiz Über das bisher Gesagte hinaus hatte die Strafjustiz mit Problemen zu kämpfen, die sie als Ganzes betrafen. Diese traten zwar auch in der politischen Rechtsprechung hervor, blieben aber nicht hierauf beschränkt. Vor allem drei Aspekte wären zu nennen: die Praxis der Strafzumessung, das Problem der „kurzen Freiheitsstrafe“ und die Methode der Gesetzesauslegung. 1. An der „milden“ Strafzumessung der deutschen Gerichte hatten weder die eindringliche Mahnung, die Leonhardt 1874 an die preußischen Richter ergehen ließ, noch die StGB-Novelle vom Februar 1876 mit ihren Strafverschärfungen Grundlegendes zu ändern vermocht. Wieder einmal bestätigte sich das Gneistsche Diktum, es gäbe „im Staatsleben kein konservativeres Element als die Amtsgewohnheiten der Gerichte“ – ein Umstand, so Gneist weiter, der ihnen mit Blick auf die Rechtskontinuität keineswegs zur Unehre gereiche292. Nach einigen Jahren relativer Windstille erhoben sich die mahnenden Stimmen Mitte der 80er Jahre von neuem. Den Kritikern kam die verbesserte Datenbasis zugute, erlaubte die Reichskriminalstatistik nunmehr doch den eindeutigen Nachweis, daß sich die Strafen bei zahlreichen Tatbeständen im unteren Bereich des gesetzlichen Strafrahmens bewegten293. Einige Zahlen mögen den Sachverhalt illustrieren: In den Jahren 1882 bis 1886 machte die Gefängnisstrafe zwischen 64 und 69 Prozent aller Strafurteile aus, während auf Geldstrafe zwischen 25 und 30 Prozent, auf Zuchthaus lediglich 3 bis 4 Prozent entfielen. Im Jahre 1886 erhielten 80 % der zu Gefängnis Verurteilten – der allgemeine Strafrahmen für Gefängnishaft lag zwischen einem Tag und fünf Jahren – eine Freiheitsstrafe von weniger als drei Monaten. Im einzelnen wurden 19,5 % zu weniger als 4 Tagen, 17 % zu 4 bis 8 Tagen, 28 % zu 8 Tagen bis einem Monat und 15,5 % zu einem bis drei Monaten verurteilt. In 16 % der Fälle bewegte sich das Strafmaß zwischen drei Monaten und einem Jahr, so daß nur 4 von 100 Verurteilten eine Strafe von einem Jahr und mehr zuerkannt bekamen. Die durchschnittliche Dauer der Gefängnishaft belief sich auf zwei Monate – bei 30 Monaten 291
Siehe: Anon., Die Parteien und die Gerichte, in: Grenzboten 45 / 1 (1886), S. 569 –
571. Gneist, Vier Fragen, S. 4. Ausführlich hierzu: Fr. Exner, Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, Leipzig 1931 (m. w. N.; das Zahlenmaterial ist im wesentlichen den Jahren 1925 – 27 entnommen; zum Kaiserreich S. 17 – 30). 292 293
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als gesetzlichem Durchschnitt294. Franz v. Liszt konstatierte kurz und bündig: „Die Strafrahmen unseres Reichsstrafgesetzbuchs stehen auf dem Papiere, die Rechtsprechung hat für ihren Bedarf sich andere zurechtgelegt“295. In kurzer Zeit entfaltete sich eine breite Diskussion, die zwei Schwerpunkte aufwies: die richterliche Urteilspraxis und die kurzen Freiheitsstrafen. Die Wortmeldungen kamen aus den verschiedensten Richtungen und umfaßten Stimmen aus der Staatsanwaltschaft, der Advokatur, der Ministerialbürokratie, der Wissenschaft und der Presse. In Preußen war die Diskussion Teil einer größeren kultur- und kriminalpolitischen Debatte, die sich am Anstieg der Kriminalitätsrate (Zahl der Verurteilungen auf 100.000 Einwohner) entzündete und um die Frage kreiste, ob die Kriminalität in längerfristiger Perspektive zu- oder abgenommen habe296. Die letztgenannte These stützte sich vor allem auf eine Studie von Wilhelm Starke, Vortragender Rat im Justizministerium, der ein differenziertes Bild von der Kriminalitätsbewegung in Preußen während des vergangenen Menschenalters zeichnete und die Klagen über eine allgemeine Zunahme des Verbrechertums für stark übertrieben hielt297. Methodik und Ergebnisse der Starkeschen Analyse riefen heftigen Widerspruch hervor. Zu anderen, im ganzen wohl wirklichkeitsnäheren Resultaten gelangte Julius Illing, Oberregierungsrat im Innenministerium, der – auf breiterer statistischer Grundlage – eine Zunahme der schweren Verbrechen und der Rückfälligkeit nachwies298. In mancherlei Hinsicht standen die beiden Studien stellvertretend für 294 Die Proportionen änderten sich nachfolgend kaum: In den Jahren 1894 – 97 belief sich ein Drittel der gegen Erwachsene verhängten Gefängnisstrafen auf nicht mehr als eine Woche, bei Jugendlichen lag die Quote sogar bei 39 %; gut drei Viertel aller Gefängnisstrafen überstieg nicht die Dauer von drei Monaten (H. Horstkotte, Die Anfänge der Strafrechtsreform, in: Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, hg. v. Bundesministerium der Justiz, Köln 1977, S. 325 – 371, hier S. 351). 295 Franz v. Liszt, Kriminalpolitische Aufgaben, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, Berlin 1905, S. 340 – 359, hier S. 342 ff., Zitat S. 345 (zuerst in: ZStW 9, 1889). Der Österreicher Franz v. Liszt (1851 – 1919), Begründer der „modernen“ Schule in der Kriminalpolitik, lehrte – nach Stationen in Gießen (1879), Marburg (1882) und Halle (1889) – seit 1899 in Berlin. Er war führend an der Gründung der IKV (1889) beteiligt und veröffentlichte 1911 (zusammen mit J. Goldschmidt, W. Kahl und K. v. Lilienthal) einen Gegenentwurf zum Vorentwurf des deutschen Strafgesetzbuchs; seit 1908 MdA, 1912 – 1918 MdR (FVP). 296 Zur Kriminalitätsentwicklung im Kaiserreich sowie zum komplexen Zusammenhang zwischen Kriminalität und gesellschaftlicher Modernisierung: E. A. Johnson, Patterns of Crime in Imperial Germany, Ann Arbor 1977; ders., Urbanization and Crime, Cambridge 1995; Nipperdey, II, S. 186 f. Zwischen den mittleren 80er und den mittleren 90er Jahren stieg die Kriminalitätsrate im Reich von 1.005 (1885) auf 1.176 (1895), um dann bis 1914 in etwa auf dem erreichten Niveau zu stagnieren (1912: 1.144); parallel dazu wuchs die Zahl der Rückfalltäter (1882: 259, 1911: 540 Vorbestrafte unter 100.000 Strafmündigen). 297 W[ilhelm] Starke, Verbrechen und Verbrecher in Preußen 1854 – 1878, Berlin 1884. 298 J[ulius] Illing, Die Zahlen der Kriminalität in Preußen für 1854 bis 1884, in: Zeitschrift des Kgl. Preuß. Statistischen Bureaus 25 (1885), S. 73 – 92, bes. S. 79 – 82; dort auch knapper
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einen grundsätzlichen Dissens zwischen Innen- und Justizressort in der Frage der inneren Sicherheit. Naturgemäß richtete sich der Hauptangriff gegen die Richter und ihre Neigung zu „milden“ Urteilen299. Namentlich die Bestrafung von Eigentumsdelikten (Diebstahl), Verbrechen und Vergehen gegen die Person (Körperverletzung, Beleidigung, Sittlichkeitsdelikte) und Widerstandshandlungen gegen die Staatsgewalt wurde vehement angegriffen. Die Kritiker sprachen der Urteilspraxis nicht nur jede abschreckende oder erzieherische Wirkung ab, sondern machten sie für die vermeintliche Zunahme des Verbrechertums und die allgemeine gesellschaftliche Verrohung direkt (mit-)verantwortlich. Zwei Beobachtungen erregten besonderen Unmut: die ausgiebige Zubilligung mildernder Umstände sowie die Tatsache, daß die Richter auch bei wiederholtem bis vielfachem Rückfall nicht von ihrem Zumessungsschema abwichen. In einem für die Versammlung des Vereins der deutschen Strafanstaltsbeamten 1880 erstatteten Gutachten bemerkte Illing über die Behandlung von Diebstahl im Rückfall, die Praxis sähe bisweilen aus „wie ein Wettstreit zwischen dem Richter, der nicht nachläßt in seiner humanen Milde, und dem Diebe, der nicht nachläßt mit dem Stehlen, so daß die Zeit der Einsperrung immer nur eine Art von Waffenstillstand ist, währenddessen der Dieb den Krieg gegen das Eigentum seiner Mitbürger ruhen läßt, um ihn wieder fortzusetzen, sobald der Gefängnisdirektor ihn mit der frohen Aussicht auf baldiges Wiedersehen entlassen hat“300. Von richterlicher Seite verwahrte man sich gegen die Vorwürfe mit dem Argument, daß auch die drakonischen Strafen früherer Zeiten das Verbrechertum nicht hätten eindämmen können. Im übrigen verwies man auf die Wirkungslosigkeit des Strafvollzugs. Bedenkt man, daß der Großteil krimineller Alltagsdelikte von Angehörigen unterer Bevölkerungsschichten verübt wurde, so verbargen sich hinter den oftmals lautstark vorgetragenen Protesten nicht selten bürgerliche Sozialängste. In Fulds Tirade etwa schimmern sie deutlich durch: „Eine schwächliche, ungesunde und geradezu gefährliche Tendenz zu milden, eindruckslosen Strafen hat sich in einer kaum glaublichen Ausdehnung unter den deutschen Gerichten Eingang verschafft, sie hat Urteile hervorgerufen, welche geradezu einen Hohn auf die StrafrechtsÜberblick über die preußische Debatte (S. 73); s. auch die AH-Sitzungen v. 13. und 18. 12. 1883 (Sten. Ber., S. 403 – 412 und S. 514 – 529). 299 Einige Stimmen: Peterson, Zu milde Bestrafungen, in: GA 32 (1884), S. 201 – 220 (StA in Köln); Ludwig Fuld, Einige Worte über das heutige Strafmaß, in: PJ 56 (1885), S. 512 – 517; Illing, S. 87 – 92; Karl Meisel, Strafen und Strafabmessung, in: Grenzboten 44 / 3 (1885), S. 499 – 505; Hans Bennecke, Die wichtigsten kriminalstatistischen Publikationen des Jahres 1886, in: ZStW 7 (1887), S. 187 – 213, bes. S. 197 – 207; reiches statistisches Material bei Illing und Bennecke. 300 Zit. bei Bennecke, S. 205; zahlreiche Beispiele hierzu bei Illing, S. 91 f. Im Gegensatz zum preußischen StGB, das den Rückfall grundsätzlich als Strafverschärfungsgrund bewertet hatte (§ 58), ließ das RStGB Rückfallstrafen nur in begrenztem Maße zu. Der Anteil der Rückfälligen, die wegen eines Verbrechens vorbestraft waren, stieg zwischen 1869 und 1883 / 4 von 70,4 % auf 80,4 % (ebd., S. 81 und Tab. 4, S. 82).
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pflege bedeuten, welche keine Furcht, sondern Spott und Verachtung erregen, sie hat es und wahrlich nicht in letzter Linie verschuldet, daß die Strafrechtspflege sich absolut ohnmächtig erweist, dem von Tag zu Tag sich gewaltig vermehrenden Verbrechertum ein festes Halt zu gebieten, sie hat es verschuldet, daß die Zahl der rückfälligen Verbrecher in einem Umfange zunimmt, welcher in deutlichster Weise die völlige Unzulänglichkeit der Strafjustiz, wie sie gegenwärtig ausgeübt wird, erkennen läßt“. Die Ursache sah Fuld – im Einklang mit anderen Kritikern – in humanitären Theorien, die dazu geführt hätten, daß man „die Sentimentalität im Strafrecht wie einen Sport“ betreibe301. Die Diskussion fokussierte sich schon bald auf Rohheitsdelikte, insbesondere gefährliche Körperverletzungen302. Der § 223a StGB, der bereits aus demselben Problemzusammenhang hervorgegangen war, bestrafte die gefährliche Körperverletzung mit Gefängnis zwischen zwei Monaten und fünf Jahren, im Falle mildernder Umstände konnte auf Gefängnisstrafe zwischen einem Tag und drei Jahren oder auf Geldstrafe bis zu tausend Mark erkannt werden. Zwischen 1882 und 1884 war das Delikt von 38.291 auf 51.449 Fälle und damit um mehr als 33 % angestiegen. Im letztgenannten Jahr erlitten nur 0,96 % aller Verurteilten eine Gefängnisstrafe von mehr als zwei Jahren, während bei 3,60 % die Strafe zwischen einem und zwei Jahren lag. Gefängnisstrafe zwischen drei Monaten und einem Jahr erhielten 18,22 %, unter drei Monaten 58,66 %, zu Geldstrafen wurden 19,21 % verurteilt. Nimmt man den gesetzlichen Strafrahmen als Maßstab, so entfielen auf kurze Freiheits- und Geldstrafen gut 96 % aller Verurteilungen. 1886 betrug die durchschnittliche Dauer der Gefängnisstrafe 75 Tage, mithin nur 15 Tage über dem gesetzlichen Mindestmaß303. Besondere Empörung löste die Tatsache aus, daß die Gerichte Trunkenheit in weitem Umfang als mildernden Umstand anerkannten. Die nationalliberale „Kölnische Zeitung“ faßte die in bürgerlichen Kreisen vorherrschende Empfindung wie folgt zusammen: „Es ist eine traurige Betrachtung, daß das Schwert der Gerechtigkeit stumpf und rostig geworden zu sein scheint und deshalb auch nicht imstande ist, sich den Übeltätern fühlbar zu machen“304. Die vielfachen Klagen ließen auch Friedberg nicht ruhen. Im Juli 1887 wies er die Oberstaatsanwälte an, Übersichten über die Aburteilung gefährlicher Körperverletzungen zu erstellen und sich über die Ursachen der Deliktszunahme zu äußern305. Fuld, Strafmaß, S. 512, 515. Ludwig Fuld, Die Zunahme der Rohheit in Deutschland, in: Grenzboten 46 / 1 (1887), S. 474 – 483 („drohende Gefährdung der Grundlagen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens“, S. 479); Anon., Die Lehren der deutschen Strafstatistik, in: ebd. 47 / 4 (1888), S. 12 – 15 („Wahrlich, die Gesellschaft ist zu bitterer Klage gegen den Staat und seine Rechtspflege berechtigt ob des ungenügenden Schutzes gegen das verrohte Gesindel unserer Tage“, S. 14 f.). 303 Zahlen nach Fuld, Rohheit, S. 475, 477 f.; Bennecke, S. 204; Liszt, S. 344. 304 KZ v. 4. 1. 1887. 305 ZR an die Oberstaatsanwälte v. 22. 7. 1887, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8196, Bl. 79 (im Anschluß daran die eingesandten Berichte). 301 302
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Obwohl die Befragten eine Reihe persönlicher und gesellschaftlicher Gründe für die Steigerung verantwortlich machten (zunehmende Trunksucht, geringer Bildungsgrad, Entwurzelung, Verstädterung, Bevölkerungswachstum, Entchristianisierung), mochten sie einer allgemeinen Tendenz zur Verrohung nicht das Wort reden. Mehrere Berichte gaben ausdrücklich der milden Strafzumessung der Gerichte eine Mitschuld an der Entwicklung306. Den Erhebungen zufolge bewegte sich der Anteil geringfügiger, auf Zubilligung mildernder Umstande beruhender Strafen (Gefängnis unter zwei Monaten, Geldstrafe) in den einzelnen OLG-Bezirken zwischen 50 % und 65 % aller Verurteilungen. Der Erste Staatsanwalt in Hildesheim wurde mit der Bemerkung zitiert, in einzelnen Fällen bliebe der Täter nur ebenso viele Wochen im Gefängnis wie der Verletzte in seinem Krankenbett307. Tiefer setzte die Erklärung des Kölner Oberstaatsanwalts Hamm an: Die Verfolgung als Offizialdelikt habe, so Hamm, dazu geführt, daß der Begriff der gefährlichen Körperverletzung immer weiter ausgedehnt und auf Fälle von geringerer Bedeutung erstreckt worden sei, wozu die dehnbaren Tatbestandsmerkmale („gefährliches Werkzeug“) sowie die leichte Feststellbarkeit einer „gemeinschaftlichen Körperverletzung“ eine bequeme Handhabe geboten hätten: „Mit jedem Jahr sind Staatsanwaltschaft und Gericht nach diesen Richtungen findiger geworden und unter Billigung des Reichsgerichts zu einer immer weiteren Auslegung gelangt“308. Mit anderen Worten: Auch die Judikatur zur Körperverletzung hatte sich der allgemeinen Tendenz zur extensiven Interpretation der Strafgesetze angeschlossen. Obwohl einige Berichte die öffentlichen Klagen vollauf bestätigten, sah Friedberg von weiteren Schritten ab. Insgesamt war das von den Gutachten gezeichnete Bild wohl doch zu uneinheitlich, um eine abermalige Verfügung an die Staatsanwaltschaft als begründet erscheinen zu lassen. Im übrigen wußte Friedberg nur allzu gut um die begrenzte Wirkung derartiger Anweisungen bzw. die Widerstandskraft forensischer Gewohnheiten. Der tiefere Grund für das beschriebene Phänomen dürfte indessen noch auf einer anderen Ebene liegen, von der in den Quellen kaum einmal die Rede ist, für die Friedberg aber durchaus ein Gespür besaß: Die milde Urteilspraxis war Ausdruck der „Psychologisierung der Zeit“ (Nipperdey), die dazu führte, daß harte Strafen wachsender Skepsis begegneten, während man kriminelle Handlungen mehr als früher zu „verstehen“ versuchte. Insofern entsprach sie – gleichsam unterhalb aller gouvernemental-besitzbürgerlichen Kritik – dem Rechtsempfinden weiter Bevöl306 So namentlich die Berichte aus Breslau, Celle, Königsberg, Marienwerder und Naumburg. Demgegenüber attestierten die Oberstaatsanwälte in Frankfurt / M. und Hamm den Gerichten eine strenge Urteilspraxis: In der Regel würden die Richter den hohen Strafanträgen der Staatsanwaltschaft folgen. 307 Bericht des OStAs in Celle, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8196, Bl. 144. 308 Bericht des OStAs in Köln, in: ebd., Bl. 159. Oskar Hamm (1839 – 1920), über Jahrzehnte hinweg einer der renommiertesten Juristen des Rheinlands, wurde 1879 zum OLG-Rat, 1881 zum Oberstaatsanwalt in Köln ernannt. 1896 erfolgte die Berufung zum Oberreichsanwalt beim Reichsgericht; 1899 – 1905 stand er dem OLG Köln vor. Hamm war an führender Stelle beim Deutschen Juristentag sowie in der Nationalliberalen Partei der Rheinprovinz tätig; später Mitherausgeber der DJZ.
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kerungskreise. Franz Exner gelangte bei seinen grundlegenden Studien zu folgendem Ergebnis: „Die richterliche Bewertung des Verbrechens, die in der Strafbemessung zum Ausdruck kommt, ist eine moralisierende, moralisierend im Sinne der Ethik des täglichen Lebens, der Auffassungen und Werturteile, mit denen ,das Volk‘ in aller Regel dem Verbrechen und dem Verbrecher gegenübertritt“309. Da das „Volk“ in diesem Fall die „schweigende Mehrheit“ bildete, dürfte ein Beispiel für den Gegensatz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung vorliegen. Aus dieser Perspektive betrachtet, stellten die milden Strafgewohnheiten geradezu ein Gegengewicht zur Kritik an den Gerichten dar und stabilisierten deren Reputation. Nur nebenbei sei erwähnt, daß der berühmte Streit zwischen den Vertretern der klassischen, generalpräventiv ausgerichteten Vergeltungstheorie (K. Binding, K. Birkmeyer, J. Nagler) und der „modernen“, psychologisch orientierten Schule um Franz v. Liszt, die für ein spezialpräventives Zweckstrafrecht unter Einschluß von Besserungs- und Sicherungsmaßregeln eintrat, in denselben Zusammenhang gehört310. Das Gesagte hielt Friedbergs Nachfolger Schelling nicht davon ab, einen erneuten Vorstoß zu unternehmen, wenn auch nur für den Bezirk des Berliner Kammergerichts. In einer im Januar 1892 an den Oberstaatsanwalt beim Kammergericht ergangenen Anweisung rügt er die beim Landgericht II eingerissene Praxis, Anträge auf Verfolgung einfacher Körperverletzung (§ 223 StGB) unter Hinweis auf die ohnehin geringe Bestrafung abzulehnen. Ganz im Gegenteil, so Schelling, müsse die Staatsanwaltschaft auf schärfere Urteile hinwirken, insbesondere sei der Kammergerichtspräsident zu ersuchen, „soweit dies gerichtsverfassungsmäßig statthaft ist“, seinen Einfluß geltend zu machen, um eine zweckmäßige Auswahl der Strafrichter zustande zu bringen311. Mit seinem Reskript schwamm der preußische Justizminister gleichsam gegen den Strom, denn die Tendenz zur Milde erwies sich als unaufhaltsam. Auf der anderen Seite wollten aber auch die Klagen nicht verstummen, so daß die Bemühungen um eine Änderung der gerichtlichen Praxis nach der Jahrhundertwende wieder aufgenommen wurden312. 2. Die milde Strafzumessung hing eng mit dem zweiten Schwerpunkt der Diskussion, der kurzen Freiheitsstrafe, zusammen313. Unter einer „kurzen Freiheitsstrafe“ verstand man gemeinhin Gefängnisstrafen bis zu einer Dauer von drei Monaten. Wissenschaft und Publizistik bekämpften sie mit dem Argument, das Gefängnis als „Schule des Verbrechens“ brächte seine Insassen erst recht auf die schiefe Bahn. Dabei hatte man vor allem die kleinen preußischen GerichtsgefängVgl. Exner, S. 23 ff., 86 ff. (Zitat S. 94); Nipperdey, II, S. 186. Zusammenfassend hierzu Nipperdey, I, S. 662 – 665 (m. w. N.). 311 Schelling an den Oberstaatsanwalt beim KG, 31. 1. 1892, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8228, Bl. 61. 312 Stimmen aus den 90er Jahren: Anon., Noch eine Schattenseite der Justiz, in: Grenzboten 56 / 2 (1897), S. 634 – 636; Anon., Diebstahl und Körperverletzung, in: ebd. 56 / 4 (1897), S. 341 – 343. 313 Hierzu: Liszt, a. a. O.; Illing, S. 87 – 92; Horstkotte, S. 349 ff. 309 310
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nisse mit ihrer Gemeinschaftshaft vor Augen, in der Häftlinge aller Art bunt zusammengewürfelt ihre Strafe verbüßten. Franz v. Liszt sah in der Beseitigung der kurzen Freiheitsstrafe eine der vordringlichsten Aufgaben der Kriminalpolitik: „Für den Gewohnheitsverbrecher hat das Gefängnis keine abschreckende Kraft; den Gelegenheitsverbrecher, besonders das zum ersten Male sich verfehlende Weib, richtet es sittlich zu Grunde. Die kurzzeitige Freiheitsstrafe ist nicht nur nutzlos: sie schädigt die Rechtsordnung schwerer, als die völlige Straflosigkeit der Verbrecher es zu tun imstande wäre“314. Im Gegensatz zu den oben erwähnten Kritikern war Liszt erkennbar darum bemüht, die Diskussion von den handelnden Personen, den Richtern, weg auf die Sache, die Strafart, hinzulenken. Daneben fanden eine Zeitlang Forderungen Anklang, die den Mindestbetrag der Gefängnisstrafe heraufsetzen und den Vollzug kurzer Freiheitsstrafen verschärfen wollten (Zwangsarbeit, Prügelstrafe), um auf diese Weise das gewünschte Maß an Abschreckung wiederherzustellen315. Indes gab erneut die richterliche Urteilspraxis die Richtung vor: Wie oben gesehen, erkannten die Gerichte bereits in den 80er Jahren in erheblichem Umfang auf Geldstrafe, die in der Folgezeit die kurze Freiheitsstrafe mehr und mehr zurückdrängte. Insgesamt stieg der Anteil der Geldstrafen bei Verbrechen und Vergehen zwischen 1882 und 1912 um fast 100 %, während die Freiheitsstrafe unter drei Monaten etwa in demselben Maße zurückging, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß ein Teil der zuerkannten Geldstrafen als Freiheitsstrafe verbüßt wurde. Die Substitution traf gleichermaßen auf Tatbestände zu, bei denen Geldstrafe nur in Zusammenhang mit mildernden Umständen verhängt werden durfte, wie auf solche, bei denen sie generell neben der Freiheitsstrafe angedroht war316. So gesehen lag der Tendenz zu fortschreitender Strafmilderung ein eigendynamischer Prozeß zugrunde. Als weiteres Ersatzmittel für die kurze Freiheitsstrafe kam die bedingte Strafaussetzung (auf Bewährung) in Gebrauch317. Dabei verfolgten Staat und Wissenschaft konkurrierende Konzeptionen. Seit Ende der 80er Jahre trat insbesondere Liszt für die „bedingte Verurteilung“ ein, die den Strafaufschub zu einem Teil des Richterspruchs machte. Zudem sollte er für alle Personengruppen und unabhängig vom verhängten Strafmaß zulässig sein318. Stattdessen führten die deutschen Staaten seit 1895 in rascher Folge – als Ausfluß des landesherrlichen Gnadenrechts – die Liszt, S. 347; weitere Nachweise ebd., S. 353. Vgl. Fuld, Rohheit, S. 481 – 483; Bennecke, S. 211 – 213; Überblick über die Diskussion bei: James Goldschmidt, Strafen und verwandte Maßregeln, in: Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts, Allg. Teil, Bd. 4, Berlin 1908, S. 81 – 470, hier S. 362 ff. 316 Zahlenmäßige Belege aus der Zeit von 1882 bis 1911 bei Horstkotte, S. 354. Bei gefährlicher Körperverletzung lag der Anteil der Geldstrafe im Jahre 1907 bei 59,5 %. 317 Umfassend hierzu: Franz v. Liszt, Bedingte Verurteilung und bedingte Begnadigung, in: Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts, Allg. Teil, Bd. 3, Berlin 1908, S. 1 – 91; weiterhin Horstkotte, S. 364 ff. 318 Vgl. Liszt, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 359 ff. 314 315
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„bedingte Begnadigung“ ein, die den Entscheid über die Strafaussetzung in die Hände des Justizministers legte319. Auch in den Landesverwaltungen hatte sich die Einsicht in die Schädlichkeit der Kurzzeitstrafen durchgesetzt – in Preußen wirkte etwa Illing ermüdlich in diese Richtung. Die gefundene Lösung, die den Strafaufschub administrativer Kontrolle unterwarf, stellte implizit auch ein Mißtrauensvotum gegen die Richter dar, deren Strafgewohnheiten offenbar eine allzu großzügige Anwendung der Bewährungsstrafe befürchten ließen. Trotz erheblicher Unterschiede wiesen die einzelstaatlichen Regelungen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: In allen Staaten betraf das Institut in erster Linie Jugendliche und nur ausnahmsweise Erwachsene, vorherige Strafen schlossen den Aufschub meist nicht zwangsläufig aus, das Höchstmaß der bewährungsfähigen Freiheitsstrafe schwankte zwischen drei und sechs Monaten, der Antrag auf Strafaussetzung oblag in der Regel den Strafvollstreckungsbehörden, die Bewährungsfrist bewegte sich zwischen einem und drei Jahren320. Um eine einheitliche Handhabung zu gewährleisten, einigten sich die Bundesstaaten unter Vermittlung des Reichsjustizamts 1903 auf gemeinsame Grundsätze, die in der Folgezeit entsprechende Ausführungsbestimmungen nach sich zogen321. Als wichtige Neuerung sei erwähnt, daß sich nunmehr das Gericht über die in Frage stehende Strafaussetzung äußern mußte. Nach zögerlichem Beginn nahm die Anwendung der bedingten Begnadigung zwischen 1898 und 1906 um mehr als das Dreifache zu. Die Aussetzungsquote blieb begrenzt, stieg aber stetig an (1900:3 %, 1906:7,5 %, 1908:11 % aller Gefängnisstrafen)322. Zwischen 1899 und 1906 lag der Prozentsatz der endgültigen Begnadigungen – nach guter Führung innerhalb der Bewährungsfrist – reichsweit im Durchschnitt bei 80 %. Während das Mittel der bedingten Begnadigung in Fachkreisen umstritten blieb, ersuchte der Reichstag in einer Resolution vom 28. 11. 1896 den Kanzler, „eine reichsgesetzliche Einführung der bedingten Verurteilung in Erwägung zu ziehen“. Seither wurde die Forderung von Vertretern der justizpolitischen Reformkoalition (Zentrum, Linksliberale, Sozialdemokraten) regelmäßig erneuert, ohne daß es zu einer Änderung der administrativen Gnadenpraxis kam323. 319 Den Auftakt machte Sachsen (VO v. 25. 3.1895), gefolgt von Hessen (VO v. 29. 6. 1895) und Preußen (kgl. Erlaß v. 23. 10. 1895; JMBl, S. 348). Im folgenden Jahr schlossen sich Bayern (Bek. v. 24. 3. 1896; JMBl, S. 71), Baden, Württemberg, Elsaß-Lothringen und Hamburg an. Bis 1903 hatten alle Bundesstaaten mit Ausnahme von Mecklenburg-Strelitz und den beiden Reuß die bedingte Begnadigung eingeführt. 320 Einzelheiten bei Liszt, Bedingte Verurteilung, S. 46 f. 321 Für Preußen: AV v. 12. 4. 1906. 322 Bewilligte Strafaufschübe: 1898: 6.041; 1899: 7.000; 1900: 7.177; 1901: 8.381; 1902: 11.415; 1903: 13.779; 1904: 14.783; 1905: 16.389; 1906: 19.026 (Angaben nach Liszt, Bedingte Verurteilung, S. 48; Horstkotte, S. 365). Zur Handhabung des Instituts während der ersten Jahre in Bayern vgl. Leonrod, Verh. KdA 1897 / 98, 2. 5. 1898, Bd. 12, S. 393. 323 Im Erwachsenenstrafrecht erfolgte die Umstellung auf die heute gültige Bewährungsstrafe erst durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz v. 4. 8. 1953.
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3. Das Verdienst, die tieferen Ursachen der bereits mehrfach erwähnten Tendenz zur extensiven Auslegung der Strafgesetze aufgedeckt zu haben, darf eine Abhandlung von Otto Mittelstädt aus dem Jahre 1890 für sich beanspruchen324. Mittelstädt führt das Phänomen auf zwei Hauptgründe zurück. Zum einen hätten die neueren Strafgesetze – in bewußter Abkehr von der Gesetzessprache der Kasuistik – konkrete Redewendungen durch abstrakte Ausdrucksweisen ersetzt und damit auf fest umrissene Legaldefinitionen der Rechtsbegriffe verzichtet. Dies würde sich unmittelbar auf die Denkweise der Richter auswirken: „Die ältere Strafgesetzgebung war in frischer Farbe der Entschließung und Beherrschung einer klaren, sinnfälligen Sprache der neueren erheblich überlegen. Nun wohl! Strafgesetzen gegenüber, welche einen derartigen Charakter an sich tragen, wird der zu ihrer Auslegung berufene Richter von vornherein in eine ungesunde Methode von Denkoperationen hineingedrängt. Das fortgesetzte Wirtschaften mit abstrakten Begriffen und das stetige dialektische Abwägen ihres denkbaren Inhalts führt unglaublich rasch dahin, den Boden des sinnlichen Lebens unter den Füßen zu verlieren, für das Fleisch und Blut der Dinge, für menschliches Tun und Leiden Empfänglichkeit, Sinn, Verständnis einzubüßen. Allerlei einem trüben ,Begriffshimmel‘ angehöriges zweifelhaftes Gewölk lagert sich in der Strafrechtspflege ab“325. Den zweiten Grund sieht Mittelstädt in kognitiv-psychologischen Gegebenheiten: Im Vergleich zur restriktiven Interpretation, die stets eine sorgfältige Festlegung der begrifflichen Grenzen erfordere, sei die extensive Auslegung – als rein formallogischer, meist nur auf den einzelnen Fall bezogener Akt – der einfachere und damit bevorzugte Denkprozeß. Das Zusammenwirken beider Faktoren würde, „weil die dunkle innere Seite menschlichen Tuns stets einen für begriffliche Konstruktionen traitableren Stoff abgibt als die äußere, in die Erscheinung getretene“, die Neigung der Gerichte erklären, sich lieber mit dem subjektiven als mit dem objektiven Tatbestand zu beschäftigen326. Eine dritte Ursache, die Rechtsprechung des Reichsgerichts, erwähnt der Autor, seines Zeichens immerhin Reichsgerichtsrat, nicht eigens. Dies dürfte indessen nur kollegialer Rücksichtnahme geschuldet gewesen sein, lassen seine allgemeinen Ausführungen über seine diesbezügliche Ansicht doch kaum Zweifel aufkommen. Zur Erläuterung führt Mittelstädt zahlreiche Beispiele an. So sei die Lehre vom Dolus (strafbarer Vorsatz) nach verschiedenen Richtungen hin erweitert worden. Namentlich habe der dolus eventualis (eventueller Vorsatz), der sich auf unbeabsichtigte, aber billigend in Kauf genommene Neben- und Folgewirkungen einer strafbaren Handlung bezog, eine immer extensivere Auslegung gefunden, so daß der grundlegende Unterschied zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit weitestgehend verwischt worden sei. Ferner erwähnt der Autor: die Lehren von der Teilnahme, 324 Otto Mittelstädt, Zur Lehre von der Auslegung der Strafgesetze, in: GerS 43 (1890), S. 1 – 22. 325 Ebd., S. 11. 326 Ebd., S. 16.
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der Idealkonkurrenz und des Versuchs („Betätigung des Entschlusses“), die Bestimmungen über Vermögensdelikte („günstigere oder ungünstigere Vermögenslage“), Kuppelei („Zustände oder Verhältnisse“, die für den Unzuchtsbetrieb „günstigere Voraussetzungen“ böten), Diebstahl („Abschneiden oder Ablösen von Befestigungs- und Verwahrungsmitteln“) und Vergehen wider die öffentliche Ordnung („Obrigkeit“, „Behörde“, „Verordnung“), den „groben Unfug“ und den Urkundenbegriff. Mittelstädt hält Einhalt für dringend geboten: „Wohl aber glaube ich, daß es für die Auslegung der Strafgesetze überhaupt hoch an der Zeit sei, die Pfade fortgesetzter Begriffsdehnung zu verlassen und zu den Grundsätzen einer rationellen Beschränkung der Begriffe zurückzukehren. Eine Art von Generalrevision der Auslegung des Strafrechts nach der letztbezeichneten Richtung täte not. [ . . . ] Im rechtlichen wie im sittlichen Interesse darf gleichmäßig gefordert werden, daß die Gebiete des Verbotenen und des Erlaubten, des strafbaren und des nicht strafbaren Unrechts in festen und klar erkennbaren Grenzmarken voneinander getrennt daliegen“327. Mit seiner Abhandlung machte Mittelstädt – in dieser systematischen Form wohl als erster Strafrechtler überhaupt – auf zwei entscheidende Aspekte aufmerksam: Die extensive Anwendung der strafrechtlichen Normen war kein auf das Gebiet des Politisch-Sozialen beschränktes Phänomen, sondern durchzog praktisch alle Felder der Kriminalrechtsprechung. Die tiefere Ursache lag in der Übertragung der begrifflich-abstrakten Methode der Privatrechtswissenschaft auf die Strafrechtspflege – ein Vorgang, der verschiedene Facetten aufwies und alsbald unter dem Stichwort „Formalismus“ vielfältige Kritik auf sich zog. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, daß eine derartige Übertragung – bedingt durch das hohe wissenschaftliche Prestige und das rechtsschöpferische Potential der Pandektenwissenschaft – auch bei anderen Disziplinen stattfand, namentlich dem Staatsrecht. Unübersehbar sind die Anleihen des Autors bei Rudolph v. Jhering, damals der schärfste Kritiker jener aus der romanistischen Zivilistik hervorgegangenen Methode („Begriffshimmel“)328. Nicht zum ersten Mal hatte Mittelstädt einen neuralgischen Punkt getroffen. Wie er Jahre später mitteilte, bemerkte ein Kollege aus dem Lehrfach kurz nach Erscheinen seines Artikels warnend, dieser habe in ein „Wespennest“ gestochen, und ein höherer, ihm ansonsten wohlgesinnter Beamter des Justizministeriums bat ihn dringend, derartige unliebsame Publikationen im Interesse seiner Karriere künftig zu unterlassen, hätte er sonst doch niemals Aussicht, Senatspräsident am Reichsgericht zu werden. Hierzu Mittelstädt sarkastisch: „So absolut kalt mich nun auch die mir winkende Karrierelosigkeit ließ, so verblüffend war mir doch die gänzlich ungeahnte Wirkung meines harmlosen ersten Debuts im ,Gerichtssaal‘. Wie wichtig und heilig mußte dem Manne die kritische Unverletzlichkeit willkürEbd., S. 20. Zum Formalismusvorwurf ausführlich unten B, Kap. II / 2; zu Jhering sowie überhaupt zur zivilrechtlichen Methodendiskussion unten Dritter Teil, Kap. II / 3. 327 328
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lich extensiver Gesetzauslegung erscheinen, daß er schon wegen einiger ketzerischer Ansichten hierüber einen im übrigen noch leidlich unbescholtenen Richter flugs seiner dunklen, sonnenlosen Unterwelt überantworten wollte!“329. Bereits einige Jahre zuvor hatte der Staatsanwalt beim Oberlandesgericht Breslau, Peterson, Überlegungen angestellt, wie eine derartige „Generalrevision“ der Strafgesetze aussehen könnte330. Aus der Tatsache, daß die neue Gerichtsorganisation Laien und Berufsrichter zu gleichberechtigten Organen der Rechtsprechung berufen habe, schloß Peterson auf die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Wandels im Verständnis der Strafgesetze. Um eine einheitliche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, müßten die Strafrichter ihre herkömmliche Auslegungstechnik, die entweder nach der Entstehungsgeschichte des Gesetzes (dem ominösen „Willen des Gesetzgebers“) frage oder aber auf zivilrechtlichen Deduktionen beruhe, aufgeben. Eine solche „doktrinäre Interpretation“, welche auch die Entscheidungen des Reichsgerichts beherrsche, bilde den tieferen Grund für die Antipathie gegen die Strafkammern. An einem Reichsgerichtsurteil über ein Jagdvergehen legt Peterson dar, wie die privatrechtliche Behandlung eine extensive, für den Nichtjuristen befremdliche Auslegung hervorgebracht hat: „Ähnliche Beispiele eines Hineintragens des Zivilrechts in die Auslegung der Strafgesetze sind unter den Urteilen des Reichsgerichts in großer Anzahl zu finden“331. Stattdessen, so Peterson, sollten die Strafgesetze nur nach dem schlichten, allgemein üblichen Wortsinn angewendet werden: „Wenn hohe und niedere Strafgerichte keine andere Interpretation der Strafgesetze als die einfach sinngemäße kännten, dann würde die Strafrechtspflege eine wahrhaft volkstümliche werden und der Gegensatz zwischen Fachjuristen und Laienrichtern sowie das nicht wegzuleugnende Mißtrauen gegen die Strafkammern immer mehr verschwinden“332. Letzten Endes schwebt dem Autor das alte germanische Volksrecht, getragen vom allgemeinen Rechtsbewußtsein und verkündet aus dem Munde eines Richterkönigs, vor.
V. Die Ausbildungsfrage 1. Nachdem die traditionelle preußische Juristenausbildung auch die Klippe der Reichsjustizgesetze erfolgreich umschifft hatte, schwächte sich die Reformdebatte für einige Jahre ab, ohne indessen ganz zum Erliegen zu kommen333. 329 Otto Mittelstädt, Unfug in der Rechtsprechung, in: Die Zukunft 22 (1898), S. 17 – 26, hier S. 17. 330 Peterson, Wie sind unsere Strafgesetze auszulegen?, in: GA 34 (1886), S. 90 – 107. 331 Ebd., S. 105; das erwähnte RG-Urteil datiert v. 19. 11. 1885. 332 Peterson, S. 106. 333 Siehe: Joh. Fr. v. Schulte, Gedanken über Aufgabe und Reform des juristischen Studiums, Bonn 1881 (Prof. in Bonn; für Quadriennium und Zwischenprüfung); Otto Bähr, Die Ausbildung der Juristen, in: PJ 50 (1882), S. 571 – 592 (s. auch ders., Sten. Ber. AH, 1. 2. 1878, S. 1507 ff.; gegen Verlängerung des Studiums; zur Bährschen Position: Goldschmidt,
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Die nächste Runde im Ausbildungsstreit läutete die 1885 veröffentlichte Schrift des französischen Juristen Georges Blondel über das Rechtsstudium in Deutschland ein, vor allem wohl deshalb, weil sie auf eingehenden Studien beruhte, die der Verfasser auf verschiedenen Universitäten vorgenommen hatte. Während Blondel den Hochschulen und Professoren durchweg ein gutes Zeugnis ausstellte, fiel sein Urteil über die Studenten, denen er vielerorts mangelnden Studienfleiß attestierte, erheblich ungünstiger aus334. Blondels Schrift, die durch eine Besprechung Schmollers weiten Kreisen bekannt gemacht wurde, gab den Anstoß zu einer ausgedehnten Kontroverse, dem zweiten Höhepunkt der kaiserzeitlichen Ausbildungsdebatte. Im Mittelpunkt stand wieder einmal die Frage, wie die studentische Arbeitsmoral gehoben und der Universitätsunterricht vertieft werden könne. Seitens der Hochschullehrer wurden folgende Maßnahmen vorgeschlagen: vierjähriges Studium (Goldschmidt, Gneist, Holtzendorff, Bar, Dernburg); obligatorische Übungen und Seminare (Rümelin, Holtzendorff, Kirchenheim); obligatorische allgemeinbildende Vorlesungen (Kirchenheim); Präsenzlisten und sonstige Zwangsregeln (Schmoller); Zwischenexamen (Medem); praktische statt theoretische Arbeit in der ersten Prüfung (Bar, Liszt); Aufspaltung der Prüfung in verschiedene Abteilungen (Goldschmidt, Gneist, Kirchenheim, Liszt, Medem); Wechsel zwischen Studium und Vorbereitungsdienst (Dernburg)335. Die für eine Verlängerung der Studienzeit vorgebrachten Gründe wogen schwer: Zum einen hatte die wissenschaftliche Bearbeitung der traditionellen Disziplinen mittlerweile ein hohes Niveau erreicht, zum anderen waren ganz neue Fachrichtungen (Handelsrecht, Immaterialgüterrecht, Verwaltungsrecht etc.) hinzugekommen. Die Gegenseite, durchweg von Praktikern gestellt, machte stattdessen die antiquierte Unterrichtsmethode und die fehlenden pädagogischen Fähigkeiten vieler Professoren sowie das Übergewicht des Römischen Rechts für die Indolenz der Rechtsstudium, S. 438 – 443); v. Kräwel, Die einheitliche Regelung unserer ersten juristischen Staatsprüfung, in: Schmollers Jahrbuch, N. F. 9 (1885), S. 509 – 526 (OLG-Rat in Naumburg; mit Entwurf für ein Reichsgesetz). 334 Georges Blondel, De l’enseignement de droit dans les universités allemandes, Paris 1885; zu Blondel und der anschließenden Diskussion: Goldschmidt, Rechtsstudium, S. 11 – 19 / 36 – 39; Kühn, S. 11 f. 335 G. Schmoller, Besprechung Blondel, in: Schmollers Jahrbuch, N. F. 10 (1886), S. 612 – 614; L. v. Bar, Das juristische Studium auf preußischen Universitäten, in: Nation 3 (1885 / 86), S. 320 f.; ders., Die erste juristische Staatsprüfung in Preußen, in: ebd., S. 365 – 369; F. v. Holtzendorff, Deutscher und französischer Rechtsunterricht, in: Deutsche Revue 11 / 4 (1886), S. 73 – 88; G. Rümelin, Zur Reform des juristischen Unterrichts, in: Schmollers Jahrbuch, N. F. 10 (1886), S. 1097 – 1107 (Prof. in Freiburg); H. Dernburg, Die Reform der Juristischen Studienordnung, Berlin 1886; Fr. v. Liszt, Die Reform des Juristischen Studiums in Preußen, Berlin 1886; R. Gneist, Aphorismen zur Reform des Rechtsstudiums in Preußen, Berlin 1887; A. v. Kirchenheim, Zur Reformation des Rechtsunterrichts, Leipzig 1887 (Prof. in Heidelberg); L. Goldschmidt, Noch einmal Rechtsstudium und Prüfungsordnung, in: PJ 61 (1888), S. 244 – 277; R. Medem, Das Studium und die Examen zum höheren Justizdienst, Greifswald 1888 (LG-Rat und PD in Greifswald).
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Studenten verantwortlich336. Unter den Rechtslehrern war, soweit ersichtlich, Arthur v. Kirchenheim, außerordentlicher Professor in Heidelberg, der einzige, der sich diesem Standpunkt anschloß. Nicht zu Ende gebrachte Vorlesungen und die stetig anschwellende Stundenzahl, insbesondere aber übertriebener Romanismus, Spezialismus und Formalismus würden, so Kirchenheim, vielen Studenten das Kolleg verleiden337. Einen bemerkenswerten Gedanken brachte Wilhelm Reuling, Rechtsanwalt beim Reichsgericht, in die Diskussion ein: Um das Interesse der Studienanfänger für die ihnen zunächst so fremde Jurisprudenz zu wecken, sollte der Lehrplan umgedreht und die staatswissenschaftlichen Vorlesungen an den Anfang gestellt werden; ebenso sollte man mit den praktischen Übungen schon in den ersten Semestern beginnen338. Die Debatte setzte sich im Abgeordnetenhaus und in der Presse fort339. Die „National-Zeitung“ verband ihre scharfe Kritik am Niveau der ersten Prüfung explizit mit bestimmten Tendenzen in der Rechtsprechung: „Der von jedem Laien zu seinem Schaden lebhaft empfundene Fanatismus in der Handhabung des privaten wie des öffentlichen Rechts, insbesondere auch die notorische Hinneigung so zahlreicher Richter und Verwaltungsbeamter zu unfruchtbarer und für das gesamte Staatsleben höchst gefährlicher Buchstabenjurisprudenz, der Mangel leitender Prinzipien und allgemeiner Gesichtspunkte, der leidige Kultus von Präjudizien und die vielfach ganz mechanische Routine, welche die preußische Rechtspflege und Verwaltung in sehr hohem Grade kennzeichnen, all dies erklärt sich ganz wesentlich mit aus den Maximen, welche nun schon seit Menschenaltern sowohl die oberste Justizverwaltung wie die einzelnen obersten Verwaltungsressorts befolgt haben“340. Die mit Abstand schärfste Attacke ritt Franz v. Liszt in seiner Marburger Rektoratsrede vom Oktober 1886. Das trostlose Bild, das Liszt vom Durchschnitts336 Anon., Zur Reform des juristischen Studiums, in: Grenzboten 45 / 4 (1886), S. 145 – 153 (gegen Dernburg); Anon., dass., in: ebd., S. 458 – 466 (gegen Liszt); H. Kleber, Ein Wort gegen die Herren Professoren der Rechtswissenschaft, Wilhelmshaven 1887; P. F. Aschrott, Das Universitätsstudium und insbesondere die Ausbildung der Juristen in England, Hamburg 1887, S. 33 ff. (Ger.Ass. in Berlin); Anon., Gegenwart und Zukunft des deutschen Juristenstandes, Berlin 1887; Eccius, Rechtsstudium und Prüfungsordnung, in: PJ 61 (1888), S. 164 – 185 (OLG-Präs. in Kassel; gegen Goldschmidt); F. Werner, Die Vorbereitung zum höheren Justizdienst in Preußen, Halle 1890; R. Leonhard, Noch ein Wort über den juristischen Universitätsunterricht, Marburg 1887 (Prof. in Marburg; verteidigt die Vorlesungen). 337 Vgl. Kirchenheim, S. 15 ff. 338 W. Reuling, Zur Reform der juristischen Studien-Ordnung, Leipzig 1887; zustimmend: Deutsches Tageblatt v. 5. 5. 1888, archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11987. 339 Parlamentarische Äußerungen: Enneccerus (NL), Sten. Ber. AH, 1. 2. 1887, S. 234 – 236 (Zwischenexamen, praktische statt theoretische Arbeit); Windthorst, ebd., S. 245 – 247 (Zwischenexamen, wissenschaftliche und praktische Arbeit, nur Praktiker als Prüfer); P. Reichensperger, ebd., 23. 2. 1887, S. 437 – 439 (Zwischenexamen); Goßler, ebd., S. 440 f. 340 NZ v. 17. 4. 1888, archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11987; weitere Beispiele: NAZ 1886, Nr. 353; Allgemeine Zeitung 1886, Nrn. 246 – 248; NAZ v. 7. 3. 1888; Allgemeine Zeitung v. 31. 3. / 1. 4. 1888; Freisinnige Zeitung v. 4. 9. 1889 (alle ebd.).
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absolventen zeichnet, gleicht einer Beschimpfung: „Ohne alle gründlichen Fachkenntnisse, mit den kümmerlichen Resten der vom Gymnasium herübergeretteten allgemeinen Bildung; ohne jede Liebe zur Wissenschaft, auf die sie als graue, im Examen nur hinderliche Theorie herabblicken; ohne jede Anhänglichkeit an den Lehrer, den sie vielleicht nur zweimal im Semester, bei der Überreichung des Anmeldebuches, zu Gesicht bekommen haben; ohne Verständnis und darum auch ohne jede Begeisterung für die großen unser Volk bewegenden Zeitfragen, Philister trotz des dreifarbigen Bandes, dem Handwerkergeiste rettungslos anheimgefallen – so verläßt die Mehrzahl unserer jungen Juristen den Tempel der Wissenschaft, den sie, lediglich um ein notdürftiges Examen bemüht, zur Krämerbude gemacht haben. Das ist der Stoff, aus dem Preußen seine Richter, seine Verwaltungsbeamten machen, das sind die Männer, aus welchen das deutsche Volk die künftigen Führer in den Kämpfen des öffentlichen Lebens entnehmen soll!“341. Den Grundfehler sieht Liszt in der einseitig privatrechtlichen Bildung, mit der die Probleme der Gegenwart, namentlich die sozialpolitischen Fragen, nicht gelöst werden könnten. Ausdrücklich führt er die Mißstände im Zivilverfahren (hier dürfte er an die Kritik Bährs gedacht haben) und im Strafprozeß (Mißtrauen gegen die Strafkammern, Forderung nach Berufung und Entschädigung) auf die mangelhafte Ausbildung zurück. Als mögliche Ursachen diskutiert Liszt drei Aspekte: Die landläufige Kritik an der Lehrmethode sei, da auf Unkenntnis beruhend, verfehlt (immerhin bemängelt auch Liszt das Übergewicht des Historischen im Studium sowie die Weitschweifigkeit mancher Kollegien). Größere Bedeutung müsse dem „unwissenschaftlichen Geist der preußischen Praxis“ beigemessen werden. Die Hauptquelle allen Übels aber bilde das Referendarexamen: „Das ist das Bild unserer ersten juristischen Prüfung in Preußen. Dem Belieben des Justizministeriums in allem wesentlichen anheimgegeben, abgehalten vor einer ganz ungeeignet zusammengesetzten Kommission, alle nicht privatrechtlichen Fächer auf jede nur denkbare Weise in den Hintergrund drängend, ist sie eine Prämie für Bummelei und Denkfaulheit, ein Hemmschuh für fleißige und ernste Arbeit. Wenn man die Absicht gehabt hätte, den wissenschaftlichen Geist unserer akademischen Jugend im Keime zu ertöten, die Rechtspflege zum Handwerke zu erniedrigen – wahrhaftig man hätte die Erreichung des Zieles nicht zweckentsprechender sichern können“. Abhilfe verspricht sich Liszt von der Zerlegung der Prüfung in zwei selbständige Abteilungen (privates und öffentliches Recht), der Ersetzung der wissenschaftlichen Arbeit durch praktische Rechtsfälle und einer Prüfung durch Fachleute mit festgelegtem Auftrag. Eine gründliche Umgestaltung der Zustände sei unumgänglich, „soll nicht eine der schwersten Gefahren heraufbeschworen werden, die ein mitten in der kräftigsten Entwicklung begriffenes Volk treffen können: Mißtrauen in die Gründlichkeit seiner Rechtspflege, in die Tüchtigkeit seiner Verwaltung“342. 341 342
Liszt, S. 17 f. Zitate ebd., S. 28, 38, 15.
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Ob Liszt ausschließlich sachliche Gründe für seine Polemik hatte oder auch persönliche Motive mit im Spiel waren, mag dahingestellt bleiben. Sollte es seine Absicht gewesen sein, die zuständigen Stellen zu provozieren, so war ihm dies jedenfalls bestens gelungen. Im Justizministerium, aber auch im Kultusministerium sorgte seine Rede für große Aufregung und löste hektische Betriebsamkeit aus. Friedberg und Unterrichtsminister Goßler ließen eingehende Erkundigungen über seine bisherige Lehr- und Prüfungstätigkeit einziehen, wobei sich herausstellte, daß Liszt überhaupt nur wenige preußische Studenten examiniert hatte343. Die Fakten wurden am Schwarzen Brett der Marburger Juristenfakultät amtlich bekannt gemacht, und im Abgeordnetenhaus wies Stölzel, Vorsitzender der Justizprüfungskommission, die Angriffe in arroganter Form zurück. Imgrunde kam Liszts Frontalangriff der Justizverwaltung gar nicht ungelegen, gestattete er es ihr doch, von eigenen Schwächen abzulenken. Als Prüfer hatte Liszt selbstverständlich zunächst einmal ausgespielt344. Konstruktivere Perspektiven eröffnete der Vorschlag Goßlers, der zuvor eine Enquête über den juristischen Vorlesungsbesuch hatte erstellen lassen, eine Kommission zur Beratung der Studien- und Prüfungsordnung einzusetzen. Friedberg stimmte dem Gedanken unter der Bedingung zu, daß sich die Beratungen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften bewegen müßten, da eine Änderung der Gesetzeslage vor Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht angezeigt erscheine345. Die daraufhin am 12. 10. 1887 ins Leben gerufene Kommission wies eine paritätische Struktur auf: Mit den Berliner Professoren Goldschmidt, Gneist und Dernburg waren drei prominente Kritiker berufen worden (daß die Wahl nicht auf Liszt fiel, verstand sich von selbst). Die Gegenseite war mit Stölzel, Friedrich Althoff, dem Erneuerer des preußisch-deutschen Hochschulwesens, damals noch Universitätsdezernent im Kultusministerium, und dem Senatspräsidenten und Vorsitzenden der Prüfungskommission beim Kammergericht, Henschke, ebenfalls hochkarätig besetzt. Zwischen dem 30. 10. 1887 und dem 3. 2. 1889 trat die Kommission dreizehnmal zusammen, eine formelle Schlußsitzung fand – nach langer Unterbrechung – am 19. 10. 1890 statt346. 343 Anlaß gab die Behauptung Liszts (zuvor Privatdozent in Graz und Professor in Gießen), er habe, solange er in Marburg tätig sei (bislang neun Semester), noch keinen Kandidaten kennengelernt, der imstande gewesen wäre, in Österreich oder in Hessen die entsprechenden Prüfungen auch nur mit der schlechtesten Note zu bestehen (S. 16). 344 Die Vorgänge sind dokumentiert in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11987 sowie Rep. 76 Va, Sekt. 1, Tit. VII, Nr. 8, Bd. 8; weiterhin: Stölzel, Sten. Ber. AH, 1. 2. 1887, S. 236 ff. 345 Schreiben Goßlers an die Universitätskuratoren v. 11. 12. 1886 (mit dem Auftrag, jeden Professor und Privatdozenten über den Vorlesungsbesuch in den letzten sechs Semestern zu befragen), in: GStA, Rep. 76 Va, Sekt. 1, Tit. VII, Nr. 8, Bd. 8; dazu auch Goßler, Sten. Ber. AH, 23. 2. 1887, S. 440 f.; Goßler an Friedberg, 27. 9. 1887 sowie Antwort Friedbergs v. 5. 10. 1887, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11987. Gleichzeitig erkundigte sich Goßler bei seinem bayerischen Amtskollegen über die dortige Studienordnung; s. das Antwortschreiben von Kultusminister Lutz v. 9. 12. 1887, in: HStA, MJu 9792. Gustav v. Goßler war vom 17. 6. 1881 bis zum 12. 3. 1891 preußischer Kultusminister.
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Angesichts ihres begrenzten Auftrags und ihrer Besetzung durfte man grundstürzende Vorschläge von der Kommission kaum erwarten. Wichtigstes Beratungsergebnis bildete der in der Sitzung vom 18. 11. 1888 verabschiedete Studienplan, nachdem der ursprüngliche, von Goldschmidt aufgestellte Entwurf von den Vertretern der Justizverwaltung stark verwässert worden war (Stölzel lehnte die Idee überhaupt ab). Die Liste der rechtswissenschaftlichen Pflichtvorlesungen war lang und umfaßte u. a. Grundzüge des Verwaltungsrechts, Grundzüge der gerichtlichen Medizin und Rechtsphilosophie; allgemeinbildende Kollegia, vor allem volkswirtschaftlicher und staatswissenschaftlicher Art, wurden lediglich dringend empfohlen. Jeder Kandidat sollte die Teilnahme an mindestens drei Übungen nachweisen, im übrigen sei im Studiengang „eine verständige Ordnung zu beobachten“347. Wie zu erwarten, prallten die Ansichten beim Thema Lehrmethode hart aufeinander. Stölzel sah hierin „das wesentlichste bei der von vielen Seiten erstrebten Reform“, nicht ohne provokativ hinzuzufügen, „noch immer gelte das Wort Puchtas, die Vorlesungen würden gehalten, als bestehe die Buchdruckerkunst noch nicht“ – eine Einschätzung, der die Professoren selbstverständlich aufs heftigste widersprachen. Ein Beschluß über die Frage kam nicht zustande348. Der von Gneist gestellte Antrag, das erste Examen in zwei Abteilungen (privates und öffentliches Recht) aufzuspalten, die Beschäftigung mit jeder einzelnen Disziplin mit Hilfe des Protokolls nachprüfbar zu machen und die Prüfung zu zentralisieren (landesweit höchstens drei Kommissionen) fand keine weitere Unterstützung – erstaunlicherweise stimmte auch Goldschmidt dagegen, vielleicht in der Hoffnung auf ein Entgegenkommen der Justizverwaltung bei anderen „kniffligen“ Fragen, vielleicht aber auch schlichtweg aus Resignation. Angenommen wurden die Anträge, die Gebühren für die Examinatoren zu erhöhen, künftig zwei Rechtslehrer zu jeder Prüfung hinzuzuziehen und dem Kultusminister ein Mitspracherecht bei der Bildung der Prüfungsgremien einzuräumen349. Endlich beschloß die Kommission eine Reihe organisatorisch-technischer Maßnahmen, die dem Studienfleiß aufhelfen sollten350. Nachdem die Beratungen mit der Amtsübernahme Schellings (Ende Januar 1889) zum Erliegen gekommen waren, erklärte Goldschmidt im Mai 1890 seinen Austritt aus der Kommission, nicht ohne – Althoff gegenüber – seinem Unmut Luft zu machen: „Ich halte es für meine Pflicht, unbehindert durch ein derartiges ohnehin längst nominelles Mandat, eine Lebensaufgabe zu verfolgen, welcher ich Jahre strengster Arbeit zugewendet habe: die wirkliche ernste Reform des juristi346 Protokolle der Kommission in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11988; zu Dernburg: W. Süß, Heinrich Dernburg, ein Spätpandektist im Kaiserreich, Ebelsbach 1991. 347 Der Entwurf findet sich im Prot. v. 11. 12. 1887, Anl. Nr. III. 348 Vgl. das Prot. v. 28. 10. 1888. 349 Vgl. das Prot. v. 6. 1. 1889. 350 Vgl. das Schreiben der Kommission an Friedberg v. 25. 1. 1888, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11987, Bl. 88 – 94. Das Schreiben enthielt Vorschläge zur Abänderung der „Vorschriften für die Studierenden der Landesuniversitäten“ vom 1. 10. 1879. Sie wurden an die Universitätskuratoren zwecks Beratung in den Fakultäten weitergeleitet (4. 2. 1888).
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schen Prüfungs- und praktischen Vorbereitungswesens. Über die völlige Aussichtslosigkeit in den Schranken reglementarischer Anordnungen sich bewegender Bestrebungen habe ich mich zu keiner Zeit getäuscht, zumal die Auffassung des Herrn Kommissars des Justizministeriums [Stölzel] ausreichend bekannt war und in den Kommissionssitzungen drastisch genug hervorgetreten ist“351. Im Einvernehmen mit Goßler konzentrierten sich die Bemühungen Schellings fortan darauf, die Gebühren für die Prüfer zu erhöhen, deren Vergütung bislang aus den Prüfungsgebühren der Kandidaten bestritten wurde. Seit Menschengedenken belief sich der Gebührensatz auf 12 Mark pro Prüfling, so daß auf jeden Examinator kümmerliche drei bis vier Mark entfielen. In einem Schreiben an Finanzminister Scholz schlug Schelling eine Erhöhung auf 80 Mark vor, was einen staatlichen Zuschuß von 54.200 Mark erforderlich gemacht hätte. Zur Begründung verwies er darauf, daß künftig nicht mehr alle Rechtslehrer turnusmäßig als Examinatoren fungieren, sondern nur noch ausgewählte Prüfer herangezogen würden: „Die bestehenden Einrichtungen bieten nicht genügende Gewähr für eine unbedingte Gründlichkeit der Prüfung“. Der Finanzminister lehnte das Ansinnen ab und stellte bestenfalls eine Erhöhung auf 25 Mark in Aussicht. Auch die kommissarischen Etatberatungen brachten keine Einigung: Der Vertreter des Finanzministeriums vertröstete seine Kollegen aus dem Justiz- und Kultusressort auf das übernächste Haushaltsjahr (7. 12. 1889)352. Vorsorglich ließ Schelling einen Gesetzentwurf ausarbeiten, um sich eventuell vom Landtag eine höhere Kandidatengebühr bewilligen zu lassen. Die knappe, von Stölzel erstellte Vorlage – sie trägt das Datum vom 3. 12. 1889 – nahm wesentliche Bestimmungen der späteren Verordnung vom 3. 11. 1890 vorweg und setzte die Prüfungsgebühr auf 50 Mark fest. In der Begründung kommt die defensive, imgrunde reformunwillige Haltung der Justizverwaltung deutlich zum Ausdruck. Es heißt dort: „Einesteils weichen die Vorschläge, welche zur Abhilfe des behaupteten Übelstandes gemacht worden sind, ganz außergewöhnlich voneinander ab; was die eine Stimme empfiehlt, verwirft die andere ebenso bestimmt; andernteils ergehen sich einzelne der erschienenen Schriften in so maßlosen Angriffen gegen die Justizverwaltung und machen sich solcher offensichtlichen Übertreibungen oder tatsächlichen Irrtümer schuldig, daß dadurch die Staatsregierung in ihrem Streben, einen objektiv richtigen Maßstab zu finden, erheblich beeinträchtigt wird“ – die erste Behauptung überzeichnet die Sachlage stark, die zweite bildet ein Musterbeispiel für die Kunst dialektischer Verdrehung, die gerade den Juristen immer wieder vorgeworfen wurde. Ob Änderungen sachlich geboten oder auch nur ratsam seien, so Stölzel abschließend, müsse dahingestellt bleiben. Der Entwurf 351 Goldschmidt an Althoff, 6. 5. 1890, in: Levin Goldschmidt, Ein Lebensbild in Briefen, Berlin 1898, S. 462; zum Ende der Kommissionsarbeit auch das Schreiben Schellings an Goßler v. 30. 12. 1889, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11987. 352 Schelling an Scholz, 26. 6. 1889 sowie dessen Antwort v. 30. 8. 1889, beide in: GStA, Rep. 76 Va, Sekt. 1, Tit. VII, Nr. 8, Bd. 8; Protokollnotiz über die kommiss. Beratungen v. 7. 12. 1889, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11988.
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verschwand in den Ministerialakten, vornehmlich deshalb, weil seine Vorlage im Landtag ungeahnte Weiterungen heraufbeschworen hätte353. Im Zuge der Vorbesprechungen zum Haushaltsentwurf für das Jahr 1891 unternahmen Schelling und Goßler einen weiteren Vorstoß, fanden aber auch beim neuen Finanzminister Miquel kein Gehör. Bei den kommissarischen Beratungen lehnte es der Vertreter des Finanzministeriums abermals ab, einen gesonderten Posten für die Prüfergebühren in den Etat einzustellen (3. 10. 1890) – ein Beispiel für die vielgerügte „Knauserigkeit“ der preußischen Finanzverwaltung gegenüber den Bedürfnissen der Justiz. Um die verfahrene Situation zu retten, erklärte sich Goßler bereit, die Remuneration der Universitätslehrer aus seinem Etat zu übernehmen, so daß die Kandidatengebühr in vollem Umfang den richterlichen Examinatoren zugute kommen konnte (9. 10. 1890)354. Das Entgegenkommen des Unterrichtsministers, mit der die Arbeit der Sachverständigenkommission ihr formelles Ende fand, ebnete den Weg für die grundlegende Verordnung vom 3. 11. 1890. Sie schränkte die bisherige Freiheit des Kandidaten in der Wahl des Prüfungsgerichts ein, reduzierte die Höchstzahl der gleichzeitig zu prüfenden Kandidaten auf vier (bei einer Prüfungszeit von fünf Stunden), erhöhte die Zahl der nunmehr vom Kultusminister zu berufenden Universitätslehrer auf zwei (der Vorsitzende mußte jedoch stets ein Richter sein), schrieb die Zuweisung bestimmter Disziplinen an die einzelnen Examinatoren vor und ordnete weitere Maßnahmen zur Kontrolle des Studienfleißes an; die Idee eines verbindlichen Studienplans hatte man erwartungsgemäß verworfen. Ergänzt wurde die Verordnung durch zwei Erlasse des Kultusministers (2. 6. / 8. 7. 1890) sowie die Verfügung vom 21. 3. 1891, mit der die Prüfungsgebühr auf 50 Mark erhöht wurde355. Damit hatte die Justizverwaltung – angelehnt an die Beschlüsse der Sachverständigenkommission – der Professorenkritik, die zunehmend von der Öffentlichkeit (Presse und Parlament) aufgegriffen worden war, in begrenztem Maße Rechnung getragen. Liszt nahm dies zum Anlaß, seinen in ministeriellen Kreisen arg ramponierten Ruf wieder aufzupolieren. Es glich einem Kotau vor dem Justizminister, als er nach Erlaß der Novemberverfügung an diesen schrieb: „Auf die Neuregelung der Seminare im allgemeinen und auf die neue Prüfungsordnung setze ich große Hoffnungen. Ich bin überzeugt, man wird in wenigen Semestern sagen können: Wenn das juristische Studium in Preußen nicht gedeiht, so tragen nur die Dozenten daran die Schuld. Der Druck, der auf uns lastete, ist gewichen“356. Der Entwurf findet sich in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2913, Bl. 52 ff., Zitat Bl. 55 f. Die Vorgänge sind dokumentiert in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11988. 355 AV v. 3. 11. 1890, in: JMBl, S. 277 – 279; detaillierte Erläuterungen enthielt das Schreiben Schellings an den KG-Präsidenten v. 10. 3. 1891, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2913, Bl. 32 – 39; zum ganzen auch K. Weber, Die Entwicklung des juristischen Prüfungs- und Ausbildungswesens in Preußen, in: ZZP 59 (1935), S. 123 – 127. 356 Liszt an Schelling, 23. 11. 1890, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2913. 353 354
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Parallel dazu wurde der Vorbereitungsdienst intensiviert. Mit Blick auf die Tatsache, daß die Geschäftslast vieler Gerichte eine gründliche Unterweisung der Referendare unmöglich machte und die Auszubildenden mehr oder weniger sich selbst überlassen blieben, tauchte in der Reformliteratur der Vorschlag auf, seminarähnliche Übungen unter Leitung erfahrener und pädagogisch geschickter Richter einzuführen357. Nachdem derartige Kurse an einzelnen Oberlandesgerichten ins Leben gerufen worden waren, sprach Schelling in einer Verfügung vom April 1893 den Verantwortlichen seine besondere Anerkennung aus (wobei er den Übungsleitern Beförderungen in Aussicht stellte) und empfahl die neue Einrichtung zur Nachahmung. Schon nach kurzer Zeit waren Referendarübungen bei sämtlichen Oberlandesgerichten und zahlreichen größeren Land- und Amtsgerichten anzutreffen358. Darüber hinaus wurden vom Ministerium literarische Hilfsmittel zur Verfügung gestellt359. Imgrunde trat die Justizverwaltung – allem zur Schau getragenen Selbstbewußtsein zum Trotz – die Flucht nach vorn an: Wollte sie den traditionellen Vorrang der praktischen Ausbildung retten, so blieb ihr angesichts der Ausbildungsmängel, die sie in den Jahresberichten des Präsidenten der Justizprüfungskommission selbst regelmäßig bestätigte, gar nichts anderes übrig, als für eine bessere Schulung der Referendare zu sorgen. Trotz ihrer begrenzten Reichweite markieren die geschilderten Vorgänge einen Wendepunkt in der preußischen Juristenausbildung. Zwar erreichte die Kritik am Richterstand – die sich im übrigen auch aus anderen Quellen speiste – erst in den 90er Jahren ihren Höhepunkt, dennoch war die Talsohle der Ausbildungsmisere durchschritten, auch wenn sich Zeichen der Besserung erst allmählich einstellten. 2. Noch vor Preußen führte Bayern als erstes Land Übungskurse für Referendare ein. Nachdem Sprecher verschiedener Parteien in der Abgeordnetenkammer über die mangelhafte Ausbildung der Rechtspraktikanten bei den Landgerichten Klage geführt hatten (16. / 17. 2. 1892), erließ Justizminister Leonrod im November desselben Jahres detaillierte Anweisungen zur effektiveren Gestaltung des Vorbereitungsdienstes. Die Ergebnisse der zweiten Prüfung würden bestätigen, „daß ein großer Teil der Praktikanten die Zeit des Vorbereitungsdienstes, insbesondere bei den Landgerichten, nicht in genügendem Maße für die wissenschaftliche und praktische Ausbildung benützt“; darüber hinaus hätten einzelne Vorkommnisse die Überzeugung begründet, „daß auch nicht überall von seiten der Gerichte und ihrer Vorstände auf die Ausbildung der Rechtspraktikanten die der Wichtigkeit des Gegenstandes angemessene Sorgfalt verwendet wird“. Als wichtigste Maßnahme 357 Vgl. Aschrott, S. 40 – 44 (obligatorische Übungen bei den Landgerichten); Karl Dickel, Ueber die Vorbildung der Juristen in Preußen, Marburg 1888, S. 30 – 54 (AR; detailliert ausgearbeitetes Konzept). 358 AV v. 12. 4. 1893, in: JMBl, S. 119; weiterhin: AV v. 30. 3. 1895, in: JMBl, S. 109 ff. (mit Übersicht über die eingerichteten Kurse); zum ganzen auch Ebert, S. 221 ff. 359 A. Stölzel, Ueber Proberelationen, Berlin 1888; ders., Schulung für die zivilistische Praxis, 2 Bde., Berlin 1894 / 97.
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2. Teil: Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900)
ordnete Leonrod die Einrichtung praktischer Übungen an allen Landgerichten mit mehr als fünf Praktikanten an. Die Zahl der Teilnehmer sollte fünfzehn nicht überschreiten, die mit der Leitung betrauten Richter sollten von anderen Aufgaben entlastet werden, für außergewöhnlichen Aufwand wurde eine Remuneration in Aussicht gestellt. Damit war das Modell der heutigen „Arbeitsgemeinschaften“ geboren360.
VI. Die 80er Jahre: Zusammenfassung Das Inkrafttreten der Reichsjustizreform bedeutete keineswegs das Ende aller justizpolitischen Debatten. Dem Probierstein der Praxis ausgesetzt, zeigte sich schon nach wenigen Jahren, daß die neuen Verfahrensformen zu sehr auf juristisch-technischen Prinzipien und zu wenig auf populären Gerechtigkeitsvorstellungen beruhten. Infolge seiner dezidiert liberalen, stark ökonomisch geprägten Struktur erwies sich der Zivilprozeß als ausgesprochen laienfeindlich. Im Strafverfahren konzentrierte sich die öffentliche Kritik auf die Berufungsfrage und das Entschädigungsproblem, während in Fachkreisen eine Abkehr vom Geschworenengericht erfolgte. Beide Verfahrensarten krankten vor allem an mangelndem Rechtsschutz. Bismarcks pragmatischer Versuch, den Mißständen „mit einem Schlage“ abzuhelfen, scheiterte – je nach Blickwinkel – an den Ländern, der liberalen Öffentlichkeit und den organisierten Standesinteressen. Vorherrschendes Merkmal der Strafrechtsprechung war ein Zug zu milden Urteilen, die aus dem gesetzlichen Strafrahmen nicht selten Makulatur machten. Ungeachtet der Tatsache, daß die Entwicklung in bürgerlichen Kreisen ernsthafte Sorgen um die öffentliche Ordnung wachrief, dürfte sie dem Rechtsbewußtsein der Bevölkerungsmehrheit entsprochen haben. Im Grundsatz paßte sich die politische Strafrechtsprechung der Tendenz zur Milde an (Beleidigungsdelikte). Der Abbau des Kulturkampfs und die Etappenstellung, die das Sozialistengesetz den Gerichten zuwies, leiteten eine Phase relativer Beruhigung ein, so daß sich der hohe Politisierungsgrad der vorangegangenen Dekade zunächst abschwächte. Mitte des Jahrzehnts endete die Schonfrist: Zum einen wurden spektakuläre Verfahren in Szene gesetzt (Diäten- und Geheimbundsprozesse), zum anderen brach sich eine extensive Auslegung des gemeinen Strafrechts Bahn („grober Unfug“). Das Phänomen läßt sich als Reaktion auf den gescheiterten Versuch von 1876 deuten, das politische Strafrecht spürbar zu verschärfen, beruhte aber ebenso auf einer Übertragung der begrifflich-abstrakten Methode der zivilistischen Pandektenwissenschaft auf das Kriminalrecht, erkennbar daran, daß es auch auf anderen Gebieten der Strafrechtspflege hervortrat. 360 Bek. v. 6. 11. 1892, in: HStA, MJu 9807; die Bestimmungen gingen über in die allgemeine Bek. v. 14. 7. 1893 (JMBl, S. 150 ff.). In den anderen Bundesstaaten dauerte die Entwicklung länger. So führte Sachsen obligatorische Referendarübungen bei den Landgerichten erst 1904 ein (VO v. 2. 2. 1904; JMBl, S. 9).
B. Die 90er Jahre: „Vertrauenskrise“ der Justiz
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Indessen reihten sich die Gerichte keineswegs nahtlos in die antisozialistische Front ein: Einer Reihe ausgesprochen harter Urteile stand die Tatsache gegenüber, daß die Richter in der Strafzumessung immer wieder deutlich unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft blieben. Somit gilt es festzuhalten: Die „staatsanwaltschaftliche Prägung der Strafjustiz“, die in der Verfahrensordnung potentiell angelegt und im Kern auf politische Verfahren gemünzt war, bestimmte zwar weitgehend die Anklage-, aber nur in begrenztem Maße die Urteilspraxis – in ihrer ureigensten Sphäre zeigten sich die Richter nur bedingt konzessionsbereit. Nichtsdestoweniger unterminierten gerade die politischen Prozesse das Ansehen der Gerichte, da den Angeklagten und ihren Sympathisanten ein Unrechtsbewußtsein in aller Regel fehlte, so daß schon die Anklageerhebung als Akt obrigkeitlicher Willkür erscheinen mußte. Verfahrensdefizite und politische Judikatur verstärkten die bereits bestehenden Vorbehalte und ließen in der Öffentlichkeit eine Mißstimmung gegen die Strafrechtspflege aufkommen, die, wie bei dem Gegenstand nicht anders zu erwarten, eher auf unbestimmten Empfindungen und Eindrücken denn auf klaren Einsichten beruhte. Als Treibriemen der Kritik fungierten die liberale Presse und der Reichstag. Aus diesem Stoff und auf diesem Wege konstituierte sich die allgemeine „Vertrauenskrise“, die wenige Jahre später zum Bezugspunkt aller justizpolitischen Debatten werden sollte. In sie flossen auch die „Ergebnisse“ der immer wieder verschobenen Reform der preußischen Juristenausbildung ein. Immerhin hatte die intensive Kritik der 80er Jahre dazu geführt, daß langjährige Forderungen der Professorenschaft aufgegriffen worden waren und der Vorbereitungsdienst effektiviert wurde.
B. Die 90er Jahre: „Vertrauenskrise“ der Justiz In der rechtsgeschichtlichen Forschung gelten die Jahre 1926 – 1928 – in Anlehnung an die zeitgenössische Terminologie – als große „Vertrauenskrise“ der deutschen Justiz, hervorgerufen durch die Obstruktion einer überwiegend monarchisch gesinnten Richterschaft gegen die ungeliebte Republik von Weimar361. Gemessen an Breite und Vielfalt der öffentlichen Kritik an der Rechtspflege, namentlich ihres strafrechtlichen Zweiges, gebührt dieser „Titel“ aber bereits der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts. Neben der Epoche des preußischen Verfassungskonflikts, in mancherlei Hinsicht aber noch ausgeprägter als jene, bilden die 90er Jahre den zweiten Höhepunkt der Justizkritik im „bürgerlichen Zeitalter“ zwischen 1848 / 49 und 1914. Die Krise war das Ergebnis eines kumulativen Prozesses. In jenen Jahren liefen verschiedene Entwicklungsstränge zusammen, die sich in ihrem kritischen Effekt 361
Genauer dazu: R. Kuhn, Die Vertrauenskrise der Justiz (1926 – 1928), Köln 1983.
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wechselseitig steigerten. Sachlich handelte es sich um durchaus separate Probleme, die in ihrem Ursprung verschieden weit zurückreichten. Das Mißtrauen gegen eine politisierte Strafrechtsprechung, das auf die sechziger Jahre zurückging und sich symbolisch mit dem Namen Twesten verband, wurde durch ein gleichbleibend hohes Basisniveau politisch motivierter Anklagen wachgehalten. Dabei verstärkten Phasen forcierter Strafverfolgung (Kulturkampf, Sozialistengesetz) bereits bestehende Vorbehalte. In den 90er Jahren erfüllte die zu voller Blüte gelangende extensive Interpretation der Strafgesetze diese Funktion. Hoffnungen auf eine grundlegende Liberalisierung und wirkliche Unabhängigkeit der Strafrechtspflege, die sich an die Reichsjustizreform geknüpft hatten, sahen sich nach kurzer Zeit enttäuscht und ließen den Ruf nach institutionellen und prozessualen Reformen laut werden. Hinzu kam eine Bewegung zur Einführung von Sondergerichten, die im Gewerbegerichtsgesetz von 1890 ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Schließlich traten – vor allem in Preußen – immer deutlicher die Schattenseiten der in hohem Maße erhalten gebliebenen Justizhoheit der Länder hervor. Beträchtlich verstärkt wurde die krisenhafte Wahrnehmung durch die gleichzeitige Entstehung des publizistischen Massenmarktes. Im ganzen läßt sich die justizkritische Diskussion der 90er Jahre in drei Teilbereiche untergliedern: den jurisdiktionellen Aspekt (Kap. II), den personal-administrativen Aspekt (Kap. III) und den institutionell-prozeduralen Aspekt (Kap. IV). Zunächst jedoch soll der Punkt genauer bestimmt werden, an dem sich das Problem der „Vertrauenskrise“ zu einem allgemeinpolitischen Thema verdichtete, der Diskussionsprozeß also eine neue Qualität erlangte (Kap. I).
I. Übergang zur allgemeinen „Vertrauenskrise“ Die Innenpolitik des ersten Jahrzehnts nach Bismarck wird gemeinhin in zwei Phasen eingeteilt, die sich mit den beiden Kanzlerschaften jener Zeit decken362. Caprivis „Neuer Kurs“ (1890 – 1894) ersetzte die Bismarcksche Konfrontationsund Spaltungsstrategie durch eine Politik des Ausgleichs. Mit Hilfe moderater Reformen sollten die sozialen Verwerfungen abgemildert, das Reich wirtschaftspolitisch modernisiert und die Regierungsbasis erweitert werden. Diese – durchaus zukunftsträchtige – Konzeption eines „aufgeklärten Reformkonservatismus“ scheiterte zum einen am Kaiser und seiner Umgebung, zum anderen an den konservativen Agrariern und den schwerindustriellen Kreisen, tatkräftig unterstützt von den ihnen nahestehenden Parteien und Presseorganen. Die Kanzlerschaft Hohenlohes (1894 – 1900), die den Caprivischen Versöhnungskurs beendete, war gekennzeichnet durch zahlreiche Regierungskrisen und Personenwechsel und insgesamt durch eine Diffusion des politischen Entscheidungsprozesses, ausgelöst vor allem durch 362 Zur nachbismarckschen Periode: J. C. G. Röhl, Deutschland ohne Bismarck, Tübingen 1969 (bezogen auf das Handeln der wichtigsten Akteure); Nipperdey, II, S. 699 – 723.
B. Die 90er Jahre: „Vertrauenskrise“ der Justiz
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zwei Faktoren: den Versuch Wilhelms II., ein „persönliches Regiment“ aufzurichten, und die namentlich von Miquel, 1890 zum preußischen Finanzminister ernannt und seit 1897 zudem Vizepräsident des Staatsministeriums, betriebene „Sammlung der staatserhaltenden und produktiven Stände“. Reichweite und Erfolg beider Ansätze werden von der Forschung unterschiedlich beurteilt363. Unabhängig von allen Richtungs- und Einflußwechseln blieb der Kampf gegen die sozialistische Arbeiterbewegung die conditio sine qua non allen Regierungshandelns: „Es gab eine geschlossene antisozialistische Front, aus der niemandem auszubrechen oder sich wegzustehlen erlaubt war“364. Umso strittiger allerdings waren Formen und Methoden des Kampfes. Mit dem überwältigenden Erfolg bei der Reichstagswahl vom Februar 1890, aus der die SPD (gemessen am Stimmenanteil) als stärkste Partei hervorging, und dem Außerkrafttreten des Sozialistengesetzes (1. 10. 1890) wurde die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie und den Freien Gewerkschaften endgültig zum Zentralproblem der politischen Justiz. Da gesetzgeberische Initiativen im Zeichen des „Neuen Kurses“ (zunächst) ausgeschlossen waren, wurde der Abwehrkampf gegen die „Mächte des Umsturzes“ – neben Verwaltung und Polizei – den Strafgerichten aufgebürdet, die diese Rolle bereits seit 1885 / 86 innehatten. Erklärtes Ziel war es, den Wegfall der Ausnahmebestimmungen so gut wie möglich zu kompensieren. In seiner Sitzung vom 13. 7. 1890, bei der die Frage nach der grundsätzlichen Haltung gegenüber der Sozialdemokratie nach Auslaufen des Sozialistengesetzes auf der Tagesordnung stand, einigte sich das preußische Staatsministerium darauf, eine abwartende Stellung einzunehmen. Zunächst gelte es, sich Klarheit darüber zu verschaffen, „wie weit die bestehenden Gesetze bei deren energischer Handhabung gegenüber den Ausschreitungen der Sozialdemokratie genügten“. Die zuständigen Ressortminister des Inneren und der Justiz wurden beauftragt, ihre Unterbehörden mit entsprechenden Anweisungen zu versehen365. In der Diskussion bemerkte Schelling, er könne der Staatsanwaltschaft „eher Übereifer als Apathie vorwerfen“, und verwies auf die Schranken der staatsanwaltschaftlichen Wirksamkeit, insbesondere – Schellings altes Gravamen – das Fehlen der Berufung gegen Strafkammerurteile. Im übrigen traten die sozialpolitischen Differenzen deutlich hervor. Han363 Grundlegend zum „persönlichen Regiment“: J. C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888 – 1900, München 2001; weiterhin: I. V. Hull, „Persönliches Regiment“, in: J. C. G. Röhl (Hg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, München 1991, S. 3 – 23 sowie die differenzierten Überlegungen bei Nipperdey, II, S. 475 – 485; zur Sammlungspolitik ebd., S. 721 ff.; Wehler, III, S. 1006 ff.; Ullmann, Kaiserreich, S. 147 ff. (jeweils m. w. Nachw.). 364 Nipperdey, II, S. 712; zur antisozialistischen Repression: K. Saul, Der Staat und die „Mächte des Umsturzes“, in: AfS 12 (1972), S. 293 – 350 (bes. S. 299 – 313); W. Wittwer, Vom Sozialistengesetz zur Umsturzvorlage, Berlin (Ost) 1983. 365 Prot. StM, 13. 7. 1890 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8463, Bl. 243 – 246, Zitat Bl. 246. Vgl. auch die Voten Herrfurths (IM) v. 25. 6. 1890 und Caprivis (MP) v. 4. 7. 1890, in: ebd., Bl. 235 – 240. Caprivi empfahl, „alle diejenigen Mittel bis aufs äußerste auszunutzen, welche das gemeine Recht zur Bekämpfung der Sozialdemokratie bietet“ (Bl. 240).
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delsminister v. Berlepsch, Vorkämpfer für eine engagierte Sozialgesetzgebung, regte an, der Arbeiterbewegung auf dem Gebiet der Lohnfrage stärker entgegenzukommen. Die Ansicht der Gerichte, wonach Fachvereine, die sich lediglich mit Lohnfragen beschäftigten, als politische Vereine einzustufen und dem Verbindungsverbot des preußischen Vereinsgesetzes zu unterwerfen seien, „scheine ihm unbillig und werde von den Arbeitern als Ungerechtigkeit empfunden gegenüber der Tatsache, daß Arbeitgeber und Innungen sich zum Zweck der Verständigung über Lohnfragen ganz ungehindert vereinigen könnten“. Demgegenüber begrüßte Innenminister Herrfurth die von seinem Ministerkollegen angeführte Gerichtsentscheidung ausdrücklich, ermögliche sie doch, Vereine, die sich äußerlich als Fachvereine konstituiert hätten, ihrem wahren Charakter gemäß zu behandeln366. Daraufhin wies Schelling die Beamten der Staatsanwaltschaft an, den Ausschreitungen der Sozialdemokratie, insbesondere auf dem Gebiet des Presse-, Vereinsund Versammlungswesens, „ihre volle Aufmerksamkeit zuzuwenden“. Zur Erhebung der öffentlichen Klage genüge die „Wahrscheinlichkeit des Erfolgs“, bei den Strafanträgen sei die Gefährlichkeit der Delikte angemessen zu berücksichtigen, gegen „nicht zweifellos gerechtfertigte freisprechende Entscheidungen“ sollten Rechtsmittel eingelegt werden und die betreffenden Strafsachen seien schleunig zu behandeln. Die Bedeutung der Verfügung vom 6. 9. 1890 wird durch Äußerlichkeiten unterstrichen: Sie unterlag strikter Geheimhaltung, und ihr Inhalt durfte nur mündlich weitergegeben werden367. Eine Serie flankierender Reskripte folgte in den nächsten Jahren nach. Eine Rundverfügung vom Juli 1891 präzisierte die Voraussetzungen für die Erhebung der öffentlichen Klage bei privaten Beleidigungen. Sie bietet ein anschauliches Beispiel für ausdehnende Interpretation. Es sei, so Schelling, zu seiner Kenntnis gelangt, „daß derjenige Teil der periodischen Presse, welcher die staatlichen und sozialen Einrichtungen grundsätzlich bekämpft, in der neueren Zeit vielfach dazu übergegangen ist, persönliche Angriffe gegen solche Privatpersonen zu richten, welche zu den die Erhaltung der bestehenden Einrichtungen vertretenden Klassen gehören. Es liegt die Vermutung nahe, daß in den Personen der Angegriffenen die ihnen nahestehenden gesellschaftlichen Kreise verächtlich gemacht und durch die Erregung von Übelwollen und Feindseligkeit gegen die einzelnen Persönlichkeiten gleiche Empfindungen gegenüber ganzen Ständen und Berufsklassen hervorgerufen werden sollen“. In den bezeichneten Fällen liege öffentliches Interesse vor, so daß die Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung an sich zu ziehen habe368. Prot. StM, 13. 7. 1890, Bl. 246. AV an die Oberstaatsanwälte v. 6. 9. 1890, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4536, Bl. 377 – 380 (auch in Nr. 8463). Der von Schelling erwähnte „Übereifer“ wird durch das Antwortschreiben des Oberstaatsanwalts in Stettin illustriert: Im Hinblick auf etwaige Arbeitseinstellungen habe er die Ersten Staatsanwälte zusätzlich auf die „schärfste Anwendung“ der §§ 153 GO (Koalitionszwang) und 240 StGB (Nötigung) hingewiesen, die im LG-Bezirk letztjährig „mit rücksichtsloser Härte und großem Erfolge“ angewandt worden seien (OStA Stettin an Schelling, 1. 10. 1890, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8463, Bl. 270). 366 367
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Im September 1891 reaktivierte Schelling eine alte Verfügung aus der Konfliktszeit. Den Staatsanwälten wurde aufgetragen, im Falle des Abdrucks eines strafbaren Artikels aus einer anderen Zeitung auch gegen diese einzuschreiten bzw. dem zuständigen Amtskollegen unverzüglich Mitteilung von der Sache zu machen. Sollte sich letzterer gegen eine Strafverfolgung aussprechen, so sei die Entscheidung des vorgesetzten Oberstaatsanwalts einzuholen, der wiederum, sollte er sich der Auffassung seines Staatsanwalts anschließen, dem Justizminister Bericht zu erstatten hätte. Mit anderen Worten: In strittigen Fällen wollte sich Schelling die Letztentscheidung vorbehalten369. Auch die im Oktober 1891 ergangene Anweisung an die Staatsanwälte, vermehrt Anträge auf Ausschließung der Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung zu stellen, zielte nicht zum geringsten auf Prozesse gegen Sozialdemokraten. Immerhin hatten es diese ja mehr als einmal verstanden, den Gerichtssaal in eine politische Tribüne umzufunktionieren, und nicht nur die sozialdemokratische Presse berichtete immer wieder über taktlose oder voreingenommene Bemerkungen der Richter in öffentlicher Sitzung. Die Verfügung bemühte sich erst gar nicht, Schellings Unmut über das Verhalten der Gerichte zu kaschieren, die seiner Meinung nach von der ihnen zustehenden Befugnis viel zu selten Gebrauch machten370. Damit aber noch nicht genug: Eine Rundverfügung vom Dezember 1893 mahnte eine raschere Bearbeitung der Pressevergehen an, denn „gerade in diesen Sachen pflegt der Eindruck der Bestrafung auf die Betroffenen und auf das Publikum hauptsächlich von der Schnelligkeit der Aburteilung abzuhängen“371. Zwei Ursachen lägen der Verzögerung zugrunde: Offensichtlich würden viele Staatsanwälte den Zweck des strafrechtlichen Einschreitens mit der Beschlagnahme im wesentlichen als erfüllt ansehen, und die Ersten Staatsanwälte kämen ihrer Pflicht zur persönlichen Kontrolle nicht immer hinreichend nach. Im folgenden gibt das Reskript detaillierte Anweisungen zur arbeitstechnischen Behandlung von Pressesachen. Abschriften gingen an die Präsidenten der Oberlandesgerichte, da sich, so Schelling, der Mißstand an den Gerichten fortsetze. Endlich ist ein Zirkularreskript vom Januar 1894 zu nennen, in dem Nachlässigkeiten der Staatsanwaltschaft gerügt wurden: In Prozessen von politischer, sozialer oder sonstwie größerer Bedeu368 AV an die Oberstaatsanwälte v. 4. 7. 1891, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8464 (auch in Nr. 8139). 369 AV an die Staatsanwälte v. 2. 9. 1891, in: JMBl, S. 218. 370 AV an die Oberstaatsanwälte v. 7. 10. 1891, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 57 – 59 (auch bei Müller, Justizverwaltung, S. 33). Nach § 173 GVG konnte die Öffentlichkeit bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der Sittlichkeit ausgeschlossen werden (Gesetz v. 5. 4. 1888). Zum Zwecke der Kenntnisnahme wurde die AV auch den OLG-Präsidenten zugestellt. Wie groß das Publikumsinteresse vielerorts war, geht aus der abschließenden Empfehlung hervor: Den Präsidenten wurde anheimgestellt, in Fällen, in denen eine Ausschließung zu erwarten sei, die übliche Ausgabe von Eintrittskarten bis zur definitiven Entscheidung auszusetzen. 371 AV an die Oberstaatsanwälte v. 20. 12. 1893, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 91 – 94, Zitat Bl. 91.
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tung müsse die Anklage in der Hauptverhandlung in aller Regel vom Ersten Staatsanwalt vertreten werden und nicht, wie wiederholt vorgekommen, von Gerichtsassessoren. Zudem sei gegen rechtlich fehlerhafte Entscheidungen stets Revision einzulegen, bei drohender Fristüberschreitung auch vorsorglich, also vor Erhalt des schriftlich ausgefertigten Urteils372. Nur scheinbar in Widerspruch hierzu stand eine zum Jahresende 1892 an die Landgerichtspräsidenten ergangene Verfügung, die Schelling im neuen Jahr im Abgeordnetenhaus verlas. Darin werden die vorsitzenden Richter zu einer unparteiischen und streng sachlichen Verhandlungsführung aufgerufen. „In Strafsachen, welche zu den politischen oder sozialen Parteikämpfen der Gegenwart in Beziehung stehen“, heißt es dort, sei eine solche „besonders notwendig, gerade hier aber mit Schwierigkeiten verknüpft“, vor allem deshalb, weil für den Angeschuldigten die Versuchung naheliege, „die Verteidigungsmittel, die ihm das Gesetz der Anklage gegenüber gewährt, in der öffentlichen Verhandlung nach außen hin zu benutzen, um die Anhänger seiner Bestrebungen im Lande zu ermutigen und zu vermehren“. Von daher bedürfe es der „ganzen Umsicht und Langmut“ des leitenden Richters, um „einerseits jeden Schein einer Voreingenommenheit zu vermeiden und andererseits die Verhandlung über künstlich bereitete Hemmnisse hinwegzuführen und sie von den zur Sache nicht gehörigen Erörterungen freizuhalten“. Neben einer strengen Handhabung der Sitzungspolizei sowie der Durchführung einer angemessenen Redeordnung empfiehlt Schelling dem Vorsitzenden, etwaige Vorhaltungen „in die dem Ernst der Sache gebührende Form zu kleiden“ und sich „jeder sarkastischen Färbung“ seiner Bemerkungen zu enthalten; unter allen Umständen habe er eine Haltung zu vermeiden, „welche seine persönliche Stellung zur Schuldfrage als eine bereits feststehende erscheinen läßt“. Namentlich der Verteidigung gegenüber sei eine sachliche Leitung zu beobachten, insbesondere müsse einem Verhalten, „welches die Würde des Gerichts oder die Ehre der an der Verhandlung beteiligten Personen beeinträchtigt, mit Entschiedenheit entgegengetreten werden“ – von der Staatsanwaltschaft ist bezeichnenderweise keine Rede373. Im Kontext seiner sonstigen Bemühungen ging es Schelling mit der Verfügung nicht so sehr um die Sicherung einer unparteiischen Prozeßführung als vielmehr darum, die Angeklagten mitsamt ihren Verteidigern in ein schlechtes Licht zu rücken sowie bestimmte äußerliche Mißstände, die von der öffentlichen Kritik immer wieder aufgegriffen wurden, auf ein Mindestmaß zu beschränken – was ihm vorschwebte, war der politisch absolut zuverlässige, persönlich jedoch ungerührte Richter, der seines Amtes „mit kaltem Herzen“ waltete. Nicht zuletzt bot das Reskript dem Minister Gelegenheit, sich der Öffentlichkeit gegenüber als Hüter einer unparteiischen Rechtsprechung zu präsentieren. AV an die Oberstaatsanwälte v. 16. 1. 1894, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 99 – 101. Schelling, Sten. Ber. AH, 25. 1. 1893, S. 557 f. (die Verfügung trägt das Datum vom 21. 12. 1892); nicht wortgetreu abgedruckt bei Theodor Wahl, Unsere Rechtspflege im Volksbewußtsein, Stuttgart 1901, S. 36 f. (zu Wahl und seiner Broschüre unten Kap. III, Anm. 671). 372 373
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Das war nichts anderes als grobe Irreführung. Es besaß hohen Symbolgehalt, daß Schelling auf ein altes Reskript aus der Konfliktszeit zurückgriff: Eine vergleichbare Dichte von Verfügungen zum Zwecke politischer Strafverfolgung hatte es seit der Ära Lippe in Preußen nicht mehr gegeben. Die Anweisungen unterstreichen einmal mehr, daß es sich bei Schelling um einen betont politisch denkenden Juristen handelte. Anders als sein Vorgänger Friedberg betrachtete er die Judikative weniger als selbständigen, eigenen Regeln gehorchenden Hoheitsbereich denn als Teil eines staatspolitischen Ganzen, dessen höheren Imperativen letztlich auch die Rechtsprechung zu gehorchen habe. Von allen preußischen Justizministern, die zwischen dem Grafen zur Lippe und dem Ende der Monarchie amtierten, war Schelling zweifellos der am stärksten gouvernemental ausgerichtete. Im Unterschied zu Lippe achtete er allerdings streng darauf, die rechtsstaatlich zulässigen Grenzen nicht zu überschreiten – das abschreckende Beispiel seines Vorgängers dürfte hier disziplinierend gewirkt haben. Die grundsätzliche Entscheidung, die Justizorgane weiterhin in den Dienst der Politik zu stellen, hatte einschneidende Folgen. Zunächst sozialpsychologischer Art: Enttäuscht zeigten sich weniger die sozialdemokratischen Arbeiter und Funktionäre, die sich über das behördliche Vorgehen ohnehin kaum mehr Illusionen machten, wohl aber diejenigen bürgerlichen Kreise, die mit dem Ende der Ausnahmegesetzgebung die berechtigte Erwartung verbanden, zu rechtsstaatlich korrekten Verhältnissen zurückzukehren, namentlich dem Grundsatz „gleiches Recht für alle“ wieder Geltung zu verschaffen. Dann aber auch jurisdiktioneller Art: Die bedenklichen, mit der antisozialistischen Urteilspraxis verbundenen Entwicklungen, insbesondere die Tendenz zur ausdehnenden Anwendung der Strafvorschriften, mußten sich unter den neuen Bedingungen zwangsläufig verstärken. Beide Momente verliehen der „Vertrauenskrise“, die nach nur wenigen Jahren manifest wurde, eine stark emotionale Grundierung, was die Wucht der Vorwürfe und manch bittere Bemerkung zum guten Teil erklären dürfte. Gegen Ende des Jahres 1894 versuchte Schelling ein Bild vom „Erfolg“ seiner bisherigen Bemühungen zu gewinnen. Um sich argumentativ für die bevorstehenden Auseinandersetzungen um die Umsturzvorlage zu wappnen, forderte er in zwei geheimen Reskripten Berichte über die Frage an, inwieweit sich die bestehenden Gesetze bei der Bekämpfung der sozialdemokratischen (und anarchistischen) Bestrebungen als ausreichend erwiesen hätten. Unter ausdrücklichem Bezug auf die Verfügung vom 6. 9. 1890 wurden namentlich die §§ 110, 111, 112, 126, 129, 130 und 131 StGB erwähnt374. Die Umfrage gleicht derjenigen Leonhardts aus dem Jahre 1878, und sie förderte auch ähnliche Ergebnisse zu Tage. Im Tenor waren sich die Oberstaatsanwälte darüber einig, daß die gesetzlichen Vorschriften zu eng gefaßt seien, um ein wirksames Vorgehen zu garantieren375. Infolgedessen 374 ZRe an die Oberstaatsanwälte v. 13. 11. und 16. 11. 1894, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8464 (die Erkundigungen bei den Ersten Staatsanwälten sollten nur mündlich erfolgen). 375 Sammlung der Berichte in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8469; vgl. auch Saul, „Mächte“, S. 310 f.
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würden die Gerichte in vielen Fällen freisprechen, gebotene Anklagen von vornherein unterbleiben oder etwaige Rechtsverstöße erst gar nicht zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft gelangen. In manchen Bezirken kämen Anklagen nach den genannten Paragraphen kaum oder überhaupt nicht vor. Erneut fehlt auch der Fingerzeig auf die weit brauchbareren Bestimmungen des alten preußischen Strafgesetzbuchs nicht. Allerdings finden sich keine Hinweise auf eine eigenmächtige Ausdehnung der Strafvorschriften, wie sie vereinzelt in den Berichten des Jahres 1878 auftauchten. Dies mag sich damit erklären, daß das Phänomen mittlerweile bis zu einem gewissen Grade gängig geworden war. Besagte Umsturzvorlage bildete das Vehikel, das die „Vertrauenskrise“ der Justiz ins öffentliche Bewußtsein rückte und zu einem allgemeinpolitischen Thema machte. Unter dem Eindruck anarchistischer Attentate im Ausland und angestachelt durch die kartellparteiliche Presse drängten die Gegner des „Neuen Kurses“ – allen voran der preußische Ministerpräsident Botho zu Eulenburg, zunehmend aber auch Wilhelm II. – auf ein schärferes Vorgehen gegen die Sozialdemokratie. Nicht zuletzt verfolgte die Kampagne den Sturz Caprivis, womit sie schließlich auch Erfolg hatte (Oktober 1894)376. Der im Reichsjustizamt ausgearbeitete Gesetzentwurf, der sich im Rahmen des gemeinen Rechts hielt, bewegte sich auf einer Kompromißlinie zwischen den Vorstellungen Caprivis, der nur das preußische Vereins- und Versammlungsrecht verschärfen wollte, und den Forderungen nach einem erneuten Ausnahmegesetz, die sich, wie schon zu Bismarcks Zeiten, mit Staatsstreichphantasien verbanden (wiederholte Auflösung des Reichstags, neues oktroyiertes Wahlrecht). Im einzelnen sah der Entwurf, der den Bundesrat ohne Änderungen passierte, vor, die §§ 111, 112, 126, 130 und 131 des Strafgesetzbuchs zu verschärfen, zwei neue Paragraphen (111a und 129a) einzuschalten und den § 23 Abs. 3 des Pressegesetzes (vorläufige polizeiliche Beschlagnahme) zu erweitern. Als wichtigste Neuerung bedrohte der § 130 – in Anlehnung an eine ähnliche Bestimmung des Entwurfs zur StGB-Novelle (1875) – jetzt auch denjenigen mit Strafe, „welcher in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise die Religion, die Monarchie, die Ehe, die Familie oder das Eigentum durch beschimpfende Äußerungen öffentlich angreift“377. Das Tatbe376 Zur Umsturzvorlage: Röhl, Deutschland, S. 107 – 111; Wagner, S. 389 – 394; P. Mast, Künstlerische und wissenschaftliche Freiheit im Deutschen Reich 1890 – 1901, Offenburg 1980, S. 61 ff.; R. Köhne, Nationalliberale und Koalitionsrecht, Frankfurt / M. 1977, S. 238 ff.; Materialien zur Entstehungsgeschichte in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8464. 377 Im § 111 erhöhte sich die Strafdrohung. Die §§ 112 (Anreizung von Militärpersonen zum Ungehorsam) und 126 (Androhung von Verbrechen) wurden um Bestrebungen, die „auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staatsordnung“ gerichtet seien, erweitert. Im § 131 sollte das Requisit „wissen“ durch den Zusatz „oder den Umständen nach annehmen muß“ aufgeweicht werden. Der neue § 111a richtete sich gegen denjenigen, der gewisse Delikte „anpreist oder als erlaubt darstellt“, während § 129a den Tatbestand des strafbaren Komplotts, bislang beschränkt auf den Hochverrat, auf Umsturzabsichten ausdehnte. Vorlagen: BR, Session 1894, Drks. Nr. 103 (16. 11. 1894); Sten. Ber. RT 1894 / 95, Drks. Nr. 49 (5. 12. 1894).
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standsmerkmal der „Beschimpfung“ galt bislang nur bei Religionsvergehen (§ 166 StGB) und hatte dort zu einer widersprüchlichen und extensiven Urteilspraxis geführt378. Dennoch fielen die Vorschläge insgesamt moderat aus. Sie folgten der Linie, die Caprivi auf einer ad hoc nach Berlin einberufenen Konferenz mit Vertretern nichtpreußischer Regierungen (Oktober 1894) vereinbart hatte. Die Teilnehmer stimmten darin überein, daß es sich empfehle, „die den gesetzgebenden Körperschaften zu machende Vorlage in so engen Grenzen zu halten, daß ihre Annahme im Reichstage als möglich und wahrscheinlich angesehen werden dürfe“379. Dennoch wurde bei der ersten Lesung im Reichstag – an sich wenig überraschend – vor allem die fehlende Konkretheit der Regierungsvorschläge bemängelt380. In ihrer unbestimmten und dehnbaren Fassung könnten sie leicht dazu führen, nicht nur „umstürzlerische“ Agitation, sondern jegliche Kritik an Staat und Gesellschaft einschließlich wissenschaftlicher oder künstlerischer Äußerungen unter Anklage zu stellen. Summa summarum bilde die Vorlage eine ernsthafte Gefahr für die geistige und politische Freiheit im Reich. Dem hielten die Regierungsvertreter und Sprecher der Kartellparteien unisono entgegen, daß man das Vertrauen zu dem Richterstand haben könne, schon das Richtige zu treffen, zumindest im großen und ganzen381. Der neue preußische Justizminister Schönstedt schloß seine parlamentarische Jungfernrede, taktisch reichlich unklug, mit folgenden Worten: „Es ist richtig, meine Herren, die Findung eines gerichtlichen Urteils ist nicht die Lösung einer mathematischen Aufgabe, wo man nicht nach rechts oder nach links abweichen kann; es gehört dazu eine freie Beurteilung und Kenntnis der Lebensverhältnisse, es gehört dazu unabhängige Gesinnung und gesundes Urteil. Wenn Sie nicht das Vertrauen haben, daß Sie solche Voraussetzungen bei den deutschen Gerichten, die dies Gesetz anzuwenden haben werden, finden, dann mögen Sie dieses Gesetz ablehnen“382. Mit der Schönstedtschen „Vertrauensfrage“ hatte die Debatte ihr justizpolitisches Leitmotiv gefunden. Explizit oder implizit stellten alle nachfolgenden Redebeiträge einen Kommentar zur Aufforderung des Justizministers dar. Dabei zeigte sich rasch, daß die übrigen bürgerlichen Parteien – von den Sozialdemokraten ver378 Vgl. Kronecker, Der Begriff der Beschimpfung und die Umsturzvorlage, in: Deutsches Wochenblatt 8 (1895), S. 198 – 201 (LG-Rat in Berlin); Otto Mittelstädt, Die Umsturzvorlage, in: PJ 80 (1895), S. 513 – 534, hier S. 517 – 519; zu Mittelstädts Aufsatz: Vorwärts v. 3. 5. 1895, archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8471. 379 Caprivi an StM, 25. 10. 1894, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8464. Ähnlich Mittelstädts Urteil über die Vorlage: „Sie war nicht weiter schön und gerade keine legislative Musterleistung, aber auch kein Teufelswerk“ (S. 517). 380 Die erste Beratung fand am 17. 12. 1894 sowie zwischen dem 8. und 12. 1. 1895, die zweite zwischen dem 8. und 11. 5. 1895 statt; Wiederabdr. in: Umsturz und Sozialdemokratie, 3 Teile, Offenbach 1947. 381 Nieberding (Staatssekretär d. RJA), Sten. Ber. RT, 9. 1. 1895, S. 228 f.; Limburg-Stirum (K), ebd., 10. 1. 1895, S. 236; Bennigsen (NL), ebd., 10. 1. 1895, S. 247. 382 Schönstedt, ebd., 10. 1. 1895, S. 244.
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stand sich dies von selbst – keineswegs bereit waren, den geforderten Blankoscheck zu unterschreiben. Der Zentrumsabgeordnete Gröber erinnerte an die leidvollen Erfahrungen, welche die Katholiken mit „diensteifrigen“ Staatsanwälten und Richterkollegien in der Kulturkampfzeit gemacht hätten, und trat für die Mitwirkung von Laien bei politischen Delikten ein; Munckel (Freisinn) verwies auf die jüngsten Vorgänge im Reichstag (Antrag auf Strafverfolgung Liebknechts wegen Sitzenbleibens beim Kaiserhoch) und die Affäre Twesten („wir hatten damals auch Vertrauen auf unsere Richter, es täuschte aber einigermaßen“); der Hannoveraner v. Hodenberg beklagte „die Willkür des Staatsanwalts“ und „die subjektive Auffassung der Gerichte“, die bei gemeinen Delikten eine „sehr merkwürdige Milde“ walten lassen, politische Vergehen hingegen hart bestrafen würden; die Abgeordneten Kröber (DVP) und Sigl (Bayerischer Bauernbund) brachten innerbayerische Vorgänge, insbesondere die noch näher zu behandelnde Fuchsmühler Affäre, zur Sprache383. Auf den vielleicht wichtigsten Aspekt machte der Oberlandesgerichtsrat Spahn (Zentrum) aufmerksam: Es könne nicht Aufgabe der Gerichte sein, den richtigen Sinn einer Rechtsvorschrift herauszufinden, welcher der Gesetzgeber keine präzise Fassung zu geben imstande gewesen wäre; dies führe zwangsläufig zu „richterlicher Willkür“384. Damit spielte Spahn auf das Zumutungs- und Überforderungssyndrom an, das sich gerade bei politischen Delikten immer wieder zeigte. Im außerparlamentarischen Raum bot sich dasselbe Bild. Für die liberalen Tageszeitungen, seit langem Wortführer der publizistischen Justizkritik, stellte der Schönstedtsche Vertrauensappell ein gefundenes Fressen dar. Die „Vossische Zeitung“, deren Justizberichterstattung sich bei aller Kritik durch eine gediegensachliche Haltung auszeichnete, mit der sich höchstens noch die „Frankfurter Zeitung“ vergleichen ließ, widmete dem Thema gleich mehrere Artikel. Der von Schönstedt für die Richter reklamierten „Kenntnis der Lebensverhältnisse“ hielt sie die ungenügende Vorbildung der Rechtskandidaten, die soziologische Verengung des Richterstandes auf die Mittelklassen und das Hilfsrichtertum der Assessoren entgegen. Seine Aufforderung erachtete sie als kontraproduktiv: „Wir glauben, daß gerade nach den Ausführungen des Justizministers der Reichstag alle dehnbaren Bestimmungen der Umsturzvorlage abzulehnen Veranlassung hat“385. Wenn man alles Vertrauen auf den Richterstand setzen könne, so folgerte sie kurze 383 Gröber, Sten. Ber. RT, 9. 1. 1895, S. 216; Munckel, ebd., 10. 1. 1895, S. 237; v. Hodenberg, ebd., 11. 1. 1895, S. 278 f.; Kröber, ebd., 11. 1. 1895, S. 280; Sigl, ebd., 11. 1. 1895, S. 283 f.; zu Fuchsmühl unten Kap. II / 1b. 384 Spahn, Sten. Ber. RT, 12. 1. 1895, S. 290; ähnlich Mittelstädt, S. 526 f. („vertrauensseliger Optimismus in die heilbringende Kraft der strafrichterlichen Gewalt einer bankrott gewordenen Gesetzgebung gegenüber“). Peter Spahn (1846 – 1925) bekleidete zahlreiche höchstrichterliche Ämter und war zugleich jahrzehntelang MdR und MdA; 1912 – 17 Fraktionsvorsitzender des Zentrums im RT, 1917 / 18 letzter kgl. preuß. Justizminister. 385 Vossische Zeitung v. 11. 1. 1895 (abends); weiterhin: Vossische Zeitung v. 12. 1. 1895 (abends); FZ v. 11. 1. 1895; VZ v. 12. 1. 1895; Sammlung von Pressestimmen in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8471.
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Zeit später ironisch, würde es sich doch eigentlich anbieten, einfach „das billige Ermessen des Richters“ oder, was auf dasselbe hinausliefe, „die Willkür“ zum Gesetz zu erheben386. Im übrigen verwies das Blatt – neben historischen Rückblicken – auf die lange Liste aktueller Beschwerden (politische Jurisdiktion, Gehaltsfrage, Disziplinargesetze, Berufungsproblem). Angesichts der massiven Kritik von „links“ sah sich die freikonservative „Post“ zu einer Ehrenerklärung für den deutschen Richterstand veranlaßt, aber auch sie konnte nicht umhin, gewisse Mängel einzuräumen387. Die „Konservative Monatsschrift“, die „staatssozialistische“ Positionen vertrat, warnte offen vor einer „Partei-Justiz“ der oberen Klassen und einer „Diktatur des Staatsanwalts“ unter dem Scheine der „Juristerei“388. In einer von zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichneten „Erklärung gegen die Umsturzvorlage“ hieß es, die Befürchtung, daß die neuen Bestimmungen auch die „notwendige freie Kritik und Aussprache“ träfen, ließe sich „angesichts der mit dem Sozialistengesetz und mannigfachen Gerichtsurteilen der letzten Jahre gemachten Erfahrungen nicht abweisen“. Der Klassengegensatz, mit dem jeder soziale Fortschritt unvermeidlich verbunden sei, bringe es leicht mit sich, „daß die Justizorgane, die sich im wesentlichen aus den oberen Klassen rekrutieren, trotz des besten Willens von einer gewissen Voreingenommenheit gegen die Wortführer der unteren Klassen beherrscht und daher geneigt sind, dehnbare Paragraphen zu deren Ungunsten auszulegen“. Und schließlich: Die Ausschreitungen der politischen Agitatoren entstammten nicht zum geringen Teil der Erbitterung über „die Strafen und Verfolgungen, die sie sich zuziehen bei dem an und für sich löblichen Bestreben, das Elend und seine Ursachen zu bekämpfen“389. Hans Delbrück, Herausgeber der einflußreichen „Preußischen Jahrbücher“ und scharfsichtiger Kritiker der Zeit, faßte das justizpolitische Ergebnis der Diskussion treffend zusammen: „Leider ist ja eine der Erscheinungen, die die ganzen Umsturzverhandlungen gezeitigt haben, die handgreifliche Tatsache, daß unser Richterstand nicht mehr in dem Maße wie früher das unbedingte allgemeine Zutrauen genießt. Mit Recht haben die Vertreter der Regierung immer wieder darauf hingewiesen, daß der Wortlaut der neuen Strafbestimmungen äußerst vorsichtig gefaßt sei. [ . . . ] Aber gebranntes Kind scheut das Feuer. Wir haben im letzten Menschenalter in Deutschland gerichtliche Urteile erlebt, die aus den bestehenden Strafgesetzen das Äußerste herausdestilliert und in der öffentlichen Meinung einen sehr schlechten Eindruck gemacht haben. Man hat schon hier und da die Ansicht aussprechen 386 Vossische Zeitung v. 6. 2. 1895, morgens („Das Vertrauen in den Richterstand“), archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8471. 387 Die Post v. 20. 4. 1895 („Für den deutschen Richterstand“), archiv. in: ebd. 388 Monatsschau Politik, in: Allgemeine Konservative Monatsschrift 52 (1895), S. 71, 73; weiterhin: Carl Bulling, Kautschukparagraph und richterliche Unparteilichkeit, in: Nation 12 (1894 / 95), S. 221 – 225. 389 Erklärung gegen die Umsturzvorlage, in: Grenzboten 54 / 1 (1895), Beil. zu H. 6 (zu den Unterzeichnern gehörten u. a. Franz v. Liszt, Friedrich Naumann, Werner Sombart und Adolf Wagner); eine ähnlich lautende Erklärung findet sich in der Beil. zu Heft 11.
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hören, daß die Liberalen eine große Torheit begangen hätten, als sie die Verlegung des Reichsgerichts nach Leipzig durchsetzten. In Berlin, im Zentralpunkt des öffentlichen Lebens, würde das Reichsgericht in innigerer Fühlung mit dem öffentlichen Geiste geblieben sein. Wie dem auch sei, sicher ist, daß ein gewisses Mißtrauen oder sagen wir wenigstens ein nicht genügendes Vertrauen zu unserer Judikatur sehr viel dazu beigetragen hat, der Umsturzvorlage Gegnerschaft zu erwecken. Mögen unsere Richter sich das gesagt sein lassen. Wenn diese Empfindung recht lebhaft angeregt wird, so würde die große Umsturzkampagne an dieser Stelle ja noch einen ungewollten und unerwarteten erfreulichen Erfolg haben“390. Ganz ähnlich der sich des Pseudonyms „Aulus Agerius“ bedienende Richter, auf dessen aufsehenerregende Abhandlung später noch einzugehen sein wird. Die Erörterung der Umsturzvorlage habe, so der Autor, „ein weitverbreitetes Mißtrauen gegen die Strafrechtsprechung“ zutage gefördert, und diejenigen, welche die Ablehnung der Vorlage beklagen würden, „mögen ein gutes Teil der Schuld auf die Gerichte schieben“391. Nur eine Woche nach seiner Rede beantwortete Schönstedt seine Frage selbst. Bei der ersten Beratung der zur gleichen Zeit eingebrachten Strafprozeßnovelle – auf die noch näher einzugehen sein wird – brachte er sein Bedauern darüber zum Ausdruck, „daß das Ansehen der Justiz in weiten Kreisen nicht mehr dasselbe ist wie früher“392. Umsturzvorlage und Strafprozeßnovelle regten die öffentliche Debatte über Mängel und Reform der Strafjustiz nachhaltig an – beide wirkten gleichermaßen als Medium und Katalysator. Nicht zufällig fand die Diskussion zu erheblichen Teilen in den „Preußischen Jahrbüchern“ statt, deren Spalten Delbrück den Kritikern bereitwillig öffnete. Das weitere Schicksal der Umsturzvorlage ist bekannt: Nachdem es dem Zentrum in der Reichstagskommission gelungen war, die Regierungsvorlage zu „klerikalisieren“ und zu einem Kampfgesetz gegen die pluralistisch-säkulare Moderne umzufunktionieren, scheiterte sie – nicht zuletzt unter dem Eindruck eines von bildungsbürgerlicher Seite entfachten Proteststurms – bereits in der zweiten Lesung des Parlaments (11. 5. 1895)393.
Hans Delbrück, Politische Korrespondenz, in: PJ 80 (1895), S. 183 – 190, hier S. 184 f. Hans Delbrück (1848 – 1929), vom Typus her ein „politischer Professor“, machte sich als Historiker mit militärgeschichtlichen Werken einen Namen. 1882 bis 1885 Mitglied der Freikonservativen im Abgeordnetenhaus, 1884 bis 1890 im Reichstag; seit 1889 alleiniger Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“. Imgrunde einer konservativen Staatsauffassung anhängend, machten ihn die innenpolitischen Verhältnisse des Reiches zum liberalen Kritiker. Im Ersten Weltkrieg Befürworter einer maßvollen Kriegszielpolitik; zu Delbrück: A. Thimme, Hans Delbrück als Kritiker der Wilhelminischen Epoche, Düsseldorf 1955. 391 Aulus Agerius, Der Einfluß der Staatsanwaltschaft in der preußischen Justiz, in: PJ 81 (1895), S. 1 – 29, hier S. 1. 392 Schönstedt, Sten. Ber. RT, 18. 1. 1895, S. 417. 393 Vgl. den Kommissionsbericht (25. 4. 1895), in: Sten. Ber. RT 1894 / 95, Drks. Nr. 273; Einzelheiten bei Mast, S. 77 ff. 390
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II. Die Strafrechtsprechung 1. Die politische Strafrechtsprechung a) Preußen und das Reich Wie bereits erwähnt, wurde die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie (einschließlich der freigewerkschaftlichen Arbeiterbewegung) nach 1890 endgültig zum Brennpunkt der politischen Justiz. Verfahren gegen Sozialdemokraten machten den Löwenanteil der politischen Anklagen aus, was indessen nicht bedeutete, daß nichtsozialistische Kreise unbehelligt blieben. Das vorhandene Zahlenmaterial läßt eine säuberliche Scheidung zwischen den beiden Gruppierungen leider nicht zu. Insgesamt bilden die 90er Jahre den Höhepunkt der Ära der ausdehnenden Rechtsprechung. In diesem Zusammenhang stieg der Vorwurf der Klassenjustiz zum beherrschenden Topos der Justizdebatte auf. Vor allem drei Phänomene waren es, die öffentliches Ärgernis erregten und nachgerade zum Politikum wurden: die Majestätsbeleidigung, der dolus eventualis und der „grobe Unfug“394. 1. Die Zahl der Verfahren wegen Majestätsbeleidigung stieg zunächst weiter kräftig an395. Sieht man vom Ausnahmejahr 1878 ab, so erreichte sie 1894 mit 622 verurteilten Personen bei insgesamt 829 Angeklagten den höchsten Stand im Kaiserreich. Im Vergleich der Jahre 1882 – 87 und 1888 – 96 stieg die durchschnittliche Zahl der Verurteilten im Reich um 32 % (419:552), in Preußen sogar um 47 % (251:368) an. In den letztgenannten Jahren standen pro Werktag im Durchschnitt zwei bis drei Personen wegen Beleidigung Wilhelms II. (die kaiserliche Familie und die übrigen Bundesfürsten fielen nach wie vor kaum ins Gewicht) vor Gericht. Bis zur Jahrhundertwende sanken die Zahlen dann schrittweise. Mit 75,11 % lag die durchschnittliche Verurteilungsquote rund fünf Prozent niedriger als in den 80er Jahren (zum Vergleich: bei allen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze überstieg sie stets deutlich die 80 %-Marke)396. Die Strafzumessung sank nur geringfügig: Nach einer von der „Sächsischen Arbeiterzeitung“ veröffent394 Vgl. L[assa] Oppenheim, Die öffentliche Meinung und die Rechtsprechung, in: Deutsche Revue 23 / 1 (1898), S. 328 – 339. 395 Zum Problemkreis: A. Hall, The Kaiser, the Wilhelmine State and Lèse-Majesté, in: German Life & Letters 27 (1973 / 74), S. 101 – 115 (beschränkt auf die SPD-Presse); ders., Scandal, Sensation and Social Democracy, Cambridge 1977, S. 67 ff. (einseitig aus SPDSicht); zur Presselenkung nach 1890: G. Stöber, Pressepolitik als Notwendigkeit, Stuttgart 2000. 396 Wegen Majestätsbeleidigung (§§ 94 – 101 StGB) abgeurteilte und verurteilte Personen: 1890: 690 / 509; 1891: 694 / 524; 1892: 704 / 525; 1893: 794 / 591; 1894: 829 / 622; 1895: 782 / 598; 1896: 761 / 561; 1897: 582 / 428; 1898: 605 / 466; 1899: 540 / 416; 1900: 384 / 305 (Abgeurteilte: nach den jährlichen Übersichten in der KrSt; Verurteilte: KrSt 1900, II. 7, Übers. 1). Weiterhin die im RJA erstellten Übersichten in: BA, R 3001, Nr. 6157, Bl. 11 ff., 161 ff.; danach betrug die Zahl der in Preußen Verurteilten: 1890: 333; 1891: 362; 1892: 349; 1893: 362; 1894: 424; 1895: 395; 1896: 370 (ebd., Bl. 161).
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lichten Statistik verhängten die Gerichte in den Jahren 1889 bis 1893 wegen Majestätsbeleidigung im ganzen 1.239 Jahre Gefängnis, was für jeden Verurteilten im Durchschnitt 175 Tage, also knapp sechs Monate, bedeutete (1886 – 1890: 188 Tage)397. Genauere offizielle Zahlen liegen erst für die Jahre 1894 – 1901 vor. Sie ergeben ein ähnliches Bild. Danach verteilten sich die wegen Verstoßes gegen die §§ 95 – 97 StGB gegen Erwachsene erkannten Gefängnisstrafen – Festungshaft wurde nur in 1,5 % aller Fälle ausgesprochen – wie folgt: ein Jahr und mehr: 12 %; drei Monate bis ein Jahr: 64 %; ein bis drei Monate: 24 %398. Gemessen am gesetzlichen Strafrahmen (ein resp. zwei Monate bis fünf Jahre Gefängnis oder Festungshaft) fielen die Urteile weiterhin recht milde, im Vergleich zu anderen Straftatbeständen relativ hart aus. Der erneute Anstieg der Majestätsbeleidigungsprozesse – seit den Kaiserattentaten von 1878 ohnehin ein langfristiger Trend – hing aufs engste zusammen mit dem „persönlichen Regiment“ Wilhelms II., also seinem Anspruch auf Selbstregierung („suprema lex regis voluntas“), der bis zur Jahrhundertwende durchaus einige Erfolge verzeichnen konnte399. In diesem Zusammenhang kam den Reden des Kaisers, die erheblichen Einfluß auf die öffentliche Meinung ausübten, den Throninhaber aber auch nachhaltig diskreditierten, zentrale Bedeutung zu. Bekanntlich zeichneten sie sich durch einen aufreizend-arroganten, kraftmeierischen und oftmals verletzenden Ton aus, gegen den sich vielstimmiger Widerspruch erhob, der selbst dann zu einer Anklage wegen Majestätsbeleidigung führen konnte, wenn die Worte mit Bedacht gewählt worden waren (es sei daran erinnert, daß es sich um ein Offizialdelikt handelte, über dessen strafrechtliche Verfolgung allein der Staatsanwalt entschied). Nicht wenige Beobachter sahen in der Entwicklung eine ernsthafte Bedrohung der politischen Meinungsfreiheit. Besonders die Sozialdemokraten hatten immer wieder unter den Herabsetzungen und Verunglimpfungen des Kaisers zu leiden, die – legt man die damals übliche weite Auslegung zugrunde – mehr als einmal den Tatbestand der Beleidigung erfüllten400. Obwohl sich die Partei nach Kräften wehrte, mußte sie sich doch wie ein Angegriffener fühlen, dem die rechten Verteidigungsmittel verwehrt wurden. Der alte Liebknecht brachte das Mißverhältnis auf eine einprägsame Formel: „Persönliches Regiment und Majestätsbeleidigungsgesetz können in einem freien und in einem Verfassungsstaat nicht nebeneinander bestehen“401. Auf der anderen Seite wurde von der Öffentlichkeit aufmerksam registriert, daß der 1893 von ostelbischen Agrariern gegründete Bund der Landwirte bei seiner zügellosen Agita397 Die Ergebnisse der Erhebung, die das Blatt in Ermangelung einer offiziellen Statistik vorgenommen hatte, wurden von zahlreichen Zeitungen nachgedruckt (vgl. etwa VZ v. 22. 12. 1897). 398 Zahlen nach: KrSt 1901, I. 58. 399 Die wichtigste Literatur ist verzeichnet im vorigen Kapitel, Anm. 363. 400 Beispiele in: W. Schröder (Hg.), Das persönliche Regiment, München 1912. 401 Liebknecht, Sten. Ber. RT, 12. 5. 1897, S. 5880.
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tion gegen die Caprivische Handels- und Zollpolitik auch vor Angriffen auf den Kaiser nicht zurückschreckte, Anklagen nach § 95 StGB aber bis auf wenige Ausnahmen unterblieben. Erschwerend kam hinzu, daß für das Problem der Denunziation immer noch keine befriedigende Lösung gefunden worden war. Im Reichstag kam das Thema erstmals im Dezember 1895 im Rahmen der allgemeinen Haushaltsdebatte zur Sprache. Den Anlaß bildeten eine Reihe von Urteilen gegen SPD-Blätter, die sich abfällig über die Sedanfeiern zum 25jährigen Jahrestag des Sieges über die Franzosen geäußert hatten, insbesondere den nationalistischen Überschwang, der zumeist mit wüsten Ausfällen gegen die Sozialdemokratie einhergegangen war. Den Tenor hatte wieder einmal Wilhelm II. vorgegeben, der in seiner Rede die Sozialdemokraten als „hochverräterische Schar“ und „eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen“, bezeichnete402. Der Abgeordnete Haußmann (DVP) sprach von „Tendenzprozessen gegen eine Partei“, die sich „in den Augen breiter Schichten als eine Klassenjustiz“ gekennzeichnet habe403. Bebel führte Klage darüber, daß die Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie mittlerweile regelmäßig einen Strafverschärfungsgrund darstelle. Tendenzprozesse, so Bebel weiter, die auf die politische Meinung abzielten, seien „heute zum System und zu einer allgemeinen Kalamität“ geworden404. Bemerkenswert sind die Einlassungen Schönstedts: Auch der preußische Justizminister sah in der Zunahme der Prozesse eine „bedauerliche Tatsache“. Er differenzierte zwischen „unüberlegt hingeworfenen Äußerungen vielfach ungebildeter Leute“, die besser nicht zur Kenntnis der Behörden gelangen würden, und sorgfältig abgewogenen Stellungnahmen, deren Zweck es gerade sei, die intendierte Majestätsbeleidigung zu kaschieren; letztere müßten vom Staatsanwalt deshalb umso genauer geprüft werden (daß bei einem solchen Vorgehen die begrifflichen Grenzen des Tatbestandes leicht immer weiter hinausgeschoben wurden, sei nur am Rande bemerkt). Im übrigen wies Schönstedt darauf hin, daß gerade bei Majestätsbeleidigungen das Allerhöchste Gnadenrecht in weitem Umfange zur Anwendung käme. Beim Versuch, die unterschiedliche Urteilspraxis zu rechtfertigen, fiel dann ein Wort, das dem Minister fortan wie ein Etikett anhaftete: „Nun ist es ein alter Grundsatz in der Rechtsprechung und in der Rechtswissenschaft: si duo faciunt idem, non est idem – wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe. Es kann deshalb etwas in dem Munde des einen eine ganz andere Bedeutung haben als in dem Munde eines anderen, und es ist gewiß nicht ausgeschlossen, daß man bei der Interpretation der Worte eines Mannes fragt: was ist denn die Tendenz 402 Auszüge aus den SPD-Kommentaren in: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender, N. F. 11 (1895), S. 176 f., 179 f. („Mordspatriotismus“); die Kaiserrede zit. n. Röhl, Wilhelm II., S. 788; allgemein zum Sedantag im Kaiserreich: U. Schneider, Einheit ohne Einigkeit, in: S. Behrenbeck (Hg.), Inszenierungen des Nationalstaats, Köln 2000, S. 27 – 44. 403 Haußmann, Sten. Ber. RT, 12. 12. 1895, S. 89 / 90 („Die Justiz hat keine Binde mehr vor den Augen, und sie sieht nach den Personen“); ähnlich Barth (Freisinn), ebd., 11. 12. 1895, S. 76 (Prozesse in „tendenziöser Weise“ in Bewegung gesetzt). 404 Bebel, Sten. Ber. RT, 12. 12. 1895, S. 93 ff. (Zitat S. 95).
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dieses Mannes, wohin strebt er, worauf will er hinaus?“405. Auch wenn der Satz theoretisch einiges für sich haben mochte, so konnte er in der konkreten Situation kaum anders denn als Eingeständnis einer parteiischen, weil personenabhängigen Rechtsprechung verstanden werden. Faktisch hatte Schönstedt seine Beteuerung, in Deutschland gäbe es keine „tendenziöse Justiz“, damit selbst dementiert. Von der sozialdemokratischen Presse wurde das Wort selbstverständlich sofort aufgegriffen und im Sinne einer Freudschen Fehlleistung als zwar ungewollte, dafür aber umso ehrlichere Absage an den Grundsatz der Rechtsgleichheit interpretiert406. Die Kontroverse vom 12. 12. 1895 ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Sie stellt die erste Reichstagsdebatte zum Thema „Klassenjustiz“ dar, wobei das Problem der Majestätsbeleidigungsprozesse den Anstoß gab; und sie entwickelte sich, ohne von sozialdemokratischer Seite angestoßen worden zu sein, aus der allgemeinen Aussprache über den Haushalt heraus, bereits damals der parlamentarische Ort, an dem die gesamte Regierungspolitik kritisch unter die Lupe genommen wurde. So gesehen bildet sie das Komplementärstück zur Beratung der Umsturzvorlage, die zu Beginn desselben Jahres stattgefunden hatte. Die Debatte behielt ihren Ehrenplatz im sozialdemokratischen Gedächtnis: Noch Jahre später sprach Karl Liebknecht von einer „denkwürdigen Reichstagssitzung“407. Ausführlich beschäftigte sich der Reichstag mit dem Problem der Majestätsbeleidigung im Mai 1897 bei Gelegenheit eines von Auer eingebrachten Gesetzentwurfs, der die Aufhebung der §§ 95, 97, 99, 101 und 103 StGB bezweckte408. Obwohl Sprecher des Zentrums, der Nationalliberalen und der beiden freisinnigen Parteien die Reformbedürftigkeit der Gesetzeslage anerkannten und eine Reihe von Änderungen vorschlugen (Umwandlung in ein Antragsdelikt, vorherige Ermächtigung durch den Reichskanzler oder den Justizminister, Herabsetzung des Strafminimums und der Verjährungsfrist, Einschränkung auf öffentlich begangene Majestätsbeleidigungen, Ausdehnung des die „Wahrung berechtigter Interessen“ regelnden § 193 StGB), weigerte sich die Mehrheit, den Entwurf an eine Kommis405 Ebd., S. 92 f., 97 f. (Zitate S. 92 und S. 97). Vor seiner Ernennung zum preußischen Justizminister verfügte Schönstedt über keinerlei politische Erfahrung. Dies mag seinen Mangel an taktischem Geschick, den er nicht nur hier bewies, erklären. 406 Siehe: Franz Mehring, Si duo faciunt idem . . . , in: Neue Zeit 14 / 1 (1895 / 96), S. 385 – 388. In der Tat war Schönstedt bei der Wahl seines Zitats schlecht beraten: Das Wort entstammte, wie Mehring nachwies, einer Komödie des Terenz und sollte gerade die ungleiche Rechtsbehandlung im republikanischen Rom anprangern. 407 Karl Liebknecht, Zum Kaiserinselprozeß, in: Neue Zeit 22 / 1 (1903 / 04), S. 129 – 134, hier S. 131 (auch in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin (Ost) 1958, S. 37 – 45 sowie in Joseph, S. 316 – 325). 408 Siehe: Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 49 (Gesetzentwurf Auer) und ebd., 12. 5. 1897, S. 5859 – 5881 (Debatte). Dazu: S. Heckscher, Zur Einschränkung der Majestätsbeleidigungsprozesse, in: Nation 15 (1897 / 98), S. 109 – 111 (für Begrenzung auf öffentlich begangene Beleidigungen); Siegfried Heckscher (1870 – 1929), RA in Hamburg, war 1907 – 1918 MdR (zunächst FsVP, dann FVP).
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sion zu überweisen. Damit fand die Aussprache ihr Ende. Der Grund lag in der fehlenden Bereitschaft der bürgerlichen Parteien, sich einer Initiative der Sozialdemokraten anzuschließen, zumal in dieser hochsensiblen Materie. Immerhin beraubte man sich damit der Chance, dem Entwurf in der Kommission eine mehrheitsfähige Fassung zu verleihen. Die SPD wiederholte ihren Antrag zu Beginn jeder Session, er gelangte jedoch nicht noch einmal auf die Tagesordnung des Parlaments, ein Beispiel für die politische Blockade, die durch die klassenspezifische Scheidung der Parteien ausgelöst worden war. Besagte Reichstagsdebatte nahm der Schriftsteller und Journalist Leo Berg (1862 – 1908) zum Anlaß, eine Umfrage „über die Zulässigkeit und die Grenzen der Majestätsbeleidigung als Strafbegriff im modernen Staatsleben“ zu veranstalten, deren Ergebnisse er zur Jahreswende 1897 / 98 auszugsweise in drei Zeitschriften veröffentlichte409. Die Befragten, allesamt Kulturträger in der damals weitgefaßten Bedeutung des Wortes, entstammten geisteswissenschaftlichen, juristischen, schriftstellerischen, technischen, publizistischen und politischen Kreisen410. Entsprechend unterschiedlich fielen die Antworten in Stil, Standpunkt und Begründung aus. Etwa die Waage hielten sich die Stimmen, die für und wider einen speziellen strafrechtlichen Schutz des Staatsoberhaupts votierten. Die Vorschrift stelle, so seine Gegner, ein Relikt vergangener Epochen dar und verweise auf Defizite im konstitutionellen Aufbau des Reiches. Weitgehend einig war man sich indes im Urteil über die gegenwärtige Rechtspraxis: Sie untergrabe das Ansehen der Monarchie, verletze das Rechtsgefühl des Volkes und wirke – durch Begünstigung des Denunziantenunwesens und Erzeugung eines Zwangs zu indirekter Sprechweise – allgemein korrumpierend. Ernst Wichert, altgedienter Kammergerichtsrat, bemängelte, die juristische Auslegung habe „entschieden zu sehr die Neigung, das Moment der Nichtachtung zuzuspitzen und von der Frage der Schädigung des Gemeinwohls abzusehen“411. Als Abhilfe wurde vorgeschlagen, die Strafverfolgung vom Antrag des Verletzten oder einer ministeriellen Ermächtigung abhängig zu machen, kurze Verjährungsfristen für mündliche Beleidigungen einzuführen, private Äußerungen weitgehend auszuschließen und die Entscheidung Volksgerichten zu übertragen. Sieht man genauer hin, so stellt sich die Debatte als Spiegelbild dessen dar, was sie moniert: Die Kritik am „persönlichen Regiment“ Wilhelms II. und dessen Fol409 Siehe: Majestätbeleidigung, in: Die Zukunft 21 (1897), S. 449 – 454; Majestätsbeleidigung, in: Die Gesellschaft 14 / 1 (1898), S. 296 – 301; Eine Umfrage über die Majestätsbeleidigung, in: Die Gegenwart 53 (1898), S. 6 – 9; letztgenannte Antworten auszugsweise auch in der „Vossischen Zeitung“ v. 8. 1. 1898 (abends), archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49606. 410 Zu den Befragten gehörten u. a. die Juristen Ernst Wichert, Paul Laband, Wilhelm Kulemann und Ludwig v. Bar, die Publizisten Hellmut v. Gerlach, Paul Förster und Wilhelm Hübbe-Schleiden, die Schriftsteller Friedrich Spielhagen und Michael Georg Conrad, der Philosoph Theobald Ziegler, der Historiker Arthur Kleinschmidt, der Altertumsforscher Wilhelm Ihne und der Sozialdemokrat Karl Kautsky. 411 Umfrage, S. 6.
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gen wurde stets nur indirekt, dafür aber teilweise umso aggressiver formuliert. Am offensten sprach sich Paul Förster, 1893 – 1898 fraktionsloses Mitglied des Reichstags, aus. Er erinnerte daran, daß die „Crimina laesae majestatis regis“ stets in demselben Maße zunehmen würden wie die „Crimina laesae majestatis populi“, und fuhr dann fort: „Eine gute Staatsverfassung, dazu eine verfassungsmäßige Innehaltung der Grenzen der unverantwortlichen Majestät, diese beiden sind die Bedingungen für das Sinken der sogenannten Majestätsbeleidigungen. Diese Beleidigungen streng ahnden, das ist noch keine Heilung der inneren Krankheiten, deren Symptome sie sind, und erscheint ohne die Abstellung der Ursachen als politische Kurpfuscherei und geistiges Armutszeugnis“412. Unter den Juristen bestand Einigkeit darüber, daß die Rechtspraxis – dies meint die zitierte Äußerung Wicherts – die „Ehrfurchtsverletzung“ des früheren preußischen Strafrechts, von den Liberalen bei Beratung des Reichsstrafgesetzbuchs mit Bedacht durch den gemeinrechtlichen Begriff der „Beleidigung“ ersetzt, unter der Hand wieder eingeführt hatte413. Zudem wurde es in Preußen Usus, bei Majestätsbeleidigungsprozessen die Öffentlichkeit auszuschließen, bestand doch die Gefahr, daß den Kaiser kompromittierende Tatsachen zur Sprache kamen414. Die Aufforderung Schellings an die Staatsanwälte, verstärkt auf Ausschluß des Publikums zu drängen, zeitigte also durchaus die gewünschte Wirkung. Immer wieder fand der Majestätsbeleidigungsparagraph auch auf bürgerliche Publizisten Anwendung, was böse Zungen zu der Behauptung verleitete, es handele sich lediglich um Alibianklagen, um dem Vorwurf, die Justiz sei „auf einem Auge blind“, begegnen zu können. Einige prominente Fälle seien kurz skizziert: Maximilian Harden, Herausgeber der „Zukunft“, der einflußreichsten politischen Zeitschrift der Wilhelminischen Epoche, und so etwas wie der „Augstein jener Jahre“ (Nipperdey), stand wiederholte Male wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht, was insofern einer gewissen Zwangsläufigkeit entsprach, als der Kampf gegen das „persönliche Regiment“ und dessen desaströse Folgen immer mehr zum politischen Hauptthema seiner publizistischen Tätigkeit wurde. Hatte ein erstes Verfahren vor dem Landgericht I in Berlin im April 1893 noch mit Freispruch geendet, wurde Harden im April 1898 zunächst von einem Münchener Schöffengericht wegen „groben Unfugs“ (begangen in einem Aufsatz über den geisteskranken König Otto von Bayern) zu vierzehn Tagen Gefängnis, dann Anfang 1899 vom Berliner Landgericht zu sechseinhalb Monaten Festungshaft (wegen Beleidigung des Kaisers) verurteilt. Im Oktober 1900 folgten weitere sechs Monate Festungshaft, nachdem Harden die berüchtigte „Hunnenrede“ Wilhelms II. zum Anlaß genommen hatte, die kaiserliche Politik einer Generalkritik zu unterzieEbd., S. 8. Etwa: Otto Mittelstädt, Strafjustiz und Politik, in: Die Zukunft 19 (1897), S. 390 – 401, hier S. 395 f.; Ludwig Fuld, Majestätsbeleidigung, in: Neue Deutsche Rundschau 9 / 1 (1898), S. 223 – 227, hier S. 224; Seuffert, zit. bei Oppenheim, S. 332. 414 Vgl. Mittelstädt, Strafjustiz und Politik, S. 400. 412 413
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hen415. Der wohl spektakulärste Fall betraf 1898 den berühmten, in München beheimateten „Simplicissimus“. Eine Karikatur von Thomas Theodor Heine und ein Spottgedicht von Frank Wedekind, die bevorstehende Orientreise Wilhelms II. persiflierend, beantwortete der Staatsanwalt in Leipzig (damals Druckort des Blattes) mit einer Anklage wegen Majestätsbeleidigung. Während sich Albert Langen, der verantwortliche Redakteur, dem Prozeß durch Flucht ins Ausland entzog, wo er bis zur Niederschlagung des Verfahrens 1903 im „Exil“ blieb, verhängte die Leipziger Strafkammer über Heine sechs, über Wedekind sieben Monate Gefängnis, die der sächsische König in Festungshaft umwandelte416. Auch Johannes Trojan, Chefredakteur des politisch wie künstlerisch weit konservativeren „Kladderadatsch“, verbüßte 1898 eine zweimonatige Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung, ausgesprochen von der Strafkammer des Berliner Landgerichts417. Dasselbe Schicksal widerfuhr dem Publizisten Friedrich Wilhelm Foerster, Herausgeber der anspruchsvollen, für sozial-ethische Reformen werbenden Wochenschrift „Ethische Kultur“, der im November 1895 wegen seiner kritischen Kommentierung der oben erwähnten Kaiserrede zum Sedanjubiläum zu dreimonatiger Festungshaft verurteilt wurde (der Antrag des Staatsanwalts hatte auf neun Monate Gefängnis gelautet)418. Nicht vergessen werden sollte schließlich der Historiker Ludwig Quidde, politisch in der DVP beheimatet und nach der Jahrhundertwende die führende Persönlichkeit der deutschen Friedensbewegung, über den ein Münchener Gericht 1896 drei Monate Gefängnis wegen Majestätsbeleidigung verhängte. Offiziell galten diese einigen unbedachten Schlußworten einer Rede über den „Byzantinismus“ des deutschen Bürgertums, die Quidde auf einer sozialdemokratischen Versammlung gehalten hatte, in Wirklichkeit jedoch handelte es sich um die verspätete „Rache“ für sein berühmtes, ungemein erfolgreiches Pamphlet „Caligula“, einer beißenden, historisch geschickt drappierten Satire auf Wilhelm II., das zwei Jahre zuvor auf den Markt gekommen war und, entgegen der sicheren Erwartung des Autors, keine unmittelbaren strafrechtlichen Konsequenzen nach sich gezogen hatte419. 415 Einzelheiten bei: B. U. Weller, Maximilian Harden und die „Zukunft“, Bremen 1970, S. 107 – 116; weiterhin: H. D. Hellige (Hg.), Walther Rathenau – Maximilian Harden. Briefwechsel 1897 – 1920, München 1983, S. 314 f., 320 f. 416 Vgl. H. Abret / A. Keel (Hg.), Die Majestätsbeleidigungsaffäre des „Simplicissimus“Verlegers Albert Langen, Frankfurt / M. 1985; A. Taylor Allen, Satire and Society in Wilhelmine Germany, Kentucky 1984, S. 39 ff. 417 Vgl. Ludwig Fuld, Majestätsbeleidigung, in: Neue Deutsche Rundschau 9 / 1 (1898), S. 223 – 227; Theodor Barth, Der Majestätsbeleidigungsprozeß des „Kladderadatsch“, in: Nation 15 (1897 / 98), S. 253; Allen, S. 33 f.; Sammlung von Pressestimmen in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49817. 418 Schilderung mit interessanten Details in: Fr. W. Foerster, Erlebte Weltgeschichte, Nürnberg 1953, S. 114 – 117; weiterhin: Fr. Staudinger, Verurteilungen, in: Ethische Kultur 4 (1896), S. 109. Friedrich Wilhelm Foerster (1869 – 1966) war, ausgehend von einer tiefempfundenen Religiösität, ein entschiedener Gegner der preußisch-deutschen Politik, insbesondere des zunehmenden Nationalismus und Militarismus. Seine zahlreichen Schriften beschäftigen sich mit religiösen, pädagogischen und politischen Themen.
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Wie die Beispiele belegen, wurden – prominente – bürgerliche Angeklagte in der Regel zu Festungshaft verurteilt, einer Strafart, die im Gegensatz zur Gefängnisstrafe als ehrenhaft galt (custodia honesta). Sie fand überhaupt nur in verschwindend geringem Maße Anwendung, Sozialdemokraten kamen praktisch nie in ihren „Genuß“420. Andererseits verfehlten Revisionen an das Reichsgericht, das die Normen für Majestätsbeleidigung ja noch einmal heraufgesetzt hatte, fast immer ihr Ziel. Mochte die Strafverfolgung einzelne Verurteilte auch hart treffen, so war sie als Werkzeug zur Repression der Presse völlig untauglich. Ganz im Gegenteil: Für den kommerziellen Erfolg eines Blattes erwies sich eine Majestätsbeleidigungsaffäre meist als außerordentlich förderlich, was, wie etwa im Falle Langens, den Verdacht aufkommen ließ, die Anklage bewußt provoziert zu haben. Eine behördliche Reaktion erfolgte erstaunlich früh. Bereits im März 1892 wies Schelling die preußischen Staatsanwälte an, im Falle von Majestätsbeleidigungen, die durch die Presse begangen worden seien, vor Erhebung der öffentlichen Klage einen Bericht unter kurzer Darlegung des Sachverhalts zu erstatten. Über die ministeriellen Motive schweigt sich das knapp gefaßte Reskript aus. Man dürfte aber nicht fehl in der Annahme gehen, daß die seit Ende der 80er Jahre wachsende Freisprechungsquote den Anlaß abgab, worauf auch der Zusatz hindeutet, die Anzeige habe zu unterbleiben, falls der vermittelnde Oberstaatsanwalt die Einstellung des Verfahrens anordne421. Die Frage, ob die steigenden Prozeßzahlen ohne die Schellingsche Verfügung noch höher ausgefallen wären, läßt sich naturgemäß nicht beantworten. Nach längerem Abwarten entschloß sich schließlich auch Schönstedt zum Eingreifen. Nachdem er sich Ende 1899 / Anfang 1900 umfangreiches statistisches Material hatte vorlegen lassen, stellte er in einer Rundverfügung vom Februar 1900 Grundsätze für die Behandlung von Majestätsbeleidigungen auf. Stein des Anstoßes war die relativ hohe Freisprechungsquote: „Die Erhebung von Anklagen wegen Majestätsbeleidigung in Fällen, bei denen nicht mit ziemlicher Sicherheit auf eine Verurteilung gerechnet werden kann, entspricht nicht dem Ansehen der Krone und dient nicht zur Erhöhung des Ansehens der Justizbehörden. Es erscheint zweifelhaft, ob dieser Gesichtspunkt bei den Entschließungen der Staatsanwaltschaft immer die genügende Würdigung gefunden hat“422. Deshalb habe die 419 Im einzelnen hierzu: Ludwig Quidde, Erinnerungen, in: Caligula, 31. Aufl., Berlin 1926, S. 21 – 63, hier S. 32 – 36 / 43 – 53 (wiederabgedr. in: ders., Caligula, m. e. Einl. hg. v. H.-U. Wehler, Frankfurt / M. 1977, S. 19 – 60, hier S. 28 – 32 / 40 – 50). 420 Daß auch Festungshaft für sensible Charaktere eine harte Probe darstellen konnte, belegen die Briefe, die Harden aus der Festung Weichselmünde bei Danzig, wo er von Mai bis Dezember 1899 einsaß, an Rathenau schrieb. Am 22. 6. klagte er: „Es erdrückt mich. Schmutz, Enge, Unfreiheit, Unteroffiziersphäre . . . Kalt ist’s hier auch. Und so dunkel!“ (Hellige, S. 324). Ganz anders die Schilderung bei Foerster, S. 116 f., der seine Strafe ebenfalls in Weichselmünde verbüßte. 421 RV an die Staatsanwälte v. 7. 3. 1892, in: BA, R 3001, Nr. 6157, Bl. 267; vgl. auch Vossische Zeitung v. 23. 3. 1892; Munckel, Sten. Ber. RT, 12. 5. 1897, S. 5875.
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Staatsanwaltschaft sorgfältig zu prüfen, ob die Strafanzeige möglicherweise auf „unlauteren Beweggründen“ beruhe und ob dem Beschuldigten der majestätsbeleidigende Charakter seiner Äußerungen überhaupt zu Bewußtsein gekommen sei. In zweifelhaften Fällen sollte die Anklage nicht allein aufgrund polizeilicher Ermittlungen, sondern erst dann erhoben werden, wenn die Tatumstände nach richterlichen Vernehmungen hinreichend geklärt seien. Wie unschwer zu erkennen, zielte das Reskript auf das Denunziantenunwesen ab, während echte politische Majestätsbeleidigungen unberührt blieben. Es belegt den Übereifer vieler Staatsanwälte und verweist das in der öffentlichen Diskussion immer wieder zu hörende Argument, die Doppelung von Legalitätsprinzip und Offizialdelikt würde die Staatsanwaltschaft rechtlich dazu verpflichten, jede ihr zu Ohren kommende Äußerung zur Anklage zu bringen, ins Reich der Legende. Der Erfolg der Verfügung zeigte sich umgehend: Im Jahr 1900 sank die Zahl der angeklagten Personen noch einmal deutlich auf weniger als 400 ab. Damit war das Problem der Majestätsbeleidigung entschärft, wenn auch noch nicht beseitigt. 2. In welchem Maße juristische Fachfragen zu öffentlichen Themen avancierten, zeigte sich wohl nirgends deutlicher als bei der Rechtsfigur des dolus eventualis. Anders gesagt: Die dicken Wände, die juristisches Expertentum und laienhaftes Publikum bislang voneinander getrennt hatten, wurden zunehmend poröser. Die Lehre vom Vorsatz (dolus) unterschied seit langem zwischen dem dolus directus, der sich auf den unmittelbar beabsichtigten Erfolg einer strafbaren Handlung bezog, und dem dolus eventualis (dolus indirectus), der die eigentlich ungewollten, aber billigend in Kauf genommenen Neben- und Folgewirkungen einer verbotenen Handlung umfaßte (eventueller Vorsatz). Als gängiges Beispiel diente der anarchistische Bombenwerfer, der, um sein Opfer zu treffen, nicht davor zurückschreckte, Unbeteiligte zu verletzen oder mit in den Tod zu reißen. Aus strafrechtlicher Sicht stellte dieser „Erfolg“ seiner Handlung nicht fahrlässige, sondern vorsätzliche Körperverletzung oder Tötung dar423. Bereits 1890 hatte Otto Mittelstädt darauf aufmerksam gemacht, daß der dolus eventualis im Laufe der Zeit eine immer extensivere Anwendung gefunden habe. Auch hier sei als Folge eine Auflösung begrifflicher Grenzen eingetreten: „Der ganze fundamentale Unterschied zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit ist bis zur absoluten Unkenntlichkeit verwischt. Wollen und Nichtwollen, Wissen und Nichtwissen fluten hier breiartig durcheinander“424. Das Phänomen lasse sich auf verschiedenen Gebieten beobachten, am schlimmsten stünde die Sache bei den – privaten und politischen – Injurien. Mit anderen Worten: Ähnlich wie beim „groben Unfug“ hatte eine sukzessive Ausdehnung des Tatbestandes stattgefunden, deren Spitze sich gegen politische Vergehen richtete. RV an die Oberstaatsanwälte v. 28. 2. 1900, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 201 f. Vgl. die ausführliche Erläuterung des Eventualdolus durch Hamm (Oberreichsanwalt), in: Verh. d. 24. DJT, Bd. 4, Berlin 1898, S. 271 ff. 424 Mittelstädt, Auslegung, S. 15. 422 423
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In den Folgejahren setzte sich die Entwicklung verstärkt fort. Traurige Berühmtheit erlangte das Konstrukt durch den Prozeß gegen Wilhelm Liebknecht, der von der Ersten Strafkammer des Landgerichts Breslau am 14. 11. 1895 wegen Majestätsbeleidigung zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde (der Staatsanwalt hatte ein Jahr Gefängnis und Aberkennung des Reichstagsmandats gefordert). Anlaß war eine Äußerung Liebknechts, die er in seiner Eröffnungsrede auf dem SPDParteitag in Breslau gemacht hatte (6. 10. 1895)425. In seiner Urteilsbegründung konstatierte das Gericht, daß der Angeklagte den Kaiser – den Liebknecht mit keinem Wort erwähnt hatte – zwar nicht direkt beleidigen wollte und seine Worte sogar bewußt vorsichtig gewählt habe, um eine Majestätsbeleidigung zu vermeiden. Aber er habe mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß das Publikum seine Äußerung als auf den Kaiser gemünzt auffassen könnte und auch würde, folglich liege dolus eventualis und indirekte Majestätsbeleidigung vor. Urteil und Begründung stießen in der linksbürgerlichen Presse (bei der sozialdemokratischen verstand sich dies von selbst) auf entschiedene Ablehnung, aber auch nationalliberale Blätter verhehlten ihre Zweifel nicht. Die „National-Zeitung“ stellte fest: „Gleich anderen juristischen Begriffen kann auch dieser [der dolus eventualis] durch Exzesse des Scharfsinns, wie sie in den letzten Jahren häufig gerügt werden mußten, entstellt und mißbraucht werden“426. Nachdem das Reichsgericht die Revision verworfen hatte (12. 10. 1897), mußte Liebknecht, mittlerweile fast 72 Jahre alt, im Dezember 1897 seine letzte Gefängnisstrafe antreten. Auch wenn sich die Argumentation des Gerichts angesichts des Kontextes, in dem die inkriminierte Äußerung fiel, nicht gänzlich von der Hand weisen ließ, so dokumentiert das Urteil doch den Widersinn des Eventualdolus bei politischen Anklagen. Es widerspricht der Eigenart gesprochener oder geschriebener Texte diametral, den Redner / Autor für alle nur erdenklichen Wirkungen seiner Worte verantwortlich machen zu wollen. Zugleich wird seine Funktion gerade bei Majestätsbeleidigungen sichtbar: Hatte bereits die verschärfte Strafverfolgung einen Zwang zu indirekter Sprechweise hervorgerufen, so wollte man nun auch noch diese strafrechtlich einfangen. Entsprechend aggressiver wurden die Proteste. Im Rahmen der Reichstagsdebatte über den Auerschen Antrag sprach der Zentrumsführer Ernst 425 Zum Urteil: Vossische Zeitung v. 16. 11. 1895, morgens („Indirekte Majestätsbeleidigung“), archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49687. In ihrer Abendausgabe wandte sich die „Vossische“ gegen Kommentare, die das Urteil juristisch zwar für bedenklich, politisch aber für opportun erklärten, da sich die Sozialdemokraten ja auch nicht um Recht und Gesetz scheren würden („Principiis obsta!“). Liebknecht hatte gesagt: „Man beleidigt die Sozialdemokratie und hat ihr den Fehdehandschuh hingeworfen zum Kampf auf Leben und Tod. Wohlan, was die Beleidigungen unserer Partei betrifft – sie berühren uns nicht. Was die Verleumdungen betrifft, mit denen wir überschüttet werden, so stehen wir zu hoch, als daß Kotwürfe an uns hinanreichen könnten“ (Protokoll des Parteitags zu Breslau 1895, S. 68); den Zeitungsmeldungen zufolge hatte Liebknecht von „Kotwürfen – kommen sie, woher sie wollen“, gesprochen. 426 NZ v. 29. 11. 1895, archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49687; weiterhin: Justus Clemens, Strafrecht und Politik, Berlin 1898, S. 38 ff.
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Lieber davon, der dolus eventualis habe „kaum irgendwo größere Verwüstungen in juristischen Köpfen angerichtet [ . . . ] als auf dem Gebiete der Majestätsbeleidigung“427. In seiner Antwort auf die Bergsche Umfrage stellte Paul Förster fest, daß „je nach Person und Partei der dolus eventualis als deus ex machina sich einstellt, mit dem alles gemacht werden kann, was weniger vom Standpunkte des Rechtes als von dem der Politik aus notwendig erscheint“428. Die öffentliche Kritik veranlaßte die ständige Deputation des Deutschen Juristentages, das Thema auf die Tagesordnung der 24. Vollversammlung zu setzen, die vom 12. bis 14. September 1898 in Posen stattfand. War schon dies ein Zeichen der Zeit, so ist die Art und Weise, wie das Thema auf dem Juristentag behandelt wurde, noch weit aussagekräftiger. Zu Gutachtern waren Franz v. Liszt, damals Professor in Halle, und der Reichsgerichtsrat Melchior Stenglein bestellt worden. Liszt hielt die Klagen über den dolus eventualis, der für ihn als Rechtsbegriff unentbehrlich war, für berechtigt. Den Sitz des Übels verortete er nicht in der Wissenschaft, für die er eine weitgehende Übereinstimmung in den Auffassungen konstatierte, sondern in der Judikatur der Gerichte: „Nicht der wissenschaftliche Begriff des dolus eventualis trägt die Schuld, wenn derartige Urteile das Rechtsbewußtsein des Volkes in seinen tiefsten Tiefen erregen und erbittern: sondern eine Rechtsprechung, der die wissenschaftliche Vertiefung fehlt“429. Zum einen leide die Rechtsprechung – hier beruft sich Liszt ausdrücklich auf Mittelstädt – an einer Verwechselung von eventuellem Vorsatz und Fahrlässigkeit. Viele Urteile würden auf einer fehlerhaften Schlußfolgerung beruhen, die das entscheidende Kriterium des dolus eventualis, nämlich die positive Einwilligung des Täters in den voraussehbaren Nebenerfolg seiner Handlung, einfach unterschlage: „Man schließt: Der Angeklagte hat den Erfolg voraussehen müssen; folglich hat er ihn vorausgesehen und daher eventuell gewollt“430. Zum anderen liege eine mißverständliche Auslegung des § 59 StGB vor, wonach dem Täter Tatumstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehörten oder die Strafbarkeit erhöhten, nicht zugerechnet werden durften, sofern diese ihm zum Zeitpunkt der strafbaren Handlung unbekannt waren. Als Folge sei eine Verwirrung in der Rechtsprechung eingetreten, wie Liszt anhand zahlreicher widersprüchlicher Entscheidungen des Reichsgerichts nachweist. Als prominente Beispiele geht er auf die Fälle Bading und Liebknecht ein431. Liszts Lieber, Sten. Ber. RT, 12. 5. 1897, S. 5869; vgl. auch Bebel, ebd., S. 5861. Umfrage, S. 8. 429 Franz v. Liszt, Gutachten über die Frage: Die Behandlung des dolus eventualis im Strafrecht und Strafproceß, in: Verh. d. 24. DJT, Bd. 1, Berlin 1897, S. 107 – 133, hier S. 127. 430 Ebd., S. 123. Ebenso Mittelstädt: „Delinquent mußte sich des eingetretenen Ereignisses mindestens als eines möglichen Erfolgs seines Handelns bewußt sein, folglich handelte er vorsätzlich“ (Auslegung, S. 15). 431 Der Buchdruckereibesitzer Max Bading war von der 8. Strafkammer des LG I Berlin am 18. 5. 1895 wegen Vergehens gegen § 130 StGB, begangen in einem von ihm gedruckten Flugblatt, zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden; die Begründung lautete ganz ähnlich wie bei Liebknecht. 427 428
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Darlegungen münden in den Antrag, der Juristentag solle eine grundsätzliche Stellungnahme der vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts zur Frage des dolus eventualis für dringend erwünscht erklären. In größtem Gegensatz hierzu stand das Parallelgutachten aus der Feder von Reichsgerichtsrat Stenglein432. Der Autor hält die „ohnehin nervös erregte“ öffentliche Meinung für „irregeführt“, bedingt durch „systematische Agitation und Verhetzung“, zumindest aber Unwissenheit und Mißverständnisse, „welche so leicht eintreten, wenn juridische Laien sich mit juridischen Begriffen befassen zu können glauben“433. Mit besonderer Verve bekämpft er die in der Presse wiederholt aufgestellte Behauptung, der Eventualdolus sei eine Erfindung des Reichsgerichts, um strafwürdige Handlungen strenger ahnden zu können. Ebensowenig zeige die praktische Anwendung irgendwelche Unzuträglicheiten, was Stenglein anhand einer Reihe von Reichsgerichtsentscheidungen zu belegen versucht. Von daher solle der Juristentag, so sein Antrag, beschließen, es liege keine Veranlassung vor, den Begriff des dolus eventualis anders zu behandeln als bisher. Mit seinem Gutachten brachte Stenglein die Haltung seiner Standesgenossen auf den Punkt. Als der Gegenstand in der dritten Abteilung des Juristentages zur Sprache kam, konnte der Berichterstatter, Oberreichsanwalt Hamm, die Aufgabe der Versammlung lediglich darin erblicken, eine „Verteidigung der Gerichte“ vorzunehmen. Dies geschehe am besten dadurch, daß man die gleichmäßige Verwendung des Begriffs in Wissenschaft und Rechtsprechung, namentlich des Reichsgerichts, feststelle und den Grundsatz selbst näher erläutere, um das entstandene Mißtrauen zu zerstreuen434. Der Berichterstatter und die anschließenden Redner wischten die von Liszt vorgebrachten Monita, wenn diese überhaupt einer Erwähnung für würdig befunden wurden, mit leichter Hand vom Tisch. Eine Diskussion im Plenum hielt man für überflüssig. Als Hamm die Beschlüsse, die nichts weiter als eine populäre Umschreibung des Rechtsbegriffs darstellten, dem Plenum mitteilte, konnte er befriedigt feststellen, daß die Ausschußberatung „sehr friedlich“ verlaufen sei und „nur sehr kurze Zeit“ in Anspruch genommen habe435. Die Selbstgewißheit, ja Arroganz, mit der der Juristentag über die auch von fachlicher Seite vorgebrachten Mängel hinwegging, sollte die standespolitische Reaktion auf die öffentlichen Angriffe gegen die Justiz für die nächsten Jahre prägen. Im Duktus vielleicht nicht von jedermann gutgeheißen, spiegelte das Stengleinsche Gutachten doch die Einstellung der überwältigenden Mehrheit der Juristenschaft wider: Die von außen herangetragene Kritik wurde als ungebührlicher Eingriff in die ureigene Sphäre aufgefaßt, zur Abwehr zog man sich auf ein vermeintliches 432 Stenglein, Gutachten über die Frage: Die Behandlung des dolus eventualis im Strafrecht und Strafproceß, in: Verh. d. 24. DJT, Bd. 1, Berlin 1897, S. 90 – 106. 433 Zitate ebd., S. 97, 90, 104. 434 Hamm, in: Verh. d. 24. DJT, Bd. 4, Berlin 1898, S. 271 f. 435 Ebd., S. 369; ebenso: Hamm, Der dolus eventualis, in: DJZ 3 (1898), S. 356 – 358.
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„Herrschaftswissen“ zurück. Dabei liefen interne Kritiker, wie das Lisztsche Beispiel zeigt, Gefahr, als „Nestbeschmutzer“ behandelt zu werden. 3. Das dritte Kardinalproblem betraf den „groben Unfug“, dessen strafrechtliche Karriere ebenfalls vor der Jahrhundertwende ihren Höhepunkt erreichte. Zur Erinnerung: Bereits in den 80er Jahren hatten obergerichtliche Entscheidungen die nach Wortlaut und Sinngehalt scheinbar klaren Tatbestandsmerkmale des § 360 Nr. 11 StGB zunehmend aufgeweicht und entgrenzt. Die unmittelbare, physisch sinnfällige, das allgemeine Publikum treffende Verletzung des äußeren Bestands der öffentlichen Ordnung war um die mittelbare, psychische Belästigung eines ausgewählten Teils des Publikums erweitert worden, die subjektive Absicht eines ungebührlichen Verhaltens war ebenso weggefallen wie die Qualifikation „grob“, und statt der tatsächlichen Störung genügte bereits die potentielle zur Verurteilung („der Artikel scheint geeignet, das Publikum zu beunruhigen und zu belästigen“). Im Rahmen der allgemeinen Ausdehnung der Norm hatte sich ein spezifisch politischer Unfugsbegriff herausgebildet, der vor allem auf Erzeugnisse der Presse angewandt wurde. Nach 1890 verstärkte sich die Politisierung des Delikts. Es nahm den Charakter einer allgemeinen subsidiären politischen Strafvorschrift an, die in erster Linie gegen die Sozialdemokratie zum Einsatz kam. Verurteilungen wegen „groben Unfugs“ erfolgten aber auch bei antisemitischen und religiösen Tatbeständen436. Bei den Motiven gilt es zu differenzieren: Objektiv ging es darum, sozialdemokratische Manifestationen aller Art (öffentliches Tragen von sozialdemokratischen Abzeichen, Hissen der rote Fahne, sozialistische Grabreden etc.) sowie neuartige Formen des ökonomisch-sozialen Kampfes (Boykott, Sperre, Streikposten, Verrufserklärung etc.) zu pönalisieren. Subjektiv ließen sich viele Richter von dem ehrlichen Bedürfnis leiten, ein als strafwürdig empfundenes Verhalten, auf das keine andere Strafvorschrift passen wollte, wenigstens als „groben Unfug“ zu ahnden. Dadurch war einer Subjektivierung der Rechtsprechung Tür und Tor geöffnet, konnten die Richter doch im wesentlichen nach persönlichem Gusto entscheiden. Otto Mayer, der Begründer der Verwaltungsrechtswissenschaft in Deutschland, schloß seinen Artikel über die polizeilichen Übertretungsdelikte im renommierten „Wörterbuch des Deutschen Verwaltungsrechts“ mit folgender Bemerkung: „Für alles übrige dient die Bestimmung des § 360 Ziff. 11 Str.G.B. mit dem dehnbaren Begriffe des groben Unfugs. Das richterliche Beamtentum hat dadurch in Deutschland eine ganz außerordentliche, anderswo kaum wiederzufindende Gewalt bekommen, um seine Standesauffassung von guter Sitte auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens zwangsweise zur Geltung zu bringen“437. PsycholoBeispiele bei Müller, „Grober Unfug“, S. 76 ff., 87 f.; Krauße, S. 707 – 709. Otto Mayer, Art. ,Sittenpolizei‘, in: Wörterbuch des Deutschen Verwaltungsrechts, Bd. 2, Freiburg 1890, S. 455 – 458, hier S. 457. Dezidierter noch Mittelstädt (unten Anm. 452), S. 19: „Damit wäre also dem heutigen Strafrichter die absolute willkürliche Machtvollkommenheit eingeräumt, alles in der Welt denkbare Tun oder Unterlassen, das ein steuerloser Juristenkopf als arges ,Unrecht‘ empfindet, mit sechs Wochen Haftstrafe zu ahnden“. 436 437
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gisch gesehen dürfte es gerade diese Stellung über dem Gesetz gewesen sein, die den Paragraphen für viele Richter so attraktiv machte, während sich die Wissenschaft ganz überwiegend gegen die neue Praxis aussprach438. Am Horizont zeichnete sich die Gefahr einer heillosen Rechtszersplitterung ab: „Wir würden auf diese Art in Kürze freisinnige, nationalliberale, ultramontane, konservative, antisemitische, freihändlerische und schutzzöllnerische, polenfreundliche und polenfeindliche Oberlandesgerichtssenate bekommen können. Ein recht hübscher Blick in die Zukunft der deutschen Jurisdiktion“439. Erneut wurde die Entwicklung durch obergerichtliche Erkenntnisse legitimiert, wobei sich nunmehr – neben dem OLG München sowie den sächsischen und preußischen Gerichten – auch das Reichsgericht hervortat440. Einige einschlägige Beispiele seien genannt: Mit dem Erkenntnis des vierten Strafsenats vom 14. 6. 1895, das die Aufforderung eines sozialdemokratischen Flugblatts, ein bestimmtes Lokal zu boykottieren, als „groben Unfug“ qualifizierte, sanktionierte das Reichsgericht die zahlreichen Boykotturteile der Untergerichte441. Das Berliner Kammergericht subsumierte das gängige „Hoch“ auf die „internationale revolutionäre Sozialdemokratie“, gleichsam das Gegenstück zum Kaiserhoch, ebenfalls unter den § 360 Nr. 11 (Urteil v. 24. 10. 1895). Immerhin bis zum Jahre 1897 dauerte es, bis die Vorschrift auf das Streikpostenposten Anwendung fand (Urteile des Landgerichts Lübeck v. 29. 5. und 13. 11. 1897; Urteil des Landgerichts Liegnitz, Juli 1897)442. Auch die öffentliche Aufforderung, Zuzug fernzuhalten, mit der streikende Arbeiter die Anwerbung von Ersatzkräften durch den Unternehmer zu unterbinden suchten, sowie die Verhängung der Sperre über einen bestreikten Betrieb (Urteil des Kammergerichts v. 4. 6. 1896) fielen unter die Strafbestimmung, beides kategorisiert als Presseunfug443. Wiederholt beruhten die Streikprozesse sogar mehrheitlich auf dem Unfugsparagraphen. Nach einer von der „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ zusammengestellten Übersicht waren von den 381 Personen, die in der Zeit vom 1. Januar bis 1. Oktober 1898 im Zusammenhang mit Streikvergehen eine Strafe erhielten, allein 181 wegen „groben Unfugs“ anVgl. die Übersicht bei Müller, S. 10 f. Müller, S. 43. 440 Zu den folgenden Urteilen: GStA, Rep. 84a, Nr. 7880; weitere Fallbeispiele bei Müller, S. 61 – 64, 76 ff. und Krauße, S. 710 – 715. 441 Entsch. Bd. 27, S. 292; abgedr. in: JMBl, S. 255 f. Schärfste Kritik bei Mittelstädt (unten Anm. 452), S. 21 – 23 („scholastische Jurisprudenz“). Die Urteilsbegründung schließt von dem unmittelbar betroffenen Gastwirt auf andere Lokalbesitzer, um dann unvermittelt weiter zu folgern, diese „Beunruhigung und Belästigung der zunächst betroffenen Gewerbetreibenden könne sich sehr wohl zur unmittelbaren Beunruhigung und Belästigung des Publikums ausgestalten“. 442 Zum Lübecker Urteil: v. d. Recke (preuß. IM) an Hohenlohe (RK), 14. 1. 1898; Senat der freien und Hansestadt Lübeck an Hohenlohe, 8. 2. 1898, beide in: BA, R 3001, Nr. 6330, Bl. 18 und Bl. 24. 443 Ausführlich zur Anwendung auf Streikvorgänge: Das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter in Theorie und Praxis, bearb. v. Carl Legien, Hamburg 1899, S. 82 – 104. 438 439
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geklagt444. Aufs Ganze gesehen blieb die Rechtsprechung jedoch uneinheitlich. Immer wieder fanden sich auch Urteile, die für die Freiheit der politischen Meinungsäußerung oder das Koalitionsrecht der Arbeiter eine Lanze brachen. Daß solche scheinbar liberalen Entscheidungen in anderer Hinsicht wiederum ausgesprochen „tendenziös“ sein konnten, belegt der Ausgang eines Prozesses gegen den bekannten Antisemitenführer Theodor Fritsch. Fritsch wurde von der – ansonsten für ihre arbeiterfeindliche Judikatur berüchtigten – Strafkammer Leipzig von der Anklage wegen „groben Unfugs“ (aufgrund antisemitischer Äußerungen) freigesprochen, wobei es in der Urteilsbegründung hieß: „Der Grobe-Unfug-Paragraph, wie ihn die herrschende Meinung handhabt, kann leicht der Totengräber eines offenen, ehrlichen, freimütigen Wortes werden“445. Eine von Auer im März 1894 eingebrachte Resolution brachte das Thema erstmals vor das Forum des Reichstags. Anlaß war die Verurteilung einer Reihe von Sozialdemokraten durch sächsische Gerichte (einschließlich des OLG Dresden), die die Verteilung von Flugblättern und Stimmzetteln bei der letzten Landtagswahl als „groben Unfug“ bewertet hatten. Die Resolution verlangte eine Erklärung des Reichstags, daß besagte Handlungen durch den § 43 GO, der die Verteilung von Stimmzetteln und Druckschriften zu Wahlzwecken von der polizeilichen Genehmigung entband, gedeckt seien; zudem sollte der Reichskanzler bei den Bundesregierungen auf die Durchführung dieser Rechtsauffassung hinwirken446. In seiner Begründung teilte Auer eine Äußerung des sächsischen Justizministers Schurig mit, der am 18. 1. 1894 in der Ersten Kammer zugegeben hatte, daß das Justizministerium, „wie es seither schon getan hat, auch künftighin jederzeit etwaige unrichtige Rechtsprechungen wenigstens außeramtlich, ich kann nicht sagen, korrigieren, aber doch zum Gegenstand vertraulicher Rücksprache mit den betreffenden Richtern machen“ werde447. Die Sprecher der Linksliberalen (Traeger), des Zentrums (Rintelen) und der Nationalliberalen (Enneccerus) pflichteten der SPD in der Sache bei. Nieberding, der Staatssekretär des Reichsjustizamts, gab die Möglichkeit zu, „daß die Gerichte in der Anwendung der betreffenden strafgesetzlichen Vorschriften zuweilen etwas weitgegangen sind (hört! hört! links)“448. Dennoch zog Auer die Resolution zurück, nachdem er sich hatte überzeugen lassen müssen, daß die Forderungen ihrerseits einen unrechtmäßigen Eingriff in die Unabhängigkeit Vgl. die Tabelle bei Legien, S. 195. Zit. n. Müller, S. 85. 446 Siehe: Sten. Ber. RT 1893 / 94, Drks. Nr. 262 (Resolution Auer v. 13. 3. 1894) und ebd., 15. 3. 1894, S. 1872 – 1884 (Debatte). 447 Auer, ebd., S. 1876. 448 Nieberding, ebd., S. 1879 / 80; ähnlich Nieberding, ebd., 18. 1. 1900, S. 3577. Vgl. auch die Erklärung des Oberregierungsrats v. Tischendorf als Kommissar des RJA in der Petitionskommission des RT am 23. 3. 1898, in: BA, R 3001, Nr. 6330, Bl. 39b. Gegenstand der Beratung war eine Petition des V. Allgemeinen deutschen Journalisten- und Schriftstellertages v. 10. 6. 1897, die gegen die Anwendung des Unfugsparagraphen auf die Presse protestierte und eine „zweckentsprechende, authentische Interpretation“ verlangte (ebd., Bl. 21 f.). Via Bundesrat wurde sie dem Reichskanzler überwiesen. 444 445
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der Gerichte darstellten. In Sachsen erfreute sich der „grobe Unfug“ auch weiterhin der größten Beliebtheit 449. Später nahmen sich vor allem die Linksliberalen des Problems an. Ihre wiederholten Anträge auf Präzisierung des § 360 Nr. 11 kamen jedoch nicht zur Beratung450. Ein zur dritten Lesung der Lex Heinze von Heine (SPD) eingebrachter Antrag, der Erzeugnisse der bildenden und reproduzierenden Künste und der Presse aus dem Anwendungsbereich des § 360 Nr. 11 ausklammern wollte, fand nur die Unterstützung der Linksliberalen und wurde mit 210:80 Stimmen abgelehnt (17. 5. 1900). Im Namen der verbündeten Regierungen sprach sich Oberregierungsrat v. Lenthe gegen den Zusatz aus, da kein Zusammenhang mit dem zur Verabschiedung anstehenden Gesetz bestünde und weitere Änderungswünsche zu befürchten seien; aber auch er konzedierte eine allzu weite Auslegungspraxis der Gerichte451. Man dürfte kaum fehlgehen, wenn man die Zurückhaltung des Reichstags dem strikten Antisozialismus der Mehrheitsparteien zuschreibt. Schonungslos rechnete Otto Mittelstädt mit der Unfugsjudikatur in einer 1898 in Hardens „Zukunft“ publizierten Polemik ab, die in mehrfacher Hinsicht den üblichen Rahmen sprengte. Es dürfte vor allem sein Ausscheiden aus dem Staatsdienst gewesen sein, das Mittelstädt, schon immer ein Freund klarer Worte, endgültig jede falsche Rücksichtnahme fahren ließ452. Während Kritik an der Rechtsprechung – die Sozialdemokraten machten hierin keine Ausnahme – üblicherweise mit der Versicherung verbunden war, daß man die persönliche Rechtschaffenheit der Richter nicht in Zweifel ziehen wolle, läßt Mittelstädt diese (meist als rhetorische Floskel wirkende) Schutzbehauptung hinter sich und bezichtigt die Richter mehr oder weniger bewußter Rechtsbeugung: „Da die böse Sozialdemokratie nun einmal nicht mehr in der Zwangsjacke eines drakonischen Ausnahmerechtes steckt, muß das gemeine Recht die erforderlichen Handhaben der gewünschten Fesselung darbieten. Und da das gemeine Strafrecht mit seinen Normen nun einmal nicht darauf zugeschnitten ist, speziell gegen die Sozialdemokratie Waffen herzugeben, muß man diese Normen fein säuberlich durch juristisches Dehnen und Pressen für den Zweck zurechtrenken. Noch haben wir, die Vertreter heutiger Staats- und Gesellschaftsordnung, die richterliche Gewalt in Händen: 449 Vgl. die Rede des sächsischen Abgeordneten Fischer (SPD), Sten. Ber. RT, 18. 1. 1900, S. 3570 – 3576 (mit zahlreichen Beispielen). 450 Antrag Munckel / Beckh / Lenzmann v. 5. 4. 1898, Sten. Ber. RT 1897 / 98, Drks. Nr. 210; Antrag Munckel v. 6. 12. 1898, ebd. 1898 / 1900, Drks. Nr. 19; Antrag Munckel u. Gen. v. 14. 11. 1900, ebd. 1900 / 02, Drks. Nr. 18. („Wer durch Erregung von Lärm oder ähnliche, unmittelbar in die Sinne fallende Handlungen die öffentliche Ruhe ungebührlicherweise stört . . .“). 451 Siehe: Sten. Ber. RT 1898 / 1900, Drks. Nr. 669 (Antrag Heine v. 16. 3. 1900) sowie ebd., 17. 3. 1900, S. 4776 – 4788 (Debatte) und 17. 5. 1900, S. 5557 – 5559 (Abstimmung). 452 Otto Mittelstädt, Unfug in der Rechtsprechung, in: Die Zukunft 22 (1898), S. 17 – 26. Mittelstädt hatte sich im Oktober 1896 wegen eines rasch fortschreitenden Nervenleidens in den Ruhestand versetzen lassen. Die Krankheit war auch der Grund für seinen Freitod im November 1899 in Nizza.
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machen wir davon rücksichtslos Gebrauch gegen die Todfeinde unseres Staates und unserer Gesellschaft, ehe die soziale Revolution uns ans Messer liefert! So etwa denken die bewußtesten und ehrlichsten Köpfe deutschen Richterstandes, denen die übrigen bongré malgré folgen“. Völlig unbegreiflich ist es für den Autor, wie „politisch denkende Männer“ (gemeint sind die Richter!) sich einbilden könnten, im Unfugsparagraphen ein geeignetes Rüstzeug im Kampf gegen die Sozialdemokraten zu besitzen und, „in die Scheuklappen subaltern polizeilicher Gesichtskreise gebunden“, nicht zu sehen vermochten, „welchen unendlichen Schaden sie – nicht der Sozialdemokratie, sondern – sich selbst, ihrem Amt, der richterlichen Autorität zufügen“453. Es folgt ein weiterer Tabubruch: Nach allen Regeln der Kunst zerpflückt Mittelstädt die erwähnte Reichsgerichtsentscheidung vom 14. 6. 1895, um ihre logische und juristische Widersinnigkeit darzulegen. Aus seinen Worten spricht deutlich der verletzte Stolz angesichts der Leichtfertigkeit, mit der das Reichsgericht die liberalen Grundsätze seines eigenen (oben analysierten) Urteils vom 3. 6. 1889 über Bord geworfen hatte. Den Schluß bildet eine Erinnerung an den Prozeß Twesten, als das Obertribunal in die Zwangslage versetzt wurde, „entweder die Staatsregierung oder sich selbst im Stich zu lassen“ – mit all den bekannten Folgen454. Die Rückblende ergibt auch historisch Sinn: Auf bürgerlicher Seite läßt sich Mittelstädts Frontalangriff, der den Charakter einer Generalabrechnung besitzt, mit Twestens berühmter Rede durchaus auf eine Stufe stellen. Nicht nur der aktuelle Widerhall war enorm455. Mittelstädts freimütige Worte (vorzugsweise die eingangs zitierte Stelle) gingen in das Arsenal sozialdemokratischer Justizkritik ein und dienten bis in den Ersten Weltkrieg hinein als autoritatives Zeugnis für den Klassencharakter der kaiserzeitlichen Strafrechtsprechung456. Wie die wiederholten Äußerungen Nieberdings und seiner Mitarbeiter zeigen, beobachtete man die gerichtliche Praxis im Reichsjustizamt genau. Eine gesetzliche Neuregelung war insofern unwahrscheinlich, als Nieberding erklärter Gegner jeglicher Ad-Hoc-Änderung des Strafgesetzbuches war. Stattdessen favorisierte er eine umfassende Revision des Normenbestandes, die nach Inkrafttreten des BGB in Angriff genommen werden sollte (wie es dann ja auch geschah)457. Somit blieb Zitate ebd., S. 18. Ebd., S. 25. 455 Einige Reaktionen: Vorwärts v. 1. 1. 1898, Hamburger Echo v. 4. 1. 1898, Leipziger Volkszeitung v. 4. 1. 1898, FZ v. 4. 1. 1898, Hannoverscher Courier v. 4. 2. 1898; vgl. auch Beckh (Freisinn), Sten. Ber. RT, 17. 3. 1900, S. 4782. 456 Einige Beispiele: Hugo Haase in seinem Referat über „Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug“ auf dem Mannheimer Parteitag 1906 (Prot., S. 362); Landsberg, Sten. Ber. RT, 10. 2. 1913, S. 3643; Hugo Heinemann, Vom Arbeiterrecht nach dem Kriege, in: Fr. Thimme / C. Legien (Hg.), Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, Leipzig 1915, S. 115 – 130, hier S. 116. 457 Arnold Nieberding (1838 – 1912) trat 1866 als Hilfsarbeiter in das preußische Handelsministerium ein. 1872 wechselte er in das Reichskanzleramt über, wo er bis 1893 verblieb (1889 Direktor). Das Amt des Staatssekretärs des Reichsjustizamts bekleidete er vom 11. 7. 453 454
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als Ausweg nur die ministerielle Anweisung übrig. Den Anfang machte eine Rundverfügung Schönstedts vom Januar 1897, die das Dilemma offenbart, in dem sich eine zur Korrektur entschlossene Justizverwaltung befand458. Schönstedt weist darauf hin, „daß der Mangel einer näheren gesetzlichen Bestimmung des Tatbestandes des groben Unfuges nicht dazu verleiten darf, in dem § 360 No. 11 eine subsidiäre Strafvorschrift für solche nach der individuellen Empfindung strafwürdigen Handlungen zu erblicken, welche sich unter eine andere Strafvorschrift nicht bringen lassen“. Der Tatbestand werde nur durch Handlungen erfüllt, die den äußeren Bestand der öffentlichen Ordnung störten oder gefährdeten. Infolgedessen sei die Staatsanwaltschaft verpflichtet, vor Erhebung der Anklage eine „sorgfältige Prüfung“ vorzunehmen. Zugleich aber erklärt Schönstedt die Ausweitung der Norm auf die Presse und weitere Tatbestände für rechtens, ein Widerspruch, den die Judikatur des Reichsgerichts – das Reskript verweist auf die einschlägigen Entscheidungen – geradezu erzwang. Von daher mußte die Verfügung in ihrer Wirkung begrenzt bleiben. Das Dilemma löste sich erst, als das Reichsgericht zu einer einschränkenden Auslegung zurückkehrte und sich damit dem ursprünglichen Begriffsgehalt wieder annäherte459. Ein stiller, aber beharrlicher Druck seitens der Politik darf hier als sicher angenommen werden. Nunmehr stand einer Inangriffnahme des Problems nichts mehr im Wege. Im März 1902 wandte sich Nieberding in einem Rundschreiben an die Justizminister der Länder, in dem er feststellte, die herrschende Auslegung des § 360 Nr. 11 gehe „über die Absicht des Gesetzgebers weit hinaus“. Unter Berufung auf die jüngsten Entscheidungen aus Leipzig erläuterte er die neue (alte) Auffassung und erklärte es im Sinne einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als erwünscht, wenn die Beamten der Staatsanwaltschaft, dem preußischen Beispiel folgend, angewiesen würden, schon bei Erhebung der Anklage nach den genannten Grundsätzen zu verfahren. Sämtliche Justizverwaltungen kamen der Bitte des Staatssekretärs nach, wobei die Unterschiede in Haltung und Bewertung in den Reskripten deutlich hervortreten460. Der bayerische Justizminister Leonrod hielt, wie aus einer Mitteilung an den Innenminister hervorgeht, die engere Auslegung 1893 bis zum 25. 10. 1909 (Ruhestand). Nieberding war, wie bei der obersten Reichsleitung üblich, liberal-konservativ geprägt. Er verfügte über gute Beziehungen zu den Parlamentariern und wußte die Erfolgsaussichten gesetzgeberischer Vorhaben präzise einzuschätzen. Sein organisatorisches Talent und seine Fähigkeit zur Vermittlung bewährten sich sowohl bei der Verabschiedung des BGB als auch bei der anschließend in Angriff genommenen Reform des Strafrechts und des Strafprozesses. 458 RV an die Oberstaatsanwälte v. 6. 1. 1897, in: BA, R 3001, Nr. 6330, Bl. 88 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7880 und Nr. 4537). 459 Namentlich handelte es sich um die Urteile v. 14. 6. 1898 (Entsch. Bd. 29, S. 294), 7. 4. 1899 (Entsch. Bd. 31, S. 190), 17. 9. 1901 (Entsch. Bd. 32, S. 100) und 12. 11. 1901 (Entsch. Bd. 34, S. 364 und 425). 460 Rundschreiben Nieberdings v. 1. 3. 1902, in: BA, R 3001, Nr. 6330, Bl. 91 (auch in: HStA, MInn 66251); Sammlung der ministeriellen Anweisungen in: BA, R 3001, Nr. 6330, Bl. 97 ff.; die Entschließung Leonrods an die Oberstaatsanwälte und Staatsanwälte auch in: HStA, MInn 66251.
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für „wohl begründet“ und „sehr geeignet“, den berechtigten Klagen abzuhelfen. Deshalb sei er der Anregung des Reichsjustizamts „gerne nachgekommen“461. Einzig das bayerische Reskript wies die Staatsanwälte von daher an, bei abweichenden Entscheidungen der Gerichte Rechtsmittel zugunsten des Angeklagten einzulegen. Anfang Juni brachte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ eine offiziöse Mitteilung über die Vorgänge462. Es war das erste Mal, daß Reichsjustizamt und Landesverwaltungen auf diese Weise kooperierten, um rechtspolitische Mißstände aus der Welt zu schaffen. Der Vorgang belegt die gewachsene Bedeutung des Reichsjustizamts, dessen Initiative die Länder, wenn auch teilweise zähneknirschend, folgten. Für die Reichsleitung bot diese Art der Konfliktlösung einen doppelten Vorteil: Sie eröffnete die Möglichkeit, im gesamten Reich (beim Reichsgericht war die Reichsanwaltschaft der Ansprechpartner) auf die Rechtsprechung in gewünschtem Sinne einzuwirken, und man konnte den ungeliebten und schlecht kalkulierbaren Weg über eine Änderung der Gesetzeslage, der das Parlament mit ins Spiel brachte, umgehen – was Wunder also, daß das Beispiel Schule machte. Auch in den Folgejahren flammte die Kritik an der Handhabung des § 360 Nr. 11 immer wieder auf. Namentlich von polnischer Seite wurden die bekannten Klagen erneuert463. Hierbei wirkte sich die Tatsache aus, daß die Auslegung des Unfugsbegriffs nicht einfach auf den status quo ante zurückgefallen war. Von daher muß eher von einer Eindämmung einer ausufernden und regellosen Praxis denn von einer wirklichen Beseitigung des Mißstands gesprochen werden. Neuerliche Extensionsversuche lagen stets im Bereich des Möglichen. War das Problem des „groben Unfugs“ somit auch nicht gänzlich aus der Welt geschafft, so hatte es die konzertierte Aktion des Jahres 1902 doch erheblich entschärft464. 4. Unter der übrigen politischen Kriminalrechtsprechung ragen die Beleidigungsjustiz sowie die Judikatur zum Koalitions- und Streikrecht heraus – erstere eher wegen der Quantität, letztere eher wegen der Qualität ihrer Urteile. Die Zunahme der Beleidigungsprozesse, ein seit Jahrzehnten zu beobachtendes Phänomen, setzte sich in beschleunigtem Tempo fort. Wurde 1890 die Grenze von 60.000 rechtskräftig abgeurteilten Personen überschritten, so standen 1894 bereits mehr als 70.000 Angeklagte wegen Beleidigungsvergehen vor Gericht. Hatte die Steigerungsrate zwischen 1882 (51.289) und 1889 (58.596) „nur“ 14,24 % betragen, so verdoppelte sie sich zwischen 1889 und 1898 (75.525) auf 28,9 %. Insgesamt erhöhte sich die Zahl der Angeklagten von 1882 bis 1898 um 47,25 %, die Leonrod an IM, 9. 3. 1902, in: HStA, MInn 66251. Vgl. NAZ v. 5. 6. 1902. 463 Vgl. Antrag v. Chrzanowski u. Gen. v. 11. 12. 1903, in: Sten. Ber. RT 1903 / 04, Drks. Nr. 104; Kulerski, Sten. Ber. RT, 13. 1. 1905. 464 Gestrichen wurde die Vorschrift erst durch das Zweite Strafrechtsreformgesetz v. 9. 5. 1969 (in Kraft getreten am 1. 10. 1973), das den gesamten Übertretungsteil des StGB aufhob. 461 462
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der Verurteilten um 43,66 % (1882: 38.971 / 1898: 55.988). Beide Werte lagen deutlich über dem Bevölkerungswachstum desselben Zeitraums (19,0 %)465. Vergegenwärtigt man sich, daß ein erheblicher Teil der Anklagen politischen oder sozialen Motiven entsprang (die Statistiken geben über die interne Differenzierung leider keine Auskunft), so wird ersichtlich, daß Beleidigungen die mit Abstand größte Einzelgruppe unter den politischen Delikten bildeten. Eine Sonderstellung nahmen nach wie vor Beleidigungen von Behörden und Beamten ein. Die Richter beurteilten Ehrverletzungen nach wie vor ausgesprochen nachsichtig. Die Verurteilungsquote, die eine frappierende Konstanz aufwies, lag 1890 – 1899 mit durchschnittlich 74,2 % noch etwas niedriger als im Jahrzehnt zuvor, angesichts der Tatsache, daß der allgemeine Prozentsatz an Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze ebenfalls sank (1892 – 1896: durchschnittlich 79,4 %), blieben die Relationen aber in etwa die gleichen466. Der ohnehin schon hohe Prozentsatz an Geldstrafen stieg weiter an: Im Durchschnitt der Jahre 1890 – 1903 lag er bei 78,6 %467. Von allen 1894 – 1899 erkannten Geldstrafen entfielen 23,2 % allein auf Beleidigungsdelikte468. Ausweislich der jährlichen Übersichten der Kriminalstatistik bewegte sich die große Masse der Geldstrafen im unteren Bereich des Strafrahmens. Die übrigen gegen Erwachsene erkannten Gefängnisstrafen verteilten sich in den Jahren 1894 – 1901 wie folgt: drei Monate und mehr: 6 %; ein bis drei Monate: 16 %; acht Tage bis ein Monat: 41 %; vier bis sieben Tage: 27 %; ein bis drei Tage: 10 %469. Summa summarum bleibt festzuhalten: In Ehrverletzungen erblickten die Richter kaum mehr als Kavaliersdelikte. Bei den Beleidigungsparagraphen handelte es sich – ähnlich wie beim „groben Unfug“ – um Blankettvorschriften. Während die einfache Beleidigung (§ 185 StGB) inhaltlich völlig unbestimmt blieb, band das Gesetz die üble Nachrede (§ 186) an das Nichterbringen des Wahrheitsbeweises und die Verleumdung (§ 187) an den Nachweis des besseren Wissens. Beide Kautelen erwiesen sich indes als untauglich, die Welle von Anklagen und Verurteilungen einzudämmen. Aus diesem 465 Wegen Verstoßes gegen die §§ 185 – 187 und 189 StGB abgeurteilte und verurteilte Personen: 1890: 61.106 / 45.351; 1891: 59.959 / 44.809; 1892: 62.446 / 46.458; 1893: 67.968 / 50.424; 1894: 70.926 / 52.721; 1895: 72.032 / 53.192; 1896: 73.417 / 53.968; 1897: 73.121 / 54.143; 1898: 75.525 / 55.988; 1899: 74.552 / 55.514; 1900: 70.777 / 52.883 (Abgeurteilte: nach den jährlichen Übersichten in der KrSt; Verurteilte: KrSt 1900, II. 9, Übers. 1); Bevölkerungswachstum errechnet nach Nipperdey, I, Tab. S. 10. 466 KrSt 1896, I. 16. 467 Exner, S. 19. 1891 belief sich der Hundertsatz auf 76,3 %, 1901 auf 79,8 % (KrSt 1911, I. 125, Übers. 40). Von je tausend verurteilten Erwachsenen wurden mit einer Geldstrafe belegt: 1889 / 93: 772; 1894 / 98: 789; 1899 / 1900: 797 (KrSt 1900, I. 34). 468 KrSt 1899, I. 52. Übertroffen wurden die Injurien lediglich von der vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzung (30,5 %); wie bereits in den 80er Jahren umfaßten die beiden Delikte damit mehr als die Hälfte aller Geldstrafen, diesmal nur in umgekehrter Reihenfolge. 469 Angaben nach: KrSt 1901, I. 62.
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Grunde bemühten sich die Juristen seit Anfang der 90er Jahre verstärkt darum, die Tatbestände zu präzisieren und einzugrenzen470. Binding bemerkte lakonisch, Wissenschaft und Praxis würden die gesetzlichen Lücken mit „souveräner Willkür“ ausfüllen471. Der erwähnte Wahrheitsbeweis drohte den Injurienprozeß in der Praxis zu pervertieren. Im Gegensatz zu den früheren partikularen (und auch zu den meisten ausländischen) Gesetzgebungen gab der § 186 StGB dem Angeklagten das uneingeschränkte Recht, den Nachweis für den Wahrheitsgehalt der von ihm aufgestellten Behauptungen zu erbringen. Die Folge waren langwierige Beweisaufnahmen, bei denen sich der Beleidigte nicht selten in die Rolle des Angeklagten gedrängt sah, dessen gesamtes Vorleben, unter dem Maßstab moralisch-sittlicher Integrität, unter die Lupe genommen wurde. Eine wichtige Rolle spielte das Problem – davon wird noch zu berichten sein – im Zusammenhang mit der Strafrechtsnovelle von 1908. Stärker noch als bei der Majestätsbeleidigung fiel die ungleiche Anklagepraxis ins Auge. Während man gegen Sozialdemokraten mit der Anklageerhebung schnell bei der Hand war, blieben die oft maßlos-gehässigen Angriffe, die der Bund der Landwirte, aber auch der „Kladderadatsch“ und einige Wochenschriften gegen Caprivi richteten, in aller Regel ungesühnt. Im Gegensatz zur langjährigen Praxis bei Bismarckbeleidigungen hielten sich die Staatsanwälte streng an den Buchstaben des Gesetzes und warteten zunächst den Strafantrag des Beleidigten ab, der, in bewußter Absetzung von seinem Vorgänger, nur in einigen besonders krassen Fällen um Ehrenschutz bei den Gerichten nachsuchte. In bürgerlichen Kreisen rief die Gerichtspraxis Unverständnis und Verärgerung hervor. Mittelstädt führte die Prozeßflut auf den Übereifer der Staatsanwälte zurück, die nach Erlöschen des Sozialistengesetzes der „verzeihlichen Ansicht“ gewesen seien, jedwede Kleinigkeit zur Anklage bringen zu müssen. Während die Sozialdemokratie damit kaum getroffen worden sei, hätte die „verfehlte Verfolgungsmethode“ fatale Rückwirkungen auf die Strafjustiz selbst gehabt: „Die Strafgerichte ermüdeten bald unter der Last solcher Prozeduren, in denen nur allzu oft der vom Angeklagten angetretene Wahrheitsbeweis zu den weitläufigsten und langweiligsten Verhandlungen pro nihilo führte, verhielten sich der ganzen Klasse dieser Anklagen gegenüber immer kritischer und gewöhnten sich im übrigen immer mehr daran, im Strafmaß die unterste Grenze nur wenig zu überschreiten. Schließlich mußte auch bei den Staatsanwälten die zersplitterte Kraft erlahmen, der Maßstab für Wichtiges und Unwichtiges, die Empfindung für ernsthafte und 470 Siehe: Otto Mittelstädt, Über Ehre und gerichtliche Ehrenhändel, in: Deutsche Revue 15 / 3 (1890), S. 351 – 361; Karl Binding, Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, Leipzig 1892 (leicht erw. Fassung der Leipziger Rektoratsrede v. 31. 10. 1890); Ludwig v. Bar, Zur Lehre von der Beleidigung mit besonderer Rücksicht auf die Presse, in: GerS 52 (1896), S. 81 – 208. 471 Binding, S. 12.
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nur scheinbare Gefährdungen des öffentlichen Friedens verlorengehen. Stand man dann wirklich einmal einer frechen und gefährlichen Provokation zum Aufruhr und Umsturz gegenüber, so war nur allzu häufig der Strafrechtspflege der beste Teil energisch wirkender Repression abhanden gekommen“472. Den Schutz der bestehenden Ordnung sah Mittelstädt – trotz Prozeßflut – bei den Strafverfolgungsbehörden nicht sonderlich gut aufgehoben. Derselben Meinung war der Publizist Carl Jentsch, auf dessen allgemeine Kritik an der Strafrechtspflege noch einzugehen sein wird. Jentsch war vor allem die Untätigkeit der Anklagebehörde gegenüber der Hetze von „rechts“ ein Dorn im Auge: „Wenn dagegen der Reichskanzler jahrelang Woche für Woche als ein Mittelding zwischen einem Troddel und einem Vaterlandsverräter dargestellt, wenn behauptet wird, im Auswärtigen Amt herrsche Günstlingswirtschaft zum Verderben des Reichs, so liegt kein öffentliches Interesse vor“473. Mit Recht wies er darauf hin, daß es zur Erhebung der öffentlichen Klage eines Strafantrags Caprivis gar nicht bedürfe, da, wie das Vorgehen gegen die Sozialdemokratie zeige, ja andere Paragraphen zur Verfügung stünden (§ 131, notfalls auch § 360 Nr. 11 StGB). Jentsch hielt die ungleiche Strafrechtspraxis schlechterdings für staatsgefährdend: „Von zwei gleichzeitigen Oppositionen aber die eine unterdrücken und die andere hegen, das ist unter allen Umständen nicht bloß ein gesetzwidriges, sondern ein höchst gefährliches Spiel“474. In die Schußlinie geriet auch das Reichsgericht. Die „Grenzboten“ monierten, das höchste Gericht habe sich – unter dem Vorwand, an die tatsächlichen Feststellungen der Landgerichte gebunden zu sein – der Aufgabe entzogen, klare Kriterien für die Majestätsbeleidigung und gewöhnliche Ehrverletzungen zu entwickeln475. Der Göttinger Ordinarius v. Bar setzte sich kritisch mit der Rechtsprechung zum § 193 StGB auseinander, der die Strafbarkeit von Äußerungen ausschloß bzw. minderte, wenn sie der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ dienten. Das Reichsgericht neige allzu sehr dazu, so nicht nur Bars Vorwurf, die „berechtigten Interessen“ auf persönliche Interessen (des Verfassers, Redakteurs, Herausgebers etc.) einzuschränken, das allgemeine, öffentliche Interesse hingegen überhaupt nicht oder zu gering zu bewerten. Aus diesem Grunde werde der Presse der Schutz des § 193 StGB regelmäßig verwehrt476. Mittelstädt, Umsturzvorlage, S. 531 f. Carl Jentsch, Betrachtungen eines Laien über unsre [sic] Strafrechtspflege, Leipzig 1894, S. 57; ausführlich zum Autor unten Kap. II / 1c. 474 Ebd., S. 62 f. (siehe auch das gesamte Kapitel S. 40 – 65). 475 Anon., Beleidigungsprozesse, in: Grenzboten 54 / 4 (1895), S. 457 – 461. 476 Vgl. Bar, Beleidigung, S. 160 – 167. Carl Ludwig v. Bar (1836 – 1913) habilitierte sich 1863 in Göttingen, wohin er, nach Zwischenstationen in Rostock und Breslau, 1879 als o. Prof. zurückkehrte. Bar war ein scharfer Kritiker der Bismarckschen Innenpolitik und saß 1890 – 93 im Reichstag (Freisinn). Wissenschaftliche Reputation erlangte er vor allem mit seinen Werken über das Strafrecht und das internationale Privatrecht; Mitglied des internationalen Schiedshofs im Haag. 472 473
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Im Reichstag kam die Beleidigungsjudikatur im Zusammenhang mit dem Duellproblem zur Sprache, das in den mittleren 90er Jahren die Öffentlichkeit stark beschäftigte. Bei Besprechung einer vom Zentrum im April 1896 eingebrachten Interpellation, die auf die jüngsten Duellvorgänge reagierte, rügten die Sprecher der Mittel- und Rechtsparteien die milde Bestrafung von Ehrverletzungen scharf. Die Urteilspraxis hätte, so der Tenor, keinerlei abschreckende Wirkung, sie sei im Gegenteil geradezu eine Aufforderung zu weiteren Beleidigungen477. Dementsprechend beantragten das Zentrum und die Reichspartei eine Verschärfung der Strafbestimmungen über Beleidigung und Verleumdung478. Während sich die Linksliberalen beim Thema Injurien zurückhielten, lehnte die SPD gesetzliche Änderungen rundweg ab. Gegen Sozialdemokraten fiele die Judikatur, so Bebel, ungleich härter aus, namentlich Äußerungen, die im Rahmen von Arbeitskämpfen gefallen seien, würden streng bestraft. In 99 von 100 Fällen würden die Gerichte auf Gefängnis erkennen, und zwar mit dem Argument, Geldstrafen zahle ohnehin die Parteikasse. „Wir haben wahrhaftig“, so Bebel, „von dieser Milde, die Herr von Bennigsen beklagt, nichts zu spüren bekommen und sind nicht der Ansicht, daß in dieser Beziehung das Geringste am Gesetz geändert werden müßte“479. Um das gewünschte einstimmige Votum nicht zu gefährden, wurden die beiden Anträge zurückgezogen. Von daher beschränkte sich der vom Reichstag gefaßte Beschluß auf Maßnahmen gegen das Duellwesen. Etwas anders verlief die Frontlinie bei Beamten- und Behördenbeleidigungen, die, wie es scheint, überproportional stark zugenommen hatten. Hier entschied der gouvernementale Standpunkt über das Pro und Contra. Ein erheblicher Teil der Anklagen bezog sich auf Beleidigungen von Polizeibeamten, die wegen ihrer exponierten Stellung als besonders schützenswert galten (schon Bismarck hatte ihnen ja seine persönliche Fürsorge angedeihen lassen). Stereotyp wiederholten sich die Klagen, daß die Gerichte im Zweifelsfall dem beleidigten Schutzmann Glauben schenken würden und nicht dem angeklagten Beleidiger480. Nicht selten kam es zudem vor, daß Anzeigen gegen Polizisten, die ihre Befugnisse offenkundig überschritten hatten, in Beamtenbeleidigungen umgemünzt wurden, so daß sich das Opfer unversehens als Beschuldigter wiederfand. Die „Kölnische Volkszeitung“ sah darin „einen sehr wunden Punkt in unserer Rechtspflege“481. Eine vom Rechts477 Siehe: Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 271 (Interpellation Bachem v. 14. 4. 1896) sowie ebd., 20. / 21. 4. 1896, S. 1797 – 1813, 1815 – 1841 (Debatte); vgl. insb. Bachem (Z), S. 1800 f., v. Bernstorff (RP), S. 1816, Bennigsen (NL), S. 1820 f., v. Manteuffel (K), S. 1827, Förster (fraktionslos), S. 1827 f. 478 Antrag Bachem u. Gen., Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 288, Ziff. 2; Antrag Bernstorff u. Gen., ebd., Nr. 289, Ziff. 2 (beide v. 21. 4. 1896). 479 Bebel, Sten. Ber. RT, 21. 4. 1896, S. 1831. 480 Zahlreiche Beispiele bei: J. E. v. Grotthuß, Aus deutscher Dämmerung, Stuttgart 1909, S. 175 – 198. 481 Zit. n. [H. Tophoff], Streiflichter zur preußischen Rechtspflege und Justizverwaltung, in: HPBl 115 (1895), S. 267 – 279 / 329 – 343, hier S. 336.
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schutzverein Heidelberg dem Reichstag im Februar 1895 vorgelegte Petition bezeichnete die Aburteilung von Beamtenbeleidigungen durch Beamtengerichte als unzweckmäßig und dem Volkswillen widersprechend. Die Petenten beantragten, das Delikt den Strafkammern zu entziehen und den Schöffengerichten bzw. (bei höherer Strafdrohung) den Schwurgerichten zu überweisen482. Näheren Aufschluß über die gerichtliche Praxis liefern die Prozeßberichte der SPD-Presse. Sie sind Teil der umfassenden Sammlung der sozialdemokratischen Presseberichterstattung, die seit 1895 im Centralbureau des preußischen Innenministeriums angelegt und endgültig erst bei Kriegsende 1918 eingestellt wurde. Danach sah der durchschnittliche Verfahrensgang wie folgt aus483: Überwiegend handelte es sich um Beleidigungen, die durch die periodische Presse begangen worden waren, ein kleinerer Teil umfaßte Äußerungen aus Versammlungen oder von Flugblättern. Als Kläger traten so gut wie alle Staatsbehörden auf. Nicht selten waren es vorgesetzte Gerichte, die Anzeige erstatteten, weil sich die erkennenden Richter durch die anschließende Urteilsschelte in der Presse beleidigt fühlten. Stets erhob die Staatsanwaltschaft öffentliche Klage, zumeist nach § 186 StGB (üble Nachrede). Verhandelt wurde fast immer vor der Strafkammer, nur gelegentlich beantragte der Staatsanwalt eine Überweisung an das Schöffengericht. Die hohen Strafanträge der Staatsanwaltschaft, häufig auf mehrmonatige Gefängnisstrafe lautend, beantworteten die Richter in der Regel mit (teilweise höheren) Geldstrafen. Mit anderen Worten: Jene Kompromißlösung, die Holtzendorff bereits in den 60er Jahren beobachtet hatte und die es beiden Seiten gestattete, sich ohne Gesichtsverlust „aus der Affäre zu ziehen“, war für politische Massendelikte mittlerweile üblich geworden. Bebels oben zitierte 99 %-Quote entsprach mithin nicht der Realität. Auch die Urteilsbegründung hatte sich formalisiert: Entweder sahen die Richter den Wahrheitsbeweis als nicht erbracht an oder sie stuften, konnte der Angeklagte seine Behauptungen hinreichend belegen, die Absicht resp. Form der fraglichen Äußerung als beleidigend und damit als strafwürdig ein. Der Schutz des § 193 StGB wurde dem Angeklagten in der Regel verwehrt, weshalb Revisionen an das Reichsgericht so gut wie aussichtslos waren. Prozedere und Urteilspraxis änderten sich, wie die mit bürokratischer Pedanterie fortgeführten Sammlungen zeigen, bis zum Ersten Weltkrieg kaum. Auf gouvernementaler Seite wurde die milde Urteilspraxis als skandalös empfunden. Im Sommer 1894 griff die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ die Haltung der preußischen Gerichte scharf an. Das Blatt forderte die Richter unverblümt auf, aus der Seele des beleidigten Beamten heraus das Urteil zu sprechen 482 Antrag des Rechtsschutzvereins Heidelberg v. 16. 2. 1895, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8139, Bl. 131. 483 GStA, Rep. 77, CB, Sachen, Nr. 497. Der Bestand, der bis 1917 reicht, umfaßt 17 Bände Bestrafungen; drei Bände enthalten Berichte über Freisprechungen (Nr. 497 F; bis 1912). Die Ausschnitte entstammen vor allem dem „Vorwärts“, der „Breslauer Volkswacht“, dem „Hamburger Echo“ und der „Leipziger Volkszeitung“. Für die folgende Analyse wurden die Bände 2 (1895 / 96) und 14 (1910 / 11) durchgesehen.
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und namentlich bei Beleidigungen, die durch die Presse verübt worden waren, regelmäßig auf Gefängnisstrafe zu erkennen484. Der Artikel dürfte direkt gegen Justizminister Schelling gerichtet gewesen sein, über dessen Amtsführung, wie sich anläßlich seiner wenige Monate später erfolgenden Entlassung zeigte, Wilhelm II. hochgradig erzürnt war. Die Gegenposition war vielgestaltig und legte den Schwerpunkt auf ganz unterschiedliche Aspekte. Die „Grenzboten“, die nach Bismarcks Entlassung einen liberaleren Kurs einschlugen und vor regierungskritischen Tönen nicht zurückschreckten, führten das Überhandnehmen des Prozeßtyps darauf zurück, daß der Begriff der Beamtenehre – gewissermaßen im Schlepptau der Majestätsbeleidigung – beständig erweitert worden wäre. Nachdem er Bindings Abhandlung über die Ehre als vorbildlich gelobt hat, schließt der anonyme Verfasser wie folgt: „Die deutsche Rechtsprechung ist schwer krank, wenn sie beide, die Wissenschaft und das natürliche Rechtsgefühl des Volkes, dauernd gegen sich hat“485. Mit seinen Anträgen rannte der Reichstag bei der preußischen Regierung offene Türen ein. Auch in der Folgezeit blieb der Zusammenhang zwischen Duell- und Beleidigungsfrage erhalten, schon deshalb, weil sich die Zunahme des Zweikampfes, ein Reservat des Militärs und höherer Gesellschaftskreise, auf dasselbe Grundproblem, den mangelnden Ehrenschutz durch die Gerichte, zurückführen ließ. Zur Bekämpfung des Duellwesens favorisierte das Staatsministerium zunächst eine legislative Lösung, begnügte sich dann aber mit Korrekturen auf dem Anweisungswege. Der Meinungsumschwung verdankte sich einer Intervention Nieberdings, der sich gegen eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen aussprach486. Besagte Instruierung geschah auf doppelte Weise. Eine längere Verfügung von Ende Oktober 1897 enthielt konkrete Handlungsanweisungen für die Staatsanwälte487. Die Frage, ob an der Strafverfolgung öffentliches Interesse bestehe, sei noch sorgfältiger zu prüfen als bislang und nicht bloß deshalb zu verneinen, weil es sich bei dem Beleidigten um eine Privatperson handele und die Beleidigung sich auf sein Privatleben beziehe. Bei der Strafzumessung gelte es, die „objektiven Folgen der Beleidigung“ stärker zu berücksichtigen. Im Falle des § 186 StGB rechtfertige der Umstand, das der Täter sich der Unwahrheit seiner Behauptungen nicht bewußt war, nicht von vornherein eine milde Bestrafung, die mildernden Umstände des § 187 StGB seien restriktiv zu handhaben. Es ist unverkennbar, daß die Anweisung vor allem auf einen höheren Prozentsatz an Freiheitsstrafen abzielte. Vgl. [Tophoff], S. 336; die Forderungen der NAZ wies der Autor entrüstet zurück. Beleidigungsprozesse, S. 461. 486 Zum Duellproblem: RT-Verhandlungen v. 20. / 21. 4. und 17. / 19. 11. 1896; Prot. StM v. 18. 4. / 4. 6. 1896 und 6. 10. / 5. 11. / 16. 11. 1897 sowie das Aktenmaterial in: GStA, Rep. 84a, Nrn. 8036, 8037 und 8040 (Votum Schönstedts v. 24. 11. 1896 mit Grundzügen eines Gesetzentwurfs, erläuternden Bemerkungen und Denkschrift, Bemerkungen Nieberdings dazu v. 4. 1. 1897, statistisches Material zur Strafpraxis für die Jahre 1897 – 1905); Literatur: U. Frevert, Ehrenmänner, München 1991; T. C. Bringmann, Reichstag und Zweikampf, Freiburg 1997. 487 AV an die Oberstaatsanwälte v. 23. 10. 1897, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8037, Bl. 24 – 32. 484 485
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Was schließlich den Wahrheitsbeweis anbelange, so sei „frivolen Beweisanträgen“ des Angeklagten entgegenzutreten. Um den Forderungen stärkeren Nachdruck zu verleihen und die Entschlossenheit der preußischen Regierung zu demonstrieren, folgte ein weiteres Reskript, das zunächst Wilhelm II. zur Zustimmung vorgelegt und sodann im Justizministerialblatt veröffentlicht wurde488. Der Text ist summarischer gehalten, bringt die hochoffizielle Mißbilligung der Rechtspraxis aber umso deutlicher zum Ausdruck: „Es kann nicht befremden, daß jemand, der sich oder seine nächsten Angehörigen in ihrer Ehre schwer gekränkt sieht, in der regelmäßig erst nach Monaten erfolgenden Verurteilung des Beleidigers zu einer geringen Geldstrafe eine angemessene Sühne nicht erblickt“. Die Staatsanwaltschaft habe den Mißbräuchen nachdrücklich entgegenzutreten und dahin zu wirken, daß Beleidigungen „nach Maßgabe ihrer Schwere eine rasche und empfindliche Sühne finden“. Wie ein Blick auf die Beleidigungsjudikatur der folgenden Jahre zeigt, blieben sowohl die öffentliche Kritik als auch die amtlichen Maßnahmen weitgehend folgenlos – wieder einmal erwiesen sich die forensischen Gewohnheiten als stärker. 5. Ein Sonderproblem stellte nach wie vor der „fliegende“ („ambulante“) Gerichtsstand der Presse dar, mittels dessen Druckerzeugnisse nicht nur am Erscheinungsort, sondern an jedem beliebigen Verbreitungsort angeklagt werden konnten (§ 7 StPO). Ihrem Charakter nach eine Ausnahmebestimmung, brachte sie für die Autoren, mehr aber noch für die presserechtlich Verantwortlichen zusätzliche Rechtsunsicherheit mit sich. Zwar wurde von der Vorschrift relativ selten Gebrauch gemacht, die vorkommenden Fälle sorgten aber immer wieder für enormes Aufsehen, nicht zuletzt durch die Presse selbst, die natürlich ausführlich über die Vorgänge berichtete. Der wohl spektakulärste Fall ereignete sich 1893 und betraf den bayerischen Freiherrn von Thüngen, prominenter Vertreter des Bundes der Landwirte, der in einem „offenen Brief“, abgedruckt in einer Würzburger Zeitung, eine scharfe Polemik gegen die Caprivische Handelspolitik mit persönlichen Invektiven gegen den Reichskanzler verbunden hatte. Nachdem Thüngens Artikel, ohne als Abdruck gekennzeichnet zu sein und wohl auch ohne Wissen des Autors, von der Berliner Zeitschrift „Volk“ übernommen worden war, stellte Caprivi Strafantrag wegen Beleidigung. Daraufhin erklärte sich das Berliner Landgericht in der Sache für zuständig und verurteilte den Freiherrn zu einer Geldstrafe. In der bayerischen Abgeordnetenkammer kam der Fall ausführlich zur Sprache, wobei Vertreter aller Parteien Vorkehrungen forderten, um derartige Vorkommnisse in Zukunft unmöglich zu machen489. Umgekehrt stand, wie bereits erwähnt, Maximilian Harden 1898 488 AV an die Staatsanwälte v. 16. 11. 1897, in: JMBl, S. 285 f. (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8037 sowie Nr. 8139). 489 Siehe: Verh. KdA 1893 / 94, Bd. 3, S. 719 ff. (Generalaussprache über den Justizetat 1894 / 95).
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wegen „groben Unfugs“, begangen in einem Artikel über den geisteskranken bayerischen König Otto, vor einem Münchener Schöffengericht, das über den Berliner Herausgeber vierzehn Tage Gefängnis verhängte490. Auf den Ausgang beider Prozesse dürfte der bayerisch-preußische Gegensatz nicht ohne Einfluß geblieben sein. Der Reichstag drängte mehrfach auf Beseitigung oder zumindest Einschränkung des strittigen Paragraphen. Eine erhebliche Rolle spielte das Thema in den Jahren 1894 – 96 bei den Beratungen über die Strafprozeßreform. Gegen den hinhaltenden Widerstand des preußischen Staatsministeriums hatten sich Reichstag und verbündete Regierungen auf einen für beide Seiten akzeptablen Zusatz zum § 7 StPO geeinigt, der den Gerichtsstand weitgehend auf den Erscheinungsort beschränkte. Auf preußischer Seite trat vor allem Schönstedt für eine Lösung des leidigen Problems ein. Da die Novelle im Dezember 1896 scheiterte, blieb zunächst alles beim alten491. Daraufhin erließ Schönstedt Anfang 1897 eine längere Verfügung an die Oberstaatsanwälte, um eine restriktive Handhabung sicherzustellen492. Im Falle einer strafbaren Handlung sollte die öffentliche Klage „der Regel nach“ bei demjenigen Gericht erhoben werden, in dessen Bezirk die Druckschrift erschienen war. Dies bedeutete, daß die Sache im Normalfall umgehend an die Staatsanwaltschaft des Erscheinungsortes abzugeben war. Bei Wahl eines anderen Gerichtsstandes sollte der zuständige Staatsanwalt vor Anklageerhebung die Zustimmung des vorgesetzten Oberstaatsanwalts einholen. Sichtlich schwer tat sich die Justizverwaltung damit, feste Regeln für eine sachgerechte Anwendung aufzustellen. Die Anweisung begnügt sich mit einer kasuistischen Aufzählung von Fallbeispielen, betont aber auch, daß der einzelne Fall „nach freiem Ermessen“ zu beurteilen sei. Auf nichtperiodische Druckschriften traf das Reskript – darauf wird ausdrücklich hingewiesen – ohnehin nicht zu. Alles in allem ist die Verfügung ein Spiegelbild dessen, was sie einzudämmen versuchte: das hohe Maß an Rechtsunsicherheit, das der „fliegende“ Gerichtsstand verursacht hatte. Infolgedessen kam der Reichstag immer wieder auf das Thema zurück, so 1901 bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs über das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst. Als Ausdruck des Mehrheitswillens nahm das Plenum am 20. 4. 1901 eine von nationalliberaler Seite eingebrachte Resolution an, in der die Vorlage eines Gesetzentwurfs zwecks Aufhebung der Vorschrift verlangt wurde493. 490 Dazu: Otto Mittelstädt, Der Unfug der Presse, in: Die Zukunft 24 (1898), S. 11 – 21; Sigl, Verh. KdA 1897 / 98, 29. 4. 1898, Bd. 12, S. 296 f. 491 Zu den Einzelheiten unten Kap. IV / 2b. 492 AV an die Oberstaatsanwälte v. 5. 1. 1897, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 145 – 148; vgl. Schönstedt, Sten. Ber. AH, 17. 2. 1902, S. 1879. 493 Vgl. Sten. Ber. RT, 19. 4. 1901, S. 2228 – 2237 (Anträge Haußmann und Dietz); Sten. Ber. RT 1900 / 02, Drks. Nr. 255 (Resolution Büsing) sowie ebd., 20. 4. 1901, S. 2247 – 2249; ebenso bereits Antrag Beckh (FsVP) v. 14. 11. 1900, Sten. Ber. RT 1900 / 02, Drks. Nr. 17;
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Entsprechende Vorarbeiten waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Gang. Mit Rundschreiben vom 9. 10. 1900 hatte Staatssekretär Nieberding die Landesjustizverwaltungen um statistisches Material zur Handhabung des § 7 StPO gebeten. Wie die Erhebung ergab, fand die Vorschrift nur noch selten Anwendung: In den Jahren 1899 und 1900 waren im Deutschen Reich lediglich 26 Anklagen unter Zuhilfenahme des „fliegenden Gerichtsstandes“ erfolgt, wobei es sich in 5 Fällen um Verstöße gegen landesrechtliche Bestimmungen gehandelt hatte494. Der daraufhin im Reichsjustizamt ausgearbeitete Gesetzentwurf gelangte im April 1902 an den Reichstag, der ihn – einem Antrag des freisinnigen Abgeordneten Beckh folgend – auf alle Druckschriften ausdehnte (die Vorlage hatte nur Periodika ins Auge gefaßt). Ergebnis war das Spezialgesetz vom 13. 6. 1902, das den Gerichtsstand inländischer Druckschriften an den Erscheinungsort band. Einzig in Beleidigungsfällen, die im Wege der Privatklage verfolgt wurden, war außerdem dasjenige Gericht zuständig, in dessen Bezirk der Beleidigte wohnte oder sich für gewöhnlich aufhielt495. 6. Die Bedeutung der Koalitions- und Streikjustiz ergab sich zwangsläufig aus der sozioökonomischen Entwicklung des Reiches. Nachdem es den Freien Gewerkschaften Mitte der 80er Jahre gelungen war, sich neu zu formieren, schafften sie ein Jahrzehnt später den „Durchbruch zur Massenbewegung“ (Schönhoven). Zwischen 1890 (294.551) und 1903 (887.698) wuchs die Mitgliederzahl der gewerkschaftlichen Zentralverbände um 200 %, womit die SPD bereits vor der Jahrhundertwende überflügelt wurde496. Parallel dazu nahm die Zahl der Streiks kontinuierlich zu, wobei der Umfang der Teilnehmer naturgemäß erheblich schwankte497. In diesem Zusammenhang griffen Staatsanwaltschaft und Gerichte neben dem einschlägigen § 153 GO, der den Koalitionszwang unter Strafe stellte, zunehmend auf die entsprechenden Vorschriften des gemeinen Strafrechts zurück, die höhere Strafmaxima, allerdings auch geringere Strafminima androhten498. Folgende Voraus der Literatur: L. v. Bar, Zur Frage des Gerichtsstandes der Presse, in: DJZ 4 (1899), S. 96 – 99. 494 Angaben von Nieberding in der RT-Sitzung vom 19. 4. 1901 (Sten. Ber., S. 2231). 495 Materialien zum Gesetzgebungsprozeß in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8340 sowie HStA, MJu 13129; BR-Vorlage v. 8. 3. 1902; RT-Vorlage v. 13. 4. 1902 (Drks. Nr. 560); Sten. Ber. RT, 21. / 22. 4. (1. Lesung), 28. / 29. 4. (2. Lesung), 3. 5. 1902 (3. Lesung); StM-Sitzungen v. 20. 12. 1901 u. 31. 5. 1902; RGBl, Nr. 30. 496 Vgl. K. Schönhoven, Expansion und Konzentration, Stuttgart 1980, Tab. 1, S. 96, Tab. 2, S. 101, Tab. 5, S. 114. 497 Nach einer unvollständigen, von der „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ seit 1891 geführten Statistik stieg die Zahl der Streiks von 1892 bis 1898 von 73 auf 631, die Zahl der Streikenden schwankte zwischen 3.022 (1892) und 128.808 (1896); vgl. Legien (Anm. 498), Tab. S. 197. Eine amtliche Statistik über Streiks und Aussperrungen wurde erst 1899 in Angriff genommen (BR-Beschluß v. 16. 6. 1899). 498 Zum Themenkomplex: Das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter in Theorie und Praxis, bearb. v. Carl Legien, Hamburg 1899; Theodor Loewenfeld, Koalitionsrecht und Strafrecht, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 14 (1899), S. 471 – 602 (beide Schriften entstanden im Umfeld der „Zuchthausvorlage“); R. Schröder, Die Entwicklung des Kar-
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schriften des Strafgesetzbuchs konkurrierten mit dem § 153 GO: Widerstand gegen die Staatsgewalt (§§ 110 / 111), Beleidigung (§§ 185 – 187), Nötigung und Bedrohung (§§ 240, 241) sowie Erpressung (§ 253). Immer noch vorhandene Lücken wurden mit Hilfe des „groben Unfugs“ ausgefüllt (Streikpostenstehen, Warnung vor Zuzug, Verhängung der Sperre, Boykott etc.). Verletzte eine strafbare Handlung sowohl den § 153 GO als auch eine Bestimmung des gemeinen Rechts, so kam nach den Grundsätzen der Idealkonkurrenz das höhere Strafmaß zur Anwendung (§ 73 StGB). Für das Strafminimum bedeutete dies, daß Streikvergehen in jedem Fall mit Gefängnisstrafe geahndet wurden, da der Gewerbeordnungsparagraph Geldstrafen nicht vorsah499. Der Umfang der Streikjustiz läßt sich nur annähernd beziffern, da statistisches Material lediglich zum § 153 GO vorliegt500. Auch wenn man berücksichtigt, daß vermehrt Verurteilungen nach dem Strafgesetzbuch erfolgten, stellten Streikvergehen insgesamt eine marginale Erscheinung dar. Auf Grund des § 153 GO erhielten im Zeitraum 1892 – 1897 lediglich 0,34 % aller Streikteilnehmer eine Strafe zuerkannt. Von den 48.335 Personen, die in der Zeit vom 1. Januar bis 1. Oktober 1898 in den Ausstand traten, wurden nur 381 wegen Streikvergehen aller Art (jedoch unter Ausschluß des „groben Unfugs“) verurteilt, was einem Anteil von 0,79 % entsprach501. Die Minimierung der Verfahren verdankte sich in erster Linie dem erzieherisch-disziplinierenden Einfluß der Gewerkschaften, ein Umstand, auf den die Denkschrift der Generalkommission nicht ohne Stolz aufmerksam macht. Zwischen 1890 und 1899 lag die Verurteilungsquote beim § 153 GO mit 59,6 % zwanzig Prozentpunkte unter dem Reichsdurchschnitt (Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze 1892 – 1896: 79,4 %). Die Strafzumessung – der Strafrahmen erstreckte sich von einem Tag bis drei Monate Gefängnis – fügte sich in die allgemeine Tendenz zur Milde ein: Von den 621 Personen, die zwischen 1891 und 1896 verurteilt wurden, erhielten 504 eine Strafe von weniger als 30 Tagen, bei 152 betrug sie sogar weniger als vier Tage502. In den Jahren 1894 – 1901 verteilten sich die gegen Erwachsene verhängten Strafen wie folgt: tellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach 1988 (Analyse der RG-Entscheidungen); ders., Der gewerbliche Kampf, in: U. Falk / H. Mohnhaupt (Hg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, Frankfurt / M. 2000, S. 533 – 560; zahlreiche obergerichtliche Urteile auch bei Schultze, S. 631 ff. 499 Vgl. Siegfried Nestriepke, Das Koalitionsrecht in Deutschland, [Berlin 1914], S. 113. 500 Wegen Verstoßes gegen § 153 GO angeklagte und verurteilte Personen: 1890: 445 / 279; 1891: 196 / 117; 1892: 109 / 74; 1893: 86 / 38; 1894: 73 / 47; 1895: 136 / 93; 1896: 399 / 252; 1897: 463 / 254; 1898: 347 / 208; 1899: 325 / 176; 1900: 312 / 195 (nach den jährlichen Übersichten in der KrSt; Legien, Tab. S. 25). 501 Errechnet nach den Tabellen bei Legien, S. 197 und S. 192. Es bleibt unerfindlich, weshalb Legien die Übertretungen, also Verstöße gegen den § 360 Nr. 11 StGB sowie gegen Polizeivorschriften, nicht zu den eigentlichen Streikdelikten zählt. 502 Legien, Tab. S. 25. Die 381 Personen, die zwischen Januar und Oktober 1898 wegen diverser Streikvergehen verurteilt wurden, verbüßten im Durchschnitt nicht mehr als zwei Wochen Gefängnis (ebd., Tab. S. 192).
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drei Monate und mehr: 2 %; ein bis drei Monate: 16 %; acht bis dreißig Tage: 31 %; vier bis sieben Tage: 30 %; ein bis drei Tage: 21 %503. Zumindest in bezug auf den Gewerbeordnungsparagraphen stand die von Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern vielfach intonierte Klage, Streikvergehen würden besonders streng geahndet, auf schwachen Füßen504. So berechtigt der Vorwurf in einzelnen Fällen gewesen sein mag, auf die Spruchpraxis als Ganzes traf er jedenfalls nicht zu. Daß die Koalitions- und Streikjustiz dennoch mehr als alles andere den Vorwurf der Klassenjustiz provozierte, hatte einen anderen Grund. Er lag in dem Umstand, daß der § 153 GO ein Ausnahmerecht statuierte, und zwar in mehrfacher Hinsicht505. Zunächst stellte er nur Handlungen unter Strafe, die zur Begründung oder Aufrechterhaltung einer Koalition dienten, nicht hingegen solche, die deren Verhinderung oder Zerstörung bezweckten – eine Einseitigkeit, die in der Praxis den Unternehmern mit ihren größeren Pressionsmöglichkeiten in die Hände spielte506. Die Imparität resultierte mithin aus dem Widerspruch zwischen gleichem Recht und ungleicher sozialer Macht. Hinzu kam, daß die Bestimmungen des Gewerbeordnungsparagraphen über die vergleichbaren Vorschriften des Strafgesetzbuchs deutlich hinausgingen. Körperverletzungen und Beleidigungen wurden statt auf Antrag von Amts wegen verfolgt, und die Verrufserklärung war nach dem gemeinen Recht nur unter bestimmten Bedingungen strafbar. Im Ergebnis schuf der § 153 GO ein Sonderstrafrecht für Arbeiter in gewerblichen Konfliktsituationen, das bestimmte Tatbestände (Drohungen, Ehrverletzungen, Formen körperlichen Zwangs), die ansonsten überhaupt nicht oder nur mit einer geringen Geldstrafe geahndet worden wären, mit längerer Gefängnisstrafe bedrohte. Im Zuge der allgemeinen Tendenz zur ausdehnenden Rechtsprechung wurden dann auch ausgesprochene Lappalien – Paradebeispiele waren ein ausgestoßenes „Pfui“ oder der Ausruf „Streikbrecher“ – bestraft. Negativ schlugen hierbei die soziokulturellen Unterschiede zwischen bürgerlichen Richtern und proletarischen Angeklagten zu Buche, die zu einer divergierenden Auffassung über die Schwere der inkriminierten Äußerung bzw. Handlung führten. Aus den skizzierten Zusammenhängen erklärt sich die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen, die Gerichte würden harte, ja drakonische Strafen verhängen. Verstärkt wurde die Ungleichheit durch eine einseitige Rechtsanwendung. Formaliter bezog sich der § 153 GO auch auf die Arbeitgeber, diese waren wegen ihrer Zahlen nach: KrSt 1901, I. 60. Legien spricht von „härtesten Strafen“ (S. 25) und einer „überaus harten“ Beurteilung der Streikvergehen (S. 196), bleibt den statistischen Nachweis aber schuldig. Stattdessen zitiert er ausführlich aus diversen Urteilsbegründungen (S. 198 – 218). 505 Zum folgenden Loewenfeld, S. 491 ff. 506 Edgar Loening, Staatsrechtler in Halle, forderte 1897 auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik: „Die Arbeiter müssen, ebenso wie gegen ihre Genossen, auch geschützt werden gegen Bedrohungen, gegen Verrufserklärungen und Einschüchterungen, die die Unternehmer gegen Arbeiter ausüben, um sie zu nötigen, dem Streik fernzubleiben oder den Streik zu verlassen“ (zit. n. Legien, S. 31). 503 504
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geringen Anzahl aber viel eher in der Lage, im geheimen Koalitionszwang auszuüben. Nichtsdestoweniger war es ein offenes Geheimnis, daß sich die Unternehmerverbände vielfältiger Zwangsmittel bedienten, um unbotmäßige Mitglieder zu disziplinieren (Entzug von Materialien, Konventionalstrafen etc.). Dennoch fand der Paragraph nur in seltenen Ausnahmefällen auf Arbeitgeber Anwendung. Ebensowenig wurden Maßregelungen mißliebiger Arbeiter – hier ist zuallererst an die Verrufserklärung durch die berüchtigten „Schwarzen Listen“ zu denken – mit Hilfe des Strafgesetzbuchs verfolgt, obwohl gerade die gegen Arbeiter herangezogenen Straftatbestände (Nötigung, Bedrohung, Erpressung) vielfach erfüllt gewesen sein dürften. Die Ungleichbehandlung setzte sich auf anderen Ebenen fort. Nach wie vor war das in mehreren Bundesstaaten bestehende Verbindungsverbot politischer Vereine für Unternehmerverbände de facto außer Kraft gesetzt, während für die Freien Gewerkschaften Schließung und Verbot reale Drohungen blieben507. Faktisch hing ihr Bestand in erster Linie vom Wohlwollen der Landespolizeibehörde, in zweiter von der Haltung der Gerichte ab. In geradezu klassischer Rhetorik prangerte der vormalige preußische Handelsminister v. Berlepsch die ungleiche Rechtspraxis, bezogen auf nichtsozialistische Vereine und Arbeiterberufsvereine, an: „Es ist absolut unzulässig, daß das Gesetz gegen den einen Anwendung findet, gegen den anderen nicht. Es ist absolut unzulässig, daß die Staatsgewalt, wenn der gleiche Tatbestand vorliegt, den einen Verein verfolgt, weil sie ihn für schädlich hält, den anderen unbehelligt läßt, weil sei ihn für unschädlich oder nützlich hält. Das führt zur Willkür, das ist Ungerechtigkeit, und Ungerechtigkeit muß Erbitterung erzeugen“. Den Hauptschuldigen sah Berlepsch in den obersten Gerichten, deren ausdehnende Rechtsprechung die Arbeiterverbindungen zu „politischen Vereinen“ gestempelt und auf diese Weise den restriktiven Vorschriften des preußischen Vereinsgesetzes unterworfen hätten508. Noch vor der Jahrhundertwende trat auf diesem Sektor Entspannung ein. Die vereinsrechtlichen Vorschriften des BGB, aber auch die modernen Kommunikationsmittel ließen das Affiliationsverbot endgültig obsolet werden. In Bayern (Gesetz v. 15. 6.) und Sachsen (Gesetz v. 19. 7.) fiel die Bestimmung bereits 1898, die übrigen landesrechtlichen Verbote, darunter das preußische, beseitigte die „Lex Hohenlohe“ (7. 12. 1899), ursprünglich eine Zugabe zur „Zuchthausvorlage“, um deren Akzeptanz im Reichstag zu erhöhen. Damit war den Vereinsgesetzen der eigentliche „Giftzahn“ gezogen. Bis zum liberalen Reichsvereinsgesetz von 1908 blieben zwar noch mancherlei Beschränkungen bestehen, die auch immer wieder 507 1894 wurden in Sachsen 3 Vereine verboten und 70 aufgelöst; hinzu kamen 21 Verbote und 28 Auflösungen von Versammlungen sowie 43 Verbote von Festveranstaltungen (Vorwärts v. 13. 2. 1895, archiv. in: GStA, Rep. 77, CB, Sachen, Nr. 59). 508 Hans v. Berlepsch, Paragraph acht des preußischen Vereinsgesetzes und die Arbeiterberufsvereine, in: Soziale Praxis 7 (1897 / 98), S. 185 – 191, Zitat S. 190; namentlich bezog sich Berlepsch auf die RG-Entscheidungen v. 18. 2. und 10. 10. 1887 sowie das KG-Urteil v. 26. 4. 1888; vgl. auch seine oben zitierte Äußerung in der StM-Sitzung v. 13. 7. 1890.
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Anlaß zur Klage gaben, namentlich die preußischen Gerichte gingen nach der Jahrhundertwende aber dazu über, die Arbeiterverbände vom Vereinsrecht zu eximieren509. In die skizzierten Zusammenhänge gehört noch ein weiterer Aspekt: Einsetzend mit dem Jahre 1894 führten die Berichte der Gewerbeinspektoren regelmäßig Klage über die unzureichende Bestrafung der Unternehmer bei Verstößen gegen die Arbeiterschutzbestimmungen. Dies traf insbesondere auf die Vorschriften für jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen zu, die von der Gewerbeordnungsnovelle von 1891 eingeführt worden waren. Obwohl sie nur ein Drittel der Betriebe einer Revision unterzogen hatten, stellten die Inspektoren in den Jahren 1894 bis 1896 über 61.000 Gesetzesverletzungen bei jugendlichen Arbeitern, über 29.000 bei Arbeiterinnen fest, dem die geringe Zahl von 3.659 verurteilten Betriebsinhabern gegenüberstand. Während das Gesetz Geldstrafe bis zu 2.000 Mark, im Unvermögensfall Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten vorsah (§ 146 Ziff. 2 GO), bewegte sich die große Masse der verhängten Strafen zwischen 6 und 60 Mark510. Die Haltung der Gerichte drohte die neuen Bestimmungen faktisch außer Kraft zu setzen, zumal der aus der Gesetzesverletzung gezogene Gewinn das Strafmaß regelmäßig um ein Vielfaches überstieg. Im Jahresbericht von 1895 klagte der Leiter der badischen Fabrikinspektion, Friedrich Woerishoffer: „Wenn wegen wissentlicher Übertretungen der Arbeiterschutzvorschriften Strafen von wenigen Mark verhängt werden, so zieht der Bestrafte daraus den Schluß, daß er nur bestraft worden sei, weil der Wortlaut eines von ihm für durchaus überflüssig gehaltenen Gesetzes es verlange. [ . . . ] Unter allen Umständen sollte aber die Strafe größer sein als die nicht zu ängstlich vorzunehmende ungefähre Abschätzung der eingetretenen Bereicherung. Wenn Strafen wirksam sein sollen, müssen sie empfindlich sein und den Ernst der gesetzlichen Gebote zum Bewußtsein bringen“511. Seitens der SPD wurde die Einführung gesetzlicher Mindeststrafen gefordert, um den Vorschriften die gebührende Geltung zu verschaffen512. Die Spruchpraxis fügt sich in die allgemeine richterliche Strafzumessung ein, verweist aber auch auf ein man509 Zur Kritik: Ferdinand Tönnies, Vereins- und Versammlungsrecht wider die KoalitionsFreiheit, Jena 1902; zur preußischen Rechtsprechung: Heinze (NL), Sten. Ber. RT, 18. 2. 1908, S. 3240; zur legislativen Entwicklung: G. Fesser, Von der „Zuchthausvorlage“ zum Reichsvereinsgesetz, in: Jahrbuch für Geschichte 28 (1983), S. 107 – 132; E. L. Turk, German Liberals and the Genesis of the German Association Law of 1908, in: K. H. Jarausch / L. E. Jones (Hg.), In Search of a Liberal Germany, New York 1990, S. 237 – 290; Tillmann, S. 183 – 235. 510 Angaben nach Legien, S. 25 f. 511 Zit. n. W. Bocks, Die badische Fabrikinspektion, Freiburg 1978, S. 215 f. Ähnlich scharfer Bemerkungen mußte sich Woerishoffer in den folgenden Jahren enthalten, da das Innenministerium eine Schädigung des Ansehens der Gerichte befürchtete; weiterhin: A. Gresser, Die Entstehung der bayerischen Gewerbeaufsicht, Regensburg 1984, S. 274 ff. 512 Vgl. Emanuel Wurm (SPD), Sten. Ber. RT, 10. 1. 1900, S. 3451 f.; ebenso ders., Die Gewerbeaufsicht im Deutschen Reiche, in: Neue Zeit 18 / 1 (1899 / 1900), S. 597 – 602, 623 – 627.
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gelndes sozialpolitisches Verständnis der Richter und Staatsanwälte, bedingt durch eine ökonomische Laissez-Faire-Haltung, die ebenso auf anderen Gebieten zu beobachten ist513. Auf Anregung Posadowskys, des Staatssekretärs des Innern, erließ Schönstedt im Oktober 1898 eine Rundverfügung an die Oberstaatsanwälte, in der die milden Urteile der Gerichte, aber auch die niedrigen Strafanträge der Staatsanwaltschaft bei Vergehen gegen Arbeiterschutzbestimmungen gerügt wurden. Den Anklagevertretern legte der Justizminister auf, namentlich in Fällen, in denen es sich um „bewußte oder gar auf Gewinnsucht zurückzuführende Verstöße“ sowie um „gesetzwidrige Ausbeutung der gering gelöhnten weiblichen und jugendlichen Personen“ handele, durch entsprechend hohe Anträge und Einlegung von Rechtsmitteln auf eine nachdrückliche Bestrafung hinzuwirken514. Mit Schreiben vom 26. 8. 1899 teilte Posadowsky das preußische Reskript den übrigen Bundesregierungen mit und stellte ein entsprechendes Vorgehen anheim. Zudem kündigte er die Vorlage einer Denkschrift zu dem Thema an515. Obwohl die meisten Regierungen der Anregung des Innenstaatssekretärs Folge leisteten, blieb das Thema auf der politischen Tagesordnung. Die ungleiche Rechtspraxis auf dem Gebiet der Koalitionsjustiz war in der Hauptsache Ergebnis der selektiven Anklagetätigkeit der Staatsanwälte. Wenn irgendwo, dann läßt sich hier von einer „staatsanwaltschaftlichen Prägung der Strafjustiz“ sprechen. Theodor Loewenfeld, einer der besten Kenner der Materie, stellte nüchtern fest: „Die Verwaltungs- und Polizeibehörden wenden die Vorschriften des öffentlichen Rechtes, welche sowohl die Koalition der Unternehmer wie die der Arbeiter betreffen, lediglich gegen die Arbeiter an. Die Gerichte wenden die Vorschriften des § 153 und die härteren Vorschriften des Strafgesetzbuches in den §§ 240, 253, weiter den groben Unfugsparagraphen ausschließlich gegen Arbeiter an; die Gerichte können nicht anders, da es zwar nicht an strafrechtlichen, aber infolge des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft an strafprozessualen Voraussetzungen einer Verfolgung der Unternehmer fehlt“516. 513 Ein preußischer Aufsichtsbeamter schrieb: „Überhaupt tritt in der Beurteilung von Übertretungen der Arbeiterschutzgesetze bei den Polizeibehörden wie bei den Gerichten meist eine den Industriellen günstige Auffassung zu Tage, welche geneigt scheint, der sozialen Gesetzgebung keine besondere Wichtigkeit für das Wohl der arbeitenden Klassen beizulegen und Zuwiderhandlungen als mehr oder weniger belanglos anzusehen“ (zit. n. Wurm, Sten. Ber. RT, 10. 1. 1900, S. 3452). 514 AV an die Oberstaatsanwälte v. 6. 10. 1898, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 163; vgl. Schönstedt, Sten. Ber. AH, 18. 2. 1902, S. 1965. 515 Vgl. Posadowsky, Sten. Ber. RT, 14. 1. 1901, S. 674. 516 Loewenfeld, S. 539. Theodor Loewenfeld (1848 – 1919) lehrte – nach Promotion (1873) und Habilitation (1877) – mehr als vierzig Jahre lang an der Münchener Juristenfakultät (1896 o. Honorarprofessor), obwohl er bekennender Sozialdemokrat war (Parteieintritt um 1880) – eine für Preußen ganz undenkbare Liberalität. Seit 1880 betrieb er eine renommierte Anwaltskanzlei in München. Juristisch umfassend gebildet, interessierte ihn vor allem die politische Seite des
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2. Teil: Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900)
Sieht man von der Ungleichbehandlung ab, so zeichnete sich die Rechtsprechung vor allem durch Unsicherheit und Inkonsequenz aus. In bezug auf die zahlreichen widersprüchlichen Urteile zum Vereinsrecht meinte Legien, daß „der Ausgang all’ dieser Prozesse von Glücksumständen abhängt und das Glück vielfach sich auf Seite der Arbeiter stellt“517. Die Rechtsunsicherheit griff auch auf die reichsgerichtliche Judikatur zu Streik und Boykott über. Während die Erkenntnisse der Zivilsenate meist arbeiterfreundlich ausfielen, versuchten die Strafsenate den Spielraum der Streikenden einzuengen – eine Diskrepanz, bei der der Anteil ehemaliger Staatsanwälte unter den Strafrichtern des Reichsgerichts eine wesentliche Rolle gespielt haben dürfte518. Die Spruchpraxis spiegelt die Kompliziertheit der Materie wider und ist von daher nicht zuletzt als Überforderungssymptom zu deuten. Auch der preußische Justizminister griff in die gewerblichen Konflikte ein, zunächst allerdings präventiv und regional begrenzt. Den Hintergrund bildete der Streik der Hamburger Hafenarbeiter an der Jahreswende 1896 / 97, mit rund 17.000 Teilnehmern einer der größten Arbeitskämpfe des Jahrzehnts, der in den Reihen der akademischen Sozialreformer mit großer Sympathie verfolgt wurde. Im Verlaufe des Ausstands kam es zu einer Reihe gewalttätiger Auseinandersetzungen, die zahlreiche Prozesse mit teilweise hohen Strafurteilen nach sich zogen519. Da die preußische Staatsregierung ein Übergreifen auf andere Hafenstädte befürchtete, sprach Schönstedt in einer Rundverfügung an die Oberstaatsanwälte der Küstenprovinzen seine feste Erwartung aus, daß etwaigen Ausschreitungen „mit allen gesetzlichen Mitteln energisch entgegengetreten“ werde. Neben dem § 153 GO machte er insbesondere auf den § 110 StGB aufmerksam, den das Reichsgericht auf privatrechtliche Normen und damit auf den Kontraktbruch ausgedehnt hatte520. Der Streik blieb zwar auf Hamburg und Umgebung begrenzt, immerhin aber waren auch angrenzende preußische Gerichte mit seiner strafrechtlichen „Aufarbeitung“ Rechts. Der Entwurf zur Gewerbeordnungsnovelle (6. 5. 1890), der den § 153 verschärfen und den Kontraktbruch unter Strafe stellen wollte, veranlaßte Loewenfeld zu einer ersten grundlegenden Untersuchung zum Koalitionsrecht (Kontraktbruch und Koalitionsrecht im Hinblick auf die Reform der deutschen Gewerbegesetzgebung, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 3, 1890, S. 383 – 488). 517 Legien, S. 13; ähnlich S. 33. In diesem Punkt stimmten „linke“ und „rechte“ Kritik völlig überein: Auch die „Norddeutsche Allgemeine“ beklagte das „Hazardspiel“ der Justiz (NAZ v. 16. 8. 1894, archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8471). 518 So das Ergebnis der eingehenden Untersuchung von Schröder, Kartellrecht, S. 396 ff. 519 Neben 245 Strafbefehlen erfolgten in Hamburg 311 Verurteilungen; hinzu kamen 27 Verurteilungen durch die Strafkammer Stade und das Schöffengericht Harburg sowie 24 Untersuchungen im Landgerichtsbezirk Altona. Zu den Vorgängen: Ferdinand Tönnies, Der Hamburger Strike von 1896 / 97, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 10 (1897), S. 673 – 720 sowie ders., Strafthaten im Hamburger Hafenstrike, in: ebd. 11 (1897), S. 513 – 520; Denkschrift zur „Zuchthausvorlage“ (Anm. 524), S. 2251; H.-J. Bieber, Der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896 / 97, in: A. Herzig (Hg.), Arbeiter in Hamburg, Hamburg 1983, S. 229 – 245. 520 ZR an die Oberstaatsanwälte in Celle, Kiel, Königsberg, Marienwerder und Stettin v. 3. 12. 1896, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 1248.
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beschäftigt. Nach der Jahrhundertwende griff Schönstedt erneut in die Koalitionsrechtsprechung ein, diesmal in massiverer Form. Daß es die Gerichte wieder einmal keiner Seite recht machen konnten, zeigen die Vorgänge um die „Zuchthausvorlage“ von 1899. Auf Betreiben zahlreicher Unternehmerverbände, aber auch Wilhelms II. erließ Posadowsky am 11. 12. 1897 ein geheimes Rundschreiben, in dem er die Bundesregierungen aufforderte, Material über die Handhabung des Koalitionsrechts einzureichen sowie zur Frage etwaiger gesetzlicher Verschärfungen Stellung zu nehmen521. Den letzten Anstoß gab eine Eingabe, die der Innungsverband Deutscher Baugewerksmeister am 13. Oktober 1897 an den Bundesrat gerichtet hatte. Sie liest sich wie eine Anklageschrift gegen die zuständigen Behörden522. Der § 153 GO habe, heißt es dort, „innerhalb der Kreise der ausführenden Verwaltungsbehörden und der Urteilsgerichte nicht in dem Sinne eine Auslegung gefunden, daß einer tatsächlichen Vergewaltigung der arbeitswilligen Mitarbeiter bzw. der Arbeitgeber daraufhin wirksam vorgebeugt werden kann“. Um den Justizorganen ein wenig nachzuhelfen, erteilten die Petenten eine kurze Lektion über die „richtige“ Anwendung der Strafvorschriften, verlangten die konsequente Verhängung von Gefängnisstrafen und beantragten eine Anweisung an die Staatsanwaltschaft, gegen die Streikführer als Anstifter stets öffentliche Klage zu erheben. Der aufreizend-arrogante Ton, in dem die Eingabe abgefaßt ist, dürfte sich aus der Tatsache erklären, daß die Verfasser um die Rückendeckung Wilhelms II. wußten. Dieser hatte in seiner Bielefelder Rede vom 17. 6. 1897 „die schwerste Strafe“ für denjenigen gefordert, „der sich untersteht, einen Nebenmenschen, der arbeiten will, an freiwilligem Arbeiten zu hindern“523. Der Entwurf eines „Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses“, der dem Reichstag am 26. 5. 1899 zuging, ersetzte den § 153 GO durch ein umfassendes Regelsystem mit erhöhten, bis zur Zuchthausstrafe reichenden Strafdrohungen524. Die Vorlage ist als Versuch zu verstehen, die ausdehnende, jedoch unsicher gebliebene Rechtsanwendung auf eine feste gesetzliche Grundlage zu stellen und nochmals zu verschärfen. Die beigegebene Denkschrift zeichnete ein ausgesprochen tendenziöses Bild von Verhalten und Zielen der Arbeiterschaft, was insofern nicht verwundert, als sie aus den angeforderten Berichten der Polizei-, Anklage- und Gerichtsbehörden zusammengesetzt war. Öffentlichkeit und Parlamentsmehrheit lehnten das neue Konfliktgesetz strikt ab. In der Debatte des 521 Abgedr. bei: P. Rassow / K. E. Born (Hg.), Akten zur staatlichen Sozialpolitik in Deutschland 1890 – 1914, Wiesbaden 1959, S. 110 f.; vgl. auch die RVen Schönstedts v. 3. 2. und 26. 2. 1898, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7994, Bl. 96 ff.; zur „Zuchthausvorlage“ Köhne, S. 248 ff.; s. auch Röhl, Wilhelm II., S. 974 ff. 522 Abgedr. bei Legien, S. 113 – 118; vgl. auch Loewenfeld, Koalitionsrecht und Strafrecht, S. 544 ff. 523 Abdr. d. Rede bei: H. Fenske (Hg.), Quellen zur deutschen Innenpolitik 1890 – 1914, Darmstadt 1991, S. 171 f.; zit. auch bei Legien, S. 3; in seiner Oeynhausener Rede vom 6. 9. 1897 sprach Wilhelm II. dann erstmals von Zuchthausstrafen. 524 Sten. Ber. RT 1898 / 1900, Drks. Nr. 347.
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Reichstags (19. – 22. 6. 1899) offenbarte sich der Unmut, der sich auch in den Reihen der bürgerlichen Parteien über die Gerichtspraxis breitgemacht hatte. Eine gewisse Berühmtheit erlangte das Diktum des Zentrumsführers Ernst Lieber, der, sicherlich mit einem Seitenblick auf die Christlichen Gewerkschaften, von den „haarsträubenden Urteilen“ sprach, die die Strafgerichte nicht selten wegen Koalitionszwangs gefällt hätten, sowie von „der geradezu himmelschreienden Parteilichkeit, mit der dieselben Vergehen auf der einen Seite auf das härteste und auf der anderen Seite auf das mildeste geahndet werden“525. Gegen die Stimmen den beiden konservativen Parteien sprach sich das Plenum gegen eine kommissarische Beratung aus, wodurch das Ende der Vorlage bereits nach Abschluß der ersten Lesung besiegelt war. Loewenfeld führte die Ablehnungsfront auf den ungewollten Demonstrationseffekt des Entwurfs zurück: „Der Sturm des Unwillens, welchen die Veröffentlichung der Vorlage weit über die Kreise der Arbeiterbevölkerung hinaus im deutschen Volke entfesselt hat, kam dadurch zum Ausbruch, daß man in dieser Vorlage zum erstenmale die bisher in so vielen einzelnen gerichtlichen Urteilen und Verwaltungsakten zerstreute Summe von Ungerechtigkeit vereinigt und konzentriert sah in einem lückenlosen System, welches der erlaubten Ausübung des Koalitionsrechtes der Arbeiter jeden Weg versperrt, der unerlaubten Ausübung des Koalitionsrechtes der Unternehmer freie Bahn öffnet. Man sah und sieht in der Vorlage das Bild der ,Gerechtigkeit‘ des bisherigen Rechts, seiner Anwendung und Nichtanwendung“526. So sehr die Kritik in der aktuellen Situation berechtigt war, so sehr muß andererseits betont werden, daß für die Rechtsprechung zum Koalitions- und Streikrecht dasselbe gilt wie für die Pressejustiz: Die strafgerichtliche „Nadelstichpolitik“ konnte die Entwicklung moderner Formen der Arbeiternehmervertretung und des Arbeitskampfes nicht aufhalten. 7. Was den Gesamtumfang der über Sozialdemokraten verhängten Strafen betrifft, so ist man auf die Übersichten in den Rechenschaftsberichten angewiesen, die der Parteivorstand alljährlich dem Parteitag erstattete. Sie beziehen sich nur auf die im engeren Sinne politischen Delikte, umfassen also nicht die wegen Streik- und Koalitionsvergehen ausgesprochenen Urteile. Zudem geben sie lediglich die Summe der im Berichtszeitraum in den einzelnen Strafarten aufgelaufenen Strafen wieder. Dennoch vermitteln sie einen Eindruck von der Größenordnung der Strafverfolgung und machen, ungeachtet aller Schwankungen, deren Tendenzen sichtbar: So lag der Schwerpunkt der Verurteilungen im Zeitraum 1891 bis 1897, wobei die Jahre 1892 (36 Jahre Zuchthaus, 80 Jahre Gefängnis) und 1897 (118 Jahre Gefängnis) die Spitzenwerte bilden. Danach trat – hier dürften die massive öffentliche Kritik und das ministerielle Eingreifen ihre Wirkung getan haben – 525 Lieber, Sten. Ber. RT, 20. 6. 1899, S. 2663 f. (die Äußerung brachte dem Redner einen Ordnungsruf ein); vgl. auch die Rede von Bassermann (NL), ebd., S. 2666 ff. 526 Loewenfeld, Koalitionsrecht und Strafrecht, S. 602.
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eine gewisse Abschwächung ein, der ab 1901 ein nochmaliger Rückgang folgte527. Verglichen mit der Zeit des Sozialistengesetzes ließ der Verfolgungsdruck kaum nach. Die 846 Jahre Freiheitsentzug, die in den zehn Jahren zwischen 1891 und 1900 gegen Sozialdemokraten verhängt wurden, lagen sogar noch etwas höher als die von Auer für den vergleichbaren Zeitraum vom 1. 10. 1878 bis 1. 10. 1888 angegebene Gesamtsumme (831 Jahre), die allerdings nur als absoluter Mindestwert zu verstehen ist528. Den Angaben Bernsteins zufolge wurden in Groß-Berlin zwischen Anfang 1891 und Ende 1905 insgesamt 130 Mitglieder der Arbeiterbewegung zu rund 45 Jahren Gefängnis verurteilt. Davon entfielen etwa 18 Jahre auf Straftaten im Arbeitskampf sowie knapp 10 Jahre auf Preßdelikte, der Rest verteilte sich auf Reden in Versammlungen, Beleidigungen der Polizei und Widerstand gegen Schutzleute. Mehr als zwei Drittel aller Verfahren fanden in den Jahren bis 1895 statt, danach wurde das Feld weitgehend von der Streikjustiz beherrscht. Die Gesamtsumme an Geldstrafen schätzt Bernstein auf über 100.000 Mark529. Eine überdurchschnittlich hohe Verurteilungsquote wies wieder einmal Sachsen auf. Nach den (unvollständigen) Übersichten, die alljährlich von der Redaktion der „Leipziger Volkszeitung“ zusammengestellt wurden, sprachen im Jahre 1894 sächsische Gerichte 16 Jahre, 5 Monate und 12 Tage Gefängnis, 1 Jahr und 17 Tage Haft sowie 22.697 Mark Geldstrafe über Mitglieder der Arbeiterpartei aus530. Neben den einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs trug vor allem die rigorose Handhabung des sächsischen Vereins- und Versammlungsrechts zu dem Strafkonto bei, das, zusammen mit dem Pressewesen, in den Händen der politischen Abteilung des Leipziger Polizeiamts lag. Der „Vorwärts“ kontrastierte die Verurteilungszahlen mit dem vormaligen Ausnahmerecht und stellte fest: „Vergleicht man die Zahlen miteinander, so wird man unbedingt zum Schluß kommen, wie herrlich man in Sachsen mit dem gemeinen Recht wirtschaftet. Und da fordert 527 Die Strafstatistiken sind zusammengestellt bei Schröder, Handbuch, S. 476. Danach wurden verhängt (die Zahlen bezeichnen die Zuchthaus- und Gefängnisstrafen in Jahren und Monaten sowie die Geldstrafen in Mark; bei zwei Angaben nur Gefängnis- und Geldstrafe): 1891: 87 / 6, 18.262; 1892: 36 / 10, 80 / 2, 20.532; 1893: 23 / 1, 63 / 2, 31.938; 1894: 58 / 8, 43.747; 1895: 28 / 6, 64 / 10, 34.120; 1896: 84 / 8, 31.773; 1897: 118 / 8, 28.229; 1898: 54 / 7, 19.948; 1899: 74 / 1, 23.251; 1900: 6 / 8, 64 / 7, 16.427; 1901: 2, 33 / 1, 26.900; 1902: 3, 48 / 8, 17.659; 1903: 14, 36 / 6, 16.707; 1904: 43 / 2, 21.552 (das Berichtsjahr umfaßte jeweils die Zeit vom 1. 4. bis 31. 3. des folgenden Jahres); vgl. auch Franz Mehring, Zweihundertsiebenundzwanzig Jahre, in: Neue Zeit 15 / 1 (1896 / 97), S. 513 – 516 (auch in: Joseph, S. 253 – 259). 528 Zu demselben Ergebnis gelangte auch Rickert (FsVP), Sten. Ber. RT, 12. 12. 1894, S. 57. 529 Vgl. Bernstein, III, S. 431 ff. Nicht eingerechnet sind Haftstrafen von unter einer Woche sowie Umwandlungen von Geld- in Gefängnisstrafen. Sie hinzugerechnet, geht Bernstein von etwa 60 Jahren Freiheitsentzug aus; Liste der verurteilten Zeitungsredakteure ebd., S. 434 f. 530 Vorwärts v. 13. 2. 1895. Für 1895 lauteten die Zahlen: 14 Jahre, 4 Monate, 1 Woche, 4 Tage Gefängnis, 4 Monate, 2 Wochen, 3 Tage Haft, 2.954 M. Geldstrafe (Leipziger Volkszeitung v. 2. 1. 1896; Vorwärts v. 3. 1. 1896); alle archiv. in: GStA, Rep. 77, CB, Sachen, Nr. 59.
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man noch, daß Ausnahmebestimmungen im gemeinen Recht aufgenommen werden sollen!“531. 8. Von den zahlreichen spektakulären Prozessen, die in jenen Jahren gegen Sozialdemokraten in Szene gesetzt wurden, dürfte sich der Essener Meineidsprozeß – Höhepunkt und Abschluß der seit den frühen 80er Jahren praktizierten Meineidsjustiz – am tiefsten in das Parteigedächtnis eingegraben haben532. In dem Verfahren, das vom 14. – 17. 8. 1895 vor dem Essener Schwurgericht stattfand, hatten sich Ludwig Schröder, Vorsitzender des alten Bergarbeiterverbandes, und sechs weitere Verbandsmitglieder wegen wissentlichen Meineides zu verantworten. Die Anklage bezog sich auf ihre Zeugenaussagen in einem Strafverfahren gegen den verantwortlichen Redakteur des Verbandsorgans (11. / 27. 6. 1895), der über einen Zwischenfall auf einer Versammlung des „Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter“ am 3. 2. 1895 in Baukau bei Herne berichtet hatte. In tatsächlicher Hinsicht ging es in beiden Fällen um die läppische Frage, ob Schröder von dem aufsichtführenden Gendarmen, einem Mann namens Münter, zu Boden gestoßen worden sei oder nicht. Obwohl sich die Zeugenaussagen widersprachen und Zweifel an der Glaubwürdigkeit Münters bestanden, wurden Schröder und fünf Mitangeklagte zu Zuchthausstrafen zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Jahren einschließlich Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf fünf Jahre verurteilt, womit das Gericht den Strafanträgen des Staatsanwalts ohne Abstriche folgte. Ein Angeklagter erhielt sechs Monate Gefängnis wegen fahrlässigen Meineids. Der empörte Aufschrei, der durch die SPD-Blätter ging, hatte als Nachhutgefechte eine Reihe von Anklagen wegen Beleidigung des Hauptbelastungszeugen zur Folge533. Der SPDAbgeordnete Stadthagen sprach im Reichstag von einem Fall, der „an Grauenhaftigkeit [ . . . ] wohl alles in den Schatten stellt, was in den letzten Jahren dagewesen ist“534. Der Parteigeschichtsschreibung galt das Urteil fortan als „Akt infamster Klassenjustiz“ (Frohme). Aber auch große Teile der bürgerlichen Presse meinten, die Untersuchung hätte erst gar nicht eingeleitet werden dürfen, und äußerten die Vermutung eines Fehlurteils535. Im Reichstag, wo der Schrödersche Fall immer 531 Vorwärts v. 13. 2. 1895. Demgegenüber lobten die regierungsnahen „Hamburger Nachrichten“ die sächsischen Behörden ausdrücklich für ihr „energisches Einschreiten“ (Ausgabe v. 21. 2. 1895, archiv. in: ebd.). 532 Ausführliche Darstellung: Franz Lütgenau, Der Essener Meineids-Prozeß, Berlin 1895; weiterhin: Franz Mehring, Der Essener Meineidsprozeß, in: Neue Zeit 13 / 2 (1894 / 95), S. 705 – 708; Frohme, S. 145 – 164; Materialien und Pressestimmen in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49623. 533 Im Prozeß gegen Franz Lütgenau, verantwortlicher Redakteur der Dortmunder „Arbeiter-Zeitung“, der am 7. 11. 1896 von der Anklage wegen Beleidigung Münters freigesprochen wurde, äußerte die Strafkammer in ihrer Urteilsbegründung erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers. Daraufhin stellte der Verteidiger der verurteilten Bergleute erstmals einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. 534 Stadthagen, Sten. Ber. RT, 27. 11. 1896, S. 3552. 535 Vgl. die Sammlung von Pressestimmen bei Lütgenau, S. 30 ff.; Theodor Barth, Ein Meineidsprozeß, in: Nation 12 (1894 / 95), S. 674 – 676.
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wieder zur Sprache kam, rechtfertigte Schönstedt das Verhalten der Justizbehörden in ungewohnt ausführlicher Weise536. Im Essener Prozeß kreuzten sich verschiedene Konfliktlinien: die angebliche Mißachtung des Eides durch die Sozialdemokraten, der vermeintlich höhere Wahrheitsgehalt polizeilicher Aussagen, der unverhohlene Verfolgungseifer der Staatsanwaltschaft und die politisch-soziale Voreingenommenheit der Geschworenen. Obwohl sich zahlreiche bürgerliche Sozialreformer für eine Begnadigung einsetzten – die Verurteilten selbst lehnten einen entsprechenden Antrag ab – entschied sich die Justizverwaltung gegen eine vorzeitige Haftentlassung. Erst 1910 gelang es der Verteidigung, ein Wiederaufnahmeverfahren durchzusetzen, mit dem Ergebnis, daß das Urteil – wegen erwiesener Unschuld – aufgehoben und den Betroffenen Entschädigung zugesprochen wurde. Die „Essener Meineidstragödie“ hätte, so Frohme rückblickend, in starkem Maße dazu beigetragen, „in den Volksmassen ein gesundes Rechtsempfinden aufzurütteln“ und die Erkenntnis zu verbreiten, daß das gesamte Justizwesen einer „den Geboten der Humanität und des wahrhaft kulturellen Geistes genügenden gründlichen Reform“ unterzogen werden müsse537. 9. In den hochkonservativen Kreisen Preußens war man mit der Rechtsprechung dennoch alles andere als zufrieden. Alfred v. Waldersee, Protagonist einer auch vor staatsstreichartigen Maßnahmen nicht zurückschreckenden Gewaltpolitik, schrieb in einer Denkschrift an Kriegsminister Goßler im Februar 1897: „Die Staatsanwälte scheuen sich jetzt fast allgemein vor energischem Vorgehen [gegen die sozialdemokratische Agitation], weil sie fürchten, von den Richtern im Stich gelassen zu werden; diese Scheu muß ihnen genommen werden und auf die Richter in entsprechender Weise eingewirkt werden“538. Als Wilhelm II. Anfang 1894 im Kronrat über die zunehmende „Verwilderung“ der Presse, die Kanzler und Dynastie verspotten und das Gefühl für Autorität im Volk untergraben würde, Klage führte, lamentierte Schelling, daß es milde Urteile gäbe, obwohl konservative Männer zu Landgerichtsdirektoren ernannt würden539. Überhaupt gab der Kaiser dem Justizminister eine gehörige Mitschuld an der in seinen Augen miserablen Lage, was insofern nicht einer gewissen Ironie entbehrt, 536 Vgl. Vollmar, Sten. Ber. RT, 12. 11. 1896, S. 3210; Stadthagen, ebd., 27. 11. 1896, S. 3552 f., 3556; Nieberding, ebd., S. 3553 f.; W. Liebknecht, ebd., S. 3557 („juristischer und psychologischer Nonsens“); Schönstedt, ebd., 18. 1. 1897, S. 4112 – 4114; Lenzmann, ebd., S. 4115 f.; Lütgenau, ebd., 27. 3. 1897, S. 5331; weiterhin: Fr. W. Foerster, Das Essener Geschworenenurteil im Reichstag, in: Ethische Kultur 5 (1897), S. 37 f. 537 Frohme, S. 164. 538 Zit. n. K. E. Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz, Wiesbaden 1957, S. 135. Waldersee (1832 – 1904) war 1888 – 1891 Chef des Generalstabs der Armee, anschließend von 1891 – 1898 Kommandierender General des IX. Armeekorps in Altona. Im Jahre 1900 befehligte er die internationale Eingreiftruppe, die als Reaktion auf den Boxeraufstand nach China entsandt wurde. 539 Kronrat v. 11. 1. 1894 (Protokolle StM, Bd. 8 / 1, Nr. 138); vgl. auch Ormond, S. 422 – 426.
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als sich gerade Schelling immer auch als politischer Minister verstanden hatte. Bei Schellings unrühmlicher Entlassung im November 1894 – der Kaiser forderte ihn wenige Wochen vor seinem 50jährigen Dienstjubiläum als Staatsbeamter zum Rücktritt auf – monierte Wilhelm II. den „geradezu lamentablen Zustand des Preußischen Gerichtswesens“. Als Nachfolger hatte er seit längerem ausgerechnet den „Sozialistenfresser“ Tessendorf ins Auge gefaßt: „Tessendorf muß die Gerichtspräsidenten pp. Preußens sich gehörig verbinden, um unserm Justiz-Augias-Stall die nötige Reinigung zukommen zu lassen. [ . . . ] Ich habe ihn schon seit fünfviertel Jahren in Aussicht als Justizminister genommen und alle, auch die sorgfältigsten Erkundigungen haben ihn als den richtigen Mann bezeichnet“ 540. Zur Erleichterung des gerade zum Reichskanzler ernannten Hohenlohe lehnte Tessendorf das Angebot mit der Begründung ab, als der wohl bestgehaßte Mann in Deutschland seien alle Parteien mehr oder weniger gegen ihn eingestellt. Daraufhin wurde, einem Kompromißvorschlag Hohenlohes folgend, der Celler Oberlandesgerichtspräsident Schönstedt neuer preußischer Justizminister541. Die Beispiele lassen erkennen, daß sich die Geringschätzung des Richterstandes, die bereits für Bismarck so typisch war, bei Wilhelm II. und Teilen seiner Umgebung bruchlos fortsetzte. In der Tat unterschied sich Schönstedt in seinem Amtsverständnis von seinem Vorgänger, wenn auch nicht unbedingt in der vom Kaiser gewünschten Richtung. Zielten die Schellingschen Reskripte durchweg auf Konfliktverschärfung, so verfolgten die Erlasse Schönstedts meist die gegenteilige Absicht. Wie aus den obigen Darlegungen hervorgeht, hatte die öffentliche Kritik in beinahe jedem Punkt über kurz oder lang eine entsprechende Anweisung an die Justizbehörden zur Folge. Schönstedts Auffassung von der Justiz als eines Organismus, der, um ordnungsgemäß funktionieren zu können, einer gewissen Pflege bedarf, erinnert an Friedberg. Hier verrät sich seine Herkunft aus dem Richterstand, die ihm lange Zeit die Sympathien der preußischen Richterschaft sicherte. Aus diesem Blickwinkel wird verständlich, weshalb sich Schönstedt in späteren Jahren wiederholte Male verärgert über die nicht nachlassende Kritik zeigte. Dieselbe Ursache dürfte für den Umstand verantwortlich sein, daß er für die Erfordernisse des politischen Geschäfts relativ wenig Gespür besaß, wie bereits sein parlamentarisches Début, aber auch seine späteren Gesetzgebungsprojekte bezeugen (Strafprozeßvorlage, Assessorenparagraph, Ausbildungsreform). Andererseits bestand nie ein Zweifel an seinem strikten Antisozialismus, und er galt als „energisch“, beides Attribute, die ihn auch für hochkonservative Kreise akzeptabel machten. In jener Mischung aus monarchischer Gesinnungstreue, Entschlußfreudigkeit und Sensibilität für die Bedürfnisse des Justizwesens dürfte die Erklärung für die elfjährige „Ära Schönstedt“ liegen. 540 Randbemerkung zum Immediatbericht Hohenlohes v. 4. 11. 1894 über die Frage, wer Schellings Nachfolger werden solle (zit. n. Röhl, Deutschland, S. 118; s. auch ders., Wilhelm II., S. 763 f.). 541 Karl Heinrich v. Schönstedt (1833 – 1924) hatte vor seiner Ernennung eine reine Richterkarriere durchlaufen. Das Amt des preußischen Justizministers bekleidete er vom 15. 11. 1894 bis zum 20. 11. 1905.
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Ohne meßbare Wirkung auf die öffentliche Meinungslage blieb der umfassende Gnadenerlaß, den Wilhelm II. als preußischer König aus Anlaß des 25jährigen Jahrestages der Reichsgründung verkünden ließ. In den Genuß der landesherrlichen Gnade kamen alle Personen, die wegen Übertretungen zu Haft- oder Geldstrafen oder wegen Vergehen zu Freiheitsstrafen von nicht mehr als sechs Wochen und / oder zu Geldstrafen von nicht mehr als 150 Mark rechtskräftig verurteilt worden waren542. 10. Objekt politischer Strafverfolgung blieb auch die welfische Opposition in der Provinz Hannover, die sich zu Beginn der 90er Jahre einer neuen Repressionswelle gegenübersah543. Veranlaßt durch den Erfolg der Deutschhannoverschen Partei bei der Reichstagswahl vom Februar 1890 (bei fast gleichbleibendem Stimmenanteil stieg die Zahl der Mandate von 4 auf 11) und zahlreiche Vereinsgründungen beschloß das Staatsministerium in seiner Sitzung vom 5. 4. 1890, mit den Mitteln des Welfenfonds auch weiterhin gegen die Partikularisten vorzugehen544. Die ergriffenen Maßnahmen lagen zumeist auf polizeilicher (Hausdurchsuchungen, Zeugenvernehmungen) und administrativer Ebene (Absetzung bzw. Nichtbestätigung von Mitgliedern des Kreistags und des Kreisausschusses, Ortsvorstehern, Beigeordneten etc.). Treibende Kraft war pikanterweise der Hannoveraner Rudolf v. Bennigsen, von 1888 bis 1897 Oberpräsident der Provinz545. Vereinzelt fanden darüber hinaus gerichtliche Untersuchungen statt, bei denen sich zeigte, daß die Parteigänger der Welfen nach wie vor Sympathien unter den hannoverschen Justizbeamten genossen. Aufschlußreich ist der Fall des bekannten welfischen Abgeordneten Brüel546. Eine in Lüchow anläßlich des Geburtstags des Thronprätendenten, des Herzogs von Cumberland, am 26. 9. 1890 gehaltene, in der „Deutschen Volkszeitung“ abgedruckte Rede hatte Brüel eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung durch den Staatsanwalt in Lüneburg eingebracht. In der Rede 542 Allerhöchster Gnadenerlaß v. 18. 1. 1896, in: JMBl, S. 19 f. (einschließlich einer AV Schönstedts vom gleichen Tag). 543 Ausführliche Darstellung der Vorgänge auf aktenmäßiger Grundlage: Anon., Die neue Verfolgung der Hannoveraner, Zürich 1892; vgl. auch Aschoff, S. 258 – 260. 544 Neben den Welfen umfaßte der Beschluß auch die Anhänger Windthorsts und den Freisinn (Protokolle StM, Bd. 8 / 1, Nr. 4). 545 Bereits 1889 hatte Bennigsen einen Beleidigungsprozeß gegen den Redakteur Dannenberg von der „Deutschen Volkszeitung“, dem welfischen Hauptorgan, angestrengt, der mit einer Verurteilung zu drei Monaten Gefängnis endete (Prozeßbericht: Der Prozeß Rudolf v. Bennigsens gegen die Deutsche Volkszeitung, Hannover 1889); vgl. auch D. Brosius, Rudolf von Bennigsen als Oberpräsident der Provinz Hannover 1888 – 1897, Hildesheim 1964, S. 28 ff. 546 Schilderung in: Neue Verfolgung, S. 10 – 16 (mit Abdruck der wichtigsten Dokumente). Ludwig August Brüel (1818 – 1896), vor 1866 hoher Beamter im hannoverschen Kultusministerium, vertrat, als Mitglied der Zentrumsfraktion, 1870 – 1896 im Abgeordnetenhaus und 1875 – 1884 / 1890 – 1893 im Reichstag welfische Interessen. Er setzte sich vor allem für die Herausgabe des Welfenschatzes ein und vermittelte 1892 die diesbezügliche Einigung zwischen Preußen und dem Herzog von Cumberland.
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hatte er – unter Hinweis auf den „jähen Sturz“ Napoleons III. und Bismarcks – der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß Gott der Allmächtige dem Herzog die ihm zustehende Krone aufs Haupt setzen werde. Ungewöhnlicherweise gab der Staatsanwalt dem Beschuldigten Gelegenheit, sich schriftlich zu den Vorwürfen zu äußern. Die Strafkammer des Landgerichts Lüneburg lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens im Dezember 1890 ab, und zwar mit Argumenten, die denjenigen ähnelten, die Brüel zu seiner Verteidigung vorgebracht hatte. Der Staatsanwalt verzichtete darauf, gegen den Beschluß Beschwerde einzulegen. Vergleicht man den Fall Brüel mit dem Fall Liebknecht sechs Jahre später, beides Untersuchungen wegen Majestätsbeleidigung, so wird der enorme Spielraum deutlich, über den Staatsanwaltschaften und Gerichte im Rahmen ihrer amtlichen Befugnisse verfügten. Die Vorgänge riefen Justizminister Schelling auf den Plan. In einem geheimen Reskript, das im März 1891 an den zuständigen Oberstaatsanwalt in Celle erging, bedauerte er lebhaft die Entscheidung der Strafkammer, sei der Tatbestand bei „richtiger Würdigung“ doch als erfüllt anzusehen, rügte scharf das Verhalten des Ersten Staatsanwalts und sprach auch dem Oberstaatsanwalt, der das Vorgehen seines Untergebenen gedeckt hatte, einen Tadel aus547. Zugleich äußerte er die Erwartung, daß die Staatsanwaltschaft welfischen Ausschreitungen „künftig mit Strenge und Nachdruck“ entgegentreten werde. Hierzu gehöre nicht bloß, daß alle als strafbar anzusehenden Fälle „der gerichtlichen Entscheidung unterbreitet werden, sondern auch, daß der Standpunkt der Staatsanwaltschaft in der Beurteilung dieser Fälle mit Ernst und Nachdruck vertreten wird, daß empfindliche Strafen in Antrag gebracht und abweichende Entscheidungen der Gerichte durch alle zulässigen Rechtsmittel angegriffen werden“. Der Oberstaatsanwalt wurde ersucht, die Ersten Staatsanwälte seines Bezirks „mündlich und vertraulich“ mit entsprechender Anweisung zu versehen548. Die Verfügung, die an das grundlegende, gegen die Sozialdemokraten gerichtete Reskript vom 6. 9. 1890 erinnert, unterstreicht die Bedeutung, die man der welfischen Gefahr in ministeriellen Kreisen nach wie vor beimaß. Nichtsdestotrotz endete der große Prozeß, der 1893 gegen 32 Vereine und 65 Privatpersonen wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz stattfand, mit einem ähnlichen Ergebnis: Größtenteils erfolgte Freispruch, die übrigen Angeklagten wurden zu geringfügigen Geldstrafen verurteilt549. Auch nach Abebben der Repressionswelle blieb das Thema der welfisch gesinnten Richterschaft virulent. Nachdem der neue hannoversche Oberpräsident, Graf zu Stolberg-Wernigerode, eine Säuberung der Beamtenschaft gefordert hatte, da es noch immer zahlreiche welfische Richter, Geistliche und Lehrer in der Provinz gäbe, beauftragte das Staatsministerium in seiner Sitzung vom 22. 5. 1900 die zuständigen Minister Rheinbaben (IM) und Schönstedt, über die politische ZuverReskript an den OStA in Celle v. 10. 3. 1891, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 53 – 55. Zitate ebd. 549 Vgl. Aschoff, S. 259; zur Kritik an der Staatsanwaltschaft auch v. Hodenberg, Sten. Ber. RT, 11. 1. 1895, S. 278 f. 547 548
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lässigkeit ihrer Beamten Erkundigungen einzuziehen. Als Schönstedt am 6. 9. 1900 Bericht erstattete, trat er dem Vorwurf, zu viele Hannoveraner seien als junge Richter in der Provinz angestellt worden, entgegen. Zugleich wies er darauf hin, daß das hannoversche Partikularrecht es erfordert hätte, die Richterschaft nach 1866 weitgehend im Amt zu belassen550. b) Bayern In Bayern bot die politische Strafrechtsprechung weiterhin in vielerlei Hinsicht ein anderes Bild dar. 1. Auf dem Gebiet der Majestätsbeleidigung wies Bayern als einziger unter den größeren Bundesstaaten sinkende Werte auf: Im Vergleich zu den Jahren 1882 – 87 nahm die durchschnittliche Zahl der Verurteilten 1888 – 96 um 30 % ab (69:48). In den 90er Jahren entfielen rund zwei Drittel aller Verurteilungen auf Beleidigungen des Kaisers, während Ausfälle gegen den volkstümlichen Prinzen Luitpold, der seit 1886 die Regentschaft führte, nur etwa ein Drittel ausmachten551. Entsprechend selten kam das Thema im Landtag zur Sprache. Als der Abgeordnete Scherm (SPD) einmal die Rechtspraxis bei Majestätsbeleidigungen tadelte, lobte der Zentrumsvertreter Joseph Geiger, dessen Wort in justizpolitischen Fragen – Geiger war langjähriger Richter am Obersten Bayerischen Landesgericht – besonderes Gewicht besaß, die bayerische Rechtsprechung ausdrücklich dafür, daß das Delikt so gut wie gar nicht zur Aburteilung gelange552. Erneut kam dem anders strukturierten Forum entscheidende Bedeutung zu: Injurien gegen den in Bayern äußerst unbeliebten Wilhelm II. stießen bei den Geschworenen auf viel Verständnis. Im Bericht des preußischen Gesandten Graf Monts vom Juni 1897 über einen gerade zu Ende gegangenen Presseprozeß vor dem Münchener Schwurgericht heißt es, die Verhandlung liefere einen erneuten Beweis dafür, „daß von der bayerischen Geschworenenbank eine Bejahung der Schuldfrage in Majestätsbeleidigungsprozessen, sobald es sich um die Person Seiner Majestät des Kaisers und Königs handelt, meistens nicht zu erwarten steht“553. 550 Vgl. Protokolle StM, Bd. 8 / 1, Nr. 404 und Nr. 411; zur antiwelfischen Personalpolitik nach 1900 Ormond, S. 481 ff. 551 In Bayern wurden verurteilt: 1890: 43; 1891: 44; 1892: 51; 1893: 49; 1894: 55; 1895: 49; 1896: 50. Im Jahr 1893 erfolgten 34 Verurteilungen wegen Beleidigung des Kaisers, 15 wegen Beleidigung des Regenten; 1894 lautete das Verhältnis 38:17 (alle Angaben nach: BA, R 3001, Nr. 6157, Bl. 12, 161, 163). 552 Verh. KdA 1895 / 96, Bd. 6, S. 856, 873. 553 Bericht Monts’ v. 5. 6. 1897, in: BA, R 3001, Nr. 6157, Bl. 165. Gemeint war der Prozeß gegen F. J. Kuhn, Redakteur der demokratischen „Münchener Freien Presse“, der am 3. 6. 1897 stattgefunden hatte. Kuhn war, obwohl er die Geschmacklosigkeit des beanstandeten Artikels offen zugegeben hatte, von der Anklage wegen Majestätsbeleidigung freigesprochen und lediglich zu sechs Wochen Gefängnis wegen „groben Unfugs“ verurteilt worden; vgl. „Augsburger Postzeitung“ und „Das Bayerische Vaterland“, jeweils v. 5. 6. 1897; weiterhin zum ganzen: K. H. Pohl, Die Münchener Arbeiterbewegung, München 1992, S. 100; zur
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2. Eine politische Justizkritik, die diesen Namen verdient, kam in Bayern erst Mitte der 90er Jahre auf. Dies hing eng mit der Auflockerung des Parteiensystems zusammen: Mit der Wahl 1893 zogen mit dem Bayerischen Bauernbund, zu dem sich ältere Bauernvereine im Zeichen der Agrarkrise auf föderalistisch-demokratischer Grundlage zusammengeschlossen hatten, und der SPD, die unter Führung Georg v. Vollmars einen reformistisch-pragmatischen Kurs einschlug, zwei oppositionelle Parteien in den Landtag ein. Bestimmend blieb aber zunächst der Gegensatz zwischen dem Bayerischen Zentrum, in das sich die alte Patriotenpartei 1887 umbenannt hatte, und der Liberalen Vereinigung, dem fraktionellen Zusammenschluß aller liberalen Gruppierungen554. Das Ministerium Crailsheim (1890 – 1903), das die nationalliberal-reichsfreundliche, auf konstitutionelle Distanz zu den Parteien bedachte Politik der Regierung Lutz fortsetzte, konnte in der Kammer mit der Unterstützung durch die Liberalen rechnen. Demgegenüber entschied das Zentrum, das zwar über die Mehrheit verfügte, aber in einen bäuerlich-kleinbürgerlich-demokratischen und einen aristokratisch-konservativen Flügel zerfiel, von Fall zu Fall über eine Zusammenarbeit mit der Regierung555. Der Ausgangspunkt läßt sich mit der Fuchsmühler Affäre der Jahre 1894 / 95, in welche die Justiz auf verschiedene Weise involviert war, präzise bestimmen556. Eine langjährige Auseinandersetzung um die Ablösung von Holzrechten zwischen der Gemeinde Fuchsmühl (Oberpfalz) und dem Freiherrn v. Zoller hatte sich am 30. 10. 1894 in einem blutigen Zusammenstoß zwischen den Holzberechtigten und einer Militärabteilung entladen, bei dem zwei Dorfbewohner getötet und achtzehn weitere z. T. schwer verletzt worden waren. Die Vorgänge, der größte innenpolitische Skandal im Bayern der 90er Jahre, lösten einen gewaltigen Proteststurm im Lande aus und wurden auch im Reich aufmerksam verfolgt. Im weiteren Verlauf sahen sich 151 Dorfbewohner vor dem Landgericht in Weiden wegen Landfriedensbruchs und Forstfrevels – immerhin waren sie zur Selbsthilfe geschritten und hatten eigenmächtig das umstrittene Holz geschlagen – angeklagt (23. – 27. 4. 1895), mit dem Ergebnis, daß 149 von ihnen zu Gefängnisstrafen zwischen 14 Tawachsenden Unbeliebtheit des Kaisers in Bayern auch Röhl, Wilhelm II., S. 943 f. Anton Graf von Monts (1852 – 1930) war von 1895 – 1902 preußischer Gesandter in München. 554 Mandatszahl der wichtigsten Parteien (insgesamt 159 Sitze): 1893: Zentrum: 74; Liberale: 67; Bauernbund: 9; SPD: 5 – 1899: Zentrum: 83; Liberale: 44; Bauernbund: 13; SPD: 11 (vgl. Treml, Tab. S. 88). 555 Zu den einzelnen Parteien: A. Knapp, Das Zentrum in Bayern 1893 – 1912, München 1973; A. Hochberger, Der Bayerische Bauernbund 1893 – 1914, München 1992; S. Brewka, Zentrum und Sozialdemokratie in der bayerischen Kammer der Abgeordneten 1893 – 1914, Frankfurt / M. 1997. 556 Zum Problemkreis Fuchsmühl: Adolf Müller, Fuchsmühl, München 1895 (der Autor war langjähriger Chefredakteur der sozialdemokratischen „Münchener Post“; trotz ihrer Polemik fundierteste zeitgenössische Studie); ders., Fuchsmühl. Ein Epilog, in: Neue Zeit 13 / 2 (1894 / 95), S. 276 – 281; W. Albrecht, Die Fuchsmühler Ereignisse vom Oktober 1894, in: ZBLG 33 / 1 (1970), S. 307 – 354; W. Stelzle, Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der bayerischen Oberpfalz um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: ZBLG 39 (1976), S. 487 – 540.
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gen und 41/2 Monaten verurteilt wurden557. Wie von der öffentlichen Meinung lautstark gefordert, hob der Prinzregent die formal kaum zu beanstandenden Urteile im Januar 1896 per Gnadenakt auf. Den blutigen Ereignissen war ein mehrjähriger Rechtsstreit um die Frage vorausgegangen, ob die Bauernschaft zur Ablösung ihrer Holzrechte verpflichtet sei. Nachdem die unteren Instanzen entgegengesetzte Urteile gefällt hatten, entschied das Oberste Bayerische Landesgericht in München endgültig gegen die Fuchsmühler. Ebensowenig war es ihnen gelungen, den Freiherrn gerichtlich zur Anweisung des widerrechtlich zurückgehaltenen Rechtholzes zu zwingen. Im Ergebnis waren die Bauern zwischen einer komplizierten, grundherrenfreundlichen Ablösungsgesetzgebung und formalistisch entscheidenden Gerichtsbehörden zerrieben worden. Damit hatten sie genau jene Entfremdungs- und Ohnmachtserfahrungen machen müssen, die Otto Bähr zehn Jahre zuvor für das künftige Verhältnis zwischen rechtsunkundiger Landbevölkerung und bürokratisch arbeitenden Justizorganen vorausgesagt hatte (erinnert sei an die oben wiedergegebene idealtypische Szene). Nach Abschluß des Weidener Prozesses brachte der zentrumsnahe „Bayerische Kurier“ die Rolle der Justiz auf folgende Formel: „Summa jus, summa injuria – das ist der Eindruck, welchen die Tragödie von Fuchsmühl seit ihrem Beginn bis zum Abschluß im Gerichtssaal auf uns und, wir dürfen das kühn behaupten, auf die weitesten Kreise im Volk gemacht hat“558. Auch in der großen Landtagsdebatte über die Fuchsmühler Ereignisse, die vom 2. bis 5. 10. 1895 stattfand und auf einer Interpellation des Zentrums beruhte, wurde die Mitverantwortung der Gerichte hervorgehoben. In seiner Begründung der Interpellation beklagte der Abgeordnete Schädler die „jahrelange Rechtsvorenthaltung und dadurch hervorgerufene Verbitterung einer treuen Bevölkerung“ sowie die „immer mehr um sich greifende Rechtsverwirrung“559. Am weitesten ging Georg Ratzinger, neben Sigl der prominenteste Vertreter des Bayerischen Bauernbundes. Er deutete die Vorgänge als „sozialpolitisches Zeitbild einer kranken Gesellschaft“ mit klar identifizierbaren Ursachen: „Ich sehe diese Krankheitserscheinung in einer einseitigen Rechtsentwicklung und einer einseitigen Gesetzgebung [ . . . ]. Ich sehe sie darin, daß unsere Justiz immer mehr überwuchert wird von Formalismus und daß durch formelle Entscheidungen materielles Unrecht erzeugt wird“. Zwei Dinge könne ein Volk auf Dauer nicht ertragen: die Herrschaft der Plutokratie und eine „formalistische Rechtsprechung“560. Von sozialdemokra557 Der Verteidiger, Maximilian Bernstein, hatte aus sozialethischen Gründen auf Freispruch plädiert. Mit Blick auf die eigene Situation meinte der Gerichtsvorsitzende Lerno, Landtags- und Reichstagsabgeordneter des Zentrums, einige Monate später in der Kammer, der Richter dürfe zugunsten einer volkstümlichen Interpretation nicht von Wortlaut und Sinn des Gesetzes abweichen (Verh. KdA 1895 / 96, Bd. 6, S. 886). 558 Zit. n. Albrecht, S. 329 f.; ähnlich: Anon., Fuchsmühl, in: Grenzboten 54 / 2 (1895), S. 290 – 292; Justus Clemens, Strafrecht und Politik, Berlin 1898, S. 25 ff. 559 Schädler, Verh. KdA 1895 / 96, 2. 10. 1895, Bd. 5, S. 16; zur Debatte auch Brewka, S. 333 ff.
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tischer Seite sekundierte ihm Grillenberger mit der Bemerkung, daß „gerade diese jetzt so im Schwunge befindliche formalistische Justiz den besten Schutz für die Interessen der Plutokratie u.s.w. bietet“561. Ratzinger trat auch fortan als prononcierter Justizkritiker in Erscheinung. Im Rahmen einer Debatte über die Wuchergesetzgebung bezeichnete er es als eine „der schlimmsten Verirrungen der modernen Rechtsprechung“, daß sie der Presse das Recht abgesprochen habe, sich bei Erörterung öffentlicher Mißstände auf den § 193 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen) zu berufen. Dadurch mache man aus der Zeitungsliteratur „nichts als Klatschblätter“. Um ihrer „höheren sittlichen Aufgabe“ gerecht zu werden, müsse der Presse das Recht, alle Fehler und Mängel der öffentlichen Einrichtungen zu besprechen, „ex officio“ zustehen. Bei anderer Gelegenheit monierte er das Eindringen des „Reserveoffizierstones“ in den Richterstand562. 3. Die Fuchsmühler Affäre war auch noch in anderer Hinsicht von Bedeutung: Sie revitalisierte den „Preßunfug“. Nachdem das Staatsministerium, wie erinnerlich, bei Gelegenheit des Falles Sigl Anfang 1890 seine ablehnende Haltung in dieser Frage zum Ausdruck gebracht hatte, hörten die entsprechenden Anklagen für einige Jahre auf. Erst die scharfe Reaktion der Presse auf die Ereignisse in Fuchsmühl – treibende Kraft der Pressekampagne war die sozialdemokratische „Münchener Post“ – veranlaßte die Regierung, gegen zahlreiche Redakteure Verfahren wegen „groben Unfugs“ einleiten zu lassen. Das Ergebnis fiel höchst unterschiedlich aus – zum Teil erfolgte wegen ein und desselben Artikels sowohl Freispruch als auch Verurteilung. Der größte Prozeß fand in München statt, wo sich sechs Redakteure lokaler Blätter zu verantworten hatten (28. 12. 1894). Die vom Amtsgericht verhängten geringen Geldstrafen wurden von der Strafkammer des Landgerichts deutlich angehoben (22. 2. 1895)563. Die ungleiche Rechtspraxis verwundert insofern nicht, als bayerische Berufsrichter bis dato über Pressedelikte überhaupt nicht zu befinden hatten, feste Urteilsgewohnheiten sich also nicht hatten ausbilden können. In der Folgezeit mehrten sich die Anklagen wegen Presseunfugs. Beispielhaft ist der Fall des Redakteurs der demokratischen „Münchener Freien Presse“, Georg Ratzinger, Verh. KdA 1895 / 96, 3. 10. 1895, Bd. 5, S. 35. Georg Ratzinger (1844 – 1899), Sohn einfacher Bauern, war bis 1888 als katholischer Priester tätig. Für die Patriotenpartei saß er 1875 – 1877 in der Abgeordnetenkammer und 1877 / 78 im Reichstag. Seit 1893 vertrat er den Bayerischen Bauernbund in der Kammer, seit 1898 auch im Reichstag. Dennoch blieb Ratzinger, eine schillernde und unruhige Persönlichkeit, ein politischer Einzelgänger. Publizistisch meldete er sich zu ökonomischen, historischen und sozialpolitischen Themen zu Wort. 561 Grillenberger, Verh. KdA 1895 / 96, 3. 10. 1895, Bd. 5, S. 47. 562 Ratzinger, Verh. KdA 1895 / 96, 6. 11. 1895, Bd. 5, S. 405 f. sowie ebd., Bd. 6, S. 860. 563 Zu den Prozessen: Müller, „Grober Unfug“, S. 64 ff.; Münchener Post v. 31. 12. 1894, 5. 1. 1895 („Fuchsmühl in München. Randglossen zum ,Groben-Unfugprozeß‘. Von einem Nichtjuristen“) und 24. / 25. 2. 1895; zum ganzen auch Pohl, S. 414 f. 560
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Rost, der wegen dreier Ende 1896 erschienener Artikel, die sich sehr kritisch über die Rechtspflege in Bayern und im Reich geäußert hatten, zur Rechenschaft gezogen wurde564. Nachdem die Strafkammer des LG München I die Verurteilung durch das Schöffengericht bestätigt hatte (19. 1. 1897), lehnte das OLG München auch den Revisionsantrag des Angeklagten, der eine falsche Anwendung des § 360 Nr. 11 geltend machte, ab (30. 3. 1897). In geradezu klassischer Weise führt die Urteilsbegründung alle Extensionen des Unfugsbegriffs auf. Nicht zuletzt deshalb schickte der Innenminister eine Abschrift des Urteils „zum Dienstgebrauche“ an die Polizeidirektion München (20. 4. 1897). Aufsehen erregte auch die bereits erwähnte Verurteilung Hardens, über den ein Münchener Schöffengericht wegen eines beleidigenden Artikels über den geisteskranken König Otto von Bayern vierzehn Tage Gefängnis verhängt hatte (28. 4. 1898)565. Alle wegen „groben Unfugs“ geführten Presseprozesse zeichneten sich durch die strafprozessuale Anomalie aus, daß die Angeklagten ihrem ordentlichen Richter, in diesem Fall also den Geschworenen, entzogen wurden. Da es sich nur um ein Übertretungsdelikt handelte, lag die Strafdrohung zwar niedriger als bei den herkömmlichen, auf einem Vergehens- oder Verbrechenstatbestand basierenden Anklagen, dafür aber gelangte die Sache zunächst an das Schöffengericht, von hier aus via Berufung an die Strafkammer und eventuell noch per Revision an das Oberlandesgericht. Damit hatten Justizministerium und Staatsanwaltschaft einen Weg gefunden, das privilegierte Gerichtsforum für die Presse, auf das viele Bayern so stolz waren und das innenpolitisch so pazifierend wirkte, auszuhebeln566. Initiiert durch eine Petition des Münchener Journalisten- und Schriftsteller-Vereins, fand in der Abgeordnetenkammer am 14. 5. 1898 eine ausführliche Debatte über den Presseunfug statt567. Über die Parteigrenzen hinweg war man sich in der Verurteilung der Gerichtspraxis einig. Für den Abgeordneten Günther (Freisinn) handelte es sich um einen „geradezu schreienden Mißstand“, der aus Preußen importiert worden sei; der Führer der bayerischen Sozialdemokratie, Georg v. Vollmar, erinnerte an die Fuchsmühl-Prozesse als Beispiel für die mittlerweile auch in Bayern eingerissenen Mißstände und forderte eine einschränkende Anweisung 564 Der Fall ist dokumentiert in: HStA, MInn 66251; die inkriminierten Artikel befanden sich in den Ausgaben v. 3., 4., und 6. 11. 1896. 565 Zum Harden-Prozeß: Otto Mittelstädt, Der Unfug der Presse, in: Die Zukunft 24 (1898), S. 11 – 21. Als Verfasser des RG-Urteils v. 3. 6. 1889 war Mittelstädt von Harden, der sich bei seiner Verteidigung auf besagte Entscheidung berufen hatte, um eine Stellungnahme zu seiner Verurteilung gebeten worden. Die publizistische Zusammenarbeit zwischen Mittelstädt und Harden hatte bereits drei Jahre zuvor begonnen. 566 Vgl. Mittelstädt, S. 17 f.; Müller, Epilog, S. 281; Vollmar, Verh. KdA 1897 / 98, 14. 5. 1898, Bd. 12, S. 668; Beckh (FsVP), Sten. Ber. RT, 17. 3. 1900, S. 4781. 567 Verh. KdA 1897 / 98, 14. 5. 1898, Bd. 12, S. 662 – 679. Es handelte sich wortgleich um dieselbe Petition, die der V. Allgemeine deutsche Journalisten- und Schriftstellertag wenige Monate zuvor an den Reichstag gesandt hatte. Möglicherweise hatte man sich zu einer nochmaligen Eingabe, diesmal in Bayern, entschlossen, weil die Petition vom Berliner Parlament zwar an den Reichskanzler weitergeleitet, aber nicht beraten worden war (vgl. oben Anm. 448).
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gleich derjenigen, wie sie der preußische Justizminister erlassen habe; der Zentrumsabgeordnete Franz Xaver Lerno, seines Zeichens Landgerichtspräsident, hob den bedenklich weiten Ermessensspielraum der Richter hervor und verwies auf die Möglichkeit, in Beleidigungsfällen das Schwurgericht und den Strafantrag zu umgehen; der langjährige Vorsitzende der Zentrumsfraktion, Balthasar Daller, sprach von einem „Krebsschaden im Rechtsleben des Volkes“. Die Kammer beschloß, die Petition der Staatsregierung zur „Berücksichtigung“ – und nicht nur, wie der Ausschuß beantragt hatte, zur „Kenntnisnahme“ – zu überweisen. Im Gegensatz zu den dezidierten Urteilen der Abgeordneten hielt sich Justizminister Leonrod mit einer klaren Stellungnahme zurück, was damit zu erklären sein dürfte, daß das Ministerium die Reaktivierung des Presseunfugs zumindest gedeckt hatte, wenn nicht gar der Anstoß von ihr ausgegangen war. Insofern wirkte es wie eine Kurskorrektur, als Leonrod einige Monate später an gleicher Stelle betonte, die Justiz führe seit längerer Zeit „zwei Schmerzenskinder“ mit sich, den ambulanten Gerichtsstand der Presse und den Groben-Unfug-Paragraphen, und versicherte, daß „wir“ (gemeint war wohl die Staatsregierung, möglicherweise aber auch „wir Bayern“) dafür seien, „daß in der Sache endlich einmal Wandel geschaffen“ werde568. Auch die Kammer der Reichsräte, an welche die Petition des Journalisten- und Schriftsteller-Vereins weitergeleitet wurde, erkannte die Mißstände an, folgte aber in der Erwägung, daß deren Beseitigung in die Zuständigkeit des Reiches falle, dem Antrag des Referenten, zur Tagesordnung überzugehen569. 4. Am 12. 10. 1897 beschäftigten sich die Abgeordneten mit dem Haberfeldtreiben, der wohl berühmtesten Form der „Volksjustiz“ im 19. Jahrhundert570. Beim Haberfeldtreiben, kulturgeschichtlich dem westeuropäischen Charivari verwandt und zwischen 1716 (erste aktenkundliche Erwähnung) und 1922 (endgültiges Verbot) in rund 180 Fällen nachweisbar, handelte es sich um einen in Teilen Altbayerns (südöstliches Alpenvorland) verbreiteten Rügebrauch, eine ritualisierte Gruppensanktion gegen Einzelpersonen, die – in den Augen der Haberer – gegen die als verbindlich anerkannten Normen der Dorfgemeinschaft verstoßen hatten. Der Ablauf war folgender: Unter Berufung auf Karl d. Großen und begleitet von ohrenbetäubendem Lärm und Katzenmusik zogen vermummte und bewaffnete Bauernburschen, aber auch ältere, verheiratete Bauern des nachts vor das Haus des Betroffenen, um über diesen – durch Verlesen von Schmähversen meist derbobszönen Charakters, die seit den 1880er Jahren in gedruckter Form weite Verbreitung fanden – „Gericht zu halten“, bei insgesamt fließender Grenze zur Gewalttätigkeit. Gegenstand der „Anklage“ waren lange Zeit moralisch-sittliche VerfehZit. n. Fischer (SPD), Sten. Ber. RT, 18. 1. 1900, S. 3571. Siehe: Verh. KdR 1897 / 98, Bd. 7, S. 566 – 577 (Debatte) sowie ebd., Beil. zu Bd. 7, S. 693 (Antrag des Referenten Ritter v. Bechmann). 570 Zum folgenden: H. Ettenhuber, Charivari in Bayern, in: R. v. Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute, München 1983, S. 180 – 207 (detaillierte Analyse des Miesbacher Treibens von 1893); I. Weber-Kellermann, Landleben im 19. Jahrhundert, München 1987, S. 126 – 131; Heydenreuter, S. 299 – 301. 568 569
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lungen, insbesondere unerlaubtes sexuelles Verhalten, später traten, bedingt durch den Wandel der Agrargesellschaft, ökonomische und soziale Motive hinzu. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandten sich die kirchlichen Stellen zunehmend gegen das Ritual, und ebenso ging die Regierung – auf administrativem Wege, aber auch unter Einsatz des Militärs, wobei den betreffenden Gemeinden die hohen Exekutionskosten aufgebürdet wurden – mit steigender Schärfe gegen den Brauch vor, insofern ein unvermeidlicher Konflikt, als das Haberfeldtreiben, an dem die ländliche Bevölkerung als Symbol einer autonomen Rechtskultur zäh festhielt, das staatliche Gewalt- und Justizmonopol offen in Frage stellte. Der Konflikt kulminierte, im Rahmen einer ganzen Serie von Haberergerichten, im Miesbacher Treiben vom 7. / 8. 10. 1893, das sich gegen 13 Personen richtete und mit über 200 Teilnehmern eines der größten seiner Art war. Nachdem es den Behörden erst nach längerer Zeit gelungen war, die Beteiligten namhaft zu machen, wurden von den 98 wegen Landfriedensbruchs Angeklagten 95 zu Zuchthausstrafen zwischen einem Monat und vier Jahren verurteilt (Mai 1897). Offensichtlich schloß sich das Gericht der Auffassung des Staatsanwalts an, der die Vorgänge als „großartige Manifestation des Haberertums gegenüber den auf Beseitigung der Haberfeldtreiben gerichteten Bestrebungen der weltlichen und geistlichen Behörden“ deutete571. Insgesamt wurden in den Jahren 1896 und 1897 vor den Strafkammern der Landgerichte München II und Traunstein – das eigentlich zuständige Schwurgericht hatte man, ähnlich wie beim „groben Unfug“, geschickt umgangen – gegen 361 Haberer Verfahren wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und schweren Landfriedensbruchs eröffnet, die mit hohen Freiheitsstrafen endeten (zusammen 281 Jahre). Im Landtag rügte Vollmar das staatliche Vorgehen als übertrieben hart und warf den Behörden mangelnde kulturelle Sensibilität vor: Beim Haberfeldtreiben handele es sich um eine uralte Gerichtsbarkeit, das Mitführen von Waffen beruhe auf der traditionellen Wehrhaftigkeit des Gebirgsvolkes, und als pornographisch würden die Verse nur die Städter auffassen, nicht aber die Landbevölkerung mit ihrer anderen Einstellung zur Sexualität. Im ganzen wertete Vollmar das bäuerliche Verhalten als Protest gegen den Polizeistaat und die wachsende soziale Ungleichheit. Entsprechend setzte er sich für eine baldige Amnestie der Verurteilten ein, fand dafür aber nicht die Unterstützung des Hauses. In der Tat mußten die „Rädelsführer“ ihre Strafen bis zum bitteren Ende absitzen, was ihnen nach der Entlassung in der Heimat einen umso begeisterteren Empfang bescherte. 5. Bezeichnend für das in Bayern herrschende Diskussionsklima ist die Generalaussprache zum Justizetat für die Finanzperiode 1898 / 99, die im April 1898 auf der Tagesordnung der Kammer stand572. Das Zentrum führte beredt Klage über zwei Fälle aus dem Vorjahr, die, ähnlich gelagert, beide den geistlichen Stand betrafen. Zum einen handelte es sich um das Urteil des Schöffengerichts Traunstein im Beleidigungsprozeß des Superiors des Minoritenklosters Maria Eck gegen den 571 572
Anklageschrift v. 3. 3. 1897, zit. n. Ettenhuber, S. 186. Siehe: Verh. KdA 1897 / 98, 26. / 28. / 29. 4. 1898, Bd. 12, S. 254 – 325.
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Bauernbündler (und späteren Land- und Reichstagsabgeordneten) Georg Eisenberger. Dieser hatte behauptet, der Geistliche habe bei der letzten Verfügung einer Sterbenden, die der „toten Hand“ ihr ansehnliches Vermögen vermacht hatte, allzu eifrig nachgeholfen. Das Gericht verurteilte Eisenberger zu einer geringen Geldstrafe (50 Mark), wobei in der Urteilsbegründung als strafmildernd anerkannt wurde, daß viele Geistliche „in unwürdiger Weise“ auf Sterbende zugunsten der Kirche einwirken würden. Im Klerus brach daraufhin ein Sturm der Entrüstung aus. Nachdem das Urteil rechtskräftig geworden war, erteilte das Präsidium des Landgerichts Traunstein dem betreffenden Amtsrichter eine Mahnung, und der Justizminister beantragte sogar die Einleitung eines Disziplinarverfahrens, was von der zuständigen Disziplinarkammer aber abgelehnt wurde573. Der andere Fall betraf einen Beschluß des Landgerichts Deggendorf, durch den das Verfahren gegen den bekannten Bauernbundführer Vilsmeier wegen Beleidigung des geistlichen Standes eingestellt worden war574. In der Begründung hatten die Richter darauf verwiesen, daß die inkriminierte Äußerung nicht im Zusammenhang mit einem konfessionellen, sondern einem politischen Streit zwischen dem Bayerischen Bauernbund und seinem Konkurrenten, dem Christlichen Bauernverein (einem Zusammenschluß katholischer Bauernvereine), gefallen sei. Das OLG München hatte den Beschluß, wenn auch mit anderer Motivierung, aufrechterhalten. Die Zentrumsredner unterstellten den Richtern zwar keine offene Tendenz, zeigten sich aber überzeugt, daß antiklerikale Ressentiments in die Urteilsbildung hineingespielt hätten. Landgerichtsrat Lerno verglich den Deggendorfer Fall mit Bismarckbeleidigungen, bei denen sogar ohne formellen Antrag mit Hilfe des GrobeUnfug-Paragraphen Anklage erhoben werde. Allgemein stellte er fest, bei politischen Delikten seien die Richter „teilweise nicht mehr im vollständigen Kontakt mit den Anschauungen des Volkes und mit dem in demselben lebenden Rechtsbewußtsein“575. Joseph Geiger mahnte: „Es sind ja nur einzelne Fälle, auf welche sich diese Klagen und Vorwürfe erstrecken; aber diese einzelnen Fälle genügen, um das Vertrauen des Volkes in die Rechtsprechung der Gerichte zu erschüttern“576. Während Justizminister Leonrod davor warnte, aus vereinzelten Vorkommnissen überzogene Schlußfolgerungen zu ziehen, wiesen die Liberalen, die einem strikten Antiklerikalismus huldigten, die Urteilsschelte entschieden zurück und stellten sich schützend vor die Richter. Der spätere Fraktionsvorsitzende Casselmann drehte den Spieß einfach um und meinte, öffentliche Äußerungen wie die aus dem Munde des Abgeordneten Geiger würden das Rechtsbewußtsein des Volkes schädigen577. 573 Nach Beendigung der Affäre wurde der Richter zum Oberamtsrichter befördert, wohl auch als eine Art Ehrenrettung ob der vielfachen Angriffe auf seine Person. 574 Mit Bezug auf den Stadtpfarrer von Deggendorf hatte Vilsmeier geäußert, die Pfarrer seien „schlechter als Judas Ischariot, der seinen Herrn und Heiland verraten hat“. 575 Lerno, Verh. KdA 1897 / 98, S. 265. 576 Geiger, ebd., S. 261; weitere Zentrumsstimmen: v. Walter, ebd., S. 276; Gerstenberger, ebd., S. 287 f.; Daller, ebd., S. 321 ff.
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Grundsätzlichen Charakters war die Kritik der SPD. Auch bürgerliche Beobachter stellten fest, so der pfälzische Abgeordnete Ehrhart, daß „unsere Justiz allmählich mehr zu einer Klassenjustiz sich entwickeln“ würde. Zum Beleg folgte eine lange Mängelliste: Anklagen wegen „groben Unfugs“ (Bismarckbeleidigungen, Boykott, Streikpostenstehen), der ambulante Gerichtsstand der Presse, die soziale Rechtspflege (Berichte der Fabrikinspektoren), Strafverfügungen gegen Arbeiter wegen Abfeierns des „blauen Montags“, steigende Gerichtskosten578. Bei der Aufzählung fällt auf, daß nur relativ wenige Beispiele aus der bayerischen Rechtspraxis stammten. Nachdem sich Leonrod gegen den Vorwurf, in Bayern bestünde eine Klassenjustiz, entschieden verwahrt hatte, schwächte Segitz (Nürnberg) die Äußerungen seines Fraktionskollegen dahingehend ab, mit dem Wort habe man nur sagen wollen, daß die Urteile, namentlich der höheren Richter, zunehmend in einen Gegensatz zur Auffassung der Arbeiterklasse kämen579. Die Kontroverse des Jahres 1898 kam etliche Zeit später, bei der Debatte über den Etat des Innenministeriums für die Finanzperiode 1904 / 05, noch einmal zur Sprache. Äußerer Anlaß war die Beschlagnahme der sog. „Zentrumsnummer“ des „Simplicissimus“ wegen Verstoßes gegen § 166 StGB (Beschimpfung kirchlicher Einrichtungen und Gebräuche), die vom zuständigen Richter bestätigt worden war580. Lerno verteidigte die Justizorgane gegen die Unterstellung der „Münchner Neuesten Nachrichten“, des führenden liberalen Organs der Landeshauptstadt, die Behörden würden im Dienste des Zentrums stehen581. Im Gegenzug brachten die Sprecher der Liberalen ausführlich – unter Rückgriff auf die Protokolle – die Debatte vom April 1898 in Erinnerung, um dem Zentrum Doppelzüngigkeit vorzuwerfen582. Wiederum lag dem Streit also ein kirchlich-konfessioneller Gegenstand zugrunde, nur hatten sich die Fronten diesmal verkehrt. Vor allem aber zeigt die Polemik, daß politische Justizkritik im bayerischen Parlament eine relativ seltene Erscheinung blieb, wäre es andernfalls doch kaum zu erklären, wieso die Diskussion des Jahres 1898 Jahre später noch zum argumentativen Bezugspunkt werden konnte. 6. Die skizzierten Debatten verdeutlichen die Unterschiede in der justizpolitischen Situation zwischen Bayern auf der einen, Preußen und dem Reich auf der anderen Seite. Nach wie vor gab die bayerische Justiz vergleichsweise wenig Anlaß 577 Leonrod, ebd., S. 283; Casselmann, ebd., S. 269 f. (scharf tadelte Casselmann allerdings das Eingreifen des Justizministers im Traunsteiner Fall); weitere liberale Stimmen: Kraußold, ebd., S. 278; Wagner (Fraktionsvorsitzender), ebd., S. 309 f. 578 Ehrhart, ebd., S. 292 ff. 579 Leonrod, ebd., S. 315 f.; Segitz, ebd., S. 317. 580 Stein des Anstoßes war eine Karikatur in Nr. 42 des Blattes, in der eine Fastenpredigt des Abraham a Santa Clara persifliert wurde. 581 Lerno, Verh. KdA 1904 / 05, 14. 1. 1904, Bd. 12, S. 482 f.; Lernos Kritik richtete sich gegen den Artikel „Unter der Herrschaft des Zentrums“ in den MNN v. 13. 1. 1904. 582 Wagner, Verh. KdA 1904 / 05, 14. 1. 1904, Bd. 12, S. 497 f.; Casselmann, ebd., 15. 1. 1904, S. 522 f.
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zu expliziter Kritik. Wo eine solche auftrat, richtete sie sich meist gegen einzelne Urteilssprüche. Systematische Justizkritik beschränkte sich auf politische Außenseiter (Ratzinger), oder sie entbehrte, wie namentlich der Klassenjustizvorwurf zeigt, der vor allem in Preußen üblichen Schärfe. Stellenweise glich sie eher einer rhetorischen Pflichtübung denn einer veritablen Attacke. Die Frontstellung verlief weniger zwischen Kammermehrheit und Regierung als vielmehr zwischen den beiden großen politischen Lagern des Landes, Zentrum und Liberalismus. Deshalb ist es auch kein Zufall, daß sich der Streit immer wieder am konfessionell-kulturellen Gegensatz zwischen den beiden Gruppierungen entzündete, der in der bayerischen Landespolitik auch ansonsten eine prominente Rolle spielte. c) Bürgerliche Urteile über die politische Justiz Nicht ausschließlich, aber doch überwiegend aus der Hochflut politischer Prozesse speiste sich die jurisdiktionelle Seite der „Vertrauenskrise“, mit der sich die Justiz seit den 90er Jahren konfrontiert sah. Von daher war es nur naheliegend, daß sich auch bürgerliche Autoren mit dem Phänomen der politischen Rechtsprechung auseinandersetzten. Im folgenden sollen einige Stellungnahmen näher beleuchtet werden, ohne daß damit ein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden wäre. Insofern bleibt das entstehende Bild notgedrungen impressionistisch. An vorderster Front und mit gewohnt scharfer Klinge focht wieder einmal Otto Mittelstädt. In einem 1897 in Hardens „Zukunft“ – in den letzten Lebensjahren bevorzugtes Sprachrohr des Autors – veröffentlichten Aufsatz erneuerte er seine Polemik gegen die ausdehnende Judikatur in politischen Sachen. Zunächst erinnert Mittelstädt an die liberalen Bemühungen bei Beratung des Reichsstrafgesetzbuchs, die einschlägigen Vorschriften mit Hilfe einschränkender Kautelen zu entschärfen (crimen laesae majestatis, §§ 130, 131, 166; der „grobe Unfug“ und der dolus eventualis kamen erst später hinzu) – Begrenzungen, die mittlerweile völlig über Bord geworfen seien. Die Verantwortung verortet er gleichermaßen bei der Staatsanwaltschaft wie bei den Gerichten, allerdings in abgestufter Form: „Unter der Flut dieser politischen Prozesse muß allmählich die richterliche Unbefangenheit schwinden und die legitime Widerstandskraft der Gerichte gegen den übertriebenen Verfolgungseifer der öffentlichen Ankläger erlahmen. Es entwickelt sich eine spitzfindige Buchstaben- und Begriffsjurisprudenz, die an den Worten dehnt und preßt und schließlich alle Normen in ihren Grenzlinien zwischen Recht und Unrecht bis zur Undeutlichkeit verdunkelt“583. Die uferlose Auslegung verbaler Äußerungen, so Mittelstädt weiter, habe faktisch zu einer Strafbarkeit von Gedanken geführt. Eine erhebliche Mitschuld treffe das Reichsgericht, das sich insofern seiner Verantwortung entzogen habe, als es die strafkammerlichen Auslegungskünste einfach den tatsächlichen Feststellungen subsumiert habe, für die es als 583 Otto Mittelstädt, Strafjustiz und Politik, in: Die Zukunft 19 (1897), S. 390 – 401, Zitat S. 395.
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Revisionsinstanz eben nicht zuständig sei. Seit den Zeiten des Sozialistengesetzes hätten sich die Gerichte daran gewöhnt, nach der Gesinnung des Angeklagten zu fragen und zu urteilen584. Unter dem Strich kann Mittelstädt nicht umhin, klassenspezifische Unterschiede in der Judikatur anzuerkennen: „Und wenn man die tatsächlichen Wirkungen nüchtern abwägt: Läuft diese Handhabung des Strafrechtes, dieses verschiedene Maß, mit dem hier gemessen und gewogen wird, nicht darauf hinaus, daß die Strafjustiz je nach der Volksklasse und der bei ihr vorausgesetzten Gesinnung andere Gestalt, anders geübte Regeln und Normen annimmt?“585. Als Ausweg macht Mittelstädt den überraschenden Vorschlag, die politischen Delikte den Schwurgerichten zuzuweisen. Damit vollzog er, wie er unumwunden zugab, eine radikale Kehrtwende: Hatte er in den 70er Jahren zu der Minderheit unter den Juristen gezählt, die für die Abschaffung der Jury zugunsten des großen Schöffengerichts eintraten, so plädierte er jetzt – bei gänzlich veränderter Stimmungslage unter seinen Standesgenossen – für eine Erweiterung der schwurgerichtlichen Kompetenz. Die Volksgerichte seien für die neue Aufgabe wie geschaffen: „Ein politisches Schwurgerichtsverdikt, ohne Gründe, ohne alle den schlichten Menschenverstand und die juristische Logik beleidigenden Raisonnements verkündet, gibt sich als das, was es ist: ein Machtspruch, gefällt von der auf der Geschworenenbank gerade herrschenden Partei über gegnerische Parteigenossen“586. Das vorgeschlagene Arrangement brachte in Mittelstädts Augen einen doppelten Gewinn: Zum einen ließen sich Recht und Politik voneinander trennen, denn die bedenklichen Grundsätze der politischen Strafjustiz, „das fortgesetzte Wirtschaften mit dem rein subjektiven Tatbestande, die Doluspräsumtion mit der davon abhängigen Verkehrung von Anschuldigungs- und Entlastungsbeweis, vor allem aber die uferlose und bodenlose Methode der Wortauslegung“, griffen auch auf die benachbarten Gebiete des Strafrechts über587. Zum anderen würde – der Autor verweist auf die Beispiele Bayerns und Frankreichs – der Verfolgungseifer der Staatsanwälte abkühlen und damit die Zahl politischer Prozesse sinken, ohne daß man befürchten müßte, die staatliche Ordnung geriete hierüber ins Wanken. Mittelstädts Aufsatz muß im Zusammenhang mit seiner Abhandlung über den „groben Unfug“ gelesen werden, die einige Monate später ebenfalls in der „Zukunft“ zum Druck gelangte. Bezichtigt er dort die Richter mehr oder weniger be584 „Wie oft ist mir in strafgerichtlichen Urteilen der Satz begegnet, an sich gestatte zwar die inkriminierte Äußerung auch die Auslegung eines harmlosen, nicht strafbaren Sinnes, und ginge sie von einem wohlgesinnten Manne aus, müßte man sich der dem Angeklagten günstigeren Auffassung zuneigen; da indessen der Angeklagte ein notorischer Sozialdemokrat, sei der Inkrimination des Anklägers unbedenklich beizupflichten und sonach die beleidigende, gotteslästerliche, verleumderische, aufrührerische Absicht des Angeklagten festzustellen“ (S. 397). 585 Ebd., S. 397 f. 586 Ebd., S. 399. 587 Ebd., S. 400.
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wußter Rechtsbeugung, so erkennt er hier den Vorwurf der Klassenjustiz im Prinzip als berechtigt an. Daß Mittelstädt mit diesen Positionen im eigenen Lager weitgehend isoliert blieb, liegt auf der Hand. Umso mehr Widerhall fand er bei den Sozialdemokraten, die ihn wohl häufiger als jeden anderen bürgerlichen Autor zitierten, so daß er fast zu einem Kronzeugen für die Tendenziösität der kaiserzeitlichen Strafjustiz wurde. Sein Lösungsvorschlag, bislang eine Lieblingsidee der Linksliberalen und Demokraten, ist insofern von bestechender Logik, als er der Irrationalität der politischen Justiz Rechnung trägt und ihr – im Rahmen des bestehenden institutionellen und normativen Gefüges – einen adäquaten Platz zuweist. In gewisser Hinsicht bildet er die Quintessenz seiner publizistischen Bemühungen, deren Leitmotiv seit jeher darin bestanden hatte, die Rechtsprechung gegen die Anmaßungen und Zudringlichkeiten der Politik zu immunisieren. Nur am Rande sei angemerkt, daß der freimütig eingestandene Positionswechsel für die intellektuelle Redlichkeit des Autors spricht588. Einen wohlwollenderen Standpunkt nahm Lassa Oppenheim, damals Professor für Völkerrecht in Basel, ein. Oppenheim betrachtet die tiefe Kluft zwischen öffentlicher Meinung und Strafjudikatur, die sich vor allem bei der Majestätsbeleidigung, dem dolus eventualis und dem „groben Unfug“ auftue, als feststehende Tatsache589. Dennoch nimmt er die Richter gegen den Vorwurf, das Strafrecht bewußt oder unbewußt für politische Zwecke zu mißbrauchen, entschieden in Schutz. Mit vollem Recht erinnert er daran, daß die Rechtsprechung schon seit langem eine ausdehnende Tendenz aufweise, und zwar nicht nur bei politischen Sachen, sondern auf breiter Front590. Als Ursachen führt Oppenheim ein ganzes Bündel 588 Seine Kritik an der politischen Überspannung der Justiz bekräftigte Mittelstädt auch in seinen „Briefen zur Politik der deutschen Gegenwart“: Otto Mittelstädt, Vor der Fluth, Leipzig 1897, S. 78 ff., 130 f. Die Schrift belegt deutlich Mittelstädts späte Wendung zur Kulturkritik. Hierin dürfte auch die Erklärung für seine enge Zusammenarbeit mit Harden, dem „Trendführer der neokonservativen Literatur- und Kulturkritik“ (Hellige), in seinen letzten Lebensjahren liegen. 589 L[assa] Oppenheim, Die öffentliche Meinung und die Rechtsprechung, in: Deutsche Revue 23 / 1 (1898), S. 328 – 339. Lassa Oppenheim (1858 – 1919), einer der bedeutendsten Völkerrechtler seiner Zeit, war zunächst Privatdozent und a. o. Prof. in Freiburg (1885 – 1892). 1891 – 1905 bekleidete er eine Professur für Völkerrecht in Basel. Nachdem er 1895 nach London übergesiedelt und 1900 englischer Staatsbürger geworden war, lehrte er seit 1902 an der London School of Economics and Political Science; 1908 wurde er Professor für International Law in Cambridge. 590 Oppenheim zitiert aus einem Vortrag von Hermann Seuffert: „Da zeigt sich ein Anziehen des Kriminalitätshebels in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren im Verhältnis zu den vorletzten dreißig Jahren. Erinnern Sie sich an den groben Unfugs-Paragraphen, Urkundenbegriff, Fiktionen auswärtiger Tatortsbeziehungen (man verlegt, um im Inland strafen zu können, den Tatort ins Inland), Begriff des untauglichen Versuchs, Irrtumslehre, Vorsatzlehre. Vergegenwärtigen Sie sich, wie bei Majestätsbeleidigungen mehr und mehr die Ehrfurchtsverletzung des preußischen Strafgesetzbuches in den Vordergrund tritt; Anspannung des Paragraphen 159, Verleitung zum Meineid, Paragraph 166 und gar Paragraph 263. Im Jahre 1882 wurden wegen Betrugs verurteilt 11.869, elf Jahre später 20.711 Personen, also ist wäh-
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von Faktoren an. Den stärksten Einfluß übe das „moralische Gefühl der Richter“ aus, das, vom Einzelfall ausgehend, die Straftatbestände Stück für Stück erweitert hätte, um moralisch verwerfliche Handlungen strafrechtlich erfassen zu können. Sei auf diese Weise erst einmal eine Bresche in das Gesetz gelegt, so wäre es für die Staatsanwaltschaft nicht mehr schwer, politische Gesichtspunkte ins Spiel zu bringen. Weitere Umstände träten hinzu: die mangelhafte Fassung vieler Strafvorschriften, die Zerstrittenheit der Strafrechtswissenschaft, die allgemeine Neigung der Deutschen, alles Heil von der staatlichen Strafgewalt zu erwarten, und schließlich die lange Tradition des deutschen Richterstandes, dem moralischen Gefühl nachzugeben (Oppenheim zufolge entstanden in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Reaktion auf die inhumane Carolina). Entsprechend schwierig und langwierig sei der Prozeß der Besserung. So überzeugend Oppenheims Erklärungen im einzelnen sein mögen, so laufen sie im ganzen doch auf eine Generalexkulpation der Richter hinaus. Daß dies letztlich in eine argumentative Sackgasse führen mußte, wird am Schluß des Aufsatzes deutlich, als sich Oppenheim gedrängt fühlt, einige Worte über Mittelstädts oben behandelte Abrechnung mit der Unfugsjudikatur, die ihm just in die Hände gefallen war, zu verlieren. Mittelstädts Behauptung, die Richter würden das Recht bewußt als politische Waffe einsetzen, kann er nur mit unwilligem Kopfschütteln und einer Geste der Abwehr quittieren: „Solange ich mir und anderen die in Betracht kommenden Tatsachen, wie ich es oben getan habe, in anderer Weise erklären kann, will ich und kann ich das nimmermehr glauben!“591. Eigenwillige, gleichwohl sachkundige und gedankenreiche „Betrachtungen eines Laien“ legte der Publizist Carl Jentsch vor, von Haus aus weder Jurist noch, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, Sozialist592. Der Autor ist in das breite, in sich sehr heterogene Spektrum der Kulturkritik einzuordnen, die – als Reaktion auf die ungestüme Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch auf den relativen Bedeutungsverlust des akademischen Bürgertums – seit den 90er Jahren immer mehr an Breitenwirkung gewann. Gedanklich grundgelegt von rend dieser Zwischenzeit die Verurteilung um 83 Prozent gestiegen. Dies ist der scharfen Auffassung des Betrugsparagraphen zuzuschreiben. Dann kommt noch der berühmte Beleidigungsparagraph. Dieser findet heute eine sehr weite Anwendung“ (S. 332). 591 Oppenheim, S. 339. 592 Carl Jentsch, Betrachtungen eines Laien über unsre [sic] Strafrechtspflege, Leipzig 1894 (zuerst in: Grenzboten 53 / 2, 1894, S. 385 – 396 / 488 – 501 / 581 – 592; weitgehend identisch mit der broschierten Ausgabe, die lediglich um einige zusätzliche Anmerkungen erweitert wurde). Carl Jentsch (1833 – 1917) war bis 1882 zunächst als katholischer, dann als altkatholischer Priester tätig; in den folgenden Jahren arbeitete er als Redakteur einer liberalen Zeitung. Seit 1888 lebte er als freier Schriftsteller, der sich vor allem zu religiös-konfessionellen, philosophisch-kulturhistorischen und nationalökonomisch-politischen Fragen zu Wort meldete. Stark antikapitalistisch eingestellt, suchte er nach einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Seinen Erinnerungen zufolge war er mit einem „reizbaren Gerechtigkeitsgefühl“ ausgestattet („Wandlungen“, 2 Bde., Leipzig 1896 / 1905).
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Nietzsche (als geistiger Ahnherr darf Rousseau gelten) und popularisiert vor allem durch die Schriften von Paul de Lagarde und Julius Langbehn, stießen modernitätsund fortschrittskritische Einstellungen insbesondere unter den Gebildeten auf starke Resonanz. Entsprechend groß war ihr Einfluß auf das geistige Klima der wilhelminischen Epoche, darüber hinaus bereiteten sie den Boden für die Ideologien der „konservativen Revolution“ in den Weimarer Jahren593. Den offenkundigen Widerspruch zwischen formaler Rechtsgleichheit und faktischer Rechtsungleichheit interpretierte Jentsch – ganz kühl – als zwangsläufige Folge der sozialen Verhältnisse: „Unsere Staats- und Reichsverfassung, die Grundlage unserer Rechtspflege, widerspricht der Schichtung unserer Gesellschaft, darum muß der Buchstabe des Gesetzes, so oft er mit dem Interesse der höchsten Klassen zusammenstößt, diesem weichen. Als brauchbare Form der Verkleidung hat der Klassenprozeß den politischen Prozeß vorgefunden; indem sich die herrschenden Klassen für den Staat halten, entschuldigen sie die Beeinträchtigung des Rechts der dienenden Klassen mit dem Staatswohl, dem das Recht des einzelnen zu weichen habe“594. Näherte sich seine Analyse sozialdemokratischen Positionen somit stark an, so waren seine Schlußfolgerungen doch ganz anderer Art. Zur Aufhebung der bestehenden Widersprüche müsse, so der Autor, entweder das Recht an die Sozialstruktur angeglichen oder aber – hier erweist sich Jentsch als gelehriger Schüler Lagardes – großflächig Lebensraum im Osten erobert werden, um dem deutschen Volk, in Form einer Herrenstellung gegenüber den unterjochten slawischen Massen, zu neuer Einheit und Homogenität zu verhelfen. Die Alternative lautete also: Rückkehr zu vormoderner Rechtsungleichheit oder Sozialimperialismus im Zeichen eines radikalen, völkisch geprägten Nationalismus595. Daß die Schrift, abgesehen von den Lösungsvorschlägen, bei den Sozialdemokraten starken Anklang fand, kann nicht weiter verwundern596. Sieht man genauer hin, so bescheinigte allerdings auch Jentsch – bei aller Vorliebe für polemische Zuspitzung – der Richterschaft ein differenziertes Verhalten, ja sogar erhebliche Lernfähigkeit: „Es versteht sich von selbst, daß keineswegs alle Richter dem Druck des Klasseninteresses und der Wünsche der Regierung unterliegen; nicht wenige wahren ihre Freiheit, wahrscheinlich bilden diese sogar die Mehrzahl [ . . . ]. Im Kulturkampf überwogen anfangs die Verurteilungen, später die Freisprechungen; dieselbe Erscheinung bemerkt man jetzt bei den groben Unfugsund den Majestätsbeleidigungsprozessen; man sieht: der Richterstand unterliegt in 593 Hierzu: F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern 1963; Nipperdey, I, S. 812 ff., bes. S. 824 ff.; B. Beßlich, Wege in den „Kulturkrieg“, Darmstadt 2000. 594 Jentsch, S. 82. 595 Vgl. bes. ebd., S. 37 – 39, 111 – 113. Die These, daß die Lösung der sozialen Frage eine territoriale Expansion nach Osten erfordere, vertrat Jentsch auch in anderen Schriften. Im Westen schwebte ihm hingegen ein als einheitlicher Handels- und Wirtschaftsraum organisierter Bund unabhängiger Staaten vor. 596 Vgl. die Besprechung von Eduard Bernstein, in: Neue Zeit 13 / 1 (1894 / 95), S. 505 – 507.
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solchen Krisen anfänglich eine Zeit lang dem Druck von oben, dann ermannt er sich und wird sich seiner Aufgabe wieder bewußt“597. Wie stark der Klassenjustiztopos bereits in bürgerliche Kreise eingedrungen war, zeigt ein Blick in die (auch sonst sehr meinungsfreudige) Berliner „Gegenwart“. Mitte der 90er Jahre erschienen in der vielgelesenen Zeitschrift eine Reihe pseudonymer Artikel, die ganz unbefangen, ja leicht frivol mit dem Begriff operierten. 1896 hieß es in einem dieser Beiträge: „Eine Klassenjustiz wird überall vorhanden sein und empfunden werden, wo herrschende Stände den unterjochten den kraftvollen Aufstieg nicht gönnen, und weil wir allzumal Sünder sind und des Ruhmes entbehren, fehlt auch unseren Tagen die Klassenjustiz nicht. Arglos, ohne uns ihrer Existenz bewußt zu sein, üben wir sie aus, und der richtende Beamte, den ein Anarchist etwas besonders Abscheuliches dünkt, der Staatsanwalt, der dem sozialistischen Redakteur keine Preßsünde durchgehen läßt – sie pflegen Klassenjustiz, meinen, dem ganzen Staate, ja der ganzen Menschheit zu nützen und schützen doch in Wahrheit nur die Gesellschaftsschicht, der sie selbst angehören, die Patrizier gegen die Plebejer. Es gibt nichts Menschlicheres, nichts Erklärlicheres. [ . . . ] Klassenjustiz muß sich auch im Rechtsstaate – der nur phrasenhalber so heißt – jeder gefallen lassen, der den herrschenden Gewalten entgegentreten zu sollen meint“598. Am Schluß macht der Verfasser allerdings insofern einen gewissen Rückzieher, als er die Schuld an den Mißständen der Arbeitsüberlastung vieler Gerichte zuschreibt. Relativ selten waren die Vorwürfe direkt an das Reichsgericht adressiert, was wohl mit einer gewissen Scheu der Juristen zusammenhing, den obersten Gerichtshof offen zu attackieren. Insofern ist es kein Zufall, daß eine der prononciertesten Stellungnahmen nicht aus der Feder eines praktizierenden Juristen, sondern des Sozialreformers Ignaz Jastrow stammt. Jastrow verglich die Rechtsprechung der Gewerbegerichte und der Strafgerichte miteinander, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Tendenz. Den Zuschlag erhielten die Strafgerichte: „Wenn man die heutige Judikatur in Strafsachen, insbesondere auch die Judikatur des Reichsgerichts, in welchem weder Arbeiter noch überhaupt Laien sitzen, nach den psychologischen Elementen analysiert, welche für die Urteilsbildung maßgebend gewesen sind, so bleibt nach Ausscheidung aller juristischen Ausdrucksweisen ein gar nicht geringer Bodensatz rein politischer Vorstellungen übrig, welche im wesentlichen auf die Überzeugung von der Notwendigkeit größerer Kraftfülle der Regierungsorgane hinauslaufen. Die Strafjudikatur des Reichsgerichts ist beherrscht von dem Gedanken, daß die Einengungen der neueren Strafgesetzgebung verwerflich, daß es notwendig sei, die Staatsgewalt durch eine weitere Ausdehnung des Strafrechts zu schützen, und das Reichsgericht hat seine Vorläufer und Nebenläufer an anderen ebenfalls rein juristisch besetzten Gerichten“599. Jentsch, S. 83 / 84 Anm. Prinz Vogelfrei [Pseud.], Justiz im Recht und im Unrecht, in: Die Gegenwart 49 (1896), S. 45 f., Zitat S. 45; s. auch ders., Classenjustiz, in: ebd. 48 (1895), S. 157 – 159 (über den Essener Meineidsprozeß) sowie ders., Zweierlei Maß, in: ebd., S. 238 f. 597 598
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Auch die psychologischen Rückwirkungen auf die Richterschaft wurden nur gelegentlich thematisiert. Die Gemütslage vieler Richter dürfte ein Artikel der „Vossischen Zeitung“ getroffen haben, der an das Breslauer Urteil gegen Wilhelm Liebknecht allgemeine Betrachtungen über die politische Justiz anknüpfte: „Jeder neue Prozeß wegen Majestätsbeleidigung, überhaupt jeder politische Prozeß erweist jedoch aufs neue die Notwendigkeit, den Richterstand vor der unglückseligen Verquickung von Justiz und Politik dadurch zu bewahren, daß man die Rechtsprechung in politischen Angelegenheiten den Berufsjuristen abnimmt. Man kann von hochgestellten Richtern oft genug Seufzer und Klagen hören; man kann von ihnen den Ausdruck der aufrichtigsten Überzeugung vernehmen, daß den Laien, wenn sie einmal an der Rechtsprechung teil haben sollen, vor allen Dingen die politischen Prozesse übertragen werden müssen. Ist doch der Richter nur ein Mensch, ist er doch nicht frei von menschlichen Schwächen, und ist es doch für ihn hart, wenn er das Bewußtsein oder das ungerechtfertigte Gefühl hat, sich mit diesem oder jenem Urteil in das eigene Fleisch zu schneiden! Der Richterstand würde aufatmen wie von einem Alp befreit, wenn gerade die politischen Prozesse wie in Bayern den Geschworenen überwiesen würden. Dann trägt der Berufsrichter für die Entscheidung der Schuldfrage keinerlei Verantwortung, sei es der Staatsgewalt, sei es der öffentlichen Meinung gegenüber“600. Folgt man dem Stimmungsbild, so gab Mittelstädt mit seinem Plädoyer für eine uneingeschränkte politische Kompetenz der Geschworenen lediglich einer in Richterkreisen weitverbreiteten Sichtweise Ausdruck. Die behandelten Stellungnahmen fügen sich nur schwer zu einem kohärenten Bild zusammen, was insofern nicht überrascht, als sich die Rechtsprechungspraxis in der Tat ja nicht auf einen einfachen Nenner bringen läßt. Einige Aspekte fallen dennoch auf: Eine – gezielt praktizierte oder aus unbewußten sozialen Vorprägungen erwachsende – Klassenjustiz wurde von kritischen Beobachtern nicht in Abrede gestellt. Verschiedentlich fand allerdings eine gewisse Trennung zwischen Urteil und Urteilenden statt. Indem man das Augenmerk auf bestimmte, zum Teil als eigenlogisch interpretierte Tendenzen in der Rechtsprechung richtete oder schlicht äußere Umstände ins Feld führte, wurde es möglich, den Richtern, sofern man sie nicht gleich exkulpierte, doch zumindest „mildernde Umstände“ zuzubilligen. Daß es daneben auch eine genuine Richterkritik gab, wird das folgende Kapitel zeigen. Schließlich: Vieles spricht dafür, daß das Gros der Richter die politischen Prozesse weniger als Herausforderung denn als Bürde ansah, bei der es galt, zwischen den antagonistischen Ansprüchen hindurchzulavieren, ohne das Gefühl für die richterIgnaz Jastrow, Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaft, Bd. 1, Berlin 1902, S. 475. Ignaz Jastrow (1856 – 1937), zugleich in Geschichte und Staatswissenschaften habilitiert, wurde 1905 zum ao., 1920 zum o. Prof. in Berlin berufen. 1906 – 09 amtierte er als Rektor der neugegründeten Berliner Handelshochschule. In seinen Werken behandelte er vor allem historische und volkswirtschaftliche Themen; vor dem Ersten Weltkrieg stark sozialpolitisch aktiv. 600 Vossische Zeitung v. 16. 11. 1895, morgens („Indirekte Majestätsbeleidigung“), archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49687. 599
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liche Würde und Unabhängigkeit gänzlich zu verlieren. Wahr ist allerdings auch, daß eine energische und selbstbewußte Zurückweisung der ihnen aufgenötigten Rolle als Büttel von Regierung und Polizei anders ausgesehen hätte.
2. „Formalismus“ in der Strafrechtsprechung Der vorstehend erörterte Komplex berührte sich mit dem Formalismusvorwurf, der gegen die Strafrechtsprechung als Ganzes zielte. In erster Linie bezog er sich auf unpolitische Sachen, die politische Judikatur blieb jedoch keineswegs ausgespart. Gemünzt war der Topos auf Urteile, in denen eine pedantische Bindung an den Buchstaben des Gesetzes zum Ausdruck gelangte, selbst auf die Gefahr hin, gegen den offenkundigen Sinn desselben bzw. die Absicht des Gesetzgebers zu verstoßen („Buchstabengläubigkeit“, „Paragraphenkult“). Das Ergebnis bestand aus Entscheidungen, die gleichsam die strafrechtliche „Mitte“ verfehlten, indem sie entweder den staatlichen Strafanspruch überdehnten oder aber auf einer betont engen Auslegung der gesetzlichen Vorschriften beruhten. Nicht selten überschritten sie dabei die Grenze zur Lächerlichkeit, in jedem Fall widersprachen sie dem „berechtigten Billigkeits- und Gerechtigkeitsgefühl des Volkes“ (Viezens). Das Aufkommen des Formalismusvorwurfs belegt einmal mehr, daß die Denkweise auch vieler Strafrichter von der Pandektenwissenschaft mit ihrem „wissenschaftlichen Formalismus“ (Wieacker) bestimmt war – eine Prägung, die auch langjährige strafkammerliche Tätigkeit nur bedingt abzuschleifen vermochte. Die betreffenden Urteile müssen somit als Ausfluß einer verabsolutierten Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz eingestuft werden601. Es waren vor allem Erkenntnisse des Reichsgerichts, denen eine Neigung zu formalistischer Begriffsjurisprudenz vorgeworfen wurde. Die Hauptursache sah man in der Beschränkung des obersten Gerichts auf Revisionssachen, wodurch eine einseitige Betonung des Rechtlichen oder, von der anderen Seite her betrachtet, eine zunehmende Entfremdung vom Tatsächlichen (bzw. vom „Leben“ überhaupt) begünstigt werde. Landgerichtsrat Viezens, einer der Wortführer des preußischen Richterstandes, schrieb: „Was den Zwang betrifft, den die formalistischen Urteile des Reichsgerichts auf die Entscheidungen der nachgeordneten Instanzen ausüben, so entspringt die drohende Verknöcherung der Rechtsprechung zum Teil aus der Stellung, welche dem Reichsgericht zugewiesen ist. Ein Gericht, das nur Rechtsfragen zu entscheiden hat, das Recht gewissermaßen destilliert, auf Flaschen zieht und periodisch den Unterinstanzen verabreicht, mögen diese durstig sein oder nicht, das keine Beweise erhebt, das eigentliche Parteigetriebe gar nicht, die Parteien nur selten zu sehen bekommt, wird der Gefahr, sich vom Leben zu sehr abzuwenden, besonders ausgesetzt sein“602. Dezidierter noch äußerte sich ein gutinformierter Richter in den „Grenzboten“: „Noch nie hat es ein Revisionsgericht 601 602
Ausführlich zur Pandektenwissenschaft unten Dritter Teil, Kap. II / 3. Viezens, „Die Taugenichtse“, Berlin 1897, S. 18.
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gegeben, das sich unter vollständiger Verkennung der Bedürfnisse des Lebens, für das es Recht zu sprechen berufen ist, auf einen so schroffen, rein theoretischen Standpunkt stellte wie das Reichsgericht“ 603. Der Formalismus-Vorwurf umfaßte verschiedene Phänomene. Einerseits bezog er sich auf die Neigung, die Gesetze ausdehnend zu interpretieren, hier selbstverständlich unter Einschluß der politischen Judikatur. Die maßgeblichen Zusammenhänge hatte Mittelstädt in seiner Abhandlung über das Extensionsproblem aus dem Jahre 1890 bereits scharf herausgearbeitet604. So bedauerte der unter dem Pseudonym „Aulus Agerius“ schreibende Autor, auf dessen Abhandlung noch zurückzukommen sein wird, „wie der höchste Gerichtshof das Talent seiner Mitglieder in der Ersinnung neuer Strafverfolgungsmomente verbraucht, wie hierbei das Gebiet des Strafrechts, in welchem die einfachsten, gemeinverständlichen Grundsätze herrschen sollten, zur Domäne formalistischer Klügeleien wird und wie der Gedanke, daß die Volkstümlichkeit der Strafrechtsprechung ein nationales Gut ist, ganz abseits von dem Kreise der Erwägungen des höchsten Gerichtshofes liegt“605. Zum Beleg führte Aulus Agerius zahlreiche Beispiele an, von denen zwei erwähnt seien. Der „Versuch am untauglichen Objekt mit untauglichen Mitteln“ machte erstmals von sich reden, als das Reichsgericht das Unterfangen, jemanden mittels einer Zauberformel totzubeten, als Mordversuch qualifizierte. Später diente der Rechtsbehelf dazu, das Abtreibungsverbot des § 218 StGB materiell zu erweitern606. Ferner: Wiederholt waren Frauen aus ärmeren Bevölkerungskreisen wegen schwerer Kuppelei verurteilt worden, weil sie den Bräutigam ihrer Tochter kurz vor der Eheschließung in ihrem Hause hatten übernachten lassen. Die Urteile negierten nicht nur klassenspezifische Moralvorstellungen, galt ein solches Verhalten in unteren Bevölkerungsschichten doch weit weniger als anstößig denn in höheren, sondern wirkten auch in der Strafzumessung stark überzogen. Hierfür zeichnete die Gesetzeslage verantwortlich, da der entsprechende § 181 Nr. 2 StGB Zuchthaus nicht unter einem Jahr androhte, mildernde Umstände ausschloß und unbedingten Ehrverlust vorschrieb. Grundlage bildete eine Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1885, der sich eine Reihe von Untergerichten noch eine zeitlang widersetzten, schließlich aber resigniert fügten607. 603 Anon., Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren, in: Grenzboten 55 / 4 (1896), S. 173 – 190, hier S. 178 („Scharfsinnsleistungen des Reichsgerichts“). 604 Vgl. oben A, Kap. IV. 605 Aulus Agerius, Der Einfluß der Staatsanwaltschaft in der preußischen Justiz, in: PJ 81 (1895), S. 1 – 29, hier S. 17. 606 Vgl. Aulus Agerius, S. 19. Bei dem erstgenannten Urteil handelt es sich um die Entscheidung der vereinigten Strafsenate v. 24. 5. 1880 (Entsch. Bd. 1, S. 439); zur Diskussion um den § 218 im späten Kaiserreich neuerdings: S. Putzke, Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit, Berlin 2003 (mit Schwerpunkt auf der Strafgesetzreform). 607 Vgl. Aulus Agerius, S. 18 f.; RG-Entsch. v. 21. 5. 1885 (Entsch. Bd. 7, S. 317); ebenso: Serenus Albus [Pseud.], Der drohende Niedergang des Preußischen Richterstandes, Breslau 1897, S. 18 f.; Viezens, S. 8.
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Offenkundig war dem Autor eine Verfügung Schellings vom Dezember 1891 unbekannt geblieben, die sich auf eben jene Fälle von Kuppelei bezog. Häufig fehle es den Angeklagten, wie der preußische Justizminister darin ausführt, am erforderlichen Unrechtsbewußtsein. Deshalb sei, läge kein strafrechtlicher Dolus vor, von Erhebung der Anklage abzusehen. Zweifelsfälle sollten der beschließenden Kammer des Gerichts vorgelegt, die bedenklichen Momente aber ausführlich erörtert werden608. Über die konkrete Materie hinaus kann die Verfügung allgemeines Interesse beanspruchen: Ganz selbstverständlich ging Schelling davon aus, daß Staatsanwälte und Richter – je für sich oder im Zusammenwirken – über hinreichende prozessuale Möglichkeiten verfügten, eine ganze Klasse von Fällen, denen eine bestimmte Problematik anhaftete, von den erkennenden Gerichten fernzuhalten. Insofern entlarvt sie alle offiziellen Verweise auf das Legalitätsprinzip der Staatsanwaltschaft und / oder die hohen Mindeststrafen des materiellen Rechts, an welche die Richter nolens volens gebunden seien, als Scheingründe. Andererseits richtete sich der Formalismusvorwurf gegen Entscheidungen, die aufgrund ihrer betont strikten Auslegung Anstoß erregten. Das wohl berühmteste Beispiel bildete das Urteil des vierten Strafsenats des Reichsgerichts vom 20. 10. 1896, in dem die Möglichkeit des Diebstahls von Elektrizität mit der Begründung verneint wurde, es handele sich nicht um eine „körperliche Sache“ im Sinne des § 242 StGB. Für den aufstrebenden Industriestaat Deutschland besaß die Frage erhebliche Tragweite, so daß sich an der breiten Diskussion neben Juristen auch Techniker und Ökonomen beteiligten. Nicht wenige Kommentatoren waren der Ansicht, daß das Reichsgericht von einer allzu engen Rechtsauffassung ausginge609. Im übrigen fiel die obergerichtliche Judikatur nicht einheitlich aus, was angesichts der relativen Neuheit des Gegenstandes und seiner noch ungeklärten physikalischen Beschaffenheit erklärlich erscheint. So hatte der vierte Zivilsenat des Reichsgerichts die Frage zuvor (mit Bezug auf das preußische Recht) in gegenteiligem Sinne entschieden, und auch das Oberlandesgericht München bejahte in mehreren Revisionsentscheidungen den Straftatbestand des Diebstahls610. Nicht zuletzt handelte es sich um einen klassischen Konflikt zwischen formaljuristischer Logik und ökonomischen Interessen oder, soziologisch gesprochen, zwischen unterschiedlich strukturierten Subsystemen – ein Gesichtspunkt, den niemand geringerer als Max Weber hervorhob: „Niemals wird ein ,Laie‘ verstehen, daß es einen ,Elektrizitätsdiebstahl‘ bei der alten Definition des Diebstahlsbegriffs nicht geben konnte. Es ist also keineswegs eine spezifische Torheit der modernen Jurisprudenz, welche zu diesen Konflikten führt, sondern in weitem Umfang die ganz unvermeidliche Folge der Disparatheit logischer Eigengesetzlichkeiten jedes forAV an die Oberstaatsanwälte v. 31. 12. 1891, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 63 – 65. Entsch. Bd. 29, S. 111; DJZ 1 (1896), S. 446; zur Diskussion: Heinrich Dernburg, Diebstahl an Elektrizität, in: DJZ 1 (1896), S. 473 f.; ders., Nochmals Diebstahl an Elektrizität, in: DJZ 2 (1897), S. 76 – 78; Vossische Zeitung v. 24. 1. 1897. 610 Vgl. Dernburg, S. 474; Urteile des OLG München v. 15. 1. 1895 (DJZ 1, 1896, S. 40) und 20. 11. 1897 (DJZ 3, 1898, S. 23 f.). 608 609
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malen Rechtsdenkens überhaupt gegenüber den auf ökonomischen Effekt abzweckenden und auf ökonomisch qualifizierte Erwartungen abgestellten Vereinbarungen und rechtlich relevanten Handlungen der Interessenten. Immer erneut entsteht daraus heute der Protest der Interessenten gegen das juristische Fachdenken als solches“611. In der Tat beharrte das Reichsgericht auf seinem Standpunkt, den es in seiner Entscheidung vom 1. 5. 1899 nochmals ausführlich begründete612. Rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechend hielten die Richter am strafrechtlichen Analogieverbot, gleich dem Bestimmtheitsgebot eine Konsequenz aus dem bereits erwähnten Gesetzlichkeitsprinzip, fest. Danach darf ein Rechtssatz auch dann keine Anwendung finden, wenn der betreffende Tatbestand vom Wortlaut her zwar nicht erfaßt ist, in der Sache aber vergleichbar erscheint613. Mit anderen Worten: In diesem Fall insistierten die Richter auf einer strikten Anwendung des Gesetzes und wiesen jedwede ausdehnende Interpretation zurück. Da sich der Tatbestand auch anderen Strafvorschriften (Sachbeschädigung, Betrug) nicht subsumieren ließ, blieb als Ausweg allein eine Ergänzung des Strafgesetzbuchs. So geschah es dann auch: Das nur zwei Paragraphen umfassende Spezialgesetz vom 9. 4. 1900, rasch und ohne viel Aufhebens zustandegebracht, bedrohte die rechtswidrige Entziehung elektrischer Arbeit mit Gefängnis (ohne nähere Angabe) und / oder Geldstrafe bis zu 1.500 Mark; daneben konnte auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden614. Eine formalistisch verengte Auslegungspraxis wurde auch der Rechtsprechung zum „unlauteren Wettbewerb“ vorgehalten. Um dem Mißbrauch der in der Reichsgewerbeordnung statuierten Freiheit des Wettbewerbs zu begegnen, waren seit 1870 eine Reihe von Spezialgesetzen verabschiedet worden, namentlich zum Schutz der Warenzeichen und des geistigen Eigentums615. Allgemeinere Vorschriften zum Schutz von Handel und Gewerbe enthielt aber erst das „Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes“ vom 27. 5. 1896 (UWG). In Anbetracht der neuartigen und komplizierten Materie entschied sich die Reichsleitung für die Vorlage eines moderaten Entwurfs, der sich auf die wichtigsten Erscheinungsformen des Tatbestandes beschränkte. Der Reichstag behielt dessen kasuistische 611 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. Aufl., hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1980, S. 506; zu dieser Seite des Weberschen Schaffens: S. Breuer / H. Treiber (Hg.), Zur Rechtssoziologie Max Webers, Opladen 1984. 612 Abgedr. in: Sten. Ber. RT 1898 / 1900, Drks. Nr. 612, S. 3723 – 3728. 613 Das Analogieverbot gilt nur zulasten des Angeklagten (analogia in malem partem), zu seinen Gunsten ist eine analoge Rechtsanwendung durchaus zulässig (analogia in bonam partem). 614 Vgl. Sten. Ber. RT 1898 / 1900, Drks. Nr. 612 (Vorlage) und Nr. 671 (Kommissionsbericht und Beschlüsse 2. Lesung); RGBl, S. 228; W. Plenske, Das Elektrizitätsrecht, o. O. 1907. 615 Zu den Teilgebieten siehe die Aufsätze in: Fr.-K. Beier / A. Kraft / G. Schricker / E. Wadle (Hg.), Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland, 2 Bde., Weinheim 1991 (FS zum hundertjährigen Bestehen der „Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht“).
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Struktur bei, mit Ausnahme des § 1 (irreführende Werbung), der zu einer „kleinen“ Generalklausul ausgebaut wurde. Folgende Bereiche fanden eine Regelung: Reklameschwindel (§§ 1 – 4), Quantitätsverschleierungen (§ 5), Betriebs- und Kreditschädigung (§ 6), Namen-, Firmen- und Zeichenmißbrauch (§ 7) und Verletzung von Betriebsgeheimnissen (§§ 9 / 10). Zuwiderhandlungen konnten auf zivilrechtlichem (Erlaß einer einstweiligen Verfügung, Unterlassungsklage, Schadensersatzklage) und / oder strafrechtlichem Wege verfolgt werden. In den meisten Fällen trat die Strafverfolgung nur auf Antrag ein. Geldstrafe konnte bis zu 3.000 Mark, Gefängnis bis zu einem Jahr verhängt werden, in einem bestimmten Wiederholungsfalle auch neben der Geldstrafe. Die Verjährungsfristen waren vergleichsweise knapp bemessen (Strafverfolgung: 3 Monate; zivilrechtliche Ansprüche: 6 Monate)616. Schon nach kurzer Zeit wurden Klagen über die Wirkungslosigkeit des Gesetzes laut, da die Gerichte die neuen Bestimmungen in unsachgemäßer und unzureichender Weise anwenden würden. Gewerbetreibende, gewerbliche Vereine und Mittelstandspolitiker monierten die zahlreichen Freisprechungen bzw. milden Strafen, die einander widersprechenden Urteile bei gleichartiger Sachlage sowie die Abneigung der Staatsanwaltschaft, öffentliches Interesse anzuerkennen und das Verfahren an sich zu ziehen, so daß die Antragsteller regelmäßig auf den teuren und langwierigen Weg der Privatklage verwiesen wurden617. Im Auftrag des Bundes der Handel- und Gewerbetreibenden (Berlin) stellte Heinrich Poeschl 310 zivil- und strafrechtliche Entscheidungen aus den Jahren 1896 – 1902 zusammen, um die Klagen auf eine materielle Grundlage zu stellen, vor allem aber die Notwendigkeit einer Verschärfung des Gesetzes darzulegen. In der dritten Auflage ihres UWG-Kommentars aus dem Jahre 1900 machten Julius Bachem und Hermann Roeren, beide maßgeblich am Zustandekommen des Gesetzes beteiligt, vor allem die „allzu formalistische und enge Handhabung“ durch die Gerichte für das Ausbleiben eines effektiven Schutzes gegen unlautere Konkurrenz verantwortlich618. Noch deutlicher äußerte sich Roeren, Oberlandesgerichtsrat in Köln und führendes Mitglied der Zentrumsfraktion im Reichstag, in einem im Mai 1900 gehaltenen Vortrag: „Der Geist und die Grundsätze, aus welchen heraus das Gesetz erlassen worden ist, sind von den Gerichten nur in sehr beschränktem Maße erfaßt bzw. bei der Auslegung angewendet worden. Es läßt sich nicht leugnen, daß auf Grund des Gesetzes Entscheidungen getroffen worden 616 Zum UWG: Julius Bachem / Hermann Roeren, Das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes, 3. Aufl., Leipzig 1900 (mit Vorgeschichte und Gesetzgebungsprozeß; Regelungen S. 53 – 55); ausführlich jetzt dazu: H. v. Stechow, Das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs vom 27. Mai 1896, Berlin 2002. 617 Vgl. Heinrich Poeschl, Die Praxis des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes, Berlin 1903, S. 186 ff. (mit Beschlüssen verschiedener Verbände). 618 Bachem / Roeren, Vorwort, S. IV; vgl. auch Roeren, Sten. Ber. AH, 5. 5. 1896, S. 1975; ähnlich L. Fuld, Unlauterer Wettbewerb und Ausverkauf, in: DJZ 6 (1901), S. 128 – 130 („formalistische und überängstliche Auslegung“).
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sind, über die der Jurist den Kopf schüttelt und über die der Laie in Verwunderung gerät, Entscheidungen, die erkennen lassen, daß der Richter nicht erfaßt hat, aus welchen Gründen und zu welchen Zwecken das Gesetz erlassen worden sei“619. Massive Verärgerung löste das Reichsgerichtsurteil vom 21. 9. 1897 über die Strafbarkeit schwindelhafter Ausverkäufe aus620. Von Ausverkaufsschwindel sprach man, wenn der Geschäftsinhaber über einen längeren Zeitraum hinweg Ausverkauf mit drastischen Preissenkungen annoncierte, sein Lager währenddessen mit neuer Ware aber ständig wieder auffüllte. Das Reichsgericht erklärte diese sog. Nachschiebung nicht für schlechthin unzulässig, was von den Untergerichten dahingehend interpretiert wurde, sie sei generell zulässig. Die Folge war, daß das Ausverkaufsunwesen, ursprünglich zentrales Motiv für den Ruf nach einem Wettbewerbsgesetz, neue Blüten trieb. Als Roeren bei der Etatberatung des Innenressorts im Jahre 1900 die Mißstände im Reichstag zur Sprache brachte, gab Staatssekretär Posadowsky offen zu, daß er als Richter anders entscheiden würde621. Posadowsky beließ es indessen nicht bei Lippenbekenntnissen. Zum einen regte er bei den Bundesregierungen Erkundigungen über die Zustände im Ausverkaufswesen an622. Zum anderen veranlaßte er den preußischen Justizminister, die Staatsanwaltschaft zu einer schärferen Gangart anzuhalten. Im März 1901 und erneut ein Jahr später instruierte Schönstedt die Anklagebehörde, bei Auswüchsen im Ausverkaufswesen regelmäßig öffentliche Klage zu erheben. Eine weitere Verfügung vom Dezember 1903 dehnte das öffentliche Interesse schließlich auf alle wichtigeren Fälle des unlauteren Wettbewerbs aus. Ungeachtet des Umfangs der eingetretenen Schädigung habe die Staatsanwaltschaft bei geschäftlichen Mißbräuchen einzuschreiten, „an deren grundsätzlicher Unterdrückung ganze Gewerbezweige ein begründetes Interesse“ hätten, namentlich dann, wenn das strafrechtliche Vorgehen von Gewerbeverbänden „zur Erlangung einer grundsätzlichen Entscheidung“ beantragt worden sei623. Die rasche Abfolge der Verfügungen, ansonsten eher untypisch, spiegelt den Unwillen der Staatsanwälte wider, bei rein ökonomischen Auseinandersetzungen, denen – im Gegensatz etwa zu Streikvergehen – keine politische Färbung beigemischt war, ein über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinausgehendes Interesse anzuerkennen. Da die erwähnten Erhebungen kein einheitliches Bild ergaben (die preußischen Handelskammern, in denen der gewerbliche Mittelstand meist nur schwach vertreZit. n. Poeschl, S. 191. Entsch. Bd. 30, S. 257; dazu Poeschl, S. 155 ff. (mit Abdruck des Urteils); Fuld, der für ein Spezialgesetz eintrat, sprach von einer „für die Rechtsentwicklung auf dem Gebiete des unlauteren Wettbewerbs verhängnisvollen Entscheidung“ (S. 128). 621 Vgl. Sten. Ber. RT, 11. 1. 1900, S. 3469 f. (Roeren) und S. 3470 f. (Posadowsky). 622 Vgl. Poeschl, S. 163 ff. (mit Abdruck des entsprechenden Rundschreibens des preußischen Handelsministers an die Regierungs- und Polizeipräsidenten v. 17. 2. 1900). 623 RV an die Oberstaatsanwälte v. 8. 12. 1903, in: HStA, MJu 17538; die zuvor erwähnten Verfügungen datieren vom 27. 3. 1901 und 6. 3. 1902. 619 620
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ten war, meinten besondere Mißstände nicht erkennen zu können, eine Sichtweise, der die gewerblichen und kaufmännischen Vereine entschieden widersprachen), nahm man im Reichsinnenamt von dem zeitweilig ventilierten Plan eines speziellen Ausverkaufsgesetzes wieder Abstand. Stattdessen forderte Posadowsky Anfang 1902 die Bundesregierungen in einem Rundschreiben auf, das Ausverkaufswesen schärfer zu überwachen, insbesondere Zuwiderhandlungen mit Offizialklage zu verfolgen. In seinem Antwortschreiben begrüßte der bayerische Ministerpräsident v. Crailsheim den Verzicht auf gesetzgeberische Maßnahmen, teilte jedoch mit, daß der Justizminister ein generelles Einschreiten von Amts wegen ablehne, da eine mangelnde Entschiedenheit der Staatsanwälte nicht zu erkennen sei624. Obwohl der Kampf gegen Wettbewerbsverzerrungen nach 1900 durch die Generalklausel des BGB über die Verkehrssitten (§ 826) eine wirksame Ergänzung erfuhr und das Reichsgericht seine früheren Ausverkaufsurteile revidierte, wurde das UWG 1909 verschärft625. Als ausschlaggebend erwies sich das fortwährende Drängen der Mittelstandsparteien, das Ende 1900 mit zwei von den Konservativen und dem Zentrum eingebrachten Anträgen einsetzte626. Das revidierte Gesetz vom 7. 6. 1909 wurde um eine „große“ Generalklausel (§ 1) und zusätzliche Bestimmungen über irreführende Werbung (§§ 7 / 9 – 12) erweitert. Die Schwierigkeiten der Rechtsprechung mit den Erscheinungen des unlauteren Wettbewerbs wiederholten sich praeter propter auf den anderen Gebieten des gewerblichen Rechtsschutzes627. Die Erklärung ist vor allem in der Tatsache zu suchen, daß die Richter mit den komplizierten Verhältnissen des modernen Wirtschaftslebens (noch) nicht genügend vertraut waren628. So gesehen beruhte die formalistisch enge Auslegung – abgesehen von der Vorprägung durch die juristische Ausbildung – nicht zuletzt auf Unsicherheit in der Sache selbst. Nach der Jahrhundertwende bildete die Judikatur zum gewerblichen Rechtsschutz eine zentrale Quelle für das Schlagwort von der richterlichen „Weltfremdheit“. Mit gewohntem Scharfblick charakterisierte Hans Delbrück, als Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“ mit den strafgerichtlichen Problemen der Zeit bestens vertraut, die beiden Seiten der jurisdiktionellen Kritik. Unter Hinweis auf die Ver624 Posadowsky an Crailsheim, 9. 1. 1902; Crailsheim an Posadowsky, 13. 2. 1902, beide in: HStA, MJu 17538. 625 Zur Generalklausel des BGB: Degen, Die Bedeutung des § 826 B.G.B. für den gewerblichen Rechtsschutz, in: MuW 8 (1908 / 09), S. 176 – 180 / 235 – 240 / 263 – 267 (LG-Direktor in Leipzig). 626 Antrag Oertel v. 20. 11. 1900, in: Sten. Ber. RT 1900 / 02, Drks. Nr. 39 (gesetzliche Regelung des Ausverkaufswesens); Antrag Gröber / Lieber / Pichler v. 23. 11. 1900, in: ebd., Drks. Nr. 81 (Erweiterung des UWG, Entwurf eines Ausverkaufsgesetzes, Verbot des Gutscheinsystems). 627 Vgl. etwa Roeren, Sten. Ber. RT, 11. 1. 1900, S. 3469 f. (Patentrecht, Markenschutz); Müller-Meiningen (FsVP), ebd., 18. 1. 1900, S. 3578 f. (Verlags- und Urheberrecht). 628 So ausdrücklich Bassermann (NL), Sten. Ber. RT, 31. 1. 1898, S. 753 sowie MüllerMeiningen, ebd., 24. 1. 1899, S. 396 ff.
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urteilung eines sozialdemokratischen Redakteurs in Magdeburg zu neun Monaten Gefängnis wegen indirekter Majestätsbeleidigung (er hatte auf eine Saujagd in der Letzlinger Heide geschimpft, an welcher der Kaiser, wohl ohne Wissen des Redakteurs, teilgenommen hatte) sowie eine in München wegen Bismarckbeleidigung auf Grund des Grobe-Unfug-Paragraphen ausgesprochene Strafe einerseits, das erwähnte Elektrizitätsurteil des Reichsgerichts andererseits stellte er fest: „Hier der ödeste Formalismus unter absoluter Verachtung der Natur der ,Sache‘ [ . . . ], dort eine völlig willkürliche Extendierung der Strafbestimmungen, die zuletzt jede Rechtssicherheit aufhebt“. Ungeachtet mancher positiver Erscheinungen seien die Klagen über die Kriminaljustiz, so Delbrücks Fazit, nur gar zu berechtigt629. Für Carl Jentsch bestand zwischen beiden Phänomenen sogar ein psychologischer Kausalzusammenhang. Da sich manche Richter, so Jentsch, bewußt seien, in politischen Prozessen „gegen ihr eigenes Grundgesetz gesündigt zu haben und noch täglich zu sündigen“, würden sie sich, von schlechtem Gewissen angetrieben, bei unpolitischen Sachen umso strenger an den Buchstaben des Gesetzes klammern: „Der starre Buchstabendienst im nichtpolitischen Prozeß soll die Willkür verdecken, womit zu politischen Zwecken der Buchstabe des Gesetzes bald gedeutet, bald – durch Nichterheben der Anklage – ganz unbeachtet gelassen wird“630. Die These läßt sich präzisieren: Zeichneten sich politische Anklagen durch eine insgesamt regierungsfreundliche, wenn auch differenzierte Behandlung aus, so neigten Richter und Staatsanwälte in Fällen, in denen ausschließlich wirtschaftliche Freiheitsrechte berührt waren, einem Laissez-Faire-Standpunkt zu. Sie verhielten sich also wirtschaftsliberal – eine Einstellung, die in Preußen seit den Zeiten von Stein und Hardenberg ja Tradition hatte.
III. Strukturprobleme der preußischen Justiz und Richterkritik 1. Das Komplementärstück zur jurisdiktionellen bildete die personal-administrative Kritik. Sie richtete sich ganz überwiegend gegen den preußischen Richterstand, verbunden mit Vorwürfen gegen die Landesjustizverwaltung. Ende der 70er Jahre erstmals systematisch formuliert (Kolkmann-Debatte), entfaltete sie sich in den 90er Jahren auf breiter Front. Als Wortführer traten ausschließlich Juristen auf, 629 Hans Delbrück, Politische Korrespondenz, in: PJ 87 (1897), S. 196 f. An die Notiz schloß sich ein kurzer, aber heftiger Schlagabtausch zwischen Delbrück und Stenglein an, der sich in jenen Jahren mehrfach aufgerufen fühlte, die Strafgerichte zu verteidigen. Während Stenglein dem Herausgeber vorwarf, einzelne, zudem nicht näher erläuterte Fälle in unzulässiger Weise verallgemeinert zu haben, verwies Delbrück auf die in den „Preußischen Jahrbüchern“ geführte Diskussion über die Mängel der preußischen Strafjustiz; vgl. Stenglein, Rechtsgefühl und öffentliche Meinung, in: DJZ 2 (1897), S. 141 f.; Delbrück, Protest, in: ebd., S. 162 f.; Stenglein, Erwiderung, in: ebd., S. 180. 630 Jentsch, S. 68, 70; vgl. insgesamt S. 66 ff. (mit zahlreichen Fallbeispielen).
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an ihrer Spitze Richter, was darauf hindeutet, daß es sich, ungeachtet aller medialen Aufmerksamkeit, im Kern um eine Debatte pro domo handelte. Praktisch sämtliche Stellungnahmen verweisen auf die wachsende öffentliche Mißstimmung gegenüber der Justiz und den Rückgang der richterlichen Reputation. Auch für den personalen Aspekt gilt, daß er gleichermaßen Movens wie Erscheinungsform der justiziellen „Vertrauenskrise“ war. Eröffnet wurde die Debatte durch einen 1891 / 92 in den „Grenzboten“ geführten Meinungsaustausch, an dem sich vorwiegend ältere Richter beteiligten631. Beunruhigt über das gesunkene Sozialprestige, ging es den Autoren in erster Linie darum, sich Klarheit über die Ursachen der Entwicklung zu verschaffen. Dabei kamen – neben den nachfolgend behandelten Aspekten – zahlreiche politische und juristische Momente zur Sprache (Übergang vom liberalen zum sozialen Zeitalter; Kompetenzbeschneidung der ordentlichen Gerichte; hoher Anteil der Juden im Justizdienst; amtsgerichtliches Einzelrichtertum; milde Strafpraxis)632. Mit der „Grenzboten“-Debatte begann der Prozeß der Selbstverständigung der preußischdeutschen Richterschaft, der ein Jahrzehnt später zur Gründung der Richtervereine führen sollte. Im Laufe der 90er Jahre ging die Meinungsführerschaft dann mehr und mehr auf die „Preußischen Jahrbücher“ über. Der Richterkritik lagen strukturelle, teilweise jahrzehntealte Probleme der preußischen Justizverwaltung zugrunde, die sich wechselseitig verstärkten und einen zunehmend ungünstigeren Einfluß auf Komposition und Qualität des Personals ausübten. Vier Grundprobleme griffen dabei ineinander: die Anstellungspraxis der Gerichtsassessoren, die Zurücksetzung der Justiz gegenüber der Verwaltung, das Überlastungssyndrom und die Defizite im Ausbildungswesen. Im Rahmen der kaiserzeitlichen Bildungsexpansion verdoppelte sich die Zahl der an preußischen Universitäten immatrikulierten Jurastudenten zwischen 1888 / 89 und 1900 / 01 von 2.556 auf 5.103. Entsprechend stark stieg die Zahl der Gerichtsassessoren: Lag sie 1879 noch bei rund 300, so erhöhte sie sich in der Folgezeit rasch, um sich in den 90er Jahren zwischen 1.700 und 1.900 einzupendeln633. Da die Stellenvermehrung damit in keiner Weise Schritt hielt, verlängerte sich die Übergangszeit zwischen bestandenem Assessorexamen und etatmäßiger Anstel631 Anon., Der Richterstand und die öffentliche Meinung, in: Grenzboten 50 / 3 (1891), S. 540 – 551; Anon., Recht und Richter, in: ebd. 50 / 4 (1891), S. 92 f.; Anon., Nochmals der Richterstand und die öffentliche Meinung, in: ebd., S. 188 f.; Anon., Nochmals der Richterstand, in: ebd., S. 342; Anon., Der Richterstand und die öffentliche Meinung, in: ebd. 51 / 1 (1892), S. 518 – 523; in denselben Kontext gehört, allerdings ohne direkten Bezug zu den eben genannten Artikeln: Anon., Die preußische Justizverwaltung, in: ebd. 51 / 1 (1892), S. 265 – 277 (beklagt die falsche Personalauswahl der Justizverwaltung). 632 Zur Agitation gegen jüdische Juristen seit 1878 / 79: B. Strenge, Juden im preußischen Justizdienst 1812 – 1918, München 1996, S. 189 ff. 633 Zum Problemkreis: Carl Kade, Der preußische Juristenstand, in: PJ 75 (1894), S. 226 – 247; Schröder, Richterschaft, S. 231 ff. sowie die Tab. I (S. 246) und III (S. 248); Ormond, S. 160 f.; Th. Kolbeck, Juristenschwemmen, Frankfurt / M. 1978, S. 87 ff.
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lung durchschnittlich auf sechs bis sieben Jahre. Im Prinzip erfolgte die Ernennung zwar nach Dienstalter, dennoch war die zeitliche Spannweite beträchtlich, wobei die dienstliche Beurteilung durch den Vorgesetzten, der regelmäßig Bericht zu erstatten hatte, eine wichtige Rolle spielte. Die Wartezeit mußte der Kandidat mit unentgeltlicher, häufig geringfügiger Beschäftigung bei einem Gericht oder einer Staatsanwaltschaft, kommissarischer Verwendung bei Amts- und Landgerichten (Vertretung einer etatmäßigen Stelle, Hilfsrichter, Hilfsarbeiter bei der Staatsanwaltschaft) und / oder Nebentätigkeiten (Repetitor, Anwaltsgehilfe, Journalist u. ä.) überbrücken. Durchschnittlich war mehr als die Hälfte der Assessoren in kürzer- oder längerfristigen Kommissorien beschäftigt, deren Vergütung (seit 1893: 200 M. pro Monat) eher symbolischen Charakter besaß (Regierungsassessoren erhielten Diäten in Höhe von 1.500 M. aufwärts). So oder so verblieb der Gerichtsassessor über viele Jahre hinweg in einer finanziell prekären, abhängigen und persönlich unsicheren Lebens- und Berufslage. Der wachsende Personaldruck ließ die Eigentümlichkeiten des preußischen Rekrutierungssystems krass hervortreten634. Wenn auch nicht rechtlich, so war die Justizverwaltung doch faktisch verpflichtet, jeden geprüften Rechtskandidaten, der Richter oder Staatsanwalt werden wollte, über kurz oder lang in den Staatsdienst zu übernehmen. Da die Assessoren im Prinzip denselben Disziplinarvorschriften unterlagen wie die Richter, war eine Entfernung aus dem Dienst lediglich nach förmlichem Disziplinarverfahren möglich und nur aufgrund eines Vergehens, das auch bei Richtern zur Entlassung geführt hätte. Abgesehen von Elsaß-Lothringen (wo das preußische System galt) erfolgte die Anstellung der Gerichtsassessoren in allen anderen größeren Bundesstaaten nach Bedarf, wobei der Justizminister eine Auswahl unter den vorhandenen Kandidaten treffen konnte – eine Quasi-Verpflichtung zur anschließenden Festanstellung existierte nirgendwo sonst. Von daher war die Übergangszeit, die auch andernorts nach Jahren zählen konnte, kürzer als in Preußen. Hilfsrichter gab es ebenso in anderen Ländern, ihre Verwendung beschränkte sich zumeist aber auf die amtsgerichtliche Ebene, zudem wurde die Tätigkeit besser besoldet. Bayern kannte überhaupt kein Hilfsrichtertum, wohl aber Hilfsarbeiter bei der Staatsanwaltschaft. Die Zurücksetzung der Justiz gegenüber der Verwaltung in bezug auf die Gehalts-, Beförderungs- und Rangverhältnisse war in Preußen mittlerweile zur Tradition geworden. Damit hatte sie ihren für die Richter kränkenden Charakter, der sich vor allem bei offiziellen Anlässen manifestierte, aber keineswegs verloren. Als die Besoldung der Verwaltung 1894 vom bisherigen Gehaltsklassensystem auf das Dienstaltersstufensystem umgestellt und die neue Regelung auch für die Richter angekündigt wurde, ertönte aufs neue der Ruf nach Gleichstellung. Aus den Reihen der Verwaltung wurde die Forderung indes als unberechtigt zurückgewiesen635. 634 Zum folgenden: Oskar Hamm, Die Anstellung der Gerichtsassessoren in Preußen, in: DJZ 1 (1896), S. 125 – 128 und ders., Die Anstellung der Gerichtsassessoren in den größeren außerpreußischen Staaten, in: ebd., S. 147 – 149; vgl. auch Sten. Ber. AH 1896, Drks. Nr. 172; zu Baden und Hessen Ormond, S. 193 ff., 213 f.
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Im Verein mit der andersgearteten Pensionsregelung (im Gegensatz zu allen übrigen Beamtenkategorien konnten Richter, außer in Fällen von Dienstunfähigkeit, nach vollendetem 65. Lebensjahr nicht gegen ihren Willen in den Ruhestand versetzt werden) hatte das späte Erreichen der höchsten Gehaltsstufe noch einen weiteren Effekt: die Überalterung des Standes. Die partielle Verschiebung des Personalbestands im Zuge der Reichsjustizreform hatte das Phänomen lediglich verlangsamt. Mitte der 1890er Jahre waren etwa 200 Amts- und Landgerichtsräte, 50 Landgerichtsdirektoren und Oberlandesgerichtsräte sowie 20 Präsidenten im Amt, die das 65. Lebensjahr längst überschritten hatten636. Die Altersstruktur änderte sich erst mit der Pensionierungswelle anläßlich des Inkrafttretens des BGB im Jahre 1900. Viele Richter mit einem Alter von über 65 Jahren nahmen damals das Angebot des preußischen Staates an, das ihnen bei Übertritt in den Ruhestand in den ersten drei Jahren das volle Diensteinkommen und danach den Pensionshöchstsatz von 75 %, und zwar unabhängig von der abgeleisteten Dienstzeit, zusicherte. Überfüllungssituation, ungünstige Laufbahnchancen und interne Diskriminierung verstärkten den Aderlaß der besseren – und das hieß in erster Linie: der tüchtigeren und selbständigeren – Kräfte. Der Vorgang beruhte auf der subordinierten Stellung der Justiz im preußischen Staatsorganismus. Die Allgemeine Staatsverwaltung rekrutierte ihren Nachwuchs in freier Auswahl aus der Masse an Referendaren, die bereits zwei Jahre Vorbereitungsdienst absolviert hatten637. Nunmehr Regierungsreferendare, erhielten sie ihre weitere Ausbildung bei den Verwaltungsbehörden, wo sie, nach bestandener großer Verwaltungsprüfung und Beförderung zum Regierungsassessor, auf die baldige Ernennung zum Regierungsrat hoffen durften. Die Verwaltungsressorts ohne eigene Ausbildung, allen voran die Eisenbahn- und Finanzverwaltung, griffen auf die Gerichtsassessoren zurück, und zwar mit Vorliebe auf die „Prädikatsassessoren“, die die große Staatsprüfung mindestens mit „gut“ bestanden hatten. Am einfachsten machten es sich die Provinzial- und Gemeindeverwaltungen: Sie stellten die Gerichtsassessoren zunächst zur Probe an und entschieden erst dann, ob diese endgültig übernommen oder zur Justiz zurück635 Vgl. Sellow, Rang und Gehalt in Justiz und Verwaltung, in: PJ 78 (1894), S. 118 – 136; Erwiderung unter dem gleichen Titel von Gottfried, in: ebd. 79 (1895), S. 132 – 139; Replik Sellows, in: ebd., S. 139 – 145; weiterhin: Serenus Albus [Pseud.], Der drohende Niedergang des Preußischen Richterstandes, Breslau 1897, bes. S. 3 – 9 (Besprechung der vielgelesenen Schrift: Ernst Mamroth, Unsere Richter, in: Nation 14, 1896 / 97, S. 288 f.; RA in Breslau). 636 Angaben nach Kade, S. 245; Serenus Albus schrieb sarkastisch: „Schwerlich wird außerhalb Preußens ein höherer Gerichtshof möglich sein, von dessen sämtlichen Mitgliedern kein einziges über das gewöhnliche Niveau wissenschaftlicher Mittelmäßigkeit hinausragt, dessen Präsident seit Jahren leidend und kaum zur Hälfte arbeitsfähig ist, endlich zwei Drittel der Mitglieder einschließlich des Präsidenten in dem Alter von siebzig bis achtzig Jahren stehen“ (S. 12); weiterhin: Anon., Der Richterstand und die öffentliche Meinung, in: Grenzboten 51 / 1 (1892), S. 522 f. 637 Zur Ausbildung für den höheren Verwaltungsdienst in Preußen s. Ebert, S. 306 ff.
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geschickt werden sollten638. Die Justiz fungierte mithin als „Sammelbecken für alle angehenden höheren unmittelbaren und mittelbaren Staatsbeamten, aus welchem fast sämtliche Verwaltungen ihren Bedarf an juristisch vorgebildeten Beamten entnehmen“639. Weiterhin wechselte eine größere Zahl von Assessoren jährlich zur Rechtsanwaltschaft über, und zunehmend boten auch Industrie und Handel ausgebildeten Juristen gute bis sehr gute Verdienstmöglichkeiten. Verschiedene Reformvorschläge machten die Runde, die allesamt dasselbe Ziel verfolgten: stärkere Auslese der Kandidaten und Anstellung nach Bedarf. Zur Kennzeichnung der Stellung, die der Justiz in Preußen zugewiesen war, prägte Erwin Kruse das Wort von der „Subalternisierung des Richteramtes“, das später von Franz Adickes und anderen aufgegriffen wurde640. Unter dem Einfluß von Überfüllung und „Subalternisierung“ wandelte sich auch die soziale Zusammensetzung des preußischen Richterstandes. Umfassende sozialgeschichtliche Untersuchungen liegen zwar nicht vor, aus den Universitätsstatistiken läßt sich jedoch ersehen, daß sich das Rekrutierungsfeld „nach unten“ in die bürgerlichen Mittelschichten hinein verschob641. Machten Jurastudenten aus adelig-großbürgerlichen Kreisen in den frühen 80er Jahren noch weit über 10 % aus, stammten 1902 nur noch 2,7 % aus Gutsbesitzerfamilien642. Demgegenüber drängten die Söhne aus kaufmännisch-gewerblichen Schichten immer stärker zur Jurisprudenz. Ihr Anteil, der Mitte der 80er Jahre noch unter 30 % lag, überstieg seit 1905 stets die 40 %-Marke. Zusammen mit den Beamtensöhnen, dem traditionell stärksten Reservoir des richterlichen Personals, stellten sie das Gros des juristi638 Vgl. Hamm, Gerichtsassessoren in Preußen, S. 126. 1894 waren rund 7 % aller Assessoren zu 19 verschiedenen Verwaltungen vorläufig abgestellt (Kade, S. 227 f.). 639 Kade, S. 227. 640 Erwin Kruse [Julian Goldschmidt], Richteramt und Advokatur, Leipzig 1897, S. 6 (der Autor war RA). Kruses Schrift nahm in vielem die Ideen von Adickes vorweg. Hauptanliegen war eine verbesserte Stellung von Richtern und Advokaten. Im einzelnen forderte er: unterschiedliche Ausbildung für die höheren (Richter und Advokaten) und niederen Justizämter (Amtsrichter, Prokuratoren, Notare), Beseitigung des Anciennitätsprinzips, Entnahme der Richter aus dem Anwaltsstand, Gleichstellung des Richterstandes mit der Heeres- und Staatsverwaltung, weitgehendes Einzelrichtertum, Vereinfachung des Verfahrens, Stärkung des Schiedsgerichtsgedankens. 641 Die folgenden Angaben nach Ormond, S. 433, Anm. 260; aus der zeitgenössischen Publizistik: Egon Huckert, Die Familien-Herkunft der preußischen Juristen, in: Soziale Praxis 5 (1895 / 96), S. 965 – 968. 642 Die Kreuzzeitung stellte bereits 1891 fest: „Nicht nur der Landadel, auch der bürgerliche Großgrundbesitz, ja fast die gesamten gebildeten und guten Familien des platten Landes, namentlich die wohlhabenderen und angeseheneren Pächter von Domänen und sonstigem Großgrundbesitz schicken in Preußen ihre Söhne nur noch in die verschiedenen Zweige der Staatsverwaltung, nicht in den Richterstand, eher noch in die Staats- und Rechtsanwaltschaft. Ferner zeigen auch die höheren Beamtenfamilien, darunter auch die der Justiz selbst, wenig Neigung zu einem Verbleiben im Justizdienst, und endlich verläßt diesen auch das städtische Patriziat und wendet sich der Kommunalverwaltung und der Rechtsanwaltschaft zu“ (zit. n.: Anon., Der Richterstand und die öffentliche Meinung, in: Grenzboten 50 / 3, 1891, S. 541).
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schen Nachwuchses. Von adelig-konservativer Seite wurde die Abwendung der höheren Gesellschaftskreise vom Justizdienst lebhaft bedauert und für das gesunkene Sozialprestige, aber auch die abnehmende Leistungsfähigkeit des Standes verantwortlich gemacht643. Weitgehend einig waren sich die Beobachter über die unzumutbar große Arbeitsbelastung vieler Strafrichter, vor allem an den Landgerichten in den Mittel- und Großstädten644. Sie resultierte aus einer unzureichenden personellen Besetzung, ihrerseits Folge der sprichwörtlichen Sparsamkeit der preußischen Justizverwaltung. Ihren letzten Grund hatte die Misere – auch hierüber bestand Konsens – weniger in der mangelnden Durchsetzungskraft der verantwortlichen Minister als in den ehernen Grundsätzen der preußischen Finanzpolitik. Franz v. Liszt sprach vielen aus dem Herzen: „Spätere Jahrhunderte werden die Tatsache nicht begreifen, daß in dem mächtigen Deutschen Reich und in dem führenden Staate Preußen lange Jahre hindurch die Mittel nicht aufzutreiben waren, um die Strafgerichte genügend zu besetzen“645. Infolge der geringen Zahl an Neueinstellungen während der 80er Jahre hatte sich die Relation Einwohner pro Richter deutlich verschlechtert. Zwischen 1891 (4.076) und 1901 (4.683) stieg die Zahl etatmäßiger Richter dann zwar um knapp 15 %, was in etwa dem Bevölkerungswachstum entsprach. Damit konnte die Zunahme des Geschäftsanfalls, die noch um einiges höher lag, aber nicht ausgeglichen werden. Faktisch wurde der Geschäftsbetrieb vielerorts durch die Referendare, die in weitem Umfang Schreib- und Protokolldienste leisteten, und die als Hilfsrichter fungierenden Assessoren aufrechterhalten 646. Bereits 1892 verabschiedete das Abgeordnetenhaus eine Resolution, in der die Umwandlung der hilfsrichterlichen Stellen in feste Etatstellen gefordert wurde. Nicht nur bei dieser Gelegenheit erhob sich der Vorwurf, die eingerissenen Zustände verstießen gegen das richterliche Unabhängigkeitsgebot der preußischen Verfassung und des Gerichtsverfassungsgesetzes647. Das Gesagte traf in ähnlicher Weise auf die Staatsanwaltschaften zu. 643 Ebd., S. 541, 550 f.; weiterhin: Bernhard Frhr. v. Bothmer, Ueber und gegen die Fernhaltung des Adels vom Justiz-Dienst, Berlin 1892; Drenkmann (KG-Präs.), Sten. Ber. HH, 20. 5. 1896, S. 332. 644 Vgl. dazu die Diskussion zwischen Gotthelf Weiter [Pseud.], Das Grundübel unserer Strafrechtspflege, in: PJ 86 (1896), S. 320 – 358 (Überlastung als Zentralproblem); Buehl, Unsere Strafrechtspflege, in: PJ 87 (1897), S. 112 – 132 (StA; einschränkend); Gotthelf Weiters Replik, in: ebd., S. 132 – 135; Rewoldt, Richter und Strafrechtspflege, in: ebd., S. 380 – 384 (RA; zustimmend). Die Diskussion konzentrierte sich vor allem auf die prozessualen Probleme, die mit der Überbürdung verbunden waren; auf sie wird nachfolgend einzugehen sein (s. unten Kap. IV / 2a). 645 Franz v. Liszt, Die Berufung in Strafsachen, in: Die Zukunft 5 (1893), S. 405 f., hier S. 406; weiterhin: C. v. Bülow, Die Reform unserer Strafrechtspflege, Berlin 1893, S. 22, 36, 52; Stenglein, Wider die Berufung, Berlin 1894, S. 12 ff.; nachdrücklich bereits Mittelstädt, Berufung, S. 188 ff. 646 Vgl. Schröder, Richterschaft, S. 225 ff. und Tab. IV, S. 249. 647 Vgl. die Debatte in: Sten. Ber. AH, 9. 2. 1892, S. 385 – 393 (insb. Referent Bödiker); weiterhin: Bödiker (Z, LG-Rat), ebd., 22. 1. 1892, S. 83 f.; Kade, S. 232 ff.
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Als weiteres Strukturproblem kamen die – an anderer Stelle im Zusammenhang erörterten – Defizite im Ausbildungsgang hinzu. Die genannten Faktoren bildeten eine kritische Gemengelage, deren kumulative Effekte die preußische Richterschaft in ihrer Substanz geschädigt hatten – mochte die Diagnose mancher Beobachter auch allzu düster ausfallen, so war der grundsätzliche Befund doch kaum zu bestreiten. Der Unmut über die Entwicklung brach offen hervor im Umkreis des Assessorenparagraphen von 1896, als eine abfällig-aggressive, teilweise geradezu vernichtende Richterkritik um sich griff. Wie ungehemmt die Angriffe waren, zeigt sich rein äußerlich an der Tatsache, daß auf das Gebot kollegialer Solidarität, ansonsten stets großgeschrieben unter den Juristen, so gut wie keine Rücksicht mehr genommen wurde. Schon bald machte das Wort vom „Niedergang des preußischen Richterstandes“ (Serenus Albus) die Runde. Ins Visier gerieten vor allem Bildung und Charakter der (jüngeren) Richter oder, um mit Serenus Albus, einem der Wortführer der Polemik, zu sprechen, die „wissenschaftliche und ethische Degenerierung des Richterstandes“648. In der Diskussion über die Bildungsmängel, die sich gleichermaßen auf die allgemeine wie die fachliche Bildung bezog, wiederholten sich die aus der Ausbildungsdebatte bekannten Argumente. Ernst Stampe, Professor in Greifswald, sah den Ursprung allen Übels in der lächerlich leichten Referendarprüfung. Nur wenn das erste Examen wirklich ernsthafte Anforderungen stelle, „würden wir befreit werden von jenem maßlosen Ballast juristisch völlig untauglicher Elemente, den das leichte Examen jetzt in die Praxis mit hinüberschleppt und aus dem sich dann nachher das Juristenproletariat rekrutiert, dieses gefährlichste Element aller staatsfeindlichen Bestrebungen“649. Andere Autoren beklagten, das Assessorat böte keinerlei Anreiz, dem etatmäßigen Richter würden hingegen Zeit und Mittel fehlen, sich fachlich weiterzubilden oder nur allgemein auf der Höhe der Zeit zu bleiben, also mit den rasanten geistigen und gesellschaftlichen Veränderungen einigermaßen Schritt zu halten650. Für Serenus Albus stellten Bildungsmangel und Bildungsdünkel zwei Seiten derselben Medaille dar: „Ein vulgärer Reporterstil, befremdende Unkenntnis der rudimentären Sätze der Logik, Ungelenkigkeit im mündlichen Ausdruck, Unsicherheit auf dem juristischen und unbefangenes Nichtwissen auf dem allgemeinwissenschaftlichen Gebiete, aber alles dies verbunden mit der festen Überzeugung, ausweislich des bestandenen Staatsexamens Herr der Wissenschaft und – mit Hilfe von Zeitung und Journalmappe – allgemein ein wissenschaftlich gebildeter Mann zu sein, welcher die misera contribuens plebs weit überragt: das ist die Zensur, welche den Juristen erteilt werden muß“. Das mangelSerenus Albus, S. 24. [Ernst Stampe], Der Assessorenparagraph und die Reform des preußischen Richterthums, Greifswald 1896, S. 24. Nach Habilitation in Göttingen wurde Ernst Stampe (1856 – ??) 1889 ao. Prof. in Breslau. Von 1893 bis zu seiner Emeritierung 1924 bekleidete er eine Professur für Bürgerliches Recht an der Universität Greifswald. 650 So Rewoldt, S. 381 f. 648 649
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hafte Fachwissen trete besonders im Strafrecht zutage: „Von keinem Unbefangenen kann mehr die Frage umgangen werden, ob die wissenschaftliche Kraft der Preußischen Richter in toto dem durch die Strafrechtswissenschaft gebotenen Stoff noch gewachsen ist. Den Strafrichtern fehlt durchgängig wie die philosophische Bildung überhaupt, so insbesondere die psychologische und psychiatrische Kenntnis“651. Auch Paul Schellhas, damals Amtsrichter in Steinau a. O. (Schles.), dessen an einem idealen Richterbild orientierte Betrachtungen im Ton gemäßigter, in der Sache aber kaum weniger entschieden waren, hob als wesentlichen Mißstand das gesunkene Bildungsniveau der jüngeren Juristengeneration hervor652. Brisanter noch, weil ins Politische hineinspielend, war die „Charakterfrage“. Hier lautete die Diagnose: mangelnde Ich-Stärke oder, anders gewendet, autoritäre Charakterstruktur. Ein auf seine Weise beeindruckendes Psychogramm des preußischen Durchschnittsrichters zeichnete der unter dem Pseudonym „Gotthelf Weiter“ schreibende Autor, seines Zeichens vermutlich selbst höherer Richter: „Die Schule, durch die unser Richter hindurchgegangen ist, hat ihn in einen Zustand ihm selbst kaum bewußter innerer Hörigkeit versetzt, einer Hörigkeit den Vorgesetzten, der oberen Instanz, den im Recht und auch auf anderen Gebieten des Lebens bestehenden herrschenden Ansichten, den Majoritäten, der öffentlichen Meinung, kurz allem gegenüber, was mit Recht Autorität genießt oder sich mit Erfolg Autorität anzumaßen versteht. Dank dieser, wohl für den Soldaten, soweit sie durch die militärische Unterordnung bestimmt wird, aber nicht für den Richter erwünschten psychischen Subalternität ist ihm Maßstab wie Triebfeder der Pflichterfüllung nicht sowohl das Bewußtsein unmittelbarer, eigener, persönlicher, selbständiger Verantwortlichkeit vor Gott und dem Gesetz als vielmehr der Einklang mit der in der einen oder anderen Form ihm gegenübertretenden und imponierenden Autorität: die unwillkürliche Herabstimmung zu diesem Einklang, die Gravitation nach dieser ihm zur zweiten Natur gewordenen Basis der Pflicht und Anständigkeit vollzieht sich in seiner Seele wie das Gebot der Ehre und des Gewissens. So kommt es ganz von selbst, daß Anwandlungen, den Mut der eigenen Meinung zu betätigen, bei ihm überhaupt nicht allzuviel Raum haben und daß es ihm infolgedessen erspart bleibt, sich der Zumutung einer bewußten Preisgabe des eigenen Willens zu beugen“653. So sehr die Analyse spätere Einsichten über den „autoSerenus Albus, S. 16, 18. Paul Schellhas, Ideale und Idealismus im Recht, Leipzig 1896, S. 59 ff. (2. Aufl. u. d. T.: Was fordert unsere Zeit vom Richterstande und der Rechtspflege?, Leipzig 1898); knappe Bemerkungen dazu bei: U. Falk, Von Dienern des Staates und von anderen Richtern, in: A. Gouron / L. Mayali / A. P. Schioppa / D. Simon (Hg.), Europäische und amerikanische Richterbilder, Frankfurt / M. 1996, S. 251 – 292, hier S. 284 – 287 (Falk macht den Autor zu einem Leipziger Amtsrichter). Paul Schellhas (1859-??), später Amtsrichter in Rixdorf b. Berlin und schließlich LG-Rat, verkörperte das Idealbild eines Juristen mit weitgespannten geistigen Interessen. Er verfaßte Werke über zentralamerikanische Altertümer sowie populärwissenschaftliche Abhandlungen über verschiedene Themen und war Ehrenmitglied der Anthropologischen Gesellschaft Washington. 651 652
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ritären Charakter“ (Horkheimer / Adorno) vorwegnimmt, so begrenzt bleibt doch der Erklärungswert des Modells: Es versagt im Fall konkurrierender Autoritäten, und Kompromißhaltungen, wie sie namentlich in der Strafzumessung gang und gäbe waren, finden darin ebensowenig Platz. Auch andere Autoren warfen die Charakterfrage auf. Mit Blick auf den weiten Spielraum der Justizverwaltung meinte Serenus Albus: „Feststeht, daß unter den obwaltenden Verhältnissen die Imponderabilien an Zahl und Gewicht zunehmen, dagegen die Widerstandskraft abnimmt“654. Ebenso monierte Schellhas, daß die persönlichen Eigenschaften, die das Idealbild eines Richters ausmachen würden, unter den modernen, bürokratisch-technischen Verhältnissen nicht zur Entfaltung kämen. Dazu zählte er vor allem: vollkommene Lebenserfahrung, leidenschaftslose, vorurteilsfreie Denkungsart, lebhafter Gerechtigkeitssinn, ein warmes Herz, ein offenes Auge für alles Menschliche und Urteilsfähigkeit655. Bildungs- und Persönlichkeitsfrage wurden ferner mit dem fehlenden Berufsethos in Verbindung gebracht. Das fortwährende Liebäugeln mit einer Verwaltungskarriere verhindere, so Kade, in dem angehenden Jünger der Themis „die Wurzelbildung der Liebe zu seinem Beruf“656. Schellhas, der größten Wert auf den „Geist“ der Richterschaft legte, beklagte den völligen Mangel idealer Momente in der juristischen Ausbildung. Er forderte eine grundlegende Umgestaltung, orientiert an vier Maximen: Entwicklung der oben genannten persönlichen Eigenschaften – ein hohes Maß an allgemeiner Bildung – geistige Vertiefung und Pflege einer idealen Berufsauffassung – praktische Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet des Verkehrslebens657. Fehlten diese Voraussetzungen, so erstarre die richterliche Tätigkeit unweigerlich in handwerklich-mechanischem Formalismus, wie man gegenwärtig beobachten könne. Die Äußerungen stehen – wie könnte es anders sein – in größeren Zusammenhängen. Zunächst läßt sich unschwer ein Generationenkonflikt erkennen, waren es doch durchweg ältere Juristen (dies geht aus den eingestreuten persönlichen Bemerkungen hervor), die hier über den juristischen Nachwuchs zu Gericht saßen. Insofern ist die Debatte in den Kontext des mentalitätsgeschichtlich bedeutsamen Wechsels von der Reichsgründungsgeneration zu den „Wilhelminern“ einzuordnen, der zugleich den Übergang von einer liberaleren zu einer stärker obrigkeits653 Gotthelf Weiter [Pseud.], Das Grundübel unserer Strafrechtspflege, in: PJ 86 (1896), S. 320 – 358, hier S. 328 f.; Weiters Abhandlung schließt mit der Warnung „Cave judicem“ (S. 358). Bei Serenus Albus heißt es: „Das Resultat ist, daß ein selbstbewußtes Festhalten an der geistigen Unabhängigkeit und Freiheit gegenüber dem Vorgesetzten, der Justizverwaltung und dem Andringen politischer Erwägungen von mächtiger Seite auch für den Richter unvorteilhaft ist. Die richterliche Unabhängigkeit ist eben nur ein Ideal“ (S. 20). 654 Serenus Albus, S. 20. 655 Vgl. Schellhas, S. 51 ff. 656 Kade, S. 229. 657 Schellhas, S. 83; vgl. auch das gesamte Kapitel S. 73 – 95.
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staatlichen Haltung markiert658. Mit Serenus Albus, der ganz offen dem verlorengegangenen Ideal einer altliberalen Bürgergesellschaft nachtrauert, meldete sich einer der letzten Vertreter des weiland liberalen Kreisrichtertums zu Wort. Als zweiter Strang – dies gilt insbesondere für die Schrift von Schellhas – ist wieder einmal die Kulturkritik zu nennen mit ihrem Unbehagen an der modernen, als anonym und entseelt erlebten Massengesellschaft, welche an Maßstäben gemessen wird, die den vermeintlich humaneren, weil überschaubaren und personal strukturierten Lebensformen der vormodernen Welt entstammten. Kulturkritisch gefärbt sind auch die Klagen über die „flache“, rein funktionale Bildung bzw. „Unbildung“ der Hochschulabsolventen, die damals in allen Geisteswissenschaften anzutreffen waren. Sie sind als Symptom der Krise zu deuten, in die das Humboldtsche Bildungsideal im Zeichen der aufkommenden Massenuniversität, der Verselbständigung der Einzelwissenschaften und eines zunehmend pragmatischeren Verständnisses des Studiums geraten war: „,Bildung‘ wurde zu einer blassen Idee hinter der Wirklichkeit der Wissenschaften und der Ausbildung“659. 2. In den Zusammenhang der Richterkritik gehört auch die Kontroverse um den Einfluß der Staatsanwaltschaft in der preußischen Strafjustiz, die zwischen zwei hochrangigen Richtern unter den Pseudonymen „Aulus Agerius“ und „Numerius Negidius“ in den „Preußischen Jahrbüchern“ ausgetragen wurde. Die Auseinandersetzung schlug derart hohe Wellen, daß nach kurzer Zeit ein Separatdruck auf den Markt kam660. Die Resonanz ist nicht schwer zu erklären, breiteten hier doch zwei intime Kenner der Verhältnisse die deplorablen Zustände in der preußischen Strafgerichtsbarkeit coram publico aus. Vor allem die liberale Presse sah sich in ihrer vielfältigen Kritik an Richtern und Rechtsprechung gleichsam amtlich bestätigt. Zunächst sei die Identität des bis heute anonym gebliebenen Numerius Negidius gelüftet. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verbarg sich hinter dem Pseudonym der schon mehrfach zitierte Otto Mittelstädt. Hierauf verweisen die biographischen Angaben des Verfassers, er habe früher einmal der Staatsanwaltschaft angehört (Mittelstädt war 1860 – 1876 als Staatsanwalt tätig), übe aber seit zwei Jahrzehnten das Richteramt aus (seit 1876 war Mittelstädt Richter, zunächst am Hanseatischen Oberlandesgericht, dann am Reichsgericht). Verräterisch ist ferner der Hinweis auf eine aus der eigenen Feder stammende, 1874 in den „Preußi658 Hierzu: M. Doerry, Übergangsmenschen, Weinheim 1986. Zum wachsenden Illiberalismus der Studentenschaft: K. H. Jarausch, Students, Society and Politics in Imperial Germany, Princeton 1982; differenzierend dazu: Nipperdey, I, S. 583 ff. 659 So Nipperdey, I, S. 581 (zum ganzen S. 581 – 586). 660 Aulus Agerius und Numerius Negidius, Über die preußische Strafjustiz. Zwei Aufsätze aus den „Preußischen Jahrbüchern“, Berlin 1896. Die beiden Pseudonyme dürften einem ebenfalls ein justizpolitisches Thema behandelnden Beitrag entnommen sein, der drei Jahre zuvor in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschienen war (vgl. Th. Frantz, Ist der Rechtsanwalt ein Zwischenhändler?, in: PJ 75, 1894, S. 97 – 107, hier S. 104 f.); vielleicht ging die Anregung auf Delbrück zurück, dem der Aufsatz selbstverständlich bekannt war.
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schen Jahrbüchern“ veröffentlichte Abhandlung, in der Mittelstädt (gegen Gneist) für die Einrichtung der deutschen Staatsanwaltschaft nach hannoverschem Vorbild plädierte. Letzte Zweifel beseitigt ein Vergleich mit den sonstigen Äußerungen Mittelstädts, insbesondere was den kraftvollen Sprachstil, die eindringliche Behandlung des Themas und die entschiedene Stellungnahme betrifft. Im übrigen fügt sich der Beitrag in Ansatz und Argumentation bruchlos in seine sonstige justizkritische Publizistik ein. Daß Mittelstädt entgegen seiner sonstigen Gewohnheit in diesem Fall mit geschlossenem Visier kämpfte, dürfte auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß das Verdammungsurteil über die preußische Richterschaft, das hier ausgesprochen wird, mit der Stellung eines Reichsgerichtsrats nur schlecht vereinbar erschien. Aulus Agerius sieht die wesentliche Ursache für die „Abwendung unserer heutigen Strafrechtsprechung vom Volksgeiste“ in der Vorherrschaft, die die Staatsanwaltschaft mehr und mehr über die Strafrechtspflege erlangt hätte661. Abgesehen von ihrer gesetzlichen Stellung und administrativen Bevorzugung, beruhe ihr Übergewicht namentlich auf der seit 1879 von der preußischen Justizverwaltung geübten Praxis, langjährige Staatsanwälte in hohe Richterämter zu berufen. Der Autor weist nach, daß von den 13 OLG-Präsidenten immerhin 4, von den 40 Senatspräsidenten der Oberlandesgerichte 9 und von den 92 LG-Präsidenten 19 früher der Staatsanwaltschaft angehört hätten, und zwar meist über viele Jahre hinweg. Allein zwischen 1885 und 1894 seien 2 Senatspräsidenten der Oberlandesgerichte, 9 LG-Präsidenten, 14 OLG-Räte und 5 LG-Direktoren direkt vom Posten des Staatsanwalts in die genannten Richterämter befördert worden. Damit läge ihr Prozentsatz weit über dem Anteil der Staatsanwälte an der gesamten höheren Beamtenschaft der Justiz, der 1 / 14 % betragen würde662. Sei erst einmal ein ehemaliger Staatsanwalt Mitglied einer Strafkammer geworden, so käme, vor allem angesichts der bekannten Untüchtigkeit der Beisitzer, ein circulus virtuosus in Gang, an dessen Ende sich der „staatsanwaltschaftliche Geist“ des Kollegiums bemächtigt hätte. Zum Beleg seiner These führt Aulus Agerius zwei Erscheinungen ins Feld: den gerichtlichen Eröffnungsbeschluß, der zu einer bloßen Formalität herabgesunken sei, und die zahlreichen (meist politischen) Urteile mit ausdehnender Gesetzesanwendung und bedenklicher Beweiswürdigung (mehrheitlich entstammten die von A. A. zitierten Urteile allerdings der reichsgerichtlichen Judikatur)663. Bei seiner Erwiderung stimmt Otto Mittelstädt alias Numerius Negidius in der Beschreibung der Symptome mit seinem Pendant völlig überein. Auch Mittelstädt moniert, daß „viel zu viel angeklagt, viel zu viel verurteilt und gestraft wird“. Während einerseits ein „ungeregelter, zielloser Verfolgungseifer“ der Staatsanwälte am 661 Aulus Agerius, Der Einfluß der Staatsanwaltschaft in der preußischen Justiz, in: PJ 81 (1895), S. 1 – 29, Zitat S. 1. 662 Vgl. die Angaben ebd., S. 8 f. 663 Zur Reaktion der Tagespresse: Vossische Zeitung v. 29. 6. 1895, abends und v. 3. 7. 1895, morgens („Mängel der Rechtspflege“); Berliner Tageblatt v. 30. 6. 1895, morgens.
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Werk sei, habe sich andererseits die gerichtliche Kontrolle der Anklagetätigkeit zu einem „wesenlosen Formalismus“ verflüchtigt664. Energisch bestreitet er hingegen, daß der hohe Anteil ehemaliger Staatsanwälte das Ergebnis einer gezielten Personalpolitik der preußischen Justizminister sei: „Aulus Agerius sieht überall System und Tendenz, wo in Wahrheit nur Lässigkeit und Prinziplosigkeit vorherrschen“665. Der wirkliche Grund für die Dominanz der Staatsanwaltschaft liege in der Mangelhaftigkeit des Richterstandes, für die Mittelstädt harte Worte findet: Die Rede ist von „juristischer Minderwertigkeit“, „intellektuellem Niedergang“, „geistig unbedeutenden Handwerksjuristen“ und „Inferiorität“, hervorgerufen durch die „geistige Verwahrlosung“ der studierenden Jugend, „ruchlosestes Verlottern“ der Semester und „stumpfsinnige Examenspaukerei“666. Erneut taucht die Trias Ausbildung – intellektuelle Fähigkeiten – Charakter auf, und wiederum richtet sich die Spitze der Anklage gegen die charakterlichen Mängel: „Wer so ohne Sturm und Drang und Leidenschaft, so flach und schal und unersprießlich die besten Jahre des Lebens versimpelt hat, wie dies unsere jungen Juristen zumeist getan, der bleibt Zeit seines Lebens nicht nur im Intellekt, auch im Charakter ein geschwächter Mann. Seine Widerstandskraft wird nach allen Seiten hin nur eine äußerst geringe sein. Das heutige Strafrichteramt aber erfordert in erster Reihe eine in sich gefestigte und gereifte Haltung des Charakters“667. Das Übergewicht der Staatsanwaltschaft erklärt Mittelstädt mit der Tatsache, daß sich die besseren Kräfte der verantwortlicheren und anspruchsvolleren Anklagetätigkeit zugewandt hätten. Eben deshalb hätte sich die Justizverwaltung genötigt gesehen, höhere Richterstellen vermehrt mit Staatsanwälten zu besetzen. Im Ergebnis könnten die Richter dem staatsanwaltschaftlichen Verfolgungsdruck nicht den erforderlichen Widerstand entgegensetzen: „Inepte Anklagen durch Vorbeschluß von der Schwelle des Gerichtssaals zurückzuweisen, grundlose Anklagen durch Urteil zu vernichten, ist Recht wie Pflicht der Gerichtshöfe. [ . . . ] Verkennen die Gerichte ihren heiligen Beruf so sehr, daß, statt die Staatsanwälte zu erziehen, statt ihre Tätigkeit zu zügeln und zu mäßigen, sie ihre Aufgabe lieber in die tunlichste Willfährigkeit allen staatsanwaltlichen Zumutungen gegenüber setzen, da soll man sich doch nicht wundern, wenn schließlich die Staatsanwälte sich daran gewöhnen, sich selbst als die eigentlich herrschenden Träger der Strafjustiz, die Gerichtshöfe nur zur förmlichen Legalisierung der staatsanwaltlichen Verfügungen berufene Apparate anzuschauen!“668. Besserung verspricht sich Mittelstädt allein durch innere Regeneration, nicht durch äußere Maßnahmen. 664 Numerius Negidius [Otto Mittelstädt], Aulus Agerius und die Preußische Staatsanwaltschaft, in: PJ 83 (1896), S. 97 – 114, Zitate S. 97, 98. 665 Ebd., S. 100. 666 Zitate ebd., S. 106, 107, 108, 110. 667 Ebd., S. 108. 668 Ebd., S. 109 f. Ähnlich Gotthelf Weiter, S. 330: „Die Klagen über die Vorherrschaft der Staatsanwaltschaft müßten einem innerlich gefestigten und auf sich selbst ruhenden Richtertum gegenüber verstummen“; ebenso Serenus Albus, S. 21.
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Wie man sieht, reihte sich Mittelstädt nahtlos in die Front der Richterkritiker ein. Genau genommen widersprachen sich die beiden Kontrahenten nur in einem einzigen Punkt, nämlich der Frage, ob der verstärkte Rückgriff auf Staatsanwälte als Ergebnis einer zielgerichteten Personalpolitik oder als Notbehelf zu interpretieren sei. Ansonsten ergänzten sich die Argumentationslinien beinahe kongenial. Das dabei entstehende Bild – einer machtvoll auftretenden Staatsanwaltschaft stand eine innerlich geschwächte Richterschaft gegenüber – paßt bestens zur Neigung der Richter, sich eher kompromißlerisch aus der Affäre zu ziehen anstatt außerjuristischen Ansprüchen selbstbewußt die Stirn zu bieten669. Was die Differenz in der Anstellungsfrage betrifft, so wird man der Mittelstädtschen Interpretation beipflichten müssen. Mit seiner „unpolitischen“ Personalauswahl – abgesehen von der Ausschließung der Sozialdemokraten und der gezielten Germanisierung der Justiz in den polnischsprachigen Gebieten – setzte Schönstedt die Personalpolitik seiner Vorgänger fort670. Korpszugehörigkeit spielte bei Anstellung und Beförderung kaum eine Rolle, und auch dem Status als Reserveoffizier kam wohl nur begrenzte Bedeutung zu, ungeachtet der Tatsache, daß die Quellen seit den 90er Jahren vielfach über den „schneidigen Reserveoffizier“ als typischen Vertreter der „neuen“ Richtergeneration Klage führen671. Immerhin indizierte der Status als Reserveoffizier eine Staatsnähe, die sich mit der geforderten Unparteilichkeit gerade bei politischen oder sozialen Streitigkeiten nur schlecht vertrug. Äußerlich kam die „Militarisierung“ auf der Ebene der gerichtlichen Umgangsformen zum Ausdruck, vor allem gegenüber Angehörigen der Unterschichten. Auf die veränderte Tonlage weist eine Schönstedtsche Verfügung vom April 1896 hin, deren Erlaß nicht zufällig in den Umkreis der Beratungen über ein neues Auswahlverfahren fiel. Das Reskript reagierte, wie es im Text heißt, auf wiederholte Klagen, daß „das rechtssuchende Publikum bei den Justizbehörden nicht immer dasjenige Entgegenkommen im persönlichen Verkehre finde, auf das es berechtigten Anspruch hat“672. Aus derlei Vorkommnissen würden „nur zu leicht abfällige Ur669 Weiterhin zur Kontroverse zwischen A. A. und N. N.: Stenglein, Die Preußische Strafjustiz, in: DJZ 1 (1896), S. 165 – 169; ders., Das Grundübel unserer Strafrechtspflege, in: GerS 54 (1897), S. 398 – 412 (unter Einbeziehung Gotthelf Weiters). 670 Hierzu Ormond, S. 426 ff.; zur Kontroverse zwischen A. A. und N. N., beschränkt auf das „Staatsanwaltsproblem“, ebd., S. 437 ff. 671 So etwa: Ernst Wichert, Richter und Dichter, Berlin 1899, S. 274 ff. (Erinnerungen; zit. auch bei Ormond, S. 443); Ernst Wichert (1831 – 1902), 1887 bis zu seiner Pensionierung 1896 KG-Rat, schrieb zahlreiche historische Romane, Dramen und Lustspiele. Weiterhin: Theodor Wahl, Unsere Rechtspflege im Volksbewußtsein, Stuttgart 1901, S. 9 f., 52 f. (fordert den Ausschluß der Richter von der Reserveoffizierslaufbahn; kenntnisreiche Zusammenstellung der gängigen Klagen; mit antisemitischer Tendenz); gegen Wahl: Lippmann, Zur Kritik richterlicher Urteile und der Rechtspflege, in: Das Recht 5 (1901), S. 245 – 249 (RG-Rat); Theodor Wahl (1861 – 1936) hatte bereits an verschiedenen Orten als Pfarrer gewirkt, bevor er 1907 die Altstadtgemeinde in Essen übernahm; Mitbegründer der Druckerei „Gemeinwohl“ als Einrichtung der Inneren Mission für Rheinland und Westfalen; schriftstellerisch vielseitig tätig; später Hauptschriftleiter des „Deutschen Pfarrerblattes“. 672 AV v. 30. 4. 1896, in: Müller, Justizverwaltung, S. 464.
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teile allgemeiner Art hergeleitet“. Den Justizbeamten wurde zur Pflicht gemacht, im Verkehr mit dem Publikum „jede Schroffheit zu vermeiden“ und den Parteien bereitwillig Auskunft und Rat zu erteilen. Die Anweisung fruchtete nur bedingt: Zehn Jahre später, im März 1906, wiederholte Schönstedts Nachfolger Beseler die Ermahnung673. 3. Angesichts der massiven Polemik meldeten sich schon bald die Verteidiger des preußischen Richterstandes und seiner Ehre zu Wort674. Die Autoren, durchweg Richter, teilten die Klage über die administrativ zu verantwortenden Mißstände und bestritten auch nicht, daß eine Reihe bedenklicher Urteile ergangen seien, verwahrten sich aber gegen unzulässige Verallgemeinerungen und den abfälligen Ton vieler Angriffe. Landgerichtsrat Viezens, der sich in einer ausführlichen Widerrede mit der gesamten Bandbreite der Vorwürfe auseinandersetzte, schrieb: „Faßt man alle die preußischen Urteile, welche das Mißfallen verständig denkender und gebildeter Männer mit Recht erregt haben, zusammen, so ergibt sich, daß es sich um Strafsachen auf einem verhältnismäßig kleinen Gebiet des Strafrechts, in gewissen großen Verkehrsmittelpunkten und meistens mit politischem Beigeschmack handelte. Sie können, verglichen mit der großen Zahl anderer Urteile, die täglich von preußischen Gerichten gefällt werden, ohne daß irgend jemand etwas dagegen zu erinnern hat oder auch nur davon Kenntnis nimmt, weder an Zahl noch an Bedeutung irgendwie in Betracht kommen“675. Ferner führte er ins Feld: die Widersprüchlichkeit der Anwürfe („zu scharf“ vs. „zu milde“), die formalistische Judikatur des Reichsgerichts, die hohen Mindeststrafen des positiven Rechts (etwa in Fällen schwerer Kuppelei oder des Notdiebstahls) und die häufig entstellende Berichterstattung in der Presse. Andere Autoren verwiesen auf die Kluft zwischen dem Rechtsbewußtsein des Volkes und der Rechtsprechung der Gerichte, die durch den kapitalistischen Geist des Strafgesetzbuchs, aber auch die Rückständigkeit des Privatrechts bedingt sei676. Insgesamt wurde eine Reihe von Argumenten vorgebracht, die seither zum festen Bestandteil richterlicher Selbstverteidigungen gehörten. 4. Zu einem – inhaltlich begrenzten und strategisch nicht gerade geschickten – „Befreiungsschlag“ setzte die preußische Regierung mit dem Gesetzentwurf über „die Regelung der Richtergehälter und die Ernennung der Gerichtsassessoren“ an, der im März 1896 dem Abgeordnetenhaus zuging677. Ohne sachliche NotwendigAV v. 27. 3. 1906, in: ebd. Viezens (LR), „Die Taugenichtse“, Berlin 1897; Alfred Bozi (LR), Die Angriffe gegen den Richterstand, Breslau 1896 (Auszüge in: Die Gegenwart 49, 1896, S. 241 – 245); ebenso: Beleites (NL, LG-Präsident), Sten. Ber. AH, 19. 3. 1896, S. 1490 ff. 675 Viezens, S. 16; vgl. auch die Zusammenfassung S. 67 f. 676 Siehe: Anon., Die Kritik richterlicher Urteile. Von einem Richter, in: Grenzboten 53 / 3 (1894), S. 539 – 546 („Dem Geiste unserer Zeit stellt sich die Wertschätzung von Person und Vermögen gerade umgekehrt dar als den Gesetzgebern des Strafgesetzbuchs“, S. 545). 677 Sten. Ber. AH 1896, Drks. Nr. 98; Kolbeck, S. 93 ff., Ormond, S. 161 f. 673 674
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keit band die Vorlage die angekündigte Einführung des Dienstaltersstufensystems an das ministerielle Recht, unter den Richteramtskandidaten eine geeignete Auswahl zu treffen. Damit war faktisch ein Junktim hergestellt, das viele Abgeordnete mit Recht als Nötigung empfanden, da die allseits begrüßte, allen anderen Beamtenklassen bedingungslos gewährte Änderung des Gehaltssystems mit erweiterten Befugnissen der Justizverwaltung erkauft werden sollte678. Laut § 8 der Vorlage, dem berühmten Assessorenparagraphen, sollte der Justizminister die Gerichtsassessoren künftig „nach Maßgabe des für den höheren Justizdienst bestehenden Bedarfs“ ernennen dürfen. Die übrigen Referendare, die die große Staatsprüfung bestanden hatten, sollten, unter dem Titel „Assessor“, aus dem Justizdienst ausscheiden. Als Auswahlkriterien nannten die Motive das erforderliche „Maß von praktischer Lebenserfahrung, von Takt und Umsicht und von Unabhängigkeit gegenüber ihrer Umgebung“, allesamt Eigenschaften, gegen die vordergründig wenig einzuwenden war. Die Begrenzung der Assessorenzahl und eine erheblich verkürzte Wartezeit wurden zur „Lebensfrage für die preußische Justiz“ erklärt679. Bei der ersten Beratung im Abgeordnetenhaus bezeichnete es Schönstedt als unabweisbare Tatsache, „daß das beste Material zu einem erheblichen Teile zu anderen Verwaltungen, zu anderen Verwendungen übergeht, während das weniger hervorragende Material der Justiz verbleibt“680. Für die Konservativen, die das vorgeschlagene Auswahlverfahren als einzige unterstützten, beklagte Landgerichtsrat Schettler, die Justiz sei „jetzt die Ablagerungsstelle aller derjenigen Elemente, die in anderen Verwaltungszweigen nicht unterkommen können, und die Justiz ist von allen Verwaltungen, ich möchte sagen, das Aschenbrödel“. Weiterhin stellte er fest: „Das Ansehen des Richterstandes balanciert unter den heutigen Verhältnissen auf des Messers Schneide“. Daß „sich die Kritik immer dreister, immer rückhaltloser an die richterlichen Erkenntnisse heranmacht und sich gar nicht mehr scheut, sie beinahe in beleidigendem Sinne zu zerpflücken“, sah er in dem Umstand begründet, daß der Richter für sein Urteil nicht mehr mit der Autorität seiner Person eintreten könne, aber auch in der häufig schroffen und groben Behandlung des Publikums681. 678 Vgl. Anon., Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren, in: Grenzboten 55 / 4 (1896), S. 173 – 190, hier S. 175 f. (eine der besten zeitgenössischen Analysen). 679 Drks. Nr. 98, S. 1695, 1696. Reichlich gewunden hieß es in der Begründung weiter: „Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob das Ansehen der Rechtspflege und die Autorität der Gerichte in der letzten Zeit die vielfach behauptete Verminderung in der Tat erfahren haben; zweifellos aber sind manche der dahin gehenden Behauptungen gerade durch einzelne, unberechtigterweise verallgemeinerte Fälle hervorgerufen, in denen Ungeschicktheit, Taktlosigkeit und mangelnde Reife der Erfahrung bei Richtern zu Entscheidungen Anlaß gegeben haben, welche dem öffentlichen Rechtsgefühl nicht entsprachen oder zu ungerechtfertigter Belästigung der Rechtsuchenden geführt haben“. 680 Schönstedt, Sten. Ber. AH, 19. 3. 1896, S. 1482; ähnlich Drenkmann (KG-Präs.), Sten. Ber. HH, 20. 5. 1896, S. 332. 681 Schettler, Sten. Ber. AH, 19. 3. 1896, S. 1488 f. Als Metapher für die subordinierte Stellung der Justiz erfreute sich das Wort vom „Aschenbrödel“ übrigens allgemeiner Beliebtheit (vgl. etwa Viezens, S. 68).
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Obwohl die vorhandenen Mißstände allseits anerkannt wurden, lehnten die Sprecher der übrigen Parteien den § 8 aus den verschiedensten Gründen ab: Er leiste ministerieller Willkür Vorschub, fördere Strebertum und Anpassung und erschwere damit gerade die angestrebte Charakterfestigkeit, gefährde die richterliche Unabhängigkeit, diskriminiere die abgelehnten Bewerber, überschwemme den Anwaltsstand mit minderwertigen Elementen und könne im übrigen ein späteres Abwandern in attraktivere Berufsfelder überhaupt nicht verhindern. Geeignetere Maßnahmen sah man darin, verstärkt neue Planstellen zu schaffen, schärfere Prüfungen einzuführen und die Justiz mit der Verwaltung gleichzustellen 682. Die Kommission, an die der Entwurf zur Beratung überwiesen wurde, sprach sich gegen den § 8 in der vorliegenden Fassung aus, verzichtete aber auch auf einen eigenen Formulierungsvorschlag683. In der zweiten Lesung votierte das Plenum sowohl gegen den Regierungsparagraphen als auch – teilweise mit knapper Mehrheit – gegen verschiedene Alternativanträge. Ein weiterer Antrag scheiterte, wiederum nur knapp, in der dritten Lesung684. Das Herrenhaus fügte den Paragraphen in veränderter Form wieder ein. Danach konnten Gerichtsassessoren innerhalb von vier Jahren nach ihrer Ernennung die Überweisung an ein Amtsgericht, Landgericht oder eine Staatsanwaltschaft zur unentgeltlichen Beschäftigung beantragen. Nach Ablauf dieser Frist sollten sie, war der Antrag ausgeblieben oder abschlägig beschieden worden, aus dem Justizdienst ausscheiden685. Der Vorschlag war insofern unausgewogen, als er Kandidaten, die zunächst andere berufliche Wege einschlugen, die Möglichkeit einer Rückkehr zur Justiz offenhielt, während er für die eigentlichen Justizaspiranten zusätzliche Unsicherheiten mit sich brachte. Auch in dieser Fassung erteilte das Abgeordnetenhaus, an das die Vorlage nun zurückging, dem Paragraphen eine Absage, wiederum ohne sich auf einen eigenen Formulierungsvorschlag einigen zu können (ein letzter Versuch verfehlte ebenfalls knapp die Mehrheit)686. Das Staatsministerium machte der verfahrenen Situation schließlich ein Ende, indem es den ganzen Gesetzentwurf zurückzog. Bis zu einem gewissen Grad illustriert der Entscheidungsprozeß die objektiven Schwierigkeiten, für das Überfüllungsproblem allein auf dem Weg eines administrativen Auswahlrechts eine befriedigende Lösung zu finden. In einem tieferen Sinne scheiterte die Vorlage an dem Umstand, daß sich in der Debatte zwei Linien 682 Siehe vor allem: Munckel (FsVP), Sten. Ber. AH, 19. 3. 1896, S. 1495 – 1499; Roeren (Z, OLG-Rat), ebd., 5. 5. 1896, S. 1973 – 1976; Traeger (FsVP), ebd., 8. 5. 1896, S. 2079 f.; weiterhin die Protestresolutionen der Anwaltskammern Berlin, Frankfurt / M., Köln, Kiel, Naumburg, Posen und Hannover, teilweise abgedr. in: DJZ 1 (1896), S. 177 f., 193. 683 Bericht der XV. Kommission, in: Sten. Ber. AH 1896, Drks. Nr. 169. 684 Die zweite Lesung fand am 5. 5. 1896 (Sten. Ber. AH, S. 1965 – 1994), die dritte am 8. 5. 1896 (ebd., S. 2070 – 2087) statt. 685 Vgl. die HH-Beratung vom 20. 5. 1896 sowie Sten. Ber. AH 1896, Drks. Nr. 229. 686 Vgl. die AH-Sitzung vom 11. 6. 1896 sowie Sten. Ber. HH 1896, Drks. Nr. 111.
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der Justizkritik, die politische und die personale, kreuzten. Während Regierung und Konservative die strukturellen Probleme der preußischen Justiz im Auge hatten, wähnten Liberale, Zentrum und Polen politische Motive hinter der Vorlage. Daraus erklärt sich zum einen, daß die Konservativen den Part der Justizkritiker übernahmen, zum anderen, daß alle Vermittlungsvorschläge durchfielen. Der Argwohn der Mitte-Links-Parteien – in diesem Fall vielleicht unberechtigt, mit Blick auf die allgemeinen Zeittendenzen aber nur allzu verständlich – erhielt durch den manipulativen Charakter der Vorlage zusätzlich Nahrung687. So gesehen wurde die preußische Regierung zum Opfer ihrer eigenen Repressionspolitik. Auch in Tagespresse und Publizistik löste der Assessorenparagraph heftige Diskussionen aus, wobei die Meinungsverhältnisse ähnlich lagen wie im Parlament. Die Zustimmung seitens der Richterschaft, welche die Regierung wohl erwartet hatte, blieb weitgehend aus. Im Gegenteil: Auch aus dieser Richtung wurden ablehnende Stimmen laut688. Überhaupt mußte sich die Richterschaft als eigentlicher Verlierer fühlen, der mit seinen Problemen alleingelassen wurde. Es hatte etwas von gekränkter Eitelkeit an sich, als das Staatsministerium den zurückgezogenen Gesetzentwurf durch eine stark reduzierte Finanzvorlage ersetzte (immerhin hatte das Abgeordnetenhaus dem besoldungsrechtlichen Teil zugestimmt). Das daraus hervorgehende Gehaltsgesetz vom 31. 5. 1897 beschränkte das Dienstaltersstufensystem auf die höheren Richterränge, beseitigte aber zumindest die Besoldungsunterschiede zwischen den Oberlandesgerichtsbezirken und erfüllte auch in einigen anderen Nebenaspekten liberale Forderungen. Im Rahmen einer allgemeinen Erhöhung der Beamtenbezüge wurden 1897 auch die Richtergehälter angehoben. Bei den Amts- und Landrichtern erstreckte sich die Einkommensspanne jetzt zwar von 3.000 bis 6.600 Mark, die 1879 erlangte Ebenbürtigkeit im Höchstgehalt mit den Regierungsräten ging jedoch wieder verloren (letztere erhielten im Maximum nunmehr 7.200 Mark)689. Da sich Rechtslage und Anstellungspraxis auch in der Folgezeit nicht änderten, stieg die Assessorenzahl nach der Jahrhundertwende weiter an und erreichte im Jahre 1912 mit 3.478 Bewerbern den Höchststand vor dem Ersten Weltkrieg. Ähnlich: Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren, S. 187 f. Stellungnahmen aus der Publizistik: zustimmend: v. Bülow, Zur Assessorenfrage, in: DJZ 1 (1896), S. 225 – 227 (RG-Rat); Anon., Der Gesetzentwurf über die Regelung der Richtergehälter in Preußen, in: PJ 84 (1896), S. 70 – 96, bes. S. 81 ff.; ablehnend: Anon., Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren, in: Grenzboten 55 / 4 (1896), S. 173 – 190; [Ernst Stampe], Der Assessorenparagraph und die Reform des preußischen Richterthums, Greifswald 1896; Karl Dickel, Ueber Beschränkung der Anwärter des höheren Justizdienstes und die Vorbildung der Juristen in Preußen, Berlin 1896 (AR); v. Wilmowski, Ueber Auswahl der Gerichtsassessoren, in: DJZ 1 (1896), S. 150 – 152 (JR); Justus [Pseud.], Reformpläne des Justizministers, in: Die Gegenwart 49 (1896), S. 209 – 211; Anon., Die preußische Richtersperre, in: Soziale Praxis 5 (1895 / 96), S. 681 – 688. 689 Vgl. F. Vierhaus, Das Preußische Gesetz, betr. die Regelung der Richtergehälter, vom 31. Mai 1897, in: DJZ 2 (1897), S. 229 – 233; Ormond, S. 168 f. 687 688
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Durchschnittlich erhöhte sich die Wartezeit damit auf acht Jahre690. Daß die Kritik am rechtsprechenden Personal unter diesen Umständen nicht verstummen wollte, ist nicht weiter überraschend. 5. Mit dem Überfüllungsproblem hatten auch andere Bundesstaaten zu kämpfen. In Bayern waren die Bewerber um Richter- und Staatsanwaltsstellen ohnehin seit langem verpflichtet, nach bestandener zweiter Prüfung eine sog. Praxis von mindestens einjähriger Dauer bei einem Gericht zu absolvieren, wobei in den rechtsrheinischen Landesteilen mindestens sechs Monate der nichtstreitigen Rechtspflege, vorzugsweise im Hypothekenwesen, zu widmen waren. Ferner bestand die Möglichkeit, bei einer Staatsanwaltschaft, einem Rechtsanwalt oder einem Notar in die Praxis einzutreten, das Justizministerium konnte jedoch einen gänzlichen oder teilweisen Dispens erteilen. Faktisch umfaßte also auch der bayerische Vorbereitungsdienst im Regelfall vier Jahre691. 1901 wurden die Vorschriften erweitert: Fortan konnten die geprüften Rechtspraktikanten auch bei einer Justizbehörde oder einem Rechtsanwalt in einem anderen Bundesstaat ihre Praxis ableisten oder bei einem Wirtschaftsverband resp. einem Privatbetrieb um Beschäftigung nachsuchen; Angaben über Art und Dauer der Tätigkeit entfielen. Sofern sie nicht ihren ausdrücklichen Verzicht auf Anstellung im höheren Justizdienst erklärten, wurden alle praktizierenden Kandidaten in das im Ministerium geführte Bewerberverzeichnis eingetragen692. Hintergrund der Neuregelung war – neben der Absicht, den Horizont der angehenden Richter und Staatsanwälte zu erweitern – die Tatsache eines zunehmenden Überhangs an Bewerbern. Ende 1900 leisteten im rechtsrheinischen Bayern von den Jahrgängen 1895 – 1899 noch 228 geprüfte Rechtspraktikanten ihre Praxis ab; hinzu kamen 254 Rechtsanwälte, die weiterhin als Staatsdienstaspiranten galten (davon 92 mit halbjähriger Praxis). In der Rheinpfalz waren es 67 Rechtspraktikanten und 12 Rechtsanwälte. Von den Jahrgängen 1889 – 1898 bewarben sich 163 Anwärter mit der Note II („gut“) und 143 mit der Note III („genügend“) – bei anderer Zählung 215 und 91 – um Anstellung als Amtsrichter. Bewerber mit mittlerer zweiter Note mußten 4 – 41/2 Jahre auf eine Amtsrichter-, 2 – 21/2 Jahre auf eine Sekretärsstelle warten. Noch die besten Aussichten hatten Bewerber mit sehr guter Note, die sich um eine Anstellung als dritter Staatsanwalt bemühten – hier betrug die Wartezeit lediglich 2 Jahre. Angesichts solcher Verhältnisse konnte die Justizverwaltung allen Kandidaten mit ungünstiger Note nur empfehlen, einen anderen Berufsweg einzuschlagen oder die Prüfung zu wiederholen693. Vgl. Kolbeck, S. 96 ff.; Schröder, Richterschaft, Tab. III, S. 248. VO v. 19. 12. 1871, in: JMBl, S. 341; ohne wesentliche sachliche Neuerungen: VO v. 27. 4. 1880, in: JMBl, S. 121 ff. 692 VO v. 4. 1. sowie Bek. v. 7. 1. 1901, beide in: JMBl, S. 49 ff. 693 Angaben nach: JMBl 1901, S. 82 (Übersicht D), S. 84 f. (Übersicht F) sowie S. 87 f. (Bemerkungen). 690 691
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Obwohl es die Justizverwaltung auch in der Folgezeit nicht an eindringlichen Warnungen fehlen ließ, verstärkte sich der Andrang weiter. Anfang 1909 umfaßte die Bewerberliste für Amtsrichter- und dritte Staatsanwaltsstellen – den Jahrgang 1908 noch gar nicht eingerechnet – 370 juristisch vorgebildete Sekretäre, Amtsanwälte und geprüfte Rechtspraktikanten, davon 218 mit zweiter und 152 mit dritter Note. Ferner waren im Hauptverzeichnis noch 330 geprüfte Kandidaten, größtenteils Rechtsanwälte, eingetragen, die auf eine Bewerbung um Anstellung im Staatsdienst noch nicht offiziell verzichtet hatten (215 mit Note II, 115 mit Note III). Dem standen für die Jahre 1903 – 1908 durchschnittlich 50 Neueinstellungen (Amtsrichter und dritte Staatsanwälte) gegenüber. Für Bewerber mit der dritten Note hatten sich, wie es seitens der Administration hieß, „die Aussichten aufs äußerste verschlechtert“694. Justizminister Miltner sah den einzig erfolgversprechenden Ausweg in einer Verschärfung der Prüfungsvorschriften, zumal die anderen Verwaltungen schon länger dazu übergegangen waren, Dreierkandidaten grundsätzlich nicht mehr zu übernehmen695. Sein ursprünglicher Plan, den Vorbereitungsdienst für die höhere Justizund Verwaltungslaufbahn zu trennen, um auf diese Weise freie Hand für die gewünschten Änderungen zu erhalten, scheiterte am Widerspruch der übrigen Ressorts. Da sich die 1908 vereinbarte Überarbeitung der Prüfungsvorschriften in die Länge zog, meinte Miltner auf die Notbremse treten zu müssen: Die Verordnung vom 2. 3. 1910 bestimmte, daß künftig nur noch Kandidaten mit den Noten I oder II die Befähigung zum Amt eines Richters, Staatsanwalts, Notars oder Rechtsanwalts erlangen sollten, Bewerber mit der Note III konnten lediglich zu Gerichtsschreibern ernannt werden. Von den Dreierkandidaten der früheren Jahrgänge sollten nur diejenigen als Amtsrichter Berücksichtigung finden, die bereits als Sekretäre oder Grundbuchkommissare angestellt waren, deren Note nahe am „gut“ lag und deren Eignung „durch eine längere und eingehende Beobachtung“ feststand. Die Regelung sollte also rückwirkend gelten, was einen klaren Verstoß gegen die Schutzpflichten des Dienstherrn darstellte. Dieser sog. „Dreiererlaß“, der im übrigen auch den Wünschen der Rechtsanwaltschaft entsprach, machte verständlicherweise viel böses Blut und zog weitläufige Erörterungen im Landtag und in der Presse nach sich696. Die neue Prüfungsordnung vom Oktober 1910 wählte deshalb einen anderen Weg, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Mittels eines neuen Notensystems 694 Zahlen nach: Bek. v. 23. 4. 1909, in: JMBl, S. 169 (auch abgedr. in: DJZ 14, 1909, S. 584 f.). 695 Zum folgenden: Schreiben Thelemanns an Lisco, 11. 5. 1912, in: BA, R 3001, Nr. 4303, Bl. 190 – 193; Staatsminister, II, S. 983 – 986 / 1036 – 1038. Ferdinand v. Miltner (1856 – 1920) war vom 27. 11. 1902 bis zum 11. 2. 1912 bayerischer Justizminister (Staatsminister, II, S. 935 – 1003). 696 VO v. 2. 3. 1910, in: JMBl, S. 183 f.; Verh. KdA 1909 / 10, Bd. 8, S. 69 ff. sowie Verh. KdR 1909 / 10, Bd. 2, S. 21 ff. Der Kronprinz bezeichnete den „Dreiererlaß“ im Reichsratsausschuß als „Ungerechtigkeit“.
B. Die 90er Jahre: „Vertrauenskrise“ der Justiz
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(siebenteilige Skala) wurde für die 18 schriftlichen Aufgaben der zweiten Prüfung eine Gesamtnote ermittelt, die nicht höher als 90 liegen durfte, sollte die Prüfung als bestanden gelten – dies entsprach exakt der alten Grenze zwischen den Noten II und III. Kandidaten mit einer Gesamtnote unter 100 standen Stellen im mittleren Staatsdienst (Gerichtsschreiber) offen, alle übrigen durften die Prüfung einmal wiederholen. Die neuen Vorschriften galten zwar nicht rückwirkend, traten aber ohne Übergangsfrist in Kraft697. Die öffentliche Diskussion hob abermals an, als bei der Staatsprüfung des Jahres 1911, in der sich die neuen Bestimmungen erstmals in voller Schärfe auswirkten, 29,3 % der Prüflinge – nach anderer Zählung waren es sogar mehr als ein Drittel – durchfielen (1899 bis 1909 hatte der Anteil der Kandidaten mit der Note III oder schlechter durchschnittlich bei 24,7 % gelegen). Daraufhin milderte der neue Justizminister Thelemann, der das rigorose Vorgehen seines Vorgängers ohnehin mißbilligte, die Prüfungsvorschriften. Der erst jüngst wieder eingeführte mündliche Examensteil wurde in eine Ergänzungsprüfung umgewandelt, um den Kandidaten mit einer Notensumme zwischen 90 und 100 die Möglichkeit zu geben, die Staatsprüfung doch noch zu bestehen. Die betroffenen Prüflinge der Jahrgänge 1910 und 1911 erhielten sogar nachträglich eine „zweite Chance“698. Wie man sieht, tat sich auch die bayerische Justizverwaltung mit dem Überfüllungsproblem schwer. Daß sie überhaupt eine – typisch bürokratische – Lösung fand, war wohl nur dem Umstand zuzuschreiben, daß sich die Anstellungsfrage in Bayern auf dem Verordnungswege, also unterhalb der gesetzlichen Ebene regeln ließ.
IV. Gerichtsverfassung und Verfahrensstruktur 1. Der Zivilrechtsbereich: Sondergerichte und Zivilverfahren 1. War das liberale Rechtsstaatsideal, die ständisch-provinzielle Gerichtsvielfalt des Ancien Régime durch ein flächendeckendes System ordentlicher Staatsgerichte abzulösen, mit dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 in hohem Maße realisiert worden (eine Reihe älterer Sondergerichte existierten dennoch fort), so setzte zur gleichen Zeit eine Gegentendenz ein. Eine erste Durchbrechung markierten die 1875 in Preußen eingerichteten Verwaltungsgerichte, in denen das administrative Element das richterliche deutlich überwog699. Die ordentlichen Gerichte verloren 697 VO v. 18. 10. 1910, in: GVBl, S. 1003 ff.; Bek. v. 22. 10. 1910, in: JMBl, S. 773 ff.; Bek. v. 25. 10. 1910, in: ebd., S. 791 ff. 698 VO v. 27. 7. 1912, in: GVBl, S. 695; Bek. v. 1. 8. 1912, in: JMBl, S. 191. Heinrich v. Thelemann (1851 – 1923) war vom 11. 2. 1912 bis zum 8. 11. 1918 bayerischer Justizminister (Staatsminister, II, S. 1005 – 1043). 699 Zu Aufbau und Personalpolitik der Verwaltungsgerichte: U. Stump, Preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit 1875 – 1914, Berlin 1980, S. 29 ff., 79 ff.
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2. Teil: Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900)
auf diesem Wege einen Großteil der öffentlich-rechtlichen Materien. Auch über die aus den Sozialversicherungsgesetzen resultierenden Rechtsfälle entschied eine eigene Gerichtsbarkeit: Streitigkeiten aus der Unfallversicherung (1884) und der Invalidenversicherung (1889) oblagen einem System von Schiedsgerichten, über das sich das Reichsversicherungsamt als Revisionsinstanz erhob. In beiden Instanzen stellten Staatsbeamte den Gerichtsvorsitzenden, während die Beisitzer aus dem Kreis der Arbeiter- und Arbeitgebervertreter gewählt wurden700. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Entwicklung mit dem Gewerbegerichtsgesetz vom 29. 7. 1890, das Gemeinden und größeren Kommunalverbänden die Möglichkeit eröffnete, mittels Ortsstatuts Gewerbegerichte (die Vorläufer der heutigen Arbeitsgerichte) zu errichten. Im Weigerungsfall konnte die Landeszentralbehörde auf Antrag die Gründung eines gewerblichen Schiedsgerichts anordnen. In der Hauptsache war den neuen Gerichten aufgetragen, die mannigfaltigen Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, die sich aus ihrem Arbeitsverhältnis ergaben, zu entscheiden. Bei kollektiven Auseinandersetzungen über den Arbeitsvertrag (Streiks und Aussperrungen, Gestaltung von Tarifverträgen) konnten sie zudem als Schlichtungsstelle („Einigungsamt“) angerufen werden. Schließlich waren sie gutachterlich tätig und antragsberechtigt701. Dem Gewerbegerichtsgesetz ging eine lange Vorgeschichte voraus. Anknüpfend an die seit der napoleonischen Zeit im Rheinland bestehenden Gewerbegerichte stellte bereits die preußische Gewerbeordnung von 1849 den Gemeinden frei, „gewerbliche Schiedsgerichte“ mittels Ortsstatuts ins Leben zu rufen. Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869 wiederholte das Angebot, mit der ausdrücklichen Maßgabe, daß die Gerichte „unter gleichmäßiger Zuziehung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ einzurichten seien (§ 108 GO). In den 70er Jahren scheiterten mehrere Versuche, der Schiedsgerichtsidee per Gesetz zum Sieg zu verhelfen, so namentlich 1878 an der Frage, ob dem Staat das Recht vorbehalten bleiben solle, den Vorsitzenden des Gerichts zu bestätigen. Erst die große Streikwelle des Jahres 1889 und die sozialpolitische Aufbruchstimmung zu Beginn des „Neuen Kurses“ brachten einen erneuten Regierungsentwurf rasch über die parlamentarischen Hürden, wobei die für Stellung und Verfahren der neuen Gerichte entscheidenden Bestimmungen fast ausnahmslos vom Reichstag durchgesetzt wurden. Dennoch votierten Sozialdemokraten und Freisinn – eher aus „ideologischer“ Engstirnigkeit denn aus sachlichen Gründen – bei der Schlußabstimmung gegen die Vorlage702. Vgl. Nipperdey, II, S. 348 ff. Zu den Gewerbegerichten: A. v. Saldern, Gewerbegerichte im wilhelminischen Deutschland, in: FS Treue, hg. v. K.-H. Mangold, München 1969, S. 190 – 203; H.-J. v. Berlepsch, „Neuer Kurs“ im Kaiserreich?, Bonn 1987, S. 84 ff.; zum Münchener Gewerbegericht Pohl, S. 295 – 304. 702 Vgl. Richard Bahr, Gewerbegericht, Kaufmannsgericht, Einigungsamt, Leipzig 1905, S. 1 ff., 19 ff. (aus sozialpolitischer Sicht; dort auch Verzeichnis der älteren Literatur); Dannreuther, S. 145 ff. 700 701
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Die mit den Sonderbildungen einhergehende Erosion der ordentlichen Gerichtsbarkeit erfüllte die Richter mit wachsender Sorge. Sie sahen sich nicht nur in ihrem Geschäftskreis beschnitten, sondern empfanden die Entwicklung geradezu als offizielles Mißtrauensvotum, spräche man ihnen doch gleichsam die Fähigkeit ab, an den großen Fragen der Zeit mitzuwirken. In fast allen Analysen tauchen die Spezialgerichte als zentrales Moment für den richterlichen Ansehensverlust auf. Der höhere Richter, der die erwähnte „Grenzboten“-Debatte im Sommer 1891, also genau ein Jahr nach Inkrafttreten des Gewerbegerichtsgesetzes, einläutete, klagte mit elegischem Unterton: „So ist nicht bloß äußerlich der Bereich der Tätigkeit des eigentlichen Richterstandes eingeschränkt, es sind ihm auch gerade die Gebiete entzogen worden, die jetzt im Mittelpunkte der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Der Richterstand und seine Tätigkeit liegen abseits von den Bahnen der heutigen Zeit. Die Güter, die er zu schützen hat, erscheinen klein neben den Aufgaben auf anderen Gebieten“703. Mit seiner Klage reagierte der Autor auf den relativen Bedeutungsverlust der Justiz, der mit dem Wechsel vom liberalen zum sozialen Zeitalter einherging. Darüber hinaus schien sich der endgültige Triumph des Laienrichtertums anzukündigen, welches nunmehr im Begriff war, auch in die Sphäre des Zivilrechts, bislang, abgesehen von den landgerichtlichen Kammern für Handelssachen, eine Domäne der Berufsrichter, einzudringen. Insgesamt wird man feststellen dürfen, daß die Sondergerichtsbewegung für das Selbstwertgefühl und die Fremdwahrnehmung der Richter eine ähnlich desaströse Rolle spielte wie die Zurücksetzung gegenüber den Verwaltungsbeamten. Sieht man von der richterlichen Perspektive ab, so bildeten die Gewerbegerichte den Kontrapunkt zur bestehenden Ziviljustiz. Aufbau und Verfahren waren unverkennbar als Gegenmodell zum vielkritisierten Amtsgerichtsprozeß konzipiert704. Der Vorsitzende wurde von den kommunalen Vertretungsorganen für mindestens ein Jahr berufen, bedurfte allerdings, sofern es sich nicht um einen staatlich ernannten Beamten handelte, der Bestätigung durch die höhere Verwaltungsbehörde. Er durfte weder Arbeitgeber oder Arbeiter sein, juristische Vorkenntnisse waren nicht zwingend vorgeschrieben. Als Beisitzer fungierten mindestens ein Arbeitgeber und ein Arbeiter, wobei es dem Ortsstatut überlassen blieb, eine größere Anzahl von Beisitzern festzulegen. Sie wurden in unmittelbarer und geheimer Wahl für ein bis sechs Jahre von ihren jeweiligen Standesgenossen bestimmt und erhielten, neben Vergütung der baren Auslagen, eine Entschädigung für Zeitversäumnis, was für die Arbeiterbeisitzer praktisch auf einen Lohnersatz hinauslief. Rechtsanwälte und anderweitige geschäftsmäßige Prozeßvertreter waren vom Verfahren 703 Anon., Der Richterstand und die öffentliche Meinung, in: Grenzboten 50 / 3 (1891), S. 543; ähnlich Anon., Der Gesetzentwurf über die Regelung der Richtergehälter in Preußen, in: PJ 84 (1896), S. 71 f. 704 Zum folgenden: Dungs, Das Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte, vom 29. Juli 1890, in: ZZP 15 (1891), S. 450 – 462 (Hilfsarbeiter im RJA); Otto Bähr, Die neuen Gewerbegerichte, in: Grenzboten 49 / 3 (1890), S. 193 – 203; Hans Reichel, Das Gewerbegericht, Herrnhut 1898 (historische und dogmatische Untersuchung).
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ausdrücklich ausgeschlossen. Vor Eintritt in die Verhandlung war das Gericht verpflichtet, auf eine gütliche Einigung hinzuwirken. In jedem Stadium des Prozesses, namentlich aber am Schluß sollte der Schlichtungsversuch nach Möglichkeit wiederholt werden. Beim Prozedere war man vom Parteibetrieb zum Offizialbetrieb zurückgekehrt: Die Verhandlungstermine legte der Vorsitzende fest, Ladungen und Zustellungen erfolgten von Amts wegen. Die Zustellungen wurden vereinfacht und gingen – unter Ausschaltung des Gerichtsvollziehers – dem Empfänger auf postalischem Wege zu. Bei Ausbleiben einer oder beider Parteien in einem Fortsetzungstermin wurde das Urteil unter Berücksichtigung der bisherigen Verhandlungsergebnisse verkündet. Die Prozeßkosten lagen ausgesprochen niedrig: Gebühren wurden nur einmalig erhoben und beliefen sich im Höchstfall auf 30 Mark705. Schreibgebühren und Zustellungen kamen überhaupt nicht in Ansatz, und auch im Falle eines Vergleichs entfielen, unabhängig vom Zeitpunkt des Zustandekommens, die Kosten. Bis zu einem Streitwert von 100 Mark waren Rechtsmittel ausgeschlossen, bei höheren Objekten konnte Berufung beim Landgericht eingelegt werden. Da es sich um munizipale Gerichte handelte, übernahmen die Gemeinden die finanzielle Trägerschaft. Das Gesetz intendierte – dies ist unschwer zu erkennen – ein rasches, kostengünstiges und einfaches, auch für Angehörige der Arbeiterklasse praktikables Verfahren, das zudem eine sachkundige Behandlung der Streitfälle garantierte. Der Zivilrechtler Hans Reichel faßte die maßgebenden sozialpolitischen Gründe für sein Zustandekommen bündig zusammen: „Die Gewerbetreibenden mit gewerblichen Streitigkeiten vor die ordentlichen Gerichte, ,auf den Weg Rechtens‘ weisen, involviert für das mimosenhafte Selbst- und Ehrgefühl des Arbeiters geradezu den Gedanken faktischer ,partieller Rechtsverweigerung‘ und Rechtsungleichheit. Der Arbeitgeber hat Geld und Zeit, seine Ansprüche auf dem Wege Rechtens, durch alle Instanzen, ruhigen Gemüts durch Rechtsanwälte verfechten zu lassen; der Arbeitnehmer hat keines von beiden. Recht und Gericht sind also, sozialdemokratisch zu reden, Institutionen, ,die nur für die besitzenden Klassen da sind‘. Dies sind die Erwägungen, welche zu der Institution des modernen ,Gewerbegerichts‘ geführt haben“706. Otto Bähr, der schärfste Kritiker des ordentlichen Zivilprozesses, atmete erleichtert auf: „In diesem ganzen Verfahren haben wir nun einen vernünftigen Prozeß vor Augen, der mit dem leidigen Formalismus der Zivilprozeßordnung gänzlich gebrochen hat. Man fühlt sich wie von einem Alp befreit, wenn man liest, daß der Sinn für das Natürliche und Gesunde doch noch nicht völlig aus der Jurisprudenz verschwunden ist“707. Bähr erhob aber auch eine Reihe von Be705 Im Verhältnis zum Streitwert stiegen die Gebührensätze wie folgt an: bis 20 Mark: 1 Mark; 20 bis 50 Mark: 1 Mark 50 Pf.; 50 bis 100 Mark: 3 Mark; für jede weiteren 100 Mark: 3 Mark. 706 Reichel, S. 18. Hans Reichel (1878 – 1939) wurde 1905 Privatdozent in Leipzig, 1909 ao. Prof. in Jena und 1911 o. Prof. in Zürich; 1920 wechselte er an die Universität Heidelberg. 707 Bähr, S. 200 f.
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denken: Bei der parteiischen Zusammensetzung des Gerichts komme alles auf die Person des Vorsitzenden an, und der rigorose Ausschluß der Rechtsanwälte sei doch eine zweischneidige Maßnahme. Indem er allein den Arbeitern zugute käme, schaffe der neue Prozeß faktisch ein Vorzugsrecht (und dies, so könnte man hinzufügen, parallel zum auslaufenden Sozialistengesetz)708. Zudem würden die geringen Gebühren die Gesamtkosten bei weitem nicht decken, so daß letztlich die Allgemeinheit für das Sonderverfahren aufzukommen hätte. Die Einwände dienten vor allem als Mahnung, nun endlich auch die Reform des ordentlichen Prozesses in Angriff zu nehmen: „Mit welchem Rechte hält man, während man den Arbeitern für ihre Streitigkeiten ein einfaches, verständiges und wohlfeiles Verfahren gibt, alle übrigen Staatsangehörigen unter dem Bann eines formalistischen und mit schweren Kosten verbundenen Prozesses fest?“709. Gleichwohl bleibt es auch im Rückblick ein erstaunliches Phänomen, daß sich Preußen, ansonsten zu bürokratischer Schwerfälligkeit neigend und auf größtmögliche Wahrung seiner Staatsautorität bedacht, zu einer derart pragmatischen, ja improvisierten Lösung bereitfand, wie die Gewerbegerichte sie darstellten. Die neuen Gerichte entzogen sich weitgehend administrativer Kontrolle, ihre Rechtsprechung unterlag kaum einer höherrichterlichen, geschweige denn höchstrichterlichen Korrektur, wissenschaftlich war das Feld des gewerblichen Arbeitsvertrags so gut wie unbeackert, und die Arbeiter (und dies hieß faktisch, wie allen Beteiligten klar sein mußte, die Sozialdemokraten) erhielten nicht nur eine hoheitliche Aufgabe, sondern eine den Unternehmern gegenüber völlig gleichberechtigte Stellung zugewiesen. Zu erklären ist dies nur aus der sozialpolitischen Aufbruchstimmung des „Neuen Kurses“ einerseits, dem Druck der sozialen Verhältnisse andererseits: Da sich die ordentlichen Gerichte weitgehend inkompetent gezeigt hatten, Lohnstreitigkeiten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern rasch und befriedigend zu schlichten, eine allgemeine Revision der Zivilprozeßordnung aber noch in weiter Ferne lag, blieb als einziger Ausweg, den Rechtsprechungssektor auszugliedern und den Betroffenen gleichsam selbst zu überlassen. Förderlich wirkte dabei ohne Frage der Umstand, daß der preußischen Staatskasse aus der neuen Rechtslage keine zusätzlichen Ausgaben erwuchsen. Obwohl eher aus Not denn aus langfristigen Überlegungen geboren, sahen reformwillige Kräfte in dem Gesetz einen Vorgriff auf die zukünftige Umgestaltung des Zivilverfahrens. In ihrem Ausnahmecharakter und dem – daraus resultierenden – Gestaltungsspielraum lag denn auch das Erfolgsgeheimnis der neuen Gerichte. Existierten 1890 im Reich rund 30 staatliche, auf ältere Landesgesetze zurückgehende sowie 708 „Dem Arbeiter nimmt man die Last und die Gefahr des eigenen Prozeßbetriebes ab; auf dem Bauer aber, der noch weniger davon versteht, läßt man sie haften. Dem Arbeiter soll, wenn er einen Termin versäumt, das bisher Verhandelte zu gute kommen. Versäumt aber der Bauer einen Termin, so bricht über ihn ohne alle Rücksicht auf das bisher Verhandelte ein Kontumazialerkenntnis herein. Ist das wohl Gerechtigkeit?“ (S. 202). Erinnert sei an die oben wiedergegebene Szene „Bauer vor Gericht“ (A, I / 2a). 709 Bähr, S. 201.
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etwa zwei Dutzend kommunale Gewerbegerichte unterschiedlicher Zusammensetzung und Arbeitsweise, so gab es Ende 1896 bereits 284, Ende 1900 dann 316 Gewerbegerichte auf der Grundlage des Gesetzes von 1890, wobei die früheren Formationen entsprechend umgestaltet worden waren. 1896 besaßen Großstädte mit über 100.000 Einwohnern ausnahmslos, größere Mittelstädte zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern ganz überwiegend ein Gewerbegericht710. Der Geschäftsumfang war erheblich: Vor den Gewerbegerichten wurden 1896 im ganzen 68.798 Klagen anhängig gemacht, 1900 betrug ihre Zahl 84.164. Das Gewerbegericht Berlin, mit Abstand das größte im Deutschen Reich, erledigte in den genannten Jahren 13.241 bzw. 11.867 Klagen. In der Hälfte aller Fälle belief sich der Streitwert auf bis zu 20 Mark, nur bei 5 von 100 Klagen überstieg er die 100-Mark-Grenze711. Reichsweit traten 1896 Unternehmer nur in 7,5 % aller Verfahren als klagende Partei auf (1900: 9,5 %), wobei zu berücksichtigen ist, daß der Charakter der Streitigkeiten es mit sich brachte, daß ganz überwiegend Arbeiter das Gericht anriefen712. Im Jahre 1900 wurden 57 % aller Prozesse in weniger als einer Woche, 24,4 % in weniger als zwei Wochen und nur 18,6 % in zwei Wochen und mehr entschieden. Für das amtsgerichtliche Verfahren setzte die entsprechende Statistik erst bei drei Monaten ein. Danach dauerten 1899 61,1 % aller durch kontradiktorisches Endurteil beendeten Sachen weniger als drei Monate, bei 23,2 % benötigten die Gerichte zwischen drei und sechs Monaten, bei 12,1 % zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Allein der Zeitraum zwischen Einreichung der Klageschrift und erstem Termin betrug im ordentlichen Prozeß in 82,1 % aller Fälle zwischen einer Woche und einem Monat, bei den leichteren Wechselsachen lautete die Quote 76,7 %713. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß es sich bei den gewerbegerichtlichen Klagen in der Regel um einfache Sachen handelte. Vor dem Gewerbegericht endeten im Jahr 1900 44,3 % aller Verfahren mit einem Vergleich, nur 18,8 % mit einem kontradiktorischen Urteil (die übrigen Fälle fanden auf andere Weise ihre Erledigung). Bei den Amtsgerichten lag der Prozentsatz der Vergleiche 1899 bei 12,4 %, bei den Zivilkammern und den Kammern für Handelssachen jeweils bei gut 8 % (wobei sich die Zahlen infolge unterschiedlicher Erhebungsmethoden nur bedingt miteinander vergleichen lassen)714. Bedenkt man, daß bei einem Vergleich die Kosten wegfielen und auch bei anderen nichtkontradiktorischen Erledigungen (Verzicht, Anerkenntnis, Zurücknahme der Klage etc.) eine Halbierung derselben erfolgte, so kamen die Gewerbegerichte dem sozialdemokratischen Ideal einer „kostenlosen Rechtsprechung“ ziemlich nahe; einzelne Ortsstatute verzichteten 710 Vgl. Ignaz Jastrow, Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaft, Bd. 1, Berlin 1902, S. 419 ff. (insb. Tab. 10 und 11); ähnlich bereits: ders., Die Erfahrungen in den deutschen Gewerbegerichten, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, III. F. 14 (1897), S. 321 – 395. Die folgenden Angaben beruhen auf den umfassenden Erhebungen, die der „Verband deutscher Gewerbegerichte“ für die Jahre 1896 und 1900 vornahm. 711 Zahlen nach Jastrow, Sozialpolitik, S. 448 f., Tab. 12 und S. 450 f., Tab. 13. 712 Vgl. ebd., S. 479 ff. 713 Vgl. ebd., S. 446 f. 714 Vgl. ebd., S. 455 ff.
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sogar gänzlich auf Gebühren. Von der Möglichkeit der Berufung, ohnehin nur in etwa 5 % aller Fälle zulässig, wurde relativ selten Gebrauch gemacht: 1896 betrug die entsprechende Quote 9,2 %, 1900 sogar nur 6,2 %715. Materiellrechtlich stützte sich die Rechtsprechung der Gewerbegerichte vor allem auf Titel 7 der Reichsgewerbeordnung, in dem das Recht des Arbeitsvertrages geregelt war. Da gesicherte wissenschaftliche Grundlagen ebenso fehlten wie eine höchstrichterliche Instanz, machte sich schon bald das Bedürfnis nach einer Harmonisierung der Spruchpraxis bemerkbar. Hauptsächlich diesem Zweck diente der 1893 gegründete „Verband deutscher Gewerbegerichte“, der in der Folgezeit eine reiche Publizistik entfaltete716. In dieser für das Gerichtswesen neuartigen Form der Selbstorganisation manifestierte sich die Autonomie der gewerbegerichtlichen Entwicklung vielleicht am augenfälligsten. In Anbetracht der organisatorischen Stärke der Sozialdemokratie sowie der Disziplin ihrer Mitglieder konnte es niemanden überraschen, daß die Arbeiterbeisitzer vielfach von Parteimitgliedern gestellt wurden. Umso erstaunlicher war es, daß sich in einer Reihe von Städten (etwa München und Frankfurt) in den Anfangsjahren auch die Unternehmerbeisitzer aus den Reihen der Sozialdemokraten rekrutierten. Die Ursache lag in der schwachen Wahlbeteiligung der mittleren und größeren Arbeitgeber, die der neuen Institution oftmals reserviert gegenüberstanden, so daß die häufig sozialdemokratisch gesinnten Kleinunternehmer aus dem unteren Bürgertum den Ausschlag gaben. Später normalisierten sich die Verhältnisse dann weitgehend717. Der Einfluß der Sozialdemokratie bestärkte viele Unternehmer in ihrer grundsätzlichen Ablehnung der Gewerbegerichte. Immer wieder warfen sie deren Rechtsprechung – im Brennpunkt stand das Berliner Gericht – Parteilichkeit vor, bis hin zum Vorwurf der „umgekehrten Klassenjustiz“. Um die ungeliebte Institution zu entschärfen, forderten sie, die Berufung unabhängig vom Streitwert auf alle gewerbegerichtlichen Sachen auszudehnen, die neuen Gerichte also in den Organismus der ordentlichen Justiz einzugliedern. Damit wären diese mit einem Schlag aller ihrer Vorzüge beraubt und in die subordinierte Stellung der Schöffengerichte herabgedrückt worden, die man ja auch durch ein übergeordnetes Berufsrichterkollegium „unschädlich“ gemacht hatte. Entsprechend energisch wurden die Angriffe und Forderungen in der gewerbegerichtlichen Publizistik zurückgewiesen718. Vgl. ebd., S. 459 ff. Die „Mitteilungen des Verbandes deutscher Gewerbegerichte“ erschienen zunächst in den „Blättern für soziale Praxis“ (1893 – 1895), dann u. d. T. „Das Gewerbegericht“ als Beilage in der „Sozialen Praxis“ (bis 1898), schließlich unter gleichem Titel in selbständiger Form. Vgl. weiterhin: Emil Unger (Hg.), Entscheidungen des Gewerbegerichts zu Berlin, Berlin 1898 (Sammlung von Urteilen aus der Zeit von April 1893 bis März 1897); Jastrow, Sozialpolitik, S. 544 ff. Im Jahre 1902 gehörten dem Verband 193 Gewerbegerichte aus allen Teilen Deutschlands an. 717 Vgl. J. Sabin, Die deutschen Gewerbegerichte, in: Die Gegenwart 47 (1895), S. 307 – 309, hier S. 307 f.; ebenso Jastrow, Sozialpolitik, S. 472; für München Pohl, S. 296 ff. 715 716
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Die geradezu revolutionäre Wirkung des Gewerbegerichtsgesetzes und den bleibenden Stachel, den dieses für viele Arbeitgeber bedeutete, beschrieb treffend eine Zuschrift des Münchener Gewerbegerichtsdirektors Prenner an die „Münchner Neuesten Nachrichten“ aus dem Jahre 1910. Vor der Gesetzgebung, so Prenner, sei von einer paritätischen Mitwirkung der Arbeiter bei der Regelung der Arbeitsbedingungen nur wenig zu spüren gewesen. „Da brachte das Gewerbegerichtsgesetz plötzlich eine Einrichtung, in der die Arbeiter gleich den Arbeitgebern berufen sind, auch über Arbeitgeber Recht zu erkennen und den Arbeitgeber eventuell mit zwingender Gewalt ins Unrecht zu setzen. Diese Tatsache wirkte direkt umstürzlerisch auf die bisherigen Gewaltverhältnisse, und bis heute hört man von Arbeitgeberseite vielfach hierüber klagen, daß es so weit gekommen sei, daß der Arbeiter über seinen Arbeitgeber zu richten habe. Gerade die paritätische Besetzung der Gewerbegerichte zeitigt nicht [ . . . ] allseitiges Vertrauen, sondern wird bis zum heutigen Tag in weitesten Kreisen der Arbeitgeberschaft als eine Verletzung ihrer Anschauungen und Rechte aufgefaßt“719. Glaubt man den Vorsitzenden der Gewerbegerichte, bei denen es sich entweder um städtische Verwaltungsbeamte oder um haupt- bzw. nebenamtlich tätige Richter handelte, so bemühten sich die sozialdemokratischen Beisitzer durchweg um eine unparteiische Amtsführung – sozialpolitischer Enthusiasmus mag den Blick hier gelegentlich allerdings getrübt haben. Karl Flesch, Vorsitzender des Frankfurter Gewerbegerichts, namhafter Protagonist der Gewerbegerichtsbewegung und einer der führenden Sozialpolitiker Frankfurts, notierte 1893: „Ich beklage es lebhaft, daß die Arbeiterführer die politische Parteizugehörigkeit als Bedingung der Aufnahme in die Wahlvorschläge zum Gewerbegericht aufstellen. Aber ich beklage es in erster Linie, weil dadurch unbegründete Vorurteile wachgerufen worden sind und der Schein der Parteilichkeit hervorgerufen wird, den jedes Gericht fast ebensosehr meiden muß als die Parteilichkeit selbst. [ . . . ] Für die Rechtsprechung dagegen habe ich bisher – wobei ich bemerke, daß im hiesigen Gericht auch als Arbeitgeber lediglich Sozialdemokraten gewählt sind – noch keinerlei Nachteil wahrgenommen; sie ist, insbesondere was das Entgegenkommen gegen die Arbeitnehmer angeht, nicht laxer, sondern eher strenger geworden“720. Die letztgenannte 718 W. Cuno, Angriffe auf das Berliner Gewerbegericht, in: Blätter für soziale Praxis 3 (1895), S. 206 – 210 (stellvertr. Vors. des Gerichts); Anon., Zurückweisung grundloser Angriffe gegen die Gewerbegerichte, in: Gewerbegericht 3 (1897 / 98), S. 97 f.; M. v. Schulz, Ueber die Rechtsprechung des Gewerbegerichts zu Berlin, in: Soziale Praxis 8 (1898 / 99), S. 322 – 325 (Vors. des Gerichts); O. Weigert, Zeitungsangriffe auf das Gewerbegericht Berlin, in: Gewerbegericht 5 (1899 / 1900), S. 4 – 9; Jastrow, Sozialpolitik, S. 459 ff.; Sabin, S. 308. Die Agitation für die Berufung ging vor allem vom Zentral-Ausschuß kaufmännischer, gewerblicher und industrieller Vereine und vom Verein der Arbeitgeber-Beisitzer aus, beide mit Sitz in Berlin. 719 Dr. Prenner, Über die Praxis der Gewerbegerichte (MNN v. 26. 11. 1910), zit. n. Pohl, S. 300. 720 K. Flesch, Die Rechtsprechung im Gewerbegericht, in: Blätter für soziale Praxis 1 / 2 (1893), S. 44 (Besprechung der nachstehend genannten Abhandlung; zu Flesch: H. K. Weiten-
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Bemerkung überrascht insofern nicht, als man davon ausgehen darf, daß die Arbeiterbeisitzer die ihnen übertragene Aufgabe teils als Ehre, teils als politische Reifeprüfung begriffen. Nicht zuletzt deshalb wurden sie parteiintern für ihre Tätigkeit geschult721. Hingegen kritisierten nicht nur die Gegner, sondern selbst eingefleischte Anhänger des Gewerbegerichts den „Vergleichsfanatismus“ (Reichel) des Gesetzes. Dadurch verwische sich der Charakter der Institution als Rechtsanstalt, in ihrer Funktion gleiche sie vielmehr einer sozialen Schlichtungsstelle. Der Richter werde häufig in eine unwürdige Stellung gedrängt, da er um das Recht feilschen müsse, und die Arbeiter würden das Vergleichsergebnis eher als Almosen denn als Rechtsfolge ansehen722. Eine differenzierte – und durchweg überzeugende – Analyse der gewerbegerichtlichen Rechtsprechung findet sich bei Ignaz Jastrow, der die Entwicklung der neuen Gerichte von Beginn an aufmerksam und mit kritischer Sympathie verfolgt hatte723. Jastrow bestreitet überhaupt nicht, daß krasse Fehlurteile in größerer Zahl vorgekommen seien. In diesen „Zwar-Erkenntnissen“ – die schriftliche Urteilsbegründung beginne mit einem typischen „Zwar“, dem ein nicht minder charakteristisches „Aber“ folge – hätten die Beisitzer trotz eindeutiger Rechtslage den Vorsitzenden überstimmt. Im Gegensatz zu berufsgerichtlichen Entscheidungen würde letzterer derartige Machtsprüche aber nicht juristisch verbrämen, sondern klar und deutlich markieren. Dies übe eine immense erzieherische Wirkung auf die Beisitzer aus, so daß die tendenziösen Urteile über kurz oder lang abnehmen würden. Überhaupt, so Jastrow, obwalte in der gewerbegerichtlichen Judikatur eine geringere Tendenz als in der politischen Strafjustiz, wo der Machtgegensatz eine vergleichbar große Rolle spiele. Eine konsequent extensive Gesetzesauslegung etwa, wie sie die Strafgerichte praktizieren würden, ließe sich bei den Gewerbegerichten nicht beobachten. Entsprechend positiv fällt sein Fazit aus: „Weit entfernt davon, ein neues Moment der Parteilichkeit in unsere Gerichtsverfassung gesteiner, Karl Flesch, Frankfurt / M. 1976); ebenso: Ernst Lautenschlager, Die Rechtsprechung im Gewerbegericht, in: Schmollers Jahrbuch, N. F. 17 (1893), S. 775 – 828, hier S. 810 f. (Vors. des 1891 eingerichteten Gewerbegerichts in Stuttgart; erster großer Praxisbericht); Sabin, S. 308. 721 „Wenn bei den Arbeiterbeisitzern eine Neigung, zugunsten der Arbeiter zu entscheiden, vorausgesetzt wird, so beweist das bloß, das man die Arbeiter nicht kennt. Gerade die Arbeiter, die als Richter im Gewerbegericht sitzen, pflegen streng darauf zu sehen, daß die Arbeiter ihre Verpflichtungen pünktlich einhalten. Der Arbeiter, der durch seine eigene Unpünktlichkeit und Gedankenlosigkeit sich in üble Lage gebracht hat, darf sich wenig Hoffnung machen, daß die Arbeiterbeisitzer im Gewerbegericht den Versuch machen, ihm herauszuhelfen. Die Arbeiterbeisitzer wissen ganz wohl, daß sie strenge Anforderungen an die Arbeiter stellen müssen, wenn sie verlangen wollen, daß mit der gleichen Strenge darauf gesehen wird, daß auch die Arbeitgeber ihre Pflichten gegen die Arbeiter erfüllen“ (Lautenschlager, S. 811). 722 Vgl. Reichel, S. 33 – 38; ebenso Lautenschlager, S. 796 ff.; Arthur Stadthagen, Das Arbeiterrecht, Berlin 1895, S. 210 ff. 723 Zum folgenden Jastrow, Sozialpolitik, S. 466 ff.
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tragen zu haben, stellen vielmehr die Gewerbegerichte das erste organische Mittel dar, um dieser Parteilichkeit innerhalb des einzelnen Gerichts Herr zu werden. Der Versuch, die beiden Gegensätze in das Gericht selbst hineinzuverlegen und ihnen in einem unparteiischen Vorsitzenden einen Indifferenzpunkt zu geben, ist geglückt“724. 2. Der Erfolg der Gewerbegerichte entfaltete eine außerordentliche Dynamik. Er trug den Keim zur weiteren Ausbreitung des Gerichtstyps in sich, beschleunigte die Tendenz zur Sonder- und Schiedsgerichtsbarkeit, delegitimierte den ordentlichen Zivilprozeß und stärkte das Prinzip der Laienrechtsprechung, insbesondere in Form einer Beteiligung bislang ausgeschlossener Bevölkerungsschichten an der Justiz. Der Ruf nach weiteren Spezialgerichten war Ausdruck zweier eng zusammenhängender Faktoren: der fortschreitenden Ausdifferenzierung des materiellen Rechts sowie der zunehmenden Verrechtlichung des politischen und gesellschaftlichen Lebens – letzteres ein Aspekt, der in der zeitgenössischen Diskussion erst am Rande auftauchte, in der Rückschau aber umso deutlicher hervortritt. Insofern stand die Debatte noch ganz im Zeichen des traditionellen Leitbilds vom richterlichen Generalisten. In einer Reihe von Reichstagsanträgen forderten vor allem die Sozialdemokraten, die neuen Gerichte für obligatorisch zu erklären und ihre Zuständigkeit auf weitere Arbeitnehmergruppen bzw. alle abhängig Beschäftigten auszuweiten. Die Anträge kamen allesamt nicht zur Beratung oder verfehlten die erforderliche Mehrheit725. Dennoch trafen sie die Entwicklungsrichtung: Da sich vor allem kleinere Städte (meist aus fiskalischen Gründen) nicht zur Errichtung eines Gewerbegerichts entschließen konnten, schrieb die Novelle vom 30. 6. 1901 die Einführung des Gerichts in Gemeinden mit über 20.000 Einwohnern obligatorisch vor726. Ferner trat die SPD dafür ein, die landgerichtlichen Zivilkammern in ihrer Funktion als Berufungsinstanz für gewerbegerichtliche Streitigkeiten um je einen Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeiternehmer zu ergänzen. Ein entsprechender Antrag wurde von der Kommission des Reichstags, die 1898 über die GVG- / StPO-Novelle beriet, in erster Lesung angenommen (9:6 Stimmen). Nachdem Nieberding mit Nachdruck auf die organisatorischen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht hatte, fiel der Beschluß in zweiter Lesung mit 14 gegen 4 Stimmen727. In der zweiten Plenarberatung beantragte Stadthagen, der justizpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, eine diesbezügliche Reichstagsresolution, wiederum ohne Erfolg. Den Hintergrund bildete das damals vieldiskutierte, rechtlich außerordentlich komplizierte Problem des „Bauschwindels“. In zahlreichen Fällen waren Hand724 725 726 727
Ebd., S. 479. Vgl. die Liste bei Damrau, S. 194 f.; Dannreuther, S. 151 ff. Vgl. Jastrow, Sozialpolitik, S. 421 ff.; Bahr, S. 103 ff. Sten. Ber. RT 1897 / 98, Drks. Nr. 240, S. 2058 f. (Kommissionsbericht).
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werker und Bauarbeiter um ihren Arbeitslohn geprellt worden, indem sie, statt mit dem eigentlichen Bauunternehmer, ihren Kontrakt mit einem Zwischenunternehmer abgeschlossen hatten, der in der Folge Konkurs anmeldete. In einer Art Billigkeitsrechtsprechung neigten die Gewerbegerichte dazu, nicht bloß den Strohmann, sondern auch den eigentlich Verantwortlichen haftbar zu machen, während die Landgerichte, die formaljuristisch das reguläre Vertragsverhältnis betonten, den gegenteiligen Standpunkt einnahmen. Sprecher der SPD warfen den Berufsrichtern Unkenntnis der modernen Wirtschaftsverhältnisse vor, Hugo Haase nannte ihr Verhalten „weltfremd“728. Nach 1890 nahm der Zug zur Sonder- und Schiedsgerichtsbarkeit fast schon inflationäre Ausmaße an. Begründet wurden die Bestrebungen stets mit dem doppelten Hinweis auf die Unzuträglichkeiten des amtsgerichtlichen Verfahrens und die mangelnde Sachkenntnis resp. formalistische Denkweise der Berufsrichter. So trug das preußische Wildschadensgesetz vom 11. 7. 1891 den Ortspolizeibehörden auf, bei Ersatzansprüchen zunächst auf eine gütliche Einigung hinzuwirken (§§ 6 – 9). Im Falle eines Scheiterns sollte der Kreisausschuß, in Stadtkreisen der Bezirksausschuß erst- und letztinstanzlich über etwaige Klagen entscheiden (§ 10)729. Von verschiedenen Seiten ertönte der Ruf nach landwirtschaftlichen Schiedsgerichten. 1892 sprach sich das altehrwürdige Preußische Landesökonomiekollegium für ortsnahe, mit Landwirten als Beisitzern bestückte Gerichte aus, die über kleinere nachbarschaftliche Streitfälle, insbesondere besitzrechtlicher Art, urteilen sollten. Der Beschluß wurde dem Landwirtschaftsminister „zur geneigten Erwägung“ unterbreitet730. Wesentlich weiter ging der „Deutsche Landwirtschaftsrat“, die Vertretung aller landwirtschaftlichen Zentralvereine mit Sitz in Berlin, der auf seiner Tagung im März 1895 einen detaillierten Gesetzentwurf verabschiedete. Die von Konrad Schneider, damals Landgerichtsrat in Kassel, erarbeitete Vorlage basierte auf dem Gedanken landwirtschaftlicher Schöffengerichte. Sie sollten in die bestehende Amtsgerichtsstruktur eingefügt werden, aus dem Amtsrichter und zwei Landwirten als Schöffen bestehen und imgrunde für alle landwirtschaftlichen Rechtsstreitigkeiten zuständig sein. Berufung an das Landgericht war nur bei Streitwerten von über 100 Mark vorgesehen. Die Auswahl der Beisitzer erfolgte nach dem Vorbild der allgemeinen Schöffenwahl, wobei die gesonderte Urliste aus den Mitgliedern der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft sowie allen übrigen in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen gebildet 728 Zum Bauschwindel: Stadthagen, Sten. Ber. RT, 2. 5. 1898, S. 2092 – 2094; Haase, ebd., 12. 1. 1898, S. 382; auch schon Stadthagen, ebd., 22. 1. 1896, S. 488 – 491. 729 GS, S. 307. 730 Vgl. Verhandlungen des Königlichen Landes-Oekonomie-Kollegiums 1892, in: Landwirthschaftliche Jahrbücher 21, Erg.Bd. 2 (1893), S. 21 – 27 (Antrag des landwirtschaftl. Vereins für Rheinpreußen), 129 – 170 (Beratung und Beschluß). Im Beschluß heißt es: „Die gegenwärtig gültige Art der Erledigung der landwirtschaftlichen Rechtsstreitigkeiten durch die ordentlichen Gerichte entspricht nicht dem Bedürfnisse der Landwirtschaft nach rascher, billiger und sachgemäßer Entscheidung solcher Streitigkeiten“.
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werden sollte. Dem Entwurf lag die Absicht zugrunde, einerseits dem berechtigten Wunsch nach einer Spezialrechtsprechung entgegenzukommen, andererseits aber eine weitere Schwächung der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu vermeiden. Die Delegierten richteten an den Reichskanzler die Bitte, bei der bevorstehenden Zivilprozeßreform auf ihr Anliegen Bedacht zu nehmen731. Die Initiativen blieben im politischen Entscheidungsprozeß stecken. Zwar schlug der Regierungsentwurf der GVG- / StPO-Novelle von 1898 einen Zusatz zum § 14 GVG vor, der besondere Gerichte für Streitigkeiten über Nachbarschaftsrechte und Grunddienstbarkeiten zulassen wollte, er wurde jedoch von der Kommission des Reichstags gestrichen. Ebenso lehnte die Kommission Anträge auf fakultative Einführung landwirtschaftlicher Schiedsgerichte bzw. Annahme einer entsprechenden Reichstagsresolution ab. Bei der Beratung kam auch die Kehrseite der Medaille offen zur Sprache: „Nachgerade erscheine die Warnung geboten, den ordentlichen Gerichten nicht allzuviel zu entziehen. Wenn sich neuerdings vielfach die Empfindung geltend mache, daß die Stellung des Richters an Ansehen verloren habe, so sei einer der Gründe hierfür in der fortschreitenden Verminderung ihrer Kompetenz zugunsten von Sondergerichten zu suchen“732. Damit ist die Liste an Sondergerichtswünschen noch keineswegs erschöpft. Hermann Jastrow, sozialpolitisch engagierter Amtsgerichtsrat aus Berlin, plädierte für die Übertragung von Entschädigungsansprüchen unschuldig Verurteilter an eine aus Laien bestehende Schadensjury, wobei die Frage nach einer berufsrichterlichen Mitwirkung ungeklärt blieb. Die Urteile in Schadensersatzprozessen lehrten, so Jastrow, daß die Richter „mit großem Scharfsinn“ fast immer dem Gedanken zum Siege verhelfen würden, es wäre besser, der Geschädigte erhalte gar keinen Ersatz als eine Mark zu viel. Am zweckdienlichsten sei ein Gremium von Männern, die der Lebenssphäre des Geschädigten nahestünden. Ein solches „judicium parium“ würde in der sozialpolitisch bedeutsamen, die Nation tief bewegenden Frage „Volksrecht und Juristenrecht miteinander in Übereinstimmung“ bringen733. Der bekannte Sozialreformer Emil Münsterberg lancierte die Idee nichtberufsrichterlicher Organe zur Schlichtung von Mietstreitigkeiten734. 731 Vgl. K[onrad] Schneider, Ein Gesetzentwurf, betreffend die Errichtung landwirthschaftlicher Schöffengerichte, in: ZZP 20 (1894), S. 533 – 551 (Entwurf mit Begründung); ders., Landwirthschaftliche Schöffengerichte, in: PJ 81 (1895), S. 319 – 336 (größtenteils identisch mit der Begründung). In Kassel pflegte Schneider (1855 – 1917) engen Kontakt mit dem alten Bähr. 732 Vgl. Sten. Ber. RT 1897 / 98, Drks. Nr. 240, S. 2056 f. (Zitat S. 2057; Kommissionsbericht). 733 Vgl. H. Jastrow, Die Entschädigung unschuldig Verurtheilter, in: Sozialpolitisches Centralblatt 3 (1893 / 94), S. 217 – 219 (Zitat S. 219). 734 Vgl. Münsterberg, Besprechung von: K[onrad] Schneider, Das Wohnungsmietrecht und seine sociale Reform, in: Schmollers Jahrbuch, N. F. 18 (1894), S. 308 – 311, hier S. 311; Emil Münsterberg (1855 – 1911) wurde durch bahnbrechende Reformen auf dem Gebiet der Armenpflege bekannt; weitere Sondergerichtswünsche bei Schneider, Schöffengerichte, S. 325 Anm.
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Erfolg war bekanntlich nur der Agitation für kaufmännische Schiedsgerichte beschieden, ausgehend von der Tatsache, daß Streitigkeiten zwischen Kaufleuten und Handlungsgehilfen den Gewerbegerichten ausdrücklich entzogen waren (GGG § 81). Mit Schreiben vom 1. 4. 1896 wandte sich Handelsminister v. Berlepsch an die preußischen Handelskammern mit der Bitte, nach Anhörung der Gehilfenschaft ihr Urteil in der Frage abzugeben. Den Jahresberichten zufolge sprachen sich von 73 Handelskammern 47 gegen und 26 für den Vorschlag aus, wobei als Ablehnungsgrund überwiegend das fehlende Bedürfnis genannt wurde735. Umfragen in den anderen Bundesstaaten führten zu ähnlichen Ergebnissen. Bereits ein Jahr später veranstaltete Berlepsch’ Nachfolger Brefeld eine erneute Umfrage, bei der sich die Handelskammern, ungeachtet ihrer grundsätzlichen Einstellung, über die Frage der zweckmäßigsten Einrichtung äußern sollten. Die Antworten waren dreigeteilt und befürworteten völlig selbständige Kaufmannsgerichte, einen Anschluß an die Amtsgerichte oder eine Angliederung an die Gewerbegerichte736. Zugleich fand die Forderung Eingang ins öffentliche Bewußtsein, als der Reichstag bei der dritten Beratung des Handelsgesetzbuchs die verbündeten Regierungen in einer Resolution um Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfs ersuchte (7. 4. 1897) und eine Reihe von Autoren sich mit der Idee auseinandersetzten. Bei allen konzeptionellen Unterschieden waren sich die Befürworter darin einig, daß sich das Verfahren am Vorbild der Gewerbegerichte orientieren müsse737. Auf die Entstehung der Kaufmannsgerichte wird später zurückzukommen sein. Die Abkehr von der ordentlichen Gerichtsbarkeit manifestierte sich indes nicht allein in gesetzlich institutionalisierten Sondergerichten (bzw. dem Verlangen nach ihnen), sondern auch in informellen, privatrechtlich vereinbarten Schiedsgerichten. Reichsgerichtsrat v. Bülow beschrieb 1893, was sich hinter dem Phänomen verbarg: „Die Langwierigkeit, der schwerfällige Instanzenzug, die Kostspieligkeit und der oft verhängnisvolle Formalismus des jetzigen Zivilprozesses, die unaufhörlichen Kontroversen und Finessen der gelehrten Juristen schrecken schon jetzt in immer stärkerem Maße von der Beschreitung des Rechtsweges ab; immer häufiger wird in Kontraktsverhältnissen (bei Verpachtungen, Gesellschaftsverträgen u. s. w.) die Ausschließung des Rechtsweges und die Vereinbarung eines Schiedsgerichts, das ohne alle Formalitäten sofort endgültig etwaige Streitigkeiten nach Vernunft und Billigkeit entscheiden soll. Wohl nirgends mehr, als gerade in Juristenkreisen, 735 Vgl. Kaufmännische Schiedsgerichte, hg. v. Deutschnationalen HandlungsgehilfenVerband, Hamburg 1901, S. 7 f. (mit Abdruck des Erlasses). 736 Vgl. Bahr, S. 145. 737 O. v. Boenigk, Schiedsgerichte für kaufmännische Angestellte, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, III. F. 13 (1897), S. 428 – 436 (Syndikus der Handelskammer Halberstadt); J. Silbermann, Die Frage der kaufmännischen Schiedsgerichte in Deutschland, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 11 (1897), S. 658 – 687 (Vors. des Hilfsvereins für weibliche Angestellte in Berlin); E. Riesenfeld, Kaufmännische Schiedsgerichte, Berlin 1897 (stellvertr. Syndikus der Handelskammer Breslau; gegen obligatorische Sondergerichte, aber für eigene Prozeßgattung vor ordentlichen Gerichten mit billigerem und rascherem Verfahren); vgl. auch Damrau, S. 104 f.
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herrscht eine so entschiedene Abneigung gegen alles eigene Prozeßführen. Es erinnert an die Abneigung der Doktoren gegen ärztliche Behandlung“738. Mochten die diversen Spezialgerichtsbildungen von den jeweils Begünstigten auch lebhaft begrüßt werden, so stellten sie aus staatlich-justizpolitischer Sicht zweifellos ein Krisensymptom dar. Deshalb ist die Bewegung nicht, zumindest was ihre unmittelbaren Entstehungsbedingungen betrifft, als Gegentendenz zur „Vertrauenskrise“, sondern als wesentliches Moment und Ausdruck derselben zu interpretieren. Johann Christoph Schwartz, prominenter Rechtshistoriker germanistischer Provenienz, brachte die Entwicklung auf den Punkt: „Unserem Volke läßt sich ein ihm unsympathisches, unverständliches Gerichtswesen auf die Dauer nicht aufdrängen. Unzufrieden wendet sich eben die Zahl der Rechtssuchenden vom ordentlichen Rechtswege ab. Die Symptome sind stets die gleichen, unsere Vergangenheit gibt uns die Lehre: die schiedsgerichtliche Erledigung der Rechtssachen gewinnt immer größeren Umfang, man bevorzugt etwa bestehende Sondergerichte, man ruft nach neuen Sondergerichten; es beginnt, zunächst unmerklich, allgemach steigend – eine Gerichtsflucht“739. 3. Hatte Otto Bähr mit seiner sozialpolitisch motivierten Grundsatzkritik am Zivilverfahren in den 80er Jahren noch eine Außenseiterposition eingenommen, so änderte sich die Situation in der Folgezeit zusehends. Die ZPO geriet immer stärker unter Druck, die Zahl ihrer Kritiker wuchs beständig. Dazu trug – neben dem Gewerbegerichtsverfahren – maßgeblich die unter Federführung von Franz Klein betriebene Reform des österreichischen Zivilverfahrens bei, die 1895 zur Verabschiedung einer neuen Prozeßordnung mit reinem Offizialbetrieb führte (in Kraft getreten 1898). Im Reich verfolgte man die Vorgänge mit besonderem Interesse, da die deutsche Zivilprozeßordnung bei den Beratungen als negative Folie diente740. Gleichzeitig verschob sich der thematische Schwerpunkt: Die Mündlichkeitsfrage, die für Bähr noch im Vordergrund gestanden hatte, verlor an Bedeutung, ihre Stelle nahm fortan das Problem der Prozeßverschleppung ein. Dementsprechend konzen738 C. v. Bülow, Die Reform unserer Strafrechtspflege, Berlin 1893, S. 41 f.; vgl. Krantz (K), Sten. Ber. AH, 15. 2. 1894, S. 481. Ähnlich der freikonservative Abgeordnete Gamp bei Beratung der ZPO-Novelle: „Ich selbst gestehe ganz offen, daß, wenn ich heute einen Vertrag über die gemeinsame Verwaltung eines Gutes oder einer größeren Fabrik machen würde, ich immer eine Bestimmung in denselben aufnehmen würde: der Rechtsweg ist ausgeschlossen, die Entscheidung von Streitigkeiten findet durch ein Schiedsgericht statt, in dem jede Partei angemessen vertreten ist und der Obmann durch irgendein höheres Gericht ernannt wird“ (Sten. Ber. RT, 11. 1. 1898, S. 359). 739 Johann Christoph Schwartz, Die Novelle vom 17. / 20. Mai 1898 und die künftige Civilprozeßreform, Berlin 1902, S. 161. Johann Christoph Schwartz (1846 – 1916), geboren in Riga, war längere Zeit als Richter und Stadtrat in seiner Heimatstadt tätig, bevor er 1888 im Zuge einer Russifizierungswelle seine Ämter verlor. 1902 wurde er zum ao. Prof. in Berlin, 1903 zum o. Prof. in Halle berufen. 740 Dazu: J. Damrau, Der Einfluß der Ideen Franz Kleins auf den Deutschen Zivilprozeß, in: H. Hofmeister (Hg.), Forschungsband Franz Klein, Wien 1988, S. 157 – 171.
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trierte sich die Debatte auf den Prozeßbetrieb und, in steigendem Maße, auf die Rolle der Anwaltschaft. Mit der Anwaltsfrage kam ein neues Element in die Diskussion. Eröffnet wurde die Debatte durch eine Abhandlung von Eugen Schiffer, damals Amtsrichter im oberschlesischen Zabrze, die 1893 in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschien741. Den Beitrag durchzieht eine kaum verhüllte Abneigung gegen den Anwaltsstand, wie bereits die Wahl des Titels, der Assoziationen von monetärer Fixierung und schmarotzerhafter Existenz weckt, verrät. Der anwaltschaftliche Zwischenhandel habe, so der Autor, „bei weitem sein natürliches Gebiet überschritten, hat sich zwischen Gericht und Parteien, zwischen Recht und Volk gedrängt, die verbindende Brücke zur trennenden Zollschranke, die Wohltat zur Klage gemacht“742. Während Schiffer am landgerichtlichen Anwaltszwang nur kleinere Einschränkungen vornehmen möchte, richtet sich sein ganzer Zorn gegen die Tatsache, daß auch das amtsgerichtliche Verfahren zunehmend zum Anwaltsprozeß geworden sei743. Schuld daran trage das Gesetz selbst, das den Prozeß „auf juristisch gebildete Mittler zugeschnitten“ habe und geradezu eine Prämie auf die Verwendung eines Anwalts setze, indem Vertretungskosten in jedem Fall, eigene Versäumniskosten hingegen überhaupt nicht erstattet würden. Gemessen am Streitwert verteuere sich der Prozeß ganz unverhältnismäßig, vor allem aber trete der Rechtssuchende nicht mehr in unmittelbare Berührung mit dem Gericht. Hierin lag für Schiffer das eigentliche Übel: „Unser Volk steht seinem Recht fremd, scheu und mißtrauisch gegenüber; es sieht in ihm nicht mehr einen Niederschlag der Gerechtigkeit, wie sie im innersten Grunde seinem eigenen natürlichen Gefühle entspricht, sondern ein technisches Erzeugnis klügelnder Wissenschaft, eine höchst künstliche Maschine, deren Räderwerk für den Laien unberechenbar und sehr gefährlich arbeitet. [ . . . ] Das Recht wird für das Volk erst dann aufhören, toter Buchstabe zu sein, wenn es ihm durch das lebendige Wort des Richters belebt und beseelt wird“744. Bereits in dieser frühen Abhandlung legte Schiffer – mit leicht religiösem Pathos – sein sozial- und rechtspolitisches Credo dar, das in der einen oder anderen Form Eugen Schiffer, Der Zwischenhandel in der Justiz, in: PJ 72 (1893), S. 500 – 513. Eugen Schiffer (1860 – 1954), bis 1910 zum OVG-Rat aufgestiegen, war 1903 – 18 Mitglied des Abgeordnetenhauses, 1911 – 1917 auch des Reichstags (nationalliberal). 1919 Reichsfinanzminister, 1919 / 20 und 1921 Reichsjustizminister, gehörte er 1920 – 1923, nunmehr für die DDP, erneut beiden Parlamenten an. Nach 1945 kurze Zeit Chef der Deutschen Justizverwaltung der SBZ; vielfältig publizistisch tätig; Erinnerungen: Eugen Schiffer, Ein Leben für den Liberalismus, Berlin 1951; weiterhin: J. Ramm, Eugen Schiffer und die Reform der deutschen Justiz, Neuwied 1987. 742 Schiffer, S. 501. 743 Das Faktum ließ sich nicht bestreiten: In Baden befanden sich 1890 unter 1.000 amtsgerichtlichen Verfahren 391 Sachen, bei denen eine oder beide Parteien durch einen Anwalt vertreten wurden. In den Städten lag der Prozentsatz noch wesentlich höher: Von 1.000 Sachen waren in Mannheim 935, in Karlsruhe 579, in Freiburg 508, in Konstanz 475 und in Waldshut 468 Anwaltsprozesse; Zahlen nach: Frantz (unten Anm. 745), S. 106. 744 Zitate Schiffer, S. 506, 503. 741
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sein gesamtes politisch-juristisches Wirken durchzog: die Notwendigkeit, die Entfremdung zwischen Recht und Volk zu überwinden. Schiffers Artikel stellte eine gezielte Provokation der Rechtsanwaltschaft dar, die, obwohl Nutznießer des neuen Systems, bislang im Windschatten der Kritik gestanden hatte. Die Invektive wurde von zahlreichen Zeitungen nachgedruckt und verfehlte ihre Wirkung nicht: In Anwaltskreisen verwahrte man sich empört gegen die vermeintliche Verletzung der Standesehre, die man vor allem im Bild des Zwischenhändlers zu erblicken meinte. Letztlich sah man in den Auslassungen einen Angriff auf die anwaltschaftliche Tätigkeit als solche. Dem hielt Schiffer entgegen, seine Kritik beziehe sich streng auf die Institution und deren objektive Folgen, nicht aber auf die handelnden Personen. Im übrigen fiel seine Replik in Wortwahl und Begründung nicht minder schneidend aus („Schädigung des Rechtslebens“)745. Einen Schritt weiter noch ging Schwartz, der entschieden für die Abschaffung des Anwaltszwangs (zumindest auf landgerichtlicher Ebene) eintrat: „Will man unseren Gerichten und unserer Rechtspflege das Vertrauen der Bevölkerung in dem Maße erhalten oder wieder zuführen, wie es unerläßlich ist, wenn Recht und Gericht die hohe, einzige Stellung im Staate einnehmen sollen, die ihnen zukommt, dann muß der Anwaltszwang fallen“746. Dem Einwand, die immer komplizierter werdenden Rechtsfragen würden eine fachliche Vertretung unentbehrlich machen, begegnete Schwartz mit dem Hinweis auf das preußische Verwaltungsstreitverfahren, das fürwahr schwierige Materien zum Gegenstand habe, einen Anwaltszwang aber nicht kenne, noch nicht einmal für die Verhandlung vor dem Berliner Oberverwaltungsgericht. Schwartz’ Forderung resultierte aus seinen grundlegenden Untersuchungen über die Entwicklung des deutschrechtlichen Zivilprozesses seit dem Ende des 15. Jahrhunderts. Sie begründeten auch sein Urteil über das zeitgenössische Verfahren: „Unser heutiger Zivilrechtsgang ist gänzlich unplastisch, ruht weder auf nationalen noch auf sozialen Gedanken. Mit technischer Meisterschaft konstruiert, bleibt er doch eine Maschine, zu deren nutzbringender Verwertung wieder vollendete Technik unentbehrlich ist. Die unselige Scheidung des Volkes in die des Rechtes allein weisen Gelehrten und in die des Rechtes unweise ungelehrte Masse kann unter diesem Gesetze nur verschärft werden“. Erforderlich sei stattdessen eine „gemeinverständliche, nationale, den sozialen Gedanken dienende Zivilprozeßordnung“747. Daß der Reichsprozeß die genannten Kriterien nicht erfülle, führte Schwartz auf drei Ursachen zurück: die unreflektierte Über745 Zur Kontroverse: Th. Frantz, Ist der Rechtsanwalt ein Zwischenhändler?, in: PJ 75 (1894), S. 97 – 107 (RA aus Mannheim); Replik Schiffers, in: ebd., S. 107 – 117. 746 Johann Christoph Schwartz, Vierhundert Jahre deutscher Civilproceß-Gesetzgebung, Berlin 1898, S. 748; ebenso ders., Novelle, S. 102 ff.; vgl. Hertel, S. 33 f. 747 Schwartz, Vierhundert Jahre, S. 740, 745. Otto Gierke, Wortführer der Germanisten, pflichtete dem Autor voll und ganz bei: „Deutsch ist unser geltender Zivilprozeß nicht. Volkstümlich ist er auch nicht. Und am wenigsten ist er sozial“ (Besprechung des Schwartzschen Werkes, in: ZZP 24, 1898, S. 445 – 460, Zitat S. 456).
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nahme des französischen Vorbildes, das mangelnde soziale Verständnis des Liberalismus und die politisch forcierte Herstellung der Rechtseinheit. Die Parallelität der Standpunkte von Schiffer und Schwartz ist unübersehbar. Beide knüpften – von germanistischem Boden aus, der eine aus praktischer, der andere aus rechtshistorischer Sicht – an die Prämissen Otto Bährs an und führten dessen Grundsatzkritik weiter. Besonders dem dezidierten Plädoyer von Schwartz gebührt das Verdienst, die Frage des Anwaltszwangs enttabuisiert zu haben748. Während im preußischen Abgeordnetenhaus zivilprozessuale Probleme nur sporadisch zur Sprache kamen, ziehen sich die Klagen über Dauer und Kosten des Verfahrens wie ein roter Faden durch die Etatberatungen der bayerischen Kammer. Überwiegend wurde dabei den Anwälten die Schuld an der Prozeßverschleppung gegeben. Erstaunlich viele Stimmen plädierten für die Abschaffung des Anwaltszwangs bei den Kollegialgerichten 749. Der Zentrumsabgeordnete Ecker dürfte für die Mehrheit seiner Kollegen gesprochen haben, als er meinte, das Volk habe zwar weiterhin Vertrauen zu den Richtern, aber nicht mehr zu den Gerichten750. 4. Nachdem der Bismarcksche Plan einer umfassenden ZPO-Reform 1885 als verfrüht aufgegeben worden war, scheiterte ein moderater, auf das Zustellungswesen im Amtsgerichtsverfahren beschränkter Reformansatz der Jahre 1890 – 92 am Einspruch des preußischen Finanzministers Miquel, der die Staatskasse nicht mit erhöhten Zustellungsgebühren belasten wollte751. Einen erneuten Vorstoß unternahm Preußen im Jahre 1893752. Ausgangspunkt bildete ein Votum Schellings, in dem die Revision der ZPO aus sozialen Gründen als „unabweisliche Pflicht“ bezeichnet wurde. Als Kernpunkte schlug das Votum vor, sämtliche Zustellungen zu vereinfachen und dem Gericht zu übertragen. Das prozessuale Grundübel wurde mit einer für den internen Schriftverkehr preußischer Ministerien seltenen Unverblümtheit benannt: „Als der größte Krebsschaden des gegenwärtigen Verfahrens muß vom Standpunkt der Justizverwaltung aus der Umfang bezeichnet werden, in dem die Parteien und noch mehr deren Vertreter von der Befugnis Gebrauch machen, durch ihren übereinstimmenden Antrag eine Verlegung des Termins und eine Vertagung der Verhandlung herbeizuführen. Eine mitunter ins Maßlose sich steigernde Verschleppung der Prozesse ist die nächste Folge dieses Unwesens. Das rechtssuchende Publikum, welches nicht begreifen kann, daß dem Gericht keinerlei 748 Weiterhin: Tiberius Coruncanius (Pseud.), Der Anwaltszwang, in: Die Kritik 14 (1898 / 99), S. 493 – 499 (für Abschaffung des Anwaltszwangs in Zivil- und Strafsachen). 749 So etwa: Grillenberger (SPD), Verh. KdA 1893 / 94, Bd. 3, S. 740; Wagner (LV), ebd. 1895 / 96, Bd. 6, S. 868; Lutz (K), ebd., S. 884; Diehl (LV), ebd. 1897 / 98, Bd. 12, S. 258 f.; Frank (Z), ebd., S. 259; für Beibehaltung des Anwaltszwangs: Brünings (LV), Verh. KdA 1895 / 96, Bd. 6, S. 899; Kraußold (LV), ebd. 1897 / 98, Bd. 12, S. 278 f. 750 Ecker, Verh. KdA 1897 / 98, Bd. 12, S. 320. 751 Vgl. Damrau, Entwicklung, S. 78 ff. 752 Zum äußeren Ablauf Damrau, Entwicklung, S. 95 ff. Da Damrau praktisch keine Quellenkritik übt, bleibt ihm die Nieberdingsche Strategie verborgen.
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Mittel gegen ein solches Verhalten der Anwälte gegeben ist, glaubt die Verzögerung auf ein Verschulden der staatlichen Rechtspflegeorgane zurückführen zu können. Aber auch die Gerichte erleiden durch dasselbe mannigfache Nachteile. Die Vorbereitung des Vorsitzenden und des Berichterstatters auf die einzelne Sache erweist sich im Falle der Vertagung als eine größtenteils nutzlose Arbeit, da zu dem neuen Termin fast immer eine neue Vorbereitung wird erfolgen müssen. Alle noch so zweckmäßigen Dispositionen zur Ausnützung der Sitzungszeit werden durch den Ausfall einer größeren Sache zufolge Vertagung vereitelt“753. Aus ministerieller Sicht stand somit fest, daß die Anwälte die Hauptschuld an der Prozeßverschleppung trugen. Der Zeitpunkt der Initiative war insofern günstig gewählt, als absehbar war, daß die Zivilprozeßordnung einige Jahre später an das Bürgerliche Gesetzbuch angeglichen werden mußte, andererseits aber noch genügend Zeit blieb, um einer durchgreifenden Reform, namentlich des amtsgerichtlichen Verfahrens, politisch den Weg zu ebnen. Daß es dazu nicht kam, lag vor allem an Staatssekretär Nieberding, der, wie sich ja auch schon bei anderer Gelegenheit gezeigt hatte, pragmatischen Teilrevisionen skeptisch gegenüberstand, vor allem aber das Großprojekt „BGB“ nicht gefährden wollte. Angesichts der Schellingschen Entschlossenheit griff er auf klassische Methoden des Verschleppens und Hintertreibens zurück: Zunächst steckte eine Kommission aus Vertretern des Reichsjustizamts und des preußischen Justizministeriums den Rahmen des Projektes ab, dann ging selbiges an eine Praktikerkommission, die schon von ihrer Zusammensetzung her (6 Richter, 4 Rechtsanwälte und ein hoher sächsischer Ministerialbeamter) wenig Aussicht auf konstruktive Ergebnisse bot (wie sich dann auch zeigen sollte)754. Der Zusammentritt einer dritten Kommission, wiederum aus Vertretern der beiden federführenden Ministerien, wurde solange hinausgezögert, bis die im Reichsjustizamt gefertigte Vorlage der ZPO-Novelle neue Tatsachen schuf. Sie ging dem Reichstag zum spätestmöglichen Zeitpunkt zu (Dezember 1897), so daß für größere Änderungen kaum noch Zeit blieb, sollte die anvisierte Einführung des BGB zum 1. 1. 1900 nicht in Gefahr geraten. Immerhin war nach österreichischem Vorbild die Einführung eines – in das Ermessen des Vorsitzenden gestellten und vom Anwaltszwang befreiten – Vortermins vorgesehen, in dem die zahlreichen Versäumnis-, Anerkenntnis- und Vergleichssachen erledigt werden sollten, um das eigentliche Verfahren den streitigen Angelegenheiten vorzubehalten. Infolge des Widerstands der Anwaltschaft strich der Reichstag den Vorschlag und ersetzte ihn durch die 753 Votum Schellings v. 11. 9. 1893 (zit. n. Damrau, S. 96). Ähnlich Vierhaus wenige Jahre später: „Der Mangel, der in der Praxis am schwersten empfunden wird, ist zweifellos die unumschränkte Herrschaft der Parteien über den Prozeßgang, wie sie sich insbesondere in den Verschleppungen und Vertagungen ausprägt. Man darf es unumwunden aussprechen, daß dieser Übelstand geradezu eine Schädigung des Ansehens der Rechtspflege im Gefolge hat“ (Vierhaus, Besprechung von: A. Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprozessordnung, in: ZZP 23, 1897, S. 507 – 517, Zitat S. 508). 754 Vgl. den Kommissionsbericht von: v. Wilmowski, Zur Reform des Civilprozesses, in: DJZ 1 (1896), S. 44 f. (belegt den Widerstand der Anwaltschaft gegen jedwede Reform).
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unverbindliche Bestimmung, daß der erste Termin möglichst frühzeitig anzuberaumen sei. Faktisch blieb damit alles beim alten755. Auch wenn die Meinungen über die Reichweite der Reform unter den Parlamentariern auseinandergingen und der Einfluß der Rechtsanwaltschaft nicht unterschätzt werden sollte, spricht manches dafür, daß der Versuch, das amtsgerichtliche Verfahren – im Zusammenhang mit der Einführung des BGB – nach dem Muster des Gewerbegerichtsprozesses umzugestalten, reelle Erfolgschancen gehabt hätte, wenn Preußen und das Reich entschlossen voranmarschiert wären. Insofern muß von einer verpaßten Gelegenheit gesprochen werden. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick auf die Arbeiterschaft. Als Stadthagen das ablehnende Votum der SPD begründete, führte er aus: „Auch jetzt nach der geänderten ZPO gleicht das Klageverfahren einem kunstvollen Uhrwerk, vor dem der Laie ratlos steht; es ist dem Laien schwer möglich, den komplizierten Rädermechanismus dieses Klageverfahrens im Zivilrecht in Gang zu bringen, ihn auch nur zu verstehen“. Und später: „Der Laie spricht heute schon von einem glücklichen Gewinnen oder Verlieren des Rechtsstreits, der Rechtsstreit ist ein vollkommenes Glücksspiel geworden. Der Einsatz bei diesem Glücksspiel des Zivilprozesses ist ja bei weitem ungünstiger für den wirtschaftlich Schwächeren als für den wirtschaftlich Stärkeren. [ . . . ] Es wird ein Erfolg dieses vorliegenden Gesetzes wohl der sein, daß immer mehr Leute zu der Einsicht gelangen werden, daß innerhalb dieser kapitalistischen Wirtschaftsordnung im Zivilprozeß Recht haben und Recht bekommen für die arbeitende Bevölkerung zweierlei ganz verschiedene Dinge sind“756. Mit seiner Einschätzung sollte Stadthagen Recht behalten: So integrativ die Gewerbegerichte als Institution wirkten, so sehr leistete der fortwährende Gegensatz zwischen sondergerichtlichem und ordentlichem Prozeß dem Vorwurf der Klassenjustiz Vorschub. Immerhin hatten die parlamentarischen Verhandlungen, namentlich die intensiven Erörterungen in der Kommission, zahlreiche Reformvorschläge zutage gefördert, was Schwartz zu der optimistischen Schlußfolgerung veranlaßte, die Generalrevision der Zivilprozeßordnung sei unvermeidlich757. 2. Strafgerichte und Strafverfahren a) Schwerpunkte der Diskussion In den 80er Jahren befand sich die Diskussion um den Aufbau der Strafgerichte und des Strafverfahrens mehr oder weniger noch in einem Zustand unklarer Gä755 Gesetz, betr. Aenderungen der Civilprozeßordnung v. 17. 5. 1898 (nebst Einführungsgesetz; RGBl, S. 342); die fällig werdende Neubekanntmachung der ZPO erfolgte am 20. 5. 1898 (RGBl, S. 410); hierzu: C. Hahn / B. Mugdan (Hg.), Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. VIII, Berlin 1898; zum Vortermin: Schwartz, Novelle, S. 59 – 83; zu den RT-Verhandlungen: Dannreuther, S. 163 ff. 756 Stadthagen, Sten. Ber. RT, 5. 5. 1898, S. 2200, 2201. 757 Dazu Schwartz, Novelle, S. 1 ff.; vgl. die Besprechung des Schwartzschen Werkes von Vierhaus, in: ZZP 30 (1902), S. 565 – 571.
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rung. Sieht man von den Forderungen nach Berufung und Entschädigung unschuldig Verurteilter ab, so war die Debatte eher von diffusen Empfindungen als von präzisen Reformvorschlägen geprägt. Dies sollte sich im folgenden Jahrzehnt ändern: Die Kritik verdichtete sich zu ausformulierten, teilweise weitreichenden Konzeptionen. Gemessen an Umfang und Intensität der Debatte schien eine grundlegende Umgestaltung des Strafprozesses nurmehr eine Frage der Zeit zu sein. Auch die Themenpalette erweiterte sich: Zu den altbekannten Streitpunkten Laienbeteiligung, Berufung und Staatsanwaltschaft traten das Überbürdungsproblem, Klagen über die lange Verfahrensdauer und Fragen des Vorverfahrens sowie der Untersuchungshaft. Einige der in diesem Zusammenhang entwickelten Ideen und Modelle gingen als feste Bestandteile in die Strafprozeßreformen des 20. Jahrhunderts ein. 1. Die Diskussion um die Laienbeteiligung konzentrierte sich mehr und mehr auf das alte Leonhardt-Friedbergsche Konzept einer allgemeinen Schöffengerichtsverfassung aus dem Jahre 1873. Seine zunehmende Attraktivität verdankte das Modell der Tatsache, daß es im Schnittpunkt unterschiedlicher Entwicklungen und Problemstränge lag. Wie ein Blick auf Verwaltung, Sozialversicherung und Zivilgerichte zeigt, befand sich das Laienprinzip verstärkt auf dem Vormarsch. Ferner boten sich die Schöffengerichte als Ersatz sowohl für die in der Öffentlichkeit vielkritisierten Strafkammern als auch für die Schwurgerichte an, die vor allem in Juristenkreisen auf Ablehnung stießen. Je länger desto mehr wurde der disparate Aufbau der Strafgerichte und die damit verbundene Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung als unhaltbar empfunden. Schließlich verquickte sich – teils alternativ, teils ergänzend – der Schöffengedanke mit der umstrittenen Berufungsfrage. Dem 22. Deutschen Juristentag, der im September 1893 in Augsburg zusammentrat, lag als wichtigster Tagesordnungspunkt die Frage vor, ob sich die Schöffenverfassung für alle erstinstanzlichen Strafgerichte empfehle758. Mit Verweis auf die weit höhere Freisprechungsquote der Geschworenengerichte sowie die Tatsache, daß alle rechtswissenschaftliche Begriffsarbeit für die Jury nutzlos sei, sprach der Gießener Strafrechtler Reinhard Frank in seinem Gutachten von einem „unheilvollen Dualismus“, den die Kombination der Schwurgerichte mit anders strukturierten Gerichten in die Strafrechtspflege bringen würde759. In Verbindung mit der dringend gewünschten Berufung, die nicht von einem Laiengericht an ein 758 Verkürzte Darstellung bei Hadding, S. 62 f. (Hadding datiert den Juristentag auf das Jahr 1892). 759 Reinhard Frank: Gutachten über die Frage: Empfiehlt sich die Durchführung des Systems der Schöffengerichte für die gesamte erstinstanzliche Strafgerichtsverfassung?, in: Verh. d. 22. DJT, Bd. 2, Berlin 1892, S. 1 – 28, Zitat S. 8. Der Lisztschüler Reinhard Frank (1860 – 1934) bekleidete Professuren in Gießen (1890), Halle (1899), Tübingen (1902) und München (1913); 1911 – 14 gehörte er der Berliner Strafrechtskommission an. Frank trat vor allem als Strafrechtler hervor, seit 1914 wandte er sich verstärkt dem Völkerrecht zu. 1897 erschien sein Kommentar zum Reichsstrafgesetzbuch, neben dem Lisztschen Lehrbuch der bedeutendste seiner Art.
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rechtsgelehrtes Gericht gehen dürfe, plädiert Frank für die Durchführung des Schöffensystems nicht nur für sämtliche erstinstanzlichen Kollegien, sondern auch für die Berufungsgerichte. Er bringt folgende Struktur in Vorschlag: Kleine Schöffengerichte sollten für alle Vergehen, mittlere Schöffengerichte in erster Instanz für alle Verbrechen, in zweiter für die Berufung gegen die Urteile der kleinen Gerichte, große Schöffengerichte für die Berufung gegen die Urteile der mittleren Gerichte zuständig sein. Daneben regt Frank eine Reihe weiterer Maßregeln an, etwa, die Volksschullehrer in die Schöffenliste aufzunehmen, die zum Sitz des Landgerichts anreisenden Schöffen großzügiger zu entschädigen, sämtliche Übertretungen aus dem eigentlichen Strafprozeß auszugliedern und zur Aburteilung von Sachen, die besondere Kenntnisse erforderten, Spezialschöffen zu berufen. Mit diesem Programm, das, wie er selbst konzediert, eine erhebliche Mehrbelastung der Laien mit sich brächte, legte Frank den umfassendsten und konsequentesten Reformplan der 90er Jahre vor. Er nahm in vielem die Entwicklung nach der Jahrhundertwende vorweg. Bei der Beratung im Plenum trat selbst Gneist für die Verallgemeinerung des Schöffenprinzips ein, allerdings in gehöriger zeitlicher Abfolge. Zunächst sollten Schöffen in den Mittelgerichten eingeführt werden, und erst später seien, nachdem sie sich dort bewährt hätten, die Schwurgerichte zu ersetzen. Oskar Hamm, damals Oberstaatsanwalt in Köln, vertrat als zweiter Referent denselben Standpunkt760. Daß sich die Versammlung dennoch nur (mit großer Mehrheit) für eine Schöffenverfassung bei den Gerichten mittlerer Ordnung aussprach, die Schwurgerichte hingegen unangetastet ließ, verdankte sich – abgesehen vom Tagungsort – vor allem den Ausführungen Hermann Seufferts, der seiner alten Liebe zum Schwurgericht treu geblieben war. Seuffert, mittlerweile Ordinarius in Bonn, verwies auf die ungebrochen juryfreundliche Stimmung in Bayern sowie die Tatsache, daß bei den anderen Gerichten kaum weniger Fehlsprüche vorkämen. Vor allem aber würden die Geschworenen den heilsamen Zwang ausüben, die Sache ausführlich darzulegen, und die Juristen davon abhalten, „in der öden, trockenen, unbrauchbaren, vom Leben sich abwendenden Begriffsjurisprudenz aufzugehen“761. Im Umfeld des Augsburger Juristentages reiften weitere Reformpläne. Für eine Kombination aus allgemeiner Schöffenverfassung und Berufung trat 1893 auch ein anonymer (vermutlich aus Sachsen stammender) Autor in den „Grenzboten“ ein. Danach sollten große, mittlere und kleine Schöffengerichte als erstinstanzliche Gerichte sowie als Berufungsinstanz für das jeweilige Untergericht fungieren. Folgerichtig konnte gegen Urteile der großen Schöffengerichte nur Revision eingelegt werden. Ganz unverhohlen forderte der Autor die Bundesregierungen dazu auf, die einmalige Chance zu nutzen und ihre Trümpfe (Preisgabe der Strafkammern, Ein760 Vgl. die Referate von Gneist und Hamm in: Verh. d. 22. DJT, Bd. 4, Berlin 1893, S. 438 – 451 / 451 – 464. 761 Vgl. die Ausführungen Seufferts sowie die Beschlüsse in: ebd., S. 464 – 472 (Zitat S. 470), 481 f.
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führung der Berufung) als Kompensationsobjekte für die Beseitigung des Schwurgerichts einzusetzen762. Obwohl er die Kritik an den Strafkammern im großen und ganzen für unberechtigt hielt, sprach sich auch Reichsgerichtsrat v. Bülow in einer 1893 erschienenen Broschüre, die als wichtigste Programmschrift der 90er Jahre gelten darf, für einen Umbau im großen Stil aus763. Bei Bülow fungiert die Schöffenidee als Alternative zur Berufung, deren Einführung den wirklich notwendigen Reformen nur den Weg versperren würde. Letztere müßten bei der Organisation von 1879 ansetzen: Da der Gesetzgeber nicht die Energie besessen hätte, zum Grundproblem der Laienbeteiligung eine klare Stellung einzunehmen, kam „diese von Widersprüchen, Halbheiten und Inkonsequenzen förmlich strotzende Organisation der Strafgerichte und Strafjustiz zustande, deren Ergebnisse notwendig unbefriedigend ausfallen mußten“. Als Gegenentwurf plädiert Bülow für die Trias aus großen (drei Richter, sechs Laien), mittleren (2 Richter, 3 Laien) und den bestehenden kleinen Schöffengerichten. Das Rechtsmittel der Berufung sollte völlig wegfallen, den Schöffen wären außer der Reisevergütung „anständige Tagegelder“ zu bezahlen764. In seiner Besprechung der Bülowschen Schrift stimmt Otto Mittelstädt den Ausführungen seines Leipziger Kollegen durchweg zu. Allerdings erkennt er, gestützt auf eigene Erfahrungen, das populäre Mißtrauen gegen die Rechtsprechung der Strafkammern als im Kern berechtigt an. So lebhaft er ihren Ersatz durch mittlere Schöffengerichte befürwortet, so sehr rät er – mit Blick auf die in Süddeutschland vorherrschenden Sympathien – davon ab, Hand an das Schwurgericht zu legen. Wie immer bei Mittelstädt wird das juristisch Wünschbare am Maßstab politischer Durchsetzbarkeit gemessen765. Einen anderen Ausgangspunkt wählte der Kieler Kriminalist August v. Kries. Für Kries bestand die Quintessenz jeder guten Rechtspflege in der Einheit und Stetigkeit der Rechtsprechung766. Unter dieser Maßgabe müsse die Beseitigung des Schwurgerichts und die Verstetigung des fluktuierenden Schöffengerichts gefordert Anon., Berufung und Schöffengericht, in: Grenzboten 52 / 1 (1893), S. 472 – 479. C. v. Bülow, Die Reform unserer Strafrechtspflege, Berlin 1893. Carl v. Bülow (1834 – 1910) wurde 1880 zum LG-Präsident in Greifswald ernannt. 1884 erfolgte die Berufung an das Reichsgericht, wo er 1898 – 1909 den Vorsitz im 2. Strafsenat innehatte. 764 Vgl. dazu Bülow, S. 36 ff. (Zitate S. 37, 51). 765 Die Mittelstädtsche Besprechung findet sich in: Gruchots Beiträge 38 (1894), S. 234 – 237. Gegen den Bülowschen Reformplan: M. K. Samter, Aus schöffengerichtlicher Praxis, Berlin 1894, S. 25 ff. (AR in Brandenburg a. H.). 766 A. v. Kries, Rechtseinheit und Gerichtsverfassung, in: PJ 75 (1894), S. 118 – 141 („Es ist für die Rechtspflege überhaupt von weit größerer Wichtigkeit, daß gleichmäßig entschieden wird, als daß die Entscheidungen gerade in einem bestimmten Sinne erfolgen“, S. 123). August v. Kries (1856 – 1894), der hauptsächlich auf dem Gebiet des Strafprozeßrechts arbeitete, war Professor in Gießen (1882 – 87), Rostock (1887 / 88) und Kiel (1888 – 1894). 1892 erschien sein vielbeachtetes „Lehrbuch des deutschen Strafprozeßrechts“. 762 763
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werden. Da Kries zwei Arten von Strafgerichten für ausreichend erachtet, möchte er, neben die bestehenden kleinen Schöffengerichte, große Schöffengerichte setzen, bestehend aus drei Richtern und zwei oder vier Schöffen. Letztere sollten für eine Geschäftsperiode von sechs Jahren (mit hälftigem Austausch nach drei Jahren) zu ständigen Mitgliedern des Kollegiums gewählt werden, mit der Verpflichtung, an allen Hauptverhandlungen der Kammer teilzunehmen. Dadurch könnten sie sich die für die Ausübung ihres Amtes erforderlichen Sachkenntnisse aneignen, so daß sich der Gegensatz zwischen Rechtsgelehrten und Laien allmählich einebnen und ein Kollegialitätsgefühl herausbilden würde. Als Vorbild dienten entsprechende Bestimmungen für die landgerichtlichen Kammern für Handelssachen, die Verwaltungsgerichte und die Schiedsgerichte in der Sozialversicherung. Sollten sich nicht genügend Männer für eine derartige Aufgabe finden, dann müsse die Strafrechtsprechung eben den beamteten Richtern überlassen werden. Dem Modell von Kries, der rein juristisch (und überdies stark formal) argumentiert, liegt der Gedanke zugrunde, die als notwendiges Übel angesehenen Laien so in die berufsrichterliche Judikatur zu integrieren, daß sie keinen nennenswerten Schaden anrichten konnten. Staatsanwalt Buehl setzte beim unübersehbaren Ansehensverlust der Strafjustiz an, der in erster Linie darauf zurückzuführen sei, daß der Richterstand „die erforderliche Fühlung mit dem Volke verloren“ habe767. Um der Richterschaft wieder frisches Blut aus selbigem zuzuführen, empfiehlt auch er eine durchgängige Schöffenorganisation, wobei die mittleren Schöffengerichte mit drei Landrichtern und zwei Schöffen, die großen mit fünf Richtern (darunter mindestens drei OLG-Räte) und vier Schöffen besetzt sein sollen. Auch Buehl hält mehrjährige Schöffenämter (wie bei den Handelsrichtern) für dringend geboten. Was die Rechtsmittel betrifft, so sollte an die Stelle der prinzipiell zu beseitigenden Berufung eine erweiterte Revision treten, die an rechtsgelehrte Gerichte (OLG, RG) zu gehen hätte768. Einen ähnlichen Standpunkt findet man bei Paul Felix Aschrott, Landrichter in Berlin und führendes Mitglied der Deutschen Landesgruppe der 1889 gegründeten „Internationalen Kriminalistischen Vereinigung“ (IKV), die die strafrechtliche Reformdiskussion in den kommenden Jahrzehnten maßgeblich mitbestimmte 769. Aschrott befürwortet, gestützt auf praktische Erfahrungen, den Übergang zur Schöffenverfassung, weil „wir nur so ein wirkliches Vertrauen zu unserer Strafrechtspflege im Volke herstellen können“. Seine Konzeption sah vor, die mittleren Schöffengerichte mit drei Mitgliedern des Landgerichts und zwei Schöffen, die Buehl, Unsere Strafrechtspflege, in: PJ 87 (1897), S. 112 – 135, Zitat S. 126. Vgl. ebd., S. 128. 769 P. F. Aschrott, Die Reform des Strafverfahrens, Berlin 1895, bes. S. 48 – 61, Zitat S. 51; zur IKV: E. Bellmann, Die Internationale Kriminalistische Vereinigung, Frankfurt / M. 1994; zu den strafprozessualen Vorstellungen der Deutschen Landesgruppe: W. Rentzel-Rothe, Der „Goldschmidt-Entwurf“, Pfaffenweiler 1995, S. 135 – 168. 767 768
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großen Schöffengerichte mit vier Richtern des Landgerichts und drei Schöffen zu besetzen. Die Berufung sollte durch ein kontradiktorisches gerichtliches Vorverfahren überflüssig werden, die Revision in weiterem Umfang als bisher zulässig sein. Die Modelle von Buehl und Aschrott, in denen der Laienbeteiligung eine rein stabilisierende Funktion zukommt, wollten den unbestreitbaren Bedeutungsgewinn des nichtberufsrichterlichen Elements auf ein Mindestmaß beschränken und damit in juristisch vertretbaren Grenzen halten. Das Grundmotiv war mithin ein ähnliches wie bei Kries. Schließlich noch eine letzte Stimme: Im Rahmen seines Modells eines erneuerten Inquisitionsprozesses auf öffentlich-mündlicher Grundlage, das der Berliner Staats- und Rechtslehrer Conrad Bornhak zur Diskussion stellte, war vorgesehen, Übertretungen allein vom Amtsrichter, Vergehen von kleinen Schöffengerichten und Verbrechen von aus drei Richtern und vier Schöffen zusammengesetzten Gerichtshöfen aburteilen zu lassen. Gegen alle nicht auf Freisprechung lautenden Urteile sollte zunächst in vollem Umfang das Rechtsmittel der Berufung und anschließend die Revision zulässig sein770. Gleichermaßen von Theoretikern wie Praktikern vertreten, so läßt sich zusammenfassend feststellen, zeichnete sich in der Diskussion der 90er Jahre die allgemeine Schöffenverfassung als strafgerichtliche Organisationsform der Zukunft ab. Allerdings gingen die Modelle, was Begründung, Stellung der Laien, Rechtsmittelverfahren und Praktikabilität anging, noch zu weit auseinander, als daß der Politik ein verwertbares Konzept hätte angeboten werden können. Einig waren sich die Reformer allein in der Durchbrechung des berufsrichterlichen Monopols der Strafkammern und der Abschaffung des Schwurgerichts. Einen abweichenden Standpunkt nahm die 1898 unter dem Pseudonym „Justus Clemens“ publizierte Schrift eines alten preußischen Richters ein, die noch deutlich den Geist liberalen Kreisrichtertums vergangener Tage atmet. Auf sympathisch-unaufgeregte Weise versucht der Autor den Ursachen für den allgemeinen Vertrauensschwund auf den Grund zu gehen, wobei praktisch alle in der Öffentlichkeit diskutierten Fragen zur Sprache kommen771. Der Verfasser favorisiert folgendes Organisationsschema: Amtsgerichte mit einem Amtsrichter (richterliche Strafbefehle) – kleine Schöffengerichte nach bewährtem Muster (geringere Vergehen und Privatklagen) – größere Schöffengerichte, besetzt mit drei Richtern und vier Laien (Vergehen und leichtere Verbrechen) – Schwurgerichte, bestehend aus 770 Conrad Bornhak, Zur Reform des Strafprozesses, in: ZStW 19 (1898), S. 64 – 84, hier S. 76 ff. Conrad Bornhak (1861 – 1944) wurde, nachdem er eine zeitlang im preußischen Justizdienst tätig gewesen war, 1897 zum a.o., 1900 zum o. Prof. für Staats- und Rechtswissenschaften in Berlin ernannt. 771 Justus Clemens, Strafrecht und Politik, Berlin 1898. Der Autor macht vier Ursachen für die allgemeine Mißstimmung verantwortlich: die äußere Stellung der Richter; dem Rechtsbewußtsein des Volkes widersprechende Urteile; juristische Spitzfindigkeiten einschließlich der juristischen Sprache; ein Übermaß an Anklagen (vgl. S. 12).
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einem Vorsitzenden und zwölf Geschworenen (schwere Verbrechen). Stelle man den Geschworenen, so Justus Clemens, nach englischem Vorbild nur einen hochrangigen Richter – in der Regel sollte es sich um den Landgerichtspräsidenten handeln – gegenüber, so würde sich das Ansehen des Gerichtshofes in den Augen des Volkes ungemein heben772. Ventiliert wird sogar der Gedanke, die Anklagekammern zu einem gemischten Gericht umzugestalten und mit zwei Richtern und drei Laien zu besetzen; letztere könnten vom Landgerichtspräsidenten aus der am Sitz des Gerichts ansässigen Bevölkerung ausgewählt werden. Den Bedarf an geeigneten Laienrichtern hält der Autor allemal für gedeckt. Nur in der Berufungsfrage vermag er der liberalen Öffentlichkeit nicht zu folgen: Unter der Voraussetzung, daß die bisherigen Strafkammern beseitigt würden und das Vorverfahren nicht in den Händen von Staatsanwälten, sondern erfahrenen Richtern läge, genüge die Revision als alleiniges Rechtsmittel. Da die Zahl der Laiensprüche, bei denen es sich nach Ansicht der beteiligten Richter um klare Fehlurteile handelte, offensichtlich nicht abnahm, kam es immer wieder vor, daß sich Vorsitzende in öffentlicher Sitzung abfällig über einzelne Verdikte äußerten. Wiederholt beschwerten sich Geschworene bei den Gerichten über eine derartige Behandlung, naturgemäß griff auch die Presse das Thema auf. Daraufhin empfahl Schelling den Vorsitzenden (und den Beamten der Staatsanwaltschaft) in einer Rundverfügung vom September 1890, von einer Kritik an den Wahrsprüchen in aller Regel abzusehen773. Nachdem sich die Vorkommnisse wiederholt hatten, erinnerte Schönstedt Ende 1904 an das Reskript. Weiterhin hieß es in der neuerlichen Verfügung, daß es der Stellung des Vorsitzenden nicht entspreche, „in Ansprachen an die Geschworenen allgemeine Fragen politischer und gesetzgeberischer Art, wie die der Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der Schwurgerichte, zum Gegenstand der Erörterung“ zu machen774. Offensichtlich hatte die damalige Diskussion um die Abschaffung des Schwurgerichts einige Richter dazu veranlaßt, ihrem Unmut über das Institut coram publico freien Lauf zu lassen. Unter den politischen Parteien genoß die Jury bei den Linksliberalen und Demokraten, für die das Volksgericht einen stark emotionalen Wert besaß, weiterhin den größten Rückhalt. Auch die Sozialdemokraten traten als Verteidiger des Schwur772 Vgl. ebd., S. 61 – 64 und S. 85 ff. Der Vorschlag, die Beisitzer im Schwurgericht abzuschaffen, war schon wiederholt aufgetaucht. Otto Mittelstädt etwa hatte auf dem 14. Juristentag (Jena 1878) die Ansicht geäußert, eine Reform der Jury müsse sich anlehnen an „die in England deutlicher hervortretende Stellung des Richters, wonach er nicht als Vorsitzender einer Richterbank, sondern als vorsitzender Richter der Geschworenen selbst, als rechtsgelehrter Vorsitzender derselben auftritt – wenn wir die beiden Beisitzer loswerden, so würde diese Stellung des Vorsitzenden auch bei uns zum Ausdruck kommen“ (Verh. d. 14. DJT, Bd. 2, Berlin 1879, S. 135). 773 RV v. 6. 9. 1890, abgedr. bei Müller, Justizverwaltung, S. 31 f. 774 RV an die OLG-Präsidenten und Oberstaatsanwälte v. 30. 11. 1904, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7811, Bl. 49 sowie Nr. 4537, Bl. 667 (auch bei Müller, Justizverwaltung, S. 32).
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gerichts auf, wenn auch ohne jede Begeisterung. Franz Mehring ordnete es – nach pflichtschuldiger Erinnerung an den Leipziger Hochverratsprozeß gegen Liebknecht und Bebel – in die marxistische Geschichtsphilosophie ein: „Die holden Illusionen, als ob mit Einführung der Schwurgerichte das Ideal der Rechtsprechung erreicht sei, liegen meilenweit hinter uns. Aber deshalb bleiben die Schwurgerichte doch gegenüber der gelehrten Rechtsprechung ein relativer Fortschritt, ähnlich wie der bürgerliche Parlamentarismus trotz aller greulichen Auswüchse ein relativer Fortschritt ist gegen die gelehrte Bureaukratie“775. Daß das Geschworenengericht ein Instrument der Klassenjustiz war, stand für die Sozialdemokraten außer Frage. Gleichwohl sahen sie darin eine Vorform des wahren Volksgerichts. Auch in den Reihen des sozialpolitisch engagierten Bürgertums wuchs das Unbehagen an der Exklusivität des Schöffen- und Geschworenendienstes. Folgt man Eugen Schiffer, so hatte sich – zumindest für Preußen – eine klare soziale Verteilung eingespielt: Während die Schöffen größtenteils den mittleren städtischen und ländlichen Schichten entstammten, rekrutierten sich die Geschworenen überwiegend aus dem oberen Mittelstand und den höheren Ständen. Angehörige der unter- und kleinbürgerlichen Schichten waren weiterhin so gut wie überhaupt nicht vertreten776. Angesichts der Tatsache, daß auch die Richter aus den besitzenden Klassen kamen, sah Schiffer elementare Rechtsprinzipien verletzt: „Die Gerechtigkeit verlangt zugunsten wie zuungunsten des Angeklagten vor allem anderen, daß der Richter die Eigenart und Bedeutung seiner Sprechweise, seines Benehmens, seines ganzen Auftretens, nicht minder aber seiner Lebensführung, seiner Vorstellungen und Empfindungen, seiner Umgebung, seiner Bedürfnisse, seiner Versuchungen, kurz der näheren und entfernteren Beweggründe seiner Handlungen kenne, verstehe und würdige“777. Gerade angesichts der vielfältigen und scharfen Gegensätze innerhalb der reichsdeutschen Gesellschaft verbiete sich jegliche Selektion: „Das Wesen des Laienrichtertums verlangt also in allen Formen und Stufen seiner Anwendung eine umfassende und gleichmäßige Mischung und Vertretung aller Volkselemente. Anderenfalls wird die Standesjustiz der Juristen lediglich durch die Klassenjustiz der Besitzenden abgelöst“778. Der Ausschluß der unteren Schichten beruhe, so Schiffer, keineswegs auf einem Mangel an befähigten Männern, sondern allein auf finanziellen Gründen. Infolgedessen fordert er die gesetzliche Entschädigung der Schöffen und Geschworenen nach dem Vorbild der 775 Franz Mehring, Aus dem sogenannten Rechtsstaate, in: Neue Zeit 12 / 1 (1893 / 94), S. 417 – 421, Zitat S. 417 f. 776 Vgl. Eugen Schiffer, Die soziale Gliederung der Gesellschaft und die Auswahl der Schöffen und Geschworenen, in: Soziale Praxis 7 (1897 / 98), S. 1065 – 1068, hier S. 1066. Um ein Beispiel zu nennen: In der ersten Quartalssitzung des Jahres 1896 wies das Leipziger Schwurgericht folgende Zusammensetzung auf: Kaufleute, Fabrikbesitzer, Bankiers: 20; Gutsbesitzer, Gutspächter u. ä.: 6; Gelehrte: 2; Universitäts-Förster: 1; Lohgerbermeister: 1 (Zahlen nach: Soziale Praxis 5, 1895 / 96, S. 525). 777 Schiffer, S. 1066. 778 Ebd., S. 1067.
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Beisitzer in den Schieds- und Gewerbegerichten. Wie Schiffers Beispiel zeigt, hatten sich die bürgerlichen Sozialreformer die sozialdemokratische Argumentation weitgehend zu eigen gemacht. Es blieb indes nicht bei publizistischen Appellen. In der Reichstagskommission, die 1898 über die GVG- / StPO-Novelle beriet, wurde von sozialdemokratischer und freisinniger Seite beantragt, Frauen zum Schöffen- und Geschworenenamt zuzulassen. Nachdem der erste Antrag mit 12 gegen 4 Stimmen gescheitert war, erklärte man die übrigen mit Zustimmung der Antragsteller für erledigt779. In Bayern standen Maßnahmen zur praktischen Erleichterung der Laientätigkeit ganz oben auf der Tagesordnung. Dabei ging es zunächst um die Forderung nach zusätzlichen Freifahrten für die Geschworenen zwischen dem Sitz des Schwurgerichts und ihrem Wohnort. Gemäß der Verordnung vom 29. 7. 1879, die die Vergütung der Reisekosten regelte, wurden nur die einmaligen Ausgaben für die Anund Abreise erstattet. Da die Dauer der schwurgerichtlichen Sessionen, wie bereits geschildert, erheblich zunahm und die Geschworenen überwiegend dem Mittelstand angehörten, gewährte die Verordnung vom 24. 6. 1896 eine weitere Heimfahrt auf Staatskosten, falls die Session länger als 14 Tage in Anspruch nahm. Zwei Jahre später stellte der Abgeordnete Sinzinger (Bauernbund) den Antrag, während der gesamten Tagungsdauer freie Bahnfahrten zu gestatten, zumindest aber die Kosten für weitere Zwischenfahrten im Sinne der 96er-Regelung zu übernehmen. Letzteres fand die Zustimmung der Volksvertretung, wurde von der Kammer der Reichsräte jedoch abgelehnt780. Dennoch verkürzte die Verordnung vom 20. 1. 1900 den Zeitraum für erstattungspflichtige Zwischenfahrten auf sieben Tage, wobei sich der Anspruch für jede weitere Sitzungswoche erneuerte781. Mit zwei von Vollmar (SPD) und Landmann (LV) eingebrachten Anträgen begannen im November 1899 dann die langwierigen, später auf Reichsebene fortgesetzten Auseinandersetzungen um die Entschädigung des Schöffen- und Geschworenendienstes in Form von Tagegeldern782. 2. Den breitesten Raum nahm – zusätzlich angefacht durch die Reforminitiativen der Jahre 1894 – 96 – die Kontroverse um die Berufung ein. Obwohl das Pro und Contra quer durch alle juristischen Lager ging, lassen sich gewisse Grundtendenzen erkennen: Während sich die Gegner der Berufung vorrangig aus den Reihen der Wissenschaft und des höheren Richterstandes rekrutierten, besaß die Forderung ihre stärksten Bataillone in den unteren und mittleren Richterrängen sowie in der Rechtsanwaltschaft, also denjenigen Kreisen, die mit dem Publikum in Vgl. Sten. Ber. RT 1897 / 98, Drks. Nr. 240, S. 2058 (Kommissionsbericht). Vgl. Verh. KdA 1897 / 98, 2. 5. 1898, Bd. 12, S. 384 – 387; Verh. KdR 1897 / 98, Bd. 16, Beil. 1140, S. 401. 781 JMBl, S. 297; Materialien dazu in: HStA, MJu 16980. 782 Die Anträge wurden am 17. 11. 1899 in der Abgeordnetenkammer beraten (vgl. HStA, MJu 16980). Zur Kritik an der sozialen Auslese: MNN v. 5. 10. 1895 („Die Auswahl der Schöffen und Geschworenen“), archiv. in: HStA, MJu 14358. 779 780
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engem Kontakt standen783. Nach wie vor konkurrierten ein rechtstechnisch-organisatorischer und ein populär-sozialpolitischer Standpunkt miteinander. Wirklich neue Argumente tauchten kaum mehr auf, umso schärfer prägten sich dafür die Positionen in ihren jeweiligen Konturen aus. Für die Gegner blieb das Argument ausschlaggebend, daß sich die Appellation nicht mit den Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit vereinbaren ließe. Da die Beweisaufnahme mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Tatgeschehen unsicherer und die zweite Instanz sich in hohem Maße an den Akten des Untergerichts orientieren würde, liefe die Berufung faktisch darauf hinaus, den schlechter informierten zweiten Richter über den besser informierten ersten zu setzen. Zudem sei keine befriedigende Lösung des Organisationsproblems erkennbar: Überweise man die Berufung an die Oberlandesgerichte, so wären – infolge der großen Ausdehnung vieler OLG-Bezirke – enorme Kosten und erhebliche Belastungen für alle Beteiligten die Folge, ginge die Berufung an eine andere Kammer desselben Landgerichts, so sei das kollegiale Verhältnis der Landrichter untereinander gefährdet. Anstelle der Berufung schlug man zahlreiche Einzelmaßnahmen zur Verbesserung des erstinstanzlichen Verfahrens vor, allesamt mit dem Ziel, die Garantien für den Rechtsschutz des Angeklagten zu verstärken (erhöhte Richterzahl, vermehrte obligatorische Verteidigung, gründlichere Prüfung der Anklageschrift, sorgfältigere Begründung des Eröffnungsbeschlusses, ausführlichere Belehrung des Angeschuldigten, zuverlässigere Protokollierung der Ergebnisse der Hauptverhandlung, bessere Urteilsmotivierung)784. Dem hielten die Anhänger der Berufung ein schlichtes, letztlich nicht zu widerlegendes „errare humanum est“ entgegen: „Aber eine einzige Instanz für die Tatfrage, und mag sie mit den denkbar besten Garantien umgeben sein, mögen die tüchtigsten Richter in ihr sitzen, ist und bleibt unzulänglich. Denn die Richter sind Menschen und als solche nicht unfehlbar. Menschliches Wissen und Denken bleibt dem Irrtum unterworfen“785. Ernst Beling, von dem vorstehendes Zitat stammt, 783 Siehe die Liste der publizierten Stellungnahmen bei Poppe, S. V – VII. Die Haltung der Anwaltschaft ist ausführlich dargelegt in einer an den preußischen Justizminister adressierten Petition der Anwaltskammer zu Königsberg vom 23. 12. 1890; die Standesvertretungen in Breslau, Berlin, Frankfurt / O., Naumburg, Köln, Jena und Kiel schlossen sich der Eingabe an (alle in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8333). 784 Wichtigste Stellungnahmen gegen die Berufung: Pfizer, Die Berufung in Strafsachen, Hamburg 1891; C. v. Bülow, Die Reform unserer Strafrechtspflege, Berlin 1893; Stenglein, Wider die Berufung, Berlin 1894; gegen Bülow: Carl Kade, Die Berufung in Strafkammersachen, Berlin 1893, S. 15 – 25 (LR Berlin); Samter, S. 6 – 25. 785 Ernst Beling, Die Wiedereinführung der Berufung in Strafsachen, Breslau 1894, S. 6. Der Bindingschüler Ernst Beling (1866 – 1932) war einer der renommiertesten deutschen Kriminalisten seiner Zeit. Seine akademische Karriere verlief über Breslau (1898), Gießen (1900) und Tübingen (1902) nach München (1913). In Forschung und Lehre behandelte er vor allem Themen des materiellen und formellen Strafrechts sowie der Rechtsphilosophie. Trotz Betonung der systematisch-formalen Seite des juristischen Denkens sah er in der Volksüberzeugung die letzte Rechtsquelle. Im sog. Schulenstreit einer der Wortführer der klassischen Richtung.
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wies ferner auf den hohen Prozentsatz schöffengerichtlicher Urteile hin, die in der Berufungsinstanz abgeändert würden (1881 – 1891: 38 – 41 %). Zudem kehrte er das Hauptargument des gegnerischen Lagers um: Mündlichkeit und freie Beweiswürdigung sprächen nicht gegen, sondern gerade für die Berufung, da das reformierte Verfahren weniger gründlich sei und der subjektiven Veranlagung des Richters größeren Spielraum gewähre, so daß sich die Gefahr richterlichen Irrtums erhöht hätte786. Einen ganz anderen Weg schlug Eugen Schiffer ein: Er erkannte die wissenschaftlichen Einwände uneingeschränkt an, ließ die juristisch-technische Argumentation aber völlig beiseite und hob das Problem auf die sozialpolitische Ebene: „Wer sich im Leben mittinnen bewegt, der weiß auch, daß der Mann aus dem Volke durchschnittlich nicht in der Lage ist, einer einigermaßen umfangreichen und verwickelten Gerichtsverhandlung vollständig zu folgen und seine Interessen auf der Stelle durch zweckdienliche Fragen und Anträge zu wahren; der weiß, daß Schüchternheit und Befangenheit vor dem Richter und der Öffentlichkeit, Furcht und Mißtrauen, Aufregung und Übereifer seine natürliche Ungelenktheit meist noch erhöhen und daß, wenn auch ein verständiger und nicht allzu sehr überlasteter Richter jene Affektzustände bis zu einem gewissen Grade zu bannen vermag, doch um dieses nun einmal nicht ganz zu beseitigenden Unvermögens willen all die schönen Rechtsbehelfe, die das Gesetz für ihn bereit hält, ohne großen Wert sind, weil er sie nicht kennt und, wenn sie ihm auch mitgeteilt werden, nicht versteht oder zum mindesten nicht rechtzeitig und am rechten Orte anzuwenden versteht“. Daraus folgere zwingend: „Die Berufung ist eine Konzession nicht an eine juristische Doktrin, sondern an eine soziale Tatsache“787. Indem er den Blick auf die (tendenzielle) Überforderung des ohne Rechtsbeistand vor Gericht stehenden Laien lenkte, gelangte Schiffer für das Strafverfahren zu demselben Befund, den Otto Bähr zehn Jahre zuvor für den Zivilprozeß dargelegt hatte. 3. Ständig neue Nahrung erhielt die Berufungsforderung durch die Prozeßwirklichkeit, die vor allem vom Problem der Überbürdung geprägt war – eine Tatsache, die, wie im Zusammenhang mit der Richterkritik bereits erwähnt, vornehmlich auf Preußen zutraf. Namentlich die städtischen Kollegialgerichte, aber auch die Staatsanwaltschaften litten unter unzureichender personeller Besetzung, zwangsläufige Folge war ein forcierter Arbeitsablauf. Stenglein sah hierin die eigentliche „Quelle des Verlangens nach Berufung“788. Der Zwang zur Eile zog sich wie ein roter Faden durch sämtliche Stadien des Prozesses. In praxi gestaltete sich das Verfahren etwa folgendermaßen789: Schon Vgl. Beling, S. 7 ff. Eugen Schiffer, Der neueste Entwurf zur Reform des Strafverfahrens, Kattowitz 1896, S. 23 / 24. 788 Stenglein, Berufung, S. 12; weiterhin dazu: Bülow, Reform, S. 22, 36, 52; Franz v. Liszt, Die Berufung in Strafsachen, in: Die Zukunft 5 (1893), S. 405 f.; Rewoldt, S. 381 f.; zum Überbürdungsproblem auch oben Kap. III. 786 787
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im Vorverfahren, häufig von den der Staatsanwaltschaft beigegebenen Assessoren betrieben, bildete eine rasche, meist wenig gründliche Vorgehensweise die Regel. Die Ermittlungen mündeten in eine Anklageschrift, die sich auf das Nötigste beschränkte und dem Angeklagten nicht immer genügend Klarheit über die ihm zur Last gelegten Vorwürfe verschaffte. Obwohl er aufgefordert wurde, binnen einer bestimmten (meist kurzbemessenen) Frist Beweisanträge zu stellen, kamen weitere Erhebungen vor der Hauptverhandlung nur in den seltensten Fällen vor. Der gerichtliche Eröffnungsbeschluß hatte seine selektive Funktion schon seit langem eingebüßt790. Bestärkt durch die Strafprozeßordnung, die den Schwerpunkt des Verfahrens in die mündliche Verhandlung gelegt hatte, konnten sich Staatsanwalt und Anklagekammer damit trösten, die volle Aufklärung der Sache solle ja ohnehin erst in der Hauptverhandlung erfolgen. Diese nun war bestimmt vom Bestreben des Vorsitzenden, das umfangreiche Pensum an Sachen, das für jede Sitzung anberaumt war, zu bewältigen. Infolgedessen geriet die Vernehmung der Zeugen oft ungebührlich knapp, und sobald der Angeklagte weitschweifig wurde, erging die Ermahnung, sich kurz zu fassen. Drohten seine Beweisanträge die Sache in die Länge zu ziehen, wurden sie – unter der formelhaften Begründung, die bezeichneten Tatsachen seien unerheblich, bereits als bewiesen anzusehen oder lediglich zum Zwecke der Verschleppung vorgebracht – nicht selten abgelehnt. Eine etwaige Revision konnte sich allein auf das Protokoll stützen, das, geführt von ungeübten Referendaren, mehr oder weniger unvollständig war. Den Schlußpunkt der wenig erfreulichen Prozedur bildeten eilig abgefaßte Urteile. Otto Mittelstädt konnte seine früheren Stoßseufzer nur wiederholen: „So viel mangelhaft vorbereitete, dürftig begründete, oberflächlich durchdachte Anklageschriften, wie sie mir täglich vor Augen kamen, waren früher unerhört. Die Strafkammern selbst, oft mit drei Assessoren als ständigen Hilfsrichtern besetzt, stets mit Sachen überlastet, boten mir in ihrer Tätigkeit einen stets fataleren Anblick: mindestens in der äußeren Form der Sitzungsprotokolle und Urteile zu viele Spuren einer schnell über die Dinge forthastenden Judikatur“791. Angesichts dieser Umstände verwundert es nicht, daß der Vorwurf weitverbreitet war, im Deutschen Reich werde zu viel angeklagt, eine Ansicht, die nachdrücklich etwa Justus Clemens vertrat. Immerhin endeten in den Jahren 1891 – 95 durchschnittlich 20 % aller Anklagen wegen Vergehen und Verbrechen gegen Reichsgesetze mit einem Freispruch, allerdings mit breiter Streuung zwischen den verschiedenen Gerichts789 Zur folgenden Prozeßskizze: Stenglein, Berufung, S. 14 ff.; Gotthelf Weiter (Anm. 793), S. 335 ff.; Bornhak, S. 79 ff. 790 In den Jahren 1891 bis 1895 wurden lediglich 4,4 % aller von der Staatsanwaltschaft erhobenen Klagen seitens der Beschlußkammer zurückgewiesen (vgl. Justus Clemens, S. 52). 791 Mittelstädt, Besprechung Bülow, S. 235; vgl. seine Bemerkungen aus dem Jahre 1882 (Berufung, S. 188 ff.). Ganz ähnlich Stenglein: „Oberflächliche Urteile, mangelhaft motiviert, von einem Referendar im voraus nach den Akten entworfen, nach der Sitzung durchkorrigiert wie eine Schülerarbeit, das sind die Resultate jener Luca fa presto Arbeit!“ (Berufung, S. 12 f.).
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typen (Schwurgerichte: 26 %; Schöffengerichte: 22 %; Strafkammern: 15 %). Dabei müsse man stets berücksichtigen, so Clemens, daß auch ein mit Freispruch endendes Verfahren für den Angeklagten mit vielfältigen Belastungen, Unannehmlichkeiten und Kosten verbunden sei792. Mit den Folgen des beschleunigten Geschäftsbetriebs für die Urteilsbildung setzte sich der bereits erwähnte Gotthelf Weiter auseinander, für den die finanzielle Minderausstattung des Justizwesens schlichtweg das „Grundübel unserer Strafrechtspflege“ darstellte. In der Praxis habe sich ein „Schnellverfahren“ herausgebildet, „das mit den Grundlagen des gesetzlichen Verfahrens im krassesten Widerspruch“ stehe793. Anstatt den betreffenden Sachverhalt erschöpfend aufzuklären und daraufhin ein sachgerechtes Urteil zu fällen, würden viele Richter – hier zitiert Weiter den publik gewordenen Ausspruch eines Vorsitzenden – ihre Aufgabe darin sehen, „die Ergebnisse der Hauptverhandlung mit der Anklage in möglichste Übereinstimmung zu bringen“. Mit anderen Worten: „Die Auffassung, mit der sich unsere Strafgerichte einer ihrer Aburteilung unterbreiteten Sache widmen, nimmt ihren Ausgangspunkt in der durch den Eröffnungsbeschluß gewissermaßen autorisierten Voraussetzung, daß der Angeklagte schuldig sei und die Hauptverhandlung bedeutet ihnen nicht viel anderes als eine formale Probe auf die Richtigkeit jenes ,Vorurteils‘“. Mithin zeichne sich das reale Verfahren durch einen „gemeingefährlichen Charakter“ aus und fördere die Verurteilung Unschuldiger, die in den meisten Fällen überhaupt nur durch Zufall ans Tageslicht käme. Darüber hinaus sei eine schablonenhaft-formalistische Behandlung der Sachen üblich geworden, der ganze Geschäftsbetrieb nähere sich immer mehr „dem Fabrikmäßigen“. Schließlich habe das verfehlte Verfahren zu einem „schon weit gediehenen Rückgange fachmännischer Intelligenz und Berufstüchtigkeit“ geführt, ganz abgesehen davon, daß es den Trieb zu wissenschaftlicher Fortbildung ersticke – hier ging die Prozeßkritik unvermittelt in Richterkritik über794. Besserung versprach sich der Autor nicht von einer wiederbelebten Berufung, sondern einer adäquaten Stellenvermehrung. Parallel dazu müßte der Justizminister in einer Rundverfügung zentrale Verfahrensgrundsätze wie umfassende Beweiserhebung, sorgfältige Beweiswürdigung und uneingeschränkte Verteidigung neu einschärfen795. Mochte der Autor, um der größeren Deutlichkeit willen, die Verhältnisse auch überscharf beleuchten, so ließ sich schlechterdings doch kaum bestreiten, daß das Verfahren, wie es sich in der Gerichtswirklichkeit herausgebildet hatte, für den Angeklagten erhebliche Risiken in sich barg. Das forcierte Prozedere setzte die Kautelen, die die Strafprozeßordnung zu seinen Gunsten ersonnen hatte, weitgehend 792 Vgl. Justus Clemens, S. 41 ff.; ähnlich Bornhak, S. 79 ff. Die Gesamtzahl der Anklagen in besagtem Zeitraum belief sich durchschnittlich auf 641.415 pro Jahr. 793 Gotthelf Weiter, Das Grundübel unserer Strafrechtspflege, in: PJ 86 (1896), S. 320 – 358, hier S. 335. 794 Zitate ebd., S. 345, 349, 348, 344. 795 Ein ausformulierter Vorschlag findet sich ebd., S. 353 – 355.
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außer Kraft, so daß die Gefahr von unbegründeten Anklagen und Fehlurteilen erheblich gewachsen war. 4. Ungeachtet des beschleunigten Geschäftsbetriebs mehrten sich in der Öffentlichkeit die Klagen über die lange Dauer der Strafverfahren796. Der scheinbare Widerspruch ist leicht zu erklären: Keine noch so forcierte Sachbearbeitung konnte die strukurell bedingte Prozeßverzögerung ausgleichen, die zum einen in der Unterbesetzung der Gerichte, zum anderen in dem komplizierten und langwierigen Verfahrensgang begründet lag. Die Statistik bestätigte die Kritik vollauf: So dauerte eine gewöhnliche Schöffengerichtssache, die in die Berufung ging und in beiden Instanzen nur je eine Vertagung erforderlich machte, allein von der ersten bis zur letzten Hauptverhandlung, also ohne das Vorverfahren, wenigstens sechs Monate. Wurde das Urteil zusätzlich mit Revision angefochten, vom Revisionsgericht an die frühere Instanz zurückverwiesen und dort nur einmal vertagt, zog sich das Verfahren mindestens um weitere sechs Monate in die Länge797. An verantwortlicher Stelle wurde die Kritik durchaus ernst genommen, rührte sie doch an den Grundfesten des staatlichen Strafanspruchs. Dies erklärt die wiederholten, stets mit großer Eindringlichkeit formulierten Ermahnungen der preußischen Justizverwaltung, Strafsachen tunlichst rasch zu erledigen. In einer diesbezüglichen Anweisung Schellings vom Dezember 1891 hieß es: „Die Strafe ist umso wirksamer, je schneller sie der Tat folgt. Aber auch das allgemeine Vertrauen in die Kraft der Rechtspflege sowie die mittels der letzteren bezweckte Abschrekkung Dritter vor Gesetzwidrigkeiten wird zu einem großen Teile durch die Schnelligkeit bedingt“798. Bereits zwei Jahre später folgte eine Bekräftigung799. Auch Schönstedt wandte sich dem Problem gleich nach seinem Amtsantritt zu. In einer Verfügung vom 14. 12. 1894, die, um des größeren Nachdrucks willen, im Ministerialblatt publiziert wurde und an sämtliche Justizbehörden adressiert war, aber auch der wenige Tage zuvor in den Reichstag eingebrachten Strafprozeßnovelle Nachdruck verleihen sollte, betonte der neue Justizminister, daß es „die Aufrechterhaltung der staatlichen Autorität, das Interesse aller Beteiligten und der Strafzweck“ gebiete, jede Strafsache mehr oder weniger als Eilsache zu behandeln. Namentlich seien die Ermittlungen des Vorverfahrens zu effektivieren und auf das Nötigste zu beschränken sowie in allen Verfahrensabschnitten nahe Termine und kurze Fristen anzustreben800. Eine Rundverfügung vom gleichen Tage schärfte die strenge Überwachung der bezeichneten Gesichtspunkte ein und bot im Falle einer momentan ungünstigen Geschäftslage vorübergehend personelle Aushilfe an. Ab796 Dazu: Damme, Verzögerungen und Beschleunigungen im deutschen Strafprozeß, in: PJ 76 (1894), S. 259 – 280, hier S. 259 f. (der Autor war StA). 797 Angaben nach Damme, S. 261 ff. 798 AV an die OLG-Präs. und Oberstaatsanwälte v. 12. 12. 1891, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 61 f., Zitat Bl. 61. 799 AV an die OLG-Präs. und Oberstaatsanwälte v. 20. 12. 1893, in: ebd., Bl. 63 f. 800 AV an sämtliche Justizbehörden v. 14. 12. 1894, in: JMBl, S. 340 f., Zitat S. 340.
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schließend richtete Schönstedt an die OLG-Präsidenten die Bitte, bei Auswahl der Strafrichter dafür Sorge zu tragen, daß „die Wahl tunlichst auf energische, arbeitsrüstige und einer praktischen Auffassung der Rechtsübung zugewandte Persönlichkeiten gelenkt wird“801. Wie die Bemerkung erkennen läßt, hatte sich an der standesinternen Geringschätzung und Unbeliebtheit der strafrichterlichen Tätigkeit wenig geändert – ein Problem, das auch in der Publizistik immer wieder thematisiert wurde802. Die Serie an Verfügungen macht das Dilemma sichtbar, in dem die preußische Justizverwaltung steckte: Solange eine adäquate Stellenvermehrung politisch nicht durchsetzbar war, ließ sich der Prozeßverzögerung nur mit Appellen zu größerer Eile begegnen. Dadurch verstärkte sich die ohnehin schon eingetretene Tendenz zur Beschleunigung noch mehr, mit allen Konsequenzen für eine gründliche Tatsachenerforschung und gerechte Urteilsfindung. Anstatt das Übel an der Wurzel zu packen, produzierte die Politik auf diese Weise das Material für immer neue Beschwerden über die Arbeit der Gerichte. Für Gotthelf Weiter spiegelten die Verfügungen geradezu das „justizpolitische Programm“ der preußischen Verwaltung wider: „Vor allem prompte Erledigung der Strafsachen, das Wie der Erledigung kommt – mit dem Vorbehalt eines angemessenen Verhältnisses zwischen Verurteilungen und Freisprechungen – erst in zweiter Linie in Betracht“803. 5. Daß die Staatsanwaltschaft weiterhin im Kreuzfeuer der Kritik stand, versteht sich fast von selbst. Die Abneigung gegen das Institut wuchs gleichsam proportional zum Anstieg der politischen Prozesse. Alle Reformvorschläge zielten darauf ab, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Strafrechtspflege zu stärken. Daneben galt es, den „berufsmäßigen Anklageeifer der Staatsanwaltschaft“ (Justus Clemens) einzudämmen804. Nicht wenige Stimmen sprachen sich für die gänzliche Beseitigung des Instituts und eine Übertragung der staatsanwaltschaftlichen Funktionen auf Mitglieder des Gerichts aus, selbstverständlich ohne Abstriche an den richterlichen Schutzrechten. Praktisch lief der Gedanke auf eine Rückkehr zu partikularstaatlichen Regelungen aus der Zeit vor 1879 hinaus. Ersichtlich spielte dabei auch der Wunsch eine Rolle, Stellung und Ansehen der Gerichte zu erhöhen805. Die moderatere Position wollte die politische Abhängigkeit von der Regierung beseitigen und die Staatsanwaltschaft als selbständige Behörde organisieren, ein Konzept, das der Weimarer Land801 RV an die OLG-Präs. und Oberstaatsanwälte v. 14. 12. 1894, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 117 f., Zitat Bl. 118. 802 Vgl. Anon., Unsre [sic] Strafrechtspflege, in: Grenzboten 51 / 4 (1892), S. 100 – 103; daran anknüpfend: E. A., Zivil- und Strafrichter, in: Grenzboten 52 / 1 (1893), S. 272 – 277. 803 Gotthelf Weiter, S. 325. 804 Vgl. den Überblick bei Carsten, S. 77 – 88. 805 Zu nennen wären: Pfizer, Recht und Willkür im deutschen Strafprozeß, Hamburg 1888, S. 6 – 41, bes. S. 41; Hugo Meyer, Die Parteien im Strafprozeß, Erlangen 1889, S. 11 ff. (Prof. in Tübingen); Bornhak, S. 64 f., 79; Justus Clemens, S. 44 – 61, bes. S. 56.
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gerichtsrat Ortloff aus staatsrechtlicher Sicht ausführlich begründete806. Immer wieder tauchte auch der Vorschlag auf, zwischen Staatsanwaltschaft und Richteramt einen turnusmäßigen Wechsel vorzunehmen, wie dies in Bayern mit Erfolg praktiziert wurde807. Schließlich traten zahlreiche Autoren für ein striktes Legalitätsprinzip und die (weitere) Einschränkung des staatsanwaltschaftlichen Anklagemonopols durch Ausdehnung der Privatklage und / oder des Beschwerderechts ein. Im ganzen wird man Justus Clemens zustimmen müssen, der feststellte, die Staatsanwaltschaft bilde das „bête noire aller derjenigen, die sich für Reformen des Strafrechts interessieren“808. 6. Ansatzpunkt für die Kritik am Vorverfahren war die Tatsache, daß sich typische Elemente des alten Inquisitionsprozesses darin erhalten hatten, namentlich der geheime und schriftliche Charakter, die Stellung des Angeschuldigten und die widersprüchliche Rolle des Untersuchungsrichters, der Richter und Verfolger in einer Person war. Die Rechte des Beschuldigten resp. seines Verteidigers waren auf ein Minimum beschränkt, so daß viele Angeklagte erst durch die Anklageschrift volle Kenntnis über die gegen sie erhobenen Vorwürfe erhielten und weitgehend unvorbereitet in die Hauptverhandlung gingen. Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluß basierten auf den richterlichen Vernehmungsprotokollen, die in der Regel ohne Mitwirkung der Parteien zustandekamen. Die Akten des Vorverfahrens beeinflußten zudem die Hauptverhandlung, bildeten sie doch die Grundlage für die Prozeßleitung des Vorsitzenden. An ältere Überlegungen anknüpfend, setzte die Reformdiskussion Ende der 80er Jahre verstärkt ein und erreichte nach der Jahrhundertwende ihren Höhepunkt. Insbesondere die Deutsche Landesgruppe der IKV nahm sich des Themas an. Ungeachtet mancher Überschneidungen kristallisierten sich zwei Konzeptionen heraus, denen das Ziel gemeinsam war, das Vorverfahren deutlich aufzuwerten und zugleich zu vereinheitlichen, so daß die Untersuchungshandlungen möglichst in einer Hand lagen809. Ein Modell sah den Ausbau der gerichtlichen Voruntersuchung nach dem Vorbild der mündlich-kontradiktorischen Hauptverhandlung vor. Zu diesem Zweck sollten die Stellung des Untersuchungsrichters gehoben (Entscheidung über Eröffnung des Hauptverfahrens, evtl. Vertretung der Anklage in der Hauptverhandlung), die Rechte des Angeschuldigten verbessert (Mitwirkung bei der Beweisaufnahme im Sinne der Parteiöffentlichkeit, Beseitigung der Kollusionshaft, Vermehrung der Fälle der notwendigen Verteidigung) und die Befugnisse 806 Vgl. Hermann Ortloff, Staats- und Gesellschaftsvertretung im Strafverfahren, Tübingen 1892; ders., Beruf und Stellung der deutschen Staatsanwaltschaft im Rechtsstaate, in: Grünhut’s Zeitschrift 23 (1896), S. 477 – 544. 807 Vgl. etwa Numerius Negidius, S. 99 f.; Buehl, S. 115. 808 So Justus Clemens, S. 44. 809 Überblick über die Konzeptionen: Werner Rosenberg, Die Reform der Voruntersuchung, in: Mitt. d. IKV 11 (1904), S. 755 – 811 (StA in Straßburg); zur Diskussion: P. G. Krattinger, Die Strafverteidigung im Vorverfahren im deutschen, französischen und englischen Strafprozeß und ihre Reform, Bonn 1964, S. 220 – 231; weiterhin Linnemann, S. 59 ff.
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des Verteidigers erweitert werden (unbeschränkter mündlicher und schriftlicher Verkehr mit dem Angeschuldigten, uneingeschränkte Akteneinsicht, Indienstnahme polizeilicher und richterlicher Behörden). Das weiterreichende Modell zielte auf die Abschaffung der Voruntersuchung und ihre Ersetzung durch das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren. Unter Beibehaltung einzelner richterlicher Handlungen (Anordnung der Untersuchungshaft) sollten die Rechte des Staatsanwalts erheblich gestärkt werden (Unterstellung der Kriminalpolizei, persönliche Vernehmung des Beschuldigten und der Zeugen), für den Angeschuldigten und die Verteidigung galt das oben Gesagte810. Der Eröffnungsbeschluß sollte entweder ganz wegfallen, die Verantwortung für die Anklageerhebung mithin allein dem Staatsanwalt obliegen, oder die Entscheidung sollte von einem Richter nach mündlicher kontradiktorischer Schlußverhandlung (Vortermin) getroffen werden. Es fällt auf, daß das gängige Mißtrauen gegenüber der Staatsanwaltschaft in dieser Konzeption keine Rolle spielte811. Sämtliche Reformer waren sich einig, daß es allemal besser sei, die Garantien zur Ermittlung der materiellen Wahrheit am Anfang des Verfahrens zu erhöhen, als an seinem Ende eine kostspielige, prozeßverschleppende und in ihren Ergebnissen fragwürdige zweite Instanz zu installieren. 7. Die Diskussion um das Vorverfahren war eng verknüpft mit der Kritik an der Untersuchungshaft. Kernpunkte bildeten die leichtfertige und schematische Anwendung, die häufig überlange Dauer und der Vollzug des Zwangsmittels. Sowohl im preußischen Abgeordnetenhaus als auch im Reichstag kamen die Mißstände 1902 ausführlich zur Sprache812. Im Dezember des Jahres erließ Schönstedt eine Verfügung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. An die Beamten der 810 In der Praxis war dieser Weg bereits eingeschlagen worden. So hatte die sächsische Justizverwaltung per Dienstanweisung bestimmt: „Der Staatsanwalt hat grundsätzlich davon auszugehen, daß eine Voruntersuchung zu vermeiden, vielmehr der für die Erhebung der Klage und für die Hauptverhandlung erforderliche Beweisstoff von ihm selbst zu sammeln sei“ (zit. n. Rosenberg, S. 801). 811 Wichtige Beiträge: erstes Modell: Kronecker, Die Reformbedürftigkeit des Vorverfahrens im Strafprozesse, in: ZStW 7 (1887), S. 395 – 454; W. Kulemann, Die Reform der Voruntersuchung, in: Mitt. d. IKV 10 (1902), S. 546 – 602; W. Kahl, Zur Reform des Vorverfahrens, in: GA 53 (1906), S. 1 – 19; zweites Modell: A. v. Kries, Vorverfahren und Hauptverfahren, in: ZStW 9 (1889), S. 1 – 105; P. F. Aschrott, Das kontradiktorische Verfahren, in: Mitt. d. IKV 8 (1900), S. 237 – 242; E. Rosenfeld, Die Reform der Voruntersuchung, in: Mitt. d. IKV 10 (1902), S. 533 – 545; H. Heinemann, Gesetzentwurf betreffend die Reform der Voruntersuchung, in: Mitt. d. IKV 11 (1904), S. 659 – 715; K. v. Lilienthal, Die Reform des Vorverfahrens im Strafprozesse, in: DJZ 9 (1904), S. 1001 – 1008. 812 Die AH-Debatte fand am 20. 1. 1902 statt (Sten. Ber., S. 457 – 510). Ihr lag eine nationalliberale Interpellation zugrunde, die sich auf die irrtümliche Verhaftung eines Kaufmanns in Elberfeld am 2. 1. 1902 bezog („Fall Kulenkampff“). Der Reichstag beriet über das Thema am 22. 11. 1902 (Sten. Ber., S. 6523 – 6560). Den Anlaß bildete eine sozialdemokratische Interpellation, die das ungesetzliche Verhalten von Polizei und Gerichten rügte und die Vorlage eines Gesetzentwurfs über den Strafvollzug anmahnte; Sammlung von Presseausschnitten dazu in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8289. Weitere Äußerungen zum Thema: Lenzmann, Sten. Ber. RT, 18. 1. 1895, S. 411; Heine, ebd., 3. 2. 1904, S. 656.
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Staatsanwaltschaft erging die „dringende Aufforderung“, in jedem einzelnen Falle „sorgfältig zu erwägen“, ob die Voraussetzungen für die Untersuchungshaft vorlägen, und bei der Entscheidung „sich die große Tragweite eines Eingriffs in die persönliche Freiheit regelmäßig zu vergegenwärtigen“. Den Aufsichtsinstanzen wurde zur „ernsten Pflicht“ gemacht, die aufgestellten Grundsätze „unausgesetzt zu überwachen und gegen Überschreitungen mit nachdrücklichem Ernst, gegebenenfalls auf disziplinarischem Wege, einzuschreiten“813. So gut der Erlaß gemeint war, so waren ihm in der Praxis schon durch die Geschäftsüberlastung vieler preußischer Staatsanwaltschaften Grenzen gesetzt. Die in Fachkreisen entwickelten Reformvorschläge betrafen alle Aspekte des Problems, also die Voraussetzungen, die Anordnung, den Vollzug, die Aufhebung und die Anrechnung der Untersuchungshaft814. Das Entschädigungsgesetz von 1904 fand zwar nur auf einen Teil der Betroffenen Anwendung, dennoch hatte der Staat seither ein fiskalisches Interesse daran, die Fälle von unschuldig erlittener Untersuchungshaft in Grenzen zu halten. Obwohl frühzeitig angemahnt, sträubte sich insbesondere Preußen lange Zeit, statistische Erhebungen über den Gebrauch des Zwangsmittels vorzunehmen815. Erst im Zuge der Arbeiten an der neuen Strafprozeßordnung fanden für den Zeitraum vom 1. 1. bis 30. 6. 1908 reichsweite Ermittlungen statt816. Danach hatten, bezogen auf alle während dieser Zeit beendeten Strafsachen, 89.579 Personen im Reich Untersuchungshaft verbüßt, davon über die Hälfte (55,22 %) allein wegen einer Übertretung. Bei Verbrechen und Vergehen betrug die Haftdauer in 54,97 % der Fälle nicht mehr als vier Wochen, bei Übertretungen in 87,84 % der Fälle nicht mehr als zwei Wochen. Von den entsprechenden Angeklagten wurden in der erstgenannten Kategorie 87,18 %, in der letztgenannten 94,65 % verurteilt. Auch wenn Vergleichszahlen für frühere Jahre fehlen, wird man davon ausgehen dürfen, daß die Anwendung der Untersuchungshaft insgesamt rückläufig war, was der allgemeinen Tendenz der strafgerichtlichen Praxis nach der Jahrhundertwende, insbesondere bei politischen Sachen, entsprach.
AV v. 17. 12. 1902, zit. n. Schönstedt, Sten. Ber. AH, 30. 1. 1905, S. 9225 f. Überblick bei: Werner Rosenberg, Die Reform der Untersuchungshaft, in: ZStW 26 (1906), S. 339 – 404 (LG-Rat in Straßburg); weiterhin: A[lfred] Bozi, Reform der Untersuchungshaft, Breslau 1897; Siegfried Löwenstein, Die Opfer der Untersuchungshaft, in: Zeitgeist v. 7. 4. 1902 (Beiblatt zum „Berliner Tageblatt“; RA in Berlin). 815 Siehe dazu: Leonard Jacobi, Statistische Wünsche betreffend die Untersuchungshaft und irrthümliche Strafverfolgungen, in: GerS 35 (1883), S. 182 – 190. Der Aufsatz war einer Denkschrift entnommen, die Jacobi am 15. 9. 1882 an Justizminister Friedberg gesandt hatte. 816 Die Ergebnisse finden sich im Bericht der 7. Kommission v. 18. 1. 1911, Anl. A, Übers. I und II (inklusive Denkschrift; Sten. Ber. RT 1909 / 11, Drks. Nr. 638). Bei Übersendung der Zahlen an Beseler meinte Nieberding, das „Bild wird im allgemeinen nicht als ungünstig bezeichnet werden können. Insbesondere findet die weitverbreitete Meinung, daß von der Verhängung der Untersuchungshaft ein übermäßiger Gebrauch gemacht werde, in diesen Ziffern kaum eine genügende Stütze“ (Nieberding an Beseler, 21. 12. 1908, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8345). 813 814
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b) Die Strafprozeßnovellen von 1894 und 1895 Der konzentrische Angriff auf die Strafrechtspflege, der von der Presse, der regen fachinternen Diskussion und einer nicht abreißenden Kette von Reichstagsanträgen ausging, forderte eine Reaktion der politisch verantwortlichen Stellen geradezu heraus817. Dabei lag es nahe, den 1885 gescheiterten Versuch einer Teilrevision der Strafprozeßordnung wieder aufzugreifen. Die daraus resultierende Reforminitiative erstreckte sich über viereinhalb Jahre und besaß in der Berufungsfrage ihren Dreh- und Angelpunkt. Die Initiative ging vom preußischen Justizminister Schelling aus, der die öffentliche Stimmung zum Anlaß nahm, auf sein altes Berufungsprojekt zurückzukommen, wenn auch nicht auf direktem Wege. In einem Votum an das Staatsministerium vom 17. 6. 1892, dessen allgemeine Lagebeschreibung viele Gravamina bestätigt, beschreibt er die „Schwächung und Verzögerung der strafrechtlichen Repression“ als Hauptmangel des bestehenden Verfahrens818. Zum Teil lägen die Mißstände in fehlendem Personal und Arbeitsüberbürdung begründet, zum Teil ließen sie sich „auf eine sich unter den Richtern hin und wieder geltend machende Neigung zu formalistischer Geschäftsbehandlung“ zurückführen, „eine Neigung, welche zu einer den Bedürfnissen des wirklichen Lebens entfremdeten Auslegung der Gesetze führt und durch das Auffinden unbegründeter Schwierigkeiten die Prozesse verlängert und verwickelt“. Dieser Geist zeige sich auch in den Entscheidungen des Reichsgerichts, das nicht selten Urteile aus untergeordneten formellen Gesichtspunkten aufheben würde819. Hauptschuld aber träfe die Strafprozeßordnung selbst mit ihren vielfältigen Rechtsbehelfen zugunsten des Angeklagten und ihrem verwickelten Verfahrensgang. Zudem sei der Justizverwaltung „die Einwirkung auf die Ausübung des Richteramtes“ fast völlig entzogen, und schließlich habe die Freigabe der Advokatur zahlreiche Elemente in den Stand eindringen lassen, „welche ihren Beruf nicht in dem richtigen Sinne auffassen“820. Mit Hilfe der Berufung könne man sich der Garantien der ersten Instanz entledigen, die „eine unerwünschte Beschwerung und Verlangsamung der zahlreichen Strafsachen, in welchen die Schuld von vornherein zu Tage liegt, herbeiführen und in den wirklich zweifelhaften Sachen keine Sicherung gegen eine Oberflächlichkeit oder mangelnde Einsicht in der Beurteilung des ersten Richters gewähren“821. Als weitere Maßregeln schlägt das Votum vor, das beschleunigte Verfahren bei evidenten Rechtsverstößen (délits flagrants) zu erweitern, das Ladungs- und Zustellungs817 Vgl. die Liste der parlamentarischen Vorstöße zur Berufungs- und Entschädigungsfrage seit Ende der 80er Jahre bei Bolder, S. 33, Anm. 23 und S. 39, Anm. 38. 818 Votum Schellings v. 17. 6. 1892, in: BA, R 3001, Nr. 5286, Bl. 67 – 74, Zitat Bl. 67. 819 Ebd., Bl. 68. Vieldeutig fügt Schelling hinzu: „Allein diese vielleicht durch den Geist der Reichsjustizgesetze selbst begünstigte Neigung ist nicht allgemein verbreitet, vielmehr scheint sich die Mehrzahl der Richter auch jetzt noch gegenwärtig zu halten, daß ihre wahre und edelste Aufgabe in der Verwirklichung des materiellen Rechtes besteht“. 820 Ebd., Bl. 69. 821 Ebd., Bl. 70.
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wesen zu vereinfachen, die prozessuale Revision einzuschränken, die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen zu erschweren, die gerichtliche Selbstverwaltung zu beseitigen und unschuldig Verurteilte zu entschädigen. Nachdem die übrigen Minister ihre Zustimmung zur Wiederaufnahme der Reformarbeiten erklärt und eine Reihe weiterer Desiderata vorgebracht hatten, erteilte das Staatsministerium am 22. 7. 1892 Schelling den Auftrag, einen entsprechenden Gesetzentwurf unter Beteiligung des Reichsjustizamts auszuarbeiten822. Der fertige Entwurf, der nebst Begründung dem Kabinett am 5. 12. 1892 zuging, sah vor, die Berufung an die Oberlandesgerichte (Berufungssenate mit fünf Richtern) zu leiten. Angesichts der Ausdehnung der preußischen OLG-Bezirke sollten an einzelnen Landgerichten zudem auswärtige (detachierte) Strafsenate, bestehend aus einem Senatspräsidenten und zwei Räten des Oberlandesgerichts sowie zwei Richtern des Landgerichts, eingerichtet werden, wobei der Umfang der Berufungsbezirke in etwa den Sprengeln der früheren Appellationsgerichte entsprechen sollte (§§ 123, 124 GVG). Weiterhin schlug der Entwurf vor: die Reduzierung der Strafkammern erster Instanz und der Berufungskammern auf drei Richter (§ 77 GVG); die Übertragung der Kammerbildung und Geschäftsverteilung bei den Kollegialgerichten auf die Justizverwaltung (§§ 61 ff. GVG); die Erweiterung der schöffengerichtlichen Zuständigkeit (§ 27 GVG); die Verminderung des schwurgerichtlichen Geschäftskreises (§ 73 GVG); die Beseitigung des Zwischenverfahrens (§ 199 StPO); die Festlegung des Umfangs der Beweisaufnahme durch das Gericht (§ 244 StPO); die Wiedereinführung des Resumés des Vorsitzenden in der schwurgerichtlichen Hauptverhandlung (§ 300 StPO); die Einführung eines abgekürzten Verfahrens (§ 211 StPO); die Ausdehnung des Kontumazialverfahrens (§§ 229 ff. StPO); Änderungen bei der Beeidigung (§§ 60 ff. StPO); die Einschränkung des Wiederaufnahmeverfahrens (§ 399 StPO); die reichsgesetzliche Regelung der Entschädigungsfrage. Der Überbürdung der Strafkammern trug der Entwurf insofern Rechnung, als diese erheblich mehr Delikte an die Schöffengerichte abgeben als sie von den Schwurgerichten übernehmen sollten. Wie im Entwurf von 1885 wurde die Aufhebung der kollegialgerichtlichen Selbstverwaltung mit den schlechten Erfahrungen bei der Kammerbesetzung begründet. Berufung und Entschädigungspflicht waren, wie Schelling in seinem Begleitschreiben ausdrücklich hervorhebt, in der zu erwartenden Auseinandersetzung mit dem Reichstag als Kompensationsobjekte gedacht823. In einer beigefügten Denkschrift über die finanziellen Auswirkungen der Reform, die möglichen Einwänden seitens des Finanzministers (Miquel) von vornherein die Spitze abbrechen sollte, versuchte Schelling nachzuweisen, daß eine Übertragung der Berufung an die Landgerichte höhere Kosten verursachen würde. 822 Prot. StM v. 22. 7. 1892 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8333, Bl. 151; dort auch die Voten der übrigen Ressortchefs. 823 Entwurf eines Gesetzes, betr. Aenderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung; Schreiben Schellings v. 5. 12. 1892, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8334, Bl. 256 – 315 und Bl. 234 – 239; letzteres auch in: BA, R 3001, Nr. 5286, Bl. 207 – 210.
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Ausgehend von 10.000 Berufungen pro Jahr sowie der Tatsache, daß beim OLGSystem zwar höhere Gebühren für Zeugen und Sachverständige (150.000 Mark), beim LG-System aber größere Personalkosten für Neuanstellungen anfallen würden, kam die Denkschrift zu dem Ergebnis, daß sich der jährliche Mehraufwand im ersten Fall auf 270.000 Mark, im zweiten hingegen auf 377.000 Mark beliefe824. Daraufhin entbrannte ein heftiger, mit zunehmend härteren Bandagen ausgetragener Streit zwischen Schelling und Miquel um die Organisations- und Kostenfrage, der sich das ganze Jahr 1893 über hinzog und das weitere Prozedere erheblich verzögerte. Der prinzipiell begründete Einspruch des Finanzministers zwang Schelling dazu, seine Hintergrundmotive offenzulegen, seine Berechnungen zu korrigieren und nach Kompromißlösungen zu suchen. Miquels Unnachgiebigkeit dürfte sich aus der Tatsache erklären, daß er, als ehemaliger Vorsitzender der Reichsjustizkommission für die Abschaffung der Berufung (gegen seine Überzeugung) in hohem Maße mitverantwortlich, sein früheres Versäumnis wiedergutmachen und sich deshalb partout nicht mit der zweitbesten Lösung zufriedengeben wollte. In einer Reihe von Voten legte Miquel seine Auffassung dar, daß die Berufungsinstanz an den Landgerichten installiert werden müsse, „wenn die Berufung nicht eine unverhältnismäßige Belastung der Staatskasse und eine unerträgliche Belästigung für die Bevölkerung zur Folge haben soll“825. Bei der Größe der preußischen OLG-Bezirke sei dies unweigerlich der Fall, wenn man der projektierten Lösung folgen würde. Zum Beleg verwies er auf den früheren preußischen Standpunkt und entsprechende Beschlüsse des Reichstags. Miquels Konzept zufolge sollte in der Regel jedes Landgericht über eine Berufungsstrafkammer verfügen, in Ausnahmefällen konnte auch für zwei benachbarte Landgerichte desselben OLG-Bezirks eine gemeinsame Berufungsinstanz gebildet werden. Damit standen sich in der Diskussion folgende Modelle gegenüber: auf der einen Seite 80 – 90 Berufungsstrafkammern (Preußen hatte 93 Landgerichte), auf der anderen 22 Berufungssenate (neben den 13 Oberlandesgerichten ging der Schellingsche Entwurf lediglich von 9 auswärtigen Strafsenaten aus). Als Besetzung erachtete Miquel drei Richter für völlig ausreichend, später erklärte er sich (mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung und den Reichstag) mit der hergebrachten Fünferzahl einverstanden. Den Vorsitz in der Berufungsstrafkammer sollte in jedem Fall der Landgerichtspräsident übernehmen. Zur Vermeidung unbegründeter („frivoler“) Berufungen und mit Blick auf die bekannte „Milde“ der Richter regte Miquel weiter an, das Berufungsgericht an die Strafzumessung der Vorinstanz zu binden, falls es nicht zu einer abweichenden Beurteilung der Schuldfrage gelangen sollte. Die vorgelegten Berechnungen, denen er sich „nicht entfernt anzuschließen“ vermochte, hielt er für viel 824 Denkschrift über die finanziellen Wirkungen des Gesetzentwurfs, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8334, Bl. 317 – 326; ebenso in: BA, R 3001, Nr. 5286, Bl. 197 – 204. 825 Votum an das Staatsministerium v. 2. 1. 1893, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8335, Bl. 35 – 44, Zitat Bl. 36; ebenso die Voten v. 2. 7. 1892, 2. 2. und 7. 2. 1893, in: ebd., Nr. 8333, Bl. 116 – 119 sowie Nr. 8335, Bl. 142 – 147, 148 – 150; zur Rolle Miquels, seit Juni 1890 preußischer Finanzminister, während des „Neuen Kurses“ Herzfeld, II, S. 287 ff.
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zu niedrig, unvollständig und auf falschen Grundlagen beruhend. Miquels Vorwurf, Schelling würde mit manipulierten Zahlen operieren, ist mit Händen zu greifen. Andererseits legte er Wert auf die Feststellung, daß seine Zustimmung zur Berufung nicht von finanziellen Erwägungen abhängig sei. Für ihren Kurswechsel müsse die preußische Regierung, so Miquel resümierend, zwingende Gründe geltend machen, „und solche vermisse ich überall“826. In seinem ausführlichen Gegenvotum betonte Schelling, daß die Berufung an ein höheres Gericht gehen müsse, um dem nachprüfenden Urteil die erforderliche Autorität zu verleihen (sog. Devolutiveffekt). Sein Entwurf ziehe die Lehren aus der gescheiterten Vorlage von 1885, die gezeigt habe, daß im Bundesrat allein die OLGLösung mehrheitsfähig sei. Dem Belästigungsargument konnte er mit Blick auf die modernen Verkehrsmittel kein allzu großes Gewicht beimessen827. Im Staatsministerium berief sich Schelling zudem auf inneradministrative Bedürfnisse. Da die Oberlandesgerichte der Strafrechtspflege weitgehend entfremdet seien (sie waren lediglich als Beschwerde- und Revisionsinstanz tätig), könnten Präsidenten und Justizverwaltung der ihnen obliegenden Aufsichtspflicht nicht hinreichend nachkommen. In Anbetracht der verhärteten Fronten beschränkte sich der Ministerrat auf den Beschluß, die Berufungsgerichte mit fünf Richtern zu besetzen. Im übrigen ordnete er kommissarische Beratungen zwischen dem Justiz- und dem Finanzministerium über den Kostenpunkt an, und schließlich sollten sich die OLG-Präsidenten und die Oberpräsidenten der Provinzen gutachtlich zur Organisationsfrage äußern828. Wie bei derartigen Umfragen üblich, konnte der Justizminister mit dem Ergebnis zufrieden sein. In diesem Fall kam noch hinzu, daß die Vorstände der Oberlandesgerichte gleichsam in eigener Sache votierten. Von den Befragten sprachen sich 9 OLG-Präsidenten, 11 Oberstaatsanwälte und 10 Oberpräsidenten für die Oberlandesgerichte als Berufungsinstanz aus. Lediglich 2 OLG-Präsidenten, 1 Oberstaatsanwalt und 1 Oberpräsident stimmten aus prinzipiellen Gründen für das Landgericht, während die übrigen (2 OLG-Präsidenten, 1 Oberstaatsanwalt und 1 Oberpräsident) zumindest für ihren Bezirk dem LG-System den Vorzug gaben. Schönstedt, damals OLG-Präsident in Celle, trat grundsätzlich für die landgerichtliche Lösung ein829. Zitate: Votum v. 2. 1. 1893, Bl. 40; Votum v. 2. 2. 1893, Bl. 146. Votum Schellings v. 18. 1. 1893, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8335, Bl. 105 – 124 (mit Organisationsplan für die Berufungssenate, Bl. 126 f.). 828 Vgl. Prot. StM v. 11. 2. 1893 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8335, Bl. 165 – 169. Landwirtschaftsminister Heyden, der das Miquelsche Modell unterstützte, meinte, die großen Entfernungen bis zum Sitz des Oberlandesgerichts „würde die Unzufriedenheit im Lande vermehren. Man sehne sich auf dem Lande noch heute nach den bequemer gelegenen Kreisgerichten zurück“ (Bl. 168). 829 Vgl. Votum Schellings v. 27. 10. 1893, in: BA, R 3001, Nr. 5287, Bl. 282 – 296, hier Bl. 282; auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8336; die Äußerungen der OLG-Präsidenten sind zusammengestellt im Schreiben an Miquel v. 22. 7. 1893, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8335, Bl. 340 ff.; die Berichte der Oberpräsidenten in: GStA, Rep. 77, Abt. I, Sekt. 28, Tit. 114, Nr. 309, Beiakte 1; Prot. StM v. 5. 12. 1896 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8338, Bl. 402 (Schönstedt). 826 827
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Die folgenden kommissarischen Beratungen über die Kostenfrage, an denen je zwei ranghohe Beamte der beteiligten Ministerien teilnahmen, fanden am 9. und 16. 10. 1893 statt830. Als Grundlage diente eine zweite Denkschrift Schellings, die dem Finanzminister bereits im Juli zugegangen war. Sie beruhte auf modifizierten Prämissen und gelangte zu anderen Ergebnissen: Nunmehr ging man von 11.000 Berufungen pro Jahr aus, das jährliche Pensum für eine Richterkraft war von 240 auf 210 Hauptverhandlungen herabgesetzt, und die Gesamtkosten fielen nicht nur wesentlich höher, sondern auch für beide Organisationsmodelle annähernd gleich aus (OLG-System: 545.916 Mark / LG-System: 553.523 Mark)831. Das korrigierte Zahlenwerk gab Miquel auf der ganzen Linie recht und stellte für den Justizminister eine schallende Ohrfeige dar. Aber auch die neuen Zahlen wurden von den Vertretern des Finanzministeriums als zu niedrig bemängelt, wobei sie eine detaillierte Gegenrechnung zunächst schuldig blieben. Gestärkt durch die eingegangenen Gutachten, aber auch um Gesichtswahrung bemüht, legte Schelling seine Karten jetzt endgültig auf den Tisch. In einem weiteren Votum vom 27. 10. 1893 führte er für die Wahl der Oberlandesgerichte zuallererst politische Gründe ins Feld, eine Argumentationslinie, die bislang nur zwischen den Zeilen angeklungen war832. Da gerade die politischen Delikte der Berufung unterlägen, müsse für eine hinlängliche Berücksichtigung der „staatlichen Interessen“ gesorgt werden, und dies umso mehr, „als in der neuesten Zeit politische und soziale Bestrebungen immer weiter um sich greifen, welche eine feste und einheitliche Handhabung der Strafrechtspflege doppelt erforderlich machen“. Dafür böten die Oberlandesgerichte die weitaus bessere Gewähr, amtierten in ihnen doch „erfahrenere und bewährtere Richter von weiterem Gesichtskreise“, während die Landrichter „eine solche höhere Qualifikation“ überhaupt nicht oder noch nicht besäßen. Ferner wäre nur an den Oberlandesgerichten die Bildung von Strafsenaten möglich, die sich ausschließlich mit Berufungssachen beschäftigen würden833. Schließlich sei zu berücksichtigen, daß an vielen Landgerichten die „eine größere kriminalistische Erfahrung erheischenden Berufungskammern“ mit Zivilrichtern besetzt werden müßten, was einer Strafrechtspflege, „bei welcher öffentlich-rechtliche Gesichtspunkte im Vordergrunde stehen“, Eintrag tue834. 830 Teilnehmer waren: Oberfinanzrat Heller und Finanzrat Belian für das Finanzministerium, Oberjustizrat Lucas und Justizrat Vierhaus für das Justizministerium; Protokoll der Beratungen in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8336. 831 Denkschrift, betr. die Organisation der Berufungsgerichte in Strafsachen und die durch Einführung der Berufung entstehende Belastung der Staatskasse v. 22. 7. 1893, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8335, Bl. 355 – 374, bes. Bl. 357, 358, 374; Votum Schellings v. 27. 10. 1893, Bl. 289 ff. 832 Im Ministerrat vom 11. 2. 1893 hatte Schelling noch reichlich sybillinisch von „auserlesenen Richtern“ gesprochen, die „freier von Vorurteilen“ seien (GStA, Rep. 84a, Nr. 8335, Bl. 165). 833 Votum Schellings v. 27. 10. 1893, Bl. 283 f. 834 Ebd., Bl. 286.
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Nimmt man die projektierte Abschaffung der gerichtlichen Selbstverwaltung hinzu, so wird der „Masterplan“ sichtbar, der Schelling vorschwebte: Die an die Oberlandesgerichte dirigierte Berufung war als Vehikel gedacht, eine streng gouvernemental ausgerichtete Strafrechtsprechung sicherzustellen, die von rund zwanzig Berufungssenaten mit sorgfältig ausgesuchten Richtern exekutiert werden sollte. Dabei wirkte der von seinem Vorgänger, aber auch seinem Nachfolger angemahnte Wechsel zwischen Zivil- und Strafrichtern nur störend835. Durch die Verknüpfung mit dem OLG-Gedanken hatte sich Schellings Berufungsprojekt, das von jeher primär politisch motiviert war, radikalisiert. Die Strafprozeßreform reiht sich nahtlos in seine sonstigen antisozialistischen Maßnahmen ein und sollte anfänglich als Kompensation für das weggefallene Sozialistengesetz, später als prozessuales Gegenstück zur Umsturzvorlage dienen. Daß Schelling mit seinen eigentlichen Absichten so lange hinter dem Berg hielt, dürfte sich mit der Politik des „Neuen Kurses“ erklären, deren Grundsatz ja darin bestand, sich zunächst auf den Boden des bestehenden Rechts zu stellen. Miquel, immerhin einer der Wortführer der bürgerlichen Sammlungspolitik, zeigte sich wenig beeindruckt. Um die divergierenden Interessen der Bundesstaaten unter einen Hut zu bringen, schlug er vor, die Berufung prinzipaliter den Landgerichten zuzuweisen, der Landesgesetzgebung jedoch freizustellen, die Oberlandesgerichte als Berufungsinstanz zu bestimmen. Angestoßen durch die kurz zuvor stattgehabten Debatten auf dem Augsburger Juristentag sowie die anschließenden Stellungnahmen in der Presse wies Miquel ferner auf die Notwendigkeit hin, der Frage einer einheitlichen Organisation der Strafgerichte erster Instanz näherzutreten, ein Gedanke, der offen auf die Durchführung der Schöffengerichtsverfassung anspielte836. In seiner Antwort wies Schelling, der in dem Miquelschen Vorstoß wohl nicht zu Unrecht einen weiteren Torpedierungsversuch sah, die Idee entschieden zurück. Nach wie vor fehle es in Preußen an einer ausreichenden Zahl geeigneter Schöffen, und die in Betracht kommenden Bevölkerungsschichten wären bereits stark von öffentlichen Aufgaben in Anspruch genommen. Das relativ problemlose Funktionieren der Schöffengerichte sei vornehmlich dem Umstand zu verdanken, daß sich die vorsitzenden Richter „einen ausschlaggebenden Einfluß“ bewahrt hätten. An eine Beseitigung der Schwurgerichte sei wegen des Widerstands der süddeutschen Staaten ohnehin kaum zu denken. Gegen eine Laienbeteiligung auf der mittleren Stufe – und hierauf legte Schelling das größte Gewicht – spräche die Tatsache, daß die Strafkammern über politische Delikte urteilten: „Die Entscheidung über Straffälle dieser Art Kollegien zu übertragen, in denen Laienrichter die Mehrheit bilden, wäre ein politisch schwerwiegender Schritt, dessen Bedeutsamkeit noch größer erscheinen muß, wenn man die wachsende Leidenschaftlichkeit des politischen Par835 Unter Berufung auf die bekannte Verfügung Friedbergs aus dem Jahre 1882 hatte sich Miquel bereits frühzeitig gegen den Schellingschen Vorschlag gewandt, die Berufungsgerichte mit „kriminalistisch geschulten“ Richtern zu besetzen (vgl. Votum v. 7. 2. 1893, Bl. 149). 836 Votum Miquels v. 13. 11. 1893, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8336, Bl. 207 – 209.
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teitreibens und die bedauerliche Zunahme von unterwühlenden Bestrebungen in der Bevölkerung ins Auge faßt“. Nach Lage der Dinge könne die Aburteilung der betreffenden Delikte „in manchen Bezirken durch örtliche Anschauungen und politische Stimmungen“ erheblich beeinträchtigt werden837. Daraufhin ließ Miquel seinen Gedanken fallen, womit die kurze Digression beendet war838. Da sich die Positionen in der Organisationsfrage weiterhin unversöhnlich gegenüberstanden, zeigte sich Schelling zu gewissen Zugeständnissen bereit. Seine neuen Vorschläge trug er dem Staatsministerium am 8. 12. 1893 zunächst mündlich vor, um sie einige Tage später, abermals modifiziert, in einem Votum näher auszuführen839. Zwar hielt Schelling prinzipiell an seinem Konzept fest, erklärte sich nunmehr aber damit einverstanden, daß über die Sitze der detachierten Strafsenate und die Abgrenzung ihrer Bezirke die Landesgesetzgebung bestimme. Damit gab die Justizverwaltung die Entscheidung über Zahl und Verteilung der landgerichtlichen Berufungsinstanzen aus der Hand, womit für Preußen faktisch ein gemischtes System in Aussicht genommen war. Weiterhin sollten die Beisitzer der auswärtigen Strafsenate regelmäßig dem Kreis der Landrichter entnommen werden, nur zum Vorsitzenden sei ein Mitglied des Oberlandesgerichts zu berufen. Um die Kosten des Berufungsverfahrens zu senken, schlug Schelling schließlich vor, die Entscheidung darüber, ob eine abermalige Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen stattfinden oder aber auf das Protokoll der ersten Instanz zurückgegriffen werden solle, dem jeweiligen Ermessen des Berufungsrichters zu überlassen. Die damit angeregte Erweiterung des § 366 StPO, der das Verlesen erstinstanzlicher Protokolle an enge Voraussetzungen band, schränkte das Mündlichkeitsprinzip für die zweite Instanz erheblich ein. Erst jetzt, nach einjährigem Ringen, ließen sich die Gegensätze mehr schlecht als recht überbrücken. Miquel erklärte, die neuen Vorschläge würden seine Bedenken erheblich abschwächen, forderte aber eine Übersicht über die Orte, an denen auswärtige Strafsenate eingerichtet werden sollten. Das Tableau, das Schelling dem Staatsministerium Anfang Januar 1894 vorlegte, ging mit seinen zehn Gerichtssitzen zwar kaum über die ursprünglich ins Auge gefaßte Zahl hinaus, doch meinte Ministerpräsident Eulenburg beschwichtigend, daß sich in der Praxis eine größere Anzahl ergeben werde. Der langen Auseinandersetzung spürbar überdrüssig, beschloß die Ministerrunde daraufhin, die geänderte Vorlage mit dem Gesetzentwurf zur Entschädigung unschuldig Verurteilter, der zwischenzeitlich im Reichsjustizamt erarbeitet worden war, zu vereinigen und als Präsidialvorlage beim Bundesrat einzubringen840. Votum Schellings v. 1. 12. 1893, in: ebd., Bl. 218 – 221, Zitate Bl. 219, 221. Votum Miquels v. 6. 12. 1893, in: ebd., Bl. 224. 839 Prot. StM v. 8. 12. 1893 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8336, Bl. 226 – 232; Votum Schellings v. 12. 12. 1893, in: ebd., Bl. 254 – 258. 840 Votum Miquels v. 28. 12. 1893, in: ebd., Bl. 263; Prot. StM v. 2. 1. 1894 (Auszug), in: ebd., Bl. 269 – 271. 837 838
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Überblickt man den innerpreußischen Diskussionsprozeß, so überrascht die fast ausschließliche Fokussierung auf die Organisationsfrage. Die alternative Konzeption, eine erweiterte Laienbeteiligung, kam nur ganz am Rande zur Sprache. Über einen nicht minder problematischen Aspekt, die Aufhebung der gerichtlichen Selbstverwaltung, fand praktisch überhaupt keine Erörterung statt. Da man davon ausgehen muß, daß sich die Minister über die Reaktion des Reichstags keine Illusionen machten, bestand offenbar eine Art stillschweigendes Einverständnis, den Vorschlag als kompensatorisches Faustpfand zu verwenden. Vielleicht hoffte man auch, zumindest einen Teilerfolg erzielen zu können841. Aufs Ganze gesehen trug der Schellingsche Entwurf ein Janusgesicht, das er fortan nicht mehr verlieren sollte: Er erfüllte populäre Forderungen, verlangte dafür aber einen hohen Preis. Zudem verbarg er seine politischen Absichten nur schlecht. Nachdem der Entwurf am 15. 1. 1894 dem Bundesrat zugegangen war, legte Leonrod in einer ausführlichen Note den Standpunkt der bayerischen Justizverwaltung dar842. Aus bayerischer Sicht bestünde zwar nach wie vor kein Bedürfnis nach Einführung der Berufung, angesichts der öffentlichen Meinung, „wohl weniger durch die in Bayern als anderwärts, insbesondere in Preußen, gemachten Erfahrungen geleitet“, könne man sich der Reform aber nicht länger widersetzen. Nur am Rande findet die Tatsache Erwähnung, daß die Zahl der Berufungsfreunde auch in der Abgeordnetenkammer ständig gewachsen war, namentlich in den Reihen des Zentrums und der Liberalen Vereinigung843. Allerdings spricht sich der Minister dafür aus, die Entscheidung über etwaige auswärtige Strafsenate allein der Landesjustizverwaltung vorzubehalten und den § 366 StPO in seiner alten Fassung wiederherzustellen, da die Entscheidung nach Aktenlage ansonsten zur Regel werden würde. Mit einer partiellen Entlastung der Schwurgerichte erklärt sich Leonrod einverstanden, zumal Bayern 1885 ähnliche Änderungen angeregt habe. In ausführlicher Darstellung wendet er sich dann gegen die Erweiterung der schöffengerichtlichen Zuständigkeit, die im vorgesehenen Umfang zu einer „erheblichen Verschlechterung der Strafrechtspflege“ führen müsse. Mit Recht sieht er preußische Partikularinteressen am Werk: „Die in so weit gehendem Maße geplante Entlastung der Strafkammern scheint auf preußische Verhältnisse, insbesondere auf die ungenügende Zahl der Landgerichte und auf Rücksichten der Kostenersparung bemessen zu sein“. Leonrods entschiedener Einspruch dürfte aber auch von der Sorge diktiert gewesen sein, die erhebliche Statusverbesserung des Schöffengerichts könne den ersten Schritt zur Abschaffung des Schwurgerichts darstellen. 841 Vgl. die Diskussion über die §§ 61 – 65 GVG im JA des BR (Bericht Hellers v. 27. 4. 1894, in: HStA, MJu 13121). 842 BR, Session 1894, Drks. Nr. 4; Schreiben Leonrods an Crailsheim, 30. 1. 1894, in: HStA, MJu 13121 (dort alle folgenden Zitate). 843 Etwa: Wagner (LV), Verh. KdA 1889 / 90, Bd. 5, S. 50 und ebd. 1891 / 92, Bd. 8, S. 349; Beckh (K), ebd. 1889 / 90, Bd. 5, S. 53 und ebd. 1891 / 92, Bd. 8, S. 350; Walter (Z), ebd. 1891 / 92, Bd. 8, S. 355; Orterer (Z), ebd. 1893 / 94, Bd. 3, S. 720; Kuby (LV), ebd. 1893 / 94, Bd. 3, S. 745; Lerno (Z), ebd. 1895 / 96, Bd. 6, S. 888.
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Im Gegensatz zur bayerischen Position des Jahres 1885 möchte er die gerichtliche Selbstverwaltung beibehalten, da „die Einrichtung des Präsidiums nach mancherlei Richtung doch auch Vorteile bietet und nicht allenthalben, insbesondere nicht in Bayern, so tiefgehende Mißstände hervorgebracht hat“, wie sie der Entwurf voraussetze. Zudem dürften sich die Bedenken des Reichstags, die geplante Kompetenzübertragung gefährde die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, durch „bloße Negation derartiger Tendenzen“ kaum zerstreuen lassen. Substantielle Ergänzungen schlägt Leonrod nicht vor. Gespiegelt im preußischen Entwurf, treten die größere Intaktheit der bayerischen Strafrechtspflege und die stärkere Liberalität des leitenden Ministers deutlich hervor. Für Leonrod ging es eher darum, von Preußen ausgehende Verschlechterungen abzuwehren als eigene Verbesserungen anzustreben – im Grunde hielt er die Strafprozeßnovelle für überflüssig. Im Justizausschuß des Bundesrats wurde der Entwurf in erster Lesung in vier Sitzungen durchberaten (24. – 30. 4. 1894), die zweite Lesung erfolgte in einer Sitzung (12. 6. 1894). Bei der ersten Zusammenkunft, die der allgemeinen Aussprache über die Berufungsfrage vorbehalten war, traten die divergierenden Standpunkte, aber auch die konkurrierenden Reformkonzepte deutlich hervor. Der Geheime Rat Held, der die ablehnende Haltung Sachsens begründete, zeichnete ein Bild von der sächsischen Strafrechtspflege, das aufs schärfste von den in Preußen herrschenden Verhältnissen abstach. Offensichtlich waren die Turbulenzen innerhalb der sächsischen Strafjustiz, die Held neun Jahre zuvor veranlaßt hatten, sich mit einem Notruf an die Öffentlichkeit zu wenden, mittlerweile überwunden. Infolge der „sehr reichlich bemessenen Besetzung der Staatsanwaltschaften“ sei es in Sachsen möglich, die Anklage auch in Richtung auf die Verteidigung des Angeschuldigten „auf das allersorgfältigste“ vorzubereiten. In der Hauptverhandlung werde der Beweisaufnahme „die äußerste Gründlichkeit“ zugewandt. Selbst bei einfach gelagerten Fällen würden in einer Sitzung selten mehr als vier oder fünf Sachen verhandelt. In den Urteilsgründen werde die Tatfrage „sehr gründlich“ erörtert, „häufig vielleicht sogar mit zu großer Breite“. Von daher würde man die Berufung in Sachsen nicht vermissen. Stattdessen machte sich Held für die weitere Ausbildung des Schöffensystems stark. Zunächst strebe Sachsen die Einführung von Schöffen in den Strafkammern an, Fernziel sei die Beseitigung der Schwurgerichte844. Wie man sieht, hatte sich an der Haltung der sächsischen Regierung seit den Tagen von Schwarze nicht viel geändert. Allerdings stellte sich die simple Frage, warum Sachsen weiterhin als Vorkämpfer des Schöffensystems auftrat, wenn die strafgerichtlichen Verhältnisse so ideal waren, wie Held sie schilderte. Den Standpunkt der preußischen Regierung legte der Geheime Oberjustizrat Lucas, Vortragender Rat im Justizministerium, dar. Für die preußische Initiative seien nicht juristisch-theoretische Erwägungen, wie sie beim Kampf um die Reichsjustizgesetze im Vordergrund gestanden hätten, sondern rechts- und all844
Bl. 3.
Bericht Hellers über die Sitzung v. 24. 4. 1894, in: HStA, MJu 13121, sämtliche Zitate
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gemeinpolitische Gründe ausschlaggebend gewesen. Gegen die Schöffengerichtsverfassung, die Lucas immerhin als konsequenteste Lösung bezeichnet, werden die bekannten Gründe ins Feld geführt. Namentlich hätten die Strafkammern als „Rückgrat der Strafrechtspflege“ über die politischen Verbrechen und Vergehen zu urteilen. Das mangelnde Vertrauen der Bevölkerung zum Strafverfahren führte er auf drei Gründe zurück: die fehlende Berufung, die Gestaltung des Wiederaufnahmeverfahrens und die prozeßverzögernden Garantien erster Instanz. Irrtümliche Entscheidungen der Tatfrage kämen recht häufig vor, und Freisprechungen im wiederaufgenommenen Verfahren würden „in der Presse ausgebeutet, um die Bevölkerung zu beunruhigen und das Vertrauen zu den Gerichten zu erschüttern“. Zur Einschränkung des Wiederaufnahmeverfahrens und zur Straffung des Prozeßgangs sei die Berufung schlechthin unerläßlich845. Die Schwäche der Lucasschen Ausführungen, die von den realen preußischen Verhältnissen gänzlich abstrahierten, legte der badische Gesandte Jagemann offen. Mit Nachdruck sprach sich Jagemann gegen eine zweite Tatsacheninstanz aus, durch die die Rechtspflege eine „Verschlimmerung“ erleide. Seine Empfehlung, dem Bedürfnis nach Berufung anderweitig, und zwar „durch Verbesserung der Handhabung des Verfahrens, Hebung der Ausbildung der Richter und Vermehrung ihrer Zahl, auch durch bessere Besetzung der Strafkammern“, abzuhelfen, richtete sich unmißverständlich an die Adresse Preußens846. Der Hanseatische Gesandte Krüger schließlich erklärte, die Strafprozeßordnung müsse „von unten herauf“ und nicht von oben durch Einführung der Berufung verbessert werden847. Bei der Beratung kristallisierten sich deutlich drei Lager heraus: die grundsätzlichen Anhänger der Berufung (Preußen, Hessen), die pragmatisch orientierten Länder, deren Haltung im wesentlichen von der Rücksicht auf die Bedürfnisse Preußens diktiert war (Bayern, Württemberg) und die prinzipiellen Gegner des Instituts (Sachsen, Baden, Lübeck). Letztere traten zugleich für die Verallgemeinerung der Schöffenverfassung ein. Durch den Frontwechsel Bayerns und Württembergs war die Annahme des preußischen Entwurfs im Plenum des Bundesrats gesichert. Im ganzen fällt auf, daß die spezifischen Probleme der preußischen Strafjustiz in den anderen Justizministerien sehr genau beobachtet wurden. Was die Frage der gerichtlichen Selbstverwaltung anbelangte, so schlossen sich Sachsen, Württemberg, Baden und Lübeck den preußischen Vorschlägen an, obwohl man sich über deren weiteres Schicksal keine Illusionen machte. Nur Bayern und Hessen stimmten für die Beibehaltung der landgerichtlichen Präsidien848. Ansonsten konnte sich Bayern mit seinen Änderungswünschen im Justizausschuß weitgehend durchsetzen. So wurde die geplante Kompetenzerweiterung der SchöfZitate ebd., Bl. 5, 6. Zitate ebd., Bl. 8. 847 Ebd., Bl. 9. 848 Bericht Hellers über die Sitzung v. 25. 4. 1894, Bl. 5 und Bericht über die Sitzung v. 27. 4. 1894, Bl. 5 f., beide in: HStA, MJu 13121. 845 846
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fengerichte zu erheblichen Teilen zurückgenommen, die Entscheidung über die Errichtung detachierter Strafsenate wieder in die Hände der Landesjustizverwaltung gelegt (die Möglichkeit einer gesetzlichen Regelung blieb allerdings bestehen) und der § 366 StPO in seiner alten Fassung wiederhergestellt849. Substantielle Eingriffe hatte der Entwurf damit nicht erfahren. Nachdem der Ausschußantrag vom Staatsministerium gebilligt worden war, passierte der modifizierte Entwurf trotz weiterer Anträge das Plenum des Bundesrats in unveränderter Form (28. 6. 1894)850. Bayern, Hessen, die beiden Mecklenburg und Sachsen-Meiningen stimmten gegen die Aufhebung der gerichtlichen Selbstverwaltung. Bei der Schlußabstimmung votierten Sachsen, Baden, Oldenburg, die beiden Reuß und die Hansestädte gegen den Entwurf als ganzen. Held gab zu Protokoll, die sächsische Regierung vertrete die Ansicht, eine Verbesserung des Strafverfahrens sei „auf der Grundlage einer systematischen Durchführung der Schöffengerichte“ anzustreben, habe angesichts der Mehrheitsverhältnisse von einem entsprechenden Antrag aber abgesehen. Jagemann erklärte, die Berufung werde die Kosten der Strafrechtspflege erheblich vermehren und die an sie geknüpften Erwartungen nicht erfüllen. Die badische Regierung hätte, so fügte er hinzu, der Beiziehung des Laienelements zu den Strafkammern den Vorzug gegeben851. Anfang Dezember 1894 ging die Vorlage dem Reichstag zu, der zwischen dem 17. und 19. 1. 1895 die erste Lesung abhielt852. Beim Zentrum, den Linksliberalen, der SPD und den Polen löste der Entwurf ein verhalten skeptisches Echo aus, wobei insbesondere die Vorschriften über die Selbstverwaltung auf allgemeinen Widerspruch stießen. Zwar wurde die Initiative der Regierung allgemein begrüßt, vorherrschend war jedoch die Ansicht, daß die Vorlage einer gründlichen Umarbeitung bedürfe. Wie nicht anders zu erwarten, kamen bei der Beratung zahlreiche Mißstände und weitere Reformwünsche zur Sprache853. Schönstedt, erst kürzlich ins Amt gekommen, gab seine seither immer wieder zitierte Ansicht zu Protokoll, daß das Ansehen der Justiz in weiten Kreisen gesunken sei, und versprach Abhilfe, soweit dies in der Macht der Justizverwaltung stünde. Im übrigen machte er keinen Hehl daraus, daß er sich mit der Vorlage nicht in allen Punkten identifizieren könne854. Der Entwurf wurde einer 28köpfigen Kommission überwiesen, die in 849 Antrag des JA v. 12. 6. 1894 (Drks. Nr. 56); Votum Schellings v. 18. 6. 1894, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8336, Bl. 378 – 380. 850 Prot. StM v. 22. 6. 1894 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8336, Bl. 386; BR-Sitzung v. 28. 6. 1894, Prot. § 391; Bericht Hellers v. 29. 6. 1894, in: HStA, MJu 13121. 851 Vgl. den Bericht Hellers über die BR-Sitzung. 852 RT-Vorlage: Sten. Ber. RT 1894 / 95, Drks. Nr. 15; zum Problem der gerichtlichen Selbstverwaltung Ormond, S. 138 ff. 853 Siehe: Rintelen, Sten. Ber. RT, 17. 1. 1895, S. 394 – 400 (Erinnerung an den Fall Twesten); Lenzmann, ebd., 18. 1. 1895, S. 407 – 417 („marasmus criminalis“ in der Strafrechtspflege); Grillenberger, ebd., 19. 1. 1895, S. 435 – 441 (Verweis auf Fuchsmühl-Prozesse); v. Czarlinski, ebd., S. 450 (Polnisch als gleichberechtigte Gerichtssprache). 854 Schönstedt, Sten. Ber. RT, 18. 1. 1895, S. 417, 418.
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ausführlicher Beratung zahlreiche Abänderungen beschloß (38 Sitzungen vom 29. 1. – 28. 5. 1895). Wegen des Sessionsschlusses mußte sie ihre Arbeit noch vor Beendigung der ersten Lesung abbrechen855. In der Fachpublizistik löste der Entwurf – Bundesrats- und Reichstagsvorlage waren unverzüglich im Reichsanzeiger veröffentlicht worden – eine Flut von Kommentaren aus. Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, fiel die Beurteilung negativ, ja teilweise vernichtend aus. Anstoß erregten vor allem die Aufhebung der gerichtlichen Selbstverwaltung, die verfehlte Organisation der Berufungsinstanz und die Entrechtung des Angeklagten. Ganz allgemein bescheinigte man der Vorlage eine rückschrittliche Tendenz und bemängelte ihren stückwerkartigen Charakter856. Wiederholt wurde auf den Zusammenhang mit der Umsturzvorlage hingewiesen. Bar schloß seine überaus kritische Besprechung mit der Frage: „Was würde werden, wenn das Umsturzgesetz mit einer dem Entwurfe entsprechenden, nach Gefallen des Staatsanwalts gelegentlich im Prestissimo-Tempo arbeitenden Justiz in vollem Umfange eingeführt und ,schneidig‘ gehandhabt würde?“857 Schönstedt beließ es nicht bei leeren Versprechungen. Als sich die preußische Regierung im Herbst über das weitere Vorgehen schlüssig machen mußte, plädierte er mit einigem Nachdruck für die Wiedervorlage des Entwurfs. Dies entspräche nicht nur den Wünschen des Reichstags, sondern auch den Interessen der Regierung, die die Initiative behalten müsse, um die „nicht unerheblichen Kompensationen“ für Berufung und Entschädigung bewilligt zu bekommen858. Darüber hinaus setzte sich Schönstedt für eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen ein, und zwar unter der dreifachen Maßgabe, aussichtslose Vorschriften aufzugeben, den Beschlüssen der Reichstagskommission Rechnung zu tragen und eigene Ideen in den Entwurf aufzunehmen. Für aussichtslos und geradezu kontraproduktiv erachtete er den Versuch, die gerichtliche Selbstverwaltung zu beseitigen. Stattdessen sollte, um der Justizverwaltung zumindest einen gewissen Einfluß zu verschaffen, dem OLG-Präsidenten das Recht des Einspruchs gegen die Beschlüsse der landBerichte Hellers über die Kommissionssitzungen in: HStA, MJu 13122. Wichtigste Äußerungen: O. Mittelstädt, Die Rückbildung der deutschen Strafgerichtsordnung, in: PJ 76 (1894), S. 134 – 161; E. Schiffer, Die Verfassung der Kollegialgerichte und die Unabhängigkeit der Rechtspflege, in: PJ 78 (1894), S. 243 – 254; E. Mamroth, Die Gefahren der neuen Novelle zum Gerichtsverfassungs-Gesetz und zur Strafprozess-Ordnung, Breslau 1894 („Karikatur einer Berufung“; RA Breslau); Stenglein, Wider die Berufung, Berlin 1894; L. v. Bar, Die projektierte Aenderung des deutschen Strafprozesses, in: Nation 12 (1894 / 95), S. 236 – 243; K. Binding, Der Entwurf eines Gesetzes betreffend Aenderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung, Berlin 1895 („echtreaktionäre Grundströmung“); P. F. Aschrott, Die Reform des Strafverfahrens und der z. Z. vorliegende Gesetzesentwurf, Berlin 1895 (LR Berlin); vgl. auch Bolder, S. 96 ff. 857 Bar, S. 243. 858 Votum Schönstedts v. 2. 10. 1895, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8337, Bl. 165 – 170, Zitat Bl. 165. Vor Schluß der Session hatte Nieberding mit einer Reihe von Abgeordneten Verbindung aufgenommen, um die Stimmung des Reichstags zu eruieren. Dabei hatten sich Vertreter aller Parteien für eine Wiedervorlage des Entwurfs ausgesprochen; vgl. Prot. StM v. 16. 10. 1895 (Anm. 860), Bl. 175. Gute Kontakte besaß Nieberding vor allem zum Zentrum. 855 856
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gerichtlichen Präsidien zustehen; endgültig entscheiden sollte dann das OLG-Präsidium (§ 63a GVG). Des weiteren schlug Schönstedt vor, das Zwischenverfahren beizubehalten, das schwurgerichtliche Resumé wieder fallenzulassen, das freie Ermessen des Gerichts bezüglich des Umfangs der Beweisaufnahme einzuschränken und das Privatklageverfahren zu erweitern, um die Staatsanwaltschaft zu entlasten (§ 414 StPO). Schließlich hielt er es für geboten, einen von der Kommission aufgenommenen Zusatz zum § 7 StPO, der den Gerichtsstand bei Pressevergehen weitgehend an den Erscheinungsort der Druckschrift band, zu übernehmen. Die Chancen, sich auf diesem Wege das leidige Problem des „fliegenden“ Gerichtsstands vom Halse zu schaffen, standen insofern günstig, als die Fassung des neuen Absatzes von einer Subkommission gemeinsam mit Vertretern der Regierung erarbeitet worden war. Schönstedt verwies darauf, daß der gegenwärtige Rechtszustand „in einem gewissen Grade gegen die Billigkeit verstößt“ und entsprechende Anklagen „in der Regel mehr unliebsames Aufsehen und Angriffe in der Presse zur Folge haben, als sie Nutzen bringen“859. Insgesamt ist Schönstedts Votum von dem ehrlichen Bemühen geprägt, den Entwurf von allen Ambiguitäten und politischen Beimischungen zu befreien und dem Reichstag – im Rahmen des politisch Möglichen – ein akzeptables Angebot zu unterbreiten. Ganz so weit wollte das Staatsministerium indes nicht gehen. Zwar stimmte es der Wiedervorlage des Entwurfs zu, erteilte den Schönstedtschen Vorschlägen aber in einigen Punkten eine Absage860. Eine kontroverse Diskussion entspann sich über den Gerichtsstand der Presse. Während Schönstedt seinen Standpunkt tapfer verteidigte, meinte Miquel, die Presse sei mit der Zeit viel gefährlicher geworden. Nach der neuen Vorschrift würden sich die revolutionären Parteien das Gericht selbst aussuchen, und in einem Föderativstaat, von dem Preußen immerhin drei Fünftel ausmache, „könnten wir uns nicht von einem jeden Kleinstaate abhängig machen“. Boetticher, Vizepräsident des Staatsministeriums, sekundierte dem Finanzminister. Im Falle einer Mißstimmung gegen den Kaiser sei es keineswegs sicher, daß eine Majestätsbeleidigung vor einem bayerischen Gericht „eine objektive und den preußischen Interessen entsprechende Verurteilung“ fände. Demgegenüber wies Freiherr von Marschall, vormals Staatsanwalt im Badischen und nunmehr Staatssekretär des Auswärtigen Amts, auf die große Rechtsunsicherheit hin. Das Recht der Staatsanwälte, das Presseerzeugnis überall zu fassen, habe „etwas sehr Gehässiges“. Nieberding betrachtete die Frage vor allem unter taktischen Gesichtspunkten. Zwar beeinflusse der Umstand, daß Pressevergehen in Süddeutschland von Geschworenen, in Norddeutschland von Berufsrichtern abgeurteilt würden, die öffentliche Meinung „in so verstimmender Weise, daß dies geradezu ein politischer Faktor sei“, weshalb man dem Verlangen nach einer Neuregelung im Prinzip entgegenkommen müsse. Gegenwärtig aber sei es wenig ratsam, eine Konzession ohne Not aus der Hand zu geben, die sich „compensando“ verwerten 859 Votum Schönstedts v. 2. 10. 1895, Bl. 168; vgl. dazu auch den Bericht der XI. Kommission, in: Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 294, hier S. 1576 f. 860 Prot. StM v. 16. 10. 1895 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8337, Bl. 174 – 185.
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ließe861. Daraufhin sprach sich das Staatsministerium bei nur einer Gegenstimme gegen eine Änderung im jetzigen Stadium aus. Der Disput ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich: Er läßt den rechtlichpopulären und den machtpolitisch-etatistischen Standpunkt, die sich in der Frage gegenüberstanden, deutlich hervortreten. Darüber hinaus ist er ein Spiegelbild für die Unsicherheit der preußischen Regierung angesichts der wachsenden Macht der Presse. Da an eine Verschärfung des Presserechts nicht zu denken war, tat man sich schwer damit, die wenigen repressiven Handhaben aufzugeben, die das Gesetz noch bot. Aus diesem Grunde kam dem Problem des „fliegenden“ Gerichtsstands politisch eine Bedeutung zu, die über die geringe Zahl an Fällen weit hinausging. Weiterhin beschloß das Staatsministerium mit Stimmenmehrheit, das Zwischenverfahren zu streichen, obwohl Schönstedt betonte, daß viele Anklagen auf ungenügenden polizeilichen Ermittlungen beruhen würden, so daß der Staatsanwalt den Vorwurf in der Hauptverhandlung fallenlassen müsse. Aus derselben Erwägung, nämlich die bei Einführung der Berufung überflüssig werdenden Ersatzkautelen zu beseitigen, beharrte die Ministerrunde auf der ursprünglichen Fassung des § 244 StPO (Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme durch das Gericht). Angenommen wurden Schönstedts Vorschläge zur Kammerbildung, zum Resumé und zur Erweiterung der Privatklage. Im übrigen blieb der Dissens in der Kostenfrage bestehen. Mittlerweile hatte das Finanzministerium eigene Berechnungen angestellt, wonach sich die Mehrausgaben im Falle der OLG-Lösung pro Jahr auf über 5 Mill. Mark summieren würden862. Von daher beharrte Miquel auf seinem Widerspruch, ohne allerdings die erzielte Einigung wieder aufkündigen zu wollen. Schönstedt setzte die jährliche Mehrbelastung erheblich niedriger an, und zwar zwischen 600.000 und 800.000 Mark863. Die letztgenannten Zahlen dürften der Wirklichkeit näher gekommen sein, da die sächsische Regierung im Falle einer Einführung des Gesetzes von einem Mehraufwand von etwa 200.000 Mark ausging864. Der modifizierte Entwurf ging am 10. 11. 1895 dem Bundesrat zu, der ihn wenige Tage später an seinen Justizausschuß weiterleitete 865. In seiner Stellungnahme erteilte Leonrod der Vorlage im Namen Bayerns seine Zustimmung. Ernsthafte Bedenken erhob er gegen die beabsichtigte Ausdehnung des Privatklageverfahrens, insbesondere auf die Fälle der gefährlichen Körperverletzung (§ 223a StGB). Unter Rückgriff auf die bayerische Kriminalstatistik wies die Note nach, Zitate ebd., Bl. 178, 180, 179, 180. Angabe von Miquel ebd., Bl. 181; ebenso Schönstedt, Sten. Ber. RT, 11. 11. 1896, S. 3181. 863 Angabe von Lenzmann nach einer Mitteilung des preußischen Vertreters in der RTKommission (Sten. Ber. RT, 14. 12. 1896, S. 3910). 864 Angabe des sächsischen Bevollmächtigten Rüger in der RT-Sitzung v. 12. 11. 1896 (Sten. Ber., S. 3197). 865 BR, Session 1895, Drks. Nr. 109. 861 862
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daß sich die Zahl der Privatklagefälle in Bayern mehr als verdoppeln würde und fast die Hälfte aller Vergehen im Wege der Privatklage verfolgbar wäre. Da gerade die Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung überproportional stark angestiegen waren, befürchtete Leonrod einen nicht zu verantwortenden Rückgang der strafrechtlichen Repression. Im übrigen verwies er auf die hohen Kosten des Privatklageverfahrens866. Den Bundesrat passierte der Entwurf im Schnelldurchgang und ohne wesentliche Änderungen. Im Justizausschuß, der am 12. 12. 1894 tagte und der Vorlage nur eine Lesung widmete, waren die Fronten in der Berufungsfrage unverändert. Der Antrag Bayerns, den § 223a StGB von der Privatklage auszunehmen, fand nur die Unterstützung des württembergischen und des badischen Vertreters. In der Plenarsitzung, die noch am gleichen Tag stattfand, erneuerten Bayern und Württemberg den Antrag, wiederum ohne Erfolg. Daraufhin votierten beide Staaten gegen den ganzen § 414 StPO. Sachsen stimmte gegen die Berufung; Baden, die beiden Mecklenburg, Oldenburg und die beiden Reuß lehnten den gesamten Entwurf ab867. Nach Wiedervorlage im Reichstag (13. 12. 1895) und erster Lesung im Plenum (13. / 14. 1. 1896) ging der Entwurf an eine verkleinerte, nurmehr 21köpfige Kommission, die die vorjährigen Beschlüsse en bloc als Beschlüsse erster Lesung annahm. Ihre eigenen Beratungen erstreckten sich über 27 Sitzungen (23. 1. bis 20. 3. 1896)868. Zumeist schon in erster Lesung beschloß sie eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen, die dem doppelten Motiv entsprangen, prozessuale Rückschritte zu verhindern und eigene langgehegte Desiderata durchzusetzen. So wurde entschieden, als Mitglieder der Strafkammern nur fest angestellte Richter zuzulassen (§ 62 GVG), den neuen § 63a zu streichen, die Berufungskammern weiterhin mit fünf Richtern zu besetzen (außer bei Übertretungen und Privatklage; § 77 GVG), den „fliegenden“ Gerichtsstand weitgehend zu beseitigen (in 2. Lesung wiederhergestellt), den Zeugniszwang für die Presse aufzuheben (§ 55a StPO), das Zwischenverfahren beizubehalten, die Fälle der notwendigen Verteidigung zu erweitern (§§ 140, 211 StPO), den Umfang der Beweisaufnahme nur wenig einzuschränken und für die Beweisaufnahme im Berufungsverfahren volle Mündlichkeit vorzuschreiben (§§ 364, 366 StPO)869. Ein von linksliberaler Seite (Beckh, Munckel) gestellter Antrag, die Preßvergehen den Schwurgerichten zu überweisen, stieß zwar auf große Sympathien, wurde nach einer dezidierten Erklärung Nieberdings aber mit 13 gegen 5 Stimmen abgelehnt, da man nicht das Gesetz als Ganzes 866 Schreiben Leonrods an Crailsheim, 24. 11. 1895, in: HStA, MJu 13123; Abdruck des Zahlenmaterials auch im Bericht der XI. Kommission, Anlage D (Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 294, S. 1669). 867 BR-Sitzung v. 12. 12. 1895, Prot. § 695; Bericht Hellers über beide Sitzungen, in: HStA, MJu 13123. 868 Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 73 (RT-Vorlage) und Drks. Nr. 294 (Bericht der XI. Kommission v. 20. 4. 1896, mit Zusammenstellung der Paragraphen). 869 Bericht der XI. Kommission, S. 1566 ff.; Bolder, S. 86 ff.; zum Problem der Hilfsrichter Ormond, S. 144 f.
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gefährden wollte870. Um die Zahl der divergierenden Beschlüsse zu verringern, machte der Kommissionsvorsitzende Rintelen nach Abschluß der zweiten Lesung den Vorschlag, die für den Bundesrat „unannehmbaren“ Punkte einer nochmaligen Beratung zu unterziehen. Obwohl das preußische Staatsministerium die Erklärungen der Regierungsvertreter nur als persönliche Stellungnahme verstanden wissen wollte, konnten die sechs von Nieberding benannten Differenzpunkte in dritter Beratung (20. 3. 1896) auf zwei (§§ 62 und 63a) reduziert werden, wobei das Problem des § 7 StPO offen blieb. Bei der Schlußabstimmung wurde der geänderte Entwurf mit 15:4 Stimmen angenommen; die dissentierenden Voten stammten aus den Reihen der SPD und des Freisinns871. Zu diesem Zeitpunkt mochte es den Anschein haben, als befände sich die Vorlage auf einem guten Weg. Auch von der Fachwelt wurde sie freundlicher aufgenommen als der erste Entwurf872. Bei genauerem Hinsehen mußte indes auffallen, daß die Frage einer erweiterten Laienbeteiligung in der Kommission nur am Rande zur Sprache gekommen war. Von daher verwundert es nicht, daß das Zentrum nach Ende der Beratungen den Antrag stellte, die Strafkammern mit drei Richtern und zwei Schöffen zu besetzen. Darauf aufbauend, sollten die Berufungssenate an den Oberlandesgerichten aus 5 Richtern und 4 Schöffen bestehen873. Nieberding schwante nichts Gutes. Mit Bezug auf die Diskussionen im Zentrum wurde im September nach München gemeldet: „Herr Niederding hält es für falsch, das Laienelement in der Minderzahl zu lassen, und außerdem für unklug, weil er diese Schöffeneinrichtung als Basis für eine spätere Reform der Schwurgerichte haben möchte. Er fürchtet, daß, wenn darüber Schwierigkeiten entstehen sollten, wieder die Forderung nach Beibehaltung der 5 gelehrten Richter für die Strafkammern auftauchen und daran die ganze Sache scheitern wird“874. In der Tat zeigte sich bei der zweiten Lesung im Reichstag (November 1896), daß die kompromißbereite Haltung der Kommission nicht der Stimmung des Plenums entsprach. Es bestätigte nicht nur – z. T. mit gewissen Modifikationen – die Beschlüsse des Ausschusses, sondern überschritt die von diesem vorgezeichnete Linie deutlich. So wurde beschlossen, die Strafkammern auch in erster Instanz mit fünf Richtern zu besetzen, den auf Druck der Regierung wieder aufgenommenen Zeugniszwang für die Presse endgültig zu beseitigen, die Voruntersuchung auf Bericht der XI. Kommission, S. 1571 f. Prot. StM v. 9. 3. 1896 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8338, Bl. 76 – 78; Bericht Hellers über die Sitzung v. 20. 3. 1896, in: HStA, MJu 13123. 872 Siehe: E. Schiffer, Der neueste Entwurf zur Reform des Strafverfahrens, Kattowitz 1896; H. Seuffert, Die Strafprozeßnovelle, in: DJZ 1 (1896), S. 85 – 91. Die SPD-Publizistik konnte auch dem neuen Entwurf nichts abgewinnen: vgl. Fr. Mehring, Die Justiznovelle, in: Neue Zeit 15 / 1 (1896 / 97), S. 225 – 228 (auch in: Joseph, S. 208 – 214). 873 Antrag Rembold / Gröber, Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 417 (18. 5. 1896). Nicht zufällig dürfte der Antrag von württembergischen Abgeordneten ausgegangen sein, bestanden in Württemberg doch bis 1879 mittlere Schöffengerichte. 874 Bericht des Gesandten Guttenberg (Berlin) an den Staatsrat Freiherrn v. Mayer, 28. 9. 1896, in: HStA, MJu 13124. 870 871
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alle Verbrechen auszudehnen (§ 176 StPO) und das Wiederaufnahmeverfahren uneingeschränkt bestehen zu lassen875. Bei der Beratung der Kammerbesetzung, die sich mehr und mehr als Kardinalproblem herauskristallisierte, wurde deutlich, daß die Mehrheit nicht gewillt war, um der Berufung halber eine qualitative Verschlechterung der ersten Instanz in Kauf zu nehmen. Als Alternativen standen sich gegenüber: der von der Kommission übernommene Regierungsvorschlag (drei Richter), der erwähnte Zentrumsantrag (drei Richter, zwei Schöffen) und ein von den beiden freisinnigen Parteien eingebrachter Antrag, der es beim bestehenden Fünf-Männer-Kollegium belassen wollte (Antrag Munckel / Rickert)876. Der Antrag des Zentrums verstand sich als Ergänzung des „Notbehelfs“ (Rembold) der Berufung und richtete sich, wie der Antragsteller ausdrücklich betonte, in keiner Weise gegen das Schwurgericht. Nichtsdestoweniger wurde er ein Opfer der sich überkreuzenden Interessen: Während die Konservativen ihn ablehnten, weil er die „Bastardorganisation der Schwurgerichte“ (Buchka) bestehen ließ, löste er bei den Vertretern des bayerischen Zentrums, für die Lerno das Wort ergriff, gerade Sorgen um deren Fortbestand aus („principiis obsta“). Der SPD, die ohnehin mehr Wert auf die soziale Erweiterung der Laienauswahl legte, war die Stellung der Schöffen zu schwach877. Gegen ein Weiterbestehen des geltenden Rechts führten die preußischen Vertreter finanzielle und organisatorische Gründe ins Feld878. Der jährliche Mehraufwand infolge der Fünferbesetzung wurde auf rund 500.000 Mark beziffert. Andererseits machte Schönstedt keinen Hehl daraus, daß er die vom Finanzminister veranschlagten Gesamtkosten der Reform (ca. 5 Mill. Mark) für zu hoch hielt. Hinzu kam, daß die preußische Regierung die Neuordnung dazu nutzen wollte, kleinere Landgerichte in der Provinz, die – gemessen an der strengen preußischen Berechnung der Arbeitspensen – überbesetzt waren, personell auszudünnen. Während die Landgerichte bisher mindestens mit acht Richtern (ein Präsident, ein Direktor, sechs Landrichter) besetzt waren, sollte künftig ein Minimum von sechs Mitgliedern genügen. Die vielerorts bereits bestehende Unterbeschäftigung, so die Begründung, werde sich mit der vorgesehenen Kompetenzverschiebung zugunsten der Schöffengerichte weiter verschärfen. Im übrigen verteidigte man das Dreierkollegium mit historischen Argumenten, wobei die Tatsache unter den Tisch fiel, daß die so besetzten Kreisgerichte seit dem Verfassungskonflikt alles andere als unstrittig waren. 875 Vgl. Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 587 (Zusammenstellung der Paragraphen). Die zweite Lesung fand in 12 Sitzungen zwischen dem 10. und 28. 11. 1896 statt. 876 Antrag Munckel / Rickert, Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 550. Ein Vermittlungsantrag des Zentrumsabgeordneten Schmidt (Warburg), der die erste Instanz nur bei Verbrechen stärker besetzen wollte, blieb ohne Resonanz (Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 546; Schmidt, ebd., 11. 11. 1896, S. 3151 – 3157). 877 Vgl. Rembold, Sten. Ber. RT, 10. 11. 1896, S. 3144 – 3149; Buchka, Stadthagen und Lerno, ebd., 11. 11. 1896, S. 3165 – 3167, 3172 – 3175, 3175 – 3178. 878 Zum folgenden: Vierhaus, ebd., 11. 11. 1896, S. 3170 – 3172; Schönstedt, ebd., S. 3181 f. und in der StM-Sitzung v. 5. 12. 1896 (Anm. 881), Bl. 401.
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2. Teil: Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900)
Die durchweg äußerlichen Gründe vermochten den Reichstag nicht zu überzeugen. Gegen das Dreirichterkollegium wurde vor allem eingewandt, daß zwei Richterstimmen zur Verurteilung genügten und der Schwerpunkt des Strafverfahrens sich von der ersten in die zweite Instanz verlagere. Dies gab den Ausschlag zugunsten des Munckel-Rickertschen Antrages, den ebenso Teile der Freikonservativen, des Zentrums und der Nationalliberalen unterstützten879. Auch im Plenum fand der Antrag Beckh / Munckel (Überweisung der Preßdelikte an die Geschworenengerichte) nicht die erforderliche Mehrheit880. Die Beschlüsse zweiter Lesung, mehr aber noch der Verlauf der Verhandlungen, ließen die Aussichten auf eine Einigung praktisch auf Null sinken. Hieraus erklärt sich das eigentümliche Phänomen, daß das weitere Prozedere wie nach einem ungeschriebenen Drehbuch ablief. Als das preußische Staatsministerium eine Woche später die Beschlüsse beriet, ging es imgrunde nur noch darum, die Grenzlinien gegenüber dem Reichstag zu markieren und sich über die Modalitäten des Rückzugs zu einigen881. Für „unannehmbar“ erklärten die Minister den bedingungslosen Ausschluß der Hilfsrichter, die Besetzung der Strafkammern erster Instanz mit fünf Richtern, die Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für die Presse und die Aufrechterhaltung des bisherigen Wiederaufnahmeverfahrens. Bekämpft werden sollten außerdem die Beschlüsse zu den §§ 176, 244 und 364 / 366 StPO (obligatorische Voruntersuchung; Umfang der Beweisaufnahme; Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz). Konzediert wurde die Fünferbesetzung in den Berufungskammern der Landgerichte; das Beschwerderecht des OLG-Präsidenten bei der Kammerbesetzung ließ man fallen. Den strittigsten Punkt bildete wieder einmal der Gerichtsstand der Presse. Während Nieberding und Schönstedt – aus prinzipiellen wie aus taktischen Erwägungen – dafür eintraten, dem Drängen des Reichstags nachzugeben, wiederholten Boetticher und Miquel ihre bekannten Einwände. Preußen dürfe sich nicht, so Miquel, der Gefahr aussetzen, „etwa auf das Entgegenkommen der Regierung von Reuß ä. L. angewiesen zu sein“882. Da sich auch die übrigen Minister uneins zeigten, beschloß das Staatsministerium auf Vorschlag Boettichers, zunächst einmal den Standpunkt der übrigen Bundesstaaten zu eruieren. Einig war man sich allerdings, die Vorlage nicht an dieser Frage scheitern lassen zu wollen883.
879 Vgl. Munckel, ebd., 11. 11. 1896, S. 3161 – 3163 sowie die Abstimmung S. 3183; Prot. StM v. 5. 12. 1896 (Anm. 881), Bl. 400 (Nieberding). 880 Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 537 (Antrag) sowie ebd., 13. 11. 1896, S. 3216 – 3231 (Diskussion); auch für die dritte Lesung brachten Beckh und Munckel ihren Antrag wieder ein (Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 609). 881 Prot. StM v. 5. 12. 1896 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8338, Bl. 397 – 412. 882 Ebd., Bl. 406. 883 Für den Fall der Nichteinigung kündigte Schönstedt eine Anweisung an die Staatsanwälte an, bei Anklagen an einem anderen als dem Erscheinungsort zuvor seine Zustimmung einzuholen. Die Verfügung erging mit Datum vom 5. 1. 1897.
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Auch die Organisationsfrage, lange Zeit in den Hintergrund getreten, wurde noch einmal aktuell. Der Anlaß war folgender884: Mit Blick auf die innerpreußischen Diskussionen hatte die Zentrumsfraktion nach Beendigung der zweiten Lesung einen Kurswechsel vorgenommen und beschlossen, auf die Idee landgerichtlicher Berufungskammern zurückzukommen. Unter dieser Voraussetzung sollten die Strafkammern erster Instanz mit vier statt mit fünf Richtern besetzt werden. Auch in den übrigen strittigen Fragen war man zu Zugeständnissen bereit. Über das Vermittlungsangebot hatte Spahn, der schon früher für das landgerichtliche Modell eingetreten war, den Staatssekretär des Reichsjustizamts vertraulich informiert885. Formelle Anträge wollte die Partei allerdings nur unter der Bedingung stellen, daß die preußische Regierung zuvor für eine entsprechende Mehrheit im Bundesrat gesorgt hatte. Obwohl Miquel, wie nicht anders zu erwarten, das Angebot befürwortete, sprach sich das Staatsministerium gegen weitere Initiativen aus, da man sich an die Beschlüsse des Bundesrats gebunden fühlte und einen Kurswechsel zu so später Stunde für aussichtslos hielt. An Kompromißverhandlungen mit dem Reichstag war das Kabinett nicht mehr interessiert. Was das weitere Prozedere betraf, so folgten die Minister dem Vorschlag Nieberdings, die Vorlage zurückzuziehen, sobald der Reichstag bei der dritten Lesung auf unannehmbaren Beschlüssen beharre. Die dazu erforderliche Ermächtigung sollte zuvor beim Bundesrat eingeholt werden. Hinter diesem präzedenzlosen Verfahren stand vor allem die Absicht, den Oppositionsparteien die Gelegenheit zu weiterer Agitation abzuschneiden. Bereits am folgenden Tag setzte Nieberding die Bevollmächtigten Bayerns, Württembergs und Badens über die preußischen Beschlüsse in Kenntnis. Ein Vertreter Sachsens, das praktisch jede Mitarbeit an dem Projekt verweigerte, war erst gar nicht zu der Besprechung geladen worden. Bezüglich der Vermittlungsvorschläge des Zentrums sicherte Nieberding seinen Gesprächspartnern zu, Preußen werde einseitig nichts unternehmen, was die Verständigung über die Vorlage, „an der es selbst ein entscheidendes Interesse nicht habe“, erleichtern könne886. Leonrod nahm zu den Entscheidungen des Reichstags in einer Note vom 7. 12. 1896 Stellung887. Der Beschluß zu § 62 GVG war für Bayern ohne Belang, da ein Hilfsrichtertum hier überhaupt nicht existierte. Mit der Festlegung des Gerichts884 Zum folgenden: Prot. StM v. 5. 12. 1896, Bl. 401 ff.; Bericht Hellers über die Besprechung mit Nieberding v. 6. 12. 1896, in: HStA, MJu 13125. Als stärkste Fraktion (96 Mandate) besaß das Zentrum eine Schlüsselstellung im Reichstag. 885 In der Kommission hatte Spahn in erster Lesung einen entsprechenden Antrag gestellt, der mit großer Mehrheit abgelehnt worden war. In zweiter Lesung wurde der Antrag nicht wiederholt (vgl. Bericht der XI. Kommission, S. 1575; Prot. StM v. 5. 12. 1896, Bl. 402). 886 Bericht Hellers über die Besprechung mit Nieberding v. 6. 12. 1896, in: HStA, MJu 13125. Verschiedene Zeitungen hatten gemeldet, Nieberding stünde mit dem Zentrum in Verhandlungen über das weitere Schicksal der Vorlage, was der Staatssekretär ausdrücklich dementierte. 887 Schreiben Leonrods an Crailsheim, 7. 12. 1896, in: HStA, MJu 13125.
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stands für Preßdelikte erklärte sich Leonrod einverstanden. In der Frage der Strafkammerbesetzung, des Zeugnisverweigerungsrechts für die Presse und des Wiederaufnahmeverfahrens schloß er sich der preußischen Position an. Darüber hinaus bezeichnete er den Beschluß zu § 150 StPO, der in den Fällen notwendiger Verteidigung dem Staat auch die Gebühren des gewählten Verteidigers auferlegte, als unannehmbar. Die Stellungnahme zum § 366 StPO sollte von den Umständen abhängig gemacht werden. Nachdrücklich hob Leonrod noch einmal hervor, daß aus bayerischer Sicht nur die Oberlandesgerichte als Berufungsinstanz in Frage kämen. In einer weiteren Note mit Datum des folgenden Tages stimmte er dem von Preußen vorgeschlagenen Prozedere zu, verwahrte sich aber gegen ein Vorgehen, „welches auch nur entfernt den Anschein erwecken könnte, als ob die verbündeten Regierungen gewissermaßen mit Befriedigung die Vorlage scheitern sähen“888. Nachdem die Bevollmächtigten ihre Instruktionen eingeholt hatten, kamen sie in der Bundesratssitzung vom 10. 12. 1896 zu einer vertraulichen Besprechung über die Beschlüsse des Reichstags zusammen. Trotz mancher Bewertungsunterschiede im einzelnen einigte man sich ohne Widerspruch darauf, für den Fall, daß der Reichstag am Fünf-Männer-Kollegium festhalten sollte, die Vorlage zurückzuziehen889. Genau so kam es dann auch. In der dritten Lesung, die am 14. / 15. 12. 1896 stattfand, sprach sich Spahn zwar noch einmal für die Landgerichte als Sitz der Berufungsinstanz aus, einen entsprechenden Antrag stellte das Zentrum aber nicht. Ungeachtet der Tatsache, daß Nieberding den Standpunkt der Reichsleitung nochmals unmißverständlich darlegte und Lenzmann leidenschaftlich für eine Einigung in letzter Minute eintrat, lehnte das – gut besuchte – Parlament einen von konservativer Seite eingebrachten Antrag, die Strafkammern erster Instanz nur mit drei Richtern zu besetzen, mit breiter Mehrheit ab. Außer den beiden konservativen Fraktionen stimmten vom Zentrum Rintelen und Lerno sowie sechs nationalliberale Abgeordnete für den Antrag. Daraufhin gab Nieberding die allseits erwartete Erklärung ab, daß die verbündeten Regierungen auf eine Weiterberatung der Vorlage keinen Wert mehr legen würden890. In der Zentrumspresse und den liberalen Blättern gab man der Reichsleitung die Schuld am unbefriedigenden Ausgang des Unternehmens. Für die „Kölnische Volkszeitung“, die sich für landgerichtliche Berufungskammern stark machte, lag die Ursache in der „engherzigen bürokratisch-fiskalischen Auffassung der Sache“ seitens der Regierung. Die „Münchner Neuesten Nachrichten“ monierten, der Bundesrat sei mit seinem Nein viel zu schnell bei der Hand gewesen und habe nicht das geringste Zugeständnis gemacht891. Schreiben Leonrods an Crailsheim, 8. 12. 1896, in: HStA, MJu 13125. Vgl. den Bericht Hellers über die BR-Sitzung v. 10. 12. 1896, in: HStA, MJu 13125. 890 Spahn, Sten. Ber. RT, 14. 12. 1896, S. 3883 – 3885; Antrag v. Manteuffel u. Gen., ebd. 1895 / 97, Drks. Nr. 605; Lenzmann, ebd., 14. 12. 1896, S. 3893 – 3896; Abstimmung und Erklärung Nieberdings: ebd., 15. 12. 1896, S. 3935; zum Abstimmungsverhalten: MNN, 16. 12. 1896 (morgens). 888 889
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Daß die Vorlage endgültig zu Grabe getragen war, zeigte sich im Mai 1897, als ein interfraktionelles Zweckbündnis, bestehend aus Mitgliedern der Reichspartei, der Nationalliberalen, des Zentrums, des Freisinns, der Polen und der Welfen, den Versuch unternahm, den Reichstag zur Wiederaufnahme der Beratungen zu bewegen. Der von ihnen gestellte Antrag fiel insofern noch hinter die Zugeständnisse der Regierung zurück, als er vorschlug, die Strafkammern in erster und zweiter Instanz bei Übertretungen und Vergehen sowie allen strafbaren Handlungen, die sich nur infolge Rückfalls als Verbrechen qualifizierten, mit drei Richtern zu besetzen. Der Antrag, immerhin von 116 Abgeordneten unterzeichnet, gelangte nicht einmal auf die Tagesordnung – offensichtlich betrachtete der Seniorenkonvent andere Themen als dringlicher892. In einem Schreiben an Schönstedt hatte sich Nieberding schon Ende März überzeugt gezeigt, daß der Reichstag die dritte Lesung nicht wieder aufnehmen werde893. Faßt man den gesamten windungsreichen Entscheidungsprozeß zwischen Juni 1892 und Mai 1897 ins Auge, so fällt auf, daß sich der Reformversuch zu keiner Zeit ungeteilter Zustimmung erfreute. Ein mögliches Scheitern zeichnete sich schon frühzeitig ab, wobei letztlich eine Kette immer neuer Interessensgegensätze den Ausschlag gab. Der erste Konflikt trat im Schoße des preußischen Staatsministeriums auf, als Schelling und Miquel lange Zeit um die adäquate Organisationsform für die Berufungsinstanz rangen. Zwar konnte sich Schelling schließlich durchsetzen, allerdings um den Preis, daß Miquel, für den die Berufung Herzenssache war, dem Projekt fortan nur noch mäßiges Interesse entgegenbrachte. Immerhin trug er auch die teurere OLG-Lösung mit, so daß der später vielfach erhobene Vorwurf, die Vorlage sei in erster Linie an der Engstirnigkeit des preußischen Finanzministers gescheitert, nicht zutraf. Der Miquelsche Vorschlag, die Entscheidung über die Organisationsform den Ländern zu überlassen, entsprach der föderalen Struktur des Reiches, wie schon bei der Reichsjustizreform erwiesen sich dogmatische Uniformitätsvorstellungen jedoch als stärker. Auch die Haltung der Bundesstaaten war alles andere als einheitlich. Während eine Reihe von Ländern, allen voran Sachsen, die Berufung prinzipiell ablehnten, standen Bayern und Württemberg, deren Stimmen im Bundesrat den Ausschlag gaben, dem Institut eher indifferent gegenüber. Auch von dieser Seite her fehlte dem Entwurf somit die erforderliche Rückendeckung. Der Reichstag betrachtete die Initiative mit ganz anderen Augen. Ging es der preußischen Regierung lediglich darum, den dringendsten Gravamina abzuhelfen, begriff das Parlament die Novelle als eine Art Abschlagszahlung auf weitere Reformen. Dabei erlag das Staatsministerium insofern einem Fehlschluß, als es 891 Siehe: KV v. 15. 12. 1896, abends; MNN v. 17. 12. 1896, morgens; Vossische Zeitung v. 16. 12. 1896, abends („Für Rechtsschutz und Justizreform“); FZ v. 16. 12. 1896, morgens („Das Scheitern der Justiznovelle“). 892 Antrag Adt u. Gen., 19. 5. 1897, Sten. Ber. RT 1895 / 97, Drks. Nr. 865. 893 Nieberding an Schönstedt, 29. 3. 1897, in: BA, R 3001, Nr. 5290, Bl. 39a.
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meinte, einfach an den status quo ante, also den Rechtszustand vor 1879, anknüpfen zu können. Es sah über die Tatsache hinweg, daß die Öffentlichkeit in justizpolitischen Fragen mittlerweile stark sensibilisiert war und die Ansprüche an eine „gute“ Justiz sich wesentlich erhöht hatten. Die Forderung nach der Berufung meinte eben immer mehr als nur einzelne juristisch-technische Verbesserungen. Insofern konnte der Reichstag, dessen Haltung auf den ersten Blick überzogen erscheinen mochte, „Rückschritte“ unter keinen Umständen akzeptieren – der bürokratische Standpunkt Preußens bzw. der Reichsleitung und die normative Sichtweise des Parlaments waren letztlich unvereinbar. Zudem ist davon auszugehen, daß sich viele Abgeordnete nicht wieder, wie bei den Reichsjustizgesetzen, auf „faule“ Kompromisse mit kurzer Halbwertszeit einlassen wollten. Die Vorlage wurde aber auch ein Opfer der innenpolitischen Situation: Der Reichstag ordnete sie – nicht zu Unrecht, wie der Schellingsche Entwurf zeigt – in die allgemeine Repressionspolitik der Regierung ein, der gegenüber die Parlamentarier sich als Hüter der konstitutionellen Freiheitsrechte verstanden. Daran vermochte auch die Tatsache nichts mehr zu ändern, daß Schönstedt die Vorlage politisch weitgehend entschärfte. Nieberding schrieb im Rückblick: „Den verbündeten Regierungen wurde damals unter der Nachwirkung der Verhandlungen über die sogenannte Umsturzvorlage im Reichstag ein so weitgehendes Mißtrauen entgegengebracht, daß es ausgeschlossen war, über die Grundlagen einer Reform des Strafprozesses in nächster Zeit sich zu verständigen“894. Das sang- und klanglose Ende des Projekts beruhte auch auf der stillschweigenden Überzeugung aller Beteiligten, daß die Reformarbeiten spätestens nach Inkrafttreten des BGB wieder aufgenommen würden, zumal der Reichstag weiterhin auf Verbesserungen drängte. Einzig das Entschädigungsproblem fand in den nächsten Jahren eine reichsrechtliche Lösung. Das Gesetz v. 20. 5. 1898, das unschuldig Verurteilten einen Anspruch auf Entschädigung verlieh, löste die bestehenden landesrechtlichen Vorschriften ab. Sechs Jahre später wurde die Regelung auf unschuldig erlittene Untersuchungshaft ausgeweitet (Gesetz v. 14. 7. 1904). Dabei konnte die bayerische Justizverwaltung – gegen den hartnäckigen Widerstand Preußens – durchsetzen, daß auch Vorbestrafte in den Genuß eines Entschädigungsanspruchs kamen. Dennoch waren die Linksparteien mit dem Ergebnis höchst unzufrieden: Sie kritisierten immer wieder die engherzigen gesetzlichen Bestimmungen, aber auch deren rigide praktische Anwendung895.
894 Denkschrift über die Reform des Strafprozesses (6. 1. 1906), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8341, Bl. 313 – 324, hier Bl. 315. 895 Tabellen zu den Entschädigungsfällen der Jahre 1905 – 09 finden sich im Bericht der 7. Kommission (Beratung der Gesetzentwürfe zur Strafprozeßreform) v. 18. 1. 1911, Anl. A, Übers. III – VII (Sten. Ber. RT 1909 / 11, Drks. Nr. 638).
B. Die 90er Jahre: „Vertrauenskrise“ der Justiz
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V. Die 90er Jahre: Zusammenfassung Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erreichte die kaiserzeitliche Justizkritik ihren Höhepunkt. Die Rechtspflege und ihre Probleme wurden zu einem gewichtigen Thema der innenpolitischen Diskussion, wie schon ein flüchtiger Blick in eine parlamentarische Haushaltsdebatte, eine politisch-kulturelle Zeitschrift oder eine überregionale Tageszeitung lehrt. Dabei bürgerte sich rasch das Wort von der „Vertrauenskrise“ der Justiz ein, mit gleichem Recht könnte man von einer Autoritätskrise der Gerichte sprechen. Sie bildete das Ergebnis eines kumulativen Prozesses, der aus der Verknüpfung ursprünglich separater Phänomene hervorging. Systematisch lassen sich drei Stränge der Kritik unterscheiden: ein jurisdiktioneller, ein personal-administrativer und ein institutionell-prozeduraler. Das unverändert hohe Niveau politischer Strafverfolgung resultierte aus der Entscheidung, den Kampf gegen die „Mächte des Umsturzes“ nach Auslaufen des Sozialistengesetzes mit den Mitteln des gemeinen Rechts fortzusetzen. Hierdurch, aber auch durch die Ablehnung der Umsturzvorlage von 1894 verstärkte sich die Tendenz zur ausdehnenden Rechtsprechung, zu deren Sinnbild der „grobe Unfug“ wurde. Im Gegenzug verschärften die Sozialdemokraten ihre Klassenjustiz-Rhetorik, und auch im bürgerlichen Lager mehrten sich die Stimmen, die der Justiz eine politische „Schieflage“ attestierten. Wiederum gilt es zu differenzieren: Ein tendenziöses Vorgehen läßt sich in erster Linie für die Staatsanwaltschaft nachweisen, während die Urteilspraxis der Gerichte – aufs Ganze gesehen – durch die bekannte Kompromißhaltung (Verurteilung bei geringer Strafhöhe), aber auch große Rechtsunsicherheit gekennzeichnet blieb. Schönstedt, dessen Amtsübernahme für die preußische Justizverwaltung eine Versachlichung bedeutete, versuchte den schlimmsten Auswüchsen auf dem Anweisungswege zu begegnen. In Bayern wurde politisch motivierte wie überhaupt systematische Justizkritik weit seltener und wenn, dann erheblich moderater geäußert. Parallel dazu bildete sich, infolge des pandektistischen Einflusses auf die Strafrechtspflege, der Formalismus-Vorwurf heraus. Er war gemünzt auf Urteile mit auffällig extensiver oder enger Normauslegung und bezog sich auf ganz unterschiedliche Sachgebiete, nicht zuletzt auf Streitfragen des modernen Wirtschaftslebens. Obwohl ihre absolute Zahl gering blieb, ließen die befremdlich wirkenden Entscheidungen in der Summe den Eindruck entstehen, als entferne sich die Spruchpraxis der Gerichte immer stärker vom Rechtsbewußtsein der Nation. Dies umso mehr, als es sich nicht selten um Erkenntnisse des nur mit Revisionssachen, also rein mit Rechtsfragen beschäftigten Reichsgerichts handelte. Der Kritik am richterlichen Personal lagen strukturelle Probleme der preußischen Justizverwaltung zugrunde, die einen im einzelnen nur schwer meßbaren, im ganzen aber kaum zu bestreitenden Niveauverlust des Richterstandes bedingten, der seinerseits scharfe, teilweise aggressive Reaktionen in den eigenen Reihen auslöste. Beflügelt von den positiven Erfahrungen mit den Gewerbegerichten, griff im Zivilrechtsbereich die Forderung nach Sondergerichten um sich, die mit ihrer
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2. Teil: Ausweitung und Verdichtung der Justizkritik (1880 – 1900)
Laienbeteiligung und ihrem einfach-wohlfeilen Verfahren die bestehende Gerichtsorganisation auszuhöhlen und das amtsgerichtliche Verfahren zu delegitimieren drohten. Die strafprozessuale Diskussion kreiste – teils alternativ, teils ergänzend – um das Modell der allgemeinen Schöffenverfassung sowie die Frage der Berufung. Einig waren sich die Kritiker, daß die Überbürdung vieler preußischer Gerichte und Staatsanwaltschaften – Folge einer unzureichenden Stellenvermehrung – ernsthafte Gefahren für den Angeklagten mit sich brachte. Sieht man von der Einführung der Gewerbegerichte ab, blieben gesetzgeberische Initiativen allenthalben auf der Strecke: Während die Lösung des Assessorenproblems nicht zuletzt an sachlichen Schwierigkeiten scheiterte und die Zivilprozeßreform von Nieberding mit Erfolg verschleppt wurde, bildeten die beiden Strafprozeßnovellen eine halbherzige und letztlich unbefriedigende Antwort auf die öffentliche Stimmungslage. Sie sind zumindest ebenso als Symptom der „Krise“ denn als Ansatz zu ihrer Lösung zu bewerten. Aus übergeordneter Perspektive betrachtet, ist die „Vertrauenskrise“ der Justiz in die krisenhaften Zustände der bis zur Jahrhundertwende reichenden „langen Bismarckzeit“ (Kühne) einzuordnen, die in ihrer politischen Kultur dem Grundverständnis und den Methoden des Reichsgründers verhaftet blieb. Dabei waren sich die staatstragenden Schichten über die destabilisierenden Wirkungen der Vorgänge durchaus im klaren: Die Mißstände in der Rechtspflege spielten den Gegnern der bestehenden Ordnung nicht nur willkommenes Agitationsmaterial in die Hände, sondern sicherten ihnen Sympathien bis weit in das bürgerliche Lager hinein. Vor diesem Hintergrund gewinnt das mahnende „iustitia fundamentum regnorum“, mit dem zahlreiche Wortmeldungen in Parlament, Presse und Publizistik endeten, seine tiefere Bedeutung.
Dritter Teil
Kritik und Reform (1900 – 1914) In der neueren historischen Forschung wird die traditionelle, personalistisch geprägte Einteilung des Kaiserreichs in eine Bismarckzeit und eine Wilhelminische Ära, getrennt durch das Epochenjahr 1890, zunehmend in Frage gestellt. Stattdessen rücken die Jahre um 1900, in denen ein beschleunigter und verdichteter Wandel in Politik, Gesellschaft und Kultur zu beobachten ist, immer stärker als entscheidende Zäsur der kaiserzeitlichen Dezennien in den Blickpunkt. Zur Analyse der Veränderungen auf der politisch-öffentlichen Ebene haben sich die Begriffe „Fundamentalpolitisierung“ (Ullmann) bzw. Entstehung eines „politischen Massenmarktes“ (H. Rosenberg) eingebürgert. Beide Begriffe bezeichnen einen Demokratisierungs- und Partizipationsschub, der sich gleichermaßen mit liberalen wie illiberalen Zielvorstellungen verbinden konnte. Einige Entwicklungen seien schlagwortartig genannt: Den Gewerkschaften gelang der Durchbruch zur Massenbewegung, die Parteien wandelten sich von lockeren Honoratioren- zu bürokratisierten Massenparteien, die Wahlbeteiligung stieg auf vorher ungekannte Höhen, verschiedene Landtagswahlsysteme wurden demokratisiert, mitgliederstarke Interessenverbände, aber auch nationalistische Massenorganisationen traten auf den Plan, das moderne Pressewesen bildete sich endgültig zur „vierten Gewalt“ heraus. Im Zusammenwirken dieser (und einer Reihe weiterer) Faktoren wurde die Bismarcksche Unterscheidung zwischen „Reichsfreunden“ und „Reichsfeinden“ zunehmend obsolet, so daß die „lange“ Bismarckzeit mit ihrem obrigkeitsstaatlichrepressiven Gepräge um die Jahrhundertwende an ihr Ende gelangte. Die politischen Strukturen änderten sich dadurch nicht schlagartig, gerieten aber unter den Einfluß eines reformwilligen Klimas1. Wirtschafts- und sozialgeschichtlich sind die Jahre um 1900 durch den endgültigen Durchbruch des modernen Industriestaates, die zunehmende Differenzierung der sozialen Schichtung, den Aufstieg der Frauen- und das Aufkommen einer Jugendbewegung gekennzeichnet. Kulturgeschichtlich ist auf die klassische Moderne, den Siegeszug von Wissenschaft und Technik sowie die Anfänge der modernen Massen-, Alltags- und Freizeitkultur (Konsum, Werbung, Mobilität, Sport, Reisen, Urlaub etc.) zu verweisen, aber ebenso auf das weitverbreitete Unbehagen und die Zweifel an eben dieser Moderne 1 Vgl. H.-P. Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, Frankfurt / M. 1995, S. 126 ff.; Th. Kühne, Die Jahrhundertwende, die „lange“ Bismarckzeit und die Demokratisierung der politischen Kultur, in: L. Gall (Hg.), Otto von Bismarck und Wilhelm II., Paderborn 2000, S. 85 – 118 (m. w. N.).
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und ihren vermeintlichen Segnungen. Insgesamt läßt sich kaum bestreiten, „daß sich in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ein fundamentaler Formwandel der ,Moderne‘ vollzog, durch den in vieler Hinsicht die Grundlagen dessen, was wir auch heute noch als die wesentlichen Muster unserer Lebenswelt, unseres sozialen Verhaltens, unserer Wahrnehmung anerkennen, gelegt worden sind“2. Recht und Justiz, die man in derartigen Auflistungen meist vergeblich sucht, reihen sich in den allgemeinen Befund ein. Auch hier zeichneten sich seit der Jahrhundertwende qualitative Veränderungen ab. Für die Zivilrechtsprechung, für die das Inkrafttreten des BGB am 1. 1. 1900 eine epochale Zäsur bedeutete, bedarf dies keines weiteren Nachweises3. Die Einführung des Jahrhundertwerks ließ sonstige Aufgaben zurücktreten, wobei vor allem Nieberding geradezu ängstlich darauf bedacht war, dem neuen Gesetzbuch ein stabiles Umfeld zu sichern. So war es kein Zufall, daß die Strafprozeßreform im Jahre 1901 wiederaufgenommen wurde und die Vorarbeiten zur Revision des Strafgesetzbuchs ein Jahr später begannen. Die politische Strafverfolgung wies eine rückläufige Tendenz auf, korrespondierend mit der Tatsache, daß die maßgebenden Kreise nach dem Scheitern der „Zuchthausvorlage“ Ende 1899 ihre Bemühungen um neue Ausnahmegesetze aufgaben. Trugen die Gravamina der 90er Jahre durchweg einen „negativen“ Charakter, so ist das neue Jahrhundert durch eine Gemengelage aus Kritik und Reformbereitschaft gekennzeichnet. Die Vorwürfe nahmen an Intensität und Umfang nochmals zu und erfuhren auch thematisch eine Erweiterung. Dabei fällt auf, daß sich immer mehr Laien an der Debatte beteiligten, lange bevor der Verein „Recht und Wirtschaft“ (1911) die Zusammenarbeit von Juristen und Nichtjuristen institutionalisierte. Fortan war es nicht mehr möglich, die Angriffe als temporäres Phänomen, resultierend aus den unsicheren Verhältnissen der Nach-Bismarck-Zeit, oder als propagandistische Rhetorik staatsfeindlicher Gruppierungen abzutun. Gleichsam in amtlicher Funktion stellte Vierhaus 1903 fest: „Leider lehrt eine objektive Betrachtung, ein Blick in die Tagespresse und in die stenographischen Berichte über parlamentarische Verhandlungen, daß das Vertrauen in die Rechtspflege, der Stolz auf die Gerichte in starkem Niedergange begriffen sind. Mag die Tadelsucht des Zeitalters auch an solchen Äußerungen der Unzufriedenheit ihr gutes Teil haben, objektiv ist die Tatsache nicht zu leugnen“4. Ein Jahrzehnt später fiel die Diagnose ganz ähnlich aus, nur war die Tonlage noch düsterer geworden: Max Reichert, stellvertretender Landgerichtsdirektor in Augsburg, schrieb 1912: „Wir stehen vor der Tatsache, daß sich in deutschen Landen eine ernste Verstimmung über das 2 So zusammenfassend P. Nolte: 1900: Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: GWU 47 (1996), S. 281 – 300, hier S. 283 f. (instruktiver Aufriß der politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen). 3 Siehe dazu die Beiträge in dem Sammelband von U. Falk / H. Mohnhaupt (Hg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, Frankfurt / M. 2000. 4 F[elix] Vierhaus, Soziale und wirtschaftliche Aufgaben der Zivilprozeß-Gesetzgebung, in: Festgabe für R. Koch, Berlin 1903, S. 37 – 74, hier S. 63.
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Rechtswesen zeigt. Man ist irre geworden an der Justiz, und das Vertrauen zu den Gerichten ist gesunken, ja vielfach verlorengegangen; man ist unzufrieden mit der Rechtspflege. Es ist das keineswegs eine Schwarzseherei, wie man ab und zu glauben machen möchte, sondern nur die nüchterne Feststellung eines Geschehnisses“5. Neben die Klassenjustizparole traten neue Schlagworte, vor allem das von der richterlichen „Weltfremdheit“. Der Vorwurf verweist auf die gesteigerte Bedeutung der Zivilrechtspflege, insbesondere in gewerblich-industriellen Sachen. Überwölbt wurden beide Topoi, die mehr oder weniger feste Konturen besaßen, von der eher unspezifischen Klage, die Judikatur der Gerichte hätte sich dem Rechtsbewußtsein des Volkes entfremdet6. Hieraus leitete sich die Forderung nach „volkstümlicher Rechtsprechung“ und „sozialen Richtern“ ab, meist verbunden mit einem Plädoyer für verstärkte Laienmitsprache 7. Parallel dazu rückten Ausbildungs- und Methodenfragen zunehmend ins Blickfeld. Geprägt wurde die Szenerie jedoch nicht so sehr von den kritischen Tönen, sondern einer allgemeinen Aufbruchstimmung, gepaart mit mehr oder weniger starker Reformbereitschaft. Die Zahl einschlägiger Beiträge vervielfachte sich, was die Debatte mächtig anschwellen und eine gewisse Unübersichtlichkeit entstehen ließ. Nicht zu Unrecht sprachen Kritiker von einem „Reformlabyrinth“ (v. Pfister). Im ganzen sollte die Rechtsprechung wieder mit dem „Leben“ versöhnt bzw. den Anforderungen der Gegenwart gerecht werden. Insofern handelte es sich um eine facettenreiche, teilweise widersprüchliche Modernisierungsbewegung, ohne daß sich alle Beteiligten explizit als Neuerer verstanden hätten. Die Reformansätze, die auf legislativer, administrativer, programmatischer, organisatorischer und wissenschaftlicher Ebene lagen, bilden den Schwerpunkt der nachfolgenden Darstellung. Behandelt werden: der Strafrechtsbereich (Kap. I), der Zivilrechtsbereich einschließlich der Methodendiskussion (Kap. II), der Ausbildungskomplex (Kap. III), die Richterschaft (Kap. IV) sowie der Verein „Recht und Wirtschaft“ (Kap. V).
5 Max Reichert, Die deutschen Gerichte der Zukunft, Hannover 1912, S. 4. Erich Warschauer (Ger.Ass. in Kattowitz), der für die DRZ die Diskussion in der Publizistik verfolgte, gab seinen Berichten den etwas reißerisch klingenden, gleichwohl bezeichnenden Titel „Vom Kriegsschauplatz“. 6 Stimmen aus Laienkreisen: Theodor Wahl, Unsere Rechtspflege im Volksbewußtsein, Stuttgart 1901; Riedler, Sten. Ber. HH, 29. 3. 1901, S. 85: „Klarsehende Juristen sehen aber wohl ein, daß trotz aller Monopole das Ansehen der Juristen in dem Maße im Niedergang begriffen ist, als die Rechtsprechung und das Rechtsbewußtsein im Volke in Widerspruch geraten, und in dem Maße, als die Rechtspraxis eine Kunst der Zunft wird, unzugänglich dem gewöhnlichen Menschenverstande“ (Alois Riedler war Prof. an der TH in Berlin und damals Prorektor); scharfer Widerspruch Schönstedts (ebd., S. 86). 7 Stimmen aus Richterkreisen: Ernst Goldmann, Der Richterstand und die sozialen Aufgaben der Gegenwart, Berlin 1906 (AR); Kraft, Soziale Richter und soziale Gerichte, in: DJZ 16 (1911), S. 1058 – 1062 (AR in Perl / Mosel).
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I. Der Strafrechtsbereich 1. Die politische Strafrechtsprechung Hervorstechendstes Merkmal der politischen Strafjustiz im neuen Jahrhundert war ihr Rückgang. Die ausufernde Anwendung des Grobe-Unfug-Paragraphen konnte, wie bereits dargelegt, eingedämmt werden. Vom ominösen dolus eventualis, der in den 90er Jahren für so viel Wirbel gesorgt hatte, war nach der Jahrhundertwende kaum noch etwas zu hören. Und auch die überdurchschnittlich hart bestrafte Majestätsbeleidigung, zuvor das brisanteste Delikt überhaupt, verschwand von der politischen Bühne. Zwei Ausnahmen trüben das insgesamt positive Bild ein: Erhöhte Bedeutung gewann das politische Strafrecht auf dem Gebiet des gewerblichen Arbeitskampfes sowie im Verhältnis zum polnischen Bevölkerungsteil. Im erstgenannten Fall waren die Veränderungen eher quantitativer, im letztgenannten eher qualitativer Natur. 1. Es wurde bereits erwähnt, daß die Zahl der Anklagen wegen Majestätsbeleidigung aufgrund einer Intervention Schönstedts im Jahre 1900 deutlich abnahm. 1905 erfolgte ein weiterer Rückgang, nach 1907 versank das Delikt schließlich in der strafrechtlichen Bedeutungslosigkeit. Zwischen 1900 und 1913 lag die durchschnittliche Verurteilungsquote mit 79,89 % knapp fünf Prozent höher als im Jahrzehnt zuvor, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß sich die niedrigen Werte der Vorkriegsjahre für zuverlässige Berechnungen kaum mehr eignen8. An der richterlichen Strafzumessung änderte sich wenig: Wegen Beleidigung des Kaisers oder Landesherrn (§ 95 StGB) lauteten im Jahrfünft 1902 – 1906 insgesamt 98,2 % aller gegen Erwachsene ausgesprochenen Strafen auf Gefängnis. Im einzelnen verteilten sich die Strafstufen wie folgt: zwei Jahre und mehr: 2,3 %; ein bis zwei Jahre: 6,7 %; drei bis zwölf Monate: 65,5 %; ein bis drei Monate: 23,6 %9. Gemessen am gesetzlichen Strafrahmen (zwei Monate bis fünf Jahre Gefängnis oder Festungshaft) lagen die Urteile weiterhin relativ niedrig, gemessen an der bekannt milden Strafpraxis der Richter relativ hoch. Auf die Entschärfung des Delikts wirkten verschiedene Faktoren ein. Nach der Aussprache im Mai 1897 beschäftigte sich der Reichstag zwar nur noch im Rahmen der jährlichen Etatdebatte mit dem Thema, es blieb aber insofern virulent, als Sozialdemokraten und Freisinnige Volkspartei mit schöner Regelmäßigkeit zu Beginn jeder Session Anträge auf Aufhebung bzw. Änderung der Majestätsbeleidigungsparagraphen stellten10. In der Praxis hatten das Denunziantentum und die 8 Wegen Verstoßes gegen die §§ 94 – 101 StGB abgeurteilte und verurteilte Personen: 1899: 540 / 416; 1900: 384 / 305; 1901: 378 / 295; 1902: 329 / 274; 1903: 362 / 281; 1904: 346 / 275; 1905: 234 / 192; 1906: 250 / 206; 1907: 139 / 117; 1908: 52 / 39; 1909: 16 / 12; 1910: 20 / 16; 1911: 26 / 17; 1912: 30 / 22; 1913: 21 / 16 (nach den jährlichen Übersichten in der KrSt). 9 KrSt 1906, I. 40 sowie I. 186, Übers. 38. 10 Antrag Auer u. Gen. v. 1. 12. 1897, Sten. Ber. RT 1897 / 98, Drks. Nr. 41; Antrag Agster u. Gen. v. 8. 12. 1898, ebd. 1898 / 1900, Drks. Nr. 39; Antrag Müller (Meiningen) / Munckel /
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undifferenzierte Verfolgung inkriminierter Äußerungen kaum lösbare Probleme aufgeworfen. Entsprechend hoch fiel weiterhin die Freisprechungsquote aus, weshalb Schönstedt Anfang 1905 seine Rundverfügung vom Februar 1900, die ein sorgfältigeres Vorverfahren in Majestätsbeleidigungssachen angemahnt hatte, in Erinnerung brachte11. In Sachsen und Württemberg machte man seit längerem von dem der Krone zustehenden Niederschlagungsrecht Gebrauch, um Fälle, deren Verfolgung nicht im öffentlichen Interesse lag, noch vor Erhebung der Anklage aus dem Verkehr zu ziehen. In Bayern, wo eine derartige Befugnis nicht bestand, griff man stattdessen auf das landesherrliche Begnadigungsrecht zurück12. Diesen Weg schlug schließlich auch Preußen ein: Am 27. 1. 1907 veröffentlichte der Preußische Staatsanzeiger einen an den Ministerpräsidenten und den Justizminister gerichteten Allerhöchsten Erlaß, in dem Wilhelm II. seinen Wunsch kundtat, daß wegen Beleidigung seiner Person oder eines Mitglieds seines Königlichen Hauses nur solche Personen bestraft werden sollten, „welche sich jener Vergehen mit Vorbedacht und in böser Absicht und nicht bloß aus Unverstand, Unbesonnenheit, Übereilung oder sonst ohne bösen Willen schuldig gemacht haben“. Der Justizminister wurde angewiesen, über entsprechende Verurteilungen zwecks Begnadigung fortlaufend zu berichten13. Ein analoger Kaiserlicher Erlaß erging am 25. 2. 1907 an den Statthalter von Elsaß-Lothringen. Das Zugeständnis dürfte dem Kaiser nicht allzu schwer gefallen sein, fühlte er sich in seiner monarchischen Ehre von den Gerichten doch ohnehin nicht ausreichend geschützt. Die kaiserlich-königliche Initiative war nur ein Vorgriff auf die endgültige gesetzliche Regelung des Sachverhalts. Im April 1907 ging dem Reichstag ein von Preußen initiierter Gesetzentwurf zu, der die subjektiven Tatbestandsmerkmale der §§ 95, 97, 99, 101 StGB präzisierte und die Strafverfolgung einschränkte. Danach sollte die Beleidigung des Kaisers sowie der Mitglieder bundesfürstlicher Häuser nur dann strafbar sein, wenn sie „böswillig und mit Vorbedacht“ begangen war, die Verfolgung nicht-öffentlicher Beleidigungen lediglich mit Genehmigung der Landesjustizverwaltung eintreten und die Verjährungsfrist auf sechs Monate (bisher Lenzmann v. 19. 11. 1900, ebd. 1900 / 02, Drks. Nr. 41; Antrag Albrecht u. Gen. v. 22. 11. 1900, ebd., Drks. Nr. 66; Antrag Auer u. Gen. v. 9. 12. 1903, ebd. 1903 / 04, Drks. Nr. 68; Antrag Müller (Meiningen) u. Gen. v. 12. 12. 1903, ebd., Drks. Nr. 128; Antrag Müller (Meiningen) u. Gen. v. 28. 11. 1905, ebd. 1905 / 06, Drks. Nr. 48; Antrag Albrecht u. Gen. v. 2. 12. 1905, ebd., Drks. Nr. 97. 11 RV an die Oberstaatsanwälte v. 19. 1. 1905, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 669. In Preußen waren 1902 von 181 Angeklagten 33, 1903 von 205 Angeklagten 47 und 1904 von 191 Angeklagten 44 freigesprochen worden (Angaben ebd.). 12 Vgl. die Mitteilungen in: ZStW 27 (1907), S. 593 ff. 13 Abdr. des AE ebd., S. 594; desgleichen in: JMBl, S. 15. Mit Rundverfügung vom folgenden Tag wies Beseler die Ersten Staatsanwälte an, fortan über alle Verurteilungen wegen Majestätsbeleidigung, sobald das Urteil rechtskräftig sei, zu berichten und die Strafvollstreckung vorläufig auszusetzen. In den bereits abgeurteilten Fällen sollte die Strafvollstreckung nur dann unterbrochen werden, wenn nach dem Ermessen der Staatsanwaltschaft die Voraussetzungen des Erlasses vorlägen (AV v. 28. 1. 1907, in: JMBl, S. 16).
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fünf Jahre) herabgesetzt werden. Die Kommission des Reichstags erhöhte die Voraussetzungen für die Strafbarkeit noch einmal, indem die Beleidigung „in der Absicht der Ehrverletzung, böswillig und mit Überlegung“ erfolgt sein mußte, strich die administrative Genehmigungspflicht und senkte das Strafminimum im Falle mildernder Umstände auf eine Woche Gefängnis oder Festungshaft. In dieser Fassung erlangte die Vorlage Rechtskraft14. Auch wenn die neuen Vorschriften nicht unwidersprochen blieben (vor allem die Unbestimmtheit der Strafvoraussetzungen stieß auf Bedenken), marginalisierten sie den Tatbestand der Majestätsbeleidigung in der Praxis15. Wie in einem Brennglas spiegeln sich im Majestätsbeleidigungskomplex Aufstieg und Niedergang der wilhelminischen Monarchie wider. Hatte der Versuch des „persönlichen Regiments“ zwischen 1894 und 1900, also der Blütezeit des § 95 StGB, durchaus einige Erfolge gezeitigt (vor allem in personalpolitischer Hinsicht), so schwächte sich der unmittelbare politische Einfluß des Kaisers mit der Ernennung Bülows zum Reichskanzler, an sich vorläufiger Höhepunkt der Selbstregierung, ab. Durch die im Herbst 1906 einsetzenden Angriffe Hardens auf die Kamarilla und die sich anschließenden Sensationsprozesse (auf die in anderem Zusammenhang noch zurückzukommen sein wird) sowie, stärker noch, durch die Daily-Telegraph-Affäre vom Herbst 1908 gerieten Monarch und Monarchie schließlich in eine schwere Krise. Der Autoritätsverlust war so groß, daß Harden, selbst mehr als einmal Opfer des Majestätsbeleidigungsparagraphen, den Spieß auf dem Höhepunkt der Daily-Telegraph-Affäre – straflos – umkehren konnte, indem er, gemünzt auf den Kaiser, schrieb: „Wir wollen nicht Tag vor Tag in unserem Kulturgefühl gebildeter Europäer durch Rede und Schrift beleidigt sein“16. In der Folgezeit zog sich Wilhelm II. dann zunehmend aus dem öffentlichen und politischen Leben zurück. 2. Sieht man vom Sonderfall der Majestätsbeleidigung ab, so erfüllten Beleidigungsdelikte weiterhin die Funktion einer allgemeinen subsidiären Strafvorschrift für politische Vergehen, zumal der „grobe Unfug“ nach 1900 stark an Bedeutung verlor. Dennoch schwächte sich das Wachstum der Beleidigungsklagen im neuen Jahrhundert ab. Seit 1904 lag die Zahl der Angeklagten zwar stets über der 80.000er-Marke, aber nur einmal (1912) wurde die Grenze von 90.000 überschritten. Legt man den untersten Wert (1900: 70.777) und den obersten (1912: 92.234) zugrunde, so erhöhte sich die Zahl der Angeklagten um 30,32 %. Dies ist insofern 14 RT-Vorlage v. 25. 4. 1907, Sten. Ber. RT, XII. Leg., I. Sess., Drks. Nr. 348; 1. Lesung: ebd., 23. 11. 1907, S. 1729 – 1750; Bericht der XI. Kommission v. 9. 1. 1908, ebd., Drks. Nr. 564; 2. Lesung: ebd., 21. 1. 1908, S. 2594 – 2608; 3. Lesung: ebd., 23. 1. 1908, S. 2668 – 2670; RGBl, S. 25. 15 Literatur: K. v. Lilienthal, Über den Entwurf eines Gesetzes betreffend die Bestrafung der Majestätsbeleidigung, in: ZStW 27 (1907), S. 915 – 921; O. Hamm, Verbrechen und Vergehen gegen den Staat, in: P. F. Aschrott / F. v. Liszt (Hg.), Die Reform des Reichsstrafgesetzbuchs, Bd. 2, Berlin 1910, S. 1 – 37, hier S. 16 – 21, 35. 16 Gegen den Kaiser III, in: Die Zukunft v. 21. 11. 1908, S. 304 (zit. n. Weller, S. 159).
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kein realistisches Ergebnis, als beide Werte deutlich aus dem Rahmen fallen. Sachlich angemessener erscheint es, die jeweils benachbarten Jahre (1901: 74.742 / 1911: 86.573) als Eckpunkte heranzuziehen. Hieraus ergibt sich eine Steigerungsrate von 15,83 %, die unter dem Bevölkerungswachstum der Jahre 1900 bis 1913 (19,50 %) liegt17. Trotz der eindringlichen und detaillierten Anweisungen Schönstedts an die Staatsanwaltschaft änderte sich an der Urteilspraxis wenig. Mit durchschnittlich 73,02 % lag die Verurteilungsquote im Zeitraum 1900 – 1913 noch etwas niedriger als in den 90er Jahren (74,2 %), wobei der relativ hohe Prozentsatz eingestellter Verfahren nicht vergessen werden darf. Die Geldstrafe war weiterhin auf dem Vormarsch: Im Jahre 1911 umfaßte sie 86,8 % aller wegen Beleidigung verhängten Strafen. In der Strafzumessung – die §§ 185 – 187, 189 StGB drohten Geldstrafen in Höhe von 3 bis 1.500 Mark an – orientierten sich die Richter am gesetzlichen Minimum. 1911 überstiegen nur 1,63 % aller Geldstrafen einen Wert von 100 Mark, 2,9 % bewegten sich zwischen 61 und 100 Mark, 10,0 % zwischen 31 und 60 Mark, 29,8 % zwischen 16 und 30 Mark, 10,5 % zwischen 11 und 15 Mark, 21,0 % zwischen 7 und 10 Mark, und 24,2 %, also beinahe ein Viertel, lagen unter 6 Mark18. Bei der Gefängnisstrafe sah es nicht anders aus. Im Falle einfacher Beleidigung (§ 185 StGB) und übler Nachrede (§ 186 StGB) lauteten im Jahrfünft 1902 – 06 16,9 % aller gegen Erwachsene erkannten Strafen auf Gefängnis. Davon entfielen – der Strafrahmen erstreckte sich von einem Tag bis zu einem resp. zwei Jahren – 0,0 % auf ein bis zwei Jahre, 1,1 % auf drei bis zwölf Monate, 2,9 % auf ein bis drei Monate, 7,1 % auf acht bis dreißig Tage, 4,4 % auf vier bis sieben Tage und 1,4 % auf drei Tage und weniger. Bei der Verleumdung (§ 187 StGB; Strafrahmen: ein Tag bis fünf Jahre Gefängnis) lauteten die entsprechenden Zahlen (bei 46,7 % Gefängnisstrafe): zwei Jahre und mehr: 0,1 %; ein bis zwei Jahre: 0,5 %; drei bis zwölf Monate: 7,8 %; ein bis drei Monate: 14,5 %; acht bis dreißig Tage: 15,3 %; vier bis sieben Tage: 6,6 %; drei Tage und weniger: 1,9 %19. Wieder einmal erwies sich die Strafzumessung als eigentliche Domäne richterlicher Unabhängigkeit. Dies macht verständlich, weshalb Preußen und die Reichsleitung darauf drängten, den Komplex „Beleidigungen“ in den – später noch zu behandelnden – Entwurf zur Strafrechtsnovelle aufzunehmen. Wie nicht anders zu erwarten, kam der Rückgang der politischen Strafverfolgung in erster Linie den Sozialdemokraten zugute. Sie stellten zwar weiterhin das Gros der Angeklagten, der Umfang des Strafkontos, über das der SPD-Vorstand 17 Wegen Verstoßes gegen die §§ 185 – 187, 189 StGB abgeurteilte und verurteilte Personen: 1900: 70.777 / 52.883; 1901: 74.742 / 55.752; 1902: 78.349 / 58.125; 1903: 77.766 / 57.710; 1904: 82.368 / 60.913; 1905: 81.283 / 59.482; 1906: 82.689 / 61.047; 1907: 83.031 / 60.895; 1908: 82.011 / 59.830; 1909: 82.827 / 59.673; 1910: 84.058 / 60.344; 1911: 86.573 / 61.899; 1912: 92.234 / 66.006; 1913: 85.548 / 61.002 (nach den jährlichen Übersichten in der KrSt); Bevölkerungswachstum errechnet nach Nipperdey, I, Tab. S. 10. 18 Zahlen nach: KrSt 1911, I. 125, Übers. 40 und I. 47. 19 Zahlen nach: KrSt 1906, I. 43, I. 44 und I. 186, Übers. 38.
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alljährlich dem Parteitag Bericht erstattete, blieb aber deutlich unter dem Niveau der 90er Jahre und wies seit 1901 – ungeachtet aller Schwankungen – eine rückläufige Tendenz auf. Zuchthausstrafen wurden seit 1908 überhaupt nicht mehr verhängt, dafür nahmen die Geldstrafen seit 1906 zu. Ein Indiz für die Entwicklung mag man in der Tatsache erblicken, daß es der Parteivorstand in den beiden Vorkriegsjahren nicht mehr für erforderlich hielt, sich einen Überblick über die Gesamtsumme der Verurteilungen zu verschaffen20. 3. Die Zunahme der Streik- und Koalitionsjustiz war eine Folge des Siegeszugs der Freien Gewerkschaften, der sich nach der Jahrhundertwende fast geradlinig fortsetzte. Zwischen 1903 (887.698) und 1913 (2.548.763) konnten die Zentralverbände ihre Mitgliederschaft beinahe verdreifachen. Überstieg der freigewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmerschaft 1903 nur in den drei Hansestädten die Zehn-Prozent-Marke, so lag er 1906 bereits in neun Bundesstaaten über dieser Grenze, in den drei Hansestädten sogar über 20 %. Im Jahre 1913 hatten fast alle Länder die Marke hinter sich gelassen, in vier Bundesstaaten betrug der Anteil über 20 %, in Lübeck, Bremen und Hamburg zwischen 40 % und 56 %. Entsprechend stieg die Zahl der Streiks und der Streikteilnehmer deutlich an, wobei Schwankungen die jeweilige konjunkturelle Lage reflektieren. Seit 1905 fanden im Reich jährlich mehr als 2.000 Streiks und Aussperrungen statt, Höchstwerte wurden 1906 (3.480) und 1910 (3.194) erreicht. Die Zahl der streikenden Arbeiter bewegte sich zwischen 48.522 (1901) und 479.589 (1912) resp. 507.964 (1905)21. Angesichts der gesteigerten Intensität des gewerblichen Kampfes nahmen Fragen des Streik- und Koalitionsrechts in der öffentlichen Diskussion einen breiten Raum ein22. Statistisches Material über die Handhabung der Streikjustiz liegt wiederum nur zum § 153 GO vor. Die zunehmende Streiktätigkeit, aber auch die 20 Gegen Sozialdemokraten verhängte Strafen (die Zahlen bezeichnen die Zuchthaus- und Gefängnisstrafen in Jahren und Monaten sowie die Geldstrafen in Mark; bei zwei Angaben nur Gefängnis- und Geldstrafe; das Berichtsjahr umfaßte jeweils die Zeit vom 1. 4. bis 31. 3. des folgenden Jahres): 1900: 6 / 8, 64 / 7, 16.427; 1901: 2, 33 / 1, 26.900; 1902: 3, 48 / 8, 17.659; 1903: 14, 36 / 6, 16.707; 1904: 43 / 2, 21.552; 1905: 2 / 3, 65 / 7, 15.400; 1906: 2 / 4, 66 / 1, 24.861; 1907: 2 / 6, 33 / 10, 30.600; 1908: 20 / 2, 33.446; 1909: 27 / 10, 28.450; 1910: 36 / 10, 30.524; 1911: 26 / 1, 32.609 (Schröder, Handbuch, S. 476; Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1910 bis 1913, München 1917, S. 296 f.). Für die Jahre 1912 und 1913 liegen nur Angaben über die Preßprozesse vor, die einzelne Redaktionen zusammengestellt hatten. Danach wurden im Berichtsjahr 1912 sozialdemokratische Redakteure zu 7 Jahren, 7 Monaten Gefängnis und 40.883 Mark Geldstrafe, im ersten Halbjahr 1913 zu 39 Monaten, 8 Wochen Gefängnis und 10.745 Mark Geldstrafe verurteilt (Handbuch 1910 bis 1913, S. 297). 21 Vgl. Schönhoven, Tab. 6, S. 125; Tab. 7, S. 127; Tab. 12, S. 148; Tab. 3, S. 108. 22 Zum Themenkomplex: Siegfried Nestriepke, Das Koalitionsrecht in Deutschland, [Berlin 1914] (Fortsetzung der Legienschen Arbeit aus dem Jahre 1899); K. Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich, Düsseldorf 1974, S. 188 ff. (Sauls materialreiche Untersuchung, die sich auf die Jahre 1903 bis 1914 konzentriert, deckt sich im Urteil völlig mit der Agitation der SPD; von daher übernimmt er kritiklos den Vorwurf der Klassenjustiz); weiterhin: Schröder, Kartellrecht; Köhne, S. 271 ff.
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schwankende Streikbeteiligung spiegeln sich grosso modo in der Zahl der angeklagten Personen wider. Der Höchstwert des Jahres 1912 (1.589 Angeklagte) erklärt sich in erster Linie mit dem großen Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet. Die Verurteilungsquote fiel mit 60,14 % weiterhin sehr niedrig aus und blieb im Vergleich zu den 90er Jahren praktisch stabil (59,6 %). Der Anteil der Verurteilten an der Gesamtzahl der Streikenden lag stets weit unter einem Prozent: 1908 erreichte er mit 0,63 % den höchsten Stand der Vorkriegszeit23. Auch die Strafzumessung – der Strafrahmen bewegte sich zwischen einem Tag und drei Monaten Gefängnis – blieb ausgesprochen milde. Im Jahrfünft 1902 / 06 verteilten sich die gegen Erwachsene verhängten Strafen wie folgt: mehr als drei Monate: 0,6 %; ein bis drei Monate: 7,3 %; acht bis dreißig Tage: 24,4 %; vier bis sieben Tage: 32,2 %; drei Tage und weniger: 35,1 %. Mehr als zwei Drittel aller Strafen überschritten nicht einmal die Wochengrenze, neun Zehntel lagen unter einem Monat24. Gegenüber den 90er Jahren waren die Strafen damit sogar noch gesunken. Erneut bestätigt sich, daß die lautstarken Klagen über die harte Bestrafung von Streikvergehen, die von Gewerkschaftlern und Sozialdemokraten regelmäßig intoniert wurden, in der Handhabung des § 153 GO keine Stütze finden25. Die Proteste entsprangen, wie bereits dargelegt, vielmehr dem Bewußtsein, unter einem Ausnahmerecht zu stehen, das Handlungen mit Freiheitsentzug bedrohte, die außerhalb des gewerblichen Zusammenhangs überhaupt keine oder nur geringfügige Geldstrafen nach sich gezogen hätten. Aus diesem Grunde war es der gewerkschaftlichen Publizistik auch „ideologisch“ verwehrt, die Urteile in die allgemeine Spruchpraxis der Gerichte einzuordnen und damit zu einer differenzierteren Bewertung zu gelangen. Stattdessen führte man die geringe Prozeßquote auf die Disziplin der Streikenden, die hohe Freisprechungsrate auf den Umstand zurück, daß viele Anzeigen erst auf Druck der Unternehmer zustande kämen und von daher wenig substantiiert seien – was beides auf seine Weise sicherlich zutraf, aber bestenfalls die halbe Wahrheit darstellte26. Trotz fehlenden Zahlenmaterials darf als gesichert gelten, daß die Gerichte in steigendem Maße auf Vorschriften des gemeinen Strafrechts zurückgriffen. Nestriepke schätzt den Anteil entsprechender Anklagen auf zwanzig bis dreißig Prozent27. Insbesondere der Erpressungsparagraph (§ 253 StGB), der das Verschaffen 23 Wegen Verstoßes gegen § 153 GO abgeurteilte und verurteilte Personen: 1900: 312 / 195; 1901: 327 / 187; 1902: 225 / 125; 1903: 538 / 318; 1904: 636 / 395; 1905: 1.304 / 785; 1906: 1.697 / 1.096; 1907: 1.281 / 785; 1908: 715 / 434; 1909: 664 / 386; 1910: 935 / 544; 1911: 1.177 / 696; 1912: 1.589 / 934; 1913: 826 / 473 (nach den jährlichen Übersichten in der KrSt). 24 Zahlen nach: KrSt 1906, I. 55 und I. 186, Übers. 38. 25 Vgl. etwa Nestriepke, S. 125 ff. (mit zahlreichen Beispielen). 26 Vgl. Nestriepke, S. 118 f., 158 f.; ebenso Saul, S. 263 f., der – unter Hinweis auf die allgemeine Urteilspraxis – eine besondere Milde bei der Streikjustiz ausdrücklich in Abrede stellt. 27 Nestriepke, S. 158.
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eines „rechtswidrigen Vermögensvorteils“ mit Gefängnis nicht unter einem Monat bestrafte, wurde verstärkt auf die Ankündigung eines Streiks oder Boykotts angewandt. Die Erweiterung des Tatbestandes, für die die Rechtsprechung des Reichsgerichts verantwortlich zeichnete, reichte in ihren Ursprüngen zwar länger zurück, brach sich aber erst jetzt offen Bahn, was nicht zuletzt mit der abgelehnten Zuchthausvorlage von 1899 zusammenhängen dürfte28. Wolfgang Heine, nach der Jahrhundertwende gemeinsam mit Arthur Stadthagen justizpolitischer Sprecher der SPD-Reichstagsfraktion, hob immer wieder die damit verbundenen Gefahren für die Koalitionsfreiheit hervor29. Nicht minder heftig griffen Vertreter der Christlichen Gewerkschaften und der liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine die Streik- und Koalitionsjustiz an30. Auch im Reichsjustizamt hielt man die Erpressungsjudikatur des Leipziger Gerichts für überzogen, weshalb die Materie Eingang in den Entwurf der Strafrechtsnovelle von 1909 fand31. Insgesamt war das Verhältnis zwischen Justizbehörden und Streikteilnehmern ambivalent: Während die Staatsanwälte Arbeitskämpfe verstärkt unter die Lupe nahmen (der Anteil stieg von 14,6 % aller Fälle im Jahrfünft 1899 / 1903 auf 20,1 % im Jahrfünft 1909 / 1913), sank die Zahl der Bestraften von 9,5 (1890 / 94) auf 1,8 (1909 / 1913) pro Tausend Streikende32. Die sachlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Koalitionsrechts zeigten sich nirgends deutlicher als beim § 153 GO, dessen Anwendungsbereich sich gleich in mehrfacher Hinsicht verschob. Zunächst fand eine Ausdehnung auf den gewerkschaftlichen Organisationszwang statt. Damit war die immer wieder anzutreffende Neigung von Gewerkschaftlern gemeint, Unorganisierte oder Mitglieder konkurrierender Gewerkschaften unter teilweise massivem Druck zum Beitritt zur eigenen Organisation zu zwingen – ein Phänomen, das auf anderen Ebenen seine Parallele fand und unter dem Schlagwort vom „sozialdemokratischen Terrorismus“ bekannt wurde33. Zweifellos handelte es sich hierbei um schwerwiegende Eingriffe 28 Grundlegend war das RG-Urteil vom 6. 10. 1890 (Entsch. Bd. 21, S. 114); weiterhin: Urteil v. 9. 2. 1899 (DJZ 4, 1899, S. 238); Urteile v. 13. 11. und 30. 11. 1906 (Soziale Praxis 16, 1906 / 07, S. 545 f.). 29 Vgl. Wolfgang Heine, Koalitionsrecht und Erpressung, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 17 (1902), S. 589 – 618; ders., Sten. Ber. RT, 1. 3. 1904, S. 1423 f. sowie ebd., 20. 4. 1907, S. 974 ff.; weiterhin: Hugo Haase, Koalitionsrecht und Erpressung, in: Neue Zeit 20 / 2 (1901 / 02), S. 329 – 335 (auch in: Joseph, S. 215 – 226). 30 Beispiele bei Saul, S. 190 f. 31 Zur Position des RJA: v. Tischendorf, Koalitionszwang und Erpressung im gewerblichen Lohnkampfe, in: GA 54 (1907), S. 441 – 458 (Geh. Oberreg.rat im RJA); Nieberding, Sten. Ber. RT, 20. 4. 1907, S. 981 ff.; zur StGB-Novelle unten Kap. I / 3. 32 Zahlen nach Nipperdey, I, S. 331. 33 Dazu: Nestriepke, S. 156 ff.; Franz Klühs, Terror, Magdeburg [1912]. Über zwei Fälle von „sozialdemokratischem Terrorismus“ gegenüber Schöffen berichtete Vierhaus, damals OLG-Präsident in Breslau, Anfang 1911 an den Justizminister. In der Sache handelte es sich um den Boykott von zweien als Schöffen tätigen Kaufleuten. Vierhaus zweifelte nicht, daß sich ähnliche Fälle, „die ein bedenkliches Licht auf die Laienbeteiligung an der Strafjustiz
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in die Persönlichkeitsrechte des einzelnen Arbeitnehmers. Obwohl der § 153 GO nur den Zwang zu „Verabredungen“, nicht aber zu „Vereinigungen“ unter Strafe stellte, legte Schönstedt – auf Betreiben von Innenminister Hammerstein-Loxten – in einer Verfügung vom 25. 11. 1901 seine Ansicht dar, daß die Vorschrift grundsätzlich auch auf den gewerkschaftlichen Organisationszwang anwendbar sei. In erster Linie wollte der Justizminister damit ein Grundsatzurteil des Reichsgerichts herbeiführen, das in seiner Entscheidung vom 25. 4. 1902 der ministeriellen Auffassung in der Tat Recht gab34. Die Urteilsbegründung, der mangelhafte Wortlaut des Paragraphen sei lediglich auf eine „nicht ganz sorgfältige Redaktion des vom Gesetzgeber Gewollten“ zurückzuführen, mochte auf den ersten Blick zwar als plumpe Rechtsbeugung erscheinen, war aber, wie der Gesetzestext ausweist, durchaus nachvollziehbar. Dennoch lösten Schönstedts Vorgehen wie auch das Urteil des Reichsgerichts bei Gewerkschaften, Sozialdemokraten, Linksliberalen und gewerkschaftsnaher Zentrumspresse schärfste Proteste aus35. Ungeachtet dessen setzte sich die Bestrafung des Organisationszwangs mit Hilfe des § 153 GO, aber auch der Erpressungsvorschrift in den folgenden Jahren durch. Die Vorgänge illustrieren, wie verhärtet die Fronten in Fragen des Koalitionsrechts waren: Die Schönstedtsche Initiative, der Sache nach völlig berechtigt, provozierte reflexartig den Vorwurf, einseitig für die Unternehmer Partei zu ergreifen und die Koalitionsfreiheit aushöhlen zu wollen. Daß die Proteste nicht wirkungslos verhallten, zeigte sich einige Jahre später: Als sich das Kammergericht 1906 der reichsgerichtlichen Auffassung anschloß, nahm Justizminister Beseler – unter ausdrücklichem Hinweis auf die zu erwartenden Reaktionen – davon Abstand, die Entscheidung im Ministerialblatt zu veröffentlichen36. Daneben erfuhr der § 153 GO in zwei Richtungen eine Einschränkung (im ersten Fall handelte es sich genau genommen um die Rücknahme einer Erweiterung). In mehreren Urteilen hatte das Reichsgericht seit Ende der 90er Jahre die Bestrafung des Koalitionszwangs auf die gegnerische Seite im Arbeitskampf ausgedehnt37. Damit war die Ankündigung von Streik- und Boykottmaßnahmen grundsätzlich werfen“, leicht würden ermitteln lassen (Vierhaus an Beseler, 14. 1. 1911, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 10773). 34 Zum ganzen Saul, S. 255 ff.; Abdr. des Urteils in: JMBl, S. 99 ff.; vgl. auch die Erläuterungen Schönstedts im Abgeordnetenhaus (Sten. Ber., 17. 2. 1902, S. 1882). 35 Müller-Meiningen meinte, der Runderlaß sei geeignet, „im höchsten Grade das Gefühl einer gewissen Klassenjustiz in weiten Kreisen unserer Arbeiterschaft aufkommen zu lassen“ (Sten. Ber. RT, 8. 2. 1902, S. 4043 f.); weiterhin: Heine, ebd., S. 4023 f.; Hirsch (FsVP), Sten. Ber. AH, 18. 2. 1902, S. 1959 ff.; KV v. 18. 2. 1902. 36 Wie sein Vorgänger ging Maximilian v. Beseler (1841 – 1921), Sohn des bekannten Politikers und Juristen Georg Beseler, aus der Richterschaft hervor. 1863 in den preußischen Justizdienst eingetreten, war er 1897 OLG-Präsident in Kiel, 1904 in Breslau geworden. Beseler bekleidete das Amt des preußischen Justizministers vom 21. 11. 1905 bis zum 5. 8. 1917 (Rücktritt aus Altersgründen). 37 Urteil v. 23. 6. 1896; Urteil v. 23. 11. 1897 (Entsch. Bd. 30, S. 359); Urteil v. 30. 4. 1903 (Entsch. Bd. 36, S. 236); zum ganzen Saul, S. 239 ff.; Köhne, S. 277 ff.
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strafbar geworden – eine Extension, die das Koalitionsrecht in seinem Kern in Frage stellte. In zwei Erlassen vom März und Juli 1907 wies Nieberding den Oberreichsanwalt an, auf eine Änderung der höchstrichterlichen Auffassung zu drängen. Der Aufforderung kamen die Leipziger Richter ein Jahr später mit dem Urteil vom 26. 6. 1908 nach38. Weiterhin bestimmte das Reichsgericht in seiner Entscheidung vom 14. 4. 1910, daß bei gleichzeitiger Verletzung des § 153 GO und einer Vorschrift des Strafgesetzbuchs nicht, wie bislang angenommen, Idealkonkurrenz, sondern lediglich Gesetzeskonkurrenz bestünde. Damit war der umstrittene Gewerbeordnungsparagraph zu einer subsidiären Strafnorm herabgestuft, mit der Folge, daß Streikvergehen künftig auch mit einer Geldstrafe geahndet werden konnten (sofern das gemeine Strafrecht dies zuließ). Die neue Auffassung drang allerdings erst allmählich durch, weshalb sie sich bis Kriegsausbruch in der Prozeßstatistik noch nicht eindeutig niederschlug39. Auch beim größten Arbeitskampf der Vorkriegszeit, dem Streik der Ruhrbergarbeiter im Jahre 1912, blieben die Gerichte ihrer Linie grosso modo treu. In gesamtpolitischer Hinsicht kam dem Ausstand eine überragende Bedeutung zu. Unterstützt von den beiden konservativen Parteien, hatten die Industrie- und Unternehmerverbände seit 1910 auf breiter Front eine Agitation für den verstärkten gesetzlichen Schutz der Arbeitswilligen entfacht, in die vielfach auch Unmut über die Rechtsprechung einfloß40. Seit dem Sieg der SPD bei der Reichstagswahl Anfang 1912 – mit 110 Mandaten stieg die Partei zur stärksten Fraktion im Parlament auf – stand darüber hinaus die Frage im Raum, ob bzw. wie dem scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug der Sozialisten überhaupt noch Einhalt geboten werden könne. In dieser Situation entschlossen sich die Deutsch-Konservativen, den „Frontalangriff auf die terroristische Machtposition der Sozialdemokratie und ihrer Gewerkschaften bei Streiks“ in den Mittelpunkt einer verschärften antisozialistischen Strategie zu stellen – Hauptforderung war das gesetzliche Verbot des Streikpostenstehens41. Als Nagelprobe galt der Ausstand im Ruhrrevier. Wichtigstes Streikziel waren höhere Löhne, daneben ging es um die Einführung des 8-Stunden-Tages und ein paritätisches Schiedsgericht. Der Arbeitskampf, seine gesamte Dauer über (11. – 20. 3. 1912) beherrschendes Thema der öffentlichen Diskussion, umfaßte auf seinem Höhepunkt mit 235.000 Streikenden rund 62 % der Belegschaft. Er scheiterte vor allem an der Haltung des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter, dessen Mitglieder dem Ausstand fernblieben. Aber auch der massive Einsatz von Polizei- und Militärkräften, die zum Schutz der Zechen und Arbeitswilligen aufgeboten wurden, trug das Seinige dazu bei. Entsch. Bd. 41, S. 365. Vgl. Nestriepke, S. 113 f. 40 Zu den Bestrebungen Saul, S. 300 ff.; Köhne, S. 289 ff. 41 Vgl. Graf Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, Bd. 1, Berlin 1935, S. 343 – 348, Zitat S. 344 (Kuno Graf v. Westarp war seit November 1913 Fraktionsvorsitzender der Deutsch-Konservativen im Reichstag); weiterhin hierzu sowie zum folgenden Nestriepke, S. 120 ff.; Saul, S. 269 ff. 38 39
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Trotz zahlreicher Zusammenstöße zwischen Streikenden und Arbeitswilligen bzw. Polizeiorganen waren schwere Ausschreitungen ausgeblieben. Dennoch hatte der Ausstand eine Flut von Streikprozessen zur Folge, die sich bis zum Frühsommer 1912 hinzogen. Sie zeichneten sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus, deren Rechtmäßigkeit umstritten blieb. Zur Verfahrensbeschleunigung begrenzte man die Erklärungsfrist für die in Haft befindlichen Angeklagten auf 24 Stunden, und den Angeschuldigten wurden Reverse vorgelegt, in denen sie den Verzicht auf die einwöchige Ladungsfrist erklären konnten (was die meisten auch taten). Weiterhin stockte die Justizverwaltung das Personal der Gerichte und Staatsanwaltschaften auf, an den Landgerichten in Dortmund und Bochum wurden sogar Sonderstrafkammern zur Aburteilung von Streiksündern eingerichtet. Prompt war in der sozialdemokratischen Presse von „Schnelljustiz“, „Galoppjustiz“, „Standrecht“ u. ä. die Rede. Über das übliche Maß hinaus kam zudem das Mittel der Untersuchungshaft zur Anwendung42. Ungeachtet dessen bewegte sich die Urteilspraxis, aufs Ganze gesehen, im herkömmlichen Rahmen. Insgesamt wurden über 2.000 Streikdelikte gerichtlich verfolgt (die genaue Zahl läßt sich nicht mehr feststellen). Der Bergarbeiterverband gewährte 1.380 Personen Rechtsschutz in Streiksachen, allesamt Verbandsmitglieder oder deren Angehörige. In den 1.206 Fällen, von deren Ausgang der Verband Kenntnis erhielt, wurden 573 Männer und 232 Frauen zu einer Gefängnis- oder Geldstrafe verurteilt. Dies entsprach – gemessen am Spitzenwert – einem Anteil von 0,32 % aller Streikteilnehmer. 372 Angeklagte wurden freigesprochen, und in 29 Fällen mußte das Verfahren eingestellt werden, zusammen immerhin ein Drittel aller Fälle (33,2 %). In der Summe beliefen sich die Strafen auf 30 Jahre, 11 Monate, 4 Wochen und 4 Tage Gefängnis sowie 16.345 Mark Geldstrafe. In über 50 % der Fälle entschieden die Gerichte auf Geldstrafe, eine Folge der erwähnten Entscheidung des Reichsgerichts. Im Durchschnitt lagen die Geldstrafen bei 38,73 Mark, die Gefängnisstrafen bei 0,97 Monaten, also etwa 29 Tagen. Etwa zwei Drittel aller Delikte wurde nach den Beleidigungs- und Nötigungsparagraphen des Strafgesetzbuchs abgeurteilt43. Unter den 1.738 Strafakten, die nach Beendigung 42 Hierzu: Die Streikjustiz im Ruhrrevier, hg. v. Vorstande des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands, Bochum 1913 (mit zahlreichen Fallbeispielen und Urteilsauszügen); Paul Wolf, Die Streikjustiz im Ruhrgebiet, in: Neue Zeit 30 / 2 (1911 / 12), S. 84 – 87; Siegfried Weinberg, Die Verkürzung der Ladungsfrist in den derzeitigen Streikprozessen im Ruhrrevier, in: JW 41 (1912), S. 630 – 632 (RA in Berlin); Heine, Sten. Ber. RT, 19. 4. 1912, S. 1248 f.; Karl Liebknecht, Schnellfeuerjustiz im Ruhrrevier, in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 5, Berlin (Ost) 1963, S. 327 – 340 (AH-Rede v. 4. 5. 1912) sowie überhaupt die AH-Debatte vom 4. 5. 1912; die Maßnahmen verteidigend: Pomp, Zur Galoppjustiz im Streikrevier, in: DRZ 4 (1912), S. 339 f.; ders., Klassenjustiz und kein Ende, in: ebd., S. 426 – 429 (LR in Essen). 43 Angaben und Berechnungen nach Streikjustiz, S. 4 f.; vgl. auch Saul, S. 217. Saul gelangt, da er den jeweiligen Strafrahmen außer acht läßt, gerade zum gegenteiligen Ergebnis und spricht von „exemplarisch harten Strafen“. Im einzelnen wurden verurteilt: vier Männer zu mehr als einem Jahr, 70 zu mehr als einem Monat (durchschnittlich 2 Monate, 14 Tage), 177 zu mehr als einer Woche (durchschnittlich 17 Tage), 48 zu einer Woche und weniger
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der Prozesse im Reichsamt des Innern einer Durchsicht unterzogen wurden, befanden sich nur 370 Verurteilungen nach § 153 GO. Die Strafstufen verteilten sich dabei wie folgt: ein Tag Gefängnis: 12 Angeklagte, zwei bis sechs Tage: 81, ein bis zwei Wochen: 193, drei Wochen: 27, mehr als vier Wochen: 51. Die rund 900 Beleidigungsklagen endeten zu zwei Dritteln mit einer Geldstrafe44. Im Vergleich fielen die Gefängnisstrafen beim Ausstand im Ruhrgebiet deutlich höher aus als bei Streikdelikten gemeinhin üblich, ohne sich indes allzu weit vom jeweiligen Strafminimum zu entfernen. Auf der anderen Seite machten die Richter ausgiebig von der Geldstrafe Gebrauch, die in der Regel aus der Gewerkschaftskasse gezahlt wurde. Unter dem Strich änderte sich die Spruchpraxis somit nicht grundlegend. Aus den bereits genannten Gründen wurden die Verfahren von gewerkschaftlich-sozialdemokratischer Seite dennoch als Paradebeispiel einer Klassenjustiz angeprangert. Der Bergarbeiterverband kam zu dem Schluß, „daß die Streikprozesse sehr viel dazu beigetragen haben, das Mißtrauen gegen unsere Justiz bei den Arbeitern zu nähren, wenn nicht gar den letzten Rest von Vertrauen zu unserer Rechtsprechung zu zerstören“. Karl Liebknecht schloß seine flammende Anklagerede im Abgeordnetenhaus mit der berühmt gewordenen Sentenz, die Vorgänge im Ruhrrevier hätten dokumentiert, daß man in Preußen-Deutschland „in dem klassischen Lande der Klassenjustiz“ lebe45. Ein interessantes Nachspiel bildete der Prozeß gegen den Rechtsanwalt Paul Levi, später einer der führenden Sozialisten, und zwei sozialdemokratische Redakteure, der am 5. / 7. 10. 1912 vor der Essener Strafkammer verhandelt wurde46. Levi hatte Ende März in einer Bergarbeiterversammlung in Essen eine Rede über die Streikprozesse am dortigen Landgericht gehalten und dabei mit den Worten geschlossen, „daß die Streikjustiz den Eindruck der Klassenjustiz hervorrufe“. Sinngemäß waren seine Ausführungen von zwei sozialdemokratischen Zeitungen veröffentlicht worden. Daraufhin erhob der zuständige Staatsanwalt Anklage wegen Beleidigung des Gerichts, was dieses in die eigentümliche Lage versetzte, (durchschnittlich sechs Tage); fünf Frauen erhielten mehr als einen Monat, 54 mehr und 25 weniger als eine Woche Gefängnis. Eine Dortmunder Korrespondenz, die Mitte Juni 1912 von der sozialdemokratischen Presse verbreitet wurde, gab weit höhere Freiheitsstrafen an: Danach wären gegen 510 Männer und 166 Frauen insgesamt 85 Jahre, 3 Monate, 2 Wochen und 5 Tage Gefängnis sowie 11.669 Mark Geldstrafe verhängt worden (Klühs, S. 15). Die Meldung dürfte auf falschen Informationen oder gezielter Propaganda beruht haben. 44 Angaben nach Saul, S. 217 ff. 45 Streikjustiz, S. 5; Liebknecht, Schnellfeuerjustiz, S. 340. 46 Prozeßbericht: Die Streikjustiz vor Gericht, Bochum 1912; verteidigt wurde Levi von Wolfgang Heine. Paul Levi (1883 – 1930), RA in Frankfurt / M. (seit 1908), später in Berlin (seit 1922), war 1920 – 1930 MdR (zunächst Mitglied des Spartakusbundes, 1919 – 1921 Vorsitzender der KPD, April 1921 Parteiausschluß, Februar 1922 Beitritt zur USPD, September 1922 Wechsel zur SPD, später Links-Opposition); zu Levi zuletzt: I. Mayer, Paul Levi (1883 – 1930), in: R. Weber / dies. (Hg.), Politische Köpfe aus Südwestdeutschland, Stuttgart 2005, S. 137 – 146 (m. w. Nachw.).
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in eigener Sache entscheiden zu müssen. Die Verhandlung stand ganz im Zeichen der Frage, ob der Begriff „Klassenjustiz“ bewußte Rechtsbeugung oder unbewußte Voreingenommenheit, gepaart mit mangelndem sozialen Verständnis, meine. Die Richter werteten die inkriminierte Äußerung als objektive Beleidigung und verurteilten Levi zu der – nicht gerade geringen – Geldstrafe von 300 Mark; die beiden mitangeklagten Redakteure mußten je 100 Mark zahlen. Aufs Ganze gesehen hinterläßt die Streikjustiz ein zwiespältiges, ja leicht irritierendes Bild: So sehr die Empörung der Arbeiterschaft über ein offensichtliches Ausnahmerecht verständlich erscheint, so wenig läßt sich von einer dezidiert arbeiterfeindlichen Einstellung der Gerichte sprechen. In der generellen Beurteilung von Streikvergehen verhielten sich die Richter nicht anders als bei anderen Straftatbeständen auch. Da die Sozialdemokraten dies geflissentlich übersahen, war ihren Klagen ein gehöriges Stück Agitation beigemischt. Obwohl (oder gerade weil) der § 153 GO von „rechts“ wie von „links“ scharf angegriffen wurde, änderte sich an der gesetzlichen Lage bis Kriegsausbruch nichts. Erst im Zuge der Reformen des letzten Kriegsjahres wurde die umstrittene Vorschrift aufgehoben (Gesetz vom 22. 5. 1918). 4. Auch die milde Bestrafung von Verletzungen der Arbeiterschutzbestimmungen blieb Gegenstand lebhafter Klagen. Anstelle der angekündigten Denkschrift legte Staatssekretär Posadowsky dem Reichstag im Februar 1904 eine umfangreiche Übersicht über die Verurteilungen des Jahres 1902 vor. Sie beruhte auf Sonderberichten der Gewerbeaufsichtsbeamten und enthielt, aufgeschlüsselt nach Aufsichtsbezirken, Tatbestandsgruppen und Gewerbearten, detaillierte Informationen über die Betriebsart, die Tatbestandsmerkmale, die verletzte Vorschrift und das Strafmaß47. Angaben zur Häufigkeit der Anzeigen und zur Anklage- und Verurteilungsquote sowie Vergleiche mit früheren Jahren fehlten allerdings völlig48. Der Statistik zufolge waren in 5.621 Fällen 5.943 Personen rechtskräftig verurteilt worden. Von diesen hatten nur vier eine Gefängnisstrafe erhalten (wobei ein Fall die Ausübung von Koalitionszwang betraf). Bei mehr als der Hälfte der Verurteilten (3.030) hatte die Geldstrafe bis zu drei Mark betragen, bei 1.815 zwischen drei und zehn Mark, bei 613 zwischen zehn und zwanzig Mark, bei 395 zwischen zwanzig und fünfzig Mark, bei 68 zwischen fünfzig und hundert Mark, bei 14 zwischen hundert und zweihundert Mark und nur bei vier über zweihundert Mark (die gesetzlichen Strafmaxima gingen bis auf 2.000 Mark hinauf). Auf eine Kommentierung des Zahlenwerks verzichtete das Reichsamt. Diese Aufgabe übernahm der Zentrumsabgeordnete Trimborn, der völlig zu Recht konstatierte, die Übersicht bestätige die außerordentlich milde Urteilspraxis. Mit Bedacht hatte Trimborn die Beratung des Etats der Justiz- und nicht der an sich zuSten. Ber. RT 1903 / 04, Drks. Nr. 249 v. 20. 2. 1904 (S. 1160 – 1606). Scharfe Kritik an den Erhebungsmethoden sowie überhaupt an der Handhabung der Gewerbeaufsicht: Emanuel Wurm, Die Gewerbeaufsicht im Deutschen Reiche 1902, in: Neue Zeit 22 / 1 (1903 / 04), S. 466 – 472. 47 48
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ständigen Innenverwaltung gewählt, um den Richtern, die „ihre“ Ressortdebatte aufmerksam zu verfolgen pflegten, ins Gewissen reden zu können49. Weitaus schärfer urteilten die Sozialdemokraten: „Überall ist die Strafe so gering, daß sie wie eine Prämie auf die Gesetzesübertretung wirkt; letztere bringt weit mehr ein, als eine ja so seltene Entdeckung kosten kann: die Gewinnchancen in sämtlichen deutschen Staatslotterien sind nicht höher wie die der Übertretung der Arbeiterschutzgesetze!“50. Dennoch änderte sich die Strafzumessung bis 1914 nicht grundlegend, wie die wiederkehrenden Gravamina beweisen. Die mangelnde Repressionskraft läßt sich paradoxerweise gerade an den steigenden Verurteilungszahlen ablesen, die lediglich das Ergebnis intensivierter Revisionstätigkeit darstellten51. Dabei versäumten die Sozialdemokraten nicht, immer wieder die Diskrepanz zwischen den Urteilen bei Verstößen gegen Arbeiterschutzbestimmungen und denjenigen bei Streikvergehen hervorzuheben52. 5. Der zweite Schwerpunkt der politischen Strafjustiz lag im preußischen Osten. Nachdem in der Ära Caprivi vorübergehend eine versöhnlichere Polenpolitik die Oberhand gewonnen hatte, kehrte die preußische Regierung gegen Ende der 90er Jahre zum Repressions- und Verdrängungskurs der Bismarckzeit zurück. Fortan tobte der Nationalitätenkampf vor allem auf den Gebieten der Schulsprachen- und Ansiedlungspolitik, mit deren Hilfe die Germanisierung der gemischtsprachlichen Landesteile, allen voran der Provinz Posen, erzwungen werden sollte. Dabei radikalisierten sich deutscher und polnischer Nationalismus wechselseitig in einem bisher unbekannten Maße. Als Speerspitze fungierte auf deutscher Seite der 1894 gegründete „Deutsche Ostmarkenverein“, besser bekannt unter dem Kürzel „Hakatisten“, auf polnischer Seite die 1905 als Gegenorganisation ins Leben gerufene „Straz“53. Beamtenpolitisch fand der verschärfte Kurs seinen Ausdruck im Staatsministerialerlaß vom 12. 4. 1898, der den Beamten in den gemischtsprachlichen Provinzen die Pflicht auferlegte, aktiv für „das deutsche National- und preußische Staatsbewußtsein“ einzutreten. Der Erlaß ließ den immanenten Widerspruch zwischen dienstlichen und nationalen Aufgaben eher hervortreten, als daß er ihn überbrückte: Einerseits wurden die Beamten aufgefordert, „durch ihr gesamtes außerVgl. Trimborn, Sten. Ber. RT, 3. 3. 1904, S. 1493 f., 1505 ff. Wurm, S. 471. 51 Vgl. Bocks, S. 215 ff.; Gresser, S. 274 ff. Wegen Zuwiderhandlung gegen Arbeiterschutzbestimmungen verurteilte Unternehmer: 1902: 10.792; 1903: 11.407; 1904: 12.937; 1905: 13.123; 1906: 16.769; 1907: 15.653; 1908: 16.073; 1909: 17.228; 1910: 18.988 (Zahlen nach Nestriepke, S. 159). 52 So etwa Nestriepke, S. 158 f. 53 Zur Polenpolitik nach 1890: Nipperdey, II, S. 272 ff.; Blanke, S. 121 ff.; B. Balzer, Die preußische Polenpolitik 1894 – 1908 und die Haltung der deutschen konservativen und liberalen Parteien, Frankfurt / M. 1990; zu den Agitationsverbänden: S. Grabowski, Deutscher und polnischer Nationalismus, Marburg 1998; A. Galos / F.-H. Gentzen / W. Jakobczyk, Die Hakatisten, Berlin (Ost) 1966. 49 50
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dienstliches und selbst gesellschaftliches Verhalten“ den „vaterländischen Geist zu kräftigen und die darauf gerichteten Bestrebungen der deutschen Bevölkerung zu unterstützen“ sowie für eine „entschiedene Abwehr deutschfeindlicher Bestrebungen“ Sorge zu tragen; andererseits waren sie zu einer „gleichmäßig gerechten Erfüllung ihrer Amtspflichten gegenüber allen Bevölkerungsschichten“ aufgerufen und sollten sich, unter Vermeidung „kühler Abschließung“ und „jedes aggressiven Vorgehens“, von einem „versöhnlichen Geist, gerichtet auf die allmähliche Abschleifung der bestehenden Gegensätze“, leiten lassen54. Die Germanisierung der Richterschaft war zu Beginn des Jahrhunderts faktisch abgeschlossen. Mit Hilfe einer gezielten Versetzungs- und Anstellungspolitik, aber auch durch natürlichen Abgang (Pensionierung, Tod) sank der Anteil polnischer Richter unter den 287 Richtern des OLG-Bezirks Posen bis zum Jahre 1902 auf ganze 1155. Die polnische Kritik an der Rechtspflege bewegte sich auf zwei Ebenen: einer juristisch-technischen (wobei der Hintergrund auch hier ein nationalpolitischer war) und einer dezidiert politischen. Nach dem Scheitern aller Versuche, eine günstigere Gerichtssprachenregelung zu erzielen, konzentrierte man sich, eine Stufe niedriger ansetzend, auf die Verbesserung des Dolmetscherwesens. Bei Beratung des Justizetats im preußischen Abgeordnetenhaus wiederholten sich alljährlich die Klagen über die niedrige Zahl, mangelhafte Ausbildung und geringe Besoldung der Übersetzer56. Als Teil des politisch aufgeladenen Sprachenproblems war dem Komplex amtlicherseits nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Nach § 192 GVG wurden Dolmetscherdienste nebenamtlich von den Gerichtsschreibern wahrgenommen, die sich zu diesem Zweck einer speziellen Prüfung unterziehen mußten. Die etatmäßige Gehaltszulage war in zwei Stufen bemessen und gab den Gerichtspräsidenten einen beträchtlichen Spielraum: Dolmetscher an Landgerichten und größeren Amtsgerichten in Gebieten mit mehrheitlich fremdsprachlicher Bevölkerung erhielten Zulagen in Höhe von 600, 500 oder 400 Mark, alle übrigen Dolmetscher 400, 300 oder 200 Mark. Die Einstufung erfolgte weder nach Dienstalter noch sonstiger Dienststellung, sondern allein nach Tüchtigkeit. Darüber hinaus konnten aushilfs- oder vertretungsweise Hilfsdolmetscher bestellt werden, die eine außerordentliche Remuneration bezogen57. Aufgrund der unablässigen Klagen gab Schelling 1894 eine Enquête in Auftrag, die sich auf Auskünfte der Oberlandesgerichts- und Landgerichtspräsidenten be54 Reichs- und Staatsanzeiger 1898, Nr. 86 (auch bei Müller, Justizverwaltung, S. 463 f.). Der Erlaß ging auf ein von Miquel verfaßtes Memorandum zurück (vgl. Blanke, S. 198 f.). 55 Vgl. Ormond, S. 466 f.; zu den finanziellen Vergünstigungen für die deutschen Richter ebd., S. 171 f. 56 Etwa: Dziorobek, Sten. Ber. AH, 16. 2. 1894, S. 510 ff.; ders., ebd., 14. 2. 1895, S. 617 f.; v. Jaz`dzewski, ebd., S. 623 f.; Letocha (Schlesier), ebd., S. 624 ff. 57 Die etatmäßigen Zulagen regelte die RV v. 1. 5. 1886, abgedr. bei Müller, Justizverwaltung, S. 212; zu den Hilfsdolmetschern vgl. ebd., S. 206.
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schränkte. Sie förderte das – vorhersehbare – Ergebnis zu Tage, daß es sich bei der Kritik um eine „Generalisierung von Einzelfällen“ handele58. Das dem nicht so war, beweist die Ende 1899 von Schönstedt erlassene Dolmetscherordnung, die ausführliche Vorschriften über Prüfungswesen, Anstellungsmodalitäten und Aushilfstätigkeiten enthielt. Danach konnten nur fest angestellte Gerichtsschreiber oder Gerichtsschreibergehilfen zu Dolmetschern ernannt werden. Der Dolmetscherprüfung mußte ein Vorbereitungsdienst von mindestens anderthalbjähriger Dauer vorausgehen, wobei der Anwärter neun Monate bei einem Amtsgericht und vier Monate bei einem Landgericht beschäftigt sein sollte. Die Prüfung setzte sich aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil zusammen und wurde von einer Prüfungskommission abgenommen, die aus einem Richter und einem Staatsanwalt, die beide der fremden Sprache mächtig sein mußten, sowie einem Dolmetscher bestand. Für den Bezirk des OLG Posen war zusätzlich bestimmt, daß der Kommission ein Lehrer der polnischen Sprache, der an einer höheren Lehranstalt angestellt war, angehören sollte – eine Folge der weitgehenden Germanisierung der Beamtenschaft59. Ungeachtet dessen hielten die polnischen Klagen an. Dabei brachte Ludwig v. Jaz`dzewski, Führer der polnischen Fraktion im Abgeordnetenhaus, ein Argument ins Spiel, das einer gewissen Suggestivkraft nicht entbehrte. Jaz`dzewski meinte, viele deutsche Richter würden ihren Wunsch nach Versetzung aus den polnischen Gebieten damit begründen, „die Art und Weise, wie sie die Justiz ohne Kenntnis der Sprache auszuüben haben, behage ihnen nicht und geniere sie geradezu; sie fühlen selbst als gerechte Männer, daß unter den obwaltenden Verhältnissen es ihnen schwer wird, die Gerechtigkeitspflege in der richtigen Weise auszuüben, wie das einem gewissenhaften und gerechten Richter zukommt“60. Ferner mehrten sich um die Jahrhundertwende die Fälle, in denen polnische Angeklagte oder Zeugen wegen Ungebühr bestraft wurden, weil sie nach Ansicht des Gerichts die Kenntnis der deutschen Sprache verleugneten. Die polnische Reichstagsfraktion machte das Thema zum Gegenstand einer Interpellation, deren Besprechung Schönstedt zu einer einschränkenden Verfügung veranlaßte61. Eine weitere Zuspitzung erfuhr das Dolmetscherproblem dadurch, daß der fakultative Polnischunterricht an vielen Gymnasien abgeschafft wurde. Zur Sicherung des Nachwuchses und Verbesserung der sprachlichen Fertigkeiten entschloß sich die Justizverwaltung, im masurischen Lyck eine spezielle Ausbildung zum Dol58 So Vierhaus am 14. 2. 1895 im Abgeordnetenhaus (Sten. Ber., S. 618 ff.); kritisch dazu: v. Trampczynski, ebd., 3. 2. 1911, S. 1237 f. 59 Dolmetscherordnung v. 18. 12. 1899, in: JMBl, S. 856 ff. (auch bei Müller, Justizverwaltung, S. 207 – 211). 60 v. Jaz ` dzewski, Sten. Ber. AH, 11. 2. 1901, S. 1415; vgl. auch Faltin (Z), ebd., 31. 1. 1901, S. 936 ff.; v. Czarlinski, ebd., 9. 2. 1901, S. 1310. 61 Interpellation v. Czarlinski u. Gen., Sten. Ber. RT, 12. 2. 1900, S. 4052 – 4073 (Besprechung); v. Czarlinski, Sten. Ber. AH, 9. 2. 1901, S. 1308 ff.; Schönstedt, ebd., S. 1310 f.
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metscher für die polnischsprachigen Landesteile einzurichten. Der erstmals zum 1. 4. 1903 angebotene Lehrgang war zweistufig aufgebaut: Zunächst sollte ein dreijähriger Unterricht am örtlichen Gymnasium die sprachlichen Grundlagen vermitteln. Nach bestandener Sprachprüfung schloß sich ein einjähriger Seminarkurs an, der, in Verbindung mit der Ausbildung zum Gerichtsschreiber, die praktische Schulung umfaßte. Der Seminarunterricht fand in der ersten Stufe in Lyck, in der zweiten in Posen statt und schloß mit der Dolmetscherprüfung vor der Posener Prüfungskommission ab. Für Schülerstipendien und Remunerationen der Seminarteilnehmer war im Justizhaushalt des Jahres 1903 ein Fonds von 30.000 Mark ausgewiesen. Daneben blieb der bisherige Ausbildungsgang nach der Verordnung von 1899, dessen Vorbereitungsdienst ein halbes Jahr länger dauerte, bestehen. In der Wahl des fernab von den nationalpolitischen Brennpunkten liegenden Lyck (südöstliches Ostpreußen), die die Polen als provozierend empfinden mußten, manifestiert sich das ängstliche Bemühen der Justizverwaltung, die Ausbildung aus dem Nationalitätenkampf herauszuhalten und nichteinheimische Kräfte für die Übersetzungstätigkeit zu gewinnen62. Als letzter Schritt wurden 1904 die Remunerationen für Hilfsdolmetscher und 1910 die etatmäßigen Zulagen erhöht63. Mit Hilfe dieses „Maßnahmenpakets“ gelang es der Berliner Zentrale, das Dolmetscherproblem zu entschärfen, auch wenn sich kritische Stimmen immer wieder zu Wort meldeten64. Die prinzipielle Benachteiligung der Polen, Resultat der ausschließlichen Geltung des Deutschen als Gerichtssprache, blieb hiervon unberührt. Es ist unübersehbar, daß die Sprachenpolitik dem Interesse der Justizverwaltung an einer geordneten Rechtspflege zuwiderlief und in ihren Konsequenzen durch eine Reihe von Gegenmaßnahmen aufgefangen werden mußte. Der verschärfte Kurs in der Polenpolitik wirkte sich auch auf die Strafgerichte aus. Um die Jahrhundertwende tauchte eine dezidiert politische Justizkritik auf, die sich gegen die parteiische Handhabung des Strafrechts wandte65. Für größeres Aufsehen sorgten der Posener Studentenprozeß, der mit der Verurteilung der 13 Angeklagten zu Gefängnisstrafen zwischen einer Woche und vier Monaten endete (11. 7. / 4. – 10. 11. 1901), und der Thorner Gymnasiastenprozeß, in dem 60 Angeklagte vor Gericht standen, von denen 35 Gefängnisstrafen bis zu drei Monaten erhielten, 10 einen Verweis bekamen und 15 freigesprochen wurden (das Urteil datiert vom 12. 9. 1901). In beiden Fällen lautete die Anklage auf Teilnahme an einer geheimen Verbindung, wobei die Gerichte in der Strafzumessung jeweils weit hinter den hakatistischen Forderungen zurückblieben66. In manchem erinnern die Ver62 Vgl. Schönstedt, Sten. Ber. AH, 14. 2. 1903, S. 1339 f.; Radbyl (Z, Schlesier), ebd., S. 1334 ff.; zu den Einzelheiten weiterhin Müller, Justizverwaltung, S. 214 f. 63 RV v. 18. 3. 1904, abgedr. bei Müller, Justizverwaltung, S. 214. 64 Etwa: v. Trampczynski, Sten. Ber. AH, 3. 2. 1911, S. 1235 ff. 65 Vgl. v. Dziembowski-Pomian, Sten. Ber. RT, 12. 2. 1900, S. 4060 ff. („il y avait des juges à Berlin“); v. Czarlinski, Sten. Ber. AH, 9. 2. 1901, S. 1308. 66 Zu den Prozessen: Deutscher Geschichtskalender für 1901, hg. v. K. Wippermann, Bd. 2, Leipzig 1902, S. 72 f., 77, 81 f.; Roeren, Sten. Ber. RT, 10. 12. 1901, S. 3091.
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fahren an die Geheimbundsprozesse gegen führende Sozialdemokraten zur Zeit des Sozialistengesetzes. Interessant ist vor allem der Thorner Fall67. Der Zweck der gymnasialen Verbindung bestand in der Pflege der polnischen Geschichte und Literatur, die üblichen Ausschweifungen waren laut Satzung ausdrücklich verboten (und nachweislich auch nicht vorgekommen). Abgesehen von den Freiheitsstrafen wurden sämtliche Angeklagten, auch die Freigesprochenen, von ihren Schulen relegiert, teilweise unter der Maßgabe, daß kein anderes preußisches Gymnasium sie wieder aufnehmen dürfe. Zudem verloren sie die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst samt den damit verbundenen Vergünstigungen. Die Dimensionen macht erst ein Vergleich sichtbar: Kurz zuvor waren in Breslau und München Schülerverbindungen entdeckt worden, die sich Saufgelagen und groben Unsittlichkeiten verschrieben hatten. In beiden Fällen hatte man sich mit Schulstrafen und einfacher Relegation begnügt. Hermann Roeren schrieb: „Sonst pflegt die Teilnahme an verbotenen Schülerverbindungen selbst der bedenklichsten Art lediglich mit Schuldisziplinarstrafen, mit Karzer oder Relegation, bestraft zu werden. Hier hat außerdem ein großer gerichtlicher Kriminalprozeß und eine strafgerichtliche Verurteilung stattgefunden, weil das Gericht zu der Annahme gelangt ist, daß die Angeklagten neben der Pflege polnischer Geschichte und Literatur auch bezweckt haben, ,das polnische nationale Denken und Empfinden zu wecken und zu heben‘. Als wenn es nicht das gute Recht eines jeden Menschen wäre, sein nationales Denken und Empfinden zu wecken und zu heben!“68. Die genannten Verfahren bildeten das Vorspiel zur bekannten Wreschener Affäre und dem anschließenden Prozeß in Gnesen69. Die Einführung des deutschsprachigen Religionsunterrichts in den Volksschulen, von den Posener Behörden seit Ende der 90er Jahre schrittweise betrieben, stieß vielerorts auf Widerstand, insbesonders in Wreschen, einer mehrheitlich von Polen bewohnten Kleinstadt im Osten der Provinz, wo die Kinder Formen des passiven Widerstands an den Tag legten. Wiederholte Male wurden die Unbotmäßigkeiten durch Züchtigungen mit dem Rohrstock bestraft. Die erregte Stimmung der polnischen Bevölkerung entlud sich am 20. / 21. 5. 1901 in spontanen Aufläufen vor dem Schulhaus und in der Stadt, verbunden mit wüsten Beschimpfungen der Lehrer und des Kreisschulinspektors, ohne daß es zu tätlichen Übergriffen oder einer Beschädigung von Staatseigentum kam. Als Folge der tumultuarischen Proteste mußten sich 25 Personen vor der Strafkammer des Landgerichts Gnesen wegen verschiedener Delikte (Land- und Hausfriedensbruch, Aufruhr, Nötigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Beleidigung, gro67 Dazu: Hermann Roeren, Zur Polenfrage, Hamm 1903, S. 16 – 21; ders., Sten. Ber. RT, 30. 1. 1903, S. 7575 f.; Lenzmann, ebd., 30. 1. 1903, S. 7580 f. 68 Roeren, Polenfrage, S. 17. 69 Ausführliche Schilderung bei: R. Korth, Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks, Würzburg 1963, S. 82 ff. (dort, S. 99 f., auch eine Liste der Verurteilungen); weiterhin Balzer, S. 167 ff.
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ber Unfug) verantworten. Der Posener Reichstagsabgeordnete v. DziembowskiPomian, Nebenverteidiger der Angeklagten, schloß sein Plädoyer – kenntnisreich und durchaus geschickt – mit einem Hinweis auf die gängige Justizkritik, indem er bemerkte, „daß heutzutage die Interpretation des Gesetzes immer verwickelter und von der natürlichen Auffassung der einzelnen Wort- und Rechtsbegriffe, wie sie das Volk versteht und empfindet, immer mehr abweicht. Diese Erscheinung haben gewiegte Männer in den gesetzgebenden Körperschaften bereits konstatiert und lebhaft über diese moderne spitzfindige Judikatur Klage geführt. Das subtile Juristenrecht steht oft in diametralem Gegensatz zum Volksrecht. Ich wünsche dem hohen Gerichtshofe, daß er sich durch juristische Deduktionen nicht auf Irrwege leiten lasse! Nicht der tote Buchstabe des Gesetzes soll das Urteil beeinflussen, sondern die Anwendung des Gesetzes mit Berücksichtigung des psychologischen Moments bei den einzelnen Angeklagten. Schauen Sie, meine Herren, mehr in die reinen Herzen der Angeklagten als auf Paragraphen und Reichsgerichtsurteile“70. Der Appell verhallte ungehört: Nach viertägiger Verhandlung (14. – 19. 11. 1901) erhielten 21 Angeklagte Gefängnisstrafen zwischen vier Wochen und zweieinhalb Jahren (in einem Fall sogar Zuchthaus), vier Angeklagte wurden freigesprochen. Im Durchschnitt entfielen auf jeden Verurteilten knapp 11 Monate Gefängnis. Wie aus der Urteilsbegründung hervorgeht, wollte das Gericht mit den hohen Strafen ein Exempel statuieren, um ähnlichen Ausschreitungen in der Zukunft vorzubeugen. Die von der Verteidigung eingelegte Revision wies das Reichsgericht zurück (12. 5. 1902). Die Vorgänge initiierten – ausgesprochen erfolgreiche – Unterstützungsaktionen zugunsten der Verurteilten und ihrer Familien, lösten antipreußische Kundgebungen in den österreichischen und russischen Teilungsgebieten aus und fanden international überhaupt ein starkes Echo. Im Reichstag (10. 12. 1901) und im preußischen Abgeordnetenhaus (13. – 15. 1. 1902) sorgten polnische Interpellationen dafür, daß das Thema gebührend zur Sprache kam. Dabei wirkte die Rede Schönstedts, der sich mit dem Urteil erkennbar schwertat, wie ein Eingeständnis der letztlich unlösbaren Widersprüche, in welche die preußische Polenpolitik die Richter im Osten verstrickt hatte: „Die deutschen Richter stellen sich nicht in den Dienst der Politik, sie stellen sich nicht in den Dienst einer Partei. [ . . . ] Aber auch unsere deutschen Richter im Osten haben in den gemischtsprachigen Landesteilen eine Pflicht zu erfüllen, nicht die, einer Partei zu dienen, wohl aber auch ihrerseits den nationalen Gedanken hochzuhalten. [ . . . ] Allerdings, es ist wahr, das Urteil, an und für sich betrachtet, scheint ein außerordentlich hartes zu sein, und ich glaube, niemand kann sich der Empfindung entschlagen, daß, wenn man die Tat der einzelnen Angeklagten, an und für sich, losgelöst von dem Zusammenhange, in dem sie standen, betrachtet, man sagen kann: Das Urteil geht über das Maß des Gewöhnlichen hinaus, es entspricht nicht dem Maß der Schuld bei den 70 Der Wreschner Schulprozeß vor der II. Strafkammer des Königl. Landgerichts zu Gnesen, Posen 1902, S. 163 f. (Prozeßbericht).
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einzelnen (Hört, hört! bei den Polen)“. Da sich die Straftaten jedoch als „Ausfluß einer tiefgehenden, immer weiter um sich greifenden, die Sicherheit, Ordnung und Integrität des Staates mehr und mehr in hohem Grade gefährdenden Bewegung“ darstellten, seien die Strafen gerechtfertigt71. Zweimal scheiterte Schönstedt mit dem Versuch, das Staatsministerium zu einem Gnadengesuch zu bewegen. Im Reichstag nannte Ledebour (SPD) das Gnesener Urteil „eines jener barbarischen Klassenurteile, verschärft durch nationale Gehässigkeit“, und fuhr dann fort: „Die Herren sind zweifellos nicht aus persönlichem Haß zu ihrem Urteil gekommen, sondern sie stehen unter dem Druck dieser falschen staatsrechtlichen Vorstellung, daß es die Pflicht der Majorität in einem Volke ist, die Minorität zu entnationalisieren“72. Einem mächtigen Katalysator gleich, enthemmte das Gnesener Urteil die polnische Kritik an der Strafjustiz. Fortan war die Rede von „juridischem Hakatismus“ (Mizerski), von der „hakatistischen Suggestion“, die „sich immer mehr fühlbar macht bei der Urteilssprechung“ (Stychel), von der „Demoralisierung des Richterstandes“ (v. Chrzanowski), davon, daß die Gerichte zu „blinden Werkzeugen der politischen Macht“ herabgesunken seien (Kulerski) und „nicht Recht sprechen, sondern Politik treiben“ würden (v. Chrzanowski), vom „Hakatismus im Gerichtssaal“ (Mizerski), schließlich, gleichsam als Krönung, von der „Rassenjustiz“ als Gegenstück zur Klassenjustiz (Seyda)73. Die Liste der Gravamina war lang und umfaßte prozedurale, jurisdiktionelle und personale Aspekte. Angriffsziele waren: die Einseitigkeit der Staatsanwaltschaft in bezug auf Anklageerhebung, Auslegung des „öffentlichen Interesses“ und Höhe der Strafanträge; die Ausschließung der Öffentlichkeit in politischen Prozessen; die unterschiedliche Behandlung der Presse; das respektlose Verhalten gegenüber polnischen Angeklagten und Zeugen; die Verhängung von Ungebührstrafen; die unterschiedliche Strafzumessung, namentlich in Preß- und Beleidigungsprozessen; die strafverschärfende Wirkung nationalpolnischen Engagements; die ausdehnende Anwendung der §§ 110 und 130 StGB sowie des „groben Unfugs“; die Verdrängung polnischer Richter; die Mitgliedschaft deutscher Richter im „Ostmarkenverein“74. Zumindest in letztgenannter Hinsicht ging die Agitation ins Leere: Zwar stellten Beamte und Lehrer die stärksten Kontingente im „Ostmarkenverein“, Richter aber waren, soweit erSchönstedt, Sten. Ber. AH, 15. 1. 1902, S. 206; zit. auch bei Korth, S. 100 f. Ledebour, Sten. Ber. RT, 10. 12. 1901, S. 3110. 73 Mizerski, Sten. Ber. AH, 17. 2. 1902, S. 1950; Stychel, ebd., 14. 2. 1903, S. 1372; v. Chrzanowski, Sten. Ber. RT, 1. 3. 1904, S. 1429; Kulerski (Westpreuße), ebd., 13. 1. 1905, S. 3743; v. Chrzanowski, ebd., 14. 3. 1906, S. 2006; Mizerski, Sten. Ber. AH, 28. 1. 1908, S. 1250; Seyda (Oberschlesier), Sten. Ber. RT, 20. 2. 1908, S. 3295. 74 Vgl. die Mängellisten bei Mizerski, Sten. Ber. AH, 17. 2. 1902, S. 1942 ff. und Seyda, Sten. Ber. RT, 20. 2. 1908, S. 3291 ff.; zur Pressejustiz: v. Czarlinski, Sten. Ber. AH, 14. 1. 1902, S. 151 f.; Kulerski, Sten. Ber. RT, 13. 1. 1905, S. 3740 ff. (Herausgeber der „Gazeta Grudziadzka“ in Graudenz); zur Personalpolitik: Mizerski, Sten. Ber. AH, 6. 2. 1909, S. 1705 ff.; v. Trampczynski, ebd., 3. 2. 1911, S. 1232; zum HKT-Problem: Mizerski, Sten. Ber. AH, 17. 2. 1902, S. 1950; ders., ebd., 28. 1. 1908, S. 1250. 71 72
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sichtlich, in nennenswerter Zahl nicht vertreten75. Eine derart einseitige Parteinahme widersprach dem richterlichen Selbstverständnis wohl doch zu sehr. In struktureller Hinsicht ähnelt die Argumentation derjenigen der Sozialdemokraten. In der Regel wurde den Richtern nicht bewußte Rechtsbeugung, sondern unbewußte nationale Befangenheit vorgeworfen, verstärkt durch eine gezielte Beamtenpolitik und mangelnde Kenntnis der polnischen Sprache, Geschichte und Kultur. Als Beleg dienten zahlreiche Einzelbeispiele, statistische Angaben fehlten ebenso wie die Einordnung in die allgemeine richterliche Spruchpraxis. Daß die Klagen propagandistisch überformt waren, bedarf kaum der Erwähnung – einige der oben zitierten Kritiker nahmen Führungspositionen in der „Straz“ ein. Wie die Sozialdemokraten verstanden es die Polen, den Gerichtssaal zur politischen Arena zu machen. Im übrigen erwies sich ihre Agitation als flexibel: Als gegen Ende des ersten Jahrzehnts der Begriff der „Weltfremdheit“, gemünzt auf fehlende ökonomische Kenntnisse, aufkam, wurde er rasch übernommen und auf die mangelnde Vertrautheit der Richter mit den polnischen Verhältnissen bezogen76. Schützenhilfe erhielten die Polen von linksliberaler Seite. Anläßlich der Besprechung einer von der SPD eingebrachten Interpellation, die ungesetzliche Übergriffe bei Verhaftungen thematisierte, sprach Lenzmann im November 1902 im Reichstag „von guten Gerichten des Westens und von minder wertvollen und minder guten Gerichten des Ostens. [ . . . ] Wir im Westen haben gute Gerichte, keine politischen Gerichte“ – eine Unterscheidung, die sofort den energischen Protest der SPD hervorrief. Zwei Monate später, bei Beratung der großen, die allgemeine (Ungleich-)Behandlung der polnischen Bevölkerung betreffenden Polen-Interpellation wiederholte er sein Diktum. Im Westen spiele, so Lenzmann, die konfessionelle oder politische Stellung des Angeklagten keine Rolle, im Osten dagegen hingen die Beurteilung der Schuldfrage und das Strafmaß stark von dessen persönlichen Überzeugungen ab77. Wie zu erwarten, zog die provokative These weite Kreise. Während Schönstedt die behauptete Differenz rundweg bestritt, wies der nationalliberale Abgeordnete Graßmann, seines Zeichens Vorsitzender im Thorner Gymnasiastenprozeß, die Äußerungen empört zurück. Differenziert fiel die Reaktion von Peltasohn (FsVg), Landgerichtsrat in Bromberg und seit 26 Jahren Richter in der Provinz Posen, aus. Peltasohn verwahrte sich gegen eine generelle Diffamierung der östlichen Richter, wollte einen gewissen Einfluß der nationalistisch aufgeheizten Stimmung aber nicht in Abrede stellen78. Von polnischer Seite wurde das Stichwort natürlich mit Eifer aufgegriffen. Lenzmann selbst meinte abschlie75 Vgl. Grabowski, S. 92 ff.; Galos / Gentzen / Jakobczyk, S. 76 ff.; weiterhin: Schönstedt, Sten. Ber. AH, 17. 2. 1902, S. 1951; Plaschke (Geh. Oberjustizrat), ebd., 28. 1. 1908, S. 1250; andere Interpretation bei Ormond, S. 468 f. 76 Vgl. Seyda, Sten. Ber. RT, 20. 2. 1908, S. 3292; Dombek, ebd., 19. 4. 1912, S. 1263 ff. 77 Lenzmann, Sten. Ber. RT, 22. 11. 1902, S. 6540 sowie ebd., 30. 1. 1903, S. 7580 f. 78 Schönstedt, Sten. Ber. AH, 12. 2. 1903, S. 1259; Graßmann, Sten. Ber. RT, 30. 1. 1903, S. 7570; Peltasohn, Sten. Ber. AH, 12. 2. 1903, S. 1256 ff.
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ßend, das Wort von den „politischen Richtern“ sei nicht im Sinne von „parteiischen Richtern“ zu verstehen, hielt seine Unterscheidung ansonsten aber uneingeschränkt aufrecht79. Zum „Polenparagraphen“ par excellence avancierte der § 130 StGB. Er ließ sich problemlos auf alle Erscheinungsformen eines polnischen Nationalbewußtseins anwenden, von literarischen Werken und Gedichten über Presseartikel, populäre Lieder und bildliche Darstellungen bis hin zu nationalen Symbolen jeglicher Art. Dabei griff eine extensive Auslegung der Tatbestandsmerkmale um sich, ein aus früheren Phasen forcierter Strafverfolgung bekanntes Phänomen. Danach galten auch indirekte „Anreizungen zu Gewalttätigkeiten“ und die entfernte Möglichkeit der „Gefährdung des öffentlichen Friedens“ als strafbar. Während die Staatsanwaltschaft als dynamischer Faktor auftrat, zeichnete sich die gerichtliche Urteilspraxis – auch dies eine typische Erscheinung – vor allem durch Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit aus80. In absoluten Zahlen blieb das Delikt begrenzt: Zwischen 1899 und 1903 wurden lediglich 55 Personen wegen Verstoßes gegen § 130 StGB verurteilt, während 46 einen Freispruch erlangten. Von den Verurteilten entfielen 27, also die Hälfte, auf Posen und 11 auf Berlin, nennenswerte Bruchteile dürften zudem Westpreußen und Oberschlesien aufgewiesen haben. Gegen 27 Verurteilte erkannten die Gerichte auf Geldstrafe, während 9 Gefängnis unter drei Monaten, 14 zwischen drei und zwölf Monaten, 3 zwischen einem und zwei Jahren und immerhin 2 die Höchststrafe von zwei Jahren erhielten81. Damit lag die Strafzumessung vergleichsweise hoch. Der Reichstagsabgeordnete v. Chrzanowski, der sich des Themas wiederholte Male annahm, stellte im März 1906 einen Antrag auf Abänderung des § 130 StGB, „um der dem Sinne des gedachten Paragraphen widersprechenden Interpretation“ seitens des Reichsgerichts Einhalt zu gebieten. Zwei Aspekte hob der Antragsteller hervor: die „allgemeine Rechtsunsicherheit“, die „auf der polnischen Bevölkerung wie ein Belagerungszustand“ laste, und das gänzliche Gewährenlassen der deutschnationalen Hetzpropaganda. In weiten Kreisen seiner polnischen Landsleute herrsche mittlerweile die Überzeugung, die Richter handelten „mala fide“. Vertreter der konservativen Parteien und der Reichsleitung meldeten sich in der Debatte nicht zu Wort. Nachdem auf Vorschlag Bachems der Bezug auf das Reichsgericht gestrichen worden war, nahm das Plenum den Antrag an82. Der Bundesrat leitete den Beschluß an den Reichskanzler mit der Bemerkung weiter, die Frage werde 79 Stychel, Sten. Ber. AH, 14. 2. 1903, S. 1372 ff.; v. Chrzanowski, Sten. Ber. RT, 5. 3. 1903, S. 8415; Lenzmann, ebd., S. 8399 f. 80 Vgl. die detaillierten Schilderungen v. Chrzanowskis, Sten. Ber. RT, 5. 3. 1903, S. 8412 ff.; 1. 3. 1904, S. 1428 f.; 14. 3. 1906, S. 2004 ff.; 25. 2. 1908, S. 3364 ff. 81 Zahlen nach: Robert v. Hippel, Die Anreizung zum Klassenkampf, in: Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts, Bes. Teil, Bd. 2, Berlin 1906, S. 47 – 67, hier S. 50. 82 Antrag v. Chrzanowski u. Gen., Sten. Ber. RT 1905 / 06, Drks. Nr. 107 (Antrag) sowie ebd., 14. 3. 1906, S. 2004 – 2017 (Besprechung; Zitate S. 2007, 2006).
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bei der allgemeinen Revision des Strafgesetzbuchs zur Erledigung kommen83. Bei der zweiten Beratung der Strafrechtsnovelle (Januar 1911) schlugen die polnischen Abgeordneten eine Neufassung des § 130 StGB vor, was vom Plenum mit der Begründung abgelehnt wurde, man wolle über die vom Regierungsentwurf vorgesehenen Änderungen nicht hinausgehen84. Den zweiten Höhepunkt der politischen Justiz bildeten die massenhaften Bestrafungen, die im Zusammenhang mit dem allgemeinen Schulstreik 1906 / 07 erfolgten. In der Spitze erfaßte der Streik, der sich zwischen Oktober 1906 und Juli 1907 abspielte, in Posen knapp 47.000, in Westpreußen über 19.000 Schüler85. Wie die Wreschener Affäre entzündete er sich an den verstärkten Anstrengungen der preußischen Verwaltung, den deutschsprachigen Religionsunterricht einzuführen und nahm in praxi die Form eines Boykotts der entsprechenden Stunden an. Abgesehen von den Exekutivstrafen, die gegen Eltern streikender Kinder ergingen und wesentlich zum Abbruch des Streiks beitrugen, wurden in Posen wegen Streikagitation oder sonstiger Vorkommnisse 368 Personen (Geistliche, Redakteure, Angehörige aller Bevölkerungsschichten) zu insgesamt 14 Jahren Zuchthaus, 11 Monaten Festungshaft, 23 Jahren und 8 Monaten Gefängnis sowie 37.338 Mark Geldstrafe verurteilt86. Zieht man die 14 Jahre Zuchthaus wegen Mordversuchs, die gänzlich aus dem Rahmen fallen, ab, so kamen auf jeden Verurteilten weniger als ein Monat Freiheitsentzug und gut 100 Mark Geldstrafe. Damit lagen die Strafen der üblichen Zumessungspraxis wesentlich näher als das Gnesener Urteil. Obwohl die Kritik bis 1914 anhielt, scheint die antipolnische Judikatur in den letzten Vorkriegsjahren abgeflaut zu sein. Dies entsprach der in den Zielen identischen, in den Formen aber moderateren Polenpolitik Bethmann Hollwegs87. Von allen polarisierten Konfliktsituationen, mit denen sich die preußische Justiz konfrontiert sah, war diejenige in den gemischtsprachigen Ostprovinzen die wohl komplizierteste. Zum einen widersprach die Zurückdrängung der polnischen Sprache den Interessen einer wohlgeordneten Rechtspflege, zum anderen wurde auch die Richterschaft in den nationalen Kampf mit eingespannt, was dazu führte, daß sie zwischen die Fronten zweier konkurrierender, sich wechselseitig steigernder Nationalismen geriet. Die Spruchpraxis wies die aus ähnlichen Konstellationen bekannten Ambivalenzen auf: Einzelne harte Urteile und eine strafrechtliche „Nadelstichpolitik“ kontrastierten mit großer Uneinheitlichkeit und Rechtsunsicherheit. Erneut war es in erster Linie die Staatsanwaltschaft, die für die ungleiche StrafVgl. v. Laszewski, Sten. Ber. RT, 18. 4. 1912, S. 1233. Antrag v. Dziembowski-Pomian / Seyda, Sten. Ber. RT 1910 / 12, Drks. Nr. 594 (Antrag) sowie ebd., 12. 1. 1911, S. 3801 – 3807 (Besprechung). 85 Ausführliche Darstellung bei Korth, S. 116 ff.; weiterhin Balzer, S. 172 ff. 86 Detaillierte Auflistung bei Korth, S. 165 – 170; vgl. auch ebd., S. 137 f., 155 ff. 87 Dazu: Nipperdey, II, S. 275; zur anhaltenden Kritik: v. Trampczynski, Sten. Ber. AH, 3. 2. 1911, S. 1227 ff.; Seyda, ebd., 4. 2. 1911, S. 1320 ff.; ders., Sten. Ber. RT, 22. 2. 1911, S. 4837 ff.; v. Laszewski, ebd., 18. 4. 1912, S. 1233 ff.; v. Trampczynski, ebd., 10. 2. 1913, S. 3634 ff. 83 84
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verfolgung verantwortlich zeichnete. Daß die Justizpflege dennoch im großen und ganzen intakt blieb, erhellt nicht zuletzt aus der Tatsache, daß viele Polen nach 1918 es durchaus zu schätzen wußten, daß sich in den preußischen Teilungsgebieten rechtsstaatliche Traditionen herausgebildet hatten, ganz im Gegensatz zu den östlichen, vormals russischen Landesteilen.
2. Der Vorwurf der Klassenjustiz Die Spanne zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg bildete die eigentliche Blütezeit des Klassenjustizvorwurfs – in jenen Jahren wurde der Topos systematisiert und intensiviert88. Personell bezog er sich auf Urteile gegen Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei und der sozialistischen Freien Gewerkschaften, sachlich auf politische Vergehen (im engeren Sinne) sowie auf die Koalitions- und Streikrechtsprechung; hinzu kam der Umgang mit Verstößen gegen die Arbeiterschutzbestimmungen. Ferner sollte das „Gegenstück“ nicht übersehen werden: Nicht nur Sozialdemokraten waren der Überzeugung, daß die Justizbehörden Angehörigen der Ordnungskräfte (Polizei, Bürokratie, Armee) sowie der höheren Gesellschaftsschichten mit, gelinde gesagt, großem Wohlwollen begegnen würden. Verschiedentlich war – in bezug auf die Behandlung adeliger Personen – von „Prinzenjustiz“ die Rede89. Prinzipiell trat das Klassenjustizverdikt in zweierlei Version auf. Die justizpolitischen Wortführer der Sozialdemokratie (K. Liebknecht, Stadthagen, Heine, Heinemann, Haase) achteten geradezu peinlich darauf, den Vorwurf bewußter Rechtsbeugung zu vermeiden. In diesem Fall lautete das Argument wie folgt: Da Staatsanwälte, Berufsrichter und Laien unweigerlich in unbewußten Klassenvorurteilen befangen seien, wären sie zu einer objektiven Beurteilung von Anzeigen bzw. Anklagen gegen Sozialdemokraten und Arbeiter gar nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage. Es war – wie alle psychologisierenden Argumente – in hohem Maße suggestiv, da sich die Angegriffenen mit rationalen Gründen dagegen kaum zur Wehr setzen konnten und subjektiven Besserungsversuchen von vornherein enge Schranken gesetzt waren. Die „normalen“ Mitglieder von Partei und Gewerkschaft bevorzugten hingegen die gröbere Variante. So heißt es etwa in der bereits zitierten Broschüre des Bergarbeiterverbandes (1913): „Die meisten Arbeiter sehen in unserer Justiz eine Klassenjustiz in des Wortes engster Bedeutung. Sie glauben gar nicht einmal daran, daß die nach ihrer Ansicht ungerechte Rechtsprechung nur 88 Als führender Klassenjustizpropagandist trat Karl Liebknecht hervor. Siehe etwa: Karl Liebknecht, Preußische Justiz – Dienerin der herrschenden Klassen, in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 5, Berlin (Ost) 1963, S. 22 – 77 (AH-Reden v. 21. / 22. / 24. 2. 1912); weiterhin: Erich Kuttner, Klassenjustiz!, Berlin 1913; zur Diskussion Linnemann, S. 88 ff.; zur Forschungslage, die über politisch gefärbte Gemeinplätze kaum hinausreicht, Joseph, S. 376 ff. 89 Vgl. Müller-Meiningen, Sten. Ber. RT, 13. 1. 1905, S. 3736 f. sowie ders., ebd., 24. 2. 1906, S. 1582 f. (Fall Kotschubey).
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dadurch entsteht, daß die Richter in den Anschauungen der ,besseren‘ Gesellschaftsklassen befangen sind und darum die Arbeiter und ihre Bestrebungen nicht verstehen können. Nein, sehr weite Kreise der Arbeiter glauben tatsächlich, daß das Recht gewaltsam zu ihren Ungunsten gebeugt wird. Das ist sehr bedauerlich und schlimm für die Justiz“90. Wohlweislich vermieden es die Kritiker, sämtliche Strafurteile gegen Angehörige der Arbeiterbewegung unisono als Produkte der Klassenjustiz zu diffamieren, also systematische Rechtsbeugung und Parteilichkeit zu unterstellen. Andererseits blieb die Reichweite des Begriffs, wie stets bei politischen Schlagwörtern, unscharf und von daher beliebig ausdehnungsfähig. So wurden die typischen Merkmale der Rechtsprechung – ungleiche Urteilspraxis bei überwiegend milden Strafen – nicht als Entlastungs-, sondern im Gegenteil als Belastungsmomente gewertet. Bernstein faßte die Sichtweise der Partei – revisionistisch gefärbt – bei Gelegenheit wie folgt zusammen: „Es soll natürlich nicht geleugnet werden, daß ein Teil der Urteile nach heutigem Recht gefällt werden mußten, daß Arbeiter durch Erbitterung über unkollegialisches Handeln, Redner durch Leidenschaftlichkeit sich zu Ausdrücken und Schriftsteller durch Leichtgläubigkeit sich zu Beschuldigungen verleiten ließen, die auch vor einem Tribunal von Sozialdemokraten nicht bestehen würden. Aber selbst bei diesen Vorkommnissen kommt im Strafmaß oft die Klassendenkweise der Richter zum Ausdruck, wie sich das unter anderem zeigt, wenn genau dieselbe Handlung – sagen wir: handgreifliches Vorgehen gegen Arbeitswillige bei gleicher Lage des Falles – das eine Mal von dem einen Gerichtshof mit ein paar Tagen, das andere Mal von einem anderen Gerichtshof mit ebensovielen oder selbst noch mehr Wochen Gefängnis geahndet wird. Diese fast alltäglichen Unterschiede in der Strafbemessung lassen erkennen, wie sehr beim Richterspruch die persönlichen Vorurteile und Stimmungen mitreden. Es sind keineswegs nur die größeren Freiheitsstrafen, die von Klassenjustiz erzählen, auch Verurteilungen zu Tagen und Wochen kennzeichnen sich sehr oft als Ausfluß von Klassenrechtsprechung“91. In zunehmendem Maße wurde der Vorwurf auch gegen die Zivilrechtsprechung erhoben, bezeichnenderweise wiederum auf dem Gebiet des Koalitionsrechts92. Das beinahe gebetsmühlenartig wiederholte Verdikt provozierte zahlreiche Widerreden auf bürgerlicher Seite93. Andererseits finden sich, wie bereits in den 90er Jahren, nicht wenige Autoren, die dem Vorwurf eine partielle Berechtigung nicht absprechen wollten. Als Beispiel seien die Reaktionen auf das Bromberger Schwurgerichtsverfahren vom Juli 1903 genannt, das mit der Verurteilung von 90 Streikjustiz, S. 3; zur unterschiedlichen Deutung des Begriffs auch Nieberding, Sten. Ber. RT, 19. 2. 1908, S. 3261 – 3263. 91 Bernstein, III, S. 432 f. 92 Vgl. die RT-Rede Stadthagens vom 19. 2. 1908 (Sten. Ber., S. 3245 ff.). 93 Siehe: R. Viezens, Bureaukraten und Lords, Berlin 1908, S. 4 ff. (KG-Rat); Carl Kade, Klassenjustiz, Berlin 1908 (LG-Rat); [Georg] de Niem, Klassenjustiz, in: DJZ 13 (1908), S. 721 – 728 (LG-Präs. in Limburg); Erich Warschauer, Das Rechtsgefühl des Volkes, Hannover 1912, S. 77 – 112 (Ger.Ass. in Kattowitz).
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13 Maurern und Zimmerern zu 14 Jahren Zuchthaus und 17 Jahren Gefängnis wegen Landfriedensbruchs endete (daneben gab es eine Anzahl Freisprechungen). Im Zuge eines Streiks hatten die Angeklagten Krawalle ausgelöst, die sich gegen ausländische, unter Polizeischutz stehende Streikbrecher richteten, ohne daß es zu lebensgefährlichen Verletzungen gekommen war. Der bekannte Publizist und Sozialpolitiker Ernst Francke, Herausgeber der „Sozialen Praxis“, bemerkte hierzu: „Wenn aus den Arbeiterkreisen solche Urteile als ,Klassenjustiz‘ angesehen werden, so vermögen wir leider nicht zu widersprechen. Hier ist summum jus summa injuria, das tief in die Seele des Volkes brennt“. Und Hans Delbrück klagte zur gleichen Zeit: „Alle Arbeit gegen die Sozialdemokratie, strenge Unterdrückung oder Wohltat, soziale Gesetzgebung und Belehrung, Vaterlandsliebe oder Religion, alles wird keine Wirkung haben, so lange nicht ein anderer Geist in unsere Strafkammern eingezogen ist“94. Für beträchtliches Aufsehen sorgte Rudolf Heinze, Landgerichtsdirektor in Dresden und justizpolitischer Sprecher der nationalliberalen Reichstagsfraktion, als er 1908 bei Beratung des Justizetats dem Vorwurf einen wahren Kern zubilligte. „Bei genauer und objektiver Prüfung der Dinge“, so Heinze, seien „die deswegen erhobenen Beschwerden nicht durchweg für unberechtigt zu erklären“. Die Ursachen sah er in den komplizierten neuen Aufgaben, die die aufsteigende Arbeiterbewegung der Rechtsprechung gestellt habe, ihrer Verquickung mit der revolutionären Sozialdemokratie und schließlich der Tatsache, „daß unsere deutsche Juristenwelt sich aus sozialen Schichten zusammensetzt, denen es nicht immer leicht fällt, sich in die Denk- und Anschauungsweise der Arbeiterschichten zu versetzen und aus diesen Anschauungsweisen heraus den einzelnen Fall richtig zu beurteilen“. Heinzes Motiv war ein doppeltes: Er wollte die starren Fronten, zwischen denen sich die Klassenjustizdebatte seit langem bewegte, ein Stück weit aufbrechen, der Agitation aber auch die Spitze abbrechen und die Kritik auf ein gerechtes Maß zurückführen. Zur Besserung empfahl er, das Niveau aller Beteiligten beständig zu heben, insbesondere sollten sich die Richter mit den sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der Gegenwart stärker vertraut machen95. Wieviel Brisanz in dem Topos steckte, erhellt aus dem Vortrag, den Otto Gierke am 31. 3. 1906 auf Einladung Beselers in engstem Kreis vor dem Kaiser hielt, 94 [E. Francke], Zuchthaus und Ehrverlust für Arbeitertumulte, in: Soziale Praxis 12 (1902 / 03), S. 1138; H. Delbrück, Politische Korrespondenz, in: PJ 113 (1903), S. 369 – 381, hier S. 374 – 379, Zitat S. 379; weitere Beispiele: H. v. Gerlach, Die deutsche Justiz, in: Die Zeit 1 / 2 (1901 / 02), S. 772 – 775; J. E. v. Grotthuß, Aus deutscher Dämmerung, Stuttgart 1909, S. 147 – 174 (mit zahlreichen Fallbeispielen; Grotthuß war Herausgeber des „Türmer“); Wahl, S. 37 – 42. 95 Heinze, Sten. Ber. RT, 18. 2. 1908, S. 3238 – 3241. Rudolf Heinze (1865 – 1928) wurde später letzter königlich-sächsischer Justizminister (1918) sowie Reichsjustizminister (1920 / 21 und 1922 / 23). Nieberding brachten die Ausführungen Heinzes in arge Bedrängnis. Als die Sozialdemokraten am folgenden Tag in Zwischenrufen auf die Rede aufmerksam machten, wußte er nichts anderes zu erwidern als: „Darauf habe ich gar nichts zu sagen. Das berührt mich nicht“ (Sten. Ber. RT, 19. 2. 1908, S. 3262).
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wohl auch als eine Art Huldigungsgeste des neuen Justizministers Wilhelm II. gegenüber gedacht. Gierke war aufgetragen, zum Thema „Stellung und Aufgaben der Rechtsprechung im Leben der Gegenwart“ zu sprechen. In salbungsvollen Worten zeichnete er ein idealisiertes Bild von der deutschen Gegenwartsjustiz, das in seltsamem Kontrast zur bekannt kritischen Haltung des Berliner Professors stand. Allein der Vorwurf der Klassenjustiz war Gierke näherer Erwähnung wert. Er sei „die Antwort auf gerechte Verurteilungen sozialdemokratischer Friedensstörer“, werde aber verallgemeinert und so hartnäckig wiederholt, „daß er leider auch in weiteren Kreisen nicht ohne Eindruck bleibt“. Von einzelnen Mißgriffen abgesehen sei er jedoch „nichts als ein hetzerischer Versuch, an einer besonders bedrohlichen Stelle unseren Staatsbau zu unterhöhlen“. Die deutsche Justiz könne die „in Wahrheit durchaus grundlose Verdächtigung mit stolzer Verachtung zurückweisen“. Denn sie müsse sich sagen, „daß sie keineswegs irgendein Klassenbewußtsein, sondern umgekehrt gegenüber einem sich bedenklich absondernden Klassenbewußtsein das Rechtsbewußtsein des Volkes in seiner organischen Einheit vertritt. Es ist eben das bestehende Recht selbst, gegen das sich der Klassengeist aufbäumt. Und noch wird unser bestehendes Recht vom Volksgeiste getragen!“96. Gierkes Vortrag ist ein Beispiel für die schon von vielen Zeitgenossen monierte Tatsache, daß dem Kaiser ein geschöntes Bild von der reichsdeutschen Wirklichkeit vermittelt wurde bzw. er sich nur ein solches vermitteln lassen wollte. Die Antwort der Sozialdemokraten erfolgte postwendend. Keine zwei Wochen später unterzog Heine die Rede einer scharfen, keineswegs jedoch polemischen Kritik. In erster Linie wollte Heine den irrigen Eindruck zurechtrücken, als ob nur die Sozialdemokraten etwas an der Justiz auszusetzen hätten: „Wenn der Kaiser aus dem Vortrag das Bild einer von allen ,Gutdenkenden‘ bewunderten und unangefochtenen, nur von der Sozialdemokratie angegriffenen Justiz heimgenommen haben sollte, so ist es ein Potemkinsches Dorf gewesen, das der Redner ihm vorgeführt hat“. Nachdem er die ganze Palette geläufiger Vorwürfe hatte Revue passieren lassen, wandte er sich den Ursachen zu: „Unsere Rechtspflege ist zunächst juristischer und bureaukratischer Natur. Vom Juristentum stammt die Neigung, die Begriffe und Worte des Rechts, die unentbehrliche Mittel und Werkzeuge sind, zu Herren des Rechts zu machen und aus ihnen Konsequenzen abzuleiten, die oft dem Willen des Gesetzgebers widersprechen und zu unerträglichen Folgen führen. Spezifisch bureaukratisch ist die besondere Art von Überspannung der Staatsidee, die unter derselben Verwechselung von Zweck und Mittel die Staatsmaschinerie wie den Staat selbst betrachtet und die Staatsbürger vornehmlich als Objekte, nicht als Träger der staatlichen Tätigkeit behandelt. Dies äußert sich unter anderem in der abgöttischen Ehrfurcht vor dem Fetisch des Instanzenzugs und dem Widerwillen gegen jede Art freier Kritik und Selbsthilfe sowie der Tendenz zur Steigerung der äußeren Autorität aller Behörden, insbesondere auch der Justiz selbst“. Heine konzedierte aber auch, daß viele Richter ihre angeborenen oder anerzogenen Klassen96 Otto Gierke, Die Stellung und die Aufgaben der Rechtsprechung im Leben der Gegenwart, in: Das Recht 10 (1906), S. 418 – 420 (Auszüge), Zitate S. 420.
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vorurteile überwinden würden, wie man insbesondere an den Vorsitzenden der Gewerbegerichte sehen könne. Täte man aber so, so Heine abschließend, als ob die Justiz der sozialdemokratischen Kritik keine Bedeutung beilegen würde, so stünde dies in Widerspruch zu dem großen Eifer, mit dem man sich gegen diese Kritik wende97. So unbedeutend die Episode auf den ersten Blick erscheinen mag, so sehr wirft sie doch ein grelles Licht auf den legitimitätsbedrohenden Charakter, der gerade dem Klassenjustizvorwurf eigen war. Wie im politischen Kampf durchaus üblich, ließ sich die Parole auch umkehren und gegen ihren Urheber, in diesem Fall also die Sozialdemokraten, wenden. Dabei wechselten die Zusammenhänge: Wiederholt wurde die Rechtsprechung der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte mit dem Schlagwort belegt, vor allem von berufsrichterlicher Seite. Klassenjustiz prognostizierte man auch für den Fall, daß die Laien noch stärkeren Einfluß auf die Justiz gewinnen würden, insbesondere in Form des sozialdemokratischen Volksrichters98. Einen weiteren Kontext konnten großstädtische Verhältnisse bilden, wie namentlich das Münchener Beispiel zeigt. Obwohl vom Kommunalwahlrecht wie von der Wahlkreiseinteilung begünstigt, taten sich die Liberalen zunehmend schwer, ihre traditionelle Majorität in den beiden städtischen Vertretungsorganen, dem Gemeindebevollmächtigtenkollegium und dem Magistrat, aufrechtzuerhalten. Beschleunigt wurde die Entwicklung vom Gemeindewahlgesetz vom 15. 8. 1908, das, auf Betreiben von Zentrum und SPD und gegen den Widerstand der Liberalen, vom Landtag verabschiedet worden war. Es ersetzte – beschränkt auf alle Gemeinden mit mehr als 4.000 Einwohnern – das alte einfache Mehrheitswahlrecht durch das Verhältniswahlrecht; gleichzeitig wurden die ehemals 20 Münchener Wahlkreise zu einem Großwahlkreis zusammengezogen. Seit 1911 regierte in München der aus Liberalen und Sozialdemokraten bestehende „Rotblock“, ein Bündnis, das sich zur gleichen Zeit auch auf Landesebene formierte; 1914 stellte die SPD fünf der insgesamt zwanzig Magistratsräte99. 97 Wolfgang Heine, Zur Kritik der Justiz, in: Neue Gesellschaft 2 (1906), S. 173 – 175, Zitate S. 174. Wolfgang Heine (1861 – 1944), seit 1889 RA in Berlin, war 1898 – 1920 MdR; 1918 – 1919 bekleidete er das Amt des preußischen Justizministers, 1919 – 1920 das des preußischen Innenministers; 1933 Emigration in die Schweiz. 98 Vgl. Georg de Niem, Berufsrichter oder Laienrichter, Leipzig 1906, S. 41 (LG-Direktor Limburg); Anon., Die Klassenjustiz der Sozialdemokratie, in: DRZ 6 (1914), S. 35 – 37; R. Nordhausen, Das andere Gesicht, in: ebd., S. 201 – 205. 99 Infolge der Bindung des Gemeindewahlrechts an den Erwerb des Bürgerrechts, das zensitär beschränkt war und einer relativ hohen Gebühr unterlag, blieb der Kreis der Wahlberechtigten bis 1914 außerordentlich klein (1911: 6,84 %). Das neue Gemeindewahlgesetz führte im 60köpfigen Kollegium der Gemeindebevollmächtigten zunächst zu einer Pattsituation (Liberale: 30 – Zentrum: 14 – SPD: 14 – sonstige: 2). Bei der Kommunalwahl 1911 – erneuert wurde immer nur ein Drittel der Abgeordneten – verloren die Liberalen endgültig ihre Mehrheit (24 Mandate), während das Zentrum 14 und die Sozialdemokraten 19 Sitze errangen. Zu den Einzelheiten: M. Niehuss, Strategien zur Machterhaltung bürgerlicher Eliten
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Vor diesem Hintergrund mehrten sich die Klagen in der Zentrumspresse über eine Ungleichbehandlung der Katholiken vor Gericht, und zwar in dreifacher Hinsicht: Bei vergleichbaren Tatbeständen würden katholische Angeklagte härter bestraft, Pressevergehen katholischer Blätter würden streng geahndet (während die gegnerischen Polemiken so gut wie straflos blieben), und katholische Einrichtungen und Sitten fänden bei den Richtern keinen genügenden Rechtsschutz. Als Ursache wurde vor allem ins Feld geführt, die liberale Stadtverwaltung würde Katholiken systematisch von der Geschworenenbank fernhalten. Das Zentrum rubrizierte die Vorgänge unter der Überschrift „umgekehrte Klassenjustiz“. Nach Amtsübernahme der Regierung Hertling (Februar 1912) verschärfte sich der ohnehin schon rauhe Ton nochmals. So schrieb der zentrumsnahe „Bayerische Kurier“ in seiner Ausgabe vom 11. 7. 1913: „Im Bewußtsein sicherer Straflosigkeit können auch in der Rotblockpresse unsere Minister und obersten Richter jeden Tag als, man kann nicht anders sagen, Schweinehunde und abgefeimte Verbrecher behandelt werden, während in oft unbegreiflichen Urteilen jeder hart angegangen wird, der einem Lourdesvertilger oder sozialdemokratischem Redakteur ,Entstellung‘ vorhält. Das verwirrt die Rechtsbegriffe im Volke. Wir haben heute eine umgekehrte Klassenjustiz. Des letzten sozialdemokratischen, skrupellosen Agitators Ehre wird mit Eifersucht vom Gerichte gehütet, der anständige Mann, besonders wenn er in einem Ministerhotel sitzt, ist vogelfrei und kann auf einen Schutz seiner Ehre durch die Gerichte nicht hoffen. Das ist ein Justizskandal“100. Die sozialdemokratische „Münchener Post“ meinte auf den groben Klotz einen noch gröberen Keil setzen zu müssen und behauptete im Gegenzug, die klerikale Herrschaft der Regierung Hertling strebe die völlige Beseitigung der Laien aus der Rechtsprechung an. Der Vorwurf, die Stadtverwaltung manipuliere die Geschworenenlisten, sei, so das Blatt, im Magistrat als „hirnverbrannt“ bezeichnet worden101.
am Beispiel kommunaler Wahlrechtsänderungen im ausgehenden Kaiserreich, in: H. Best (Hg.), Politik und Milieu, St. Katharinen 1989, S. 60 – 91 (behandelt die Fälle München und Hamburg); Pohl, S. 434 ff. / 476 ff. 100 Bayerischer Kurier v. 11. 7. 1913 („Und wieder eine Abfuhr des Rotblocks“); weiterhin: Bayerischer Kurier v. 6. / 7. 11. 1910 („Zwei Gerichtsurteile“), 3. 4. 1912 („Wenn zwei dasselbe tun . . .“) und 19. 6. 1913 (regelmäßige Besetzung der Schwurgerichte „nach ,freiheitlichen‘ Gesichtspunkten“); Augsburger Postzeitung v. 26. 6. 1914 und Bayerischer Kurier v. 27. 6. 1914 (scharfe Kritik am Fall des Freidenkers Georg Welker, den das Schwurgericht München von der Anklage wegen Beschimpfung der katholischen Religion nach § 166 StGB freigesprochen hatte), alle archiv. in: HStA, MJu 14228 und MJu 16968. 101 Münchener Post v. 12. 7. 1913 („Zentrum und Volksjustiz“), archiv. in: HStA, MJu 14228. Hintergrund der Behauptung dürfte die Ankündigung des Zentrums gewesen sein, die bislang geübte „staatsbürgerliche Gleichberechtigung“ der Sozialdemokraten einschränken bzw. gänzlich abschaffen zu wollen.
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3. Die Strafrechtsnovelle von 1912 Nachdem 1902 im Auftrag des Reichsjustizamts die Vorarbeiten für ein neues Strafgesetzbuch aufgenommen worden waren, stellte sich die Frage, ob dringliche Änderungen des materiellen Rechts bis zum Abschluß der Generalrevision, die zeitlich kaum zu übersehen und deren legislatives Schicksal ungewiß war, aufgeschoben oder aber in Form einer Novellengesetzgebung vorgezogen werden sollten102. Während Nieberding, dem eine gründlich vorbereitete Kodifikation nach dem Vorbild des BGB vorschwebte, ein prinzipieller Gegner von Teilrevisionen war, vertrat die Reformmehrheit des Reichstags, deren fester Kern aus Freisinn, Nationalliberalen und Zentrum bestand, denen sich die SPD von Fall zu Fall anschloß, den entgegengesetzten Standpunkt103. Die Entscheidung zugunsten einer Novellierung entsprang regierungspolitischen Motiven, stellte in letzter Instanz aber eine Antwort auf den substantiellen Vertrauensverlust der Justiz dar. Dem schließlichen Ergebnis, der Strafrechtsnovelle von 1912, ging eine lange und verzweigte Vorgeschichte voraus, in deren Verlauf disparate Tatbestände in den Entwurf aufgenommen wurden, deren Revisionsbedürftigkeit teils auf den gesetzlichen Normen, teils auf der Urteilspraxis der Gerichte beruhte104. Bereits vor der Jahrhundertwende mehrte sich die Kritik an den Strafvorschriften für geringfügigen Diebstahl, die zunehmend als unvereinbar mit den sozialen Anschauungen der Zeit angesehen wurden, insbesondere in Fällen, in denen die Tat aus sozialer Not begangen worden war. Das Strafgesetzbuch bedrohte den einfachen Diebstahl mit Gefängnis von einem Tag bis zu fünf Jahren; Geldstrafen oder mildernde Umstände waren nicht vorgesehen (§ 242 StGB). Zweimaliger Rückfall wurde mit Zuchthaus von einem bis zu zehn Jahren, im Falle mildernder Umstände mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft (§ 244 StGB). Eine Ausnahme bildete nur der sog. Mundraub des § 370 Nr. 5 StGB, der für die Entwendung von Nahrungs- und Genußmitteln von unbedeutendem Wert oder in geringer Menge Geldstrafe bis zu 150 Mark oder Haft (Höchstdauer 6 Wochen) vorschrieb und die Strafverfolgung von der Stellung eines Antrags abhängig machte. Wie bereits erwähnt, waren es vor allem die Diebstahlsnormen, die den besitzbürgerlich-„kapitalistischen“ Geist des Strafgesetzbuchs reflektierten, das Eigentumsdelikte erheblich strenger bestrafte als etwa Körperverletzungen. Namentlich Fälle von Notdiebstahl – häufig handelte es sich um die Entwendung von Kohlen oder Brennholz zur kalten Jahreszeit – machten wiederholt die Runde durch die Tageszeitungen. Dabei kam es offensichtlich immer häufiger vor, daß die Richter bei der 102 Zur Strafrechtsreform siehe: W. Schubert (Hg.), Protokolle der Kommission für die Reform des Strafgesetzbuches (1911 – 1913), Bd. 1, Frankfurt / M. 1990, Einleitung, S. XVII ff. 103 Vgl. Nieberding, Sten. Ber. RT, 20. 2. 1906, S. 1455 f.; Lenzmann, ebd., 5. 3. 1903, S. 8397 f.; Bassermann, ebd., 20. 2. 1906, S. 1450; Müller-Meiningen, ebd., 24. 2. 1906, S. 1582; Kirsch (Z), ebd., 1. 3. 1906, S. 1645. 104 Zur Novelle: H. Greven, Die Geschichte der Strafrechtsnovelle von 1912, Freiburg 1933 (beschränkt auf die Motive des Entwurfs und die RT-Verhandlungen).
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Urteilsverkündung ihr Bedauern über das gesetzlich vorgeschriebene Strafmaß äußerten105. In der Regel wurden die Verurteilten zwar begnadigt, was die Unannehmlichkeiten der Strafverfolgung aber kaum wettmachen konnte106. Der erste Vorstoß zur Abmilderung der Strafvorschriften ging vom Zentrum aus. Ein Ende 1900 im Reichstag gestellter Antrag sah vor, Diebstahl alternativ mit Geldstrafen zu ahnden und den § 370 Nr. 5 auf Heil-, Heizungs- und Beleuchtungsmittel auszudehnen107. Obwohl der Antrag unerledigt blieb, nahm Schönstedt ihn zum Anlaß, die OLG-Präsidenten und Oberstaatsanwälte über den Gegenstand zu befragen. Nieberding griff die Initiative auf und schickte das preußische Material an die Justizverwaltungen der größeren Bundesstaaten mit der Bitte um eine Stellungnahme108. Einig waren sich die Gutachten darin, daß eine partielle Revision des Strafgesetzbuchs bedenklich erscheine und, wie es in der Zusammenfassung der preußischen Berichte heißt, „ein dringendes Bedürfnis nach sofortiger Abhilfe“ nicht zu erkennen sei109. Bei der Besprechung der Einzelvorschläge traten indes erhebliche Meinungsunterschiede zutage. Die wahlweise Zulässigkeit der Geldstrafe bei einfachem Diebstahl würde, so die preußischen Berichte, geradezu „einen Widerspruch mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes bedeuten, welches seit jeher mit dem Diebstahl die Vorstellung einer besonders verächtlichen, ehrlosen Straftat verbinde“. Zudem werde die Geldstrafe hauptsächlich den bemittelten Tätern zugute kommen, wodurch „die in der besitzlosen Masse vielfach herrschende Empfindung einer ungleichartigen Handhabung der Rechtspflege verstärkt und das Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit der Gerichte genährt werden“. Schließlich läge die Gefahr nahe, daß die Geldstrafe für gewöhnliche Fälle üblich werde, was „allgemein eine leichtere Auffassung dieses Vergehens bewirken, das Gefühl für die Unantastbarkeit fremden Eigentums abschwächen und die Strafrechtspflege in bedenklicher Weise gefährden“ würde110. Demgegenüber stimmte ein Teil der bayerischen Gutachten dem Vorschlag zu. Auch in der Bewertung der sonstigen Neuerungen (Geldstrafe neben Gefängnisstrafe, Geldstrafe und Herabsetzung der Mindeststrafen bei schwerem und Rückfalldiebstahl, Erweiterung des Mundraubs) nahmen die bayerischen Berichte durchweg einen liberaleren, die preußischen 105 Siehe etwa den „Eine dringende Forderung“ überschriebenen Artikel in „Der Tag“ v. 31. 8. 1905 (archiv. in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 105); der Verfasser, Held, war Mitglied des Reichstags (NL). 106 Zur Begnadigungspraxis: Otto (sächsischer JM) an Nieberding, 26. 10. 1905, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 115; Beseler an Nieberding, 28. 12. 1905, ebd., Bl. 119. 107 Antrag am Zehnhoff u. Gen. (20. 11. 1900), Sten. Ber. RT 1900 / 02, Drks. Nr. 49. 108 Rundschreiben Nieberdings v. 23. 2. 1902, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 4. In Bayern wurden ebenfalls Gutachten von den OLG-Präsidenten und den Oberstaatsanwälten angefordert. Die Äußerungen aus Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen und Elsaß-Lothringen stammen von unterschiedlichen Absendern (Justizministerium, Gerichte, Staatsanwaltschaft). 109 Vgl. die Zusammenstellung der von den Bundesregierungen mitgeteilten Gutachten und Äußerungen, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 84 ff., Zitat Bl. 85. 110 Sämtliche Zitate ebd., Bl. 87.
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einen konservativeren Standpunkt ein, während sich die Haltung der übrigen Bundesstaaten einer klaren Einordnung entzog. Angesichts des überwiegend negativen Tenors verzichteten Schönstedt und Nieberding auf weitere Schritte111. Unterdessen formierte sich die erwähnte Reformmehrheit des Reichstags gerade um die Frage der Diebstahlsstrafen und des Notdiebstahls112. Im September 1905 schaltete sich Reichskanzler Bülow erstmals in die Diskussion ein. Unter Beifügung eines Presseartikels drang er in einem Schreiben an Nieberding auf „eine baldige Abhilfe“, möglichst noch vor der allgemeinen Revision des Strafgesetzbuchs113. Daraufhin ersuchte Nieberding die Justizminister Preußens, Bayerns und Sachsens um eine Stellungnahme zur Frage einer Erweiterung des § 370 Nr. 5 StGB. Obwohl sie einzelne Härtefälle konzedierten, stimmten Beseler und der sächsische Justizminister Otto – unter Verweis auf die bevorstehende Strafrechtsreform und aus Sorge um die Repressionskraft – für die Beibehaltung der geltenden Rechtslage114. Anders der bayerische Justizminister Miltner: Zwar sprächen gewichtige Gründe gegen die Abänderung einzelner Vorschriften, doch „errege die durch die §§ 243, 244 des Strafgesetzbuchs gebotene Verhängung schwerer Strafen für unbedeutende Verfehlungen immer weitere Kreise und schädige das Ansehen der Strafrechtspflege“115. Deshalb empfehle sich die Aufnahme von Heizungsmitteln in die Vorschrift des § 370 Nr. 5 StGB. Mithin gab Miltner, im Gegensatz zu seinen Amtskollegen, den politisch-sozialen Argumenten den Vorzug gegenüber den juristischen. Rückendeckung erhielt er durch die bayerischen Handels- und Gewerbekammern, die, wie eine Umfrage ergeben hatte, keine Einwände gegen den Vorschlag erhoben. Etwas anders sah es im Staatsministerium aus: Im Interesse der Forstwirtschaft lehnte der bayerische Finanzminister mildere Strafen entschieden ab, da anderenfalls ein Anstieg der Holzdiebstähle zu erwarten sei. Aufs Ganze gesehen waren die Äußerungen somit in gewünschter Weise ausgefallen, so daß Nieberding kurze Zeit später in seiner Antwort an den Reichskanzler von einer Neuregelung abraten konnte116. Beim zweiten Komplex, den Rohheitsdelikten, lag der Schwerpunkt weniger auf den gesetzlichen Vorschriften als auf der Bewertung durch die Gerichte. Die Kritik 111 Vgl. die Erklärungen Nieberdings im Reichstag am 1. 3. 1904 (S. 1439) und am 20. 2. 1906 (S. 1456). 112 Vgl. Lenzmann, Sten. Ber. RT, 5. 3. 1903, S. 8398; Hagemann (NL), ebd., 1. 3. 1904, S. 1420 f.; Kirsch (Z), ebd., 1. 3. 1904, S. 1436 f. sowie 1. 3. 1906, S. 1645; Bassermann, ebd., 20. 2. 1906, S. 1450; Müller-Meiningen, ebd., 24. 2. 1906, S. 1582 f.; Heinze (NL), ebd., 18. 1. 1909, S. 6344; Heine, ebd., 18. 1. 1909, S. 6348. 113 Bülow an Nieberding, 12. 9. 1905, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 104. 114 Anfrage Nieberdings v. 12. 10. 1905, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 108 ff.; Otto an Nieberding, 26. 10. 1905, in: ebd., Bl. 115; Beseler an Nieberding, 28. 12. 1905, in: ebd., Bl. 119 f. Otto (1852 – 1912) war von 1902 – 1912 sächsischer Justizminister; vgl. D. Peschel, Viktor Alexander von Otto, in: Sächsische Justizminister 1831 bis 1950, Dresden 1994, S. 66 – 90. 115 Podewils an Nieberding, 9. 3. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 128 ff., Zitat Bl. 128. 116 Nieberding an Bülow, 26. 3. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 131 ff.
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an der milden Bestrafung von Körperverletzungen, welche die kaiserzeitlichen Dezennien wie ein roter Faden durchzieht, wollte auch im neuen Jahrhundert nicht verstummen. In den Mittelpunkt rückten jetzt einzelne Fallgruppen, insbesondere die Mißhandlung von Kindern. Gegen die skandalös niedrigen Strafen, die in Fällen gröbster Kindesmißhandlung immer wieder ausgesprochen wurden, erhoben die Zeitungen, aber auch Kinderschutzverbände ihre Stimme117. Erschwerend kam hinzu, daß der zur Verfolgung der einfachen Körperverletzung (§ 223 StGB) erforderliche Strafantrag häufig unterblieb, da der gesetzliche Vertreter des Kindes als Antragsberechtigter entweder selbst der Täter war oder aus persönlichen Gründen davon absah, die Behörden anzurufen. Ganz ähnlich lagen die Verhältnisse bei der Mißhandlung von Frauen und beim Mißbrauch der Gewalt gegenüber abhängigen Personen (Jugendliche, Kranke etc.)118. Als drittes Feld kristallisierte sich der Tierschutz heraus, dessen gesetzliche Regelung sich ebenfalls als unzureichend erwiesen hatte. Das Strafgesetzbuch qualifizierte Tierquälerei als bloße Übertretung, band die Strafbarkeit an die Voraussetzungen, daß die Handlung „öffentlich“ und „in Ärgernis erregender Weise“ begangen worden war, und schrieb als Strafdrohung lediglich Geldstrafe bis zu 150 Mark oder Haft vor (§ 360 Nr. 13 StGB). Angestoßen durch die Agitation der Tierschutzvereine sowie wissenschaftliche Publikationen beschäftigte sich der Reichstag seit den 90er Jahren mehrfach mit der Frage eines erhöhten Strafschutzes119. Verschlimmert wurden die Mißstände durch eine nachlässige Strafpraxis. Im Oktober 1904 bemängelte Schönstedt in einer Verfügung an die Oberstaatsanwälte, daß „die beantragten und erkannten Strafen nicht immer im richtigen Verhältnisse zu der von dem Täter an den Tag gelegten Rohheit“ stünden. Er ordnete an, der Strafbemessung besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und in Fällen, in denen die Gerichte auf zu milde Strafen erkennen würden, Rechtsmittel einzulegen120. Der unmittelbare Anstoß zum Novellenprojekt ging indes von gänzlich anderen Zusammenhängen aus, nämlich dem juristischen Streit zwischen Maximilian Harden und Kuno Graf Moltke, Stadtkommandant von Berlin, neben den Arnim-Prozessen der 70er Jahre die spektakulärste politisch-juristische Auseinandersetzung des Kaiserreichs. Für die hier interessierende Entwicklung ist vor allem der erste Moltke-Harden-Prozeß von Belang. Dennoch sei die Gesamtaffäre in ihren wichtigsten Stationen kurz beschrieben121: In der Absicht, den engen Kaiserfreund 117 Einige Pressestimmen: Tägliche Rundschau v. 10. 7. 1905; Der Tag v. 28. 9. 1907; Kieler Zeitung v. 29. 11., 20. 12. und 22. 12. 1908; Berliner Neueste Nachrichten v. 4. 1. 1913 (alle archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8228). 118 Auf den Umstand, daß Frauen häufig davor zurückschreckten, gegen ihren Ehemann Strafantrag zu stellen, wies die Kreuzzeitung bereits am 11. 4. 1896 nachdrücklich hin (archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8228). 119 Hinweise bei Greven, S. 52 f. 120 AV an die Oberstaatsanwälte v. 20. 10. 1904, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4537, Bl. 665. 121 Zum Problemkreis: H. Rogge, Holstein und Harden, München 1959, S. 211 ff., bes. S. 227 – 279 / 290 f. / 450 – 465; I. V. Hull, The Entourage of Kaiser Wilhelm II. 1888 – 1918,
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Philipp Eulenburg, Hauptfigur der höfischen Kamarilla, seines politischen Einflusses zu berauben, hatte Harden seit Ende 1906 in einer Reihe von Artikeln in der „Zukunft“ die homosexuellen Neigungen Eulenburgs und seiner „Liebenberger Tafelrunde“ enthüllt (die entsprechenden Informationen stammten vom alten Bismarck, zu dem Harden in dessen letzten Lebensjahren ein enges Verhältnis unterhielt). Dabei war mehrfach auch der Name Moltkes gefallen, der daraufhin Privatklage gegen den Publizisten wegen Beleidigung erhob. In dem Verfahren vor dem Moabiter Schöffengericht (23. – 29. 10. 1907), das sich praktisch coram publico abspielte und in dem sich die Rollen von Kläger und Beklagtem rasch vertauschten, wurde nicht nur das Eheleben Moltkes peinlich genau durchleuchtet, sondern darüber hinaus kamen auch die sexuellen Ausschweifungen in hohen preußischen Offizierskreisen en détail zur Sprache. Der Prozeß endete mit dem Freispruch Hardens, da das Gericht den Wahrheitsbeweis für die von ihm behaupteten Tatsachen als erbracht ansah. Fast die gesamte bürgerliche Presse, aber auch zahlreiche Fachvertreter tadelten, häufig in markigen Worten, den Nichtausschluß der Öffentlichkeit und den Mißbrauch des Wahrheitsbeweises, wobei die Fehler überwiegend der Gesetzesanwendung und nicht dem Gesetz angelastet wurden. Nicht wenige Kommentare äußerten zudem Zweifel an der Korrektheit des Urteils. Die in nationalen Kreisen verbreitete „Tägliche Rundschau“ resümierte: „Wenn ein Prozeß, so hat es dieser gezeigt, daß etwas faul ist in unserer Rechtspflege, daß etwas geändert werden muß, wenn nicht unsere Justiz zur Handlangerin des Umsturzes und Helfershelferin der Sittenverderbnis herabsinken und wenn sie nicht politisch gemeingefährlich werden soll“122. Der Kaiser schäumte ob des Urteils vor Wut und erging sich wieder einmal in wilden Tiraden gegen die Treulosigkeit der preußischen Justiz. Unter den gerade zitierten, in schärfstem Ton gehaltenen Artikel aus der „Täglichen Rundschau“ notierte er: „Vorzüglich! Möge sich unsere Jammerjustiz dies ad notam nehmen! Memel-Moabit zeigt, daß wir Oberen und Monarchen heute vogelfrei sind und in der Justiz auch nicht den leisesten Schutz haben! Die Preußische Justiz ist stolz, unabhängig zu sein! Das ist sie! aber nur gegen die Krone und die Regierung und ihre Beamten; vor dem plebs und dem Mob macht sie Kotau! Das ist das Urteil, das jetzt über sie gefällt wird! Wir werden in Zukunft zum Degen und zur Kugel greifen! Die Justiz möge es sich selbst zuschreiben, wenn die Zustände ,mitCambridge 1982, S. 133 – 145; K. Hecht, Die Harden-Prozesse, München 1997 (behandelt die Frage der Rechtsstaatlichkeit); M. Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, Berlin 2005, S. 186 ff. (Skandalgeschichte Wilhelms II. im Zusammenhang mit der gleichzeitigen „Medienrevolution“); Weller, S. 185 – 203; Mommsen, II, S. 253 – 257; Sammlung von Pressestimmen in: GStA, Rep. 84a, Nr. 49839 / 49840. Den Kontrahenten standen prominente Anwälte zur Seite: Harden wurde von dem bereits mehrfach erwähnten Maximilian Bernstein, Moltke von Erich Sello vertreten. 122 Zit. n. Rogge, S. 234; dort auch weitere Presseäußerungen. Juristische Stimmen: A. Finger, Sensationelle Beleidigungsprozesse, in: DJZ 12 (1907), S. 1217 – 1224 (Strafrechtler in Halle); W. Kahl, Staatsanwaltschaft und Privatklage, in: ebd., S. 1224 – 1230, bes. S. 1224 f. (Staats- und Strafrechtler in Berlin).
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telalterlich‘ werden! Ich werde sie nicht wieder um Hilfe angehen!“123. In einer Rundverfügung erinnerte Beseler an den Schellingschen Erlaß vom 7. 10. 1891 und forderte die Vertreter der Anklagebehörde auf, von ihrem Antragsrecht auf Ausschluß der Öffentlichkeit bei jeder gesetzlich sich bietenden Gelegenheit Gebrauch zu machen, insbesondere dann, wenn homosexuelle Streitfragen zur Erörterung anstünden124. Nachdem Moltke Berufung eingelegt hatte, bejahte die Berliner Staatsanwaltschaft – in Umkehrung ihres zuvor eingenommenen Standpunktes – das öffentliche Interesse und erhob öffentliche Klage gegen Harden. Da das Landgericht der staatsanwaltschaftlichen Argumentation folgte, kam es zu einem zweiten Hauptverfahren in erster Instanz, ein Vorgang, dessen Rechtmäßigkeit von namhaften Juristen bestritten wurde125. Der zweite Moltke-Harden-Prozeß, der vom 16. 12. 1907 bis 3. 1. 1908 vor der Strafkammer unter zeitweiligem Ausschluß der Öffentlichkeit stattfand, führte zur Verurteilung Hardens zu vier Monaten Gefängnis. Auf seine Revision hin hob das Reichsgericht das Urteil auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück (23. 5. 1908). Im folgenden dritten Prozeß wurde Harden wegen übler Nachrede zu 600 Mark Geldstrafe verurteilt (20. 4. 1909). Die Sache kam erst zum Abschluß, nachdem Moltke seinem Gegner in einer öffentlichen Erklärung Lauterkeit und Patriotismus bescheinigt und Harden aus dem Dispositionsfonds des Reichskanzlers 40.000 Mark zur Begleichung seiner Unkosten erhalten hatte. Daraufhin zog er seinen erneuten Revisionsantrag zurück (Juni 1909). Gegen Eulenburg, den die Hardenschen Enthüllungen um die Gunst des Kaisers gebracht hatten, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen zweifachen wissentlichen Meineides (im Prozeß Bülows gegen den homosexuellen Schriftsteller Adolf Brand, durchgeführt am 6. 11. 1907 vor einer Berliner Strafkammer, und im zweiten Moltke-Harden-Prozeß). Nach achtzehntägiger Dauer (29. 6. – 17. 7. 1908) wurde das Verfahren mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand des Angeklagten vertagt und, abgesehen von einer kurzen Episode 1909, bis zum Tode Eulenburgs im Jahre 1921 nicht wieder aufgenommen. Unter Bezugnahme auf das Presseecho – wie kein zweiter Kanzler des kaiserlichen Deutschlands legte Bülow Wert auf eine „gute Presse“ – trat der Reichskanzler nach Beendigung des ersten Prozesses abermals an Nieberding heran und verlangte eine Umgestaltung des Beleidigungsprozesses, vor allem mittels Einschränkung des Wahrheitsbeweises und Erhöhung der Strafen126. Erneut versuchte 123 Zit. nach Rogge, S. 237. Der Hinweis auf Memel bezog sich auf die schroffe Kritik der oppositionellen Presse an einer Rede, die der Kaiser wenige Wochen zuvor dort gehalten hatte. 124 Vgl. J. Stranz, Juristische Rundschau, in: DJZ 13 (1908), S. 120 (RA in Berlin); Votum Beselers v. 17. 1. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 4. 125 Zu den entsprechenden Entscheidungen des Reichsgerichts und zur juristischen Diskussion Hecht, S. 193 ff. 126 Bülow an Nieberding, 6. 11., 17. 11. und 4. 12. 1907, alle in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 147, 148, 153.
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der Staatssekretär zu bremsen: Mit Hinweis auf die Erörterungen in der Strafrechtskommission riet er von einer Verschärfung der Strafen ab. Gerade in den niederen Klassen würde es sich häufig um Fälle handeln, die mit einer geringen Geldstrafe hinreichend gesühnt seien, im übrigen biete der vorhandene Strafrahmen genügenden Spielraum, um auch schwere Ehrenkränkungen zu ahnden, „wenn nur die Gerichte von ihren Befugnissen ausreichenden Gebrauch machen“. Hinsichtlich der Einschränkung des Wahrheitsbeweises – Nieberding spielte hierbei verschiedene Modelle durch – habe man eine allseits befriedigende Lösung noch nicht gefunden. Zudem appelliere die öffentliche Meinung immer gleich an die Gesetzgebung, wenn sich Mißstände in der gerichtlichen Praxis zeigen würden, ohne sich darüber klar zu werden, ob die Schuld tatsächlich im geltenden Recht läge127. Vor diesem Hintergrund ist die große Rede zu sehen, die Bülow am 30. 11. 1907 vor dem Reichstag hielt. Dort umriß er, eingerahmt in allgemeine Reflexionen, die zukünftigen Aufgaben des Blocks (Konservative, Reichspartei, Nationalliberale, Freisinn, Demokraten), auf den er sich seit den „Hottentottenwahlen“ vom Januar des Jahres stützte128. Der breite Raum, der strafrechtlichen Fragen gewidmet war, und Bülows Bekenntnis, daß er Reformen auf diesem Gebiet „nicht nur für wünschenswert, sondern für dringend notwendig halte“, dienten nicht zuletzt dazu, den widerstrebenden Nieberding zum Einlenken zu bewegen. Bestärkt wurde er in seiner Haltung von den Blockparteien, die mit den schleppenden Reformarbeiten im Reichsjustizamt unzufrieden waren129. Strategisch war die Rede geschickt angelegt. Indem Bülow den Standpunkt des „fertigen Juristen“ von sich wies und sich als „einfacher Laie“ stilisierte, der aus der Lektüre des „Gerichtssaals“ in der Presse die Überzeugung gewonnen habe, daß zahlreiche Urteile nicht mit dem „Volksgefühl“ übereinstimmen würden, machte er sich zum Sprachrohr der weitverbreiteten Justizkritik. Damit erreichte er zweierlei: Er konnte sich als Volkskanzler präsentieren, der sein Ohr dicht am Puls der Zeit hatte, und er konnte die erforderlichen Reformen als lohnende, von breiter Zustimmung getragene Aufgabe den Blockparteien zuweisen. Auf der einen Seite, so Bülow unter wiederholtem Beifall des ganzen Hauses, seien die Verurteilungen zu hart, namentlich bei Eigentumsvergehen armer Leute und bei Notdelikten, auf der anderen nicht streng genug, vor allem bei Rohheits- und Sittlichkeitsdelikten, Kindes- und Frauenmißhandlungen, Tierquälereien und beim Mißbrauch der Gewalt gegenüber abhängigen Personen. Zudem bedürften das Privatleben und die persönliche Ehre – der Kanzler verwies hier auf die inquisitorische Befragung von Angeklagten und Zeugen und den Wahrheitsbeweis, aber auch auf die „Schmutzpresse“ in den Großstädten – eines besseren Schutzes130. Darüber hinaus sicherte Nieberding an Bülow, 21. 11. 1907, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 149 ff., Zitat Bl. 149. Bülow, Sten. Ber. RT, 30. 11. 1907, S. 1935 – 1938. 129 Vgl. den Bericht von Treutlein-Mördes über die JA-Sitzung v. 28. 2. 1909, in: HStA, MA 76789b, S. 3. 130 Sämtliche Zitate Bülow, S. 1937 / 1938. 127 128
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er die tunlichste Beschleunigung der allgemeinen Strafrechtsreform zu. Allerdings verzichtete Bülow darauf, die Vorlage einer gesonderten Strafrechtsnovelle anzukündigen, so daß seine diesbezüglichen Absichten im unklaren blieben. Dennoch verfehlte seine Rede die gewünschte Wirkung nicht. Nieberding gab seine Vorbehalte nolens volens auf, riet aber dringend dazu, die geplante Novelle auf einige wenige Materien zu beschränken131. Daraufhin erteilte ihm Bülow den Auftrag zur Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage folgenden Inhalts: mildere Bestrafung geringfügigen Diebstahls, begangen „aus Not oder in einem Augenblicksgelüst“, Herabsetzung der Strafen für Rückfalldiebstahl, stärkerer Schutz des Privatlebens gegen Beleidigungen und, wenn möglich, Verschärfung des Tierschutzes. Die Mängel auf dem Gebiet der Rohheits- und Sittlichkeitsdelikte, der Kinder- und Frauenmißhandlung und des Mißbrauchs der Gewalt über abhängige Personen sollten hingegen auf dem Anweisungswege beseitigt werden132. Das entsprechende Rundschreiben vom 18. 1. 1908, das Bülow an die Bundesregierungen senden ließ, setzte die Kette ähnlicher Bemühungen – erinnert sei nur an das Leonhardtsche Reskript vom Januar 1874 oder die Friedbergsche Umfrage vom Juli 1887 – fort. Gegen Rohheitsdelikte, „dem Gerechtigkeits- und Sittlichkeitsgefühle der Bevölkerung besonders naheliegende Gebiete“, heißt es dort, würden Strafen ausgesprochen, „die das öffentliche Rechtsbewußtsein nicht als eine ausreichende Sühne für die Tat empfindet“. Da der Rahmen des geltenden Rechts meist weit genug sei, „um den Gerichten ein gerechtes Ausmaß der Strafe zu gestatten“, ließe sich der Grund nur darin finden, „daß nicht der richtige Gebrauch von den Mitteln gemacht wird, die das Gesetz gewährt“. Deshalb erscheine es dringend wünschenswert, daß die staatsanwaltschaftlichen Behörden „schon im Vorverfahren durch sorgfältige Erforschung des Sachverhalts die Grundlage für ein richtiges Ergebnis der Hauptverhandlung schaffen, demnächst aber durch ihre Anträge und Ausführungen in der Hauptverhandlung auf eine der Schwere des Falles entsprechende Bestrafung hinwirken“133. Die Reaktion fiel enttäuschend aus. Es stellte sich heraus, daß beileibe nicht alle Justizverwaltungen die Einschätzung des Reichskanzlers teilten. Neben einer Handvoll kleinerer Länder versahen lediglich Preußen, Bayern, Hessen-Darmstadt und Elsaß-Lothringen die Beamten der Staatsanwaltschaft mit entsprechender Weisung. Einige Bundesregierungen, etwa die Oldenburgische, verneinten die Notwendigkeit einer speziellen Verfügung, mehr als die Hälfte scheint auf das Rundschreiben überhaupt nicht reagiert zu haben134. Das Ergebnis läßt verschiedene Nieberding an Bülow, 29. 12. 1907, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 187 ff. Erlaß Bülows an Nieberding v. 12. 1. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 194 f., Zitat Bl. 194. 133 Rundschreiben an die Bundesregierungen v. 18. 1. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 200; auch in: ebd., Nr. 5800 (ohne Blattzählung). 134 Sammlung der bundesstaatlichen Äußerungen in: BA, R 3001, Nr. 5800; AV Beselers an die Oberstaatsanwälte v. 28. 1. 1908, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 4538, Bl. 103 (ebenso in Nr. 8228). 131 132
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Deutungen zu: Entweder handelte es sich vorrangig um ein preußisches Problem, oder die übrigen Justizminister beurteilten die gängige Strafbemessung in einem günstigeren Licht, oder aber sie erachteten einen erneuten Vorstoß von vornherein für aussichtslos. Für letzteres spricht die Tatsache, daß sich die Initiative außerjuristischen Anstößen verdankte. Das Bülowsche Projekt kreuzte sich mit einer legislativen Initiative Beselers. Als unmittelbare Reaktion auf den Moltke-Harden-Prozeß hatte der preußische Justizminister den Entwurf zu einem Sondergesetz ausarbeiten lassen, der sich auf zwei Punkte konzentrierte: die Einschränkung des Wahrheitsbeweises und der Öffentlichkeit in Beleidigungsprozessen. Der Schwerpunkt lag auf dem erstgenannten Aspekt, zu dessen Begründung es im Mitteilungsschreiben an Nieberding hieß: Es könne keinem Zweifel unterliegen, „daß sich auf dem Gebiete des Wahrheitsbeweises Mißbräuche eingeschlichen haben, die durch ungebührliche Ausdehnung der Erhebungen und rücksichtslose Benutzung der dadurch gebotenen Vorteile dazu geführt haben, daß der klagende Beleidigte in die Rolle des Angeklagten gedrängt, daß sein ganzes Leben, insbesondere auch sein Privat- und Familienleben, in der Verhandlung durchforscht wird und daß auf diese Weise Tatsachen zur öffentlichen Erörterung gelangen, die mit dem Gegenstande der Verhandlung nur in sehr losem, ja in gar keinem Zusammenhange stehen, dagegen den Verletzten ohne zwingende Notwendigkeit auf das Empfindlichste bloßstellen und schädigen. Das Ergebnis dieser sehr häufigen Vorkommnisse ist, daß dem Publikum die Rechtsverfolgung auf dem geordneten Wege verleidet, daß Unzufriedenheit mit der Rechtspflege erzeugt und die Neigung zu rechtswidriger Selbsthilfe verstärkt wird. Es ist längst eine im Publikum verbreitete Ansicht geworden, daß es unratsam sei, Beleidigungsprozesse anzustrengen, weil das zu erwartende geringe Ergebnis in keinem Verhältnis zu den von dem Prozesse zu besorgenden weiteren Verunglimpfungen und Verdächtigungen stehe, und diese Auffassung hat bereits weit in die amtlichen Kreise übergegriffen. So wird auch von der Inanspruchnahme der Gerichte zum Schutze der verletzten amtlichen Ehre aus dieser Besorgnis nicht selten abgesehen, und wo dies nicht geschieht, sondern die Untersuchung eingeleitet wird, bietet diese dem Gegner Gelegenheit zu solchen Angriffen, daß sie mehr schadet als nützt“135. Ähnlich wie auf anderen Gebieten beruhte die Extension auf der unbestimmten Fassung des Gesetzes. Dadurch war es möglich geworden, auf sog. „Illustrationsfakta“ zurückzugreifen, welche die behauptete Tatsache eher in ein bestimmtes Licht tauchten als sie handfest zu beweisen, und die äußeren, objektiv wahrnehmbaren Tatsachen um „innere“ Gegebenheiten, also den gesamten Bereich des Meinens, Fühlens und Wollens sowie der charakterlichen Eigenschaften, zu erweitern – eine psychologisierende Tendenz, die Mittelstädt schon rund zwanzig Jahre zuvor kritisiert hatte. Zur Abhilfe schlug Beseler einen neuen § 186a StGB vor, der den Wahrheitsbeweis auf „bestimmt bezeichnete“ Tatsachen beschränkte und vom An135
Beseler an Nieberding, 15. 12. 1907, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 38 ff., Zitat Bl. 38 f.
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trag des Beschuldigten abhängig machte. Bei öffentlichen Beleidigungen, die sich lediglich auf „das häusliche oder das Familienleben“ bezogen, sollte er überhaupt nicht zulässig sein. Ferner übernahm Beseler eine Bestimmung aus dem vorliegenden Entwurf zur Gerichtsverfassungsnovelle, wonach die Gerichte in allen Strafsachen wegen Beleidigung befugt sein sollten, auf Antrag eines Beteiligten die Öffentlichkeit auszuschließen (Zusatz zu § 173 GVG). Als Nieberding Vorbehalte äußerte und sich anschickte, die Sache auf die lange Bank zu schieben, legte Beseler – in Unkenntnis der mittlerweile an den Staatssekretär ergangenen Weisung – den Entwurf samt Votum kurzerhand dem Staatsministerium zur Beschlußfassung vor136. Eile war insofern geboten, als Beseler die durch den Moltke-Harden-Prozeß erzeugte Stimmung ausnutzen wollte. Darüber hinaus sollte das Gesetz präventiv wirken, wobei das Votum ausdrücklich auf einen etwaigen Beleidigungsprozeß Eulenburgs gegen Harden verweist. Insofern traf die sozialdemokratische Etikettierung der Novelle als „Lex Eulenburg“ einen wahren Kern. Abweichend von der ursprünglichen Fassung sah der Entwurf zudem eine Erhöhung der Strafmaxima vor. Als Begründung führte Beseler – neben dem seit Erlaß des Strafgesetzbuchs gesunkenen Geldwert und dem gestiegenen Volkswohlstand – vor allem die Urteilsgewohnheiten der Gerichte an. Allzuviel versprach er sich von der Maßnahme allerdings nicht – immerhin könne „für außergewöhnlich schwere Fälle sowie im allgemeinen als Direktive für den Richter in der strafrechtlichen Bewertung der Ehrverletzungen ein gewisser Erfolg erwartet werden“. Danach sollte die einfache Beleidigung künftig mit Geldstrafe bis zu 1.500 Mark (bisher: 600 Mark) oder mit Gefängnis bis zu einem Jahr, im Falle öffentlicher Begehung mit Geldstrafe bis zu 3.000 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft werden (als qualifizierter Fall galt bisher nur die mittels einer Tätlichkeit begangene Beleidigung). Die Geldstrafe für üble Nachrede war auf 1.500 Mark (bisher: 600 Mark), im öffentlichen Fall auf 3.000 Mark (bisher: 1.500 Mark), die Höchststrafe für Verleumdung auf drei Jahre Gefängnis (bisher: zwei Jahre), bei mildernden Umständen auf 3.000 Mark (bisher: 900 Mark) heraufgesetzt. Entschieden widersprach der Justizminister dem Gedanken, die Beleidigungsfrage mit anderen Materien zu verknüpfen. Dadurch würde die Beratung des Entwurfs nur unnötig verkompliziert und „geradezu eine Einladung an die Parteien des Reichstags ausgesprochen werden, die Vorlage mit allen möglichen anderen Wünschen zu belasten“. Vielmehr müsse, so der preußische Justizminister abschließend, „entweder jetzt gehandelt oder das Vorgehen überhaupt unterlassen werden“137. Nieberding sah die ganze Sache viel gelassener. Er leugnete die Reformbedürftigkeit des Wahrheitsbeweises nicht, hielt die Beselerschen Vorschläge aber für zu weitreichend und im Reichstag für nicht durchsetzbar, ganz zu schweigen von dem zu erwartenden Aufschrei der Presse. Eine besondere Dringlichkeit vermochte er 136 Vgl. Nieberding an Beseler, 6. 1. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 35 ff.; Votum Beselers und Gesetzentwurf mit Begründung v. 17. 1. 1908, in: ebd., Nr. 5797, Bl. 1 ff. 137 Zitate Votum Beseler, Bl. 6, 8, 10.
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nicht anzuerkennen, zumal die Unzuträglichkeiten des ersten Moltke-Harden-Prozesses allein auf die unsachgemäße Prozeßführung zurückzuführen seien und sich in der Strafkammerverhandlung nicht wiederholt hätten. Eine Abänderung der politisch heiklen Beleidigungsvorschriften hatte seiner Ansicht nach – hier übernahm Nieberding, aus der Not eine Tugend machend, Bülows Programm – nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn man sie mit unpolitischen, vom Reichstag selbst als dringlich bezeichneten Revisionsfragen verbinden würde. Bezüglich des Wahrheitsbeweises erachtete er eine Bestimmung für ausreichend, welche die öffentliche Verbreitung ehrenrühriger Tatsachen des Privatlebens, die das öffentliche Interesse nicht berührten, ohne Rücksicht auf die Wahrheit der Behauptung unter Strafe stellte138. Die besseren Argumente dürfte Nieberding auf seiner Seite gehabt haben. Nachdem Beseler von den Planungen des Reichsjustizamts Kenntnis erhalten hatte, hielt er an seinem Entwurf nicht länger fest, bekräftigte aber – unter Hinweis auf die mit den projektierten Änderungen verbundenen Weiterungen – seine Bedenken gegen eine umfassendere Vorlage. Als Lösung schlug er vor, das Staatsministerium über den Umfang der Revision entscheiden zu lassen139. Bülow stimmte der Idee zu und beauftragte Nieberding, den Standpunkt des Reichsjustizamts in einer Denkschrift an das Staatsministerium darzulegen140. Darin hob der Staatssekretär auch die blockpolitischen Risiken der Beselerschen Vorlage hervor, sei im Reichstag doch eine Rechts-Links-Spaltung zu erwarten. Im Staatsministerium ließ Beseler seinen Entwurf dann endgültig fallen, machte aus seiner sonstigen Skepsis aber keinen Hehl. Bülow verwies auf die große Zustimmung, die seine Äußerungen über die Aufgaben des Blocks im Lande gefunden hätten. Daraufhin akzeptierte die Ministerrunde den Vorschlag Nieberdings, in kommissarischen Verhandlungen zwischen dem Justizministerium und dem Reichsjustizamt einen Novellenentwurf ausarbeiten zu lassen. Umfang und Art der einzubeziehenden Materien blieben zunächst offen141. Beselers Befürchtungen erwiesen sich vorerst als unbegründet. Bis Ende Mai 1908 konnten sich die Kommissare auf die Grundzüge eines Entwurfs einigen, der die meisten der in Frage stehenden Punkte in Gesetzesform goß: So wurde der Tierschutz verschärft (§ 145b), die Mißhandlung von Kindern und wehrlosen Personen strenger bestraft und von Amts wegen verfolgbar gemacht (§ 223a Abs. 2), der Tatbestand des Notdiebstahls eingeführt (§ 248a; die übrigen Diebstahlsvorschriften blieben unberührt) und die Bestimmung des § 370 Nr. 5 um „Gegenstände des hauswirtschaftlichen Verbrauchs“ erweitert. Der allgemeinen Tendenz Vgl. Nieberding an Bülow, 28. 1. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 44 ff. Vgl. Nieberding an Beseler, 25. 1. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5796, Bl. 201 ff.; Beseler an Nieberding, 29. 1. 1908, in: ebd., Nr. 5797, Bl. 53 ff. 140 Vgl. Nieberding an Bülow, 29. 1. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 57 ff.; Bülow an Nieberding, 7. 2. 1908, in: ebd., Bl. 62; Denkschrift Nieberdings v. 14. 2. 1908, in: ebd., Bl. 78 ff. 141 Prot. StM, 29. 2. 1908 (Auszug), in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 84 f. 138 139
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der Vorlage entsprach zudem die mildere Bestrafung des qualifizierten Hausfriedensbruchs (§ 123), des Arrest- und Siegelbruchs (§§ 136, 137) und der Vereitelung der Zwangsvollstreckung (§ 288). Mit dem Erpressungsparagraphen (§ 253), der eine eingeschränktere Fassung erhielt, fand eine zweite politische Vorschrift Eingang in den Entwurf. Leitende Absicht war hierbei, so Nieberding in einem Schreiben an den Reichskanzler, „die Unbilligkeiten zu beseitigen, zu denen die dem Begriffe der Erpressung vom Reichsgerichte gegebene weite Ausdehnung, insbesondere auf dem Gebiete des Koalitionsrechtes, geführt hat“142. Einig waren sich die beiden Behördenchefs in ihrer Ablehnung, die in der Öffentlichkeit äußerst kontrovers diskutierte und vielschichtige Prostitutionsfrage einzubeziehen, wie dies von Innenminister Moltke und Kultusminister Holle gefordert wurde143. Strittig blieb nach wie vor der Beleidigungskomplex. Der Entwurf wollte den Wahrheitsbeweis bei einer öffentlichen Beleidigung ausschließen, wenn sie lediglich „Verhältnisse des Privatlebens“ betraf, die das öffentliche Interesse nicht berührten. Allerdings konnte der Beleidigte eine Beweisaufnahme verlangen (§ 186 Abs. 2). Damit hatte sich der „liberalere“ Standpunkt Nieberdings gegenüber den restriktiveren Vorstellungen Beselers durchgesetzt. Im Rahmen einer Besprechung mit den Mitgliedern der Strafrechtskommission, auf deren Anraten hin der Entwurf noch verschiedene Änderungen erfuhr, brachte Lucas, Direktor im preußischen Justizministerium, die dortige Unzufriedenheit deutlich zum Ausdruck. Die gefundene Lösung treffe, wie Lucas mit Recht beklagte, den Kern des Übels, die Ausdehnung des Wahrheitsbeweises auf weitere Behauptungen, „wodurch der Beweiserhebung zur Chikane des Gegners ein fast unbegrenztes Feld eröffnet werde“, überhaupt nicht. Ferner hätte die Bezugnahme auf das öffentliche Interesse die unerwünschte Folge, „den Gerichten, was bisher vermieden worden sei, die Entscheidung über das Vorliegen eines solchen Interesses zu übertragen, da diese Entscheidung öfters eine politische sein müsse“144. Unabhängig davon wurden, auf Anregung Bülows, der sich bei öffentlichen Beleidigungen hohe Geldstrafen nach englischem Muster wünschte, die Strafmaxima für üble Nachrede und Verleumdung (§§ 186, 187) sowie die Obergrenze für die Buße (§ 188) mäßig erhöht145. Mit Datum vom 22. 6. 1908 gelangte der Entwurf an das Staatsministerium. Für den Fortgang der Diskussion erwies sich vor allem die Stellungnahme von Finanzminister Rheinbaben von Bedeutung, der eine noch schärfere Ausgestaltung der Beleidigungsvorschriften wünschte. Zum einen sollte bei öffentlichen Beleidigungen der Wahrheitsbeweis bereits dann unzulässig sein, wenn an der BekanntNieberding an Bülow, 7. 3. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 88 f. Vgl. Nieberding an Bülow, 30. 5. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 112 ff., hier Bl. 113 f.; Votum Beselers v. 17. 10. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5798, Bl. 8 ff., hier Bl. 9 ff. 144 Protokoll der Beratung über die Grundzüge einer Novelle zum Strafgesetzbuche v. 29. 5. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 105 ff., Zitate Bl. 106, 107. 145 Vgl. Bülow an Nieberding, 15. 5. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 107 sowie die Antwort Nieberdings v. 30. 5. 1908, in: ebd., Bl. 112 ff. 142 143
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gabe der das Privatleben betreffenden Tatsache kein öffentliches Interesse bestand. Für die Gerichte hätte eine solche Regelung insofern fatale Konsequenzen gehabt, als sie in der Praxis gezwungen gewesen wären, rein nach politischen Opportunitätsrücksichten zu entscheiden. Zum anderen trat Rheinbaben dafür ein, die Höchstbeträge der Geldstrafen drastisch anzuheben, um die Gerichte zu angemesseneren Urteilen anzuhalten und die Strafen auch für wohlhabende Personen spürbar werden zu lassen. Statt der vom Entwurf vorgesehenen 1.000 resp. 5.000 Mark für üble Nachrede schlug er Höchstsätze von 10.000 resp. 25.000 Mark, für Verleumdung mit mildernden Umständen statt 3.000 ein Maximum von 15.000 Mark und für die Buße statt 10.000 eine Obergrenze von 25.000 Mark vor. Desgleichen hielt Rheinbaben eine Anhebung der Höchststrafen für die einfache Beleidigung, die der Entwurf nicht angetastet hatte, für erforderlich, ohne allerdings konkrete Zahlen zu nennen. Um sozialen Härten vorzubeugen, empfahl er die Aufnahme eines Passus, wonach das Strafmaß nach den Vermögens- und Einkommensverhältnissen des Täters sowie der Größe des angerichteten Schadens zu bemessen sei146. Unterstützt von Kriegsminister v. Einem, erneuerten der Innen- und der Kultusminister in einem gemeinsamen Votum ihren Antrag, das Prostitutionswesen in der Novelle neu zu ordnen. Wie zu erwarten, erteilte Nieberding den Änderungswünschen des Finanzministers eine Absage. Die vorgeschlagene Regel für die Zulassung des Wahrheitsbeweises bürde den Gerichten unzumutbare Interessensabwägungen auf: „Die Entscheidung solcher nicht auf dem Gebiete des Rechtes, sondern der politischen Zweckmäßigkeit liegenden Fragen kann den Gerichten nicht angesonnen werden, ohne das Vertrauen in ihre Unparteilichkeit zu erschüttern“. Auch die Presse käme in eine schwierige Lage, „da es regelmäßig an einem objektiven Maßstabe für die Berechtigung einer Veröffentlichung der in Frage stehenden Art fehlen würde“. Die beantragten Höchstsätze stünden in keinem Verhältnis zu den Strafdrohungen für vergleichbare Delikte und würden den Rahmen des geltenden Strafrechts sprengen (die höchste im Strafgesetzbuch zugelassene Geldstrafe lautete auf 15.000 Mark für gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Wucher). Insofern würden sie „in der Praxis notwendig den Eindruck einer die Billigkeit verletzenden Rechtsungleichheit hervorrufen“. Im Reichstag hätten beide Vorschläge ohnehin kaum Aussicht auf Erfolg und wären geeignet, die gesamte Vorlage zu gefährden. Die Presse würde die Bestimmungen als vornehmlich gegen sie gerichtet betrachten und demgemäß auf das entschiedenste bekämpfen147. Beseler trat den Ansichten des Staatssekretärs bei, hielt eine nochmalige mäßige Erhöhung der Geldstrafen aber immerhin für denkbar148. Das Staatsministerium, das über die Vorlage am 30. 11. 1908 beriet, verschob die Neuregelung der Prostitutionsfrage endgültig auf einen späteren Zeitpunkt. 146 147 148
Votum Rheinbabens v. 25. 7. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 227 ff. Votum Nieberdings v. 21. 9. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5797, Bl. 236 ff., Zitate Bl. 237. Votum Beselers v. 17. 10. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5798, Bl. 8 ff.
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Hinsichtlich der Beleidigungsstrafen verwies Bülow abermals auf das Vorbild Englands, „wo doch die politischen und sozialen Verhältnisse viel gesünder seien als bei uns“. Rheinbaben, der auf seinen Anträgen insistierte, gab als sein Hauptmotiv an, die überhandnehmende Schandliteratur in die Schranken zu weisen. Auf Vorschlag Nieberdings beschloß die Ministerrunde, die strittigen Fragen in kommissarischen Verhandlungen zwischen den Reichsämtern des Innern und der Justiz sowie dem Finanz-, Justiz- und Innenministerium klären zu lassen149. Bei der Beratung, die am 9. 12. 1908 im Reichsjustizamt stattfand, konnte indes nur eine Teileinigung erzielt werden. Die Kommissare des Finanz- und Innenministeriums sowie des Reichsinnenamts beharrten auf einer „nicht unerheblichen Erhöhung“ der Geldstrafen für üble Nachrede und die Buße, was von den Vertretern des Reichsjustizamts abgelehnt wurde. Immerhin kamen letztere dem Verlangen insoweit entgegen, als sie für öffentliche Beleidigungen im Falle des § 186 StGB eine Maximalgrenze von 6.000 Mark und für die Buße einen Höchstbetrag von 15.000 Mark vorschlugen. Während die Vertreter des Justiz- und des Innenministeriums dem Angebot zustimmten, wollten die Kommissare des Finanzministeriums und des Reichsinnenamts zunächst Rücksprache mit ihren Chefs nehmen. In bezug auf den Wahrheitsbeweis sollte es bei der Fassung des § 186 Abs. 2 bleiben150. Damit war das letzte Wort aber noch nicht gesprochen. Der fertige Entwurf, der dem Immediatbericht an den Kaiser mit Datum vom 17. 12. 1908 beigefügt war, sah als Höchststrafe für die öffentliche üble Nachrede 10.000 Mark und als Obergrenze für die Buße 20.000 Mark vor151. Leider geben die Akten des Reichsjustizamts über den weiteren Ablauf keine Auskunft. Man muß wohl davon ausgehen, daß Rheinbaben mit dem Ergebnis der kommissarischen Beratung unzufrieden war und Nieberding, um die Sache endlich zum Abschluß zu bringen, dem Drängen des Finanzministers ein weiteres Mal nachgab. Da eine Sitzung des Staatsministeriums in der Zwischenzeit nicht stattfand, dürfte die Zustimmung der übrigen Staatsminister im Umlaufverfahren eingeholt worden sein. Anfang des neuen Jahres ging der Entwurf dann dem Bundesrat zu152. Zur gleichen Zeit (Dezember 1908) veröffentlichte der Kieler Strafrechtler Moritz Liepmann in der „Deutschen Rundschau“ eine Abhandlung über das Problem des Wahrheitsbeweises, die entschieden gegen alle Einschränkungswünsche Stellung bezog. Sie bildete gleichsam den liberalen Kontrapunkt zu den ministeriellen Bestrebungen. Nach Auswertung der ausländischen Erfahrungen und Erörterung der wichtigsten Änderungsvorschläge kam Liepmann zu folgendem Ergebnis: „Die Abschneidung des Wahrheitsbeweises würde gerade denjenigen Elementen den Schutz in einem Beleidigungsprozeß entziehen, die ihn verdienen: dem zu Prot. StM v. 30. 11. 1908 (Auszug), in: BA, R 3001, Nr. 5798, Bl. 26 ff., Zitat Bl. 28. Protokoll der kommiss. Beratung v. 9. 12. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5798, Bl. 37 f., Zitat Bl. 37. 151 Immediatbericht an Wilhelm II. v. 17. 12. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5798, Bl. 42 ff. 152 BR, Session 1909, Drks. Nr. 2 v. 11. 1. 1909. 149 150
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Unrecht Angegriffenen, der den Nachweis erbringen will, daß ihm unwahre Beschuldigungen nachgeredet sind, und dem Angeklagten, der sich gegen den Vorwurf der Verleumdung dadurch schützen möchte, daß er die Wahrheit seiner Behauptung aufdeckt. Dagegen würde sie durch die Verschleierung des Tatbestandes minderwertigen Elementen und anrüchigen Zuständen einen unverdienten Schutz gewähren. Niemals also kann sie als Verbesserung des Ehrenschutzes angesehen werden. Ja, ihre Schäden reichen sogar weit über das Gebiet der Beleidigung hinaus. Die Unsicherheit der Abgrenzung schafft willkürliche und der Autorität ermangelnde Rechtsprüche. Die Unterdrückung der Wahrheit begünstigt das Weiterwuchern geheimer Skandale und verkümmert den Mut der freien Meinungsäußerung, sie unterbindet dem öffentlichen Leben und ihrem Organ, der Presse, die notwendige Bewegungsfreiheit, sie lähmt den Kampf gegen allgemeine Mißstände. Mit einem Wort: sie ist ein kulturfeindliches Prinzip“. Liepmann leugnete die mit dem Wahrheitsbeweis verbundenen Mißstände überhaupt nicht, sah ihren Grund aber in einer fehlerhaften Anwendung des Gesetzes. Gegen eine maßvolle Ausweitung der Bestimmungen über den Ausschluß der Öffentlichkeit hatte er hingegen nichts einzuwenden153. Zurück zur Gesetzesvorlage: Im Justizausschuß des Bundesrats wurde die Vorlage einer zweimaligen Beratung unterzogen (28. 2. / 5. 3. 1909). Die erste Lesung begann mit einem Disput zwischen dem bayerischen Bevollmächtigten TreutleinMördes und Staatssekretär Nieberding über die konstitutionelle Rechtmäßigkeit des bisherigen Vorgehens der Reichsleitung. Im Namen seiner Regierung protestierte Treutlein-Mördes dagegen, daß die verbündeten Regierungen vor Aufstellung des Entwurfs nicht konsultiert worden seien. Aus der Rede des Reichskanzlers vom 30. 11. 1907 könne ein „Verpflichtungsgrund“ für die Bundesstaaten nicht abgeleitet werden, da die Absicht, eine Teilreform in Angriff zu nehmen, nicht klar zum Ausdruck gekommen sei. Daraufhin machte Nieberding vertrauliche Mitteilungen über den Hintergrund der Rede, insbesondere über die Rolle der Blockparteien. Auch er habe den Bemerkungen Bülows anfänglich keine konkrete Bedeutung beigemessen, habe sich dann aber überzeugen müssen, daß sie „eine größere praktische Tendenz gehabt hätten“. Er stellte der bayerischen Regierung anheim, sich beim Reichskanzler über das Verhalten des Reichsjustizamts zu beschweren. Da sich die übrigen Regierungsvertreter zu der angeschnittenen Frage nicht äußerten, endete die Auseinandersetzung an diesem Punkt. Treutlein-Mördes bemerkte in seinem Bericht hierzu abschließend: „So sehr die Schwierigkeiten anzuerkennen und zu berücksichtigen sind, mit denen die Reichsleitung zu kämpfen hat, so wenig geht es doch an, daß den herrschenden Parteien des Reichstags ein größerer Einfluß auf die Führung der Geschäfte zugestanden wird als den verbün153 Moritz Liepmann, Die Einschränkung des Wahrheitsbeweises bei Beleidigungsklagen, in: Deutsche Rundschau 137 (1908), S. 441 – 459, Zitat S. 455. Der Liszt-Schüler Moritz Liepmann (1869 – 1928) war von 1902 – 1919 Professor für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Völkerrecht in Kiel und wechselte anschließend an die neugegründete Universität Hamburg.
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deten Regierungen, so daß diese hinsichtlich der gesetzgeberischen Initiative völlig ausgeschaltet und nur zur Durchberatung der Vorlagen herangezogen werden“154. Soweit ersichtlich, verzichtete die bayerische Regierung auf weitere Schritte. Die Kontroverse wirft ein Schlaglicht auf die fortschreitende „Parlamentarisierung“ des politischen Systems in Form einer Zurückdrängung des Bundesrats bei gleichzeitigem Bedeutungsgewinn des Reichstags. Bei der Spezialdebatte spielten die Strafsätze für Beleidigung keine Rolle, was darauf schließen läßt, daß die verhängten Strafen überall als erheblich zu niedrig angesehen wurden. Bayern beantragte schärfere Bestimmungen über den Wahrheitsbeweis, die sich zum Teil mit den Vorstellungen Beselers deckten. Danach sollte der Beweis der Wahrheit nur die behauptete oder verbreitete Tatsache zum Gegenstand haben und im Fall öffentlicher Begehung lediglich bei begründetem öffentlichen Interesse zulässig sein. Auch Sachsen verlangte eine striktere Begrenzung, indem es vorschlug, die neue Vorschrift auf private Beleidigungen auszudehnen155. Ein weiterer bayerischer Antrag wollte den neuen § 248a (Notdiebstahl) durch Strafmilderungen beim einfachen, schweren und Rückfalldiebstahl ersetzen und die Vermietung von Wohnungen an Prostituierte straflos lassen. Sämtliche Länderanträge verfehlten die erforderliche Mehrheit, so daß sich der Antrag des Justizausschusses auf redaktionelle Verbesserungen beschränkte. Das Bundesratsplenum passierte er ohne weitere Änderungen (11. 3. 1909)156. Bereits einen Tag später gelangte der Entwurf an den Reichstag. Die Begründung stellte vorsichtig, aber unmißverständlich den Zusammenhang mit der allgemeinen „Vertrauenskrise“ her. Die revisionsbedürftigen Vorschriften, so heißt es dort, „nötigen die Gerichte zu Urteilen, die das allgemeine Rechtsbewußtsein nicht befriedigen und bei Außenstehenden, welche zwischen dem Gesetze, das den Richter bindet, und dem freien richterlichen Ermessen nicht zu unterscheiden vermögen, Mißstimmung gegen die Rechtsprechung erwecken. Mit der Beseitigung solcher Mißstände wird nicht bis zur allgemeinen Reform des Strafrechts gewartet werden können“157. Nach erster Lesung im Plenum (23. / 24. 4. 1909) wurde der Entwurf an die bestehende Justizkommission überwiesen, deren ausführliche Beratung bis zum Schluß der Session nicht zum Abschluß gelangte. Zu Beginn der 154 Bericht von Treutlein-Mördes über die JA-Sitzung v. 28. 2. 1909, in: HStA, MA 76789b, Zitate S. 2, 3, 5 f.; zu Johann v. Treutlein-Mördes (1858 – 1916; später Staatsrat): Staatsminister, II, S. 1076 f. 155 Treutlein-Mördes bemerkte zu dem Problem: „Nach meinem Dafürhalten ist es überhaupt sehr schwierig, eine befriedigende Lösung dieser Frage zu finden, unmöglich erscheint mir dies aber im Rahmen der Novellengesetzgebung. Diese Frage kann nur mit der gesamten Materie der Beleidigung behandelt und gelöst werden. Ich kann die Hoffnung nicht unterdrücken, daß der Reichstag die ganze Bestimmung ablehnt“ (Bericht, S. 10 f.). 156 Anträge Bayerns v. 17. 2. 1909; Anträge Sachsens v. 20. 2. 1909; Antrag des JA v. 5. 3. 1909 (Drks. Nr. 39); Prot. BR v. 11. 3. 1909, § 220, alle in: BA, R 3001, Nr. 5798, Bl. 76, 77, 85, 86. 157 RT-Vorlage v. 12. 3. 1909, in: Sten. Ber. RT, XII. Leg., I. Sess., Drks. Nr. 1262, hier S. 7673.
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folgenden Sitzungsperiode legte die Reichsleitung den Entwurf unverändert wieder vor (23. 11. 1909), der nunmehr, nach nochmaliger erster Lesung (15. 1. 1910), an die am gleichen Tag gebildete Kommission zur Beratung der neuen Strafprozeßordnung überwiesen wurde. Diese widmete der Vorlage zwei Lesungen (7 bzw. 4 Sitzungen) und legte ihren Abschlußbericht am 19. 4. 1910 vor. Die zweite Plenarberatung fand vom 12. bis 14. 1. 1911 statt, eine dritte kam – wegen der Differenzen in einzelnen Punkten – vor Ablauf der Legislaturperiode (Dezember 1911) nicht mehr zustande158. Umstritten waren vor allem die politisch einschlägigen Vorschriften über Erpressung und Beleidigung; zudem traten, völlig unerwartet, Meinungsunterschiede über die Regelung der Tierquälerei auf. Ungeachtet der Tatsache, daß die Vorlage den Tatbestand der Erpressung auf Vermögensbeschädigungen eingeschränkt hatte, blieb er auf gewerbliche Konflikte weiterhin anwendbar, und zwar dann, wie es in der Begründung hieß, „wenn der auf die Drohungen hin vereinbarte Lohn im Mißverhältnisse zu dem wahren Werte der Arbeitsleistung steht“159. Faktisch war die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Ergebnisses eines Lohnkampfes damit in die Hände der Richter gelegt. Während die neue Regelung für die bürgerlichen Parteien zumindest annehmbar war, sahen die Sozialdemokraten darin eine Verschlechterung des gegenwärtigen Zustandes. Für sie bestand die einzig akzeptable Lösung darin, alle gewerblich relevanten Handlungen aus dem Tatbestand auszuschließen160. Das Ergebnis war, daß der Regierungsvorschlag sowohl von der Kommission als auch vom Plenum des Reichstags in zweiter Lesung unverändert übernommen wurde. Weniger übersichtlich gestaltete sich das Meinungsbild bei den Beleidigungsparagraphen. Uneingeschränkt für die Vorlage waren lediglich die Konservativen. Die Mittelparteien einschließlich der Freikonservativen befürworteten eine spürbare Verschärfung der Strafen und anerkannten auch die Notwendigkeit, den Wahrheitsbeweis einzuschränken, erhoben aber Bedenken gegen die vorgeschlagene Fassung. Getreu ihrer bisherigen Haltung lehnten die Linksliberalen, mit Rücksicht auf die Pressefreiheit, eine Änderung der geltenden Rechtslage ab. Vehement wandten sich die Sozialdemokraten, die in den Beleidigungsvorschriften des Strafgesetzbuchs ohnehin nur „Ausflüsse des Geistes der Klassen- und Privilegienherrschaft“ sahen, gegen jegliche Verschärfung161. Nicht zu Unrecht argwöhnten sie, die neuen Bestimmungen hätten zuvörderst den Zweck, die maroden Verhältnisse 158 RT-Vorlage v. 23. 11. 1909, in: Sten. Ber. RT, XII. Leg., II. Sess., Drks. Nr. 6; Bericht der 7. Kommission v. 19. 4. 1910, in: ebd., Drks. Nr. 392 (Anl. II: Entwurf des Berichts der vorjährigen 30. Kommission); Zusammenstellung der Vorlage mit den jeweiligen Beschlüssen, in: ebd., Drks. Nr. 614. 159 Drks. Nr. 1262, S. 7682; dazu auch Greven, S. 23 ff. 160 Der entsprechende Antrag findet sich in Drks. Nr. 392, Anl. III, Nr. 28; allgemein zur Position der SPD: Otto Lang, Die kleine Strafrechtsreform, in: Sozialistische Monatshefte 13 / 2 (1909), S. 759 – 767. 161 Frohme, Sten. Ber. RT, 23. 4. 1909, S. 8139; vgl. auch Greven, S. 43 ff.
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in den oberen Gesellschaftsschichten zu kaschieren („Lex Eulenburg“). Die unsichere Meinungslage spiegelte sich im Wechsel der Beschlüsse wider: Während die Kommission in erster Lesung den Wahrheitsbeweis bei Behauptungen, die sich auf Verhältnisse des Privatlebens ohne öffentliches Interesse bezogen, gänzlich ausschloß, strich sie in zweiter Lesung den kompletten Abschnitt aus dem Entwurf. Das Plenum stellte ihn in zweiter Lesung wieder her, allerdings ohne den Absatz über den Wahrheitsbeweis. Insgesamt bestätigte sich die Auffassung Nieberdings, daß eine allseits befriedigende Lösung für das Problem des Wahrheitsbeweises (noch) nicht existiere. Die Differenzen in der Frage eines verstärkten Tierschutzes, über die im Prinzip völlige Einigkeit herrschte, gingen auf die Annahme eines Zentrumsantrags zurück, der – unter Berufung auf die Freiheit der Religionsausübung – das rituelle jüdische Schächten unter den Schutz des Reichsrechts stellte162. Nachdem sich die Reichsleitung entschlossen hatte, den Entwurf dem neuen Reichstag nicht noch einmal vorzulegen, schien dessen Schicksal besiegelt. Gerettet wurde er – ein in der Parlamentsgeschichte des Kaiserreichs singulärer Vorgang – durch eine interfraktionelle Initiative auf breitester Basis. Ein von allen größeren Parteien mit Ausnahme der Freikonservativen unterstützter Initiativantrag, der – unter Ausklammerung der umstrittenen Materien (Erpressung, Beleidigung, Tierquälerei) – die Beschlüsse des Reichstags wieder aufnahm, durchlief, praktisch ohne weitere Erörterung, die drei Lesungen und wurde am 9. 5. 1912 angenommen. Preußisches Staatsministerium und Bundesrat erhoben keine Einwände und erteilten per Umlaufverfahren ihre Zustimmung, so daß die Novelle bereits am 19. 6. 1912 in Kraft treten konnte163. Mit anderen Worten: Die zunehmende Parlamentarisierung des politischen Systems bestimmte nicht nur den Anfang, sondern auch das Ende des Gesetzgebungsverfahrens164. Zu den Einzelheiten Greven, S. 53 ff. Antrag Wellstein und Gen. v. 8. 3. 1912, Sten. Ber. RT, XIII. Leg., I. Sess., Drks. Nr. 294; 1. und 2. Lesung, ebd., 20. 4. 1912, S. 1278 – 1280; 3. Lesung, ebd., 9. 5. 1912, S. 1778 f.; RGBl, S. 395. Die Kooperationsbereitschaft der SPD hatte sich bereits einige Wochen zuvor gezeigt, als die Partei einen Antrag einbrachte (14. 2. 1912), der sich bis auf einen eher untergeordneten Punkt (Betteln in unverschuldeter Notlage) mit dem Wellsteinschen Antrag deckte (Antrag Albrecht u. Gen., Sten. Ber. RT, XIII. Leg., I. Sess., Drks. Nr. 102). 164 Den Vorschlag, alle strittigen Materien aus dem Entwurf zu eliminieren, hatte MüllerMeiningen bereits im Vorjahr gemacht. Die Novelle stellte für ihn „eine Befreiung des deutschen Richterstandes aus arger Gewissensnot“ dar (Schreiben an Lisco v. 3. 10. 1911, in: BA, R 3001, Nr. 5305, Bl. 218c – d); vgl. ders., Die parlamentarischen Aussichten der Justizgesetze, in: DJZ 16 (1911), S. 739 – 742, hier S. 742. Ernst Müller-Meiningen (1866 – 1944), der die bei namensgleichen Abgeordneten übliche Nennung des Wahlkreises zu einem festen Bestandteil seines Namens machte, war einer der führenden linksliberalen Politiker seiner Zeit. 1890 in den bayerischen Justizdienst eingetreten, wurde er 1903 LG-Rat, 1911 OLG-Rat (München) und 1920 Rat am Bayerischen Obersten Landesgericht. 1898 – 1918 MdR und 1905 – 1924 Mitglied der Abgeordnetenkammer, war er Mitbegründer der FVP, ihr Fraktionsvorsitzender im RT und Parteiführer in Bayern; 1919 / 20 hatte er das Amt des bayerischen Justizministers inne; 1925 Austritt aus der DDP und Rückzug aus der Politik; zu Müller-Meiningen: J. Reimann, Ernst Müller-Meiningen senior und der Linksliberalismus in seiner Zeit, München 1968. 162 163
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Fassen wir zusammen: Die kleine Strafrechtsnovelle von 1912 speiste sich aus verschiedenen Quellen. Sicherlich stellte sie eine Anpassung an die gewandelten Anschauungen der Zeit dar, die auf eine Abmilderung vermögensrechtlicher Vorschriften bei gleichzeitiger Aufwertung immaterieller Rechtsgüter drängten. Eine wichtige Rolle spielten politische Motive, so die durch den Moltke-Harden-Prozeß ausgelösten Sorgen des Establishments vor weiteren unliebsamen Enthüllungen, aber auch die spezifischen Erfordernisse des Bülowblocks. Hinzu kam der Wunsch der gesetzgebenden Organe, nach dem Scheitern der Strafprozeßreform (Oktober 1911) wenigstens auf einem justizpolitischen Feld Verbesserungen zu erzielen. Gleichwohl bilden alle diese Momente lediglich Teilerklärungen. Wirklich verständlich wird die Novelle erst vor dem Hintergrund der allgemeinen „Vertrauenskrise“ der Justiz. Ihr vorrangiger Zweck bestand darin, die Gerichte ein Stück weit aus der Schußlinie herauszunehmen oder, wie es Beseler in einem seiner Voten etwas pathetisch formulierte, „Frieden und Beruhigung zu stiften“165. Es ist eben kein Zufall, daß sich die Klagen, abgesehen vom Diebstahlskomplex, bei den wichtigeren Tatbeständen (Rohheitsdelikte, Beleidigung, Erpressung) auf die richterliche Praxis und nicht auf die geltende Rechtslage bezogen. Die Dynamik, die von der grassierenden Justizkritik ausging, durchzog den gesamten Entscheidungsprozeß: Sie spiegelt sich wider in der Abtrennung der Teilrevision von der allgemeinen Strafrechtsreform, faktisch ein Sieg der politischen Argumente (Bülow) über die juristischen Bedenken (Nieberding), der Übernahme der in der Öffentlichkeit erhobenen Forderungen durch den Reichskanzler und der fraktionsübergreifenden Initiative des Reichstags. Das retardierende Element bildeten die politischen Vorschriften, die – dies war eine Lehre aus der gescheiterten Strafprozeßreform – erst vollständig eliminiert werden mußten, wenn die Vorlage Aussicht auf Erfolg haben sollte. Darüber hinaus bildet die Strafprozeßnovelle ein Beispiel für den „stillen“ Verfassungswandel des späten Kaiserreichs, bei dem sich der Schwerpunkt des politischen Willensbildungsprozesses zunehmend in Richtung Öffentlichkeit und Parlament verschob.
4. Der Versuch einer „großen“ Strafprozeßreform Auch nach der Jahrhundertwende fanden die stärksten justizpolitischen Bewegungen auf dem Gebiet der Strafgerichte und des Strafprozesses statt. Den Bezugspunkt bildete der 1901 wiederaufgenommene Versuch, den Verfahrensgang einschließlich der zugehörigen Teile der Gerichtsverfassung den gewandelten Zeitverhältnissen anzupassen. Die gründlich vorbereitete Initiative mündete – nach wechselvollem Verlauf – in die Entwürfe von 1908 / 09, scheiterte letztlich aber ebenso wie ihre Vorgänger (Ende 1911). Das Gesetzgebungsprojekt entfachte nicht nur eine intensive Debatte, die im Alternativkonzept einer umfassenden Justizreform kulminierte, sondern ordnet sich auch in ein justizpolitisches Umfeld ein, 165
Votum Beselers v. 17. 10. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5798, Bl. 11.
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das in vielerlei Hinsicht in Bewegung geraten war. Einem „ceterum censeo“ gleich rekurrierten sämtliche Reformbestrebungen auf das verlorengegangene, zumindest aber stark beeinträchtigte Vertrauen in die Rechtspflege. Während die Diskussion über die Gerichtsverfassung um die Themen Demokratisierung via Laienbeteiligung und / oder Richterkönigtum kreiste, zielte die Prozeßreform teils auf eine Liberalisierung, teils auf eine Effektivierung der Strafverfolgung166. a) Die Anfänge bis 1905 / 06 Nach dem Scheitern der vorläufig letzten Strafprozeßnovelle im Dezember 1896 hielt der Reichstag den Reformdruck unvermindert aufrecht. An die Regierungsvorlage von 1895 anknüpfend, legten Rintelen im Namen der Rechts- und Mittelparteien sowie Lenzmann / Munckel für die Linksliberalen in den Jahren 1897 – 1900 wiederholt Initiativanträge vor, die von den jeweiligen Kommissionen zu größeren Gesetzentwürfen ausgearbeitet wurden167. In der Frage der Besetzung der Strafkammern erster Instanz, zentraler Differenzpunkt bei den früheren Verhandlungen, zeigten sich die Kommissionen kompromißbereit (Besetzung mit drei Richtern). Eine definitive Beschlußfassung zögerte das Reichstagspräsidium gleichwohl hinaus, aus Sorge, das Plenum könnte die Kommissionsbeschlüsse erneut durchfallen lassen, aber auch, weil man auf ein positives Signal der Reichsleitung wartete. Die Forderung nach der Berufung erhielt zusätzlichen Auftrieb durch die Militärstrafgerichtsordnung von 1898, die das Rechtsmittel gegen alle Urteile erster Instanz zuließ. Eine bei der dritten Lesung von Bassermann vorgelegte Resolution, die die Berufung auch für den bürgerlichen Prozeßgang verlangte, wurde vom Reichstag einstimmig angenommen168. Angesichts dieser Sachlage ließ sich eine Stellungnahme des preußischen Staatsministeriums nicht länger umgehen. Bei einer Besprechung im März 1899, veranlaßt durch die Kommissionsberatung eines von Rintelen eingebrachten Antrags, brach der alte Gegensatz zwischen Nieberding und Schönstedt wieder auf. Nieberding plädierte dafür, den Antrag zu Fall zu bringen und zu einem späteren Zeitpunkt eine eigene Vorlage zu unterbreiten. Deren Richtung deutete er schon einmal an, da „eine endgültig befriedigende Reform auf dem Gebiete des Strafprozesses nur durch möglichst durchgreifende Einführung des Systems der Schöffengerichte erreichbar erscheine. Mit ihr werde sich auch die Berufungsinstanz sowohl in Preu166 Knappe Verlaufsskizze in: Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses, neu hg. v. W. Schubert, Bd. 1, Einführung, S. X – XXII; zur Vorlage von 1908: G. Intrator, Inhalt, Zweck und Schicksale des gescheiterten Strafprozeßentwurfs von 1908, Freiburg 1934 (Motive des Entwurfs und RT-Verhandlungen); zum Vorverfahren: Krattinger, S. 232 – 255. 167 Zusammenfassend: Bericht der VIII. Kommission v. 21. 3. 1901, in: Sten. Ber. RT 1900 / 02, Drks. Nr. 220; Überblick bei Intrator, S. 13 ff. 168 Sten. Ber. RT 1897 / 98, Drks. Nr. 281 (Antrag Bassermann); ebd., 4. 5. 1898, S. 2182 (Annahme der Resolution); zum Militärgesetz: J. Anker, Die Militärstrafgerichtsordnung des Deutschen Reiches von 1898, Frankfurt / M. 1995.
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ßen wie in Bayern zweckmäßig regeln lassen“. Im übrigen bräuchten die Richter jetzt erst einmal Zeit, um sich in das neue bürgerliche Recht einzuleben. Demgegenüber trat Schönstedt für ein pragmatisches Vorgehen ein. Wohin eine eigene Vorlage führen werde, ließe sich überhaupt nicht übersehen, zumal gewichtige Argumente (Behandlung politischer Delikte, Stellung der Schwurgerichte) gegen die Schöffenverfassung sprächen. Angesichts der entgegenkommenden Haltung des Reichstags solle man deshalb versuchen, an den Beschlüssen der Kommission „noch möglichst viel zu verbessern und sich dann ihrer Arbeit gegenüber nicht ablehnend, sondern zugreifend zu verhalten“. Nachdem sich auch Miquel skeptisch über den vorliegenden Antrag geäußert hatte, schloß sich die Ministerrunde mehrheitlich dem Vorschlag Nieberdings an169. Damit war die Chance, sich zumindest auf den kleinsten gemeinsamen Nenner – die Einführung der Berufung – zu einigen, vertan. Andere Justizverwaltungen nahmen einen ähnlichen Standpunkt ein. Der württembergische Justizminister v. Breitling erklärte am 19. 4. 1899 in der Abgeordnetenkammer, die Regierung stehe der Berufungsfrage „wohlwollend und fördernd“ gegenüber, mit Reformen des Strafprozeßrechts müsse man sich aber, mit Rücksicht auf die Einführung des BGB, wohl oder übel noch einige Jahre gedulden. Unterdessen könne man ja dem Gedanken nähertreten, die Strafkammern mit Laien auszustatten, zumal die Einrichtung beginne, „mehr und mehr Anerkennung und Beifall auch in solchen Kreisen zu finden, welche sich bisher ablehnend verhalten haben“170. Der unmittelbare Anstoß zur Aufnahme der Reformarbeiten ging von Reichskanzler Bülow aus. Mit Bezug auf einen erneuten Antrag Rintelens forderte Bülow, der sich parlamentarisch bis 1906 bekanntlich auf das Zentrum stützte, Ende August 1901 Nieberding zu einer Stellungnahme in der Frage der Strafprozeßreform auf171. Die Anfrage traf den Staatssekretär alles andere als unvorbereitet. In einer Denkschrift befürwortete Nieberding eine allgemeine Revision der Strafprozeßordnung und entwickelte den Plan einer unabhängigen Sachverständigenkommission mit der Aufgabe, alle in Betracht kommenden Fragen gründlich zu erörtern und Reformvorschläge auszuarbeiten172. Nieberdings Motive waren vielgestaltig und 169 Prot. StM v. 13. 3. 1899 (Auszug), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8339, Bl. 211 ff., Zitate Bl. 212, 214. 170 Abdr. der Erklärung im Staatsanzeiger für Württemberg v. 20. 4. 1899; auch in: BA, R 3001, Nr. 5290. 171 Hinter den Kulissen versuchte Rintelen die Sache voranzutreiben. So hatte er Bülow im Sommer auf Norderney ausführlich über den Stand der Reichstagsverhandlungen informiert und um eine rasche Stellungnahme des Bundesrats gebeten. Im Oktober ersuchte er den Kanzler, auf den Präsidenten des Reichstags zwecks baldiger Anberaumung der zweiten Lesung einzuwirken (vgl. Bülow an Rintelen v. 12. und 31. 10. 1901, beide in: BA, R 3001, Nr. 5293, Bl. 10, 12). 172 Bülow an Nieberding, 31. 8. 1901, in: BA, R 3001, Nr. 5293, Bl. 1; Denkschrift Nieberdings v. 30. 9. 1901, in: ebd., Bl. 2 ff. (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8340). Der Gedanke eines unabhängigen Sachverständigengremiums lehnte sich an die 2. BGB-Kommission an.
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sowohl politischer wie juristischer Natur: Zunächst ging es darum, sich vom Druck des Reichstags zu befreien und der Exekutive die gesetzgeberische Initiative zurückzugewinnen. Sodann sollte die Revisionsfrage aus dem Streit zwischen den Regierungen einerseits, Bundesrat und Reichstag andererseits herausgelöst und durch Verlagerung nach außen versachlicht werden. Vor allem aber war das Vorgehen mit einem erheblichen Zeitgewinn verbunden, ein Umstand, auf den Nieberding angesichts der ungeklärten Grundsatzfragen allergrößten Wert legte. Dies verband sich mit der Hoffnung, daß sich die von ihm favorisierte Schöffenverfassung in der Zwischenzeit als Konsensmodell durchsetzen würde. Ziel war eine konsistente, auf einheitlichen Prinzipien beruhende und von breiter Zustimmung getragene Reform, der das Schicksal der 1879 geschaffenen Organisation erspart bleiben sollte. Bülow erklärte sich mit dem Vorgehen einverstanden und holte die Ermächtigung des Kaisers zur Einleitung einer umfassenden Revision ein. Daraufhin verzichtete der Reichstag – auf Antrag Rintelens und nach einer entsprechenden Erklärung Nieberdings – einstimmig auf weitere Initiativen. Zugleich wurden die verbündeten Regierungen in einer Resolution aufgefordert, baldmöglichst einen Reformentwurf vorzulegen. Nachdem der Staatssekretär seine Pläne ausführlich erläutert hatte, setzte der Justizausschuß des Bundesrats die Beschlußfassung über die Resolution aus. Damit hatte Nieberding freie Hand: Im Juli 1902 erging die Aufforderung an die Justizverwaltungen der größeren Bundesstaaten, geeignete Mitglieder für die Kommission zu benennen173. Komposition und Verfahrensweise der Kommission waren ganz auf die Bedürfnisse des Reichsjustizamtes zugeschnitten. Die 21 Mitglieder des Gremiums, allesamt Juristen, entstammten mehrheitlich dem praktischen Justizdienst (6 Richter, 4 Staatsanwälte, 3 Rechtsanwälte). Hinzu kamen sechs Reichstagsabgeordnete und zwei Universitätslehrer174. Preußen nominierte vier Mitglieder, Bayern und Sachsen je zwei, Württemberg, Baden, Hessen, Hamburg und Elsaß-Lothringen je ein Mitglied. Zwei Mitglieder gehörten dem Reichsgericht an, den Vorsitz führte der Reichsgerichtsrat und spätere Senatspräsident Kaufmann. Während die beiden Professoren Wach (Leipzig) und van Calker (Straßburg) nicht gerade als prononcierte Justizkritiker hervorgetreten waren, handelte es sich bei den Abgeordneten um führende Justizpolitiker des Reichstags (Konservative: Himburg, Nationalliberale: Bassermann, Zentrum: Rintelen, Gröber, Freisinn: Lenzmann). Vertreter strikt oppositioneller Parteien, namentlich der SPD und der Polen, waren nicht geladen. Nicht anders erging es den Interessengruppen, denen der Zutritt ebenfalls verwehrt 173 Bülow an Nieberding, 12. 10. 1901, in: BA, R 3001, Nr. 5293, Bl. 9 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8340); Immediatbericht an Wilhelm II. v. 9. 11. 1901 und AO v. 11. 11. 1901, beide in: BA, R 3001, Nr. 5293, Bl. 13 – 16, 18; Sten. Ber. RT 1900 / 02, Drks. Nr. 568 (Anträge Rintelen v. 18. 4. 1902); Sten. Ber. RT, 19. 4. 1902, S. 4934 (Beschluß); Bericht Hellers über die JA-Sitzung v. 2. 7. 1902, in: HStA, MA 95993; Rundschreiben Nieberdings v. 18. 7. 1902, in: BA, R 3001, Nr. 5293, Bl. 22 ff. 174 Kurzbiographie der Kommissionsmitglieder bei Schubert, Protokolle, Bd. 1, S. XXIII ff.
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wurde. So lehnte Nieberding die Gesuche von Pressevereinen, die darum baten, zum Problem des Zeugniszwangs gehört zu werden, mit dem bezeichnenden Hinweis ab, in der Kommission seien nur „juristische“ Vertreter zugelassen175. Die Regierungen ernannten zwar die Mitglieder der Kommission, waren aber in keiner Weise an deren Beschlüsse gebunden. Das Gleiche galt für das Reichsjustizamt, das eine lockere Oberaufsicht über die Beratungen ausübte. Die Mitarbeit von Parlamentariern sorgte dafür, daß der Reichstag für die Dauer der Verhandlungen das Thema aus dem Blick verlor. Den Teilnehmern wurde ein umfangreiches Arbeitsprogramm samt einer fast 100 Seiten starken kommentierten Zusammenstellung von Reformvorschlägen aus der juristischen Literatur mit auf den Weg gegeben176. Die Kommissionsmitglieder traten nur periodisch zusammen, um den Zeitgewinn zu optimieren, aber auch, so Nieberding im Justizausschuß des Bundesrats, „damit sie nicht dem Einflusse der Parlamentarier verfallen“177. Zusammensetzung und Organisation der Kommission stellten sicher, daß sich die Beratungen auf juristisch-technische Fragen konzentrierten, während politische Aspekte, namentlich die unterschiedlichen Verhältnisse in den Bundesstaaten und die Forderungen der Öffentlichkeit, aber auch finanzielle Erwägungen weitgehend unberücksichtigt blieben. Hierin lagen Stärke und Schwäche der Kommission zugleich. Wie von Nieberding beabsichtigt, benötigte die Kommission mehr als zwei Jahre, um ihr umfangreiches Pensum zu bewältigen. Die erste Lesung dauerte vom 10. 2. 1903 bis zum 8. 7. 1904 (56 Sitzungen), die zweite vom 4. 10. 1904 bis zum 1. 4. 1905 (30 Sitzungen). Im Mai wurden die Beratungsprotokolle mitsamt den Beschlüssen veröffentlicht178. Noch in anderer Hinsicht sah sich Nieberding in seinen Erwartungen bestätigt: Die Kommission sprach sich für die Beseitigung des Schwurgerichts und die konsequente Durchführung der Schöffenverfassung in erster und zweiter Instanz aus, wobei die Entscheidung gegen die Jury in erster Lesung mit 19:1 Stimmen, in zweiter Lesung einstimmig fiel179. Der Amtsrichter 175 Eingabe des Vereins Deutscher Redakteure v. 31. 1. 1904 (veranstaltet von der Ortsgruppe Berlin-Potsdam, unterschrieben von 910 Redakteuren von 805 Zeitungen); Gesuch des Vereins Schlesischer Journalisten und Schriftsteller v. 31. 1. 1904; Antworten Nieberdings v. 12. und 15. 2. 1904, alle in: BA, R 3001, Nr. 5294. 176 Zusammenstellung von Vorschlägen zur Reform des Strafprozesses, in: BA, R 3001, Nr. 5293. 177 Bericht Hellers über die Sitzung v. 2. 7. 1902, in: HStA, MA 95993. 178 Bereits zuvor hatte KG-Rat Kronecker, Mitglied der Kommission, die Öffentlichkeit über die wichtigsten Beschlüsse informiert (Kronecker, Die Beschlüsse der Kommission zur Reform des Strafprozesses, in: DJZ 10, 1905, S. 423 – 431); Abdr. sämtlicher Beschlüsse auch in: P. F. Aschrott (Hg.), Reform des Strafprozesses, Berlin 1906, S. 1 – 43. 179 Über die Erfahrungen mit der Schwurgerichtskompetenz in Pressesachen gingen die Ansichten in der Kommission auseinander. Im Protokoll heißt es dazu: „Während aus Baden günstige Ergebnisse berichtet wurden, wurde aus Württemberg und Bayern mitgeteilt, daß die Urteile der Schwurgerichte in diesen Sachen wenig befriedigt hätten. In Württemberg habe sich dies namentlich bei den durch die Presse begangenen Gotteslästerungen und Majestätsbeleidigungen, in Bayern auch bei sonstigen Beleidigungen gezeigt. Dies habe in Bayern
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(ohne Zuziehung von Schöffen) und die kleinen Schöffengerichte sollten bestehen bleiben, die Strafkammern in mittlere Schöffengerichte (3 Richter, 4 Schöffen), die Schwurgerichte in große Schöffengerichte (3:6) umgewandelt werden. Als Berufungsgerichte – die Berufung war gegen alle Strafurteile zugelassen – sollten fungieren: gegen die Urteile des Amtsrichters kleine Schöffengerichte am Landgericht (1:2), gegen die Urteile der kleinen Schöffengerichte die mittleren Schöffengerichte, gegen deren Urteile die großen Schöffengerichte, gegen die Urteile der letzteren große Berufungsgerichte (3:8). Als Sitz der Berufungsinstanz waren die Landgerichte in Aussicht genommen. Was den Zuschnitt der Zuständigkeiten betraf, so sah die Kommission eine systematische Verschiebung von den höheren zu den niederen Gerichten vor. Dies war in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zukünftig hätte der Amtsrichter (als erkennender Einzelrichter) sämtliche Übertretungssachen abgeurteilt, und die Strafkammern wären entlastet worden – eine Reaktion auf die Überbürdung vor allem großstädtisch-preußischer Strafkammern. Wichtige strafprozessuale Neuerungen waren: Parteiöffentlichkeit im Vorverfahren, Erweiterung der Rechte des Angeschuldigten und des Verteidigers, Wegfall des obligatorischen Eröffnungsbeschlusses, Ausdehnung des Kontumazialverfahrens, Ausbau des abgekürzten Verfahrens, des Strafbefehlverfahrens und der Privatklage, Einschränkung des Legalitätsprinzips und Ausdehnung der prinzipalen Privatklage. Mit den letztgenannten Beschlüssen antwortete die Kommission auf die vielfachen Klagen über eine kleinliche Verfolgungssucht der Staatsanwaltschaft, aber auch auf die unbestreitbare Überlastung der Strafverfolgungsbehörden. Summa summarum: In der zentralen Frage der Gerichtsorganisation bot die Kommission eine konsistente, wenngleich etwas komplizierte und leicht schematisch wirkende Lösung an, ansonsten waren ihre Vorschläge durchweg von moderat-fortschrittlichem Geist erfüllt. Ein Aspekt sei besonders herausgestellt: Um einen Überblick über das vorhandene Reservoir an Schöffen zu gewinnen, hatten auf Wunsch der Kommission in allen Bundesstaaten Erhebungen über den aktuellen Bedarf an Laienrichtern stattgefunden. Danach waren 1904 insgesamt 5.555.119 Personen in die Urlisten eingetragen worden. Von diesen waren 48.402 zu Hauptschöffen und 18.312 zu Hilfsschöffen gewählt sowie 81.202 zu Geschworenen vorgeschlagen worden, was einem Gesamtanteil von 2,7 % entsprach180. Sofort versuchte die preußische Regierung unerwünschten Schlußfolgerungen vorzubauen. Schönstedt ließ erklären, die gewonnenen Zahlen gäben für die Frage, „wieviele Personen zur Verfüzu dem unerwünschten Ergebnisse geführt, daß die Staatsanwaltschaft wegen der Aussichtslosigkeit der Strafverfolgung vor dem Schwurgerichte den Beleidigten häufig auch in solchen Fällen auf den Weg der Privatklage verweise, in welchen wohl Anlaß zum Einschreiten im öffentlichen Interesse gegeben gewesen wäre“ (49. Sitzung v. 17. 5. 1904, Protokolle, Bd. 1, S. 440). 180 Angaben nach: Aufstellung über die Zahl der im Deutschen Reiche für die Jahre 1903 und 1904 in den berichtigten Urlisten eingetragenen Personen, der erwählten Haupt- und Hilfsschöffen und der zu Geschworenen vorgeschlagenen Personen, in: Protokolle, Bd. 2, S. 8 (Anl. zum Prot. d. 57. Sitzung v. 4. 10. 1904).
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gung stünden, die nach ihrer Bildung, ihrer Einsicht, ihrer moralischen Zuverlässigkeit und ihrer wirtschaftlichen Lage zur Verwendung als Laienrichter geeignet“ seien, „keine geeignete Unterlage“ ab. Das sah die Kommission in ihrer großen Mehrheit ganz anders: Für sie war der Nachweis erbracht, daß die für den geplanten Umbau erforderlichen Schöffen allemal vorhanden seien, zumal die Urlisten häufig unvollständig wären und die neue Organisation nicht wesentlich mehr Laienrichter benötige als die alte. Gegebenenfalls könne man den Kreis der bislang gesetzlich ausgeschlossenen Personen einschränken oder vermehrt gewerbliche Arbeiter heranziehen. Zum Problem einer möglichen Entschädigung wollte sich die Kommission nicht äußern, da es sich um eine „Frage von großer prinzipieller Tragweite“ handele181. Presse und Publizistik beschäftigten sich intensiv mit den Kommissionsbeschlüssen. War der Tenor anfänglich noch gemischt bis verhalten positiv, so beherrschten die kritisch-ablehnenden Stimmen das Feld nach kurzer Zeit völlig182. Gerügt wurde vor allem die einseitige, rein juristische Zusammensetzung des Gremiums, seine bürokratische Arbeitsweise, das Fehlen leitender Gesichtspunkte, die Negierung der politischen Rahmenbedingungen und die Mißachtung der öffentlichen Meinung183. Hier schlug ihre (freiwillige) Beschränkung auf das JuristischTechnische auf die Kommission zurück. Liszt zufolge bestand ihr Hauptfehler darin, nicht hinreichend die Gründe klargelegt zu haben, aus welchen „das Vertrauen des Volkes in unsere Strafrechtspflege erschüttert ist“. Das Phänomen betreffe jedoch nicht alle Gerichtskörper gleichermaßen, sondern fast ausschließlich die Strafkammern, und hätte seinen tiefsten Grund in Herkunft, Persönlichkeit und Ausbildung der beamteten Richter184. Nach einem Jahr stellte die „Straßburger Post“ resümierend fest, daß sich die Kritik an den Beschlüssen immer mehr gesteigert hätte und die Arbeit der Kommission wohl „pro nihilo“ gewesen sei185. Die drohende Abschaffung des Schwurgerichts, fast mehr aber noch die schmähliche Behandlung, die ihm von seiten der Kommission zuteil geworden war, mobilisierten dessen Anhänger. Dabei meldeten sich, wie nicht anders zu erwarten, mit den Linksliberalen und den Sozialdemokraten die traditionell juryfreundlichen Vgl. ebd., S. 1 – 3. Bedingt zustimmend: FZ v. 2. 5. 1905 („halbe Verbesserungen“); E. Mamroth, Die Kommissionsbeschlüsse zur Reform des Strafprozesses, in: Breslauer Zeitung v. 7. / 9. 6. 1905 („ein stärkeres Fiasko der Strafkammer-Judikatur war nicht denkbar“), beide archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8356 (Sammlung von Pressestimmen aus dem Zeitraum von April 1905 bis September 1906). 183 Vossische Zeitung v. 17. 6. 1905; Gustav Böcker, Wahre und falsche Reform des bürgerlichen Strafprozesses, in: PJ 120 (1905), S. 424 – 446 / 121 (1905), S. 117 – 142, 404 – 433, hier S. 420 – 433 (RA in Magdeburg); Franz v. Liszt, Die Reform des Strafverfahrens, Berlin 1906 (Aufsatzreihe aus der „Nation“); die Beiträge des Sammelwerkes von P. F. Aschrott (Hg.), Reform des Strafprozesses, Berlin 1906, bes. das Generalreferat von Aschrott, S. 45 – 120 (herausgegeben auf Veranlassung der IKV). 184 Vgl. Liszt, S. 8 ff. 185 Straßburger Post v. 4. 7. 1906, archiv. in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8356. 181 182
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Kräfte zu Wort186. Überraschenderweise traten aber auch eine Reihe prominenter Theoretiker und Praktiker für den Erhalt des Instituts ein, woraus schlaglichtartig erhellte, daß ein – reformiertes – Schwurgericht unter den Juristen noch erheblich mehr Freunde besaß als gemeinhin angenommen187. Zwar ist nirgends mehr die warmherzige Sympathie zu verspüren, mit der ein Seuffert einstmals für das Geschworenengericht geworben hatte, die Autoren gingen jedoch davon aus, daß man die unleugbaren Mängel der Jury beheben könne, ohne ihren spezifischen Charakter zu zerstören. Nach jahrzehntelanger stiefmütterlicher Behandlung setzte auch eine ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema wieder ein188. Daß sich die Geschworenengerichte in Bayern nach wie vor großer Beliebtheit erfreuten, bewiesen die parteiübergreifenden Proteste in der Abgeordnetenkammer, die der Kommissionsbeschluß auslöste189. Einen anderen Standpunkt vertrat Max Weber. Für ihn gehörten die Schwurgerichte zu den antiformalen Tendenzen im modernen Recht. Die „direkt irrationale ,Kadijustiz‘“ der Geschworenen komme dem Empfinden der Laien, „deren Gefühl der Formalismus des Rechts im konkreten Fall immer wieder beleidigen muß“, sowie den Instinkten der nichtprivilegierten Klassen, „welche materiale Gerechtigkeit verlangen“, entgegen190. In dieser Situation kam auch die alte Forderung, den Schwurgerichten die Zuständigkeit in Preßsachen zu übertragen, wieder zu Ehren. Bei der zweiten Be186 H. v. Gerlach, Der Triumph des Schöffengerichts, in: Die Hilfe 11 (1905), Nr. 41; Hugo Heinemann, Die geplante Beseitigung der Schwurgerichte, in: Neue Gesellschaft 1 (1905), S. 297 – 299; Wolfgang Heine, Für die Schwurgerichte, in: Sozialistische Monatshefte 9 / 2 (1905), S. 938 – 947. Heine schickte ein Exemplar seines Aufsatzes an Nieberding – persönlich hatten die beiden Männer, wie auch aus anderen Begebenheiten hervorgeht, ein gutes Verhältnis. Im Dankesschreiben des Staatssekretärs heißt es: „Was insbesondere die Schwurgerichte betrifft, so überschätzen Sie offenbar das Interesse, das die Regierungen an ihrer Beseitigung nehmen können. Die Reform unseres Strafprozesses ist eine recht schwere Aufgabe; hätte sie in weiteren Kreisen mit dem Mißtrauen zu rechnen, das Ihre Studie leider bekundet, dann würde die Reform unmöglich werden“ (Nieberding an Heine, 12. 11. 1905, in: BA, R 3001, Nr. 5296, Bl. 184). 187 Vor allem: W. Mittermaier, Zur Frage der Schwurgerichte, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 2 (1905 / 06), S. 1 – 24; Havenstein, Zur Reform unserer Strafgerichte, in: Der Tag v. 6. 12. 1905 (KG-Rat); A. Weingart, Das Schwurgerichtsproblem, in: Aschrott (Hg.), Reform, S. 725 – 752 (LG-Direktor in Bautzen); L. v. Bar, Zur Frage der Laiengerichte im Strafprozeß, in: ZStW 26 (1906), S. 219 – 233; Liszt, Reform, S. 12 – 20; W. Kahl, Schwur- oder Schöffengerichte?, in: W. Mittermaier / M. Liepmann (Hg.), Schwurgerichte und Schöffengerichte, Bd. 1, Heidelberg 1908, S. 7 – 28; vgl. auch Hadding, S. 66 ff. 188 Siehe: Friedrich Oetker, Das Verfahren vor den Schwur- und den Schöffengerichten, Leipzig 1907; weiterhin die Beiträge in dem Sammelwerk von Mittermaier / Liepmann (2 Bde., Heidelberg 1908 / 10); erhellend vor allem: Kronecker, Vorschläge zur Verbesserung der Schwurgerichte, in: ebd., Bd. 1, S. 321 – 374. 189 Justizminister Miltner hatte sich schon in der Sitzung v. 3. 2. 1904 eindeutig für die Schwurgerichte ausgesprochen (Verh. KdA 1904 / 05, Bd. 12, S. 814). 190 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. Aufl., hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1980, S. 511.
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ratung der lex Hagemann (Gesetz v. 5. 6. 1905), die mittels größerer Kompetenzen der Schöffengerichte eine Entlastung des Reichsgerichts in Strafsachen bezweckte, nahm der Reichstag einen entsprechenden Antrag der Sozialdemokraten an. Der Beschluß kam insofern etwas überraschend, als ein wirklicher Zusammenhang mit der Materie des Entwurfs nicht bestand. Nach wiederholter Drohung Nieberdings, das von einer breiten parlamentarischen Koalition (Konservative bis Freisinn) initiierte Gesetz fallenzulassen, wurde der Beschluß in dritter Lesung zurückgenommen. Immerhin sprachen sich bei der namentlichen Abstimmung noch 56 Abgeordnete für dessen Beibehaltung aus, 140 votierten dagegen, 5 enthielten sich der Stimme191. Die Scharte wollte der Reichstag bei nächstbester Gelegenheit auswetzen: Ein Jahr später stimmten die Parlamentarier mit großer Mehrheit einer von Ablaß (FsVP) eingebrachten Resolution zu, in welcher der Reichskanzler aufgefordert wurde, dafür Sorge zu tragen, daß die schwurgerichtliche Zuständigkeit in Preßsachen bei der bevorstehenden Strafprozeßreform auf das ganze Reich ausgedehnt werde (28. 5. 1906). Der Bundesrat leitete die Resolution zunächst an seinen Justizausschuß weiter und lehnte sie schließlich ab (15. 11. 1906)192.
b) Im Umkreis der Reform Die wiederaufgenommene Strafprozeßreform bewegte sich in einem vielfältigen justizpolitischen Umfeld. Von daher erscheint es angebracht, den Gang der Schilderung an dieser Stelle zu unterbrechen und den Blick auf einige Aspekte zu lenken, die mit der amtlichen Gesetzgebungsarbeit in unmittelbarem Zusammenhang standen oder gar von ihr angestoßen wurden. 1. Als erstes müssen die Ansätze zu einer Demokratisierung des Schöffenund Geschworenendienstes erwähnt werden, die als unmittelbare Reaktion auf den Vorwurf der Klassenjustiz zu verstehen sind. Den ersten Schritt tat wieder einmal Bayern. In der Debatte der Abgeordnetenkammer über den Justizhaushalt für die Jahre 1904 und 1905, mit insgesamt 15 Sitzungen (23. 1. – 12. 2. 1904) die ausführlichste ihrer Art vor dem Krieg und weitgehend auf strafrechtliche und strafprozessuale Fragen fokussiert, monierten, neben der SPD, auch Sprecher des Zentrums und der Liberalen den faktischen Ausschluß der Arbeiterklasse von der Laienrechtsprechung193. Daraufhin schlug Justizminister Miltner dem Innenminister einen gemeinschaftlichen Erlaß an die mit der Erstellung der Urlisten sowie der Ab191 Vgl. Sten. Ber. RT 1903 / 05, Drks. Nr. 780 Nr. 2 (Antrag Dreesbach u. Gen.) sowie ebd., 10. 5. 1905, S. 5930 – 32 (Diskussion und Annahme) und S. 5934 (Nieberding); Sten. Ber. RT 1903 / 05, Drks. Nr. 794 (Gegenantrag Himburg u. Gen.) sowie ebd., 23. 5. 1905, S. 6099 (Nieberding) und S. 6100 – 6107 / 6111 – 6113 (Diskussion und Abstimmung). 192 Sten. Ber. RT 1905 / 06, Drks. Nr. 234 (Resolution Ablaß v. 16. 2. 1906) sowie ebd., 28. 5. 1906, S. 3584 (Annahme). 193 Etwa: Lerno (Z), Verh. KdA 1904 / 05, 23. 1. 1904, Bd. 12, S. 691; Wagner (LV), ebd., 25. 1. 1904, S. 697; Geiger (Z), ebd., 28. 1. 1904, S. 744; Casselmann (LV), ebd., S. 772.
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haltung der Wahlen betrauten Behörden vor. Dabei unterstrich er die Gesetzwidrigkeit des Verfahrens und verwies darauf, daß das Aufwandsproblem für Geschworene durch die Vergütung einer Zwischenreise (Verordnung v. 20. 1. 1900) und die Beschränkung der ordentlichen Sitzungsperioden auf zwölf Tage (Bekanntmachung v. 8. 1. 1901) erheblich entschärft worden sei194. Ergebnis war die Bekanntmachung vom 2. 5. 1904, die nicht nur in Fachkreisen für Aufsehen sorgte. Die zuständigen Behörden wurden darauf aufmerksam gemacht, es stünde „nicht im Einklange mit dem Gesetze, wenn Personen zum Amte eines Schöffen oder Geschworenen nur deshalb nicht berufen würden, weil sie zur Arbeiterklasse gehören“. Ebenso gesetzwidrig sei es, wenn bei der Berufung „auf die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei Rücksicht genommen würde“195. Tatsächlich wurden in den folgenden Jahren Angehörige der Arbeiterklasse – die soziologische Zuordnung war nicht immer ganz eindeutig und mag bis ins Kleinbürgertum hineingereicht haben – in beschränktem Umfang zu Laienrichtern berufen, zum Schöffendienst stärker als zum Amt eines Geschworenen. Nach den Einträgen in den Jahreslisten gehörten im Geschäftsjahr 1907 in ganz Bayern 55 Haupt- und Hilfsgeschworene, in den sieben größten Amtsgerichtsbezirken (München, Nürnberg, Augsburg, Würzburg, Ludwigshafen, Bamberg, Regensburg) 161 Haupt- und Hilfsschöffen dem Arbeiterstand an. Ein Jahr später befanden sich unter den 1.652 Haupt- und 764 Hilfsschöffen der 14 größten Amtsgerichtsbezirke 240 Haupt- und 86 Hilfsschöffen aus der Arbeiterschaft. Von den landesweit 2.376 Haupt- und 358 Hilfsgeschworenen waren indes nur 69 Arbeiter. In den Jahren 1911 und 1912 lauteten die entsprechenden Zahlen für das Amtsgericht München: 1911: Hauptschöffen: 641:69, Hilfsschöffen: 320:28; 1912: Hauptschöffen: 643:50; Hilfsschöffen: 320:34. Im Bezirk des Landgerichts München I wurden 1910 zwölf, 1911 vierzehn und 1912 sechzehn Arbeiter als Geschworene in die Jahreslisten aufgenommen196. Ein gutes Jahr später folgte Sachsen dem bayerischen Beispiel. In einer Verordnung vom 7. 10. 1905 wies Justizminister Otto darauf hin, daß es dem Geist des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht entspreche, „wenn weite Kreise der Bevölkerung, wie die kleinen Gewerbetreibenden, die Handwerker und die Arbeiter, von dem Ehrenamt eines Schöffen oder Geschworenen ganz oder fast ganz ausgeMiltner an Feilitzsch, 15. 3. 1904, in: HStA, MJu 13540. Bek. v. 2. 5. 1904, betr. Herstellung der Listen und die Wahlen für den Schöffen- und Geschworenendienst, in: JMBl, S. 93 f.; die „Soziale Praxis“ nannte den Erlaß „eine tapfere Tat der Gerechtigkeit, die der bayerischen Regierung Ehre macht“ (Soziale Praxis 13, 1903 / 04, S. 935). 196 Angaben nach: HStA, MJu 14359; HStA, MJu 16980; Miltner, Verh. KdA 1907 / 08, 20. 11. 1907 (Zahlen für 1908). Die Zahlen für 1907 übermittelte Miltner auch an MüllerMeiningen, der sie kurz darauf im Reichstag mitteilte – eine für Preußen ganz undenkbare Kooperation (Schreiben Miltners v. 5. 4. 1907, in: HStA, MJu 14359; Sten. Ber. RT, 22. 4. 1907, S. 1008). Auf dem Landesparteitag der SPD 1912 in Landshut nannte der Abgeordnete Endres die Zahl von 69 Arbeitergeschworenen in Bayern (erwähnt bei Pohl, S. 100). 194 195
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schlossen bleiben“. Unter ihnen fehle es nicht an Personen, „die vermöge ihrer Urteilsfähigkeit, Unbefangenheit und sittlichen Tüchtigkeit allen Anforderungen für die Übernahme des Amtes entsprechen, und das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung kann nur gewinnen, wenn jene Kreise herangezogen werden“. Otto forderte die zuständigen Richter direkt auf, „mehr als bisher auch Personen der unteren Stände“ zu berücksichtigen197. Der preußische Gesandte in Dresden berichtete nach Berlin, die Verordnung werde von der Presse günstig beurteilt, vor allem auch deshalb, „weil Männer aus jenen Kreisen bei den von Arbeitern begangenen Verbrechen in ihren Anschauungen von denen der Beschuldigten nicht durch eine ganze Welt getrennt seien, sich besser in die Verfassung des Angeklagten hineindenken könnten und damit gerechter urteilen würden“198. Baden, Hamburg und wohl auch noch einige andere Bundesstaaten erließen ähnliche Vorschriften. Desgleichen sprach sich der württembergische Justizminister in der Abgeordnetenkammer im Sinne der bayerischen Maiverordnung aus199. Vereinzelt wurden in jenen Jahren auch in Preußen Arbeiter zu Schöffen gewählt200. Seit 1906 mehrten sich die Eingaben diverser Berufsgruppen und Standesorganisationen, die um eine stärkere Berücksichtigung bei der Auswahl der Laienrichter baten. Zur Begründung wurde stets auf das mit dem Ehrenamt verbundene Sozialprestige verwiesen, zumal immer wieder auch Arbeiter berufen würden201. Die wiederholt vorgetragene Bitte, die zuständigen Behörden entsprechend zu instruieren, lehnte Beseler unter Hinweis auf die Unzulässigkeit eines solchen Verfahrens ab. Zwei Personengruppen seien besonders hervorgehoben. In einer gleichzeitigen Eingabe an den preußischen Justizminister und das Reichsjustizamt vom 25. 2. 1907 führte der Ausschuß des „Verbandes der Deutschen Juden“ Klage darüber, daß die jüdische Bevölkerung bei der Wahl benachteiligt würde, nicht in Großstädten, wohl aber in Klein- und Mittelstädten. Die Eingabe beruhte auf eingehenden Erkundigungen, die der Verband in den vergangenen beiden Jahren in 240 Kleinund Mittelstädten durchgeführt hatte202. Während Beseler die Bitte um Anweisung 197 VO v. 7. 10. 1905, in: JMBl, S. 139 f. (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7811, Bl. 93 – 95); vgl. Gerlach, Sten. Ber. RT, 24. 2. 1906, S. 1589. 198 Dönhoff (preuß. Gesandter) an Bülow, 9. 11. 1905, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7811, Bl. 103. 199 Zu Baden und Württemberg: Bericht von Treutlein-Mördes über die JA-Sitzung v. 2. 10. 1907, in: HStA, MJu 16980, S. 7 / 8 (Beratung des Antrags von Bayern, Württemberg und Baden auf Entschädigung der Schöffen und Geschworenen); zu Hamburg: S. Heckscher, Aus dem Gebiete der Justizreform, in: Die Hilfe 13 (1907), S. 163 f.; ansonsten: Gerlach, Sten. Ber. RT, 24. 2. 1906, S. 1589. 200 Entsprechende Hinweise in der Akte GStA, Rep. 84a, Nr. 7811; vgl. auch Gerlach, Sten. Ber. RT, 24. 2. 1906, S. 1589. 201 Siehe: Eingabe von Kaufleuten und Handwerkern aus Beuthen (Oberschl.) v. 1. 9. 1906; Eingabe des Verbandes Deutscher Bureaubeamter (Leipzig) v. 29. 7. 1907; Eingabe des Rheinisch-Westfälischen Wirte-Verbandes v. 1. 10. 1907; Eingabe des Deutschen PrivatBeamten-Vereins (Magdeburg) v. 26. 11. 1907, alle in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7811.
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an die Vorsitzenden des Wahlausschusses abschlägig beschied, wies Nieberding auf die Möglichkeit „unverbindlicher Belehrungen oder Empfehlungen“ seitens der Landesjustizverwaltung hin. Daraufhin wandte sich der Verband im Juni ein weiteres Mal an Beseler und reichte eine Liste der beanstandeten Orte mit genauen Zahlenangaben ein. Diesmal machte der Justizminister eine Ausnahme: Mit Rundverfügung vom 10. 7. 1907 ließ er die Beschwerden mitsamt dem eingereichten Material an die betreffenden Ausschußvorsitzenden weiterleiten 203. Des weiteren ist die Frauenbewegung zu nennen, die in zahlreichen Publikationen und Petitionen auf Zulassung von Frauen zum Schöffen- und Geschworenendienst drang204. Die Bemühungen, den Schöffen- und Geschworenendienst auf eine breitere soziale Basis zu stellen, konnten auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn der ehrenamtliche Charakter der Tätigkeit beseitigt und die Laienrichter materiell entschädigt wurden. Mit ihren Vorstößen hatten die genannten Regierungen gleichsam einen Sachzwang geschaffen, in dieser Richtung tätig zu werden. Auch der Reichstag und die süddeutschen Landtage pochten wiederholte Male – federführend waren abermals das Zentrum, die Linksliberalen / Demokraten und die SPD – auf die baldige gesetzliche Einführung von Tagegeldern, um eine gleichmäßige Berücksichtigung aller Bevölkerungsschichten zu gewährleisten. In Bayern machte sich Prinzregent Luitpold die Bitte beider Kammern um Einleitung einer entsprechenden Bundesratsinitiative ausdrücklich zu eigen205. Die Befürworter konnten auf die Entschädigungsregelung für die Beisitzer in den Gewerbegerichten (§ 20 Abs. 2 des Gesetzes v. 29. 7. 1890) und die Aufhebung des Diätenverbots für die Abgeordneten des Reichstags (21. 5. 1906) verweisen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb die süddeutschen Regierungen bis zum Erlaß einer neuen Strafprozeßordnung weder warten konnten noch 202 Eingabe des Ausschusses des Verbandes der Deutschen Juden v. 25. 2. 1907, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7811. Die Erhebungen hatten folgendes Bild ergeben: In 30 Städten bestand kein Anlaß zur Beschwerde, in 29 Städten waren die jüdischen Bewohner hin und wieder zu Geschworenen, nicht aber zu Schöffen, in 11 Städten hin und wieder zu Schöffen, nicht aber zu Geschworenen und in 170 Städten weder zum einen noch zum anderen gewählt worden. Die Ursache sah der Verband in der verstärkten antisemitischen Agitation. 203 Antworten Beselers und Nieberdings v. 6. / 15. 3. 1907; erneute Eingabe des Verbandes v. 13. 6. 1907; RV an die OLG-Präs. v. 10. 7. 1907, alle in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7811. 204 Als Beispiel sei genannt: Petitionen des Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine in Berlin an den Reichstag (Petition Nr. 6083, 1908; Petition Nr. 7792, 1909), beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7811. 205 Reichstag: Anträge Haußmann / Müller-Meiningen (DVP, FsVP) v. 28. 11. 1905 und 21. 2. 1906 (Drks. Nrn. 49, 244); Anträge Hompesch (Z) v. 30. 11. 1905 und 21. 2. 1906 (Drks. Nr. 242); Resolutionen v. 28. 5. 1906 (Sten. Ber., S. 3584); Resolution Ablaß (FsVP) v. 18. 4. 1907 (Drks. Nr. 311), angenommen am 23. 4. 1907; Bayern: Anträge v. Vollmar (SPD) und Landmann (LV), beraten am 17. 11. 1899; Antrag Müller-Hof (= Müller-Meiningen; LV) v. 11. 10. 1905 und Antrag Lerno (Z) v. 24. 10. 1905, letzterer angenommen von der Kammer (Verh. 1905 / 06, 22. 11. 1905, Bd. 1, S. 818) und vom Reichsrat (Verh. 1905 / 06, Bd. 1, S. 36 / 37), Landtagsabschied v. 23. 3. 1907, § 21 (Verh. KdA 1907, Bd. 7, S. 43 ff.); Württemberg: Antrag Haußmann (DVP), angenommen am 15. 4. 1905 (Verh. KdA, S. 1660 f.).
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wollten. Mit Datum vom 20. 3. 1907 legten Bayern, Württemberg und Baden im Bundesrat einen Gesetzentwurf vor, der den Schöffen und Vertrauensmännern des Wahlausschusses drei Mark, den Geschworenen fünf Mark pro Tag als Entschädigung für Zeitversäumnis zahlen wollte. Die Sätze waren bewußt niedrig bemessen, um die Aussichten der Vorlage zu verbessern. Die Begründung gab der Hoffnung Ausdruck, daß durch die allgemeine Beteiligung an der Rechtsprechung „die in neuerer Zeit häufiger gewordenen Äußerungen mangelnden Vertrauens in die Rechtspflege seltener werden und daß ihnen wirkungsvoller begegnet werden kann. Die stärkere Heranziehung des Laienelements zur Rechtsprechung wird überdies dazu beitragen, daß die Entscheidungen der Gerichte in etwas lebendigerem Zusammenhange mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein bleiben“206. In seinem bald darauf erstatteten Votum erkannte Beseler – mit Blick auf die Strafprozeßreform – das Bedürfnis nach Entschädigung prinzipiell an, zumal in manchen Bezirken schon jetzt auf minder bemittelte Bevölkerungsklassen zurückgegriffen werden müsse. Dringend riet er jedoch davon ab, die Materie vorzeitig zu regeln, da sich die zukünftige Organisation der Strafgerichte noch nicht überblicken lasse und zunächst eingehende Erhebungen stattfinden müßten. Im Bundesrat empfahl er eine dilatorische Stellungnahme abzugeben. Finanzminister Rheinbaben pflichtete seinem Kollegen bei, wandte sich aber gegen jedwede Erklärung Preußens zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Nach kurzer Diskussion entschied das Staatsministerium, den Gesetzentwurf abzulehnen und die Regelung der Vergütung – unter grundsätzlicher Anerkennung ihrer Berechtigung – der neuen Strafprozeßordnung vorzubehalten207. In der Folgezeit gelang es Preußen, die sächsische Regierung, deren Position schwankend war, auf seine Seite zu ziehen208. Zusammen mit den Stimmen der preußenfreundlichen nord- und mitteldeutschen Staaten durfte die Ablehnung des Entwurfs im Bundesrat damit als sicher gelten. Als die Vorlage am 2. 10. 1907 im Justizausschuß zur Beratung kam, prallten die unterschiedlichen Grundhaltungen Preußens und Bayerns in der Justizpolitik, aber auch die verfassungsrechtlichen Implikationen der Frage hart aufeinander. Auf die – etwas saloppe – Bemerkung Nieberdings, man sei seit Erlaß der Strafprozeßordnung ja auch ohne Entschädigung ausgekommen und im preußischen Landtag wären ähnliche Anträge wie in 206 Antrag Bayerns, Württembergs und Badens v. 20. 3. 1907, in: BR, Session 1907, Drks. Nr. 64 (auch in: HStA, MJu 16980); der Entwurf wurde am 27. 3. an den Justizaussschuß überwiesen. 207 Votum Beselers v. 10. 4. 1907, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 7811, Bl. 255 – 260 (auch in Nr. 8343, Bl. 90 – 92); Votum Rheinbabens v. 23. 4. 1907, in: ebd., Nr. 7811, Bl. 291 f.; Prot. StM v. 27. 4. 1907 (Auszug), in: ebd., Bl. 273 – 278. 208 Der Auffassung des Finanzministers folgend, stand Sachsen der Vorlage ursprünglich ablehnend gegenüber. Justizminister Otto konnte dann zwar einen Meinungsumschwung herbeiführen, unter dem Einfluß Preußens kehrte Sachsen schließlich aber auf den früheren Standpunkt zurück; vgl. den Bericht von Treutlein-Mördes über die JA-Sitzung v. 2. 10. 1907, in: HStA, MJu 16980, hier S. 4.
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den süddeutschen Kammern nicht gestellt worden, erwiderte der bayerische Bevollmächtigte Treutlein-Mördes, die Sachlage habe sich insofern wesentlich geändert, als in neuerer Zeit der Vorwurf der Klassenjustiz aufgekommen sei. Deshalb bemühe man sich um die Berufung von Arbeitern, was die Gewährung einer Vergütung bedinge. Das unterschiedliche Verhalten der Parlamente erkläre sich einfach daraus, „daß die süddeutschen Volksvertretungen aus ganz anders gestalteten Wahlen hervorgegangen seien als der preußische Landtag“209. Dies konnte der Staatssekretär nicht unwidersprochen stehenlassen. Nieberding entgegnete, man gebe sich wohl einer Täuschung hin, wenn man glaube, dem Klassenjustizvorwurf auf diese Weise erfolgreich begegnen zu können, unter Umständen könne er sogar – im Falle einer Abänderung von Freisprüchen in der Berufungsinstanz – neue Nahrung erhalten. Außerdem müsse man „bei der Auswahl der Arbeiter sehr vorsichtig verfahren, sonst bestehe die Gefahr, daß das sicherste Bollwerk gegen umstürzlerische Bewegungen, die Rechtspflege, unterminiert werde“. Und schließlich: Trotz der auf anderer Grundlage stattfindenden Wahlen müsse der preußische Landtag „die gleiche Bedeutung und das gleiche Gewicht“ beanspruchen wie die süddeutschen Volksvertretungen210. Bei der Schlußabstimmung wurde der Entwurf mit fünf gegen zwei Stimmen angenommen. Außer den drei Antragstellern votierten Hessen und Lübeck für die Vorlage, Preußen und Sachsen stimmten dagegen. Im Plenum des Bundesrats, das bereits am folgenden Tag über die Angelegenheit entschied, blieb der Entwurf mit 18 von 58 Stimmen in der Minderheit. Neben den drei Initiatoren fand er nur noch die Unterstützung Hessens, Sachsen-CoburgGothas und Lübecks, alle anderen Bundesstaaten schlossen sich Preußen an. Den ursprünglichen Plan, einen Eventualantrag einzubringen, der die Entschädigungsfrage der Landesgesetzgebung übertragen sollte, ließ die bayerische Regierung fallen, da ihre beiden Mitstreiter Bedenken gegen einen solchen Schritt erhoben211. Unmittelbar danach setzten die parlamentarischen Initiativen wieder ein212. 2. Auch sonst nahm die bayerische Justizpolitik in der Ära Miltner (1902 – 1912) eine Sonderstellung im Reich ein. Mit der Bekanntmachung vom 2. 5. 1904 begann eine Serie spektakulärer Erlasse, die mit ihrer prononciert liberalen Handschrift einen fortschrittlichen Geist atmeten, der in dieser Form bei keiner anderen Justizverwaltung der Zeit anzutreffen war. Hierzu gehörten des weiteren: die Einschränkung der Untersuchungshaft auf die unbedingt notwendigen Fälle (Bek. v. 209 Bericht von Treutlein-Mördes über die JA-Sitzung v. 2. 10. 1907, in: HStA, MJu 16980, Zitat S. 10. 210 Zitate ebd., S. 11. 211 Vgl. den Bericht v. Treutlein-Mördes über die BR-Sitzung v. 3. 10. 1907, in: HStA, MJu 16980. 212 Bayern: Antrag Müller-Hof (= Müller-Meiningen; LV) v. 24. 10. 1907 und Antrag Rollwagen (SPD) v. 6. 11. 1907, Annahme des Antrags Müller-Hof am 22. 11. 1907 (einstimmig), Beschluß KdR: Übergang zur Tagesordnung (mit Verweis auf die Haltung d. BR); Reichstag: Resolution Albrecht (SPD) v. 30. 1. 1908 (Drks. Nr. 620) und Resolution Ablaß (FsVP) v. 17. 2. 1908 (Drks. Nr. 680), beide angenommen am 25. 2. 1908.
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16. 7. 1907; JMBl, S. 201); die Beendigung der bisherigen Praxis, die Verjährung der Strafverfolgung und Strafvollstreckung willkürlich zu unterbrechen (Weisung an die Oberstaatsanwälte 1907; Bek. v. 27. 10. 1910; JMBl, S. 911); die Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes von Angeklagten und Zeugen vor Gericht, insbesondere gegen die Bekanntgabe früherer Bestrafungen (Bek. v. 25. 6. 1908; JMBl, S. 131); der großzügige, den bisherigen Schematismus überwindende Ausbau der Vorschriften über die „bedingte Begnadigung“ (Bek. v. 14. 12. 1908; JMBl, S. 285); schließlich die Einführung der Jugendgerichte (Bek. v. 22. 7. 1908; JMBl, S. 161)213. In denselben Zusammenhang ordnen sich die Bestrebungen Miltners ein, bürokratische Strukturen abzubauen, den dienstlichen Verkehr zu vereinfachen, die Dienstaufsicht zu liberalisieren und ministerielle Kompetenzen auf äußere Behörden zu übertragen. Als Beispiel sei die alte Vorschrift genannt, daß die Vorsitzenden der Schwurgerichte nach Abschluß jeder Sitzungsperiode dem Justizminister einen Bericht zu erstatten hatten. Kurz nach Amtsantritt ordnete Miltner an, daß die Berichte zunächst an die OLG-Präsidenten zu gehen hätten, die dem Ministerium dann nur noch eine grobe Übersicht vorlegen sollten. Eine Bekanntmachung aus dem Jahre 1910 schränkte die Pflicht zur Berichterstattung schließlich auf besondere Vorkommnisse ein – zugleich ein Beitrag zum Abbau des Schreibdienstes214. Besonders deutlich trat die Außenseiterposition Bayerns, wie noch zu zeigen sein wird, bei Beratung der Strafprozeßreform hervor. Dennoch sah sich Miltner in späteren Jahren mit einer Flut von Vorwürfen und persönlichen Angriffen konfrontiert, wie dies noch bei keinem seiner Vorgänger der Fall gewesen war. Vor allem in den Kreisen der Richterschaft herrschte große Unzufriedenheit mit seiner Amtsführung. Hierbei wirkten verschiedene Ursachen zusammen: der Wegfall des traditionellen Vorrechts der Richter auf Pensionierung mit vollem Gehalt (im Zuge der umfassenden Beamtenreform von 1908), die distanziert-kühlen Beziehungen zum Bayerischen Richterverein und nicht zuletzt die Personalpolitik des Ministers, die an einer qualitativen Hebung des Richterstandes orientiert war, zum einen durch die erwähnten, auf persönliche Verhältnisse keinerlei Rücksicht nehmenden Schritte zur Eindämmung des juristischen Andrangs (Dreiererlaß, Prüfungsordnung von 1910), zum anderen durch die gezielte Förderung tüchtiger junger Kräfte bei gleichzeitigem Abbau höherer Richterstellen (Einziehung der zweiten Oberamtsrichterstellen) – im ganzen eine klare Reaktion auf die „Vertrauenskrise“ der Justiz. Verschärft wurden die sachlichen Differenzen durch die Persönlichkeit Miltners, der sich, vom Typ her Rationalist, von dem einmal als richtig erkannten Weg nur noch schwer wieder abbringen ließ – heutzutage würde man wohl von „beratungsresistent“ sprechen215. Näheres dazu: Staatsminister, II, S. 947 ff. Bek. v. 2. 1. 1903 und v. 30. 7. 1910; die Berichterstattung ging zurück auf die Entschl. v. 27. 11. 1855 (abgedr. in: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege 2, S. 412); vgl. zum ganzen die Materialien in: HStA, MJu 14230. 215 Siehe: Anon., Der Wechsel im bayerischen Justizministerium, in: DRZ 4 (1912), S. 216 – 218 (differenziert-kritisch); weiterhin: Staatsminister, II, S. 979 ff., 985 f. Die Dar213 214
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Bezeichnenderweise waren es die Liberalen, die nach dem Rücktritt des Ministeriums Podewils im Februar 1912 der Amtsführung Miltners hohes Lob zollten. Der Abgeordnete Kohl hob dessen bahnbrechende Verordnungen hervor: „Es ist eine bekannte Tatsache, daß in der letzten Zeit einige Erlasse der bayerischen Justizverwaltung berechtigtes Aufsehen erregt haben. Ich erinnere daran, daß seitens der Justizverwaltung darauf hingewiesen wurde, daß im Gerichtssaal die Straflisten nicht mehr verlesen werden sollen, daß eine Einschränkung der Untersuchungshaft angeordnet wurde. Ich erlaube mir zu sagen, diese damaligen Erlasse haben zu einer hohen Anerkennung der bayerischen Justizverwaltung im ganzen Deutschen Reich, ja über die Grenzen des Reichs hinaus geführt (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten). Man hat von ,moralischen Eroberungen‘ damals gesprochen“216. 3. Eine neue Qualität erlangte die Reformdebatte durch die vom Frankfurter Oberbürgermeister Franz Adickes entwickelten Vorschläge217. Adickes’ Programm, nach eigener Bekundung das Ergebnis langjähriger Beobachtungen und Überlegungen, unterschied sich in mehrfacher Hinsicht von den gängigen Diskussionsbeiträgen: Es umfaßte sowohl die Gerichtsverfassung als auch beide Prozeßordnungen („Justizreform“), zielte auf „durchgreifende“ Maßnahmen statt auf partielle Verbesserungen und wollte das Reformvorhaben auf ein anderes Fundament stellen. Auch die Methodik war neu: Adickes betrachtete die Probleme der Justiz nicht nur von außen, aus dem Blickwinkel des Verwaltungsmannes, sondern er nahm konsequent eine staatspolitische, die Bedeutung der Rechtspflege für die gedeihliche Fortentwicklung des Reiches betonende Perspektive ein. Dies verlieh seinen Ausführungen eine spezifische Souveränität und Eigenständigkeit, die manchen Fachvertreter irritierte. Mit welcher Entschlossenheit Adickes sein Projekt verfolgte, belegt die Publikationsdichte: Seiner als „Alarmruf“ verstandenen Herrenhausrede vom 30. 3. 1906 folgten kurz nacheinander zwei größere Abhandlungen und eine Reihe kleinerer Beiträge, in denen er seine Ideen ausarbeitete und näher begründete, aber auch einige taktisch bedingte Anpassungen vornahm218. stellung in dem Sammelwerk ist deutlich von dem Bemühen geprägt, Person und Amtsführung Miltners zu rehabilitieren. 216 Kohl (LV), Verh. KdA, 14. 3. 1912, Bd. 1, S. 215 f. Die letzte Bemerkung zielte auf einen Ausspruch von Stranz, der 1907 geschrieben hatte, durch die Miltnerschen Verordnungen mache Bayern „moralische Eroberungen“ in Deutschland (Stranz, Juristische Rundschau, in: DJZ 12, 1907, S. 945). 217 Hierzu: R. Knauss, Die Vorschläge Adickes zur Justizreform und ihre Verwirklichug in der deutschen Gesetzgebung, Freiburg 1928, S. 41 – 69; K. Weidlich, Franz Adickes als Jurist, in: Franz Adickes, Frankfurt / M. 1929, S. 375 – 402. 218 Franz Adickes, Sten. Ber. HH, 30. 3. 1906, S. 220 – 227 / 231 f. sowie 8. 5. 1907, S. 164 – 167; ders., Grundlinien durchgreifender Justizreform, Berlin 1906 (Zusammenfassung in: DJZ 11, 1906, S. 501 – 509); ders., Der englische Strafprozeß und die deutsche Strafprozeßreform, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 3 (1906 / 07), S. 65 – 78; ders., Zur Verständigung über die Justizreform, Berlin 1907; Stellung und Tätigkeit des Richters, in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung 13 (1907), S. 23 – 49; ders., Zur Justiz-
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Es ist beinahe müßig zu erwähnen, daß auch Adickes bei der weitverbreiteten Kritik an Richtern und Gerichten ansetzte. Den tieferen Grund sah er in der Rückständigkeit der Justizeinrichtungen, die in vielem noch kleinstaatlichen Verhältnissen verhaftet seien, namentlich in der Ausgestaltung des richterlichen Amtes als Beamtenlaufbahn und dem geschlossenen Beamtenorganismus der Richterschaft. Insofern bestehe die eigentliche Aufgabe darin, die Justiz zu modernisieren und den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten der Gegenwart anzupassen. Dies aber sei – und hier lag für Adickes der entscheidende Punkt – bislang noch gar nicht richtig erkannt worden, auch nicht von der Strafprozeßkommission219. Dabei schwebte Adickes eine Justiz vor, deren Einrichtungen ökonomischen Prinzipien („Arbeitsteilung“, „rationelle Organisation“) folgen sollte. Im Impetus der Modernisierung, der sein ganzes Projekt durchzieht, dürften sich die Erfahrungen des Oberbürgermeisters einer „explodierenden“ Großstadt in der wilhelminischen Epoche widerspiegeln. Hauptmerkmal des Adickesschen Reformprogramms war der Paradigmenwechsel von den Strukturen zu den Personen. Oberstes Ziel war „die Stärkung des Vertrauens zu den Gerichten durch Hebung und Förderung der richterlichen Persönlichkeiten“220. Adickes Ideal war, ohne daß er den Begriff verwandte, das des Richterkönigtums – ausdrücklich erinnerte er an das Wort von der „Subalternisierung“ der Richterschaft (Kruse). An dieser Prämisse hatten sich die Strukturfragen (Rekrutierung des Personals, Gerichtsaufbau, Verfahrensgang) auszurichten. Leitende Grundsätze hierbei waren: Verringerung und strengere Auswahl der richterlichen Kräfte statt fortlaufender Vermehrung („die Quantität drückt die Qualität“), verbunden mit einer partiellen Herauslösung aus der Beamtenlaufbahn; Dezentralisierung und leichtere Zugänglichkeit der Gerichte unter Verlagerung des Schwerpunkts der Rechtspflege in die erste Instanz (Amtsgerichte); möglichste Beschränkung der Rechtsmittel; rationelle Gestaltung des Verfahrens nach den Prinzipien „wirtschaftlich überlegter Organisation und gesunder Justizpolitik“ unter weitgehender Entlastung der Richter. Eine Fokussierung auf die Laienfrage, wie sie für die Beschlüsse der Kommission typisch war, hielt Adickes hingegen für den falschen Weg: „Alle hier behandelten, für die Strafrechtspflege so wichtigen psychologischen Fragen, die darin gipfeln, wie ein vom Vertrauen des Volkes getragenes Berufsrichtertum zu gewinnen und zu verwenden ist, sind durch das einfache Mittel einer Zuziehung von Laien nicht gelöst, sondern umgangen“. Den gesamten Ausbildungskomplex, obwohl von erheblicher Bedeutung, klammerte Adickes von vornherein aus, um sein Projekt nicht zu überfrachten221. reform, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafprozeßreform 4 (1907 / 08), S. 1 – 25 (Auseinandersetzungen mit Lewinski und Stein); ferner Adickes’ Stellungnahme zur Strafprozeßreform auf der außerordentl. Tagung der IKV vom 3. – 5. 1. 1909 in Berlin (Mitt. d. IKV 16, 1909, S. 46 – 58). 219 Vgl. Grundlinien, S. IV f., S. 7 ff. 220 Verständigung, S. 4. „Eine gute Rechtspflege hängt in erster Linie von den Persönlichkeiten der Richter ab“ (ebd., S. 100).
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Von diesen Prämissen ausgehend, entwickelte Adickes eine Vielzahl von Vorschlägen beamtenrechtlicher, gerichtsorganisatorischer, prozessualer und arbeitstechnischer Art222. Um die Amtsgerichte, bislang Durchgangsstation für tüchtigere Kräfte, attraktiver zu gestalten, schlug er eine eigene amtsrichterliche Laufbahn mit gehobenen Stellen (Präsidenten, Direktoren) vor. Die bisher den Landgerichtspräsidenten zustehenden Aufsichtsrechte sollten auf die neuen Amtsgerichtspräsidenten übergehen, die Zuständigkeit in Zivilsachen von 300 auf 1.000 oder 1.500 Mark erhöht werden. Die Richterstellen an den Land- und Oberlandesgerichten waren – unter weitgehender Gleichstellung in Rang und Gehalt – aus der Beamtenhierarchie auszugliedern, in der Absicht, die richterliche Unabhängigkeit vollständig zu sichern und „den bei den oberen Gerichten leicht entstehenden Schein der Beeinflussung und Abhängigkeit“ zu vermeiden. Ihre Besetzung sollte gemischt sein und aus Mitgliedern der Amtsgerichte, Rechtsanwälten und sonstigen bewährten Juristen bestehen, eine Maßregel, die „die Rechtsprechung lebensfrisch und volkstümlich gestalten und vor den Verirrungen theoretischer Konsequenzmacherei und abstrakter und weltfremder Begriffsjurisprudenz bewahren“ werde223. Nicht minder großen Wert legte Adickes auf die Befreiung der Richter von subalternen Tätigkeiten und deren Übertragung auf Bürobeamte. Dies galt vor allem für das der deutschen Gründlichkeit geschuldete „unselige Schreibwerk“, namentlich – ein alter Streitpunkt – für die obligatorische Abfassung des Tatbestandes in Zivilurteilen224. Bezüglich der Gerichtsbesetzung plädierte Adickes für Einzelrichter in der gesamten ersten Instanz (im Strafprozeß unter Hinzuziehung von Laien) und kleine Kollegien (2 – 3 Richter) in den höheren Instanzen. Durch Wegfall der Beisitzer wären die Landgerichte künftig nur noch mit Präsidenten und Direktoren besetzt gewesen. Als Zivilgerichte erster Instanz sah Adickes vor: das Amtsgericht (Streit221 Zitate: Strafprozeß, S. 65; Verständigung, S. 23; Grundlinien, S. 152. Die Idee einer Reduzierung der Richterzahl wurde auch im preußischen Justizministerium ventiliert. Vierhaus schrieb 1903: „Allein es bedarf der ernstesten Erwägung, ob wir nicht – und das gilt auch im Strafprozeß – an einer wahren Vergeudung von Richterkräften leiden. Warum zu einem Versäumnisurteil einfachster Art beim Landgerichte drei Richter erforderlich sind, warum das Reichsgericht zur Zurückweisung einer offensichtlich unbegründeten Revision des Apparats einer mündlichen Verhandlung vor sieben Richtern gebraucht – dafür sind Gründe kaum zu finden. Die bei uns historisch gegebenen Sätze, daß die Mitwirkung einer größeren Zahl von Richtern eine größere Gewähr für ein richtiges Urteil biete und daß die obere Instanz stets stärker besetzt sein müsse als die vorhergehende, bedürften noch erst des Beweises“ (Vierhaus, Zivilprozeß-Gesetzgebung, S. 53). 222 Überblick: Verständigung, S. 115 – 121; Zusammenstellung der Vorschläge zur Gerichtsverfassung: ebd., S. 84 – 89; Schaubilder zur gerichtlichen Organisation bei Knauss, S. 55 und S. 61, Anm. 34. 223 Zitate Verständigung, S. 118, 87. 224 Dazu: Kronecker, Die Beseitigung des Tatbestandes im Anwaltsprozeß, in: DJZ 2 (1897), S. 174 – 177. Kronecker schätzte die Arbeitslast, die den Landrichtern und Oberlandesgerichtsräten durch den Tatbestand aufgebürdet werde, auf etwa ein Drittel ihrer gesamten Tätigkeit in Zivilsachen; vgl. Verständigung, S. 38 ff.
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werte bis 300 Mark), das Sprengelgericht (größere Amtsgerichte bzw. Zusammenlegung mehrerer kleiner Amtsgerichte; 300 bis 1.000 Mark), das Landgericht (über 1.000 Mark). Bei Streitsachen unter 100 Mark war die Berufung auszuschließen, die Sprungrevision an das Reichsgericht sollte generell zulässig sein. Als Berufungsinstanz sollten das Sprengelgericht (1 Richter) und das Landgericht (2 Richter) fungieren. Für die Senate der Oberlandesgerichte empfahl Adickes drei Richter, für die Senate des Reichgerichts mindestens drei. Bei den Strafgerichten wollte Adickes die mittlere Ebene zwischen Schöffen- und Schwurgerichten aufteilen. Für die erste Instanz dachte er an folgenden Aufbau: Amtsrichter – Schöffengericht (1:2) – Sprengelgericht (1:4) – Schwurgericht (1:12); als Vorsitzenden des Schwurgerichts wünschte er sich einen Reichsgerichtsrat. Die Berufung sollte vom Amtsrichter an die Schöffengerichte, von den Schöffen- und Kreisgerichten an eine mit drei Berufsrichtern besetzte Strafkammer am Landgericht gehen. In den wichtigeren Berufungssachen wären Laien mithin ausgeschlossen gewesen, was Adickes mit der beabsichtigten Einschränkung der Revision begründete, angesichts der strengeren Richterauswahl aber auch nicht für problematisch hielt. Es ist überraschend, daß er in diesem Punkt, der für die Strafprozeßreform entscheidend sein sollte, das politisch bedingte Mißtrauen gegen die Berufsrichter unterschätzte225. Mit Recht konnte Adickes darauf verweisen, daß mit seinem System – für das sich rasch die Formel „wenige Richter in hoher Stellung“ einbürgerte – drückende Übelstände wie Richtermangel und Hilfsrichtertum mit einem Schlage beseitigt wären. In strafprozessualer Hinsicht forderte er die Beseitigung des Legalitätsprinzips (mit Ausnahme der politischen Vergehen), die Abschaffung der Voruntersuchung und die Umgestaltung der Hauptverhandlung im Sinne des englischen Parteiprozesses. Im Zivilprozeß sollten die einfachen Sachen (Versäumnis- und Anerkenntnisurteile) vom ordentlichen Verfahren abgetrennt und vereinfacht behandelt werden. Im übrigen gelte es, die Prozeßführung zu beschleunigen und zu effektivieren sowie vermehrt auf die vergleichsweise Erledigung der Streitsachen hinzuwirken; mit konkreten Vorschlägen hielt sich Adickes in dieser Beziehung zurück. Adickes’ Intervention löste eine breite, überaus kontroverse Debatte aus, die in hohem Maße von Mißverständnissen und – wohl auch bewußten – Fehldeutungen geprägt war. Dabei machte es Adickes seinen Gegnern insofern leicht, als er die englisch-schottischen Justizzustände den deutschen als Vorbild gegenüberstellte. Zwar betonte er ausdrücklich, es ginge ihm nicht darum, die häufig fehlerhaften Rechtseinrichtungen auf das Reich zu übertragen, sondern sein Interesse richte sich lediglich auf „eine Reihe von Rechtsgedanken, welche einen gewissermaßen universalen Charakter haben und deshalb auch auf anderem Boden verwendbar sind“226. Dennoch meinten einige Autoren seine Vorschläge bereits dadurch widerlegen zu können, indem sie die Rückständigkeit des englischen Systems heraus225 Vgl. Verständigung, S. 91. Adickes glaubte nicht, daß der Reichstag auf der Forderung nach Zuziehung von Laien in der Berufungsinstanz bestehen würde. 226 Grundlinien, S. 125; dort auch Überblick über die wesentlichen „Rechtsgedanken“.
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arbeiteten und die Unmöglichkeit unterstrichen, dieses nach Deutschland zu verpflanzen. Schützenhilfe erhielten sie aus England, wo man sich über das deutsche Lob verwundert zeigte227. Unvermeidbarerweise geriet das Thema in das Fahrwasser des weltpolitischen Gegensatzes zwischen Großbritannien und dem Reich, wodurch die Diskussion zusätzlich aufgeheizt wurde. Aus diesen Gründen ließ Adickes den Englandbezug in seinem zweiten Buch, das praktisch einen Neuanlauf darstellte, fallen228. Schon Zeitgenossen fiel die Parallele zur Rezeption von Montesquieus berühmter Darstellung der englischen Verfassung im „Esprit des Loix“ auf. Hermann Kantorowicz schrieb: „Und so scheint es, als ob Deutschland im kleinen an Adickes erleben soll, was Europa im großen an Montesquieu erlebt hat: denn auch dort hat die begeisterte Schilderung angeblich englischer Zustände zu der Verwirklichung von Idealen geführt, die, wie wir heute klar erkennen, das Vorbild selbst niemals erstrebt hat“229. Adickes erntete aber auch vielfältige, teilweise begeisterte Zustimmung. Namhafte Autoren schlossen sich – ungeachtet aller Unterschiede im einzelnen und teilweise unter Einbeziehung der Ausbildungsfrage – dem Gedanken einer umfassenden Justizreform einschließlich der organisatorischen Kernforderungen an230. Auch im Reichsjustizamt und im preußischen Justizministerium wurden Erkundigungen über das englische Strafrechtssystem eingezogen, über das man in 227 In ihrer Besprechung der „Grundlinien“ schrieb die „Times“ am 9. 10. 1906: „Wir sind so an abfällige Kritiken unseres Verfahrens gewöhnt, daß wir überrascht sind zu erfahren, daß Deutsche von Bedeutung und Erfahrung die englischen Einrichtungen als nachahmenswert hinstellen und ihre Landsleute lehren wollen, daß ,made in England‘ auf diesem Gebiete mit Vollkommenheit gleichbedeutend sei“. 228 Zur Rezeption: Verständigung, S. 7 ff.; J. Chr. Schwartz, Erneuerung deutscher Rechtspflege, Halle 1908, S. 190 ff.; ablehnende Stimmen: O. Hamm, Englische Justiz auf deutschem Boden?, in: DJZ 11 (1906), S. 1051 – 1058; Paul Winter, Rechtspflege, Richter und Publikum in Deutschland, Leipzig 1906 (LR in Halle); K. v. Lewinski, England als Erzieher?, in: Gruchots Beiträge 51 (1907), S. 1 – 47 (Ger.Ass.); Friedrich Stein, Zur Justizreform, Tübingen 1907 (Prof. in Halle); Otto Schmidt, Fragen der Justizreform in Zivilsachen, Paderborn 1907 (LG-Rat in Berlin; MdR, Z); O. v. Pfister, Der Reform-Ansturm gegen die bestehende Rechtsordnung, Leipzig 1907, S. 7 – 14 (LR in Darmstadt); R. Viezens, Bureaukraten und Lords, Berlin 1908, S. 100 – 200 (KG-Rat). 229 Schmollers Jahrbuch, N. F. 31 (1907), S. 1451 (Besprechung der Schriften von Lewinski und Stein). Seine anfängliche Skepsis gegenüber der Justizreform gab Kantorowicz später auf. 230 Wichtige Beiträge: Mügel, Zur Reform unserer Gerichtsorganisation, in: DJZ 11 (1906), S. 1109 – 1118 (vortr. Rat im JM); Holtgreven, Vorschläge zur Justizreform, Hannover 1906 (Auszüge in: Das Recht 10, 1906, S. 1281 – 1299; OLG-Präs. in Hamm); Henderichs, Zur Justizreform, in: Grenzboten 65 / 4 (1906), S. 125 – 132 / 185 – 191 (RG-Rat); A. Niedner, Zur Frage einer durchgreifenden Justizreform, Hannover 1907 (OLG-Rat in Kiel); Anon., Gedanken zur künftigen Beamtenpolitik in der Justiz, Berlin 1907 (AG-Rat); J. Chr. Schwartz, Erneuerung deutscher Rechtspflege, Halle 1908 (Prof. in Halle; Nachweis, daß es sich bei den Adickesschen „Rechtsgedanken“ um gutes altes deutsches Recht handelt); weiterhin: M. Rumpf, Gesetz und Richter, Berlin 1906, S. 198 f. (Ger.Ass. in Oldenburg); A. Bozi, Die Justizreform als Personenreform, in: Das Recht 11 (1907), S. 413 – 419 (OLG-Rat in Hamm).
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Deutschland herzlich wenig wußte231. Indessen dachten die Ressortchefs überhaupt nicht daran, ihre Planungen von einem Außenseiter durchkreuzen zu lassen. Im Reichstag lobte Nieberding die Vorschläge zwar als „juristisches Ereignis“, da sie in kaum vergleichbarer Weise neue Gedanken und Wünsche angeregt hätten, erteilte ihnen aber wie zuvor schon Beseler eine glatte Absage232. Andere preußische Minister brachten den Ideen, wie noch zu zeigen sein wird, ungleich mehr Sympathie entgegen. Obwohl Adickes’ Vorstoß der unmittelbare Erfolg versagt blieb, waren dessen Auswirkungen beträchtlich. Adickes gelang es, eine Reihe disparater Überlegungen und Ansätze zu einem Gesamtkonzept zu bündeln und ihre Schubkraft auf diese Weise beträchtlich zu erhöhen. Die dynamisierende Wirkung beruhte vor allem auf drei Momenten: dem Verständnis von Justizreform als Modernisierung (Entbürokratisierung und Effektivierung im Sinne ökonomischer Rationalität), der Forderung nach einer umfassenden Strukturreform und der Fokussierung auf Stellung und Persönlichkeit der Richter. So setzte 1906 die Serie Beselerscher Verfügungen ein, die das Ziel verfolgten, die Richter von bürokratischen Tätigkeiten zu entlasten, das Schreibwerk zu vermindern und den Einzug der modernen Technik in die Amtsstuben zu befördern (Schreibmaschine, Diktaphon, Telefon). Ähnliche Verordnungen ergingen für Bayern, Baden und andere Bundesstaaten233. Auch die preußische Besoldungsreform von 1907 / 08 mit ihrer Angleichung der richterlichen Gehälter sowie ihrer Gleichstellung von Richtern und Regierungsräten lag auf der Linie Adickesscher Überlegungen (wenngleich beides nur von kurzer Dauer war). Die Amtsgerichtsnovelle von 1909 erhöhte die Zuständigkeit des Einzelrichters, wenn auch nicht in dem von Adickes vorgeschlagenen Umfang. Ebenso konnten sich die Bemühungen des 1909 gegründeten Deutschen Richterbundes um eine schärfere Abgrenzung zwischen Justiz und Verwaltung in Form eines Richtergesetzes auf den Frankfurter Oberbürgermeister berufen234. Damit aber noch nicht genug: Enge Berührungspunkte bestanden zur Freirechtslehre, die eine souveränere Stellung des Richters zum Gesetz auf ihre Fahnen ge231 RJA: Bemerkungen zu Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform, von Assessor v. Simson (Juli 1906); Notiz über die Organisation der englischen Strafgerichte von Hoffmann (Direktor im RJA, 10. 11. 1906), beide in: BA, R 3001, Nr. 5297, Bl. 168 – 171, 207 f.; Notiz über die Berufung in Strafsachen in England, erneut von Simson (April 1907), in: ebd., Nr. 5298, Bl. 61 f. Preußen: Abriß des englischen Strafprozesses von Assessor Jaffé, angefertigt für Lucas, Direktor im JM (21. 6. 1906), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342. 232 Nieberding, Sten. Ber. RT, 12. 3. 1907, S. 419 f.; Beseler, Sten. Ber. AH, 15. 2. 1907, S. 782 f. 233 Preußen: AV v. 25. 4. 1906 (JMBl, S. 112); AV v. 7. 5. 1906 (JMBl, S. 139); AV v. 25. 3. 1907 (JMBl, S. 87); AV v. 7. 3. 1909 (JMBl, S. 56); AV v. 6. 6. 1909 (JMBl, S. 163); AV v. 14. 6. 1909 (JMBl, S. 207); AV v. 26. 7. 1909 (JMBl, S. 271); AV v. 24. 1. 1911 (JMBl, S. 57); Bayern: Entschl. v. 19. 7. 1905 (abgedr. in: JMBl 1914, S. 30); Bek. v. 9. 9. 1907 (JMBl, S. 237); Bek. v. 2. 10. 1908 (JMBl, S. 231); Baden: Erlaß v. 27. 4. 1908. 234 Zu den genannten Punkten unten Kap. II / 2 (Amtsgerichtsnovelle) und Kap. IV (Richterschaft).
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schrieben hatte. Adickes’ Idee aufgreifend, postulierte Ernst Fuchs, prominentester Kopf der Bewegung, 1907: „Nur Richterkönigen können wir die freie Rechtsfindung und Interessenabwägung, also die Rechtsprechung vom höheren Standpunkt wahrer Gerechtigkeit anvertrauen, die unsere niedere Begriffsjurisprudenz ablösen muß. Die dialektische Konstruktion mit ihren Interpretationskünsten für die subalterne Schreibjustiz, die freie Rechtsfindung mit ihrer Schöpferkraft für das Richterkönigtum!“235. Und last but not least: Rufe nach einer umfassenden Justizreform wurden in den folgenden Jahren immer wieder laut. Starke Beachtung fand in diesem Zusammenhang eine Schrift des stellvertretenden Augsburger Landgerichtsdirektors Max Reichert aus dem Jahre 1912. Auch Reichert sah in der inferioren Stellung des Richters den Kern allen Übels236. 4. Ebenfalls 1906 legte die SPD ihre Haltung zu den einschlägigen Fragen fest. Nach einem ausführlichen Referat von Hugo Haase beschloß der Mannheimer Parteitag einen Katalog von Forderungen zur Reform des Strafrechts, Strafprozesses und Strafvollzugs. In prozessualer Hinsicht verlangten die Sozialdemokraten: Wahl der Richter ohne Unterschied des Geschlechts durch das Volk, bis dahin Aufrechterhaltung der Schwurgerichte unter erweiterter Zuständigkeit; Einführung von Jugendgerichten; Beseitigung des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft; volle Verantwortlichkeit der Beamten für Verschulden bei der Strafrechtspflege; Beseitigung des inquisitorischen Vorverfahrens; gründliche Reform der Untersuchungshaft; unbeschränkte Beweisaufnahme; Berufung nur zugunsten des Verurteilten; Entschädigung aller ungerechtfertigt Verhafteten und all derjenigen, die freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt worden waren. Der „Vorwärts“ schrieb zu den Beschlüssen: „Noch besitzt die Sozialdemokratie nicht die politische Macht, um ihr Kulturprogramm auf dem so wichtigen Gebiete der Strafreform zu realisieren. Das wird erst dann möglich sein, wenn das sozialistische Prinzip zum herrschenden Grundsatze der Gesellschaft geworden sein wird; aber sie zeigt nicht nur Fernziele als lockende Zukunftsperspektive, sondern setzt schon gegenwärtig mit aller Kraft in Kritik und positiver Mitarbeit ein, um wenigstens die schlimmsten Schäden der kapitalistischen Strafjustiz auszuroden“237. Sieht man von dem ersten – allerdings gewichtigen – Punkt ab, so unterschieden sich die sozialdemokratischen Forderungen in der Tat nur wenig von einem klassisch linksbürgerlichen Reformprogramm. Im übrigen hielt die SPD am Ideal 235 Ernst Fuchs, Schreibjustiz und Richterkönigtum, Leipzig 1907, bes. S. 96 – 109, Zitat S. 109 (in: ders., Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform, hg. v. A. S. Foulkes, Bd. 1, Aalen 1970, S. 29 – 141); ausführlich zur Freirechtsbewegung unten Kap. II / 3. 236 Max Reichert, Die deutschen Gerichte der Zukunft, Hannover 1912; weiterhin: Kräußlich, Gerichtsverfassungs- und Strafprozeßnovelle oder umfassende Justizreform?, Hannover 1911 (LR in Düsseldorf). 237 Zit. n. Fr. Dochow, Die Sozialdemokratie und die Strafrechtsreform, in: ZStW 27 (1907), S. 115 – 120, hier S. 120; Protokoll über den Parteitag 1906, S. 378 ff. (abgedr. auch bei Schröder, Handbuch, S. 475); weiterhin dazu: W. Heine, Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug, in: Sozialistische Monatshefte 10 / 2 (1906), S. 744 – 754.
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strenger Rechtsstaatlichkeit und Gesetzesbindung fest, da ihr nur so – im Rahmen eines den Interessen der herrschenden Klasse dienenden Justizapparates und in Anbetracht der bekannten Elastizität der geltenden Normen – ein höchstmögliches Maß an Rechtssicherheit gewährleistet schien. Aus diesem Grund stand sie dem Verlangen nach einem „starken“ Richter mit weitem Ermessensspielraum oder einer Einschränkung des Legalitätsprinzips skeptisch bis ablehnend gegenüber238.
c) Fortgang und Scheitern der Reform Zurück zur Strafprozeßreform. Zwei Monate, nachdem die Strafprozeßkommission ihre Arbeit beendet hatte, wandte sich Nieberding in einer Denkschrift an die Justizminister der größeren Bundesstaaten, in der er zu den wichtigsten Beschlüssen Stellung nahm. Nieberding unterstützte das Modell einer Schöffenverfassung in erster und zweiter Instanz, wobei er die Schwurgerichte mit ähnlich leichter Hand vom Tisch wischte wie die Kommission: „Daß die Umbildung der Schwurgerichte zu schöffengerichtlichen Kollegien einen Gewinn für die Rechtspflege bedeuten würde, bedarf keiner näheren Ausführung“239. Ausführlich ging er auf die Folgen für die politische Judikatur ein. Zunächst wies er darauf hin, daß die geplante Organisation eine Reihe politischer Delikte der ausschließlichen Entscheidung durch Geschworene entziehen werde, vor allem Aufruhr, Auflauf und Landfriedensbruch und in den betreffenden Bundesstaaten die Pressevergehen. Besondere Aufmerksamkeit müßte der Besetzung der neuen Gerichte mit „hervorragend befähigten, geistig gewandten Richtern“ geschenkt werden, „um einem etwaigen sachwidrigen Einfluß des Schöffenelements vorzubeugen“. Vielleicht läge hierin auch – diese Bemerkung konnte sich Nieberding nicht verkneifen – ein Anlaß, „der Rechtsprechung in Strafsachen tüchtigere Kräfte zuzuführen, als ihr vielfach zur Zeit zugeteilt zu werden pflegen“240. In der Berufungsinstanz müßte für die Auswahl erprobter, zuverlässiger Schöffen Sorge getragen werden. Ferner hatte das Reichsjustizamt – mit Blick auf mögliche preußische Einwände – umfangreiche Berechnungen über den Schöffenbedarf angestellt. Ihr Ergebnis war, daß die erforderliche Schöffenzahl den gegenwärtigen Bedarf an Schöffen und Geschworenen nicht übersteigen würde241. 238 Zu den strafrechtlichen und strafprozessualen Vorstellungen der SPD: M. Martiny, Integration oder Konfrontation?, Bonn 1976, S. 152 – 166; Rentzel-Rothe, S. 174 – 180. 239 Denkschrift Nieberdings v. 1. 6. 1905, in: BA, R 3001, Nr. 5296, Bl. 241 – 267, Zitat Bl. 242 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8341). 240 Ebd., Bl. 243. 241 Im Jahre 1901 waren im Reich 47.652 Hauptschöffen und mindestens 13.110 Hauptgeschworene, insgesamt also 60.762 Laienrichter, herangezogen worden. Hätte die Schöffenverfassung damals bereits existiert, so wären – bei der gesetzlich vorgeschriebenen Höchstzahl von fünf Sitzungen pro Jahr – 58.243 Schöffen erforderlich gewesen. Die Kommission hatte eine Erhöhung der maximalen Sitzungszahl auf 10 vorgeschlagen, was den Schöffenbedarf auf 29.120 vermindert hätte (ebd., Anl. A, Bl. 251 – 258).
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Die durchgängige Einführung der Berufung hielt Nieberding für unumgänglich. In Anlehnung an die Kommissionsbeschlüsse schlug er vor, die Berufungsinstanz bei den Landgerichten zu installieren, flexible Regelungen (Zusammenlegung mehrerer LG-Bezirke zu einem Berufungsbezirk, OLG-Räte als Vorsitzende, äußerliche Angliederung an Oberlandesgerichte) sollten die alte Streitfrage entschärfen. Den Besetzungsvorschlägen stimmte der Staatssekretär mit zwei Ausnahmen zu: Die mittleren Schöffengerichte wollte er etwas verkleinern (3:3), das große Berufungsgericht etwas vergrößern (3:9)242. Auch mit den Änderungen in der Zuständigkeit und im Verfahrensgang war er einverstanden. Man sieht: Nieberdings Kalkül, eine überwiegend aus Praktikern bestehende, von politisch-finanziellen Erwägungen weitgehend befreite Kommission werde zu Beschlüssen gelangen, die sich grosso modo mit seinen eigenen Wünschen deckten, war beinahe restlos aufgegangen. Zum Schluß lud er zu einem vorläufigen Meinungsaustausch über die angeschnittenen Fragen nach Berlin ein. Die Konferenz, an der Vertreter der Justizverwaltungen von Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden und Hessen teilnahmen, fand am 5. / 6. 12. 1905 unter der Leitung Nieberdings im Reichsjustizamt statt. Gleich zu Beginn erklärten die preußischen Vertreter, dem Justizminister sei „zur Zeit nur eine ganz unverbindliche und vorläufige Stellungnahme möglich“, da er der Entscheidung des Staatsministeriums nicht vorgreifen wolle243. Hierbei ist zu bedenken, daß Beseler sein Amt erst zwei Wochen zuvor angetreten hatte (21. 11. 1905) und sich in einer so weitreichenden Frage noch nicht definitiv festlegen konnte oder wollte. Ferner müßten, so die preußischen Vertreter, zunächst Erhebungen darüber angestellt werden, ob in jedem einzelnen Bezirk die erforderliche Anzahl an Schöffen zur Verfügung stünde – damit waren die Berechnungen des Reichsjustizamts mit einem Schlag gegenstandslos geworden. Auch wenn die innerpreußische Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen war, zeichnete sich doch bereits deutlich die Gefahr ab, daß Preußen die Bedarfsfrage dazu benutzen könnte, unliebsame Teile des Reformprogramms auszuhebeln. Sämtliche Justizverwaltungen sprachen sich für die Umwandlung der Strafkammern in Schöffengerichte aus, wobei die preußischen Vertreter Zweifel äußerten, „ob gerade die gegenwärtige Zeit für eine solche Neuerung geeignet sei“. Preußen, Bayern und Hessen wandten sich – teils aus politischen, teils aus sachlichen Gründen – gegen die Beseitigung des Schwurgerichts. Müsse man auf einen gleichartigen Gerichtsaufbau und eine durchgängige Berufung verzichten, wurde preußischerseits angemerkt, „so stelle dies mehr einen Schönheitsfehler als einen sachlichen Mangel dar“. Demgegenüber befürworteten Sachsen, Württemberg und Der Nieberdingsche Organisationsplan findet sich in: ebd., Anl. B, Bl. 260. Protokoll der Konferenz vom 5. / 6. 12. 1905, in: BA, R 3001, Nr. 5296, Bl. 267 – 283, Zitat Bl. 268 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8341). Die preußischen Vertreter waren der Ministerialdirektor Lucas und die Oberjustizräte Fritze und Wiebe, Bayern wurde vertreten vom Generalstaatsanwalt beim Obersten Landesgericht, Ritter v. Payr. 242 243
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Baden den Kommissionsvorschlag. Damit wiederholte sich die Situation aus dem Vorfeld der Reichsjustizgesetze: Erneut war es die Koalition preußischer und bayerischer Interessen, die das Schwurgericht rettete. Eine längere Diskussion entspann sich zum Problem der schwurgerichtlichen Kompetenz in Pressesachen. Der Klage Nieberdings, die Ausnahmebestimmung hätte dazu geführt, daß den staatlichen Institutionen nicht der erforderliche Schutz gegen Beleidigungen der Presse zuteil werde, schlossen sich die Vertreter Sachsens, Württembergs und Badens an. Hierzu wurde von bayerischer Seite bemerkt, die Justizverwaltung habe keine schlechten Erfahrungen mit der Vorschrift gemacht und im Falle ihrer Beseitigung sei „ein Sturm der Entrüstung in Bayern zu befürchten“244. Gegen den Vorschlag, auch in der Berufungsinstanz Laien aufzunehmen, erhob Preußen schwere Bedenken, lehnte ihn aber (noch) nicht ab. Für die übrigen Justizverwaltungen besaß die Frage geradezu präjudizielle Bedeutung. Vorherrschende Meinung war: „Wenn überhaupt der Mitwirkung der Schöffen ein Wert für die Rechtsprechung beizulegen sei, dürfe man sie von der Berufungsinstanz nicht ausschließen“245. Der Einführung der Berufung gegen die Strafkammerurteile wurde allseitig zugestimmt, Sachsen und Baden hatten ihren gegenteiligen Standpunkt angesichts der vorherrschenden Stimmung mittlerweile aufgegeben. Alle Justizverwaltungen mit Ausnahme der bayerischen begrüßten den Vorschlag, dem Amtsrichter die Übertretungen zuzuweisen. Ansonsten gingen die Ansichten über die angemessene Besetzung auseinander: Preußen, Sachsen, Württemberg und Baden wollten die Strafkammern mit drei Richtern und vier Schöffen besetzen, Bayern und das Reichsjustizamt plädierten für drei Richter und drei Schöffen, Hessen bevorzugte zwei Richter und drei Schöffen. Nieberding hielt eine Beschränkung des Laienelements auch aus politischen Gründe für geboten, denn immerhin kämen in Preußen Landesteile in Betracht, „in denen auf eine loyale Beurteilung politischer Sachen durch die Laien nicht immer ohne weiteres gerechnet werden könne“246. Ungeteilten Beifall fand die preußische Anregung, die Spruchliste für die Geschworenen zu reduzieren. Weiterhin trat Preußen dafür ein, die Berufung gegen die Urteile des Amtsrichters nicht an ein kleines landgerichtliches Schöffengericht, sondern an die (umgewandelte) Strafkammer zu leiten; Bayern, Baden und Hessen pflichteten dem Vorschlag bei. Einverständnis herrschte darüber, die Berufungskammern der Landgerichte, zuständig für die Berufung gegen Urteile der Strafkammern, mit drei Richtern und sechs Schöffen zu besetzen, wobei Preußen, Hessen und Baden lieber vier Schöffen gesehen hätten. Weitgehend einig waren sich die Justizverwaltungen über den Zuschnitt der Kompetenzen und die Änderung des Vor- und Zwischenverfahrens. Gegen eine Einschränkung des Legalitätsprinzips votierten Preußen, Bayern und Hessen. Als unmittelbares Ergebnis der Beratungen teilte Justizminister Otto Ende Januar 1906 im sächsischen 244 245 246
Zitate ebd., Bl. 269, 270, 272. Ebd., Bl. 273. Ebd., Bl. 278.
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Landtag mit, daß die Schwurgerichte bestehen bleiben würden. Entsprechende Erklärungen gaben kurze Zeit später auch Miltner in der bayerischen Abgeordnetenkammer und Nieberding im Reichstag ab247. Infolge der dilatorischen Haltung Preußens geriet Niederding Reichstag und Öffentlichkeit gegenüber in Erklärungsnot. In einem Schreiben an Beseler mahnte er eine unverzügliche Beschlußfassung des Staatsministeriums an, um „dieser unerquicklichen und wie ich glaube auch politisch schädlichen Lage baldigst ein Ende zu machen“248. In der beigefügten, in einem drängenden Ton gehaltenen Denkschrift warnte er unverhohlen vor einer Instrumentalisierung der Bedarfsfrage. Sollte die preußische Regierung, so der Staatssekretär, eine Umwandlung der Strafkammern in Schöffengerichte ablehnen, müsse sie die Reformarbeiten wieder selbst in die Hand nehmen. Über die Haltung des Reichstags machte er sich keine Illusionen: „Die Bildung eines nur mit beamteten Richtern besetzten Berufungsgerichts dürfte die Aussichten der Reform dem Reichtage gegenüber vernichten. Denn es liegt auf der Hand, daß der Schöffengerichtsverfassung in den Augen der Bevölkerung kaum noch ein Wert beigelegt werden würde, falls der Einfluß der Schöffen auf die Entscheidung der Sache durch Berufung an ein Beamtengericht stets paralysiert werden könnte“249. In beinahe ultimativer Form faßte Nieberding schließlich die aus Sicht der Reichsverwaltung erforderlichen Schritte zusammen: unverweilte Zustimmung zur Reform, Einführung der schöffenamtlichen Verfassung in den Strafkammern, Besetzung der ersten Instanz mit drei Richtern und drei Schöffen, der zweiten mit drei Richtern und sechs Schöffen, regelmäßiger Anschluß der Berufungsgerichte an die Landgerichte. Die angekündigten Erhebungen führten zu dem von Nieberding vorhergesehenen (und befürchteten) Ergebnis. Ausgehend vom Organisationsplan der Kommission, jedoch unter Beibehaltung des Schwurgerichts, förderten sie zutage, daß in vierzehn Landgerichtsbezirken – einer im Westen und dreizehn im Osten – die erforderliche Zahl an geeigneten Schöffen nicht zur Verfügung stünde. In vier weiteren Bezirken sei der gegenwärtige Bestand gerade noch ausreichend, später müsse jedoch mit Deckungslücken gerechnet werden. Als hauptsächliche Gründe nannte eine im Justizministerium gefertigte Denkschrift den geringen Bildungsgrad, die mangelhaften Deutschkenntnisse und die fehlende Seßhaftigkeit der einheimischen Bevölkerung sowie die Belastung der geeigneteren Elemente mit sonstigen Ehrenämtern250. 247 Otto, Verh. 2. Kammer, 30. 1. 1906 (vgl. Vossische Zeitung v. 31. 1. 1906); Miltner, Verh. KdA 1905 / 06, Bd. 2, S. 136; Nieberding, Sten. Ber. RT, 23. 2. 1906, S. 1555 – 1557. 248 Nieberding an Beseler, 6. 1. 1906 (mit beigefügter Denkschrift), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8341, Bl. 313 – 324 (auch in: BA, R 3001, Nr. 5296). 249 Ebd., Bl. 324. 250 Vgl. Denkschrift über die Deckung des Laienrichterbedarfs und die finanziellen Wirkungen der Strafprozeßreform, in: BA, R 3001, Nr. 5296, Bl. 106 – 116 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342); die Erhebungen hatte Beseler per RV v. 18. 12. 1905 angeordnet. Danach mangelte es an geeigneten Schöffen in folgenden LG-Bezirken (in Klammern die OLG-
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Jetzt konnte Beseler die Katze endgültig aus dem Sack lassen. In seinem Votum von 21. 4. 1906 führte er aus, eine Verminderung der Schöffenzahl ließe sich sinnvollerweise nur erreichen, wenn man auf die Laien in den Berufungsgerichten gegen die Strafkammerurteile verzichten würde251. Diese Lösung entkräfte zugleich die politischen Bedenken, die gegen eine Aufnahme von Laienrichtern in den Strafkammern sprächen. Beseler gab sich gar keine sonderliche Mühe, den wahren Zweck der Erhebungen zu kaschieren: „Hierauf habe ich unter der Voraussetzung, daß für ein geeignetes Laienrichterpersonal bei den Strafkammern gesorgt wird und daß die endgültige Entscheidung der Tatfrage in politisch wichtigen Strafsachen in die Hände eines nur aus gelehrten Richtern gebildeten Gerichts gelegt wird, keine Bedenken gegen die Mitwirkung von Schöffen bei den Strafkammern. Die letzte Forderung wird allerdings gestellt werden müssen, und sie dürfte durchzusetzen sein, weil das vorhandene Schöffenmaterial zur Besetzung auch der Berufungsgerichte nicht ausreicht und dies zahlenmäßig zu beweisen ist“ – quod erat demonstrandum, wie man hinzufügen könnte252. Beselers Organisationsplan hatte folgende Gestalt: Amtsrichter – Berufung an die Strafkammer (3 Richter); kleines Schöffengericht (1:2) – Berufung an die Strafkammer (3:3); Strafkammer erster Instanz (3:3) – Berufung an die Berufungskammer (5 Richter); Schwurgericht (unverändert). Der Ausschluß der Laien aus der untersten Stufe besaß auch eine eminent politische Seite: Da der Amtsrichter künftig für alle Übertretungen zuständig sein sollte, unterlag eine größere Gruppe politisch gefärbter Sachen (grober Unfug, Verstöße gegen Polizeiverordnungen und Arbeiterschutzbestimmungen) allein der berufsrichterlichen Entscheidung. Daß für die Berufungsgerichte mittlerer Ordnung weiterhin Laien vorgesehen waren – jetzt ohnehin nur noch eine Halbheit – war wohl in erster Linie dazu gedacht, das Modell ein wenig schmackhafter zu machen. Nieberding erklärte notgedrungen sein Einverständnis, nicht ohne noch einmal seine Einwände hervorzuheben und zu betonen, daß der festgestellte Schöffenmangel „wider meine Erwartung“ aufgetreten und in den Verhandlungen der Kommission „von keinem der preußischen Sachverständigen“ vorausgesehen worden sei253. Damit hatte sich, nach Art eines Bezirke): Oppeln (Breslau), Essen (Hamm), Allenstein, Lyck, Memel, Tilsit (Königsberg), Könitz, Thorn (Marienwerder), Bromberg, Lissa, Meseritz, Ostrowo, Schneidemühl (Posen), Köslin (Stettin); die Fehlbeträge schwankten zwischen 32 (Lissa) und 2.159 (Essen) Personen; gerade noch gedeckt war der Bedarf in Gleiwitz, Braunsberg, Gnesen und Stolp. Die Mehrkosten bezifferte die Denkschrift je nach Besetzung der Berufungskammern auf 3.822.820 bzw. 2.862.600 Mark. 251 (Zweites) Votum Beselers v. 21. 4. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5296, Bl. 100 – 105 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342). In seinem ersten Votum v. 25. 1. 1906 hatte sich Beseler auf die Bemerkung beschränkt, er stünde einer Umwandlung der Strafkammern in Schöffengerichte nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber (in: BA, R 3001, Nr. 5296, Bl. 31 – 34; ebenso in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8341). 252 Votum Beselers v. 21. 4. 1906, Bl. 104. 253 Nieberding an Bülow, 4. 5. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5296, Bl. 120 f., Zitate Bl. 120 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342).
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Déjà-Vu-Erlebnisses, die Situation von 1876 wiederholt: Aus handfest politischen Motiven sabotierte die preußische Regierung die durchgängige Einführung von Laiengerichten, wobei das angeblich fehlende Personal den Vorwand abgab und die Provinzialjustizbehörden als Hilfstruppen herhalten mußten. In der Folgezeit nahmen verschiedene preußische Minister zur Reformfrage Stellung. Unter den Voten ragen die von Innenminister Bethmann Hollweg und Finanzminister Rheinbaben heraus, die beide den Charakter eigenständiger Abhandlungen zur Justizreform besitzen. Zugleich lassen sie den starken Widerhall erkennen, den die Adickesschen Ideen in preußischen Ministerialkreisen fanden. Bethmann Hollwegs Votum zeichnet sich durch eine antipopuläre, dem Zeitgeist strikt zuwiderlaufende Argumentation aus. Der Innenminister bejaht die Dringlichkeit einer Reform, allerdings nicht aus äußerlichen, sondern rein sachlichen Gründen, namentlich der übermäßigen Inanspruchnahme der Strafgerichte und der sinnwidrigen Anordnung der Rechtsmittel. Ziel seiner Kritik ist das Prinzip aller amtlichen Reformvorschläge, die verstärkte Laienbeteiligung. Gegen sie sprächen schon praktische Gründe, nämlich die unerträgliche Belastung bestimmter Bevölkerungskreise. Bethmann Hollweg geht aber viel weiter: Er wendet sich gegen das gängige Vorurteil vom Wert der Laienbeteiligung als solcher, idealtypisch verkörpert in den Kommissionsbeschlüssen, die auf einer „Unterschätzung des Standes der gelehrten Richter“ beruhen würden254. Unter Berufung auf Adickes („höchst beachtenswerte Ausführungen“) plädiert er stattdessen für eine bessere Auswahl der Berufsrichter bei gleichzeitiger Reduzierung des Richterbedarfs, vor allem durch weitgehende Ausbildung des Einzelrichtertums, Beschränkung der Rechtsmittel und sparsame Besetzung der Kollegialgerichte. Diese Maßregeln, „die von der öffentlichen Meinung mit Recht als Minderungen des Rechtsschutzes aufgefaßt werden würden, würden diese Bedeutung verlieren, wenn anstelle der wesentlich formellen Rechtsgarantien durch die Besetzung schon der erstinstanzlichen Gerichte mit hervorragenden praktisch und wissenschaftlich gebildeten, von dem Vertrauen der Bevölkerung getragenen Richtern ein weitaus höher zu bewertender materieller Rechtsschutz geschaffen würde“255. Mehr noch: Schonungslos rechnet Bethmann Hollweg mit der Vorstellung eines „Rechtsbewußtseins des Volkes“ ab, das mit den Laien in die Gerichtshöfe einziehen würde. In seinen Augen handelt es sich um eine reine Fiktion, beruhend auf 254 Votum Bethmann Hollwegs v. 31. 5. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5297, Bl. 125 – 133, Zitat Bl. 128 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342). „Allein es kann nicht zugegeben werden, daß die gerügte bureaukratische und engherzige Handhabung der richterlichen Gewalt sich als charakteristisches Merkmal des berufsmäßigen Richterstandes darstelle“ (ebd.). 255 Ebd., Bl. 129. „Es ist zu hoffen, daß, wenn schon in der ersten Instanz nur Richter amtieren, die ihrer Befähigung, ihrer Erfahrung, ihrem Alter und ihrem äußeren Ansehen nach etwa auf dem Niveau der Oberlandesgerichtsräte stehen und deren Besoldung der Bedeutung ihres Amtes entsprechend geregelt werden müßte, die Rechtsprechung allen billigen Anforderungen genügen würde, ohne daß es einer weiteren Heranziehung des Laienelementes bedarf“ (ebd.).
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der völligen Verkennung der politischen und sozialen Befangenheit der Laien, die ihrerseits die Integrität der Rechtsprechung – der politischen wie der nichtpolitischen – in hohem Maße gefährde: „Nicht das wahre Rechtsbewußtsein des Volkes würde in der Rechtsprechung zum Worte gelangen, sondern die jeweilige als ein Ergebnis der Klassenkämpfe und der politischen Agitation sich darstellende Geistesströmung, die nur zu oft mit einer Verwirrung des Rechtsbewußtseins verbunden ist und weit ab von den Grundsätzen der wahren Gerechtigkeit liegt. Es braucht nur auf die nationalpolitischen Gegensätze innerhalb der Ostmarken, auf die Zustände in Gegenden, in welchen die Gemüter durch die welfische, dänische oder eine antisemitische Agitation in Leidenschaft versetzt sind oder in denen erbitterte Lohnkämpfe Arbeitgeber und Arbeitnehmer in feindliche Lager geschieden haben, verwiesen zu werden, um die Gefahren, welche aus der Durchsetzung der Rechtsprechung mit dem aus solchen Zuständen sich ergebenden ,Rechtsbewußtsein des Volkes‘ erwachsen, in das rechte Licht zu setzen“. Nähme der „von den Massen ausgeübte Terrorismus“ weiter zu, so werde er auch die Unabhängigkeit der Laienrichter in Frage stellen. Schließlich werde, da die Sozialdemokraten auch künftig von der Rechtsprechung auszuschließen seien, der „völlig ungerechtfertigte Vorwurf der Klassenjustiz“ auch einem reformierten Verfahren gegenüber nicht verstummen. Aus den genannten Gründen sprach sich Bethmann Hollweg „ganz entschieden“ gegen eine Erweiterung des Schöffensystems aus und plädierte insbesondere dafür, sämtliche Berufungen gegen schöffengerichtliche Urteile berufsrichterlichen Kollegien zu überweisen256. In prozessualer Hinsicht setzte er sich für eine prompte Justiz, erweiterte Kompetenzen des Einzelrichters, den Ausschluß der Berufung bei geringfügigen Sachen und eine erhebliche Einschränkung des Legalitätsprinzips ein. Das Votum von Finanzminister Rheinbaben ergänzte die Ausführungen Bethmann Hollwegs nach der konkreten Seite hin. Rheinbaben setzte konsequent bei der öffentlichen Mißstimmung an, gelte es doch, „das anscheinend zum Teil wankend gewordene Vertrauen des Volkes in die Strafrechtspflege zu festigen“257. Eine besondere Dringlichkeit konnte er indes nicht erkennen, zumal die Reformfrage noch eingehender Erörterungen bedürfe. Im Anschluß an Adickes („höchst bedeutungsvolle Schrift“) trat auch er für eine Verminderung und sorgfältigere Auswahl der Richter ein, und zwar sowohl der Berufs- als auch der Laienrichter. Weiterhin sei „zur wahren Volkstümlichkeit der Strafgerichtsbarkeit erforderlich, daß die gesamte Gerichtsorganisation konsequent, einfach und übersichtlich gestaltet und damit dem Verständnis des Volkes nahegebracht wird“. Im Interesse „der Wahrung der Staatsautorität, insbesondere des Ansehens der Gerichtshoheit“ sei ferner „eine einfache und straffe Gestaltung des Verfahrens und die Ausstattung des Gerichts und seines Vorsitzenden mit solchen Machtbefugnissen geboten, daß eine schnelle Alle Zitate ebd., Bl. 131. Votum Rheinbabens v. 14. 6. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5297, Bl. 134 – 145, Zitat Bl. 135 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342). 256 257
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und energische Strafverfolgung gewährleistet wird“258. Zugleich lagen die Zielvorgaben – der Finanzminister hob dies gebührend hervor – im fiskalischen Interesse. Von diesen Prämissen ausgehend, nahm Rheinbaben zu den wichtigsten Reformfragen Stellung. Einer Mitwirkung von Laien in den erstinstanzlichen Strafkammern vermochte er nur unter Bedenken zuzustimmen. In diesem Fall sei die Berufung imgrunde überflüssig, zumindest aber an eine Reihe von Kautelen zu binden (Ausschluß bei einstimmigem Urteil in der ersten Instanz, Anschlußberufung des Staatsanwalts auch nach Ablauf der Berufungsfrist, Rechtfertigungsschrift, Einschränkung der Mündlichkeit in der Verhandlung). Von der Berufungsinstanz müßten die Laien in jedem Fall ausgeschlossen bleiben. Die Berufung gegen die Urteile der kleinen Schöffengerichte sollte – wie diejenige gegen die Urteile des Amtsrichters – an die mit drei Berufsrichtern besetzte Strafkammer gehen. Für die Strafkammern erster Instanz befürwortete Rheinbaben eine Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei Laien, höchstens zwei Richtern und zwei Laien, für die Berufungsgerichte eine solche mit drei oder vier Richtern. Die Geschworenenbank wollte er auf neun, die Spruchliste – unter Einschränkung des Ablehnungsrechts des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft – auf 15, höchstens 20 Personen verkleinern. Weiterhin hielt er eine Beschränkung der Revision für angebracht. Über den Umfang der Beweisaufnahme in erster und zweiter Instanz sollte das Gericht nach freiem Ermessen entscheiden. Schließlich setzte sich auch Rheinbaben für eine spürbare Beschränkung des Legalitätsprinzips ein; den Vorwurf der Parteilichkeit oder der Klassenjustiz fürchtete er dabei nicht. Beeindruckt das Votum des Innenministers durch selbständiges Urteilsvermögen und hohes Reflexionsniveau, so das des Finanzministers durch die konsequente Umsetzung Adickesscher Grundsätze. Ähnlich wie bei der Strafrechtsnovelle trat Rheinbaben als sachkundiger und selbstbewußter Gegenspieler der beiden Fachminister auf. In seiner Entgegnung bezog Beseler zunächst entschieden Front gegen die Adikkesschen Ideen. Dabei bediente er sich derselben Methode wie die übrigen Kritiker: Er unterstellte Adickes die Absicht, die englischen Institutionen auf Deutschland übertragen zu wollen, um dann gegen dieselben zu polemisieren. Mit Bezug auf eine vernichtende Kritik Belings gelangte er zu folgendem Urteil: „Ein Prozeß im wesentlichen ohne Rechtsmittel, mit fast ausnahmsloser Verhaftung des Angeschuldigten auch in den einfachsten Sachen, mit ausgedehnter Verwendung eines vielfach mit diskretionären Befugnissen ausgestatteten Einzelrichtertums und einem sehr weitgehenden, ja ausschlaggebenden Einflusse des vorsitzenden Richters auf die Entscheidungen der Jury ist für deutsche Verhältnisse und Anschauungen in dem Grade eine Unmöglichkeit, daß sich eine nähere Erörterung hierüber erübrigt“259. Ferner schloß er sich der Forderung an, die Berufungsgerichte für die Urteile des kleinen Schöffengerichts mit drei gelehrten Richtern zu besetzen. DaEbd., Bl. 136. (3.) Votum Beselers v. 26. 6. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5297, Bl. 146 – 153, Zitat Bl. 148 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342). 258 259
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mit hatte der Diskussionsprozeß einen entscheidenden Wendepunkt erreicht: Die Laien waren vollständig aus den Berufungsgerichten eliminiert, was die Prozeßreform für Preußen akzeptabel machte. Die übrigen Vorschläge des Finanzministers wies Beseler – teils aus juristischen Gründen, teils mit Blick auf den Reichstag – zurück. Auch Nieberding wandte sich gegen die Ausführungen des Finanzministers. Nachdrücklich warnte er vor einer weiteren Verzögerung der Reformarbeiten. Gegen den kompletten Ausschluß der Laien aus der Berufungsinstanz erhob er – hier dürfte eine gehörige Portion Resignation mit im Spiel gewesen sein – keinen Einspruch. Unverzichtbar sei es allerdings, über die Berufung gegen die Urteile der kleinen Schöffengerichte auch in Zukunft fünf Richter entscheiden zu lassen: „Die ganze Reform ist überhaupt nur möglich, wenn eine Vermehrung, nicht eine Verminderung der Rechtsgarantien das Ziel bildet“260. In seiner Antwort bekräftigte Rheinbaben sowohl seine generelle Lagebeurteilung als auch seine konkreten Wünsche. Beselers forcierte Adickes-Kritik ließ er mit der schlichten Bemerkung ins Leere laufen, weder Adickes noch er hätten den Vorschlag gemacht, englische Einrichtungen auf Deutschland zu übertragen; ersterer würde sich gegen den Vorwurf sogar ausdrücklich verwahren261. In den folgenden Monaten verhinderten Innen- und Finanzminister, daß sich das Staatsministerium noch vor Wiedereröffnung des Reichstags mit dem Thema beschäftigte. Dadurch wurde Nieberding, der seine Rechnung ohne den – preußischen – Wirt gemacht hatte, immer mehr zum Opfer seiner eigenen Verschleppungstaktik. Im November gab Bülow seinem Drängen endlich nach, die Reformfrage, die „ohne politischen Schaden nicht länger in der Schwebe gehalten werden“ könne, auf die Tagesordnung des Staatsministeriums zu setzen262. Mittlerweile hatten sich die beiden Chefs der Justizressorts in den noch offenen Fragen auf eine gemeinsame Linie geeinigt: Die Berufungskammern gegen die Urteile der kleinen Schöffengerichte sollten ebenfalls mit fünf Richtern besetzt, die Spruchliste der Geschworenen – unter entsprechender Änderung des Verfahrens – auf etwa 20 Personen verkleinert werden263. Nieberdings Kalamitäten nahmen noch zu, als Bassermann nach Zusammentritt des Reichstags im Namen der nationalliberalen Fraktion Auskunft über den Stand der Reformarbeiten verlangte264. In einem Schreiben an Bülow legte der Staatssekretär dar, daß eine schwächere Besetzung der Gerichte 260 Stellungnahme Nieberdings v. 2. 7. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5297, Bl. 163 – 167, Zitat Bl. 166 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342). 261 (2.) Votum Rheinbabens v. 12. 7. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5297, Bl. 182 – 186 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342). 262 Nieberding an Bülow, 26. 10. 1906; Voten des Präsidenten des StM (Bülow) v. 5. 11. und 24. 11. 1906, alle in: BA, R 3001, Nr. 5297, Bl. 212 – 214 (Zitat Bl. 213), Bl. 221 f. und Bl. 240 (alle auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342). 263 Anlage zum Votum Bülows v. 24. 11. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5297, Bl. 245 f. (Übersicht über den Votenwechsel). 264 Interpellation Bassermann v. 30. 11. 1906, Sten. Ber. RT 1905 / 07, Drks. Nr. 589.
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für den Reichstag schlechterdings unannehmbar wäre. Ins Auge fällt vor allem seine Begründung, die ein bemerkenswertes Verständnis für die größeren historischen Zusammenhänge verrät: „Der Reichstag steht auch heute noch, unter den vorherrschenden Erinnerungen an die Vorgänge während des preußischen Verfassungs- und des preußischen Kirchenkonflikts, unter dem Eindrucke, daß es stärker besetzter Gerichtskollegien bedürfe, um die gerichtlichen Entscheidungen dem Einflusse der Verwaltung zu entziehen. Dem Zentrum und der liberalen Seite des Hauses gegenüber ist jeder Versuch, diese Eindrücke zu verwischen, einstweilen noch vergeblich“265. Die unerwartete Auflösung des Reichstags (13. 12. 1906) befreite den Staatssekretär dann zunächst aus der Bredouille. Als das Staatsministerium am 8. 3. 1907 endlich über die grundlegenden Reformfragen beriet, plädierte Rheinbaben abermals für eine dilatorische Haltung gegenüber dem Reichstag, stieß damit aber auf Ablehnung. Gegen die Umwandlung der Strafkammern in Schöffengerichte erhob sich kein prinzipieller Widerspruch mehr, wobei alle Diskutanten auf die Korrektivfunktion der Berufungsinstanz in politischen Sachen hinwiesen. In der Besetzungsfrage gingen die Ansichten nach wie vor auseinander: Rheinbaben hielt an einer Besetzung der Strafkammern mit einem Richter und zwei Schöffen fest, vor allem aus Gründen des richterlichen Ansehens. Bei dem Vorschlag der Justizressorts (3 Richter, 3 Schöffen) werde „das Laienelement durch das richterliche vollständig paralysiert, während der Reichstag gerade eine stärkere Vertretung des Laienelements haben wolle“. Bethmann Hollweg und Handelsminister Delbrück schlossen sich dem Finanzminister an. Posadowsky stellte fest, daß sich allmählich „ein wahrer Widerwille gegen die Übernahme von Selbstverwaltungsämtern“ herausgebildet habe, und regte an, die parlamentarischen Aussichten der kleinen Besetzungslösung zu sondieren. Dem stimmten die Minister zu. Ferner beschloß das Staatsministerium die Einführung der Berufung gegen die Urteile der Strafkammern, allerdings mit Ausnahme ganz geringfügiger Sachen266. Umgehend wandte sich Nieberding an Bassermann mit der Bitte, die Stimmungslage der liberalen Parteien zu eruieren. In der Staatsministerialsitzung vom 23. 3. 1907 erstattete er über die Ergebnisse Bericht. Danach hätten sich alle liberalen Gruppierungen (Volkspartei, die beiden freisinnigen Parteien und die Nationalliberalen) gegen eine Besetzung der Strafkammern mit weniger als fünf Richtern ausgesprochen, Bassermann selbst betrachte die Reformpläne von Adickes „mehr oder weniger als Phantasien“. Nunmehr ließ Rheinbaben seine Forderung fallen und plädierte stattdessen für zwei Richter und drei Schöffen. Daraufhin einigte sich das Kabinett auf ein fünfgliedriges Kollegium. Die Absicht, die Be265 Nieberding an Bülow, 1. 12. 1906, in: BA, R 3001, Nr. 5297, Bl. 249 f., Zitat Bl. 250 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342). 266 Prot. StM, 8. 3. 1907 (Auszug), in: BA, R 3001, Nr. 5298, Bl. 1 – 8, Zitate Bl. 4, 5 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8343). Wenige Tage später informierte Nieberding den Reichstag über die Beschlüsse (Sten. Ber. RT, 12. 3. 1907, S. 419 ff.); dazu auch Adickes, Verständigung, S. 52 ff.
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rufungsinstanz ausschließlich mit gelehrten Richtern zu besetzen, hatte Nieberding bei seiner Sondierung wohlweislich verschwiegen, er sah jedoch voraus, „daß sie stürmischen Widerspruch erregen werde“. Die endgültige Beschlußfassung (einschließlich der noch offenen Fragen) behielt sich das Staatsministerium bis nach Abschluß der neuerlichen Beratungen mit den übrigen Justizverwaltungen vor, die infolge der gründlich veränderten Sachlage notwendig geworden waren267. Zu den Beratungen, die unter der Leitung Nieberdings vom 3. bis 6. 6. 1907 stattfanden, waren die im Justizausschuß des Bundesrats vertretenen Regierungen sowie die Justizverwaltung Elsaß-Lothringens geladen268. Faktisch handelte es sich um eine Neuauflage der Konferenz vom Dezember 1905, so daß durch das preußische Verhalten eine Verzögerung von genau 18 Monaten eingetreten war. Zum warmen Fürsprecher einer Laienbeteiligung in der Berufungsinstanz machte sich der bayerische Abgesandte Treutlein-Mördes. Nur unter dieser Voraussetzung habe die Reform Aussicht auf Erfolg: „In der Ausschaltung der Laien für die endgültige Entscheidung werde man den Ausdruck des Mißtrauens gegen die Laienrechtsprechung finden, und die jetzt schon oft gehörten Vorwürfe der Klassenjustiz, der Weltfremdheit und des Formalismus würden sich verschärfen“. Vielleicht werde sich bei einer anderen Organisation eine Besetzung mit Laien doch ermöglichen lassen, „insbesondere wenn man bei der Auswahl der als geeignet erachteten Personen nicht zu ängstlich verfahre und namentlich auch den Arbeiterstand in stärkerem Maße berücksichtige“269. Während sich die Vertreter Lübecks und Schwarzburg-Rudolstadts den Ausführungen anschlossen, wurde von sächsischer, württembergischer und hessischer Seite erklärt, daß man den Standpunkt im Prinzip zwar teile, sich angesichts der Gegebenheiten aber bescheiden müsse. Baden und Braunschweig traten hingegen auf die Seite Preußens. In der Frage der Strafkammerbesetzung ergab sich folgendes Bild: Elsaß-Lothringen favorisierte drei Richter und vier Schöffen, Sachsen drei Richter und drei Schöffen, Preußen, Bayern, Hessen und Lübeck sprachen sich für zwei Richter und drei Schöffen aus, Württemberg, Baden und Braunschweig für drei Richter und zwei Schöffen. An dieser Stelle unternahm Nieberding einen letzten Rettungsversuch, in dem insofern eine gehörige Portion Wut steckte, als es ihm vor allem darum ging, daß die preußischen Vertreter die Maske fallen ließen: Er brachte die Möglichkeit ins 267 Prot. StM, 23. 3. 1907 (Auszug), in: BA, R 3001, Nr. 5298, Bl. 9 f. (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8343). 268 Grundlage der Verhandlungen bildeten die „Vorschläge zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung“, die im RJA zusammengestellt und gemeinsam mit der Einladung verschickt worden waren; vgl. das Rundschreiben Nieberdings v. 15. 4. 1907, in: BA, R 3001, Nr. 5298, Bl. 104 ff. (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8342); Protokoll der Konferenz, in: BA, R 3001, Nr. 5298 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8343). Durch eine Indiskretion wurden die Ergebnisse der Beratung der „Kölnischen Zeitung“ bekannt, die sie am 3. / 4. 7. 1907 veröffentlichte; in einem Schreiben an Beseler vom 4. 7. drückte Nieberding sein Bedauern darüber aus (GStA, Rep. 84a, Nr. 8343). 269 Prot. v. 3. 6. 1907, S. 3 / 4.
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Gespräch, die erstinstanzlichen Gerichte nur mit zwei Schöffen zu besetzen, um auf diese Weise zwei Schöffen für die Berufungsinstanz aufzusparen. Bayern und Lübeck erklärten sich mit der Lösung einverstanden, woraufhin die preußische Seite – wiederum auf Drängen Nieberdings – zusagte, überschlagsweise eine Schätzung vorzunehmen270. Das Ergebnis konnte niemanden überraschen: Ganz am Ende der Verhandlungen erklärte ein preußischer Vertreter, die Berechnungen hätten ergeben, daß bei normalem Geschäftsanfall der Laienbedarf in den problematischen Bezirken gerade noch gedeckt sei, bei der zu erwartenden Steigerung der Berufungen aber nicht mehr ausreiche. Gerade in Industriegebieten würden Ausstände von Zeit zu Zeit eine außerordentliche Erhöhung der Geschäftslast herbeiführen, bei der es völlig unmöglich wäre, die erforderliche Zahl an Laienrichtern aufzubringen. Von daher sehe sich die preußische Justizverwaltung außerstande, den Vorschlag anzunehmen271. Wenigstens diesen „kleinen Triumph“ durfte Nieberding mithin feiern. Den Verzicht auf Laien vorausgesetzt, waren sich alle Beteiligten darin einig, die Berufungsgerichte für die Urteile des Amtsrichters mit drei Richtern, diejenigen für die Urteile der Strafkammern mit fünf Richtern zu besetzen. Als Berufungsgericht für die Urteile der kleinen Schöffengerichte erachteten alle Justizverwaltungen ein dreigliedriges Kollegium für ausreichend, mit Ausnahme von Bayern, das fünf Richter bevorzugte. Anders als bei der Konferenz von 1905 fiel das Votum zugunsten des Schwurgerichts beinahe einstimmig aus, nur die reichsländischen Kommissare meinten, auf die damalige preußische Bemerkung anspielend, die Beibehaltung der Jury „bedeute nicht nur einen Schönheitsfehler, sondern die Aufgabe des Hauptgedankens der neuen Organisation“272. Auch mit dem flexibilisierten Organisationsmodell für die Berufungsgerichte war man allseitig zufrieden. Einverständnis herrschte ebenso über den neuen Zuschnitt der Zuständigkeiten. Angesichts „des „herrschenden Mißtrauens gegen die Staatsanwaltschaft“ sprachen für Bayern politische Bedenken gegen die Absicht, die Entscheidung, ob eine Strafsache von der Strafkammer an das Schöffengericht überwiesen werden solle, ausschließlich dem Staatsanwalt zu übertragen. Die Anregung, eine Mitwirkung des Gerichts vorzusehen, fand jedoch keine Unterstützung273. Umstritten war die Regelung über den erleichterten Ausschluß der Öffentlichkeit bei von Amts wegen erhobenen Beleidigungsklagen. Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden und Elsaß-Lothringen plädierten für die Befugnis des Gerichts, die Öffentlichkeit auf Antrag eines Prozeßbeteiligten auszuschließen. Dagegen unterstützten Hessen, Braunschweig und Lübeck den Vorschlag des Reichsjustizamts, der den anderen Prozeßbeteiligten das Recht einräumte, dem Antrag zu widersprechen. 270 271 272 273
Ebd., S. 13. Prot. v. 6. 6. 1907, S. 20 f. Prot. v. 3. 6. 1907, S. 14. Ebd., S. 24.
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Von den zahlreichen strafprozessualen Aspekten sei die Diskussion über das Legalitätsprinzip herausgegriffen, über dessen Einschränkung oder gänzliche Beseitigung (Übergang zum Opportunitätsprinzip) in Fachkreisen heftig gestritten wurde274. Das Reichsjustizamt hatte vorgeschlagen, bei Beschuldigten unter achtzehn Jahren öffentliche Klage nur dann zu erheben, wenn öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestünde, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein Verbrechen, ein Vergehen oder eine Übertretung handele. Anderenfalls sollte die Staatsanwaltschaft die Sache dem Vormundschaftsgericht vorlegen, das über die weiteren Maßnahmen (Beaufsichtigung, Zuchtmittel etc.) zu entscheiden hätte. Abgesehen von Preußen stimmten alle Justizverwaltungen dem Gedanken zu, das Legalitätsprinzip gegenüber Jugendlichen einzuschränken. Indes machte der braunschweigische Vertreter gegen den Vorschlag geltend, daß er „der Staatsanwaltschaft eine zu große Verantwortung aufbürde und leicht zu dem Vorwurfe der Klassenjustiz führen werde“, und auch sein Lübecker Kollege bemängelte, „daß es für die Feststellung, ob ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestehe, an objektiven Merkmalen fehle“. Baden wollte die Altersgrenze auf vierzehn Jahre herabsetzen, da die frühe Selbständigkeit und die häufig ungünstigen Familienverhältnisse jugendlicher Arbeiter zur Folge hätten, daß eine Strafverfolgung von Übeltätern aus besseren Kreisen meist unterbliebe. Dann werde der Vorwurf der Klassenjustiz „zwar sachlich unberechtigt, aber doch mit einem Scheine des Rechtes erhoben werden“275. Auf hessischer, reichsländischer und preußischer Seite trat man den Bedenken bei. In der darüber hinausgehenden Frage, ob das Legalitätsprinzip, wie von der Reformkommission befürwortet, bei Übertretungen überhaupt zu beseitigen sei, gingen die Meinungen auseinander: Bayern, Sachsen, Lübeck, Baden und Braunschweig befürworteten den Gedanken, maßgeblich deshalb, weil die Polizeibehörden in der Praxis schon jetzt, und zwar unter voller Billigung der öffentlichen Meinung, nach dem Opportunitätsprinzip verfahren würden. Dagegen lehnten Württemberg, Hessen und Elsaß-Lothringen jede weitere Durchbrechung der Strafverfolgungspflicht – wegen der Gefahr parteiischer Handhabung – strikt ab. Der reichsländische Vertreter fügte hinzu, daß „zahlreiche Polizeiverordnungen dann toter Buchstabe bleiben würden“, gerade bei Übertretungen von Polizeiverordnungen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung aber fast immer gegeben sei276. Preußen schwebte eine viel allgemeinere Lösung vor, dergestalt, daß die Staatsanwaltschaft bei allen Straftaten über einen größeren Ermessensspielraum verfügen sollte – ein Gedanke, für den sich der bayerische Vertreter durchaus er274 Für Einführung des Opportunitätsprinzips und der subsidiären Privatklage: Aschrott, Generalreferat, S. 74 – 80; Carl Kade, Unbedingte oder bedingte Strafverfolgungspflicht?, Hannover 1909 („Es ist wahrlich an der Zeit, daß auch in Deutschland eine größere Freiheit in der Strafrechtspflege einzieht und nicht die starre Gesetzesvorschrift des § 152 Abs. 2 StPO ferner ,ohne Gnade und Barmherzigkeit‘ herrscht“, S. 34); zur fachinternen Debatte: Carsten, S. 89 ff., 96 ff. 275 Prot. v. 5. 6. 1907, S. 2, 3, 4. 276 Ebd., S. 9.
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wärmen konnte. Ein konkreter Formulierungsvorschlag wurde preußischerseits allerdings nicht vorgelegt. Die Stellungnahmen verraten die tiefen Spuren, die die öffentliche Kritik in den Justizverwaltungen hinterlassen hatte, spiegeln aber auch die starren Fronten in der Debatte wider, in der sich Gegner und Befürworter einer Abschwächung des Legalitätsprinzips ungefähr die Waage hielten. Erstere befürchteten ein Nachlassen der Strafverfolgung, aber auch eine rein politische Ausübung des Anklagerechts, letzteren ging es um eine liberalere Praxis, aber auch um Entlastung der Staatsanwaltschaft. Der fertige Entwurf der GVG-Novelle ging dem Staatsministerium am 23. 11. 1907 zu277. Wichtige Regelungen betrafen: Besetzung der Strafkammern mit zwei Richtern und drei Schöffen, der Berufungsstrafkammern (gegen die Urteile der Amtsgerichte) mit drei Richtern und der Berufungssenate (gegen die Urteile der Strafkammern) mit fünf Richtern; Besetzung der Senate des Reichsgerichts mit mindestens fünf Mitgliedern (statt der bisherigen sieben); Bildung von Jugendgerichten mit besonders qualifizierten Schöffen (als Abteilungen der Amtsgerichte); Reduzierung der Spruchliste auf 22 Geschworene; Auswahl der Landgerichtsschöffen nach den Vorschriften für die Geschworenen; Zulassung der Volksschullehrer zum Schöffen- und Geschworenendienst; Entschädigung für Laienrichter; Ausschluß der Öffentlichkeit in Beleidigungsprozessen auf Antrag eines Prozeßbeteiligten (hier hatte der erste Moltke-Harden-Prozeß den Ausschlag gegeben). Der Zulassung der Volksschullehrer, durch die sich die Zahl geeigneter Laien wesentlich erhöhte, lagen taktische Überlegungen zugrunde. In der beigefügten Denkschrift hieß es, man müsse verhüten, „daß im Laufe der Verhandlungen über das Gesetz der Kreis der verfügbaren Personen durch Heranziehung neuer Kategorien erheblich erweitert und alsdann unter Hinweis auf die dadurch bewirkte Vermehrung des Materials die Besetzung der Berufungsgerichte mit Laien verlangt wird“278. Zu dem Entwurf äußerten sich der Außenminister, der Justizminister, der Innenminister, der Kultusminister und der Finanzminister279. Die Grundsätze, die Rheinbaben an den Anfang seines Votum stellte, verbanden Adickessche Ideen mit dem Laienpostulat: „Bei der Revision des Gerichtsverfassungsgesetzes gilt es m. E., den Erwartungen weiter Kreise entsprechend durch Dezentralisation und Vereinfachung der Gerichtsorganisation den Anforderungen der modernen Entwicklung gerecht zu werden und dadurch sowie durch weitere Beteiligung des Laienelements an der Rechtsprechung das allgemeine Vertrauen auf eine gute Strafrechtspflege zu festigen und das Ansehen des Richterstandes zu heben“280. Nachdem es Nieber277 Schreiben Bülows v. 23. 11. 1907, in: BA, R 3001, Nr. 5299, Bl. 61 – 97 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 780). 278 Denkschrift zum GVG-Entwurf, S. 28 f. Das Statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich wies 1907 insgesamt 124.027 vollbeschäftigte Lehrer an Volksschulen aus. Zum Vergleich: 1904 betrug die Zahl der erwählten Haupt- und Hilfsschöffen im Reich 66.714, die Zahl der zu Geschworenen vorgeschlagenen Personen 81.202 (Denkschrift, S. 30). 279 Sämtliche Voten in: BA, R 3001, Nr. 5299 sowie in: GStA, Rep. 84a, Nr. 780. 280 Votum Rheinbabens v. 11. 2. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5299, Bl. 28 – 30, Zitat Bl. 28.
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ding gelungen war, die meisten Differenzpunkte zu beseitigen, blieben für die Staatsministerialsitzung v. 2. 5. 1908 nur noch zwei Fragen zu klären: die personelle Stärke der Gerichte und die Zulassung der Volksschullehrer zum Laienrichteramt281. Entgegen den früheren Beschlüssen war Innenminister Moltke auf die kleinen Besetzungszahlen für die Gerichte (Strafkammer: 1:2; Berufungssenate: 3) zurückgekommen. Bei der Aussprache im Staatsministerium, bei der es nur um die Strafkammerbesetzung ging, hielt Moltkes Vertreter zwar prinzipiell am Dreiermodell fest, wollte angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag aber nicht darauf beharren. Auch Rheinbaben redete noch einmal der kleinen Lösung das Wort, gab seinen Widerstand jedoch ebenfalls auf. Er trauerte vor allem der verpaßten Chance nach: „Von allen Seiten werde der Wunsch laut, die Organisation der Behörden zu vereinfachen; sobald sich aber die Gelegenheit biete, den Wunsch zur Tat werden zu lassen, versage man“282. Nachdem auch Bethmann Hollweg, mittlerweile Staatssekretär des Reichsinnenamts und Vizepräsident des Staatsministeriums, für ein Fünfergremium eingetreten war (u. a. mit Hinweis auf die Hardenprozesse), nahm die Ministerrunde die Besetzungsvorschläge des Entwurfs endgültig an. Des weiteren hatte sich Kultusminister Holle gegen die Heranziehung der Volksschullehrer zum Laienrichterdienst ausgesprochen. Ausschlaggebend hierfür war zum einen die Sorge um die soziale Stellung der Lehrer, vor allem in kleineren Ortschaften, zum anderen der drohende Dienstausfall, namentlich in einklassigen Schulen. Zur Begründung führte Nieberding zunächst das taktische Argument ins Feld, den neuerlichen Bestrebungen gegenüber, „möglichst viele Vertreter des Arbeiterstandes in die Schöffen- und Geschworenengerichte hineinzubringen, müsse man alles aufbieten, um diesen Gerichten möglichst zuverlässige Elemente zuzuführen“. Zudem wären die Volksschullehrer als Beisitzer in den geplanten Jugendgerichten besonders erwünscht. Beseler begrüßte die Maßregel vor allem mit Blick auf die schöffenschwachen Gebiete des Ostens. Unterstaatssekretär Wever verteidigte die Forderung des Kultusministeriums, wobei er einräumte, daß die Lehrer die bisherige Exemtion als ein „privilegium odiosum“ ansehen würden283. Nieberdings Vermittlungsvorschlag, den Bedürfnissen der Schulverwaltung auf administrativem Wege Rechnung zu tragen, lehnte er kategorisch ab. Als sich Rheinbaben und Bethmann Hollweg den Bedenken anschlossen, traten die beiden Fachminister den Rückzug an und erklärten sich bereit, den geltenden Rechtszustand beizubehalten. Hiermit war das Staatsministerium einverstanden. 281 Schreiben Bülows v. 8. 4. 1908 mit „Bemerkungen des Reichs-Justizamts zu dem Votenwechsel über den Entwurf eines Gesetzes, betreffend Änderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes“, in: BA, R 3001, Nr. 5300, Bl. 32 – 38 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 781). 282 Prot. StM, 2. 5. 1908 (Auszug), in: BA, R 3001, Nr. 5300, Bl. 40a – d, Zitat Bl. 40b (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 781). 283 Zitate ebd., Bl. 40c.
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Der exakt 500 Paragraphen umfassende Entwurf einer neuen Strafprozeßordnung, der im Reichsjustizamt ausgearbeitet und anschließend von Kommissaren beider Justizressorts beraten worden war, gelangte am 18. 2. 1908 an das Staatsministerium; die entsprechende Denkschrift folgte einen Monat später (20. 3. 1908)284. Wichtige Neuerungen waren: Einschränkung des Legalitätsprinzips (Übertretungen durch Jugendliche, Ausdehnung der Privatklage); Verbesserung des Vorverfahrens (erweiterte Verteidigerrechte, Parteiöffentlichkeit bei der Beweisaufnahme); Einschränkung der Untersuchungshaft; Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens (Ausdehnung des Strafbefehls-, des schleunigen und des Kontumazialverfahrens, Wegfall des Eröffnungsbeschlusses); Vermehrung der Rechtsmittel (Berufung gegen Strafkammerurteile, erweiterte Revision in Schöffengerichtssachen); Einschränkung des Umfangs der Beweisaufnahme (im Verfahren vor der Strafkammer und den Berufungssenaten); (begrenztes) Zeugnisverweigerungsrecht für die Presse; Verminderung der Eidesleistungen; besonderes Verfahren gegen Jugendliche. In vielem folgte der Entwurf den Vorschlägen der Reformkommission. Damit trug er, wie es in der Denkschrift hieß, „mannigfachen Bestrebungen der Neuzeit Rechnung, vermeidet jedoch durchweg die einseitigen Übertreibungen, die bei diesen Bestrebungen nicht selten hervorgetreten sind“285. Nachfolgend wurden von Beseler, Rheinbaben, Moltke und Bethmann Hollweg umfangreiche Voten eingereicht 286. Nieberding schloß sich der Forderung von Finanz- und Innenminister an, das Legalitätsprinzip für alle Übertretungen zu beseitigen. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und empfahl, einfachheitshalber für alle dem Einzelrichter obliegenden Strafsachen das Opportunitätsprinzip einzuführen. Ferner kamen Vertreter des Finanzministeriums, des Justizministeriums und des Reichsjustizamts in kommissarischen Beratungen überein, die Strafverfolgungspflicht gegenüber Jugendlichen ganz aufzuheben. Entschieden wandte sich Nieberding gegen den erneuten – für Reichstag und Öffentlichkeit inakzeptablen – Vorschlag Rheinbabens, dem Staatsanwalt das Recht zur Anschlußberufung auch nach Ablauf der Berufungsfrist zu gewähren287. Über die weiter strittigen Fragen beriet das Staatsministerium am 26. 6. 1908. Den Einwänden Nieberdings folgend, zog Bethmann Hollweg seine Anregung zurück, das gesamte (formelle und materielle) Jugendstrafrecht in einem besonderen Gesetz zu regeln. Ebenso gab er sich mit dem Kompromißangebot des Staatssekre284 Zum äußeren Ablauf: Nieberding an Beseler, 28. 3. 1907, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8343, Bl. 115 f.; Beseler an Nieberding, 26. 4. 1907, in: BA, R 3001, Nr. 5298, Bl. 131 f.; Nieberding an Beseler, 19. 8. 1907, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8343, Bl. 143 – 145; Schreiben Bülows v. 18. 2. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5299 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8343); Schreiben Bülows v. 20. 3. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5299 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8344). 285 Denkschrift zum StPO-Entwurf, S. 1. 286 Sämtliche Voten in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8344. 287 Schreiben Bülows v. 20. 6. 1908 mit „Bemerkungen des Staatssekretärs des ReichsJustizamts zum Votenwechsel über den Entwurf der neuen Strafprozeßordnung“, in: BA, R 3001, Nr. 5300, Bl. 213 – 219 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8344).
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tärs zufrieden, die Einschränkung der Eidesleistungen auf alle Amtsgerichtssachen auszudehnen. Auf Ablehnung stieß der Vorschlag Rheinbabens, die Beschränkung der Revision in schöffengerichtlichen Sachen (§ 380 StPO) beizubehalten. Den größten Raum nahm die Diskussion über den Umfang der Beweisaufnahme ein, nach Meinung Beselers „wohl der schwerwiegendste Punkt der ganzen Strafprozeßordnung“, der zudem in enger Verbindung mit den Vorschriften über die Zeugenbefragung stehe288. Die Debatte weist deutliche Parallelen zur Auseinandersetzung um den Wahrheitsbeweis in Beleidigungsprozessen auf. Rheinbaben beharrte auf seiner Ansicht, der Umfang der Beweisaufnahme müsse in das freie Ermessen des Gerichts gestellt werden. Erneut fällt seine konsequent modernistische Argumentation auf: „Man suche von dem bisherigen Formalismus abzukommen und dem Gedanken zum Siege zu verhelfen, daß allein das materielle Recht durchschlagend sein müsse“. Es sei widersinnig, „den Gerichten auf der einen Seite das Recht über Leben und Freiheit eines Menschen zu geben und ihnen auf der anderen Seite die Hände zu binden hinsichtlich der Art der Beweisaufnahme. Im Sinne der modernen Entwicklung liege es, den Gerichten in dieser Beziehung freie Hand zu lassen“289. In bezug auf die Fragestellung an die Zeugen habe der Moltke-Harden-Prozeß „Mißstände der schlimmsten Art“ ergeben290. Da sich die ganze Beweiserhebung häufig weniger gegen den Angeklagten als gegen die Zeugen richte, müsse auch hier das freie Ermessen des Gerichts entscheiden. Die Kompromißvorschläge, die Nieberding auf beiden Feldern unterbreitet hatte, lehnte er als ungenügend ab. Während Beseler auf die Seite des Staatssekretärs trat, wurde Rheinbaben vom Reichskanzler und vom Vizepräsidenten unterstützt. Der Knoten konnte erst gelöst werden, als Bethmann Hollweg eine geänderte Fassung des entsprechenden § 232 ins Gespräch brachte, die den Absichten des Finanzministers Rechnung trug. Nachdem Nieberding und Beseler ihr Einverständnis erklärt hatten, nahm das Staatsministerium die neue Fassung mit der Maßgabe an, im Bundesrat auf eine Vorschrift im Sinne des Finanzministers hinzuwirken291. Was die Fragestellung an die Zeugen betraf, blieb es beim Nieberdingschen Vorschlag. 288 Prot. StM, 26. 6. 1908 (Auszug), in: BA, R 3001, Nr. 5300, Bl. 253 – 260, Zitat Bl. 257 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8344). 289 Ebd., Bl. 256. Rheinbaben favorisierte folgende Fassung: „Die Beweisaufnahme ist auf alle Tatsachen zu erstrecken, die nach dem Ermessen des Gerichts für die Entscheidung von Bedeutung sind. Im übrigen bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme“. Nieberding bemerkte hierzu, der Vorschlag führe nur eine Tautologie herbei, denn der erste und der zweite Satz würden dasselbe besagen (ebd., Bl. 258). 290 Ebd., Bl. 256. 291 § 232 des StPO-Entwurfs lautete: „Die Beweisaufnahme ist auf alle Tatsachen zu erstrecken, die nach dem Ermessen des Gerichts für die Entscheidung von Bedeutung sind. Wird die Erhebung eines Beweises von einem Prozeßbeteiligten beantragt, so kann sie nur abgelehnt werden, wenn die unter Beweis gestellten Tatsachen für die Entscheidung nicht von Bedeutung sind oder wenn sie offenkundig oder bereits zugunsten des Angeklagten erwiesen sind oder wenn das in dem Beweisantrage bezeichnete Beweismittel unerreichbar oder ungeeignet ist. Die Gründe, aus denen eine dieser Voraussetzungen für vorliegend erachtet wird, sind in dem Beschlusse des Gerichts anzugeben. Ist das Beweismittel zur Verhand-
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Mit Immediatbericht vom 4. 7. 1908 ermächtigte Wilhelm II. den Reichskanzler, die Entwürfe dem Bundesrat vorzulegen. Am 9. 7. 1908 gingen sie der Länderkammer zu, die sie am 8. 10. an ihren Justizausschuß weiterleitete 292. Da sich die benötigte Zahl an Laienrichtern gegenüber den Kommissionsbeschlüssen verringert hatte, wurden im preußischen Justizministerium neue Bedarfsrechnungen auf der Grundlage der Entwürfe angestellt. Die Ergebnisse flossen in eine Denkschrift ein, die Beseler mit Datum vom 25. 7. 1908 dem Reichsjustizamt übersandte. Danach war der Bedarf nunmehr zwar überall gedeckt, der Überschuß an geeigneten Kräften in einigen Landgerichtsbezirken aber äußerst gering (dies galt namentlich für die LG-Bezirke Lyck, Tilsit und Essen). In einigen anderen Bezirken gäbe es zwar einen größeren Überschuß, angesichts des raschen Bevölkerungswachstums müsse in Zukunft aber mit einer stärkeren Belastung der Gerichte gerechnet werden. Von daher stelle das vorgesehene Maß an Laienbeteiligung „die äußerste Grenze des Möglichen“ dar, die Einführung von Laien in die Berufungsgerichte sei unmöglich, selbst dann, wenn man an die Beseitigung der Schwurgerichte denken wollte – man sieht: die preußische Justizverwaltung baute allen Eventualitäten vor293. Der Justizausschuß des Bundesrats beriet die Entwürfe in zwei Lesungen, die zwischen dem 14. 12. 1908 und 10. 3. 1909 insgesamt neun Sitzungen beanspruchten. Erneut trat Bayern als Vorkämpfer für eine ungeschmälerte Laienbeteiligung auf den Plan. Den bayerischen Anträgen zufolge sollten die Strafkammern auch in zweiter Instanz mit zwei Richtern und drei Schöffen, bei Übertretungen, geringfügigen Vergehen und Privatklage jedoch nur mit dem Vorsitzenden und zwei Schöffen (GVG-Entwurf § 77), und die Berufungssenate ebenfalls mit zwei Richtern und drei Schöffen (§ 99 / 1) besetzt werden294. In erster Lesung gab der preußische Vertreter detaillierte Erläuterungen zu den stattgehabten Erhebungen, die Treutlein-Mördes in seinem Bericht nach München wie folgt kommentierte: „Ich bemerke zu diesen Darlegungen, daß es selbstverständlich unmöglich war, den rechnerischen Einzelheiten dieser eingehenden Erörterung zu folgen, insbesondere ob die bloß geschätzten Ziffern hinreichend zuverlässig sind. Jede derartige Aufstellung beruht ja auf unsicheren Zahlen, und es liegt auf der Hand, daß das gewünschte Ergebnis auf die geschätzten Ziffern von Einfluß sein kann. Man kann auch in Zweifel ziehen, ob bei den Aufstellungen der Amtsrichter alle zum Schöflung herbeigeschafft, so ist in der Verhandlung vor dem Reichsgericht und dem Schwurgerichte die Ablehnung des Beweisantrags unzulässig; in der Verhandlung vor dem Landgerichte bedarf es in diesem Falle eines einstimmigen Beschlusses“. In sprachlich überarbeiteter Form ging die Bestimmung in die RT-Vorlage ein. 292 Immediatbericht an den Kaiser v. 4. 7. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5301, Bl. 1 – 6 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8344); BR, Session 1908, Drks. Nr. 119. 293 Denkschrift über die Deckung des Laienrichterbedarfs in Preußen v. 25. 7. 1908, in: BA, R 3001, Nr. 5301, Bl. 38a-i, Zitat S. 16 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8344); in der Anlage sind die für den LG-Bezirk Lyck (Ostpreußen) ermittelten Daten aufgeführt. 294 Anträge Bayerns zum GVG-Entwurf, in: BA, R 3001, Nr. 5340, Bl. 34 – 41 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 787).
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fendienste wirklich geeigneten Personen Berücksichtigung gefunden haben, wie ja auch die Urteile darüber verschieden sein können, welche Anforderungen an eine zum Schöffendienste geeignete Person zu stellen sind. Es wird aber kaum gelingen, die Unrichtigkeit einer derartigen Aufstellung, wie sie von Preußen gemacht wird, darzutun und den Beweis zu erbringen, daß Preußen entgegen seiner Behauptung das vorhandene Schöffenmaterial nicht bloß im ganzen, sondern auch in den einzelnen Landgerichtsbezirken – und darauf kommt es doch hauptsächlich an – zur Verfügung habe“295. Auf die Frage Treutleins, ob Preußen die ganze Reform an diesem Punkt scheitern lassen würde, reagierte Niederding zunächst ausweichend, erst auf nochmalige Nachfrage räumte er dies ein. Wohl auch deshalb votierten alle übrigen Länder gegen die bayerischen Anträge. Gemessen am Meinungsbild der Konferenz vom Dezember 1905 hatte die preußische Obstruktion zu einer fast vollständigen Kehrtwende geführt. Bei der zweiten Lesung unternahm Bayern einen nochmaligen Vorstoß, mit demselben Ergebnis296. Mehr Erfolg hatte Bayern mit seinem Antrag, die Volksschullehrer zumindest als Schöffen bei den Jugendgerichten zuzulassen (§ 118 / 4). In erster Lesung wurde er gegen die Stimmen Preußens, Württembergs und Lübecks angenommen; in zweiter Lesung schloß sich Württemberg der Mehrheit noch an297. In prozessualer Hinsicht wandte sich der bayerische Justizminister vor allem gegen die weitreichende Einschränkung des Legalitätsprinzips und die ausschließliche Befugnis des Staatsanwalts, über die Strafverfolgung zu entscheiden (StPOEntwurf §§ 153 – 155). In seiner Stellungnahme zum zweiten Buch der Strafprozeßordnung schrieb Miltner: „Ein besonders gewichtiges Bedenken gegen den Vorschlag des Entwurfs ist aber – selbst bei durchaus objektiver Anwendung des Opportunitätsprinzips – die Gefahr des Argwohns gegen die Sachlichkeit der Entscheidung und die Gefahr des Vorwurfs der Klassenjustiz. Das Opportunitätsprinzip wird auch die Folge haben, daß die oberste Justizverwaltungsbehörde in der Öffentlichkeit für alle vermeintlichen Mißgriffe verantwortlich gemacht werden wird und daß zahlreiche Dienstaufsichtsbeschwerden erhoben werden. Diese vielfachen Nachteile könnten gemildert werden, wenn die Unterlassung einer strafrechtlichen Verfolgung an die Mitwirkung des Gerichts geknüpft werden würde“298. Der Justizausschuß lehnte ein Mitspracherecht des Gerichts zwar ab, schränkte aber die Voraussetzungen ein: Das nebulöse Kriterium des öffentlichen 295 Bericht Treutleins über die Beratung des GVG-Entwurfs (19. 12. 1908), in: HStA, MA 76789a (Zitat S. 17). 296 Bericht Treutleins über die Sitzung v. 10. 3. 1909 (5. 4. 1909), in: HStA, MA 95999. 297 Bericht Treutleins über die Sitzung v. 15. 12. 1908 (22. 12. 1908), in: HStA, MA 76789a (hier S. 5) sowie über die Sitzung v. 10. 3. 1909 (5. 4. 1909), in: HStA, MA 95999. 298 Justizministerialnote v. 14. 1. 1909, in: HStA, MA 76789b. Bayern beantragte folgende Fassung des § 154: „In Sachen, die von den Amtsgerichten ohne Schöffen zu verhandeln sind, kann das Gericht, wenn die Verfolgung wegen Geringfügigkeit der Verfehlung nicht im öffentlichen Interesse gelegen ist, auf Antrag der Staatsanwaltschaft anordnen, daß von einem Einschreiten abzusehen ist oder das Verfahren einstellen. Der Antrag der Staatsanwaltschaft ist in jeder Lage des Verfahrens zulässig“.
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Interesses entfiel, stattdessen sollte das Opportunitätsprinzip nur bei Geringfügigkeit der Verfehlung gelten299. Das Plenum des Bundesrats nahm die Entwürfe in der Fassung des Justizausschusses ohne weitere Änderungen am 25. 3. 1909 an300. Anfang September 1908, kurz nach Einbringung der Bundesratsvorlage, hatte das Reichsjustizamt die Entwürfe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht301. Die Reaktionen fielen widersprüchlich aus und reichten von scharfer Ablehnung bis zu wohlwollender Zustimmung. Gewürdigt wurden die zahlreichen Einzelverbesserungen, die meisten Autoren vermißten allerdings durchgreifende Maßnahmen. Fast alle Rezensenten traten für eine gemischte Besetzung der Berufungsgerichte ein, wobei die vorgeschlagenen Besetzungszahlen erheblich differierten302. Bereits am 26. 3. 1909 gelangten die Entwürfe an den Reichstag, wo sie vor Schluß der Session jedoch nicht mehr beraten wurden. Mit Datum vom 23. 11. 1909 in unveränderter Form erneut vorgelegt, fand die erste Lesung am 13., 14. und 15. 1. 1910 statt303. Die oberflächlich freundliche Aufnahme konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die entscheidende Bruchstelle bereits deutlich sichtbar wurde. Sprecher fast aller Parteien bezeichneten die Aufnahme von Laien in der Berufungsinstanz als zwingende Notwendigkeit. Selbst die Konservativen favorisierten mehrheitlich eine solche Lösung, lediglich die Freikonservativen wollten zunächst einmal die Erfahrungen mit den neuen Strafkammern abwar299 Bericht Treutleins über die Sitzung v. 6. 2. 1909 (19. 2. 1909), in: HStA, MA 76789b sowie über die Sitzung v. 10. 3. 1909 (7. 4. 1909), in: HStA, MA 95999. 300 BR, Session 1909, Drks. Nr. 41 (Antrag des JA); Protokolle, § 271 (Plenarbeschluß); Überblick über die wesentlichen Änderungen an der BR-Vorlage bei Intrator, S. 46 ff. 301 Entwurf einer StPO und Novelle zum GVG nebst Begründung, Berlin 1908; Nachdr.: Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 11, Bonn 1960. 302 Wichtige Äußerungen: K. Binding, Der Entwurf einer neuen StPO, in: GerS 74 (1909), S. 1 – 58 (scharfe Kritik); Aschrott, Generalreferat über den Entwurf der StPO, in: Mitt. d. IKV 16 (1909), S. 9 – 29; v. Liszt, dass., in: ebd., S. 29 – 44; K. v. Lilienthal, Der Entwurf einer StPO und Novelle zum GVG, in: ZStW 29 (1909), S. 1 – 32 / 188 – 221 / 414 – 434 / 549 – 574 / 737 – 780; J. Kohler, Entwurf der StPO, in: GA 55 (1908), S. 288 – 292; R. v. Hippel, Der Entwurf einer StPO, in: Mittermaier / Liepmann (Hg.), Bd. 2, S. 1 – 151 (gegen Laien in der zweiten Instanz); A. Wach, Die Novelle zum GVG und der Entwurf einer StPO, in: DJZ 14 (1909), S. 9 – 16 (wirbt für die Annahme); W. Mittermaier, Die Stellung des Bürgers zur Reform der Gerichtsverfassung und des Strafprozesses, Gießen 1909 (für Zulassung von Frauen zum Richteramt); zur Position der SPD: H. Heinemann, Zur Reform der StPO, Stuttgart 1909 (Aufsatzreihe aus der „Neuen Zeit“); W. Heine, Bureaukratenjustiz und Volksgerichte, in: März 2 / 4 (1908), S. 330 – 338 („Eine Laienrechtsprechung, die in zweiter Instanz durch die Juristen korrigiert wird, eine Berufung, die dem Angeklagten nicht die Sicherheit gewährt, daß seine Beweismittel zur Kenntnis genommen werden, sind schlechte Komödien“); zum Umkreis gehört: F. Ernst, Berufsrichter und Volksrichter in der Strafrechtspflege, Berlin 1911 (LR in Essen; warmherziges Plädoyer für Schöffengerichte in erster und zweiter Instanz). 303 Sten. Ber. RT 1907 / 09, Drks. Nr. 1310; ebd. 1909 / 11, Drks. Nr. 7; Nachdr.: Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 12, Bonn 1960; Nachdr. d. RT-Beratungen: Protokolle der Reichstagsverhandlungen – Bericht der 7. Kommission des Reichstags, neu hg. v. W. Schubert, Frankfurt / M. 1991 (erste Lesung S. 1 – 70).
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ten304. Für den Großteil der Abgeordneten war die Reorganisation halbherzig ausgefallen, nicht wenige hielten sie letztlich für Blendwerk, eine Einschätzung, die Müller-Meiningen, Sprecher der Linksliberalen, pointiert auf den Punkt brachte: „Worauf geht das ganze Verfahren hinaus? Die Heranziehung der drei Schöffen [zu den Strafkammern] ist weiter nichts als eine Vorinstanz zu einer Instanz, die weiter nichts ist als die bisherige Strafkammer mit fünf Köpfen. Sie werden mir doch zugeben, daß das eine capitis deminutio der Schöffen, des Laienelements ist“305. Von den prozessualen Bestimmungen erfuhr die Einschränkung des Legalitätsprinzips den lebhaftesten Widerspruch. Das Plenum berief eine 28köpfige Kommission, die am 3. 3. 1910 – nach Erledigung des Entwurfs der Strafrechtsnovelle – in die Beratung der Vorlagen eintrat. Nach zwei Lesungen – die erste nahm 64, die zweite 20 Sitzungen in Anspruch – war ihre eigentliche Arbeit am 22. 11. 1910 beendet, über strittige Fragen, insbesondere den Umfang der Beweisaufnahme, wurde bis zur Vorlage des umfangreichen Abschlußberichts (18. 1. 1911) weiterverhandelt306. In der ersten Lesung setzte die justizpolitische Reformkoalition (Zentrum, Linksliberale, SPD) eine Reihe weitreichender Beschlüsse durch307. Aus diesem Grunde lud Lisco, der Nachfolger Nieberdings im Amt des Staatssekretärs, die Ländervertreter nach Abschluß der Lesung (6. 10. 1910) zu einer Besprechung in den Justizausschuß des Bundesrats ein. In der Anlage des Schreibens wurden 17 Beschlüsse als „besonders bedenklich“ aufgeführt, von denen 16 auf strafprozessualem Gebiet lagen (erhöhter Rechtsschutz des Angeschuldigten, erweiterte Rechte von Mitgliedern gesetzgebender Körperschaften, Einschränkung politischer Prozesse), aber nur einer auf organisatorischem (Zuziehung von Schöffen in der Berufungsinstanz)308. Un304 Vgl. Wagner (K), Sten. Ber. RT, 14. 1. 1910, S. 512; Varenhorst (RP), ebd., S. 538; weitere Nachweise bei Intrator, S. 49, Anm. 7. 305 Müller (-Meiningen), Sten. Ber. RT, 14. 1. 1910, S. 531. Ebenso Heinze, der Sprecher der Nationalliberalen: „Die Sache wird sich einfach praktisch so gestalten, daß im Endeffekt nach wie vor die fünf gelehrten Richter jetzt in der ersten Instanz, später der zweiten Instanz entscheiden und daß künftig unter die eigentlich weiterbestehende Strafkammer nur ein anderes Gericht mit drei Schöffen daruntergesetzt wird“ (ebd., S. 518). 306 Bericht der 7. Kommission v. 18. 1. 1911, in: Sten. Ber. RT 1909 / 11, Drks. Nr. 638; Nachdrucke: Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 13, Bonn 1960 sowie Schubert, S. 71 – 703; Überblick über die Beratungen bei Intrator, S. 50 – 61. 307 In einem Brief an einen „lieben Freund“ schrieb Lerchenfeld am 7. 6. 1910: „Die Beratungen in den Reichstagskommissionen gehen sehr flau. In der Strafprozeßordnungs-Kommission verdirbt Groeber das ganze Konzept. Seine Partei stimmt immer mit dem Freisinn und den Sozialdemokraten, und demgemäß wird der Entwurf so demokratisch werden, daß er nur eine Verschlechterung des gegenwärtigen Zustandes bedeuten wird“ (HStA, MA 95999); zur Position Gröbers, des württembergischen Zentrumsführers, genauer unten Anm. 321. 308 Rundschreiben Liscos v. 7. 7. 1910, in: BA, R 3001, Nr. 5303, Bl. 19a – b (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8345). Hermann Lisco (1850 – 1923), seit 1877 im preußischen Richterdienst tätig, trat 1890 ins JM ein, wo er hochrangige Stellungen bekleidete; 1907 wurde er zum Präsidenten des KG ernannt; das Amt des Staatssekretärs des RJA hatte er vom 25. 10. 1909 bis zum 5. 8. 1917 inne.
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beanstandet blieben die Beschlüsse, die Volksschullehrer nicht nur als Schöffen zu den Jugendgerichten, sondern uneingeschränkt zum Laienrichteramt zuzulassen, sowie das freie Ermessen des Gerichts in bezug auf den Umfang der Beweisaufnahme (außer bei Privatklagesachen und Übertretungen) wieder aufzuheben; stattdessen sollte für alle herbeigeschafften Beweismittel ein unbedingter Beweiserhebungszwang gelten. Vorweg fanden im preußischen Justizministerium kommissarische Beratungen zwischen dem Reichsjustizamt, dem Reichsinnenamt und den preußischen Ministerien über die Kommissionsbeschlüsse statt (13. 10. 1910). Dabei hob der Vertreter des Kultusministeriums das dringende Interesse seines Ressorts hervor, in der Volksschullehrerfrage zur Regierungsvorlage zurückzukehren309. Bei der Beratung im Justizausschuß stießen die 17 Punkte des Reichsjustizamts allesamt auf Ablehnung. Abermals blieb Bayern mit seinem Wunsch nach gemischten Berufungsgerichten isoliert (14. 10. 1910)310. Auf Druck der Vertreter der Exekutive stellte die Kommission in der zweiten Lesung die Regierungsvorlage in fast allen strittigen Punkten wieder her. Dem Umschwung fielen auch die Beschlüsse über die Volksschullehrer und die Besetzung der Berufungsgerichte zum Opfer. Bei Beratung des letztgenannten Punkts gab Treutlein-Mördes instruktionsgemäß folgende Erklärung ab: „Die bayerische Regierung hält eine möglichst einheitliche Organisation der Strafgerichte für geboten und steht demgemäß auf dem Standpunkte, daß auch in der Berufungsinstanz Schöffen zuzuziehen seien. Eine solche Regelung entspricht dem Verlangen weiter Kreise der bayerischen Bevölkerung. Bayern ist auch nach seiner Bevölkerung in der Lage, die erforderliche Anzahl von Schöffen für die Berufungsinstanz aufzubringen“311. Von den 17 Liscoschen Paragraphen blieben schließlich nur vier übrig, die allesamt den Zweck verfolgten, die Rechte der Abgeordneten auf strafprozessualem Gebiet zu erweitern, also pro domo neu in den Entwurf aufgenommen worden waren. Im einzelnen handelte es sich um das Verbot, Zeugen über Wahlgeheimnisse zu befragen (§ 45a), ein Zeugnisverweigerungsrecht für Abgeordnete (§ 47a), die Genehmigung des Vorsitzenden einer gesetzgebenden Versammlung zu Beschlagnahmen und Durchsuchungen in den Diensträumen (§ 106a) und die Genehmigung der gesetzgebenden Versammlung zur Strafvollstreckung gegen Mitglieder derselben während der Sitzungsperiode (§ 471a). Reichskanzler Bethmann Hollweg und Lisco, die beide einen Abschluß der Reform noch in der laufenden Session wünschten, plädierten dafür, dem Reichstag so weit wie möglich 309 Protokoll der Beratungen, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8345, Bl. 421 – 426. Auch Bayern trat dafür ein, den Schöffendienst der Volksschullehrer auf die Jugendgerichte zu beschränken (Notenwechsel zwischen dem Kultus- und dem Justizminister v. 15. / 20. 10. 1910, in: HStA, MA 95999). 310 Miltner hatte zu dem Schreiben Liscos in einer Note vom 11. 10. 1910 Stellung genommen (HStA, MA 95999). 311 Bericht der 7. Kommssion, S. 3127. Diese Erklärung hatte Miltner bereits vor der ersten Lesung im Reichstag für den Fall aufgesetzt, daß sich die bayerische Regierung im Zuge der anstehenden Verhandlungen veranlaßt sehen sollte, eine grundsätzliche Stellungnahme abzugeben (Note v. 3. 1. 1910, in: HStA, MA 76789b).
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entgegenzukommen. Dies verband sich mit der Hoffnung, das Parlament in der Frage des Umfangs der Beweisaufnahme – unter dem frischen Eindruck der Erfahrungen mit den Moabiter Krawallprozessen – über die Regierungsvorlage hinaus zu Zugeständnissen bewegen zu können312. Aus Sorge vor einer Lockerung der Beamtendisziplin lehnten die preußischen Minister das geforderte Zeugnisverweigerungsrecht für Parlamentarier einhellig ab313. Auch Miltner wandte sich gegen die weitreichende Vorschrift des § 47a mit der Begründung, sie widerspreche „den Interessen der Strafrechtspflege und vor allem auch denen der allgemeinen Staatsverwaltung“314. Schien zu diesem Zeitpunkt eine Verständigung durchaus in Reichweite gerückt, so änderte sich die Sachlage mit der zweiten Lesung im Reichstag, die am 6. 2. 1911 mit der Beratung der GVG-Novelle begann, grundlegend. Zunächst beschloß das Plenum, Hilfsrichter bei der Aburteilung von Strafsachen auf allen Ebenen auszuschließen. Am 10. 2. folgte der Beschluß, beide Berufungsgerichte mit zwei Richtern und drei Schöffen zu besetzen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung lautete im Falle der Berufungsstrafkammern 177:142, im Falle der Berufungssenate 166:122 Stimmen. Schließlich wurde jegliche Exemtion der Volksschullehrer beseitigt315. Daraufhin wurden die Beratungen von der Tagesordnung abgesetzt und bis zum Ende der Frühjahrssession (31. 5.), in der das Parlament mit anderen großen Gesetzgebungsvorhaben, vor allem der Reichsversicherungsordnung, beschäftigt war, nicht wieder aufgenommen. Zusehends verengte sich nunmehr der zeitliche Horizont, da die Herbstsession des Reichstags – für den Januar 1912 standen Neuwahlen an – nur wenige Wochen 312 Anläßlich eines Streiks in einer Kohlengroßhandlung in Moabit war es im September 1910 zu Auseinandersetzungen zwischen den streikenden Arbeitern und berufsmäßigen Streikbrechern gekommen, die sich zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung ausgeweitet hatten. Für die Unruhen, bei denen zwei Personen getötet und zahlreiche weitere verwundet worden waren, wurde die SPD moralisch mitverantwortlich gemacht. In zwei großen Prozessen (9. 11. 1910 – 11. 1. 1911 vor der Strafkammer und 9. 1. – 23. 1. 1911 vor dem Schwurgericht) mußten sich 18 Angeklagte wegen diverser Delikte verantworten, von denen 14 insgesamt 671/2 Monate Gefängnis erhielten. Wegen der ausgedehnten Beweisaufnahme, die das ganze Ausmaß des brutalen Vorgehens der Polizei enthüllt hatte, wurde vor allem der erste Prozeß von bürgerlich-konservativer Seite heftig angegriffen. Zur Kontroverse um die Beweisaufnahme: Bethmann Hollweg, Sten. Ber. RT, 10. 12. 1910, S. 3544 f. (zu den Unruhen selbst S. 3546 f.); Beseler, Sten. Ber. AH, 18. 1. 1911, S. 325 – 328; A. Finger, Der Prozeß wegen der Unruhen in Moabit und die Strafprozeßreform in: DJZ 16 (1911), S. 239 – 245 (für Einschränkung der Beweisaufnahme); H. Heinemann, dass., in: ebd., S. 513 – 516 (§ 244 StPO „die sedes materiae für die Rechte des Angeklagten“; Verteidiger in beiden Prozessen); K. Liebknecht, Kritik an der Klassenjustiz, in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 4, Berlin (Ost) 1961, S. 311 – 331 (AH-Rede v. 27. 3. 1911). 313 Schreiben Bethmann Hollwegs an das Staatsministerium v. 13. 1. 1911 (mit Denkschrift Liscos), in: BA, R 3001, Nr. 5304, Bl. 9 ff. (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8346); Voten der preußischen Minister in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8346. 314 Note v. 11. 10. 1910, in: HStA, MA 95999, hier S. 4. 315 Einzelheiten bei Intrator, S. 61 f.
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dauerte. Bei dieser Sachlage konnte das Projekt nur noch gerettet werden, wenn eine reformwillige Majorität für eine zügige Erledigung der Vorlagen sorgte. Obwohl die Aussichten hierzu ausgesprochen gering waren, unternahm Lisco einen letzten Rettungsversuch. Per Denkschrift vom 23. 8. 1911 bemühte er sich zunächst um eine einheitliche Linie des preußischen Staatsministeriums. Lisco gab den Gedanken auf, über die Vorlage hinaus den richterlichen Ermessensspielraum in bezug auf die Beweisaufnahme auszudehnen, bestand aber auf Rückkehr zur Fassung des Regierungsentwurfs. In Übereinstimmung mit Beseler – zwischen den beiden Justizressorts hatten mittlerweile kommissarische Beratungen stattgefunden – empfahl er des weiteren, die Beschlüsse zu den §§ 47a und 106a des StPOEntwurfs abzulehnen, diejenigen zu den §§ 45a und 471a jedoch (unter gewissen Kautelen) anzunehmen. Als Ausgleich für die inakzeptable Laienmitwirkung in der zweiten Instanz könne man dem Reichstag eine Erhöhung der Zahl gelehrter Richter in den Berufungsstrafkammern auf fünf zugestehen, und zwar in allen Sachen, die an sich zur Zuständigkeit des Landgerichts gehörten. Bei den Amtsgerichten sei der Ausschluß von Assessoren in praxi undurchführbar, bezüglich der Strafkammern und Schwurgerichte läge der Forderung aber „eine berechtigte Tendenz zugrunde“. Ebensowenig dürfe man die Vorlagen an der Volksschullehrerfrage scheitern lassen316. Eine Durchführung der Reform noch in der laufenden Session wünschten auch Beseler und Finanzminister Lentze. Dagegen erachtete es Vizekanzler Delbrück für angebracht, auf eine Weiterberatung in der kurzen Herbstsession von vornherein zu verzichten. Lisco wies den Gedanken energisch zurück: Dann bliebe nur übrig, die Reform bis zur Revision des Strafgesetzbuchs aufzuschieben, was die als dringlich anerkannten Verbesserungen auf unabsehbare Zeit vertagen würde. Im übrigen dürfe die Verantwortung für die fortbestehenden Mißstände nicht auf die Regierung fallen317. Daraufhin lud Lisco Vertreter fast aller Parteien (Konservative, Reichspartei, Wirtschaftliche Vereinigung, Zentrum, Nationalliberale, Fortschrittliche Volkspartei, Polen) zu einer Vorbesprechung nach Berlin ein. In der Absicht, „wenigstens mein Gewissen für die Zukunft in der Sache [zu] salvieren“, gab Müller-Meiningen in seinem Entschuldigungsschreiben seinen Standpunkt zu Protokoll. Aus materiellen und technischen Gründen hielt er es für angezeigt, die Reform zum gegenwärtigen Zeitpunkt auszusetzen und die Prozeßordnung zusammen mit dem Strafrecht neu zu regeln. Die Anschauungen über die Grundsatzfragen befänden sich noch in Gärung, so daß eine tragfähige Reform kaum zustande kommen könne. In Anbetracht der kurzen Beratungszeit und des heraufziehenden Wahlkampfes erscheine es zudem ausgeschlossen, eine befriedigende Lösung für die politischen Streitpunkte zu finden: „Zum nervösen Kehraus eignet sich sicherlich nichts weniger als 316 Schreiben Bethmann Hollwegs an das Staatsministerium v. 2. 8. 1911 (mit Denkschrift Liscos), in: BA, R 3001, Nr. 5305, Bl. 195 – 200, Zitat Bl. 199. 317 Votum Beselers v. 13. 8. 1911; Votum Delbrücks v. 1. 9. 1911; Votum Lentzes v. 12. 9. 1911; Gegenäußerung Liscos v. 13. 9. 1911, alle in: BA, R 3001, Nr. 5305, Bl. 207, 209, 215 f., 217 (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8346).
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eine gründliche Justizreform“318. Bassermann, der sich ebenfalls entschuldigte, beurteilte die Lage ähnlich. An den Beschlüssen zweiter Lesung müsse der Reichstag im wesentlichen festhalten, wenn die Vorlage nicht unannehmbar werden solle. Außerdem sei der Zeitpunkt verfehlt: „Die großen Streitfragen unmittelbar vor den Wahlen nochmals aufzuwerfen und dadurch die stärksten Konflikte in die bürgerlichen Parteien hineinzutragen, was nicht ausbleiben wird, würde der Sozialdemokratie reichlichsten weiteren Agitationsstoff bieten“319. Die Besprechungen im Reichsjustizamt, die zwischen dem 6. und 11. 10. 1911 stattfanden, wurden zunächst getrennt mit den einzelnen Parteien geführt320. Dabei stellte sich heraus, daß die beiden konservativen Parteien, die Wirtschaftliche Vereinigung, die Polen und Teile des Zentrums und der Nationalliberalen im großen und ganzen bereit waren, die Kompromißvorschläge des Reichsjustizamts anzunehmen. Gröber, seines Zeichens Gegner eines Aufschubs, erklärte die Frage der Laienmitsprache in der Berufungsinstanz zum Dreh- und Angelpunkt der gesamten Reform. Werde diese von der Regierung zugestanden, so sei er auch zu weitgehenden Konzessionen auf anderen Gebieten bereit321. Die Nationalliberalen waren in den meisten Grundsatzfragen gespalten und lehnten schon aus diesem Grund eine Wiederaufnahme der Verhandlungen unmittelbar vor den Wahlen ab. Die Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei votierten einmütig gegen eine Weiterberatung und konnten sich auch für die Vorschläge des Staatssekretärs nicht erwärmen. Nach diesem – wenig überraschenden – Ergebnis nahm Lisco von der ursprünglich vorgesehenen interfraktionellen Besprechung Abstand und überließ das weitere Prozedere dem Seniorenkonvent des Reichstags. Dieser beschloß am 18. 10. 318 Müller-Meiningen an Lisco, 3. 10. 1911, in: BA, R 3001, Nr. 5305, Bl. 218c – d (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8346); vgl. ders., Die parlamentarischen Aussichten der Justizgesetze, in: DJZ 16 (1911), S. 739 – 742. 319 Bassermann an Lisco, 5. 10. 1911, in: BA, R 3001, Nr. 5305, Bl. 218e (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8346). 320 Protokoll der Verhandlungen, in: BA, R 3001, Nr. 5305, Bl. 218g-k (auch in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8346). An der Besprechung nahmen teil: für das Zentrum: Spahn, Gröber und Wellstein (Vors. der 7. Kommission); für die Wirtschaftliche Vereinigung: Graef und v. Damm; für die Konservativen und die RP: v. Westarp, Wagner, Giese, Schultz und Vahrenhorst; für die Polen: v. Czarlinski und v. Dziembowski-Pomian; für die FVP: Dove, Wiemer und Pachnicke; für die Nationalliberalen: Junck, Heinze und Fuhrmann. 321 Gröber hatte seinen Standpunkt einige Monate zuvor auch in der Württembergischen Kammer dargelegt: „Wenn man in den Berufungssenaten, wie das von den Regierungen unter Führung von Preußen so hartnäckig verlangt wird, nur Juristen zuziehen will, dann haben wir in der Form der Berufungssenate die alten Strafkammern, bloß mit einem anderen Namen, und gegen die Strafkammern wendet sich eben mit vollem Recht die öffentliche Meinung, weil man mit ihrer Rechtsprechung vielfach nicht einverstanden ist“. In der Strafprozeßkommission wären von Mitgliedern des Reichsgerichts Urteile von – durchweg preußischen – Strafkammern vorgelegt worden, deren juristische Deduktionen man gar nicht für möglich gehalten hätte. Zöge man Laien hinzu, würden solche Künsteleien sofort aufhören: „Gelehrsamkeit und Gerechtigkeit ist zweierlei!“ (Verh. KdA, 22. 6. 1911, S. 896 – 898; Kopie in: BA, R 3001, Nr. 5305).
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1911, einen Tag nach Wiedereröffnung des Parlaments, den Gegenstand nicht auf die Tagesordnung zu setzen. Damit war die Strafprozeßreform endgültig gescheitert. Daran vermochte auch die Sondernummer der DJZ vom 20. 10. 1911 nichts mehr zu ändern, in der Vertreter aus Politik, Richterschaft, Wissenschaft und Advokatur für eine Annahme der Entwürfe warben322. Mit Verweis auf die Uneinigkeit des Parlaments und die inzwischen weit fortgeschrittene Strafrechtsreform verzichtete die Reichsleitung darauf, die Entwürfe dem neuen Reichstag wieder vorzulegen323. Eine Art Abfallprodukt stellte das Gesetz vom 29. 7. 1913 dar, das den Schöffen und Geschworenen einen Anspruch auf Entschädigung gewährte. Per Verordnung des Bundesrats wurde als Vergütung ein Pauschalsatz in Höhe von 5 Mark für jeden Tag der Dienstleistung festgesetzt. Ausgangspunkt war erneut eine Bundesratsinitiative der drei süddeutschen Regierungen, der im Falle Bayerns ein Gesamtbeschluß beider Kammern des Landtags zugrundelag. Darüber hinaus machten sich vor allem Bethmann Hollweg und Lisco für eine Entschädigungsregelung stark324. Ein von der Reichsleitung initiiertes Sondergesetz zur Regelung des Verfahrens gegen Jugendliche scheiterte dagegen an den Fragen des materiellen Strafrechts. d) Zusammenfassende Bemerkungen Der erneute Versuch einer Strafprozeßreform, der ein ganzes Jahrzehnt umspannte (1901 – 1911), war der dritte und umfassendste seiner Art seit Einführung der Reichsjustizgesetze. In vielerlei Hinsicht handelte es sich um eine Wiederholung früherer Vorgänge. Zentraler Differenzpunkt war abermals die Frage der Gerichtsbesetzung. Der wesentliche, ja alleinige Grund für das Scheitern des Reformwerks bestand in der Entschlossenheit der preußischen Regierung, das berufsrichterliche Monopol zumindest in der Berufungsinstanz aufrechtzuerhalten, um weiterhin über ein politisch (einigermaßen) verläßliches Gericht zu verfügen. Anfänglich noch nicht definitiv festgelegt, sorgte der innerpreußische Diskussions322 Sonder-Nummer zum Entwurf der Strafprozeßordnung, in: DJZ 16 (1911), S. 1289 – 1343; weiterhin: Müller-Meiningen, Ein Nachwort zum Scheitern der Strafprozeßordnung, in: ebd., S. 1528 – 1532 (hier führte Müller-Meiningen das Scheitern auch auf den Zeitverlust zurück, der durch die langwierigen Beratungen der RT-Kommission entstanden sei); Hamm, Noch ein „Nachwort“, in: ebd., S. 1532 – 1534 (fehlender guter Wille). 323 Vgl. die Erklärung Liscos in der RT-Sitzung v. 18. 4. 1912 (Sten. Ber., S. 1230); zur Haltung Bayerns: v. Thelemann (JM), Verh. KdA, 17. 5. 1912. 324 Antrag Casselmann u. Gen. (LV) v. 29. 2. 1912 (Verh. KdA 1912 / 13, Beil. 54); Beschluß der Kammer v. 14. 3. 1912 (Verh. 1912 / 13, Bd. 1, S. 226; Beil. 98); Annahme durch die Kammer der Reichsräte am 31. 4. 1912; Gesamt-Beschluß v. 31. 5. 1912 (Beil. 192); BR, Session 1912, Drks. Nr. 144 (Antrag Bayerns, Württembergs und Badens v. 14. 11. 1912); Sten. Ber. RT 1912 / 14, Drks. Nr. 997 (RT-Vorlage v. 2. 5. 1913); ebd., 9. 6. 1913 (1. / 2. Lesung) und 25. 6. 1913 (3. Lesung); RGBl, S. 617; VO d. BR v. 2. 8. 1913; Archivalien dazu in: HStA, MJu 16980 und GStA, Rep. 84a, Nr. 783.
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prozeß dafür, daß die Laien sukzessive aus den Berufungsgerichten entfernt wurden. Der Verweis auf vermeintliche Deckungslücken war offenkundig vorgeschoben, wenn auch schwer widerlegbar, sachliches Gewicht kam einzig dem Belastungsargument zu. Damit wiederholte sich die Entscheidung von 1876, nur mit dem Unterschied, daß sich die Laienfrage von der ersten auf die zweite Instanz verschoben hatte. Im Ergebnis blieb der widersprüchliche Charakter, der die Gerichtsorganisation seit 1879 kennzeichnete, bestehen, was die Vorlage für die Mehrheit des Reichstags allen Einzelverbesserungen zum Trotz unannehmbar machte. Dabei zeichneten sich die Konturen eines gleichermaßen praktikablen wie mehrheitsfähigen Modells deutlich ab, und zwar in folgender Gestalt: Amtsrichter (als Einzelrichter) – kleine und mittlere Schöffengerichte erster und zweiter Instanz (in abgestufter, möglichst geringer Besetzung) – Schwurgericht. Für die konkreten Besetzungszahlen bot sich eine optimale Lösung zwar nicht an, die Frage war jedoch sekundärer Natur. Die Abschaffung des Schwurgerichts stieß nicht nur, wie die Reaktionen auf die Beschlüsse der Strafprozeßkommission bewiesen, auf erhebliche politische und juristische Vorbehalte, sondern widersprach auch dem Grundzug der gesamten Reformbewegung, die auf Ausweitung, nicht Eindämmung der Laienrechte abzielte. Daß die preußische Regierung, den unüberhörbaren Warnungen Nieberdings zum Trotz, bereits frühzeitig das Scheitern des Projekts riskierte, hing eng damit zusammen, daß im Staatsministerium die Ansichten über die prinzipielle Notwendigkeit einer Reform differierten. Die übrigen Streitfragen – Hinzuziehung der Volksschullehrer, Hilfsrichtertum, Legalitätsprinzip, Umfang der Beweisaufnahme, Privilegierung von Mitgliedern gesetzgebender Körperschaften – waren allesamt nicht von solcher Bedeutung, daß sie den Bruch zwischen Reichstag und Regierung hätten besiegeln müssen. Ganz zu schweigen von den äußerlichen, zum Ende hin in den Vordergrund geschobenen Argumenten, die mehr oder weniger Alibicharakter besaßen (Zeitnot, Wahlkampf, Verknüpfung mit der Strafrechtsreform). Einmal mehr macht der legislative Prozeß die Ausnahmestellung der bayerischen Justizverwaltung deutlich, die als einzige die weitverbreitete Kritik an der Rechtspflege wirklich ernst nahm. Die übrigen Mittelstaaten, anfänglich, zumindest verbal, noch Anhänger einer unverkürzten Laienmitsprache, wählten den bequemen Weg und versteckten sich hinter dem breiten Rücken Preußens. Die Bedeutung der Laienfrage in all ihren Facetten (Besetzung der Gerichte, Schwurgerichtsproblem, Entschädigungsregelung, Erweiterung des Personenkreises) weist sie als Teil des Demokratisierungsprozesses aus, der die politische Kultur im Reich nach der Jahrhundertwende maßgeblich prägte. Sie stellte jedoch nicht den einzigen Weg dar, um das öffentliche Ansehen der Justiz zu heben. Die Konzeption des Richterkönigtums, die sich mit dem Namen Adickes verband, bildete, ungeachtet mancher Überschneidungen, ein Konkurrenzmodell. Sie zielte auf die Stärkung der berufsrichterlichen Autorität und die Rationalisierung des Verfahrens im Sinne ökonomischer Effizienz. Beide Aspekte erklären ihre Attraktivität bis in die Reihen der preußischen Minister hinein (Bethmann Hollweg, Rheinbaben). Zugleich strebte sie einen umfassenden Umbau der Institutionen und Pro-
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zeduren an („Justizreform“), während sich die amtliche Strafprozeßreform mit Verbesserungen auf bestehender Grundlage begnügte.
II. Der Zivilrechtsbereich 1. Der Weltfremdheitsvorwurf Das Schlagwort von der richterlichen „Weltfremdheit“, das nach der Jahrhundertwende weite Kreise zog, war überwiegend auf die Zivilrechtsprechung gemünzt. Es trat in zwei Varianten auf: In einem engeren Sinne bezog es sich auf die fehlende Vertrautheit der Richter mit den Verhältnissen des modernen Wirtschaftslebens. Urheber waren in diesem Fall gewerbliche, industrielle und technische Kreise. In einem weiteren Sinne bezeichnete es einen Mangel an praktischer Weltkenntnis und Lebenserfahrung überhaupt, häufig unter Hinweis auf die spezifisch juristische, begrifflich-abstrakte Denkweise der Zunft sowie die angestammte Art und Weise der Rechtsfindung. Von daher bestanden enge Beziehungen zur Ausbildungsfrage und zur Methodenproblematik. In gewisser Weise bildete der Topos die populäre Variante des Formalismusvorwurfs. Im Gegensatz zum Klassenjustizverdikt, das einen Angriff auf die richterliche Ehre darstellte und von daher mit dem Brustton der Überzeugung zurückgewiesen werden konnte, ließ sich die Parole von der Weltfremdheit, die auf die richterlichen Fähigkeiten und Kenntnisse abzielte, nicht so leicht parieren. Dies galt umso mehr, als Gesetzgebung und juristische Ausbildung mit der rasanten, teilweise überhitzten ökonomischen Entwicklung nicht hatten Schritt halten können und die Klagen eben nicht von „Reichsfeinden“, sondern von Teilen der staatstragenden Schichten vorgebracht wurden. Insofern verwundert es nicht, daß der Vorwurf die Richter weit stärker in Bedrängnis brachte als sein politisches Gegenstück. In der Regel stritten sie seine Berechtigung nicht in Bausch und Bogen ab, wehrten sich aber gegen ungerechtfertigte Verallgemeinerungen und Übertreibungen und verwiesen auf die vielfältigen Bemühungen, vorhandene Mängel zu beheben325. Im Gegenzug wurde in richterlichen Kreisen das Wort von der „Rechtsfremdheit“ des Volkes kreiert, der es durch Vermehrung der Rechtskenntnisse zu begegnen gelte. In der erklärten Absicht, Rechts- und Gesetzeskunde zu verbreiten und damit die „Rechtsfremdheit“ des Volkes zu überwinden, rief Carl Kade, Mitbegrün325 Zur Kritik s. insbesondere die Artikelserie in der NZ v. 18. / 23. / 30. 11. 1910; vielfältige Hinweise in der Sammlung von Presseausschnitten in: GStA, Rep. 84a, Nr. 43195; richterliche Stimmen: A. Düringer, Richter und Rechtsprechung, Leipzig 1909, S. 26 – 32 (RG-Rat); Riß, Die Weltfremdheit der Richter, in: DRZ 1 (1909), S. 113 – 120 (OAR München); C. Kade, Weltfremdheit der Richter, in: ebd. 3 (1911), S. 218 – 220 (LG-Rat Berlin); Andrae, Von der Weltfremdheit der Richter, in: DJZ 16 (1911), S. 1017 – 1022 (LG-Präs. Kiel); E. Warschauer, Das Rechtsgefühl des Volkes, Hannover 1912, S. 50 – 77 (Ger.Ass. in Kattowitz); zur Diskussion auch Linnemann, S. 134 ff.
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der des „Preußischen Richtervereins“, 1912 die Zeitschrift „Deutsches Recht“ ins Leben. Sie enthielt gemeinverständliche Aufsätze über Rechtsfragen und druckte, versehen mit kurzen Erläuterungen, wichtige Gesetzestexte im Wortlaut ab.
2. Zivilverfahren und Sondergerichte 1. Wie bereits dargelegt, hatte die Novelle vom Mai 1898 keine größeren Änderungen am Zivilprozeß vorgenommen, namentlich der Parteibetrieb war unberührt geblieben. Als Folge setzte gleich nach der Jahrhundertwende die Diskussion über die Prozeßverschleppung auf breiter Front – in der Publizistik, der Presse und den Parlamenten – wieder ein326. Dabei schälte sich als communis opinio heraus, daß für die Verzögerung größtenteils die von den Parteien oder ihren Anwälten bewirkten Vertagungen verantwortlich seien. Die Gründe für einen Vertagungsantrag konnten beim Anwalt (Überlastung, mangelhafte Vorbereitung, gleichzeitige Verhandlung vor verschiedenen Gerichten, fehlende Vertretung) oder bei der Partei selbst (verspätete oder unzureichende Information des Anwalts) liegen. Nach dem Prinzip der Wechselseitigkeit stimmte der gegnerische Anwalt dem Antrag in aller Regel zu (die vielgerügte „Konnivenz“). Ein pekuniäres Interesse an einer künstlichen Prozeßverlängerung hatten die Anwälte nicht, allerdings bestand auch kein Anreiz zur Beschleunigung. Der Bericht über die Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen, den Schönstedt im August 1901 Wilhelm II. vorlegte, äußerte sich zu dem Problem wie folgt: „Die vollständige Herrschaft der Parteien und ihrer Vertreter über den Prozeß kann bei nicht gewissenhafter Handhabung zu schweren Mißständen führen. Wenn die Rechtsanwälte aus Zeitmangel, Bequemlichkeit oder kollegialischer Rücksichtnahme eine Sache immer wieder vertagen, so werden die Rechte der Parteien empfindlich beeinträchtigt; das rechtssuchende Publikum macht für die Verzögerung das Gericht verantwortlich und vermag nicht zu verstehen, daß das Gesetz diesem kein Mittel an die Hand gegeben hat, auch gegen den Willen der Anwälte die Verhandlung zu erzwingen. Das Gericht kann nie mit Sicherheit vorhersehen, welche Aufgabe seiner in der Sitzung harrt; nutzlose Zeit- und Kostenvergeudung sind die Folge. Es ist anzuerkennen, daß bei einer großen Zahl von Gerichten diese Übelstände sich weniger fühlbar machen. Dagegen muß leider festgestellt werden, daß die gegenwärtige Gesetzeslage bei einzelnen Gerichten zu einer das Ansehen der Rechtspflege schädigenden Verschleppung der Prozesse geführt hat“327. Sollten 326 Überblick bei: Ernst Neukamp, Gutachten über die Frage der Abgrenzung von Richterrecht und Parteibetrieb im Civilprozeß, in: Verh. d. 26. DJT, Bd. 1, Berlin 1902, S. 125 – 258, hier S. 146 – 153; wichtigste Einzelschrift: K[onrad] Schneider, Der Mißstand der überreichlichen Terminsvereitlungen bei den deutschen Kollegialgerichten und seine Beseitigung, München 1901. 327 Bericht über die Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1887 – 1901, Berlin 1901, S. 29 f.
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sich die Maßregeln der Justizverwaltung auch künftighin als erfolglos erweisen, sei eine Gesetzesänderung im Sinne einer stärkeren Prozeßleitung des Gerichts kaum von der Hand zu weisen. Einen solchen Anwurf konnten die Anwälte nicht auf sich sitzen lassen. In einer an Schönstedt gerichteten Erklärung vom 23. 5. 1902 verwahrten sich die Vorstände sämtlicher preußischer Anwaltskammern gegen die einseitige Schuldzuweisung. Namentlich wurde ausgeführt, daß die Vertagung häufig im Interesse der Parteien und somit einer guten Rechtspflege liege. Zudem würde das Gericht den Grund in den meisten Fällen überhaupt nicht kennen, weshalb die Anwälte an einer Ermittlung der Ursachen beteiligt werden müßten328. Bereits zuvor waren gleichlautende Artikel in der Presse lanciert worden, in denen es hieß: „Wenn wir heute nach dem Muster des französischen Verfahrens in unserer Z.P.O. dem freien Betrieb der Parteien einen erheblichen Spielraum gewährt haben, so geschah dies aus der richtigen Erwägung, daß auf diese Weise der Charakter des privatrechtlichen Streites am reinsten durchgeführt und gleichzeitig die Feststellung der im Zivilprozeß zu ermittelnden Wahrheit am leichtesten erzielt wird. Man hat zu erwägen, daß im Zivilprozeß das öffentliche Interesse hinter dem privaten zurücktreten und den Parteien die freie Verfügung über den Streitgegenstand überlassen bleiben muß. Deshalb darf von dem Prinzip niemals abgewichen werden, daß bei einem von beiden Seiten gleichzeitig gestellten Vertagungsantrag die Vertagung einzutreten hat. Andernfalls würde der Zivilprozeß seinen Charakter als Privatstreitigkeit verlieren“. Als Abhilfe wurde eine Vermehrung des richterlichen Personals empfohlen329. In krasser Form trat das Problem im Oberlandesgerichtsbezirk Köln und in der bayerischen Pfalz (OLG Zweibrücken) auf, also den rheinischrechtlich geprägten Gebieten, in denen immer noch ein rein mündliches Verfahren ohne Austausch vorbereitender Schriftsätze, angeblich dem Geist der Zivilprozeßordnung am meisten entsprechend, gepflegt wurde (vgl. die unten mitgeteilten Zahlen)330. Insofern hatte sich an der Diversität in der Handhabung der Zivilprozeßordnung, die Otto Bähr vor fast zwanzig Jahren konstatiert hatte, nur wenig geändert. Geradezu dramatische Zustände herrschten in der pfälzischen Justiz, wo große Prozeßrückstände aufgelaufen waren. Im Reichstag brachte Bassermann die dadurch verursachte Prozeßverzögerung zur Sprache (Februar 1901)331. Als die bayerische Justizverwaltung im folgenden Etat eine Vermehrung der pfälzischen Richterstellen beantragte, ließen einige Abgeordnete ihrem Unmut über die Verhältnisse, Abgedr. in: DJZ 7 (1902), S. 288 f. Zit. n. Neukamp, S. 240. 330 Zu Köln: E. Schmitz, Die Frage der Prozeßverschleppungen im Bezirke des Oberlandesgerichts Köln, in: DJZ 7 (1902), S. 209 – 212 (RA beim OLG Köln); X., Die Ursache der Prozeßverschleppungen im Oberlandesgerichtsbezirke Cöln, in: JW 31 (1902), S. 541 f.; in der FZ vom 13. 6. 1900 hieß es, am OLG Köln herrschten Zustände, „die lebhafte Erinnerungen an das entschlafene Reichskammergericht wachrufen“ (zit. bei Neukamp, S. 149). 331 Bassermann, Sten. Ber. RT, 4. 2. 1901, S. 1096 ff. 328 329
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deren Besserung schon wiederholt angemahnt worden war, freien Lauf. Geradezu sprichwörtliche Berühmtheit erlangte das Wort vom „Justiz-Schlaraffenleben“, das die Richter in der Pfalz führen würden. Erneut wurde auch die Anwaltschaft zur Zielscheibe einer teilweise abfälligen Kritik, verschiedene Sprecher forderten die Abschaffung des Anwaltszwangs bei den Kollegialgerichten (Dezember 1901)332. Den Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen im Umkreis des 26. Deutschen Juristentages (Berlin 1902), auf dessen Programm auch die Frage nach der Abgrenzung zwischen Richterrecht und Parteibetrieb im Zivilprozeß stand. Den Rahmen der weiteren Diskussion steckte das ausführliche Gutachten des Kölner Oberlandesgerichtsrat Ernst Neukamp ab, das die vielfältigen Klagen mit einer festen statistischen Unterlage versah333. Neukamp ging es um den doppelten Nachweis, daß es sich bei der Prozeßverschleppung nicht um ein Spezifikum der linksrheinischen Gebiete, sondern um ein allgemeines, immer stärker um sich greifendes Phänomen handele, dessen Ursache nicht im Verhalten der beteiligten Personen, sondern in der Konstruktion des Verfahrens, und zwar im Parteibetrieb, läge. Mit anderen Worten: Neukamp wollte die Diskussion auf eine höhere Ebene heben und den unfruchtbaren Kreislauf wechselseitiger Schuldzuweisungen durchbrechen. In der Beschleunigung des Verfahrens sah er eine vordringliche Modernisierungsaufgabe: „Dem Bestreben der Rechtssuchenden nach einer schnelleren Gerichtshilfe muß der Staat entsprechen; denn das Recht ist eine ,soziale Institution‘, die, wie alle sozialen Institutionen, den Bedürfnissen des Lebens und Verkehrs sich anzupassen, nicht aber diese umgekehrt zu meistern und einzuzwängen hat. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Rechtseinrichtungen unseres Zeitalters, des ,Zeitalters des Verkehrs‘, nicht alle genügend von dem Grundsatze durchdrungen sind, daß das Recht sozialen Zwecken zu dienen bestimmt ist“334. Namentlich hob der Gutachter den Vertrauensschwund beim Publikum, die Notwendigkeit rascher Tatsachenfeststellung und den immensen volkswirtschaftlichen Schaden hervor. Unter der Prämisse, daß alle Prozesse, die für ihre Erledigung in einer Instanz länger als ein Jahr benötigten, „kranke Sachen“ seien, ergab sich folgendes Bild: In den Jahren 1896 – 1900 schwankte der Prozentsatz „kranker Sachen“ bei den preußischen Oberlandesgerichten zwischen 23,87 % und 26,46 %, bei den außerpreußischen zwischen 10,5 % und 12,4 %. Die entsprechenden Werte für das Reich 332 Zur Debatte: Lerno (Z), Verh. KdA 1901 / 02, Bd. 6, S. 863 / 924 f.; Segitz (SPD), ebd., S. 868; Ecker, ebd., S. 876; Göller, ebd., S. 880; Leeb, ebd., S. 885 f. (alle Z); Gäch, ebd., S. 887; Ehrhart (SPD), ebd., S. 892; Casselmann (LV), ebd., S. 899 f.; Heim (Z), ebd., S. 908; v. Hessert, Verh. KdR 1901 / 02, Bd. 2, S. 59 ff.; [Stenglein], Zur Frage der Prozeßverschleppung, in: DJZ 7 (1902), S. 137 – 139; Laux, Die Frage der Prozeßverschleppungen in Bayern, in: ebd., S. 139 f. (OLG-Rat in Zweibrücken; Zurückweisung der Angriffe). 333 E. Neukamp, Gutachten über die Frage der Abgrenzung von Richterrecht und Parteibetrieb im Civilprozeß, in: Verh. d. 26. DJT, Bd. 1, Berlin 1902, S. 125 – 258. Ernst Neukamp (1852 – 1918) wurde 1909 zum RG-Rat ernannt; zur Debatte auch Damrau, Entwicklung, S. 183 ff. 334 Neukamp, S. 233.
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lauteten zwischen 20 % und 22 %. Bei den Landgerichten (kontradiktorische Urteile erster Instanz) lagen die Gesamtzahlen niedriger, dafür war die Schwankungsbreite größer. Reichsweit dauerten in den Jahren 1888 – 1899 zwischen 14,3 % und 18,2 % aller Verfahren länger als ein Jahr. Erheblich anders sahen die Verhältnisse im früheren Geltungsgebiet des code de procédure aus: Die Vergleichszahlen für den OLG-Bezirk Köln bewegten sich zwischen 18,4 % und 32,2 %, seit 1894 pendelten sie um die 30 %-Marke. Im OLG-Bezirk Zweibrücken überstiegen sie stets die Grenze von 40 %, seit 1893 kreisten sie um die 60 %, der Höchststand wurde 1895 mit 68,8 % erreicht, wobei etwa jeder vierte Prozeß länger als zwei Jahre dauerte. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb die pfälzische Justiz allgemeinen Spott auf sich zog. Von 1896 bis 1900 betrug der Anteil „kranker Sachen“ bei den preußischen Landgerichten, bezogen auf kontradiktorische Urteile erster und zweiter Instanz, zwischen 5,39 % (Celle, 1897) und 21,6 % (Hamm, 1899). Im OLG-Bezirk Köln lag die Quote zwischen 27,2 % und 30,45 %. Seit 1893 hatte das OLG Köln – für das Reich existierten entsprechende Statistiken nicht – die jährlich neu eingehenden Sachen nicht mehr erledigen können, so daß die Zahl der Prozeßrückstände ständig wuchs. Den 2.015 Berufungen, die im Jahre 1900 neu anhängig wurden, standen 1.486 erledigte Fälle und mittlerweile 3.078 Rückstände gegenüber. Beim LG Köln war die Zahl der Rückstände von 2.924 im Jahre 1896 auf 4.024 im Jahre 1900 angestiegen. Die Richter traf keine Schuld an den Zuständen: In den Jahren 1896 bis 1900 entfielen auf jeden Urteilsverfasser am OLG Köln durchschnittlich 39 % bis 47 % aller kontradiktorischen Urteile, womit Köln an vierter Stelle unter den preußischen Oberlandesgerichten rangierte. Vielmehr belegen die Zahlen – obwohl Neukamp diesen Zusammenhang aus taktischen Gründen ausdrücklich bestritt – die unzureichende Stellenvermehrung seitens der Justizverwaltung. Last but not least wiesen die Statistiken eine stetige, wenn auch langsame und keineswegs kontinuierliche Zunahme der durchschnittlichen Prozeßdauer aus335. Die deutschen Zahlen kontrastierte Neukamp mit Prozeßstatistiken aus Ländern mit uneingeschränktem Parteibetrieb (Frankreich und Belgien) sowie reinem Offizialbetrieb (Österreich). Erstere wiesen eine noch stärkere Prozeßverzögerung auf („vollständiger Justizbankrott“), in letzteren fand eine ungleich raschere Erledigung der Sachen statt. Mithin sah Neukamp nur einen Weg, um grundlegend Remedur zu schaffen: die Einführung der ausschließlich richterlichen Prozeßleitung. Die öffentlichen Klagen, vor allem aber das Neukampsche Gutachten lösten eine breite Debatte in den Fachorganen und der Tagespresse aus. Die Anwälte protestierten – teilweise in polemischer Form und vor persönlichen Angriffen nicht zurückschreckend – mit einer Stimme gegen eine Beschränkung ihrer Parteirechte, wobei sie die Prämissen, Zahlen und Schlußfolgerungen des Gutachtens in Zweifel zogen, auf die großen regionalen Unterschiede verwiesen, die Verengung der Frage 335 Angaben nach den Tabellen bei Neukamp, S. 171 / 174 / 176 f. / 180 – 205 / 206 – 209; zur fortgesetzten Prozeßverlängerung ebd., S. 223 f.
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auf den Parteibetrieb monierten und den Gerichten zumindest eine Mitschuld an den Mißständen gaben336. Im Gegensatz dazu war die Meinungslage unter den Richtern uneinheitlich: Einige erklärten sich mit den Überlegungen Neukamps einverstanden, andere versprachen sich Besserung von einer sachgemäßeren Handhabung der geltenden Vorschriften, wieder andere brachten punktuelle Neuerungen ins Gespräch (vorgeschalteter Sühnetermin, frühzeitige Benachrichtigung des Gerichts, Strafgebühr für ausgefallene Termine)337. Von daher war das Ergebnis des Juristentags, auf dem die Rechtsanwaltschaft traditionell die stärkste Kohorte stellte, vorgezeichnet. Unter den 1.317 Teilnehmern der Berliner Versammlung (10. – 12. 9. 1902) befanden sich 720 Anwälte, aber nur 250 Richter; hinzu kamen 29 Staatsanwälte, 77 Dozenten und 241 anderweitig tätige Juristen338. Mit großer Mehrheit sprach sich das Plenum gegen eine stärkere Mitwirkung der Richter beim Prozeßbetrieb aus, nur mit schwacher Mehrheit wurde der (von Hamm eingebrachte) Zusatz aufgenommen, daß zu erwägen sei, in welcher Weise der Vereitelung von Terminen vorgebeugt werden könne. Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Sätzen war unübersehbar, spiegelte die bestehenden Meinungsunterschiede aber recht gut wider339. Neukamp nannte das Ergebnis einen „Sieg der Anwälte“, der sich freilich bald als „Pyrrhussieg“ erweisen könnte340. Der objektive Problemdruck, aber auch der zwiespältige Beschluß des Juristentags sorgten dafür, daß die Diskussion nicht, wie von der Anwaltschaft erhofft, zum Erliegen kam, sondern bruchlos fortgeführt wurde341. 336 H. Isay, Die Abgrenzung von Richterrecht und Parteibetrieb im Civilprozeß, in: DJZ 7 (1902), S. 282 – 285 (RA am KG); R. Fürst, Prozeßverschleppung und Parteibetrieb, in: JW 31 (1902), S. 277 – 280 (RA Heidelberg); B. A., Die Frage der Prozeßverschleppung, in: ebd., S. 325 – 327; E. Auerbach, Bärenmittel, in: ebd., S. 622 – 624 (RA Berlin; „Der leitende Zweck der Neukampschen Vorschläge ist nicht die Vermeidung der Verschleppung zum Besten der Sache, sondern das Bequemlichkeitsbedürfnis der Richter“); M. Jacobsohn, Zur Frage der Prozeßverschleppungen, in: JW 32 (1903), S. 41 – 45 (s. auch „Vossische Zeitung“ v. 5. 4. 1902 und 4. 1. 1903; RA Berlin); Anon., Prozeßverschleppungen, in: Grenzboten 62 / 3 (1903), S. 504 – 510 / 579 – 587 (sachlichster und differenziertester Beitrag von anwaltschaftlicher Seite; schlägt zahlreiche Einzelmaßnahmen vor). 337 C. Kade, Ueber den Parteibetrieb im Civilprozeß, in: DJZ 7 (1902), S. 354 – 356 (LGRat Berlin); Schöller, Ein Gesetzesvorschlag, in: ebd., S. 376 – 379 (LG-Rat Düsseldorf); O. Fischer, Schlußwort, in: ebd., S. 418 – 422 (OLG-Rat Breslau); Pütter, Noch ein Wort über die „Prozeßverschleppungen“, in: ebd., S. 537 – 539 (Senatspräs. Breslau); E. Neukamp, Zur Frage der Prozeßverschleppungen, in: ebd., S. 339 f. (Entgegnung auf Isay); Koll, Die Abgrenzung von Richterrecht und Parteibetrieb im Civilprozeß, in: Das Recht 6 (1902), S. 92 – 94 (OLG-Rat Köln); Volkmar, Zur Frage der Prozeßverschleppung, in: ebd., S. 450 – 453 (LG-Rat Potsdam); zustimmend: KZ v. 7. 3. 1902 und FZ v. 14. / 15. 5. 1902. 338 Vgl. den Tagungsbericht von: Damme, Der XXVI. Deutsche Juristentag in Berlin, in: DJZ 7 (1902), S. 446 – 449 (Reg.rat im Patentamt). 339 Verh. d. 26. DJT, Bd. 3, Berlin 1903, S. 490 – 588 / 606 – 611. 340 E. Neukamp, Zur Frage der Prozeßverschleppungen, in: JW 31 (1902), S. 641 – 644, Zitat S. 641, Anm. 1; ähnlich Schwartz, Erneuerung, S. 5 („Pyrrhussieg bedenklichster Art“). 341 Vgl. Wilibald Peters, Prozeßverschleppung, Prozeßumbildung und die Lehren der Geschichte, Berlin 1904 (RG-Rat; für Wiedereinführung der Eventualmaxime); Celerius, Pro-
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2. Auch die Sondergerichtsbestrebungen hielten nach der Jahrhundertwende mit unverminderter Stärke an. Anknüpfend an die Resolution von 1897 machten sich verschiedene Parteien des Reichstags für die Errichtung von kaufmännischen Schiedsgerichten nach dem Muster der Gewerbegerichte stark, namentlich Bassermann warb unermüdlich für das Projekt342. Diesbezügliche Anfragen pflegte Nieberding ausweichend, ja widersprüchlich zu behandeln, was insofern seine Berechtigung hatte, als die Haltung der verbündeten Regierungen längere Zeit über schwankend war. Im außerparlamentarischen Raum setzte sich der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband (DHV), die jüngste (gegr. 1893), aber rasch expandierende Vertretung der kaufmännischen Angestellten (1897: 4.500, 1901: 43.000 Mitglieder bei reichsweit rund 500.000 Berufsgenossen), an die Spitze der Bewegung. Eine materialreiche, durchaus objektiv gehaltene Streitschrift aus dem Jahre 1901, die ihre Wirkung nicht verfehlt haben dürfte, beschrieb die Stimmung unter der Gehilfenschaft wie folgt (man beachte den drohenden Unterton): „Aus vielfachen Erfahrungen heraus müssen wir bekennen, daß die wiederholt abgegebenen inhaltlosen Erklärungen des Herrn Staatssekretärs geradezu niederdrückend auf die Handlungsgehilfen gewirkt haben, und es muß auch offen ausgesprochen werden, daß in Kreisen von Handlungsgehilfen, deren Vaterlandsliebe über jeden Zweifel erhaben ist, wiederholt mit Verbitterung festgestellt wurde, wie man den zu einem guten und großen Teile sozialdemokratischen Arbeitern die Wohltaten der Gewerbegerichte gegeben hat, aber den national gesinnten Handlungsgehilfen die kaufmännischen Schiedsgerichte verweigert. Und man wolle bedenken: Es sind nicht die schlechtesten, sondern die besten und intelligentesten Kreise ihres Berufs, die sich mit Standesfragen beschäftigen und dementsprechende Forderungen erheben“343. Wie beim Gewerbegericht, war es der Wunsch nach einem einfachen, raschen und billigen Verfahren sowie nach einer sachkundigen Behandlung der Streitfragen, der dem Anliegen Resonanz verschaffte. Der kostspielige und zeitraubende Prozeßgang vor den Amtsgerichten bzw. den landgerichtlichen Kammern für Handelssachen, deren Beisitzer aus den Reihen der Unternehmer kamen, schreckte viele Handlungsgehilfen davon ab, den Rechtsweg zu beschreiten. Aus diesem Grunde vermittelte die geringe Zahl entsprechender Klagen vor den ordentlichen Gerichten ein irreführendes Bild von der realen Bedürfnislage. Neben den gängigen Gehalts- und Kündigungssachen waren Streitigkeiten über verweigerte oder zeßbeschleunigung ohne Gesetzesänderung, Hannover 1904 (Einzelvorschläge); E. Neukamp, Prozeßverschleppung und kein Ende, in: Juristisches Literaturblatt 16 (1904), S. 98 – 106. 342 Dazu: Bahr, S. 142 – 179; Dannreuther, S. 153 – 158 (beide mit Schwerpunkt auf den RT-Verhandlungen). 343 Kaufmännische Schiedsgerichte, hg. v. Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, Hamburg 1901, S. 11 (mit Gesetzentwurf); weitere Stimmen: W. Swienty, Kaufmännische Schiedsgerichte, in: Neue Zeit 20 / 1 (1901 / 02), S. 466 – 471 / 494 – 500; H. v. Frankenberg, Kaufmännische Schiedsgerichte, in: DJZ 7 (1902), S. 160 – 162 (Stadtrat; Vors. des Gewerbegerichts Braunschweig); Jastrow, Sozialpolitik, S. 482 – 491.
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unbillige Zeugnisse (HGB § 73 gab den Gehilfen einen Rechtsanspruch auf Ausfertigung eines Zeugnisses) und die sog. Konkurrenzklauseln (Verpflichtungen aus früheren Dienstverhältnissen, HGB §§ 74 / 75) keineswegs unüblich. Im Jahresbericht der Handelskammer von Geestemünde hieß es: „Die hohen Kosten und Weiterungen eines Prozesses halten in den meisten Fällen die kaufmännischen Angestellten ab, etwaige Streitigkeiten mit den Prinzipalen durch die ordentlichen Gerichte entscheiden zu lassen. Einen Anwalt zu nehmen, ist den Gehilfen in den meisten Fällen kaum möglich, weil ihnen zu der nötigen Vorschußleistung die Mittel nicht zur Verfügung stehen. Auch wird der Handlungsgehilfe bereits eine neue Stelle angetreten haben, wenn der Prozeß noch nicht begonnen hat, so daß er dem neuen Prinzipal zumuten muß, ihm zur Führung des Prozesses genügende Zeit zu lassen. Daß bei dem neuen Prinzipal unter diesen Umständen gleich ein gewisses Vorurteil gegen den Gehilfen entstehen kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Um alle diese Schwierigkeiten zu beheben und die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Kaufleuten und ihren Angestellten möglichst zu beschleunigen und zwar mit den geringsten Kosten, sollen die kaufmännischen Schiedsgerichte dienen“344. Regelmäßig verwiesen die Verwaltungsberichte der Gewerbegerichte auf die große Zahl von Handelsangestellten, die versucht hätten, ihre Klage bei dem Gericht einzureichen, wegen Unzuständigkeit aber abgewiesen werden mußten345. Andererseits kam es immer wieder zu Kompetenzstreitigkeiten, da die Unterscheidung zwischen Handlungsgehilfen und gewerblichen Arbeitern oftmals Schwierigkeiten bereitete. Eine Reihe von Handelskammern hatten freiwillige Schiedsgerichte eingerichtet, die von den Gehilfen jedoch kaum in Anspruch genommen wurden. Nach einer Aufstellung des DHV sprachen sich 13 kaufmännische Verbände mit insgesamt 2.061 Zweigvereinen, die 74.656 Prinzipale und 226.242 Gehilfen vertraten, für die Bildung von Kaufmannsgerichten aus346. War man sich insofern über das Ziel einig, so gingen die Meinungen über die Organisationsform weit auseinander. Dem DHV zufolge traten 347 Vereine mit 50.000 Gehilfen und 4.862 Prinzipalen für selbständige Schiedsgerichte, 456 Vereine mit 103.118 Gehilfen und 32.900 Prinzipalen für den Anschluß an die Amtsgerichte und 1.256 Vereine mit 71.424 Gehilfen und 33.514 Prinzipalen für den Anschluß an die Gewerbegerichte ein, wobei zu berücksichtigen war, daß Vereinsführung und MitgliederZit. n. Schiedsgerichte (DHV), S. 24. Etwas pathetisch hieß es im Jahresbericht des Berliner Gewerbegerichts für 1897: „Wir sehen in unseren Amtsstuben die Bestürzung, die sich auf den Gesichtern der Rechtssuchenden abmalt, wenn ihnen bei Vorbringung ihrer Klagen eröffnet werden muß, daß sie als Handlungsgehilfen nicht vor das Gewerbegericht, sondern vor das Amtsgericht gehören, und wir glauben ihnen, wenn sie erklären, daß sie die wenigen Tage, die das Gewerbegericht zur Entscheidung braucht, sich wirtschaftlich durchgerungen hätten, daß sie aber der Not in die Arme getrieben werden, wenn sie noch einige Wochen, ja Monate warten müssen, bis ihnen ihre oft widerrechtlich einbehaltenen Gehaltsbezüge zugesprochen seien“ (zit. n. ebd., S. 21); einige krasse Fälle aus der Rechtsschutzpraxis des Verbandes ebd., S. 16 – 20. 346 Vgl. die Tab. ebd., S. 27. 344 345
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schaft nicht in allen Fällen denselben Standpunkt vertraten347. Der DHV propagierte die Angliederung an die Gewerbegerichte, die Herabsetzung der Altersgrenze für das aktive Wahlrecht auf 21, für das passive auf 25 Jahre und die Festsetzung der Berufungssumme auf 500, mindestens aber 300 Mark. Auch gegen eine aktive Teilnahme von Frauen an den Wahlen hatte er prinzipiell nichts einzuwenden348. Die von den Sozialdemokraten favorisierte Lösung, die Zuständigkeit der Gewerbegerichte einfach auf den Handelsstand auszudehnen, scheiterte schon am Standesbewußtsein – andere sprachen von Standesdünkel – der Handlungsgehilfen, die nicht gewillt waren, sich mit den gewerblichen Arbeitern in einen Topf werfen zu lassen. Die massive Agitation der Gehilfenverbände – die gesetzgebenden Organe wurden mit Petitionen und Eingaben regelrecht überflutet – erreichte nach relativ kurzer Zeit ihr Ziel, sicherlich nicht zuletzt aufgrund der eingangs zitierten Argumentation. Ein in Kooperation zwischen Reichsjustizamt und Reichsinnenamt erarbeiteter Gesetzentwurf ging im Januar 1903 dem Bundesrat zu, der nach längerer Beratung eine Reihe von Änderungen beschloß. Ein Jahr später (8. 1. 1904) gelangte die Vorlage an den Reichstag, wo sie in dritter Lesung am 16. 6. 1904 verabschiedet wurde349. Wie schon vom Regierungsentwurf beabsichtigt, wurden die neuen Gerichte, unter Wahrung ihrer Selbständigkeit, nicht den Amtsgerichten, sondern den Gewerbegerichten angegliedert350. Ausschlaggebend waren zum einen finanzielle Gründe, da die Kosten auf diese Weise den Gemeinden aufgebürdet werden konnten, zum anderen die Überlegung, daß ein beschleunigtes und verbilligtes Verfahren einen Fremdkörper in die Amtsgerichte hineinbringen würde, wodurch sich der Reformdruck unweigerlich gesteigert hätte. Auch sonst lehnte sich das Gesetz eng an die Vorschriften über die Gewerbegerichte an. Für Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern waren Kaufmannsgerichte obligatorisch vorgeschrieben, kleineren Gemeinden war die Errichtung freigestellt. Außerdem konnte ein gemeinsames Gericht für mehrere Gemeinden oder den Bezirk eines größeren Kommunalverbandes gegründet werden. Die Errichtung sollte – nach vorheriger Anhörung der Kaufleute und Handlungsgehilfen – per Ortsstatut erfolgen. Der Vorsitzende und sein Stellvertreter wurden vom Magistrat für mindestens ein Jahr gewählt und mußten die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst erZahlen nach ebd., S. 49. „Die Wählbarkeit ist allerdings ausgeschlossen, denn bei aller Verehrung vor dem weiblichen Geschlecht muß doch gesagt werden, daß ihm die Parteilichkeit schon mit der Muttermilch eingetränkt wird, weshalb Frauen wohl ausgezeichnete Anwälte, aber niemals Richter sein können“ (ebd., S. 55). 349 Zur BR-Vorlage: J. Stranz, Zum Gesetzentwurfe über die „Kaufmannsgerichte“, in: DJZ 8 (1903), S. 70 – 73 (RA in Berlin); zu den Änderungen durch den BR: ders., Der Gesetzentwurf über die Kaufmannsgerichte, in: DJZ 9 (1904), S. 185 – 192; RT-Vorlage: Sten. Ber. RT 1903 / 04, Drks. Nr. 143; Kommissionsbericht: ebd., Drks. Nr. 340; Gesetz v. 6. 7. 1904 (RGBl, S. 266). 350 Zum folgenden: Bassermann, Das Reichsgesetz, betreffend Kaufmannsgerichte v. 6. Juli 1904, in: DJZ 9 (1904), S. 1009 – 1014. 347 348
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langt haben. In der Regel sollten sie mit dem Vorsitzenden und dessen Stellvertretern am ortsansässigen Gewerbegericht identisch sein. Die Beisitzer, mindestens vier an der Zahl, wurden von den beteiligten Personengruppen in unmittelbarer und geheimer Wahl bestimmt. Heftig umstritten war die Frage der Wahlberechtigung: Angesichts der definitiven Erklärungen der Reichsleitung gab der Reichstag das aktive und passive Frauenwahlrecht preis und setzte die Altersgrenzen auf 25 resp. 30 Jahre herauf. Die Verfahrensvorschriften des Gewerbegerichtsgesetzes wurden übernommen, Berufung war nur bei Streitwerten von über 300 Mark zulässig. Erneut schloß der Reichstag Anwälte und Rechtskonsulenten – der Bundesrat hatte sie zwischenzeitlich zugelassen – vom Verfahren aus. Aus Richterkreisen erhob sich nur vereinzelt Protest gegen das Gesetz351. Dagegen stemmte sich die Anwaltschaft vehement gegen die erneute Beschneidung ihres Tätigkeitsfeldes. In einer Eingabe an den Bundesrat vom 20. 2. 1903 bat der Vorstand des deutschen Anwaltvereins inständig darum, den § 31 des Gewerbegerichtsgesetzes (Ausschluß von Rechtsanwälten und geschäftsmäßigen Prozeßvertretern) für nicht anwendbar zu erklären. Der bekannte Berliner Justizrat Julius Stranz beklagte den in der Entwicklung liegenden historischen Rückschritt und warnte vor einer weiteren Aushöhlung der Gerichtsstruktur: „Man zerstöre nicht die Grundlagen unserer mühsam erkämpften, aus den Banden der mittelalterlichständischen Gliederung und der Interessenwirtschaft glücklich erlösten Justizverfassung. Die Flut der Sondergerichte, die kein Einhalten kennt, droht Kahn und Schiffer, die unabhängigen, im wahren Sinne über den Parteien und den Parteiinteressen stehenden ordentlichen Gerichte sowie deren Hüter, zu verschlingen“352. Für die Reichsleitung stand indessen fest, daß es sich um die letzte Sondergerichtsbildung handeln sollte und die Reform des amtsgerichtlichen Verfahrens nunmehr zielstrebig in die Wege zu leiten sei. Bei der zweiten Beratung des Entwurfs meinte Innenstaatssekretär Posadowsky, man müsse „allerdings an dem allgemeinen Grundsatz festhalten, daß jeder vor dem allgemeinen Richter Recht nehmen muß. Das Gewerbegerichtsgesetz und dieses Gesetz müssen nach meiner Meinung deshalb durch besonders dringende Verhältnisse begründete Ausnahmen bleiben, und das Ziel der verbündeten Regierungen und des hohen Hauses muß es sein, um allen weitergehenden Wünschen wirksam entgegenzutreten und doch die berechtigten Forderungen an die Rechtsprechung zu erfüllen, eine möglichst baldige Reform 351 Siehe: Salomon, Bedarf es der Einführung von Sondergerichten zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten aus kaufmännischen Dienstverträgen?, in: DJZ 6 (1901), S. 42 – 44 (AGRat Elbing); Replik: v. Boenigk, Die Errichtung von Sondergerichten für Streitsachen aus dem kaufmännischen Dienstverhältnis, in: ebd., S. 92 (Syndikus der Handelskammer Halberstadt). 352 Vorstellung des deutschen Anwaltvereins an den Bundesrat, in: JW 32 (1903), S. 73 f.; J. Stranz, Kaufmännische Sondergerichte, in: DJZ 7 (1902), S. 162 – 165 (Zitat S. 164 f.); ders., Zum Gesetzentwurfe über die „Kaufmannsgerichte“, in: ebd. 8 (1903), S. 70 – 73; weiterhin: Benedict, Gewerbegerichte und Kaufmannsgerichte, in: JW 32 (1903), S. 57 – 59 (RA Berlin); Staub, Juristische Rundschau, in: DJZ 6 (1901), S. 86; 7 (1902), S. 140; 9 (1904), S. 149 f. (RA in Berlin; Mitherausgeber der DJZ).
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unseres Amtsgerichtsverfahrens herbeizuführen“. Bei der zweiten Lesung verabschiedete der Reichstag mit großer Mehrheit eine Resolution, in der die unverzügliche Inangriffnahme der Reform angemahnt wurde353. Nach Inkrafttreten des Gesetzes wurde es still um die Kaufmannsgerichte, ein Zeichen dafür, daß sie sich rasch und problemlos einlebten354. 3. Trotz ungünstiger Aussichten fand in den kommenden Jahren ein zähes Ringen um die Einführung einer Sondergerichtsbarkeit für gewerblichen Rechtsschutz statt. Die projektierten, aus Juristen und Technikern zusammengesetzten Gerichte sollten nicht für den Gesamtbestand gewerblicher Schutzrechte, sondern nur für Streitigkeiten über Patente und Gebrauchsmuster zuständig sein. Schwerkraft erhielt die Forderung durch die Tatsache, daß große Teile der deutschen Industrie, vertreten durch einflußreiche Interessenverbände, hinter ihr standen. Sozialpolitische Motive fehlten hierbei völlig, den Ansatzpunkt bildete allein die (mangelnde) Qualität der Rechtsprechung. Für die Juristen besaß die Auseinandersetzung prinzipielle Bedeutung: Sie sahen darin die Nagelprobe in ihrem Kampf gegen Laienandrang und Spezialgerichtsbarkeit 355. Die Beschwerden betrafen namentlich drei Aspekte: die lange Dauer der Prozesse (ein Umstand, der bei der auf fünfzehn Jahre begrenzten Schutzfrist eines Patents durchaus von Bedeutung war), die ungeeignete Auswahl der Sachverständigen und die fehlende Sachkenntnis der Richter. Letztere käme, so die Kritiker, vor allem in der ungenauen Fragestellung an die Sachverständigen zum Ausdruck, bei der Tat- und Rechtsfrage häufig vermengt würden, so daß der Sachverständige in die Rolle des Richters gedrängt werde. Aber auch sonst, etwa in der Auslegung der Patentschrift oder der Urteilsbegründung, mache sich das Problem bemerkbar. Die Verfechter der Sondergerichtsidee gingen aber noch weiter: Sie konstruierten einen prinzipiellen Gegensatz zwischen dem begrifflich-abstrakten Denken der Juristen und dem anschaulich-konkreten Denken der Techniker, weshalb es ersteren schwerfalle, wenn nicht gar versagt sei, technische Vorgänge angemessen zu erfassen und zu beurteilen. Diese Unterstellung, faktisch einer Kränkung gleichkommend, verwandelte die Vorbehalte der Juristen in entschiedenen Widerstand und ließ sie zum Gegenangriff übergehen: „Daß den Juristen als solchen überhaupt 353 Posadowsky, Sten. Ber. RT, 8. 6. 1904, S. 3018; die Resolution ebd., 10. 6. 1904, S. 3089. 354 Zur Bewährung der neuen Gerichte: V. Blobel, Juristen und Laien als Richter und Prozeßbevollmächtigte vor dem Kaufmannsgericht, in: Preußisches Verwaltungs-Blatt 29 (1907 / 08), S. 385 – 390 (Kaufmannsgerichtsbeisitzer). 355 Denkschriften und Broschüren: Denkschrift über die bisherigen Arbeiten des Deutschen Vereins für den Schutz des gewerblichen Eigentums, Berlin 1903, S. 1 – 10; H. Isay, Die Gerichtsbarkeit in Patentprozessen, Berlin 1908 (RA Berlin); B. Tolksdorf, Die Patentgerichte, Hannover 1908 (PA Berlin); H. Cahn, Techniker als Richter, Nürnberg 1908 (RA Nürnberg); F. Rathenau, Das Sachverständigenwesen in Patentprozessen, Berlin 1908 (LR Berlin); W. Degen, Gegen die Sondergerichte für Sachen des gewerblichen Rechtsschutzes, Leipzig 1908 (LG-Direktor Leipzig).
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die Fähigkeit zum anschaulichen Denken fehlt, ist eine fable convenue, die man um so weniger zum Axiom zu stempeln suchen sollte, als die Fälle recht zahlreich sind, in denen der Jurist den Sachverständigen ad absurdum führte. Die tägliche Praxis zeigt denn auch, daß die sog. analysierende, methodisch-begriffliche Denkweise, die unsere Juristen pflegen, unterstützt freilich von praktischer Lebenserfahrung und einer gewissen Summe außerjuristischer Kenntnisse, dem bloß ,anschaulichen‘ Denken weit überlegen ist“356. Der Antagonismus zwischen den Juristen und den Vertretern von Industrie und Technik verlieh der Debatte ihr spezifisches Gepräge. Leitmotivisch untermalt wurde sie vom Schlagwort der richterlichen „Weltfremdheit“. Organisatorisch standen sich zwei Modelle gegenüber: Während die Juristen an der bestehenden Gerichtsorganisation festhielten und für Spezialkammern mit ausgewählten, technisch vorgebildeten Richtern plädierten, wurde von industrieller Seite der Wunsch nach Sondergerichten verfochten, teils in Form selbständiger Gerichtshöfe, teils in Form gemischter Sonderkammern im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Eng damit verknüpft waren zwei weitere Fragen: die beschränkte oder vollständige Zentralisierung der Gerichte und die haupt- oder nebenamtliche Stellung der technischen Beisitzer. Vorbilder existierten für beide Modelle: Die eine Seite konnte auf die Patentrechtsprechung des Reichsgerichts, die andere auf die rechtsprechenden Abteilungen des Berliner Patentamts, in erster Instanz zuständig für Nichtigkeits- und Zurücknahmeklagen, verweisen. Die Sondergerichtspläne reichten weit zurück. Bereits im Vorfeld des Patentgesetzes von 1877 wurden entsprechende Überlegungen angestellt. Auf Anregung zweier großer Industrieverbände, des „Vereins Deutscher Ingenieure“ und des „Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands“, setzte der Bundesrat 1886 eine Enquêtekommission ein, die sich für einen aus juristischen und technischen Mitgliedern bestehenden Patentgerichtshof aussprach. In den Gesetzentwurf ging der Vorschlag nicht ein, wohl auch mit Rücksicht auf die projektierten Gewerbegerichte357. Josef Kohler, Mitbegründer des modernen Persönlichkeits- und Immaterialgüterrechts, schloß sich der Idee an, beharrte aber darauf, daß die rechtliche Entscheidung allein den Juristen vorbehalten bleiben müsse, während die Techniker lediglich beratende Funktion haben dürften358. Später setzte sich der 1891 gegründete „Deutsche Verein für den Schutz des gewerblichen Eigentums“ („Grüner Verein“) an die Spitze der Agitation. Ein Ende 1898 zur Revision des Patentgesetzes gewählter Ausschuß befaßte sich intensiv mit der Sondergerichtsfrage. Nachdem der Komplex auf verschiedenen Kongressen er356 L. Wertheimer, Die Ergebnisse des Leipziger Kongresses für gewerblichen Rechtsschutz, in: Leipziger Zeitschrift für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht 2 (1908), S. 671 – 680, hier S. 673 (RA in Frankfurt). 357 Vgl. dazu Denkschrift, S. 2. 358 Josef Kohler, Ueber die Aufgabe der Jurisprudenz im Industrierechte, in: AcP 71 (1887), S. 408 – 413, hier S. 413; zu Kohlers Wirken: J. Adrian / W. Nordemann / A.-A. Wandtke (Hg.), Josef Kohler, Berlin 1996.
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örtert worden war, verfaßte der Verein 1903 eine Denkschrift, die den politisch maßgebenden Stellen sowie zahlreichen Institutionen zugeleitet wurde. Der darin vorgelegte Organisationsplan sah als erste und zweite Instanz einen aus gemischten Kammern und Senaten bestehenden Zentralgerichtshof vor; als dritte Instanz sollte das Reichsgericht, ohne Rücksicht auf den Streitwert und als reines Revisionsgericht, fungieren359. Die preußische Justizverwaltung reagierte früh auf die Klagen, steuerte einer weiteren berufsständischen Zersplitterung der Gerichtsstruktur aber konsequent entgegen. In einer an die OLG-Präsidenten gerichteten Verfügung vom 25. 11. 1904 regte Schönstedt an, bei der Geschäftsverteilung der Kollegialgerichte darauf Bedacht zu nehmen, die gewerblichen Rechtsschutzsachen einem einzigen Senat oder einer einzigen Kammer zuzuweisen360. Die relativ geringe Zahl der Fälle zwang zu einer Konzentration auf bestimmte Gerichtshöfe, deren Mitglieder auf diese Weise Gelegenheit erhalten sollten, sich in das Rechtsgebiet einzuarbeiten. Hiermit verband sich die Hoffnung, daß sich die Parteien verstärkt auf die Spezialkammern als Gerichtsstand einigen würden (sog. Prorogation). Sämtliche Oberlandesgerichte und eine Reihe von Landgerichten folgten der Anregung. Zwei Jahre später erließ Beseler eine ausführliche Verfügung (11. 10. 1907), die alle Gravamina aufgriff361. Das Reskript gibt detaillierte Empfehlungen für die Einrichtung von Spezialkammern bei den Landgerichten und grenzt deren Geschäftskreis ab. Bei der Auswahl der Mitglieder seien „Neigung und Befähigung für technische Dinge, namentlich eine etwaige frühere Beschäftigung bei technischen Behörden oder industriellen Unternehmungen“, zu berücksichtigen. Die beim Landgericht I Berlin und in Köln bestehenden Ausbildungskurse über gewerbliche Schutzrechte werden zur Nachahmung empfohlen. Bezüglich der Verfahrenspraxis schlägt Beseler vor, Rechtsschutzsachen jeweils auf einen Sitzungstag anzuberaumen und vermehrt Einnahme des Augenscheins anzuordnen. Um die Beweisaufnahme durch Sachverständige zu verbessern, dringt er auf eine sorgfältigere Abfassung der Beweisbeschlüsse und eine sachgerechte Fragestellung. Auffällig ist der hohe Anspruch an die Richter: „Voraussetzung für eine richtige Fragestellung wird es daher regelmäßig sein, daß das Gericht sich grundsätzlich vollkommene Klarheit darüber geschaffen hat, welche technischen Fragen für die demnächst zu treffende Entscheidung von Erheblichkeit sind und welche rechtlichen Folgen aus der Beantwortung der den Sachverständigen vorgelegten Frage gezogen werden sollen“. 359 Zur vereinsinternen Debatte: Denkschrift, S. 3 – 10 und S. 34 (Beschlüsse); kritisch dazu: J. Gunz, Sondergerichtsbarkeit für Patentsachen, in: Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern 3 (1907), S. 31 – 36 (Sekretär der Handels- und Gewerbekammer Mittelfranken); Überblick bei: D. Stauder, Rechtszug und Rechtsmittel im Erteilungs-, Verletzungs- und Nichtigkeitsverfahren, in: Fr.-K. Beier u. a. (Hg.), Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland, Bd. 1, Weinheim 1991, S. 503 – 542, hier S. 522 – 528. 360 Kurze Mitteilung in: Blatt für Patent-, Muster- und Zeichenwesen 11 (1905), S. 42. 361 RV v. 11. 10. 1907, abgedr. in: Blatt für Patent-, Muster- und Zeichenwesen 13 (1907), S. 226 – 230 sowie in: GRUR 12 (1907), S. 389 – 393.
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Im Falle schriftlicher Begutachtung sollte der Sachverständige möglichst auch mündlich vernommen werden. Als Gutachter seien die „erfahrensten und zuverlässigsten Sachverständigen“ und „wirkliche Spezialisten“ heranzuziehen, bei der Vergütung könne entsprechend großzügig verfahren werden362. Auch noch auf andere Weise versuchte die preußische Justizverwaltung der Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Auf ihre Veranlassung hin veröffentlichte Fritz Rathenau, Mitglied der Patentkammer am Landgericht I Berlin, die Ergebnisse einer statistischen Erhebung, die Beseler im Anschluß an den Oktobererlaß in Auftrag gegeben hatte. Die Nachweisung erstreckte sich auf alle Patent-, Gebrauchsmuster- und Warenzeichenklagen, die in der Zeit vom 1. 1. 1905 bis 30. 6. 1907 bei 15 ausgewählten Landgerichten, bei denen ein größerer Geschäftsanfall erwartet werden konnte, eingegangen waren (Rathenau behandelte lediglich die ersten beiden Typen, da nur für sie Sondergerichte verlangt wurden)363. Die Zahl der einschlägigen Sachen war gering: In den zweieinhalb Jahren waren nur 907 Klagen anhängig geworden – Rathenau schätzte den Anteil der Patent- und Gebrauchsmusterfälle an allen erstinstanzlichen Landgerichtssachen für ganz Preußen auf höchstens 0,3 %. Mehr als die Hälfte der Klagen, nämlich genau 500, waren beim Landgericht I Berlin eingegangen, wo seit August 1905 eine Spezialkammer für Patentsachen und eine Sonderkammer für Handelssachen (zuständig für Gebrauchsmusterstreitigkeiten) bestanden. Zumindest erstere hatte sich die Anerkennung der beteiligten Kreise erworben, so daß vieles dafür sprach, daß der von der Verwaltung erhoffte Prorogationseffekt hier bereits eingetreten war. Die durchschnittliche Verfahrensdauer in erster Instanz entsprach genau den analogen Werten für alle Landgerichtsprozesse im Reich (weniger als sechs Monate: 53,50 %; sechs Monate bis ein Jahr: 27,85 %; länger als ein Jahr: 18,58 %). Dies überraschte insofern, als Patentsachen häufig umfangreich und schwierig waren. Ferner zeigte sich, daß die Sonderkammern erheblich schneller arbeiteten als die üblichen Zivilkammern. Wie im sonstigen Verfahren war die lange Dauer der Prozesse in erster Linie auf die Vertagungen seitens der Parteien zurückzuführen. Mit 58,55 % in Patentsachen und 47,9 % in Gebrauchsmustersachen lag der Anteil der Berufungen höher als im Reichsdurchschnitt (1901 – 1905: 42,3 %). Auch in der Berufungsinstanz dauerten die Verfahren nicht länger als gewöhnlich (unter sechs Monaten: 58,97 %; sechs Monate bis ein Jahr: 27,35 %; über ein Jahr: 13,68 %). Sachverständigenbeweis war nur in rund 33 % aller Prozesse erhoben worden, am seltensten bei den beiden Berliner Sonderkammern (21,43 % bzw. 17,24 %). Summa summarum: Während die Statistik den Spezialkammern ein günstiges Zeugnis ausstellte, waren Zweifel an der Berechtigung von Sondergerichten angebracht, auch wenn man die Dauer der Prozesse, absolut gesehen, für zu hoch halten mochte364. Zitate ebd., S. 227, 228, 229. Rathenau, Patent- und Gebrauchsmuster-Prozesse in Preußen im Lichte der Statistik, in: Leipziger Zeitschrift für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht 2 (1908), S. 488 – 506. 364 Vgl. auch die zusammenfassenden Ergebnisse ebd., S. 505 f. 362 363
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Die Reaktion der bayerischen Justizverwaltung folgte auf dem Fuß. Auch in Bayern traten die betreffenden Streitigkeiten selten auf: In den Jahren 1905 – 1909 wurden lediglich 129 Patent- und 167 Gebrauchsmustersachen in erster Instanz anhängig; in zweiter Instanz waren es 51 bzw. 19 Sachen365. Gleichwohl ließ Justizminister Miltner an den Landgerichten München I, Nürnberg, Frankenthal, Augsburg und Würzburg Spezialkammern für Sachen des gewerblichen Rechtsschutzes und verwandter Gebiete einrichten (Entschließungen vom 7. 3. und 20. 11. 1908). Die interessierten Kreise wurden über die Maßnahmen in Kenntnis gesetzt, mit der Bitte, bei etwaigen Rechtsstreitigkeiten die betreffenden Landgerichte als Gerichtsstand zu vereinbaren. Ein weiterer Erlaß vom 31. 1. 1909 zielte – unter Hintansetzung des Kostenpunktes – auf eine bessere Auswahl der Sachverständigen366. Auch Baden, Hessen, Hamburg und Elsaß-Lothringen folgten dem preußischen Beispiel und installierten Spezialgerichtshöfe an den Land- und Oberlandesgerichten367. Gleichzeitig bemühten sich verschiedene Bundesstaaten darum, die ökonomischen Kenntnisse der jungen Juristen nachhaltig zu verbessern (allen voran Preußen und Bayern)368. Damit hatte das Problem, wie sich schon nach kurzer Zeit zeigte, seine pragmatische Lösung gefunden. Unterdesssen strebte der Streit um das Für und Wider von Sondergerichten seinem Höhepunkt entgegen. Die eigentliche „Schlacht“ (Rathenau) wurde auf dem Leipziger Kongreß für gewerblichen Rechtsschutz (15. – 20. 6. 1908) geschlagen. Sie war begleitet von einer Flut von Stellungnahmen, bei der sich Zustimmung und Ablehnung ungefähr die Waage hielten369. Die federführende Kommission hatte 365 Zahlen nach: Anlage zum Gutachten von Hugo Cahn, in: Verh. d. 30. DJT, Bd. 2, Berlin 1911, S. 282 (RA in Nürnberg). 366 Abdr. der Entschl. v. 20. 11. 1908 und 31. 1. 1909 bei: H. Cahn, Gutachten über die Frage: Empfehlen sich Sondergerichtshöfe in Streitigkeiten aus dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes?, in: Verh. d. 30. DJT, Bd. 1, Berlin 1910, S. 513 – 563, hier S. 553 – 557; dort auch Abdr. der Eingabe des Bayerischen Industriellenverbandes v. 2. 11. 1908 mit der Bitte um Einrichtung von Spezialkammern und der Antwort Miltners v. 31. 1. 1909 (S. 550 – 553). 367 Siehe das Verzeichnis in GRUR 15 (1910), S. 263 (Ergänzung S. 288). 368 Dazu ausführlich unten Kap. III. 369 Wichtigste Äußerungen: Pro: G. Rauter, Zur Frage der technischen Gerichtshöfe, in: MuW 7 (1907 / 08), S. 133 – 138 (PA Charlottenburg; Vertreter d. Bundes der Industriellen); Damme, Sachverständige Gerichte oder gerichtliche Sachverständige?, in: DJZ 13 (1908), S. 394 – 399 (Direktor im Patentamt); Wildhagen, Der Kongreß für gewerblichen Rechtsschutz zu Leipzig, in: Leipziger Zeitschrift für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht 2 (1908), S. 481 – 488 (RA Leipzig); R. Wirth, Zur Rechtsfindung durch gemischte Gerichte, in: GRUR 13 (1908), S. 206 – 211 (PA Frankfurt); J. v. Schütz, Die Patentgerichte auf dem Leipziger Kongreß für gewerblichen Rechtsschutz, in: ebd., S. 299 – 305 (Vors. d. „Grünen Vereins“); E. Breslauer, Beitrag zur Frage der Sondergerichtsbarkeit, in: ebd., S. 337 – 341 (PA Leipzig); contra: L. Wertheimer, Die Gerichtsbarkeit in gewerblichen Rechtsschutzsachen, in: MuW 7 (1907 / 08), S. 153 – 157 (RA Frankfurt); Fr. Rathenau, Die Patentgerichte auf dem Leipziger Kongreß für gewerblichen Rechtsschutz, in: Das Recht 12 (1908), S. 633 – 635; Hagens, Bemerkungen zu dem Aufsatze des Herrn Dr. Wirth, in: GRUR 13 (1908), S. 341 – 344 (RG-Rat); P. Alexander-Katz, Ueber Sondergerichte für den gewerblichen Rechts-
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folgenden Aufbau vorgeschlagen: erste Instanz: Rechtsschutzkammern, angegliedert an bestimmte Landgerichte und bestehend aus einem juristisch gebildeten Vorsitzenden sowie zwei juristischen und zwei technischen Beisitzern; zweite Instanz: zentrales Berufungsgericht, ebenfalls besetzt mit drei Richtern und zwei Technikern; dritte Instanz: Reichsgericht ohne Streitwertbegrenzung als Revisionsinstanz. Nach ausführlicher Diskussion sprach sich der Kongreß mit 98 gegen 53 Stimmen für gemischte Gerichte in Sachen des gewerblichen Rechtsschutzes aus. Beschlüsse über die konkrete Ausgestaltung wurden nicht gefaßt, hauptsächlich wohl, um das Gewicht des Hauptvotums nicht zu schmälern. Die Frontlinie verlief eindeutig: Für den Antrag stimmten die Vertreter der Industrie, die Patentanwälte und einige Rechtsanwälte, gegen ihn alle übrigen Juristen370. Die preußische Justizverwaltung ließ durch ihren Vertreter erklären, „daß sie sich von der Errichtung eines Sondergerichtshofes und der Abtrennung dieser wichtigen Sachen von der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte eine bessere sachliche Behandlung dieser Sachen nicht versprechen kann, daß sie dagegen eine solche Maßregel als eine schwere Schädigung der allgemeinen Rechtspflege betrachten muß“371. Einhellig begrüßt wurden die Konzentrationsbemühungen der Verwaltung. In Fortbildung des Prinzips schlug die Versammlung vor, das gesamte Reichsgebiet in große Bezirke einzuteilen und jeweils bestimmte Land- und Oberlandesgerichte für ausschließlich zuständig zu erklären. Daß der 30. Deutsche Juristentag, der zwei Jahre später in Danzig zusammentrat (12. – 14. 9. 1910), das Thema ebenfalls behandelte, trug unverkennbar Züge einer Revanche, sollte aber auch das neue Selbstbewußtsein der Richter demonstrieren. Das Ergebnis war vorhersehbar: Auf der Basis eines ausführlichen Gutachtens von Rathenau, mittlerweile Regierungsrat am Kaiserlichen Patentamt, erteilte die zuständige Abteilung technischen Sondergerichten eine klare Absage (nur 9 Teilnehmer stimmten dafür)372. Nicht anders sah das Meinungsbild in der Publizistik aus373. schutz, in: Zeitschrift für Industrierecht 3 (1908), S. 253 – 255 (RA Berlin); Schlesinger, Der Ingenieur in der Rechtsprechung und in der Verwaltung, in: Annalen des Deutschen Reichs 1909, S. 247 – 252 (Prof., Ingenieur). 370 Vgl. die Abstimmungsliste bei Schütz, S. 302 – 305; abgedr. auch in der KZ v. 2. 7. 1908. 371 Zit. bei: Lobe, Empfehlen sich Sondergerichtshöfe in Streitigkeiten aus dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes?, in: DRZ 2 (1910), S. 284 – 296, hier S. 285 (OLG-Rat Dresden). 372 Verh. d. 30. DJT, Bd. 1, S. 302 – 488 (Gutachten Rathenau) sowie Bd. 2, S. 200 – 308 (Beratung und Abstimmung) und S. 558 – 562 (Bericht ans Plenum). 373 Pro: H. Isay, Empfehlen sich Sondergerichtshöfe in Streitigkeiten aus dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes?, in: GRUR 15 (1910), S. 269 – 280 (Bericht auf dem DJT); contra: H. Heimann, Zur Frage der technischen Gerichtshöfe, in: GRUR 15 (1910), S. 197 – 205 (PA Berlin); A. Seligsohn, Empfehlen sich Sondergerichtshöfe in Streitigkeiten aus dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes?, in: ebd., S. 336 – 342 (RA Berlin; Bericht auf dem DJT); Schlichting, Ein neues Sondergericht?, in: DRZ 2 (1910), S. 281 – 284 (LR Berlin); Lobe, Empfehlen sich Sondergerichtshöfe in Streitigkeiten aus dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes?, in: ebd., S. 284 – 296 (OLG-Rat Dresden); H. Cahn, Gerichtshöfe für ge-
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Das Verlangen nach gewerblichen Sondergerichten brach sich in erster Linie an der Entschlossenheit der Reichsleitung und der Justizverwaltungen, die ordentliche Gerichtsbarkeit nicht weiter aushöhlen zu lassen. Die Agitation krankte aber auch an inhaltlichen Schwächen: So plausibel sie auf den ersten Blick erscheinen mochte, so wenig hielt sie einer genaueren Prüfung stand. Vor allem für das Verhältnis zwischen technischen Beisitzern und Sachverständigen, die auch künftig nicht zu entbehren waren, und die Organisationsfrage konnten überzeugende Lösungen nicht angeboten werden. Trotz Aufforderung seitens der preußischen Justizverwaltung vermochten es die Sondergerichtsanhänger nicht, ihre Klagen über die unzulängliche Gerichtspraxis durch akten- oder zahlenmäßiges Material substantiell zu untermauern374. Von daher war die weitere Entwicklung vorgezeichnet: Der 1913 veröffentlichte Entwurf eines Patentgesetzes sah die gerichtliche Konzentration der Streitsachen vor, begnügte sich also damit, die gefundene Lösung auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen (endgültig verwirklicht im Patentgesetz von 1936)375. Auch sonst verlor der Sondergerichtsgedanke kaum an Attraktivität. Auf keinem Gebiet gingen die Wogen allerdings ähnlich hoch wie auf dem des gewerblichen Rechtsschutzes. Die Sozialdemokraten traten weiterhin dafür ein, die Zuständigkeit der Gewerbegerichte auf weitere Berufsstände auszudehnen (Seeleute, Heimarbeiter, technische Angestellte, Bürogehilfen, Landarbeiter, Gesinde). Als selbständige Gerichtsformationen wurden Handwerkergerichte und, auch dies eine Forderung der SPD, Arbeitsgerichte verlangt376. 4. Auch die zweite Form der „Gerichtsflucht“ (Schwartz), die Bildung berufsständischer Schiedsgerichte, machte erhebliche Fortschritte. Einzelne Zweige von Industrie und Handel vereinbarten – unter Ausschaltung des ordentlichen Rechtsweges – eigene Schiedsgerichtsordnungen, letzterer ungeachtet der Tatsache, daß an vielen Landgerichten Kammern für Handelssachen bestanden. Neben den Börsenschiedsgerichten existierten etwa Schiedsgerichte für die Textil-, Konfektionsund Wäschebranche, die Obst- und Gemüsekonservenbranche und das Hotelgewerbe. In Berlin gab es Schiedsgerichte u. a. für den Butter-, Käse- und Schmalzhandel, den Eierhandel, den Kolonialwarenhandel, den Lederhandel, den Holzhandel und den Ziegelhandel. Mancherorts richteten die Grund- und Hausbesitzervereine Schiedsgerichte für Mietstreitigkeiten ein, die teilweise auch von den Mietervereinen anerkannt wurden377. werblichen Rechtsschutz, in: ebd., S. 371 – 378 (RA Nürnberg); A. Düringer, Empfehlen sich Sondergerichte in Streitigkeiten aus dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes?, in: Leipziger Zeitschrift für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht 4 (1910), S. 664 – 666 (RGRat). 374 Einige Beispiele bei Breslauer, S. 337 f. 375 Vgl. Stauder, S. 527 f. 376 Vgl. dazu Damrau, S. 194, Anm. 112; Dannreuther, S. 159 ff. 377 Vgl. dazu Ernst Fuchs, Die Gemeingefährlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, Karlsruhe 1909, S. 150 – 153 (in: ders., Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechts-
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5. Prozeßverschleppung, Sonder- und Schiedsgerichte verstärkten den Ruf nach einer Reform des amtsgerichtlichen Verfahrens. Eugen Schiffer, mittlerweile Landgerichtsrat in Magdeburg, sprach vielen aus dem Herzen, als er den Prozeß „ein zugleich juristisch und sozialpolitisch verkümmertes Gebilde“ nannte378. Ungeachtet des „negativen“ Ausgangs des Berliner Juristentages drängte auch Schönstedt seit Ende 1902 auf eine Annäherung des amtsgerichtlichen Prozesses an das Gewerbegerichtsverfahren. Mit Rücksicht auf den zu erwartenden Widerstand der Anwaltschaft und die beabsichtigte Einführung der Kaufmannsgerichte behandelte Nieberding die Frage zunächst dilatorisch. Schönstedt blieb indes beharrlich: „Eine durchgreifende Reform wird im wesentlichen gegen die Rechtsanwaltschaft und die mit ihr in Verbindung stehenden Kreise ins Werk gesetzt werden müssen“379. So kam es denn auch. Nach Verabschiedung des Kaufmannsgerichtsgesetzes wurden die Vorarbeiten aufgenommen, indem sich drei Kommissare auf den Weg nach Österreich machten, um den dortigen Zivilprozeß zu studieren (Oktober 1904). Im April 1905 lud Nieberding den preußischen Justizminister zu kommissarischen Beratungen ein, nicht ohne den Umfang der Revision sogleich auf den Amtsgerichtsprozeß zu begrenzen. Die Reformarbeiten mündeten in den Entwurf einer Amtsgerichtsnovelle, der im Oktober 1907 dem Bundesrat und, mit geringfügigen Abweichungen, im Februar 1908 dem Reichstag zugeleitet wurde. Die Reichstagskommission nahm an der Vorlage einige Änderungen vor, ließ sie in ihrer Substanz aber unberührt. Den Reichstag passierte sie in dritter Lesung am 5. 5. 1909 (Gesetz v. 1. 6. 1909, in Kraft getreten am 1. 4. 1910)380. Die Novelle war Ausdruck der durch die „Vertrauenskrise“ in Gang gesetzten Reformbewegung. Drei eng miteinander verknüpfte Leitgedanken schälen sich heraus: Hebung der Stellung und des Ansehens der Richterschaft durch verstärktes Einzelrichtertum sowie erweiterte Prozeßbefugnisse, Vereinfachung und Verbilligung des Verfahrens, Herstellung einer größeren „Intimität“ zwischen Richter und Publikum durch Zurückdrängung der Anwaltschaft. Die hauptsächlichen Regelungen waren: Verdoppelung der amtsgerichtlichen Zuständigkeitssumme auf 600 Mark; weitgehende Einschränkung des Parteibetriebs; Entlastung der Richter reform, hg. v. A. S. Foulkes, Bd. 1, Aalen 1970, S. 143 – 455); Abdr. der kurz zuvor vereinbarten Schiedsgerichtsordnungen für die Textil-, Konfektions- und Wäschebranche sowie die Obst- und Gemüsekonservenbranche, in: Monatsschrift für Handelsrecht und Bankwesen 16 (1907), S. 176 – 178. 378 Schiffer, Die Reform des amtsgerichtlichen Verfahrens, in: DJZ 7 (1902), S. 523 f., Zitat S. 524; ähnlich Haake, Zur herrschenden Prozeßnot, in: ebd. 12 (1907), S. 473 f. (LGRat in Oldenburg i. Gr.). 379 Schönstedt an Nieberding, 3. 12. 1903 (zit. n. Damrau, S. 193). Angesichts der Umstände hielt es das Justizministerium für angebracht, die Reform publizistisch vorzubereiten. Dazu diente: F[elix] Vierhaus, Soziale und wirtschaftliche Aufgaben der Zivilprozeß-Gesetzgebung, in: Festgabe für R. Koch, Berlin 1903, S. 37 – 74. 380 Zur Amtsgerichtsnovelle von 1909: Damrau, S. 198 / 206 – 228; Dannreuther, S. 239 – 262; A. Köster, Die Beschleunigung der Zivilprozesse und die Entlastung der Zivilgerichte in der Gesetzgebung von 1879 bis 1993, Bd. 1, Frankfurt / M. 1995, S. 105 – 142.
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von unnötigem Schreibwerk; Einführung des Nacheids in das Zivilprozeßrecht; Umgestaltung des Mahnverfahrens. Wie zu erwarten, entfachte die Anwaltschaft eine heftige Polemik; Schützenhilfe erhielt sie von wissenschaftlicher und gewerblicher Seite. Die wichtigsten Kritikpunkte betrafen den begrenzten Geltungsbereich der Reform, ihren Stückwerkscharakter, die Einschränkung des Anwaltszwangs, das Abrücken vom Kollegialitätsprinzip sowie die fiskalischen Motive (Personalersparnis)381. Der Erfolg war begrenzt: Immerhin strich der Bundesrat die vorgesehene Einführung einer Berufungssumme, und die Reichstagskommission setzte die Zuständigkeitsgrenze von 800 auf 600 Mark herunter (Adickes hatte 1.000 bis 1.500 Mark ins Auge gefaßt); zudem lehnte sie den Vorschlag der Regierung ab, über den Hebel der Gerichtskosten (§ 48 GKG) den Prozeßgang zu beschleunigen. Da die durchschnittliche Verfahrensdauer bei den Amtsgerichten ohnehin erheblich kürzer war als bei den Landgerichten, beschränkte sich der Beschleunigungseffekt der Novelle auf diejenigen Sachen, die bislang bei den Landgerichten anhängig gewesen waren382. Bei der Amtsgerichtsnovelle handelte es sich um eine längst überfällige Reform. Ihre Wirkung bestand nicht zuletzt darin, daß sich der Wunsch nach neuen Sondergerichten merklich abkühlte. An eine Umgestaltung des landgerichtlichen Verfahrens wagte sich die Reichsleitung – hauptsächlich aus Scheu vor dem Konflikt mit der organisierten Anwaltschaft – nicht heran.
3. Die Methodendiskussion Der Zivilrechtsbereich bildete auch das Terrain, auf dem der Streit um die richtige Methode in der Anwendung des Rechts ausgefochten wurde. Im Gegensatz zu den bislang erörterten Themenkreisen handelte es sich fast ausschließlich um eine fachinterne Debatte, die in ihren Ursprüngen bis in die späten 50er Jahre des 19. Jahrhunderts zurückgeht, ihren Höhepunkt aber erst nach der Jahrhundertwende erreichte. Dabei blieb der Gegner – in Form der herrschenden Begriffsjurisprudenz mit ihrem stark formalistischen Gepräge – stets derselbe. Nach 1900 rückte die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Richter in den Vordergrund, Zielvorstellungen waren vor allem eine wirklichkeitsnähere Form der Rechtsanwendung sowie, als Folge davon, eine stärkere Einzelfallgerechtigkeit. In das Spektrum der Justizkritik läßt sich das Thema als Seitenstück der die Jurisdiktion betreffenden Klagen einordnen. Kaum zu übersehen sind darüber hinaus die größeren geistesgeschichtlichen Zusammenhänge: Mit der Berufung auf das „Leben“, gleichermaßen gegen Rationalismus, Historismus und positivistische Wissenschaft381 Zusammenstellung der Kritiken bei: H. Dittenberger (Hg.), Gutachtliche Äußerungen zur Justiznovelle, Halle 1909 (RA in Halle). 382 Vgl. dazu Köster, S. 125 – 131 (mit Tabellenwerk).
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lichkeit gerichtet, nahm die Debatte das „Lieblingswort des Zeitgeistes“ (Nipperdey) auf. Systematischen Ausdruck fand dieser in der Lebensphilosophie der Jahrhundertwende (Nietzsche, Dilthey), gewissermaßen das positive Gegenstück zur Kulturkritik383. Zum besseren Verständnis erscheint es zunächst angebracht, einen kurzen Rückblick auf die Entwicklung der deutschen Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert zu werfen384. Die Historische Rechtsschule, in Reaktion auf das überzeitliche Vernunftrecht der Aufklärung kurz nach 1800 entstanden, teilte sich von Beginn an in einen romanistischen und einen germanistischen Zweig, die eine zeitlang friedlich verbunden blieben, im Laufe des Vormärz aber, vor allem aus nationalpolitischen Gründen, in heftigen Streit gerieten. Unter Führung Friedrich Carl von Savignys (1779 – 1861) entwickelte sich die Romanistik zu einer systematisch-methodischen Zivilrechtswissenschaft auf klassisch-römischer Grundlage, der berühmt-berüchtigten Pandektenwissenschaft. Die Begriffsarbeit der Pandektisten machte das Recht zu einer modernen autonomen Fachwissenschaft, versehen mit einer spezifisch juristischen Methode und Denkweise. Materielles Ziel war die wissenschaftliche Erneuerung des geltenden gemeinen Rechts („System des heutigen Römischen Rechts“). Als eigentlicher „Begründer der klassischen Begriffsjurisprudenz“ (Wieacker) gilt Savignys Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl, Georg Friedrich Puchta (1798 – 1846). Puchta stellte der Rechtswissenschaft die Aufgabe, ein System hierarchischer Begriffe zu entwickeln, mit dessen Hilfe die heterogene und unübersichtliche Masse des gemeinen Rechts geordnet und neue Rechtssätze systemimmanent, durch „Entwicklung aus dem Begriff“, gewonnen werden sollten (Konstruktionsjurisprudenz) – beides nicht zuletzt mit Blick auf eine zukünftige Kodifikation. Da ein gesamtdeutsches Gesetzbuch ebenso fehlte wie eine gemeinsame höchstrichterliche Instanz und ein nationaler Gesetzgeber, war es nur folgerichtig, daß Puchta der Jurisprudenz und dem von ihr ausgebildeten Juristen die alleinige Kompetenz zusprach, Recht zu erzeugen und fortzubilden. Nach Ansicht der Pandektisten bestand jedwede Rechtsordnung aus einem geschlossenen, widerspruchsfreien und prinzipiell lückenlosen System von Begriffen und Lehrsätzen, und zwar unter bewußtem Verzicht auf außerjuristische Begründungen religiöser, philosophischer, politisch-sozialer oder sonstiger Art – Ziel war ein dezidierter rechtswissenschaftlicher Positivismus. Etwaige Lücken im Normenbestand ließen sich, so die Argumentation, durch logische Deduktion systemad383 Zur Konjunktur des Begriffs „Leben“ sowie zur Lebensphilosophie Nipperdey, I, S. 684 – 691. 384 Zum folgenden grundlegend: Fr. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2., neubearb. Aufl., Göttingen 1967, S. 348 – 458; Überblick bei: H. Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 10., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Heidelberg 2005, S. 143 – 169; weiterhin: R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, Frankfurt / M. 1986 (teilweise einschränkend); Nipperdey, I, S. 655 – 658; allgemein zur juristischen Methodik: K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6., neu bearb. Aufl., Berlin 1991 (zur Begriffsjurisprudenz S. 19 – 35, zur Auslegung der Gesetze S. 312 – 365).
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äquat schließen. Als zulässige Anwendungs- und Ausfüllungsregeln galten die (strikte, restriktive oder extensive) Auslegung, die Analogie (Übertragung der Rechtsfolge eines geregelten Tatbestandes auf einen ungeregelten) und der Umkehrschluß (argumentum e contrario). Eine wichtige Rolle spielten darüber hinaus der durch das Studium der Gesetzgebungsmaterialien zu ermittelnde „Wille des Gesetzgebers“ sowie obergerichtliche Präjudizien. Waren die Begriffe und Lehrsätze erst einmal hinreichend ausdifferenziert, so reduzierte sich der Akt der richterlichen Rechtsfindung – idealiter – auf die logisch korrekte Subsumtion des Einzelfalles unter die allgemeine Regel („Subsumtionsautomat“). Dieses selbstreferentielle System- und Begriffsdenken verlieh der Pandektenwissenschaft ihren ausgeprägt formalistischen Charakter. Auf der anderen Seite trug die ideelle Neutralisierung wesentlich zum Erfolg der neuen Lehre bei, da sie das Recht den gesellschaftlichen Interessenkämpfen (bis zu einem gewissen Grade) entzog: „In einer pluralistischen Gesellschaft kann schlichtende Kraft nur der formalen Regel des positiven Rechts zukommen“385. Mehr aber noch verdankte sich dieser der Tatsache, daß das Pandektenrecht den bürgerlich-liberalen Forderungen nach Privatautonomie, vor allem Vertrags- und Eigentumsfreiheit, entgegenkam, so daß es der spätestens nach der Jahrhundertmitte einsetzenden Industrialisierung rechtlich den Weg ebnete. Die pandektistische Methode prägte entscheidend die Denkweise der Juristen und wurde nicht nur von anderen rechtswissenschaftlichen Disziplinen, namentlich dem Staatsrecht (Gerber, Laband), übernommen, sondern beeinflußte auch, wie im Vorstehenden darzulegen versucht wurde, in erheblichem Maße die Strafrechtsprechung386. Dank ihrer gewann die deutsche Zivilrechtswissenschaft hohes internationales Ansehen, mit Ausstrahlungen weit über den europäischen Raum hinaus. Bei allen sonstigen Unterschieden waren sich die Kritiker der herrschenden Lehre darin einig, daß sich die Begriffsjurisprudenz in formallogischen Konstruktionen erschöpfe und die gesellschaftliche Wirklichkeit dabei aus dem Blick verloren habe. Zum Ahnherrn der Methodenkritik wurde Rudolph v. Jhering. Ursprünglich der wohl radikalste Vertreter der Pandektistik, begann er Ende der 50er Jahre von ihr abzurücken, um sie fortan mit Hohn und Spott zu überschütten. Einer größeren Öffentlichkeit wurde Jhering durch seine „Weihnachtsgabe“ mit dem Titel „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“, in der Erstauflage 1884 erschienen, bekannt387. FolWieacker, S. 440. Zur Übertragung auf das Staatsrecht: W. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1958; Nipperdey, I, S. 658 – 661; zum Einfluß auf die Strafrechtspflege oben Zweiter Teil, A, Kap. IV sowie B, Kap. II / 2. 387 Rudolph v. Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 2. Aufl., Leipzig 1885. Bei den ersten beiden Teilen der Schrift handelte es sich um den Wiederabdruck älterer Texte, die letzten beiden waren neu verfaßt. Rudolph v. Jhering (1818 – 1892) lehrte, nach zahlreichen Stationen, seit 1872 in Göttingen; zu seinen Anschauungen s. die Beiträge in: Fr. Wieacker / Chr. Wollschläger (Hg.), Jherings Erbe, Göttingen 1970; O. Behrends (Hg.), Jherings Rechtsdenken, Göttingen 1996. 385 386
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gende Passage mag den Kern seiner Polemik, aber auch seine Lust an satirischer Zuspitzung verdeutlichen: In einem Traum führt ein Geist, zu Lebzeiten ebenfalls Professor für Römisches Recht, die Seele des toten Autors durch den „juristischen Begriffshimmel“. Als letzterer nach der Bedeutung der dort verhandelten Probleme für das praktische Leben fragt, klärt ersterer ihn im Brustton der Überzeugung auf: „Hier herrscht nur die reine Wissenschaft, die Rechtslogik, und die Bedingung ihrer Herrschaft und all der Herrlichkeit, die sie aus sich entläßt, besteht gerade darin, daß sie mit dem Leben nicht das mindeste zu schaffen hat. [ . . . ] Das Leben, an welches Du denkst, ist gleichbedeutend mit dem Tod der wahren Wissenschaft. Es ist die Knechtschaft der Wissenschaft, der Frondienst der Begriffe, die anstatt, wie sie es beanspruchen können, sich selber zu leben, in das erniedrigende Joch der Bedürfnisse des irdischen Lebens gespannt werden“388. Demgegenüber sah Jhering im „Zweck“, verstanden als Ergebnis der sozialen Interessen- und Machtkämpfe, den entscheidenden Faktor der Rechtsbildung. Damit wurde er zum „maßgebenden Ahnherrn moderner Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz“ (Hollerbach). Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß Jhering selbst die erwähnte Kehrtwende auf das Vorbild des von ihm glühend verehrten Bismarck zurückführte. In seinem Dankesbrief an den Reichskanzler für dessen Glückwunsche zu seinem siebzigsten Geburtstag schrieb er über seinen geistigen Werdegang: „Aber nicht bloß der Mensch, auch der Jurist ist sich des hohen Einflusses bewußt geworden, den Ew. Durchlaucht auf ihn ausgeübt haben. In dem Kampfe, den er seit Jahren gegen die zur Zeit noch herrschende unfruchtbare Richtung innerhalb der Jurisprudenz führt, welche über dem Blendwerk logischer Konsequenzen und abstrakter Prinzipien des Blickes für die realen Dinge verlustig gegangen ist, hat ihn stets der Gedanke beseelt und gestählt, daß er innerhalb seiner beschränkten Sphäre nur den Anregungen gefolgt ist, die der große Meister der Realpolitik ihm gegeben hat. Er lebt der Überzeugung, daß sich das Vorbild Ew. Durchlaucht auch bei der jüngeren Generation fruchtbar erweisen und daß in der Rechtswissenschaft ein Umschwung eintreten wird, den man dermaleinst als den Übergang von der formalistischen zur realistischen Methode bezeichnen wird“389. Auf breiter Front machte sich der Unmut über die juristische Methodik im Zuge der Entstehungsgeschichte des BGB bemerkbar. Ob seines doktrinär pandektistischen, in vielerlei Hinsicht lebensfremden Charakters traf der „Erste Entwurf“ (1887) in der Öffentlichkeit auf breite, teilweise scharfe Kritik. Unter den wissenschaftlichen Stellungnahmen ragten diejenigen des Germanisten Otto v. Gierke und des österreichischen Kathedersozialisten Anton Menger heraus, die beide, von Jhering, Scherz und Ernst, S. 259. Jherings Brief (15. 9. 1888) findet sich als Anhang in: Rudolf von Jhering in Briefen an seine Freunde, hg. v. H. Ehrenberg, Leipzig 1913, S. 441 – 444. In seinem Gratulationsschreiben hatte Bismarck den Empfänger als „Herr Kollege“ angeredet, womit er auf den Umstand anspielte, daß es Jhering war, der die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Bismarck durch die Juristische Fakultät der Universität Göttingen betrieben und das Doktordiplom als Dekan persönlich überreicht hatte (Abdr. des Schreibens ebd., S. 445). 388 389
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unterschiedlicher Warte aus, die individualistisch-liberale, in der Konsequenz unsoziale Ausrichtung des Entwurfs und der ihm zugrundeliegenden Zivilrechtswissenschaft anprangerten390. Obwohl das BGB – ungeachtet der durch die Kritik bewirkten Änderungen eine Spätfrucht der Pandektistik – das Dogma von der Geschlossenheit des Rechts zu bestätigen schien, machten sich in der Praxis doch alsbald Lücken bemerkbar, die sich mit den herkömmlichen hermeneutischen Methoden nicht mehr adäquat füllen ließen. Die problematischen Fälle resultierten zum größeren Teil aus der wirtschaftlichen Dynamik, zum geringeren aus den politischen Konflikten391. Dies brachte die Richter in eine schwierige Lage: Einerseits stand ihnen eine Kompetenz zur Rechtsfortbildung verfassungsrechtlich nicht zu und widersprach auch ihrem Selbstverständnis, andererseits durften sie zweifelhafte Rechtsfälle nicht unter Hinweis auf die lückenhafte Gesetzeslage zurückweisen (sog. Rechtverweigerungsverbot). Das Reichsgericht scheute Rechtsfortbildungen keineswegs, und die Generalklauseln des BGB über „Treu und Glauben“ und „gute Sitten“ (§§ 138, 242, 826) forderten die Richter zu rechtsschöpferischer Tätigkeit geradezu auf392. Der Weltfremdheitsvorwurf tat ein übriges, um die Debatte anzuheizen, so daß der Methodenstreit binnen weniger Jahre in voller Schärfe entbrannte. Dabei schälten sich fünf Reformrichtungen heraus: die Freirechtslehre, die soziologische Rechtslehre, die Interessenjurisprudenz, die naturwissenschaftliche Jurisprudenz und die Gefühlsjurisprudenz. Das Thema löste eine Vielzahl von Stellungnahmen aus und zog weite Kreise393. Die heftigsten Reaktionen provozierten die Freirechtsschule und die mit ihr assoziierte „soziologische Rechtslehre“. Zum engeren Kreis zählten der österreichische Zivilist Eugen Ehrlich, der Karlsruher Rechtsanwalt Ernst Fuchs, der Freiburger Privatdozent Hermann Kantorowicz, der Greifswalder Zivilist Ernst Stampe, der Heidelberger Privatdozent Gustav Radbruch, der Stuttgarter Oberlandesgerichtsrat Johann Georg Gmelin sowie der Oldenburger Landrichter Max Rumpf, zum weiteren u. a. der Leipziger Privatdozent Hans Reichel, der Jenaer Oberlandesgerichtspräsident Viktor Börngen sowie der OLG-Rat Richard Deinhardt, ebenfalls aus Jena394. 390 Th. Haack, Otto von Gierkes Kritik am ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches, Frankfurt / M. 1997; Chr.-M. Pfennig, Die Kritik Otto von Gierkes am ersten Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches, Göttingen 1997; D. Schwab, Das BGB und seine Kritiker, in: ZNR 22 (2000), S. 325 – 357 (ausgehend von Gierke, aber mit breiterem Ansatz); M. John, Politics and the Law in Late Nineteenth-Century Germany, Oxford 1989; Nipperdey, II, S. 195 – 198. 391 Zum folgenden: R. Schröder, Die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 323 – 367 (Reaktionen der Richterschaft); A. Gängel / K. A. Mollnau, Stationen der Methodenreformbewegung in Deutschland, in: dies. (Hg.), Gesetzesbindung und Richterfreiheit, Freiburg 1992, S. 295 – 330 (Sammelband mit Texten aus den Jahren 1900 – 1914); zu den Methoden richterlicher Rechtsfortbildung Larenz, S. 366 – 436. 392 Beispiele für die Rechtsfortbildung des RG bei Schröder, S. 340 – 343. 393 Zusammenstellung der Literatur bis 1914 bei Gängel / Mollnau, S. 411 – 440.
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Die Freirechtler verfolgten zwei Grundanliegen: Zunächst ging es ihnen darum, Licht in den dunklen Prozeß der Urteilsbildung zu bringen, also im besten Sinne aufklärerisch zu wirken („Entlarvungskampf“). Verworfen wurde die simplifizierende Vorstellung von der Rechtsfindung als einer rein logisch-begrifflichen Operation, unvermeidlicherweise würden ebenso subjektiv-emotionale Faktoren in diese einfließen (Werturteile, Interessen, Einstellungen, Rechtsgefühl etc.). Realiter sei die Rechtsanwendung nie nur bloße Subsumtion, sondern immer auch Rechtsschöpfung sui generis. Vor allem das Gerechtigkeitsgefühl gelte es als Rechtsquelle zu rehabilitieren: In juristisch geschulter Form müsse es „die Rolle des Pfadfinders und des Warners“ übernehmen, unter der Maßgabe, Urteil und Rechtsempfinden in möglichste Übereinstimmung miteinander zu bringen395. Nur auf diese Weise seien individuell gerechte Entscheidungen denkbar: „Erst wenn der Bann schematisierender, Gesetz und Leben gleichermaßen vergewaltigender Konstruktionen gebrochen sein wird, wird es möglich sein, im Rahmen des Gesetzes die Gerechtigkeit zu verwirklichen“. Zum anderen bemühten sich die Freirechtler, gewisse Regeln für die Ausfüllung der Gesetzeslücken zu formulieren. In derartigen Fällen müsse der Richter seiner freien wissenschaftlichen Überzeugung folgen, „aber stets unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Gegenwart, der im Volke herrschenden Anschauungen, der Interessenlage des einzelnen Falles und seiner typisch soziologischen Struktur, unter Eingliederung der neuen Norm in das System der vom positiven Recht verfolgten Zwecke“. Wiederholt wurde die Nähe zwischen Methodenreform und Justizreform hervorgehoben, deren Verwirklichung sich gegenseitig bedingen würde. Beiden gemeinsam, so Kantorowicz, sei das emanzipative Moment: „Wenn der Gesetzgeber die Masse der deutschen Richter bei kärglichem Gehalt und Überhäufung mit subalterner Arbeit dahinleben läßt, so ist diese sozial-unwürdige Behandlung das Gegenstück der methodisch-verwerflichen Auffassung vom Richter als bloßem willenlosen Werkzeug eines allwissenden und allmächtigen Gesetzgebers“396. Die Freirechtler waren fest überzeugt davon, mit dem Paradigmenwechsel den Schlüssel zur Überwindung der herrschenden „Vertrauenskrise“ gefunden zu haben. Radbruch schrieb: „Vorzüglich auf dem Dogma von der Vollkommenheit der 394 Literatur: K. Riebschläger, Die Freirechtsbewegung, Berlin 1968; D. Moench, Die methodologischen Bestrebungen der Freirechtsbewegung auf dem Wege zur Methodenlehre der Gegenwart, Frankfurt / M. 1971; L. Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, Frankfurt / M. 1971; M. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 2. Aufl., Berlin 1986; K. Muscheler, Relativismus und Freirecht, Heidelberg 1984 (zu Kantorowicz); weiterhin Wieacker, S. 579 – 581; Schlosser, S. 275 – 277; Larenz, S. 59 – 62; zu Börngen und Deinhardt unten Kap. V. 395 Hermann Kantorowicz, Methodenreform und Justizreform, in: DRZ 3 (1911), S. 349 – 356, hier S. 351. Unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius hatte Kantorowicz 1906 eine Art Programmschrift der Freirechtsschule veröffentlicht („Der Kampf um die Rechtswissenschaft“). Später distanzierte er sich von dem Manifest und verwies auf den oben genannten Aufsatz als brauchbares Programm. 396 Zitate Kantorowicz, Methodenreform, S. 351, 353, 356.
3. Teil: Kritik und Reform (1900 – 1914)
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Rechtsordnung beruht das heutige ,Mißtrauen in die Rechtspflege‘: der geheimnisvolle Denkvorgang, durch den der Richter aus einem unklaren, lückenhaften und widerspruchsvollen Gesetzbuche klare und widerspruchslose Entscheidungen für jeden denkbaren Rechtsfall ableiten zu können vorgibt, muß [ . . . ] dem Laien immer unverständlich und verdächtig bleiben. Nur das aufrichtige Bekenntnis zur richterlichen Rechtsschöpfung vermag der ,Entfremdung von Recht und Volk‘ abzuhelfen“397. Als kodifizierten Ausdruck ihres Standpunktes betrachteten sie den Artikel I des von Eugen Huber redigierten Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10. 12. 1907 (in Kraft getreten am 1. 1. 1912). Danach sollte das Gesetz auf alle Rechtsfragen Anwendung finden, „auf die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung“. Die Freirechtsbewegung litt an zahlreichen Ungereimtheiten. Ihre Verfechter bildeten keine geschlossene Formation, sondern zerfielen, je nach dem Grad an Freiheit, den sie dem Richter zubilligen wollten, in eine gemäßigte und eine radikale Richtung398. Immer wieder mußten sie sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, nicht nur eine Rechtsanwendung neben dem Gesetz (praeter legem) zu propagieren, sondern notfalls auch eine solche gegen das Gesetz (contra legem) in Kauf zu nehmen, letztlich also richterlicher Willkür Vorschub zu leisten. Obwohl Kantorowicz nachdrücklich darauf beharrte, daß die „freie Rechtsfindung“ stets nur subsidiäre Geltung beanspruchen könne, ließ sich der Verdacht nicht aus der Welt räumen399. Dies lag nicht zuletzt an dem Unvermögen der Freirechtler, die Idee richterlicher Rechtsfortbildung auf überzeugende Weise mit dem Postulat der Rechtssicherheit in Einklang zu bringen. Darüber hinaus warf die Lehre erhebliche verfassungsrechtliche Probleme auf, da sie nicht nur die Trennlinie zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung zugunsten der letzteren verschob, sondern überhaupt das Gewaltenteilungsprinzip in Frage stellte. Nicht nur ihres Ausgangspunktes wegen beschränkte sich die Diskussion – dies gilt nicht nur für die Freirechtsdoktrin – fast ausschließlich auf den Privatrechtsbereich. Eine Einbeziehung des Strafrechts hätte die Bewegung unweigerlich in die politische Arena hineingezogen, wäre doch die SPD – aus Sorge vor dem Verlust des letzten Restes an Rechtssicherheit – lautstark auf den Plan getreten. Auch die Sozialdemokraten kritisierten die Begriffsjurisprudenz, allerdings in gänzlich anderer Richtung: Zu recht sahen sie in der konstruktiven Methode eine wesentliche Ursache für die Ausdehnung der strafrechtlichen Begriffe, was den Staatsanwalt in die bequeme Lage versetze, den jeweils „passenden“ Paragraphen herauszusuchen. 397 Gustav Radbruch, Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 22 (1906), S. 355 – 370, hier S. 370. 398 Vgl. Hans Reichel, Zur Freirechtsbewegung, in: DRZ 2 (1910), S. 464 – 468. 399 Vgl. Hermann Kantorowicz, Die Contra-legem-Fabel, in: DRZ 3 (1911), S. 258 – 263.
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3. Teil: Kritik und Reform (1900 – 1914)
Deshalb müsse man, zumindest unter den obwaltenden Umständen, von der Begriffsgesetzgebung mit ihren abstrakt-allgemeinen Definitionen abrücken und zu einer kasuistischen Gesetzgebung mit klar definierten Tatbestandsmerkmalen zurückkehren400. Mit anderen Worten: Statt einer Erweiterung der richterlichen Befugnisse forderten die Sozialdemokraten deren Einschränkung. Max Weber, um noch eine weitere Stimme zu zitieren, interpretierte die Freirechtsbewegung als „interne Standesideologie der Rechtspraktiker“ mit dem Ziel des Machtzuwachses und ordnete sie den – von ihm kritisch beurteilten – Tendenzen zu, die die formalrationalen Qualitäten des modernen Rechts abzuschwächen drohten401. Die eigentliche Schärfe brachte Ernst Fuchs, die schillerndste Figur der Bewegung, in die Debatte hinein. Mit missionarischem Eifer und obsessiver Sprachwut, aber auch großer Sachkenntnis bekämpfte Fuchs – im außerjuristischen Leben Nietzscheaner, Freidenker, Demokrat und Republikaner – die Pandektenwissenschaft und ihre gleichermaßen lebensfremden wie wahrheitswidrigen Ergebnisse402. Bevorzugtes Haßobjekt seiner mit Verbalinjurien gespickten Polemiken war die Zivilrechtsprechung des Reichsgerichts. Fuchs war aber nicht nur Methodenkritiker: Mit gleicher Entschiedenheit forderte er eine Radikalreform der schulischen Ausbildung und der juristischen Qualifikation, des materiellen und formellen Zivilrechts sowie der Gerichtsverfassung. Als „nationales Glück ersten Ranges“ empfahl er folgendes Acht-Punkte-Programm: Ersetzung des BGB durch das Schweizerische Zivilgesetzbuch, der ZPO durch die österreichische Zivilprozeßordnung; Aufhebung aller Land-, Oberlandes- und Sondergerichte; Entscheidung von Streitwerten bis 1.000 Mark durch Friedensrichter, aller höheren Streitwerte durch Schöffengerichte (mit zwei Laienbeisitzern); im ersten Fall Berufung an das Schöffengericht, im zweiten Fall an ein benachbartes Schöffengericht; beschränkte Revision an das Reichsgericht (Kammern mit drei Mitgliedern); Gleichstellung aller Richter in Rang und Gehalt (30.000 Mark p. a.); Verbot aller Titel und Orden403. Daß insbesondere Fuchs, aber auch andere Freirechtler 400 Vgl. die programmatischen Ausführungen von Heine, Sten. Ber. RT, 1. 3. 1904, S. 1423 – 1425. 401 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. Aufl., hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1980, S. 507 ff. („Die Situation des an die bloße Interpretation von Paragraphen und Kontrakten gebundenen Rechtsautomaten, in welchen man oben den Tatbestand nebst den Kosten einwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den Gründen ausspeie, erscheint den modernen Rechtspraktikern subaltern und wird gerade mit Universalisierung des kodifizierten formalen Gesetzesrechts immer peinlicher empfunden. Sie beanspruchen ,schöpferische‘ Rechtstätigkeit für den Richter, zum mindesten da, wo die Gesetze versagen“). 402 Die wichtigsten Schriften von Fuchs: Schreibjustiz und Richterkönigtum, Leipzig 1907 (in: ders., Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform, hg. v. A. S. Foulkes, Bd. 1, Aalen 1970, S. 29 – 141); Recht und Wahrheit in unserer heutigen Justiz, Berlin 1908 (gekürzt in: ders., Gerechtigkeitswissenschaft, hg. v. A. S. Foulkes / A. Kaufmann, Karlsruhe 1965, S. 65 – 165); Die Gemeingefährlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, Karlsruhe 1909 (Ges. Schriften, Bd. 1, S. 143 – 455); Juristischer Kulturkampf, Karlsruhe 1912 (Ges. Schriften, Bd. 2, Aalen 1973, S. 13 – 196). 403 Fuchs, Recht und Wahrheit, S. 221 f.
3. Teil: Kritik und Reform (1900 – 1914)
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auf scharfen Widerspruch stießen, lag auf der Hand. In manchen Fällen überlagerte die persönliche Fehde – dies galt insbesondere für die Kontroverse zwischen Fuchs und Reichsgerichtsrat Adelbert Düringer – die gemeinsame Gegnerschaft gegen die herkömmliche Auffassung404. Welcher Erfolg war der Freirechtsbewegung beschieden? Gustav Radbruch schrieb 1913: „Das Freirecht hat in wenigen Jahren so auf der ganzen Linie gesiegt, daß man, mag man auch tatsächlich gegen seine Anforderungen verstoßen, sich zur Gegnerschaft zu bekennen heute nirgends mehr wagt“405. Diese Einschätzung war sicherlich viel zu optimistisch: In einem strikten Sinne konnte sich die Freirechtslehre nicht durchsetzen, was angesichts ihrer zahlreichen Ungereimtheiten und Unwägbarkeiten nicht sonderlich verwundert. Bezeichnend ist das Votum des 2. Deutschen Richtertages (Dresden 1911), der den Bestrebungen eine Absage erteilte und die Bindung der richterlichen Gewalt an das Gesetz bekräftigte406. Ihre Bedeutung dürfte vielmehr darin liegen, das methodische Bewußtsein vieler Richter geschärft zu haben. Genau dies betrachtete der gemäßigte Freirechtler Max Rumpf denn auch als bleibenden Gewinn: „Die Rechtsanwendung, das wissen wir jetzt alle, arbeitet mit Willensentscheidungen und Werturteilen. Und wir wissen ferner, daß diese Willensentscheidungen und Werturteile ein subjektives, mehr persönliches Element notwendig mit einschließen. Dieser subjektive Einschlag in der Arbeit des Juristen und besonders des Richters mahnt zu verstärkter Vorsicht bei der Arbeit. Wenn es häufig schwer, nicht selten ganz unmöglich ist, streng objektive, jedem einleuchtende Denkergebnisse zu erreichen, Urteile zu sprechen, dann heißt es, stets auf der Hut zu sein, damit das Subjektive in der juristischen Arbeit so sehr beschränkt werde wie irgend möglich, damit es um alles nicht in Willkür ausarte. So hat die Methodenkritik der letzten Jahre den gewissenhaften Richter und Juristen zur Selbstkritik geführt“407. 404 Wichtigste Repliken: A. Düringer, Eine neue Methode der Rechtsprechung und der Kritik, in: Das Recht 12 (1908), S. 257 – 265; ders., Richter und Rechtsprechung, Leipzig 1909, S. 60 – 91 (beide gegen Fuchs); ders., Zur Kritik der Rechtsprechung, in: DRZ 2 (1910), S. 82 – 88 (gegen Gmelin und dessen Schrift „Quousque?“); F. Vierhaus, Die Freirechtsschule und die heutige Rechtspflege, in: DJZ 14 (1909), S. 1169 – 1175 (gegen Fuchs); P. Oertmann, Gesetzeszwang und Richterfreiheit, Leipzig 1909 (Zivil- und Prozeßrechtler in Erlangen); R. Sohm, Über Begriffsjurisprudenz, in: DJZ 14 (1909), S. 1019 – 1024 (Kirchenrechtler in Leipzig); E. Neukamp, Der gegenwärtige Stand der Freirechtsbewegung, in: DJZ 17 (1912), S. 44 – 50 (RG-Rat). 405 Brief Radbruch an Fuchs, 14. 1. 1913, in: Fuchs, Ges. Schriften, Bd. 3, Aalen 1975, S. 377 f., Zitat S. 378; vgl. dazu: A. S. Foulkes, Gustav Radbruch in den ersten Jahrzehnten der Freirechtsbewegung, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, hg. v. A. Kaufmann, Göttingen 1968, S. 231 – 241. 406 Abdr. der Beschlüsse in: DRZ 3 (1911), S. 790. Die These von Schröder, die Richter hätten sich als reine Rechtsanwender stilisiert, um sich gegen die Kritik zu immunisieren und ihre faktische Interpretationsherrschaft zu perpetuieren, erscheint in ihrer einseitigen Betonung des Interessenstandpunktes überzogen (s. Methodendiskussion, S. 366). 407 M. Rumpf, Rechtsbetrieb heute und vor hundert Jahren, in: DRZ 3 (1911), S. 317 – 333, hier S. 318.
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Nicht die Freirechtslehre, sondern die vom Tübinger Germanisten und Zivilrechtsdogmatiker Philipp Heck (1858 – 1943) begründete Interessenjurisprudenz ging als Sieger aus dem Methodenstreit hervor. Anknüpfend an Jherings Auffassung von der Zweckhaftigkeit allen Rechts, lehnte auch sie die Begriffsjurisprudenz, der sie eine Umkehrung logischer und sozialer Kategorien vorwarf, entschieden ab, ging aber nicht so weit wie die Freirechtslehre, indem sie am Postulat der richterlichen Gesetzesbindung festhielt, so daß das heikle Problem der Rechtsunsicherheit gar nicht erst aufkommen konnte. Wenn die in der Gesellschaft existierenden Interessen, so die Grundüberlegung, im geltenden Recht ihren Niederschlag gefunden hätten, müßten sie auch bei der Rechtsanwendung das leitende Prinzip abgeben. Jede gesetzliche Norm beruhe auf einem Konflikt widerstreitender Interessen, zu dessen Lösung der Gesetzgeber – in Form der Rechtsvorschrift – eine allgemeine Regel aufgestellt habe. Folgerichtig bestünde die Aufgabe des Richters darin, die dem konkreten Einzelfall zugrundeliegenden Interessen herauszuarbeiten und im Sinne der vom Gesetzgeber vorweg getroffenen Entscheidung zu bewerten – eine Operation, die Heck mit dem bekannten Wort vom „denkenden Gehorsam“ umschrieb. Etwaige Lücken müßte der Richter durch Abwägung der Interessen so ausfüllen, wie es ein objektivierter Gesetzgeber getan hätte. Indem sich die Interessenjurisprudenz allein als Methode der Rechtsanwendung verstand und auf eine Beurteilung der Motive verzichtete, die bei der legislativen Entscheidung über den Vorrang des einen Interesses vor dem anderen den Ausschlag gegeben hatten, vollzog sie „einen Sprung vom Sein zum rechtlichen Sollen“ (Wieacker). An diesem Punkt setzt die heute vorherrschende Wert- bzw. Wertungsjurisprudenz an, die als zeitgemäße Fortbildung der Interessenjurisprudenz gelten darf. Ihr Schwerpunkt liegt, nicht zuletzt unter dem Eindruck des immensen historischen Wandels, auf den Werturteilen, die in Normgebung und Rechtsanwendung unweigerlich einfließen408.
III. Der Ausbildungskomplex 1. Mit der Einführung des BGB entstand für die preußische Juristenausbildung eine neue Situation. Erstmals seit über hundert Jahren deckten sich gelehrtes, gelerntes und geltendes Recht wieder, so daß die so folgenreiche Spaltung zwischen Theorie und Praxis als überwunden gelten durfte. Dennoch behielten die traditionellen Fächer zunächst ihren Stellenwert innerhalb des Studiengangs. Die auf Einladung der juristischen Fakultäten von Berlin, Leipzig und München am 23. 3. 1896 in Eisenach stattfindende Konferenz der deutschen Privatrechtslehrer, auf der fast alle prominenten Vertreter des Fachs anwesend waren, faßte den Beschluß, daß 408 Literatur: J. Edelmann, Die Entwicklung der Interessenjurisprudenz, Bad Homburg 1967; W. Kallfass, Die Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz, Frankfurt / M. 1972; J. Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, Tübingen 2001; weiterhin Wieacker, S. 574 – 578; Schlosser, S. 277 – 282; Larenz, S. 49 – 58.
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den Vorlesungen über das neue Privatrecht – außer den Kollegien über römische und deutsche Rechtsgeschichte – zwei propädeutische Vorlesungen über dessen römisch- und deutschrechtliche Grundlagen vorauszugehen hätten. Ferner sollte das juristische Studium mit einer allgemeinen Privatrechtslehre beginnen, die Quellenexegese auch in Zukunft ihr Gewicht behalten und das gesamte bürgerliche Recht als systematische Einheit gelehrt werden. Schließlich sprach sich die Versammlung für ein mehr als dreijähriges Studium aus409. Ein an den Eisenacher Beschlüssen orientierter Erlaß des preußischen Justizministers vom 18. 1. 1897 stellte das bürgerliche Recht in den Mittelpunkt des Lehrplans und schrieb drei mit schriftlichen Aufgaben verbundene Übungen im Zivilrecht vor410. Bei den Kriminalisten und Öffentlichrechtlern löste der neue Studienplan die Befürchtung aus, ihre Fächer könnten durch das BGB noch stärker als bisher in den Hintergrund gedrängt werden. In einer Eingabe an Kultusminister Bosse baten sie um eine „authentische Interpretation“ der Januarverordnung, wodurch die Gleichwertigkeit des Studiums des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts, insbesondere des Strafrechts, zum Ausdruck kommen sollte (April 1897)411. In der Tat hob Schönstedt in einer Verfügung vom Mai 1899 hervor, daß das öffentliche Recht in Studium und Prüfung nicht vernachlässigt werden dürfe. Unerfüllt blieb der Wunsch der Professoren nach einer obligatorischen Übung im öffentlichen Recht, hier begnügte sich der Erlaß mit einer Empfehlung. Zugleich wollte Schönstedt den Forderungen nach einer besseren Ausbildung für den höheren Verwaltungsdienst entgegenkommen412. In der Praxis hatte sich an der Präponderanz des Privatrechts wenig geändert. Der bekannte Öffentlichrechtler Edgar Loening (Halle) klagte 1897: „Den Kandidaten sind vielfach auch die elementarsten Sätze des öffentlichen Rechts unbekannt, Sätze, die eigentlich jeder Gebildete wissen muß; sie haben in der Regel von der Verfassungsgeschichte nur eine ganz unklare Vorstellung, wenn sie überhaupt davon etwas wissen. [ . . . ] Die Unkenntnis im öffentlichen Rechte, die manchmal selbst bei Kandidaten, die im Privatrecht gut vorbereitet sind, zu Tage tritt, ist wahrhaft verblüffend“413. Das Anwachsen des Rechtsstoffes durch das BGB machte eine Verlängerung der Mindeststudienzeit beinahe zwingend, während der Vorbereitungsdienst angesichts 409 Einladungsschreiben, Teilnehmerliste und Beschlußprotokoll der Konferenz in: BA, R 3001, Nr. 4302, Bl. 118. 410 AV v. 18. 1. 1897, in: JMBl, S. 19 f.; weitere Einzelheiten enthielt die Verfügung des KM vom selben Tage, in: ebd., S. 21; zum ganzen auch Ebert, S. 101 ff. 411 Eingabe von Vertretern des öffentlichen Rechts v. 12. 4. 1897, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11989, Bl. 160; der Text der Eingabe war am 11. 3. 1897 auf einer Zusammenkunft in Berlin beschlossen worden. Robert Bosse war vom 23. 3. 1892 bis zum 4. 9. 1899 preußischer Kultusminister. 412 AV v. 13. 5. 1899, in: JMBl, S. 150. 413 Schreiben Loenings an Stölzel, 4. 2. 1897, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11989, Bl. 107 f.; zur Abhilfe forderte Loening eine ernsthafte Prüfung in den öffentlichrechtlichen Fächern mit gesondertem Ausweis der Note im Prüfungsprotokoll.
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der stärkeren Praxisnähe des Studiums eine Verkürzung gut zu vertragen schien. Einem Vorschlag der Juristischen Fakultät Berlin folgend, brachte Kultusminister Studt ein dreieinhalbjähriges Studium ins Gespräch. Schönstedt stimmte umgehend zu, holte aber zunächst die Stellungnahme der OLG-Präsidenten und Vorsitzenden der Prüfungskommissionen ein. Das Ergebnis war uneinheitlich: Vier OLG- und drei Senatspräsidenten bejahten eine Verlängerung der Studiendauer bei gleichzeitiger Verkürzung des Vorbereitungsdienstes, vier OLG– und zwei Senatspräsidenten hielten allein eine Verlängerung des Studiums für angebracht, ein OLGund zwei Senatspräsidenten lehnten eine solche zur Zeit, je vier OLG- und Senatspräsidenten unbedingt ab. Immerhin sprach sich die Mehrheit für ein längeres Studium aus414. Hierauf wurde in den beiden federführenden Ministerien eine grundlegende Umgestaltung des juristischen Studiums in Angriff genommen. Ergebnis waren die Entwürfe eines Ausbildungsgesetzes, einer Gemeinschaftlichen Verfügung über das Rechtsstudium, eines Regulativs über die erste Prüfung und eines Erlasses über die Einsetzung einer juristischen Studienkommission, die Schönstedt und Studt mit Datum vom 21. 12. 1901 dem Ministerrat vorlegten415. Im Gegensatz zu früheren preußischen Vorlagen zeichneten sich die Entwürfe durch den ernsthaften Willen aus, Remedur zu schaffen, griffen sie doch viele (wenn auch nicht alle) der in der Diskussion erhobenen Forderungen auf. Leitende Gesichtspunkte waren: wesentliche Verschärfung der Anforderungen in Studium und Prüfung, Erweiterung und Modernisierung des Fächerkanons, bürokratische Kontrolle und Verschulung des Studiengangs. Ferner eröffnete der Entwurf die Möglichkeit, die Ausbildung für den höheren Justiz- und Verwaltungsdienst zu vereinheitlichen, wie dies von Schönstedt durchaus befürwortet wurde416. Im einzelnen waren folgende Neuerungen vorgesehen: die Zulassung der Absolventen von Realgymnasien und preußischen Oberrealschulen zum Jurasutudium (die vieldiskutierte „Berechtigungsfrage“), ein Studium von sieben Semestern sowie ein Vorbereitungsdienst von dreieinhalb Jahren, ein umfangreicher und aktualisierter Vorlesungskatalog, fünf Pflichtübungen (eine im Römischen Recht, zwei im Zivilrecht, zwei im öffentlichen Recht oder den Staatswissenschaften), ein Zwi414 Eingabe der Juristischen Fakultät Berlin v. 9. 5. 1900; Studt an Schönstedt, 13. 8. 1900; Antwort Schönstedts und Reskript v. 22. 8. 1900; Zusammenstellung der Berichte und Übersicht über die Meinungsäußerungen, alle in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11989 (die Eingabe und das Schreiben Studts auch in: ebd., Nr. 2913). Konrad v. Studt war vom 4. 9. 1899 bis zum 24. 6. 1907 preußischer Kultusminister. So gut wie einstimmig sprach sich auch der 25. Deutsche Juristentag (Bamberg 1900) für ein mindestens siebensemestriges Studium aus (Verh. d. 25. DJT, Bd. 3, Berlin 1901, S. 75 – 140 / 358 – 396). 415 Gemeinsames Votum des Justiz- und des Kultusministers (mit Entwürfen und beiliegender Denkschrift) v. 21. 12. 1901, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11990, Bl. 1 ff. (auch in: BA, R 43, Nr. 789, Bl. 4 ff.). Bei Jescheck (S. 57 ff.) und Ebert (S. 185 ff. / 372) sind die Vorgänge, da nicht auf Aktenkenntnis beruhend, verkürzt und teilweise irreführend dargestellt. 416 Vgl. dazu das Votum Schönstedts zur Reform der Bestimmungen über die Vorbereitung der höheren Verwaltungsbeamten, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2913, Bl. 211 ff.
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schenzeugnis (frühestens nach drei Semestern) sowie ein Schlußzeugnis (nach weiteren vier Semestern), neben der rechtswissenschaftlichen Arbeit zwei Klausuren (Quellenexegese im Römischen Recht und Bearbeitung eines Rechtsfalles), mündliche Prüfung in den Disziplinen Rechtsgeschichte, Privatrecht, öffentliches Recht und Nationalökonomie. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Prüfungskommission, der Gruppeneinteilung der Examinatoren und der Höchstzahl an parallel geprüften Kandidaten (vier) blieb alles beim alten417. Den eigentlichen Clou des Entwurfs bildete die vorgesehene Studienkommission. Sie sollte mindestens aus fünf, im ganzen etwa aus neun Mitgliedern bestehen, die für je drei Jahre gemeinsam vom Justiz- und Unterrichtsminister ernannt wurden. Ihr oblag die Aufgabe, die Studierenden zu einem ordnungsgemäßen Studium anzuhalten und die Zwischen- und Schlußzeugnisse zu erteilen. Zu diesem Zweck konnte sie Kommissare an die einzelnen Universitäten entsenden, zudem war sie berechtigt, Erkundigungen einzuziehen. Letztlich ging es um nichts weniger, als die juristischen Fakultäten politisch-administrativer Kontrolle zu unterwerfen: „So unterliegt es keinem Zweifel, daß die Studienkommission sich nach den verschiedensten Seiten als ein besonders wichtiges und fruchtbringendes Mittel zur Hebung der juristischen Ausbildung erweisen wird. Dieselbe wird zugleich die Möglichkeit gewähren, dem Justizressort eine weitgehende Beteiligung an der Einrichtung und Leitung der juristischen Universitätsstudien zu gewähren, und es war auch von vornherein in Aussicht genommen, wenn es auch nicht ausdrücklich gesagt wurde, daß der Studienkommission auch je ein Vertreter der Ministerien des Inneren und der Finanzen angehören solle“418. Trotz dieses Zugeständnisses wandten sich Finanzminister Rheinbaben und Innenminister Hammerstein in ihren Voten gegen eine Verlängerung des Studiums, vor allem deshalb, weil ihnen die Vorkehrungen gegen die „Bummelei“ der Studenten nicht ausreichend erschienen. In der Staatsministerialsitzung vom 4. 1. 1902 fand die Vorlage mit 6 gegen 4 Stimmen dennoch eine knappe Mehrheit419. Dem Abgeordnetenhaus wurde der Gesetzentwurf (ohne die ergänzenden Bestandteile) am 21. 1. 1902 vorgelegt, die erste Lesung fand am 6. 2. 1902 statt. Die mit der weiteren Beratung betraute Kommission brach ihre Erörterung nach der ersten Lesung ab, weil man zunächst den angekündigten Gesetzentwurf über die Ausbil417 Die Vorlesungsliste umfaßte u. a. Kollegien über theoretische und praktische Nationalökonomie (6 – 10 SWS), Grundzüge der Finanzwissenschaft (2 SWS), deutsches und preußisches Staatsrecht (4 – 6 SWS), deutsches und preußisches Verwaltungsrecht (3 – 4 SWS), Rechtsphilosophie (2 – 3 SWS) und gerichtliche Medizin (1 SWS). 418 Notiz, betreffend die Einrichtung einer juristischen Studienkommission (Dezember 1901), in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11990, Bl. 32 – 35, hier Bl. 35. 419 Votum Rheinbabens v. 30. 12.1901; Votum Hammersteins v. 31. 12. 1901; Gegenvoten Schönstedts v. 3. 1. 1902; Prot. StM, 4. 1. 1902 (Auszug), alle in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11990 (auch in: BA, R 43, Nr. 789, Bl. 32 ff.). In seiner Sitzung vom 18. 1. 1902 einigte sich das Staatsministerium weiterhin darauf, daß die Verständigung über die Erlasse zunächst den vier beteiligten Ressorts vorbehalten bleiben solle (GStA, Rep. 84a, Nr. 11990).
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dung für den höheren Verwaltungsdienst abwarten wollte. Auf Drängen der konservativen Landtagsfraktion zog die Staatsregierung den Entwurf schließlich zurück (Anfang Juni 1902)420. Die Gründe für das Scheitern der Vorlage waren vielschichtig: Sie lagen in der Uneinigkeit des Staatsministeriums, der Unsicherheit über die geplanten Ausführungsvorschriften, der fehlenden Abstimmung zwischen Justiz- und Verwaltungsentwurf, der Reserviertheit vieler konservativer Abgeordneter, für die eine Reform der Verwaltungsausbildung Vorrang besaß, vor allem aber dem lautstarken Protest der juristischen Fakultäten, die, vom Entscheidungsprozeß ausgeschlossen, gegen die drohende bürokratische Gängelung Sturm liefen. Gewohnt scharfzüngig mahnte Liszt: „Die Beschränkung der akademischen Freiheit bei Lehrern und Lernenden, die Herabdrückung der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung der juristischen Dozenten, die Verwandlung der juristischen Fakultäten in Rechtsschulen ohne wissenschaftlichen Geist: das sind die unabwendbaren Folgen der geplanten Änderung“421. Nicht zuletzt spielten innerjuristische Rivalitäten eine Rolle: Die Nichtromanisten befürchteten, daß die Römischrechtler mit Hilfe der Kontrollmaßnahmen ihre bisherige Vorrangstellung künstlich aufrechterhalten würden. Auch die Berichterstattung in der Presse, anfangs, abgesehen von den linksliberalen Blättern, noch verhalten positiv, nahm im Laufe der Zeit immer kritischere Züge an422. Ungeachtet dessen plädierte Schönstedt nach Ende der Session dafür, die Vorlage wiedereinzubringen, diesmal jedoch zusammen mit den Ausführungsbestimmungen sowie dem Entwurf über den höheren Verwaltungsdienst423. Daß es dazu nicht kam, die Verordnungen aber auch nicht separat erlassen wurden, lag vor allem an der Haltung Friedrich Althoffs, Ministerialdirektor und „starker Mann“ im Kultusministerium, der von dem Projekt Stück für Stück abrückte. Anläßlich einer Besprechung zwischen Vertretern des Kultus- und des Justizministeriums (Juli 1902) umschrieb er seinen Standpunkt in der Frage der Studienverlängerung mit der Formel „tolerari posse“ und stellte die Entscheidung über eine Wiedervor420 Vorlage: Sten. Ber. AH 1902 / 03, Drks. Nr. 43; (unveröffentl.) Bericht der XIII. Kommission, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11990. Der Gesetzentwurf über die Befähigung für den höheren Verwaltungsdienst ging dem Abgeordnetenhaus am 14. 1. 1903 zu (Drks. Nr. 23), scheiterte nachfolgend aber am Herrenhaus; erst ein modifizierter Entwurf passierte die parlamentarischen Hürden (Gesetz v. 10. 8. 1906). 421 Fr. Liszt, Die juristische Studienordnung und die Zwangsübungen, in: DJZ 7 (1902), S. 129 – 134, Zitat S. 134; weiterhin: Rosin, Das Zwischenzeugnis nach dem neuen preußischen Gesetzentwurf über die Vorbereitung zum höheren Justizdienste, in: ebd., S. 81 – 84 (Prof. in Freiburg); Zur Neuordnung des juristischen Ausbildungsganges, in: ebd., S. 185 – 188 (Petition der Kieler Juristenfakultät an das Haus der Abgeordneten); Ignotus, Der neue Plan für das juristische Studium in Preußen, Leipzig 1902; dagegen zustimmend: E. Seckel, Die Neuordnung des juristischen Ausbildungsganges in Preußen, in: DJZ 7 (1902), S. 57 – 61 (Prof. in Berlin); W. Kahl, in: NZ v. 22. 1. 1902. 422 Sammlung von Pressestimmen in: GStA, Rep. 84a, Nr. 43259. 423 Votum Schönstedts v. 5. 7. 1902, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11991.
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lage der Justizverwaltung anheim. Hinsichtlich der Leistungsanforderungen einigte sich die Runde auf fünf obligatorische Übungen, davon zwei mit schriftlichen Aufgaben, sowie drei Klausuren in der ersten Prüfung (neben der wissenschaftlichen Arbeit)424. Daraufhin verzichtete Schönstedt auf die Wiedervorlage und ließ die Verordnungen im Hinblick auf die veränderte Sachlage überarbeiten. Zwischenzeugnis und Studienkommission entfielen, der Vorlesungskatalog blieb ohne Abstriche bestehen, darüber hinaus wurden vier Pflichtübungen und zwei Klausuren ins Auge gefaßt. Als die redigierten Entwürfe im Juli 1903 zur Beratung anstanden, überraschte Althoff mit einem neuen Modell. Nunmehr plädierte er für völlige Freigabe des Studiengangs (keine Vorlesungsliste, keine Zwangsübungen, noch nicht einmal Nachweis eines ordnungsgemäßen Studiums), Bildung größerer Prüfungsbezirke, Wahl der Examinatoren und Leitung der Prüfung durch einen Staatskommissar, Verzicht auf Klausuren, Aufspaltung der auf zwei bis drei Tage verlängerten mündlichen Prüfung in einen zivilrechtlichen und einen straf- resp. öffentlichrechtlichen Teil mit separater Benotung, schließlich Erhöhung der Prüfungsgebühren. Vom ursprünglichen Konzept war mithin nur das Element der Staatskontrolle übriggeblieben, der Teilungsgedanke entsprach einer alten professoralen Forderung (Gierke, Gneist, Goldschmidt, Liszt), aber auch den Wünschen der übrigen Ressorts425. Da Schönstedt dem Ministerialdirektor auf diesem Weg nicht folgen wollte, war das Projekt auch in seinen nichtgesetzlichen Teilen obsolet geworden. Daß Schönstedt dem Anliegen des Innen- und des Finanzministers, das öffentliche Recht und die Staatswissenschaften in der Prüfung stärker zu berücksichtigen und eigenständig zu bewerten, reserviert begegnete, erscheint angesichts der Haltung, welche die beiden Herren seiner Vorlage gegenüber eingenommen hatten, nur allzu verständlich. Immerhin enthielt der Erlaß vom 12. 7. 1904, der ansonsten nur Punkte von minderer Bedeutung regelte, die (allgemein gehaltene) Anweisung, daß die Leistungen des Kandidaten in den privatrechtlichen wie in den öffentlichrechtlichen Disziplinen in den Prüfungsakten gesondert zu vermerken seien426. 424 Protokoll der Besprechung v. 29. 7. 1902, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11991, Bl. 114 – 116 (seitens des JM nahmen die Oberjustizräte Lisco und Vierhaus teil). Althoff hatte seinen abweichenden Standpunkt bereits früher zu Protokoll gegeben. Bei einer mehrtägigen Besprechung zwischen Vertretern des Justiz-, Kultus-, Innen- und Finanzministeriums in der Schlußphase der Entwurfsarbeiten (26. / 28. 11., 3. 12. 1901) bezeichnete er die Verlängerungsfrage als bloßen „Nebenpunkt“, da die neuen Einrichtungen im Durchschnitt ohnehin zu einer längeren Studiendauer führen würden; den „Kernpunkt“ der Vorlage bildeten in seinen Augen die Studienkommission und die beiden Zeugnisse (vgl. Schreiben Liscos an Althoff v. 5. 12. 1901, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11990, Bl. 45 – 47; Ergebnisprotokoll der Beratungen ebd., Bl. 25 ff.). 425 Notiz über die Stellungnahme Althoffs in der Besprechung v. 22. 7. 1903, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2914, Bl. 378 f. 426 Schreiben Rheinbabens und Hammersteins an Schönstedt v. 13. 8. 1903, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2914; Antwort Schönstedts v. 15. 10. 1903, in: ebd., Nr. 11991, Bl. 200 ff.; AV v. 12. 7. 1904, § 10, in: JMBl, S. 177 ff.; RV v. 13. 7. 1904, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2914, Bl. 424 f.
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Beseler nahm den Reformfaden bald nach seinem Amtsantritt wieder auf, wobei der erste Schritt nicht schwer war: Mit Blick auf entsprechende Forderungen in beiden Häusern des Landtags und in der juristischen Literatur, aber auch auf die Praxis in fast allen größeren Bundesstaaten bestand zwischen ihm und Kultusminister Studt Einvernehmen darüber, daß Klausuren in das Referendarexamen aufgenommen werden müßten427. Die Befragung der OLG-Präsidenten und Vorsitzenden der Prüfungskommissionen sowie einzelner Hochschullehrer ergab ebenfalls ein überwiegend positives Meinungsbild. Von den befragten Professoren lehnten Kahl (Berlin) und Stammler (Halle) die Einführung von Klausuren grundsätzlich ab, während Stampe (Greifswald), Fischer (Breslau), Pappenheim (Kiel) und Zitelmann (Bonn) dafür stimmten, ersterer neben der wissenschaftlichen Arbeit, letztere als Ersatz derselben. Ernst Stampe, der schon früher als scharfer Kritiker der Verhältnisse hervorgetreten war, nutzte die Gelegenheit zu einer ungeschminkten Situationsanalyse (Oktober 1906): „Die wissenschaftliche Bildung der preußischen Juristen ist, nach meiner Erfahrung, im Durchschnitt eine mangelhafte. Dieser beklagenswerte Zustand, der die Hauptschuld an den unerfreulichen Erscheinungen in der Judikatur trägt, ist dadurch geschaffen, daß die erste juristische Prüfung die Reife der Prüflinge weder vielseitig noch sicher genug feststellt und so der Praxis eine Menge unreifer, nicht selten untauglicher Persönlichkeiten zuführt, denen dann auch fernerhin die Aneignung einer gründlichen wissenschaftlichen Bildung nicht mehr gelingt“. Deshalb seien nicht mehr als zwei Kandidaten pro Termin tragbar, zumal sich die Prüfung auch auf die Nationalökonomie erstrecken müsse: „Diese ernstliche Hineinnahme der Nationalökonomie in die erste juristische Prüfung ist unentbehrlich, wenn das Referendarexamen in gutem Sinne ,modern‘ sein soll, d. h. geeignet sein, die Abkehr der Juristen von dem unfruchtbaren Formalismus, der das letzte Jahrhundert beherrschte, zu beschleunigen und das Studium auf die praktisch notwendigen Ziele hinzulenken“428. Andererseits bestanden, was den Studienfleiß anging, doch erhebliche lokale Unterschiede. In einem in Zusammenhang mit der Frage der Anrechnung des Militärdienstes verfaßten Gutachten der Juristischen Fakultät Göttingen hieß es zur gleichen Zeit (1906): „Es ist zweifellos richtig, daß eine nicht unerhebliche Zahl von Studierenden der Rechte die ersten Studiensemester in sehr unzulänglicher Weise oder auch gar nicht dem Studium widmet“. Ganz anders dagegen das Marburger Gutachten: „Nach alledem machen denn auch die weitaus meisten Studierenden während der ganzen Studienzeit von den Vorlesungen und Übungen fleißig Gebrauch, und zwar in Marburg im allgemeinen durchaus auch die Angehörigen studentischer Verbindungen“429. 427 Vgl. Beseler an Studt, 15. 6. 1906 sowie Antwort Studts v. 26. 7. 1906, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2994; zum ganzen auch Ebert, S. 118 ff. 428 Die Gutachten der Professoren sind gesammelt in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2994, Bl. 244 ff. 429 Beide Gutachten in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2915.
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Per Verordnung vom 31. 3. 1908 wurden drei Examensklausuren eingeführt, die sich zeitlich an die (beibehaltene) Hausarbeit anschlossen. Zu bearbeiten war zunächst ein Fall aus dem BGB (5 Stunden), am folgenden Tag dann ein Strafrechtsfall sowie eine Aufgabe aus einem anderen Prüfungsgebiet (jeweils 3 Stunden). Gleichzeitig wurde – mit Rücksicht auf den ständig wachsenden Andrang – die Maximalzahl der gleichzeitig geprüften Kandidaten auf fünf heraufgesetzt 430. Bereits ein Jahr zuvor hatte Beseler den öffentlichen Klagen Rechnung getragen. In einer Anweisung vom April 1907 wies er die Mitglieder der Prüfungskommissionen an, in der ersten Prüfung mit der gebotenen Schärfe zu verfahren: „Sie haben ohne Härte und unnötige Strenge, aber mit Ernst und Nachdruck darauf zu achten, daß junge Leute, denen die Befähigung für den juristischen Beruf abgeht, zu diesem nicht erst zugelassen, sondern rechtzeitig von einer Laufbahn ferngehalten werden, in der sie durch ungenügende Leistungen die Rechtspflege schädigen“. Den Hintergrund bildete die Tatsache, daß durchschnittlich 75 von 100 Kandidaten das Referendarexamen im ersten Anlauf, von den restlichen 25 immerhin noch 19 die Wiederholungsprüfung bestanden. Weiterhin erinnerte der Erlaß daran, daß das öffentliche Recht in der ersten Prüfung gebührende Berücksichtigung finden und entsprechend in die Gesamtnote einfließen müsse431. In dieser Hinsicht war die Verfügung auch eine Antwort auf den Vorschlag Studts, das Examen in einen privat- und einen öffentlichrechtlichen Teil aufzuspalten (das Althoffsche Konzept!) – ein Modell, das Beseler ebenso wie seine Vorgänger ablehnte. Zudem dürften die oben erwähnten Gutachten ihre Wirkung nicht verfehlt haben432. Die erwähnten Maßnahmen bildeten indessen nicht mehr als ein Vorgeplänkel. Einsetzend mit dem Jahr 1909 schwoll der – ohnehin nie versiegende – Debattenfluß in einem Ausmaß an, das alles Bisherige in den Schatten stellte. Damit erreichte die kaiserzeitliche Ausbildungsdiskussion – nach den Jahren 1875 – 78 und 1886 – 88 – ihren dritten (und endgültigen) Höhepunkt. Der alte Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern, der die Auseinandersetzung bislang strukturiert hatte, verwischte sich nunmehr weitgehend. Bis zu einem gewissen Grad wurden Fragen der juristischen Vorbildung zu einem Modethema, zu dem sich gleichermaßen Berufene (Juristen) wie weniger Berufene (Laien) äußerten. Insofern könnte man auch von einer Demokratisierung der Diskussion sprechen. Sieht man von den obligaten Fachbeiträgen ab, so nahmen Ausbildungsfragen in den Etatdebatten des Reichstags und des preußischen Landtags einen vorher nicht gekannten Raum ein, 430 AV v. 30. 3. 1908, in: JMBl, S. 186 – 189; weiterhin: AV v. 31. 3. 1908, in: ebd., S. 189 (Erhöhung der Prüfungsgebühr) sowie RV v. 15. / 16. 5. 1908. 431 Vfg. an die OLG-Präs. v. 15. 4. 1907, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2994 (auch in: ebd., Nr. 2915, Bl. 82f / g). 432 Vgl. Studt an Beseler, 26. 7. 1906 sowie Antwort Beselers v. 15. 4. 1907, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 2994 (letztere auch in: ebd., Nr. 2915, Bl. 82 ff.). Otto Fischer hatte in seinem Gutachten geschrieben: „Es ist unabweisbar nötig, das öffentliche Recht in der ersten juristischen Prüfung ernsthaft und ausgiebig zu prüfen, wenn eine völlige Rückständigkeit des preußischen Juristennachwuchses auf diesem Gebiete verhütet werden soll“ (15. 9. 1906).
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die Presse beschäftigte sich ausführlich mit dem Gegenstand, und auch eine Reihe von Verbänden gaben ihre Klagen und Wünsche zu Protokoll433. Der Diskussion, die alle Stufen des Ausbildungsgangs umfaßte, lagen hauptsächlich zwei Triebfedern zugrunde: das Unbehagen über die nach wie vor ungelösten technischen Probleme des Studiums (mangelnde Ausnutzung des Studienangebots seitens der Studenten, blühendes Repetentenwesen) und das Verlangen nach inhaltlicher Ergänzung der Vorbildung, vor allem in industriell-kaufmännischer, naturwissenschaftlich-technischer und psychologischer Hinsicht. Unter dem Banner des Weltfremdheitsvorwurfs forderte die Moderne jetzt gebieterisch Einlaß in den bislang abgeschlossenen Bezirk der juristischen Ausbildung. In einer Eingabe der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin an den Staatssekretär des Reichsjustizamts vom Juni 1911 hieß es: „Das Ziel der Reform der juristischen Vorbildung muß in der Abkehr vom Abstrakten und in der Zukehr zum Praktischen liegen. An Stelle der heutigen Überbewertung des Dogmatischen hat eine größere Berücksichtigung der tatsächlichen Vorgänge und der wirtschaftlichen Zusammenhänge zu treten. Der junge Jurist ist nicht zu einem nur theoretisch geschulten Rechtsgelehrten heranzubilden und nicht lebensfremde Dinge sind ihm zu bieten. Vorwiegend als praktische Kunst, als die Kunst der rechtlichen Behandlung praktischer Fälle, ist die Jurisprudenz zu lehren. Tüchtige Praktiker, die mit offenem Blick die Bedürfnisse des Lebens erkennen, sind zu erziehen“434. Der Ruf nach einer „realen Ausbildung“ erreichte eine derartige Stärke, daß sich die Juristen zunehmend in die Defensive gedrängt fühlten und nun ihrerseits, bei allem grundsätzlichen Entgegenkommen, den Wert einer fundierten „juristischen 433 Wichtige Beiträge: E. Zitelmann, Die Vorbildung der Juristen, Leipzig 1909; ders., Was not tut!, in: DJZ 14 (1909), S. 505 – 514; Kitz, Reformen im Bildungsgange unserer jungen Juristen, in: ebd., S. 729 – 734 (LG-Präs. Krefeld); A. Düringer, Richter und Rechtsprechung, Leipzig 1909, S. 33 – 37; ders., Die Ausbildung der Richter, in: DRZ 2 (1910), S. 209 – 215; E. Jacobi, Zur Reform des Rechtsunterrichts, in: JW 39 (1910), S. 261 – 265; ders., Die Ausbildung der Juristen, Berlin 1912 (Prof. Münster); A. N. Zacharias, Gedanken eines Praktikers zur Frage des „Juristischen Modernismus“, Berlin 1910; ders., Ueber Persönlichkeit, Aufgaben und Ausbildung des Richters, Berlin 1911, S. 73 – 156 (OLG-Rat Hamburg); E. Kaufmann, Die juristischen Fakultäten und das Rechtsstudium, Berlin 1910 (PD Kiel); A. Waller, Rechtsstudium und Referendariat, Berlin 1910 (Ger.Ass. Berlin); Riß, Die Vorbildung der Richter, in: DRZ 2 (1910), S. 125 – 138 / 165 – 172 (OAR München); K. Hellwig, Die Vorbildung der Juristen, in: ZZP 40 (1910), S. 519 – 532 (Rez. Zitelmann; Prof. Berlin); Fr. Rathenau, Heranbildung von Gegenwartsjuristen, in: JW 40 (1911), S. 7 – 11 (Reg.rat Berlin); V. Börngen, Die Ausbildung der Juristen, Berlin 1913 (OLG-Präs. Jena); weiterhin: Ausbildung und Fortbildung der Richter, Hannover 1910 (Verh. d. 2. Preuß. Richtertages); H. Dittenberger, Die Vertretungen des Handels, des Handwerks und der Landwirtschaft zur Reform der juristischen Vorbildung, in: JW 40 (1911), Zugabe zu Nr. 15 (RA Halle). 434 Denkschrift der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin über die Reform der juristischen Vorbildung v. 29. 6. 1911, abgedr. in: Dittenberger, S. 8 – 10, Zitat S. 9 (auch in: BA, R 3001, Nr. 4303, Bl. 145 ff.); weiterhin: Otto Warschauer, Die banktechnische Ausbildung der Juristen, Berlin 1908; Georg Obst, Kaufmännische Ausbildung der Juristen, Leipzig 1908; Hans Reichel, Über forensische Psychologie, München 1910.
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Ausbildung“ betonten435. In gewissem Sinne wurde das Ausbildungsproblem zum Fluchtpunkt der vielfältigen Kritik an Richtern und Rechtsprechung, „denn der innere Zusammenhang der Klagen über die Weltfremdheit, den Formalismus und Paragraphenkult unserer Richter, der Zusammenhang der in immer weiterem Umfang erhobenen Forderung nach Einführung von Laiengerichten anstelle gelehrter Richter mit der Frage der heutigen juristischen Ausbildung und deren Bewährung kann nicht übersehen werden“436. Beseler reagierte erstaunlich schnell und entschlossen auf den wachsenden Meinungsdruck, was die Vermutung nahelegt, daß er sich schon seit längerem mit dem Gedanken trug, die gescheiterte Reform von 1902 unter geänderten Vorzeichen wieder aufzunehmen. Nachdem er sich mit dem Reichsjustizamt ins Benehmen gesetzt hatte, bemühte er sich zunächst um solide Sachkenntnisse, indem er Informationen über den Studienfleiß und das Repetitorwesen, die Erfahrungen mit der neuen Referendarausbildung zum höheren Verwaltungsdienst und die in Bayern gepflogene Ausbildung der Rechtspraktikanten einholte437. Sodann betrieb er die Einberufung einer Sachverständigenkommission zur Beratung aller einschlägigen Fragen. Die Konferenz, die vom 23. – 26. 5. 1910 im Justizministerium tagte, verwarf die damals vieldiskutierten Überlegungen, in das Universitätsstudium eine Zwischenpraxis einzuschieben (Zitelmann), dem Studium eine Vorpraxis vorangehen zu lassen (Kitz) oder, nach bayerischem Vorbild, eine Zwischenprüfung einzuführen. Auch die alte Forderung nach Verlängerung der Mindeststudienzeit spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Zustimmung fanden die Vorschläge, die Reihenfolge der zu belegenden Vorlesungen den Studierenden zu überlassen und die Pandektenexegese in den schriftlichen Teil des Referendarexamens zu verlegen, um in der mündlichen Prüfung mehr Zeit für das öffentliche Recht zu gewinnen438. 435 So der Tenor des Gutachtens von Heinrich Gerland für den 31. DJT (Wien 1912), in: Verh. d. 31. DJT, Bd. 2, Berlin 1912, S. 805 – 896 (Überblick über die Literatur und die einzelstaatlichen Maßnahmen; S. 810: „Die Frage der realen Ausbildung der Juristen ist Modefrage geworden, die Bewegung, den Juristen zu modernisieren, Modebewegung“); Gerland war Prof. in Jena und Akad. Rat am Thüringischen OLG. 436 Heinrich Gerland, Die Reform des juristischen Studiums, Bonn 1911, S. 1 (fundiertester Überblick über die Diskussion seit ihren Anfängen). 437 Protokoll der Besprechung mit Vertretern des RJA v. 21. 9. 1909; Schreiben Beselers an Trott zu Solz (KM), Moltke (IM) und Miltner (bayer. JM), alle v. 24. 11. 1909; Antwort Podewils’ v. 16. 1. 1910; Antwort Moltkes v. 15. 3. 1910, alle in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11991. August Klemens v. Trott zu Solz war vom 14. 7. 1909 bis zum 5. 8. 1917 preußischer Kultusminister. 438 Beseler an Trott zu Solz, 3. 2. 1910 sowie Protokoll der Konferenz, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11991; Überblick über die Ergebnisse, verfaßt von Versen (OJR): Reform der juristischen Ausbildung in Preußen, in: DJZ 15 (1910), S. 1338 – 1341. Unter dem Vorsitz von Beseler nahmen an der Konferenz teil: je drei Vertreter aus dem Justiz- und dem Kultusministerium, acht Professoren (Fischer / Breslau, Liszt / Berlin, Seckel / Berlin, Loening / Halle, Stammler / Halle, Pappenheim / Kiel, Schön / Göttingen, Zitelmann / Bonn), sechs Praktiker (Heinroth / KG-Präs., Hellwig / AG-Rat Berlin, Menge / LG-Präs. Guben, Mommsen / Senatspräs. Naumburg, Morkramer / OLG-Präs. Köln, Ule / Vizepräs. JPK, Viereck / LG-Präs. Ostrowo) sowie ein Rechtsanwalt (Schwering / Berlin).
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Als sich Innenminister Dallwitz anschließend darüber beschwerte, zu der Konferenz nicht eingeladen worden zu sein (angeblich hatte er erst aus der Zeitung davon erfahren), hob Beseler deren „rein informatorischen Charakter“ hervor, unterstrich aber zugleich die Entscheidungshoheit seines Ressorts: „Schon jetzt aber darf ich betonen, daß bei Gestaltung der Referendarprüfung dem Interesse der Justizverwaltung die hauptsächliche Bedeutung zukommt, daß die Disziplinen des Privatrechts nach wie vor den Kern und Mittelpunkt der juristischen Ausbildung bilden müssen und daß von den Rechtskandidaten nicht allgemein dasjenige Maß von Kenntnissen in Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Nationalökonomie und Finanzwissenschaft verlangt werden kann, auf dessen Vorhandensein die Verwaltung des Innern und ebenso die anderen Zweige der Verwaltung nach ihren besonderen Interessen Wert legen“439. Als dritter Schritt folgte die Befragung der OLG-Präsidenten und der juristischen Fakultäten. Letztere sahen – unter der Bedingung eines weiterhin dreijährigen Studiums – nur wenig Änderungsbedarf. In der Frage der Zwangsübungen waren die Meinungen geteilt, eine Freigabe der Vorlesungsreihenfolge wurde mehrheitlich gutgeheißen, die Idee einer Weiterbildung nach bestandenem Assessorexamen sogar „freudig begrüßt“. Halle konstatierte für das letzte Jahrzehnt „eine unverkennbare Besserung des Fleißes wie eine Vertiefung des wissenschaftlichen Interesses der Studenten“, für Marburg waren „die Mißstände im Unterricht bei weitem nicht so schlimm, wie man sie neuerdings hinzustellen pflege“440. Als Ergebnis der umfangreichen Erkundungen entschied sich Beseler, der zunächst einer weiteren Verschärfung der ersten Prüfung zugeneigt hatte, schließlich für eine Kombination aus intensiviertem, aber verkürztem Referendariat und fakultativem Nachstudium; bei der Studien- und Prüfungsordnung glaubte er mit punktuellen Änderungen auskommen zu können441. Beselers Modell entzerrte die Problemzonen: Während Studium und Vorbereitungsdienst der juristischen Ausbildung vorbehalten blieben, wurde die so vehement geforderte Bekanntschaft mit dem „realen Leben“ in die Zeit nach bestandenem Assessorexamen verlegt. Das Konzept hatte etwas von einer Verlegenheitslösung an sich, wurde in Fachkreisen aber fleißig propagiert und besaß im übrigen den Vorteil, die leidige Frage der Studienverlängerung – politisch kaum durchsetzbar und vom Justizminister von 439 Dallwitz an Beseler, 4. 7. 1910 sowie Antwort Beselers v. 7. 7. 1910, beide in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11991. 440 Übersicht über die Stellungnahmen im Schreiben Beselers an Trott zu Solz v. 12. 1. 1911, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11992. 441 Zum Entscheidungsprozeß: Beseler an Trott zu Solz, 23. 7. 1910, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11991, Bl. 370 – 378 (vorläufige Bewertung der Konferenzergebnisse); Antwort Trott zu Solz’ v. 23. 12. 1910 (Stellungnahme der Fakultäten); kommiss. Besprechung zwischen Vertretern des Justiz- und des Kultusministeriums, 23. / 28. 1. und 20. 2. 1911 (Fragen des Studiums und der ersten Prüfung); Beseler an Trott zu Solz, 2. 5. 1911 (endgültige Reformvorschläge); Antwort Trott zu Solz’, 28. 6. 1911 (grundsätzliche Zustimmung); Beseler an Trott zu Solz, 14. 7. 1911 (Erläuterungen zum Nachstudium), alle in: ebd., Nr. 11992.
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vornherein abschlägig beschieden – hinter sich zu lassen. Im Oktober 1911 legte Beseler dem Staatsministerium einen Gesetzentwurf vor, der eine Verkürzung des Vorbereitungsdienstes um ein ganzes Jahr vorsah. Zur Begründung des einjährigen Nachstudiums rekurrierten die Motive bereits damals auf das Konzept des lebenslangen Lernens: „Der Jurist, der die gesetzliche Befähigung zum Richteramt erreicht hat, darf damit seine Ausbildung keineswegs als abgeschlossen betrachten. Die Anforderungen der modernen Zeit, die ungeahnte Entfaltung von Handel und Industrie, welche stets neue Rechtsprobleme zeitigt, dulden keinen Stillstand. Die Fäden, welche die Rechtswissenschaft und andere Wissensgebiete immer inniger verbinden, nötigen den Juristen, wenn er auf der Höhe des Berufes stehen will, dazu, auch über die Grenzen seines Faches hinaus Umschau zu halten. Diese Weiterbildung wird zu keiner Zeit aufhören dürfen“. Die Art des Nachstudiums war dem Assessor freigestellt, nach dessen Abschluß mußte er über seine Tätigkeit jedoch Bericht erstatten442. Beim anschließenden Votenwechsel erhoben Innenminister Dallwitz und Finanzminister Lentze schwere Bedenken gegen den Entwurf. Sie befürchteten, daß sich der Zudrang zum juristischen Studium (angesichts der nur noch sechsjährigen Ausbildung zum Volljuristen) weiter verstärken werde, während andererseits gute Kräfte, die an der neuen, möglicherweise entlohnten Tätigkeit Gefallen fänden, der Justizverwaltung verlorengingen. Ferner vermißten sie verläßliche Kontrollen des Nachstudiums, weshalb die Gefahr bestünde, daß der zur Weiterbildung gewährte Urlaub schlichtweg „verbummelt“ werde, und schließlich bemängelten sie die ungeklärte finanzielle Seite der anvisierten Maßnahmen443. Daraufhin legte Beseler den Entwurf ad acta, hielt an den übrigen Zielen aber unbeirrt fest. Nachdem sich die beteiligten Ministerien über die Neugestaltung der rechts- und staatswissenschaftlichen Fortbildungskurse und die anfallenden Mehrkosten geeinigt hatten, bestimmten die drei Verfügungen vom 3. 7. 1912 folgendes: Fortan konnten die Studierenden die Reihenfolge der Vorlesungen nach eigenem Ermessen festlegen, die Zahl der Pflichtübungen erhöhte sich auf vier (bei freier Wahl der Disziplinen), die mündliche Prüfung sollte „eingehende Fragen“ über das Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht sowie die Grundlagen der Volkswirtschaftslehre und der Finanzwissenschaft umfassen, die bislang fakultativen Übungen für Referendare an den Landgerichten wurden in obligatorische umgewandelt, und den Gerichtsassessoren empfahl man ein einjähriges, auf das Dienstalter anrechenbares Nachstudium, dessen Absolvierung „sowohl in ihrem eigenen als im Interesse der Justizverwaltung“ liege. Die Palette an Fortbildungsmöglichkeiten war breitgefächert. Laut Verfügung kamen in Betracht: die Beschäftigung in einem kaufmän442 Votum Beselers (mit Gesetzentwurf nebst Begründung) v. 25. 10. 1911, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11992, Bl. 225 ff., Zitat Bl. 230 f. (auch in: ebd., Nr. 2915, Bl. 198 ff.); kurze Erwähnung bei Ebert, S. 187. 443 Votum Dallwitz’ v. 7. 12. 1911; Gegenvotum Beselers v. 18. 12. 1911; Votum Lentzes v. 4. 1. 1912; Gegenvotum Beselers v. 9. 1. 1912; 2. Votum Lentzes v. 22. 1. 1912; 2. Votum Dallwitz’ v. 29. 1. 1912, alle in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11992, Bl. 248 ff.
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nischen, gewerblichen oder landwirtschaftlichen Betrieb, die Mitarbeit in einer gemeinnützigen und unparteiischen Rechtsauskunftsstelle, ein Auslandsaufenthalt (zum Zwecke des Erwerbs vertiefter Sprach- und Kulturkenntnisse), die Teilnahme an rechts- und staatswissenschaftlichen Fortbildungskursen, eine Wiederaufnahme universitärer Studien sowie die Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt444. Auch wenn die Vorlage von 1911 ebenso ihr Ziel verfehlte wie die von 1902, so ist ein Vergleich zwischen der Vorgehensweise Schönstedts und Beselers doch aufschlußreich. Ungleich stärker als sein Vorgänger behielt Beseler die Zügel des politischen Prozesses jederzeit fest in der Hand, insbesondere gegenüber den Ansprüchen des Innen- und Finanzministers, die vor Fertigstellung des Entwurfs nicht konsultiert wurden (was ihre ablehnende Haltung indes verstärkt haben dürfte). Andererseits sicherte er sich durch Einbeziehung der juristischen Fakultäten die Zustimmung der Professorenschaft. Vor allem aber war der Entwurf so angelegt, daß auch nach seinem – einkalkulierten – Scheitern die administrativen Teile in Kraft gesetzt werden konnten. Inhaltlich ersetzte Beseler das Schönstedtsche Konzept bürokratischer Kontrolle durch eine weitgehende Liberalisierung, womit er sich die Grundidee Althoffs zu eigen machte. Das intendierte Nachstudium öffnete den bislang innerjuristisch abgeschlossenen Ausbildungsgang nach außen hin und erinnerte in seinem ganz unpreußischen Verzicht auf Kontrolle (man denke nur an den Auslandsaufenthalt!) an die Einführung der Gewerbegerichte zwei Jahrzehnte zuvor. Es ist nicht zu übersehen, daß Beseler, der im Vergleich zu seinem Vorgänger ohnehin über die größere politische Intelligenz verfügte, aus dem gescheiterten Versuch des Jahres 1902 seine Lehren gezogen hatte. Bei seinen Entscheidungen orientierte sich Beseler stark an den bayerischen Einrichtungen. Wie aus dem Dankesschreiben von Justizminister Thelemann (nach Übersendung der entsprechenden Exemplare des JMBl) hervorgeht, hatte Beseler mit dessen Amtsvorgänger Miltner über den Inhalt der Verordnungen mündlich konferiert. Thelemann weiter: „Ich habe von diesen höchst begrüßenswerten, allen modernen Anforderungen vollauf genügenden Verfügungen mit dem größten Interesse Kenntnis genommen und darf die Überzeugung aussprechen, daß sie von segensreicher Wirkung sein werden“445. Den vorläufigen Abschluß der Reformarbeiten markierte die neue Prüfungsordnung von 1913, die sich im wesentlichen darauf beschränkte, die geltenden Bestimmungen zusammenzustellen. Nachdem sich die Klausuren in der Referendar444 Prot. der kommiss. Beratung zwischen Vertretern des Justiz-, Kultus-, Innen- und Finanzministeriums v. 22. 5. 1912, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11992, Bl. 337 – 341; AVen v. 3. 7. 1912, in: JMBl, S. 212 – 215; das Nachstudium strikt ablehnend: Gerland, Gutachten, S. 888 f. („juristische Freizeit“); zu den Referendarübungen auch Ebert, S. 224 ff. Bereits zuvor hatte Beseler die Besichtigung gewerblicher Betriebe im Rahmen der Referendarausbildung angeordnet (AV v. 22. 7. 1910; JMBl, S. 287) und den Assessoren die Mitarbeit in Rechtsauskunftsstellen empfohlen (AV v. 29. 5. 1912; JMBl, S. 181); zahlreiche Hinweise auf Fortbildungsveranstaltungen in den Jahrgängen der DRZ. 445 Thelemann an Beseler, 4. 8. 1912, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11993.
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prüfung bewährt hatten, wurden diese nunmehr auch in das Assessorexamen aufgenommen (Behandlung von zwei Rechtsfällen mit je fünfstündiger Bearbeitungszeit)446. 2. Bayern ging in der juristischen Ausbildung weiterhin seine eigenen Wege447. Die neue Ausbildungsverordnung vom 12. 7. 1893 (samt ausführlichen Vollzugsvorschriften) ergänzte die erste Prüfung um einen schriftlichen Bestandteil, während in der zweiten Prüfung der mündliche Teil entfiel, die schriftlichen Leistungen hingegen noch einmal ausgeweitet wurden. Fortan dauerte der Staatskonkurs in den beiden Abteilungen Justiz und Verwaltung jeweils fünf Tage, in jeder Abteilung hatten die Kandidaten neun Aufgaben, darunter einen größeren praktischen Fall, zu bearbeiten (Bearbeitungszeit je einmal neun, sonst vier Stunden). Als Prüfungsgegenstand kam die Sozialgesetzgebung neu hinzu. Die Ende 1892 erlassenen Vorschriften über die Einrichtung von Referendarübungen bei den Landgerichten wurden übernommen448. Mit der folgenden Verordnung vom 4. 7. 1899 reagierte die bayerische Regierung frühzeitig und konsequent auf den mit der Einführung des BGB verbundenen Bedeutungsverlust des Römischen Rechts, der, weniger im Studienplan als vielmehr im Bewußtsein der Studenten, dann auch rasch eintrat. Als einziger Bundesstaat führte das Land (nach dem Vorbild Österreichs) eine Zwischenprüfung ein, in der die rechtsgeschichtlichen Fächer (römische und deutsche Rechtsgeschichte, System des römischen Privatrechts, Grundzüge des deutschen Privatrechts) abschließend geprüft wurden. Zweck der Zwischenprüfung war es, den angeschwollenen Prüfungsstoff zu entzerren und das erste Examen für das geltende Recht freizuhalten. Sie konnte frühestens nach Ende des dritten Semesters abgelegt werden und dauerte pro Kandidat vierzig Minuten – zum Ausgleich reduzierte sich die mündliche Prüfungszeit im ersten Examen auf eineinhalb Stunden449. Die mit der neuen Einrichtung gesammelten Erfahrungen waren im großen und ganzen positiv. Dennoch folgten die übrigen Länder – allein schon wegen der kürzeren Studienzeit, wohl aber auch aus Sorge um den Bildungswert des Römischen Rechts – dem Beispiel nicht, so daß der bayerische Sonderweg eine erhebliche Einschränkung der akademischen Freizügigkeit mit sich brachte450. Prüfungsordnung v. 17. 6. 1913, in: JMBl, S. 195 ff. Vgl. zum folgenden auch Kollmann, S. 461 ff.; Kühn, passim; Spezialstudie: N.A. Koritz, Die Entwicklung des Schwierigkeitsgrades des ersten juristischen Staatsexamens in den letzten 100 Jahren, Berlin 1996 (dargestellt am Beispiel bayerischer zivilrechtlicher Examensklausuren). 448 VO v. 12. 7. 1893, in: JMBl, S. 137 ff.; Bek. v. 14. 7. 1893, in: ebd., S. 150 ff. 449 VO v. 4. 7. 1899, in: JMBl, S. 179 ff. 450 Zur bayerischen Lösung: Theodor Kipp, Die juristische Zwischenprüfung in Bayern und ihre Lehren, in: DJZ 6 (1901), S. 103 – 106 (Prof. in Erlangen); Hellwig, S. 528; ablehnend: v. Bechmann, Verh. KdR 1903 / 04, 11. 3. 1904, Bd. 3, S. 111 (Prof. in München; dazu auch: HStA, MJu 9841). Ebenso sprach sich der 26. DJT einhellig gegen die Zwischenprüfung aus (Verh. d. 26. DJT, Bd. 3, Berlin 1903, S. 162); zur Diskussion auch Ebert, S. 369 ff. 446 447
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Ferner wurde der Vorbereitungsdienst weiter intensiviert: Die Ausführungsvorschriften dehnten die Referendarübungen auf größere Amtsgerichte aus und bestimmten darüber hinaus, daß jeder bei den Amts- und Landgerichten tätige Rechtspraktikant einem Richter des jeweiligen Geschäftsbereichs zur Ausbildung zuzuweisen sei451. Die Prüfungsordnung vom 18. 10. 1910 – in erster Linie dazu gedacht, den Überfüllungsdruck zu mindern – führte bei der zweiten Prüfung (nunmehr „Staatsprüfung“ genannt) den mündlichen Teil wieder ein (zwanzigminütige Prüfung ohne Einfluß auf die Gesamtnote). Wie bereits erwähnt, wandelte ihn die Verordnung vom 27. 7. 1912 in eine Ergänzungsprüfung für diejenigen Kandidaten um, welche die Staatsprüfung mit einer Gesamtnote zwischen 90 und 100 abgeschlossen hatten452. Angestoßen durch die steigenden Bewerberzahlen, übernahm Bayern auch in der Frage der Öffnung des Ausbildungsgangs eine Vorreiterrolle. Seit 1901 war es den geprüften Rechtspraktikanten freigestellt, die geforderte Nachpraxis auch bei einem Wirtschaftsverband oder einem gewerblichen Unternehmen abzuleisten453. Da von der Möglichkeit zunächst kaum Gebrauch gemacht wurde, verlieh die Justizverwaltung einige Jahre später ihren Wünschen Nachdruck. Per Erlaß vom 5. 11. 1907 wurden die Unterbehörden angewiesen, den geprüften Rechtspraktikanten mitzuteilen, „daß das Staatsministerium der Justiz großen Wert darauf legt, daß die Bewerber um Anstellung im Justizstaatsdienst ihre Ausbildung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens durch praktische Betätigung bei einer öffentlichen oder privaten Anstalt oder Unternehmung, also namentlich bei Banken, größeren Firmen oder in Fabriken, bei Handels- und Gewerbekammern, in Berufsgenossenschaften, Versicherungsanstalten usw., fördern“. Im Sinne des beruflichen Fortkommens erschien eine Beschäftigung in Handel und Industrie mithin als dringend angeraten. Darüber hinaus veröffentlichte das Ministerium fortlaufend Verzeichnisse von Firmen und Organisationen, die sich zur Anstellung junger Juristen auf Volontärsbasis bereit erklärt hatten454. Den Rechtspraktikanten auch schon vor Ablegung der zweiten Prüfung eine wirtschaftspraktische Beschäftigung zu erlau451 Bek. v. 6. 7. 1899, §§ 82 und 87, in: JMBl, S. 194 ff.; vgl. auch das Schreiben Podewils’ auf die entsprechende Anfrage Beselers v. 16. 1. 1910, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 11991, Bl. 282 ff. 452 VO v. 18. 10. 1910, in: GVBl, S. 1003 ff.; neue Fassung d. VO v. 4. 7. 1899 (22. 10. 1910), in: JMBl, S. 773 ff.; Bek. v. 25. 10. 1910, in: ebd., S. 791 ff. (Vollzugsvorschriften); VO v. 27. 7. 1912, in: GVBl, S. 695 ff.; Bek. v. 1. 8. 1912, in: JMBl, S. 191 ff. 453 VO v. 4. 1. 1901, § 2, in: JMBl, S. 50 ff. (als Beispiele nannte die Verordnung Banken, Handels- und Gewerbekammern, Berufsgenossenschaften und Versicherungsanstalten). 454 Bek. v. 5. 11. 1907, in: JMBl, S. 393 ff. (abgedr. auch bei: H. Cahn, Gutachten über die Frage: Empfehlen sich Sondergerichtshöfe in Streitigkeiten aus dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes?, in: Verh. d. 30. DJT, Bd. 1, Berlin 1910, S. 524 – 526); die Bek. v. 6. 11. 1908 (JMBl, S. 253 ff.) machte über 100 Firmen und Institutionen namhaft, die einer Kooperation zugestimmt hatten. Ähnliche Verfügungen ergingen auch in anderen Bundesstaaten, so in Sachsen (VO v. 1. 2. 1904, bezogen auf Referendare), Oldenburg (Gesetz v. 28. 12. 1906) und Baden (Erlaß des JM v. 24. 9. 1910).
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ben, wie dies die Handels- und Gewerbekammer für Oberbayern (München) in einer Eingabe vorschlug, lehnte die Justizverwaltung mit Rücksicht auf die juristische Ausbildung hingegen ab455. 1913 richtete sie Fortbildungskurse (bestehend aus Vorträgen und Besichtigungen) für höhere Justizbeamte, Rechtsanwälte und geprüfte Rechtspraktikanten ein. Ins Auge gefaßt waren zunächst zwei Kurse pro Jahr von etwa vierzehntägiger Dauer, und zwar ein Frühjahrskurs für die OLGBezirke München und Augsburg sowie ein Herbstkurs für die Bezirke Nürnberg, Bamberg und Zweibrücken456. 3. Vergleicht man die Entwicklung der juristischen Ausbildung in Preußen und Bayern seit den 1890er Jahren miteinander, so fallen die Parallelen ins Auge: Beide Justizverwaltungen waren bestrebt, die Prüfungen sukzessive zu erschweren (in Bayern freilich von einem ungleich höheren Niveau aus), den Ausbildungswert des Vorbereitungsdienstes zu steigern und den Blick der jungen Juristen für die außerjuristische Realität zu schärfen. Entscheidend jedoch blieben die Unterschiede: Nach wie vor waren die bayerischen Examina weit stärker darauf angelegt, die individuellen Fähigkeiten der Kandidaten zu erkunden (Einzelprüfung!) sowie die Spannbreite der erworbenen Kenntnisse zu überprüfen. Letzteres ergab sich zwingend aus der Tatsache, daß die Anwärter für den höheren Justiz- und Verwaltungsdienst einen gemeinsamen Ausbildungsweg durchliefen. Dies schloß eine einseitig privatrechtliche Ausbildung, wie sie für Preußen, allen (halbherzigen) Ermahnungen des Ministeriums zum Trotz, charakteristisch blieb, bzw. eine Vernachlässigung des Strafrechts und des öffentlichen Rechts, also gerade der politisch sensiblen Rechtsgebiete, von vornherein aus. Die Vorzüge des bayerischen Systems kamen unmittelbar darin zum Ausdruck, daß mangelnder Studienfleiß (sieht man einmal von der geforderten philosophischen Vorbildung ab) kein gravierendes Problem darstellte und infolgedessen auch das Repetitorwesen hier nicht Fuß fassen konnte, mittelbar darin, daß die Kritik an den Richtern und ihren Entscheidungen in Bayern nicht annähernd die Intensität erreichte wie in Preußen.
IV. Die Richterschaft 1. Waren es vor 1900 erst vereinzelte Stimmen aus Richterkreisen, die sich gegen die massiven Angriffe auf die Justiz öffentlich zur Wehr setzten, so wuchs deren Chor nach der Jahrhundertwende zusehends. Dabei wiederholten sich die bereits bekannten Argumente: Man verwies auf die unzeitgemäßen gesetzlichen Bestimmungen, die erhöhten Anforderungen angesichts der komplizierter gewordenen Verhältnisse, die Flut neuer, nicht selten miserabel ausgearbeiteter Gesetze, die Widersprüchlichkeit der erhobenen Vorwürfe, die geringe Zahl wirklich strittiger Entscheidungen, die grundsätzliche Erhabenheit des Rechts gegenüber den wech455 456
Vgl. dazu Dittenberger, Vorbildung, S. 7, Anm. 16. Bek. v. 17. 3. 1913, in: JMBl, S. 11 ff.
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selnden Erscheinungen des Zeitgeistes, die häufig unzureichenden Sach- und Rechtskenntnisse der Kritiker (bis hin zur systematischen Verdrehung der Fakten zum Zwecke billiger Propaganda) und nicht zuletzt auf das Recht auf Fehlbarkeit. Zunehmend rückten die aus richterlicher Sicht bedrohlichsten Entwicklungen in den Mittelpunkt: die stärkere Laienbeteiligung und die Sondergerichtsbewegung457. Abgesehen davon weist die Argumentation eine erhebliche Bandbreite auf, weshalb es sich lohnt, die wichtigsten Autoren – aus der Zeit vor Gründung des „Deutschen Richterbundes“ (1909) – kurz Revue passieren zu lassen. Viezens, mittlerweile Kammergerichtsrat und so etwas wie der Doyen richterlicher Selbstverteidigung, kam nach Prüfung der gängigen Vorwürfe zu folgendem Resultat: „Man sieht, wie unklar, widerspruchsvoll und buntscheckig die Gedankenwelt ist, aus der eine ,Unzufriedenheit weiter Kreise‘ mit Rechtsprechung und Richtern durch große und kleine Propheten und Tribunen herausdestilliert wird: Übertreibung, Verzerrung, Verfälschung, Unwissenheit, Leichtfertigkeit, Torheit und Böswilligkeit führen einen lieblichen Reigen um den Berufsrichter als Opferlamm auf“. Büßte seine Apologie durch ihren ironischen Ton und ihren Hang zur Diffamierung auch einen Gutteil ihrer Wirkung ein, so ist seine eigene Erklärung doch bemerkenswert: Viezens interpretiert das Streben nach mehr Volksnähe als Folge der zunehmenden Ausdifferenzierung des Rechts sowie der Dominanz der Juristen im staatlichen Leben, letztlich also als Unbehagen an der formalen Rationalität der Moderne458. Der Limburger Landgerichtspräsident Georg de Niem zeigte sich vor allem über das Vordringen der Laien erbost, ein Vorgang, der nicht zu größerer Volkstümlichkeit, sondern stärkerer Einseitigkeit führen werde. Im Gegenzug suchte er den Berufsrichter als den in jeder Beziehung besseren Richter auszuweisen: „Es ist nicht anders: Laienjustiz ist naive Justiz, Juristenjustiz wissenschaftliche Justiz“. Die problematischen Materien – zu ihnen zählte er die nachsichtige Behandlung der Beleidigung, die Beurteilung der Zimmervermietung an Dirnen als Kuppelei, die Bestrafung des Versuchs mit untauglichen Mitteln und am untauglichen Objekt sowie überhaupt die extensive Interpretation der Strafvorschriften – würden allesamt auf das Konto des Reichsgerichts gehen, während für die 457 Einige Beispiele: Lippmann, Zur Kritik richterlicher Urteile und der Rechtspflege, in: Das Recht 5 (1901), S. 213 – 216 / 245 – 250 / 269 – 272 (RG-Rat); P. Laband, Rechtspflege und volkstümliches Rechtsbewußtsein, in: DJZ 10 (1905), S. 10 – 15 (Prof. in Straßburg); E. Schlesinger, Die Strafrechtspflege und das Rechtsbewußtsein des Volkes, in: Gesetz und Recht 7 (1906), S. 113 – 118; M. Hallbauer, Ein ernstes Wort zur Abwehr, in: Die Woche 10 / 1 (1908), S. 535 – 536 (Senatspräs. OLG Dresden). 458 R. Viezens, Bureaukraten und Lords, Berlin 1908, Zitat S. 87. Viezens wetterte vor allem gegen die „großen sozialen Propheten“ der „Sozialen Praxis“ und der „Preußischen Jahrbücher“ sowie die Sondergerichte („schnell-billig-soziale Vergleichsjustiz“); kritisch setzte er sich außerdem mit Adickes und den englischen Justizverhältnissen auseinander; vgl. ders., Sondergerichtssegen, in: Preußisches Verwaltungs-Blatt 29 (1907 / 08), S. 576 – 579; ders., Was dem Richter fehlt, in: Das Recht 12 (1908), S. 1 – 6; ders., Beisammen sind wir, fanget an, in: DRZ 1 (1909), S. 11 – 14.
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wirklichen Schäden der Justiz (fehlende Fortbildung der Richter, mangelnde Betätigung im öffentlichen Leben, handwerksmäßige Erledigung der Sachen, Langsamkeit des Rechtsganges, unzulängliche Betreuung der Referendare) die Überlastung vieler Gerichte verantwortlich sei459. Eine ähnlich schroffe Wendung gegen die Laien findet sich bei dem Darmstädter Landgerichtsrat Otto v. Pfister. Den Ansehensverlust der Justiz führte er nicht auf innere Mängel der Gerichte zurück, sondern auf den allgemeinen Rückgang des Autoritätsgefühls. Durch ständige Wiederholung eingängiger Schlagwörter sei das Phänomen imgrunde künstlich erzeugt worden. Von einer konservativen Warte aus warnte Pfister vor übereilten und grundstürzenden Reformen460. Den breitesten Ansatz verfolgte der Berliner Landgerichtsrat Carl Kade. Kade empfahl eine Mischung aus öffentlicher Gegenwehr, richterlicher Selbsthilfe, administrativen Maßnahmen und Änderungen des Strafund Zivilverfahrens461. Es liegt auf der Hand, daß die pro domo sprechenden Autoren eifrige Befürworter eines korporativen Zusammenschlusses der Richterschaft waren. Die Gründung der Richtervereine beruhte – neben der für das Kaiserreich typischen Tendenz zur Verbandsbildung – auf einer ganzen Reihe von Ursachen: dem gesunkenen Sozialprestige der Zunft, dem drohenden Sieg des Laienrichtertums, dem fehlenden Einfluß auf die Gesetzgebung, dem Bedürfnis nach Erhöhung des Standesgefühls und größerer Unabhängigkeit, dem Wunsch nach besserer Besoldung, dem Streben nach einer „Nationalisierung“ der Richterschaft462. Viele Richter gaben die „vornehme Zurückhaltung“, die ihnen in öffentlichen Dingen gleichsam zur zweiten Natur geworden war, in dem Gefühl auf, bei der Justizverwaltung nicht genügend Schutz gegen die als ehrenrührig empfundenen Angriffe zu finden. Nicht wenige blickten neidvoll auf die Rechtsanwaltschaft mit ihrer geballten Organisationsmacht, die es wiederholt verstanden hatte, den legislativen Entscheidungsprozeß in die gewünschte Richtung zu lenken. Den Auftakt bildete der Hessische Richterverein, der im Dezember 1899 gegründet wurde, Elsaß-Lothringen folgte 1902, Bayern 1906, Baden und Sachsen 459 Georg de Niem, Berufsrichter oder Laienrichter, Leipzig 1906 (Zitat S. 4, zu den genannten Materien S. 7 f., zum Überlastungssyndrom S. 40 ff.); ders., Wahrheit und Dichtung, in: DJZ 13 (1908), S. 441 – 449; ders., Zur Lage, in: DRZ 1 (1909), S. 37 – 40. 460 Otto v. Pfister, Der Reform-Ansturm gegen die bestehende Rechtsordnung, Leipzig 1907 (bes. S. 14 – 18 und S. 22 f.); ders., Vom Richtertume, in: W. Mittermaier / M. Liepmann (Hg.), Schwurgerichte und Schöffengerichte, Bd. 1, Heidelberg 1908, S. 655 – 667; ders., Berufsrichter und Laienrichter, in: DRZ 1 (1909), S. 40 – 47. 461 Carl Kade, Der deutsche Richter, Berlin 1904. 462 Zur Bewegung: Richard Schmidt, Die Richtervereine, Berlin 1911; C. v. Frisching, Die deutschen Richtervereinigungen, Freiburg 1936 (Schwerpunkt auf der Weimarer Zeit); Frank, Die Geschichte des bayerischen Richtervereins, München 1931 (Festschrift zum 25jährigen Bestehen; AG-Präs.); zur Entstehung des preußischen Richtervereins: Carl Kade, Der deutsche Richter, 2., neubearb. u. verm. Aufl., Berlin 1910, S. 229 – 240; Ormond, S. 503 – 506; Hinweise auch in: H. Rottleuthner, Die gebrochene Bürgerlichkeit einer Scheinprofession, in: H. Siegrist (Hg.), Bürgerliche Berufe, Göttingen 1988, S. 145 – 173.
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1907. Entsprechende Bestrebungen in Preußen, die im Herbst 1906 einsetzten und in Kade sowie Amtsgerichtsrat Hermann Jastrow (ebenfalls Berlin) ihre treibenden Kräfte besaßen, wurden von der Justizverwaltung längere Zeit hintertrieben, da die preußische Regierung beamtenpolitischen Zusammenschlüssen aus Gründen der Staatsräson mit größter Skepsis begegnete. Aber auch viele Mitglieder des Abgeordnetenhauses bis in nationalliberale Kreise hinein äußerten sich ablehnend. Unter den Initiatoren war vor allem die Frage umstritten, ob der Verein lediglich ideelle Ziele oder auch materielle Interessen verfolgen solle, zumal eine Neuregelung der Richterbesoldung damals bevorstand. Während die Satzung der „Berliner Richtervereinigung“, die am 10. 10. 1908 als Vorstufe der Landesorganisation ins Leben gerufen wurde, wirtschaftliche Bestrebungen ausdrücklich ausschloß, wollte sich der am 4. 4. 1909 gegründete „Preußische Richterverein“ – unter dem Eindruck der ungünstig verlaufenen Besoldungsreform – einer derartigen Selbstbeschränkung nicht unterwerfen. Im übrigen spiegelte die vorläufige Satzung der „Berliner Richtervereinigung“ die Defizite und Probleme nicht nur des preußischen Richterstandes wider. Zwecke des Vereins sollten sein: „Das Gefühl der Standeszusammengehörigkeit zu befestigen und ungerechte Angriffe gegen den Richterstand und seine Mitglieder abzuwehren; die Rechtspflege zu fördern, insbesondere durch juristische Fortbildung der Richter und durch Erweiterung ihres Einblicks in die gesamten Lebensvorgänge des Volkes; das Verständnis für Gerichtswesen und Rechtssachen bei der Allgemeinheit zu heben und eine engere Fühlung zwischen Volk und Richtern zu erzielen; an der gesetzgeberischen Umgestaltung des Rechts und des gerichtlichen Verfahrens durch Beratungen mitzuwirken“463. In der endgültigen Satzung (beschlossen am 31. 10. 1908) war dann nur noch von der „Förderung der Rechtspflege und der Standesangelegenheiten der Richter und Staatsanwälte“ die Rede, eine Formel, die der landesweite Verband übernahm. Als Geburtshelfer des „Preußischen Richtervereins“ fungierte Oskar Hamm, vormals OLG-Präsident in Köln, der als Mitherausgeber der DJZ einer Selbstorganisation der Richter schon seit längerem das Wort geredet hatte. Den Vorsitz übernahm Carl Kade, sein Stellvertreter wurde der Halberstädter Landgerichtsdirektor Theodor Boisly (1912 tauschten sie die Positionen). Im Gegensatz zu den anderen Bundesstaaten, in denen die neuen Vereine binnen kurzer Zeit fast alle höheren Justizbeamten umfaßten, blieb die Resonanz in Preußen begrenzt. Im März 1910 zählte der Richterverein erst 1.900 Mitglieder (bei rund 5.900 Richtern und 400 Staatsanwälten). Bis Anfang 1914 war der Anteil nur geringfügig gestiegen: Von den rund 6.350 Richtern und 450 Staatsanwälten waren nur 2.670 dem Verein beigetreten464. Die Verbandsbildung widersprach dem Selbstverständnis vor allem älterer Richter und Staatsanwälte, die in der Justizverwaltung ihre angestammte und einzig legitime Interessenvertretung sahen. Zudem hegten sie die Befürchtung, 463 464
C. Kade, Richtervereine, in: DJZ 13 (1908), S. 1193 – 1197, hier S. 1196. Mitteilungen in: DRZ 2 (1910), S. 120; DRZ 6 (1914), S. 51.
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materielle Belange könnten im Rahmen der Vereinstätigkeit die Oberhand gewinnen465. Vielleicht mehr als alles andere verdeutlicht die schleppende Entwicklung des Richtervereins die staatskonservative Gesinnung eines Großteils der preußischen Richter und Staatsanwälte466. Der Zusammenschluß der bestehenden Vereine zum „Deutschen Richterbund“, der sich am 28. 6. 1908 in Würzburg konstituierte und mit Beginn des Jahres 1909 ins Leben trat, erfolgte auf Betreiben des bayerischen Verbandes, namentlich seines Vorsitzenden, des Augsburger Landgerichtsrats Johannes Leeb467. Auf dem ersten Deutschen Richtertag, der unter Beteiligung von etwa 300 Richtern und Staatsanwälten am 12. / 13. 9. 1909 in Nürnberg stattfand, wurde Leeb zum Bundesvorsitzenden gewählt. Der aktuellen Situation entsprechend, standen die Beratungen ganz im Zeichen der Laienfrage, mit dem Ergebnis, daß die Anwesenden eine erweiterte Zuziehung von Laien zur Strafrechtspflege für nicht wünschenswert erklärten (mit großer Mehrheit) und Schöffen in der Berufungsinstanz ausdrücklich ablehnten (bei nur sieben Gegenstimmen)468. Zusammen mit anderen Materialien gingen die Verhandlungen und Beschlüsse in eine Denkschrift ein, die den politisch maßgebenden Stellen im Januar 1910 zugeleitet wurde. Aufgrund der geringen Repräsentanz der Nürnberger Versammlung blieb sie so gut wie unbeachtet469. Mit Bildung des nationalen Verbandes hatte die Bewegung den endgültigen Durchbruch geschafft: Im Jahre 1914 besaßen sämtliche Bundesstaaten mit Ausnahme von Waldeck, Hamburg und Bremen einen Richterverein. Zu Beginn des Jahres umfaßte der DRB rund 7.000 Mitglieder und damit zwei Drittel aller deutschen Richter, das fehlende Drittel stammte zum größten Teil aus Preußen470. Daß in der organisierten Richterschaft ein starkes Bedürfnis nach Selbstverständigung und korporativem Einfluß lebendig war, aber auch, daß der DRB seinen ursprünglichen Abwehrzweck nach kurzer Zeit hinter sich ließ und sich zu einem Reformverein wandelte, zeigt ein Blick in das Verbandsorgan, die „Deutsche Richterzeitung“, die rasch zur dritten allgemeinjuristischen Zeitschrift aufstieg (neben der DJZ und dem „Recht“). 465 Vgl. O. Hamm, Richterbund und Richterstand, in: DJZ 14 (1909), S. 1302 – 1307, insb. S. 1306; C. Kade, Einige Worte an die bisher noch den Richtervereinen ferngebliebenen Richter und Staatsanwälte, in: DRZ 2 (1910), S. 17 – 19. 466 Kade zitiert einen OLG-Präsidenten mit den Worten: „Was brauchen wir denn einen Richterverein? Wir sind bis jetzt auch ohne einen solchen ausgekommen“ (Richter, 2. Aufl., S. 16). 467 Abdr. der Satzung des DRB bei Kade, Richter, 2. Aufl., S. 280 – 283. 468 Sten. Bericht über die Verhandlungen des I. Deutschen Richtertages, in: DRZ 1 (1909), S. 293 – 309 („Die Besetzung der Strafgerichte“); Kritik am Abstimmungsmodus und an den Beschlüssen bei Hamm, Richterbund und Richterstand, S. 1303 f. 469 Die Eingabe findet sich in: HStA, MA 95999; der Bundesrat leitete sie am 20. 1. 1910 an den Reichskanzler weiter. 470 Überblick über den Organisationsstand des DRB und der Landesvereine zum 1. 1. 1914 in: DRZ 6 (1914), S. 47 – 53.
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Ein Schwerpunktthema der Verbandsarbeit bildete die Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit in Form einer weitgehenden Trennung von Justiz und Verwaltung. Dahinter stand die – in der Sache nicht unberechtigte – Überzeugung, die Angriffe auf die Richter bezögen sich nicht auf die Personen, sondern ihre Beamtenstellung („bürokratische Rechtsprechung“). Adickessche Überlegungen aufgreifend, zielte das entschiedenste Modell auf einen homogenisierten, aus dem allgemeinen Beamtenkörper ausgegliederten Richterstand. Zu diesem Zweck sollten die Rangunterschiede eingeebnet, die Besoldung vereinheitlicht und auf der Grundlage eines Vorrückungssystems automatisiert, die richterlichen Verwaltungsaufgaben auf ein Mindestmaß begrenzt und die Dienstaufsicht stark eingeschränkt werden471. Auf Antrag von Boisly und seines Augsburger Kollegen Max Reichert sprach sich der zweite Deutsche Richtertag (Dresden 1911) einstimmig dafür aus, das GVG durch Erlaß eines deutschen Richtergesetzes zu ergänzen, das Vorschriften über die funktionale Begrenzung des Amtes, die feste Anstellung aller Richter, die klare Abgrenzung der richterlichen Verantwortlichkeit gegenüber der Justizverwaltung und die gleichartige materielle Sicherstellung umfassen sollte. In der Diskussion bescheinigten die Sprecher aus Preußen (Kade), Sachsen (Lobe) und Bayern (Reichert) ihren Justizverwaltungen, sich jeder direkten Einflußnahme auf die Richter zu enthalten472. In bezug auf die konkrete Ausgestaltung bestanden indes erhebliche Meinungsunterschiede, wie sich beim Versuch zeigte, einen Gesetzentwurf aufzustellen – bis Kriegsausbruch kam der mit der Aufgabe betraute Ausschuß über Vorarbeiten nicht hinaus. Im übrigen glichen die Bemühungen ein wenig dem berühmten Trockenschwimmen, war es doch schwerlich zu erwarten, daß die Bundesstaaten, allen voran Preußen, einer Umwandlung des Richterstandes in eine quasi autonome Körperschaft zustimmen würden, zumal auf reichsrechtlicher Basis. Daß in der organisierten Richterschaft alles andere als ein einheitlicher Sinn herrschte, offenbarte sich auch, als Alfred Bozi, Vorstandsmitglied des DRB, die deutschen Richter im Dezember 1911 aufrief, außerdienstlich auf alle Titel zu verzichten und die einfache Bezeichnung „Richter“ anzunehmen. Bozi, einer der engagiertesten Vertreter der Reformbewegung, verstand seine Initiative als Vorgriff auf die gesetzliche Abschaffung aller richterlichen Rangklassen473. Bei den Angesprochenen stieß die Idee auf ein, gelinde gesagt, geteiltes Echo474. 471 Siehe dazu: Riß, Richtertum und Beamtentum, in: DRZ 3 (1911), S. 529 – 538 (OAR München); Gustav Beck, Vorschläge zur Gerichtsverfassung, in: ebd., S. 538 – 543 (LG-Rat Deggendorf); ders., Unser Ziel, in: DRZ 4 (1912), S. 202 f.; ders., Bürokratismus und Strebertum, in: DRZ 5 (1913), S. 66 – 68. 472 Siehe: DRZ 3 (1911), S. 462 (Leitsätze), S. 582 – 614 (Referat Reichert) und S. 633 – 646 (Diskussion und Beschluß); Ormond, S. 130 f. 473 Alfred Bozi, An die deutschen Richter!, in: DRZ 3 (1911), S. 765 f. Unter dem Titel „Der Streit um des Kaisers Rat“ widmete der „Kladderadatsch“ in seiner Ausgabe vom 4. 1. 1912 dem Aufruf ein Spottgedicht, dessen letzte zwei Zeilen lauteten: Prosit, du Gleichheitssozi / Du Nichtsalsrichter Bozi! (abgedr. in: DRZ 4, 1912, S. 175 f.). Alfred Bozi (1857 – 1938), Sohn eines aus Ungarn stammenden Industriellen, war als Richter an verschiedenen westfälischen Gerichten tätig. Als Zeichen seines unbedingten Reform-
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Zusammenfassend läßt sich feststellen: Die Entstehung der Richtervereine und die Aktivitäten des „Deutschen Richterbundes“ bildeten einen Teil der umfassenderen Bestrebungen, die „Subalternisierung“ der Richterschaft zu überwinden, und zwar durch Verbesserung ihrer Stellung, Stärkung ihrer Bewegungsfreiheit und Erhöhung ihres sozialen Ansehens. Reichert umriss die Ausgangssituation, die dem Wirken des Richterbundes Richtung und Ziel vorzugeben hätte, wie folgt: „Der Richter ist nach außen und innen gefesselt, von Regierung, Prozeßparteien und Gesetz derart wenig unabhängig, daß ihm eine segensreiche, achtunggebietende Tätigkeit unterbunden ist“475. 2. Das Hinaustreten der Richterschaft in die Öffentlichkeit gab den Anstoß für eine Reihe von Schriften, die sich – aus unterschiedlicher Perspektive – mit Stellung und Tätigkeit des Richters beschäftigten. Überspitzt könnte man von einem Genre der Richterliteratur sprechen, das in jenen Jahren entstand und als dessen Ahnherren Kade und Adickes gelten dürfen476. Unter den Publikationen ragt die gedankenreiche und brillant geschriebene Studie von Martin Beradt heraus, ihrer Art nach ein Psychogramm des Berufsstandes477. Als zentrale Quelle für die Nöte der Zunft identifiziert Beradt den Widerspruch zwischen der vom Publikum geglaubten und von den Richtern verinnerlichten Rolle des bloßen Gesetzesvollziehers und ihrer tatsächlichen, stark rechtsbildenden Tätigkeit: „Aus dieser Zwischenstellung von rechtsanwendenden und rechtsschöpfenden Leuten fließen tausend Leiden, jene, die die Stellung eines willens ließ er sich vom OLG-Rat in Hamm zum AG-Rat in seiner Vaterstadt Bielefeld zurückstufen. Hier gründete er 1915 die – vielerorts nachgeahmte – „Soziale Gerichtshilfe“, die sich um die Resozialisierung von Strafgefangenen kümmerte. Nach seiner Pensionierung arbeitete er als Anwalt; zu Bozi: Sundermann, Dr. Alfred Bozi, in: Rechtspflege zwischen Rhein und Weser, Hamm 1970, S. 192. 474 Ablehnend: Grimm, „Richter“, in: DRZ 4 (1912), S. 7 f. (LG-Direktor Wiesbaden); Anger, „Richter“ sans phrase?, in: ebd., S. 111 f. (LG-Direktor Leipzig); Kroschel, „Richter“ und Justizverwaltung, in: ebd., S. 199 – 201 (LG-Direktor Danzig); zustimmend: G. Beck, Titel und Rangstufen, in: ebd., S. 60 – 63; C. Kade, „Richter“, in: ebd., S. 154 – 157; Correll, „Richter“ schlechthin?, in: ebd., S. 201 f. („Richter“ in Nürnberg); Schlußwort: A. Bozi, Richter oder Räte?, in: ebd., S. 244 – 247; vgl. auch Kade, Richter, 2. Aufl., S. 84. 475 Max Reichert, Die deutschen Gerichte der Zukunft, Hannover 1912, S. 9. 476 Zu nennen wären: Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Das Imperium des Richters, Straßburg 1908 (Prof. der Rechte in Würzburg; beschreibt die Stellung des englischen Richters anhand von Rechtsfällen aus den Jahren 1906 / 07); Max Burckhard, Der Richter, Berlin 1909 (behandelt die ähnlich gelagerten Verhältnisse in Deutschland und Österreich); Adelbert Düringer, Richter und Rechtsprechung, Leipzig 1909 (RG-Rat; Schwerpunkt auf den Problemen der Rechtsfindung); Kade, Richter, 2. Aufl., S. 1 – 96. 477 Martin Beradt, Der Richter, Frankfurt / M. 1909. Nach absolviertem Jurastudium wurde Martin Beradt (1881 – 1949) 1909 als Assessor dem Kammergericht zugewiesen, wechselte nach einigen Jahren aber zur Rechtsanwaltschaft über. Ebenfalls 1909 begann sein schriftstellerisches Werk, das zeit- und gesellschaftskritische Themen behandelte. Als Sohn orthodoxer Juden wurde er 1933 mit Berufsverbot belegt und emigrierte 1939 zunächst nach London, ein Jahr später nach New York, wo er auch verstarb.
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Richters heute undankbar und so verkannt machen und sie ihm selbst so schwer und lästig werden lassen“478. Vor allem das Arkanum des Richters, die Urteilsbildung, beruhe auf vielfältigen Imponderabilien und Zufälligkeiten („Menschlichkeiten“), die zum einen in der Methode, zum anderen in den Personen lägen. Das Urteil bilde keineswegs – hier ist deutlich der Einfluß der Freirechtslehre zu spüren – das Resultat eines rechtlich und logisch korrekten Subsumtionsaktes, sondern der vorgängigen, meist intuitiven Anwendung des gesunden Menschenverstandes: „Und dennoch werden mit großer Mühseligkeit und geradezu bedauernswertem Fleiß auf dem glanzlos gelben Papier mit ermüdender Hand Gründe an Gründe gefügt, die nicht die Gründe der Entscheidung waren, wenn sie sich auch Entscheidungsgründe nennen. Alle Erwägungen des Weltverstandes, die das Urteil fanden, kommen in ihnen nicht vor, nur die rein formalen, mit denen der Richter vor seinem ,juristischen‘ Gewissen nachträglich sein weltläufiges Urteil verteidigt, erscheinen in einer dem Laien unverständlichen formalen Fassung. Es muß der Richter eben seine Ansicht, die er mühelos mit dir und mir verständlichen Gründen rechtfertigen könnte, erst mit dir und mir unverständlichen juristischen Gründen decken“479. Die Richter unterlägen den Unwägbarkeiten allen menschlichen Denkens, der internen Psychologie des jeweiligen Kollegiums, den herrschenden Unklarheiten über den Zweck der Strafe und manch anderem mehr. Bei aller Entzauberung geht es Beradt letztlich darum, Verständnis für die Schwierigkeiten der richterlichen Aufgabe zu wecken: „Der Richter muß, wenn er ein großes Herz hat und dies besinnt, immer die schwersten Kämpfe leiden: Er muß immer den einzelnen gegen den Staat und dann den Staat gegen den einzelnen verteidigen. Und oftmals geht dies über allen Verstand“480. 3. Wie bereits angedeutet, war die Gründung des „Preußischen Richtervereins“ eng mit den Besoldungsreformen der Jahre 1907 – 1909 verquickt. Das Richterbesoldungsgesetz vom 29. 5. 1907 führte zunächst die langersehnte Gleichstellung der Amts- und Landrichter mit den Landgerichtsdirektoren und Oberlandesgerichtsräten, aber auch den Regierungsräten im Höchstgehalt (7.200 Mark) ein. Außerdem schrieb es das System der Dienstaltersstufen für alle Richterklassen vor, wobei die Tätigkeit als Gerichtsassessor, sofern sie mehr als vier Jahre betrug, bis zur Dauer von zwei Jahren auf das Dienstalter angerechnet wurde. Im Rahmen der allgemeinen Neuregelung der Beamtenbesoldung im Jahre 1909 gelang es den Konservativen dann, für ein Drittel der Regierungsräte sowie für die Landgerichtsdirektoren, Oberlandesgerichtsräte und Ersten Staatsanwälte eine pensionsfähige Zulage von 600 Mark jährlich durchzusetzen, so daß die erreichte Gleichstellung postwendend wieder aufgehoben wurde481. Kade bedauerte zutiefst, daß das ungesunde Streben nach Beförderung damit wiederbelebt sei: „Diese sogenannte Be478 479 480 481
Beradt, S. 13. Ebd., S. 64. Ebd., S. 74. Zu den Einzelheiten Ormond, S. 170 f.
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förderung bringt die größte Gefahr für die Unabhängigkeit der Richter und durchbricht den Grundsatz ,Gleiche Richter für alle‘. Es ist eine menschliche Schwäche, der auch nicht wenige Richter unterliegen, daß sie ,nach oben streben‘ und in einer Beförderung die Anerkennung ihrer Tätigkeit erblicken, anstatt sich mit dem Bewußtsein der gewissenhaft erfüllten Pflicht zu begnügen. Diese Schwäche liefert nicht bloß den Richter der Justizverwaltung aus, die die Beförderung zu vergeben hat, sondern beeinflußt ihn auch vielfach unbewußt dann in seiner unbefangenen Rechtsprechung, wenn dieser von maßgebenden Persönlichkeiten Beachtung geschenkt wird, was besonders in Strafsachen häufig der Fall sein wird. Die Hoffnung auf mögliche Beförderung ist aber auch insofern geeignet, das innere Gleichgewicht des Richters zu stören, als sie durch ihr Fehlgehen ihn leicht verbittert und der Berufsfreudigkeit beraubt“482. Die Gehaltsregelungen von 1909 blieben bis zum Ende der Monarchie in Kraft. 4. Schließlich sei noch ein Blick auf die soziale Zusammensetzung des Richterstandes geworfen. Nähere Auskunft über die Abstammung der bayerischen Justizbeamtenschaft geben einige Statistiken, die 1912 von der DRZ veröffentlicht wurden. Die Übersichten dienten nicht nur der bloßen Information: Vielmehr sollte mit dem Nachweis, daß die Richter im wesentlichen dem Mittelstand entstammten und „dadurch am besten in der Lage seien, Fühlung mit den Schichten der Bevölkerung zu nehmen, die über und unter ihnen ständen“, der Vorwurf der Klassenjustiz entkräftet werden. Danach rekrutierten sich die 631 Richter, Staatsanwälte und juristisch vorgebildeten Sekretäre aus 13 Bezirksverbänden – gemessen am Beruf des Vaters – aus folgenden Schichten: Landwirtschaft: 64 (Großgrundbesitz: 3, mittlerer Grundbesitz: 51, kleiner Grundbesitz: 10) Industrie und Handel: 178 (Großbetrieb: 15, mittlerer Betrieb: 44, Kleinbetrieb: 119) Beamte: 231 (höhere: 134, mittlere: 59, untere: 38) Militärpersonen: 11 (Offiziere: 9, Unteroffiziere: 2) Geistliche: 15 Lehrer: 72 freie Berufe: 52 Arbeiter: 8. Die oberen Gesellschaftskreise waren mithin schwach vertreten, es dominierten Söhne aus der Beamtenschaft und den gewerblichen Mittelschichten, auffallend viele Justizbeamte stammten aus Lehrerfamilien. Die Tatsache, daß sich auch Arbeitersöhne (genauere soziologische Angaben fehlen allerdings) in der Übersicht finden, ging auf die arbeiterfreundliche Haltung der bayerischen Justizverwaltung zurück, die sich nicht zuletzt in der Vergabe von Stipendien an begabte Kinder aus einkommensschwachen Familien äußerte483. 482
Kade, Richter, 2. Aufl., S. 82.
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Für Preußen liegen genauere Zahlen für den Bezirk des Berliner Kammergerichts vor, die, abgesehen von den regional bedingten Unterschieden (geringerer Anteil der landwirtschaftlichen, höherer Prozentsatz der kaufmännisch-gewerblichen Schichten), in der Tendenz ein ähnliches Bild ergeben. Mit Ausnahme des bereits erwähnten Fernbleibens der Gutsbesitzersöhne blieb die Rekrutierung über die Jahrzehnte hinweg erstaunlich konstant, was zum einen dem geforderten Subsistenzmittelnachweis (zuletzt zwischen 1.500 und 1.800 Mark), zum anderen der Notwendigkeit geschuldet sein dürfte, die ständig länger werdende Assessorenzeit zu überbrücken. In den Jahren 1888, 1896, 1904 und 1912 stammten die Väter der Kandidaten für das Referendarexamen anteilig aus folgenden Berufsgruppen: Beamte, studierte Lehrer, Professoren: 30,3 % / 27,6 % / 31,1 % / 32,0 % Fabrikanten, Kaufleute: 29,4 % / 24,4 % / 35,7 % / 33,2 % Handwerker, Gewerbetreibende: 9,4 % / 6,6 % / 4,9 % / 8,3 % Gutsbesitzer: 10,9 % / 9,2 % / 3,5 % / 1,5 % Rentiers: 4,7 % / 6,3 % / 7,0 % / 7,4 % höhere Offiziere: 4,1 % / 4,8 % / 3,4 % / 3,4 % Geistliche, Volksschullehrer: 4,1 % / 5,9 % / 4,9 % / 6,8 % freie Berufe: 7,2 % / 10,6 % / 9,3 % / 7,8 %484.
V. Börngen, Deinhardt und der Verein „Recht und Wirtschaft“ Die justizielle Reformbewegung stand unzweifelhaft in der Gefahr, zu zerfasern und sich in unfruchtbaren Grabenkämpfen zu verlieren. Dieser Gefahr wollte der 1911 gegründete Verein „Recht und Wirtschaft“ entgegenwirken. Er verstand sich als Plattform für sämtliche Reformkräfte, mit dem Ziel, die divergierenden Strömungen zu bündeln und der Bewegung damit zu größerer Durchschlagskraft zu verhelfen. Entsprechend breit war der Ansatz: Inhaltlich wurden alle Tendenzen aufgegriffen, personell wandte man sich gleichermaßen an Juristen wie an Laien485. Der Vereinsgründung ging eine längere Vorgeschichte voraus. Ausgangspunkt war die Rede, die Viktor Börngen, bislang Senatspräsident, bei seiner Einsetzung als Präsident des Oberlandesgerichts Jena am 31. 12. 1909 hielt. Börngen, in dessen Persönlichkeit sich Tatkraft, hoher Selbstanspruch und idealistischer Über483 Angaben nach: DRZ 4 (1912), S. 478 (dort auch das Zitat). Weitere Statistiken schlüsseln die 263 Richter, Staatsanwälte und juristisch vorgebildeten Sekretäre eines Bezirksverbandes sowie die 263 Rechtspraktikanten, die sich 1898 der Anstellungsprüfung (Staatskonkurs) unterzogen, der Herkunft nach auf (ebd., S. 218 / 219); die Übersichten sind auch abgedr. bei Rottleuthner, Tab. 2 – 4, S. 170 – 172. 484 Angaben nach Ebert, S. 331. 485 Zum Themenkreis: H. Fenske, Der Verein „Recht und Wirtschaft“ 1911 – 1923, in: H. Schäfer (Hg.), FS Ott, Frankfurt 1996, S. 149 – 165; Th. Wirth, Adelbert Düringer, Mannheim 1989, S. 56 – 68.
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schwang auf eigentümliche Weise verbanden, skizzierte hier erstmals sein Reformprogramm. Die Rede schloß mit folgendem Ausblick: „Ich gehöre nicht zu den Freunden einer Äquitätsjurisprudenz, die uns am Ende mit dem letzten Dorfschöppen auf eine Stufe stellt. Ich will nichts wissen von der Freirechtsschule, die in hochentwickelten Verhältnissen, wie wir sie haben, zur Barbarei führen müßte. Was ich will, das ist das: Wir müssen das Recht studieren, mit Eifer studieren, gründlich studieren, fort und fort studieren. Aber wir dürfen in den Paragraphen der Gesetze nicht steckenbleiben. Wir dürfen uns den Kopf mit ihnen nicht so anfüllen, daß für anderes kein Raum mehr bleibt. Wir müssen durch die Theorie hindurch hinauf auf eine ragende Höhe. Da müssen wir Stellung nehmen, da müssen wir Umschau halten. Unter uns liegen dann die goldenen, schimmernden, feinen Fäden der Rechtstheorie und dicht unter diesen, von ihnen hellbestrahlt, das kraftvoll sprossende, grüne Leben“486. Damit war die Richtung – der Bezug zum lebensphilosophisch gefärbten Zeitgeist tritt deutlich zutage – vorgegeben: Orientierung der Rechtspflege an den praktischen Bedürfnissen der Gegenwart. Von einem organisatorischen Zusammenschluß war zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede. Unverzüglich ging der neue OLG-Präsident daran, die Ausbildung der Referendare in seinem Bezirk von Grund auf umzugestalten: „Namentlich in der jetzigen Zeit ist die Ausbildung der jungen Juristen geradezu die wichtigste Frage der Justiz“. Zunächst ordnete er die Einrichtung landgerichtlicher Übungskurse an, wie sie in den größeren Bundesstaaten bereits seit längerem existierten (Verfügung v. 25. 2. 1910). Eine zweite Verfügung vom 5. 5. 1910, die sich wie ein Modernistenmanifest liest und in Juristenkreisen beträchtliches Aufsehen erregte, legte die Leitsätze für den Vorbereitungsdienst fest. In eindringlichen Worten forderte Börngen eine Abkehr von der herkömmlichen Methodik, die „zu einer Art Denksport im luftleeren Raum, im juristischen Begriffshimmel“ geführt habe, und die Hinwendung zu einer lebensnahen Rechtsprechung, verstanden als „die Kunst, über praktische Fragen eine praktische Entscheidung zu treffen und sonach wirtschaftlich Brauchbares zu schaffen“487. Zu diesem Zweck müsse der Referendar umfassende Kenntnisse erwerben und sich fortlaufend in schriftlichen und mündlichen Aufgaben üben. Zur Vertiefung empfahl Börngen das Studium psychologischer, kaufmännischer, justizpraktischer und sprachlicher Schriften (der Erlaß enthielt entsprechende Literaturhinweise). Vor allem aber legte er den angehenden Juristen ans Herz, sich mit den modernen Reformfragen auseinanderzusetzen, 486 Abdr. der Rede in: Zum Wechsel im Präsidium des gemeinschaftlichen Thüringischen Oberlandesgerichts in Jena am 1. Januar 1910, in: Blätter für Rechtspflege in Thüringen und Anhalt 57 (1910), S. 1 – 15, hier S. 2 – 15 (Zitat S. 15). Viktor Börngen (1855 – 1917), 1882 in den thüringischen Justizdienst eingetreten, wurde 1893 Rat am OLG Jena, 1904 Senatspräsident und am 1. 1. 1910 schließlich Präsident des Gerichts. 487 Abdr. d. Verfügung in: Richard Deinhardt, Die Ausbildung der Juristen, in: Blätter für Rechtspflege in Thüringen und Anhalt 57 (1910), S. 177 – 195, hier S. 188 – 195 (Zitate S. 194 f., 189); die wichtigsten Passagen auch in: DRZ 2 (1910), S. 240 – 243.
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wobei er u. a. auf die Werke von Düringer, Adickes, Gmelin, Rumpf, Kantorowicz und Fuchs verwies. Bei dieser Gelegenheit trat Börngen aus der Deckung und gab sich als gemäßigter Freirechtler zu erkennen: „Namentlich an Ernst Fuchs kann kein Jurist vorübergehen. Mag er auch seinen Radikalismus, der sich übrigens nicht auf das Gebiet des Rechts beschränkt, beklagen und die Maßlosigkeit in seiner Kampfesart verwerfen, ohne den größten Nutzen wird keiner seine kenntnisreichen und geistvollen Schriften lesen“488. Neben Börngen ist der Jenaer OLG-Rat Richard Deinhardt als Mitinitiator zu nennen. In mancherlei Hinsicht scheint Deinhardt, stärker noch als Börngen freirechtlich orientiert und in regem Briefwechsel mit Ernst Fuchs stehend, sogar die treibende Kraft gewesen zu sein489. In zwei temperamentvoll geschriebenen Abhandlungen legte er dar, wie sich – im Rahmen des geltenden Rechts – eine effektive richterliche Prozeßleitung sowie eine Vereinfachung des Schreibwerks verwirklichen lasse. Die Anregungen fanden Eingang in verschiedene Merkblätter, die von Deinhardt redigiert und vom OLG-Präsidium herausgegeben wurden (1911 / 12)490. Deinhardt war auch der Organisator der bekannten Jenaer Pfingstkurse, die ein breitgefächertes Fortbildungsprogramm für Justiz- und Verwaltungsjuristen anboten. Andererseits ist Deinhardt ein Beispiel dafür, wie das Ideal einer volkstümlichen Rechtspflege später von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurde. Politisch von jeher weit rechts stehend, wechselte er spätestens 1932 offen ins nationalsozialistische Lager über491. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die Vorzeichen noch ganz andere: Unter Börngens Führung und tatkräftig unterstützt von Deinhardt war der Oberlandesgerichtsbezirk Jena auf dem besten Wege, zur fortschrittlichsten Pflanzstätte der Justiz in Deutschland zu werden – schon bald machte das Wort von der „Jenaer Schule“ die Runde. Daß die Neuerungen bei der 488 Verfügung v. 5. 5. 1910, S. 194. In einem Brief an Ernst Fuchs vom 20. 7. 1912 schrieb Börngen: „Ich betrachte mich durchaus als Ihren Bundesgenossen. Daran ändert die Tatsache nichts, daß wir eine verschiedene Kampfweise haben und nicht in allen Punkten übereinstimmen. Ihrem Temperament entspricht es mehr, den Feind durch kraftvollen Ansturm gewissermaßen zu überrennen. Sie werden aber die Hilfe derer nicht verschmähen, die mehr darauf ausgehen, ihn Schritt für Schritt zurückzudrängen und so allmählich wehrlos zu machen“ (Fuchs, Ges. Schriften, Bd. 3, S. 328). 489 Richard Deinhardt (1865 – ??), aus dem Thüringischen stammend, war zunächst Amtsrichter in Eisenach (seit 1894), danach Landrichter in Weimar (seit 1897). 1904 erfolgte der Wechsel an das OLG Jena, wo er 1919 zum Senatspräsidenten ernannt wurde. Eine Berufung an das Reichsgericht lehnte er ab; 1931 Übertritt in den Ruhestand. 490 Richard Deinhardt, Erfahrungen und Anregungen zur Kunst der Rechtspflege, Jena 1909; ders., Praktische Justiz! Einfaches Schreibwerk, Jena 1910 (zuerst anonym in: Blätter für Rechtspflege in Thüringen und Anhalt 56, 1909, S. 161 – 226 und 57, 1910, S. 53 – 145); Merkblatt „Über äußere Formen der Entscheidungen“, abgedr. in: DRZ 3 (1911), S. 238 – 240; Merkblatt „Über äußere Formen der Protokolle und anderer Niederschriften der Gerichtsschreiber“, abgedr. in: ebd., S. 558 – 562; Merkblatt „Vom Prozeßbetrieb“ (Januar 1912). 491 Siehe dazu: R. Freisler / J. W. Hedemann (Hg.), Kampf für ein deutsches Volksrecht, Berlin 1940 (Festschrift zu Deinhardts 75. Geburtstag; dort auch Lebenslauf und Schriftenverzeichnis).
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ortsansässigen Richterschaft nicht nur Begeisterung auslösten, versteht sich beinahe von selbst492. Die Jenaer Aktivitäten bewogen den bereits mehrfach erwähnten Alfred Bozi im Juli 1910, zum Zwecke gemeinsamen Vorgehens mit Börngen in Verbindung zu treten. Die Zusammenarbeit scheiterte an den einseitigen Vorstellungen Bozis, der sich allein von einer Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Rechtswissenschaft Wandel versprach. Ein Ende des Jahres in der Tagespresse publizierter Aufruf Bozis fand nur begrenzte Resonanz, in juristischen Kreisen stieß er sogar auf heftigen Widerspruch493. Zur gleichen Zeit (Dezember 1910) kursierte ein Aufruf des Jenaer Kreises, der in den Grundzügen aus der Feder von Börngen und Deinhardt stammen dürfte494. Der starke Zuspruch veranlaßte Börngen, die wichtigsten Passagen am 1. 2. 1911 in der DJZ zu veröffentlichen. Die Initiative war eingebettet in eine breite publizistische Offensive, für die Börngens Mitstreiter – neben Deinhardt waren dies der Reichsgerichtsrat Adelbert Düringer, der Berliner Zivilrechtler Konrad Hellwig und der aus anderen Zusammenhängen bereits bekannte Fritz Rathenau, Regierungsrat im Kaiserlichen Patentamt – verantwortlich zeichneten495. Als Leitmotive führt der Aufruf an, „die Klagen über den Zwiespalt zwischen Rechtsleben und Volksempfinden zu beseitigen und die vorhandene Bewegung erreichbaren und gesunden Zielen zuzuführen“. Zu diesem Zweck müsse auf allen Gebieten „eine lebendigere und praktischere Auffassung“ Platz greifen, namentlich sei der Gesetzgebung durch Aufstellung klarer Grundsätze vorzuarbeiten. Der ins Auge gefaßte Verein halte sich „von allen Übertreibungen fern und bestrebt einen maßvollen Ausgleich der vorhandenen Gegensätze“. Er wolle alle zusammenführen, die überzeugt seien, „daß es eines verständigen Fortschrittes, eines Weiterbauens im Recht und in der Rechtsanwendung, nicht einer Umwälzung bedarf“. Im einzelnen fordert der Aufruf eine Abkehr vom Juristendeutsch, flexiblere Gesetze und Verfahrensweisen, einen Umbau der Gerichtsverfassung und 492 In einem Brief an Ernst Fuchs vom 6. 6. 1910 bemerkte Deinhardt: „Bei uns schimpfen die Richter zunächst einmal, daß ihnen so auf die Hühneraugen getreten wird, sie sind den neuen Ton nicht gewöhnt. Sie lernen es hoffentlich“ (Fuchs, Ges. Schriften, Bd. 3, S. 336). 493 Vgl. dazu DJZ 16 (1911), S. 183 – 185 (Mitteilung der Schriftleitung). 494 Abdr. des Aufrufes in: Richard Deinhardt, Um das Recht der Gegenwart, in: Blätter für Rechtspflege in Thüringen und Anhalt 58 (1911), S. 81 – 94, hier S. 88 – 94. Am 23. 12. 1910 schickte Deinhardt ein Exemplar an Ernst Fuchs. In dem beigefügten Brief heißt es, der Aufruf, „wie er sich schließlich unter Mitwirkung mancher Köche gestaltet hat“, sei seit sechs Tagen unterwegs (Fuchs, Ges. Schriften, Bd. 3, S. 337). 495 V. Börngen, Um das Recht der Gegenwart, in: DJZ 16 (1911), S. 177 – 183; A. Düringer, Um das Recht der Gegenwart, in: DRZ 3 (1911), S. 109 – 115; R. Deinhardt, dass., in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 4 (1910 / 11), S. 374 – 379; Fr. Rathenau, Heranbildung von Gegenwartsjuristen, in: JW 40 (1911), S. 7 – 11; ders., Neuzeitliche Strömungen im Rechtsleben, in: Vossische Zeitung v. 3. 2. 1911; ders., Recht und Wirtschaft, in: Zeitschrift für angewandte Chemie 24 (1911), S. 2042 – 2044.
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einen neuen Typus des Juristen: „Anstelle einseitiger Nurjuristen müssen jetzt Gegenwartsjuristen treten, die die Grundlagen und Aufgaben der Zeit erkennen, ihnen gerecht werden wollen und können und neue Werte schaffen. Die kräftige und lebendige Persönlichkeit muß in aller Tätigkeit der Juristen mehr Geltung gewinnen, die Persönlichkeit, die nicht im Kleinlichen steckenbleibt, vielmehr darauf sieht, daß im Rahmen der Gesetze reale Werte des Lebens, nicht bloß der Akten- und Schriftgelehrsamkeit hervorgebracht werden“. Deshalb sei die Ausbildung noch praxisnäher zu gestalten, insbesondere durch Aufnahme moderner Fächer wie Psychologie, Tatsachenfeststellung, Kriminalistik und Volkswirtschaft: „Das Leben und der Beruf, nicht Abstraktionen müssen das Ziel des Unterrichts sein“496. In einem zu Werbezwecken im Juni 1911 vor der renommierten „Juristischen Gesellschaft“ zu Berlin gehaltenen Vortrag präzisierte Börngen die Ziele des Vereins497. Zunächst brach er eine Lanze für die Freirechtslehre. Eingedenk der Tatsache, daß auch die geltenden Gesetze weite Spielräume für den Richter eröffnen würden, möge man die Bewegung nicht voreilig verdammen, sondern vorurteilslos würdigen: „Gerade der tüchtigste Praktiker wird finden, daß er – wenn auch nicht immer bewußt – Freirechtler schon immer gewesen ist“. Börngen plädierte für eine „Tatsachenjurisprudenz und gegen eine falsche Begriffsjurisprudenz, die die Begriffe an die Stelle der Wirklichkeit setzt“. Bei der Entscheidung müßten Rechtsgefühl und gesunder Menschenverstand ein gewichtiges Wort mitsprechen. Im materiellen wie im formellen Recht wünschte er sich eine größere Freiheit des Richters, in der Frage der Gerichtsorganisation hielt er sich ganz an Adickes: „Werden die Kollegien der Gerichte verkleinert, werden die Rechtsmittel beschränkt und wird weiter dem Richter abgenommen, was nicht Richteramts ist, so wird die Zahl der Richter zusammenschmelzen und ihnen dann auch eine bessere finanzielle und soziale Stellung winken, der Weg bis zum englischen Richterkönig wird trotzdem noch ein weiter sein“498. Die Initiative hatte durchschlagenden Erfolg. Bereits am 19. 2. 1911 wurde in Berlin die Gründung eines Vereins beschlossen, der tatsächliche Zusammenschluß – unter dem Namen „Recht und Wirtschaft. Verein für zeitgemäße Rechtspflege und Verwaltung“ – erfolgte in Leipzig am 26. 3. 1911. Den engeren Vorstand bildeten Börngen (1. Vorsitzender), Düringer (2. Vorsitzender), Hellwig (3. Vorsitzender), Rathenau (Schriftführer) und Gustav Schröter (Schatzmeister; Direktor der Deutschen Bank)499. Zumindest partiell trat der neue Verein in Konkurrenz zu den bestehenden Juristenorganisationen, insbesondere zum „Deutschen Richterbund“, aus dessen Reihen denn auch kritische Stimmen zur Aufnahme von Laien laut wurZitate Börngen, S. 183, 180, 179, 181, 182. V. Börngen, Reformbestrebungen im Rechtsleben und der Verein „Recht und Wirtschaft“, Berlin 1911. 498 Zitate ebd., S. 21, 23, 31. 499 Vgl. ebd., S. 12; DJZ 16 (1911), S. 327. 496 497
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den500. Die Richter unter den Vereinsmitgliedern verbanden hiermit gerade die Hoffnung, eine weitere Laienmitsprache überflüssig zu machen. Im zweiten Heft der vereinsinternen Nachrichten schrieb Düringer: „Durch persönliche Berührung, durch unmittelbaren Verkehr, durch lebendigen Meinungsaustausch soll anstelle des Gegensatzes oder gar der Befehdung die Verständigung, die wechselseitige Aufklärung treten. Nicht als ob nun jedes einzelne Mitglied sich berufen fühlte, das andere zu belehren, etwa der Beamte sich bemühen müßte, dem Kaufmann, Industriellen oder Arbeiter seine Rechtsfremdheit, dieser dem Richter seine Weltfremdheit auszutreiben! Wohl aber, indem man sich in dem gemeinsamen Bemühen zusammenfindet, zwanglos und vorurteilsfrei für das Rechtsleben bedeutsame persönliche Erfahrungen, Auffassungen, Eindrücke auszutauschen. Ich erwarte mir von einem solchen persönlichen Austausch für die Popularisierung unserer Rechtspflege mehr als von einer weitergehenden Beteiligung der Laien an der Rechtsprechung“501. In der Folgezeit wuchs der Verein in einem Ausmaß, das selbst die Initiatoren überrascht haben dürfte und seine Existenzberechtigung deutlich unterstrich. Bis Ende 1914 stieg die Zahl der Mitglieder, bei Gründung 120, auf knapp 3.400. Das Gros stellten Universitätslehrer und Justizpraktiker, aber auch die Verwaltung, Handel und Industrie sowie die politischen Parteien waren gut vertreten502. Organisatorisch gliederte sich der Verein in Orts- und Bezirksgruppen, spezielle Ausschüsse bestanden für juristische Vor- und Ausbildung, Fortbildung, Gesetzgebungsfragen, Rechtspflege, Verwaltung, Verbreitung von Rechtskenntnissen sowie Presse- und Werbesachen. Das Vereinsorgan („Recht und Wirtschaft“) entwickelte sich rasch zu einer angesehenen juristischen Zeitschrift. Daneben erschien eine Schriftenreihe mit Abhandlungen zu Rechts-, Justiz- und Verwaltungsfragen. Für den schwer erkrankten Börngen trat 1913 Düringer an die Spitze der Organisation, während Deinhardt 1915 mit der Begründung ausschied, der Verein nehme zuviel Rücksicht auf die Rechtsanwaltschaft. Struktur und Größe des Vereins schlossen von vornherein aus, daß es sich um einen bloßen Ableger der Freirechtsbewegung handelte. 500 Vgl. die Diskussion in der DRZ: Grimm, „Gegenwartsjuristen“ und Richtervereine, in: DRZ 3 (1911), S. 181 – 188 (LG-Direktor Wiesbaden); dagegen: M. Rumpf, „Gegenwartsjuristen“ und Richtervereine, in: ebd., S. 209 – 218 (LR Oldenburg); David, Der deutsche Richterbund und der Verein Recht und Wirtschaft, in: DRZ 4 (1912), S. 8 – 11 (OLG-Rat Düsseldorf); dagegen wiederum: Grimm, „Recht und Wirtschaft“, in: ebd., S. 144 – 146; ferner dazu: Börngen, Reformbestrebungen, S. 13 – 16. 501 Zit. n. David, S. 10. Adelbert Düringer (1855 – 1924) war zunächst Amtsrichter im Badischen. 1897 wurde er an das OLG Karlsruhe berufen, 1902 – 1915 wirkte er als RG-Rat in Leipzig; im Dezember 1917 erfolgte die Ernennung zum Minister des Großherzogl. Hauses, der Justiz und des Auswärtigen in Karlsruhe. 1919 gehörte er der Nationalversammlung an, anschließend war er bis zu seinem Tode MdR (zuerst DNVP, ab 1922 DVP); zu Düringer: Th. Wirth, Adelbert Düringer, Mannheim 1989; M. Steitz, Adelbert Düringer am Reichsgericht, Frankfurt / M. 1995. 502 Liste der Erstunterzeichner auszugsweise in: DJZ 16 (1911), S. 185.
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Die erstaunliche Dynamik, die der Verein „Recht und Wirtschaft“ in den ersten Jahren seines Bestehens entfaltete, erwuchs aus dem weitverbreiteten Bedürfnis, Justiz und Verwaltung in zeitgemäßer Weise umzuformen. Es gelang ihm, bestehende Gegensätze abzubauen (etwa in bezug auf den Methodenstreit) und bereits in Gang befindliche Entwicklungen zu beschleunigen (etwa in bezug auf die juristische Fortbildung). Darüber hinaus dürfen die Wirkungen, die vom intensiven Meinungsaustausch zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Berufsgruppen ausgingen, nicht unterschätzt werden. Das vielleicht wichtigste Ziel, Einfluß auf die Gesetzgebung zu gewinnen, blieb infolge des Kriegsausbruchs unerreicht. Bei gesunkenen Mitgliederzahlen und schwächerem Engagement existierte der Verein zwar noch bis 1923 fort, seine eigentliche Funktion aber hatte er angesichts der veränderten Verhältnisse verloren.
VI. Das neue Jahrhundert: Zusammenfassung Nach 1900 setzte sich die Justizkritik auf allen Ebenen fort. Erhöhte Bedeutung gewann die Zivilrechtspflege, vor allem auf gewerblich-industriellem Sektor – ein Umstand, der sich im Schlagwort von der richterlichen „Weltfremdheit“ niederschlug. Der Vorwurf spiegelte die Ungleichzeitigkeit von Justizsystem und Wirtschaftsentwicklung wider – vor allem deshalb zeitigte er nachhaltige Wirkung. Von dieser Seite her betrachtet, lagen der „Vertrauenskrise“ klare Modernisierungsdefizite zugrunde. Breite Resonanz löste zudem die bereits ältere Methodendiskussion aus, die sich kritisch mit den Grundlagen der richterlichen Urteilsfindung auseinandersetzte. Kennzeichnendes Merkmal jener Jahre war eine umfassende Reformbewegung, die sämtliche Teile des Justizsystems erfaßte. Sie spaltete sich auf in einen gerichtsorganisatorischen („Justizreform“), prozessualen, materiellrechtlichen (Strafrechtsreform), methodologischen und ausbildungspraktischen Zweig. Entsprechend breit war die Trägerschaft: Sie reichte von der Politik über juristische Theoretiker und Praktiker bis hinein in Laienkreise. Einigendes Band war der Wunsch, den „Riß zwischen Volksempfinden und Rechtsleben“ (Börngen) zu schließen. Die Reformbewegung wies zwei Leitprinzipien auf, die sich, konsequent zuendegedacht, nur schwer miteinander vereinbaren ließen. Ein Teil der Bestrebungen zielte auf die Demokratisierung der Rechtspflege mittels erweiterter Laienbeteiligung, ein anderer auf die Stärkung der berufsrichterlichen Autorität. In letztgenannter Hinsicht forderte man eine verbesserte äußere Stellung, größere Bewegungsfreiheit bis hin zu rechtsschöpferischer Tätigkeit sowie ein höheres Sozialprestige für die Richter – mit einem Wort: die Überwindung der bisherigen „Subalternisierung“. Zielvorstellung war ein System, in dem sich die richterliche Persönlichkeit frei entfalten konnte. Dabei darf nicht übersehen werden, daß das Modell zugleich den Wunsch nach einer effektivierten und rationalisierten Rechts-
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pflege einlöste. Idealtypisch könnte man von einer demokratisch-horizontalen und einer monarchisch-vertikalen Reformkonzeption sprechen503. Deutlich traten die beiden Ansätze bei der Strafprozeßreform, dem größten (bis zur Verabschiedungsreife gelangten) Projekt der Vorkriegszeit, hervor. Während der Entscheidungsprozeß von der Frage der Laienbeteiligung beherrscht war, wurde als Alternativmodell – bis in die Reihen des preußischen Staatsministeriums hinein – das Adickessche Richterkönigtum diskutiert. Das Vorhaben scheiterte, wie ausführlich beschrieben, an genuin politischen Vorbehalten. Auch in der Methodendiskussion (Rechtsgefühl des Volkes vs. Freirecht der Richter) und beim Verein „Recht und Wirtschaft“, der sich eine demokratische Organisationsform gab, aber nicht zuletzt eine Aufwertung der richterlichen Stellung anstrebte, lassen sich beide Prinzipien erkennen. Weitere Anknüpfungspunkte finden sich zum einen bei der Amtsgerichtsnovelle von 1909 (Umstellung auf den Offizialbetrieb, Stärkung des Einzelrichtertums), den Bemühungen um eine verbesserte Juristenausbildung, die den Richter auf die Höhe der Zeit heben sollte („Gegenwartsjuristen“), und den verschiedenen Entwürfen zu einem neuen Strafgesetzbuch, die allesamt einen erweiterten richterlichen Ermessensspielraum vorsahen, zum anderen bei den Sondergerichtsbestrebungen (Laienbeteiligung). Auf der Ebene der Richtervereine, die für die Eigeninteressen der Richterschaft eintraten und ein weiteres Vordringen des Laienprinzips von daher strikt ablehnten, brach der Widerspruch zwischen den beiden Strömungen dann offen auf. Einfacher lagen die Dinge bei der Strafrechtsnovelle von 1912, einer punktuellen Vorwegnahme der großen Strafrechtsreform, sowie der politischen Judikatur, die aufs Ganze gesehen eine rückläufige Tendenz aufwies. Beide Vorgänge lassen sich nicht zuletzt als unmittelbare Reaktion auf die anhaltende öffentliche Kritik verstehen. Versucht man Bilanz zu ziehen, so ist festzustellen, daß die Reformbewegung bis zum Kriegsausbruch 1914 beachtliche Erfolge zu verzeichnen hatte, auch wenn die „Vertrauenskrise“ noch nicht als überwunden gelten konnte. Insofern unterschieden sich die Verhältnisse in der Justiz nicht grundlegend von der allgemeinen Situation in der inneren Reichspolitik – ein eigenartiger Latenzzustand, den Nipperdey mit der Formel „Machtstaat vor der Demokratie“ umschrieben hat. 503 Max Weber sah in der Gesamtbewegung „eine der charakteristischen Rückschläge gegen die Herrschaft des ,Fachmenschentums‘ und den Rationalismus, der freilich letztlich ihr eigener Vater ist“. Der universalhistorische Rationalisierungsprozeß sei aber auch im Recht nicht aufzuhalten: „Wie immer aber sich unter diesen Einflüssen das Recht und die Rechtspraxis gestalten mögen, unter allen Umständen ist als Konsequenz der technischen und ökonomischen Entwicklung, allem Laienrichtertum zum Trotz, die unvermeidlich zunehmende Unkenntnis des an technischem Gehalt stetig anschwellenden Rechts auf seiten der Laien, also die Fachmäßigkeit des Rechts, und die zunehmende Wertung des jeweils geltenden Rechts als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparates sein unvermeidliches Schicksal“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. Aufl., hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1980, S. 512, 513).
Resümee: Probleme der Justiz, Öffentlichkeit und politisches System im kaiserlichen Deutschland 1. Die kaiserzeitliche Justiz hatte mit vielfältigen Problemen zu kämpfen, die nicht nur auf ein breites, zunehmend kritischeres Echo in der Öffentlichkeit trafen, einmündend in eine anhaltende „Vertrauenskrise“, sondern auch zahlreiche legislative, administrative, organisatorische und private Initiativen auslösten. Fragt man abschließend nach den grundlegenden Ursachen des Phänomens, so rücken drei eng miteinander verknüpfte Faktoren ins Blickfeld. Zunächst ist an die in der Einleitung skizzierte Bedeutung zu erinnern, die Recht und Justiz für die Geschichte des 19. Jahrhunderts besaßen – eine Wertschätzung, die in mancher Hinsicht sakrale Züge aufwies. Ausschlaggebend hierfür dürfte letztlich die gewaltige Ausstrahlungskraft gewesen sein, die vom liberalen Modell des modernen Verfassungs- und Rechtsstaats ausging. Namentlich der hohe Grad an Rechtsstaatlichkeit, durch den sich das Deutsche Reich auch im internationalen Vergleich auszeichnete, das enorme Prestige sowohl der Jurisprudenz als auch der Juristenschaft und das ausgeprägte Rechtsbewußtsein der Bevölkerung weckten Erwartungen an die „Gerechtigkeit“ des judikativen Systems, die in der Praxis kaum zu erfüllen waren. Insofern bestand apriori eine beträchtliche Fallhöhe. Diese wurde sichtbar, als die zunehmende Verrechtlichung die Gerichte mit zahlreichen neuen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Streitsachen konfrontierte (Presse- und Vereinswesen, Koalitionsrecht, gewerblich-industrielle Streitigkeiten etc.). Die Basiskonflikte – und hier kommen die beiden anderen Ursachen ins Spiel – resultierten zum einen aus der immensen Dynamik des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels (Industrialisierung, Verstädterung, Entstehung der modernen Klassengesellschaft), mit dem das Justizsystem nicht Schritt halten konnte, zum anderen aus dem Bestreben des monarchischen Staates, die Strafgewalt (materielles Strafrecht, Strafgerichtsverfassung, Strafrechtsprechung) als Instrument gegen politisch Andersdenkende in der Hand zu behalten. Von daher spiegelt sich in der Justizkritik die Diskrepanz in der Entwicklung von Staat und Gesellschaft wider, die von der Forschung immer wieder als Grundtatsache der kaiserzeitlichen Geschichte hervorgehoben wurde. Versteht man diesen „Zwiespalt der Modernität“ (Nipperdey) als die spezifische Form, in der die Moderne im Laufe des Kaiserreichs in Deutschland zum Durchbruch gelangte, so ist die „Vertrauenskrise“ der Justiz letztlich als Modernisierungskrise zu interpretieren. Für eine derartige Deutung spricht auch noch eine andere Beobachtung. Zur Zwiespältigkeit
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der Modernisierung in Deutschland zählt nicht zuletzt das Phänomen der Kulturkritik, in der das Unbehagen an der Moderne seinen eigentümlichen – wiederum modernen – Ausdruck fand. Der Einfluß eben dieser Kulturkritik auf eine Reihe von Justizkritikern ist unverkennbar, teilweise ist die Justizkritik dem weiten Feld der Kulturkritik unmittelbar zuzurechnen (zu nennen wären etwa Bähr, Jentsch, Schellhas und der späte Mittelstädt). In der Eigenart dieser Modernität liegen denn auch die Unterschiede zu älteren Formen der Justizkritik, wie sie zu verschiedenen Zeiten immer wieder anzutreffen ist. Außer den genannten Problemfeldern umfaßte der Modernisierungsprozeß zahlreiche weitere Bereiche, die den Gerichten ebenfalls erhebliches Konfliktmaterial zuführten. Dies erklärt, weshalb die vorliegende Untersuchung nicht einmal annähernd Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Weitere strittige Gebiete waren etwa: das unter Sittlichkeitskategorien diskutierte Verhältnis zwischen Justiz und moderner Kunst (Theaterprozesse, „Lex Heinze“), die strafrechtliche Bewertung des Duellwesens, die Verfolgung antisemitischer Propaganda, die Behandlung von Vergehen gegen Religion und Kirche oder, um noch einen eher äußerlichen, vor allem im Zusammenhang mit dem BGB erörterten Gesichtspunkt zu nennen, die Kritik am Juristendeutsch1. 2. Geht man zu den Einzelaspekten über, so erscheint es zunächst angebracht, die Entwicklung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Justiz kurz Revue passieren zu lassen. Die Ursprünge der kaiserzeitlichen Justizkritik reichen bis in die Reaktions- und Reichsgründungszeit zurück. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Debatte – infolge der von Bismarck und Justizminister Lippe betriebenen Politisierung der Strafjustiz – während des preußischen Verfassungskonflikts (Affäre Twesten). Die 70er Jahre waren zum einen geprägt von den Auseinandersetzungen um die angestrebte Rechtseinheit, die in ihren strafgerichtlichen und strafprozessualen Teilen erheblich hinter den liberalen Forderungen der Zeit zurückblieb, zum anderen vom Kulturkampf mit seinem „Großeinsatz der preußischen Justiz“ (Schwinge) und der auch mit Hilfe des Strafrechts betriebenen Auseinandersetzung mit der sozialistischen Arbeiterbewegung. In der Folgezeit verbanden sich die Enttäuschung über die Reichsjustizgesetze, das gleichbleibend hohe Grundniveau politischer Anklagen und administrative Defizite zu einer „Vertrauenskrise“ der Justiz, die anläßlich der Umsturzvorlage von 1894 ins öffentliche Bewußtsein rückte und zu einem prominenten Thema der innenpolitischen Diskussion aufstieg. 1 Zu den Theaterprozessen: R. Grelling, Theater, in: ders., Streifzüge, 2. Aufl., Berlin 1896, S. 195 – 272; zur Lex Heinze: Erklärung der Strafrechtsprofessoren gegen die „lex Heinze“, in: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender, N. F. 16 (1900), S. 74; zur Bestrafung der Duelle: GStA, Rep. 84a, Nrn. 8036, 8037, 8040; zur Behandlung antisemitischer Schriften: Maximilian Parmod [Max Apt], Antisemitismus und Strafrechtspflege, Berlin 1894 (beklagt die mangelnde Strafverfolgung); zu den Religionsvergehen: Wahl, S. 21 – 28 (beklagt den mangelnden Rechtsschutz durch die Gerichte); zum Juristendeutsch: H. Daubenspeck, Die Sprache in den gerichtlichen Entscheidungen, Berlin 1893 (RG-Rat); O. Bähr, Die Sprache der gerichtlichen Entscheidungen, in: Grenzboten 52 / 4 (1893), S. 119 – 123.
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Seither bildete der Topos vom vermeintlich oder tatsächlich verlorengegangenen Vertrauen resp. der Kluft, die sich zwischen der Rechtsprechung der Gerichte und dem Rechtsbewußtsein des Volkes aufgetan hätte, den Bezugspunkt praktisch aller justizpolitischen Äußerungen und Initiativen. Nach der Jahrhundertwende setzte sich die Kritik in verstärktem Maße fort und griff weitere Aspekte auf. Den Tenor bestimmte indessen eine vielschichtige Reformbewegung, die in den forcierten Modernisierungsprozeß einzuordnen ist, der sich nach 1900 auf vielen Gebieten des politischen und gesellschaftlichen Lebens vollzog. Sämtliche Justizprobleme waren, meist in verschärfter Form, in Preußen, bislang so stolz auf seine rechtsstaatliche Tradition, anzutreffen, ohne daß es sich jeweils um spezifisch preußische Konfliktlagen gehandelt hätte. Für das Maß der öffentlichen Krisenwahrnehmung – wohlgemerkt: für das Maß, nicht für die Tatsache als solche – spielte die Herausbildung des publizistischen Massenmarktes eine nicht zu unterschätzende Rolle. Der Aufstieg der Presse zur „vierten Gewalt“ und das Fortdauern der liberalen Meinungsführerschaft führten dazu, daß sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Justiz im Laufe der Zeit umkehrte. Befand sich die Presse bis in die 80er Jahre hinein insofern in der unterlegenen Position, als sie stets mehr als nur einen Seitenblick auf Staatsanwälte und Richter werfen mußte, so sahen sich die Gerichte seither in die Defensive gedrängt. Man darf davon ausgehen, daß die wachsende Macht der öffentlichen Meinung eine disziplinierende Wirkung ausübte, insbesondere auf Staatsanwälte und Strafrichter. Die „Öffnung“ des bislang geschlossenen Justizsystems zeigte sich darüber hinaus daran, daß sich immer mehr Laien an der Debatte beteiligten und Zugang zur Rechtsprechung forderten. Thematisch läßt sich die justizkritische Debatte in einen jurisdiktionellen, einen materiellrechtlichen, einen institutionell-prozeduralen (formellrechtlichen) und einen administrativ-personalen Zweig einteilen. Den harten Kern der Justizkritik bildete die politisch-soziale Strafrechtsprechung, die sich gegen wechselnde Gruppierungen richtete (Liberale, Katholiken, Sozialdemokraten, Polen, Partikularisten). Zwei Faktoren kamen hierbei zusammen: Die politische Instrumentalisierung des Strafrechts durch Bismarck, die lange Zeit stilbildend wirkte, und die Tatsache, daß sich der preußische Richterliberalismus, in den 50er Jahren noch eine „Macht“, bis zum Ende der 70er Jahre weitgehend verflüchtigt hatte. An seine Stelle trat nicht, wie man immer wieder lesen kann, der stramm obrigkeitshörige, autoritär strukturierte Richter, sondern, namentlich bei politischen Alltagsdelikten, ein richterliches Kompromißverhalten, das erstmals während des preußischen Verfassungskonflikts zu beobachten war: Überwiegend bejahten die Richter die Strafwürdigkeit der inkriminierten Handlung, blieben in der Strafzumessung aber deutlich unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft. Immer wieder waren die Gerichte aber auch für handfeste Überraschungen gut, sei es in Form klarer Freisprüche, sei es in Form nur „symbolischer“ Verurteilungen, die De-Facto-Freisprüchen gleichkamen. Zwangsläufig gerieten sie dadurch zwischen die kämpfenden Fronten und mußten sich, je nach
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Standpunkt, Unzuverlässigkeit oder Parteilichkeit vorwerfen lassen. Dies macht verständlich, weshalb viele Richter die politischen Prozesse als drückende Last empfanden, die sie liebend gern auf die Geschworenen abgewälzt hätten. Aufs Ganze gesehen blieben die Richter auch bei politischen Sachen ihrer Generallinie treu, Straftaten milde zu beurteilen, sich bei der Strafzumessung also an den Strafminima zu orientieren – ein Befund, der sich etwa an der Beleidigungsoder der Streikjudikatur unschwer nachweisen läßt. Die milde Urteilspraxis trug maßgeblich dazu bei, daß die strafgerichtliche „Nadelstichpolitik“ weder den Aufstieg der Presse zur öffentlichen Macht noch die Entwicklung moderner Formen des Arbeitskampfes nennenswert behindern konnte. Zudem dürfte sie, auch wenn die Betroffenen dies meist nicht zugeben mochten, manchen Groll gedämpft haben. Weiterhin darf folgendes nicht übersehen werden: Das Öffentlichkeitsprinzip bot oppositionellen Gruppierungen immer wieder Gelegenheit, den Gerichtssaal in eine politische Tribüne umzufunktionieren, der Kriminalprozeß mit seinem ausgefeilten Instrumentarium der Wahrheitsfindung war hervorragend geeignet, politisch-soziale Mißstände ans Tageslicht zu befördern, nicht zuletzt dank des in Beleidigungsprozessen möglichen Wahrheitsbeweises, und die Richter offenbarten wiederholt eine deutliche Reserve gegenüber den dubiosen Machenschaften der politischen Polizei – allesamt Faktoren, die zugunsten der vielgescholtenen Gerichte in die Waagschale fielen. Und noch ein Aspekt verdient Erwähnung: Einen der französischen Dreyfus-Affäre auch nur annähernd vergleichbaren Justizskandal hat es im Deutschen Reich nicht gegeben2. Allerdings könnte man hier argumentieren, daß die Affäre Twesten für Preußen-Deutschland eine ähnliche Rolle gespielt hat, kam ein derartiger Fall eklatanten Rechtsbruchs seither doch nicht mehr vor. Die Erfahrungen mit den Ausnahmegesetzen dürften das Ihrige dazu beigetragen haben, die rechtsstaatlichen Grenzen zu wahren. Nach der Jahrhundertwende ging der Umfang politischer Anklagen deutlich zurück, ohne daß die Diskussion nennenswert abgeklungen wäre. Es läßt sich aber auch eine Gegenrechnung aufmachen, die bei der extensiven Anwendung der strafrechtlichen Normen ansetzen kann. Vereinzelt trat die Tendenz bereits in den 60er Jahren auf, in der Folgezeit steigerte sie sich, befördert durch obergerichtliche Erkenntnisse, kontinuierlich und gelangte in den späten 80er Jahren endgültig zum Durchbruch. Formale Voraussetzung war die Unbestimmtheit zahlreicher gesetzlicher Vorschriften, wobei die besondere Pointe darin bestand, ursprünglich unpolitische Delikte politisch „aufzuladen“ („grober Unfug“). Der Entwicklung lagen zwei Ursachen zugrunde: Zunächst läßt sie sich als Reaktion auf den wiederholt gescheiterten Versuch deuten, das gemeine Recht zu verschärfen (StGB-Novelle von 1876, Umsturzvorlage von 1894, Zuchthausvorlage von 1899). Gestützt auf die öffentliche Meinung, sorgte der Reichstag dafür, daß sowohl die liberalisierten Staatsschutzbestimmungen des Reichsstrafgesetz2 Auf diesen Aspekt macht auch J. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, München 1998, S. 299 aufmerksam.
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buchs als auch die moderate Bestrafung des Koalitionszwangs (Reichsgewerbeordnung) – nach Ansicht der Befürworter einer Verschärfung allesamt Vorschriften, die den neuartigen Formen des sozialen Kampfes nicht mehr entsprachen – unangetastet blieben. Die zweite Ursache war rechtsinterner Natur und bestand in der Übertragung des begrifflich-abstrakten Ansatzes der Pandektenwissenschaft mit ihrem rechtsschöpferischen Potential auf den Bereich der Strafrechtsprechung. Begünstigt wurde das Phänomen durch die Ausnahmegesetze der 70er und 80er Jahre mit ihren dehnbaren Bestimmungen (Kulturkampfgesetze) bzw. ihrer Rückwirkung auf die Handhabung des gemeinen Rechts (Sozialistengesetz). Die extensive Spruchpraxis führte zu widersprüchlichen Entscheidungen bei vergleichbarem Sachverhalt und damit zu erheblicher Rechtsunsicherheit. Aufgeschreckt durch die öffentlichen Proteste, bemühten sich die Justizminister der Länder, allen voran der preußische Justizminister Schönstedt, seit den ausgehenden 90er Jahren, den Mißstand mit Hilfe ihres Anweisungsrechts einzudämmen. Bietet die politisch-soziale Strafjustiz im ganzen somit ein widersprüchliches Bild, so beurteilten die Strafrichter innerökonomische, kulturelle und religiös-konfessionelle Streitigkeiten durchweg nach liberalen Maßstäben, wie es der Tradition der preußischen Politik entsprach. Nicht an bestimmte Sachgebiete gebunden war der Formalismusvorwurf, der sich auf Entscheidungen (häufig solche des Reichsgerichts) bezog, die dem vermeintlichen Rechtsbewußtsein des Durchschnittsbürgers (dem „gesunden Menschenverstand“) widersprachen. Mit ihrer übertriebenen Buchstabengläubigkeit und überdehnten Logik spiegelten sie die Denkweise vieler Strafrichter wider, die von der begrifflich-formalistischen Pandektenwissenschaft geprägt war. Am augenfälligsten manifestierte sich die richterliche Unabhängigkeit in der erwähnten Tendenz zur Milde, an der die Richter, allen ministeriellen Ermahnungen ebenso zum Trotz wie den von bürgerlicher Seite an die Wand gemalten „Horrorszenarien“, unbeirrt festhielten, in der Hauptsache deshalb, weil sie dem humanitären Grundzug der Zeit und damit dem Empfinden breiter Bevölkerungsschichten entsprach. Auf dem weiten Feld der Zivilrechtsprechung waren es vor allem die gewerblich-technischen Sachen, die den lautstarken Protest der betroffenen Kreise hervorriefen (richterliche „Weltfremdheit“). Die materiellrechtliche und die institutionell-prozedurale Kritik knüpfte an die rechts- und justizpolitischen Grundlagengesetze der 1870er Jahre an. Der „kapitalistische“ Charakter des Reichsstrafgesetzbuchs – Eigentumsdelikte wurden ungleich schärfer geahndet als Körperverletzungen – zwang die Richter zu Entscheidungen, die dem sozialen „Zeitgeist“, der die öffentliche Meinung seit den 80er Jahren beherrschte, widersprachen. Dennoch verdankte die Strafrechtsnovelle von 1912, die den gewandelten Anschauungen Rechnung trug, ihre Entstehung letztlich der herrschenden „Vertrauenskrise“. Bei den politischen Delikten gilt es zu differenzieren: Während die Kautelen, die seitens der Liberalen zur Entschärfung der inneren Staatsschutzbestimmungen eingeführt worden waren, ihre Wirkung nicht verfehlten, konnten die Beleidigungsvorschriften politisch motivierten Anklagen kaum Widerstand entgegensetzen.
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Weitaus größere Angriffsflächen boten die Reichsjustizgesetze von 1877, in der Literatur ob ihrer liberalen Signatur durchweg gelobt. Zentrale Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung (berufsrichterliche Strafkammern, Stellung und Befugnisse der Staatsanwaltschaft, Pressevorschriften, Hilfsrichtertum) entsprachen zwar den politischen und finanziellen Bedürfnissen Preußens (und teilweise auch Bayerns), blieben aber erheblich hinter den Erwartungen der liberalen Öffentlichkeit zurück. Darüber hinaus wies das Strafverfahren eine zersplitterte Struktur auf, die nicht nur klare Verantwortlichkeiten vermissen ließ, sondern auch eine straffe Prozeßführung verhinderte. Die Zivilprozeßordnung, ihrerseits ultraliberal, begünstigte ein langwieriges, kompliziertes und kostspieliges Verfahren. Beide Prozeßformen litten an einem Übermaß an juristischtechnischen Regelungen auf der einen, einem Mangel an Rechtsschutz (Berufung, Parteibetrieb) auf der anderen Seite und begünstigten die wohlhabenden und gebildeten Bevölkerungsschichten, also den Adel und das Bürgertum, deutlich. Die Anläufe zu einer Strafprozeßreform, die zunächst um die Berufungs-, dann um die Laienfrage kreisten, scheiterten letztlich daran, daß die zunehmende Konzessionsbereitschaft der preußischen Regierung mit den steigenden Ansprüchen von Reichstag und Öffentlichkeit – in justizpolitischen Fragen mittlerweile noch stärker sensibilisiert als in den 70er Jahren – nicht Schritt hielt (und wohl auch nicht halten konnte). Aufschlußreich ist vor allem der große Reformversuch zu Beginn des neuen Jahrhunderts, der zwar zahlreiche Einzelforderungen erfüllte, aber am preußischen Staatskonservatismus, für den ein politisch zuverlässiges Berufsgericht nach wie vor die conditio sine qua non jeder Strafgerichtsverfassung war, scheiterte, wobei sich das Problem zwischen 1877 und 1909 lediglich von der ersten zur zweiten Instanz verschoben hatte. Aber auch das Schwurgericht, Urform des Volksgerichts, konnte sich, obwohl von fachlicher Seite stark angefeindet und praktisch für illegitim erklärt, im Zeichen der „Vertrauenskrise“ vorerst noch behaupten. Dem strafprozessualen Immobilismus stand eine erstaunliche Flexibilität auf dem Gebiet des Zivilverfahrens gegenüber. Der Entscheidung, Sondergerichte (Gewerbe- und Kaufmannsgerichte) aus dem System der ordentlichen Gerichtsbarkeit auszugliedern, lagen vor allem sozialpolitische Erwägungen zugrunde. Erst als der Ruf nach immer neuen Spezialgerichten ertönte und eine heillose Zersplitterung des Gerichtswesens drohte, wurde der Entwicklung (vorläufig) ein Riegel vorgeschoben. Obwohl von berufsrichterlicher Seite vehement angegriffen, war die Diversifikation des Gerichtswesens ein notwendiger und durchaus folgerichtiger Schritt, resultierte sie doch ebenso aus dem allgemeinen Verrechtlichungsprozeß wie aus der zunehmenden Verwissenschaftlichung aller Rechtsgebiete – was im übrigen auch daran zu erkennen ist, daß die Entwicklung bis heute anhält. Auch aus der Amtsgerichtsnovelle von 1909, die, in abgeschwächter Form, zentrale Aspekte der zeitgenössischen Reformbewegung aufnahm, läßt sich ersehen, daß der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum beim Zivilprozeß erheblich größer war als derjenige beim Strafverfahren.
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Die administrative Justizkritik, systematisch verknüpft mit der Richterkritik, bezog sich ganz überwiegend auf Preußen. Ausgangspunkt waren eine Reihe struktureller Probleme der preußischen Justiz, die sich in ihrer Negativwirkung wechselseitig verstärkten, namentlich die Überfüllungssituation, das Überbürdungssyndrom, die innerbürokratische Zurücksetzung der Justiz, personalpolitische Schwierigkeiten sowie Defizite im Ausbildungswesen. Infolge der kaiserzeitlichen Bildungsexpansion wuchs die Zahl der Gerichtsassessoren erheblich schneller als die neuer Planstellen, so daß sich die unsichere Übergangszeit bis zur Festanstellung ständig verlängerte. Vor allem aber warf der verstärkte Andrang die Frage der Qualitätssicherung auf, und dies umso mehr, als die übrigen Zweige der Verwaltung ihren Nachwuchs aus dem Reservoir der Justizreferendare und Gerichtsassessoren nach Belieben auswählen konnten. Die steigenden Anwärterzahlen kontrastierten auf eklatante Weise mit der Arbeitsüberlastung vor allem städtischer Landgerichte, Folge einer Minimalbesetzung, die ihrerseits aus der chronischen Finanznot des preußischen Justizwesens resultierte. Die Überbürdung begünstigte ein „Schnellverfahren“, das für den Angeklagten in Strafprozessen erhebliche Risiken in sich barg (unzureichend begründete Anklagen, rein formaler Eröffnungsbeschluß, oberflächliche Beweiserhebung, Unwirksamkeit der prozessualen Garantien etc.). Dieselbe Geringschätzung der Justiz zeigte sich in der Diskriminierung der Richterschaft gegenüber den Verwaltungsbeamten in bezug auf die Rang-, Beförderungs- und Besoldungsverhältnisse, ein Umstand, der am Selbstbewußtsein der Richter nagte und das vielbeklagte Strebertum beförderte. Was die Personalpolitik der preußischen Justizminister anbelangt, so kreiste die Debatte – abgesehen von der Ausschließung der Sozialdemokraten und der gezielten Germanisierung der Richterschaft in den polnischsprachigen Landesteilen – vor allem um die überproportionale Besetzung höherer Richterstellen mit altgedienten Staatsanwälten. Die Tatsache, die manche bedenklichen Erscheinungen in der Strafrechtspflege erklärt, war unbestreitbar, beruhte aber weniger auf einer gezielten Personalauswahl als vielmehr auf einem Mangel an geeigneten Kräften. Hierin spiegelte sich wohl am deutlichsten der relative Qualitätsverlust des richterlichen Personals wider („Niedergang des preußischen Richterstandes“). Während Kenner der Szenerie vor allem fehlende Charakterstärke und mangelhafte (allgemeine und fachliche) Bildung beklagten, breitete sich in der Öffentlichkeit das Bild vom jungen, schneidigen Reserveoffiziersrichter mit korporativem Hintergrund aus, das, wie alle Klischees, in vielerlei Hinsicht vergröbert war. Die Ausbildungsproblematik bildete ohnehin ein Dauerthema der justizpolitischen Diskussion, mit Spitzenwerten in den Jahren 1875 – 78, 1886 – 88 und 1909 – 12. Bis zur Einführung des BGB stand die Debatte im Zeichen der spezifisch preußischen Diskrepanz zwischen Theorie (Römisches Recht) und Praxis (Allgemeines Landrecht). Der mangelnde Realitätsbezug des Studiums war verantwortlich für die notorische „Faulheit“ der preußischen Jurastudenten und machte eine fundierte wissenschaftlich-theoretische Ausbildung zur Ausnahme – mit allen bedenklichen Folgen für Wissensstand, Persönlichkeitsbildung und kritische Ur-
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teilsfähigkeit. Hinzu kam, daß der im JAG von 1869 geregelte Ausbildungsgang ganz überwiegend privatrechtlich ausgerichtet war, was eine sachgerechte Entscheidungsfindung in Prozessen politischer, sozialpolitischer und ökonomischer Provenienz erschwerte, eine formalistisch-lebensfremde, aber auch extensive Auslegung der Gesetze hingegen begünstigte. Lange Zeit prallten die Forderungen der Professorenschaft nach einer Vertiefung der universitären Ausbildung an der Arroganz der Justizverwaltung ab, die ganz auf den traditionellen Vorrang der Praxis fixiert blieb. Erst nach der Jahrhundertwende setzten, auf Drängen der Wirtschaft und als Reaktion auf den weitverbreiteten Weltfremdheitsvorwurf, ernsthafte Bemühungen ein, den Studienplan zu modernisieren, die Studienleistungen anzuheben, den Vorbereitungsdienst zu effektivieren und den außerjuristischen Horizont der jungen Juristen zu erweitern. Die Bestrebungen zur Verbesserung der Qualifikation bildeten einen wesentlichen Bestandteil der vielgestaltigen Reformbewegung, die sich nach der Jahrhundertwende entfaltete. Weitere Kristallisationspunkte waren die amtliche Strafprozeß- und Strafrechtsreform, die von Adickes angestoßene Debatte über eine „große Justizreform“, die auf einen radikalen Umbau der Gerichtsorganisation zielte, sowie die Methodendiskussion, die das Verhältnis von Gesetz und Richter in den Mittelpunkt rückte und mit der Freirechtslehre ein Alternativmodell zur herrschenden Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz entwickelte. Als Forum aller reformwilligen Kräfte verstand sich der 1911 gegründete Verein „Recht und Wirtschaft“, in dem sich Juristen und Laien zu gemeinsamer Arbeit zusammenfanden. Aber auch der „Deutsche Richterbund“, 1909 als Dachorganisation der auf Länderebene schon seit längerem bestehenden Richtervereine ins Leben gerufen, beteiligte sich lebhaft an der weitverzweigten, zunehmend unübersichtlicher werdenden Debatte, die im übrigen stark vom lebensphilosophisch geprägten „Zeitgeist“ beeinflußt war. Der Bewegung lagen zwei – letztlich nur schwer zu vereinbarende – Leitvorstellungen zugrunde: zum einen die Demokratisierung des Justizsystems (erweiterte Laienbeteiligung), zum anderen die Stärkung der berufsrichterlichen Autorität (Richterkönigtum), verbunden mit dem Ziel einer Effektivierung der Rechtspflege. Obwohl heftig angefeindet, wurde das Berufsrichtertum durch die bestehenden Verhältnisse faktisch stabilisiert, hatte der Verweis auf das vermeintliche „Rechtsbewußtsein des Volkes“ – in der Regel war darunter die öffentliche Meinung zu verstehen – angesichts der vielfältigen Zerklüftung der reichsdeutschen Gesellschaft doch stets etwas Fragwürdiges, wenn nicht Illusionäres an sich (sofern er nicht ohnehin vorgeschoben war). Den Kontrapunkt zu den preußischen Verhältnissen bildete Bayern. Dank der schwurgerichtlichen Kompetenz hielt sich die politische Justiz hier in weit engeren Grenzen als in Preußen, auch wenn der Abstand zwischen beiden Ländern schwankte (am geringsten dürfte er in den 70er Jahren unter Justizminister Fäustle gewesen sein). Von daher trat die genuin politische Justizkritik niemals mit der Intensität und Schärfe auf, wie dies für Preußen, aber etwa auch für den Reichstag typisch war. In der Regel bezogen sich die Gravamina auf Einzelfälle, meist im
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Kontext des liberal-katholischen Gegensatzes, der die Innenpolitik des Landes mehr als alles andere beherrschte (Klagen der Patriotenpartei und des Zentrums, Münchener Verhältnisse). Der juristische Ausbildungsgang sorgte für eine im Vergleich zu Preußen breitere (gemeinsame Vorbereitung für den höheren Justiz- und Verwaltungsdienst) und profundere (vierjähriges Studium, scharfes Prüfungswesen) Qualifikation, der häufigere Wechsel zwischen richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit für eine gesunde Durchmischung beider Berufsgruppen. Die politische Grundrichtung gaben die bayerischen Kabinette mit ihrer nationalliberalen Haltung vor, wovon selbstverständlich auch die Justizverwaltung maßgeblich geprägt wurde. Ihren Höhepunkt erreichte die Entwicklung in der „Ära Miltner“ (1902 – 1912) mit ihrer prononcierten Liberalisierung der Strafrechtspflege, ihrem Abbau bürokratischer Strukturen und ihrer konsequenten, gleichermaßen auf Eindämmung des Bewerberandrangs wie auf fachliche Qualitätssteigerung abzielenden Personalpolitik. Insgesamt bildete das Justizwesen ein wesentliches Element der liberalen politischen Kultur, die das kaiserzeitliche Bayern grundsätzlich kennzeichnete 3. 3. Was folgt aus all dem für die allgemeine Stellung der Justiz in der Verfassungsordnung und im politischen Leben des Kaiserreichs? Geht man von dem namentlich von Nipperdey hervorgehobenen Umstand aus, daß das politische System des Reiches durch das gleichzeitige Auftreten fundamentaler Strukturprobleme – bedingt durch die relative „Verspätung“ der Nationsbildung und das verschärfte Tempo der sozioökonomischen Modernisierung – spezifischen Belastungen ausgesetzt war, wie sie vergleichbaren Nationen fremd geblieben sind, so bestätigt der Teilbereich der Justiz diesen Befund4. Auch hier gerieten Richter und Gerichte mehr als einmal in eine Überforderungssituation, insbesondere dann, wenn ungelöste politisch-soziale Probleme auf ihrem Rücken ausgetragen wurden (Kulturkampf, gewerbliche Konflikte, Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie). Unter dieser Perspektive sollte auch das vieldiskutierte Problem der richterlichen Unabhängigkeit beurteilt werden: Versteht man das Wort in einem emphatischen Sinne, so waren Richter und Rechtsprechung sicherlich nicht „unabhängig“ – dagegen sprachen – von allen menschlichen Unzulänglichkeiten einmal abgesehen – allein schon der „Zeitgeist“, die soziale Herkunft der Richter, ihre prozessuale Stellung, die Befugnisse der Staatsanwaltschaft, die Rechte der Justizverwaltung und eben auch der objektive Problemdruck. Dies erklärt die Attraktivität des Ideals vom „Richterkönig“, der, souverän über allen Parteien und Klassen thronend, jenseits der politisch-sozialen Bruchlinien Frieden zu stiften versprach. Ebensowenig aber erwiesen sich die Gerichte als verläßliche Stütze des Obrigkeitsstaates, wie die wiederholten Ausfälle Wilhelms II. oder anderer Hochkonservativer gegen die Justiz deutlich belegen. Sieht man von Einzelfällen ab, so versuchten die Richter 3 Zur besonderen politischen Kultur Bayerns im Kaiserreich vgl. die Anmerkungen von Pohl, S. 96 – 106 (mit Blick auf die Stellung der Sozialdemokratie). 4 Vgl. hierzu die bilanzierenden Überlegungen Nipperdeys in Bd. II, S. 879, 891 f.
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durch die antagonistischen Ansprüche, mit denen sie sich konfrontiert sahen, hindurchzulavieren und zugleich ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu bewahren. Daß es dabei zu einer Überdehnung der strafrechtlichen Normen kam, war bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich, überschritt die rechtsstaatlichen Grenzen auf eklatante Weise aber nur in Ausnahmesituationen (Kulturkampf, Majestätsbeleidigungsprozesse 1878, Sozialistengesetz). Von daher trifft der Vorwurf der Parteilichkeit bzw. der Klassenjustiz, zumindest in einem systematischen Sinne, auf die Richter nicht zu5. Anders fällt das Urteil für die Staatsanwaltschaft aus, deren Tätigkeit in hohem Maße parteiisch war, wie nicht nur die Anklagepraxis bei Verstößen gegen das Koalitions- oder das Vereinsrecht zeigt. Hier kann, zumindest bis zur Jahrhundertwende, von einer „staatsanwaltschaftlichen Prägung der Strafjustiz“ gesprochen werden. Das Institut der weisungsgebundenen Anklagebehörde bildete die eigentlich kritische Einbruchstelle in das rechtsstaatliche Gefüge des Reiches. Die Justizkritik trug nicht unerheblich dazu bei, die Legitimität des monarchischen Staates zu untergraben – insofern war das „iustitia fundamentum regnorum“, mit dem zahlreiche Wortmeldungen endeten, weit mehr als eine rhetorische Floskel. Unabhängig davon, daß insbesondere die Personalpolitik und die Urteilspraxis den Oppositionsparteien vielfältiges Agitationsmaterial in die Hände spielten (was diese denn auch weidlich zu nutzen verstanden), handelte es sich bei den einschlägigen Streitfragen weder um ein Produkt politischer Propaganda noch um eine „Erfindung“ der Presse, sondern um genuine Probleme des Justizsystems. Justizkritik war zunächst einmal eine Kritik sui generis. Dadurch erhielt die Frage nach den Chancen einer Demokratisierung der Strafgerichtsverfassung eine besondere Dringlichkeit, vor allem in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Ähnlich wie bei anderen politischen Strukturproblemen des Reiches (Parlamentarisierung, Dreiklassenwahlrecht) sperrte sich vor allem Preußen gegen eine durchgreifende Umgestaltung. Dies scheint den unlängst gemachten Vorschlag zu stützen, die Sonderwegsthese grosso modo auf Preußen zu übertragen6. Gleichwohl täuscht der Eindruck bei genauerem Hinsehen: Preußen übernahm zwar eine Vorreiterrolle bei der konservativen Revision des Entwurfs von 1909, die übrigen Bundesstaaten schlossen sich dem preußischen Standpunkt aber ohne größeren Widerspruch an, ja versteckten sich hinter dem breitem Rücken der Vormacht. Einzig Bayern hielt unbeirrt an seiner ursprünglichen (liberalen) Position fest, so daß man hier viel eher von einem „Sonderweg“ sprechen könnte. Unabhängig davon ist die gescheiterte Strafprozeßreform in den größeren Zusammenhang der politischen Krise des späten Kaiserreichs einzuordnen, die sich 5 Eugen Schiffer, ein relativ unverdächtiger Zeuge, schrieb im Rückblick: „Es wäre falsch zu glauben, daß unter Wilhelm II. die Justiz ihre Tradition vergessen und aufgegeben hätte. Sie war und blieb im wesentlichen unabhängig und war immun gegen Byzantinismus“ (Ein Leben für den Liberalismus, S. 114). 6 Vgl. H. Spenkuch, Vergleichsweise besonders? Politisches System und Strukturen Preußens als Kern des „deutschen Sonderwegs“, in: GG 29 (2003), S. 262 – 293.
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hauptsächlich durch eine zunehmend schwierigere Konsensbildung zwischen den Parteien, aber auch zwischen Reichstag und Regierung auszeichnete. Über den Charakter der Krise (temporäre Regierungskrise, strukturelle Systemkrise, Transformationskrise) sowie mögliche Auswege (bis hin zur „Flucht nach vorn“ in den Krieg) ist sich die Forschung uneins7. Was die Justizpolitik anbelangt, so hatten die vorwärtsdrängenden Kräfte – mit Blick auf die breite Modernisierungsbewegung und die entsprechende Reformkoalition des Reichstags (Nationalliberale, Zentrum, FVP, SPD) – durchaus nicht das Gefühl, in einer „Sackgasse“ (Berghahn) angelangt zu sein. Vielmehr schien es nurmehr eine Frage der Zeit, wann Preußen, das den Forderungen der Öffentlichkeit immer dann nachgegeben hatte, wenn weiterer Widerstand kontraproduktiv zu werden drohte, auch seine letzte Rückzugsposition räumen würde – den nächsten (verbesserten) Regierungsentwurf erwartete man im Zusammenhang mit der Vorlage des neuen Strafgesetzbuchs für die Jahre 1917 / 18. In Übereinstimmung mit dem „Geist“ der Zeit sahen sich die Reformer grundsätzlich auf einem guten Weg, auch wenn sich niemand darüber getäuscht haben dürfte, daß weiterhin ein ausgesprochen „langer Atem“ vonnöten war. Die materiell- und prozeßrechtlichen Reformen der Weimarer Republik konnten nahtlos an die Zeit des späten Kaiserreichs anknüpfen. Hingewiesen sei nur auf die Zulassung von Frauen zum Amt des Laien- und Berufsrichters (1922), die Emmingersche Justizreform des Jahres 1924 (Umwandlung der Schwurgerichte in große Schöffengerichte; weitgehender Abbau des Parteibetriebs im Zivilprozeß) sowie die Einführung neuer bzw. die Umwandlung der bestehenden Sondergerichte (Jugendgerichtsgesetz 1923, Arbeitsgerichtsgesetz 1926). Bekanntlich setzte sich aber auch die „Vertrauenskrise“ der Justiz nach 1918 fort8. Vor simplifizierenden Kontinuitätsthesen sei dennoch gewarnt: 1914 erschien die Hoffnung keineswegs unbegründet, das Justizwesen Stück für Stück modernisieren und so die Kritik à la longue zum Verstummen bringen zu können. Diese Aussicht wurde durch die nachfolgenden Ereignisse zunichte gemacht: Die distanzierte, ja mitunter offen feindselige Haltung vieler Richter gegenüber der Republik und ihren Anhängern war, wie so vieles andere auch, in erster Linie das Ergebnis der durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen bewirkten Radikalisierung.
7 Zur Diskussion: V. R. Berghahn, Das Kaiserreich in der Sackgasse, in: NPL 16 (1971), S. 494 – 506; G. Schmidt, Parlamentarisierung oder „Präventive Konterrevolution“?, in: G. A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung, Düsseldorf 1974, S. 249 – 278; P. Brandt, War das Deutsche Kaiserreich reformierbar?, in: K. Rudolph / Chr. Wickert (Hg.), FS Grebing, Essen 1995, S. 190 – 210; Nipperdey, II, S. 729 – 757. 8 Zu Weimar: R. Kuhn, Die Vertrauenskrise der Justiz (1926 – 1928), Köln 1983; Th. Rasehorn, Justizkritik in der Weimarer Republik, Frankfurt / M. 1985; J. Ramm, Eugen Schiffer und die Reform der deutschen Justiz, Neuwied 1987; K. Petersen, Literatur und Justiz in der Weimarer Republik, Stuttgart 1988; M. Krohn, Die deutsche Justiz im Urteil der Nationalsozialisten 1920 – 1933, Frankfurt / M. 1991; Cl. Schöningh, „Kontrolliert die Justiz“, München 2000; Th. Vormbaum, Die Lex Emminger vom 4. Januar 1924, Berlin 1988.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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B. Gedruckte Quellen
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B. Gedruckte Quellen I. Gesetz- und Ministerialblätter, Parlamentaria, Protokolle, Entscheidungssammlungen, Statistiken, Lehrbücher, Chroniken u. ä. Bericht über den Stand der Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen. Seiner Majestät dem Kaiser und König vom Justizminister erstattet am 31. Januar 1882. Als Manuskript gedruckt. Bericht über die Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1882 – 1887. Seiner Majestät dem Kaiser und König vom Justizminister erstattet am 27. Oktober 1887. Als Manuskript gedruckt. Bericht über die Justizverwaltung und Rechtspflege in Preußen 1887 – 1901, Berlin 1901. Deutsche Justiz-Statistik, bearb. im Reichs-Justizamt, Berlin 1883 ff.
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IV. Prozeßberichte Der Arnim’sche Prozeß. Stenographische Berichte über die vor dem Königl. Stadtgericht in Berlin in der Untersuchung wider den Grafen Harry von Arnim geführten Verhandlungen, Berlin 1874.
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Anonym, Der jüngste Berliner Skandalprozeß, in: Die Grenzboten 44 / 4 (1885), S. 142 – 150. Anonym, Die Klassenjustiz der Sozialdemokratie, in: DRZ 6 (1914), S. 35 – 37. Anonym, Die Kritik richterlicher Urteile. Von einem Richter, in: Die Grenzboten 53 / 3 (1894), S. 539 – 546. Anonym, Die Lage der Prozeßkostenfrage, in: Die Grenzboten 46 / 3 (1887), S. 554 – 564. Anonym, Die Lehren der deutschen Strafstatistik, in: Die Grenzboten 47 / 4 (1888), S. 12 – 15. Anonym, Die Maigesetze über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen vom 11. Mai 1873 und 21. Mai 1874 in der Auffassung des Obertribunals, Münster 1876. Anonym, Monatsschau Politik, in: Allgemeine Konservative Monatsschrift 52 (1895), S. 70 – 74. Anonym, Die neue Verfolgung der Hannoveraner. Ein Mahnruf an alle politischen Parteien in Deutschland, mit aktenmäßiger Darstellung der Tatsachen, Zürich 1892. Anonym, Noch eine Schattenseite der Justiz, in: Die Grenzboten 56 / 2 (1897), S. 634 – 636. Anonym, Nochmals der Richterstand, in: Die Grenzboten 50 / 4 (1891), S. 342. Anonym, Nochmals der Richterstand und die öffentliche Meinung, in: Die Grenzboten 50 / 4 (1891), S. 188 f. Anonym, Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung, in: Die Grenzboten 47 / 2 (1888), S. 164 – 172. Anonym, Die Parteien und die Gerichte, in: Die Grenzboten 45 / 1 (1886), S. 569 – 571. Anonym, Politische Wochenübersicht, in: Die Nation 3 (1885 / 86), S. 593 – 595. Anonym, Preußen seit Abschluß des Staatsgrundgesetzes bis zur Einsetzung der Regentschaft. Zweiter Artikel: Die Gesetzgebung; Dritter Artikel: Rechtspflege und Verwaltung, in: Unsere Zeit 7 (1863), S. 39 – 78 / 401 – 460. Anonym, Die preußische Justizverwaltung, in: Die Grenzboten 51 / 1 (1892), S. 265 – 277. Anonym, Der Preußische Kreisrichter – ein Subalternbeamter. Einige Beiträge zur GerichtsReform. Von einem Richter, Berlin 1872. Anonym, Die preußische Richtersperre, in: Soziale Praxis 5 (1895 / 96), S. 681 – 688. Anonym, Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren, in: Die Grenzboten 55 / 4 (1896), S. 173 – 190. Anonym, Der Prozeßbetrieb durch die Parteien im Zivilrechtsstreite, in: Die Grenzboten 43 / 4 (1884), S. 112 – 119. Anonym, Prozeßverschleppungen, in: Die Grenzboten 62 / 3 (1903), S. 504 – 510 / 579 – 587. Anonym, Recht und Richter, in: Die Grenzboten 50 / 4 (1891), S. 92 f. Anonym, Rechtsschutz und Rechtssicherheit im Reiche, in: Die Grenzboten 42 / 3 (1883), S. 173 – 180. Anonym, Der Richterstand und die öffentliche Meinung, in: Die Grenzboten 50 / 3 (1891), S. 540 – 551. – in: Die Grenzboten 51 / 1 (1892), S. 518 – 523.
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Personenregister Das folgende Register umfaßt alle im Haupttext der Arbeit genannten oder zitierten Personen. Namen aus dem Anmerkungsteil wurden nur in wichtigeren Fällen berücksichtigt. Bei Standespersonen ist der jeweils ranghöchste Titel angegeben. Abeken, Christian Wilhelm Ludwig v. 199, 227, 238 f. Ablaß, Bruno 536 Adickes, Franz 236, 404, 543 – 549, 555 – 559, 563, 576, 595, 624 f., 630, 632, 635, 643 Adorno, Theodor W. 408 Althoff, Friedrich 317 f., 608 f., 611, 616 Aretin, Johann Christoph Frhr. v. 16 Arnim, Harry Graf v. 122, 161, 163, 179 – 181, 213, 513 Aschrott, Paul Felix 441 f. Auer, Ignaz 288, 290, 295, 297, 338, 344, 349, 371 Augstein, Rudolf 340 Aulus Agerius (Pseud.) 58, 334, 394, 409 – 411 Bachem, Carl 502 Bachem, Julius 214, 397 Bading, Max 345 Bähr, Otto 101 f., 141, 170, 253 – 257, 260 – 262, 264, 269, 302, 316, 379, 422 f., 432, 435, 447, 579, 637 Bamberger, Ludwig 138, 143 Bar, Carl Ludwig v. 314, 356, 466 Bartolomäus, Amtsrichter 105 Bassermann, Ernst 529, 531, 558 f., 574, 579, 583 Bebel, August 108, 176, 197 – 199, 201, 288, 290, 337, 357 f., 444 Becker, Hermann 113 f. Beckerath, Hermann v. 99 Beckh, Hermann 362, 469, 472 Beling, Ernst 446, 557 Below-Hohendorf, Alexander v. 98
Bennigsen, Rudolf v. 101, 122, 357, 375 Beradt, Martin 625 f. Berg, Leo 339, 345 Berghahn, Volker 29, 646 Berlepsch, Hans Hermann Frhr. v. 326, 365, 431 Bernstein, Aaron 82 Bernstein, Eduard 94, 202, 207, 298, 371, 505 Bernstein, Maximilian 282, 379, 514 Beseler, Maximilian v. 413, 483, 489, 506, 512, 515, 518 – 522, 525, 528, 538 – 540, 548, 551, 553 f., 557 f., 564 – 567, 573, 589 f., 610 – 616 Bethmann Hollweg, Theobald v. 503, 555 f., 559, 564 – 566, 571, 575 f. Beust, Friedrich Ferdinand Graf v. 158 f. Binding, Karl 110 f., 113, 308, 355, 359 Birkmeyer, Karl v. 308 Bismarck, Otto Fürst v. 17, 20, 36, 68, 70, 84, 87, 95, 98, 99, 101, 102 – 106, 107, 108, 114, 120, 122 f., 127 f., 135 – 143, 149, 156 – 163, 165 – 167, 170, 171, 172, 174 – 176, 177, 178, 179 f., 181 – 185, 188 – 190, 192 f., 196, 200, 209 – 211, 212 f., 219, 239 – 249, 252, 261 – 263, 271 f., 275 f., 284 – 286, 299, 303, 322, 324, 330, 355, 357, 359, 374, 376, 384 f., 400, 435, 478, 479 f., 494, 514, 598, 637 f. Blanckenburg, Marie v. (geb. Marie v. Thadden) 103 Blasius, Dirk 30 Blondel, Georges 314 Boetticher, Karl Heinrich v. 248, 467, 472 Boisly, Theodor 622, 624
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Personenregister
Bomhard, Eduard v. 57 Börngen, Viktor 599, 628 – 634 Bornhak, Conrad 442 Bosse, Robert 170, 211, 605 Bozi, Alfred 624, 631 Brand, Adolf 515 Brater, Karl 78 Brefeld, Ludwig 431 Breitling, Wilhelm August Frhr. v. 530 Brentano, Lujo (Ludwig Josef) 200 Brüel, Ludwig August 135, 211, 375 f. Bruns, Kaplan in Geldern 193 Buchka, Gerhard v. 471 Buehl, Staatsanwalt 441 f. Bülow, Bernhard Fürst v. 484, 512, 515 – 524, 528, 530 f., 558 Bülow, Carl v. 431, 440 Cahn, Hugo 591 Calker, Fritz van 531 Caprivi, Leo Graf v. 324 f., 330 f., 337, 355 f., 360, 494 Cardauns, Hermann 189 Casselmann, Leopold v. 384 Chrzanowski, Bernhard v. 500, 502 Churchill, Randolph Henry Spencer Lord 273 Clemens, Justus (Pseud.) 442 f., 448 f., 451 f. Collin, Peter 32 Crailsheim, Friedrich Krafft Graf v. 378, 399 Daller, Balthasar v. 382 Dallwitz, Johann v. 614 f. Damrau, Jürgen 32 Danckelmann, Wilhelm Heinrich August Alexander 66 Dannreuther, Dieter 32 Deinhardt, Richard 599, 628 – 633 Delbrück, Clemens v. 559, 573 Delbrück, Hans 333 f., 399 f., 506 Delbrück, Rudolf v. 108, 252 Dernburg, Heinrich 314, 317 Dietz, Johann Heinrich Wilhelm 290 Dilthey, Wilhelm 596 Dipper, Christof 18 Dirichlet, Walter Arnold Abraham 285
Dönhoff, Graf v., preußischer Gesandter in Dresden 538 Dreyfus, Alfred 639 Duchesne Ponselett, belgischer Kesselschmied 160, 163 Düringer, Adelbert 603, 630 – 633 Dziembowski-Pomian, Siegmund v. 499 Ebermayer, Ludwig 234, 296 Eberty, Gustav 102, 122 Ecker, Anton 435 Ehrhart, Franz Josef 385 Ehrlich, Eugen 599 Einem, Karl v. 522 Eisenberger, Georg 384 Eisenhardt, Ulrich 27 Engel, Ernst 93 Enneccerus, Ludwig 349 Enzensberger, Hans Magnus 202 Ernst August, Herzog v. Cumberland, welfischer Thronprätendent 375 f. Eulenburg, Botho Graf zu 330, 461 Eulenburg, Friedrich Graf zu 89, 161, 163, 184, 200 f. Eulenburg und Hertefeld, Philipp Fürst zu 513 – 515, 519, 527 Ewald, Heinrich 171 Exner, Franz 31, 308 Eysoldt, Arthur 128 Falk, Adalbert 161, 182 – 187, 193 Fäustle, Johann Nepomuk v. 116, 119, 122, 131, 238, 249, 643 Feilitzsch, Max Frhr. v. 203 – 205, 536 f. Feuerbach, Ludwig 150 f., 277 Fischer, Otto 610 f. Flesch, Karl 426 Foerster, Franz 116 f., 125, 135 Foerster, Friedrich Wilhelm 341 Föhring, H., Landgerichtsdirektor in Hamburg 287 Förster, Paul 340, 345 Francke, Ernst 506 Frank, Reinhard 438 f. Friedberg, Heinrich v. 106, 115, 151, 159, 171, 224 f., 228, 232, 237 – 243, 249, 256, 261 f., 271 f., 287, 291, 301, 306 – 308, 317, 329, 374, 438, 517
Personenregister Friedrich II., d. Große, König v. Preußen 16, 18, 66 Friedrich III., Deutscher Kaiser und König v. Preußen 224, 276, 281 Friedrich Wilhelm IV., König v. Preußen 77 Fritsch, Theodor 349 Frohme, Karl 221, 290, 372 f., 526 Fuchs, Ernst 549, 599, 602 f., 630 Fuld, Ludwig 220, 289 f., 305 f. Gamp-Massaunen, Karl Frhr. v. 432 Geck, Adolf 297 Geiger, Joseph 377, 384 Gerber, Carl v. 597 Gerlach, Ernst Ludwig v. 76 Gerlach, Leopold v. 76 Gerland, Heinrich 613 Gierke, Otto v. 68, 145 f., 434, 506 f., 598, 609 Glaser, Julius 53, 63, 110 Gmelin, Johann Georg 599, 630 Gneist, Rudolf v. 42 f., 57, 67, 69, 89, 95, 99, 111 f., 114, 124, 126, 128, 134, 145, 209, 229, 303, 314, 317 f., 410, 439, 609 Goetze, August Wilhelm 80 Goldschmidt, Julian 404, 544 Goldschmidt, Levin 67 – 71, 145 f., 314, 317 f., 609 Goßler, Gustav v. 317 – 320 Goßler, Heinrich v. 373 Graef, Gustav 300 f. Graßmann, Ferdinand 501 Grelling, Richard 275 Grillenberger, Karl 380 Grimm, Dieter 269 Gröber, Adolf 195, 332, 531, 574 Günther, Sigmund 381 Guttenberg, Frhr. von und zu, bayerischer Gesandter in Berlin 470 Haase, Hugo 429, 504, 549 Hachmann, Polizeisenator in Hamburg 293 Hagemann, Paul 536 Hälschner, Hugo 69 Hamm, Oskar 307, 346, 439, 582, 622 Hammerstein-Loxten, Hans Frhr. v. 489, 607 Hänel, Albert 122, 124, 181
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Harden, Maximilian 340, 350, 360, 381, 386, 484, 513 – 515, 518 – 520, 528, 563 f., 566 Hardenberg, Karl August Frhr. v. 400 Härle, Georg 282 Harleß, Adolf Gottlieb Christoph v. 79 Hasenclever, Wilhelm 285 Haußmann, Conrad 337 Heck, Philipp 604 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18 Heine, Thomas Theodor 341 Heine, Wolfgang 350, 488, 504, 507 f., 535, 601 f. Heinemann, Hugo 504 Heinkelmann, Heinrich 46 Heinze, Karl Rudolf 111 f., 506, 570 Heinzel, Stephan 290 Held, Hermann Gustav 227, 463, 465 Helldorff-Bedra, Otto Heinrich v. 211 Heller, Wilhelm v. 249 Hellwig, Konrad 631 f. Hennig, Julius Karl August v. 98 Henschke, Senatspräsident beim Kammergericht 317 Hepner, Adolf 197 Herrfurth, Ernst Ludwig 325 f. Hertling, Georg Graf v. 509 Herz, Carl 134 Heyden-Cadow, Wilhelm v. 458 Hilbert, Stadtpolizeidirektor in Stuttgart 292 Himburg, Ernst 531 Hinckeldey, Carl Ludwig Friedrich v. 74 f., 77 Hodenberg, Hermann Frhr. v. 332 Hohenlohe-Ingelfingen, Adolf Fürst zu 83 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu 324, 365, 374 Holle, Ludwig 521, 564 Hollerbach, Alexander 598 Holtzendorff, Franz v. 59 f., 81, 86, 90, 94, 179, 314, 358 Horkheimer, Max 408 Huber, Ernst Rudolf 73 Huber, Eugen 601 Humboldt, Wilhelm v. 409 Ibsen, Karl 288 Illing, Julius 304 f., 310
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Personenregister
Jacobi, Leonard Simon 235 f. Jacoby, Johann 20, 43, 87 f., 90 Jagemann, Eugen v. 464 f. Jagow, Gustav Wilhelm v. 85 Jastrow, Hermann 430, 622 Jastrow, Ignaz 391, 427 Jaz`dzewski, Ludwig v. 496 Jentsch, Carl 356, 389 – 391, 400, 637 Jhering, Rudolph v. 253, 312, 597 f., 604 John, Richard 90, 111 f., 114 Johnson, Eric Arthur 31 Jolly, Julius 193 Jörg, Edmund 177 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser 16 Kade, Carl 408, 577, 621 – 626 Kahl, Wilhelm 610 Kant, Immanuel 16, 88, 152 Kantecki, Chefredakteur des „Kuryer Poznanski“ 190 Kantorowicz, Hermann 547, 599 – 601, 630 Karl d. Große, Römischer Kaiser und König der Franken 382 Kastner, Wilhelm v. 243 Kauffmann, Gustav 236 f. Kaufmann, Gustav Wilhelm Ludwig 531 Kayser, Max 302 Kehr, Eckart 148 Kern, Eduard 31 Kirchenheim, Arthur v. 314 f. Kirchmann, Julius Hermann v. 21 Kitz, Landgerichtspräsident in Krefeld 613 Klein, Franz 432 Kleinschrod, Karl Joseph Frhr. v. 47 Kober, Heinz 103 Koch, Christian Friedrich 21 Kohl, Karl 543 Kohler, Josef 588 Kolkmann, Joseph 207 f., 214 – 216, 400 Krassow, Karl Reinhold Graf v. 98 Krätzer, Adolf 134 Kraus, Karl 24 Kries, August v. 440 – 442 Kröber, Adolf 332 Krüger, Daniel Christian Friedrich 119, 464 Krüger, Präsident des Stadtgerichts Berlin 179 Kruse, Erwin (= Julian Goldschmidt), s. dort
Kübel, Lothar v. 193 Kuhn, Franz Josef 377 Kühne, Thomas 106, 478 Kulemann, Wilhelm 257, 263 Kulerski, Viktor 500 Kullmann, Eduard Franz Ludwig 160, 184 Laband, Paul 597 Ladendorf, August 79 Lagarde, Paul de (eigentl. Paul Anton Bötticher) 390 Landau, Peter 31, 139 Landmann, Anton Ritter v. 445 Langbehn, Julius 390 Langen, Albert 341 f. Lasker, Eduard 68, 91, 102, 122, 132, 138, 142 f., 148, 153, 158, 163, 168, 275 Lassalle, Ferdinand 92 – 94, 198 Lautenschlager, Ernst 427 Ledebour, Georg 500 Ledochowski, Mieczyslaw Halka Graf 190 Leeb, Johannes 623 Legien, Carl 364, 368 Lenthe, v., Oberregierungsrat im Reichsjustizamt 350 Lentze, August 573, 615 Lenzmann, Julius 226, 474, 501, 529, 531 Leonhardt, Adolf Gerhard Wilhelm 70 f., 101, 104, 116 – 119, 122, 127 f., 131, 137, 143, 148 f., 153, 156 – 164, 169 f., 171, 175, 184, 190 f., 200 f., 208 – 211, 225, 251, 254, 303, 329, 438, 517 Leonrod, Leopold Frhr. v. 234, 249 f., 321 f., 352, 382, 384 f., 462 f., 468 f., 473 f. Lerchenfeld, Hugo Graf von und zu 245, 248, 570 Lerno, Franz Xaver 379, 382, 384 f., 471, 474 Levi, Paul 492 f. Lieber, Ernst Maria 195, 344 f., 370 Liebknecht, Karl 338, 492, 504 Liebknecht, Wilhelm 197 f., 205 f., 288, 332, 336, 344 f., 376, 392, 444 Liepmann, Moritz 523 f. Linnemann, Gerd 30 Lippe-Biesterfeld, Leopold Graf zur 70, 83 – 85, 89, 96, 97, 99 – 101, 108, 169, 329, 637
Personenregister Lisco, Hermann 570 – 575 Liszt, Franz v. 304, 308 f., 314 – 317, 320, 345 – 347, 405, 534, 608 f. Lobe, Karl-Adolf 624 Loé, Max v. 130 Loening, Edgar 364, 605 Loewenfeld, Theodor 367, 370 Lucas, Hermann 463 f., 521 Lucius v. Ballhausen, Robert Frhr. 106 Luck, Ludolf v. 277 Ludwig II., König v. Bayern 282 Luitpold, Prinzregent v. Bayern 377, 379, 539 Lütgenau, Franz 372 Lutz, Johann Frhr. v. 177, 194, 282, 378 Madai, Guido v. 172, 281 Majunke, Paul 189, 193 Manteuffel, Otto Theodor Frhr. v. 74 Marie v. Preußen, Gemahlin König Maximilians II. v. Bayern 281 Marquardsen, Heinrich v. 133 f. Marschall von Bieberstein, Adolf Frhr. 467 Mathis, Ludwig Emil 77 Maximilian II., König v. Bayern 38, 47, 91 Mayer, Otto 347 Medem, Rudolf 156, 314 Mehring, Franz 82, 203, 444 Menger, Anton 598 Miarka, Karol 93, 190 Miltner, Ferdinand v. 234, 418, 512, 536, 541 – 543, 553, 568, 572, 591, 616, 644 Miquel, Johannes v. 122, 130, 133, 141, 226, 247, 320, 325, 435, 456 – 461, 467 f., 472 f., 475, 530 Mitteis, Heinrich 27 Mittelstädt, Otto 83, 86, 95 f., 101, 112, 114 f., 124, 144, 180, 212 – 214, 221 – 223, 225, 232, 278 – 280, 286, 301, 311 f., 343, 345, 350 f., 355 f., 386 – 389, 392, 394, 409 – 412 (Numerius Negidius), 440, 443, 448, 518, 637 Mittermaier, Carl Joseph Anton 41, 43, 44, 47, 49, 50 Mittnacht, Hermann Frhr. v. 210 Mizerski, Ludwig 500 Moeller, Julius 98 Mohl, Robert v. 16
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Moltke, Friedrich v. 521, 564 f. Moltke, Kuno Graf v. 513 – 515, 518 – 520, 528, 563, 566 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de 39 f., 50, 111, 547 Monts, Anton Graf v. 377 Most, Johann 199, 202, 205 f. Motteler, Julius 298 Müller, Ludwig August v. 281 Müller, Philipp Heinrich 290 Müller-Meiningen, Ernst 279 f., 348, 504, 527, 570, 573 Mulzer, Karl Christoph v. 39 Munckel, August Carl 53, 223, 226, 235, 290, 302, 332, 469, 471 f., 529 Münsterberg, Emil 430 Münter, Emil 372 Muser, Oskar 297 f. Nagler, Johannes 308 Napoleon III. Bonaparte, Kaiser der Franzosen 376 Nasse, Erwin 68 Nestriepke, Siegfried 487 Neukamp, Ernst 580 – 582 Neumann, Leopold v. 171 Neumayr, Max v. 39 Nieberding, Arnold 349, 351 f., 359, 362, 428, 436, 454, 466 – 476, 478, 480, 490, 506, 510 – 512, 515 – 524, 527 f., 529 – 532, 535 f., 539 – 541, 548, 550 – 554, 558 – 570, 576, 583, 594 Niem, Georg de 620 Nietzsche, Friedrich 390, 596, 602 Nipperdey, Thomas 21, 29, 105, 109, 140, 182, 195, 307, 325, 340, 409, 596, 635, 636, 644 Nobiling, Karl Eduard 206 Nolte, Paul 480 Numerius Negidius (= Otto Mittelstädt), s. dort Oppenheim, Heinrich Bernhard 91 Oppenheim, Lassa 388 f. Oppenhoff, Friedrich Christian 81 Ormond, Thomas 30 Orterer, Georg v. 250
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Personenregister
Ortloff, Hermann 452 Otto I., König v. Bayern 340, 361, 381 Otto, Gustav 230 Otto, Viktor Alexander v. 512, 537 f., 540, 552 Pappenheim, Max 610 Payer, Friedrich 283 Peltasohn, Martin 501 Pescatore, Gustav 215 f. Peterson, Staatsanwalt 241, 313 Pfau, Ludwig 173, 282 f. Pfister, Otto v. 481, 621 Pfizer, Gustav 230 Pfordten, Ludwig Frhr. v. d. 38 Pfretzschner, Adolph Frhr. v. 210 Phillips, Adolf 226 Pius IX., Papst 181 Planck, Gottlieb 154 Planenberg, Nicolaus (= Joseph Kolkmann), s. dort Platen zu Hallermund, Adolf Graf v. 171 Podewils, Clemens Graf v. 543 Poeschl, Heinrich 397 Pollmann, Klaus Erich 108 Posadowsky-Wehner, Arthur Graf v. 367, 369, 398 f., 493, 559, 586 Prenner, Johann Baptist 426 Prinz Vogelfrei (Pseud.) 391 Puchta, Georg Friedrich 318, 596 Puttkamer, Maximilian v. 133 f. Puttkamer, Robert v. 275, 287, 294 Quidde, Ludwig 341 Radbruch, Gustav 599 f., 603 Raphael, Lutz 21 Rathenau, Fritz 590 – 592, 631 f. Ratzinger, Georg 379 f., 386 Reichel, Hans 422, 427, 599 Reichenbach, Oskar Graf v. 80 f. Reichensperger, Peter 118, 125 f., 141, 226, 248, 265, 302 Reichert, Max 480, 549, 624 f. Reigersberg, August Lothar Graf v. 38 Rembold, Alfred Franz 471 Reuling, Wilhelm 315 Reuter, Richard 236
Rheinbaben, Georg Frhr. v. 376, 521 – 523, 540, 555 – 559, 563 – 566, 576, 607 Richter, Eugen 274 Rickert, Heinrich 371, 471 f. Riedler, Alois 481 Rintelen, Viktor 195, 226, 263, 349, 470, 474, 529 – 531 Roeren, Hermann 397 f., 498 Rosenberg, Hans 479 Rost, Georg 380 f. Rousseau, Jean-Jacques 206, 390 Rümelin, Gustav 314 Rumpf, Max 599, 603, 630 Sarrazin, Franz Joseph Maria 186 Savigny, Friedrich Carl v. 18, 596 Schädler, Franz Xaver 379 Schellhas, Paul 407 – 409, 637 Schelling, Hermann v. 92, 213, 237 – 242, 246 – 249, 262, 308, 318 – 321, 325 – 329, 340, 342, 359, 373 f., 376, 395, 435 f., 443, 450, 455 – 462, 475 f., 495, 515 Scherm, Johann Gottfried 377 Schettler, Edmund Louis Friedrich Hellmuth 414 Schieder, Theodor 196 Schiffer, Eugen 433 – 435, 444 f., 447, 594, 645 Schmoller, Gustav v. 314 Schneider, Konrad 429 Scholz, Adolf v. 319 Schönhoven, Klaus 362 Schönstedt, Karl Heinrich v. 172, 331 – 334, 337 f., 342, 352, 361, 367 – 369, 373 f., 376 f., 398, 412 f., 414, 443, 450 f., 453, 458, 465 – 468, 471 f., 475 – 477, 482 f., 485, 489, 496, 499 – 501, 511 – 513, 529 f., 533, 578 f., 589, 594, 605 – 609, 616, 640 Schorlemer-Alst, Burghard Frhr. v. 192 Schröder, Ludwig 372 Schröder, Rainer 30 Schroeder, Friedrich-Christian 31 Schröter, Gustav 632 Schubert, Werner 31, 139 Schurig, Heinrich Rudolf 349 Schwartz, Johann Christoph 432, 434 f., 437, 593
Personenregister Schwarze, Friedrich Oscar v. 52 f., 63, 106, 112 – 114, 140, 222 f., 227, 463 Schweitzer, Johann Baptist v. 94 Schwerin-Putzar, Maximilian Carl Graf v. 102 Schwinge, Erich 637 Seckendorff, August Frhr. v. 164 Segitz, Martin 385 Sello, Erich 300, 514 Serenus Albus (Pseud.) 83, 403, 406 – 409 Seuffert, Hermann 111, 113 f., 388, 439, 535 Seyda, Wladislaus Kasimir 500 Sigl, Johann Baptist 178, 281, 332, 379 f. Simons, Louis 55, 58, 61, 76, 80, 83 Sinzinger, Hans 445 Sonnemann, Leopold 172, 175 Spahn, Peter 332, 473 f. Stadthagen, Arthur 372, 428, 437, 488, 504 Stammler, Rudolf 610 Stampe, Ernst 406, 599, 610 Starke, Wilhelm 82, 304 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 400 Stemann, Christian v. 58, 62 Stenglein, Melchior 48, 232, 345 f., 400, 447 f. Stöcker, Adolf 274 Stolberg-Wernigerode, Konstantin Graf zu 376 Stolberg-Wernigerode, Otto Graf zu 149 Stölzel, Adolf 317 – 319 Stranz, Julius 586 Studt, Konrad v. 606, 610 f. Stuke, Oberstaatsanwalt 190 Stychel, Anton 500 Sydow, Reinhold v. 147 Tessendorf, Hermann 200 – 203, 206, 211, 374 Thelemann, Heinrich v. 419, 616 Thibaut, Anton Friedrich Justus 18 Thüngen-Roßbach, Karl Hans Frhr. v. 360 Tollkiemitt, Rechtsanwalt 285 Torquemada, Thomas de 199 Traeger, Albert 226, 349 Treitschke, Heinrich v. 211 Trescher, Hermann 236 Treutlein-Mördes, Johann v. 524 f., 541, 560, 567 f., 571
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Trimborn, Carl 195, 493 Trojan, Johannes 341 Trott zu Solz, August Klemens v. 613 f. Twesten, Karl 81, 93, 98, 99 – 102, 107, 138, 153, 192, 213, 235, 324, 332, 351, 637, 639 Uhden, Carl Alexander v. 80 Ullmann, Hans-Peter 479 Ulrich, Carl 290 Viereck, Louis 281, 290 Vierhaus, Felix 255, 436, 480, 488, 496, 545 Viezens, Richard 393, 413, 620 Vilsmeier, Vertreter des „Bayerischen Bauernbundes“ 384 Vincke, Georg Ernst Friedrich Frhr. v. 58, 99 Virchow, Rudolf 181, 191 Völk, Franz Joseph 138 Vollmar, Georg v. 290, 378, 381, 383, 445 Vossieg, Michael Alexander 30 Wach, Adolf 255 f., 531 Wagener, Hermann 103 Wahl, Theodor 412 Waldeck, Benedikt Franz Leo 43 Waldersee, Alfred Graf v. 373 Walesrode, Ludwig 90 f. Weber, Max 19, 395, 535, 602, 635 Wedekind, Frank 341 Wehler, Hans-Ulrich 28, 108, 299 Weinrich, Alfred v. 223 Weiter, Gotthelf (Pseud.) 407, 449, 451 Welcker, Karl Theodor 16 Wertheimer, Ludwig 587 f. Werthern, Georg Frhr. v. 204 Westarp, Kuno Graf v. 490 Westphalen, Otto Ferdinand Graf v. 74 – 77 Wetzel, Hans-Wolfgang 174 Wever, Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium 564 Wichert, Ernst 339 f., 412 Wieacker, Franz 19, 21, 33, 66, 139, 141, 393, 596 f., 604 Wieland, Heinrich 282 f. Wilde, Oscar 24 Wilhelm I., Deutscher Kaiser und König v. Preußen 96, 164, 206
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Personenregister
Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König v. Preußen 325, 330, 335 – 341, 359 f., 369, 373 – 375, 377, 483 f., 507, 514 f., 567, 578, 644 Windthorst, Ludwig 122, 124, 130, 132 f., 135, 142, 186, 195, 235, 265, 302 Woerishoffer, Friedrich 366
Wolffson, Isaac 127 Wurm, Emanuel 366 f., 493 f. Zachariae, Heinrich Albert 50, 99, 112 f., 171 Zander, Ernst 78 Zitelmann, Ernst 610, 613 Zoller, Ludwig Frhr. v. 378 f.
Sachregister Allgemeines Preußisches Landrecht (1794) 66 – 68, 216, 277, 285, 642 Arbeiterschutzbestimmungen 366 f., 493 f. Arbeitsgerichte 420, 646 ausdehnende / extensive Rechtsprechung (s. auch „grober Unfug“) 81, 90, 176 f., 190 – 192, 214, 311 – 313, 322, 386 f., 601, 620, 639 f., 643, 645 Bauschwindel 428 f. Bayerisches Oberstes Landesgericht 137 f., 377, 379 Beamtengericht (s. auch Strafkammern) 40 f., 110 f., 113, 120, 229 f., 575 f., 620 f., 641 Beamtenpolitik (Preußen) 84, 275 f., 494 f., 622 Beamtenstellung (der Richter) 544 f., 548, 624 bedingte Begnadigung / bedingte Verurteilung 309 f., 542 Begriffsjurisprudenz (s. auch Pandektenwissenschaft) 253, 386, 393, 439, 545, 549, 595 – 598, 601, 604, 632, 643 Beleidigung / Beleidigungsprozeß – in Preußen 81 f., 174, 214, 359 f. – im Deutschen Reich 152, 155, 158, 272 – 275, 305, 353 – 360, 484 f., 515 – 528, 561, 563, 620, 639 f. Berufung / Appellation 62 f., 116, 129 – 133, 140, 221 – 226, 237 – 250, 445 – 447, 455 – 476, 529 f., 533, 550 – 577, 586, 590, 602, 641 Bismarckbeleidigung 172, 174 – 176, 188 f., 271 f. Bülow-Block 516, 520, 524, 528 Bundesoberhandelsgericht 137 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, 1896 / 1900) 17, 138, 351, 399, 436 f., 476, 80, 510, 530, 598 f., 602, 604 f., 611, 617, 637, 642
„bürokratische Rechtsprechung“ 56, 507, 624 Codex Maximilianeus Bavaricus civilis (1756) 71 Daily-Telegraph-Affäre (1908) 484 Deutscher Juristentag (allgemein) 48 f. Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband (DHV) 583 – 585 Diätenprozesse (1885 / 86) 284 – 286 Diebstahl – allgemein 152, 158, 305, 312, 510 – 512, 516 f., 520, 525, 528, 640 – von Elektrizität 395 f. – Notdiebstahl 413, 510 – 512, 516 f., 520, 525 dolus eventualis 311, 343 – 347, 482 Eigentumsdelikte, s. Diebstahl Emmingersche Justizreform (1924) 646 Entschädigung für Schöffen- und Geschworenendienst (Tagegelder) 121, 440, 444 f., 534, 539 – 541, 563, 575 f. Entschädigung für unschuldig erlittene Straf- / Untersuchungshaft 221, 226, 248, 250 f., 438, 456, 461, 476 Festungshaft 151, 153, 336, 340 – 342, 484 Formalismusproblem 69 f., 185, 241, 253, 257, 312, 379 f., 393 – 400, 408, 413, 422 f., 431, 455, 535, 560, 566, 577, 595, 597 f., 610, 613, 640, 643 Frauen – als Laien- und / oder Berufsrichter 539, 646 – Wahlrecht (zu den Beisitzern in den Sondergerichten) 585 f. Freirechtslehre / soziologische Rechtslehre, s. Methodendiskussion Fuchsmühler Affäre (1894 / 95) 378 – 380
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Sachregister
„Gegenwartsjuristen“ 632, 635 Gerichtsassessoren (s. auch juristische Ausund Fortbildung) – in Preußen 107, 148, 401 – 404, 416 f., 614 – 616, 628, 642 – Assessorenparagraph (1896) 413 – 416 – in Bayern (geprüfte Rechtspraktikanten) 417 – 419, 618 f. Gerichtskosten / Prozeßkosten 256, 262, 263 – 268, 422 – 425, 431, 583 – 585, 594 f. Gerichtssprache, s. Polenpolitik / polnische Nationalbewegung Gerichtsverfassung – in Preußen 36 f., 147 – in Bayern 38 f., 150 – Bestimmungen des GVG (1877) 110 – 123, 135 – 139, 150, 476, 531, 552, 555, 576, 637, 641 Gerichtsvollzieher 252, 258 – 261, 265 f., 422 Geschäftsbetrieb (der Strafgerichte) – in Preußen 215, 222 f., 405, 447 – 451, 455, 533, 620 f., 642 – in Bayern 238 – in Sachsen 227 f., 238 f., 463 Gewerbegerichte 263, 420 – 429, 432, 437, 508, 583 – 587, 594, 616, 641 gewerblicher Rechtsschutz – unlauterer Wettbewerb 396 – 399 – Patente und Gebrauchsmuster 587 – 593 Gnadenerlaß 96, 281, 375 „grober Unfug“ 69, 276 – 280, 312, 347 – 353, 380 – 382, 482, 484, 500, 639 Haberfeldtreiben 382 f. Hilfsrichter 89, 99, 135, 140, 222, 225, 402, 405, 448, 469 – 473, 546, 572 f., 576, 624, 641 Historische Rechtsschule 66, 596 Inquisitionsprozeß 37, 60, 452 Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV) 441, 452 Jugendgerichte / Jugendstrafrecht 542, 562 – 565, 568, 571, 575, 646 Juristendeutsch 631, 637 Juristenstand (allgemein) 17 f.
juristische Aus- und Fortbildung – in Preußen 38, 65 – 71, 144 – 147, 215 – 217, 313 – 321, 406 – 408, 415, 591, 604 – 617, 619, 642 f. – in Bayern 71 – 73, 321 f., 417 – 419, 591, 617 – 619, 644 – im OLG-Bezirk Jena 629 – 631 – Verein „Recht und Wirtschaft“ 632 – 634 Justizminister (allgemeine Amtsführung) – Lippe 83 – Leonhardt 101, 169 f. – Friedberg 224 f. – Schelling 329 – Schönstedt 374, 640 – Miltner 541 – 543, 644 Justizreform 600, 634 – nach Jacobi 235 – 237 – nach Kruse 404 – nach Adickes 543 – 549, 555 – 558, 576 f., 643 – nach Fuchs 602 Justizstatistik / Kriminalstatistik 74 f., 220 Kaufmannsgerichte 431, 508, 583 – 587, 594, 641 Klassenjustizvorwurf 93 f., 121, 212, 298, 364 – 367, 385 – 393, 425, 437, 481, 492 f., 504 – 509, 536, 541, 556 f., 560, 562, 568, 577, 627, 645 Koalitionsrecht / Koalitionsjustiz 159, 167 – 169, 199 f., 294 f., 362 – 370, 486 – 493, 504 f., 521, 526, 636, 639 f., 644 f. Konstruktionsjurisprudenz, s. Begriffsjurisprudenz Körperverletzung 152, 156 – 158, 305 – 308, 512 f., 516 – 518, 520, 528, 640 Kulturkampf – in Preußen 181 – 193, 559, 637 f., 640, 644 f. – in Baden 193 f. – in Hessen 194 – in Bayern 194 Kulturkritik 261, 389 f., 409, 596, 637 Kuppelei 312, 394 f., 413, 525, 620 kurze Freiheitsstrafe 308 f.
Sachregister Laienbeteiligung, s. Schöffengericht; Schwurgericht; Entschädigung; Gewerbegerichte; Kaufmannsgerichte; Sondergerichte Lebensphilosophie 595 f., 629, 643 Legalitätsprinzip 55, 57, 128, 343, 395, 452, 533, 550, 552, 556 f., 562 f., 565, 568 – 570, 576 liberale Ära 108 f., 169 f., 217 f. Majestätsbeleidigung / Majestätsbeleidigungsprozesse – in Preußen 44, 79, 87, 174, 188, 206 – 209, 214, 270, 342 f., 483 – in Bayern 270, 377, 483 – in Sachsen 483 – in Württemberg 483 – im Deutschen Reich 153, 270 f., 335 – 343, 482 – 484, 645 Methodendiskussion 595 – 604, 634 – Freirechtslehre / soziologische Rechtslehre 548 f., 599 – 604, 626, 630, 632 f., 643 – Interessenjurisprudenz 599, 604 – naturwissenschaftliche Jurisprudenz 599, 631 – Wertungsjurisprudenz 604 Militärstrafgerichtsordnung (1898) 529 Mündlichkeit (im Zivilprozeß) 144, 253 – 256, 432, 579 „Neue Ära“ 57 f., 83 „Neuer Kurs“ 324 f., 330, 420, 423, 460, 494 Obertribunal (Preußen) 80 f., 89 f., 99 – 102, 137 – 139, 176 f., 186 f. Öffentlichkeit (des Strafverfahrens) 37, 61, 73 f., 93, 133, 198, 300 f., 327, 340, 452 f., 501, 514 f., 518 f., 533, 561, 563, 639 Offizialbetrieb, s. Parteibetrieb Opportunitätsprinzip, s. Legalitätsprinzip Pandektenwissenschaft (s. auch Begriffsjurisprudenz; Methodendiskussion) 19, 66, 141, 312 f., 393, 596 – 599, 602, 640 Parteibetrieb (im Zivilprozeß) 252 f., 256 f., 422, 432, 578 – 582, 594, 641, 646
717
„persönliches Regiment“ (Wilhelms II.) 336 f., 484 Polenpolitik / polnische Nationalbewegung – Strafverfolgung 79, 94 – 96, 189 – 192, 497 – 504, 638 – Gerichtssprache / Dolmetscherproblem 135 – 137, 189, 495 – 497 – polnische Richter 96, 189 f., 495, 642 – Kulturkampf 189 – 192 – Beamtenpolitik 494 f. „Präventivjustiz“ 159 Presserecht / Pressejustiz – Presse und Justiz (allgemein) 73 f., 299 – 302, 636, 638 f. – in Preußen 43 f., 74 – 78, 84 – 91, 174, 184, 188 – 191, 193, 280, 502 f. – in Bayern 46, 78 f., 91, 177 – 179, 281 f., 380 – 382, 509 – in Württemberg 282 – 284 – im Deutschen Reich 121 – 123, 140 f., 153 – 156, 161 – 165, 165 – 167, 174 – 176, 273, 278 – 280, 358, 641 – ambulanter (fliegender) Gerichtsstand 122 f., 360 – 362, 382, 467 – 474 – Zeugniszwang / Zeugnisverweigerungsrecht 122 f., 141, 469 – 474, 565 – „Preßunfug“ 278 f., 347 – 353, 380 – 382 – Wahrnehmung berechtigter Interessen 356, 358, 380 „Prinzenjustiz“ 504 Prozeßverschleppung 256, 432, 435 f., 578 – 582, 594 Reaktionszeit 74 – 83, 637 Rechtsanwaltschaft / Advokatur 18, 48, 216, 221, 250, 252 f., 256, 261 – 263, 263 – 268, 404, 415, 417 f., 421, 423, 433 – 437, 445, 455, 578 – 582, 586, 594 f., 621, 633 – Anwaltszwang 253, 262, 266, 433 – 436, 580, 595 Rechtsbewußtsein (des Volkes) 19 f., 41, 49, 237, 297, 313, 393, 413, 477, 481, 507, 511, 525, 555 f., 636, 638, 640, 643 „Rechtsfremdheit“ (des Volkes) 577 f., 633 Rechtsstaat / Rechtsstaatlichkeit 16 f., 35, 89, 97, 139 f., 190 – 192, 206 – 209, 277, 329, 396, 636, 638 f., 645
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Sachregister
reformierter Strafprozeß (s. auch Schwurgericht; Staatsanwaltschaft) – in Preußen 37 f., 59 f. – in Bayern 38 f. – Struktur 60 – 62, 133 – 135 Reichsgericht 137 – 139, 296 f., 311, 313, 356, 368, 391, 393 – 396, 413, 455, 488 – 491, 521, 599, 602, 620 Reichsjustizgesetze / Reichsjustizreform (1877 / 1879) 74, 109 – 144, 154, 169 f., 251 – 253, 637, 641 – in Preußen 147 – 149, 242 – in Bayern 150 „Richterkönig“ 313, 544, 549, 576, 632, 635, 643 f. Richterkritik 98 f., 146, 214 – 217, 400 – 413, 642 – Verteidigungsschriften 215 f., 413, 619 – 621 Richterstand / Richterschaft – in Preußen – Liberalismus 77 f., 82 f., 86, 98, 107, 148, 210 f., 216, 218, 638 – Rang und Gehalt 63 f., 148 f., 215 – 217, 402, 413 – 416, 548, 626 f., 642 – personeller Umfang 147, 405, 622 – Altersstruktur 147 f., 403 – soziale Herkunft 404 f., 628 – Personalpolitik 96, 189 – 191, 409 – 412, 642 – „Militarisierung“ 215, 217, 412 f., 642 – in Bayern – personeller Umfang 150 – soziale Herkunft 627 – Personalpolitik 542, 644 – im Deutschen Reich – Bestimmungen des GVG 135, 146 – personeller Umfang 150 – Titel- und Ordensverbot 135, 602 – Rang und Gehalt 624 – Richtergesetz 624 Richtervereine / Deutscher Richterbund 542, 548, 621 – 626, 632, 643 Rohheitsdelikte, s. Körperverletzung Sakralisierung (des Rechts) 20 f., 636 Schöffengericht / Schöffen – Ursprünge 52 – 54
– im Deutschen Reich 110 – 121, 438 – 445, 456, 460 – 465, 470 f., 529 – 534, 537 – 541, 550 – 577, 602, 646 – in Preußen 444, 538 – in Bayern 536 f. Schreibwerk (der Richter) 545, 548, 594 f., 630 Schwurgericht / Geschworene – allgemein 39 f. – in Preußen 40 – 46, 49, 59 f., 232, 444 – in Bayern 46 – 48, 232 – 235, 439, 445, 509, 532 f., 535 – 537 – im Deutschen Reich 110 – 122, 229 – 232, 239 – 247, 442 – 445, 456, 462 f., 467 – 471, 534 – 541, 550 – 554, 557 f., 563 f., 576, 641, 646 – als Rechtsinstitut 50 – 52 – politische Kompetenzen 44 – 49, 97 f., 102, 114 f., 121 f., 142, 153, 235, 240, 387 f., 392, 469 f., 472, 532 f., 535 f., 552, 639, 643 Selbstverwaltung (der Gerichte) 135, 238 f., 241 – 243, 245 – 247, 456, 460 – 469, 472 Sensationsprozesse (causes célèbres) 299 f. Sonder- und Schiedsgerichte (s. auch Gewerbegerichte; Kaufmannsgerichte) 263, 419 – 432, 583 – 595, 602, 620, 641, 646 Sonderwegsthese 645 Sozialdemokratie (s. auch Klassenjustiz; Koalitionsrecht / Koalitionsjustiz) – Strafverfolgung – allgemein 195 f. – in Preußen 92 – 94, 199 – 203, 325 – 329, 371 – in Sachsen 196 – 199, 287 f., 295, 371 – in Bayern 203 – 205, 295 – im Deutschen Reich 295, 370 f., 485 f., 637 f., 644 – Sozialistengesetz (1878 – 1890) 209 – 212, 286 – 299, 640, 645 – Geheimbundsprozesse 287, 289 – 293 – justizpolitische Vorstellungen 205 f. – „sozialdemokratischer Terrorismus“ 488 – 490 Staatsanwaltschaft – in Preußen 54 – 56, 57 – 60, 86 f., 97, 147, 186, 228, 342 f., 398, 405, 409 – 412, 447 f., 454, 503 f., 622 f., 642
Sachregister – in Bayern 56 f., 150, 399, 627 – in Sachsen 227 f., 463 – im Deutschen Reich 123 – 129, 140, 150, 223, 226 f., 239 f., 247, 273 – 275, 367, 451 f., 533, 561 – 563, 601, 638, 641, 645 Staatsgerichtshof (Preußen) 45, 80, 95, 102, 122, 137, 153, 180 Staatssekretäre des Reichsjustizamts (allgemeine Amtsführung) – Nieberding 351, 480, 510 Strafgesetzbuch – von 1851 (Preußen) 38, 150 f., 277 – von 1861 (Bayern) 39, 151, 277 – von 1871 (Deutsches Reich) 150 – 156, 163 – 165, 639 f. – Novelle von 1876 156 – 163, 639 – Novelle von 1912 510 – 528, 640 Strafkammern (s. auch Berufung; Schöffengericht) 115 – 120, 140, 222 – 226, 237 – 239, 241, 247, 405, 438, 440, 442, 447 – 451, 456, 460 – 465, 470 – 475, 533 f., 570, 641 Strafprozeßordnung – von 1877 (Deutsches Reich) 122 – 135, 268 f., 641 Strafprozeßreform – Entwurf von 1885 237 – 251 – Entwürfe von 1894 und 1895 455 – 476 – Entwürfe von 1908 / 09 528 – 536, 550 – 577, 641, 645 f. Strafverfahren – gegen Benedikt Waldeck (1849) 43 – gegen Johann Jacoby (1849, 1864 / 65) 43, 87 f. – gegen Oskar Graf v. Reichenbach (1849 / 50) 80 f. – gegen Abgeordnete der Preußischen Nationalversammlung (1850) 43 – gegen Abgeordnete des Stuttgarter Rumpfparlaments (1850) 43 – gegen Heinrich Heinkelmann (1850) 46 – gegen die „Kreuzzeitung“ (1850 – 54) 76 – gegen die „National-Zeitung“ (1850 – 58, 1862 – 65) 76, 88 – gegen Teilnehmer an der Pfälzer Mairevolution (1851) 46 – gegen das „Preußische Wochenblatt“ (1851 – 56) 76
719
– Kölner Kommunistenprozeß (1852) 79 f. – gegen den „Volksboten für den Bürger und Landmann“ (1852 – 59) 78 – gegen die „Volks-Zeitung“ (1853 – 58, 1862 – 67) 76, 88 – gegen August Ladendorf und Gen. (1854) 79 f. – gegen den „Nadwislanin“ (1862 / 63) 94 f. – gegen sieben Berliner Zeitungen (1863) 85 – gegen Ferdinand Lassalle (1863 / 64) 92 – 94 – großer Polenprozeß (1864) 95 f. – gegen Heinrich Bernhard Oppenheim (1864 / 65) 91 – gegen Karl Twesten (1866 – 68) 99 – 102 – gegen Adolf Graf v. Platen (1868) 170 f. – gegen Heinrich Ewald (1868 ff.) 171 – gegen die „Frankfurter Zeitung“ (1871 ff.) 172 f. – gegen die „Germania“ (1871 ff.) 188 f. – gegen Karol Miarka (1871 ff.) 190 – Leipziger Hochverratsprozeß (1872) 197 f. – gegen die „Kölnische Volkszeitung“ (1872 – 75) 189 – gegen Mieczyslaw Graf Ledochowski (1873 – 77) 190 – gegen Johann Most (1874) 202 – gegen Harry Graf v. Arnim (1874 – 76) 179 – 181 – Münchener Sozialistenprozesse (1875 / 76) 204 – gegen Johann Baptist Sigl (1875 / 76, 1889 / 90) 178, 281 – gegen die „Berliner Freie Presse“ (1876 / 77) 202 – gegen Kantecki (1876 / 77) 190 – gegen Ludwig Pfau (1877, 1883 / 84) 173, 282 – 284 – gegen Karl Ibsen (1880) 288 – gegen die „Süddeutsche Post“ (1884) 281 f. – gegen Gustav Graef (1885) 300 f. – Chemnitzer Geheimbundsprozeß (1885) 289 – Freiberger Geheimbundsprozeß (1886) 289 – 291 – gegen die „Post“ (1886 / 87) 278
720
Sachregister
– gegen Adolf Geck (1888) 297 – gegen Ludwig August Brüel (1890) 375 f. – gegen Maximilian Harden (1893, 1898, 1899, 1900) 340 f. – gegen Friedrich Wilhelm Foerster (1895) 341 – gegen Wilhelm Liebknecht (1895) 344 – Essener Meineidsprozeß (1895) 372 f. – gegen Franz Lütgenau (1896) 372 – gegen Ludwig Quidde (1896) 341 – gegen Georg Rost (1896 / 97) 380 f. – gegen Franz Josef Kuhn (1897) 377 – gegen den „Simplicissimus“ (1898) 341 – gegen den „Kladderadatsch“ (1898) 341 – Posener Studentenprozeß (1901) 497 – Thorner Gymnasiastenprozeß (1901) 497 f. – Gnesener Prozeß (1901) 498 – 500 – Bromberger Schwurgerichtsprozeß (1903) 505 f. – gegen Teilnehmer am polnischen Schulstreik (1906 / 07) 503 – Moltke-Harden-Prozesse (1907 – 09) 513 – 515 – gegen Philipp Eulenburg (1908 / 09) 515 – Moabiter Krawallprozesse (1910 / 11) 572 – gegen Teilnehmer am Ruhrstreik (1912) 490 – 492 – gegen Paul Levi (1912) 492 f. Strafzumesssung (der Gerichte) 86 f., 156 f., 303 – 309, 322 f., 477, 485, 505, 517 – 519, 638 – 640 Streikjustiz, s. Koalitionsrecht / Koalitionsjustiz „Subalternisierung“ (der Richterschaft) 404, 544, 625, 634 Tierschutz 513, 516 f., 520, 526 f. Überbürdung (der Strafgerichte), s. Geschäftsbetrieb Umfang der Beweisaufnahme (im Strafprozeß) 456, 467 – 469, 472, 557, 565 f., 570 – 573, 576 Umsturzvorlage (1894) 329 – 334, 460, 466, 476, 637, 639
Unabhängigkeit (der Richter) 35, 89, 97, 102, 109, 115, 135, 138, 140, 162, 405, 545, 624, 644 f. Untersuchungshaft 61, 128 f., 152, 221, 241 – 243, 246, 250, 288, 293, 298, 453 f., 491, 541, 543, 565 Verein für Rechtsschutz und Justizreform (1882 / 83) 236 f. Verein „Recht und Wirtschaft“ (1911 – 1923) 480, 628 – 634, 643 Vereins- und Versammlungsrecht 636, 645 – in Preußen 79, 184 f., 202 f., 214, 294, 365 f. – in Bayern 203 f., 365 – in Sachsen 294, 365, 371 – Lex Hohenlohe (1899) 365 f. – Reichsvereinsgesetz (1908) 176, 365 Verfassungskonflikt (Preußen) 59, 83 – 91, 92 – 102, 192 f., 471, 559, 637 f. – Beamtenpolitik 84 – Disziplinarverfahren (gegen oppositionelle Richter) 84, 96 f., 187 – Stellvertretungsprozesse 97 Verrechtlichungsprozeß 15 – 17, 428, 620, 636, 641 Verwaltungsgerichtsbarkeit (Preußen) 137, 419 f., 434 Volksschullehrer (als Laienrichter) 120, 563 f., 568, 571 – 573, 576 Vorverfahren / Voruntersuchung 60 f., 133 f., 452 f., 471, 533, 565 Wahrheitsbeweis, s. Beleidigungsprozeß Weimarer Republik 646 Welfenpartei / „welfische“ Richter 170 f., 375 – 377, 638 „Weltfremdheit“ (der Richter) 70, 399, 481, 501, 560, 577 f., 588, 599, 612 f., 633 f., 640, 643 Wiederaufnahmeverfahren 220 f., 226, 241, 246, 248, 250, 456, 464, 471 – 474 Zivilprozeßordnung – von 1869 (Bayern) 39, 251 – von 1877 (Deutsches Reich) 251 – 261, 268 f., 432 – 435, 602, 641
Sachregister Zivilprozeßreform – von 1885 261 – 263 – Novelle von 1898 435 – 437, 578 – Amtsgerichtsnovelle (1909) 268, 548, 594 f., 641
721
Zuchthausvorlage (1899) 369 f., 480, 488, 639 Zustellungswesen 252, 257, 262 f., 422, 435 Zwangsversteigerung / Zwangsvollstreckung 252, 259, 262, 521