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German Pages 151 [160] Year 2004
Kontroversen um die Geschichte Herausgegeben von Arnd Bauerkämper, Peter Steinbach und Edgar Wolfrum
Ewald Frie
Das Deutsche Kaiserreich 2. Auflage
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulssig. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., erweiterte und bibliographisch aktualisierte Auflage 2013 i 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2004 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf surefreiem und alterungsbestndigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-24893-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhltlich: eBook (PDF): 978-3-534-72650-9 eBook (epub): 978-3-534-72651-6
Inhalt Vorwort der Reihenherausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kaiserreichgeschichte vor dem Kaiserreich . . . . . . . . . 2. Kaiserreichgeschichte im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . 3. Kaiserreichgeschichte nach Kriegsniederlage und Revolution 4. Grundsatzdiskussionen nach 1945 . . . . . . . . . . . . . 5. Der Aufbruch der 1970er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 6. Jüngste Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Überblick
III. Forschungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „1866“ – oder: Alternativen zur Reichsgründung . . . . . . a) Die Bismarcksche Reichsgründung – eine vertane Chance? b) Die Diskussion vor 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „1866“ in der jüngeren Geschichtswissenschaft . . . . . 2. Innere Reichsgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Innere Reichsgründung“ als Forschungsthese . . . . . . b) Die Liberalen im Reichsgründungsjahrzehnt . . . . . . . 3. Bismarcks Kolonialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Bismarck und der Imperialismus“ . . . . . . . . . . . . b) Die ältere Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Direkte Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Internationale Geschichte und Gesellschaftsgeschichte . e) Wie weiter? Bismarck und die Kolonialpolitik . . . . . . 4. Der Rückversicherungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Diskussion der 1920er-Jahre . . . . . . . . . . . . . c) Die gegenwärtige Diskussionslage . . . . . . . . . . . . 5. Wilhelm II. und die Monarchie im späten Kaiserreich . . . . a) Emil Ludwig und die Historische Biographik . . . . . . . b) Erich Eycks Analyse des „Persönlichen Regiments“ . . . . c) John C. G. Röhl und der „Königsmechanismus“ . . . . . d) Alternativdeutungen zu Röhl . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Fischer-Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Geschichte der Kriegsschulddiskussion . . . . . . . b) Die Fischer-Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Positionen seit Ende der 1960er-Jahre . . . . . . . . . . 7. Sozialmoralische Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ein Aufsatz von M. Rainer Lepsius . . . . . . . . . . . . b) Wahlforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das sozialistische Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das katholisches Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 21 . 21 . 22 . 24 . 27 . 31 . 32 . 38 . 43 . 43 . 45 . 47 . 51 . 53 . 56 . 58 . 60 . 64 . 69 . 70 . 72 . 74 . 77 . 81 . 82 . 86 . 89 . 94 . 94 . 96 . 99 . 102
V
Inhalt e) Milieus im nationalen Lager . . . . . . . . . . . . . . . f) Sozialmoralische Milieus? . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Wie modern war das Wilhelminische Reich? . . . . . . . a) Zweierlei Sozialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . b) „Klassische Moderne“ c) Weiterentwicklung der Historischen Sozialwissenschaft
VI
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105 107 108 108
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IV. Ausblick: Das Kaiserreich und die deutsche Geschichte . . . . . .
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Ausblick zur Neuauflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur zur Neuauflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort der Reihenherausgeber Kontroversen begleiten nicht nur die wissenschaftliche Arbeit, sondern sind deren Grundlage. Dies gilt auch für die Geschichtswissenschaft. Weil wissenschaftliche Auseinandersetzungen nicht leicht zu durchschauen und noch schwerer zu bearbeiten sind, ist es notwendig diese aufzubereiten Die Reihe „Kontroversen um die Geschichte“ ist als Studienliteratur konzipiert. Sie präsentiert die Auseinandersetzungen zu Kernthemen des Geschichtsstudiums; ihr Ziel ist es, Studierenden die Vorbereitung auf Lehrveranstaltungen und Examenskandidaten ihre Prüfungsvorbereitung zu erleichtern. Entsprechend kennzeichnet sie ein didaktischer und prüfungspraktischer Darstellungsstil. Über diesen unmittelbaren Nutzen hinaus nimmt die Reihe die Pluralisierung der Historiographie auf, ohne dem Trend zur Zersplitterung nachzugeben. Gerade in der modernen Gesellschaft mit ihrer fast nicht mehr überschaubaren Informationsvielfalt wächst das Bedürfnis nach einer schnellen Orientierung in komplizierten Sachverhalten. Ergebnisse der historischen Forschung werden in dieser neuen Reihe problemorientiert vermittelt. Die einzelnen Bände der „Kontroversen um die Geschichte“ zielen dabei nicht auf eine erschöpfende Darstellung historischer Prozesse, Strukturen und Ereignisse, sondern auf eine ausgewogene Diskussion wichtiger Forschungsprobleme, die nicht nur die Geschichtsschreibung geprägt, sondern auch die jeweilige zeitgenössische öffentliche Diskussion beeinflusst haben. Insofern umschließt der Begriff „Kontroversen“ zwei Dimensionen, die aber zusammen gehören. Die Spannbreite der „Kontroversen um die Geschichte“ reicht vom 16. Jahrhundert bis zur Zeitgeschichte. Einige der Bände sind jeweils einzelnen Themengebieten wie der Verfassungsgeschichte gewidmet, die im historischen Längsschnitt behandelt werden und überwiegend über den deutschen Sprach-, Kultur- oder Staatsraum hinaus eine vergleichende Perspektive zu anderen Regionen und Staaten Europas eröffnen. Andere Bände behandeln einzelne Epochen oder Zeitabschnitte europäischer und deutscher Geschichte wie etwa den Absolutismus oder die Weimarer Republik. Gelegentliche Überschneidungen sind somit nicht nur unvermeidbar, sondern auch durchaus sinnvoll. Der Aufbau der Bände folgt einem einheitlichen Prinzip. Die Einleitung entfaltet den Gesamtrahmen der behandelten Epoche oder des dargestellten Querschnittbereichs. Daran schließt sich ein Überblick an: Er begründet die Auswahl der behandelten Deutungskontroversen und ordnet diese in den Gesamtrahmen ein. Der Hauptteil der Bände umfasst sechs bis acht Forschungsprobleme. Dabei werden nicht vorrangig alle Entwicklungen und Stadien der Forschung nachgezeichnet, vielmehr Schlüsselfragen und zentrale Deutungskontroversen der Geschichtswissenschaft übersichtlich und problemorientiert präsentiert. Der Darstellung dieser Schlüsselfragen folgt zum Schluss eine kritische Bilanz des Forschungsstandes, in der auch offene Probleme der Geschichtsschreibung dargelegt werden. Historische Forschung ist ein nie beendeter Prozess, dessen Befunde immer einer kri-
VII
Vorwort der Reihenherausgeber tisch-distanzierenden Bewertung bedürfen. Auch dies soll in dem abschließenden Kapitel der Bände jeweils deutlich werden. Eine Bibliographie der wichtigsten Werke steigert den Gehalt der Bände; das Register weist zentrale Personen- und Sachbezüge nach und dient einer schnellen Orientierung. Unser Wunsch ist es, dass die Reihe „Kontroversen um die Geschichte“ einen festen Platz in den Bücherregalen von Studierenden der Geschichtswissenschaft, aber auch benachbarter Disziplinen einnimmt, die sich auf Lehrveranstaltungen oder Prüfungen vorbereiten. Darüber hinaus sind die Bände der Reihe an Leserinnen und Leser gerichtet, die Befunde der Geschichtsschreibung sachkundig vermitteln möchten oder ganz generell an historisch-politischen Diskussionen interessiert sind. Arnd Bauerkämper Peter Steinbach Edgar Wolfrum
VIII
I. Einleitung Das Deutsche Kaiserreich, ausgerufen 1871 nach dem militärischen Sieg über Frankreich und untergegangen in Kriegsniederlage und Revolution 1918, bestand knappe 48 Jahre. Sein erster Kaiser, Wilhelm I. (1797–1888, Preußischer König seit 1861, Deutscher Kaiser 1871–1888), hatte noch Napoleon gesehen und bezog politische Orientierung aus der Erinnerung an Befreiungskriege und die Revolution von 1848/49. Sein Enkel Wilhelm II. (1859–1941, Deutscher Kaiser 1888–1918), nach der nur 99 Tage währenden Regierungszeit seines krebskranken Vaters Friedrich III. der dritte und letzte Kaiser des Deutschen Reiches, liebte Autos, Flugzeuge und den Film. Lange nach seiner erzwungenen Abdankung sollte er vom holländischen Exil aus mit Adolf Hitler korrespondieren. In nicht einmal einem Menschenalter verdichteten sich im Kaiserreich die Erfahrungen, Lebensweisen, politischen und gesellschaftlichen Orientierungen zweier Jahrhunderte. Das Deutsche Kaiserreich war aber mehr als nur ein Verdichtungsraum. Es war lange Zeit der Bezugspunkt nationaler und staatlicher Selbstbeschreibung der Deutschen. Heinrich von Treitschke hat das 1879 so ausgedrückt: „Die deutsche Nation ist trotz ihrer alten Geschichte das jüngste unter den großen Völkern Westeuropas. Zweimal ward ihr ein Zeitalter der Jugend beschieden, zweimal der Kampf um die Grundlagen staatlicher Macht und freier Gesittung. Sie schuf sich vor einem Jahrtausend das stolzeste Königtum der Germanen und musste acht Jahrhunderte nachher den Bau ihres Staates auf völlig verändertem Boden von neuem beginnen, um erst in unsern Tagen als geeinte Macht wieder einzutreten in die Reihe der Völker.“ (60, Tl. 1, S. 3) Mehr als einhundert Jahre später wurde zwar die Reichsgründung nicht mehr auf die Zeit der Ottonen legitimatorisch rückbezogen. Auch vergingen das Pathos der Macht und die Metaphorik aus dem Feld der Biologie. Doch immer noch heißt es: „Das deutsche Kaiserreich, so wie es von 1871 bis 1918 bestanden hat, bildet auch heute noch den zentralen Orientierungspunkt für die nationale Identität der Deutschen“ (43, S. 17). Oder an anderer Stelle: „Mit dem Kaiserreich stehen Einordnung und Bewertung des deutschen Nationalstaats zur Debatte – seine Gründung, sein Aufbau und sein weiterer Weg, nicht zuletzt zwischen 1933 und 1945.“ (61, S. 7) Die deutschen Historiker haben daher seit Beginn ihrer Beschäftigung mit dem Kaiserreich Antworten auf die Frage gesucht, in welchem Verhältnis der erste deutsche Nationalstaat zur national nicht geeinten deutschen Geschichte vor 1871 und zur katastrophischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand. Und sie haben das Kaiserreich beschrieben als eine in sich faszinierende Wandlungsepoche, in der sich der Übergang Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat vollzog, die Fundamentalpolitisierung mit Massenparteien, Verbänden, Wahlkämpfen und Großstreiks, der Aufbau des Interventions- und Wohlfahrtsstaates, die Entstehung einer modernen Industriegesellschaft, der Durchbruch der Moderne in Literatur, Musik und Kunst sowie der Massenkultur (Kino, Sport etc.).
Verdichtungsraum
Nationaler Orientierungspunkt
Fragen der Historiker
1
I.
Einleitung Gesamtdarstellungen als Schlüssel
Die Ergebnisse dieser auf ein doppeltes Ziel gerichteten Forschungsanstrengungen werden hier einleitend skizziert. Dies geschieht anhand einer Durchsicht von Gesamtdarstellungen. Sie fangen das aus Forschung und Debatte erwachsende Wissen immer wieder ein. Sie ziehen in ihrer meist einleitend präsentierten Programmatik, in ihren Gliederungen und in ihren zentralen inhaltlichen Aussagen die Summe dessen, was in einer Epoche für wissbar und wissenswert gehalten wurde. Nur wenige beispielhafte Überblickswerke können dabei behandelt werden. Wie immer in diesem Buch muss es entschuldigend heißen: Es gäbe viel mehr davon. Aber wir müssen uns – reflektiert und kontrolliert – entscheiden.
1. Kaiserreichgeschichte vor dem Kaiserreich Zukunftsweisende Geschichte
Johann Gustav Droysen
2
Die Geschichtsschreibung zum Kaiserreich begann bereits vor seiner Gründung. Sie begann als Befragung der Historie nach Entwicklungslinien, die den Weg in eine zu schaffende nationalstaatliche Zukunft weisen konnten. Die antinapoleonischen Befreiungskriege 1813–15 hatten zwar zu einer Welle nationaler Literatur geführt. Mit dem unter Metternichs Führung zunehmend repressiven Deutschen Bund brachten sie aber keine befriedigende politische Lösung des nationalen Problems. Die Revolution von 1848 war bei vielen Erfolgen im Einzelnen im Hinblick auf die nationalstaatliche Einigung der Deutschen erfolglos geblieben. Der reaktivierte Deutsche Bund reagierte in den 1850er-Jahren mit harter Verfolgung auf alles, was nach einer Neuauflage von 1848 aussah. Doch gleichzeitig war die „Gesellschaft im Aufbruch“ (56) begriffen. Die Industrialisierung setzte mit Macht ein. Die sozialen Strukturen verflüssigten sich. Der Wirtschaftsliberalismus dominierte. Seit Ende der 1850er-Jahre reagierte die Politik in den Einzelstaaten mit vorsichtiger politischer Liberalisierung. Doch die nationale Frage blieb offen, und sie schien im Rahmen des gegen die Zeit wieder belebten Deutschen Bundes unlösbar. Weil gleichzeitig die Verwissenschaftlichung der Historie vorankam und der Geschichte in einer vom linearen Fortschrittsdenken geprägten Gesellschaft eine orientierende Kraft beigemessen wurde – viele Historiker hatten in den Parlamenten der Revolutionszeit gesessen und betätigten sich auch danach politisch –, entstanden Werke, die im Mantel der Geschichte nationalstaatliche Zukünfte entwarfen. Besonders einflussreich war Johann Gustav Droysen (12). Er konzipierte sein Hauptwerk „Geschichte der preußischen Politik“ als „reflektierende Vergegenwärtigung der Vergangenheit zum Zwecke der Orientierung für Gegenwart und Zukunft“ (22, S. 107). In einer Mischung aus historischer Analyse, liberaler politischer Orientierung und Hoffnung auf die Reichseinigung durch Preußen versuchte er zu zeigen, dass nationale Einheit und Zugewinn an Freiheit „nur vom preußischen Staat verwirklicht werden konnten und dass die preußische Politik immer schon, bewusst oder unbewusst, der Schrittmacher zu diesem geschichtlichen Fortschritt gewesen sei.“ (22, S. 114) Hierfür ist das Schlagwort „Borussianismus“ geprägt worden, das die Nutzung historisch-wissenschaftlicher Arbeit zum politischen
Kaiserreichgeschichte vor dem Kaiserreich
I.
Zweck der Legitimierung preußischer Macht- und Deutschlandpolitik meint.
2. Kaiserreichgeschichte im Kaiserreich Droysens auf Zukunft gerichtete Historie war bedeutsam, aber nicht alternativlos (34). Vor der Reichsgründung hat es wichtige großdeutsche, katholische und auf einzelne Regionen gerichtete Geschichtsschreibungen gegeben. Sie traten dann in den Hintergrund. Die von Preußen ausgehende, von Bismarck mittels dreier Kriege (dänischer Krieg 1864, preußisch-österreichischer Krieg 1866, deutsch-französischer Krieg 1870/71) durchgesetzte kleindeutsche Reichsgründung schien sie zu falsifizieren und den Borussianismus zu beglaubigen. Bismarck war auf dem Höhepunkt des preußischen Verfassungskonfliktes 1862 Regierungschef in Preußen geworden. Die Liberalen, zu denen neben Droysen die allermeisten Historiker zählten, hatten seine Ernennung zunächst als verzweifelten Versuch der preußischen Krone betrachtet, die unausweichliche Niederlage gegen den Liberalismus doch noch abzuwenden. Nach dem Intermezzo Bismarck, so glaubten sie, komme ihre Zeit. Bismarcks erste Amtshandlungen verfolgten sie dementsprechend mit einer Mischung aus Amüsement und Entsetzen. Mit den Jahren und mit den unwahrscheinlichen außenpolitischen Erfolgen setzte sich bei immer mehr Liberalen die Überzeugung durch, dass es besser sei, mit Bismarck die nationalstaatliche Zukunft zu organisieren als auf sein Ende zu warten. Bismarck seinerseits näherte sich den Liberalen an. Die Reichsgründung und die innere Vereinheitlichung des Reiches verdankten sich so der spannungsreichen Zusammenarbeit zwischen Krone, Kanzler und großen Teilen des Liberalismus, während Konservative, Linke und auch die im Zentrum zusammengeschlossenen Katholiken mehr oder weniger abseits standen. Das kam auch in der Geschichtsschreibung zum Ausdruck. Der Basler Historiker Jacob Burckhardt hatte schon 1871 befürchtet, dass nun „die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870 bis 71 orientiert sein wird“ (zit. n. 72, Bd. 1, S. 264). In der Tat entstanden in den 1870er und 1880er-Jahren Gesamtdarstellungen, in denen die deutsche Geschichte als preußisch-deutsche erschien, die auf die Bismarcksche Reichseinigung unter Abtrennung Österreichs zulief. Droysens zukunftsorientierte Vergangenheitsanalyse schrieben Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke, Repräsentanten einer nun meinungsführenden Historikergeneration, zur Herleitung und Legitimation der kleindeutsch-preußischen Gegenwart um. Dabei veränderte sich der Gehalt des Borussianismus. Die nun hegemonialen national-liberalen Historiker ließen sich faszinieren von der neuen Macht des deutschen Nationalstaates und von der strukturbrechenden Gewalt des großen Individuums (Bismarck). Die liberaldemokratischen Hoffnungen traten in den Hintergrund. Heinrich von Sybel legte eine mehrbändige „Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“ vor, die „vornehmlich nach den preußischen
Nach der Reichsgründung
Heinrich von Treitschke
Heinrich von Sybel
3
I.
Einleitung
Wilhelminische Zeit
„Ideen von 1914“
4
Staatsacten“ gearbeitet war (59). Einleitend präsentierte er darin den deutschen Dualismus zwischen Preußen und Österreich, der in den Krieg von 1866 geführt hatte, als einen „unvermeidlichen Conflict alter durch Jahrhunderte herangewachsener Rechte [d. i. Österreich] mit den immer stärker drängenden nationalen Bedürfnissen [d. i. Preußen]. Der hierdurch erzeugte Krankheitszustand wurde zuletzt unerträglich, und nur eine heftige Krisis [d. i. Krieg von 1866] konnte die dauernde Genesung [d. i. kleindeutscher Nationalstaat] herbeiführen. Zum Heile Deutschlands ist diese Genesung erreicht worden.“ (59, Bd. 1, S. XIII–XIV) Die Entgegensetzung von Recht und Bedürfnis im ersten Teil des Zitats zeigt an, dass Sybel sich des Gewaltsamen, des Illegitimen der preußisch-deutschen Reichsgründung durchaus bewusst war. Indem die Erkenntnis aber in eine medizinische Metaphorik verpackt wurde, erhielt sie den Anstrich des Natürlichen und Notwendigen. Gesamtdarstellungen, die wie Sybels während der ersten beiden Jahrzehnte des Kaiserreiches geschrieben wurden, thematisierten die Reichsgründung als Glücksmoment. Sie erschien als Gipfel und Ende des deutschen 19. Jahrhunderts. Um die Jahrhundertwende änderte sich der Grundton. Die Zukunft rückte wieder mehr in den Mittelpunkt. Einerseits wurde die Gefährdung des Reiches in der weltpolitischen Situation betont. Andererseits wirkte nun die Reichsgründung als Verpflichtung zum offensiven politischen Handeln auch nach dem Ausscheiden Bismarcks aus dem Amt des Reichskanzlers. In beidem spiegelte sich die Wilhelminische Epoche (1890–1914) mit ihrer wirtschaftlichen Blüte, ihren kulturellen Aufbrüchen und ihrer vielstimmigen, insgesamt aber den Herausforderungen nicht gewachsenen Innen- und Außenpolitik. Keine andere Nation Europas, schrieb Dietrich Schäfer 1912, „ist so auf die Anspannung aller Kräfte angewiesen, keine historisch und geographisch so belastet wie wir.“ (54, Bd. 1, S. 8) Seine Deutsche Geschichte wollte „denen, die das Bedürfnis haben, sich klar zu werden über Daseinsbedingungen und Lebensaufgaben des bestehenden Deutschen Reiches, die geschichtliche Unterlage liefern, ihr Urteil beeinflussen … durch Vermittlung näheren Verständnisses für die Art des Gewordenen und die Voraussetzung seines weiteren Bestehens. Wer das Geschichtsschreibung mit politischer Tendenz nennen möchte, dem kann der Verfasser nur antworten, dass er sich zu solcher Tendenz bekennt. Sie hat aber keinen anderen Ausgangs- und Richtpunkt als Liebe zum Vaterlande und Glauben an seiner Zukunft.“ (54, Bd. 1, S. 12) Zukunftsverbunden und gefahrenbewusst argumentierte auch Erich Brandenburg. Seine 1914 im Manuskript abgeschlossene und 1916 erschienene „Reichsgründung“ wies ebenfalls „auf die Gefahren unserer geopolitischen Lage und des Volkscharakters“ hin. Anders als Schäfer riet Brandenburg aber zur Bescheidenheit im Kriege: „Das kleinere Deutschland muss bleiben, was es 1871 geworden ist, wenn wir nicht die Kämpfe und Irrungen noch einmal heraufbeschwören wollen, die unserer Väter durchgemacht haben und von denen dieses Buch erzählt.“ (4, Bd. 1, S. VII u. IX) Der Erste Weltkrieg veränderte die Situation grundlegend. Während des Krieges war in der deutschen Propaganda, an der sich zahlreiche Historiker aktiv beteiligten, viel von den „Ideen von 1914“ die Rede (6). Unter
Kaiserreichgeschichte nach Kriegsniederlage und Revolution
I.
diesem Stichwort wurde eine Summe der Charakteristika gezogen, mittels deren sich das Reich von den kapitalistischen Demokratien des Westens wie der autokratischen Zarenherrschaft im Osten vorteilhaft unterscheide. Ähnliche Argumentationsmuster gab es auf alliierter Seite, allerdings mit entgegengesetzter Wertung. In England und Frankreich wurde das Bild eines Wirtschafts- und Militärgiganten gezeichnet, der wegen seines Volkscharakters, seines unfähigen Führungspersonals und wegen seines antiquierten politischen Systems eine ständige Gefahr für seine Nachbarn darstelle. Zu den besten Produkten dieser Art gehörte eine Kaiserreichdarstellung von Thorstein Veblen. Seiner Ansicht nach hatte das Kaiserreich keine Zukunft, weil wirtschaftliche Modernisierung und politische Rückständigkeit in immer stärkerer Spannung zueinander standen (65). Der auf deutscher wie alliierter Seite diagnostizierte deutsche Sonderweg im Vergleich zum Westen wie zum Osten hat in der Debatte um das Kaiserreich – positiv oder negativ gewendet – seither eine herausragende Rolle gespielt.
3. Kaiserreichgeschichte nach Kriegsniederlage und Revolution Die Debatte wurde eine im eigentlichen Sinne historische, als Kriegsniederlage, Revolution und Gründung der Weimarer Republik das Kaiserreich zu einer abgeschlossenen Epoche machten. Sie kam nicht mehr – wie bei Sybel und Treitschke – von ihrem Anfang her in den Blick. Auch ging es nicht mehr – wie bei Schäfer und Brandenburg – um aktuelle Gefährdung und zukünftige Aufgaben des Reiches. Gefragt wurde vielmehr vom Ende her. Wie hatte es zu Weltkrieg und Zusammenbruch kommen können? Wer trug die Verantwortung? Wie war das republikanische Gemeinwesen der Gegenwart im Vergleich zum untergegangenen Reich zu bewerten? Die Gesamtdarstellungen der 1920er-Jahre bewegten sich zwischen den Polen einer kritischen Distanzierung vom Kaiserreich, die häufig mit Hinnahme bzw. Befürwortung der Weimarer Republik zusammenhing, und bedingungsloser Verteidigung des Kaiserreiches, von dem sich dann die aus einer Revolution hervorgegangene Weimarer Republik schwächlich und verachtenswert abhob (16; 49). Personifizieren lassen sich die Pole, zwischen denen es viele vermittelnde Positionen gab, durch die Historiker Johannes Ziekursch und Adalbert Wahl. Ziekursch begann seine dreibändige „Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches“ mit einem weiten geistesgeschichtlichen Rückgriff. Er sollte zeigen, dass die Ideen der Aufklärung mit ihren Kindern Liberalismus und Sozialismus das 19. und frühe 20. Jahrhundert beherrscht hatten. „Dem Geist der Zeit entgegen wurde die stolze Burg des neuen deutschen Kaiserreichs erbaut“, fuhr er fort, und brachte damit im protestantischen Leserkreis das lutherische Kirchenlied „Eine stolze Burg ist unser Gott“ zum Schwingen. Doch diese trotzige Tat Bismarcks habe das tragische Schicksal des Reiches bereits besiegelt. Politische Gegner kann man besiegen, die Zeit nicht. „An den unausgeglichenen Widersprüchen zwischen dem alten Preußen und dem neuen Deutschland, den unerfüllbaren Aufgaben, die dem Herrscher die Verfassung stellte, und der Leistungs-
Weimarer Republik
Johannes Ziekursch
5
I.
Einleitung
Kaiserreich als Bollwerk gegen die Zeit
Reaktionen der Historiker
Adalbert Wahl
6
fähigkeit der Dynastie, zwischen der bevormundenden Verfassung und dem die Welt erfüllenden demokratischen Zeitgeist ist Bismarcks Reich, nur ein halbes Jahrhundert nach seiner Begründung, durch Blut und Eisen, dem es seinen Ursprung verdankte, in einem Heldenkampfe sondergleichen wieder zugrunde gegangen. Bismarcks Werk lehrt, was der politische Genius im Widerspruch mit seiner Zeit zu leisten vermag, aber auch, wie die Zeit den Stärksten überwindet.“ (73, Bd. 1, S. 3 u. 4) Eines der drei Bücher Ziekurschs befasste sich ausschließlich mit der Reichsgründung, damit die Tradition der Sybel und Treitschke noch einmal anrufend, das Kaiserreich vom Anfang her zu sehen. Doch indem er das Kaiserreich nicht mehr als Erfüllung der Zeit, sondern umgekehrt als Bollwerk gegen die Zeit beschrieb, baute er vom Anfang an eine Unheilsgeschichte, die Ziel und Zweck durch die Erklärung von Kriegsniederlage und Revolution erhielt. Nach Ziekursch hatte es wenige Möglichkeiten gegeben, die Katastrophe zu vermeiden. An einem der Krisenpunkte nach 1871 hätte das Ruder entschlossen herumgerissen werden müssen. So habe sich der junge Wilhelm II. durchaus im Recht befunden, als er Bismarck 1890 entließ. Aber er habe versäumt, „einen Bruch mit Bismarcks Staatsform“ zu vollziehen. Hätte er sein Schicksal mit dem des demokratischen Liberalismus verbunden, um Deutschland in Einklang mit dem Geist der Zeit zu bringen, hätte das Reich noch Bestand haben können. Doch „den Reichsgründer jetzt durch einen regelmäßige und anhaltende Arbeit scheuenden Vertreter des mystischen Glaubens an das Gottesgnadentum der Herrscher zu ersetzen, musste Deutschland zum Verhängnis ausschlagen.“ (73, Bd. 2, S. 447) Ziekurschs Darstellung ist innerhalb der deutschen Historikerschaft auf wenig Gegenliebe gestoßen. Zu sehr widersprach sie den Vorstellungen einer akademischen Deutungselite, die größtenteils im Kaiserreich aufgewachsen war und dort Karriere gemacht hatte. Zwar räumte deren Mehrheit Unzulänglichkeiten Wilhelms II. ein. Aber erstens wurde dagegen Bismarck als positiver Gegenpart aufgebaut, was mit Ziekurschs Thesen unvereinbar war. Und zweitens hoffte Ziekursch, wie er am Ende des dritten Bandes – ironischerweise mittels eines Bismarck-Zitates – andeutete, auf einen neuen deutschen Aufstieg auf der Basis der Republik. In diesem Glauben wolle er die nachfolgende Generation erziehen (73, Bd. 3, S. 443). Ein solches Bekenntnis zur Weimarer Demokratie mochten die allermeisten deutschen Historiker Ende der 1920er-Jahre nicht ablegen. Auf dem rechten Flügel exponierte sich seit 1926 Adalbert Wahl mit einer eigenen Gesamtdarstellung. Auch er begann mit einer geistesgeschichtlichen Einführung und stellte fest, dass das Kaiserreich dem seit der Französischen Revolution zur Herrschaft gekommenen liberalen und demokratischen Geist entgegenstand. Aber er hielt diesen Geist für eine Abirrung vom langfristigen menschlichen Entwicklungspfad und sah es daher als einen Ruhmestitel Preußen-Deutschlands im Allgemeinen und Bismarcks im Besonderen an, dass sie sich dieser Entwicklung entgegengestemmt hätten. Das Reich habe für nationale Eigenart und die Aufrechterhaltung ständischer Unterschiede, für konstitutionelle Verfassung und germanischen Föderalismus, für den Schutz der Arbeit und des Staates, für die Kräfte des Überlieferten, des Glaubens und des Gemüts gekämpft. Im
Kaiserreichgeschichte nach Kriegsniederlage und Revolution Reich sei zweifellos „ein Höhepunkt der Menschheitsgeschichte überhaupt zu sehen“ (66, Bd. 1, S. IX u. XI–XII). Weimar war Abstieg. Während Ziekursch als Bezugspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Reiches heute noch verwendet wird, ist Adalbert Wahl vergessen. Bereits während der 1920er-Jahre hatten seine grundsätzliche Verachtung für Demokratie und Liberalismus und seine unbedingte Hochschätzung des Kaiserreichs ihm die Kritik moderaterer Berufskollegen eingetragen. Heute hat sein Werk weniger wissenschaftlichen als wissenschaftsgeschichtlichen Wert. Weil die „Deutsche Geschichte“ erst 1936 vollendet wurde, als sich der Nationalsozialismus bereits etabliert hatte, zeigt es eine der Brücken an, über die vor allem national und konservativ gesonnene Historiker den Weg zur nationalsozialistischen Politik fanden. Die Machtergreifung wurde – vor allem in nationalprotestantischen Kreisen nicht ungewöhnlich – als Abkehr von der verhassten Demokratie begrüßt und als Rückkehr zum autoritären Machtstaat vor dem Ersten Weltkrieg begriffen. Die aggressive Außenpolitik galt als notwendig zur längst fälligen Revision des Versailler Vertrages. Dass der Nationalsozialismus etwas grundsätzlich anderes war als ein wiederbelebtes Kaiserreich, dämmerte vielen Historikern spät, zu spät. Manche merkten es gar nicht. Andere, vor allem Jüngere, unterstützten die nationalsozialistische Politik, eben weil sie keine Rückkehr zu der verknöcherten Welt des 19. Jahrhunderts wollten. Untergründig spielte sich in der Debatte um das Kaiserreich während der 1930er und frühen 1940er-Jahre ein Generationenkonflikt unter Historikern ab. Dabei ging es wie ein halbes Jahrhundert zuvor um die Anfangsphase und um das Verhältnis von Kaiserreich und Nation. Das Reich von 1871 war ein kleindeutsches gewesen. Die Österreicher waren durch den Krieg von 1866 ausgeschlossen worden, von den deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa nicht zu reden. Wie ließ sich das mit dem Volkstumsgedanken vereinen, den die nationalsozialistische Propaganda von Anfang an hervorkehrte und der vor allem in außenpolitischen Krisen („Anschluss“ Österreichs, Sudentenkrise, Eroberung der Tschechoslowakei, Polen) eine immer größere Rolle spielte? Junge NS-Historiker kritisierten die Bismarcksche Reichsgründung als unvollendet und volkstumsfeindlich. Ältere, nationalkonservative Historiker, denen der Nationalsozialismus zunehmend fremd wurde, hoben dagegen den Realismus Bismarcks und seine Kunst der Beschränkung hervor. Linke und republikfreundliche Historiker, die schon während der 1920er-Jahre in der Minderheit gewesen waren, konnten sich seit 1933 nicht mehr frei äußern. Sie waren im Exil, hörten auf zu publizieren oder passten sich an. Zwischen den beiden verbliebenen Lagern schlug Erich Marcks einen Mittelweg ein. „Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807–1871/78“ (40) war das Produkt seiner lebenslangen Beschäftigung mit der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Marcks persönliche Erinnerungen reichten noch bis in die Bismarckzeit zurück. Dennoch ließ er sich bereitwillig auf die NS-Geschichtsschreibung ein und versuchte den Brückenschlag zwischen – wie viele es Mitte der 1930er-Jahre sahen – guter deutscher geschichtswissenschaftlicher Tradition und der Herausforderung durch die moderne NS-Historiographie. Da ist zum einen eine ge-
I. Historiker und das „Dritte Reich“
Erich Marcks
7
I.
Einleitung radezu hymnische Bismarck-Verehrung: „Und die Geschichte der Reichsgründung erweitert sich oder verengt sich seit seinem Eintritte in die Macht fast allein zur Geschichte Bismarcks: dessen, der alles gewollt und alles getan hat, der dann alles verkörperte, die werdende und die erstandene Nation; dessen Staatsmannschaft sich als souveräne Gewalt über alle anderen hob und sich allem Gebilde eingeprägt hat, mit den Kräften, die sie erbte, und denen, die sie entscheidend hinzubrachte.“ (40, Bd. 1, S. XIII–XIV) Und im Schlusswort des zweiten Bandes: „Über der Zeit, nach deren beiden bisher tragenden Kräften, der bürgerlichen und der persönlichen, dieses Schlusswort fragte, schwebt damals, machtvoller noch als je zuvor, wiederum Er.“ (40, Bd. 2, S. 611) Zum anderen aber reagierte Marcks auf die Kritik der jungen NS-Historiker an Bismarck und versuchte sie durch eine Art Stufentheorie abzufangen. Bismarcks und Hitlers Staat seinen „zwei Stufen derselben einheitlichen Nationalentwicklung, jede von ihnen innerhalb der Notwendigkeiten und Möglichkeiten ihres Tages.“ (40, Bd. 1, S. XII) Der NS-Staat verdanke sich letztlich der Bismarckschen Reichsgründung und ruhe auf ihr auf. Sie innerhalb der Möglichkeiten der 1930er-Jahre weiterzuentwickeln sei ihm aufgegeben.
4. Grundsatzdiskussionen nach 1945 Friedrich Meinecke
Gerhard Ritter
8
Die beiden bei Wahl und Marcks zentralen Interpretationsmuster der Kaiserreichdeutung mussten die deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Untergang des NS-Regimes in totaler Zerstörung (Bombenkrieg), totaler militärischer Niederlage (Kapitulation 8. Mai 1945) und totaler geistig-kultureller Delegitimierung (Auschwitz) in eine tiefe Krise führen. Wenn es Stufen deutscher Entwicklung gab, die über Bismarck zu Hitler führten, was bedeutete das jetzt für die Bismarck- und die Kaiserreich-Deutung? Und wie sollte der angeblich so hoch zu schätzende deutsche Sonderweg zwischen westlicher Demokratie und östlicher Autokratie nun gewertet werden, nachdem er in die Katastrophe geführt hatte? In den Jahren nach 1945 arbeiteten die berühmtesten deutschen Historiker daran, die deutsche Geschichte – und damit auch das Kaiserreich als Ankerpunkt deutscher Staatlichkeit – neu zu fundieren (55), nachdem die seit Droysen entwickelten Interpretationsgrundlagen verbrannt waren. Zwei besonders einflussreiche waren Gerhard Ritter und Friedrich Meinecke. Während aber Meinecke seinen großen Essay „Die Deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen“ (41) schon aufgrund seines hohen Alters – Meinecke war 1945 bereits 83 Jahre alt – nicht mehr in eine monographische Arbeit hat umsetzen können, standen Ritters Äußerungen direkt nach Kriegsende im Zusammenhang mit einer großen Gesamtsicht auf das Kaiserreich und die deutsche Geschichte der Neuzeit insgesamt. Der nationale und konservative Historiker Gerhard Ritter hatte während der Kriegsjahre Kontakte zu Widerstandskreisen unterhalten und war nach 1945 für eineinhalb Jahrzehnte eine der Führungsfiguren unter den deutschen Historikern. Er hatte seit 1941 an einer Darstellung über „Staatskunst und Kriegshandwerk“ gearbeitet, ausgehend von der Frage, „ob und wie
Grundsatzdiskussionen nach 1945 sich die Dämonie einer hemmungslos entfesselten Kriegstechnik bändigen lasse durch echte Staatsvernunft.“ Der erste Band entstand noch in der Kriegszeit „unter dem Erlebnis einer Kriegsfurie, die das Deutschland meiner Jugend, das Deutschland des Bismarckreiches einschließlich seiner politisch-geistigen Traditionen, nun vollends in Trümmern sinken ließ.“ Daher spitzte sich die allgemeine Frage für den deutschen Fall darauf zu, „wie es geschichtlich gekommen sei, dass unsere Nation zur Gefolgschaft eines so extremen Militaristen werden konnte, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte – eines Dämons, der den guten deutschen Namen zum Schrecken und Abscheu Europas machte.“ (53, Bd. 1, S. 9 u. 11; vgl. 48) Ritter definierte Militarismus als Überwiegen des Militärischen, des Kriegshandwerks, gegenüber dem Politischen, der Staatskunst. Seit den Massenheeren der Französischen Revolution sei die Gefahr eines übersteigerten, das Eigenrecht des Politischen überwuchernden Militarismus virulent. In Deutschland habe Bismarck sie mühsam zurückgestaut, wie sich an seiner Auseinandersetzung mit Generalstabschef Moltke im Krieg 1870/71 zeige. Seinen weniger befähigten Nachfolgern sei dies unter dem Druck des Wettrüstens seit der Jahrhundertwende nicht mehr gelungen. Hitler war letztlich die Konsequenz dieses Versagens. Ritter verstand den Nationalsozialismus als Teil einer unguten Entwicklung, die mit der Französischen Revolution ihren Anfang genommen hatte. Er war nicht Teil des deutschen Sonderwegs. Dessen Heroen, Friedrich II. von Preußen, die preußischen Reformer, Bismarck, standen vielmehr für eine andere, in Ritters Definition nichtmilitaristische Tradition. Die deutschen Politiker nach Bismarck wurden aufgrund ihrer geringeren persönlichen Statur von einer seit Robespierre und Napoleon immer mächtiger werdenden, letztlich undeutschen militaristischen Entwicklung überwältigt. So war bei Ritter erst die zweite Hälfte des Kaiserreichs „die Inkubationszeit des viel berufenen deutschen Militarismus (in seiner spezifisch modernen Form)“. Die Weimarer Republik kam als „eine Art von Epilog … mehr aus den Nachwirkungen der vorhergehenden Epoche als aus der neuen Situation“ in den Blick. Während der nationalsozialistischen Zeit wurde dann der Militarismus seitens der politischen Führung ins Extrem getrieben. Am Ende stand die, wie Ritter mit Blick auf das Attentat vom 20. Juli 1944 schrieb, „historisch ganz neue, ja einzigartige Situation, dass es die Soldaten sind, die sich gegen den blinden Militarismus der zivilen Staatsführung zu wehren haben.“ (53, Bd. 2, S. 6–7) Ritters insgesamt vierbändiges Werk beruhte, anders als viele Gesamtdarstellungen vorher und nachher, auf genauer und erstaunlich vielfältiger Quellenkenntnis. Seine mit dem Militarismusthema verknüpfte Kaiserreichinterpretation aber ist weithin abgelehnt worden. Erstens bekam der auf den Kampf militärischer und politischer Gewalten über die Führung der Außen- und Kriegspolitik konzentrierte Militarismusbegriff die Gesellschaft nicht richtig in den Blick, deren Militarisierung aber doch gerade ein Kennzeichen des Kaiserreichs war. Zweitens überzeugte der Versuch, die deutschen Traditionen gegen den Nationalsozialismus in Stellung zu bringen, eine nachwachsende Historikergeneration nicht mehr, die im gesellschaftlichen Aufbruchklima der 1960er-Jahre die Frage nach den längerfristigen Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus neu stellte.
I.
Militarismus
Nationalsozialismus und die deutsche Geschichte
Reaktionen von Historikern
9
I.
Einleitung Deutlich wurde diese Wachablösung in der Fischer-Kontroverse, der in diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Ihren Niederschlag fand sie 1973 in der Gesamtdarstellung von Hans-Ulrich Wehler: „Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918“ (67).
5. Der Aufbruch der 1970er-Jahre Hans-Ulrich Wehler
Neue Kaiserreichdeutung
Anschließende Debatten
10
„Wehlers Kaiserreich“ – bald als stehender Begriff bekannt, was den hohen Bekanntheitsgrad wie die deutlich empfundene persönliche Note der Interpretation ausweist – präsentierte sich als Produkt eines Neuanfangs. Einleitend war viel von „den Darstellungs- und Interpretationskonventionen der deutschen Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert“ (67, S. 11) die Rede, die überwunden werden müssten. Die moderne deutsche Geschichtswissenschaft, so die Botschaft, beginne erst jetzt. Wehler hatte in den USA studiert. Er hatte mit Historikern wie Hans Rosenberg zusammengearbeitet, die die NS-Zeit in den USA überlebt hatten und nun mit ihrer Mischung aus deutschen und amerikanischen Historikerschulen das intellektuelle Klima in Deutschland belebten. 1931 geboren, hatte seine Universitätslaufbahn weit nach 1945 begonnen, als sich die von Ritter bereits ihrem Ende zuneigte. Sein wichtigster akademischer Lehrer war Theodor Schieder, der erstens durch eigene Arbeiten die deutsche Geschichtswissenschaft vorantrieb, zweitens innerhalb der deutschen Historikerschaft eine wichtige Integrations- und Führungsfigur zwischen den Generationen und Schulen darstellte und drittens als Anreger und Betreuer der wohl wichtigste Mentor für die Historikergeneration war, die seit den späten 1960er-Jahren meinungsführend wurde. Wehlers Kaiserreichdeutung war in dreierlei Hinsicht bedeutsam: als Wiederaufnahme teils verschütteter, teils versandeter Traditionen, als Zusammenfassung des neuen Diskussionsstandes seit den 1960er-Jahren und als Thesenbuch, an dem sich die Forschung der nächsten Jahre abarbeitete. Wehler begann seine Schlusszusammenfassung mit einem Ziekursch-Zitat und erinnerte damit an die kritische Kaiserreich-Interpretation der Weimarer Zeit. Er berief sich bei seiner Deutung von Innen- und Außenpolitik der späten Bismarck-Jahre und der wilhelminischen Zeit auf Eckart Kehr (32), einen im Exil 1933 früh verstorbenen linken Historiker, der die Außenpolitik als Funktion der Innenpolitik gedeutet und auf die Verbindung von Wirtschaft, Militär und Politik im späten Kaiserreich hingewiesen hatte. Wehler nahm außerdem die Sonderwegsthese wieder auf, die Ritter zu beerdigen gehofft hatte, und wendete sie ins Negative. Er stellte „die Frage nach den eigentümlichen Belastungen der deutschen Geschichte“ (67, S. 11) in den Mittelpunkt seiner Darstellung, weil sich anders „der Weg in die Katastrophe des deutschen Faschismus nicht erhellen“ lasse (67, S. 12). Damit wurde wieder entdeckt und fruchtbar gemacht, was infolge des nationalliberalen bis konservativen Mainstream in der deutschen Geschichtswissenschaft lange nicht zum Zuge gekommen war. Darüber hinaus erntete das Buch erste Früchte der seit der Fischer-Kontroverse aufgeregten Diskussion. Es importierte Theorien aus den Sozial-
Der Aufbruch der 1970er-Jahre wissenschaften, um zu einer „problemorientierten historischen Strukturanalyse der deutschen Gesellschaft und ihrer Politik“ (67, S. 11) zu kommen. Weil es neue Fragen, Theorien und Thesen aber selektiv zusammenfasste und für eine pointierte Gesamtdeutung nutzte, regte es schließlich neue Forschungen an. Begriffe wie Modernisierung und Modernisierungstheorie (70; 64), Imperialismus und Sozialimperialismus (45; 46; 189), Organisierter Kapitalismus (71), Bonapartismus (20), „Primat der Innenpolitik“, „Deutscher Sonderweg“ (8; 19) spielten in der Kaiserreichforschung der 1970er und frühen 1980er-Jahre eine entscheidende Rolle. In zahlreichen Einzelstudien wurde das Verhältnis von Staat und Politik zur Wirtschaft, zur Kultur, zu den sozialen Schichten bzw. Klassen, zu den sozialen Verhältnissen untersucht. Damit wurde die traditionelle Konzentration der deutschen Geschichtswissenschaft auf Staat und Politik aufgebrochen. Überwunden wurde sie noch nicht, weil zwar die Beziehung zwischen Staat/Politik und anderen Lebensbereichen zum Thema wurde, noch nicht aber die Eigendynamik dieser Lebensbereiche selbst. Viele Thesen Wehlers wurden im Zuge dieser intensiven Forschungsanstrengungen modifiziert oder gar falsifiziert. Im Rückblick liegt ihr großer Wert darin, für mehr als ein Jahrzehnt die Wege der Forschung bestimmt zu haben. In den 1980er und frühen 1990er-Jahren wurden die Ergebnisse des geschichtswissenschaftlichen Aufbruchs, der mit der Fischer-Kontroverse und Wehlers Kaiserreich verbunden wird, in neuen Gesamtdarstellungen zusammengefasst. Die Autoren Michael Stürmer (*1938), Wolfgang J. Mommsen (*1930), Thomas Nipperdey (*1927, † 1991) und Hans-Ulrich Wehler (*1931) hatten sämtlich nach 1945 ihre akademische Laufbahn begonnen. Am Aufbruch seit den 1960er-Jahren hatten sie alle durch Forschung und Publikationen ihren Anteil, wenngleich sie politisch unterschiedlich orientiert waren. Sie zogen nun ihre Summe. Der Erste war Michael Stürmer. Er präsentierte „das ruhelose Reich“ (58) zunächst strukturgeschichtlich in seinen gesellschafts-, sozial-, wirtschaftsund kulturgeschichtlichen Umbrüchen, bevor er ereignisgeschichtlich den Gang der Innen- und Außenpolitik verfolgte. Drei zentrale Themen schlug er an: die Dynamisierung der gesellschaftlichen Strukturen, die Veränderung der Politik durch den Einfluss der Vielen, die geopolitisch enorm schwierige europäische Mittellage des Reiches. Das Kaiserreich sei die Epoche, „da Industrialisierung, Säkularisierung und Nationalismus in einen Weg ohne Wiederkehr führten, Machtstaat und Massenkonsens einander bedingten und die Geographie Europas dem Deutschen Reich eine Schlüsselrolle zuwies, die weder durch Hegemonie aufzulösen noch durch Gleichgewicht ruhig zu stellen war.“ (58, S. 10) Angesichts der Verkettung gemeineuropäischer Modernisierungsprobleme mit spezifisch deutschen innen- und außenpolitischen Vorbedingungen kam Stürmer zu dem Schluss, dass die Katastrophe des Weltkrieges letztlich wohl unabwendbar gewesen sei: „Der Weg Europas bleibt eine Tragödie zu nennen. Denn dieselben Kräfte von Wagemut und Wettkampf, von Opfer und Begeisterung, von Selbstdisziplin und Sozialorganisation, die Europa im Verlauf der Neuzeit groß gemacht hatten, trieben auch zu seiner Zerstörung. Nicht Zufall war dies und nicht Anachronismus. Die Späterlebenden möchten sich den Glauben erhalten, Hybris und Zerstörung seien vermeidbar gewesen, und
I.
Neuere Gesamtdarstellungen
Michael Stürmer
11
I.
Einleitung
Wolfgang J. Mommsen
Wehler und Nipperdey
12
vieles hätte auch anders kommen können. Der Weltkrieg, gewiss, er war nicht zwangsläufig, wohl aber jene europäischen Mächtekonflikte, aus denen er entstand, und die moderne Machtstaatsidee, die ihn rechtfertigte. Zuletzt spricht vieles dafür, dass ‘Ausgleichung’ nicht denkbar war“ (58, S. 409). Die Zitate belegen nicht nur die wichtigsten Thesen. Sie sind auch Beispiele für die metaphernreiche, teils suggestive Sprache Stürmers. Er ist ein Meister der Anschaulichkeit, der Impression, des Details. Er zieht den Leser in seinen Bann, überspielt damit aber auch manche inhaltliche Unschärfen. Nicht alle Begriffe, nicht alle Begründungszusammenhänge sind klar. Das Buch hat einen breiten Leserkreis gefunden. In der Forschung ist es weniger folgenreich geblieben als die drei folgenden Gesamtdarstellungen. Wolfgang J. Mommsen schrieb einige Jahre nach Stürmer eine Politikgeschichte des Kaiserreichs, die darüber hinaus vor allem die Interdependenzen zwischen Politik und sozialen Verhältnissen (politische Sozialgeschichte) und die zwischen Politik und Kultur (politische Kulturgeschichte) in den Blick nahm (43, 42). Mommsen verwarf das außenpolitische Zentralargument Stürmers von der geopolitischen Mittellage. Er stellte stattdessen die Spannung zwischen modernen und traditionalen Elementen im politischen System des Kaiserreichs in den Mittelpunkt, damit die Sonderwegsthese und die These vom Primat der Innenpolitik vorsichtig und ganz abgeschwächt fortschreibend: Das Problem des Kaiserreichs war, „dass hier ein ungeklärtes Mischungsverhältnis von konservativen und progressiven, von autoritären und demokratischen Elementen eine schrittweise Anpassung der Verfassungsordnung an die Erfordernisse des 20. Jahrhunderts erschwerte. Während das Kaiserreich im gesellschaftlichen Bereich, insbesondere mit dem Aufbau eines dynamischen industriellen Systems, den Schritt in die Moderne vollzog, blieben das politische System und die von diesem definierten gesellschaftlichen Statushierarchien weit dahinter zurück. Es ist die Spannung zwischen diesen beiden Bereichen, die den Gang der deutschen Politik maßgeblich bestimmt hat.“ (43, S. 26) Das Kaiserreich erschien so gleichzeitig als Frühgeschichte der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Moderne, die nach Mommsen auch das späte 20. Jahrhundert noch prägte, wie als Ausgangspunkt für die Entwicklungen, die in die Katastrophen der beiden Weltkriege führten. Während Mommsen und Stürmer dezidiert Kaiserreichgeschichte schrieben, war der erste deutsche Nationalstaat für die beiden übrigen Autoren Teil einer jeweils mehrbändigen Gesamtdarstellung, die das lange 19. Jahrhundert (Nipperdey) bzw. die deutsche Gesellschaftsgeschichte der letzten dreihundert Jahre (Wehler) umfassten. Wehler hatte 1987 die ersten beiden Bände seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ (68) publiziert, die in insgesamt fünf Bänden die Zeit nach 1700 behandeln sollen. Gesellschaftsgeschichte bedeutete, dass Wehler das Ganze der deutschen Gesellschaft im Auge hatte, und es entlang von vier „Achsen“ zu erfassen trachtete: „Wirtschaft, Sozialhierarchie, Herrschaft und Kultur“ (68, Bd. 1, S. 13). Das war ein Mammutunternehmen, und alle Rezensenten haben die Fähigkeit bewundert, in so verschiedenen Gebieten – am wenigsten vielleicht in der Kultur – bewandert zu sein. Die schwierigste Aufgabe war, die Interdependenzen zwischen den Achsen in den Blick zu bekommen, entlang
Der Aufbruch der 1970er-Jahre derer nacheinander über Geschichte analysierend berichtet wurde. Das starre Gliederungskorsett wirkte manchmal wie eine Barriere. Der dritte und hier einschlägige Band der Gesellschaftsgeschichte erschien 1995. Auf 1515 Seiten ging es um die Jahre 1849–1914. Wehler zog eine durchaus selbstkritische Bilanz der Debatten, die seit seinem „Kaiserreich“ entbrannt und ausgefochten worden waren. Er verabschiedete sich von einigen Zentralbegriffen der 1970er-Jahre wie „Bonapartismus“ und „Primat der Innenpolitik“. Den deutschen Sonderweg setzte Wehler in distanzierende Anführungszeichen. Die Frage nach den Ursachen des Nationalsozialismus müsse eine der Leitperspektiven der Kaiserreichforschung bleiben. Thematisiert wurde die Mischung aus „gemeineuropäischen Charakteristika und spezifischen Sonderbedingungen des deutschen Weges in die Moderne“ (68, Bd. 3, S. 1251). Für die Erklärung der Kaiserreichgeschichte blieb das Phänomen Bismarck zentral. Wehler versuchte es mit dem bei Max Weber entliehenen Theorem der charismatischen Herrschaft in den Griff zu bekommen. Am Ende des Bandes stand eine These, die bei aller Abschwächung im Einzelnen den Kern der Interpretation des Kaiserreichs im Rahmen einer kritischen politischen Sozialgeschichte stehen ließ: „Ausschlaggebend für den deutschen ‘Sonderweg’ war aber letztlich das politische Herrschaftssystem und die es tragende soziale Kräftekonstellation. Sie haben zusammen jene verhängnisvollen Belastungen geschaffen, welche die Deformationen der deutschen Geschichte bis 1945 ermöglicht haben.“ (68, Bd. 3, S. 1295) Nipperdeys Darstellung war die liberalkonservative Alternativdeutung zum sozialliberalen Unternehmen Wehlers. Wo Wehler analysierend zergliederte, erzählte Nipperdey. Auch seine Geschichte des Kaiserreichs – mehr als 1800 Seiten in zwei Bänden – sollte „die Totalität der Lebensweisen umgreifen …, die vielen möglichen Geschichten von Wirtschaft, Verfassung, Klassen und Klassenkampf, Industrialisierung, Alltag und Mentalität und große Kultur übergreif[en]“ (47, Bd. 1, S. 837–838). Doch dies geschah viel weniger systematisch. Charakteristisch die Kapitelanfänge: „Menschen müssen sich ernähren. Sie essen und trinken. Wie sah es damit aus?“ begann eines, „Menschen kleiden sich“ (47, Bd. 1, S. 125 u. S. 132) das nächste. Nipperdey bot im ersten Band ein Panorama von Alltag, Wirtschaft, sozialen Verhältnissen, sozialen Schichten und Klassen, Religion, Bildung, Wissenschaften, Hochkultur und Presse. Mit der Innen und Außenpolitik, dem Thema des zweiten Bandes, war diese breite Erzählung nicht wirklich verknüpft. Eine „Formel oder These, auf die sich alles bringen lässt“, fand er nicht. „Wir stehen vor dem Panorama der vielen Ergebnisse und Teilbereiche.“ (47, Bd. 2, S. 877) Die Betonung der Pluralität bedeutete jedoch nicht die Kapitulation vor der Masse und den Verzicht auf Standortbestimmung. Sie war selbst Programm. Nipperdey teilte zwar viele der methodologischen und inhaltlichen Innovationen der 1960er und 1970er-Jahre: Er sah das Kaiserreich als „aufhaltsame, gebremste und widersprüchliche Modernisierung, als Zwiespalt der Modernität“ (47, Bd. 2, S. 882), er verarbeitete die theoretischen und gegenstandsbezogenen Debatten, an denen er zum Teil selbst beteiligt gewesen war. Doch er kam zu anderen Ergebnissen. Deutlich setzte sich Nipperdey von der Sonderwegsthese ab: „Die Betrachtung der
I. Gesellschaftsgeschichte
Thomas Nipperdey
„Zwiespalt der Modernität“
13
I.
Einleitung
„Grundfarbe der Geschichte ist grau“
Grenzen der Synthesen
14
Kaiserzeit nur als Vorgeschichte von Nationalsozialismus und Hitler [ist] bei allen nun obsolet geworden; auch andere Kontinuitäten knüpfen an jene Zeit an, die von Weimar und die der Bundesrepublik, die der großen sozialen und kulturellen Wandlungen unseres Jahrhunderts überhaupt. In dieser Perspektive zeigt sich auch die europäische Gemeinsamkeit, oder: nicht der deutsche Sonderweg, sondern die deutsche Variation gemeineuropäischer Vorgänge.“ (47, Bd. 1, S. 837) Auch an eine Blockade der politischen Modernisierung mit katastrophalen Folgen mochte Nipperdey nicht glauben: „Die Geschichte des Reiches von 1871 bis 1914 ist eine Geschichte gemeineuropäischer Normalität, gelungener Problemlösungen ebenso wie gescheiterter Reformbestrebungen und gehemmter Modernisierung, gewaltigen Wandels jedenfalls und gewaltiger Gewichtsverschiebungen.“ (47, Bd. 2, S. 891) Hatte sich Wehler Anfang der 1970er-Jahre noch programmatisch von den geschichtswissenschaftlichen Traditionsüberhängen des 19. Jahrhunderts abgesetzt, so beschwor Nipperdey erneut Leopold von Ranke und die Einsicht des Historismus, nach der „jede Zeit ihren eigenen Wert und Sinn hat“ (47, Bd. 1, S. 837). Es gehe „nicht darum, mit den Urgroßeltern vor dem Ersten Weltkrieg kritisch und besserwisserisch zu rechten, sondern darum, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das ist die Tugend des Historikers“ (47, Bd. 2, S. 880). Der zweite Band, nach den Worten Nipperdeys einer schweren und fortschreitenden Krankheit noch abgerungen und erst nach dem Tod des Autors veröffentlicht, schloss mit dem seither berühmten Satz: „Die Grundfarben der Geschichte sind nicht Schwarz und Weiß, ihr Grundmuster nicht der Kontrast eines Schachbretts; die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen.“ (47, Bd. 2, S. 905) Die englische Historiographie des 19. Jahrhunderts und die antike Mythologie schwingen hier mit. Stürmers bilderreiche deutsche Tragödie, Mommsens politische und Kulturgeschichte, Wehlers analytisch-stringente Thesengeschichte, Nipperdeys wohl durchdachtes relativierendes Panorama – es war eine reiche Ernte, die die Protagonisten des geschichtswissenschaftlichen Aufbruchs der späten 1960er und 1970er-Jahre in den 1980er und frühen 1990er-Jahren einfuhren. Mit einigen Jahren Abstand zeigen sich jedoch auch die Grenzen dieser Synthesen. Seit den 1980er-Jahren ist die Welt jenseits der Politik und des Staates in ihrer eigenen Logik zum Thema geworden. Erst die Alltags-, dann die Kulturgeschichte haben, wie Thomas Kühne in einem großen Literaturbericht gezeigt hat, „Menschen als lebende Individuen mit subjektiven Wahrnehmungen und Eigenheiten in ihrer Umgebung, lebensweltlichen Praxis und in ihrer eigenen Sprache“ (33, S. 210) zum Thema gemacht. In den Fragehorizont der 1970er-Jahre, der bei aller Erweiterung doch den Beziehungen des politischen Systems zu Wirtschaft, Kultur und sozialen Verhältnissen verhaftet blieb, ließen sich die Ergebnisse dieser Arbeiten nicht mehr integrieren. In den Synthesen von Stürmer, Mommsen und Wehler kommen sie daher nicht vor. Nipperdey streift sie am Rande.
Jüngste Entwicklungen
I.
6. Jüngste Entwicklungen Bereits kurz nachdem die prägenden Historiker der 1970er und 1980erJahre ihre Werke vollendet hatten, sind daher neue Überblicksdarstellungen erschienen, die der Welt jenseits der Politik größeres Interesse entgegenbringen. Sie sind meist schlanker, weniger enzyklopädisch, mit mehr Mut zur Lücke verfasst. Von ihnen ist Volker Ullrichs „Die nervöse Großmacht“ (63) in Fragestellung und Stil noch am ehesten den Diskussionen der 1970er-Jahre verhaftet. Volker R. Berghahn hingegen strebt eine den Horizont der Politik weit überschreitende „history of the German society in all its respects“ an (1, S. xvi). Von der Diskussion der 1970er-Jahre über Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Drittem Reich verabschiedet er sich mit der ironischen Bemerkung, er halte es schon für schwer genug, herauszufinden, warum Deutschland 1914 in den Krieg gezogen sei. In David Blackbourns beeindruckendem Überblick über das lange 19. Jahrhundert kommt Politik eher am Rande vor (2). Hans-Peter Ullmann gelingt eine Synthese der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche und der politischen Entwicklung in seiner Darstellung des Kaiserreichs als „Gebilde ‘zwischen den Zeiten’“ (61; vgl. 62). Wenn Jörg Fisch vor Kurzem das Kaiserreich in eine Geschichte „Europa[s] zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914“ (17) eingebettet hat, zeigt er eine weitere Grenzüberschreitung an: den Trend der Forschung zum internationalen Vergleich. Was diese jüngsten Gesamtdarstellungen auszeichnet, ist ihre Offenheit. Sie verlassen den durch die Begriffe Staat, Nation, Reich und Politik abgezirkelten Raum, den Droysen in den 1850er-Jahren geöffnet hatte. Sicher, es hat seit Droysen viele Wandlungen, Auf- und Umbrüche gegeben, die sich in Gesamtdarstellungen niedergeschlagen haben: die Umdeutung des Borussianismus durch Sybel und Treitschke, den Aufbruch der Jahrhundertwende, die Debatten der Weimarer Republik, die Volksgeschichte der NSZeit, die grundsätzliche Infragestellung der deutschen Geschichte direkt nach 1945, die methodologisch und inhaltlich eher unfruchtbaren 1950er und frühen 1960er-Jahre, den mit der Fischer-Kontroverse und Wehlers Kaiserreich verbundenen Aufbruch der politischen Sozialgeschichte, die Resümees der 1980er und frühen 1990er-Jahre. Immer aber war es um das Kaiserreich als Bezugspunkt deutscher staatlicher Identität gegangen. Noch die Gesamtdarstellungen von Stürmer, Mommsen, Wehler und Nipperdey zeigen dies an. Heinrich August Winklers monumentale Darstellung „Der lange Weg nach Westen“, im Jahre 2000 erschienen, bildet den etwas verspäteten Schlussakkord (72; vgl. 9). Die neuesten Gesamtdarstellungen verlassen dieses sehr deutsche Kampffeld und gewinnen damit neue Beobachtungsmöglichkeiten. Vielleicht ist das Ausdruck eines neuen deutschen Selbstverständnisses im Zeichen von erreichter deutscher Vereinigung, voranschreitender europäischer Vereinigung und Globalisierung. Weniger deutlich ist allerdings, wohin die Offenheit führen soll. Was den neuesten Gesamtdarstellungen fehlt, ist eine Zielperspektive, wie sie von Droysens Borussianismus an eigentlich allen Gesamtdarstellungen eigen war. Die Befunde und Beobachtungen verdichten sich nicht mehr zu
Neueste Gesamtdarstellungen
Abschied von alten Leitbegriffen
Abschied von der großen Erzählung
15
I.
Einleitung der einen großen Gesamtgeschichte. Das könnte ein Ausdruck für den „Abschied von der großen Erzählung“ sein, ein Schlagwort für das in den letzten Jahren vielfach festgestellte Verblassen der interpretativen Rahmen, die – meist unbewusst – den Texten der Historiker Zusammenhalt und Sinn boten: Modernisierung, Säkularisierung, Formierung der Nation o. Ä. Vielleicht aber muss eine Zentralperspektive, die die Kaiserreichgeschichte für das 21. Jahrhundert anschlussfähig macht, sich auch erst noch entwickeln. Bei der Analyse einzelner Forschungskontroversen wird darauf zu achten sein, ob sich neue Wege oder gar ein neuer Weg der Kaiserreichdeutung abzeichnen. Gesamtdarstellungen fassen das für den jeweiligen Autor Wissbare und Wissenswerte zusammen. Sie schließen eher ab als auf. Forschungskontroversen hingegen behandeln immer mehr als das Thema, um das sie vordergründig kreisen. Die nun folgenden großen Forschungskontroversen um das Kaiserreich sind daher einerseits selbst bereits historisch. Sie könnten aber auch die Perspektiven einer kommenden Kaiserreichforschung enthalten.
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II. Überblick Nicht jede Kontroverse zwischen Historikern ist eine Historikerkontroverse. Meinungsunterschiede gibt es andauernd. Meistens interessiert sich aber niemand außer den direkt Beteiligten dafür, ob eine Quelle echt ist oder nicht, ob eine politische Entscheidung eher positive oder eher negative Auswirkungen hatte. Damit eine Kontroverse entsteht, muss eine Meinungsverschiedenheit anschlussfähig sein für größere Zusammenhänge (35; 37; 11). Sie muss hintergründige Resonanzböden zum Schwingen bringen, um so die vordergründig Diskutierenden zu verstärken bzw. die Solisten des Anfangs zu einem (meist dissonanten) Chor zu erweitern. Diese Resonanzböden ergeben sich aus Spannungen verschiedener Art (50): – fachwissenschaftlichen, z. B.: unterschiedliche wissenschaftliche Schulen, – politischen, z. B.: konkurrierende parteipolitikrelevante Deutungen der nationalen Vergangenheit, konkurrierende nationale Erzählungen international bedeutsamer Ereignisse wie des Ersten Weltkrieges – gesellschaftlichen und kulturellen, z. B.: sich verändernde Generationslagen, Lebensweisen oder Geschlechterrollen, – Ressourcen und Institutionen betreffenden, z. B.: Macht und Einfluss, Stellen, Forschungsmittel. Meist ist es mehr als ein Boden, der in einer Kontroverse mitschwingt. Deshalb führt die Darstellung eines strittigen Details hin zu einer Geschichte von ganzen Historikergenerationen, von Historikerschulen, aber natürlich auch zu einer Geschichte des größeren inhaltlichen Zusammenhangs, in den das Detail eingebettet ist. Dass Themen der Kaiserreichgeschichte in besonderer Weise anschlussfähig gewesen sind und die deutschen Historiker mit ihren generationellen, schulischen und politischen Konfliktlinien geradezu ideale Resonanzböden für Meinungsverschiedenheiten der Kaiserreichforschung aufgespannt haben, dürfte die einleitende Präsentation einiger Gesamtdarstellungen der letzten 150 Jahre gezeigt haben. An Kontroversen mangelt es nicht. Das hängt zusammen mit der doppelten Bedeutung des Kaiserreichs, einerseits Verdichtungsraum politischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Problemlagen und andererseits Bezugspunkt nationaler und staatlicher Selbstbeschreibung der Deutschen zu sein. Beide Bedeutungen wurden von jeder Historikergeneration und Historikerschule in einem konfliktreichen Prozess neu gewichtet und neu gefüllt. Über lange Zeit waren es vor allem Fragen der Politik, die die deutschen Historiker am Kaiserreich faszinierten. Das verrät ein Blick in die „Historische Zeitschrift“, das 1859 gegründete Leitorgan der deutschen Geschichtsschreibung. Zeitschriften sind Kommunikationsmittel, die – anders als die einleitend beobachteten Gesamtdarstellungen – tendenziell nicht Wissen zusammenfassen, sondern neues Wissen einbringen. Sie sind schneller und aktueller als Überblickswerke. Sie schließen Konflikträume eher auf als ab. In der HZ beschäftigten sich die das Kaiserreich betreffen-
Was sind Historikerkontroversen?
Kontroversenreiches Kaiserreich
Dominanz des Politischen
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II.
Überblick
Themenschwerpunkte Kaiserreichforschung
Kriterien der Kontroversenauswahl
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den Artikel bis 1970 zum weit überwiegenden Teil (bis 1943 mehr als 80%, danach mehr als 70%) mit politischen Fragen. Erst seit den 1970erJahren wurden – bei weiterer Dominanz des Politischen (knapp 50%) – Kultur, Geschichte der Geschichtswissenschaft, Wirtschaft und soziale Verhältnisse (in dieser Reihenfolge) stärker berücksichtigt. Innerhalb des politischen Themenspektrums fällt erstens die Konzentration auf eine einzige Person besonders ins Auge. Wenn in den Titeln der Kaiserreich-Artikel der Name einer historischen Persönlichkeit auftaucht, so ist dies mit hoher Wahrscheinlichkeit der erste Kanzler des Reiches, Otto von Bismarck. Sein Name wird in den Jahren 1859 bis 2000 77-mal genannt. Auf Platz zwei folgt der letzte Kaiser Wilhelm II. mit sechs, dann der erste Kaiser Wilhelm I. mit fünf Nennungen. Zweitens gibt es einen deutlichen Wandel in den politischen Themenfeldern. Bis zum Ersten Weltkrieg dominierte die Reichsgründung. 1916 richtete die HZ dann in ihrer Forschungsumschau „Notizen und Nachrichten“ eine eigene Rubrik „Neueste Geschichte seit 1871“ ein, die bislang Teil der „Neueren Geschichte“ seit der Französischen Revolution von 1789 gewesen war. Das Kaiserreich wurde zu einer eigenen Epoche, die vor allem unter außenpolitischen Gesichtspunkten und unter besonderer Berücksichtigung der Vorgeschichte des Krieges in den Blick kam. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden innenpolitische Themen wichtiger, ohne dass sie die Szenerie je hätten so beherrschen können wie die Reichsgründungsfragen vor 1914. Nach 1970 verloren die politischen Themen insgesamt an Bedeutung, ohne jedoch von einem anderen Themenfeld überholt zu werden. Angesichts der großen Auswahl möglicher Kontroversen einerseits, der Verschiebung der Themenschwerpunkte innerhalb der Politik bis 1970 und von der Politik weg seit den 1970er-Jahren andererseits ist die Auswahl der in diesem Buch vorzustellenden Kontroversen ein besonderes Problem. Folgende Kriterien sind bei der Auswahl maßgeblich gewesen: – Die Kontroversen müssen einen Brennpunkt haben. Sie sollen an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit ihren Ausgang nehmen. Es geht nicht um die allgemeinen Problemfelder der Kaiserreichgeschichte, sondern um benennbare Diskussionspunkte. Von ihnen ausgehend sollen die Resonanzböden und die Verstärkereffekte dargestellt werden sowie die Konflikte, die der jeweiligen Kontroverse vorausgehen, und sie dadurch beeinflussen. Deshalb sind sehr generelle Fragen wie das „Bismarck-Problem“, die „Sonderwegsdebatte“ oder die Frage nach dem Verhältnis von traditionalen und modernen Elementen im politischen System nicht Gegenstand eines Kapitels. Sie liegen gewissermaßen hinter den Anlässen und werden daher in verschiedenen Kapiteln mit behandelt. – Die Kontroversen müssen bedeutsam sein. Die Bedeutsamkeit muss nicht aus dem Streitgegenstand unmittelbar hervorgehen – eine der wichtigsten Kontroversen zur Reformationsgeschichte entzündete sich an der Frage, ob Luther seine 95 Thesen 1517 angenagelt oder verschickt hat. Sie kann auch in den Weiterungen des Streits liegen, in den Forschungs- und Inhaltsgeschichten, die durch den Streit sichtbar wurden bzw. ihn anfachten und ausweiteten. – Die Kontroversen müssen den Blick auf größere Epochen der Kaiserreichgeschichtsschreibung freigeben. Die derzeitigen Kaiserreich-Dis-
Überblick kussionen haben, so Hans-Peter Ullmann, „ihren Bezug durchweg in der Kaiserreich-Debatte der siebziger und frühen achtziger Jahre“ [des 20. Jahrhunderts] (61, S. 11). Das erscheint etwas kurzsichtig. Daher soll hier, analog zu der einleitenden Präsentation der Gesamtdarstellungen, das gesamte 20. Jahrhundert forschungsgeschichtlich ins Bild gesetzt werden. Erst dadurch wird das Besondere wie das im Allgemeinen Verbleibende der Forschungsaufbrüche des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts deutlich. – Die Kontroversen müssen, jeweils eingebettet in ihr historisches und historiographisches Umfeld, gemeinsam einen Überblick über die Geschichte und über die Geschichtsschreibung zum Deutschen Kaiserreich ermöglichen. Ausgehend von diesen Überlegungen werden acht Kontroversen behandelt, chronologisch gereiht nach dem inhaltlichen Gegenstand, auf den sie sich beziehen. Zunächst geht es um mögliche Alternativen zur Bismarckschen Reichsgründung. Diese Debatte flammte im Anschluss an einen Artikel des katholischen Historikers Franz Schnabel im „Hochland“ 1949 auf. Sie hatte eine Vorgeschichte, die bis in das Kaiserreich selbst zurückreichte, erhielt ihre besondere Schärfe aber dadurch, dass sie während des Dritten Reiches, mit zum Teil anderen Akteuren, Motiven und Akzentsetzungen, bereits einmal durchgespielt worden war. Es folgt die Auseinandersetzung um den Ende der 1960er-Jahre von Helmut Böhme geprägten Begriff der „Inneren Reichsgründung“. Er betonte den langfristig verhängnisvollen Charakter der innenpolitischen Wende des Jahres 1878, und begründete dies nicht mehr nur politikgeschichtlich, sondern vor allem mit wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Faktoren. Böhmes Begriff ermöglicht einen weiteren Blick auf die Rolle Bismarcks, aber auch der Liberalen in der Reichsgründungszeit. Im dritten Kapitel geht es um die Bismarck’sche Kolonialpolitik, die im Anschluss an ein Buch von Hans-Ulrich Wehler ebenfalls seit Ende der 1960er-Jahre zum Zentrum der Debatte um das Verhältnis von Außenpolitik, Innenpolitik und sozialökonomischen Verhältnissen wurde. Viertens wird die Frage erörtert, warum 1890 der Rückversicherungsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Russland nicht erneuert wurde. Das mag manchem heutigen Beobachter ein wenig abseitig erscheinen, war aber in den 1920er-Jahren eine wichtige Debatte und ermöglicht so einen Blick auf die Geschichtsschreibung der ersten Nachkriegszeit und auf unseren Abstand zu ihr. In einem fünften Kapitel steht der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. im Mittelpunkt. Sein Biograph John C.G. Röhl hat seit 1969 in Aufsätzen und Büchern Thesen präsentiert, anhand derer das Verhältnis von Person und Struktur thematisiert werden kann und in denen es inhaltlich um die Verantwortlichkeiten für den Untergang des Kaiserreichs geht. Auch diese Kontroverse hat eine Vorgeschichte, die bis in das Kaiserreich selbst zurück reicht. Das sechste Kapitel ist dem wohl bekanntesten Kaiserreich-Streitfall überhaupt gewidmet. Die Fischer-Kontroverse, benannt nach dem Hamburger Historiker Fritz Fischer, rollte die seit Beginn des Ersten Weltkriegs
II.
Ausgewählte Kontroversen 1866
Innere Reichsgründung
Bismarcks Kolonialpolitik
Rückversicherungsvertrag
Wilhelm II.
FischerKontroverse
19
II.
Überblick
Sozialmoralische Milieus
Blackbourn/Eley
Alternativen
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laufende Kriegsschulddiskussion neu auf. Auf dem Berliner Historikertag 1964 erreichte sie ein großes Publikum und führte in der Folgezeit – eher nicht-intendiert – zur sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Neuausrichtung der jüngeren Generation der deutschen Historiographie. Siebtens werden „Milieutheorien“ dargestellt, die im Anschluss an einen wegweisenden Artikel von M. Rainer Lepsius 1966 in immer neuen Anläufen das Verhältnis von Politik, sozialer Struktur und kulturellen Deutungsmustern behandeln. Achtens schließlich wird ein Buch der englischen Historiker David Blackbourn und Geoff Eley behandelt. Es griff 1980 die Interpretationsmuster der nach der Fischer-Kontroverse früh in meinungsführende Positionen eingerückten jungen deutschen Historikergeneration hart an, und zwar überraschenderweise von links. Im Mittelpunkt dieser Debatte stand die Frage: „Wie modern war das Kaiserreich?“ Die meisten der hier behandelten Kontroversen entzündeten sich zwischen Mitte der 1960er und dem Beginn der 1980er-Jahre. Damit wird der besonderen Bedeutung dieser Jahre für die Kaiserreichforschung Rechnung getragen. Doch über Vorgeschichte und Voraussetzungen wird jeweils ein größerer Zusammenhang hergestellt. Außerdem werden die Weiterungen und Folgen der Kontroversen bis in die Gegenwart thematisiert. Die meisten Kontroversen spielten sich an der Schnittstelle von politischer, Sozial- und Kulturgeschichte ab, selbst dann, wenn sie vom Thema her eindeutig einem der Gegenstandsbereiche (meistens der Politik) zuzuordnen waren. Genau an dieser Schnittstelle verliefen nämlich zahlreiche Spannungslinien zwischen Historikergenerationen und Historikerschulen. Genau hier waren die Resonanzböden für Meinungsverschiedenheiten besonders empfänglich. Auswählen heißt Aussortieren, thematisch und personell. Es könnte mehr Sozialgeschichte in diesem Buch sein, mehr Wirtschaftsgeschichte, mehr Kulturgeschichte. Es könnten auch ganz andere Historiker vorkommen. Weil das Kaiserreich als Verdichtungsraum und nationaler Bezugspunkt von überragender Bedeutung war, haben viele bekannte und berühmte Historiker es im Detail und/oder im Großen und Ganzen behandelt. Von ihnen können nur diejenigen in den Blick kommen, die die ausgewählten Themen bearbeitet haben, und auch von dieser Gruppe können nur wenige namentlich erwähnt werden, um die Kapitel nicht zu überfrachten. Das ist nur ein Bruchteil der Kaiserreichhistoriker und der Kaiserreichhistoriographie. Die thematischen und personellen Schwerpunktsetzungen sind freilich bei begründeter Auswahl und Konzentration auf einzelne Kontroversen nicht zu vermeiden, soll nicht von allem ein wenig und damit letztlich nichts wirklich behandelt werden. Das Ziel ist, durch exemplarische Erzählung Trends und Ergebnisse der Kaiserreichforschung der letzten einhundert Jahre aufzuzeigen, um damit in die Geschichte der Geschichtswissenschaft und in die Geschichte des Kaiserreichs gleichermaßen einzuführen.
III. Forschungsprobleme 1. „1866“ – oder: Alternativen zur Reichsgründung Die Reichsgründungsgeschichte ist ein Jahrhundert lang vermintes Terrain gewesen. Die Brisanz erschließt sich dem heute rückblickenden deutschen Betrachter nicht unmittelbar, wenn er geneigt ist, die nationale Einheit als eine 1870/71 gewonnene und 1989/90 wiedererlangte staatliche Normalexistenz anzusehen. Doch die Einigung war das Ergebnis dreier Kriege, des deutsch-dänischen 1864, des preußisch-österreichischen 1866 und des deutsch-französischen 1870/71, die die Gewichte innerhalb Deutschlands und innerhalb Europas entscheidend verschoben. Die Einigung war das Resultat sowohl der gewaltsam-revolutionären Politik des preußischen Ministerpräsidenten (seit 1862) Otto von Bismarck, als auch einer nationalen Bewegung, und das Mit- und Gegeneinander von beiden hinterließ bleibende Narben. Und die Einigung war nicht nur eine Einigung, sondern auch eine Teilung, weil die deutschsprachigen Bewohner Österreichs ausgeschlossen wurden. Die Kriege, die inneren Konflikte, die Gleichzeitigkeit von Einigung und Ausschluss, all das wirkte nicht nur auf die Zeitgenossen, sondern auch auf zeitgenössische und nachlebende Historiker. Die Resultate lassen sich in der Geschichtsschreibung nachweisen. Schon die hier gewählte Kapitelüberschrift hätte zu Diskussionen geführt. War denn 1866 das entscheidende Datum für die Reichsgründung? Nicht 1871, der deutsch-französische Krieg und die Zeremonie im Spiegelsaal von Versailles? Für beides ließen und lassen sich gute Argumente ins Feld führen. Wer 1866 sagt, verweist auf die kaum noch sichtbaren und noch weniger realisierbaren Alternativen zur kleindeutschen Reichseinigung, nachdem der zum Dauerkonflikt eskalierte Dualismus zwischen Österreich und Preußen mit der Schlacht bei Königgrätz einmal militärisch entschieden war. Das politisch-militärische Ereignis wurde zudem durch säkulare Trends anderer Art unterstützt. Die preußische Wirtschaftskraft, über den Zollverein nach Süddeutschland übersetzt, und mehr noch die Faszination des bürgerlichen Liberalnationalismus liefen in die gleiche Richtung wie der von Bismarck vorangetriebene politische Prozess. Nach 1866 blieb das „wann“ und das „wie“ einer kleindeutschen Einigung ungeklärt. Das „ob“ stand zumindest innerhalb Deutschlands kaum noch in Frage. Wer 1871 sagt, verweist auf die in der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre noch sichtbaren und durchaus kräftigen gegenläufigen Entwicklungen zur kleindeutschen Reichsgründung. Hierfür mögen die erstmals nach dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht durchgeführten Zollvereinswahlen von 1867 stehen. Sie endeten in Süddeutschland mit einem Desaster für die Preußenfreunde. Auch die Politik des österreichisch-ungarischen Reichskanzler Graf Beust, seinen reorganisierten Staat mittels diplomatischer Initiativen in Süddeutschland attraktiv zu machen, deutet auf von Zeitgenossen noch für realistisch gehaltene Alternativen. Schließlich zeigen auch die viel zitierten Tränen des preußenverbundenen Historikers
Brisanz des Themas
Zäsur 1866
Zäsur 1871
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III.
Forschungsprobleme
Quellenzugang
„Schicksalsjahr 1866“
Heinrich von Sybel, dass die Reichsgründung auch im Januar 1871 noch eine Überraschung war. Die Tränen liefen ihm über die Backen, hatte er an seinen Freund Hermann Baumgarten kurz nach der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles geschrieben. „Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben?“ (zit. n. 111, S. 685) Die Brisanz des Themas wird unterstrichen durch den Umgang der Verantwortlichen mit den Quellen. Wie in anderen europäischen Staaten (129) wurde Aktenzugang nur ausgewählten Historikern gewährt, mit dem Ziel, eine den nationalen Interessen dienliche Geschichte zu erzeugen. Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck ließ nur den oben zitierten Heinrich von Sybel in die preußischen Staatsakten schauen. So entstand eine Geschichte der „Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“, bei der Bismarck nach den Worten Erich Brandenburgs „sozusagen stiller Teilhaber gewesen ist und durch seine Mitteilung das Urteil des Historikers wesentlich beeinflusst hat“ (HZ Bd. 90, 1903, S. 423). Mangels besserer Informationsmöglichkeiten mussten die Historiker jedoch jahrzehntelang aus dieser etwas trüben Quelle schöpfen, bevor sich seit der Jahrhundertwende die Informationsbasis verbreiterte. Die Quellen zur Entstehung des deutsch-französischen Kriegs von 1870 sind zum Teil erst nach den Zweiten Weltkrieg zugänglich geworden. Eine befriedigende Zusammenstellung der einschlägigen Dokumente erscheint erst jetzt (74). Noch ein Jahrhundert nach Königgrätz konnte der österreichische Historiker Adam Wandruszka vom „Schicksalsjahr 1866“ (128) sprechen. Bei seinen Kollegen – fast alle deutschsprachigen Historiker sind bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts Männer gewesen – dürfte dieser Begriff Erinnerungen an scharfe Auseinandersetzungen wachgerufen haben. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Frage im Raum gestanden, ob die militärische Entscheidung von 1866 zugunsten einer kleindeutschen Reichsgründung eine Notwendigkeit oder ein nationales Unglück gewesen sei. In Zeiten von Europäischer Einigung und Globalisierung mag das befremdlich klingen. Doch in den tiefen Krisen des Nationalstaates während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Diskussionslage anders. Nicht die innere Ausgestaltung des Reiches, die Art und Weise der Reichsgründung und ihre Folgen also, standen in Frage, sondern die Reichsgründung selbst als Ereignis der europäischen und insbesondere der mitteleuropäischen Geschichte.
a) Die Bismarcksche Reichsgründung – eine vertane Chance? Franz Schnabels Hochland-Artikel
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Franz Schnabel hatte in einem Hochland-Artikel von Oktober 1949 (120) das Problem folgendermaßen präsentiert: Bismarck habe als überragender und letzter Vertreter der vormodernen Staatskunst die seit der Französischen Revolution entfesselten Kräfte des Nationalismus eingefangen und auf die Bahn der Staatsräson gezwungen. Das sei an sich eine große Leistung, denn der europäische Nationalismus sei „überall, wo er sich aus-
„1866“ – oder: Alternativen zur Reichsgründung wirken konnte, in die Diktatur, die zentralistische Einheitsrepublik und schrankenlose Expansion eingemündet.“ Doch Bismarck habe nur auf den Zuwachs des eigenen Staatskörpers geschaut, als er der friderizianischen Machtpolitik gegen den Geist der Zeit ein letztes Mal zum Durchbruch verhalf. Damit habe er das friedewahrende europäische Mächtekonzert zerlegt, vor allem aber die Chancen für eine christlich-föderative Ordnung Mitteleuropas verbaut. Sie, nicht die bereits heraufziehenden, aber erst das katastrophische 20. Jahrhundert wirklich prägenden Nationalismen, seien die Ordnung gewesen, die eigentlich dem 19. Jahrhundert entsprochen hätte. Anknüpfungspunkte für eine solche Politik gab es, so Schnabel, durchaus: Zollverein, Deutscher Bund, eine Nachfolgeordnung für das Habsburgerreich, die großdeutschen Ideen eines Constantin Frantz. Sie auszugestalten sei aus der Warte von 1862 keine schwierigere Aufgabe gewesen als die kleindeutsche Reichsgründung. „Ein föderativer Zusammenschluss der mittel- und osteuropäischen Völker war also in den tatsächlichen Verhältnissen wohl begründet. Auf einer vorhandenen Grundlage konnte das Neue mit den gegebenen Kräften und Energien entwickelt werden.“ Bismarck aber „behalf sich mit den alten Methoden zu alten Zielen. Diese hatten bisher niemals zu einer dauerhaften Ordnung geführt; nun waren auch noch alle Leidenschaften wachgerufen.“ Die unheilvolle Kombination von Renoviertem und rauschhaft Neuem habe in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt. Franz Schnabel hatte schon in seiner „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“ (121; vgl. 96) den föderativen, den kulturellen und religiösen Elementen der deutschen Geschichte jenseits der großen Politik großes Gewicht beigemessen. Die erste Hälfte hatte er als das Eigentliche des 19. Jahrhunderts präsentiert. Daraus resultierte ein sehr zwiespältiges Verhältnis zur Bismarckschen Reichsgründung, das sich im Hochland-Aufsatz unter dem Eindruck von Kriegsniederlage und deutscher Teilung noch einmal radikalisierte. Besonders beliebt hatte sich Schnabel mit dieser Position innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft nicht gemacht. Bereits früh auf einen Lehrstuhl an der TH Karlsruhe berufen, war er auf diesem Außenposten der geschichtswissenschaftlichen Landschaft sitzen geblieben. Seine Werke wurden missgünstig beäugt. Als er 1936 seine Professur verlor, rührte sich keine Hand für ihn. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg – Schnabel war als von den Nationalsozialisten verfolgter Konservativer auf einen Lehrstuhl in München berufen worden – gewann er an Ansehen. Das war auch eine Folge der verschobenen konfessionellen Gewichte im geteilten Deutschland. Der Katholik Schnabel konnte nun zum Exponenten eines katholisch-konservativen Geschichtsbildes werden (55; 79; 83), weil das auch in der Geschichtswissenschaft protestantisch dominierte Bismarckreich seine ostelbischen Bastionen verloren hatte, und die west- und süddeutschen Katholiken in der Bonner Republik an Meinungsmacht gewannen. Es war kein Zufall, dass der Freiburger Historiker Gerhard Ritter den Schnabelschen Thesen energisch entgegentrat. Wie Schnabel war er eher ein Konservativer, der nach 1945 seine Reputation teils aus wissenschaftlicher Leistung, teils aus bekannter Gegnerschaft zum nationalsozialisti-
III.
Alternativen zur Bismarckschen Reichsgründung
Biographie Schnabel
Gerhard Ritter
23
III.
Forschungsprobleme
Keine Alternative zur kleindeutschen Reichsgründung
Hintergründe
schen Regime bezog. Doch anders als der katholisch-süddeutsch-föderalistische Außenseiter Schnabel hatte der protestantische Preuße Ritter immer zum nationalliberal bis nationalkonservativen Mainstream der deutschen Geschichtswissenschaft gehört. Dementsprechend sah er in dem Hochland-Aufsatz einen grundsätzlichen Angriff auf das Bismarcksche Gründungswerk und damit eine völlige Delegitimierung der deutschen Geschichte. Ihr müsse aus nationalpädagogischen wie geschichtswissenschaftlichen Gründen widersprochen werden. Wie, so fragte Ritter, hätte eine mitteleuropäische Ordnung denn aussehen sollen? Wo im historischen Prozess der 1860er-Jahre gebe es ein Faktum, das auf ihre Realisierbarkeit hinweise? „Möglichkeiten irgendeines ständischen Parlamentsersatzes in mehr oder weniger altfränkischer Form“ hätten die drängenden Freiheits- und Einheitsforderungen nicht besänftigt, gleichzeitig aber wegen ihrer potentiellen mitteleuropäischen Tragweite die Gegnerschaft der anderen europäischen Mächte hervorrufen müssen. Nein – angesichts der außenpolitischen Zwänge wie der innenpolitisch drängenden Macht der nationalen Bewegung habe es keine Alternative zur kleindeutschen Reichsgründung gegeben. Eine Bismarck-Revision sei sicherlich notwendig. In Schnabelscher Manier aber könne sie nicht betrieben werden. „Das Bilderstürmen ist leicht, aber es regt nur erbitterten Widerstand auf, und es klärt die Geister nicht, sondern verwirrt.“ (114; vgl. 81) Die Schärfe der Auseinandersetzung zwischen Ritter und Schnabel hatte mehrere Gründe. Erstens war sie Teil einer Debatte um den Sinn der deutschen Geschichte insgesamt, wobei Geschichte als unmittelbar in die Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart hineinreichende Lebensmacht verstanden wurde. Schnabel wie Ritter spürten eine Verantwortung für das Wohlergehen ihres Landes. Zweitens ging es um das Selbstverständnis der Historiker als Teil der deutschen Nation. Fritz Hartung stellte 1952 zum Abschluss der sechsten Auflage seiner Deutschen Geschichte 1871–1919 in einem bezeichnenden Metaphernunfall resigniert fest, dass die von ihm dargestellte Zeit „nicht mehr als Anfang einer neuen großen Entwicklung, sondern als eine in sich geschlossene Periode, ein Abschluss des deutschen Aufstiegs, der mit der Reichsgründung seinen Gipfelpunkt erreicht hatte“ (23, S. 3), zu betrachten sei. Wenn nun schon der Gipfel die falsche Wegmarke gewesen und der Aufstieg vom Gipfel aus unternommen worden war, was blieb dann der deutschen Geschichtswissenschaft übrig? Drittens aber war die am Anfang der Bundesrepublik geführte Debatte um großbzw. gesamtdeutsche Alternativen eine Art Widergänger einer Auseinandersetzung, die bereits während der Weimarer Republik und dann während der NS-Zeit die Gemüter erhitzt hatte.
b) Die Diskussion vor 1945 Urteile vor 1914
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Während des Kaiserreichs hatte es für eine so grundsätzliche Auseinandersetzung keine Notwendigkeit gegeben. Zunächst war die Reichsgründung von einer kleindeutsch-borussischen Geschichtsschreibung begleitet wor-
„1866“ – oder: Alternativen zur Reichsgründung den, für die die Namen Heinrich von Treitschke (60) und Heinrich von Sybel (59) beispielhaft stehen mögen. Sie hatten mit einiger Gewaltsamkeit die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts auf die Bismarcksche Reichsgründung zulaufen lassen. Seit den 1890er-Jahren hatten diese Darstellungen ihren kanonischen Charakter zwar verloren. Doch auch wenn nun die Entscheidungssituationen der 1860er-Jahre – soweit es die nur ausschnitthaft zugänglichen Quellen zuließen – kritisch untersucht wurden, so dominierte doch das Bewusstsein, in einem Reich zu leben, dessen Gründung notwendig und dessen Entwicklung im Ganzen positiv sei. Auch in Österreich-Ungarn überwog das Bemühen, den nach 1866 im Ausgleich mit Ungarn konsolidierten Vielvölkerstaat nicht durch Revisionswünsche zu belasten. Der bekannteste österreichische Historiker der Jahrhundertwende, Heinrich Friedjung, nahm in seinem Hauptwerk die Entscheidung von Königgrätz billigend hin (87; vgl. 117). Die Reichsgründung blieb bis 1914 vom Norden wie vom Südosten her als quasinatürlicher Zielpunkt der deutschen Nationalentwicklung unbestritten. Die intensiven Forschungen zu diesem Thema richteten sich auf das „Wie“, nicht auf das „Warum“ oder gar auf ein „Ob“. Erst die Weltkriegsniederlage änderte die Diskussion, und zwar vor allem von österreichischer Seite her. Als Österreich-Ungarn in zahlreiche Einzelstaaten zerfiel, zweifelten die Deutschösterreicher an der Lebensfähigkeit ihres Teilstaates. Führende Politiker begleiteten die Gründung der Republik „Deutsch-Österreich“ mit Forderungen nach einem Anschluss an die deutsche Republik. Mit ihr bilde Österreich, so der erste Staatskanzler Karl Renner, „ein[en] Stamm und eine Schicksalsgemeinschaft“ (zit. n. 94, S. 276). Bewies nicht das eigene Los, dass nur ein Teil der Deutschen von der Bismarckschen Reichsgründung hatte profitieren können, während die außerhalb der Grenzen lebenden Deutschen spätestens 1918/19 die Kosten zu tragen hatten? 1920 legte der Österreicher Raimund Friedrich Kaindl eine Abrechnung mit dem kleindeutschen Bismarckreich vor (100; vgl. 101). „Der verdiente Vorkämpfer für das Ostdeutschtum“, wie ihn Wilhelm Schüßler in einer Rezension nannte, verfolge „keinen wissenschaftlichen, sondern einen hochpolitischen Zweck“ (HZ Bd. 128, 1923, S. 546– 547). Obwohl Schüßler ein energischer Verfechter der kleindeutschen Reichsgründungsgeschichtsschreibung war, übte er nur milde Kritik. Das gemeinsame politische Ziel dämpfte die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen. Ganz anders gestaltete sich die Diskussionslage seit Ende der 1920erJahre, als die österreichische wie die Weimarer Republik und dann der nationalsozialistische Staat eigene Wege historischer Selbstvergewisserung suchten. Mit Heinrich Ritter von Srbik griff nun der führende österreichische Historiker in die Debatte ein. Srbik war seit 1922 Professor in Wien und hatte 1929/30 das Amt des Unterrichtsministers inne. Anfang der 1920er-Jahre hatte er eine bis heute maßgebliche Metternich-Biographie vorgelegt, die den viel geschmähten Präzeptor der Reaktionszeit als „Europäer und Mitteleuropäer“ (123, S. 51) zeigte. Von hier aus kam Srbik seit Ende der 1920er-Jahre zu einer von ihm so genannten „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“. Mit ihr wollte er die untergründigen Auseinandersetzungen zwischen großdeutschen (Kaindl) und kleindeutschen (Main-
III.
Urteile nach 1918
Heinrich Ritter von Srbik
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III.
Forschungsprobleme
Reaktionen „kleindeutscher“ Historiker
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stream der preußisch-deutschen Geschichtsschreibung) Historikern überwinden. Srbiks Arbeiten gipfelten in dem vierbändigen Werk „Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom heiligen Reich bis Königgrätz“, das 1935 bis 1942 erschien (126). Fast zeitgleich gab Srbik fünf Bände „Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1859–1866“ (125) heraus. Srbiks Argumentation kreiste um die verführerischen Begriffe „Raum“ und „Volk“, die seit den 1920er-Jahren in der Landesgeschichte Konjunktur hatten und in der NS-Zeit zum Leitmotiv einer ganzen Historikergeneration wurden. Er nützte sie, um das Alte Reich vor 1806 und die österreichische Politik bis 1866 in positiverem Licht erscheinen zu lassen, und um die Verluste zu kennzeichnen, die mit dem „Bruderkrieg“ von 1866 und der „deutschen Teileinigung“ von 1870/71 verbunden gewesen seien. Srbiks elegisch-süßlicher Stil, in dem Begriffe wie Tragik und Notwendigkeit, Blut und Volkstum argumentative Kraft gewannen, ließ letztlich offen, wie die kleindeutsche Lösung hätte vermieden werden sollen. Ihm ging es vor allem darum, den Vertretern einer kleindeutschen Reichseinigungsgeschichte die Partikularität ihrer Sichtweise nachzuweisen und alternative Erzählungen anderer Gruppen des „deutschen Volkstums“ – Österreicher, Sudetendeutsche und andere – in ihr Recht zu setzen. Nach den diplomatischen und militärischen Erfolgen des Dritten Reiches in Österreich, der Tschechoslowakei, Polen und Frankreich wähnte er sich 1941 am Ziel seiner Wünsche: „Vielleicht wird nun erkannt werden, dass ich Stufen der nationalen Entwicklung zu sehen meine im ersten Heiligen Reich, im Deutschen Bund, in Österreich und Preußen und in den Staaten des Dritten Deutschland, im Zweiten Reich, endlich bis zur Erfüllung im Großdeutschen Reich.“ (126, Bd. 3, S. XII) Dies sicherte ihm die Unterstützung junger nationalsozialistischer Autoren, denen die kleindeutsche Lösung wie eine Volkstumsamputation vorkam. Werner Grieshammer sprach 1939 vom Ersten Weltkrieg als dem „dritte[n] und größte[n] der deutschen Einigungskriege (…), der die völkischen Kräfte geweckt und frei gemacht hat für einen wirklich deutschen Staatsbau, die unvergänglichen preußischen Werte nach dem Zusammenbruch der preußischen Hegemonialstellung zu deutschen Werten erweiterte und die Hindernisse beseitigte für die Wiederherstellung des großdeutschen Reiches.“ (HZ Bd. 160, 1939, S. 145) Srbiks gesamtdeutsche Geschichte mit ihren Mitteleuropaimplikationen deckte mehr und mehr die hitlersche Eroberungspolitik. Genau diese Dopplung von historischer und geschichtspolitischer Argumentation prägte auch die scharfe Kritik an Srbiks gesamtdeutscher Geschichtsauffassung. Erich Brandenburg (78) und Fritz Hartung (95) bestritten, dass die österreichfreundlicheren Wertungen Srbiks für die deutsche Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts durch die Quellen gedeckt seien. Außerdem suchten sie die Alternativlosigkeit der Reichsgründung und die bleibende Genialität des Bismarckschen Werkes nachzuweisen. Die Srbikschen Klagen seien gegenstandslos. Gerhard Ritter, der wenige Jahre später und unter völlig veränderten Bedingungen zum Antipoden Schnabels werden sollte, ging in einem schließlich nicht abgeschickten Privatbrief an Srbik (122, S. 323–328) weiter: Man könne nicht gleichzeitig einen deutschen Staat und „ein übernationales mitteleuropäisches Gebilde irgendwelcher föderativer Art“ haben. Bismarcks Größe liege darin, dies erkannt,
„1866“ – oder: Alternativen zur Reichsgründung
III.
und damit eine Friedenspolitik eingeleitet zu haben, die seine maßlosen Nachfolger zum großen deutschen Schaden aufgegeben hätten. Wer heute [1937!] für eine Erneuerung des Mitteleuropagedankens plädiere, rede einer Eroberungspolitik das Wort, deren Folgen unabsehbar seien. Die Kontroverse zwischen Schnabel und Ritter 1949/50 musste zumindest für Ritter wie eine merkwürdige Wiederholung mit verqueren Fronten anmuten, zumal Srbik seinem Kontrahenten zur Seite sprang. Eine weltpolitische Möglichkeit wie die eines föderativen Mitteleuropa könne doch nicht allein deswegen vom Tisch gewischt werden, „weil der Weg dorthin nur irrend und langsam gefunden werden konnte“ (127). Doch schien sich die Debatte mehr und mehr im Kreis zu drehen. Dass das Ganze der Reichsgründung auf dem Prüfstand stand, erklärt sich einerseits aus den existentiellen Krisen der frühen 1920er, der späten 1930er und der späten 1940er-Jahre, andererseits aus dem Selbstverständnis eines Großteils der deutschen Historikerschaft, in nationalpolitischer Hinsicht sinnstiftend tätig zu sein. Dahinter stand die Frage, wie „Deutschland“ in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts territorial zu gestalten sei und welche Verantwortung es trage für die mörderischen Kriege und die bis dahin unvorstellbare Menschenmassenvernichtung.
c) „1866“ in der jüngeren Geschichtswissenschaft Je mehr sich die Bundesrepublik, die DDR und Österreich seit den 1950erJahren etablierten, umso stärker traten diese Fragen zurück. Die österreichische Geschichtsschreibung stellte sich der Tatsache, dass seit 1919 ein unabhängiger Staat Österreich existierte, der nach 1945 wieder erstand und von Deutschland getrennt bleiben würde. Waren Kaindl und Srbik bemüht gewesen, ihre Zugehörigkeit zu Deutschland zu betonen und daher die Gewaltsamkeit und Brutalität des Bismarckschen Ausschlusses herauszuarbeiten, trat nun die Eigenständigkeit Österreichs ins Zentrum. In der Bundesrepublik verdrängten innenpolitische Fragen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art das nationalpolitische Interesse. Die Diskussionen um „1866“, um die Reichsgründung und mögliche Alternativen haben von dieser Verlagerung des Interesses eher profitiert. Fragen konnten kleinteiliger gestellt und besser auf die zeitgenössischen Sichtweisen eingestellt werden. Neuere Untersuchungen fragten nach den Handlungsspielräumen und Alternativen in den einzelnen Entscheidungssituationen, die zur Reichsgründung führten. Damit konnte die jeweils relative Offenheit der Situation in den 1850er und 1860er-Jahren zurückgewonnen werden. Teleologische Geschichtskonstruktionen, bei denen das Bismarcksche oder das habsburgische Reich im positiven oder negativen Sinne als Hauptbezugspunkt wirkten, wurden überwunden. Die Einzelstaaten insgesamt – und nicht mehr nur Preußen und Österreich – erhielten ihr eigenes Gewicht zurück (85; 91). Die Dramatik im Entscheidungsjahr „1866“ erschien dadurch eher größer als kleiner. Die Forschung hat erstens die einzelnen Akteure innerhalb des Deutschen Bundes untersucht: die Führungspersonen in Preußen und Öster-
Situation nach 1945
Offenheit der 1850er- und 1860er-Jahre
Forschungsgegenstände
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III.
Forschungsprobleme
Lothar Gall
Entwicklungen seit den 1980er Jahren
Rolle Österreichs
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reich und ihr Zusammenspiel innerhalb der beiden Großstaaten und untereinander, die Mittelstaaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen und ihre wichtigsten Repräsentanten. Darüber hinaus hat die liberale und nationale Bewegung Interesse auf sich gezogen – ihr Agieren in den Einzelstaaten und ihre überstaatlichen Zusammenschlüsse, ihr Hineinwirken in die einzelstaatlichen Administrationen (75; 80; 86; 90; 93; 98; 99; 105; 110; 112; 113; 116). Zweitens sind, wenn auch weniger intensiv, die europäischen Umfeldfaktoren von „1866“ und „1870/71“ in den Blick genommen worden (82; 102). Warum wurden die Kriege geführt, ohne dass die europäischen Mächte aktiv eingriffen? Drittens sind vor allem in den 1970er-Jahren die überindividuellen Faktoren untersucht worden, die teils bewusst, teils unbewusst auf die Akteure wirkten, einige hemmten und andere begünstigten bzw. von ihnen genutzt wurden (92; 109). Wirtschaftliche (Zollverein, Industrielle „Revolution“) und soziale Faktoren sind untersucht worden, aber auch politisch-kulturelle Bewegungen und Denkstile wie Nationalismus und Sozialismus. Als einen Höhepunkt des Zusammendenkens von überindividuellen Faktoren und individuellem Leben wird die Bismarck-Biographie Lothar Galls bezeichnet werden müssen – nicht umsonst erscheint hier der Bismarck der 1860er-Jahre als ein „Mann der Zeit, der ihren Strömungen und vorherrschenden Tendenzen zum Durchbruch verhalf“ (89, S. 401). Das habe seine außerordentlichen Erfolge ermöglicht. Dennoch aber hat auch Gall die Unwägbarkeiten, ja letztlich auch das Zufällige in der Entscheidungssituation von 1866 betont. Bismarck war nicht nur geschickt und verschlagen. Er hat auch Glück gehabt. Jede Spielsituation, und eine solche ist auch der Krieg und die Schlacht, hat in größerem oder kleinerem Ausmaß ihre unvorhersehbaren, nicht determinierbaren Elemente. Es wäre eine etwas naive Form von Geschichtswissenschaft, die sich darauf beschränkte, im Nachhinein zu zeigen, warum das Glück mit Notwendigkeit nur einer Seite zugute kam. Die Wiederentdeckung der Ereignisse, der Menschen, die sie machen, erleben und erleiden und der kulturell geformten Denkräume, in denen sie sie interpretieren, ist ein wesentliches Merkmal der Geschichtswissenschaft seit den 1980er-Jahren gewesen. In diesem Zusammenhang ist die Diskussion um „1866“ und mögliche Alternativen zur Reichsgründung zurückgekehrt. Sie hat nicht mehr die politische Brisanz der ersten Jahrhunderthälfte. Sie fußt auf dem gesicherteren Boden eines größeren Quellenbestandes und einer umfangreichen Detailforschung. Drei Anstöße sind auszumachen. Zum einen suchte eine eher postnationale Historikergeneration nach dem Leben jenseits seiner staatlichen Formung und politischen Durchdringung (124). In diesem Zusammenhang wurden die kleinen Staaten und Regionen wieder entdeckt. Und war nicht der deutsche Bund ein potentielles Instrument, ihren Bestand gegen den Zugriff der Großmächte Preußen und Österreich zu wahren? Hatte nicht die preußen- bzw. österreichfixierte Nationalgeschichtsschreibung versäumt, den Reformpotentialen des Bundes, den Aktivitäten seiner Klein- und vor allem Mittelstaaten nachzuspüren? Zum Zweiten wurde in Österreich über die Notwendigkeit einer eigenen Nationalgeschichte auch für das 19. Jahrhundert nachgedacht. Den Anstoß
„1866“ – oder: Alternativen zur Reichsgründung gab die Planung eines Museums für deutsche Geschichte in den 1980erJahren, in das die österreichische Geschichte für das 19. Jahrhundert wie selbstverständlich integriert wurde. Karl Dietrich Erdmann veröffentlichte im Zusammenhang damit Überlegungen zur deutschen Geschichte seit 1945 unter dem Titel „Drei Staaten, zwei Nationen, ein Volk?“ (84; vgl. 76; 77; 103). Beides löste in Österreich heftige Debatten über das eigene Selbstverständnis und seine historischen Wurzeln aus, die zu neuer Beschäftigung mit „1866“ führten. Zwar gab es noch einen Widerhall alter Diskussionen, als Heinrich Lutz 1985 in seinem Buch „Zwischen Habsburg und Preußen“ (108) noch einmal die österreichische Verlustgeschichte betonte und wenige Jahre später festhielt: „Bei den Vorgängen, die zum Ende des Deutschen Bundes und weiterhin zur Gründung des Deutschen Reiches führten, handelte es sich gewiss nicht um die ‘revolutionäre’ Setzung eines neuen, höheren Rechtes der deutschen Nation auf eine ihr angemessene Staatlichkeit. Es handelte sich eher um die erfolgreiche Durchsetzung des Führungsanspruchs eines dynastischen Einzelstaates, der die Ausschließung der österreichischen Deutschen aus dem angestrebten neuen Staatsverband wollte und sie durch militärische Mittel auch erreichte.“ (106, S. 4) Spannender aber wurden Ansätze, die das Nationale Österreichs im Nicht-Nationalen sehen wollten. Österreich vor 1866 verkörpere eben nicht, wie ein Großteil der deutschen Geschichtsschreibung meinte, das verknöcherte Vor- und Antinationale, sondern das Über- und Nachnationale. Es enthalte daher mehr Zukunftspotential als der katastrophal gescheiterte Bismarcksche Nationalstaat. Dieser „geistige Ausbruchsversuch aus einer historiographischen Tradition“ (115, S. 39; vgl. 118) von großdeutsch und kleindeutsch ist anschlussfähig für die regional-föderalistische Geschichtsschreibung der letzten Jahre wie auch für den dritten Diskussionsanstoß: die erneuerte Außenpolitik- und Diplomatiegeschichte. Die traditionelle Domäne der deutschen Geschichtswissenschaft war in den sozial- und strukturgeschichtlich dominierten 1970er- und 1980er-Jahren an die Seite gedrängt worden. Die Erfahrungen von 1989 und 1991 brachten sie zurück. Der Fall der Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion erschienen als strukturbrechende Ereignisse, die mit Namen und politischen Entscheidungen, nicht aber mit Strukturen und überpersönlichen Notwendigkeiten verbundenen wurden. Auch von hierher fiel neues Licht auf die Politik Bismarcks und seiner Gegen- bzw. Mitspieler. Scharf hat Anselm Doering-Manteuffel die Bedeutung von „1866“ aus dieser Perspektive skizziert: „Die Abtrennung der deutschen Nation von den österreichischen Bindungen machte den Nationalstaat in Deutschland möglich, aber auch seine Isolierung in Europa wahrscheinlich; diese Abtrennung kappte den Wurzelstrang der deutschen Tradition, der ins lateinische Mittelalter hinabreichte. Beides zusammengenommen bedeutete den nahezu völligen Bruch der geschichtlichen Beziehungen. Die deutsche Öffentlichkeit verfolgte das in rasender Geschwindigkeit ablaufende Geschehen des Jahres 1866 gebannt und nicht selten erschrocken. Die Jubelrufe der Machtanbetung kamen erst später. Europa als politischer Begriff war abgeschafft. Das Zeitalter der nationalen Machtstaaten brach an und machte die Wiederentdeckung des europäischen Zusammenhangs so
III.
Erneuerte Diplomatiegeschichte
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III.
Forschungsprobleme
Verschleiß von Alternativen?
Dynamik der Jahre 1850–1866
Nationale und liberale Bewegungen
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lange unmöglich, wie es sich nicht selbst in den Feuerstürmen zweier Weltkriege verzehrt haben würde.“ (82, S. 46) Eine schlüssige Deutung des Weges hin zu „1866“ ergibt sich aus den Detailforschungen der letzten Jahrzehnte und den Neuansätzen der letzten Jahre nicht. Häufig wird im Sinne eines allmählichen Verschleißes von Alternativen argumentiert. Hans-Ulrich Wehler hat vier Entwicklungspfade skizziert, die nach der Revolution von 1848/49 in die Richtung eines staatlichen Gehäuses für die deutsche Nationalbewegung führen konnten (68, Bd. 3, S. 331–335). Erstens einen Ausbau der föderativen Grundordnung des Deutschen Bundes, zweitens eine großdeutsche Lösung unter Einschluss des nichtdeutschen habsburgischen Terrains, drittens eine vom dritten Deutschland jenseits der Großmächte Österreich und Preußen ausgehende Bewegung und viertens eben die kleindeutsche Reichseinigung unter preußischer Führung. Nacheinander seien die ersten drei Alternativen an den politischen Realitäten zerschellt: am Übergang des europäischen Politikstils vom Mächtekonzert zur Machtpolitik, die die Rivalität zwischen Preußen und Österreich laufend verschärfte, an der drängenden Nationalbewegung, die andere als kompakte Nationalstaatslösungen kaum akzeptieren wollte, an der intransigenten Politik Österreichs, die zu lange auf Repression gesetzt hatte, an der Uneinigkeit des Dritten Deutschlands und nicht zuletzt am politischen Handeln Bismarcks, welches nach Ansicht von Anselm Doering-Manteuffel „keinerlei Orientierung an einem der entgegengesetzten Prinzipien der nationalen und liberalen oder der legitimistisch-konservativen Kräfte erkennen ließ, sondern allein auf den praktischen Nutzen gerichtet war.“ (82, S. 44) So sei am Ende nur die kleindeutsche Lösung verblieben, die allerdings durch Bismarck und durch die ihn fördernden Umstände eine Gestalt erhalten habe, die sogar ausgangs der 1850er-Jahre noch nicht vorhersehbar gewesen sei. An den letzten Teilsatz knüpft ein gewichtiges Argument gegen den Verschleiß von Alternativen an. Der Begriff Alternativen verdecke die große Dynamik der innerstaatlichen, bundesstaatlichen und europäischen Politiken der Jahre zwischen 1850 und 1866. Unter ihrem Druck hätten die Perspektiven stetig gewechselt, hätten Lösungen sich angedeutet, um bald wieder zu verschwinden und in neuer Form wieder aufzutauchen. Von einem allmählichen Verschleiß verschiedener Lösungsmöglichkeiten könne daher, so Jonas Flöter, keine Rede sein (86, S. 498–499) und ebenso nicht von einem verbleibenden, letztlich beschrittenen Königsweg. Umstritten ist zudem das Gewicht der nationalen und liberalen Bewegung. Dieter Langewiesche hat 1991 ein Forschungsprogramm zu den „Nationsbildungsprozessen im Dreieck Habsburg, Deutscher Bund und italienische Staatenwelt“ (103) skizziert. Dahinter steht die Hypothese, dass von unten her in Gang kommende Nationsbildungsprozesse die politischen Entscheidungen der 1860er-Jahre vorbereiteten. Weil im habsburgischen Reich diese Prozesse unterdrückt wurden und erst mit erheblicher Verspätung massenwirksam wurden, war es dem preußischen Ausgreifen unterlegen. Umgekehrt argumentieren seit Schnabel Kritiker der kleindeutschen Reichsgründung immer wieder, Bismarck habe die Büchse der Pandora überhaupt erst geöffnet bzw. dem daraus Entweichenden seine hässliche Gestalt gegeben. „Nicht der nationale Gedanke im vollen Sinn, mit der
Innere Reichsgründung
III.
Fülle seiner demokratischen Möglichkeiten und seiner übernationalen Perspektiven (…) siegte 1870 über Frankreich und in Deutschland, sondern ein durch die Interessen der preußischen Führungsschicht instrumentalisierter und bornierter Nationalismus, der Entwicklung und Ausgleich nach innen und nach außen erschwerte oder geradezu blockierte.“ (107, S. 490– 491) Dies scheint nun freilich nach neuesten Forschungen eine die Möglichkeiten Bismarcks und die Manipulierbarkeit der Liberalen und Nationalen überschätzende Vorstellung. „Hätte sich die vom bürgerlichen Liberalismus dominierte nationale Verfassungsbewegung mit ihrer Strategie durchgesetzt, wäre die deutsche Nationalstaatsgründung nicht weniger blutig verlaufen“, konstatiert Andreas Biefang (75, S. 435). Christian Jansen betont die Eigenständigkeit und Gestaltungskraft der Liberalen (98). Auch zahlreiche andere Autoren – der Nationalismus und seine Beziehungen zum Liberalismus sind seit den 1970er-Jahren wichtige Forschungsfelder (97; 104; 131) – haben in den letzten Jahren herausgearbeitet, dass die Nationalen und Liberalen in den 1860er-Jahren ebenso klare wie realistische Strategien verfolgten. Dass sie am Ende ihre Ziele nicht erreichten, kann nicht bedeuten, dass sie von vornherein aussichtslos gewesen sind. Die Frage nach den Alternativen zur Reichsgründung hat immer darunter gelitten, dass die geschichtspolitische Bedeutung einschlägiger Thesen hoch, ihre empirische Verifizierung aber schwierig war. „Was wäre gewesen, wenn …“ ist ein ebenso beliebtes wie tendenziell beliebiges Thema. Doch die Arbeit am Detail hat den Anteil des Spekulativen gemindert und die Vorsicht gegenüber lang gezogenen Kontinuitätslinien erhöht. Treitschke und Sybel, aber auch Schnabel, Srbik und Ritter beeindrucken noch mit der Konsequenz ihrer Darstellungen. Inhaltlich sind ihre Thesen abgetan. Die aktuelle Diskussion ist erstens durch einen genaueren Blick auf einzelne Phasen und Akteure gekennzeichnet, zweitens durch die Betonung sowohl der Bedeutung Bismarcks als auch der nationalen Bewegung und der für beide wichtigen Umfeldfaktoren und drittens durch eine Öffnung der Perspektive hin zu einer vergleichenden europäischen Nationalismus- und Nationalstaatsgeschichte.
2. Innere Reichsgründung Der Begriff „Reichsgründung“ kann vieles bedeuten. Er kann den verwickelten außen- und deutschlandpolitischen Prozess meinen, der über mehrere Kriege schließlich zur Gründung des Kaiserreichs führte. Er kann den formellen Gründungsakt selbst bezeichnen. Er kann die Formung einer regier- und verwaltbaren politischen und Wirtschaftseinheit bezeichnen, die seit der Gründung des Norddeutschen Bundes stattfand und ausgangs der 1870er-Jahre noch nicht abgeschlossen war. Und er kann die sehr viel längere Zeitspanne beschreiben, die nötig war, um das Reich im Bewusstsein seiner Bewohner zu verankern, es zu einer fühlbaren und identitätsstiftenden Einheit jenseits lokaler und regionaler Zugehörigkeiten zu machen. Die Forschung hat sich lange auf die erste Bedeutung konzentriert.
Begriff „Reichsgründung“
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III.
Forschungsprobleme Das wurde im vorangegangenen Kapitel behandelt. Die zweite steht uns allen vor Augen wegen des schulbuchklassischen Gemäldes, das Anton von Werner zur Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles geschaffen hat. Doch ist der Gründungsakt komplexer als auf den ersten Blick zu sehen. Er umfasst mehrere Etappen und ist als Träger von Zeichen und Bedeutungen Gegenstand neuester Forschungen. Der ausgangs der 1960erJahre ausgebrochene Streit um den von Helmut Böhme geprägten Begriff der „Inneren Reichsgründung“ changiert zwischen der dritten und der vierten Bedeutungsebene. Wir nehmen ihn zum Ausgangspunkt, um den Weg von der politischen über die sozialgeschichtliche hin zu einer kulturgeschichtlichen Erforschung der 1870er-Jahre abzuschreiten.
a) „Innere Reichsgründung“ als Forschungsthese Zäsur 1878/79
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Das Unstrittige zuerst: Seit Mitte der 1870er-Jahre änderte sich die politische Grundstimmung im Reich. Der „Kulturkampf“ (Virchow), in dem Bismarck und die Liberalen gemeinsam energisch die Ansprüche des modernen säkularen Staates gegen die Zumutungen des antimodernen Katholizismus durchsetzen und gleichzeitig die Zentrumspartei als Hort reichsfeindlicher Bestrebungen erledigen wollten, war trotz eines harten Vorgehens des Staates nicht zu gewinnen. Der Wirtschaftsboom der Reichsgründungsjahre schlug 1873 in eine schwere Wirtschaftskrise um, die das Vertrauen in die von den Liberalen beschworenen Selbstheilungskräfte des Marktes tief erschütterte. In dieser Situation kam es zum Bruch zwischen Bismarck und den Nationalliberalen, die eigentlich schon seit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 die Innen-, Wirtschafts-, Rechts- und Verwaltungspolitik in einem zwar konflikthaften, im Ganzen aber erfolgreichen Zweckbündnis mit dem Reichskanzler ausgestaltet hatten. Wichtigste Stationen auf dem Weg in eine neue politische Konstellation: Rücktritt des Chefs des Reichskanzleramtes Delbrück April 1876, dem Symbol für die Zusammenarbeit zwischen Kanzler und Liberalen; Scheitern der langen Verhandlungen zwischen Bismarck und dem nationalliberalen Parteiführer Bennigsen über den Eintritt Bennigsens ins Kabinett Februar 1878; Auflösung des Reichstags und schwere Verluste der Nationalliberalen bei den Reichstagswahlen Juni 1878; Verabschiedung des Sozialistengesetzes Oktober 1878; Verabschiedung einer Zoll- und Finanzreform mit den Stimmen des Zentrums und gegen die der meisten Nationalliberalen Juli 1879. In dem Streit zerfiel die Nationalliberale Partei. Bismarck suchte seine parlamentarische Unterstützung weiter rechts. Liberale Politikinhalte (Kulturkampf, Freihandel) wurden durch eher konservativ-antiliberale (Sozialistengesetz, Schutzzölle) ersetzt. Der Politikwechsel wurde unterstützt von einem erst schleichenden, dann offenen Stimmenverlust der liberalen Parteien im Reichstag, durch agrarische und industrielle Interessenverbände, die sich seit der Gründerkrise gebildet hatten sowie durch den Tod des Papstes Pius IX., dessen Nachfolger Leo XIII. zur Beendigung des Kulturkampfes bereit war und damit das Zentrum aus seiner Daueropposition befreien konnte.
Innere Reichsgründung Helmut Böhme nannte diesen Politikwechsel Bismarcks „innere Reichsgründung“. Damit wollte er den Blick öffnen für tiefere und längerfristig wirksame Dimensionen des politischen Handelns, die teils den Akteuren selbst verborgen geblieben seien. „Die Formung der konservativ-agrarischschwerindustriellen Solidarität als neuer deutscher Integrationskraft, die an die Stelle der verblassenden freihändlerischen, liberalen Interessengemeinschaft der Reichsgründungszeit trat, bedeutete den Abschluss der Einigungsepoche und die Schaffung der preußischen Hegemonie im deutschkonservativen Staat.“ (132, S. 14) Sei in den frühen und mittleren 1870erJahren noch unklar gewesen, wohin das Reich politisch steuern werde, so habe nun eine Koalition aus Konservativismus, Schwerindustrie und Landwirtschaft unter Einschluss des katholischen Zentrums das Fundament erfolgreicher Regierungspolitik gebildet. Nach der längerfristig eher folgenlosen liberalen Ära habe dies eine innenpolitische Neu- oder Umgründung des Reiches mit weitreichenden Auswirkungen bedeutet. 1879 habe Bismarck den ostelbischen Konservativismus zum zweiten Mal gerettet, indem er ihn mit den Kräften der Schwer- und Großindustrie verband. „Mit dem Jahre 1879 war der ‘eigene’ Weg Preußen-Deutschlands im Gegensatz zur westlichen Demokratie und zur russischen Autokratie gesichert, zugleich die Stellung des preußischen Adels in Heer, hoher Verwaltung und Diplomatie. Jetzt war die preußische Vorherrschaft in Deutschland endgültig begründet, die Konturen des ‘Reiches’ erst jetzt geprägt.“ (131, S. 331) Die Folgen für Innen- und Außenpolitik wurden von Böhme eher angedeutet als ausgeführt. Doch das Argument selbst war eindeutig: Was in der Spätphase Bismarcks „Kartell“ hieß, ausgangs der 1890er-Jahre „Sammlungspolitik“ genannt wurde und in der Propaganda des Ersten Weltkrieges als antiwestlicher deutscher Weg erschien, habe seine historische Grundlage in der konservativen Wende des ersten Reichskanzlers 1877–1879. Um sie zu verstehen, müsse man auf die „Vorbedingungen des jeweiligen individuellen Handelns“ (132, S. 11–12) schauen. Der Blick richte sich dann auf die wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen sowie auf die Entwicklung von Wirtschaft, sozialen Verhältnissen und Technik. Böhme verstand seine These als Beitrag zur Neuorientierung der Kaiserreich-Forschung, die allzu lange biographisch, diplomatisch und geistesgeschichtlich orientiert gewesen sei. Maßgebliche Werke der jungen historischen Sozialwissenschaft arbeiteten sich denn auch an seiner These ab, formulierten sie um und aus, entwickelten sie weiter. Hans-Ulrich Wehler diagnostizierte in seiner Kaiserreich-Geschichte von 1973 eine „Sammlungspolitik im ‘Kartell der staatserhaltenden und produktiven Stände’, 1876–1918“, die „trotz gelegentlicher Risse das Fundament der Reichspolitik bis 1918“ (67, S. 100) gebildet habe. Hans Rosenberg verwies auf die „Große Depression“, eine lange Abschwungphase der Konjunktur in den Jahren 1873–1896, die aus Phasen der Rezession und Phasen verlangsamten Wachstums bestanden habe. Die Große Depression sei ein wichtiger Hintergrundfaktor gewesen und habe den Politikwechsel wirtschafts- und sozialstrukturell ermöglicht. Massenpolitisierung und die Bildung von Interessenverbänden und Volksparteien, der Wechsel in den dominierenden Politikthemen von Verfassungs- und Rechtspolitik auf Wirtschaft und
III. „Innere Reichsgründung“
Sammlungspolitik
Große Depression
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III.
Forschungsprobleme
Primat der Innenpolitik
Kritik an der „Großen Depression“
1878/79 ohne determinierende Kraft
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Soziales, das „Interessengemeinschaftskartell“ von Industrie und Landwirtschaft – all das seien Bestandteile eines „Kausal-, Funktions- und Sinnzusammenhang[s] zwischen den langen Wechsellagen der Wirtschaft und den langfristigen Trends der politischen Struktur- und Konjunkturentwicklung“ (149). Bismarcks Erfolg 1877–1879 beruhe auf der geschickten Nutzung dieser Rahmenbedingungen. Er sei „nochmals zum ‘Gründer’“ geworden, „der die neue, ‘nationale’ Wirtschafts- und Sozialpolitik der antiquierten Klassenhierarchie des innenpolitischen Herrschaftssystems anpasste: der Erhaltung der politischen und sozialen Vormachtstellung seiner Standesgenossen.“ (148, S. 189) Doch die Auswirkungen der Großen Depression seien nicht auf die Innenpolitik beschränkt. Auch die Außenpolitik stehe in „Abhängigkeit vom Primat der militanten konservativ-autoritären Innenpolitik im Rahmen der Bismarck’schen Gesamtpolitik.“ Der Zweibund mit Österreich-Ungarn 1879 und das erneuerte Dreikaiserbündnis von 1881 wiesen einerseits auf die konservativ-antidemokratische Tendenz der Bismarckschen Außenpolitik. Andererseits entspreche „die außenpolitische [der] binnenwirtschaftliche[n] Kartellbewegung“ (148, S. 266). An die Stelle des offenen Wettbewerbs von Staaten sei seit 1879 und unter maßgeblichem Einfluss Bismarcks der „Zusammenschluss jeweils mehrerer Staaten zu defensiven, korporativen Allianzeinheiten“ getreten (148, S. 266). Kausal unabhängig, aber strukturell vergleichbar zur innen- und wirtschaftspolitischen Entwicklung im Reich sei der „‘protektionistische Kollektivismus’ auch im Bereich des internationalen Mächtesystems“ (148, S. 267) zum Tragen gekommen. Hans Rosenberg selbst hatte darauf hingewiesen, dass die von der historischen Sozialwissenschaft herausgestellten langen Entwicklungslinien politischer und ökonomischer Art sowie die postulierten Wechselwirkungen zwischen ihnen empirisch noch mangelhaft untersucht seien. Unglücklicherweise erwies sich das Verifizierungsunternehmen als schwierig. Zunächst wurden erhebliche Zweifel an grundlegenden Annahmen angemeldet. Hatte es die „Große Depression“ wirklich gegeben? Zwar ist eine tiefe Wirtschaftskrise, die erste und durchaus mentalitätsprägende des industriewirtschaftlichen Zeitalters, zwischen 1873 und 1879 nicht zu bestreiten. Hinzu kam seit der zweiten Hälfte der 1870er-Jahre eine strukturelle Agrarkrise, die die Landwirtschaft erheblich länger als bis 1879 belastete. Doch zur Kennzeichnung der ökonomischen Situation und der von ihr ausgelösten außerökonomischen Effekte in den Jahren 1873–1896 insgesamt sei der Begriff „Große Depression“ ungeeignet. „Die Annahme langer Konjunkturwellen stehe theoretisch und methodisch auf unsicherem Boden; die Große Depression stelle keine sinnvolle, weil einheitliche wirtschaftshistorische Epoche dar; wie sich die ökonomische Krise politisch umgesetzt habe, sei unklar, so dass der Depression Effekte zugeschrieben würden, die gar nicht von ihr ausgegangen seien“ (61, S. 62) – so hat HansPeter Ullmann die insgesamt schlagende Kritik zusammengefasst. Ein zweites Moment des Zweifels richtete sich gegen die langfristige Wirksamkeit der 1877–1879 getroffenen politischen Entscheidungen. Die Neufundierung der Reichspolitik durch ein Bündnis von Schwerindustrie und Großlandwirtschaft und den sie unterstützenden Parteigruppen ließ sich im parlamentarischen und außerparlamentarischen Alltag der Reichs-
Innere Reichsgründung politik schlecht nachweisen. Sicher, es gab das Kartell von Nationalliberalen und Konservativen ausgangs der 1880er-Jahre und den von Johannes von Miquel geprägten Begriff der Sammlungspolitik um 1900, der Flottenbau und Zollpolitik gleichermaßen eine parlamentarische Unterstützung sichern sollte. Aber war dies nicht „mehr Parole als Politik, mehr Wunsch als Wirklichkeit“ (61, S. 148)? Schon zu Beginn der 1880er-Jahre hatte sich gezeigt, dass von einem mehrheitsfähigen Parteibündnis zur Unterstützung der Regierung im Reichstag keine Rede sein konnte. Die verbliebenen Nationalliberalen und die regierungsfreundlichen Konservativen allein waren zu schwach. Und das Zentrum erwies sich als unsicherer Kantonist. Es pochte auf die Rechte des Parlaments und blieb regierungskritisch bis -feindlich, solange der Kulturkampf nicht beendet wurde. Bismarcks Idee eines Tabakmonopols wurde daher verworfen. Das Unfallversicherungsgesetz scheiterte im ersten Anlauf. Auch die Wähler schienen den veränderten Kurs nicht zu schätzen. Bei den Reichstagswahlen von 1881 verloren die regierungsnahen Parteien deutlich. Zentrum und Sozialdemokratie blieben stabil. Ausgerechnet die von Bismarck so bekämpften Linksliberalen aber legten deutlich zu. Bismarck steuerte daraufhin einen antiparlamentarischen Kurs, versuchte, Parteien und Parlament zu schwächen. Doch das gelang nicht wirklich. In den Worten Wilfried Loths: „Bismarck erzielte auch weiterhin nur Abwehrsiege im Sinne einer provisorischen Befestigung des Status quo, und mit der Zeit verlor er alle Glaubwürdigkeit.“ (39, S. 67) Auch das Kartell von 1887, die wegen ihrer Wahlabsprache bei den Reichstagswahlen so genannte absolute Mehrheit der Nationalliberalen und Konservativen im Reichstag, war nur kurzzeitig eine sichere Basis für Bismarck. Gegensätze in der Wirtschaftspolitik (Erhöhung der Getreidezölle), der Kulturpolitik (Milderungsgesetze zur Beendigung des Kulturkampfes) und der Innenpolitik (Verschärfung des Sozialistengesetzes) trieben Nationalliberale und Konservative schnell auseinander. Schließlich ist auch umstritten, ob es eine „Sammlungspolitik“ in den Jahren um 1900 gegeben hat. Zwar wurden Flottenpolitik, Zollpolitik und Antisozialismus zur gleichen Zeit betrieben. Aber waren sie Elemente einer groß angelegten konservativ-antidemokratischen Herrschaftssicherungsstrategie? Für die Kritiker dieser These gab es, so erneut Hans-Peter Ullmann, „zwischen Flottenbau und Zolltarifrevision keine sachliche Verbindung nach Art einer ‘Do-ut-des-Politik’. Beide fielen nur zeitlich zusammen und das verringerte die Konflikte nicht, verschärfte sie vielmehr. Deshalb eignete sich die ‘Sammlungspolitik’ auch nicht als langfristige, defensive Herrschaftsstrategie mit dem Ziel, das System und seine sozialen Grundlagen zu stabilisieren.“ (61, S. 147–148) Nicht nur die wirtschaftlichen Grundlagen (Große Depression) und die politische Alltagspraxis, auch die Absichten und Handlungsweisen Bismarcks sprechen nicht für die These Böhmes und ihre Weiterungen durch Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft. Insgesamt hat die BismarckForschung von der in der ersten Jahrhunderthälfte beliebten Vorstellung Abschied genommen, der Reichskanzler habe langfristig und zielsicher genau die Dinge angestrebt, die unter seiner maßgeblichen Beteiligung später eintraten und das Leben der Deutschen prägten: Verfassungskonflikt,
III.
Kritik an „Sammlungspolitik“
Situative Politik Bismarcks
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III.
Forschungsprobleme
Otto Pflanze
Strukturelle Bedingungen Bismarckscher Herrschaft
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Reichseinigungskriege, Reichsgründung, konservative Wende, ehrlicher Makler Europas. Bei genauerer Betrachtung waren auch Böhme, Wehler und Rosenberg dieser Idee noch verhaftet, nur dass sie sie vom Positiven ins Negative wendeten. „Bismarck-the-good-genius“ sei durch „Bismarckthe-bad-genius“ ersetzt worden, karikierte Otto Pflanze (144, S. XXVII). Doch werden damit die Möglichkeiten eines Einzelnen, und sei er auch eine historische Größe, unter den Bedingungen der heraufziehenden Industriegesellschaft und stärker werdender internationaler Verflechtungen nicht überschätzt? In den letzten Jahren haben sich eher Deutungen durchgesetzt, die in Bismarck einen durch Lebenserfahrung geprägten, in seiner Grundüberzeugung konservativen, doch zutiefst von Machtinteressen und Opportunitätserwägungen getriebenen Taktiker sehen, der es sorgfältig vermied, sich vor der Zeit festzulegen und stets mehrere Optionen erwog. Er konnte seinen zeitgenössischen Kritikern deswegen als vollkommen grundsatzlos und seinen nachgeborenen Bewunderern als unerreicht erfolgreicher Politikstratege mit von vornherein festliegenden Zielen erscheinen. Von diesen Projektionen muss sich die Forschung jedoch lösen, will sie zu situationsadäquaten Analysen gelangen. Ins Extrem hat Otto Pflanze diesen Blick auf die Situation getrieben. Nach ausgedehnten Aktenstudien kam er zu dem Ergebnis, dass hinter Bismarcks Politik 1879 nicht ein ausgeklügelter Plan für ein dauerhaftes Zweckbündnis von Großgrundbesitz und Schwerindustrie steckte. Vielmehr handle es sich um „ein[en] Akt schieren Opportunismus“ (143, S. 191). Seine persönlichen Erfahrungen als Student und seine Schwierigkeiten in der Gutsverwaltung brachten ihn zu politischen Aktionen, hinter denen Zeitgenossen wie Nachgeborene unberechtigterweise strategische Konzepte vermuteten. Auch habe Bismarck in den 1880er-Jahren durchaus antikapitalistische Politiken verfolgt (Branntwein- und Tabakmonopol, Steuerpolitik), die der Vorstellung einer durchgängigen Sammlungspolitik direkt zuwiderliefen. Weiterhin, so Pflanze an anderer Stelle (145), sei der Schutzzoll 1879 von Arbeitgebern wie Arbeitnehmern gleichermaßen gefordert worden. Es handle sich außerdem keineswegs um ein besonders originelles Bismarcksches Konzept, sondern um einen international üblichen und angesichts der tiefen Wirtschaftskrise auch nahe liegenden wirtschaftspolitischen Schritt. Dass Bismarck das Reich durch seinen Politikwechsel 1877/79 absichtsvoll und mit langfristigen Folgen neu gegründet hätte, kann nach dem Ausfall des wirtschaftshistorischen Grundes (Große Depression), der anders gearteten politischen Alltagsgeschäfte und der anders zu interpretierenden Bismarckschen Handlungsweisen kaum noch behauptet werden. Neuere Arbeiten haben das Argument geradezu umgekehrt, auf die strukturellen Bedingungen der Bismarckschen Herrschaft hingewiesen und den Reichskanzler selbst als zeitweiligen Profiteur einer fragilen soziostrukturellen Machtbalance gedeutet. Seine Sonderstellung ergebe sich aus dem „labilen Gleichgewicht zwischen aufsteigendem Bürgertum und traditionellen Führungsschichten unter den besonderen Bedingungen des frühen Kaiserreiches. Wer es wie Bismarck in dieser Situation verstand, Interessen des Bürgertums zu verwirklichen und zugleich die Position der alten Eliten zu
Innere Reichsgründung stabilisieren, sich selbst also als eine Art Vermittler und die eigene Politik als eine solche des Kompromisses zu präsentieren, konnte beträchtliche Macht in seiner Hand konzentrieren.“ (61, S. 94) Doch das labile Gleichgewicht verschob sich mit fortschreitender Industrialisierung. Die Herrschaftsgrundlage zerging. Bismarck wurde zum Anachronismus. Er hielt sich mit zunehmender Gewaltsamkeit an der Macht und wurde 1890 zu spät entlassen. Der Politikwechsel von 1877/79 kann in dieser Perspektive nicht als innere Reichsgründung bezeichnet werden. Es handelt sich vielmehr um einen in seinen destruktiven Elementen folgenreichen, als Machtsicherungshandlung weitgehend fehlgeschlagenen Akt kurzsichtiger politischer Selbstverteidigung. An diesem Urteil wiederum zeigt sich, dass die Diskussion über Böhmes These von der „Inneren Reichsgründung“ und ihre Weiterungen keineswegs folgenlos geblieben ist. Die These überspitzte den Wandel und überinterpretierte seine langfristigen Folgen. Doch festzuhalten bleibt nach der Debatte, dass der Politikwechsel von 1877/79 – auf einem Wechsel der wirtschaftlichen und sozialen Umfeldbedingungen beruhte und keine autonome Entscheidung eines Einzelnen war, – die wirtschaftliche und rechtliche Einigungspolitik entscheidend veränderte, die Bismarck und die Liberalen in konfliktreicher Gemeinsamkeit schon vor dem Reichsgründsakt im Norddeutschen Bund begonnen hatten, – die Nationalliberalen spaltete und den Liberalismus in Deutschland irreparabel schwächte, – und mit alledem einen dauerhaft wirksamen Wechsel des politischen Klimas und der politischen Kultur bewirkte. Freilich entzieht eine solche bei aller Deutlichkeit doch zurückhaltende Beschreibung der Ereignisse von 1877/79 als Politikwechsel der Böhmeschen These den Clou. Innere Reichsgründung geschah eben nicht punktuell und absichtsvoll ausgangs der 1870er-Jahre, um den antidemokratischen Obrigkeitsstaat dauerhaft zu stabilisieren. Innere Reichsgründung ist als ein längerfristiger Prozess zu sehen, der von unterschiedlichen Protagonisten mit unterschiedlichen Zielen betrieben wurde, von denen die Stabilisierung des monarchischen Obrigkeitsstaates nur eines war. Sie begann mit der Gründung des Norddeutschen Bundes und war 1877 nicht zu Ende. Hans-Ulrich Wehler selbst hat in der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ – zwanzig Jahre nach dem „Kaiserreich“-Band – die veränderte Wahrnehmung der Reichsgründung angedeutet. Er sprach nun von drei Reichsgründungsakten: „der militärisch-diplomatischen Reichsgründung von oben“, „der bürgerlich-liberalen Reichsgründung“ sowie der „innenpolitische[n] Umstellung auf die Rechtskoalition, bei der es vierzig Jahre lang bleiben sollte“ (68, Bd. 3, S. 871–872). Damit hielt er zwar an der These von der „inneren Reichsgründung“ entgegen dem Forschungstrend noch fest. Doch ließ er die Jahre 1867–1877 als eigenständig Bedeutung tragende und folgenreiche Zeit gelten. Dieser „liberalen Ära“ hat sich die Forschung in den letzten Jahren zugewandt, während sie sich parallel dazu von Böhmes „Innerer Reichsgründung“ abgewandt hat. Sie hat damit, wie Michael Stolleis an rechtshistorischen Beispielen gezeigt hat (154), ein weiteres Verständnis von innerer Reichsgründung gewonnen, das nicht mehr nur Bismarck in
III.
Bleibendes der These „Innere Reichsgründung“
Reichsgründung als längerfristiger Prozess mit vielen Akteuren
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III.
Forschungsprobleme den Vordergrund schiebt und die historischen Wurzeln wie die längerfristigen Folgen der verschiedenen Politiken und Politikfelder vorsichtiger beurteilt, die zur Konsolidierung des Reiches beigetragen hatten.
b) Die Liberalen im Reichsgründungsjahrzehnt Verfallsgeschichte des Liberalismus?
Kritik an der Verfallsgeschichte
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In den Brennpunkt des Interesses muss bei einer solchen Deutung der Liberalismus geraten, die – aufs Ganze gesehen – bedeutendste politische Kraft des 19. Jahrhunderts (134; 139; 152). „Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des Liberalismus. Mit dessen Wirkungsmächtigkeit konnte keine andere politische Ideologie, keine andere politische Bewegung konkurrieren.“ (138, S. 11) Vom Politikwechsel 1877/79 her und mit Blick auf deutlich rückläufige Mandatszahlen – die liberalen Fraktionen insgesamt hatten in den ersten beiden Reichstagen die absolute Mehrheit, während sie nach 1900 nur noch zwischen einem Viertel und einem Fünftel der Mandate errangen, in den Landtagen war die Bilanz nicht wesentlich besser – und nachlassenden politischen Einfluss ist die Geschichte des Liberalismus lange als Verfall und Verlust geschrieben worden, mit je nach Gemütslage und Wertungsinteressen unterschiedlichen Anteilen von Schuld und Tragik. Derartige Deutungen fanden sich bereits in der Abrechnung mit dem Kaiserreich, die der Soziologe Max Weber 1917 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte. Von der „politische[n] Nichtigkeit des Parlaments und der Parteipolitik“ (155, S. 313) war hier die Rede, die der Hochzeit des Reichstagsparlamentarismus in den 1870er-Jahren gefolgt sei. Weber hielt den Niedergang für eine Konsequenz der Verheerungen, die der rach- und machtsüchtige Genius Bismarck unter seinen Gegnern angerichtet hatte. Walter Bußmann argumentierte geistesgeschichtlich aus liberaler Perspektive und sah auch realpolitisch Positives in der liberalen Politik (133). Friedrich C. Sell hingegen beschrieb die „Tragödie des deutschen Liberalismus“ (152) mit deutlich mehr Schuldanteilen. Die bürgerliche Partei habe ihre historische Aufgabe der Parlamentarisierung und Demokratisierung des Deutschen Reiches verfehlt, weil sie ihre Ideen und Ideale der Kooperation mit dem Machtstaat geopfert habe. Derartige Deutungen verdankten sich erstens dem Wissen um das Ende und der daraus folgenden – letztlich unhistorischen – Frage, was die Liberalen ‘eigentlich’ hätten tun sollen. Sie beruhten zweitens auf einem noch sehr eingeschränkten Quellenbestand – den Nachlässen einiger Hauptbeteiligter, den gedruckten Hinterlassenschaften der Reichs- und mancher Länderparlamente etc. Drittens und daraus folgend argumentierten sie primär ideen- und politikgeschichtlich. Seit den 1970er-Jahren (136; 156; 141; 153) ist hingegen gefordert worden, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen stärker zu berücksichtigen, die den Wandel des Liberalismus beeinflussten, seine soziale und kulturelle Verankerung im seinerseits sich wandelnden Bürgertum wahrzunehmen und deshalb den Blick auf die regionalen, ja lokalen Ausprägungen des Liberalismus zu richten. Das Interesse wandte sich deshalb von den Personen ab
Innere Reichsgründung und den Strukturen zu. James J. Sheehan, Autor einer Gesamtdarstellung, die programmatisch die Richtung für die 1980er-Jahre wies, meinte, es liege vielleicht „etwas Tröstliches in der Vorstellung, es hätte nur einer etwas anderen Handlungsweise einer kleinen Gruppe von Männern bedurft, und der Liberalismus hätte eine andere Entwicklung genommen. So einfach, scheint mir, war es nicht gewesen. Mir scheint wichtiger, dass man immer wieder auf historische Situationen stößt, in denen die Umstände den Entscheidungsspielraum der Liberalen verengten und oft verhinderten, dass sie einen Weg einschlugen, auf dem die Liberalen sich und ihre Ideale hätten retten können.“ (153, S. 9) Sheehans Bemerkung stand am Anfang einer seitdem reich entfalteten Forschung. Sie hat sich eher auf Deutschland und den deutschlandinternen Regionenvergleich konzentriert als auf internationale Komparatistik, wenngleich es auch für den internationalen Vergleich markante Beispiele gibt (137; 140). Sie hat gegenüber den älteren kritischen ideengeschichtlichen Deutungen zunächst die Komplexität des Liberalismus betont – ein Ergebnis, das sich wohl am Ende jeder regional-, sektoral- und schichtbezogenen Forschungsanstrengung einstellt. Sie hat darüber hinaus die relativen Erfolge der Liberalen betont, und damit auch Sheehans eher skeptische Wertungen revidiert, und schließlich auf ihre begrenzten Handlungsspielräume hingewiesen. Beginnen wir mit den Erfolgen. Vielleicht haben ja die Erfahrungen mit der Mühsal des europäischen und des deutschen Einigungsprozesses zu diesem Perspektivenwechsel ebenso beigetragen wie die insgesamt regionalistische, dem Kleinen und dem Alltag zugewandte Geschichtsschreibung seit den späten 1970er-Jahren. Jedenfalls wurde nun stärker berücksichtigt, dass die Verwandlung einer Ansammlung traditionsreicher und in sich bereits gefestigter Regionalstaaten völlig unterschiedlicher Größe und völlig unterschiedlicher politischer Traditionen in ein im Wesentlichen funktionierendes Reich kein Selbstläufer war, sondern eine beachtliche Leistung darstellte. Was eigentlich verband den ständestaatlich geprägten Mecklenburger mit dem in kommunaldemokratischen Strukturen aufgewachsenen Badener? In welcher Sprache sollten sich Lothringer und Posener verständigen? Wie sollten Tübinger Universitätsprofessoren und westfälische ultramontane Katholiken miteinander auskommen? „Man hat zunächst die ‘Krisenherde des Kaiserreichs’ untersucht“, kritisierte Dieter Langewiesche ausgangs der 1980er-Jahre, „während wir weit weniger wissen über die keineswegs selbstverständliche rasche Integration derjenigen, die zwar einen deutschen Nationalstaat, aber nicht diesen gewollt hatten.“ (139, S. 143) Diese Integration hatte eine mentale Seite – der Kaiser- und der Nationsgedanke traten in nach sozialer Schicht, Konfession und Region unterschiedlicher Intensität an die Seite regionaler und lokaler Identifikationsmuster. Sie hatte auch eine ganz praktische, darum aber nicht weniger komplizierte Seite. Gleiches Recht für alle, einheitliche Währung, Maße und Gewichte, das alles gab es 1871 nicht. Es gab unterschiedliche Gewerberechte, unterschiedliche Staatsbürgerrechte und Armenfürsorgeregelungen, unterschiedliche Instanzenzüge in Verwaltung und Recht, unterschiedliche Regelungen des Staat-Kirche-Verhältnisses usw. Die Verfassung
III.
Erfolge des Liberalismus
Innere Ausgestaltung des Reiches
39
III.
Forschungsprobleme
Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft
Liberale Selbstdeutung
Grenzen der liberalen Reichsgründungsära
40
des Deutschen Reiches regelte nichts davon. Sie war nicht mehr als ein Organisationsstatut. Wolfgang J. Mommsen hat in Anlehnung an Carl Schmitt die Verfassung als ein „System umgangener Entscheidungen“ bezeichnet und von einer „schwebende[n] Machtstruktur“ gesprochen (142, S. 33). Hier setzten die Liberalen an. Konnten sie nicht mit Recht hoffen, mit der reichsvereinheitlichenden Gesetzgebung aus dem Reichstag heraus allmählich auch die innere Demokratisierung und Parlamentarisierung zu bewerkstelligen, die sie 1871 nicht hatten erreichen können? Theodor Schieder hat vom „Leitbild vom unvollendeten und zu vollendenden Nationalstaat“ (150) gesprochen, das den nationalen Liberalismus beherrschte. „Im Rückblick wird, nach dem Scheitern des Liberalismus, die Bedeutung dieser Jahre leicht unterschätzt“, mahnte Thomas Nipperdey, „zumal uns die ältere Freude an der unifizierenden nationalen Gesetzgebung fremd geworden ist, die Ergebnisse selbstverständlich scheinen. In Wirklichkeit aber ist das – nach dem Vorspiel im Norddeutschen Bund – der Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft: des großen Marktes, des freien Wettbewerbs, des Kapitalismus, der Mobilität, des Leistungsprinzips, gegen alle ständischen und bürokratischen Beschränkungen, und der Durchbruch der Klassengesellschaft auch. Das war ein entschiedener Schritt in die Modernität.“ (47, Bd. 2, S. 363) Die Liberalen sahen es auch so. Voller Stolz blickten sie in Rechenschaftsberichten und Wahlprogrammen auf die Jahre seit 1866 zurück und rechneten sich das Geschaffene als eigenes Verdienst an. Die liberale Ära gehöre zu den „großartigsten Erscheinungen in der Reformgeschichte Preußens und Deutschlands, wie überhaupt in der Reformgeschichte irgend einer zivilisierten Nation“, urteilte der linksliberale Eduard Lasker 1880. „Als die großartigsten Ergebnisse dieser Art sind zu verzeichnen: die Verfassungen des Norddeutschen Bundes und des Reichs, die auf die Organisation, Ausstattung und Erhaltung des Heeres und die Militärdienstpflicht bezüglichen Gesetze, die Reichsgewerbeordnung, das Strafgesetzbuch, die deutschen Justizgesetze, die Kreisordnung, Selbstverwaltungs- und Verwaltungsgerichtsgesetze in Preußen. In allen diesen Fällen wurden enorme Schwierigkeiten in unglaublich kurzen Fristen überwunden; zahllose andere Beispiele von geringeren Dimensionen reihen sich an.“ Die vergangenen Jahre zeigten, so Lasker weiter, „wie viel mit beiderseitiger Mäßigung (…) zwischen einer stark monarchischen, sogar autoritären Regierung und einer maßvollen, ihrer Verantwortung bewussten liberalen Partei“ (zit. n. 139, S. 165–166) zu erreichen sei. Freilich, die innere Ausgestaltung des Reiches gelang nur unvollständig, wie ein genauer Blick auf die Erfolgslisten von Nipperdey und Lasker zeigt. Weder erlangte das Parlament Zugriff auf das Militär, noch konnte es die Regierung bilden oder entlassen. Bismarck und seine Nachfolger blieben die jeweils einzigen Reichsminister und waren von der Gnade des Kaisers, nicht der Volksvertretung abhängig. Bismarck hat sorgfältig darauf geachtet, dass die obrigkeitsstaatlichen Reservate gewahrt blieben. Sein Politikwechsel ausgangs der 1870er-Jahre war nicht zuletzt dadurch motiviert, dass er einer drohenden Abhängigkeit von den Liberalen, der Quasi-Regierungspartei, zuvorkommen wollte. Die ältere geschichtswissenschaftliche Kritik an den Liberalen bezieht sich gerade auf dieses Faktum. Doch die neuere
Innere Reichsgründung Forschung hält diese Kritik für überzogen und verweist dabei auf die immer begrenzter werdenden Handlungsmöglichkeiten. Grundsätzlich stellten, so Dieter Langewiesche, die 1870er-Jahre eine für die liberalen Parteien überaus günstige Ausnahmesituation dar. „In der Reichsgründungsära waren sie nicht einfach Parteien neben anderen Parteien gewesen, sondern sie verkörperten eine Bewegung, der sich alle zurechneten, die auf den kleindeutschen Nationalstaat hofften, weit über die überzeugten Liberalen hinaus. Liberalismus und nationale Bewegung waren zu Synonymen geworden.“ (139, S. 135) Je mehr aber die Euphorie der Reichsgründungsjahre verging, je mehr sich die übrigen Parteien des deutschen Fünfparteienspektrums (Konservative – Rechtsliberale – Linksliberale – Zentrum – Sozialdemokratie) schlagkräftig formierten, umso mehr wurden die Liberalen auf ein normales Maß zurückgestutzt. „Für den Liberalismus musste diese Auffächerung Verluste bringen, denn er schrumpfte nun von der nationalen Bewegung zur Partei unter mehreren, und er wurde zudem noch dadurch schwer belastet, das große Ziel der Vergangenheit durch neue Ziele ersetzen zu müssen.“ (139, S. 135) Man wird also nicht einfach vom Reichsgründungsjahrzehnt aus auf das Nachfolgende sehen und Verfall diagnostizieren können, sondern eher von einem „Normalisierungsprozess“ (Langewiesche) ausgehen müssen. Von den Stimmenanteilen wie vom politischen Einfluss her ergibt sich dann ein eher leichter Rückgang, der Konservative, Liberale und Zentrum gleichermaßen betraf und mit den scheinbar unaufhaltsamen Wahlerfolgen der Sozialdemokratie zusammenhing. Zweitens wurde die Situation der Liberalen durch die Ökonomisierung der Politik wesentlich erschwert. Als nationale Bewegung hatte sie ihre großen Erfolge gefeiert. Doch nachdem das nationale Ziel erfüllt war, traten Wirtschaftsthemen wie die Schutzzollfrage in den Mittelpunkt des politischen Interesses. Die Wirtschaftspolitik der liberalen Ära schien durch die nachhaltig wirksame Gründerkrise delegitimiert. Bei der Frage nach Korrekturen ging aber der Riss mitten durch die liberalen Parteien hindurch. Ihre Mandatsträger wie Anhänger mussten teils Gewinner, teils Verlierer von Kursveränderungen sein. Sie verhielten sich entsprechend unterschiedlich. Drittens hatten die Liberalen erhebliche Schwierigkeiten, den Eintritt der Massen in die politische Arena zu verarbeiten. Liberal sein, das hieß in ihrem Selbstverständnis Besitz, Bildung und Ansehen zu haben, wirtschaftlich unabhängig und für politische Aufgaben abkömmlich zu sein, für andere und für das Gemeinwohl verantwortlich handeln, den Fortschritt befördern. Doch das Allgemeine Männerwahlrecht, das seit dem Norddeutschen Bund galt, versetzte die Bürger in die Minderheit. Verschärfend kam hinzu, dass die Wahlbeteiligung von 51% 1871 bis auf 84,9% 1912 stetig anwuchs, was wegen der Bevölkerungszunahme eine Zunahme der wählenden Bevölkerung von 3,9 Mio. 1871 auf 12,3 Mio. 1912 bedeutete. Der enormen Ausdehnung der Wählerschaft entsprach jedoch keine Ausdehnung der parlamentarischen Befugnisse, keine Parlamentarisierung der Politik. „Abgeschnitten von der Regierungsverantwortung und in den Wahlen angewiesen auf die Zustimmung von Bevölkerungskreisen, denen das liberale Bürgerideal unerreichbar schien – diese Mischung aus blockierter
III. Sondersituation 1870er-Jahre
Ökonomisierung der Politik
Eintritt der Vielen in die politische Arena
41
III.
Forschungsprobleme
Milieus und Parteiorganisation
Kommunaler Sozialliberalismus
Forschungsaufgaben
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Parlamentarisierung und gesellschaftlicher Fundamentalpolitisierung gab es nur im deutschen Kaiserreich. Sie begrenzte offenbar die Durchsetzungschancen der Liberalen wirksam.“ (138, S. 15) Zentrum, Sozialdemokratie, Konservative und auch antisemitische Protestparteien sammelten die Verlierer des rasanten Modernisierungsprozesses. Auf sozialmoralischen Milieus aufruhend, mit Kirchen, Gewerkschaften, Vereinen und Verbänden verschwistert, oft sozial und regional tief verankert, leiteten sie die Wasser der Massenpolitisierung auf ihre Mühlen. Leicht konnten sie zeigen, dass hinter der Gemeinwohlrhetorik der Liberalen auch schichtenspezifische Interessen steckten, hinter dem kulturkämpferischen Freiheitsideal auch ein Antikatholizismus und Antiklerikalismus. Die Liberalen taten sich, so Dieter Langewiesche, lange schwer, eine schlagkräftige Parteiorganisation zu entwickeln. „Sie fühlten sich als politische und kulturelle Repräsentanten des deutschen Nationalstaats, sie gehörten zur dominanten Kultur. Eine subkulturelle Ausgrenzung und Organisierung ihrer politischen Klientel lag deshalb außerhalb ihrer Möglichkeiten. Das machte sie politisch verwundbar, sobald der Kern liberalen Denkens im Kaiserreich – die Idee der Nation und des starken Nationalstaats – von der Öffentlichkeit nicht mehr als Monopol liberaler Parteien hingenommen wurde.“ (139, S. 164) Der Erfolg der Liberalen in den 1860er und 1870er-Jahren wurde ihnen in mehrfacher Hinsicht zum Hindernis. Zum Hauptaktionsfeld der Liberalen nach dem Ende der liberalen Ära wurden die großen Kommunen. Hier, wo verschiedene Formen ungleichen Wahlrechts die liberalen Parteien begünstigten, wo eine Themenpalette von Infrastrukturförderung bis zur Gesundheitspolitik die unpolitische Gemeinwohlrhetorik glaubwürdiger erscheinen ließ, blieb der Liberalismus bis zum Ersten Weltkrieg die wichtigste gestaltende Kraft. Von einem „kommunalen Sozialliberalismus“ (139, S. 9; vgl. 147; 146) hat Dieter Langewiesche gesprochen, unter Verweis auf Stadtplanung und Städtesanierung, Gesundheitsfürsorge, Armenpflege und Sozialpolitik. Der kommunale Sozialliberalismus nahm Elemente des Weimarer Wohlfahrtsstaats vorweg, „umgab sie aber mit den Mauern undemokratischer Institutionen, die im Kaiserreich nirgends höher waren als in den Gemeinden.“ (139, S. 9) Das Urteil über den Liberalismus des Kaiserreichs entfernt sich bei genauerer Betrachtung von älteren, eher holzschnittartigen Verdikten. Die genauere Betrachtung von Politikfeldern, aber auch von regionalen, ja lokalen Beispielen haben dazu beigetragen (135). „Der deutsche Liberalismus gelangte“, so Hellmut Seier, „bis 1880 nur zur Machtteilhabe, nicht zur Macht. Es gab aber keinen liberalen Machtverzicht spezifisch deutscher Prägung, es gab lediglich spezifisch deutsche Rahmenbedingungen und Komplikationen, aus welchen der Eigenweg des Liberalismus erwuchs. Dazu zählten herausragend die konfessionelle Spaltung, die föderative Tradition, das Modernisierungsgefälle, die Nationalstaatswerdung, der Großmachtrang.“ (151, S. 229) Regionale, schichten- und konfessionsezifische Analysen werden auch notwendig sein, um die Frage zu klären, ob und wann die Reichsgründung im Bewusstsein der Reichsangehörigen angekommen war, mithin die letzte der eingangs angesprochenen vier Bedeutungen von Reichsgründung er-
Bismarcks Kolonialpolitik
III.
füllt war. Über die bürgerlichen Liberalen als Speerspitze der Nationalbewegung brauchen wir in diesem Zusammenhang nicht viele Worte zu verlieren. Die Katholiken, die Linksliberalen, die Arbeiterbewegung, die nichtdeutschen Reichsangehörigen (Polen, Dänen, Elsässer und Lothringer) aber waren aufgrund der Reichseinigung selbst und der auf sie folgenden innenpolitischen Präventivkriege Bismarcks (Kulturkampf, Sozialistengesetz) als Reichsfeinde gebrandmarkt worden. Ob und inwieweit sie sich auf Dauer in das Reich integrierten, ist umstritten. Thomas Kühne hat sich hierzu sehr skeptisch geäußert: „Die kulturalistische Nations-Forschung legt … den Schluss nahe, dass von einem vorherrschenden Entwicklungstrend (von der Kommune oder Region hin zur Nation) im Grunde gar nicht die Rede sein kann. Die Nation als Konstrukt ist stets – nicht nur nach außen – mit Konflikt und Fragmentierung verbunden.“ (33, S. 249) Doch besteht hier weiterer Forschungsbedarf. Man kann wirtschaftliche (Ausbau der Infrastruktur und der Kommunikationsmittel, Entstehung und Verdichtung eines nationalen Wirtschaftsraumes) soziokulturelle (Entstehung eines nationalen Kulturraumes, Deregionalisierung durch Migration) und politische Vereinheitlichungseffekte (Nationalismus, Popularisierung von Reich und Kaiser) unterscheiden (61, S. 14–50), die regional, schichten- und konfessionsspezifisch wirkten. Damit aber werden unter Zugrundelegung kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen die politikgeschichtlichen Zäsuren von Reichsgründung, „Innerer Reichsgründung“ und Entlassung Bismarcks überschritten. In den verschiedenen Bereichen der Debatte um die „Innere Reichsgründung“ lösen kleinteiligere Zugriffe und internationale Vergleiche den Sonderfall Kaiserreich auf.
3. Bismarcks Kolonialpolitik a) „Bismarck und der Imperialismus“ „In technique and interpretation this massive book, written by a young Dozent at Köln, is representative of a growing revolution in German historical writing“, schrieb die American Historical Review (Bd. 75, 1970, S. 1146, Rezensent O. Pflanze). Die „Review of Politics“ (Bd. 32, 1970, S. 266, Rezensent G. Mork) erkannte „a contribution of theory and substance to comparative world history“. Von einer „Arbeit, die Maßstäbe setzt“ berichtete die Rezensionszeitschrift „Neue Politische Literatur“. Die Studie werde „die künftige Forschung zum Bismarckreich ebenso wie die Diskussion über das Imperialismus-Problem nachhaltig beeinflussen“ (185). Die Historische Zeitschrift sprach vieldeutiger von einer „für die geschichtswissenschaftliche Bewegung dieser Jahre grundlegende[n] Arbeit“ (Bd. 210, 1970, S. 725, Rezensent H. Herzfeld). Den vorgestellten Zitaten ließen sich leicht weitere zugesellen. Tagespresse und wissenschaftliche Zeitschriften der Jahre 1969 und 1970 waren sich in einem einig: Ein für die deutsche Geschichtsschreibung markantes, vielleicht sogar entscheidendes Buch war erschienen. Worum handelte es sich?
Reaktionen auf Wehlers Buch
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III.
Forschungsprobleme Wehlers Anliegen
Herangehensweise
Ergebnisse
44
„Bismarck und der Imperialismus“ war die zwischen 1965 und 1967 entstandene Habilitationsschrift von Hans-Ulrich Wehler, die 1969 im Druck erschien. Sie behandelte die bereits seit den 1880er-Jahren diskutierte Frage, warum Bismarck, der doch seit der Reichsgründung Kolonialerwerbungen immer wieder eindeutig abgelehnt hatte, sich 1884–1885 offensiv um überseeische Besitzungen bemühte, um diese Bemühungen dann ebenso plötzlich wieder einzustellen. Wehler nahm für sich in Anspruch, in diesem bekannten Problemfeld zwei wirklich neue Dinge getan zu haben: Er habe zunächst die Bearbeitung des Themas erstmals auf eine ausreichend breite und gesicherte Quellengrundlage gestellt. Nicht das aber sei die Hauptursache, dass er die bisherigen, nach seiner Ansicht teils irrigen, teils schrulligen Erklärungsansätze habe überwinden können. Vielmehr präsentiere und appliziere er erstmals eine themengerechte kritische Theorie, „in der auch die bisherigen Auslegungen aufgehen und einen bestimmten Stellenwert gewinnen müssen.“ (190, S. 421) Er mache damit die Thematik anschlussfähig für die sozialwissenschaftliche und die internationale geschichtswissenschaftliche Diskussion. Außerdem befriedige er das zeitgenössische Bedürfnis nach historischen Einsichten, die einen zukunftsgerichteten Nutzwert hätten. Einleitend präsentierte Wehler seine „relativ einfache“ (190, S. 12) Theorie, die de facto aus einer Kombination verschiedener sozialwissenschaftlicher Modelle und Versatzstücke bestand. Er definierte die Begriffe Industrialisierung und Imperialismus und stellte die bisherige deutsche Imperialismus- und Bismarck-Forschung dar, die unglücklicherweise „lange gestockt“ (190, S. 33) habe und erst jetzt in Fluss komme. In den folgenden Kapiteln beschwor Wehler zunächst die „sozialökonomische Krisenzeit“ (190, S. 39) der Jahre 1873–1896 unter Zugrundelegung des Theorems der „Großen Depression“. Mithilfe einer Zusammenstellung von Zitaten aus verschiedensten Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik diagnostizierte er dann einen „ideologischen Konsensus“ (190, S. 112) der Meinungsführer und Entscheidungsträger. Exportoffensive und Sozialimperialismus wurden demnach als Lösungsweg für interne Wirtschaftsprobleme und deren gesellschaftsgefährdende Auswirkungen bevorzugt. In zwei großen Kapiteln erzählte er dann, wie Deutschland von einer „tastenden“ (190, S. 194) zu einer „gesteigerten Expansion“ (190, S. 258) übergegangen sei. Das abschließende Kapitel „Bismarcks Imperialismus“ (190, S. 412– 502) war mehr als eine Zusammenfassung. Es stellte die Verbindung her zwischen der „imperialistischen Politik“ Bismarcks und seiner Herrschaftstechnik insgesamt. Hier kam das aus den Marxschen Frühschriften abgeleitete und weiter entwickelte Bonapartismus-Theorem ins Spiel. Gliederung und Methodik geben schon Hinweise auf die Ergebnisse. Wehler ersetzte den Begriff „Bismarcks Kolonialpolitik“ durch „Bismarcks Imperialismus“, um zu zeigen, dass es nicht um eine außenpolitische Episode, sondern um einen essentiellen Bestandteil der Bismarckschen Politik insgesamt ging. Sie habe zwar Mitte der 1880er-Jahre ihre Form geändert, nicht aber ihr Ziel. Bismarck sei Anhänger eines „pragmatischen Expansionismus“ (190, S, 429) gewesen. Seit 1862 habe er kontinuierlich den Vorstellungen und Methoden „eines freihändlerischen Expansionismus (…) in klarer Erkenntnis der finanziellen Belastung, der politischen Verantwortung
Bismarcks Kolonialpolitik und der militärischen Risiken formell-staatlicher kolonialer Gebietsherrschaft (…) angehangen“ (190, S. 424/425). Als die zweite Tiefkonjunkturphase der Großen Depression eine gesellschaftliche Krise heraufbeschwor, habe der Reichskanzler angesichts des ideologischen Konsensus einerseits, des einsetzenden Konkurrenzkampfes der europäischen Mächte um afrikanische Besitzungen andererseits die pragmatische Entscheidung zugunsten formellen Gebietserwerbs getroffen, um ökonomische Chancen zu wahren. Als die Konjunktur sich Mitte der 1880er-Jahre wieder erholte, habe er diese Entscheidung revidiert, weil er nun den ökonomischen Nutzen geringer eingeschätzt habe als die außenpolitischen Risiken. „Außenhandelspolitik in globalem Stil“ (190, S. 483), die „in erster Linie den expansiven Tendenzen der liberalkapitalistischen Wirtschaft“ (190, S. 483) folgte, habe er weiter betrieben. Ökonomie war nach Wehler die eine Seite, Herrschaftssicherung die andere. Und „unter diesem Gesichtspunkt gehören Sammlungs- und Schutzzollpolitik, Beamtenpolitik und Monopolpläne, Sozialistengesetz und Sozialpolitik zusammen mit der Exportförderung und überseeischer Expansion in einen großen sozialökonomischen Zusammenhang, in dem Bismarck mit den verschiedensten Mitteln die soziale und politische Dynamik der industriellen Welt nicht nur zu bändigen, sondern zur ‘Bewahrung eines Status quo’ im Innern auszunutzen suchte.“ (190, S. 486) Bismarck entfesselte die Ökonomie zum Nutzen einer traditionellen Herrenschicht. Er staute demokratische Partizipation und gesellschaftliche Emanzipation zurück, indem er Energien an die Peripherie und in die Ökonomie ableitete. Diese Herrschaftsstrategie zeitigte, so Wehler abschließend, Folgen „bis hin zum extremen Sozialimperialismus des Nationalsozialismus, der durch den Ausbruch nach ‘Ostland’ noch einmal den inneren emanzipatorischen Fortschritt aufzuhalten und von der inneren Unfreiheit abzulenken versucht hat.“ (190, S. 501) Bismarcks Kolonialpolitik war nicht nur Imperialismus, sie war Sozialimperialismus insofern, als der Reichskanzler mittels ökonomischer Gewinnaussichten und der Ableitung sozialer Spannungen nach außen die Vorherrschaft der traditionellen Eliten im Innern abzusichern suchte. Die Kolonialpolitik von 1884/85 erwies sich so als Teil einer groß angelegten und langfristig verhängnisvollen innenpolitischen Machtsicherungsstrategie. Vom „Primat der Innenpolitik“ her ließ sich schlüssig erklären, was außenpolitisch als merkwürdige Volte erschien.
III.
Sozialimperialismus und Primat der Innenpolitik
b) Die ältere Forschung Ein kurzer Blick auf die ältere Forschung reicht aus, um das Neue und Verstörende des Wehlerschen Erklärungsmodells zu ermessen (159; 162; 183, S. 21–56). Schon die Zeitgenossen Bismarck hatten sich über das kolonialpolitische Intermezzo der Jahre 1884–1885 gewundert und nach Gründen gesucht. Weil der Reichskanzler seine politischen Manöver immer auch taktisch – also im Hinblick auf die notwendige Zustimmung des Kaisers, des Parlaments, des Auslandes oder von Interessengruppen – begründet hatte, und zudem nach seiner Entlassung 1890 rückblickende Legenden
Ältere Erklärungsansätze
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III.
Forschungsprobleme
Außenpolitische Motive
Innenpolitische Motive
Fritz Hartung
46
entwarf, um seinen Nachfolgern zu schaden, ließen sich die unterschiedlichsten Konstruktionen mit Bismarck-Zitaten belegen. So sind eigentlich schon seit 1885 außen- und innenpolitische Begründungen diskutiert worden. Unter den außenpolitischen fand Mary Townsends Kontinuitätsthese (188) wenig Glauben. Ihr zufolge hatte Bismarck schon länger kolonialpolitisch aktiv werden wollen. Doch erst 1884 und nur bis 1885 sei die Gelegenheit günstig gewesen. Stärkere Unterstützung erhielten situative Momente, und zwar entweder in Bezug auf England oder auf Frankreich. Paul Kluke behauptete Anfang der 1950er-Jahre, Bismarck habe England durch einen kalkulierten Konfrontationskurs darauf aufmerksam machen wollen, dass es die Freundschaft Deutschlands und des von ihm angeführten Machtblocks benötige (166). A. J. P. Taylor dagegen vertrat 1938 die These, Bismarcks Kolonialpolitik habe weniger England als vielmehr Frankreich im Blick gehabt. Der Reichskanzler habe die Chance gesehen, die Franzosen für ein koloniales Bündnis zu gewinnen und ihnen damit Erfolge in Übersee ermöglichen wollen, um sie von der antideutschen Revanchepolitik abzubringen (187). Schließlich konnte auch darauf verwiesen werden, dass Deutschland 1884 einfach nur in dem Wettlauf nach Afrika eintrat, den andere Mächte längst begonnen hatten. Schon aus Gründen der Gleichrangigkeit im internationalen Mächtesystem sei dies geboten gewesen. Letzeres Argument hatte natürlich auch seine innenpolitische Seite. Hatte sich Bismarck, so fragten schon die Zeitgenossen, nicht einfach dem zunehmenden Druck der Kolonialenthusiasten gebeugt? Oder hatte er ungekehrt – auch hier wieder der große politische Macher und Manipulator – die dem Kolonialerwerb günstige Stimmungslage seinerseits innenpolitisch ausgebeutet? Schließlich standen 1884 Reichstagswahlen ins Haus, bei denen Bismarck die Kolonialpolitik als Argument gegen die Linksliberalen und für ein nationalliberal-konservatives Bündnis gut gebrauchen konnte. Ein weiteres Argument bildete die schwache Gesundheit des 1798 geborenen Kaisers. Kronprinz Friedrich (III.) und seine englische Gemahlin galten innenpolitisch als Verfechter eines (links-)liberalen Kurses und außenpolitisch als Anhänger eines Bündnisses mit England. Hatte Bismarck also England brüskieren und die Liberalen einwickeln wollen, um das Kronprinzenpaar an einem Richtungswechsel zu hindern und sich selbst unverzichtbar zu machen? Gesamtdarstellungen zum Kaiserreich haben in der Regel nicht monokausal argumentiert, sondern mehrere Gründe zu einem gewichteten Bündel zusammengestellt. Dabei legten die Bismarck freundlich gesonnenen Historiker in der Regel ihr Augenmerk auf die Außenpolitik, während die Kritiker stärker das Gewaltsame seiner Innenpolitik in den Vordergrund schoben. So schrieb der konservative Fritz Hartung in der 6. Auflage seiner seit 1920 immer wieder in überarbeiteten Fassungen erschienenen Deutschen Geschichte: „Die ganzen Erfolge der Bismarck’schen Kolonialpolitik beruhen auf der Weltlage von 1884/85, der Isolierung Englands, das mit Frankreich und Russland in Spannung lag, dem Zusammengehen Frankreichs und Deutschlands. Über die Unzulänglichkeit dieser kontinentalen Deckung seiner Überseepolitik war sich Bismarck von Anfang an klar, des-
Bismarcks Kolonialpolitik halb befleißigte er sich auch dauernd einer gewissen Zurückhaltung.“ Bismarck sei persönlich kein Kolonialenthusiast gewesen, er habe auf die eher gleichgültige Haltung von Bevölkerung und Reichstag Rücksicht nehmen müssen. „Aber das alles wäre überwunden worden, wenn nicht Deutschland durch den Umschwung der weltpolitischen Lage seit 1886 immer wieder zu größerer Vorsicht in Europa und zum Zusammengehen mit England genötigt worden wäre.“ (23, S. 132) Der englische Historiker A.J.P. Taylor hingegen betonte in einer Bismarck-Biographie 1955 die Verbindung innen- und außenpolitischer Motive. „Wie immer wusch eine Hand die andere.“ Dahinter aber stand für ihn die selbstbezogene Grundsatzlosigkeit des Machtmenschen Bismarck. „Bismarck hatte immer recht. Er hatte Recht, wenn er über Kolonien schimpfte, und recht, wenn er sie erwarb … Er verhielt sich loyal, wenn er mit Wilhelm I. übereinstimmte, aber ebenso loyal, wenn er mit ihm uneins war. In anderen Ländern erforderte eine Änderung der Politik einen Regierungswechsel. Bismarck änderte selber seine Politik, indem er seine Argumente von gestern unerbittlich angriff. Wie ein großer Mann unserer Zeit, bildete er mit seiner Person eine Koalition für sich.“ (186, S. 132)
III.
A. J. P. Taylor
c) Direkte Reaktionen Von keiner der älteren Deutungen führte ein gangbarer Weg zu Wehlers Thesen vom „pragmatischen Expansionisten“ Bismarck und seinem „Sozialimperialismus“. Wehlers Perspektive war „mit einem traditionalistischen Geschichtsbild unvereinbar.“ (185, S. 197) Sie machte erstens Bismarck zum Imperialisten, wo doch bislang gegolten hatte, dass er trotz der schwer erklärlichen kolonialpolitischen Episode im Grunde ein auf Deutschlands Rolle in Europa konzentrierter Macht- und Gleichgewichtspolitiker gewesen sei, von dem aus kein Weg zur Weltpolitik à la Bülow und Wilhelm II., zum englischen Empire oder zum französischen Kolonialreich führte. Sie stellte zweitens eine Kontinuität zwischen Bismarck und Hitler her, und zwar auf dem Gebiet der Außenpolitik, die doch bislang als bewunderte Domäne des „Reichsgründers“ gegolten hatte. Sie erklärte drittens außenpolitische Phänomene innen-, wirtschafts- und gesellschaftspolitisch und stellte damit eine bisherige Selbstverständlichkeit infrage, dass nämlich die deutsche Außenpolitik im Rahmen des europäischen Mächtesystems, das sich zum Weltsystem entwickelte, einer durch Macht- und Gleichgewichtsfragen sowie diplomatischen Regeln strukturierten Logik folgte, der man sich durch das Studium diplomatischer Akten und Briefwechsel zu nähern habe. Sie führte viertens in die Geschichtswissenschaft Erklärungsmodelle aus den Sozial- und Politikwissenschaften ein, deren geschichtswissenschaftlicher Nutzwert umstritten war. Schließlich waren sie in der jeweiligen Gegenwart und für sie entwickelt worden. Musste das nicht zu Verzerrungseffekten führen, wenn sie umstandslos auf vergangene Gegenwarten angewandt wurden? Ein Teil der Reaktionen, die Wehlers Buch hervorrief, erklärt sich daher aus der Verblüffung derjenigen, die seit Jahrzehnten an Kaiserreich- und
Das Neue bei Wehler
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III.
Forschungsprobleme
Präsentationsform
Theoretische Konstrukte
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Bismarck-Themen arbeiten und nun miterleben mussten, dass jemand mit Lust gegen alle Schreib- und Interpretationskonventionen verstieß. Hans Herzfeld warf in der Historischen Zeitschrift (Bd. 210, 1970, S. 725–728) bei aller Bewunderung für die Arbeitskraft und den vergleichenden Blick des Autors die Frage auf, „ob von der Basis einer solchen streng gebundenen Theorie her eine Geschichtsforschung betrieben werden kann, die dem tatsächlich und konkret mannigfaltigen Gehalt einer heute bereits über hundert Jahre zurückliegenden Vergangenheit noch wirklich gerecht werden kann“? Wehlers These sei nur im Rahmen seiner Begriffsdefinitionen und Theorien logisch, für einen Historiker, der von der Interdependez der historischen Faktoren ausgehe, jedoch „unannehmbar“. Der Wirtschaftshistoriker Wolfgang Zorn (VSWG Bd. 57, 1970, S. 129–131) meinte bissig, das Moderne des Wehler-Buches liege wohl darin, dass der Leser „Bismarck näher erst ab S. 180 [begegne] und sich zunächst durch einen strukturgeschichtlichen Teil durcharbeiten“ müsse. Dabei sei der erste Teil nicht mehr als eine unbefriedigende „Handbuchzusammenstellung ohne volle kritische Ausleuchtung der wirtschaftswissenschaftlichen Positionen der zitierten Einzelliteratur“. Wehler könne die von ihm behaupteten Motive Bismarcks quellentechnisch nicht nachweisen. Entgegen seiner Annahmen habe die deutsche frühimperialistische Politik bis 1896 zu keinem wirtschaftlichen Erfolg geführt. Auch deswegen sei die ökonomische Imperialismustheorie gerade für Deutschland nicht anwendbar. Die unmittelbaren Reaktionen, die Wehlers „Bismarck und der Imperialismus“ hervorrief, lassen sich allerdings nicht nur aus dem Neuartigen der Wehlerschen Interpretation erklären. Die Kritik war nicht auf die Vertreter des angegriffenen Historikerestablishments beschränkt. Zwar war das Buch Ausdruck der im Generationenumbruch der ausgehenden 1960er-Jahre nach dem eingangs zitierten Wort Otto Pflanzes „growing revolution in German historical writing“. Doch auch die Revolutionäre – wenn je Historiker und zumal deutsche unter diese Kategorie zu rechnen gewesen sein sollten – waren sich nicht einig. Sie bemängelten erstens die Präsentation des Stoffes. Wer solle sich durch diese Fülle von Material hindurch finden – durch einen Text, der kein Detail unerwähnt lassen könne, durch Fußnoten, die zwar umfangreich, aber nicht immer aufschlussreich seien? (185; AfS Bd. 10, 1970, S. 464–469, Rezensent Schlangen) Norman Rich klagte im Journal of Modern History (Bd. 42, 1970, S. 421–423), es sei „unfortunate that he [Wehler] thought it necessary to beat the economic drum so hard – and at such a length“ – eine Kritik, die leider folgenlos geblieben ist; deutsche Habilitationsschriften haben seit den ausgehenden 1960er-Jahren ein Volumen angenommen, das Zweifel aufkommen lässt, ob Leserinnen und Leser in den Planungen der Autoren eine relevante Größe darstellen. Aufmerksamkeit erregten auch Wehlers „nicht unerhebliche polemische Gaben … Manche berechtigte Kritik erstarrt … zur Zensur“ (185). Musste man die Auseinandersetzung mit der älteren Generation mit dieser Art von Waffen führen? Auf den theoretischen Anspruch richteten sich andere Kritiken. Konnte das, was Wehler einleitend und abschließend präsentiert hatte, wirklich eine die Analyse leitende kritische Theorie genannt werden? (176; 185, S. 189; Argument Bd. 13, 1971, S. 149–151, Rezensent A. Lüdtke; Der Staat
Bismarcks Kolonialpolitik Bd. 11, 1972, S. 414–417, Rezensent E. Hennig) Weder strukturiere sie die Darstellung selbst noch trage sie erkennbar zu den wichtigsten Ergebnissen bei. Die theoretischen Gewährsmänner ließen sich auch nur mit einiger Gewaltsamkeit zu dem von Wehler organisierten Chorus vereinen. Und am Ende stehe nicht ein konsistentes theoretisches Modell, sondern eine „summation of the most diverse explanatory models“ (Central European History Bd. 2, 1969, S. 366–372, Rezensent W. Mommsen). Welche Bedeutung besaßen in diesem Zusammenhang der Modernisierungs- und der Industrialisierungsbegriff? Gingen nicht mehr Vorannahmen über die Entwicklung von Wirtschaftswachstum und Demokratisierung sowie über den Zusammenhang zwischen ihnen in diese Begriffe ein, als Wehler selbst wahrgenommen hatte? Lag der Ökonomie wirklich eine unbezähmbare Dynamik zugrunde? Gab es hier keine Akteure? Wie viel Gleichklang von ökonomischer und politischer Modernisierung war nötig, um ein Abgleiten vom Pfad in die pluralistische Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu verhindern? (176; vgl. die Rezensionen von Hans Medick in der PVS Bd. 11, 1970, S. 396–403 und in History and Theory Bd. 10. 1970, S. 228–239) Ältere Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft mochten die Notwendigkeit theoretischer Arbeit bestreiten. Mitstreiter aus der jüngeren Generation verlangten mehr, bessere und genauere theoretische Arbeit – wobei sie allerdings zugaben, dass es angesichts der in dem Werk versammelten Quellenrecherche und Literaturkenntnis etwas unfair sei, immer noch mehr zu wollen. Drittens richteten sich Fragen an die für die These des Buches entscheidende Gelenkstelle. Wehler hatte zu zeigen versucht, dass Bismarck unter dem Eindruck des zweiten Konjunkturtiefs innerhalb der Großen Depression, dem ideologischen Konsensus folgend, aus ökonomischen und sozialimperialistischen Motiven den Weg in den formellen Kolonialerwerb angetreten hatte. Dafür aber hatte er keinen Quellenbeleg. Wehler hatte sich vielmehr nach einem Verweis auf ein Bonmot Bismarcks, wonach das wirklich Wichtige ohnehin nicht in den Akten stehe, auf den methodischen Grundsatz berufen, „vom Ganzen auf die Teile schließen zu dürfen, bzw. dem Verfahren des konkludenten und Analogieschlusses [zu] folgen“ (190, S. 423). Auf diesem wackligen Weg mochte ihm Wolfgang J. Mommsen nicht folgen (Rezension in Central European History Bd. 2, 1969, S. 366– 372; vgl. Rezensent G. Mork in Review of Politics, Bd. 32, 1970, S. 266– 268). Erstens bestehe der von Wehler konstruierte ideologische Konsensus aus so unterschiedlichen und bei genauerem Hinsehen so gegensätzlichen Stimmen, dass er im Grunde genommen wenig aussage. Zweitens aber sei der Wehlersche Schluss eben nicht schlüssig. Warum habe Bismarck die Kolonialpolitik so halbherzig, mit so wenig Energie und so kurzfristig betrieben? Warum hätten sich die Kolonien bis 1896 sämtlich ökonomisch nicht gerechnet? Trotz aller Wortgewalt und Materialfülle lasse sich weder die sozialimperialistische noch die ökonomische Imperialismustheorie erfolgreich auf den deutschen Fall anwenden. Man muss die durchaus massive Kritik auch von Verbündeten des Autors – um eine militärische Metapher zu wählen, die sich angesichts der scharfen Töne in der deutschen Geschichtswissenschaft der 1960er- und 1970erJahre geradezu aufdrängt – mit dem einleitend zitierten Lob zusammen
III.
Ideologischer Konsensus?
Bedeutung des Wehlerschen Buches
49
III.
Forschungsprobleme
Theoriefragen
Imperialismustheorien
50
sehen. Wehlers Buch wurde als Herausforderung und als Diskussionsangebot angesehen. Es eröffnete neue Wege in Quellenauswahl, Methodik und Thesenbildung. Dass die Ergebnisse von Dauer sein würden, haben wohl nur wenige Rezensenten angenommen. Die Bedeutung des Buches lag also zum einen in seiner Signalwirkung. Wo Hans Rosenberg tastend und fragend das Verhältnis von Ökonomie und äußerer Politik neu zu bestimmen gesucht hatte, trat Wehler mit deutlichen Worten und klaren Thesen hervor. Zahlreiche Autoren gingen nach ihm den Weg des Primats der Innenpolitik weiter (bes. 175; vgl. 28, S. 93–99). Zum anderen und damit verbunden lag die Bedeutung der Wehlerschen Studie in den Diskussionen, die es auslöste oder anheizte. Dabei ging es um Fragen, die schon in den frühen Rezensionen angeklungen waren. Diese betrafen erstens Theoriefragen. Die siebziger und frühen achtziger Jahre waren insgesamt eine Hochzeit verschiedenster Theorieimporte, vor allem aus der Soziologie und den Politikwissenschaften. Sie fanden vor allem auch im umkämpften Gebiet der Geschichte des Kaiserreichs Anwendung. Über Historischen Materialismus und Modernisierungstheorien, den organisierten Kapitalismus und die Bonapartismustheorie wurde mit Verve gestritten, wobei der Mut zur kühnen These bei oft noch geringem empirischen Wissen außerordentlich beeindruckt. Doch der theoretische Elan der politiknahen Sozialgeschichte erlahmte rasch. Mitte der 1980erJahre stellte Jürgen Kocka bereits fest: „Die Zahl der zu spielenden Bälle nimmt zu. Begriffliche Verstrebungen lockern sich, das entstehende Bild wird komplexer, reicher und – unübersichtlicher.“ (167, S. 151) In unserem Zusammenhang sind die Debatten über Imperialismustheorien von Belang. Sie gewannen Publikumswirksamkeit dadurch, dass sie meist mit der Betroffenheit von Zeitzeugen über den Imperialismus bzw. die Dekolonisierung zusammenhingen. Die Autoren der einschlägigen Referenzwerke wie Hobson, Schumpeter, Hilferding, Luxemburg oder Lenin waren dem linksliberalen bzw. sozialistischen Lager verhaftet (184, S. 128– 140; 17, S. 340–346). Die Grenze zwischen persönlicher Betroffenheit, politischem Bekenntnis und wissenschaftlicher Forschung verschwamm gelegentlich, so dass auch die Frage diskutiert worden ist, ob der Imperialismusbegriff nicht zu abgegriffen sei, um als historisches Werkzeug zu taugen. Bedeutung gewann der Versuch Wehlers, seine in „Bismarck und der Imperialismus“ entwickelten Thesen zur Grundlage einer international vergleichenden Imperialismustheorie zu machen (189). Das Vorhaben stieß auf große inhaltliche wie methodische Bedenken. Über die verschiedenen Imperialismustheorien insgesamt hat Wolfgang J. Mommsen einen instruktiven Überblick vorgelegt (46; vgl. 45 und 174). Insgesamt hat die vergleichende Imperialismusforschung gezeigt, dass die nationalen Entwicklungspfade unterschiedlicher verliefen als zunächst angenommen. Konnten auch einige Gemeinsamkeiten in Strukturen und Verlaufsformen herausgearbeitet werden, so waren doch, wie Gregor Schöllgen festhält, „die jeweiligen Motive, Wege und Methoden“ (184, S. 131) außerordentlich unterschiedlich. Auch hier wurden die theoretischen Ansprüche zurückgenommen. Nicht mehr der große einheitliche Wurf steht im Vordergrund, sondern die Kombination verschiedener Modelle unter Berücksichtigung nationaler Besonderheiten. Auch hat die Arbeit am einzelnen Begriff Konjunktur (177).
Bismarcks Kolonialpolitik
III.
Zweitens ging es in den durch Wehlers Habilitationsschrift angestoßenen Debatten um die Motive Bismarcks. Diese Diskussionen auf der Sachebene werden uns gleich beschäftigen. Zuvor aber schauen wir auf die Frage nach dem Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik und damit nach der Bedeutung der in Deutschland traditionell starken klassischen Politikund auch Diplomatiegeschichte. Dieses bei Wehler mitverhandelte Thema wurde Mitte der 1970er-Jahre ins Grundsätzliche gewendet.
d) Internationale Geschichte und Gesellschaftsgeschichte Die Debatte (164; 192; 163; 191; vgl. 161) wurde an prominenter Stelle geführt: in der „Historischen Zeitschrift“, dem ehrwürdigen Leitorgan der Historiker-„Zunft“, auf dessen Titelblatt die Namen des Gründungsherausgebers Heinrich von Sybel und des langjährigen Herausgebers Friedrich Meinecke prangten, damit die Tradition der staatsnahen Politikgeschichte und der unabhängigen und ungemein gelehrten Geistesgeschichte anrufend, und im ersten Band von „Geschichte und Gesellschaft“, die 1975 als Publikationsorgan der „Historischen Sozialwissenschaft“ gegründet wurde. Hans-Ulrich Wehler sah sich zwei Vertretern der Politikgeschichte gegenüber, die seiner eigenen Generation angehörten, also nicht einfach dem grauköpfigen Ordinarienkartell zugeschlagen werden konnten. Vielleicht erklärt das den polemischen Stil der Auseinandersetzung – die Kontrahenten sahen sich selbst in der Rolle des in Deutschland unschuldig verfolgten Außenseiters, der aber die internationale Geschichtswissenschaft auf seiner Seite habe, während das jeweilige Gegenüber in Provinzialität verharre. Sie wiesen sich handwerkliche Fehler nach, die in einem Proseminar nicht durchgehen würden. Hillgruber und Hildebrand rückten Wehler in die marxistische Ecke, während der durchblicken ließ, Hillgruber sei in geschichtstheoretischen Fragen eigentlich nicht satisfaktionsfähig, Hildebrand habe ihn böswillig missverstanden usw. Hier soll nur vom sachlichen Gehalt die Rede sein. Begonnen hatte alles mit einer Rede des Kölner Historikers Andreas Hillgruber auf dem Deutschen Historikertag 1972. Sie war als Plädoyer für eine „politische Geschichte in moderner Sicht“ in der Historischen Zeitschrift des folgenden Jahres veröffentlicht worden. Hillgruber hatte darin „als großes Thema für eine moderne politische Historie … die Geschichte der deutschen Großmacht von 1866/71–1945 in ihren vier Phasen des Aufstiegs, des Niedergangs, des erneuten Anlaufs und der Katastrophe im Rahmen der sich tiefgreifend wandelnden europäischen und Weltgeschichte“ (164, S. 542) ausgemacht. Politikgeschichte stelle das Moment der Entscheidung in den Vordergrund und behandle Machtfragen. Sie sei mit den Mitteln der Sozialgeschichte oder vom „Primat der Innenpolitik“ her nicht zu fassen. Paradigmata wie Industrialisierung und sozialer Wandel seien als Hintergrund des politischen Geschehens von Bedeutung, nicht aber als Haupterklärungsmomente. Begriffe wie Mächtekonstellationen, Gleichgewicht oder Hegemonie, Ideen, Ideologien und Doktrinen besäßen erheblich größere Erklärungskraft. Hillgruber zeigte sich zwar offen für systema-
Andreas Hillgruber: Politische Geschichte in moderner Sicht
51
III.
Forschungsprobleme
Wehlers Reaktion
Klaus Hildebrand
„Geschichte ist mehr und weniger zugleich als historische Sozialwissenschaft“
52
tische Kategorien und Theorien der Nachbarwissenschaften. Doch warnte er vor einer „Hypertheoretisierung“ (164, S. 542). Die gewählten Modelle und Theorien müssten flexibel gehandhabt werden und dürften nicht „unter der Hand … zu Handlungsträgern des Geschichtsprozesses werden“ (164, S. 545). Er verwahrte sich auch dagegen, einem obsoleten Primat der Außenpolitik das Wort reden zu wollen. Es gehe um eine „moderne politische Geschichte, die sich auf internationale Beziehungen konzentriert und sich dabei stets bewusst bleibt, nur ein Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft zu sein“ (164, S. 545). Wehler hielt Hillgrubers Vorstellungen, das ließ er in seinem Diskussionsbeitrag (192) durchblicken, für armselig. Sein Kölner Kontrahent pflege antitheoretische und antisozialwissenschaftliche Affekte, könne aber nicht positiv angeben, was er eigentlich wolle. Er solle erst einmal seinen Politikbegriff und seine Erkenntnisziele klären. Wehlers Aufsatz zielte darauf, den Stellenwert „moderner Politikgeschichte“ und damit vice versa auch der historischen Sozialwissenschaft innerhalb der Geschichtswissenschaft festzulegen. Er verteidigte daher nicht nur den „Primat der Innenpolitik“ und das Konzept des „Sozialimperialismus“ als heuristische Leitperspektiven, deren Fruchtbarkeit in Debatten und Veröffentlichungen erwiesen sei. Er wandte sich auch scharf gegen Hillgrubers „Hintergrund“Metapher. Das sei nicht der angemessene Standort für die Sozialgeschichte. Vielmehr lasse sich umgekehrt „Politikgeschichte als Teildisziplin von Gesellschaftsgeschichte“ begreifen, „da eine weitgespannte Gesellschaftsgeschichte die restriktiven Bedingungen und Grenzen politischer Entscheidungen und Aktionen klar zu benennen und zu erklären vermag.“ (192, S. 369) Klaus Hildebrand nahm diesen Vorschlag als historisch beispiellose „Attacke auf eine eigenständig arbeitende politische Geschichtsschreibung“ auf (163, S. 329). Dem „Absolutheitsanspruch“ (163, S. 331) der Gesellschaftsgeschichte, die „alle bekannten Disziplinen der Historiographie durch den Oktroi ihrer eigenen Paradigmen zu bevormunden“ (163, S. 332) trachte, müsse aus mehreren Gründen entgegengetreten werden: wissenschaftsorganisatorisch, weil nur eine Pluralität der Ansätze zu Innovationen führe; inhaltlich, weil die Geschichte der Internationalen Beziehungen mit dem Instrumentarium der Gesellschaftsgeschichte nicht zu fassen sei; methodisch, weil kein sicherer Weg von einer allgemeinen Theorie zur Anschauung des Besonderen führe – eine direkte Antithese zu Wehlers Schlüsselargument in „Bismarck und der Imperialismus“ – und weil eine Annäherung an die Geschichte von den erkenntnisleitenden Interessen der Gegenwart aus das Eigene der Geschichte notwendig verfehle. Hildebrand riss den Graben zwischen Geschichts- und Sozialwissenschaften wieder auf, den das Leitorgan der neuen Richtung mit dem Untertitel „Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft“ hatte zuschütten wollen. „Geschichte ist nämlich mehr und weniger zugleich als historische Sozialwissenschaft“ (163, S. 340). Sie sei weniger, weil sie nicht auf theoretischem Weg zur Erklärung des Ganzen zu kommen beanspruche. Sie sei mehr, weil sie sich nicht nur mit Strukturen und Prozessen, sondern auch und vor allem mit dem Individuellen befasse. An den Schlüsselstellen des Textes, dort wo der Wehler der späten sechziger und siebziger Jahre gern
Bismarcks Kolonialpolitik Karl Marx und Max Weber zitierte, rief Hildebrand Leopold von Ranke an. Genau das hielt ihm Wehler in seiner abschließenden Replik (191) als Anachronismus vor und wies im Übrigen zurück, einen Absolutheitsanspruch für die Gesellschaftsgeschichte erhoben zu haben. Es gehe ihm um ein Paradigma für die stets notwendige Synthese, für die Perspektive auf das Ganze. Er habe mit der Gesellschaftsgeschichte eines vorgeschlagen. Es müsse sich nun in praktischer Arbeit und Diskussion bewähren. Hillgruber und Hildebrand könnten ja Gegenvorschläge machen. Wir brauchen die Auseinandersetzung nicht weiter zu verfolgen. In historisch-theoretischer Verortung, Methodik und Inhalt wurden Mitte der 1970er-Jahre Lagergrenzen markiert, die eine Zeit lang die deutsche Geschichtswissenschaft strukturieren sollten. Dabei ging es nicht nur um hehre Wissenschaft. Fragen der (partei-)politischen Präferenzen und der (Neu-)Verteilung von Wissenschaftsressourcen (Fördermittel, Stellen) wurden unter- und hintergründig stets mitverhandelt. Das mag auch die Hitze des Gefechts und die Unversöhnlichkeit der Kombattanten erklären. Wilfried Loth hat von einem „Dialog der Taubstummen, dem Elemente eines Kampfs um Paradigmenhegemonie beigefügt waren“ (169, S. VIII), gesprochen. Aus der Sache selbst ergaben sich Schärfe und Unversöhnlichkeit nicht. Denn bei genauerem Hinsehen war schon erkennbar, dass die Kontrahenten inhaltliche Vermittlungsangebote machten. Wehler verteidigte seine Interpretamente aus „Bismarck und der Imperialismus“ nur noch als heuristische Instrumente. Der Glaube an ihren Realitätsgehalt schien ihn langsam zu verlassen. Umgekehrt modernisierten auch die klassischen Politikgeschichtler ihren Ranke, indem sie ihn verteidigten. Von den Ranke-Exegeten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und einer klinischen Außenpolitikgeschichte entfernten sie sich zusehends. Man wird Lothar Gall in dem Urteil zustimmen müssen, dass die Positionen „in der Sache … weit weniger voneinander entfernt [lagen] als es von jener Grundsatzdiskussion zunächst den Anschein haben mag.“ (18, S. 188) Freilich, es sollte noch beinahe eine Historikergeneration dauern, bis Konzepte jenseits der Lagergrenzen an Bedeutung gewannen. In Entwürfen einer „Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte“ (168), einer „transnationalen Gesellschaftsgeschichte“ (179; vgl. 178), einer erneuerten Internationalen Geschichte (170) zeichnen sie sich ab.
III.
„Dialog der Taubstummen“ (W. Loth)
e) Wie weiter? Bismarck und die Kolonialpolitik Schauen wir uns die Entwicklung der Sachpositionen seit den 1970er-Jahren in Bezug auf die Bismarck’sche Kolonialpolitik an, so werden zwei Tendenzen sichtbar. Erstens in der Tat eine behutsame Annäherung der alten Kontrahenten, deren Richtung sich in den Streitschriften der Mittsiebziger Jahre schon absehen ließ. Zweitens aber eine Veränderung der Diskussionsgrundlage, die den Streit um Wehlers Habilitationsschrift mittlerweile als etwas antiquiert erscheinen lässt. Wir lassen dabei den Versuch von Axel T.G. Riehl (183) außer Acht, mittels einer groß angelegten Quellenarbeit noch einmal die monokausale Erklärung durchzusetzen, dass die Ko-
Veränderung der Sachpositionen
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III.
Forschungsprobleme
Lothar Gall
Thomas Nipperdey/Paul Kennedy
54
lonialpolitik Teil einer innenpolitisch motivierten Präventivstrategie des Reichskanzlers gegen die Folgen eines drohenden Thronwechsels gewesen sei. Diese Neuauflage der „Kronprinzenthese“ ist von der Forschung nicht wirklich akzeptiert worden. Beginnen wir mit dem ersten Trend. Lothar Gall behandelte in seiner 1980 erstmals erschienen Bismarck Biographie (89) die Kolonialpolitik im Übergang zwischen einem innen- und einem außenpolitischen Kapitel. Er wies die Sozialimperialismusthese unter anderem deswegen zurück, weil Bismarck die Außenpolitik nicht nach innenpolitischen Bedürfnissen betrieben habe. Sicherlich habe er gern und oft die Außenpolitik innenpolitisch ausgebeutet. Im Kern aber sei es, und hier stellte Gall ältere Argumentationsfiguren, die England und Frankreich zum Gegenstand hatten, mit innenpolitischen Motiven zusammen, um den Versuch Bismarcks gegangen, auf die Veränderung der europäischen Außenpolitik insgesamt offensiv zu reagieren. In dem sich andeutenden Übergang vom europäischen Mächtekonzert zum Weltsystem habe Deutschland in der Gefahr gestanden, Juniorpartner einer der beiden Welt- und Flügelmächte England und Russland werden zu müssen. Mit jeder dieser Partnerschaften seien nicht nur außenpolitische Festlegungen, sondern auch innenpolitische Systementscheidungen (parlamentarisches Regime versus aristokratisches Regiment) verbunden gewesen. Beides habe Bismarck vermeiden wollen. Er habe kolonialpolitisch mit Frankreich zusammengearbeitet, um „eine Art kontinentale Blockbildung“ zu erreichen und damit „über bloße Aushilfen und kurzfristige Lösungen hinaus in Fortentwicklung der Zweibundspolitik zu ganz neuen Kombinationen zu gelangen“ (89, S. 622). Als in Frankreich durch den Sturz des Ministeriums Ferry und die Rückkehr zur Revanchepolitik 1885 die politischen Grundlagen entfallen waren, habe Bismarck schnell die Lust an der Kolonialpolitik verloren. Freilich – ein neues Werkzeug, um die außen- und innenpolitischen Zwangslagen aufzubrechen, habe er nicht mehr gefunden. Galls These vom Zauberlehrling scheint auch hier wieder durch. Uneingeschränkte Zustimmung hat Galls These nicht gefunden. Thomas Nipperdey war zwar mit ihm darin einig, einerseits Wehlers Sozialimperialismusthese zurückzuweisen, andererseits die innenpolitischen Nebenabsichten der dominierenden außenpolitischen Motive durchaus ernst zu nehmen. Insgesamt aber ging er von einem mehr experimentellen und weniger systematisch-geplanten Charakter der Kolonialpolitik und von einer „Mehrfältigkeit der Bismarck’schen Motive“ aus: „Ausgangspunkt für Bismarck waren und blieben: Einzelprobleme in Übersee, eine Kolonialbewegung in Deutschland, eine Periode außenpolitischer Bewegungsfreiheit und die Chancen einer Veränderung der Machtverhältnisse zwischen Frankreich und England. Eine neue nationale Aufgabe oder gar eine Umstrukturierung der Mächtepolitik und eine Befreiung Deutschlands vom Druck seiner Lage kamen als mögliche Weit-Perspektiven erst und nur dazu.“ (47, Bd. 2, S. 450) Auch Paul Kennedy fand Galls Konstruktion überzogen, wenn er ironisch von einer „ultra-subtle tactic of creating a FrancoGerman Rapprochement“ (165, S. 173) sprach. Kennedy hielt gerade die Kolonialpolitik für ein gutes Beispiel, wie sich kurz- und langfristige, außen- und innenpolitische Absichten bei Bismarck bis zur Ununterscheid-
Bismarcks Kolonialpolitik barkeit ineinander schoben. „The number of birds which Bismarck sought to kill with this one stone is truly remarkable, even for him.“ (165, S. 177; ähnlich 171) Näher bei Gall war Klaus Hildebrand mit seiner Einschätzung der Kolonialepisode als einem „ehrgeizigen Experiment“. Bismarck habe angestrebt, „durch das England herausfordernde und Frankreich favorisierende Kolonialabenteuer die Voraussetzungen deutscher Außenpolitik tragfähiger und dauerhafter zu gestalten“ (27, S. 108). Allerdings traten bei Hildebrand die innenpolitischen Nebenmotive stark in den Hintergrund, während er die internationale Mächtekonkurrenz, die „losbrechenden Stürme der Weltpolitik“ sehr stark betonte (27, S. 106). Andreas Hillgruber hingegen hat 1980 die innenpolitischen Motive und den Zusammenhang der Kolonialpolitik mit der „großen Schwenkung der Gesamtpolitik Bismarcks 1878/79“ durchaus gelten lassen, wenngleich „der Kontext der internationalen Beziehungen vorrangige Beachtung“ (29, S. 24) verdiene. Hier argumentieren Hillgruber und Gall ähnlich. Wehler selbst hat in seiner Gesellschaftsgeschichte (68) die Kolonialpolitik in das Kapitel „Die Interdependenz von Innenpolitik und Außenpolitik“ auf zweierlei Weisen integriert. Zum einen modernisierte er die Kombination von ökonomischer und sozialimperialistischer Erklärung, nun nicht mehr gehalten von einer Bonapartismustheorie nach Marx, sondern von dem bei Max Weber entliehenen herrschaftssoziologischen Interpretament der charismatischen Herrschaft. „Wirtschaftsförderung, aber letztlich mehr noch das sozialimperialistische Kalkül haben daher in dieser Zeit kontinuierlich das Bewegungszentrum der deutschen Expansionspolitik gebildet. Sie sollte die Rahmenbedingungen für die großen wirtschaftlichen Interessenaggregate und die sozialen Alliierten des ‘Solidarprotektionismus’ von 1879 verbessern, die seit 1873 scharf zugespitzten Klassenkonflikte um die Verteilung von Volkseinkommen entschärfen, politische und psychologische Energien auf ferne, neue Ziele als Integrationspole hinlenken … Im erhofften Gesamteffekt sollte sie das charismatische Herrschaftssystem, die politische Machtverteilung im autoritären Nationalstaat und die Stellung der privilegierten Gesellschaftsklassen zementieren.“ (68, Bd. 3, S. 988) Zum anderen aber fand die kolonialpolitische Episode ihren Standort in einer sehr knappen Skizze der deutschen Rolle im internationalen Kräftefeld, die sich nicht sehr von älteren diplomatiegeschichtlichen Darstellungen unterschied (68, Bd. 3, S. 966–977). Offenbar war die internationale Politik mit ihrer aus Nationalgesellschaften notwendig herausragenden Logik in den Rahmen einer vorerst notwendig nationalstaatszentrierten Gesellschaftsgeschichte weiterhin schwer zu integrieren. Der dissonante Chor neuerer Gesamtdarsteller lässt nur einen für Puristen frustrierenden Schluss zu: Die einzige eindeutige Antwort auf die Frage nach Bismarcks Motiven ist, dass es keine eindeutige Antwort gibt. „In der Frage der Kolonialpolitik gab es … weder einen eindeutigen Primat der Innenpolitik noch eine klare Priorität der Außenpolitik, sondern ein Geflecht sich überschneidender Motive und Interessen, wobei wirtschaftspolitischen Erwägungen eine gewisse Vorrangstellung zukam.“ (63, S. 95) Als Volker Ullrich 1997 dieses salomonische Urteil sprach, hatten allerdings die nachgeborenen Historiker das durch Wehler, Hildebrand, Gall
III.
Klaus Hildebrand
Wehlers Gesellschaftsgeschichte
Charismatische Herrschaft
Neueste Tendenzen
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III.
Forschungsprobleme
Jenseits eines „europazentristischen Geschichtsbildes“ (W. Reinhard)
und andere abgesteckte Kampffeld des Bismarckschen Imperialismus bzw. der Bismarckschen Kolonialpolitik bereits verlassen, ohne das Ergebnis abzuwarten. Sie wandten sich anderen Fragestellungen zu. Hans-Peter Ullmanns Ausführungen zur Kolonialpolitik in seiner Gesamtdarstellung von 1995 markieren den Übergang. Er beginnt mit den älteren Erklärungsansätzen, rät aber dann, „den fließenden Übergängen vom informellen zum formellen Imperialismus und der Eigendynamik in den späteren Kolonien mehr Gewicht beizumessen.“ Bismarck sei es nicht gelungen, „das staatliche Engagement zu begrenzen, sobald es die Linie des informellen Imperialismus überschritten hatte“ (61, S. 82; vgl. 158). Hier wird eine Perspektivverlagerung deutlich. Der europäische, ja deutsche Blick reicht nicht mehr aus. „Primat der Innenpolitik“ und die Integration von Ökonomie und Sozialstruktur modernisierten die deutsche Geschichtswissenschaft um den Preis eines überholten, „europa-zentristischen Geschichtsbild[es]“, hatte Wolfgang Reinhard bereits ausgangs der 1970erJahre gewarnt. „Die Vorgänge auf den eigentlichen Schauplätzen imperialistischer Politik“ (181, S. 389) zählten kaum noch. Dementsprechend sind in den letzten Jahren die Eigendynamik der imperialistischen Bewegung und die Bedeutung der Handelnden und Strukturen vor Ort, in Afrika, Asien oder Ozeanien, in den Blickpunkt des Interesses geraten. Die „men on the spot“ sind zu einem viel zitierten Schlagwort geworden. Kolonialpolitik wird als Resultante aus verschiedenen Faktoren gesehen, die durch europäische Politiker, europäische Eroberer, Ökonomen und Beamte in Übersee und durch die Bevölkerungen der in Besitz genommenen Gebiete hervorgerufen wurden (180). Nach den mentalitätsmäßigen, kulturellen aber auch politischen Folgen der „Aufteilung des Erdballs in Starke und Schwache, ‘Fortgeschrittene’ und ‘Zurückgebliebene’“ (30, S. 82; vgl. 157) wird gefragt. Internationale Vergleiche, wie sie Wehler bereits angestrebt hatte, werden nicht mehr nur von Europa aus, sondern auch von den außereuropäischen Gesellschaften bzw. ihrer Interaktion mit den Europäern her organisiert (177; 182; 160; Bedenken äußert Schöllgen in 184, S. 131). Von dieser Warte aus wirken sowohl die Diplomatiegeschichten Hildebrands und Hillgrubers als auch die Gesellschaftsgeschichten Wehlers merkwürdig eng. Der Blick auf das Gesamte, wie ihn Wehler in den 1970er-Jahren immer wieder forderte, kommt so jedenfalls nicht zustande. Freilich, nicht viele Historiker sind in der Lage, wie der beeindruckende Eric Hobsbawm (30) die geschichtliche Welt im Ganzen zu sehen und dann noch zu schreiben. Die zahlreichen Plädoyers für „Global History“ und „World History“ sind vorerst noch mehr Programm als Praxis (172; 173).
4. Der Rückversicherungsvertrag Bismarck und Caprivi
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Eines der einflussreichsten Quellenzitate zur Kaiserreichsgeschichte lautete ausgangs der 1920er-Jahre so: „Am 27. März [1890] 10,30 Uhr früh war ich bei Caprivi; er hatte sich fleißig und nach besten Kräften zu orientieren versucht, augenscheinlich auch viele meiner älteren Berichte gelesen; be-
Der Rückversicherungsvertrag scheiden, ehrlich und ernst erklärte er mir, dass die größte Schwierigkeit, vor der er jetzt stehe, die Frage wegen Erneuerung des russischen Vertrages sei, denn er könne nicht wie Fürst Bismarck, nach dem bekannten Gleichnis Kaiser Wilhelms I., als Jongleur mit fünf Glaskugeln spielen, er könne nur zwei Glaskugeln gleichzeitig halten.“ (198, Bd. 2, S. 403–404) General von Schweinitz, deutscher Botschafter am russischen Zarenhof, hatte mit diesen Worten seine erste politische Unterredung mit General Caprivi beschrieben, der soeben die Nachfolge Otto von Bismarcks als Reichskanzler angetreten hatte. Seine Denkwürdigkeiten hatten erstmals zu Beginn der Weimarer Republik von Historikern eingesehen werden können. 1927 wurden sie gedruckt. Das obige Zitat enthielt wie in einer Nuss die freundliche Umschreibung der katastrophalen Wende, als die die Entlassung Bismarcks oft interpretiert wurde: Ein arbeitsamer, ehrlicher und etwas beschränkter General hatte die Nachfolge des genialen Reichsgründers angetreten. Das Land, das aus der Mitte Europas heraus die Diplomatie zwei Jahrzehnte fast spielerisch in Bewegung gehalten, um das sich die Welt gedreht hatte, ließ alle Kugeln fallen und behielt nur zwei. Auf dem diplomatischen Parkett erstarrten die Formationen. Die Weltkriegskonstellation warf ihre Schatten voraus. Als entscheidendes außenpolitisches Signal der neuen Führung galt die Wende in der Russlandpolitik. Bismarck hatte 1887 mit dem Zarenhof einen geheimen Vertrag auf drei Jahre geschlossen, den er später als „Rückversicherungsvertrag“ bezeichnete. Dieser Vertrag stand zur Verlängerung an, als Bismarck entlassen wurde. Russland war sehr an einer Fortsetzung der vertraglichen Bindung interessiert. Es bot bessere Bedingungen als 1887 an, fragte mehrfach nach, um doch noch einen Abschluss zu erreichen. Doch die neue Führung um Caprivi blieb hart. Der Vertrag wurde nicht verlängert. Manche Historiker schlugen noch fünfunddreißig Jahre später die Hände über dem Kopf zusammen: „Zusammenfassend müssen wir die brüske Ablehnung der wiederholten russischen Angebote im Jahre 1890 nach ihrer Form und äußeren Begründung als verletzend und unklug, in der Wahl des Zeitpunktes denkbar ungeschickt, nach ihren inneren Gründen als ungerechtfertigt und unentschuldbar und nach ihren Folgen als verhängnisvoll bezeichnen. Das Verhalten der Männer des Neuen Kurses bei ihrer ersten Tat 1890 zeugt von grober Taktlosigkeit, voreiliger Überhastung und fahrlässigem Leichtsinn bei der Durchführung politischer Schritte von größter Bedeutung, es zeugt von dem Fehlen jeglichen Kombinationsvermögens bei der Erfassung der politischen Lage und der Absichten des Gegenspielers und endlich von unglaublicher Kurzsichtigkeit bei der Beurteilung der Tragweite ihrer Handlungen.“ (zit. n. 203, S. XLIX–L) Das vernichtende Urteil Richard Frankenbergs aus dem Jahre 1927 (201) lebte von der Erfahrung des Weltkrieges und seines Ausgangs, den viele der überwiegend nationalistisch und konservativ gesonnenen deutschen Historiker als katastrophal empfanden. Hatte nicht Bismarck zu allen europäischen Mächten mit Ausnahme Frankreichs vertragliche Beziehungen unterhalten? Hatte er es nicht verstanden, die Konflikte der anderen für sich auszunutzen, den ehrlichen Makler und Friedensgaranten zu spielen? „Bismarck als Pazifist“ hieß ein Buch, dass Johannes Lepsius, einer der besten Kenner der deutschen außenpolitischen Akten, 1922 erscheinen ließ (209).
III.
Außenpolitische Wende 1890
Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages
Kritik der Historiker der 1920er-Jahre
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III.
Forschungsprobleme Warum hatte Deutschland dann 1914 dennoch allein mit dem gichtkranken Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn in den Krieg ziehen müssen? Wie hatte das Kapital des Reichsgründers so schnell und so gründlich verspielt werden können? Die Historiker der Weimarer Republik schauten bei diesen Fragen auf außenpolitische Entscheidungssituationen, die vor allem das Verhältnis zu den beiden europäischen Flügelmächten betrafen, die gleichzeitig Weltmächte waren: England und Russland. Der Rückversicherungsvertrag von 1887 und seine Nichterneuerung 1890 spielten dabei eine besondere Rolle. Nachdem 1919 das „ganz geheime Zusatzprotokoll“ zum Rückversicherungsvertrag auf den Tisch gekommen war, beschlich einige Historiker der unangenehme Verdacht, schon die späten Bismarckjahre und speziell der Rückversicherungsvertrag könnten außenpolitisch weniger glanzvoll gewesen sein als angenommen. Dagegen verteidigten andere auf Biegen und Brechen die letztlich ja bis 1890 friedenssichernde Politik Bismarcks. Diese Kontroverse wird uns gleich beschäftigen. Zuvor aber: Was hatte Bismarck 1887 eigentlich ausgehandelt? Und warum?
a) Der Vertrag West-östliche Doppelkrise 1885–1887
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Die außenpolitische Großwetterlage war Mitte der 1880er-Jahre für das Deutsche Reich ausgesprochen unangenehm (27). Mit der Reichsgründung 1871 war Preußen, die kleinste und eigentlich als Juniorpartner Russlands geltende Großmacht, als Preußen-Deutschland gewissermaßen selbständig geworden und vollwertig in die Mitte zwischen Russland, Österreich-Ungarn, Frankreich und England getreten (204; 207; 206; grundsätzlich 197). Überraschend schnell hatte sich das Reich nach innen und nach außen konsolidiert. Mit Ausnahme Frankreichs hatten sich die Großmächte mit seiner Existenz abgefunden, ja, weil sich das Reich aus den großen Konflikten der Zeit heraushielt, konnte es trotz innerer Dynamik einen Ruhepol bilden im europäischen Mächtesystem, das sich in immer rasanterer Geschwindigkeit zum imperialistischen Weltsystem umformte. Doch die außenpolitisch glücklicheren Jahre des Reiches schienen ab 1885 vorbei. Von einer großen west-östlichen Doppelkrise 1885–87 ist gesprochen worden. Von Frankreich her bedrohte eine nationalistische und revanchistische Bewegung, symbolisiert durch den Kriegsminister und bonapartistischen Volkstribun Boulanger, das Reich. Kleinere diplomatische Verwicklungen schienen jederzeit in einen heißen Krieg um das 1871 von Deutschland annektierte Elsass-Lothringen umschlagen zu können, wenn es Frankreich gelang, Verbündete für eine antideutsche Aktion zu finden. Auf dem Balkan ließ sich die Abtrennung Ostrumeliens vom nördlich gelegenen Bulgarien gegen die bulgarische Nationalbewegung 1885 nicht mehr halten. Die Abtrennung war während des Berliner Kongresses vereinbart worden, um einen russischen Satellitenstaat in der Nähe des Mittelmeers und mit direkter Grenze zum europäischen Teil des Osmanischen Reiches zu verhindern. Doch die bulgarische Nationalbewegung, die nun auf die Vereinigung aller
Der Rückversicherungsvertrag Bulgaren drang, richtete sich gegen das Zarenreich und wurde von England gestützt, das als Weltmacht ein vitales Interesse daran hatte, Russland vom Bosporus fern zu halten. Auch Österreich-Ungarn sah die Chance, seine Einflusssphäre auf dem Balkan zu vergrößern. Es kam zu einem Krieg der kleinen Nationalstaaten Bulgarien und Serbien. Nur mühsam und unter maßgeblicher Beteiligung Bismarcks konnte verhindert werden, dass er in einen bewaffneten Konflikt zwischen den Großmächten mündete. Den Auseinandersetzungen fiel jedoch das Dreikaiserbündnis zwischen dem Reich, Österreich-Ungarn und Russland zum Opfer. Die Differenzen der deutschen Vertragspartner auf dem Balkan ließen sich nicht mehr übertünchen. Angesichts der prekären Mittelage in Europa, der aufgeheizten Stimmung an den Rändern und des zerrissenen Bündnisgewebes mussten bei Bismarck alle Alarmglocken schrillen. Drohte der Zweifrontenkrieg? War die 1871 erreichte Reichseinheit in Gefahr? Bismarck begegnete der Gefahr durch Diplomatie. Es gelang ihm im Februar/März 1887, ein geheimes Mittelmeerabkommen zwischen Italien, England und Österreich-Ungarn zustande zu bringen. Die drei Mächte vereinbarten, den Status quo im Mittelmeer und im Schwarzen Meer zu wahren und sich bei länderspezifischen Interessen (England in Ägypten, Italien in Nordafrika) gegenseitig zu unterstützen. Bismarck sah das gern, weil so England aus seiner Isolation herausgelockt wurde und antifranzösische Positionen in Nordafrika und antirussische an den Meerengen einnahm, damit deutsche wie österreichische Gefährdungszonen sichernd. Gleichzeitig wurde der Dreibund zwischen Österreich-Ungarn, Italien und dem Deutschen Reich erneuert. Das Reich verpflichtete sich nun dazu, die auf Gebietsgewinne gerichteten italienischen Ziele in Nordafrika zu unterstützen. Wenige Monate später traten Deutschland und Österreich-Ungarn einem von Großbritannien gebilligten Abkommen zwischen Italien und Spanien bei, mit dem die beiden Mittelmeermächte ihre kolonialen Streitigkeiten in einem gegen Frankreich gerichteten Sinn beilegten. Schließlich, und das erschien vielen Historikern als der Schlussstein der 1887 neu errichteten Bündnisarchitektur, schloss Bismarck nach zähen Verhandlungen, die sich von Januar bis Juni 1887 hinzogen, den später so genannten „Rückversicherungsvertrag“ mit Russland (200; 203). Darin verpflichteten sich die beiden Mächte zu wohlwollender Neutralität, sollte Deutschland von Frankreich oder Russland von Österreich-Ungarn angegriffen werden. Deutschland unterstützte die russischen Ansprüche auf eine Einflusssphäre in Bulgarien und Ostrumelien. In einem „ganz geheimen Zusatzprotokoll“ sagte das Reich darüber hinaus „moralische und diplomatische Unterstützung“ (27, S. 139) für den Fall zu, dass der Zar den Zugang zum Schwarzen Meer in die Hand bekommen wollte. Der Rückversicherungsvertrag ersetzte das Dreikaiserbündnis unter Einschluss Österreich-Ungarns nicht. Aber im Verein mit dem Dreibund, der Mittelmeerentente und dem spanisch-italienischen Vertrag schien er die Situation wiederherzustellen, die Bismarck einmal für die ideale gehalten hatte: Das Reich müsse, so hatte er bei einem Kuraufenthalt in Bad Kissingen 1877 seinem Sohn Herbert diktiert, nicht Ländererwerb, sondern eine politische Gesamtsituation anstreben, „in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Be-
III.
Bismarck: Diplomatie
„Kissinger Diktat“
59
III.
Forschungsprobleme
„Züge des Überanstrengten“ in der späten Bismarckschen Außenpolitik
ziehung zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden“ (zit. n. 27, S. 55). Auf den zweiten Blick aber musste das Urteil skeptischer ausfallen. „Züge des Überanstrengten“ (27, S. 113) findet Klaus Hildebrand, eine „gar nicht zu verkennende (…) Kompliziertheit der Konstruktion“ (27, S. 115). Die Verträge wurden geheim und ohne Beteiligung der Parlamente abgeschlossen, obwohl die Gesellschaften in immer stärkerem Maße Druck auch auf die äußere Politik auszuüben begannen. Besonders in Deutschland und Russland mehrten sich die Stimmen, die die Beziehungen zwischen den beiden Kaisermächten kühler, ja feindselig gestalten wollten. Wirtschaftspolitische Konflikte verschärften sich, wurden auch „volkstümlicher“, so dass sie auf den Innenbereich der Diplomatie einwirkten. Insgesamt konnte Deutschland in den Verträgen nicht mehr als unbeteiligter Vermittler im Hintergrund bleiben, sondern musste sich verpflichten, in Konflikten an der Peripherie gegebenenfalls Partei zu ergreifen. Die Verpflichtungen aber, die das Reich in den verschiedenen Abkommen einging, standen in deutlicher Spannung zueinander, ja sie widersprachen sich zum Teil. Konnte das auf Dauer gut gehen? Hektische außen- und außenwirtschaftspolitische Aktivitäten der Jahre 1888 und 1889 zeigten, dass Ruhe nicht eingekehrt war und die großen Mächte sich nach Möglichkeiten umsahen, aus der unübersichtlichen Situation herauszukommen. Hatte die eingangs zitierte Äußerung Caprivis doch eine gewisse Berechtigung? War die Zeit der Diplomatie nach Bismarckschem Muster vorbei?
b) Die Diskussion der 1920er-Jahre Quellenpublikationen nach 1918
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Die Historiker des Kaiserreichs hatte solche Fragen nicht gut stellen können. Einerseits waren sie dem Staat zu eng verbunden, als dass sie ihm fundamentalkritische Fragen zur Außenpolitik hätten stellen mögen. Andererseits fehlte ihnen das einschlägige Quellenmaterial. Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Situation so rasch, dass von einer „großen Enthüllungslawine“ (203, S. IX) gesprochen worden ist. Das Deutsche Reich brachte eine umfangreiche Aktenedition mit dem Titel „Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914“ (208) auf den Weg. Dahinter stand die – tendenziell das Reich exkulpierende – These, nicht eine Untersuchung der Julikrise von 1914, sondern nur die Betrachtung der allmählichen Veränderung der außenpolitischen Gesamtkonstellation nach 1871 könne den Weg Europas in den großen Krieg erklären helfen. Sie werde zeigen, dass Deutschland zwar außenpolitische Fehler gemacht habe. Doch das seien nur Reaktionen darauf gewesen, dass die europäischen Mächte die Mittelmacht Deutschland, die ihnen wegen ihrer wirtschaftlich, militärisch und politisch immer weiter steigenden Potenz unheimlich wurde, geschickt eingekreist und ihr damit die Luft zum Atmen genommen hätten. Andere kriegsbeteiligte Staaten zogen mit kleineren Akteneditionen nach, in denen natürlich weniger von der Einkreisung Deutschlands als von dessen Fehlern und aggressiven politischen Zügen die Rede war. Die sowjetische Regierung veröffentlichte Material aus dem „Nachlass“ des za-
Der Rückversicherungsvertrag ristischen Regimes. Zahlreiche in der Vorkriegszeit aktive Politiker und Diplomaten publizierten Erinnerungen – die des eingangs zitierten Generals von Schweinitz erschien postum. Goldene Zeiten eigentlich für Historiker: Quellenflut und interpretatorischer Freiraum. Doch übermäßig bunt und aufregend waren die Diskussionen der 1920er-Jahre nicht. Das lag zum einen am Zugang. Angesichts der über sie hereinbrechenden Quellenmengen waren die Historiker damit beschäftigt, zu sichten, zu klassifizieren, neue Ordnung zu stiften. In der klassischen Politik- und Diplomatiegeschichte lag ja auch ein Schwerpunkt der deutschen Geschichtsschreibung insgesamt. Viele Darstellungen lesen sich daher wie eine Aneinanderreihung von Quellenbearbeitungen. Zum anderen stand die Debatte unter dem Eindruck der Kriegsniederlage. Sie suchte nach Ursachen für die Kriegsausbruch und Kriegsniederlage, wollte dabei aber weder in der Kriegsschuldfrage der deutschen Politik in den Rücken fallen noch die nationalen Gefühle der Deutschen verletzen. Das begrenzte die Erkenntnismöglichkeiten. Mitte der 1920er-Jahre stritten Felix Rachfahl, Hans Rothfels und Otto Becker über den Rückversicherungsvertrag und die Bedeutung seiner Nichtverlängerung. Otto Becker hatte 1923 und 1925 ein zweibändiges Werk mit dem bezeichnenden Titel „Bismarck und die Einkreisung Deutschlands“ (194) vorgelegt. Darin bestätigte er die Richtigkeit älterer Forschungen, nach denen „Bismarcks diplomatische Kunst während der bulgarischen Krisis ihren Höhepunkt erreicht habe“ (194, Bd. 1, S. 140). Dem Reichskanzler sei es durch den Rückversicherungsvertrag gelungen, den Zaren von einem für Russland durchaus nahe liegenden, für Deutschland höchst gefährlichen französischen Bündnis fern zu halten. Dass die dabei eingegangenen Verpflichtungen denen anderer Verträge widersprachen, sei nicht weiter erheblich. Die Gegensätze habe ja nicht Bismarck erzeugt. Er habe vielmehr bestehenden Gegensätzen „unter dem einheitlichen weiten Blickfelde, das ihm die Warte des deutschen Staatsinteresses gewährte“ (194, Bd. 1, S. 120), Rechnung getragen. „Bismarcks Politik erhielt ihre Richtung … nicht von bestimmten ethischen Grundsätzen oder Lehrsätzen; er trieb nur eine Politik der Zweckmäßigkeit“ (194, Bd. 1, S. 105) Allerdings sei der Rückversicherungsvertrag noch nicht der Schlussstein der Bismarckschen Vertragspolitik gewesen. Hier trennte sich Becker von Heinz Trützschler von Falkenstein und anderen Historikern, die den russischen Vertrag als „Meisterwerk der Bismarck’schen Staatskunst“ (215, S. 100) hoch schätzten. Gegen sie führte auch Hans Rothfels an, dass Bismarcks Ziel eine Art „doppelter Rückversicherung“ (so auch 212, S. 120) bei den Welt- und Flügelmächten England und Russland gewesen sei. „Den idealen Abschluss sah er in einem Defensivbündnis mit England, das neben den deutsch-russischen Vertrag treten könne.“ (194, Bd. 1, S. 142) Das hätte Deutschland erlaubt, bei internationalen Konflikten wieder im Hintergrund zu bleiben. Dieses Ziel habe Bismarck allerdings erst intensiv verfolgen können, nachdem der Tod Kaiser Friedrichs III. nach nur 99 Tagen Regierungszeit ihn der Sorge enthoben habe, mit einer englandfreundlicheren Außenpolitik eine innen- und außenpolitische Dynamik loszutreten, die ihn und sein Konzept am Ende zugunsten eines liberalen und anglophilen Kabinetts hinweggespült hätte.
III.
Charakteristika der Debatten der 1920er-Jahre
Otto Becker
Hans Rothfels „doppelte Rückversicherung“
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III.
Forschungsprobleme
Felix Rachfahl
Rückversicherungsvertrag ein „Notbehelf“
Grundgedanke Bismarcks: „Entente oder Bündnis mit England“ (Rachfahl)
62
Dass die Rückversicherung bei England nicht zustande kam, lag an der Ablehnung Englands 1889. Bismarck sei bitter enttäuscht gewesen. Umso wichtiger wurden nun der russische Rückversicherungsvertrag und seine Erneuerung. „Gerade weil sein außenpolitisches Sicherungswerk unvollendet blieb, gewann die Säule des Rückversicherungsvertrages umso größere Bedeutung für die Erhaltung der politischen Vormachtstellung Deutschlands in Europa.“ (194, Bd. 1, S. 149) War also der Rückversicherungsvertrag, wenn schon nicht Schlussstein (Trützschler), so doch zumindest notwendiger Eckpfeiler (Becker, auch Rothfels) der Bismarckschen Außenpolitik? Felix Rachfahl verneinte beides. „Ein Vertrag ist in der Regel nur dann haltbar und lebensfähig, wenn er mit den entsprechenden Gesinnungen abgeschlossen wird, und wenn er den Kontrahenten Nutzen nicht nur verspricht, sondern auch bringt.“ (211, S. 111; vgl. 210) Beides habe in diesem Fall gefehlt. Auf deutscher Seite sei der Vertrag bereits während der Entstehungszeit als sehr problematisch eingeschätzt worden, „insofern er als vorzugsweise auf die Person Alexanders III. und den kleinen deutschfreundlichen Kreis in der russischen Hauptstadt eingestellt und als es fraglich war, ob diese der künstlich aufgeregten öffentlichen Meinung für den Fall die Stirn zu bieten vermöchten, dass Frankreich doch einmal das Deutsche Reich angreife.“ (211, S. 111) Auf russischer Seite sei der Vertrag innerhalb der Regierung umstritten gewesen. Genutzt habe er beiden Seiten nichts. Deutschland habe unmittelbar nach Vertragsabschluss eine russlandfeindliche Wirtschaftspolitik initiiert. Russland habe wegen einer möglichen kriegerischen Auseinandersetzung mit Deutschland in England sondiert. Auf die internationale Lage habe der Rückversicherungsvertrag ganz geringe Auswirkungen gehabt. Er sei nicht Schlussstein oder Eckpfeiler, sondern nur „ein Notbehelf“ (211, S. 110) gewesen, von Bismarck in der außerordentlich schwierigen Lage 1887 lediglich in Kauf genommen um der Sicherung des Friedens willen. Deswegen habe er Bestimmungen enthalten können, die anderen geheim eingegangenen deutschen Verpflichtungen widersprachen. Deshalb habe er eine reale Wirksamkeit kaum entfaltet. Deshalb habe Bismarck 1889 England ein öffentlich abzuschließendes Bündnis vorschlagen können, das mindestens dem Geist des Rückversicherungsvertrages widersprochen hätte. Dieses vom englischen Premier Salisbury abgelehnte Bündnis aber, und hier lag der Eckpunkt der Rachfahlschen Argumentation, sei ein Schlüssel zum Verständnis der Bismarckschen Bündnispolitik überhaupt. Hans Rothfels hatte immer wieder das bereits zitierte Kissinger Diktat herangezogen, um Bismarck außenpolitische Leitidee von einer ausgeglichenen europäischen Gesamtsituation zu beschreiben. Die Großmächte sollten an der Peripherie beschäftigt werden, zur Verfolgung ihrer Interessen Deutschland als Bündnispartner brauchen. So sollten Deutschland im Hintergrund bleiben können und Frankreich außen vor bleiben müssen. Rachfahl hingegen hielt das Kissinger Diktat für eine von vielen Äußerungen, die überdies ein in der Realität nie gegebenes Ideal beschwor. Er hielt dagegen: „Entente oder Bündnis mit England gehören … zu den leitenden Grundgedanken der Bismarck’schen Außenpolitik“ (211, S. 132). Solange Großbritannien Deutschland nur als Juniorpartner zur Verfolgung seiner Festlandsinteressen
Der Rückversicherungsvertrag habe nutzen wollen, habe Bismarck diese Idee nicht verwirklichen können. Indem England 1887 in eine Mittelmeerentente mit Österreich-Ungarn und Italien habe hereingezogen werden können, sei Bismarck seinem Ziel sehr nahe gekommen. Da Salisbury schließlich abgelehnt habe, „durfte Bismarck den Faden nach Russland nicht abreißen lassen“ (211, S. 120). Doch insgesamt sei nicht eine ausgeglichene europäische Gesamtsituation oder ein Zusammengehen mit dem unzuverlässigen Russland die eigentliche Leitlinie der Bismarckschen Außenpolitik gewesen, sondern das zukunftsverbürgende Bündnis mit England. Aus den unterschiedlichen Perspektiven auf die Leitlinien der Bismarck’schen Außenpolitik im Ganzen und auf den Rückversicherungsvertrag von 1887 im Besonderen ergab sich eine unterschiedliche Bewertung der ersten außenpolitischen Entscheidung Caprivis 1890. Wer den russischen Vertrag als Notbehelf interpretierte, konnte seine Nichterneuerung 1890 für eine lässliche Sünde oder sogar für einen Akt der politischen Konsequenz halten. Hans Uebersberger äußerte sich in ersterem Sinne, wenn er bezweifelte, dass eine Erneuerung des Rückversicherungsvertrages 1890 irgendeinen außenpolitischen Effekt gehabt hätte. Das deutsch-russische Bündnis sei durch die öffentliche Meinung in beiden Staaten nicht unterstützt worden. Der Zar habe es nicht von Herzen gewollt. „Nur die überragende, machtvolle Persönlichkeit Bismarcks und das ungeheure, an Furcht vor seinem politischen Genie grenzende Ansehen, das er im russischen Volk genoss, wäre imstande gewesen, in den Tagen der Entscheidung auch wirklich die Geltung des Vertrages zu sichern. Seinen Nachfolgern wäre dies wohl ebenso wenig gelungen wie mit den italienischen und rumänischen Bundesgenossen im Weltkriege.“ (216, S. 334) Maximilian von Hagen bevorzugte die zweite Variante und schrieb 1922: „Der neue Kurs war daher durchaus im Recht, wenn er nach Bismarcks Ausscheiden klarere Verhältnisse schaffen wollte und auf eindeutigen Grundlagen die Politik des Reiches zu führen gewillt war.“ (202, S. 13) Otto Becker hingegen hob den Bruch von 1890 deutlich hervor. Er sah eine „alle Befürchtungen übertreffende Schärfe des Kontrastes zwischen Bismarcks auswärtiger Politik und der seiner Epigonen“ (194, Bd. 2, S. XV). Unter letzteren gab es die einfachen bis einfältigen Charaktere à la Caprivi, die die „geniale Bündnispolitik“ (194, Bd. 2, S. 34) Bismarcks nicht verstanden. Und es gab die rachsüchtigen Ehrgeizlinge, die an Bismarcks Stuhl sägten, um sich selbst an seine Stelle zu setzen. Als deren Verkörperung galt der Chef der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, Friedrich von Holstein. Ihn machte Becker für die verhängnisvolle Wendung der deutschen Außenpolitik persönlich verantwortlich: „Die (…) Verbindung extremster Machtgier mit extremster Verantwortungsscheu musste das Zusammenspiel der unwirklichen Welt seines Geistes mit dem Pathologischen seines inneren Menschen zu umso verhängnisvollerer Auswirkung bringen.“ (194, Bd. 2, S. 40) Indem Becker Holstein als charakterschwachen Finsterling und graue Eminenz zeichnete, der die deutsche Außenpolitik – erfüllt von besten Absichten – in den Abgrund steuerte, trug er zu einer traditionsbildenden Personalisierung der Geschichtsschreibung zur deutschen Außenpolitik nach Bismarck bei (193). Ihr Extrem erreichte dieser Traditionsstrang in einer Veröffentlichung des NS-Historikers Walter
III.
Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags 1890
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III.
Forschungsprobleme
Das Engagement des Historikers
Kaiserreichgeschichte als Zeitgeschichte
Frank, die die Gründe für den angeblich abweichenden Charakter Holsteins in seiner jüdischen Verwandtschaft suchte. Wie sehr Otto Becker persönlich mit der Entscheidung von 1890 rang, zeigt sich in einer anderen Passage seines Werkes. Er machte sich daran, Punkt für Punkt eine im März 1890 entstandene Denkschrift des Grafen Berchem zu widerlegen, die die Ablehnung einer Verlängerung des Rückversicherungsvertrages aus deutscher Sicht zusammenfassend begründete (194, Bd. 2, S. 46–54). Becker kämpfte – gewissermaßen an Bismarcks statt – um den russischen Vertrag und gewann – nur leider fünfunddreißig Jahre zu spät. Zur Distanz des Historikers fand er unter dem Eindruck der Kriegsniederlage und des Untergangs des Kaiserreiches nicht. Entsprechend deutlich fiel auch seine Kritik an Geschichtswissenschaftlern aus, die die Bismarcksche Bündnispolitik im Allgemeinen anders interpretierten und damit den Rückversicherungsvertrag im Besonderen weniger hoch schätzten. Rachfahl zeige mit seiner These von der englischen Option, „dass er die Möglichkeiten einer einseitigen westlichen und auch einer einseitigen östlichen Orientierung nicht wirklich bis zu ihren letzten Konsequenzen durchgedacht hat.“ (194, Bd. 2, S. 264) Aktenstück für Aktenstück, Ereignis für Ereignis ließ Becker Revue passieren, um das grundsätzlich Verfehlte der Rachfahlschen Argumentation nachzuweisen. Sie sei teils „unfruchtbar und irreführend“ (194, Bd. 2, S. 256), teils „schwächlich und gesucht“ (194, Bd. 2, S. 257). Seine Begriffe litten unter „mangelnder Exaktheit“ (194, Bd. 2, S. 259). Kaiserreichgeschichte war in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Zeitgeschichte – das zeigte dieser Streit. Es war, nach der 1953 von Hans Rothfels gegebenen klassischen Definition, die „Geschichte der Mitlebenden“ (213), der existenziell Betroffenen, die hier verhandelt wurde. Es ging um „Schuld“ und „Verantwortung“ von Personen, die die Schreibenden noch gekannt hatten, um Katastrophen, die die Schreibenden selbst durchlitten hatten. Es ging um Politik als ereignishaftes Handeln, das seinen Niederschlag in Akten fand. Und es ging stets auch um Gegenwartsfragen, die mit der Zeitgeschichte noch verbunden waren. Die heftigen Debatten um Deutschlands Mittellage, seine englische oder russische Option fanden im Schatten von Rapallo (deutsch-russischer Vertrag 1922) und Locarno (Stresemannsche Versöhnungspolitik vor allem mit England und Frankreich, 1925) statt. Auch wenn dies natürlich nicht wörtlich in den Texten steht, so glaubt man doch zwischen den Zeilen die Streitfragen der aktuellen Politik mitverhandelt.
c) Die gegenwärtige Diskussionslage Verändertes Umfeld
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In aktuellen Publikationen haben sich die Gewichte deutlich verschoben. Das liegt weniger an den Quellen, obwohl nach der ersten Publikationsflut der 1920er-Jahre seit den 1960ern neue Primärinformationen bekannt wurden. Wichtiger war eine veränderte Herangehensweise. Mit größerem zeitlichen Abstand haben Historiker hinter die Ereignisse zu sehen gelernt. Sie haben dabei Strukturen und Prozesse beobachtet, auf denen die Ereignis-
Der Rückversicherungsvertrag ketten aufruhen. Dadurch wurden die Handelnden nicht zu ohnmächtigen Marionetten degradiert, die von überpersönlichen Kräften zum Handeln genötigt wurden. Eher schon ließen sich so Bedingungen und Folgen persönlichen Handelns genauer bestimmen. Daraus konnten dann auch neue Urteile über die späte Bismarcksche Außenpolitik und die seiner Nachfolger resultieren. Interessanterweise finden sich viele der gleich behandelten strukturellen Faktoren bereits bei Becker, Rachfahl, Rothfels und anderen. Nur waren sie hier noch Stützen von Hilfskonstruktionen, die zur Absicherung typisch zeitgeschichtlicher Beschreibungen verwendet wurden. Seit den 1970er-Jahren hingegen treten die strukturellen Faktoren in den Vordergrund, während die Arbeit am einzelnen Dokument, am einzelnen Ereignis in den Hintergrund geschoben wird. Von der Entscheidung von 1890 führte kein direkter Weg in die Weltkriegskonstellation. Das dürfte in der derzeitigen Forschung unbestritten sein. Die Historiker der 1920er hatten alle außenpolitischen Entscheidungen des Kaiserreichs auf ihre Bedeutung für Weltkriegsausbruch und -niederlage hin befragt. Diese Perspektive verstellte den Blick auf das Unfertige und Fragile der außenpolitischen Umgruppierungen in den 1890erJahren. Auch die Verständigung zwischen Frankreich und Russland, wie sie Mitte der 1890er-Jahre zustande kam, war eine Vereinbarung auf Zeit und als solche reversibel. Dass sie nicht zugunsten Deutschlands revidiert wurde, war keine Folge der Entscheidung von 1890, nicht unentrinnbares Schicksal derjenigen, die einmal die Weichen falsch gestellt hatten. Vielmehr resultierte die allmähliche Verhärtung der neuen Konstellationen vor allem aus zu optimistischen Lageeinschätzungen der deutschen Außenpolitik. Die meisten deutschen Außenpolitiker glaubten zu lange, dass ihnen die Zukunft gehöre und sie daher eine Politik der Stärke betreiben könnten. Damit verprellten sie nach und nach die übrigen europäischen Mächte. Die schlossen sich gegen den polternd auftretenden dynamischen Wirtschafts- und Militärgiganten der Mitte zusammen. Deutschland wurde also nicht eingekreist. Es hat sich vielmehr selbst isoliert, in einem mehr als zwanzigjährigen, noch lange aufhaltbaren und umkehrbaren Prozess. Winfried Baumgart hat einmal geschätzt, dass erst 1912 die beiden Ententen „ein gewisses Maß an innerer Logik und einen gewissen, jedoch schwer definierbaren Offensivcharakter“ (193, S. 114) annahmen, der die Weltkriegskonstellation wahrscheinlich machte. Dieses Argument nimmt der Entscheidung von 1890 den dramatischen Charakter, der die Debatten der 1920er-Jahre so existenziell hatte werden lassen. Außenpolitik veränderte in den 1880er- und 1890er-Jahren ihren Charakter und die Zukunft gehörte Akteuren, die diese Veränderung auszunutzen verstanden. Wirtschaftliche Fragen ließen sich immer weniger von diplomatischen trennen. Parlamente, Parteien und Interessengruppen versuchten, auf das außenpolitische Geschehen in ihrem Sinne einzuwirken. Auch das Militär drückte seine Logik in die diplomatischen Konstruktionen hinein. Viele Diplomaten empfanden die Einwirkung dieser neuen Einflussgrößen als eine Einengung ihres Handlungsspielraums. Das greift zu kurz, weil es suggeriert, Diplomatie habe vorher Autonomie besessen, obwohl sie doch immer von externen Bedingungen abhängig gewesen ist. Bismarck etwa hatte in der Reichsgründungsphase auch deswegen Erfolg ge-
III.
1890 keine Weichenstellung für die Weltkriegskonstellation
Veränderung des Charakters von Außenpolitik
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III.
Forschungsprobleme
Wechsel des Verständnisses von Bündnissen
Generationswechsel
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habt, weil es ihm gelungen war, die aufschäumenden Wogen des Nationalismus zu kanalisieren und auf seine diplomatischen Mühlen zu leiten. Die neuen außerdiplomatischen Einwirkungen der zweiten Hälfte der 1880erJahre verstand er hingegen nicht mehr gut. Seine Politik nahm nun mit ihren Geheimverträgen, dynastischen Kontakten und Winkelzügen den Weg zurück in die Kabinettspolitik, die er einst selbst ausgehebelt hatte. Caprivis Versuch, die Grundzüge der Außenpolitik mit denen der inneren Politik zu harmonisieren und auch wirtschaftspolitische Entscheidungen mit außenpolitischen zu synchronisieren, erscheint wesentlich zeitadäquater. Wir beobachten seit den 1880er-Jahren einen allmählichen Wechsel des Verständnisses von Bündnissen und Allianzen. Das ursprünglich vom ersten deutschen Kaiser Wilhelm I. geprägte Bild von den fünf Glaskugeln, die Bismarck einem Jongleur in der Manege gleich in der Luft bewegte, trifft eher für die 1870er-Jahre zu. Danach fand ein schleichender Umdeutungsprozess statt. Politische Beziehungen wurden mehr und mehr auf ihren militärischen Nutzen hin befragt. Die Frage, in welcher Konstellation Frieden und Stabilität in Europa gesichert werden könne, verschwand hinter einer anderen: In welcher Bündnisstruktur konnte ein ohnehin für unausweichlich gehaltener Krieg gewonnen werden? Damit verbunden war eine Hochrüstung, die die Bedeutung des Militärischen noch vergrößerte. Nun hat Bismarck zwar bis 1890 alle Präventivkriegsplanungen seiner Militärs immer wieder zurückgewiesen, und damit das Übergreifen militärischer Logiken ins Zentrum der Diplomatie abgewehrt. Doch sowohl das Bündnis mit Österreich von 1879, das einen harten Blockcharakter hatte und nicht mehr auf Reversibilität angelegt war, als auch die von ihm forcierte und bei Reichstagswahlen propagandistisch ausgenutzte militärische Hochrüstung veränderten, so Jost Dülffer, das Spiel mit den Glaskugeln stark (199; den Zeitpunkt der Veränderung setzt Hillgruber, 204, später an). Die einprägsame Metapher trifft die Situation der 1880er-Jahre nicht mehr, deren Züge auf die 1890er-Jahre hinweisen. Insofern hat auch Caprivi nicht einfach Kugeln fallen lassen. Vielmehr fand das Spiel schon Ende der 1880er-Jahre nur noch in den Köpfen der Bismarck-Bewunderer statt. Für die innenpolitische Situation in Deutschland ist ein Generationswechsel von entscheidender Bedeutung. Als Wilhelm I. 1888 starb und Bismarck 1890 entlassen wurde, traten alte Männer ab, die die Befreiungskriege noch erlebt hatten oder doch mit der Erinnerung an sie aufgewachsen waren. Wilhelm I. (1870 73 Jahre alt) wie Bismarck (1870 55 Jahre alt) hatten die Reichseinigung im Herbst ihres Lebens zustande gebracht. Beider Politik war zunehmend auf Konservierung des Reiches ausgerichtet, das sie als spät und glücklich entstanden und außenpolitisch stets gefährdet ansahen. Sie waren bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen, nämlich den Verzicht auf die zeitgemäße, von England, Frankreich, Russland, ja sogar Italien betriebene Weiterentwicklung im imperialistischen Sinn. Die Politikergeneration des Neuen Kurses hingegen und vor allem die sie beeinflussende wilhelminische Öffentlichkeit hielt die Reichsgründung für selbstverständlich. Nicht Bewahrung und Sicherung, sondern Gestaltung und Erweiterung hieß ihre Ziele. Sie wollten wirtschaftlichen Erfolg, militärische Stärke und auch wissenschaftlich-künstlerische Weltgeltung außen-
Der Rückversicherungsvertrag politisch umsetzen. Ihnen erschien die Bismarcksche Politik teils altväterlich-übervorsichtig, teils überkünstelt. Sie setzten dagegen auf Klarheit, Entschiedenheit und das Ausnutzen der eigenen Stärke. Sie näherten sich damit dem europäischen Normalmaß an, freilich aus der geopolitisch extrem gefährlichen Situation der europäischen Mitte. Ob das in den großen Krieg führen musste, ist eine offene Frage. Es erscheint aber wenig wahrscheinlich, dass eine Politik der Beschränkung und des diplomatischen Geheimspiels bei zunehmender gesellschaftlicher Partizipation, wirtschaftlichem Druck und militärischem Einfluss selbst von Bismarck länger hätte aufrechterhalten werden können. Nimmt man die prozessualen und strukturellen Aspekte der deutschen Außenpolitik zusammen, erscheint die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages 1890 als weniger dramatisches Ereignis. Die Bismarcksche Entlassung war kein Donnerschlag, der die Welt veränderte. Wenn wir davon ausgehend abschließend versuchen, die derzeitige Mehrheitsmeinung in der Forschung zum Rückversicherungsvertrag und seiner Nichtverlängerung vorzustellen, müssen wir allerdings eine bemerkenswerte Minderheitenmeinung ausklammern, der die Debatte um den Rückversicherungsvertrag als überflüssige Arabeske erscheinen dürfte. Wer mit Hans-Ulrich Wehler auf ein Vorwalten des Wirtschaftlichen und auf den Primat der Innenpolitik in der Außenpolitik setzt (217), für den muss die Frage nach Kontinuität oder Bruch an anderen Stellen entschieden werden. Die Außenpolitik ist nur ein Symptom. Freilich wird man sagen können, dass diese Gruppe seit den späten siebziger Jahren an Anhängern verloren hat, weil die Eigenlogik des Außenpolitischen wieder stärker ins Blickfeld gekommen ist. Ein Großteil der Forschung kann sich mittlerweile mit der Aussage anfreunden, dass der Rückversicherungsvertrag von 1887 eine weitere Aushilfe in einem System von Aushilfen war, das zunehmend überanstrengt und überdehnt wirkte. Der Rückversicherungsvertrag war nicht der Schlussstein und nicht der Eckpfeiler der Bismarckschen Außenpolitik. Bismarck war kein Jongleur. Und die europäischen Mächte ließen sich von Anfang an nicht und in den 1880er-Jahren immer weniger als Glaskugeln behandeln. Die Metapher aus der Architektur verführt zum statischen Denken, die aus dem Zirkus zur Überschätzung des Bismarckschen Genius. Beiden Metaphern gegenüber ist festzuhalten, dass die Bismarcksche Außenpolitik weniger systematisch, stark reaktiv war. Bismarck hatte, wie das Kissinger Diktat zeigte, ein Bild von einer für Deutschland günstigen Gesamtsituation vor Augen und er fürchtete gegen Deutschland gerichtete Koalitionen wie gesellschaftsverändernde Revolutionen. In der Wahl der Mittel und Wege war er flexibel. Seit Mitte der 1880er-Jahre aber zeigte sich, dass die Mittel und Wege, die er sich vorstellen konnte, immer weniger ausreichten, um die strukturellen Veränderungen der außenpolitischen Situation zu beherrschen. Bismarck hatte bis ans Ende der 1870er-Jahre im Einklang mit den vorwaltenden Tendenzen der Zeit vermocht, die Einheit des Deutschen Reiches zustande zu bringen und zu sichern. Nun geriet er in immer stärkeren Gegensatz zu den weiterdrängenden geschichtsmächtigen Bewegungen, die sein Konzept der Sicherung infrage stellten. Der Rückversicherungsvertrag war ein problematisches, nur aus der
III.
Derzeitige Forschungstendenzen
System der Aushilfen
Sondersituation 1887
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III.
Forschungsprobleme
BismarckMetaphern: „Zauberlehrling“ (Gall) „Sisyphus“ (Bussmann, Hildebrand)
Größerer Rahmen: Epochenwechsel 1890
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schwierigen Situation des Jahres 1887 erklärbares Mittel. Seine Bedeutung hat Bismarck selbst nicht besonders hoch eingeschätzt. Insofern war seine Bewertung, wie Winfried Baumgart betont, von der seiner Nachfolger Caprivi und Holstein weniger weit entfernt, als in der Zwischenkriegszeit angenommen wurde (193). Holstein und Caprivi handelten im Einvernehmen mit dem gesamten außenpolitischen Apparat, wenn sie eine Verlängerung des Vertrages als nicht im deutschen Interesse liegend ablehnten. Und sie handelten wohl auch im Einklang mit den vorwaltenden Tendenzen der Zeit, denen sich Bismarck mehr und mehr entgegen stemmte. Hier freilich hat Konrad Canis anders argumentiert. Er hält Bismarcks Politik 1890 für zukunftsnäher und zeitadäquater als die Caprivis und Holsteins. Ironisch hat er sogar zugespitzt, es habe 1890 keine Notwendigkeit bestanden, „Russland in geradezu selbstmörderischer Weise vor den Kopf zu stoßen und sich England vor die Füße zu werfen.“ (196, S. 13; vgl. 195) Das erinnert beinahe an Wertungen der 1920er-Jahre. In der Frage der Zukunftsfähigkeit der Politik des alternden Reichskanzlers enden insgesamt die Gemeinsamkeiten der Forschung. Lothar Gall (89) hat die eingängige These vom Zauberlehrling Bismarck geschaffen, der durch nationale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräfte auch außenpolitisch überwältigt wurde, die er selbst durch äußere und innere Reichseinigung hervorgerufen hatte. Klaus Hildebrand entwickelte dagegen die von Walter Bußmann für Bismarck verwendete Sisyphus-Metapher (203, S. XXVII) weiter. Bismarck habe um „das Provisorische, selbst das Vergebliche seines Tuns“ (27, S. 129) gewusst. Doch er habe als Alternativen nur den von den Militärs angepriesenen Präventivkrieg einerseits, die Juniorpartnerschaft mit einer der Flügelmächte England oder Russland andererseits gesehen. Beides habe ihn nicht überzeugen können, so dass er seine Politik der augenblicksgebundenen Diplomatie trotz momentan fehlender Perspektive weiter betrieben habe. Dies sei auch aus der Perspektive der Nachgeborenen noch nachvollziehbar. Denn die möglichen Alternativen hätten „allesamt größere Affinität zum Krieg“ (27, S. 166) besessen. Hildebrand steigert seine Bismarck-Verteidigung bis hin zu der Formulierung einer „existenzsichernden Zukunftslosigkeit“ (27, S. 168) der Bismarckschen Außenpolitik. Bis zu diesem Punkt, der dann doch wieder an die Bismarck-Verehrung älterer Jahrgänge erinnert, werden ihm nicht viele folgen wollen. Dass das Jahr 1890 eine Zäsur in außenpolitischer Hinsicht, ja weit darüber hinaus war, wird kaum bestritten. Freilich wird nicht mehr im Sinne der meisten Historiker der 1920er-Jahre behauptet, die Holstein, Caprivi und Wilhelm II. hätten diese Zäsur mutwillig und leichtfertig herbeigeführt. Vielmehr trugen sie zu einem Epochenwechsel bei, dessen Ausmaß größer war als das Handlungsvermögen eines einzelnen Menschen. Lothar Gall skizziert diesen historischen Umbruch in einer weit über Deutschland hinausreichenden Perspektive: „Eine Epoche der europäischen Politik, so die gerade auch im Kreis der unmittelbar Verantwortlichen weit verbreitete Überzeugung, ging unwiderruflich zu Ende. Die Zukunft ihrer führenden Mächte würde sich nicht nur in einem wesentlich anderen Rahmen abspielen, sondern sie würde auch von ganz neuen Kräften bestimmt, zumindest mitbestimmt werden. Das erfüllte die einen mit neuen Erwartungen, mit
Wilhelm II. und die Monarchie im späten Kaiserreich
III.
dem Gefühl des Aufbruchs zu neuen Zielen, die anderen eher mit Melancholie, mit einer Fin-de-siècle-Stimmung, die mit dem Ende traditioneller außenpolitischer Ordnungsvorstellungen auch das Ende eines damit verbundenen politischen Stils, einer bestimmten politischen Kultur heraufziehen sah. In der Sache selbst aber bestand weithin Einigkeit: Man war dabei, in ein ganz neues Zeitalter der europäischen, ja der Weltgeschichte einzutreten.“ (18, S. 98–99)
5. Wilhelm II. und die Monarchie im späten Kaiserreich Nichts. Keine lebhafte Zustimmung, keine wütende Replik. Nur Schweigen. Aus späteren Texten John C.G. Röhls ist herauszulesen, wie sehr es ihn gewundert bzw. geärgert hat, dass sein Buch „Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise im Zweiten Kaiserreich 1890–1900“ (249) Ende der 1960er-Jahre so wenig Resonanz in der bundesdeutschen Historikerschaft fand. Der Professor für europäische Geschichte an der Universität Sussex (England) hatte auf die verhängnisvolle Rolle Wilhelms II. im Vorfeld des Ersten Weltkriegs und beim Untergang der Monarchie hingewiesen. Wilhelm II. habe nach Jahren innerer Machtkämpfe seit 1897 die deutsche Politik bestimmt, ein „persönliches Regiment“ nicht nur behauptet, sondern tatsächlich ausgeführt. Der von ihm eingeschlagene politische Weg „führte zu Isolierung, Weltkrieg, Niederlage und Zusammenbruch“ (249, S. 252). Röhl brachte in den folgenden Jahren neue Quellen bei und baute seine Argumentation weiter aus (246; 252). Er publizierte mehrere Sammelbände (247; 245). Doch er sollte mehr als 15 Jahre warten müssen, bis die ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Thesen begann (222). Einem breiteren Publikum wurden die Differenzen um Wilhelm II. erst deutlich, als Röhl an einer Biographie zu arbeiten begann. 1993 und 2001 veröffentlichte er in zwei jeweils weit über 1000 Seiten starken Bänden seine Sicht der Lebensgeschichte des letzten deutschen Kaisers (254; 253). Er kam bisher allerdings nur bis ins Jahr 1900. Da war Wilhelm gerade 40 Jahre alt und hatte die größere Hälfte seiner Regierungszeit noch vor sich, von der bis 1941 währenden Lebenszeit ganz zu schweigen. Röhl wird sein Leben an die Beendigung des monströsen Unternehmens setzten müssen. Doch die materialreichen und opulent aufgemachten ersten Bände zogen bereits die Aufmerksamkeit der großen Zeitungen auf sich. Die deutsche Universitätshistoriographie war zur Stellungnahme gezwungen. Doch bezeichnenderweise war es mit Wolfgang J. Mommsen ein zwar renommierter, aber eben auch emeritierter Universitätslehrer, der 2002 mit einer ausführlicheren Alternativdeutung aufwartete. „War der Kaiser an allem schuld?“ (239) – fragte er im Titel, um gegen Röhl zu antworten: Keineswegs. Die preußisch-deutschen Machteliten hätten sich ihrerseits des Kaisers bedient, um ihre Ziele durchzusetzen, mit katastrophalen Folgen. Wilhelm selbst habe weder die Kenntnisse noch die Fähigkeiten besessen, um das deutsche Staatsschiff zu steuern. Wahrscheinlich habe er – außer im Weltkrieg – die Instrumentalisierung seiner Person und seines Amtes nicht einmal bemerkt.
John C. G. Röhl
Die große Biographie Wilhelms II.
Wolfgang J. Mommsen
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III.
Forschungsprobleme Merkmale des Historikerstreits
Charakter Wilhelms II.
Beim Thema „Wilhelm II. und die Monarchie im späten Kaiserreich“ geht es also um eine Kontroverse, die lange Zeit gar nicht stattfand und dann auf kleiner Flamme gekocht wurde. Verschiedene Gruppen behaupteten verschiedene Dinge, ohne sich der Mühe des Dialogs zu unterziehen. Fragen wir nach den Gründen für diese eigentümliche Nicht-Kontroverse, so sind wir an die Geschichte Wilhelms II. selbst und an den Umgang früherer Historikergenerationen mit ihm gewiesen. Dass Wilhelm II. ein eigentümlicher Herrscher war, ist nie bestritten worden. Unter den drei Kaisern, die das Zweite Reich nur gehabt hat, ist er zweifelsohne der Bemerkenswerteste. „Wilhelm der Plötzliche“, oder „Wilhelm der Abwesende“, wie man ihn hinter seinem Rücken spöttisch nannte, war das genaue Gegenteil seines im Alter betulichen und beschränkten Großvaters Wilhelm I. (Preußischer König seit 1859/61, Deutscher Kaiser 1871–1888). Der hatte das Regieren mehr und mehr seinem Regierungschef Bismarck überlassen. Der Alltagspolitik entrückt war er zur Symbolfigur des konservativen und saturierten Reiches geworden. Sein Sohn Friedrich III. (1888), auf den die unter Bismarcks hartem Druck stöhnenden Liberalen lange gehofft hatten, war bei Regierungsantritt schon todkrank und verstarb nach 99 Tagen. Dann kam der schnelle und moderne Wilhelm, gerade 29 Jahre alt. Als nimmermüder Verkleidungskünstler reiste er rast- und ruhelos umher, trat dabei in stets neuen (Phantasie-)Uniformen auf, hielt Aufsehen erregende, oft martialische Reden, liebte das Pompöse, Schillernde, aber auch das Moderne (Autos, Flugzeuge, Kriegsschiffe, Film, Wissenschaft), hasste regelmäßige Büroarbeit, fällte schnell, oft zu schnell sein Urteil, traf Personalentscheidungen von großer Tragweite nach sehr persönlichen Kriterien und irritierte den zentralen Regierungsund Verwaltungsapparat mit seinen unvorhersehbaren Interventionen. Zeitgenossen wie Nachgeborene, Anhänger und Gegner, haben diese Eigenschaften und Eigentümlichkeiten beschrieben. Die Frage, um die gestritten wird, ist die, woher diese Eigentümlichkeiten stammten, welchen Nutzen bzw. Schaden sie mit sich brachten und welche Auswirkungen sie auf die deutsche Geschichte hatten.
a) Emil Ludwig und die Historische Biographik Die Diskussion um diese Fragen war bereits während der Wilhelminischen Zeit entbrannt – weniger unter Historikern als unter Journalisten und Schriftstellern (219). Nach 1918 musste sie die Historiker interessieren. Die standen unter dem Eindruck der Kriegsniederlage, der Kriegsschuldthese des Versailler Vertrages und der Forderungen alliierter Mächte an Holland, den dort exilierten Kaiser auszuliefern, um ihn vor ein Kriegsgericht zu stellen. In dieser Situation lag es nahe, die Personalie Wilhelm II. gar nicht zu diskutieren. Eine ernst zu nehmende historische Biographie des letzten Kaisers ist daher bis 1945 nicht erschienen. Andererseits aber war die Geschichte des Kaiserreichs und des Ersten Weltkriegs Zeitgeschichte geworden, Gegenstand historischer Forschung mit gegenwartsorientierender Funktion. In den einschlägigen Gesamtdarstellungen war ein Kommentar
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Wilhelm II. und die Monarchie im späten Kaiserreich nicht zu umgehen. Hinzu kam, dass Wilhelm II. selbst große Anstrengungen unternahm, sich ins rechte Licht zu rücken. Mehrere Selbstrechtfertigungsschriften erschienen (234; 233; 232; vgl. 227, S. 60–62), orchestriert von kaisertreuen Legendenbildungen (255). Sie stießen in der deutschen Geschichtswissenschaft auf wenig Gegenliebe. „Wir wollen nicht ungerecht sein gegen den Mann, dem das Schicksal die ungeheure Aufgabe auferlegt hat, das Erbe Bismarcks zu bewahren“, schrieb Fritz Hartung in der Historischen Zeitschrift (Bd. 130, 1924, S. 525–527). „Wir wollen nicht allein zugestehen, dass sein Wollen rein gewesen ist und dass alle Versuche, ihn zum ‘Schuldigen’ des Weltkriegs zu stempeln, der historischen Wahrheit widersprechen … sondern wir wollen auch zugeben, dass die Aufgabe gerade durch die Prägung, die Bismarck allem Zeitgeist entgegen seinem Werke gegeben hat, besonders schwierig gewesen ist. Aber das lässt sich doch nicht leugnen, dass Wilhelm II. die Größe seiner Aufgabe nicht erkannt hat; selbst der Zusammenbruch ist nicht imstande gewesen, ihm die Augen dafür zu öffnen.“ In der Kritik Hartungs finden sich wesentliche Argumente, die deutsche Historiker der Weimarer Republik im Hinblick auf Wilhelm II. verwendeten. Sie maßen ihn an Bismarck, dem Reichsgründer und positiven historischen Bezugspunkt, und stellten einen ungeheuren Abstand fest. Sie kritisierten mehr oder weniger scharf politische Entscheidungen im Einzelnen und Regierungsstil im Ganzen. Aber sie versuchten, das Problem Wilhelm II. von der Kriegsschuldfrage zu trennen, die Monarchie als Regierungsform gegenüber der ungeliebten Weimarer Republik nicht ins Hintertreffen geraten zu lassen. Vom Zentrum der (Außen-)Politik her denkend klammerten sie das Private, das Habituelle, das Charakterliche des Kaisers als nicht zur Sache gehörend und unwissenschaftlich aus. Aufgrund dieser immanenten Denkbeschränkungen brachten sie Wilhelm zwar als mehr oder weniger störenden Faktor in der Geschichte des Kaiserreichs unter. Zu einer auch die Bedürfnisse der historisch interessierten Öffentlichkeit befriedigenden Deutung gelangten sie nicht. Die lieferte Emil Ludwig. Der versierte Sachbuchautor und überzeugte Demokrat (242; 258; 259) hat während der 1920er-Jahre zahlreiche Biographien mit außerordentlichem Publikumserfolg auf den Markt gebracht. 1925 erschien „Wilhelm der Zweite“. Das Buch ging von der Behinderung Wilhelms II. aus – der linke Arm war bei der Steißgeburt 1859 irreparabel verletzt worden und blieb verkürzt und lahm – und interpretierte Großspurigkeit und Unrast als Kompensationsversuche eines zur Herrschaft bestimmten Herrschaftsunfähigen. Schon dass die Behinderung des Kaisers angesprochen wurde, galt den meisten Historikern als ungehörig. Dass sie aber als Interpretationsgrund fungierte und darüber hinaus die zugänglichen Quellen aus der Umgebung des Kaisers so zitiert wurden, dass Charakterdefizite und moralisch fragwürdige Handlungen offen zutage traten, brachte sie in Rage. In einer breiteren Öffentlichkeit dagegen machte das Buch Furore. „Die Deutschen schienen jetzt überhaupt erst zum ersten Mal zu erfahren und zu begreifen, wer sie drei Jahrzehnte lang regiert hatte und wen sie ebenso lang hatten hochleben lassen.“ (242, S. 178) Kurt Tucholsky glaubte, dass die Republikaner mit diesem Buch aus der Defensive heraustreten und ihrerseits die unverbesserlichen Monarchisten in die Ecke trei-
III.
Fritz Hartung
Weimarer Historiographie
Emil Ludwig
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III.
Forschungsprobleme
Kritik der Geschichtswissenschaft
Emil Ludwig nach 1933
ben könnten. Das Buch „ist eine Attacke und ein voller Sieg. Es ist die schwerste Niederlage, die der Kaiser jemals erlitten hat – und das will was heißen.“ (zit. n. 258, S. 132) Die deutschen Historiker lehnten das Buch rundheraus ab. Das galt – wenn auch mit Abstufungen – für den rechtskonservativen Mainstream ebenso wie für die wenigen Liberalen und die noch geringer vertretenen Linken. Die Einheitsfront war möglich, weil zu den Fragen politisch-ideologischer Art fachwissenschaftliche Differenzen hinzutraten und die Auseinandersetzung darüber, wie Geschichte erzählt werden dürfe bzw. müsse. Ludwig habe fachliche Standards verletzt und die während des 19. Jahrhunderts mühsam aufgerichtete Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft sprachlich und kompositorisch überschritten – darin waren sich die Historiker einig. Dass er die Weimarer Republik verteidigte und dem Andenken des Kaiserreichs schweren Schaden zufügte, kam für die rechte Mehrheit der Historiker strafverschärfend hinzu. Ihre Rezensionen zeichneten sich daher durch besondere Gehässigkeit aus (256). Die konzertierte Aktion der Historiker gegen die historische Belletristik im Allgemeinen und Emil Ludwigs Kaiserbuch im Besonderen bedeutete für das Weimarer Kulturleben, so Hans-Jürgen Perrey, „weniger einen Historikerstreit, dafür aber einen vehementen Streit mit den Historikern“ (242, S. 169). „Die Historiker sind ernstlich böse“, spottete Carl von Ossietzky. „Die politisch-historische Literatur ist wiedererstanden, und wird, vor allem, wirklich gelesen. Es ist die eigne Schuld der Schulhistorik, dass sie daran nicht teil hat.“ (240, S. 879) Die Historiker hatten den Kontakt zur meinungsführenden Kulturszene verloren, als deren Sprecher sie sich ausgangs des Kaiserreichs noch hatten fühlen können. Das Bild Wilhelms II. wurde vorläufig ohne bzw. gegen sie geprägt, weil sie keine überzeugende Alternative anzubieten hatten. 1933 wanderten die Bücher Emil Ludwigs auf die Scheiterhaufen der Bücherverbrennung. Ludwig selbst überlebte in der Schweiz und Amerika und starb 1948, wieder in der Schweiz. Sein Wilhelm-Buch wurde zwar in den 1960ern noch einmal aufgelegt, Waffe in der Hand junger Historiker, die seit der Fischer-Kontroverse das Establishment herausforderten. Doch im Wesentlichen wurde der Erfolgsautor der Weimarer Republik vergessen. Im Hinblick auf Wilhelm II. war dies nur folgerichtig. Denn seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschob sich die Perspektive. Nicht mehr Julikrise, Kriegsniederlage und Versailler Vertrag hießen nun die Fluchtpunkte historischer Analyse, sondern das Scheitern der Weimarer Republik, Hitler und die totale Niederlage Deutschlands. War das Kaiserreich insgesamt, war sein letzter Kaiser mit verantwortlich für das, was seinem Abgang folgte? Auf diese Frage konnte Ludwigs Buch ebenso wenig eine Antwort geben wie die historischen Gesamtdarstellungen der Weimarer Zeit.
b) Erich Eycks Analyse des „Persönlichen Regiments“ Erich Eyck: Das „Persönliche Regiment“
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Geschichtswissenschaftliche Diskussionen über das Kaiserreich hatten in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren die Legitimation der deutschen Geschichte insgesamt im Blick. Davon zeugt Erich Eycks Darstellung
Wilhelm II. und die Monarchie im späten Kaiserreich „Das persönliche Regiment“ Wilhelms II. (224). Eyck fragte nach dem historischen Gehalt des von Wilhelm selbst geprägten Begriffs. Er kam zu einem negativen Urteil über den letzten Kaiser, bezog aber das Versagen des Monarchen und das der ihn tragenden Schichten aufeinander. Wilhelm II. sei ein unfähiger Herrscher gewesen, sprunghaft und unzuverlässig, „völlig unfähig (…), eine schwierige Situation zu meistern“ (224, S. 95), „im tiefsten Grunde seiner Seele nichts anders als ein beifallslüsterner Schauspieler“ (S. 83). Doch am Beispiel der Daily-Telegraph-Affäre 1908 legte Eyck dar, dass das „deutsche Volk in seiner Gesamtheit“ (224, S. 501) sich diesen Kaiser eben auch hatte gefallen lassen. „Es fehlte ihm sowohl an der Selbstbesinnung, um über den Zusammenhang dieser Episode mit seiner allgemeinen politischen Lage und der staatsrechtlichen Struktur des Reiches nachzudenken, wie an dem Willen, den an den Tag getretenen Fehlern entschlossen und grundsätzlich zu Leibe zu gehen. … Die Neigung zum Gehorchen war nun einmal dem Durchschnittsdeutschen so tief eingewurzelt, dass er gar nicht auf den Gedanken kam, sich zu überlegen, wie sehr er selbst dadurch die monarchische Gewalt mit all ihren Launen, Unüberlegtheiten und Maßlosigkeiten stärkte.“ (224, S. 501) Bei der Suche nach den Gründen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verwies Eyck noch einmal auf das „System, das die Entscheidung über das Schicksal eines ganzen Volkes in die Hand eines Einzelnen, noch dazu völlig unfähigen Individuums legte und das die richtige Verteilung zwischen politischer und militärischer Gewalt nicht gefunden hatte. Das persönliche Regiment Wilhelms II. und der deutsche ‘Obrigkeitsstaat’ versagten angesichts der schwersten Probe, auf die sie gestellt wurden, vollkommen. Die Verantwortung für dieses System tragen freilich nicht nur der Kaiser und die ‘Obrigkeit’, die sich darauf stützten, sondern auch das deutsche Volk, das niemals den festen Willen zu seiner Reform gefasst hat“ (224, S. 782). Eycks Buch veränderte die Lage in mehrfacher Weise grundlegend. Anders als Emil Ludwigs Biographie beruhte es auf sorgfältiger Recherche. Eyck, ein klassisch gebildeter deutsch-jüdischer Jurist, hatte als Emigrant intensive geschichtliche Quellenstudien betrieben. Dass er kein im Universitätsseminar ausgebildeter deutscher Historiker war, klang denn auch in einer Rezension von Fritz Hartung an. Er bemerkte ungnädig, Eyck sei „mehr Jurist als Historiker“, besitze „wohl eine gründliche Kenntnis der Quellen, aber seine Quellenkritik lässt gelegentlich die nötige Vorsicht vermissen“, auch stehe er „seinem Gegenstand nicht als Historiker, der sich um eine objektive Beurteilung bemüht, gegenüber, sondern als Staatsanwalt, der die Schuld … des Angeklagten beweisen möchte.“ (228, S. 3) Doch als Dilettantenwerk ließ sich das auf profunder Quellenkenntnis beruhende Werk nicht beiseite legen. Anders als der Mainstream der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit trennte Eyck nicht mehr zwischen dem privaten und dem politischen Wilhelm. Er bezog zum Unwillen Hartungs und anderer die Kriegsschuldfrage ausdrücklich ein. Vor allem aber schloss er nicht mehr aus der Unfähigkeit Wilhelms zum Herrscher auf die Nichtexistenz eines persönlichen Regiments, sondern argumentierte umgekehrt: Die Mängel Wilhelms seien durch sein tatsächlich ausgeübtes persönliches Regiment erst folgenreich und für ganz Europa verhängnisvoll geworden. Weil das Volk ein System (er)trug, dass einem
III.
Biographie Erich Eycks
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III.
Forschungsprobleme
Kritik
Anschließende Forschungen
unfähigen Einzelnen tatsächliche Macht in die Hände gab, kam es zur Katastrophe. Die Kritik bemängelte, dass Eyck den Beweis der tatsächlichen Verantwortlichkeit Wilhelms für die außen- und innenpolitischen Fehlentscheidungen des Reiches schuldig geblieben sei. Innen- wie außenpolitisch sei es zu einem klaren kaiserlichen Kurs ja nicht gekommen, vielmehr zur jeweils vorübergehenden Lenkung des herrenlosen Staatsschiffes durch konkurrierende Gruppen. Die Schuld am unglücklichen Ende des Reiches sei eher bei diesen Gruppen zu suchen bzw. lag nach Ernst Rudolf Huber in der kaiserlichen „Schein-Aktivität, verbunden mit passivem Zurückweichen und Treibenlassen in der existenziellen Krisis“ (230, S. 148). „Die Schwäche des Reiches [war] nicht in der Person des Kaisers, sondern in der Struktur der Verfassung begründet“, hieß es bei Hartung (228, S. 16). Diese nicht geändert zu haben sei das Versagen „alle[r] beteiligten Instanzen“: Kaiser, Reichskanzler, preußische Staatsminister, bundesstaatliche Regierungen, Reichstag, Parteien und das deutsche Volk insgesamt, das „nicht imstande war, Abgeordnete in den Reichstag zu wählen, die fähig und bereit waren zu politischer Aktivität“ (228, S. 20). Waren Eycks Thesen sehr weitgehend und durch das Bestreben motiviert, den Gründen für die katastrophische Entwicklung Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Spur zu kommen, so enttäuschte die konservative Kritik Hartungs und Hubers nicht weniger durch ihre tendenziell verharmlosende Unschärfe, in der alle irgendwie verantwortlich waren. Die Forschung hat seitdem versucht, die von Eyck benannten drei Teile des Problems genauer in den Blick zu bekommen. Sie hat erstens genauere Analysen des politischen Systems gefertigt, seine Modernisierungsfähigkeit, Parlamentarisierungsbereitschaft und demokratische Entwicklungsfähigkeit diskutiert. Hier gab es in der politikgeschichtlichen Tradition der deutschen Historiographie zahlreiche Anknüpfungspunkte, die nun mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen verbunden wurden. Sie hat zweitens den bei Eyck recht pauschalen Volksbegriff differenziert, nach dem Beitrag verschiedener sozialer Gruppen und politischer Parteiungen zur Entwicklungsgeschichte des Wilhelminismus gefragt. Hier lagen die Arbeitsschwerpunkte der politischen Sozialgeschichte, die seit den 1960erJahren eine Historikergeneration lang meinungsführend gewesen ist. Sie hat drittens in einem kleineren Zweig, dessen hervorragender Repräsentant John C.G. Röhl ist, die biographische Arbeit zu Wilhelm II. vorangetrieben. In allen drei Bereichen sind gegenüber Eyck wesentliche Fortschritte erzielt worden. Die wichtigste Aufgabe der Zukunft besteht darin, sie miteinander in Beziehung zu setzen und gegeneinander zu gewichten.
c) John C. G. Röhl und der „Königsmechanismus“ Englischsprachige und deutsche Biographien
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In unserem Zusammenhang entscheidend sind die biographischen Arbeiten. Wie im Falle Bismarcks sind auch Wilhelm-Biographien nach einer bis 1945 währenden Abstinenz mit wachsendem zeitlichen Abstand zahlreicher erschienen – wobei der letzte Kaiser weniger deutsche als vor allem
Wilhelm II. und die Monarchie im späten Kaiserreich englischsprachige Historiker fasziniert zu haben scheint (218; 231; 235; 220; 221). Die deutsche Forschung hat sich auf das politische System, die sozialen Gruppen und politischen Parteiungen konzentriert und darüber den Kaiser aus dem Blick verloren. Das hatte durchaus eine innere Logik, galt doch die deutsche Geschichtswissenschaft vor allem auf sozial- und strukturgeschichtlichem Gebiet seit den 1960er-Jahren als dringend erneuerungsbedürftig, während sie die Bereiche Politik- und Diplomatiegeschichte sowie historischen Biographik immer schon zu ihren Stärken gezählt hatte. Nur hatten aus oben benannten Gründen eben diese Stärken der deutschen Historiographie für die Wilhelminische Zeit wenig Ertrag gebracht. Die defizitäre ältere Forschung wurde daher nicht durch eine neuere ersetzt. In diese Lücke stieß John C.G. Röhl, und weil diese Lücke sich aus der spezifisch deutschen Geschichte der Geschichtswissenschaften ergab, dauerte es so lang, bis er in ihr entdeckt wurde. Röhl erschloss der Forschung erstens umfangreiches neues Quellenmaterial. Wer die beiden vorliegenden Bände der Wilhelm-Biographie liest, wird von dem aus Archiven und Privatnachlässen, aus verstreuten Druckschriften und Erinnerungsliteratur, aus Zeitschriften und wissenschaftlicher Literatur aller Art zusammengetragenen Material schier erschlagen. Er beschränkte zweitens das von Emil Ludwig vorgetragene psychologische Argument nicht mehr nur auf den verkürzten linken Arm, sondern beschrieb eindringlich eine deprimierende Geburts-, Kindheits- und Jugendgeschichte, die einen neurotisierenden Effekt auf den künftigen Kaiser geradezu haben musste. Insgesamt hielt Röhl es für überfällig, „die anthropologischen und psychologischen Impulse, die in der amerikanischen, englischen und französischen Geschichtswissenschaft bereits reiche Früchte getragen haben“, auch in Deutschland zur Anwendung zu bringen“ (250, S. 79). Drittens machte er das von Eyck eingebrachte zeitgenössische Schlagwort des „persönlichen Regiments“ für die theorieorientierte Forschung anschlussfähig, indem er den weiterführenden Begriff des „Königsmechanismus“ (248) ins Spiel brachte. Der Begriff „Königsmechanismus“ stammte von Norbert Elias. Er hatte ihn in seinem Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation“ am Beispiel Ludwigs XIV. entwickelt (223, S. 222–279), hielt ihn aber durchaus für übertragbar auf andere historische Situationen. Den „Königsmechanismus“ bezeichnet Elias als eine „Balanceapparatur“. Sie finde sich in differenzierten Gesellschaften dann, wenn die verschiedenen sozialen Schichten annähernd gleich stark seien. Keine von ihnen könne die anderen dauerhaft niederhalten, angesichts starker realer Interessengegensätze sei aber auch die Bereitschaft zum dauerhaften Elitenkompromiss schwach ausgeprägt. Infolgedessen „balanciert der Mann oder die Männer im Zentrum auf einer Spannung von großen oder kleinen Gruppen, die sich als interdependente Gegner, als Gegner und Aktionspartner wechselseitig in Schach halten.“ (223, S. 236/237) Der „Zentralherr“ (S. 237) gewährleiste den Zusammenhalt nach innen und die Sicherheit nach außen. Er herrsche, weil sich im Geflecht starker Konkurrenzkräfte keine konzentrierte Gegenmacht gegen ihn bilden könne, vielmehr alle auf seine Schiedsrichterfunktion setzten. „Diese Apparatur bildet sich … blind und ungeplant im Laufe der gesellschaftlichen Prozesse. Ob sie gut oder schlecht gesteuert wird, das aller-
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Neue Quellen
Anthropologische und psychologische Impulse
„Königsmechanismus“ (Norbert Elias)
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III.
Forschungsprobleme
Wilhelminische Hofgesellschaft
Phasen des persönlichen Regiments
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dings hängt in hohem Maße von der Person dessen ab, dem die Funktion des Zentralherrn zufällt.“ (223, S. 250) Die „Balanceapparatur“ des „Königsmechanismus“ ende, wenn die Gewichte sich innerhalb der Gesellschaft zu stark zugunsten einer der sozialen Kräfte verschöben. Der Herrscher gerate dann notwendig aus dem Gleichgewicht. Röhl hat sich nicht allzu lange mit der Frage aufgehalten, welche sozialen Gruppen mit welcher inneren Kohärenz die antagonistischen Kräfte im Wilhelminismus bildeten. Für ihn ging es darum, die Wirkmächtigkeit der höfischen Gesellschaft in einer sich rasch industrialisierenden Gesellschaft zu erklären und ein Analyseinstrument für ihre Funktionsweise zu erhalten. Die wilhelminische Hofgesellschaft mit dem Kaiser im Zentrum habe, so seine Adaption des Eliasschen Modells, eine Herrschaftsstruktur oberhalb der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und oberhalb der Verwaltungsbürokratie gebildet. Sie habe über Personalentscheidungen, über die Zustimmung zu bzw. Ablehnung von politischen Maßnahmen, die aus der Verwaltungsbürokratie, dem Parlament oder sonst woher stammen mochten, den Kurs des Reiches bestimmt. „Wer die Unterstützung des Kaisers fand, konnte sich gegen seine Rivalen, ja oft gegen den eigenen Vorgesetzten durchsetzen. … Der Schluss ist zwingend: Die Persönlichkeit Kaiser Wilhelms II. und der Charakter des kleinen Freundeskreises, zu dem er wirklich und kontinuierlich Vertrauen besaß, waren für den Gang der wilhelminische Politik von entscheidender Bedeutung.“ (248, S. 137–138) Alle politiktheoretischen und soziostrukturellen Untersuchungen, die die zentrale Bedeutung des Königsmechanismus für das Wilhelminische Reich nicht berücksichtigten, liefen ins Leere. Von dieser Prämisse aus erklärt sich das Vorgehen Röhls. Weil es seiner Ansicht nach von der Person des Herrschers abhing, ob die Balanceapparatur gut oder schlecht gesteuert wurde, musste die Person Wilhelms in allen Facetten ausgeleuchtet werden. Daher das extensive Quellenstudium, der detailgenaue Blick, die psychohistorischen und anthropologischen Theorieimporte bis hin zu dem Versuch, mittels vergleichender Genanalyse herauszubekommen, ob Wilhelm II. in einem medizinischen Sinne unter psychischen Störungen litt. Weil Entscheidungen in der gesellschaftlichen Pattsituation, die der Königsmechanismus voraussetzt, in hohem Maße von den Personen im Zentrum, der Kommunikation zwischen ihnen und der auf sie einwirkenden Personen und Gruppen abhingen, war die Lektüre von Briefen und Randbemerkungen notwendiger als die Analyse wirtschaftlicher und sozialer Entscheidungsbedingungen. Röhl hat bereits früh vorgeschlagen, chronologisch zwischen verschiedenen Phasen des Einwirkens Wilhelms II. auf die deutsche Politik zu differenzieren. Auf den Konflikt mit Bismarck 1888–1890 seien die Jahre 1890– 1897 „als Übergang von einem ‘improvisierten’ zu einem ‘institutionalisierten persönlichen Regiment’ (Huber)“ (248, S. 125) gefolgt. Als Hochphase der Wirksamkeit des Königsmechanismus gelten die Bülow-Jahre 1897–1908. Der Kanzler habe als Erfüllungsgehilfe des Kaisers agiert. Alle Schlüsselpositionen seien mit Gefolgsleuten Wilhelms besetzt worden. Direkte Eingriffe des Kaisers in das Regierungshandeln seien weniger spürbar gewesen, weil die Geschäfte insgesamt nach dem Willen und durch die Beauftragten des Kaisers verlaufen seien. Durch die Daily-Telegraph-Affäre
Wilhelm II. und die Monarchie im späten Kaiserreich
III.
sei dieser Zustand des tatsächlichen persönlichen Regiments getrennt von den letzten Friedensjahren mit dem Reichskanzler Bethmann Hollweg 1909–1914, an deren genauerer Beschreibung Röhl mit seiner WilhelmBiographie derzeit arbeitet. Im Ersten Weltkrieg war Wilhelm II. nicht viel mehr als ein Schattenkaiser. Hier unterscheidet sich Röhl nicht vom Mainstream der Geschichtswissenschaft. In den ersten drei Phasen muss nach Röhl nicht nur untersucht werden, was der Kaiser politisch durchgesetzt hat, sondern auch, was gar nicht erst zur Entscheidung kam, weil seine Gegnerschaft bekannt war. Nur so werde die ganze Bedeutung der Hofgesellschaft und des persönlichen Einwirkens Wilhelms auf die deutsche Politik sichtbar. Dass Wilhelm bei Herrschaftsantritt kindlich unreif war und nicht dazu lernte, dass er sich selbst überschätzte, die Welt so sah, wie er sie sehen wollte, nachtragend, rachsüchtig und sadistisch war, eine kindliche Vorliebe für Prunk und Uniformen hatte (251) und aus all diesen charakterlichen Gründen weder kontinuierlich noch situationsadäquat handeln konnte, spricht nach Röhl nicht gegen das Wirken des Königsmechanismus. Es mache die Sache, und hier befindet er sich ganz auf der Linie Eycks, nur schlimmer. Es habe Deutschland und mit ihm Europa, das Zentrum der Welt des 19. Jahrhunderts, in den Abgrund gerissen.
d) Alternativdeutungen zu Röhl Röhls extensive Biographik stellt die Wilhelm-Forschung auf eine neue Grundlage. Das ist unstrittig. Die eingangs angesprochenen Fragen nach Bedeutung und Wertung bestehen aber fort. Zu Röhls Deutung gibt es mehrere Alternativen: Wilhelm II. als moderner Kaiser, als Verkörperung des Zeitgeistes: Diese Deutung hat Nicolaus Sombart in einem einflussreichen Essay ins spekulative Extrem getrieben (257). Sombart nimmt noch stärker als Röhl Einflüsse aus der „Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Kulturanthropologie und Mythenforschung“ (257, S. 8) auf. Im Zentrum steht wie bei Röhl Norbert Elias’ Theorem des Königsmechanismus. Aber Sombart betont nicht so sehr die Mechanik der Einflussnahme und Machtverteilung als vielmehr die symbolische Integrationsfunktion, die der Kaiser in einer von sozialen und kulturellen Spannungen tief zerklüfteten Gesellschaft ausgeübt habe. Hierzu habe sich Wilhelm der nachträglich vielfach belächelten, weil in ihrer Funktion unverstandenen Reden, Reisen, Uniformen usw. bedient. Die wilhelminische Repräsentationskultur, die uns Nachgeborenen protzig scheint, sei der „verzweifelte (…) Versuch [gewesen], das zutiefst Widersprüchliche auf eine repräsentative Formel zu bringen, in der Altes und Neues zur Synthese kommen würden“ (257, S. 37). Die „grandiose imperiale Show, die er dreißig Jahre lang geboten hat“ (257, S. 29), habe ihre Wirkung auf die Deutschen nicht verfehlt. Der Hofstaat und der kaiserliche Freundeskreis repräsentierten die verschiedenen Partialinteressen, die in der kaiserlichen Gesellschaft zur Deckung kamen. Die Hofhaltung demonstrierte die Macht des jungen Reiches. Die Personalpolitik sei das
Nicolaus Sombart
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III.
Forschungsprobleme
Modernität des Wilhelminismus
Wolfgang J. Mommsen
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Mittel gewesen, um das politische Geschehen kontinuierlich im Sinne eines Ausgleichs des Auseinanderstrebenden zu beeinflussen. Was bei Röhl wie eine spätabsolutistische Sumpfblüte erscheint, wird bei Sombart damit zum Zeichen der Modernität. Die von der höfischen Exklusivität des Absolutismus weit entfernte „imperiale Show“ und das exzentrische Gehabe seien notwendig gewesen, um oberhalb der gesellschaftlichen und politischen Spannungslinien „Herr der Mitte“ zu bleiben. Die weit verbreitete Anhänglichkeit an den Kaiser, seine Volkstümlichkeit seien der Beweis, dass Wilhelm Erfolg gehabt habe. Mit diesem Erfolg aber hänge der Niedergang seines Ansehens seit der Daily-Telegraph-Affäre 1908 zusammen, der sich zum Ende des Krieges hin dramatisch verschlimmert und zur Bedeutungslosigkeit des holzhackenden Exilkaisers im holländischen Haus Doorn geführt habe. Auf Wilhelm, den Repräsentanten des Wilhelminismus, sei die Enttäuschung über die Funktionsunfähigkeit des Zweiten Reiches abgeladen worden, die nach der Jahrhundertwende immer deutlicher zutage getreten sei. Um den Reichsgründer Bismarck und seine Schöpfung nicht infrage stellen, um die nationalistische Utopie des deutschen Imperiums nicht aufgeben zu müssen, sei das systembedingte Versagen personalisiert und auf Wilhelm abgeladen worden. Er sei zum Sündenbock geworden. Diesem tief im kollektiven Unbewussten der Deutschen wurzelnden Mechanismus hätten die Historiker seit den 1920er-Jahren beredt Ausdruck verliehen. „Als repräsentative Figur der deutschen Geschichte ist der Kaiser eine Geisel der Historiker.“ (257, S. 8) Sombarts Essay ist der Versuch, ihn zu befreien. Der Mann, den Röhl für die Katastrophe Europas wesentlich mit verantwortlich macht, wird bei Sombart zum Wahrer des Reiches. John C. G. Röhl hat Sombarts Thesen als „hagiographische Spekulationen“ (253, S. 1185, Anm. 4) bezeichnet. Norbert Friedrich nennt sie „ebenso ungewöhnlich wie unhistorisch“ (226, S. 128). In der Tat wird kaum jemand der Sündenbocktheorie folgen wollen, wenngleich die negative Absetzung Wilhelms vom Reichsgründer Bismarck, wie oben gesehen, tatsächlich zum Repertoire der Weimarer Historiographie gehörte. Auch die Aussagen zur wilhelminischen Repräsentationskultur und zur symbolischen Integration mittels des Königsmechanismus sind nicht empirisch nachgewiesen und erscheinen überzogen. Aber die Modernität des Wilhelminismus, die Faszinationskraft und Funktionalität des kaiserlichen Auftretens sind in einer Forschungsphase, die dem Symbolischen größeren Raum gegenüber dem Sozialstatistischen einräumte, doch stärker ins Blickfeld geraten (241). Auch erscheint die Unrast und Reizbarkeit des Kaisers als getreue Widerspiegelung einer „ruhelosen“ (Michael Stürmer) bzw. „nervösen“ (Joachim Radkau) Gesellschaft. Manche neuere Biographie sieht Wilhelm mehr als epochentypisches denn als unzeitgemäßes Phänomen (236; 237). Wilhelm II. als Medium, als Instrument der preußisch-deutschen Machteliten: Mit dieser Deutung hat Wolfgang J. Mommsen auf die ersten beiden Wilhelm-Bände Röhls reagiert. Er gibt zu, dass der Kaiser verfassungsrechtlich eine zentrale Stellung hatte. Aber schon diese sei ihm nur zugefallen, weil Bismarck zur Kaschierung seiner tatsächlichen Dominanz die Stellung seines Kaisers Wilhelm I. immer wieder herausgestrichen habe. Wilhelm II.
Wilhelm II. und die Monarchie im späten Kaiserreich habe zu Beginn des von ihm angestrebten persönlichen Regiments nur die Bismarckschen rhetorischen Figuren Wahrheit werden zu lassen brauchen, um den alternden Kanzler abzuservieren. Dabei sei er allerdings von Akteuren der politischen Elite unterstützt bzw. angeleitet worden, die sich von Bismarcks Sturz persönliche oder sachliche Vorteile versprochen hätten. Dieses Muster habe sich in vielen Varianten wiederholt. Wo Wilhelm II. Politik zu machen schien, sei er tatsächlich oft von Vertretern der alten Herrschaftseliten vorgeschoben worden, „um die kaiserliche Autorität für ihre Bestrebungen in Anspruch nehmen zu können. Die Folge war, dass die Kette von Fehlentscheidungen in der deutschen Außenpolitik in erster Linie Wilhelm II. persönlich angerechnet wurde, obwohl er diese keinesfalls voll mitgetragen hatte: die Burenpolitik mitsamt der Krüger-Depesche, das doppelbödige und auch gegenüber der deutschen Öffentlichkeit unaufrichtige Vorgehen während der Ersten Marokko-Krise, das Debakel der deutsch-russischen Verhandlungen auf Björko, schließlich die machiavellistische Risikostrategie des Staatssekretärs Kiderlen-Wächter 1911/12.“ (239, S. 257) Wilhelm II. habe zwar durch sein theatralisches Auftreten und seine martialischen Reden den Eindruck innen- wie außenpolitischen Aktionismus’, ja Abenteurertums vermittelt (244). Tatsächlich habe er in Konfliktsituationen aber „eher zögerlich, ja ängstlich reagiert“ (239, S. 258). Die politischen Eliten Preußen-Deutschlands hätten die Monarchie gebraucht, um ihre Macht gegen den demokratischen Zeitgeist zu schützen und zu legitimieren. Sie hätten gewusst, dass der Kaiser unfähig war, seine verfassungsmäßige Macht praktisch dauerhaft auszuüben. Sie hätten gelernt, ihm zu schmeichelten, ihm zu soufflierten, und ihn so für ihre Zwecke einzusetzen. Wenn der Kaiser in all seiner Unbedarftheit und Spontaneität außenpolitisch oder innenpolitisch Porzellan zerschlug, hätten sie ihn absichtsvoll gedeckt. Die Rede vom Königsmechanismus verwechselt also Mommsen zufolge erstens Ursache und Wirkung. Der Kaiser habe nur gemeint, die Fäden zu ziehen, und wer sich wie Röhl auf die von ihm und seiner Entourage produzierten Quellen konzentriere, erliege leicht seiner Autosuggestion. In Wirklichkeit sei der Kaiser benutzt worden, wobei die Männer im Hintergrund allerdings sorgfältig darauf hätten achten müssen, ihn im Glauben an seine Entscheidungsvollmacht zu lassen. Zweitens verwische die Konzentration auf den Kaiser die Verantwortung der politischen Eliten. Sie „waren in weit höherem Maße für die großen Entscheidungen verantwortlich, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten (und dann auch die militärische Strategie prägten).“ (239, S. 263–264) Der Krieg selbst habe die tatsächliche Entscheidungsunfähigkeit des Kaisers nur noch bloßgelegt und sie nicht erst herbeigeführt, wie Röhl behauptet. Die durch den „theatralischen Regierungsstil“ (239, S. 264) der Vorkriegszeit geweckten Erwartungen seien bitter enttäuscht worden. Infolgedessen lösten sich die Kaiserprojektionen der Bevölkerung mehr und mehr von der Person Wilhelms. Schon Elisabeth Fehrenbach hat darauf hingewiesen, dass vor allem Hindenburg davon profitiert hat (225). Wilhelm II. als unbedeutender Teil einer autoritären Polykratie: Noch geringer als Mommsen haben andere Vertreter der sozialhistorischen Strukturgeschichten der 1970er-Jahre die Bedeutung Wilhelms II. gewichtet. Bei Hans-Ulrich Wehler wird er zu einem von vielen Akteuren, die allesamt
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Hans-Ulrich Wehler
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Forschungsprobleme
Ergebnisse der Kontroverse
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unfähig gewesen seien, der Politik ihren Stempel aufzuprägen. Zu einem persönlichen Regiment sei es nie gekommen. „Hinter der glänzenden Fassade der autoritären Monarchie [schwelte] eine permanente Staatskrise. Denn anstelle der konstitutionell festgelegten Hierarchie von Entscheidungsgremien, die zu einer verbindlichen politischen Willensbildung führen sollte …, setzte sich jetzt eine Polykratie miteinander rivalisierender Machtzentren durch. Die ständig fluktuierenden Kräftekonstellationen, die einem solchen System eigentümlich sind, verursachten den Zickzackkurs, dem die deutsche Innen- und Außenpolitik in den folgenden drei Jahrzehnten so oft gefolgt ist.“ (68, Bd. 3, S. 1000) Und weiter: „Nicht Wilhelm II. legte die Grundlinien der Reichspolitik fest. Das tat auch nicht eine ‘politische Klasse’, die das Kaiserreich noch gar nicht besaß. Das taten vielmehr die Repräsentanten der traditionsbewussten Oligarchien und der modernen Funktionseliten im Verein mit den Machtaggregaten der autoritären Polykratie. Es war ein anonymes Geflecht von Kräften ohne ein personales Bewegungszentrum – insofern resultierte daraus ein Entscheidungsprozess mit durchaus modernen Zügen. Ihre Kooperation reichte auch ohne einen charismatischen Kanzler zur Verteidigung der Herrschaftsordnung aus – um den Preis eines fatalen Problemstaus, der das Kaiserreich schließlich in eine ausweglose Sackgasse hineingedrängt hat.“ (68, Bd. 3, S. 1004) Der Königsmechanismus, den Röhl und Sombart als zentrale theoretische Grundlage nutzen und den Mommsen argumentativ umgedreht hat, ist aus dieser Sicht irrelevant. Röhl sei einem „strukturblinden Personalismus“ (68, Bd. 3, S. 1017) erlegen. Die Entscheidungen seien woanders gefallen. Die symbolische Darstellung von Herrschaft, das Reisen, Posieren und Bramarbasieren, sei Form ohne Inhalt, Geschäftigkeit eines Operettenkaisers. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs entsprang nach Wehler dem Willen der deutschen Staatsführung, mit einer höchst riskanten Strategie aus der „ausweglosen Sackgasse“ herauszukommen. Denn „das Bündel der entscheidenden Bedingungen [für den von Deutschland ausgelösten Weltkrieg] wurde in außergewöhnlich hohem Maße innenpolitisch präformiert.“ (68, Bd. 3, S. 1154) Und in den entscheidenden Tagen war Wilhelm II. auf Reisen. Die Diskussion um Wilhelm II., angestoßen durch die Auseinandersetzung mit den – aus Sicht der deutschen Historiker – Außenseitern Emil Ludwig und Erich Eyck und auf eine neue Grundlage gestellt durch die Röhl-Biographie, weist ein hohes Maß an Kontinuitäten, aber auch deutliche Weiterentwicklungen auf. Immer haben die Historiker darauf insistiert, dass „persönliches Regiment“ oder „Königsmechanismus“ begriffliche Formen darstellten, die inhaltlich schwer zu füllen seien. Röhl hat zeigen können, dass die personalpolitische Entscheidungsgewalt und die Heeresund vor allem Flottenbegeisterung des Kaisers solche Füllungen darstellten. Sombart hat die Bedeutung des Kaisers als Symbol der Reichseinheit betont und sein theatralisches Handeln als sinnhaftes Zeichensystem neu gedeutet. Dass dieser Kaiser modern war, dass er Eigenschaften und Sehnsüchte der vibrierenden und widersprüchlichen Modernität des nach ihm benannten Zeitalters verkörperte, wie schon Walther Rathenau behauptet hat (243), wird die Forschung festhalten. Doch werden andererseits die – mit ganz unterschiedlichen Absichten – von Hartung und Huber über
Die Fischer-Kontroverse
III.
Wehler bis Mommsen immer wiederholten Mahnungen, nicht den (Auto-) Suggestionen des Kaisers und seiner Entourage zu erliegen, ihr Gewicht behalten. Auf der Ebene praktischer Machtpolitik war der Einfluss des Kaisers wohl geringer als er selbst und seine verschiedenen Biographen geglaubt haben. Die zunehmende Organisierung und Strukturierung des sozialen, ökonomischen und politischen Kräftefeldes in der sich industrialisierenden Gesellschaft begrenzte die Aktionsräume von Einzelnen mehr und mehr. Ob das für absolutistische Strukturen gebaute Modell des „Königsmechanismus“ diesem gesellschaftlichen Komplexitätsgrad angemessen ist, erscheint fraglich. Hans-Peter Ullmann resümiert: „So wird man beim jetzigen Stand der Diskussion Wilhelm II. als einen politischen Akteur unter anderen sehen müssen, der häufig, aber planlos, mehr verhindernd als gestaltend und darum meist mit negativen Folgen besonders in die Flotten-, Heeres- und Außenpolitik eingriff oder durch Personalauswahl Einfluss ausübte … In manchem steckte Wilhelm auch den Rahmen für das ab, was im Kaiserreich möglich war.“ (62, S. 81–82) Doch an der Verantwortung der politischen Eliten und der hinter ihnen stehenden sozialen und politischen Gruppen, die wir durch die Forschung der letzten dreißig Jahre wesentlich genauer kennen, für die Entwicklung des Reiches nach 1890 ist nicht zu rütteln. Letztlich liegt in der Debatte eine Variante der vielfach durchgespielten Frage nach dem Verhältnis von Person und Struktur vor. Sie ist faszinierend, heuristisch ungemein fruchtbar und letztlich nicht im Sinne einer eindeutigen Antwort zu lösen.
6. Die Fischer-Kontroverse Der Berliner Historikertag von 1964 war eine denkwürdige Veranstaltung. In der Regel erregen die zweijährlichen Treffen der deutschen Historiker keine besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. In Berlin aber gab es eine Diskussionsveranstaltung mit 1500–2000 Zuhörern. Fernsehen und Rundfunk übertrugen. Behandelt wurde die Frage, ob, und wenn ja, warum die deutsche Regierung 1914 den Ersten Weltkrieg bewusst ausgelöst hatte. Auf dem Podium saßen unter anderem der Hamburger Historiker Fritz Fischer, der mit einem programmatisch „Griff nach der Weltmacht“ (277) betitelten Buch 1961 die Debatte losgetreten hatte, und sein Freiburger Kollege Gerhard Ritter, einer der bekanntesten und international renommiertesten deutschen Historiker, der Fischer mehrfach scharf entgegengetreten war. Die Diskussion hatte eine für Veranstaltungen des Historikertags ungewöhnliche Atmosphäre. Ritter sprach in einem Brief an Theodor Schieder abschätzig von einer „Massenversammlung mit Claqueuren …, die das Bild eher einer politischen Volksversammlung als einer wissenschaftlichen Diskussion entstehen ließ“ (122, S. 592; vgl. 266, S. 63–72; außerdem 287 u. 295). Im folgenden Jahr wurde die Diskussion auf dem Internationalen Historikertag in Wien fortgesetzt. Man begann von der „Fischer-Kontroverse“ zu sprechen und sie als Aufbruch der deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt aus der durch Ritter symbolisierten Enge
Berliner Historikertag 1964
Internationaler Historikertag in Wien 1965
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III.
Forschungsprobleme der 1950er-Jahre zu begreifen (319; 312; 310; 285; 264; 300; 294, S. 132–157; 299; 287; 295). Und das nicht einmal zehn Jahre, nachdem Walther Hubatsch festgestellt hatte, in Sachen Kriegsschuld bewege sich die Forschung heute überall auf sicherem Boden (293, S. 2; vgl. 315), das Thema sei erschöpfend behandelt. Man könne sich wichtigeren Problemen zuwenden. Wie hatte Hubatsch sich so irren können? Und warum elektrisierte die Kriegsschuldfrage – immerhin fünfzig Jahre nach 1914 – Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit in einem solchen Maße? Neue Quellen, neue Fragestellungen, neuer Rezeptionshintergrund und die Eigendynamik der Diskussion selbst, all das muss zusammenkommen, um eine brisante und ergebnisreiche Kontroverse zu produzieren. Die Fischer-Kontroverse wurde zur wohl prominentesten deutschen Historikerkontroverse in der zweiten Jahrhunderthälfte, weil sie diese Ingredienzien in besonderem Maße besaß. Um aber das Neue der Kriegsschuldkontroverse der 1960er-Jahre verstehen und ihre Ergebnisse würdigen zu können, müssen wir uns zunächst die Geschichte der Kriegsschulddiskussion selbst vergegenwärtigen. Sie begann bereits vor dem Ersten Weltkrieg.
a) Die Geschichte der Kriegsschulddiskussion Kriegsschulddiskussion seit Kriegsausbruch
Kriegsschuldparagraph des Versailler Vertrages
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Die Frage, wer den Krieg zu verantworten habe, war von den europäischen Außenpolitikern bereits im Vorfeld des Krieges berücksichtigt worden. Vor allem in Deutschland und Frankreich hatte es im Juli 1914 große Friedensdemonstrationen gegeben. Die sozialistischen Parteien hatten sich vehement gegen einen Krieg ausgesprochen. In England war die Bereitschaft, sich wegen eines Attentats in Sarajewo in einen Kontinentalkrieg zu begeben, nicht besonders ausgeprägt. Die politisch Verantwortlichen konnten einen Volkskrieg nur führen, wenn das eigene Land als unschuldig angegriffen erschien. Das gelang vorzüglich. Die Deutschen, einschließlich der meisten Sozialdemokraten, glaubten, nach Jahren der Einkreisung nun vom zaristischen Russland – dem Inbegriff der Rückständigkeit – angegriffen worden zu sein. Die Franzosen sahen sich von notorisch gewalttätigen Deutschen überfallen. Die Engländer hielten sich durch den deutschen Angriff auf das neutrale Belgien zum Beistand genötigt. Unmittelbar nach Kriegsbeginn veröffentlichten die Großmächte ausgewähltes Quellenmaterial, um jeweils ihre Version zu untermauern. Das waren die „Farbbücher“: ein deutsches Weißbuch, ein englisches Blaubuch, ein russisches Orangebuch, ein österreichisch-ungarisches Rotbuch, ein französisches Gelbbuch usw. Nach Kriegsende flaute die Diskussion um die Kriegsschuld nicht ab, sondern verschärfte sich noch. Grund war der Artikel 231 des Versailler Vertrages, der die alleinige Kriegsschuld Deutschlands festschrieb. Das war juristisch nicht mehr als die völkerrechtliche Absicherung der deutschen Reparationsverpflichtungen. Vor allem in Deutschland und Frankreich wurde der Artikel aber als demonstrative Feststellung politischer und moralischer Schuld verstanden (289; 298; 294; 16). Daraus ergab sich eine Verquickung (finanz)politischer Interessen, massenwirksamer politischer Emo-
Die Fischer-Kontroverse tionalisierung, moralischer Empörung und wissenschaftlicher Analyse. Anfängliche Überlegungen vor allem in der SPD, die Kriegsschuld auf sich zu nehmen und den Vorkriegseliten anzulasten, um sie endgültig zu delegitimieren, wurden schnell beiseite geschoben. In der Ablehnung des Versailler Vertrages und seines Kriegsschuldparagraphen war sich die deutsche Öffentlichkeit über alle Fragmentierungen der politischen Kultur hinweg einig. „Die Forschung war“, so Theodor Schieder treffend, „im Ursprung geradezu eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“ (309, Sp. 845) Der Reichstag richtete 1919 einen parlamentarischen „Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des Weltkrieges“ ein, der bis 1932 bestand. Seit 1923 wurde eine eigene Zeitschrift „Die Kriegsschuldfrage“ von der deutschen „Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen“ herausgegeben, die ihrerseits vom Auswärtigen Amt abhängig war. Darüber hinaus finanzierten und organisierten Reichsstellen teils verdeckt, teils offen viele Forschungen zur Geschichte des Weltkrieges. Wichtigstes Ergebnis mit bis heute bleibendem Wert war die in unglaublich kurzer Zeit publizierte vierzigbändige Edition von Quellen aus dem Auswärtigen Amt mit dem Titel „Die große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914“ (208). Das war der Versuch, die Kriegsschuldfrage im Rahmen der europäischen Diplomatiegeschichte seit der Reichsgründung zu diskutieren. Das moralisch-politische Schuldurteil sollte durch eine Offenbarung lang-, mittel- und kurzfristig wirksamer Ursachen ausgehebelt werden. Die deutsche Publikationsoffensive nötigte die anderen Kriegsteilnehmer zu ähnlichen Aktionen. 1926–1938 erschienen in London elf Bände der „British Documents on the Origins of the War 1898–1914“. 1929–1959 veröffentlichte Frankreich drei Serien der „Documents Diplomatiques Français (1871–1914). 1930 wurde „Österreich-Ungarns Außenpolitik von der bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914“ in neun Bänden dokumentiert. Noch vor der deutschen Edition hatte die Sowjetunion damit begonnen, einschlägige Akten aus den zaristischen Archiven zu publizieren. Außerdem veröffentlichten zahlreiche Akteure der Vorkriegsjahre ihre Erinnerungen – Wilhelm II., Winston Churchill, Bernhard von Bülow usw. Bedenkt man, wie lange es gedauert hatte, bis deutsche Historiker auf authentische Quellen zur Reichsgründungsgeschichte zugreifen konnten, bedenkt man auch, dass für die Akten des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland noch heute eine Sperrfrist von dreißig Jahren gilt, wird das Elektrisierende historischen Arbeitens zur Kriegsschuldfrage während der 1920er-Jahre deutlich. Von einer ersten Revolution des Aktenzugangs ist gesprochen worden (314, S. 40; vgl. 320). Die Quellenflut hatte freilich auch ihren Preis. Sie begünstigte die klassische diplomatiegeschichtliche Forschung. Wer hatte wann was mit welcher Absicht zu wem gesagt? Briefe und Berichte wurden miteinander verglichen und auf ihren Aussagewert hin geprüft. Entscheidungsvorgänge wurden rekonstruiert, Entscheidungsträger biographisch untersucht. Außenpolitik erschien als Politik außerhalb der Gesellschaft und abgehoben vom innenpolitischen Betrieb. Formte die Quellenflut den Forschungszugang, so homogenisierte das politische Umfeld die Ergebnisse. Die deutsche Geschichtsschreibung kämpfte weitgehend vereint gegen die „Kriegsschuldlüge“, finanziell und
III.
Staatlich unterstützte deutsche Kriegsschuldforschung
Quellenpublikationen anderer Kriegsbeteiligter
Hauptlinie deutscher Kriegsschuldforschung
Außenseiter
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III.
Forschungsprobleme
Entwicklung deutscher Positionen
Alfred von Wegerer
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organisatorisch unterstützt durch das Reich, aber auch aus eigener Überzeugung. Zwar gab es Gegenstimmen. Eckart Kehr forderte methodisch eine Abkehr von der Diplomatiegeschichte zugunsten eines „Primats der Innenpolitik“ und vertrat die These, die vordemokratischen Eliten Deutschlands hätten zur innenpolitischen Stabilisierung bewusst auf die außenpolitisch riskante Flottenrüstung gesetzt (32). Der Rechtshistoriker Hermann Kantorowicz arbeitete in einem Gutachten zur Kriegsschuldfrage heraus, dass der Berliner Regierung von 1914 juristisch ein unbedingter Vorsatz zur Auslösung eines Balkankrieges, ein bedingter Vorsatz zur Auslösung eines Kontinentalkrieges und die fahrlässige Herbeiführung eines Weltkriegs anzulasten sei (296; vgl. 302). Doch sein Gutachten wurde nicht gedruckt. Kehrs Versuch, sich zu habilitieren, blieb erfolglos. Die Außenseiter wurden ausgegrenzt. Wie Kehr musste Kantorowicz 1933 ins Exil. Ihre Arbeiten blieben dreißig Jahre unbeachtet. Die überwiegend nationale und konservative Mehrheit der deutschen Historiker setzte das, was sie in Sachen Kaiserreichgeschichte und Kriegsursachenforschung als ihre patriotische Pflicht empfand, rigoros durch. Zwar gab es in der Beurteilung wichtiger Einzelprobleme des Kaiserreichs gravierende Unterschiede (28, S. 53–68), wie anhand des Rückversicherungsvertrages oder Wilhelms II. schon gezeigt werden konnte. Auch der Blick auf das Kaiserreich insgesamt war nicht einheitlich. Adalbert Wahl lieferte eine rechtskonservative Bismarck-Verherrlichung (66). Johannes Ziekursch hingegen vertrat die These, dass Bismarcks Reichsgründung den vorherrschenden Tendenzen der Zeit so entgegen gewesen sei, dass in der Gründung schon der Keim des Untergangs gelegen habe (73). Doch wenn es um die deutsche Kriegsschuld ging, fanden die Kontrahenten zu einem nationalen Anti-Versailles-Konsens. Die einheitliche Frontstellung gegen den Schuldparagraphen bedeutete allerdings nicht eine positive Übereinstimmung darüber, wer – wenn es nicht Deutschland war – den Krieg zu verantworten habe. Hans Delbrück (269) und Erich Brandenburg (268) machten vorrangig Frankreich und Russland verantwortlich (28, S. 66). Während Deutschlands Politik, wie ungeschickt und sprunghaft im Einzelnen auch immer, grundsätzlich friedfertig gewesen sei, könne Gleiches von der Politik Frankreichs und Russlands nicht behauptet werden. Immer mehr Historiker fanden jedoch von der Entschuldung durch Beschuldigung zu einer mehr fatalistischen Position. Sie verwiesen auf die Mechanik der Bündnissysteme, die militärischen Notwendigkeiten, den Wandel der politischen Formen bei Eintritt der Massen in die Politik usw. Weil der individuelle Handlungsspielraum der Diplomaten mehr und mehr durch übermächtige, überindividuelle politische Rahmenbedingungen eingeengt worden sei, könnten letztlich alle nur begrenzt verantwortlich gemacht werden, dies aber möglicherweise in unterschiedlichem Maße. Die Entwicklung der deutschen Kriegsschulddebatte lässt sich am Beispiel des langjährigen Herausgebers der Zeitschrift „Die Kriegsschuldfrage“, Alfred von Wegerer, demonstrieren. 1928 hatte er noch eine scharf apologetische „Widerlegung der Versailler Kriegsschuldthese“ veröffentlicht. Elf Jahre später, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, publizierte er eine Summe seiner mittlerweile zwanzigjährigen publizistischen und wis-
Die Fischer-Kontroverse senschaftlichen Aktivitäten (317) und damit so etwas wie das „deutsche Schlusswort in der Kriegsschulddiskussion der Zwischenkriegszeit“ (309, Sp. 847). Es fiel abgewogener aus als noch während der 1920er-Jahre und verteilte die Schuld etwas gleichmäßiger auf alle Beteiligten. Auch in den anderen am Krieg beteiligten Ländern wurde die Kriegsursachenforschung nach 1918 intensiv betrieben. Strukturelle Ähnlichkeiten fallen auf: Orientierung am diplomatischen Quellenmaterial, politikund diplomatiegeschichtliche Ausrichtung, Politiknähe. Allerdings wurden andere – je nationaltypische – politische Probleme über die Kriegsschuldfrage mitverhandelt. In Frankreich war der Staatspräsident der Julikrise, Poincaré, eine der Schlüsselfigur der Politik der 1920er-Jahre, so dass Kriegsschuldfragen immer auch die aktuelle Politik betrafen. In den USA neigten Forscher, die für einen Rückzug der USA aus der Weltpolitik (Isolationismus) plädierten (262; 274), eher dazu, die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg geringer zu werten als diejenigen, die Woodrow Wilsons Entscheidung für den Kriegseintritt 1917 verteidigten und eine stärkere Präsenz Amerikas in Europa auch nach 1918 befürworteten (311). Die beste Zusammenfassung des internationalen Diskussionsstandes der Zwischenkriegszeit, die der Italiener Luigi Albertini 1942/43 schrieb (261), war nach Theodor Schieder auch eine „Demonstration gegen das aktuelle Weltkriegsbündnis Mussolinis mit dem Deutschland Hitlers“ (309, Sp. 850). Albertini suchte die Schuld nicht mehr einseitig bei Deutschland, sondern sprach nur noch von einer deutschen Hauptverantwortung. Als der Zweite Weltkrieg seinen Schatten über den Ersten warf, verstärkten sich die in den 1930er-Jahren schon absehbaren Forschungstendenzen. Von sehr unterschiedlichen Positionen ausgehend, die jeweils an unterschiedliche Stellungnahmen zum Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages anschlossen und nationale politische Auseinandersetzungen mit verarbeiteten, bewegten sich die internationalen Kontrahenten allmählich aufeinander zu. Sie teilten die gleichen methodischen Grundannahmen. Sie wussten um ihre politische Verantwortung, die vor allem die westeuropäischen und amerikanischen Historiker in Zeiten des Kalten Krieges zusammenzuführen schien. Im Oktober 1951 unterzeichneten deutsche und französische Historiker, unter ihnen der eingangs vorgestellte Gerhard Ritter und der führende französische Kriegsschuldforscher Pierre Renouvin (303), eine gemeinsame Erklärung. Danach erlaubten es die Quellen nicht, „im Jahre 1914 irgendeiner Regierung oder einem Volk den bewussten Willen zu einem europäischen Krieg zuzuschreiben.“ (zit. n. 309, Sp. 850) Der Weltkrieg, so hieß es in Publikationen der Folgejahre häufig, brach herein, die Akteure waren verstrickt, sie taumelten oder schlitterten nach einem Wort des ehemaligen englischen Premiers Lloyd George aus dem Jahre 1933 in den Krieg hinein. Der Krieg erschien als Tragödie oder Verhängnis, zu gewaltig, als dass eine persönliche oder auf Länder bezogene Schuldzuweisung einen Sinn ergab. Mochte auch der Amerikaner Bernardotte E. Schmitt an seiner These von der deutschen Hauptverantwortung festhalten (311) und die Geschichte des letzten Vorkriegsmonats, der sog. Julikrise, als ein „unfinished business“ (zit. n. 294, S. 246) bezeichnen, mochten auch die in die gleiche Richtung zielenden Aussagen Albertinis im englischen Sprachraum dank der inzwischen erfolgten Übersetzung
III.
Kriegsursachenforschung anderer Kriegsbeteiligter
Die 1950er-Jahre
„… hineingeschlittert“ (Lloyd George)
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III.
Forschungsprobleme ihre Wirkung tun (261), die deutschen Historiker betrachteten die Kriegsschuldfrage als erledigt. Die eingangs zitierte Äußerung von Walther Hubatsch hätten die allermeisten von ihnen unterschreiben können. Schließlich erschien dadurch auch das Kaiserreich als positiver Teil der deutschen Geschichte, als eine Traditionslinie, an die die politische Historie der Nachkriegszeit anknüpfen konnte. „Die 43 Jahre Bismarckreich [waren] die einzige Epoche großen politischen Glückes in langen Jahrhunderten der immer erneuerten Katastrophen und Bedrängnisse“ schrieb Gerhard Ritter im Jahre 1959 an Golo Mann. „Darf man die dem Deutschen nun so stark verdunkeln? Sollten sie nicht auch irgendwie Freude an ihrer Geschichte behalten dürfen?“ (zit. n. 122, S. 535)
b) Die Fischer-Kontroverse Neues Quellenmaterial
Gesellschaftlicher Wandel
Fritz Fischer: Deutsche Kriegsziele im Ersten Weltkrieg
Replik von Hans Herzfeld
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Ende der 1950er-Jahre wurden die deutschen amtlichen Akten zum Ersten Weltkrieg zugänglich. Bald darauf öffneten England und Österreich die Archivbestände. Frankreich und Italien zogen nach. Diese zweite Revolution des Aktenzugangs machte einen Vergleich der Dokumentenpublikationen der 1920er und 1930er-Jahre mit dem gesamten Aktenmaterial möglich. Sie öffnete quellentechnisch begehbare Wege aus der Politik- und Diplomatieorientierung heraus. Die Geschichte der Außenpolitik konnte „wieder in den Kontext der Gesellschaften gestellt werden, aus dem die Außenpolitik hervorging.“ (314, S. 40) Nehmen wir noch hinzu, dass die 1960erJahre politisch den Weg von der Adenauer- in die sozialliberale Republik abschritten und soziokulturell das Jahrzehnt des Vietnamkrieges und der Studentenbewegung waren, so werden die quellentechnischen, methodischen und umfeldbezogenen Möglichkeiten deutlich, die sich der Geschichtswissenschaft plötzlich eröffneten. Die Fischer-Kontroverse lotete sie aus. Sie begann mit einer – aus gut vierzigjährigem Abstand gesehen – methodisch konventionellen Fleißarbeit Fritz Fischers. Der veröffentlichte 1959 in der Historischen Zeitschrift den „Ertrag eines zweijährigen Studiums der Akten der deutschen Zentralbehörden“ (276, S. 251) zum Thema der deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg. Die im Einzelnen weitschweifigen und exzessiv mit Quellenzitaten belegten Ausführungen erhielten ihre Brisanz dadurch, dass Fischer erstens zwischen den Kriegszielen extremer Annexionisten und denen der Reichsleitung um den Kanzler Bethmann Hollweg kaum unterschied und zweitens die Kriegszielpolitik im Weltkrieg als Fortsetzung der im Frieden betriebenen Wilhelminischen Weltpolitik begriff. „Es handelt sich … um Ausbau und Sicherung einer deutschen Weltmachtstellung als Ertrag des mit so ungeheuren Opfern als Verteidigungskrieg – wie er vom Volk empfunden, von der Regierung feierlich proklamiert wurde – begonnenen Weltkrieges, wobei die überseeischen und Orientziele als Fortsetzung der seit 1890 im Zuge eines voll bejahten Imperialismus betriebenen ‘Weltpolitik’ erscheinen.“ (276, S. 251) Mit einer durchaus freundlichen Replik von Hans Herzfeld in der HZ (290) kam die Debatte langsam ins Rollen. Herzfeld sah in den von Fischer
Die Fischer-Kontroverse zitierten Quellen eher den verzweifelten Versuch Bethmann Hollwegs und der zivilen Reichsleitung, angesichts der fehlenden Koordination zwischen den verschiedenen Entscheidungsträgern – Militärs der verschiedenen Waffengattungen, kaiserlicher Hof, Reichsleitung, Parteien, wirtschaftliche Interessengruppen – nach außen einen Konsens herzustellen, hinter dem er nicht immer selbst stehen musste. Die Einheit der Kriegsziele sei nur vordergründig. Sie verdecke die dahinter tobenden Kämpfe der verschiedenen Entscheidungsträger. Bei genauerem Hinsehen habe Fischer nicht eine Kontinuität des Weltmachtstrebens dokumentiert, sondern die permanente Krise der Reichspolitik. Fischer lehnte diese Deutung sofort ab. Die Quellen belegten die „prinzipielle Einheit von Kriegszielbewegung, militärischer und politischer Führung einerseits und die Kontinuität der deutschen Kriegszielpolitik vom Herbst 1914 bis zum Hochsommer 1918 andererseits mit überwältigender Evidenz“ (278, S. 83). Diese Ziele aber seien völlig illusorisch gewesen. Sie seien das Produkt einer Überschätzung der eigenen und Unterschätzung der gegnerischen Kräfte, einer „Kontinuität des Irrtums“ (278), die nicht erst in der Kriegszeit entstanden sei. Sie sei das Erbe der wilhelminischen Weltpolitik. In der Auseinandersetzung zwischen Fischer und Herzfeld war die Kriegsschuldfrage vordergründig gar nicht behandelt worden. Sie lag aber in doppelter Weise unausgesprochen nahe. Einerseits wegen der personellen Kontinuitäten – Bethmann Hollweg, Wilhelm II. und viele andere, die sich an der Formulierung von Kriegszielen beteiligt hatten, waren schließlich auch während der Julikrise verantwortlich gewesen. Andererseits wegen des ständig mitschwingenden Kontinuitätsbegriffs. Was bedeutete Kontinuität genau? Gab es eine Linie, die von der Weltpolitik Bülows und der unstet wirkenden Außenpolitik seines Nachfolgers Bethmann Hollwegs in den Krieg und die dann geäußerten Gebietserwerbungspläne führte? Genau diese noch unausgesprochenen Fragen behandelte Fischer in einem programmatisch „Griff nach der Weltmacht“ betitelten Buch, das 1961 erschien (277). Es führte großenteils den HZ-Aufsatz von 1959 weiter. Doch in zwei vorgeschalteten Kapiteln stellte Fischer die Verbindung zwischen Wilhelminischem Weltmachtstreben und den Kriegszielen der Weltkriegszeit her. Zunächst wurde die wilhelminische Weltpolitik skizziert. Dann ging es um die Julikrise, der eine Scharnierfunktion zwischen Weltpolitik und Weltkrieg zukommen musste. Dieses Kapitel war aus den Aktenpublikationen der 1920er-Jahre und dem Buch Albertinis gearbeitet. Das Hauptziel der Diplomatie der Vorkriegsjahre, so Fischer, sei die Sprengung des gegnerischen Blocks gewesen, der aus Frankreich und Russland und dem mit den beiden freundlich verbundenen England bestand. Reichskanzler Bethmann Hollweg habe dieses Ziel nach dem Attentat von Sarajewo „mit ganzer Härte – mit oder ohne Krieg – … erzwingen“ wollen. Frankreich und Russland, so sein Kalkül, würden entweder für Serbien keinen Krieg führen wollen, oder aber, wenn sie es doch täten, seien sie derzeit militärisch noch so schwach, dass Deutschland siegen könne. Deswegen, so Fischer, habe Berlin der Wiener Politik am 5. und 6. Juli die Versicherung gegeben, Deutschland werde sich auch für den Fall kriegerischer Auseinandersetzungen an die Seite Österreich-Ungarns stellen. Deswegen habe die deutsche Reichsleitung „konsequent jeden Vermittlungsschritt
III.
„Griff nach der Weltmacht“
Julikrise zwischen Weltpolitik und Weltkrieg
87
III.
Forschungsprobleme
Krieg als Weg zur Weltmachtstellung
Gerhard Ritter
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ab[gelehnt]“ und das österreichische Handeln „forciert“. Deshalb habe Bethmann, als sich die Dinge Ende Juli dramatisch zuspitzten, zwar darauf geachtet, als der von Russland Angegriffene zu erscheinen, faktisch aber den Krieg gegen Frankreich und Russland erstrebt, in der vagen Hoffnung, England werde neutral bleiben. „Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt, gewünscht und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Jahre 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.“ Bald nach Ausbruch des Krieges aber habe die Reichsleitung die anfangs gewählte offizielle Sprachregelung „Verteidigungskrieg“ zugunsten einer Forderung nach Sicherungen und Garantien für die Zukunft aufgegeben. Diese Formeln meinten im Klartext massive territoriale und ökonomische Zuwächse. Sie dokumentierten den „Willen der deutschen Führung, diesen Krieg zum Durchbruch Deutschlands zur Stellung einer Weltmacht zu benutzen.“ Das war eine Fortsetzung der Wilhelminischen Weltpolitik mit – situationsbedingt – anderen Mitteln. Weil koloniale Expansionen unmöglich waren, ging es nunmehr darum, „den Ring um die ‘belagerte Festung Deutschland’ zu sprengen und die Grundlagen der deutschen Machtstellung in Europa für die Zukunft zu erweitern und zu sichern.“ Es ist bezeichnend, dass sich Gerhard Ritter in einer ausführlichen Rezension des Buches (305) ausschließlich auf die beiden Eingangskapitel konzentrierte. Er schob damit den Ausgangspunkt des Interesses Fischers, die Kriegszieldebatte, beiseite zugunsten der Wilhelminischen Politik und der Julikrise. Hier versuchte er, in zahlreichen Einzelnachweisen Fischers Argumentation zu erschüttern, die insgesamt einer „Erneuerung der Schuldanklage von Versailles“ gleichkomme. Fischer habe sogar von einer Kontinuität zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gesprochen. Bethmann Hollweg werde von ihm völlig verzeichnet: „An [die] Stelle des streng gewissenhaften, ehrlichen, aber in seinen Entschlüssen schwer beweglichen, durch immer neue Bedenken gequälten Beamten ohne ganz sicheren politischen Instinkt [trete] ein zäher und verschlagener Machtpolitiker, der mit gewissenloser Leichtfertigkeit (anders kann man es kaum nennen) mit dem Schicksal Deutschlands spielt“ (305, S. 667–668). Das Buch insgesamt sei „ein Gipfel … in der politisch-historischen Modeströmung unserer Tage: in der Selbstverdunkelung deutschen Geschichtsbewusstseins, das seit der Katastrophe von 1945 die frühere Selbstvergötterung verdrängt hat und nun immer einseitiger sich durchzusetzen scheint. Nach meiner Überzeugung wird sich das nicht weniger verhängnisvoll auswirken als der Überpatriotismus von ehedem. So vermag ich das Buch nicht ohne tiefe Traurigkeit aus der Hand zu legen: Traurigkeit und Sorge im Blick auf die kommende Generation.“ (305, S. 668) Die Rezension Ritters verdeutlicht die Schwierigkeit einer protestantischnationalen Historikergeneration, die die ganze katastophische erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lebensweltlich, wissenschaftlich und schriftstellerisch durchgearbeitet hatte – Ritter hatte seinen ersten Aufsatz 1910 veröffentlicht –, die Thesen Fischers überhaupt nur als diskussionswürdig
Die Fischer-Kontroverse
III.
wahrzunehmen. Ritters Rezension schwankte zwischen beckmesserischer Detailkritik und Angst vor einer grundsätzlich falschen Wendung der deutschen Geschichtswissenschaft. Die deutsche Nationalgeschichte und das deutsche Nationalbewusstsein, für deren Erhalt er ein halbes Jahrhundert – auch im Widerstand gegen Hitler – gekämpft hatte, sah er in Gefahr. Aus dieser Position heraus war Kommunikation mit Fischer schwer möglich. Ritter versuchte, eine Vortragsreise seines Kontrahenten in die USA zu verhindern, und sah dabei, wie er an Außenminister Gerhard Schröder schrieb, „die ganze deutsche Historikerschaft“ (zit. n. 122, S. 585) hinter sich. Doch auf dem eingangs angesprochenen Berliner Historikertag 1964 und auf dem Internationalen Wiener Historikertag 1965 musste er feststellen, dass fast die ganze jüngere Generation der deutschen und die überwiegende Mehrheit der ausländischen Historiker seinen Standpunkt nicht mehr teilte.
c) Positionen seit Ende der 1960er-Jahre Der scharfen Kritik Ritters schlossen sich viele Historiker an, für die „Versailles“ immer noch einen negativen Orientierungspunkt ihres Weltbildes abgab. Weil sie mit dem politischen Establishment der ausgehenden Adenauerzeit eng verbunden waren, wurde Fischer auch aus dem politischen Raum hart angegangen. Wissenschaftlich war aus Ritters Ecke wenig Neues zu erwarten. Für die Kontroverse hatte sie dennoch eine wichtige Bedeutung: In der politisch aufgeheizten Atmosphäre radikalisierte Fischer seine Thesen mehr und mehr bis hin zu der Vorstellung, bereits 1912 sei entschieden worden, den Krieg in eineinhalb Jahren auszulösen, und bis hin zu einer Kontinuitätsthese, bei der die Wilhelminische Weltpolitik, die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg und der nationalsozialistische Eroberungskrieg auf einer Linie zu liegen schienen. So entstand eine Differenz zwischen Fischer und seinen Schülern einerseits und zwei anderen Historikergruppen: erstens denjenigen, die politikgeschichtlich die Thesen von „Griff nach der Weltmacht“ weiterentwickelten, um die Strategie Bethmanns und dadurch die besondere deutsche Verantwortung in der Julikrise genauer zu beschreiben, und zweitens denjenigen, die Fischers Verweis auf innenpolitische Bedingungen des außenpolitischen Konfliktkurses der späten Wilhelminischen Jahre ernst nahmen und so zu einer politischen Sozialgeschichte des Kaiserreiches kamen. Schauen wir die wichtigsten Argumente der drei Gruppen an: 1. Fischers eigene Entwicklung wird in einem Vergleich seiner Aufsätze und Bücher von Anfang der 1960er-Jahre mit den im Zuge der großen Auseinandersetzungen entstandenen Büchern „Weltmacht oder Niedergang“ (1965) und „Krieg der Illusionen“ (1969) sichtbar. Es zeigen sich immer schärfere Versionen der Kontinuitätsthese vom Wilhelminismus in den Ersten Weltkrieg hinein und der These einer deutschen Absicht, den Weltkrieg in Kauf zu nehmen bzw. auszulösen. Die Thesen wurden durch neue Dokumentenfunde bzw. neue Dokumenteninterpretationen abgestützt. Drei Quellen spielten eine Schlüsselrolle. Erstens ging es um den so genannten
Auseinandersetzungen im Zuge der Radikalisierung der Fischer-Thesen
Fischer: Verschärfung der Kontinuitätsthese
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III.
Forschungsprobleme
Politik des kalkulierten Risikos
Wende zu einer Sozialgeschichte der Politik
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„Kriegsrat“ vom 8. Dezember 1912, bei dem der Kaiser und die wichtigsten Militärs – ohne den Kanzler Bethmann Hollweg – zusammensaßen (306; 307; 308). Sie berieten über die außenpolitische und militärische Situation und die Bereitschaft des Militärs zum Krieg. Fischer, John C. G. Röhl und andere haben dieses Treffen als Verabredung eines in ein bis zwei Jahren auszulösenden Krieges interpretiert, um damit die These eines deutscherseits langfristig vorbereiteten Offensivkriegs zu stützen. Wolfgang J. Mommsen ist dem deutlich entgegengetreten (301). Zwar sei der Kaiser von der Präventivkriegsneigung des Generalstabschefs Moltke beeindruckt gewesen. Doch das Treffen trage insgesamt eher den für die Regierungsweise Wilhelms II. typischen situativen und aktualistischen Charakter. Im Sinne einer langfristigen Strategie dürfe es nicht interpretiert werden. Zweitens spielten die Tagebücher des persönlichen Sekretärs von Bethmann Hollweg, Kurt Riezler, eine herausragende Rolle (304; vgl. 313; 272; 267). „Da ein Nachlass Bethmann Hollwegs praktisch nicht existiert“ (28, S. 87), kam den Aufzeichnungen seines Sekretärs zur Interpretation der Julikrise eine herausragende Bedeutung zu. Umso schärfer wurde um die Echtheit der Blätter und ihre Interpretation gerungen. Drittens waren „vorläufige Aufzeichnungen über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluss“ von besonderer Bedeutung, die auf Anweisung Bethmann Hollwegs am 9. September 1914 angefertigt wurden (316; 322). Fischer sah in den hier festgehaltenen Territorial- und Ökonomiezielen einen entscheidenden Beleg für die Kontinuität zwischen Vorkriegsweltmachtstreben und ausladenden Kriegszielen, gerade weil sie von Bethmann Hollweg stammten. Dem wurde hier wie im Falle des angeblichen „Kriegsrates“ vom Dezember 1912 entgegengehalten, dass das Dokument nur eine Momentaufnahme am Wendetag der Marneschlacht darstellte und für Bethmann Hollweg nicht mehr als ein augenblicksnotwendiges politisches Instrument gewesen sei. 2. Im Sinne einer vorsichtigeren Bewertung der von Fischer und seinen Schülern neu gefundenen bzw. neu interpretierten Quellen äußerte sich eine zweite Gruppe von politikgeschichtlich vorgehenden Historikern. Bei im Einzelnen großen Unterschieden vertraten Egmont Zechlin (321), Karl Dietrich Erdmann (271) und Andreas Hillgruber (292) die Auffassung, dass Bethmann Hollwegs Agieren in der Julikrise nicht als planmäßige Auslösung eines Krieges (Fischer), aber auch nicht als unwillentliches Hineinschlittern in die Katastrophe (deutsche Forschung vor der Fischer-Kontroverse) gewertet werden sollte. Von der Annahme ausgehend, dass die Julikrise nicht als außenpolitischer Effekt innenpolitischer Stabilisierungsbemühungen, sondern als Produkt genuin außenpolitischer Eigendynamiken zu untersuchen sei, diagnostizierten sie ein riskantes diplomatisches Manöver Bethmanns mit dem Ziel, den gegnerischen Militärblock zu sprengen. Dabei bleibt umstritten, wie viel an fatalistischer Hinnahme einer als unabwendbar angenommenen militärischen Auseinandersetzung zwischen ‘Germanen’ und ‘Slawen’, wie viel an Kriegsbereitschaft und wie viel an Erkenntnis über die Natur des zu erwartenden Kriegs in dem Kalkül enthalten war. 3. Fritz Fischer hatte immer wieder die These vertreten, dass die von ihm behauptete Kriegsstrategie der deutschen Eliten innen- und wirtschaftspoli-
Die Fischer-Kontroverse tisch bedingt sei. Auf der Tagesordnung stehe daher eine Analyse der Herrschafts- und Sozialstruktur des Wilhelminischen Reiches. Zahlreiche jüngere Historiker – Hans-Ulrich Wehler als einer ihrer profiliertesten Vertreter hat einmal die „Jahrgänge zwischen 1925 und 1940“ als die „Generation 1945“ bezeichnet (318, S. 318) – nahmen diese Anregungen auf, die bei Fischer selbst, so Volker Berghahn, „Postulate“ (265, S. 146) geblieben seien. Für die Jüngeren war die Fischer-Kontroverse der Ausgangspunkt, um die diplomatiegeschichtlichen Beschränkungen hinter sich zu lassen und zu einer Sozialgeschichte der Politik im wilhelminischen Deutschland zu kommen. Dabei ließen sie sich von Eckart Kehr inspirieren, der, wie oben gesehen, zu den Außenseitern in der Weimarer Kriegsschulddebatte gehört hatte. Volker Berghahn untersuchte in diesem Zusammenhang die Flottenrüstung (263). Vom Primat der Innenpolitik her kam er mit Hans-Ulrich Wehler zu der These, dass das Kaiserreich sich 1914 in der Sackgasse befunden habe. Die alten Eliten hätten kaum noch eine Chance gesehen, ihre Herrschaft zu stabilisieren. Sie hätten daher ihre Zuflucht zu einer immer riskanteren Außenpolitik genommen. Der Erste Weltkrieg wurde von den deutschen Eliten demnach nicht langfristig geplant. Er war „das Ergebnis … einmal der ‘Unfähigkeit’ seiner Eliten, mit den wachsenden Problemen einer sich rasch demokratisierenden Welt fertig zu werden. Sodann wirkte sich die historisch geprägte Neigung fatal aus, auf diese inneren Schwierigkeiten mit einer aggressiven Verteidigung zu reagieren, die auf dem Felde der äußeren Politik, notfalls auch mit Hilfe eines Krieges, diese Probleme zum Schweigen bringen oder doch eine Atempause gewähren sollte“ (67, S. 199). Die Fischer-Kontroverse ist Ende der 1960er-Jahre ausgelaufen. Auch wenn an ihrem Ende keine neue Übereinkunft gestanden hat, so hat sie doch den Blick auf die Ursachen des Ersten Weltkriegs irreparabel verändert. Der Konsens der 1950er-Jahre, symbolisiert durch Gerhard Ritter, ist verabschiedet. Zwar ist in einer außenpolitischen Gesamtdarstellung von Klaus Hildebrand aus dem Jahre 1995 wieder sehr viel von Zwangslagen, Gewitterschwüle und einer notwendigen Quadratur des Kreises die Rede. Doch auch hier wird festgehalten, dass „die deutschen Staatsmänner … zu einem Zeitpunkt, der ihnen gerade noch günstig vorkam, die Existenzprobe bestehen [wollten]. Sie ließen sich in vollem Bewusstsein der damit verbundenen Gefahr auf ein todernstes Spiel ein, das sie zwar zu kalkulieren versuchten, das aber doch insgesamt unwägbar war. Darin liegt die initiierende Verantwortung des Deutschen Reiches für den Verlauf der Julikrise und für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914“ (27, S. 352). Auf dem Weg zu den radikaleren Thesen aus der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre sind Fischer allerdings nur wenige gefolgt. Bei zahlreichen Varianten im Einzelnen wird seit den 1970er-Jahren im Sinne der vermittelnden zweiten Position von einer herausgehobenen Verantwortung Deutschlands für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gesprochen. Die These von der innenpolitischen Bedingtheit der außenpolitischen Risikostrategie wird damit häufig kombiniert, allerdings in einer abgeschwächten Version, die von einer innenpolitisch bedingten stärkeren Neigung Deutschlands zum Kriegsrisiko ausgeht. Das ist eine Folge der Debatte um den Primat der Innen- oder der Außenpolitik, die – wie im Kapitel „Bis-
III.
Volker Berghahn
Auslaufen der FischerKontroverse
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III.
Forschungsprobleme
International vergleichende Geschichte der Politik
Imperialismus und Weltkrieg
Erneuerung der internationalen Geschichte
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marck und der Imperialismus“ gezeigt – mit einer Betonung der Interdependenz zwischen beiden geendet hatte. Immer wieder ist im Verlauf der Fischer-Kontroverse eine international vergleichende Geschichte der Politik gefordert worden. Anfänglich hatten die älteren Gegner Fischers die Relevanz der neuen Quellen und Interpretationen bestreiten wollen, indem sie eine vergleichende Aufrechnung von Eroberungsgelüsten in allen am Krieg beteiligten Mächten forderten. Das blieb im Horizont der konkurrierenden Aktenpublikationen der 1920erund 1930er-Jahre damit folgenlos. Dann aber hatten auch Historiker, die den Konsens der 1950er-Jahre als nicht mehr haltbar betrachteten, für eine international vergleichende Forschung plädiert. Nur so ließen sich die Zusammenhänge zwischen internen Krisen und äußerer Politik präziser bestimmen. Nur so ließen sich die begrifflichen und methodischen Probleme lösen, auf die Fischer und seine Gegner gestoßen waren, ohne sie hinreichend bearbeiten zu können. Am Ende sollte nach den Vorstellungen Wolfgang Schieders „eine abgestufte Darstellung der Krise des Imperialismus herauskommen, in der die historischen Bedingtheiten und Verantwortlichkeiten unter Vermeidung personalistischer Verkürzungen auseinander gelegt werden.“ (310, S. 18) Zu einem solch anspruchsvollen Unternehmen ist es nicht gekommen. Zwar hat Wolfgang J. Mommsen vergleichende Imperialismusforschung betrieben (45; 46). Doch direkte Auswirkungen des Imperialismus auf die Entstehung des Weltkrieges ließen sich schwer nachweisen. Außerdem erschien Außenpolitik bei genauerem Hinsehen in ihrer Verflechtung mit Innenpolitik, mit ökonomischen, sozialen und kulturellen Strukturen als außerordentlich komplexes Phänomen, das sich dem von Schieder skizzierten Programm nicht leicht fügte. Weil überdies seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre die Skepsis gegenüber den großen Theorien zugenommen und außerdem die internationale Geschichte in den 1970er- und 1980erJahren wenig Interesse auf sich gezogen hat, gehört eine vergleichende Imperialismustheorie derzeit nicht mehr zu den Feldern, auf denen die Forschung zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs bevorzugt tätig ist. Das Interesse an internationaler Geschichte ist seit den 1990er-Jahren zurückgekehrt. Dabei liegt der Schwerpunkt, was die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs angeht, wieder stärker auf einer international vergleichenden Politik- und Diplomatiegeschichte mit – wenn auch schwächerer – Beachtung der Interdependenzen zwischen Außenpolitik und den inneren Machtverhältnissen sowie den Wirtschafts- und Sozialstrukturen. Intensive Quellenstudien haben einige Forscher in den letzten Jahren dazu geführt, die Vorstellung von einer immer stärker werden Instabilität des europäischen Staatensystems im Zeichen von Blockbildung und immer schneller aufeinander folgenden Krisen zurückzuweisen. Friedrich Kießling hat die „Entspannung in den internationalen Beziehungen 1911–1914“ (297; vgl. 270) untersucht. Niall Ferguson vertritt die – sehr umstrittene – These, Deutschland und Großbritannien hätten ihre Konflikte in Kolonialund Rüstungsfragen durchaus friedlich regeln können, weil ein hegemoniales Deutschland die europäische Stabilität nicht zwingend gefährdet hätte und die englische Angst vor der deutschen Bedrohung eher eine Folge politischer Propaganda als realer Gegensätze gewesen sei (275). Holger Affler-
Die Fischer-Kontroverse bach sieht den Möglichkeitsraum für die politische Entwicklung der Jahre nach 1900 sehr viel offener, als es sowohl die Forschung vor der FischerKontroverse als auch die verschiedenen Historikergruppen danach getan haben. Die durchaus vorhandenen Krisensymptome seien von der Forschung einseitig in den Vordergrund gerückt, die stabilisierenden Faktoren von Blockbildung, politischem Krisenmanagement und internationaler wirtschaftlicher Verflechtung zu wenig berücksichtigt worden. „Der Erste Weltkrieg brach als Resultat schwerer diplomatischer Fehler und Fehleinschätzungen aus. Die vielbeschworenen, zur Erklärung natürlich unverzichtbaren tieferen Gründe stellten die Potentialität her: Der Erste Weltkrieg war ein mögliches, aber kein zwangsläufiges und sogar ein eher unwahrscheinliches Resultat der damaligen politischen Ordnung.“ (260, S. 826) Dieser Deutung ist bereits widersprochen worden, unter Verweis auf die Ergebnisse der Fischer-Kontroverse, hinter die man nicht mehr zurückgehen könne (V. Ullrich in der ZEIT, 2.1.2003). Vierzig Jahre nach der Fischer-Kontroverse sind die Historiker daher weniger klug, als viele in den 1960er-Jahren vielleicht glaubten, und das, obwohl sich die Kenntnisse wesentlich verbessert haben. Stig Förster kommt in einer Darstellung der Ursachen des Ersten Weltkriegs, die er bezeichnenderweise „Im Reich des Absurden“ (283) betitelt hat, zu dem etwas frustrierenden Ergebnis, „dass es der Forschung trotz aller Bemühungen bis heute nicht gelungen ist, allgemein befriedigende Antworten zu Schlüsselfragen zu geben. Gerade im Hinblick auf die Ursachen dieses Krieges wirft jede Antwort neue Fragen auf, so dass die Debatte auf höherer Ebene immer wieder von vorne beginnt. Dies kann auch nicht überraschen, handelt es sich doch um eine höchst komplexe Materie. Allein im Rahmen der internationalen Politik im Vorfeld des August 1914 gilt es, die Handlungsweisen von sechs europäischen Großmächten und einer Anzahl von mehreren kleineren Mächten zu analysieren. Bündnissysteme, Rüstungswettläufe, Konferenzen, Verträge und Abmachungen sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie das Problem des Imperialismus und die Bedeutung von wirtschaftlichen Rivalitäten. Aber damit bei weitem nicht genug. Innenpolitische Entwicklungen sind bei jeder einzelnen Macht zu untersuchen. Hinzu kommen Verfassungsfragen, die Untersuchung von Mentalitäten und kulturellen Dispositionen, die Rolle der Geschlechterbeziehungen und natürlich immer wieder Studien über einzelne Persönlichkeiten. Obendrein stellt sich das Problem der Zeitdimension. Die Forschung hat sich längst von der Fixierung auf die Julikrise und die unmittelbaren Vorkriegsjahre verabschiedet. … Wer in dieser Debatte auf dem Forschungsstand bleiben möchte, muss nicht nur die zahlreichen neuesten Publikationen intensiv studieren, sondern sollte auch die älteren Forschungen kennen, die durchaus wichtige Ergebnisse geliefert haben. Für eine einzelne Person ist das überhaupt nicht mehr zu leisten.“ (283, S. 212) Keines der Kontroversthemen, die in diesem Buch behandelt werden, kann es an Materialreichtum, Komplexität und Emotionalität mit der Fischer-Kontroverse aufnehmen. Sie war mehr als ein Historikerstreit. Sie veränderte die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland, wie auch umgekehrt das liberaler werdende politische Klima die Aktionen der Kontrahenten beeinflusste. Die durch die Fischer-Kontroverse aufgeworfe-
III.
Hohe Komplexität der Ursachenforschung zum Ersten Weltkrieg
FischerKontroverse und politische Kultur in Deutschland
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III.
Forschungsprobleme nen Fragen sind trotz großer internationaler Forschungsanstrengungen bis heute nicht beantwortet. Sie konnten nur auf einem anderen Niveau neu gestellt werden. Eine die Rolle aller beteiligten Mächte berücksichtigende Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges kann wohl nur noch als Gemeinschaftsunternehmen vieler Spezialisten gelingen (288). Sie ist Voraussetzung für eine von Konrad Jarausch geforderte „transnationale Diskussion über die Verstrickungen des 20. Jahrhunderts“ (295, S. 36), dessen „Urkatastrophe“ (George F. Kennan) der Erste Weltkrieg war.
7. Sozialmoralische Milieus Die Historische Bibliographie Online, mithilfe deren man schnell und sicher historische Literatur der Erscheinungsjahre 1990 ff. suchen kann (http:// www.oldenbourg.de/verlag/ahf), verzeichnet für die Jahre 1990–2003 durchschnittlich jährlich 11 507 Titel. Jede Dreiviertelstunde ein neuer Text. Kein Mensch kann das lesen. Wissenschaftler müssen auswählen. Sie lesen selektiv, sie überfliegen Texte, sie vergessen. Das meiste Geschriebene wird gedruckt, von wenigen Spezialisten angeschaut, in langen Regalen abgestellt und staubt. Das ist nicht zu ändern. Die eigentlich spannende, in der Wissenschaftssoziologie viel diskutierte und nicht gelöste Frage ist, warum es manchmal anders kommt. Warum haben manche Bücher oder Aufsätze Folgen? Warum stoßen sie Debatten an? Liegt es am Autor? Am Titel? An der geschickten Organisation von Zitierkartellen? Am Inhalt? Das folgende Kapitel handelt von einem solchen Ausnahmefall, und es wird zu fragen sein, worauf die außerordentliche Wirksamkeit dieses Textes beruhte und was das über die Kaiserreichforschung aussagt. Es geht um einen Aufsatz, der 1966 in einer Festschrift für den Agrarhistoriker Friedrich Lütge erschien. Titel: „Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft“. Autor: M. Rainer Lepsius (362). Der Aufsatz ist nicht nur mehrfach nachgedruckt worden. Der in ihm entwickelte Begriff des sozialmoralischen Milieus spielt in der Wahlsoziologie und historischen Wahlforschung, in der Parteiengeschichte, der Arbeitergeschichte, der Katholizismusforschung und in den letzten Jahren auch in der Konservativismus-, der Liberalismus-, der Protestantismus- und der Bürgertumsforschung eine wichtige Rolle. Es geht also im Folgenden nicht um eine punktuelle Kontroverse, sondern um verschiedene Debatten, die an einen Aufsatz anschlossen, sich immer wieder überlagerten und bis heute fortdauern.
a) Ein Aufsatz von M. Rainer Lepsius Leitfragen Lepsius’
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M. Rainer Lepsius hatte wissen wollen, warum in Deutschland die Demokratisierung so viel später kam als die Industrialisierung, warum sie dann schwach blieb und vom Nationalsozialismus so leicht überwunden werden konnte. Das war für die historisch interessierte und international ver-
Sozialmoralische Milieus gleichend vorgehende Soziologie und Politikwissenschaft der 1960er-Jahre keine ungewöhnliche Frage. Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und politischer Entwicklung hatte, wie in der Einleitung gezeigt, bereits Thorstein Veblen während des Ersten Weltkrieges diagnostiziert (65). Auch der Argumentationsgang war typisch für eine Zeit, die einen beeindruckenden Mut zu großen Modellen und weltumspannenden Erklärungsansätzen hatte, auch wenn die empirische Deckung noch fehlte. Lepsius musterte die Deutungsangebote damals aktueller amerikanischen Politikwissenschaftler und Soziologen durch und behandelte vor allem verschiedene „cleavage“-Konzepte. Ihnen zufolge war eine Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne verschiedenen potentiell gesellschaftsspaltenden Spannungen („cleavages“) ausgesetzt (z. B.: Zentrum – Peripherie, Staat – Kirche, agrarischer Sektor – industrieller Sektor, Arbeiter – Unternehmer). Der deutsche Fall zeichne sich durch die dramatische Überlagerung dieser Spannungslinien aus. Lepsius verknüpfte diese Ansätze mit Arbeiten, die das Parteiensystem (deutsche Weltanschauungsparteien versus angloamerikanische Integrationsparteien) für das deutsche Demokratiedefizit verantwortlich machten, und kam zu einem neuen Lösungsvorschlag: Aufgrund der spezifisch deutschen Überlagerung sozialer Konfliktlinien habe sich die deutsche Gesellschaft während und kurz nach der Reichsgründung in vier „sozialmoralische Milieus“ gespalten: ein konservatives, ein liberales, ein katholisches und – etwas später – ein sozialistisches. Diese Milieus hätten Parteien als „politische Aktionsausschüsse“ ausgebildet, die an die Milieus rückgebunden und auf sie fixiert gewesen seien. So sei ein Parteiensystem von ungeheurer Festigkeit – unter Berufung auf die Reichstagswahlergebnisse 1871–1928 stellte Lepsius fest, es habe sich bis zum Ansturm der Nationalsozialisten nur wenig verändert – entstanden, das aber lernunfähig und inflexibel gewesen sei. Daher hätten nach der Reichsgründung die weiteren auf dem Weg zur Demokratisierung anstehenden großen Konflikte nicht gelöst werden können. So sei die Demokratisierung unterblieben. Nationale Integration und politische Gleichheit seien nicht hergestellt worden. Soziale Teilhaberechte hätten nicht verwirklicht werden können. Die Folge seien Immobilismus, Problemstau und Reformunfähigkeit gewesen, eine mangelnde Gestaltung der nationalen Ordnung und daraus folgend eine schwankende politische Orientierung der deutschen Bevölkerung. Den Milieubegriff hatte Lepsius von Carl Amery übernommen. Der Linkskatholik hatte 1963 die Politik seiner Kirche mit dem Argument angegriffen, sie habe ihren christlichen Auftrag verfehlt, um ihre im kleinbürgerlichen Milieu verbliebene Klientel nicht zu verschrecken (325). Lepsius prägte den politischen Kampfbegriff Amerys zu einem soziologischen Analyseinstrument um, das in Konkurrenz zu „Klasse“ oder „Schicht“ treten sollte: Das sozialmoralische Milieu sei eine „Bezeichnung für soziale Einheiten, die durch die Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden. Das Milieu ist ein soziokulturelles Gebilde, das durch eine spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf einen bestimmten Bevölkerungsteil charakterisiert wird.“ (362, S. 38) Trotz der soziologischen Um-
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Internationaler Vergleich von Parteiensystemen „Sozialmoralische Milieus“
Milieubegriff bei Carl Amery und M. Rainer Lepsius
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III.
Forschungsprobleme
Milieubegriff und deutsche Parteiengeschichtsforschung
widmung blieb aber die kritische Pointe Amerys erhalten. Weil die Parteien nur die „Aktionsausschüsse“ ihrer Milieus gewesen seien, hätten sie auf ihre Klientel geblickt, anstatt sich zu milieuübergreifenden Volksparteien weiter zu entwickeln. „In der engen Beziehung der Partei auf ein entsprechendes Sozialmilieu liegt die Gefahr, dass das Parteiensystem mehr der Aufrechterhaltung der Autonomie des Milieus als seiner Integration in die Gesamtgesellschaft dient.“ (362, S. 38) Und weiter: „Das deutsche Parteiensystem erweist sich sozio-kulturellen Milieus eng verbunden. Die Parteien entstehen aus diesen vorstrukturierten Einheiten und bleiben auf sie fixiert. Zwar ändern sich diese Gebilde unter dem Einfluss der Industrialisierung, die Parteien aber bleiben an das ursprüngliche, für sie konstitutive Milieu gebunden, perpetuieren die alten sozialmoralischen Wertvorstellungen und hemmen damit die Diffusion neuer, der modernen Industriegesellschaft angemessenen Normen.“ (362, S. 47) Lepsius’ „Milieutheorie“ – wie sie bald hieß – eröffnete der Parteiengeschichte ein neues Feld. Die ältere deutsche Geschichtswissenschaft hatte dieses Thema zunächst nur zögerlich aufgegriffen und sich lieber mit außenpolitischen Themen und den überparteilichen großen Männern – Bismarck vor allem – befasst. In einer ersten intensiveren Forschungsphase nach 1910 und in den 1920er-Jahren war es dann vor allem um Personen, Programme und Ideologien gegangen (331; 372; 373; 380; 381; vgl. 401). Thomas Nipperdey hatte anfangs der 1960er-Jahre der Forschung eine neue Richtung gegeben, indem er die Parteiorganisation und die den Parteien vorausliegende Vereinsgeschichte zum Thema machte (378; 379). Damit war die Frage nach der regionalen und der gesellschaftlichen Verankerung der Parteien gestellt. Der Milieubegriff bot ein Konzept, um diese Fragen in mehrerlei Hinsicht innovativ zu behandeln. Erstens konnte der politik- und organisationsgeschichtliche Rahmen überschritten werden. Zweitens konnte dies unter Vermeidung der Beschränkung eines marxistischen Klassenbegriffs geschehen, der in der DDR die Parteienforschung strukturierte (344; 345). Der Charme des Milieubegriffs lag gerade darin, dass er „harte“ sozialökonomische Faktoren („wirtschaftliche Lage“, „schichtspezifische Zusammensetzung“) mit „weichen“ kulturellen Faktoren („Religion“, „regionale Tradition“, „kulturelle Orientierung“) verband und beides auf Politik bezog, mithin einer Sozial- und Kulturgeschichte der (Partei-)Politik vorarbeitete. Drittens war das Milieukonzept parteivergleichend angelegt und dies viertens im Hinblick auf eine Geschichte der deutschen Demokratieverfehlung insgesamt. Lepsius selbst hatte diese Dimensionen in seinem gut zwanzigseitigen Aufsatz allerdings eher angedeutet als wirklich behandelt. Als verschiedene Forschungszweige sich ihnen intensiver widmeten, stießen sie auf Schwierigkeiten.
b) Wahlforschung Kulturelle und Sozialstrukturvariablen
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Die historische Wahlforschung hat mit Lepsius betont, dass Region, Religion und Kultur entscheidende Faktoren sind, um das Wahlverhalten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu verstehen. In einer scharfen
Sozialmoralische Milieus Formulierung Karl Rohes: „Es ist einigermaßen absurd, anzunehmen, daß kulturelle Variablen wie Klassenwußtsein, Säkularisationsgrad oder Ausmaß und Intensität von Gemeinschaftsbildung nur in Ausnahmefällen eine politische Rolle spielten, während im Normalfall die Sozialstrukturvariablen alles erklären. Das Gegenteil ist der Fall.“ (390, S. 12–13) Wie sonst könne etwa der tiefe Graben zwischen protestantischen und katholischen Arbeitern im Ruhrgebiet erklärt werden, von denen erstere die SPD und letztere die katholische Zentrumspartei wählten? Auf dem SPD-Parteitag 1897 rechtfertigte ein Essener Delegierter die Wahlempfehlung seiner Partei für den Großindustriellen Krupp (!) mit den Worten: „Die Vorwürfe, die Bebel gegen uns erhoben hat, weil wir in der Stichwahl für den Genossen Krupp [stürmische Heiterkeit] gestimmt haben, muss ich als richtig hinnehmen. Aber die Erbitterung gegen das Zentrum war in den Massen so groß, dass wir sie nicht dämpfen konnten.“ (zit. n. 352, S. 85) Neben solchen Übereinstimmungen gab es jedoch auch erhebliche Modifikationen am Modell von Lepsius. Jonathan Sperber und B. Fairbairn haben zu zeigen versucht, dass die Wählerblöcke um 1900 wesentlich weicher wurden und milieuauflösende Prozesse sich zeigten (397; 343). Diese Deutung ist umstritten. Insgesamt aber gilt die Vorstellung von vier starren und zwischen Reichsgründung und Weimarer Republik letztlich nicht veränderten Milieus als zu statisch und unhistorisch. Waren nicht die Menschen des Kaiserreichs wesentlich beweglicher als Lepsius sie zeichnete? Es gab die milieuübergreifenden Institutionen wie Schule und Militär. Es gab Mehrfachloyalitäten über Milieugrenzen hinweg (katholische Bürger im Rheinland, die von Theodor Fontane so liebevoll gezeichneten protestantischen Landpfarrer). Es gab große Unterschiede zwischen geradezu idealtypischen Milieustrukturen in sächsischen Arbeitersiedlungen (SPD) oder westfälischen Dörfern (Zentrum) und doch eher schwach ausgeprägtem Milieuverhalten im Bürgertum gemischtkonfessioneller Großstädte. Lepsius hatte seine These mit den Reichstagswahlergebnissen belegt. Doch es roch nach Zirkelschluss, wenn die Konstanz der Reichstagswahlergebnisse auf die Starrheit milieugebundener Parteien zurückgeführt, deren Existenz aber dann mit den Reichstagswahlergebnissen belegt wurde. Wenn die Milieus aber unabhängig von den Reichstagswahlergebnissen nachgewiesen werden mussten, welches waren dann ihre essentiellen Merkmale? Und wie veränderten sie sich in der Zeit? Ein Teil dieser Fragen konnte nur auf der Ebene einzelner Milieus untersucht werden. Das wird unten erläutert. Doch auch die Wahlforschung führte Differenzierungen ein. Innerhalb der Wählergruppen einer Partei erkannte sie Unterschiede zwischen denjenigen, die in ein politisiertes Milieu eingebunden waren und daher eine stabile Parteibindung eingingen, und denjenigen, die auf der Grundlage parteipolitisch nicht festgelegter, durchaus aber politisch interessierter Milieus Zweckbündnisse auf Zeit mit einer politischen Partei schlossen. Erstere waren krisensichere Wähler, letztere wanderten leichter ab, wenn die Partei ihrer Wahl die Erwartungen nicht erfüllte. Unterschiede dieser Art konnte es in sehr kleinen räumlichen Einheiten geben. So gelang es der sächsischen Sozialdemokratie, ihre frühen Wahlerfolge vor allem entlang einer durch die Städte Leipzig und Dresden gebildeten Linie milieukulturell abzusichern. Im Südwesten Sach-
III.
Lepsius Milieumodell zu statisch
Unterschiedliche Milieus einer Partei
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III.
Forschungsprobleme
Milieubildung und politische Eliten
„Stille Parlamentarisierung“ (M. Rauh)
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sens hingegen verdankten sich die Wahlerfolge der SPD dem Vertrauen durchaus nicht sozialdemokratischer Lokalmilieus auf die Leistungsfähigkeit sozialdemokratischer Politiker. Ende der 1920er-Jahre konnte daher die NSDAP im Südwesten Sachsens bereits die Rolle der SPD als hegemonialer Partei übernehmen, während entlang der Linie Leipzig–Dresden die Sozialdemokratie stabil blieb (404, S. 19–21). Die Beziehung zwischen Milieu und Partei erwies sich in mehrfacher Hinsicht als komplexer als der von Lepsius vorgeschlagene Begriff des Aktionsausschusses anzeigte. Nicht jede der Spannungslinien („Cleavages“) musste wirklich zur Bildung eines politisch bedeutsamen Milieus führen. Es kam vielmehr entscheidend auf die politischen Eliten an, die die Spannungslinien kulturell ausdeuteten und politisch ausbeuteten. Das galt für die Bildungs-, für die Erhaltungs- und für die Zusammenbruchsphase. Die Konflikte auf dem Weg zur modernen Nation und Gesellschaft konnten milieu- und parteibildend wirken, mussten aber nicht. Ein einmal etabliertes Milieu konnte fortdauern, konnte aber auch zerfallen. „Parteiensysteme und damit die Beziehungen zwischen Wählern und politischen Eliten bedürfen“, so Karl Rohe, „der ständigen Pflege und symbolischen Erneuerung, wenn sie nicht erodieren sollen. Umgekehrt heißt das: Der Wandel von Parteiensystemen kann seine Ursache nicht nur darin haben, dass ihre gesellschaftliche und kulturelle Basis gleichsam ‘weggerutscht’ ist, sondern auch darin, dass politische Eliten es bewusst oder unbewusst versäumt haben, die ‘politische Koalition’ mit bestimmten Wählersegmenten stets aufs Neue symbolisch zu erneuern.“ (390, S. 25) Beides, die Rolle der Eliten und die Unterschiede zwischen Milieubindung und Zweckbündnis, lenkte den Blick der Wahlforscher auf Region und Ort. Dort mussten Milieu und Wählerbindung entstehen und bestehen, dort wurden Wahlen entschieden. Für eine partei- und milieuvergleichende historische Regionalstudie gibt es jedoch nach wie vor nur wenige Beispiele. Siegfried Weichlein hat eines geliefert (407). Neben der lokalen Ebene muss bei Betonung der Rolle der Eliten freilich auch das politische Zentrum als der Ort des politischen Aushandelns zwischen milieu- oder bündnisgestützten Parteirepräsentanten in den Blick kommen. Hierzu hat – anschließend an eine scharfe Auseinandersetzung in den 1970er-Jahren über die von Manfred Rauh behauptete „stille Parlamentarisierung“ des Kaiserreichs (383; 384; 361) – Christoph Schönberger neue Überlegungen präsentiert (395). Führte in Deutschland die frühe und milieugebundene Massenmobilisierung, die „Demokratisierung ohne Parlamentarisierung“ (395, S. 652) in Richtung einer „‘Proporz-’, ‘Konkordanz-’ oder ‘Verhandlungsdemokratie’“ (395, S. 660) nach dem Muster der Schweiz, wo angesichts konfessioneller und ethnischer Spaltungen nicht Mehrheiten im Parlament, sondern umfassende Aushandlungsprozesse mit dem Ziel der Befriedigung aller Beteiligten zu Entscheidungen führen? Ist also die kritische Pointe Lepsius’ die Folge eines falschen Maßstabes? „Löst man sich von der Fixierung auf Großbritannien, so geraten andere, näher liegende Vergleichssysteme in den Blick: etwa das dualistische Regierungssystem der Vereinigten Staaten, aber auch die stärker konkordanzdemokratisch geprägten politischen Systeme der kleineren europäischen Nachbarn Deutschlands. Damit erst wird auch der Blick frei für die besondere deut-
Sozialmoralische Milieus sche Kombination von bürokratischer Staatsleitung und konkordanzdemokratischer Konsensbildung im späten Kaiserreich.“ (395, S. 664) Eine Alternative zum „Milieu“ hat Adam Wandruszka für Österreich mit dem Begriff des „Lagers“ eingeführt (405). Karl Rohe hat ihn auf Deutschland übertragen. Während das Milieu sich durch eine gemeinsame Lebensweise auszeichne – „Angehörige eines Milieus denken nicht nur anders und deuten nicht nur die Alltagswelt anders aus, sie leben tatsächlich anders“ (390, S. 19) –, werde das Lager weniger von positiven Gemeinsamkeiten denn von Abgrenzung gegenüber anderen zusammengehalten. Es könne daher verschiedene Milieus in sich bergen. Das Lager gründe tief in historischen Erinnerungen, Emotionen und Aversionen. Politische Lager strukturierten Parteiensysteme insofern, als Wählerwechsel zwischen Parteien eines Lagers leicht möglich sei, über die Lagergrenzen hinweg jedoch kaum stattfinde. Für Deutschland machte Rohe seit den 1870er-Jahren drei Lager aus, die durch religiös-konfessionelle Differenzen unterlegt seien: ein nationales und protestantisches, in dem sich die liberalen und konservativen Parteien bewegten; ein katholisches, in dem die Zentrumspartei operierte, und ein proletarisch-dissidentisches Lager, in dem die SPD und nach dem Ersten Weltkrieg die verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Parteien sich bewegten. Diese Lagerthese ist kritisiert worden, weil das nationalprotestantische Lager in sich zu heterogen sei. Worin sollten die Gemeinsamkeiten zwischen linksliberalen Frankfurter Großbürgern und konservativen ostelbischen Agrariern bestehen? Freilich zielte der Lagerbegriff auf die Wahlforschung, sollte Wählerwanderungen und Wahlergebnisse erklären helfen, nicht aber das Verhalten von Parteien und Politikern im politischen Alltag. Doch auch von Seiten der Wahlforschung sind Einwände erhoben worden. War nicht in wichtigen Regionen Deutschlands, etwa in Ostelbien oder Württemberg, die Polarisierung zwischen Konservativen und Liberalen die entscheidende politische Konstellation (359; 347)?
III. „Milieu“ und „Lager“ (Karl Rohe)
c) Das sozialistische Milieu Das sozialistische Milieu stand – neben dem katholischen Milieu – wohl den meisten Lesern vor Augen, als sie Lepsius’ Aufsatz lasen. Die dichten Milieustrukturen innerhalb der sozialdemokratischen Hochburgen, ihre Kultur-, Konsum- und Turnvereine, lösten sich in Westdeutschland in den 1960er-Jahren gerade auf, waren aber, wie in einem Interview mit dem Parteien- und Milieuforscher Peter Lösche deutlich wird, noch Teil lebensweltlicher Erinnerung (366). Seit den 1960er-Jahren wurde denn auch intensiv zur Arbeiterkultur geforscht (386; 358; 356; 388; 357). Der Lepisussche Milieubegriff war für diese Forschungen nur eines von mehreren Themen. Zentral war zunächst das Anliegen, die vor allem im Vergleich zur englischen Geschichtswissenschaft defizitäre Geschichte der Arbeiterkultur aufzuarbeiten. Die deutsche Arbeiterbewegung hat sich im internationalen Vergleich sehr früh von der liberaldemokratischen Linken abgespalten. Während in
Geschichte des sozialistischen Milieus
99
III.
Forschungsprobleme
Arbeitervereinskultur
Wandel der Arbeiterkulturen
100
England die Liberalen noch bis in die 1890er-Jahre die Interessen der Arbeiter mit vertraten und die 1893 gegründete Labour Party erst nach 1900 zur Massenpartei anwuchs, wurde in Deutschland die Arbeiterpartei schon zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt der Industrialisierung zu einer selbständigen Kraft. Als die Liberalen seit 1866 auf den Nationalstaat lossteuerten, dafür Kompromisse mit den Konservativen und den alten Eliten machten und die soziale Revolution als Lösung der sozialen, der nationalen und der demokratischen Frage endgültig ad acta legten, rissen die Verbindungen zur Arbeiterschaft. Die organisierte Arbeiterbewegung ist dann als eine Ansammlung von „Reichsfeinden“ verteufelt und durch das Sozialistengesetz 1878–1890 in die Illegalität gezwungen worden. Nach dem Ende des Sozialistengesetzes entfaltete sich schnell ein dichtes kulturell orientiertes Vereinsnetz. Die „Partei schafft eine eigene Lebenswelt und Kultur der Arbeiterbewegung, darin sind ihre aktiveren Anhänger in all ihren Lebensbezügen integriert, daraus lebt die Partei, auch und gerade in ihrer politischen Existenz“ (47, Bd. 2, S. 554). Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte die SPD mehr als eine Million Mitglieder, die parteinahen Freien Gewerkschaften 2,5 Millionen, die Konsumvereine 1,4 Millionen. „In Arbeiterchören, Arbeitersportvereinen und Arbeiterjugendgruppen waren Hunderttausende von weiteren Sympathisanten organisiert“ (394, S. 22). Jenseits dieser allgemeinen Beobachtungen erwiesen sich die Arbeiterkultur und ihr Verhältnis zur Arbeiterpolitik als ziemlich komplexe Phänomene. Die Forschung konzentrierte sich in den 1970er-Jahren auf die Vorfeldorganisationen der Sozialdemokratie: die Unterstützungs- und Bildungsvereine, die Freizeit- und Turnvereine usw. (410) Dabei wurden mehrere Differenzierungen notwendig. Erstens erfasste die Arbeitervereinskultur Teile der Arbeiterschaft überhaupt nicht. Vor allem die katholischen, aber auch einige protestantische kirchentreue Arbeiter sowie nichtdeutschsprachige Immigranten (Polen, Masuren) organisierten sich eigenständig und blieben der Lebenswelt und Kultur der Arbeiterbewegung fern. Zweitens waren auch Teile der Arbeiterschaft, die ‘eigentlich’ nach Sozialstruktur und Konfession zur Klientel der Sozialdemokratie gehörten, nur schwer zu organisieren. Es gab, so Wolfgang Kaschuba, den „weniger in den Wertehorizont institutioneller Politik integrierten und unangepassten ‘rauen Arbeiter’, der zudem häufig nicht aus dem traditionellen Arbeitermilieu kommt“ (356, S. 125; vgl. 374). Er fügte sich nur schwer in die Regeln dauerhafter lokaler Vergesellschaftungsformen und erkannte die Leitlinien nicht an, die die aus Arbeiterpartei und Gewerkschaftsbewegung erwachsenen Eliten vorgaben. Drittens entwickelte sich das Vereinsnetz regional sehr unterschiedlich. Während sich im heute zu Hamburg gehörenden Harburg und in Berlin dichte Milieustrukturen entwickelten, war für das rheinisch-westfälische Ruhrgebiet eine Vielfalt von unterschiedlich organisierten und nur teilweise sozialdemokratisch geprägten Arbeitermilieus kennzeichnend (387). Viertens war das Verhältnis der sozialdemokratischen Partei zu diesen Vereinen keineswegs ungetrübt, sondern lange von der Angst geprägt, organisierte Arbeitersänger, Arbeiterturner oder Arbeiterkleingärtner seien für die Revolution verloren. Neben solchen Differenzierungen standen von Anfang an die Wandlungen der Arbeiterkulturen im Modernisierungsprozess zur Debatte. Im
Sozialmoralische Milieus Anschluss vor allem an die bahnbrechenden Arbeiten des englischen Sozialhistorikers E. P. Thompson (400) wurde nach den Zusammenhängen zwischen vorindustriellen Unterschichtkulturen und der industriellen Arbeiterkultur gefragt. Wann und wie wurden vorindustrielle Sozialkulturen und politische Artikulationsformen überformt? Was war wirklich neu? Weiter: Wie verhielt sich die Arbeiterkultur zur modernen Massenkultur? Läuteten Fußball und Kino den Untergang der eigenständigen Arbeiterkulturen ein oder gelang es, sie in das Vereins- und Organisationsnetz zu integrieren? Seit den 1980er-Jahren hat sich das Forschungsinteresse einerseits stärker sozialen Räumen zugewandt. Lokal- und regionalgeschichtliche Studien nahmen zu (399; 412; 340; 341; 337; 382). Mentalitäts- und geschlechtergeschichtliche Fragestellungen wurden integriert. 1992 wurde ein Sammelband zur Arbeiterkultur im Ruhrgebiet bezeichnenderweise „Kirmes – Kneipe – Kino“ (357) benannt. Der doch auch einengende Blick von der sozialistischen Arbeiterbewegung aus ist aufgebrochen worden. Andererseits wurde auch nach der je lokalen und regionalen Vermittlung zwischen soziokulturellen Vergesellschaftungsformen und politischem Handeln gefragt. Vor allem seit der Öffnung der DDR-Archive ist dabei Sachsen als das Musterbeispiel einer sozialdemokratisch eingefärbten Region in den Vordergrund getreten (348; 391; 350). Das Verhältnis der Arbeiterbewegung zum politischen System ist von Dieter Groh mit dem Begriff der „Negativen Integration“ (349) umschrieben worden. Einerseits stabilisierten und dramatisierten die Organisationen der Arbeiterbewegung die Trennlinie zur übrigen Gesellschaft, wie auch umgekehrt die bürgerlichen Parteien und Regierungen am Stigma der „Reichsfeinde“ festhielten. Andererseits integrierten die Organisationen der Arbeiterbewegung ihre Klientel durch die homogenisierenden und disziplinierenden Effekte der Subkultur auch in das System des Kaiserreichs. Das Leben in dichten subkulturellen Bezügen machte, so Thomas Nipperdey, die Ausgrenzung erträglicher und hatte „insoweit paradoxerweise einen eigenen gesamtgesellschaftlichen Integrationseffekt (…) Das war die Dialektik der Integrationspartei. Sie integrierte in der Nation, in die Nation.“ (47, Bd. 2, S. 563) Der Begriff „Negative Integration“ ist dann als zu schematisch kritisiert worden. Die Trennlinien zwischen sozialdemokratischer Arbeiterkultur, ‘rauer’ Unterschichtenkultur und bürgerlicher Kultur waren unschärfer als der Begriff anzeigt. Das haben vor allem alltagsgeschichtliche Studien gezeigt. Es gab klassenübergreifend integrierende Institutionen wie Schule und Militärdienst. Und auch die in den Kulturorganisationen der Sozialdemokratie vermittelten Inhalte erwiesen sich oft nicht als gegenkulturell, sondern entweder als liberal-fortschrittliches Kulturgut (360) oder auch als Bestandteil moderner Massenkultur (populäre Literatur, Kino, Sport). In den 1990er-Jahren sind die außerordentlich vielseitigen Forschungen zur Arbeiterkultur mittels einer Forschungskontroverse noch einmal mit dem Milieukonzept von M. Rainer Lepsius verbunden worden. Herausgefordert wurde der von Gerhard A. Ritter bereits 1979 formulierte Forschungskonsens, dass „die Arbeiterkultur als eine eigenständige Kultur im Rahmen der Gesamtgesellschaft … ihren historischen Höhepunkt in
III.
Lokal- und regionalgeschichtliche Studien
„Negative Integration“ (Dieter Groh)
Höhepunkt der Arbeiterkultur vor 1914 oder Blütezeit der Milieus in den 1920er-Jahren
101
III.
Forschungsprobleme
Milieus und Demokratisierung
Deutschland in den Jahrzehnten vor 1914“ hatte. Für die Weimarer Zeit wurde ein „Bedeutungsverlust“, für die Bundesrepublik „ihr nahezu völliges Aufgehen in der Gesamtkultur der Gesellschaft“ (386, S. 7) konstatiert. Als Gründe für den Niedergang hat Heinrich August Winkler den Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, das Ende der Defensivposition durch den Einfluss der SPD auf die Staatsmacht sowie die Klassengrenzen verwischenden Effekte der neuen Massenkultur angeführt (409, S. 122). Eine Göttinger Forschungsgruppe um Peter Lösche und Franz Walter arbeitete nun die „Organisationskultur der Sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik“ (365; 363) empirisch auf und kam zu dem Ergebnis, dass die 1920er-Jahre die „Blütezeit der Milieus“ (403) gewesen seien. Nun erst sei das Organisationsnetz wirklich umfassend gewesen, nun erst eine Integration „von der Wiege bis zur Bahre“ möglich geworden, nun erst habe sich die gegenkulturelle Qualität des sozialdemokratischen Milieus voll ausgebildet. Dagegen mahnten Vertreter der Kaiserreichthese, sich von den großen Zahlen nachrangiger Organisationen nicht blenden zu lassen, die qualitativen Veränderungen der Weimarer Zeit ernster zu nehmen und die Brüche innerhalb der sozialdemokratischen Vorfeldorganisationen sowie ihre Öffnung hin zur Gesellschaft nicht auszublenden (411). Was Klaus Tenfelde als ein „wenig ertragreiche[r] Streit“ (398) erschien, hat für das Verständnis der Milieus wie für das der Sozialdemokratie erhebliche Konsequenzen. Vertreter der frühen Datierung bewerten die Milieus – hier an Lepsius erinnernd – letztlich negativ. Die kulturelle Fragmentierung habe die Weimarer Republik entscheidend geschwächt. Franz Walter und andere Vertreter der späten Datierung hingegen werten die Milieus viel positiver. Gerade die geschlossenen Milieus hätten sich am Ende der Weimarer Republik den Nationalsozialisten verweigert. Und zuvor hätten gerade sie den politischen Eliten Weimars Spielraum für das politische Alltagsgeschäft geboten, weil ihre Wahlentscheidung nicht durch Tagesinteressen geprägt gewesen sei. Die fluktuierenden Wählerschichten hätten die Politiker viel mehr zur Kurzsichtigkeit verführt. „Das katholische und das sozialdemokratische Milieu waren stabilisierende Elemente für ihre Parteien und für die Institution der Weimarer und der Bonner Republik. Es kann sein, dass man diesen stabilisierenden Kräften noch nachtrauern wird.“ (403, S. 493)
d) Das katholische Milieu Forschungsgeschichte bis zu den 1980er-Jahren
102
Die Katholizismusforschung hat sich für Lepsius’ Aufsatz beinahe zwanzig Jahre lang nicht wirklich interessiert. Der Begriff wurde im positiven Sinn verwendet, um die klassen- und schichtenübergreifende Natur der Zentrumspartei benennen zu können, die daher ausgleichend und letztlich demokratiefördernd habe wirken können (329). Eine Auseinandersetzung mit dem bei Lepsius gemeinten Begriffsgehalt unterblieb. Seit Mitte der 1980er-Jahre änderte sich die Lage schnell. Eine neue Forschergeneration beschäftigte sich geradezu hingebungsvoll mit dem Milieubegriff und trieb
Sozialmoralische Milieus seine konzeptionelle Weiterentwicklung voran. Dabei gerieten allerdings der Parteien- und Milieuvergleich sowie die an Amery anschließende kritische Pointe von Lepsius etwas aus dem Blick. Diese eigenartige Rezeptionsgeschichte hängt mit der Entwicklung der Geschichtsschreibung zum Katholizismus insgesamt zusammen. Katholizismusforschung war, wie im Anschluss an Wolfgang Schieder häufig beklagt worden ist, über lange Strecken des 20. Jahrhunderts eine Domäne einerseits der Kirchenhistoriker, andererseits der Politikgeschichtler (393). Der Aufbruch der politischen Sozialgeschichte seit den späten 1960er-Jahren hinterließ keine Spuren, und es ist schwer zu sagen, ob das Desinteresse der jungen Sozialhistoriker oder das der Katholizismushistoriker dafür mehr verantwortlich zu machen ist. Infolgedessen leistete die Katholizismusforschung Beeindruckendes im Bereich der Quellenerschließung, der historischen Biographik, der Institutionengeschichte und der Konfliktgeschichte zwischen Kirche und Staat. Sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragen blieben ihr aber fremd. Das änderte sich Mitte der 1980er-Jahre, als einerseits die Sozialgeschichte die kulturelle Prägung des Sozialen entdeckte, andererseits die Politikgeschichte nach der kulturellen und mentalitätsmäßigen Verankerung des Politischen zu fragen begann. Für beide war Lepsius’ Milieubegriff das Mittel, um Jahrzehnte alte Perspektivverengungen aufzubrechen. Das zeigte sich erstmals im Streit um Wilfried Loths Habilitationsschrift „Katholiken im Kaiserreich“ (370). Wilfried Loth war nicht der Erste, der jenseits der eingefahrenen Bahnen Katholizismusgeschichte zu schreiben versuchte (416; 326; 336). Wegen seines für die Katholizismus- und für die Kaiserreichforschung zentralen Themas und wegen seiner eigenartigen Verwendung des Milieubegriffs wurde sein Buch aber zum Zankapfel. Loth hatte die Zentrumspolitik der Wilhelminische Zeit untersucht und sie als Resultat des Mit- und Gegeneinanders von vier Kräften innerhalb der insgesamt klassen- und schichtenübergreifenden katholischen Partei verstanden: erstens der konservativen Kräfte der katholischen Aristokratie und der kirchlichen Hierarchie, zweitens der populistischen Kräfte des traditionellen Mittelstandes, drittens der Arbeiterbewegung und viertens der bürgerlichen Kräfte. Seine Analyse fasste er in abgewandelten Lepsiusschen Termini zusammen: Der politische Katholizismus sei „eine Koalition von im Wandel befindlichen Sozialmilieus, die sich aufgrund gemeinsamer Werte und/oder Interessen gegen den auf den staatlichen Bereich übergreifenden Säkularisierungsprozess mobilisieren ließ“. Ein Sozialmilieu aber sei „eine soziale Einheit …, die sich durch eine relativ gleichartige Form materieller Subsistenzbegründung und zugleich durch ein Bündel gemeinsamer Werthaltungen, kultureller Deutungsangebote, politischer Regeln, historischer Traditionen und lebenspraktischer Erfahrungen von anderen Einheiten unterscheidet“ (370, S. 35; vgl. 369). Nicht der politische Katholizismus, sondern seine über ökonomische Interessen definierbaren Bestandteile bildeten bei Loth die Sozialmilieus. Das Zentrum aber war mehr als ein Aktionsausschuss, weil es die Integration der verschiedenen Milieus innerhalb einer politischen Bewegung leisten musste und – wie Loth zeigte – nur noch mit stetig abnehmendem Erfolg leistete. Damit wurde die Grundidee von Lepsius – das deutsche Par-
III.
Wilfried Loth
Kritik an der Milieukoalitionstheorie
103
III.
Forschungsprobleme
Forschungen seit den 1980er-Jahren
Definition katholischer Milieus
Gründungsphasen
104
teiensystem als krisenträchtig, weil Sozialmilieus verhaftet – in eine der Parteien, nämlich das Zentrum, gewissermaßen hineingebaut. Das hatte eine gründliche und kritische Analyse der Zentrumspolitik zur Folge – das missfiel der überkommenen Katholizismusgeschichte, die am Bild vom einigen katholischen Deutschland festhalten wollte. Es schwächte aber gleichzeitig die gesamtgesellschaftliche (Kritik des Parteiensystems) wie die religionssoziologische (sozialmoralische Milieus als schichten- und klassenübergreifende Generatoren von Politik) Perspektive – das missfiel den Mentalitätshistorikern. Beide freilich mussten auf die durch Loths eigentümliche Lepsius-Rezeption gestellten Fragen eine Antwort erst noch suchen: Wenn es „das katholische Milieu“ wirklich gab – und nicht nur die von Loth skizzierte lockere Koalition von Milieus –, wodurch war es dann konstituiert? Wann war es entstanden? Wie hatte es sich entwickelt? Wie ließ sich das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Formierung und politischem Handeln beschreiben? Die Forderung des Schweizer Historikers Urs Altermatt, „die Geschichte des Katholizismus von unten und von innen“ (324, S. 28) zu untersuchen, gewann angesichts dieser Diskussionslage an Attraktivität. Katholische Regionen (Überblick in 328) und Institutionen (351; 376; 375; 346), soziale Formationen (371) und religiöse Inhalte (342; 339; 332) sind zum Thema geworden. Die Zahl der Sammelbände nimmt zu (368; 392; 333; 355). Hatte es in den 1980er-Jahren noch geheißen, die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Katholizismus sei weitgehend unbekannt, so wird mittlerweile geklagt, angesichts der Vielzahl der Veröffentlichungen könne man den Überblick nicht mehr behalten (Überblick in 367). Die Forschungen haben die Diskussion um das katholische Milieu auf eine neue Grundlage gestellt. Es besteht Einvernehmen darüber, dass der Katholizismus des Kaiserreichs weder als das bei Lepsius gezeichnete statische Milieu noch als die Lothsche bloße Koalition von Milieus beschrieben werden kann. Vielmehr sind auf der Grundlage einer genaueren Definition vor allem chronologische und regionale Differenzierungen einzufügen. Katholische Milieus bildeten sich, so Werner Blessing, als „Reaktion auf den Abbau ständisch-korporativ-traditionaler Ordnungen, auf die ‘Modernisierung’“ (335, S. 734; vgl. 327). Sie stellen eine defensive Gegenkultur gegen die Zumutungen des Modernisierungsprozesses (Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung, Bürokratisierung etc.) dar, wehren sich aber ihrerseits mit modernen Mitteln (Bildung von Vereinen und Verbänden, Herausgabe von Druckschriften, Massenmobilisierung etc.). Milieus führen die Welterfahrung eines Ortes mit der Weltdeutung einer Elite zusammen, vermitteln somit Ideen und Interessen. Milieus bilden Identität, bieten Orientierung und strukturieren soziale Kontakte. Mit der weiteren Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhunderts haben sie ihre Integrationskraft wieder verloren – bis hin zum Funktionsverlust. Katholische Milieus haben sich daher innerhalb Deutschlands zu unterschiedlichen Zeiten ausgeprägt, abhängig vom Einsetzen des Modernisierungsprozesses, seiner Ausprägung und seiner Wucht. Ein in Münster beheimateter „Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte“ hat dies beispielhaft beschrieben (328). Als Abwehr gegen die katholizismusfeindlichen Bestrebungen einer aufgezwungenen Herrschaft hat die Geschichte des katho-
Sozialmoralische Milieus lischen Milieus im heute niedersächsischen Emsland bereits im 18. Jahrhundert begonnen. Im Bistum Münster ist das katholische Milieu ein Produkt der Auseinandersetzungen zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche seit den 1830er-Jahren. Im Ruhrgebiet hingegen schlossen Kulturkampf und Industrialisierung gemeinsam erst in den 1870er-Jahren die katholischen Arbeiter zu einem sozialkulturellen Milieu zusammen. Die Milieus mit einer vorindustriellen Geschichte erwiesen sich nach dem Abflauen des Kulturkampfes als besonders dauerhaft, während die mit einer kurzen Mobilisierungsgeschichte eher dazu tendierten, wieder zu zerfallen (406). Nicht alle Katholiken waren während des Kaiserreichs über Milieus integriert. Wo der Katholizismus die unangefochtene Mehrheitskultur war, konnte er Religion bleiben, ohne das politische Handeln ganz zu formen. Dies galt etwa für die Bistümer Passau und Freising. In Berlin und Nürnberg hingegen, wo Katholiken extrem marginalisiert waren, blieben die kirchlichen Bindungen zu schwach, als dass sie ein sozialkulturelles Milieu hätten unterlegen können. Auch bei solchen Differenzierungen zwischen religiös traditionellen Mehrheitskulturen, defensiven sozialkulturellen Milieus und nichtkirchlichen Gebieten treten aber Ausnahmefälle hervor, die auf die von der Wahlforschung bereits betonte Rolle von Eliten verweisen. Eine soziale, politische oder religiöse Spannungslinie („cleavage“) führte nur zur Milieubildung, wenn sie kulturell gedeutet und politisch ausgebeutet wurde. Auch unter ungünstigen Rahmenbedingungen konnten Milieus entstehen, auch unter günstigen ihre Bildung unterbleiben. Das eine katholische Milieu, von dem Lepsius 1966 sprach, hat nie existiert. Aber auch der Alternativvorschlag Loths, von mehreren ökonomisch zu umschreibenden Milieus auszugehen, die im Zentrum als einer Art katholischer politischer Bewegung zusammengeschlossen waren, hat sich nicht durchsetzen können. Der Katholizismus bildete ein mentalitätsprägendes Deutungsmuster für völlig unterschiedlich strukturierte regionale Formationen, die im Zentrum ihre politische Vertretung sahen. Diese regionalen Formationen waren nur teilweise in Abwehr der Zumutungen des Modernisierungsprozesses zu soziokulturellen Milieus zusammengeschmolzen worden. Wo dies geschah, entstanden Wählerhochburgen des Zentrums, die noch bis in die Bundesrepublik fortlebten. Wo das nicht geschah, waren die Wahlausgänge ungewiss, auch wenn das Zentrum im Kaiserreich über die meisten ‘sicheren’ Wahlkreise verfügte. Auch die katholischen Milieus aber waren, das haben die Regional-, Mentalitäts-, Institutionen- und Sozialformationsstudien gezeigt, erstens intern sehr unterschiedlich strukturiert, und zweitens gab es in ihnen mehr historische Entwicklung, mehr Aufbruch und Veränderung, als die Rede von dem katholischen Milieu vermuten lässt.
III.
Reichweite der Milieubindung
e) Milieus im nationalen Lager „Jede Milieubildung bedeutet der Tendenz nach stets auch so etwas wie eine Selbstausgrenzung aus der allgemeinen Staatsbürgergesellschaft, wobei man … lange darüber streiten kann, in welchem Maße diese Selbst-
Nationale Milieus?
105
III.
Forschungsprobleme
Elemente von Milieubildung
Begriffliche Differenzierungen (O. Blaschke und F. M. Kuhlemann)
106
ausgrenzung freiwillig oder erzwungen war.“ (390, S. 91) Selbst bei den durch Kulturkampf bzw. Sozialistengesetz ausgegrenzten Katholiken und Sozialisten ist, wie oben gezeigt, ein ganz einheitliches Milieu aber nicht entstanden. Um wie viel weniger galt dies für die Protestanten, für die Bürger, für die Liberalen und die Konservativen, die sich als die Träger der Nation und des Reiches sahen. Ihre Milieus blieben regional und sozial gebrochen, waren subkulturell schwächer unterlegt, banden nicht oder doch nur teilweise die politischen Parteien, die sich ihrer bedienten. Karl Rohe hat daher, wie auf S. 99 beschrieben, für die Wahlforschung drei Lager unterschieden, die jeweils mehrere Milieus beinhalten können. Das ist in Bezug auf das Konservative und Liberale umfassende nationale Lager vielfach kritisiert worden, weil es in sich zu heterogen gewesen sei. In der Forschung herrscht jedoch keine Einigkeit darüber, wie ein liberalprotestantisches und ein konservatives Milieu im Anschluss an Lepsius beschrieben werden soll. Einschlägige Studien gibt es seit den 1980er-Jahren, methodisch vielfach anschließend an die Studien zu Sozialdemokratie und Katholizismus. Sie zeigen auf lokaler bzw. regionaler Ebene oder im Zusammenhang mit intellektuellen oder sonst wie gearteten Zirkeln gemeinsame Lebensweisen und eine sie stützende, institutionalisierte Deutungskultur im protestantisch geprägten Teil Deutschlands (353; 135; 333; 330; 385). Sie weisen auf Vereins- und Verbandsnetze hin, die Sozial- und Deutungskultur sicherten und auf Dauer stellten. Oft wird auch der von Lepsius skizzierte Zusammenhang zwischen diesen soziokulturellen Milieus und (Partei-)Politik deutlich. Doch die lokalen und regionalen Befunde erzeugen erstens nicht das Bild einer den katholischen oder sozialistischen Vergesellschaftungsformen vergleichbaren Dichte und lassen sich zweitens nicht auf Reichsebene verallgemeinern und zu dem liberalen oder konservativen Milieu generalisieren, dass nötig wäre, um das Lepsius-Argument vom Zusammenhang zwischen Sozialstruktur, Parteiensystem und dem deutschen Demokratisierungsdefizit zu stützen. Es entsteht ein Bild bunter Vielfalt, das nicht zu den von Lepsius skizzierten vier „politisch mobilisierten Gesinnungsgemeinschaften“ (362, S. 32) passen mag. Einige Autoren argumentieren, dass sich für die Weimarer Republik, als Konservativismus und Protestantismus sich in die Defensive gedrängt fühlten, stärkere Milieustrukturen nachweisen lassen (338; 354; 364). Olaf Blaschke und Frank Michael Kuhlemann haben angesichts der unübersehbaren Schwierigkeiten vor allem jenseits von Katholizismus und Sozialismus Differenzierungen vorgeschlagen, um den Milieubegriff als geschichtswissenschaftliches Konzept nutzen zu können. Sie unterscheiden erstens nach regionaler Ausdehnung (Makro-, Meso- und Mikromilieus), zweitens nach Teilmilieus innerhalb der verschiedenen räumlichen Milieuebenen und drittens innerhalb jedes Milieus nach konzentrischen Kreisen mit nach außen abnehmender Verbindlichkeit (334). Ein derartiges Instrumentarium ist religionssoziologisch und kulturgeschichtlich genauer. Es büßt aber, gibt Jonathan Sperber zu bedenken, die für die Verbindung von Politikanalyse und Gesellschaftsstruktur bzw. Sozialkultur entscheidende kritische Pointe von Lepsius’ im Hinblick auf die deutsche Demokratieverfehlung insgesamt ein (396).
Sozialmoralische Milieus
III.
f) Sozialmoralische Milieus? Das Konzept der sozialmoralischen Milieus kann auch mehr als fünfunddreißig Jahre nach seiner Erfindung nicht verabschiedet werden. Das zeigt die fortdauernde Debatte in den verschiedenen Anwendungsbereichen. Gegenüber den 1960er-Jahren, als M. Rainer Lepsius Theoreme amerikanischer Politik- und Sozialwissenschaftler mit dem kirchenkritisch gemeinten Milieubegriff von Carl Amery kreuzte, um eine Begründung für das deutsche Demokratiedefizit zu gewinnen, haben sich freilich wesentliche Veränderungen ergeben, die abschließend zusammengefasst werden sollen. Als Argument für das Scheitern der Weimarer Demokratie hat sich das Milieukonzept nicht allgemein durchsetzen können. Zwar klingt in den Auseinandersetzungen um Höhepunkt und Zerfall des sozialdemokratischen Milieus das Argument der 1960er-Jahre noch einmal an. Allgemeine Anerkennung hat es jedoch nicht gefunden. Dies liegt zum einen daran, dass die Milieus heterogener und entwicklungsfähiger waren, als Lepsius sie eingeschätzt hat. Das gilt selbst für die beiden noch am ehesten seinen Vorstellungen entsprechenden Fälle, für das sozialistische und das katholische Milieu. Liberale und konservative Parteien waren noch vielfältiger und bunter in lokale und regionale Vergesellschaftungszusammenhänge verwoben, die sich nicht als relativ einheitliche politisch mobilisierte Gesinnungsgemeinschaften beschreiben lassen. Zum anderen waren die deutschen Parteien mehr als Aktionsausschüsse ihrer Milieus. Das Milieukonzept bedarf der Ergänzung durch eine Elitentheorie. Politische Eliten deuten gesellschaftliche Spannungen, nutzen Konfliktpotential, spielen Interessengruppen gegeneinander aus, ohne freilich ganz autonom und unabhängig zu sein. Bei diesen Kritikpunkten sollten nicht die wichtigen Leistungen des Konzepts vergessen werden, die seine fortdauernde Attraktivität bedingen. Es verknüpft die politische und mit der sozialkulturellen Ebene. Es lenkt den Blick auf kulturelle und auf regionale Bedingungen politischen Handelns, ohne die ökonomischen Faktoren zu vernachlässigen. Es regt Parteienvergleiche an. Die deutschen Parteien sind, so Thomas Nipperdey, im Kaiserreich „mehr als anderswo das [geblieben], was sie ihrer Herkunft nach waren, Ideen- und Weltanschauungsparteien.“ (47, Bd. 2, S. 572) Sie ruhen auf tief sitzenden, durch Religion und Konfession grundierten kulturellen Grundlagen. Sie sind in besonderem Maße regionalen Kulturen verhaftet, deren Färbung sich auf die nationalen politischen Prozesse auswirkt. Nur in der Verbindung von politischer Systemanalyse, politischer Kulturforschung und regionaler, ja lokaler Untersuchung der kulturellen, sozialen und ökonomischen Bedingungen von Milieubildung und Milieuerhaltung lassen sich die Mechanismen des deutschen Parteiensystems und seine Geschichte erkennen. Weil das Milieukonzept durch seine begriffliche Weite diese verschiedenen Bestandteile integrieren kann, hat es sich mit jeder der seit den 1960er-Jahren einander folgenden Schwerpunktsetzungen in der deut-
Veränderungen des LepsiusKonzepts
Bleibende Leistungen des Konzepts
107
III.
Forschungsprobleme schen Geschichtswissenschaft verbinden können. Die Anschlussfähigkeit für viele Forschungsrichtungen, gleichzeitig aber die Fähigkeit, alle diese Schwerpunktsetzungen an die Politikgeschichte als dem in Deutschland lange dominierenden Gegenstand anzudocken, dürften für die eingangs angesprochene Inselstellung des Lepsius-Aufsatzes im Meer der Publikationen der deutschen Geschichtswissenschaft verantwortlich sein.
8. Wie modern war das Wilhelminische Reich? Höhepunkt der Auseinandersetzung
„Mythen deutscher Geschichtsschreibung“ (D. Blackbourn/ G. Eley)
Hans-Ulrich Wehler muss wütend gewesen sein. „Profilierungshungrig“ sei Geoff Eley, und „mit einem erklecklichen Fundus der sprichwörtlich ewig besserwisserischen, altertümlichen englischen Arroganz ausgestattet“. Sein Aufsatz beginne mit einem „Rundum-Kahlschlag“, und trage dann mit „unbeirrter Heilsgewissheit“ einen „öden Schematismus“ vor. „Krasse (…) Fehlurteile, die in der Universität des 19. Jahrhunderts noch offenherzig Banausentum genannt wurden, gibt es zuhauf.“ (463) Eine inhaltliche Auseinandersetzung konnte wohl deshalb unterbleiben. Als der Gescholtene antwortete, er wisse nicht, was er von solch „ungezügelter Polemik“ halten solle (421), gab Wehler zurück, man habe mit Eley wohl wegen seiner Jugend zu viel Geduld gehabt. „Jetzt wird ihm allerdings nach hinreichender Schonzeit Contra gegeben.“ (464; vgl. 453; 465) Robert G. Moeller fragte ironisch, ob sich Geschichte wiederhole und der deutsch-englische Seerüstungswettlauf der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg mit anderen Mitteln fortgesetzt werden solle (446). Wo derart rücksichtslos gestritten wurde, musste der Einsatz hoch sein. Die Kontroverse wurde 1981 in der Zeitschrift „Merkur“ ausgetragen. Ihr lag eine von Eley gemeinsam mit David Blackbourn 1980 veröffentlichte Streitschrift „Mythen deutscher Geschichtsschreibung“ zugrunde. Jeder der Autoren hatte einen Aufsatz in dem Büchlein verfasst. Doch der weniger polemisch und stärker kulturgeschichtlich ausgerichtete Artikel von Blackbourn (417) zog weniger Kritik auf sich als Eleys Essay über „Sonderweg und englisches Vorbild“ (426). Erst vier Jahre nach der deutschen erschien eine englische Ausgabe (414), die in einer ausführlichen Einleitung die mittlerweile erschienene Kritik aufnahm und kommentierte.
a) Zweierlei Sozialgeschichte Englische Sozialgeschichte
108
Geoff Eley bildete mit David Blackbourn und Richard J. Evans die Spitze einer Gruppe englischer Historiker, die in den 1970er-Jahren zur deutschen Geschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu publizieren begann. Sie verstanden sich als linke Sozialhistoriker (427; 430; 424). Die Vertreter der deutschen „Historischen Sozialwissenschaft“ segelten unter der gleichen Flagge. Doch dahinter verbargen sich unterschiedliche Programme. Die englischen Sozialhistoriker begriffen sich als unorthodoxe Marxisten. Sie meinten eine Geschichte von unten und von innen, eine
Wie modern war das Wilhelminische Reich? Geschichte des Alltags und der kleinen Leute, eine Geschichte der Regionen, Städte und Dörfer, wenn sie Sozialgeschichte sagten. Politik wurde damit nicht ausgeklammert, sondern sollte als Interaktion zwischen Eliten und sozialen Gruppen mit ihren regionalen, sozialen und kulturellen Verankerungen neu verstanden werden. Wer sich auf politische Eliten konzentriere, stelle „nur das Geräusch einer klatschenden Hand dar“ (417, S. 128). Am Kaiserreich faszinierte sie der schnelle wirtschaftliche Aufstieg, die soziale und kulturelle Lebendigkeit und Vielfalt, das eigentümlich zwischen Repression und modernen Aktionsformen schwankende politische System. Dieser besonderen Ausprägung des industriegesellschaftlichen Kapitalismus wollten sie auf die Spur kommen. Das Wilhelminische Reich war daher ihr bevorzugtes Arbeitsfeld. Hans-Ulrich Wehler und die Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft hingegen untersuchten das Kaiserreich im Hinblick auf das kommende nationalsozialistische Unheil. Sie fragten „nach den eigentümlichen Belastungen der deutschen Geschichte“ und umschrieben das Syndrom von Eigenheiten mit dem Begriff „Deutscher Sonderweg“. Dabei konnte sie an eine Vorstellung grundlegender Gegensätze zwischen Deutschland und Westeuropa anknüpfen, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts ausgeprägt worden waren und, wie in der Einleitung gezeigt, besonders beim Aufbau von Selbst- und Feindbildern während des Ersten Weltkriegs eine große Rolle gespielt hatten (435; 2, S. 270–272; 16; 19). Nach 1945 wurden diese Bilder in der Politologie und Soziologie unter Aufnahme von Versatzstücken Max Webers verwissenschaftlicht und zur Interpretation der nationalsozialistischen Katastrophe umgewertet. Wehler und andere machten diese Ideen- und Theorienbündel für die deutsche Geschichtswissenschaft nutzbar. Im Einzelnen konstatierten sie eine Schwäche des Bürgertums und eine Übermacht der vorindustriellen Eliten, daraus folgend eine Blockierung von eigentlich anstehenden Fortschritten in Richtung Demokratie bei gleichzeitiger rasanter sozioökonomischer Entwicklung. „Eine partielle Modernisierung unter konservativer Ägide … um den Preis ungeheurer Disparitäten“ habe das „Gehäuse des Kaiserreichs“ (67, S. 11–18) schließlich gesprengt. Die Vorstellung, dass Deutschland eine von den westeuropäischen Demokratien abweichende Entwicklung („Sonderweg“) genommen habe, die in der Katastrophe des Nationalsozialismus endete, um dann nach 1945 durch Besatzung und Verwestlichung auf den Normalpfad der Modernisierung zurückgeführt zu werden, begünstigte die methodische Grundannahme, dass die Innenpolitik die Außenpolitik dominierte („Primat der Innenpolitik“) und nicht, wie in der deutschen Geschichtsschreibung bisher angenommen, umgekehrt. Diese Innenpolitik aber musste analysiert werden mithilfe von Theorieimporten aus den Sozialwissenschaften (Geschichte als „Historische Sozialwissenschaft“) und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und sozialen Verflechtungen (Geschichte als „Gesellschaftsgeschichte“). Die englischen Sozialhistoriker fanden nicht, dass das Sozialgeschichte sei. Eher hielten sie es für eine Fortsetzung der deutschen Politikgeschichte mit anderen und unglücklicherweise noch untauglichen Mitteln. Die Historische Sozialwissenschaft kämpfe zwar gegen deutsche politikgeschicht-
III.
Deutsche Historische Sozialwissenschaft
Englische Kritik
109
III.
Forschungsprobleme
Modernisierung und Demokratisierung
Fragwürdiger Sonderweg
Deutsche Reaktionen
110
liche Traditionen. Gerade deswegen aber bleibe sie auf deren Schlachtfeld und verkehre nur die Wertungen. Immer noch gehe es um eine Geschichte von oben, um eine Geschichte des Staates, um eine Geschichte, in der die Bevölkerung nur als Objekt von Elitenmanipulationen vorkomme (428). Das Ergebnis sei ein teils unvollständiges, teils falsches Bild des wilhelminischen Zeitalters. Dessen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Vielfalt und Explosivität komme kaum vor. Nicht die Belastung des kapitalistischen Kaiserreichs durch vorindustrielle Eliten sei das Hauptproblem, sondern die obsessive Beschäftigung deutscher Wissenschaftler von Max Weber über Eckart Kehr bis zu Hans-Ulrich Wehler mit dieser Idee (422). In Wahrheit existiere die Belastung gar nicht. Das Kaiserreich zeichne sich gerade durch die Modernität seiner Eliten aus – von den Agrarunternehmern bis zu den Schwerindustriellen. Nur seien Modernität und kapitalistische Effizienz nicht notwendig mit Demokratisierung und Partizipation verknüpft, wie die deutschen Sozialhistoriker in treuherziger Übernahme amerikanischer Modernisierungstheorien annähmen. Warum auch hätten sich die sozialen Gruppen einer im internationalen Vergleich außerordentlich schnell und tief greifend industrialisierten Gesellschaft von vorindustriellen Werten und Eliten manipulieren lassen sollen? Warum andererseits hätten die industriellen und agrarischen Eliten den Weg in Richtung Demokratie antreten sollen? Warum eigentlich sollte eine kapitalistische Bourgeoisie liberal sein? Konnten ihr nicht gerade die deutschen autoritären Verhältnisse angemessen erscheinen? Wer aber diese Gesellschaft und die in ihr stattfindende Politik verstehen wolle, der müsse eine Geschichte ihrer Kulturen, ihrer Alltagswelten, ihrer Geschlechterverhältnisse, ihrer Sozialbeziehungen, eine Geschichte aus den Regionen heraus schreiben. Nur so lasse sich die Wilhelminische Gesellschaft in der ihr eigenen Interaktion zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Eliten verstehen. In ihren Aufsätzen stellten Evans, Eley und Blackbourn beinahe alle Grundanliegen der deutschen Sozialhistoriker infrage. Von einem Sonderweg mochten sie nicht sprechen, weil erstens die Entwicklung der westlichen Demokratien nicht so rosig sei, wie die auf einem veralteten Forschungsstand basierenden amerikanischen Modernisierungstheorien vorgaukelten, und zweitens eine solche Perspektive die Eigenheit des Kaiserreichs nicht ernst nehme. Eine durch Schwäche des Bürgertums und Übermacht vorindustrieller Eliten hervorgerufene Blockade vermochten sie dementsprechend nicht zu entdecken. Vielmehr konstatierten sie eine spezifische Ausformung des bürgerlichen Kapitalismus, mithin nicht ein Defizit an, sondern eine Variante von Modernität. Gegen historische Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgeschichte hatten sie nichts einzuwenden, nur glaubten sie nicht, dass diese auf dem von Wehler eingeschlagenen Wege erreichbar sei. Die Theorieimporte der deutschen Sozialhistoriker seien wenig geeignet, das Wilhelminische Deutschland in den Blick zu bekommen. Von Gesellschaft sei bei der deutschen Sozialgeschichte der Politik wenig zu sehen. Die deutschen Reaktionen auf die Aufsätze der englischen Sozialhistoriker fallen erstens durch ihren Stil auf, von dem eingangs bereits eine Kostprobe gegeben wurde. Kein anderes Buch hat in der deutschen Geschichtswissenschaft dieser Jahre ähnlich böse Rezensionen bekommen wie die
Wie modern war das Wilhelminische Reich? „Mythen deutscher Geschichtsschreibung“ von Eley und Blackbourn. Es gab auch positive Besprechungen. Doch weil die aus dem Lager der – meist eher konservativen und sozialgeschichtskritischen – deutschen Sonderwegskritiker kamen, erbitterte das die Sozialhistoriker nur noch mehr. Freilich hatte vor allem Geoff Eley auch provozierend genug argumentiert, um nach der Fischer-Kontroverse „another civil war among German historians“ (Paul Kennedy) hervorzurufen. Angloamerikanische Rezensenten (etwa Paul Kennedy in JMH Bd. 54, 1982, S. 176–179; Robert G. Moeller in Internationale Schulbuchforschung Bd. 4, 1982, S. 71–80) schrieben in der Regel positiver, vor allem aber wesentlich gelassener als ihre aufgeregten deutschen Kollegen (hier aber abwägender 438 u. 439). Zweitens führten vor allem die Aufsätze Eleys zu einer Debatte über Selbst- und Fremdbeschreibungen der deutschen Sozialhistoriker. Eley nannte sie, anknüpfend an eine spezifischer gemeinte Begriffsprägung Wolfgang J. Mommsens, insgesamt die „Kehrites“ (447; 423; 454; vgl. 461), nach dem 1933 viel zu früh im Exil gestorbenen deutschen Historiker Eckhard Kehr. Weil der über die Flottenpolitik gearbeitet und den Begriff „Primat der Innenpolitik“ geprägt hatte, betonte „Kehrites“ im Sinne Eleys einerseits die Kontinuitäten zwischen der Weimarer Linken, den nach 1933 ins Exil gegangenen Historikern und der bundesdeutscher Sozialgeschichtsschreibung, andererseits die thematisch enge Schwerpunktsetzung. Richard J. Evans verwendete den von James J. Sheehan geprägten Begriff „New Orthodoxy“ (in JMH Bd. 48, 1976, S. 566–567). Der zielte auf das Gehabe der Sozialhistoriker und suggerierte, dass in Deutschland nach der Fischer-Kontroverse nur eine auf Vorherrschaft bedachte Historikergruppe mit begrenztem thematischem Horizont durch eine andere abgelöst worden war. Beide Begriffsprägungen erscheinen mit einigem zeitlichen Abstand als Kampfbegriffe von nur noch wissenschaftsgeschichtlichem Wert. Mit der zunehmenden Auffächerung des Untersuchungsfeldes der Sozialhistorie (vgl. dazu unten) ist es immer schwieriger geworden, erstens von einer Schule zu sprechen und zweitens diese durch einen inhaltlichen Begriff präzise zu bezeichnen. Charakteristischerweise ist in den 1980er-Jahren der vom Strukturhistoriker Werner Conze geprägte Begriff der „Sozialgeschichte in der Erweiterung“ (420) immer häufiger verwendet worden. Er verwies darauf, dass der neue Zugriff immer weitere Gebiete umfasste und immer neue Methodiken integrierte. „Insgesamt befindet sich die Sozialgeschichte immer noch in der quantitativen, thematischen und kategorialen Erweiterung“ schrieb Jürgen Kocka 1985. „Die Fortschritte können sich sehen lassen (…) Sehr viel bleibt zu tun.“ (167, S. 175 u. 176) Freilich sorgten Erweiterungen und Fortschritte auch für zunehmende Unklarheit der Selbst- und Fremdbeschreibungen. Die Reaktionen hatten drittens natürlich auch einen inhaltlichen Aspekt. Evans, Eley und Blackbourn hatten etwa zeitgleich mit den viel diskutierten Aufsätzen größere Forschungsarbeiten in Buchform publiziert (429; 425; 416). Richard J. Evans legte eine Studie über die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland vor (429). Das war ein Thema, dass den deutschen Sozialhistorikern der 1970er-Jahre denkbar fern lag. Evans wollte es jedoch benutzen, um Kultur und sozialen Verhältnissen von einem ganz anderen
III.
Sozialgeschichte in der Erweiterung
Frauenbewegung, Zentrumspartei, neue Rechte
111
III.
Forschungsprobleme
Nationalismus und Militarismus
Beobachtungspunkt aus näher zu kommen. David Blackbourn untersuchte die württembergische Zentrumspartei (416). Er wollte den Anspruch einer kulturorientierten Geschichte von unten und innen einlösen, die dennoch – oder gerade deswegen – eine politische Geschichte sein konnte. Geoff Eley kümmerte sich um die neue Rechte im Wilhelminischen Reich (425). Sein Buch war das umstrittenste von den dreien, einerseits, weil Eley mit seinen Aufsätzen am stärksten polarisierend gewirkt hatte, andererseits weil sein Buch ins Zentrum der Sonderwegsdebatten zielte: der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs und der Rolle, die Militarismus, Nationalismus und die einschlägigen Verbände dabei gespielt hatten. Dementsprechend wurde es zunächst von den deutschen Sozialhistorikern sehr kritisch aufgenommen, bis hin zu dem Verdikt Heinrich August Winklers, dieses Buch sei der Testfall dafür, ob ein Historiker „can get away with bluff“ (in: JMH Bd. 54, 1982, 176). Eley behauptete, Traditionen der englischen Sozialgeschichtsschreibung auf sein Forschungsfeld übertragend, dass Nationalismus und Militarismus seit den 1890er-Jahren weniger ein Produkt manipulativer Politik von oben als vielmehr das Resultat der Selbstorganisation sozialer Interessen von unten gewesen seien. Mehr und mehr hätten sich vor allem kleinbürgerliche Schichten von den Honoratiorenpolitikern der Bismarck-Zeit entfremdet. Sie hätten sich selbst von der Basis her organisiert, vor allem mittels der nationalen Verbände: Kolonialgesellschaft, Ostmarkenverein, Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, Bund der Landwirte, Alldeutscher Verband, Flottenverein. Auch wenn manche dieser Vereine und Verbände als elitengesteuerte Organisationen ins Leben getreten seien, so hätten sie sich doch der Kontrolle durch Eliten mehr und mehr entzogen, ja sich partiell gegen sie gewendet. Diese neue Rechte habe den deutschen Nationalismus wesentlich geformt. Wer sie wie Wehler und andere als Transmissionsriemen obrigkeitlicher Intentionen verstehe, dem entgehe die eigendynamische Kraft der Verbände, die Regierung und Eliten mehr und mehr zu schaffen machte. „Im Gegensatz zu Wehlers ‘geschlossener’ Interpretation, die alle Aspekte sozialen und politischen Lebens primär unter dem Blickwinkel der Erhaltung des politischen Systems deutet, ermöglicht die ‘offene’ Interpretation Eleys die Suche nach Alternativen, nach den Elementen politischer Dynamik, Irritation oder sogar Bedrohung des Systems.“ (445, S. 374) So urteilte Wolfgang Mock in der Historischen Zeitschrift. Er räumte freilich auch ein, und auf diese Beobachtung hatte Winkler sein böses „bluff“-Verdikt gestützt, dass die empirischen Befunde Eleys sich nicht überall mit seinen weit reichenden Thesen vereinbaren ließen.
b) „Klassische Moderne“ Zweierlei Militarismus (Stig Förster)
112
In den folgenden Jahren hat sich die Forschung intensiv an den Fragen abgearbeitet, die durch den Konflikt der beiden Sozialgeschichten aufgeworfen worden waren. Die einzelnen Verbände sind genauer untersucht, Nationalismus und Militarismus in den Blick genommen worden. Stig Förster
Wie modern war das Wilhelminische Reich? hat vorgeschlagen, einen konservativen Militarismus der alten Eliten von einem bürgerlichen Militarismus des kleinen und mittleren Bürgertums zu unterscheiden (431). Damit wurde aus der von Wehler und Eley aufgebauten Wahl zwischen Alternativen ein Sowohl-als-auch. Die Dynamik der Politik im Wilhelminischen Reich ergab sich in dieser Perspektive aus den Wechselwirkungen zwischen Manipulation von oben und gesellschaftlichen Selbstorganisationsprozessen von unten. Die Fundamentalpolitisierung der zweiten Hälfte des Kaiserreichs, die durch das allgemeine Reichstagswahlrecht hervorgerufen worden war und in hohen Wahlbeteiligungen, andauerndem politischen Interesse und dem Einfluss von Vereinen und Verbänden auf die Politik zum Ausdruck kam, hatte ein immer weiteres Ausgreifen der Politik in die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse zur Folge. Das förderte und veränderte linke wie rechte, demokratische wie illiberal-nationalistische Vereinigungen. Sie alle aber hatten mit dem langen Arm des Staates und mit den Verlockungen der Parteien und ihrer Eliten zu rechnen, nutzten sie auch. Insofern hilft nur eine gleichzeitige Beobachtung des Handelns der Eliten und der Neuaufbrüche von unten – die keinesfalls in Richtung Emanzipation und Demokratie wirken mussten – weiter. Konservativismus, Nationalismus und Militarismus waren in dieser Perspektive nicht Produkt einer Manipulationsstrategie vormoderner Eliten, sondern Produkte einer „fortlaufenden Geschichte von partieller und unvollständiger Anpassung an die Herausforderungen von Industrialisierung, sozialem Wandel und Demokratisierung“ (436, S. 14), mithin Teile des Modernisierungsprozesses selbst. Mehr als die Belastung der alten Eliten war es dieser spannungsreiche Prozess von Wechselwirkungen und Anpassungen, der die Radikalisierungen der Rechten hervorbrachte. Es war die Modernität der Rechten seit den 1890er-Jahren, die in Richtung Faschismus wies, nicht der Traditionsüberhang, wie die Sonderwegsanhänger annahmen. Diese Interpretation setzte sich in den 1980er-Jahren mehr und mehr durch und wurde auf andere Politik- und Gesellschaftsfelder übertragen. Detlev J. K. Peukert, ein 1990 mit nur 39 Jahren verstorbener Sozial- und Alltagshistoriker, hat sie bis zu einer neuen Epochendefinition vorangetrieben. Für Peukert war der gesellschaftliche, kulturelle, soziale und politische Umbruch der 1890er-Jahre so entscheidend, dass er den Wilhelminismus stärker zur Weimarer Republik als zum Bismarckreich der 1870er und 1880er-Jahre hin orientiert sah. Er prägte den Begriff der „Klassischen Moderne“ für die Jahrzehnte 1880/90–1930. Sie seien geprägt durch „1. kapitalistische Wirtschaft und industrielle Klassengesellschaft; 2. rationale Staatsorganisation mit bürokratischen Apparaten; 3. eine wissenschaftlich-technische Weltbemächtigung und 4. den Trend zur rationalisierten, disziplinierten Lebensführung“ (449, S. 303). Auch Peukert berief sich auf Max Weber. Doch las er ihn weniger mit den Augen amerikanischer Modernisierungstheoretiker als im Lichte Nietzsches und vor dem Hintergrund des kulturwissenschaftlichen Aufbruchs um 1900 (452; vgl. 418). Weil das Werk Max Webers Produkt dieses Aufbruchs war, konnte er zum Gewährsmann der impulsiven und gefährdeten Modernität Deutschlands werden, und nicht zum Zeugen einer deutschen Modernitätsverfehlung. Modernisierung aber war nicht ein Königsweg zu Demokratie, Marktwirt-
III.
„Klassische Moderne“ (Detlev Peukert)
113
III.
Forschungsprobleme
Epochenschwelle 1900?
schaft und Partizipation. „Die These von der relativen Normalität der deutschen Gesellschaft im Modernisierungsprozess soll weder den Nationalsozialismus noch seine Vorgeschichte verharmlosen. Vielmehr warnt sie vor der trügerischen Ansicht, die industriegesellschaftliche Normalität sei harmlos.“ (451, S. 11) Die „Klassische Moderne“ hat sich als Epochenbezeichnung nicht wirklich durchsetzen können. Dies mag an dem frühen Tod Peukerts liegen. Es hat aber auch inhaltliche Gründe. Zum einen haben neuere Forschungen gezeigt, wie stark der Erste Weltkrieg mit den alltäglichen Erfahrungen von Hunger, Gewalt und Tod mentalitätsprägend gewirkt hat und damit das Kaiserreich von der Gesellschaft der Weimarer Republik trennt. Volker R. Berghahn hat von „den verheerenden seelischen Wirkungen“ gesprochen, „die der Welt- und Nachkrieg gerade in Deutschland hinterließ. Die kulturellen Debatten der zwanziger Jahre zeigten mit großer Eindringlichkeit, was diese Katastrophe in den Köpfen der Menschen angerichtet hatte.“ (413, S. 164) „What happened in Germany after 1918 is unimaginable without the war“ (2, S. 461), heißt es bei David Blackbourn. Zum anderen wird man die Kontinuitäten innerhalb des Kaiserreichs, die Bismarcks Sturz, die Fundamentalpolitisierung und den kulturellen und sozialen Aufbruch der Jahrhundertwende überwölbten, nicht unterschätzen dürfen. Vor wenigen Jahren hat sich allerdings Paul Nolte noch einmal für die These von der Epochenschwelle 1900 stark gemacht (450), damit die Traditionsverhaftung des frühen Kaiserreich und die dynamische Modernität des Wilhelminismus erneut betonend. Die Mentalitäts- und Kulturbrüche des Ersten Weltkrieges vollzogen sich dort, wo seit der Jahrhundertwende traditionelle Sicherheiten abgeschliffen worden waren. Peukerts in wenigen Jahren entstandenes umfangreiches Werk und Noltes skizzenhafte Bemerkungen sind in mehrerlei Hinsicht symptomatisch für den Weg, den die Kaiserreich-Forschung seit der Debatte um Blackbourns und Eleys Buch „Mythen deutscher Geschichtsschreibung“ genommen hat. Sie ist erstens den in den späten 1960er- und 1970er-Jahren entwickelten Theoremen der Historischen Sozialwissenschaft mit immer größerer Reserve begegnet. Sie hat zweitens die Begriffe Modernisierung, Modernität und Moderne immer vielfältiger und unterschiedlicher verwendet, so dass sie schließlich als analytische Begriffe immer weniger handhabbar waren. Sie hat drittens Periodisierungen vorgenommen, die über die Grenzen des Kaiserreichs hinausgingen. Was von der Geschichtswissenschaft von den 1870er- bis zu den 1970er-Jahren als formative, ja schicksalhafte Epoche des deutschen Nationalstaats angesehen wurde, wird mehr und mehr zu einem von vielen Bestandteilen der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
c) Weiterentwicklung der Historischen Sozialwissenschaft Aufbruch aus der Politikgeschichte
114
Dieser Befund legt den Schluss nahe, dass der Aufbruch der Historischen Sozialwissenschaft in wesentlichen Teilen gescheitert ist. Dies zu sagen wäre jedoch in historiographiegeschichtlicher wie inhaltlicher Hinsicht un-
Wie modern war das Wilhelminische Reich? gerecht. Schauen wir zunächst auf die Geschichtsschreibung zum Kaiserreich, wird schnell die große Leistung der Historischen Sozialwissenschaft deutlich. Sie hat die im internationalen Vergleich auffallende Beschränkung auf die staatlich-politische Geschichte aufgebrochen. „Im Grunde lässt sich jede bedeuthende menschliche Thätigkeit in ihrer zeitlichen Entwicklung – also, wie man gedankenlos zu sagen pflegt, historisch – darstellen, doch je weiter sie vom Staate abliegt, umsoweniger gehört sie der Geschichte an“, hatte Heinrich von Treitschke 1895 geschrieben, als er die Historische Zeitschrift übernahm. „Das Gleiche gilt von den culturgeschichtlichen Arbeiten; je tiefer sie in die Technik eingehen oder in ästhetische, literarische, antiquarische Erörterungen, umso weiter entfernen sie sich von der Historie.“ (460) Treitschkes Programmatik hat die deutsche Geschichtswissenschaft über zwei Drittel des 20. Jahrhunderts geprägt. Zwar gab es eine florierende Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, doch sie blieb institutionell vom Hauptstrom der Geschichtswissenschaft getrennt und beeinflusste ihn kaum. Der kulturgeschichtliche Aufbruch der Jahrhundertwende wirkte sich über Meinecke vor allem geistesgeschichtlich aus, während eine mehr materielle Kulturgeschichte seit dem Lamprecht-Streit der Jahrhundertwende als diskreditiert galt. Erst seit den 1960er-Jahren öffnete sich Deutschland infolge der Fischer-Kontroverse und unter maßgeblicher Führung der jungen Sozialgeschichte den internationalen Debatten. Diese Debatten aber, und darin lag die Begrenzung der deutschen Sozialhistoriker, enthielten ein wesentlich breiteres Theorien- und Methodenangebot als sie selbst angenommen hatten. Wegen der Verspätung der deutschen Geschichtswissenschaft folgten nun die Moden und Konjunkturen außerordentlich schnell aufeinander. Wegen der Auseinandersetzung mit der Politikgeschichte aber waren die deutschen Sozialhistoriker inhaltlich festgelegt und wenig flexibel. Wehlers Polemik gegen Eley war auch durch einen Überschuss an Komplexität bedingt, der sich aus der Verspätung der deutschen Geschichtswissenschaft ergab. Die um ihn gruppierte Historikergeneration, die die Diskussion seit den ausgehenden 1960ern beherrscht hatte, konnte daher schon Anfang der 1980er-Jahre mit Aussicht auf Erfolg als alt und orthodox beschrieben werden. Auf dem Berliner Historikertag 1984 geschah dies im Rahmen der Auseinandersetzung um das Konzept der Alltagsgeschichte. Sie erinnerte in Manchem an den gerade abebbenden deutsch-englischen Streit, wenngleich die Alltagshistoriker sich eher auf italienische, französische und amerikanische Einflüsse beriefen. Radikaler noch als Evans, Eley und Blackbourn propagierten sie den Blick auf das Detail. Sie wollten das Ganze im Kleinen entdecken. Sie fragten nach dem einzelnen Menschen, seinen Erfahrungen und Aktionen. Sie fragten nach dem einzelnen Ereignis, seiner Entstehung, seiner Beobachtung, seinen Folgen. „Die Perspektive der Alltagsgeschichte richtet sich auf die Praxis der Vielen“, schrieb Alf Lüdtke 1994. „Praxis meint die Formen, in denen sich die Menschen die Bedingungen ihres Handelns und Denkens aneignen, in denen sie Erfahrungen produzieren, Ausdrucksweisen und Sinngebungen nutzen – und ihrerseits neu akzentuieren. Im Aneignen werden Agenten, die funktionieren, zu Akteuren, die deuten und vorführen, forcieren oder sich verweigern.“ (440, S. 72) Welche Bedeutung aber hatte dann, so hatten Hans-Ulrich
III.
Alltagsgeschichte
115
III.
Forschungsprobleme
Verschleiß der Thesen der 1970er-Jahre
Arbeitergeschichte und Adelsgeschichte
Zerfall der älteren Frontstellungen
116
Wehler und Wolfgang J. Mommsen schon 1984 zurückgefragt, das Ergebnis? Zerbröselte nicht das Gesamte der Geschichte, der Versuch, sie in ihrem Zusammenhang zu verstehen, wenn nur kleine Dinge angeschaut würden? Verliefen nicht geschichtsmächtige Strukturen und Prozesse jenseits der Erlebnishorizonte der Einzelnen, so dass sie von ihnen her gar nicht in den Blick kämen? Verächtlich sprach Jürgen Kocka vom „mikrohistorischen Klein-Klein“. Doch welchen Wert hatte, so wurde ihm entgegengehalten, eine Geschichte von Prozessen und Strukturen, in denen Menschen gar nicht vorkamen? Der Streit um die Alltagsgeschichte ist wie der um die „Mythen deutscher Geschichtsschreibung“ eher ausgelaufen als entschieden worden. Die „Sozialgeschichte in der Erweiterung“ griff methodische Anliegen der Alltagsgeschichte auf, versuchte zwischen Erfahrungen und Mentalitäten einerseits, Strukturen und Prozessen andererseits zu vermitteln (443). Man kann in Detlev J. K. Peukerts Konzept der „Klassischen Moderne“ den Versuch erblicken, jenseits des Streits um Konzepte die Früchte von Alltagsund Sozialgeschichte zusammenzutragen. Damit sind wir beim zweiten, beim inhaltlichen Aspekt. Die führenden Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft haben zum Verschleiß ihrer Thesen der 1970er-Jahre aktiv beigetragen. Entlang der von ihnen aufgeworfenen bzw. im Streit mit ihnen entstandenen Fragen hat sich die Geschichtsschreibung zum Kaiserreich in den 1980er- und 1990er-Jahren fortbewegt. Ein Beleg dafür ist das von Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka und anderen auf den Weg gebrachte „Bürgertumsprojekt“, ein Sonderforschungsbereich, der die im Streit um Blackbourns und Eleys Mythen-Buch zentrale Sozialgruppe des Bürgertums genauer in den Blick nehmen sollte. Im internationalen Vergleich, bei Überschreiten der chronologischen Grenzmarken des Kaiserreiches und unter Berücksichtigung kulturgeschichtlicher Fragestellungen relativierten sich die deutschen Besonderheiten (437; 459; 441; 415; 444). „Gesamteuropäisch eingeordnet, dürfte das deutsche Bürgertum zwischen 1850 und 1880 ähnlich wie der deutsche Verfassungsstaat und die deutsche Kultur eher Mittler und Brücke als Fremdling und Außenseiter gewesen sein. Man wird es im Zweifel wohl sogar mehr in distanzierter Nachbarschaft des industrialisierten Westens zu orten haben als in der der benachteiligten Bürgertümer des Ostens und ihres agrarstaatlichen Umfelds.“ (151, S. 228) In eine ähnliche Richtung weisen mittlerweile die ausgedehnten Forschungen zu den wichtigsten anderen Sozialgruppen: den Arbeitern und der Arbeiterbewegung (394; 457; vgl. das Milieukapitel) sowie dem Adel (456; 455; 462; 466). Der Adel erwies sich bei genauerem Hinsehen als ein intern vielfach differenziertes, schon definitionsmäßig kaum zu fassendes Phänomen. Versuche, seine wesentlichen Charakteristika über ein Kulturmodell „Adeligkeit“ zu fassen, sind umstritten (432; 433). Die „Feudalisierungsthese“, nach der das Bürgertum sich während des Kaiserreichs zunehmend adeligen Werten und Verhaltensmaßstäben verschrieben habe, wodurch ein Defizit an Bürgerlichkeit mit langfristig demokratieschädigenden Folgen entstanden sei, war bei genauerer Prüfung nicht zu halten (151; vgl. 442). Im Zuge dieser selbstkritischen Forschungsanstrengungen sind auch ältere harsche Urteile revidiert worden. Die frühen Arbeiten von Blackbourn,
Wie modern war das Wilhelminische Reich? Eley und Evans erscheinen in einer neueren Veröffentlichung Wehlers als „belebende (…) Infragestellung einer preußen- und elitenzentrierten Interpretation der deutschen Moderne ‘von oben’, ja der ‘Sonderweg’-These überhaupt“ (318, S. 31) und werden damit recht positiv bewertet. Unter aktiver Beteiligung der Sozialhistoriker der 1970er-Jahre haben sich so die historischen Forschungen zum Kaiserreich sehr verändert. „Die politische Sozialgeschichte der 1970er-Jahre, die politische Konflikte und Entwicklungen im Wesentlichen als Produkte sozialer Gegensätze begriff und daher zu einer gewissen Vernachlässigung der Innenperspektive und Eigendynamik der Politik tendierte, wurde um alltags-, kultur-, begriffs-, geschlechterund mentalitätsgeschichtliche Ansätze erweitert. Gleichzeitig wurde die enge Fixierung der Kaiserreich-Forschung auf den nationalen Horizont überwunden und die Grundlage für systematische internationale Vergleiche zur Überprüfung und Relativierung der Sonderwegsthese gelegt.“ (33, S. 206) So fasst Thomas Kühne die Entwicklung zusammen. Zu einer bündigen These lassen sich diese in Thematik, theoretischer Fundierung und Aussage sehr bunten Arbeiten nicht mehr zusammenführen. Einleitend wurde anhand der Gesamtdarstellungen gezeigt, dass die großen Synthesen der deutschen Kombattanten der 1970er-Jahre einen Teil der neueren Forschungen nicht mehr haben integrieren können. Thomas Kühne (33, S. 210–211) nennt regionale Selbstverständnisse und Politiken, die vom Individuum, seinen Weltverständnissen und seinen Praxen ausgehenden Perspektiven und die Geschlechtergeschichte. Vielleicht liegt das daran, dass die leitenden Fragestellungen der 1970er-Jahre erschöpfend diskutiert worden sind (419). Hans-Ulrich Wehler hat sich im Dritten Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ von vielen seiner frühen Thesen und Begriffe explizit oder implizit verabschiedet. Die These vom deutschen Sonderweg hat er wesentlich abgeschwächt. Thomas Kühne glaubt, sie habe sich erledigt: „Untersuchungen, die fürderhin auf die These vom deutschen Sonderweg einschlagen, werden sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, gegen Pappkameraden zu kämpfen.“ (33, S. 372) Hartwin Spenkuch hingegen hält sie in modifizierter Form aufrecht, vor allem mit Verweis auf die Rolle Preußens (458). Der Streit um den Primat der Innenoder der Außenpolitik wirkt antiquiert angesichts der kulturellen, sozialen und ökonomischen Erweiterung des Politikverständnisses insgesamt. Den Modernisierungstheorien der 1960er- und 1970er-Jahre mag sich kaum noch jemand anvertrauen, angesichts gewachsener Unsicherheit darüber, was Begriffe wie „Modernität“, „Modernisierung“ und „Moderne“ jeweils meinen, und angesichts einer tiefen Skepsis gegenüber großflächigen und allgemeinen Theorien insgesamt. Von der Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft aber oder von der Notwendigkeit, Geschichte nicht nur vom Staat her zu schreiben, muss man niemanden mehr überzeugen. Die großen Forschungsdesigns, die in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren oft im Streit entworfen wurden, verblassen langsam. Die Forschungen im Einzelnen, am Detail und im internationalen Vergleich, blühen weiter.
III.
Neue Fragestellungen
117
IV. Ausblick: Das Kaiserreich und die deutsche Geschichte Kontroversen im Überblick
Konjunkturen des Streits
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Autor, Leserinnen und Leser schauen zurück, des Streitens müde. Nach einer einleitenden Präsentation der wichtigsten Gesamtdarstellungen sind in diesem Buch acht Kontroversen vorgestellt worden. Sie wurden chronologisch gruppiert nach dem historischen Zeitpunkt, den sie vor allem betrafen, wenngleich das jeweils behandelte Problem auf weitere Zeitbereiche ausstrahlte (etwa die Beurteilung der Kolonialpolitik 1884/85 oder des Rückversicherungsvertrages auf die Außenpolitik insgesamt) und einige Streitthemen sich nur schwer chronologisch eingrenzen ließen (Modernität des Kaiserreichs, Milieus). Die Kontroversen hätten nach dem Inhalt gruppiert werden können in eine Hälfte mit außenpolitischem („1866“, Kolonialpolitik, Rückversicherungsvertrag, Fischer-Kontroverse) und eine andere mit innenpolitischem (Innere Reichsgründung, Wilhelm II., Milieus, Modernität des Kaiserreichs) Gehalt – wenn sich nicht seit den 1970er-Jahren in der Forschung die Überzeugung durchgesetzt hätte, dass zwischen beidem eine deutliche Interdependenz besteht, die eine reinliche Scheidung zwischen Innen- und Außenpolitik nicht mehr erlaubt, und wenn nicht je länger je mehr die außen- bzw. innenpolitischen Themen wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlich aufgeladen worden wären. Sie hätten nach dem Brennpunkt des Streits gruppiert werden können, der mal in den 1920er- (Rückversicherungsvertrag), mal in den 1980er-Jahren (Modernität des Kaiserreichs), meist aber in den späten 1960er- und vor allem in den 1970er-Jahren lag. Doch das empfahl sich nicht, weil die Kontroversen kaum einmal abgeschlossen wurden, sondern sich in ständiger Verwandlung bis in die Gegenwart fortsetzten, somit die Geschichte der Geschichtswissenschaft und die deutsche Kultur-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte insgesamt spiegelnd. Die meisten Kontroversen sind – nach einem Einstieg am Brennpunkt des Streits – chronologisch erzählt worden. Jeweils ein Jahrhundert wurden im Geschwindschritt durcheilt. Nur die Themen Innere Reichsgründung, Modernität des Kaiserreichs und Sozialmoralische Milieus ließen sich nicht in dieser Weise strukturieren. Sie erforderten eine eher beiordnende, thematische Gliederung, weil sie inhaltlich sehr breit angelegt waren, dafür aber eine geringere zeitliche Tiefe hatten. Zwar sind auch diese Kontroversen durch seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert laufende Forschungen und Diskussionen über Liberalismus, Katholizismus und Sozialdemokratie, über die Strukturen des Bismarckschen und Wilhelminischen Reichs unterlegt. Doch erst seit den späten 1960er- bzw. 1970erJahren verdichteten sich die Debatten zu scharfen Kontroversen. Nicht zufällig sind das die Themen, die die Grenzen der politischen Geschichte in Richtung Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte besonders deutlich überschreiten. Das weist erneut auf die sehr lange Dominanz der Politikgeschichte des Kaiserreichs hin, die erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gewichen ist. Das Kaiserreich war immer umstritten. Kontroversen haben die Forschung von Anfang an begleitet. Doch die Auseinandersetzungen verliefen
Ausblick: Das Kaiserreich und die deutsche Geschichte nicht regellos, sondern weisen gemeinsame Strukturelemente auf. Erstens gab es Konjunkturen des Streits. In den Hochzeiten konnten wenige Schlüsselthemen der gesamten Kaiserreichgeschichte ihren Stempel aufprägen. In den 1920er-Jahren war dies die Kriegsschulddiskussion, am Ende der 1940er-Jahre die Kontinuitätsfrage Bismarck – Wilhelm II. – Hitler, in den 1960er-Jahren wieder die Kriegsschulddiskussion und in den 1970erund frühen 1980er-Jahren die Frage nach dem Deutschen Sonderweg. Kontroversen überlagerten sich dann und orientierten sich auf die Schlüsselthemen (etwa „1866“ und Wilhelm II. in den späten 1940er-Jahren; Innere Reichsgründung, Bismarcks Kolonialpolitik und Modernität des Wilhelminischen Reichs in den 1970er-Jahren). Daraus erwuchsen ganze Bündel von Forschungsfragen. Wohl die meisten Kaiserreichforscher sind in solchen Intensivphasen geprägt worden. Sie haben dann in ruhigeren Zeiten Fragen aufgearbeitet, die im Streit entstanden waren. Zweitens blieben die Kontroversen über weite Strecken des 20. Jahrhunderts an ein Rahmenthema gebunden: der erste deutsche Nationalstaat als Medium deutscher Selbstbeschreibung. Kaiserreichgeschichte galt schon vor 1914 als Zeitgeschichte, als zur Gegenwart hin offene, von der Gegenwart aus zu wertende und für das Handeln in der Gegenwart wertvolle Geschichte. Bei ihrer Behandlung müsse, schrieb Felix Salomon 1912 in der Historischen Zeitschrift (Bd. 108, 1912, S. 155; vgl. 434; sowie 79, S. 219– 303), „dem subjektiven Urteil mehr Raum gewährt werden (…) Ein gesunder politischer Instinkt, ein freier, nicht durch Stimmung und Neigung getrübter Blick, eine durch Erfahrung erworbene Mäßigung im Urteil, sind Bedingungen für die Behandlung der Zeitgeschichte“. Diese doppelte Offenheit zur Gegenwart hin hat das Kaiserreich erst außerordentlich spät verloren. Zwar definierte Hans Rothfels 1953 Zeitgeschichte als die „Geschichte der Mitlebenden“ (213) und ließ sie mit der russischen Revolution und dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 beginnen. Doch zu drängend war die Frage der nationalstaatlichen Kontinuitäten zwischen Bismarckzeit und Nationalsozialismus, als dass das Kaiserreich aus der Zeitgeschichte hätte herausdefiniert werden können. An ihm arbeitete sich eine politisch sensibilisierte und öffentlichkeitswirksame Geschichtswissenschaft mit gegenwartsorientierendem Anspruch bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts ab. Noch als Wolfgang J. Mommsen 1981 „Gegenwärtige Tendenzen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik“ (448) behandelte, ging es vor allem um das Kaiserreich – als sei das der wichtigste Gegenstand der deutschen Geschichte. Diese Phase ist in den 1980er-Jahren zu Ende gegangen. Das Kaiserreich ist zu einem „normalen“ Bestandteil der deutschen Geschichte geworden. Seine Bedeutung innerhalb der Geschichtswissenschaft nimmt ab. Sichtbar wird dies im sinkenden Anteil, den das Kaiserreich an den Aufsätzen in repräsentativen geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften hat. In der Historischen Zeitschrift hat der Anteil der Kaiserreichartikel seit den 1920er-Jahren immer über 10% gelegen und 1966–1970 sogar mehr als 27% ausgemacht. Seit dem Jahrfünft 1986–1990 ist er unter die 10%-Marke gefallen (eigene Zählung). Für das Leitorgan der Historischen Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgeschichte, „Geschichte und Gesellschaft“, hat Lutz Raphael herausgefunden, dass der Anteil der Artikel zum Zeitraum
IV.
Rahmenthema: Deutscher Nationalstaat
„Normalisierung“ der Kaiserreichforschung
119
IV.
Ausblick: Das Kaiserreich und die deutsche Geschichte
Generationswechsel der 1960er-Jahre
„Die Historiker der Bundesrepublik“ (P. Nolte)
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1870–1918 in den ersten fünf Jahrgängen (1975–1979) 1/3, in den Jahrgängen 21–25 (1995–1999) aber nur noch 1/4 betrug, und das, obwohl der Herausgeberkreis maßgebliche Vertreter der Kaiserreichforschung umfasst. Auch diese Zeitschrift hat sich „eindeutig wegentwickelt von ihrem ursprünglichen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert“ (468). Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1989/90 hat keine Wiederbelebung hervorgerufen. Die Kontroversen, bei denen um die Selbstverständigung des Faches und um die Übersetzung von Geschichte in Gesellschaft gerungen wird, werden mittlerweile in anderen Gegenstandsbereichen – NS-Zeit, geteiltes Deutschland nach 1945 – ausgetragen. Drittens schließlich waren Kontroversen immer auch Ausdruck von Konflikten zwischen Historikergenerationen, die aufgrund je generationsspezifischer Erfahrungen andere inhaltliche Schwerpunkte setzten und andere methodische Zugriffe wählten. Das war um die Jahrhundertwende so, als der Borussianismus seine Überzeugungskraft verlor. Für das Verständnis der heutigen Situation ist der Generationswechsel der 1960er-Jahre entscheidend. Für die Zeit von Studentenprotest, Großer und Sozialliberaler Koalition hat Paul Nolte in Deutschland eine „ruckartige Elitenverjüngung“ (467, S. 418) diagnostiziert. Der Hochschulausbau öffnete Karrieren für ausgesprochen junge Historiker der Geburtsjahrgänge 1930–1940. Sie waren am Ende der NS-Zeit Kinder oder Jugendliche gewesen, hatten in der frühen Bundesrepublik studiert und orientierten sich wissenschaftlich und lebensweltlich gen Westen (vor allem in Richtung USA). Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang J. Mommsen, Gerhard A. Ritter, Heinrich August Winkler und Jürgen Kocka, alles Männer, die in den Kontroversen dieses Buches eine prominente Rolle gespielt haben, gehören dazu. Sie setzten sich seit der Fischer-Kontroverse programmatisch und habituell von älteren Historikern ab, die die 1950er-Jahre dominiert hatten und teils noch im Kaiserreich studiert hatten (Gerhard Ritter, Hans Rothfels), teils zu der wegen der Kriegsverluste schwach besetzten Weimarer Jugendgeneration gehörten (Theodor Schieder, Fritz Fischer). Die Schlüsselbegriffe dieser generationellen Absatzbewegung (Modernisierung, Deutscher Sonderweg, Theorieorientierung etc.) tauchten in den Kontroversen immer wieder auf. Die 1930–40 Geborenen „verhalfen dem deutschen 19. Jahrhundert zu einer historiographischen – und auch im weiteren Sinne öffentlichkeitswirksamen, intellektuellen – Bedeutung, von der selbst Heinrich von Treitschke nur hätte träumen können“ (467, S. 421–422). Freilich geschah dies im Blick auf die deutsche Katastrophe, von der sich der als geglückt empfundene angloamerikanische Weg in die demokratisch wohlfahrtsstaatliche Moderne positiv abhob. Von dieser Wertung hätte Treitschke nur ungern geträumt. Paul Nolte hat diese Historikergeneration „die Historiker der Bundesrepublik genannt“. Weil sie relativ jung in Schlüsselpositionen der Geschichtswissenschaft einrückten (Lehrstühle, Herausgeberschaft von Zeitschriften etc.) und im Streit mit den Älteren gut funktionierende Netzwerke und gemeinsame Argumentationsschwerpunkte bildeten, konnten sie die geschichtswissenschaftlichen Debatten für mehr als zwanzig Jahre bestimmen. Seit den späten 1980ern haben sie an Einfluss verloren. Doch ihnen ist keine neue schlagkräftige Generation gefolgt. Die in der Nachkriegszeit
Ausblick: Das Kaiserreich und die deutsche Geschichte geborenen Historiker hatten wesentlich schwierigere Karrierewege zu gehen. Sie kamen wesentlich später – wenn überhaupt – in meinungsführende Positionen. Sie wirken individueller. Aber sie haben auch kein gemeinsames Thema. Mit ihnen scheint die seit Treitschke in Deutschland übliche und von den Historikern der Bundesrepublik noch einmal verfestigte Geschichte des Kaiserreichs als Nationalgeschichte, die „von den Nationen als Handlungsrahmen, als historischen Subjekten und als Untersuchungseinheiten ausgeht“ (467, S. 422) und die dieser Geschichte eine gegenwartsorientierende Funktion zuschreibt, zu enden. Ist also das Kaiserreich nur noch Geschichte? Hat es seine gegenwartsorientierende Funktion verloren? Diese Fragen lassen sich nicht mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Sie können aber Ausgangspunkt sein für abschließende Überlegungen zum Stand der Debatte und zu möglichen Tendenzen der Forschung. Das Kaiserreich entwickelt sich von einem nationalen Problemfall, der Forschungsfragen hervorruft, zu einem Gegenstand, anhand dessen Forschungsfragen behandelt werden. Es wird vom Explanandum zum Exempel. Seine Bedeutung als Verdichtungsraum politischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Problemlagen wird von der Forschung immer höher, seine Rolle als Bezugspunkt nationaler und staatlicher Selbstbeschreibung der Deutschen immer geringer gewichtet. Die Forschungskontroversen des 20. Jahrhunderts betrafen Sachprobleme des Kaiserreichs. Sie wurden je später je mehr mit Theorien und Modellen bearbeitet, die nicht dem Kaiserreich entstammten (vgl. Bismarcks Kolonialpolitik, Rückversicherungsvertrag, Wilhelm II., Modernität des Wilhelminischen Reiches, Sozialmoralische Milieus). Die Gewichte haben sich im letzten Jahrzehnt weiter verschoben. Aktuelle Forschungsdiskussionen werden von außerhalb der chronologischen und regionalen Grenzen in das Forschungsfeld Kaiserreich hineingetragen (Nationalismus, Geschlechtergeschichte) und entstammen ihm nicht selbst. Sie werden anhand des Kaiserreichs diskutiert, doch das Erkenntnisinteresse richtet sich nicht mehr vor allem auf das Kaiserreich selbst und seine Folgen. Dabei gibt es viele methodische Zugriffe und viele Gegenstandsbereiche. Ihre Auswahl richtet sich nach den Moden des Fachs, die nicht mehr vom Gegenstandsbereich Kaiserreich aus gemacht werden. Die 1990erJahre haben einen Aufschwung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen gesehen und eine Wiederkehr der Politikgeschichte. An der Schnittstelle von Politik- und Kulturgeschichte liegen derzeit viel versprechende Forschungsfelder. Die Bedeutung von Ritualen und Symbolen, die Wirksamkeit von Mythen und Erzählungen im politischen Feld dürften die Forschung in den nächsten Jahren stark beschäftigen. „Ein überaus interessantes Arbeitsfeld könnte sich der Forschung öffnen, würde sie versuchen, auch die Schaltzentralen der Macht – Regierungen, Parlamente, Fraktionen u. a. – der kulturgeschichtlichen Erweiterung des Faches zu öffnen.“ (33, S. 249) Zu ergänzen ist in dieser Aufzählung von Thomas Kühne das Feld der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen. Darüber hinaus wird die Forschung von vergleichenden Studien profitieren. Dabei geht es erstens um internationale Vergleiche der Außenpolitiken, der Innenpolitiken sowie bestimmter Phänomene der Wirtschaft (z. B.:
IV.
Tendenzen der Forschung
Vom Explanandum zum Exempel
Pluralität der Zugriffe und Gegenstände
Vergleich
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IV.
Ausblick: Das Kaiserreich und die deutsche Geschichte
Verhältnis Kaiserreich – „Drittes Reich“
Verblassen der Konturen
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Unternehmer und Unternehmen, Sozialbeziehungen), der Gesellschaft (z. B.: vergleichende Adels- und Bürgertumsforschung) und der Kultur (z. B.: „Nationalisierung“ von Gesellschaften). Diese Vergleiche sind seit den 1970er-Jahren programmatisch gefordert und auch praktisch eingelöst worden, vor allem mit Bezug auf England, Frankreich und – seltener – Italien. Im letzten Jahrzehnt hat sich der Blick geweitet. Die kleineren Nachbarn des Reiches (Niederlande, Belgien, Schweiz) und die beiden mittel- und osteuropäischen Großreiche Österreich-Ungarn und Russland sind stärker beachtet worden. Manche negativen Urteile über das Kaiserreich verlieren, wie die Beispiele Bürgertumsgeschichte und Parlamentarisierung/Demokratisierung zeigen, in einer solchen Perspektive an Überzeugungskraft. Zweitens geht es um interregionale Vergleiche innerhalb des Reiches (z. B.: Milieus, Wirkung von Nationalisierungsprozessen, von Kolonialbegeisterung auf verschiedene Schichten und Gruppen). Drittens schließlich geht es um das Aufzeigen von Beziehungsgeschichten, von Transfers zwischen Nationen, Kulturen, aber auch Regionen. Das Kaiserreich insgesamt wird immer stärker als ein Beispiel für den Wandel von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur im Zeitalter von Industrialisierung und Demokratisierung behandelt, und immer weniger als Vorgeschichte des Dritten Reiches. Seine Geschichte wird eingebettet in eine europäische, ja in eine Weltgeschichte. Insgesamt scheint das Kaiserreich als eigenständige Entität zu verschwimmen, ein Teil des 19. Jahrhunderts oder des von Jörg Fisch skizzierten „Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914“ (17) zu werden. Bezeichnenderweise hat Geoff Eley vor wenigen Jahren gefragt: „Is there a History of the Kaiserreich?“ (424) Sein Fazit lautete in einem „Breaking the Frame“ betitelten Kapitel, dass die neuere Forschung den Rahmen der 1970er-Jahre zeitlich (Ausgreifen über die chronologischen Grenzmarken 1870/71 und 1914/18), räumlich (Überschreiten der Grenzen des kleindeutschen Reiches) und begrifflich (Was ist eigentlich ein Deutscher? Was ist Deutschland?) gesprengt habe. Auch die inneren Konturen verblassen. Bereits Ende der 1970er-Jahre hatte Dieter Langewiesche geschrieben: „Sollte ein Nicht-Historiker auf den Gedanken kommen, sich von Historikern über die Bismarckzeit und über das Wilhelminische Deutschland unterrichten zu lassen, so kann das nur mit Verwirrung enden. Er muss den Eindruck bekommen, dass die Historiker im Zeitraum zwischen 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs mehrere deutsche Nationalstaaten entdeckt haben, die untereinander nur geringe Ähnlichkeiten aufwiesen.“ (361) Doch während in den 1970ern der Streit der seit der Fischer-Kontroverse entstandenen Schulen und Lager die Verwirrung produzierte, ist es seit der Auflösung dieser Schulen in den 1990er-Jahren die Vielfalt der Details, die die Unübersichtlichkeit hervorruft. James Retallack entdeckte in seiner kleinen Geschichte des Wilhelminischen Reiches (51) nicht eines, sondern viele Deutschländer. Das Wilhelminische Reich sei intern vielfach gespalten durch geographische, ethnische, klassenbezogene, religiöse und geschlechtsbezogene Spannungsbzw. Trennlinien. Ein einheitliches und stimmiges Bild ergebe sich nicht. Das Wilhelminische Deutschland sei von überreicher Farbigkeit. Historiker könnten nur einen Teil der Farben in ihren Darstellungen wiedergeben.
Ausblick: Das Kaiserreich und die deutsche Geschichte Daraus könnten neue Generationen von Geschichtsstudenten dann jede Menge neuer Portraits der Epoche machen. Das riecht nach postmoderner Beliebigkeit, die gelegentlich auch von Hans-Ulrich Wehler heraufbeschworen wird (318). Angemessener dürfte es sein, von einer Normalisierung zu sprechen, die das Kaiserreich aus seiner zentralen Rolle für das geschichtliche Selbstverständnis der Deutschen entlassen hat. Freilich ist dabei eine Einschränkung hinzuzufügen, die aus der kritischen Selbstbeobachtung des geschichtswissenschaftlichen Geschäfts und aus einer realistischen Einschätzung der prognostischen Fähigkeiten des Historikers erwächst. Forschungsrichtungen, vor allem aber Kontroversen verdanken sich nicht nur immanenter Forschungslogik und den Sozialstrukturen der Historikerschaft, sondern entstehen im Austausch von Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur. Das zeigte die einleitende Sichtung der Überblicksdarstellungen. Das zeigten vor allem auch die Kontroversen um Alternativen zur Reichsgründung, Bismarcks Kolonialpolitik, die Fischer-Kontroverse und die Debatte um die Modernität des Kaiserreiches. Insofern ist das Verschwimmen der Konturen des Kaiserreiches wohl auch ein Reflex auf die Einbettung des vereinigten Deutschlands in supranationale Strukturen und auf die grenzüberschreitende Mobilität von Menschen und Waren, die mit dem Modewort Globalisierung bezeichnet wird. Die historische Forschung fragt – auch, aber eben nur auch anhand des Kaiserreichs – nach den historischen Wurzeln, nach den Bedingungen und Möglichkeiten dieser international ablaufenden Entwicklungen. Ob sie irreversibel sind oder, wie schon einmal am Beginn des 20. Jahrhunderts, dramatische Rückschläge provozieren, vermögen Historiker nicht zu sagen. Vor allem an den Bruchstellen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts aber wurde das stets latente Thema Kaiserreich jeweils wieder an die Spitze der Tagesordnung gesetzt. Sollten wir uns eine erneute Rückkehr wünschen?
IV. Postmoderne Beliebigkeit oder Normalisierung?
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Ausblick zur Neuauflage Die wichtigste Vernderung des Kaiserreichbildes in den acht Jahren seit der Erstausgabe dieses Bandes betrifft den Rahmen. Er ist nicht verblasst oder zerbrochen; „breaking the frame“ im Sinne von Geoff Eley hat nicht stattgefunden. Zahlreiche Autoren haben vielmehr den alten Rahmen beiseite gelegt, weil er zu dem Raum, in dem wir derzeit Geschichte betreiben, nicht mehr gut zu passen scheint. Historikerinnen und Historiker fragen nach weltweiten Verflechtungen und Interdependenzen. Sie betrachten den Nationalstaat als einen von mehreren Identifikations- und politischen Handlungsrumen, die von der lokalen bis zur globalen Ebene sozial, kulturell, konomisch oder politisch zentriert sein knnen. In den Einleitungen von Sammelbnden zum Kaiserreich werden als zentrale Referenzautoren immer seltener Mommsen, Nipperdey und Wehler angerufen. Dafr stehen Autoren wie Christopher Bayly (473), John Darwin (483) oder Jrgen Osterhammel (506) hoch im Kurs. Ihre weltgeschichtlichen berblicke zum 19. Jahrhundert bilden den Rahmen, in den die deutsche Geschichte des spten 19. Jahrhunderts eingefgt wird (480; vgl. 481; 486; 514; 517). Das fhrt zu Verschiebungen in den Forschungskontroversen. Sie zeigen sich am deutlichsten in den vier außenpolitischen Themen, die in diesem Buch behandelt wurden. Sie kreisten um Daten, Entscheidungen und Personen. Doch im grßeren Rahmen zeigen sich vergleichbare Flle und gemeinsame Faktoren, die nun eine gemeinsame – nicht: vergleichende – Bearbeitung erfahren. „1866“ wird zu einem Fall von Nationsbildung unter vielen (475), was die Frage nach verpassten Alternativen in den Hintergrund treten lsst. Der Rckversicherungsvertrag wird Teil einer Kulturgeschichte der Außenpolitik um 1900 (482; 504; 515), in der einzelne Entscheidungen eine nachgeordnete Rolle spielen, zumal aus weltgeschichtlicher Perspektive die außenpolitische Situation bis weit nach 1900 so offen erscheint, dass fr 1890 kein deutsches Verhngnis mehr konstruiert werden kann. Horst Groeppers 2008 erschienene diplomatiehistorische Untersuchung zum dramatischen außenpolitischen Wandel 1890 aus Bismarckscher Perspektive wirkt daher wie ein Fremdkrper (489). Die kolonialhistorische Forschung boomt (485; 500; 508; 519; 527). Doch Winfried Baumgarts Bemhungen, die endgltige Lsung der Bismarckmotivfrage auf der Linie der von Riehl 1993 neu herausgearbeiteten Kronprinzenthese zu dokumentieren (471; 472), finden wenig Interesse, weil die Forschung auf die Dynamik internationaler Verflechtungen sowie auf die Kolonien selbst schaut. Allein die Frage nach Kolonialkrieg, Genozid und nationalsozialistischem Ostkrieg war kurzfristig in der Lage, eine auf Daten, Akteure und Ereignisse konzentrierte Kontroversdynamik auszulsen, die an die Debattenstrukturen der 1960er bis 1980er Jahre erinnerte (487; 495; 499; 518; 524; 526). Eine Ausnahmestellung unter den außenpolitischen Themen nimmt der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein. In seiner herausragenden Bedeutung fr die Geschichte des 20. Jahrhunderts unbestritten generiert dieses Datum nach wie vor Jahr fr Jahr Monographien und Sammelbnde (469; 470; 474; 484; 493; 494; 513; 516), und die Frage nach Ttern und Verantwortlichen
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Ausblick zur Neuauflage bleibt auch fnfzig Jahre nach der Fischer-Kontroverse zentral. „The latest publications on the origins of the First World War force us to focus particularly on the role of Europe’s leading decision-makers“ (503, S. 95; vgl. 492), hlt Annika Mombauer fest. Trotz eines strker werdenden Trends, alle beteiligten Großmchte in den Blick zu nehmen und dabei vor allem sterreich-Ungarns und Russlands Akteure und Entscheidungen zu untersuchen, bleibt die besondere Verantwortung der deutschen Entscheidungstrger fr den Kriegsausbruch unbestritten. Unter den innenpolitischen Kontroversthemen dieses Buches hat die biographische Beschftigung mit Wilhelm II. ihre Prgnanz behalten. In der mit ganz wenigen Ausnahmen monarchischen Welt Europas vor dem Ersten Weltkrieg ist der letzte deutsche Kaiser ein besonders ergiebiger Fall, um Spannungsfelder wie Monarchie und ffentlichkeit, Monarchie und Demokratie, Eliten und Massen zu behandeln (476; 478; 488; 496; 497; 498; 505; 511). Die Debatte um „Innere Reichsgrndung“ geht auf in eine Geschichte nationaler Integration und weltweiter Verflechtung im „age of territoriality“(501; vgl. 507; 522), die neben staatlichen Strukturen und der konomie auch die Kulturen und Mentalitten umfasst, und kaum noch nationalstaatlich und personal von Bismarck und der Reichsgrndung her konzipiert wird (486; 523). Die „sozialmoralischen Milieus“ werden in ihrer Interdependenz betrachtet und in eine Geschichte von Religion, Politik und Identitt im langen europischen 19. Jahrhundert eingebracht (477; 490). Ein zentrales Thema bleibt die „Modernitt“ des Kaiserreichs. Soziologische Debatten ber die Definitionselemente von „Moderne“, „Modernen“ oder Modernities“ (512; 520) hinterlassen in historischen Debatten ihre Spuren. Die Sonderwegsthese, abhngig von Modernisierungstheorien der 1960er und 1970er Jahre, berzeugt nicht mehr. Doch das hat seinen Preis, warnt Helmut Walser-Smith. Die Nach-Sonderwegs-Konzepte von Kaiserreichgeschichte koppelten das 19. Jahrhundert vom 20. ab und seien nicht mehr in der Lage, den Nationalsozialismus „in der longue dure deutscher Geschichte“ (521, S. 48) zu verorten. Doch genau dies erscheint den Historikern, die deutsche Geschichte in einem grßeren Rahmen konzipieren, schwer mglich. Ulrich Herbert schlgt die wilhelminische Zeit in Ausweitung des Periodisierungsvorschlags von Detlev Peukert einer europischen Moderne zu, die von 1890 bis in die 1970er Jahre reicht (491). Das Bismarcksche Reich ist dann Wegbereiter einer deutschen Variante von europischer Modernitt, deren Zusammenhang mit den unterschiedlich katastrophentrchtigen Modernevarianten des 20. Jahrhunderts offen erscheint (479). Andere Autoren pldieren dafr, das Kaiserreich nicht ber den Modernebegriff zu zerlegen (502; 510; 525). Sie bezweifeln die Durchsetzung der Moderne um 1900 und warnen davor, Selbstbeobachtungen der sich ausdifferenzierenden Sozialwissenschaften um 1900 zum Nennwert zu nehmen. Die Stellung des ersten deutschen Nationalstaats im europischen und globalen Kontext bleibt unsicher. Wenn wir so die historischen Debatten der letzten Jahre vor dem Hintergrund der in diesem Buch analysierten mehr als ein Jahrhundert whrenden Forschungs-, Publikations- und Diskussionsgeschichte betrachten, erweist sich erneut die Fruchtbarkeit des Zugangs „Kontroversen um die Geschichte“. Von einem handhabbaren und gebruchlichen Gegenstand aus
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Ausblick zur Neuauflage werden Grundfragen der Geschichtswissenschaft sichtbar: Wie wird die Diskursgemeinschaft der Historiker konfiguriert und wie verndert sie sich? Welche Grenzen haben Vergangenheiten und wie verschieben sich diese Grenzen? Welche Gegenwartserfahrungen werden ber Geschichte verhandelt? Welche Zuknfte haben wir im Blick, wenn wir Vergangenheiten bearbeiten und bewerten? „Auch in diesem Falle sind die Schemen, die uns aus dem erblindeten Spiegel der Historie entgegenblicken, letztlich … wir selbst.“ (509).
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Literatur 1871–1918 und seine politische Kultur. Demokratisierung, Segmentierung, Militarisierung, in: NPL 43 (1998), S. 206–263. (34) Küttler, Wolfgang, Rüsen, Jörn u. Schulin, Ernst (Hrsg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 3: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt a. M. 1997. (35) Lamont, William (Hrsg.): Historical Controversies, London 1998. (36) Langewiesche, Dieter: Ploetz. Das deutsche Kaiserreich 1867/71 bis 1918. Bilanz einer Epoche, Freiburg 1984. (37) Lehmann, Hartmut (Hrsg.): Historikerkontroversen, 2. Aufl. Göttingen 2001. (38) Lorenz, Chris: Beyond Good and Evil? The German Empire of 1871 and Modern German Historiography, in: Journal of Contemporary History 30 (1995), S. 729–765. (39) Loth, Wilfried: Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München 1996. (40) Marcks, Erich: Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807–1871/78, Bd. 1: Die Vorstufen, Bd. 2: Bismarck, Stuttgart – Berlin 1936. (41) Meinecke, Friedrich: Die Deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946. (42) Mommsen, Wolfgang J.: Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II., 1890 bis 1918, München 1995. (43) Mommsen, Wolfgang J.: Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850–1890, Berlin 1992. (44) Mommsen, Wolfgang J.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1992. (45) Mommsen, Wolfgang J.: Der europäische Imperialismus. Aufsätze und Abhandlungen, Göttingen 1979. (46) Mommsen, Wolfgang J.: Imperialismustheorien. Ein Überblick über die neueren Imperialismusinterpretationen, 3. Aufl. Göttingen 1987. (47) Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, 2. Aufl. München 1991; Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992. (48) Nowosadtko, Jutta: Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2002. (49) Pöhlmann, Markus: Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914–1956, Paderborn u. a. 2002. (50) Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003.
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(51) Retallack, James: Germany in the Age of Kaiser Wilhelm II., Houndsmill 1996. (52) Ritter, Gerhard A.: Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus. Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1976. (53) Ritter, Gerhard: Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, Bd. 1: Die altpreußische Tradition (1740– 1890), München 1954; Bd. 2: Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich (1890– 1914), München 1960; Bd. 3: Die Tragödie der Staatskunst. Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914–1917), München 1964; Bd. 4: Die Herrschaft des deutschen Militarismus und die Katastrophe von 1918, München 1968. (54) Schäfer, Dietrich: Deutsche Geschichte, Bd. 1: Mittelalter, Bd. 2: Neuzeit, 2. Aufl. Jena 1912. (55) Schulze, Winfried: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989. (56) Siemann, Wolfram: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849–1871, Frankfurt a. M. 1990. (57) Stürmer, Michael (Hrsg.): Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918, 3. Aufl. Düsseldorf 1977 [Erstdruck 1970]. (58) Stürmer, Michael: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, 2. Aufl. Berlin 1983. (59) Sybel, Heinrich von: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach den preußischen Staatsacten, 7 Bde., 3. Aufl. München – Leipzig 1890–1894. (60) Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden, Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen, Bd. 3: Bis zur Julirevolution, Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III., Bd. 5: Bis zur Märzrevolution, Leipzig 1927 [Erstdruck 1879– 1894]. (61) Ullmann, Hans-Peter: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt a. M. 1995. (62) Ullmann, Hans-Peter: Politik im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, München 1999. (63) Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, Frankfurt a. M. 1997. (64) van der Loo, Hans u. van Reijen, Willem: Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992. (65) Veblen, Thorstein: Imperial Germany and the Industrial Revolution, London 1915. (66) Wahl, Adalbert: Deutsche Geschichte. Von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges (1871–1914), 4 Bde., Stuttgart 1926–1936. (67) Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. 6. Aufl. Göttingen 1988 [Erstdruck 1973].
Literatur (68) Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 1987; Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49, München 1987; Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995; Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003. (69) Wehler, Hans-Ulrich: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozialund Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. Göttingen 1979. (70) Wehler, Hans-Ulrich: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. (71) Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974. (72) Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000; Bd. 2: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000. (73) Ziekursch, Johannes: Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, Bd. 1: Die Reichsgründung, Frankfurt a. M. 1925; Bd. 2: Das Zeitalter Bismarcks (1871–1890), Frankfurt a. M. 1927; Bd. 3: Das Zeitalter Wilhelms II. (1890–1918), Frankfurt a. M. 1930.
III. Forschungsprobleme 1. „1866“ – oder: Alternativen zur Reichsgründung (74) Becker, Josef (Hrsg.): Bismarcks spanische „Diversion“ 1870 und der preußisch-deutsche Reichsgründungskrieg. Quellen zur Vor- und Nachgeschichte der Hohenzollern-Kandidatur für den Thron in Madrid 1866–1932, Bd. 1: Spätjahr 1866– 4. April 1870, Paderborn u. a. 2003, Bd. 2: 5. April 1870–12. Juli 1870, Paderborn 2003, Bd. 3: Spanische „Diversion“, „Emser Depesche“ und Reichsgründungslegende bis zum Ende der Weimarer Republik. 12. Juli 1870–1. September 1932, Paderborn u. a. [im Druck]. (75) Biefang, Andreas: Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994. (76) Blänsdorf, Agnes: Staat – Nation – Volk. Österreich und Deutschland, in: GWU 42 (1991), S. 767–774. (77) Boyer, John W.: Some Reflections on the Pro-
blem of Austria, Germany, and Mitteleuropa, in: Central European History 22 (1989), S. 301–315. (78) Brandenburg, Erich: Deutsche Einheit, in: Historische Vierteljahrsschrift 30 (1936), S. 757–770. (79) Conrad, Sebastian: Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan, 1945–1960, Göttingen 1999. (80) Conze, Werner u. Groh, Dieter: Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Die deutsche Sozialdemokratie vor, während und nach der Reichsgründung, Stuttgart 1966. (81) Cornelissen, Christoph: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001. (82) Doering-Manteuffel, Anselm: Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815– 1871 (EDG 15), München 1993. (83) Duchhardt, Heinz u. May, Gerhard (Hrsg.): Geschichtswissenschaft um 1950, Mainz 2002. (84) Erdmann, Karl Dietrich: Drei Staaten, zwei Nationen, ein Volk?, in: GWU 36 (1985), S. 671–683. (85) Fahrmeir, Andreas K.: Opfer borussischen Geschichtsmythos? Das 19. Jahrhundert in der Historiographie 1871–1995, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 25 (1996), S. 73–95. (86) Flöter, Jonas: Beust und die Reform des deutschen Bundes 1850–1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage, Köln u. a. 2001. (87) Friedjung, Heinrich: Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859–1866, 2 Bde., Stuttgart 1897 u. 1898. (88) Gall, Lothar (Hrsg.): Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln – Berlin 1971. (89) Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. 1983 [Erstdruck 1980]. (90) Goebel, Christiane: Die Bundes- und Deutschlandpolitik Kurhessens in den Jahren 1859 bis 1866. Eine Analyse zur Untergangsphase des deutschen Bundes, Marburg 1995. (91) Green, Abigail: „Fatherlands“. State Building and Nationhood in Nineteenth Century Germany, Cambridge 2001. (92) Hahn, Hans-Werner: Geschichte des deutschen Zollvereins, Göttingen 1984. (93) Hanisch, Manfred: Für Fürst und Vaterland. Legitimationsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991. (94) Hantsch, Hugo: Österreich. Vom deutschen Dualismus zum österreichischen Staat, in: Walther Hofer (Hrsg.): Europa und die Einheit Deutschlands. Eine Bilanz nach 100 Jahren, Köln 1970, S. 249– 284.
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Literatur (95) Hartung, Fritz: Preußen und die deutsche Einheit, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 49 (1937), S. 1–21. (96) Hertfelder, Thomas: Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft. Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik (1910– 1945), Göttingen 1995. (97) Hirschhausen, Ulrike von u. Leonhard, Jörn (Hrsg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001. (98) Jansen, Christian: Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867, Düsseldorf 2000. (99) Kaernbach, Andreas: Bismarcks Konzepte zur Reform des deutschen Bundes. Zur Kontinuität der Politik Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage, Göttingen 1991. (100) Kaindl, Raimund Friedrich: 1848/49–1866 – 1918/19, München 1920. (101) Kaindl, Raimund Friedrich: Österreich, Preußen, Deutschland. Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung, Wien – Leipzig 1926. (102) Kolb, Eberhard (Hrsg.): Europa und die Reichsgründung. Preußen-Deutschland in der Sicht der großen europäischen Mächte 1860–1880, München 1980. (103) Langewiesche, Dieter: Deutschland und Österreich. Nationswerdung und Staatsbildung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, in: GWU 42 (1991), S. 754–766. (104) Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, (105) Lutz, Heinrich u. Rumpler, Helmut (Hrsg.): Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1982. (106) Lutz, Heinrich: Außenpolitische Tendenzen der Habsburger Monarchie von 1866 bis 1871: „Wiedereintritt in Deutschland“ und Konsolidierung als europäische Macht im Bündnis mit Frankreich, in: Eberhard Kolb (Hrsg.): Europa vor dem Krieg von 1870. Mächtekonstellationen – Konfliktfelder – Kriegsausbruch, München 1987, S. 1–16. (107) Lutz, Heinrich: Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches. Europäische Entscheidungen 1867–1871, Frankfurt a. M. u. a. 1979. (108) Lutz, Heinrich: Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815–1866, Berlin 1985. (109) Meyer, Alfred: Der Zollverein und die deutsche Politik Bismarcks. Eine Studie über das Verhältnis von Wirtschaft und Politik im Zeitalter der Reichsgründung, Frankfurt a. M. u. a. 1986. (110) Müller, Jürgen: Bismarck und der deutsche Bund, Friedrichsruh 2000.
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(111) Pflanze, Otto: Bismarck. Der Reichsgründer, München 1997. (112) Potthoff, Heinrich: Die deutsche Politik Beusts von seiner Berufung zum österreichischen Außenminister Oktober 1866 bis zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870/71, Bonn 1968. (113) Retallack, James: „Why can’t a Saxon be more like a Prussian?“ Regional Identities and the Birth of Modern Political Culture in Germany, 1866–67, in: Canadian Journal of History 32 (1997), S. 26–55. (114) Ritter, Gerhard: Das Bismarckproblem, in: Merkur 4 (1950), S. 657–676. (115) Rumpler, Helmut: „Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, der noch lange nicht aus ist“. Bismarcks Erfolgspolitik und das deutsch-österreichische Problem, in: MIÖG 101 (1993), S. 37–67. (116) Rumpler, Helmut: Bayern – zwischen Deutschland und Österreich. Die mitteleuropäische Dimension der Politik Ludwig von der Pfordtens, in: ZBLG 56 (1993), S. 459–476. (117) Rumpler, Helmut: Das Deutsche Reich aus der Sicht Österreich-Ungarns, in: Ders. (Hrsg.): Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71 bis 1914. Historikergespräch Österreich – Bundesrepublik Deutschland 1989, Wien – München 1991. (118) Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997. (119) Schieder, Theodor u. Deuerlein, Ernst (Hrsg.): Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, Stuttgart 1970. (120) Schnabel, Franz: Das Problem Bismarck, in: Hochland 42 (1949/50), H. 1, Okt. 1949, S. 1– 27. (121) Schnabel, Franz: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1: Die Grundlagen, Freiburg 1929; Bd. 2: Monarchie und Volkssouveränität, Freiburg 1933; Bd. 3: Erfahrungswissenschaften und Technik, Freiburg 1934; Bd. 4: Die religiösen Kräfte, Freiburg 1937. (122) Schwabe, Klaus u. Reichardt, Rolf (Hrsg.): Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard/Rh. 1984. (123) Seier, Hellmut: Der Deutsche Bund als Forschungsproblem 1815 bis 1960, in: Helmut Rumpler (Hrsg.): Deutscher Bund und deutsche Frage 1815–1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation, Wien – München 1990, S. 31–58. (124) Sheehan, James J.: What is German History?
Literatur Reflections on the Role of the Nation in German History and Historiography, in: Journal of Modern History 53 (1981), S. 1–23. (125) Srbik, Heinrich Ritter von (Hrsg.): Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1859–1866, 5 Bde., Oldenburg 1934–1938. (126) Srbik, Heinrich Ritter von: Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz, 4 Bde., München 1936–1942. (127) Srbik, Heinrich Ritter von: Die Bismarck-Kontroverse. Zur Revision des deutschen Geschichtsbildes, in: Wort und Wahrheit 5 (1950), S. 918–931. (128) Wandruszka, Adam: Schicksalsjahr 1866, Graz 1966. (129) Wilson, Keith: Governments, Historians, and ‘Historical Engineering’, in: Ders. (Hrsg.): Forging the Collective Memory. Government and International Historians Through Two World Wars, Providence – Oxford 1996, S. 1–27. (130) Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Nationalismus, Königstein/Ts. 1978.
2. Innere Reichsgründung (131) Böhme, Helmut: Bismarcks Schutzzollpolitik und die Festigung des konservativen Staates, in: Ders. (Hrsg.): Probleme der Reichsgründungszeit 1848–1879, Köln – Berlin 1968, S. 328–352. (132) Böhme, Helmut: Einleitung. Probleme der Reichsgründungszeit, in: Ders. (Hrsg.): Probleme der Reichsgründungszeit 1848–1879, Köln – Berlin 1968, S. 11–17. (133) Bußmann, Walter: Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: HZ 186 (1958), S. 527–557. (134) Gall, Lothar (Hrsg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegungen in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997. (135) Gall, Lothar u. Langewiesche, Dieter (Hg): Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995. (136) Gall, Lothar: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: HZ 220 (1975), S. 324–356. (137) Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988. (138) Langewiesche, Dieter: Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich. Konzeption und Ergebnisse, in: Ders. (Hrsg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 11–19. (139) Langewiesche, Dieter: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988.
(140) Leonhard, Jörn: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001. (141) Mommsen, Wolfgang J.: Der deutsche Liberalismus zwischen „klassenloser Bürgergesellschaft“ und „organisiertem Kapitalismus“, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 77–90. (142) Mommsen, Wolfgang J.: Das deutsche Kaiserreich als System umgangener Entscheidungen, in: Ders.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1990, S. 11–38 [Erstdruck 1978]. (143) Pflanze, Otto: „Sammlungspolitik“ 1875– 1886. Kritische Bemerkungen zu einem Modell, in: Ders. (Hrsg.): Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches, München – Wien 1983, S. 155–193. (144) Pflanze, Otto: Bismarck and the Development of Germany, Bd. 1: The Period of Unification, 1815–1871, 2. Aufl. Princeton 1990. (145) Pflanze, Otto: Bismarcks Herrschaftstechnik als Problem der gegenwärtigen Historiographie, in: HZ 234 (1982), S. 561–599. (146) Pohl, Karl Heinrich: Liberalismus und Bürgertum 1880–1918, in: Lothar Gall (Hrsg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997, S. 231– 291. (147) Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1985. (148) Rosenberg, Hans: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967. (149) Rosenberg, Hans: Wirtschaftskonjunktur, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, 1873 bis 1896, in: Ders.: Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozialund Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978, S. 173– 197 [Erstdruck des Aufsatzes 1966]. (150) Schieder, Theodor: Grundfragen der neueren deutschen Geschichte, in: Helmut Böhme (Hrsg.): Probleme der Reichsgründungszeit 1848–1879, Köln – Berlin 1968, S. 21–33 [Erstdruck in HZ 192 (1961), S. 1–16]. (151) Seier, Hellmut: Liberalismus und Bürgertum in Mitteleuropa 1850–1880. Forschung und Literatur seit 1970, in: Lothar Gall (Hrsg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung seit dem 18. Jahrhundert, München 1997, S. 131–229. (152) Sell, Friedrich C.: Die Tragödie des deutschen Liberalismus, 2. Aufl. Baden-Baden 1982 [Erstdruck 1953]. (153) Sheehan, James J.: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983 [am. Erstdruck 1978].
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Literatur (154) Stolleis, Michael: „Innere Reichsgründung“ durch Rechtsvereinheitlichung 1866–1880, in: Christian Starck (Hrsg.): Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze – Bedingungen, Ziele, Methoden, Göttingen 1993, S. 15–41. (155) Weber, Max: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, in: Ders.: Gesammelte Politische Schriften, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1988, S. 306–443 [Erstdruck als Zeitungsartikel 1917, als Broschüre 1918]. (156) Winkler, Heinrich August: Liberalismus und Antiliberalismus, Göttingen 1979.
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(468) Raphael, Lutz: Anstelle eines „Editorials“. Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht. Die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft“ in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5–37.
Literatur zur Neuauflage (469) Afflerbach, Holger u. Stevenson, David (Hrsg.): An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914, Oxford 2007. (470) Angelow, Jrgen: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des Alten Europa 1900–1914, Berlin 2010. (471) Baumgart, Winfried (Bearb.): Bismarck und der deutsche Kolonialerwerb 1883–1885. Eine Quellensammlung, Berlin 2011. (472) Baumgart, Winfried: Warum erwarb Bismarck 1883/85 Kolonien fr Deutschland? Die Lsung eines Rtsels, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 19 (2009), S. 171–216. (473) Bayly, Christopher: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt/M. – New York 2006. (474) Becker, Jean-Jacques u. Krumeich, Gerd (Hrsg.): Der große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914–1918, Essen 2010. (475) Berger, Stefan: Inventing the Nation. Germany, London 2004. (476) Biskup, Thomas u. Kohlrausch, Martin (Hrsg.): Das Erbe der Monarchie. Nachwirkungen einer deutschen Institution seit 1918, Frankfurt/M. – New York 2008. (477) Borutta, Manuel: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europischen Kulturkmpfe, Gttingen 2010. (478) Bsch, Frank: ffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, Mnchen 2009. (479) Breuilly, John: Modernisation as Social Evolution. The German Case c. 1800–1880, in: Transactions of the Royal Historical Society 15 (2005), S. 117–147. (480) Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, Mnchen 2006. (481) Conrad, Sebastian u. Osterhammel, Jrgen (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Gttingen 2004. (482) Conze, Eckart, Lappenkper, Ulrich u. Mller, Guido (Hrsg.): Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Kln 2004. (483) Darwin, John: After Tamerlane. The Global History of Empire, London 2007. (484) Ehlert, Hans u.a. (Hrsg.): Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente, Paderborn 2006.
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(515) Steller, Verena: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutsch-franzsischen Beziehungen 1870–1919, Paderborn u.a. 2011. (516) Strachan, Hew: The Outbreak of the First World War, Oxford 2004. (517) Torp, Cornelius: Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Gttingen 2005. (518) Trotha, Trutz von: Genozidaler Pazifizierungskrieg. Soziologische Anmerkungen zum Konzept des Genozids am Beispiel des Kolonialkrieges in Deutsch-Sdwestafrika 1904–1907, in: Zeitschrift fr Genozidforschung 2 (2003), S. 30–57. (519) van Laak, Dirk: Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen fr eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn u.a. 2004. (520) Wagner, Peter: Moderne als Erfahrung und Interpretation. Eine neue Soziologie zur Moderne, Konstanz 2009. (521) Walser Smith, Helmut: Jenseits der Sonderweg-Debatte, in: Mller, Sven Oliver u. Torp, Cornelius (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Gttingen 2009, S. 31–50. (522) Weichlein, Siegfried: Nation State, Conflict Resolution, and Culture War, 1850–1878, in: Walser Smith, Helmut (Hrsg.): The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 281–306. (523) Weichlein, Siegfried: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Dsseldorf 2004. (524) Zeller, Joachim u. Zimmerer, Jrgen (Hrsg.): Vlkermord in Deutsch-Sdwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003. (525) Ziemann, Benjamin: Das Kaiserreich als Epoche der Polykontexturalitt, in: Mller, Sven Oliver u. Torp, Cornelius (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Gttingen 2009, S. 51–65. (526) Zimmerer, Jrgen: Von Windhuk nach Auschwitz? Beitrge zum Verhltnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin 2011. (527) Zimmermann, Andrew: Race and World Politics. Germany in the Age of Imperialism 1878–1914, in: Walser Smith, Helmut (Hrsg.): The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 359–376.
Personenregister Adenauer, Konrad 86, 89 Afflerbach, Holger 92, 93 Albertini, Luigi 85, 87 Alexander III., russischer Zar 59, 61–63 Altermatt, Urs 104 Amery, Carl 95, 96, 103, 107 Baumgart, Winfried 65, 68 Baumgarten, Hermann 22 Bebel, August 97 Becker, Otto 61–65 Bennigsen, Rudolf von 32 Berchem, Max Graf von 64 Berghahn, Volker R. 15, 91, 114 Bethmann Hollweg, Theobald von 77, 86–90 Beust, Friedrich Ferdinand Graf von 21 Biefang, Andreas 31 Bismarck, Herbert von 59 Bismarck, Otto von 3–10, 13, 18–19, 21–38, 40, 43–51, 53–71, 74, 76, 78, 79, 84, 92, 96, 112, 114, 118, 119, 121, 122 Blackbourn, David 15, 20, 108, 110–112, 114–116 Blaschke, Olaf 106 Blessing, Werner K. 104 Böhme, Helmut 19, 32, 33, 35–37 Boulanger, Georges 58 Brandenburg, Erich 4, 5, 22, 26, 84 Bülow, Fürst Bernhard von 47, 76, 83, 87 Burckhardt, Jacob 3 Bußmann, Walter 38, 68 Canis, Konrad 68 Caprivi, Leo Graf von 56, 57, 60, 63, 66, 68 Churchill, Winston 83 Conze, Werner 111 Delbrück, Hans 84 Delbrück, Rudolf von 32 Doering-Manteuffel, Anselm 29, 30 Droysen, Johann Gustav 2, 3, 8, 15 Dülffer, Jost 66 Eley, Geoff 20, 108, 110–117, 122 Elias, Norbert 75–77 Erdmann, Karl Dietrich 29, 90 Evans, Richard J. 108, 110, 111, 115, 117 Eyck, Erich 72–75, 77, 80 Fairbairn, Brett 97 Fehrenbach, Elisabeth 79
Ferguson, Niall 92 Ferry, Jules 54 Fisch, Jörg 15, 122 Fischer, Fritz 10, 15, 19, 20, 81, 82, 86–93, 111, 115, 118, 120, 122 Flöter, Jonas 30 Förster, Stig 93, 112, 113 Fontane, Theodor 97 Frank, Walter 63, 64 Frankenberg, Richard 57 Frantz, Constantin 23 Friedjung, Heinrich 25 Friedrich II., König in Preußen 23 Friedrich III., deutscher Kaiser 1, 46, 61, 70 Friedrich, Norbert 78 Gall, Lothar 28, 53–55, 68 Grieshammer, Werner 26 Groh, Dieter 101 Hagen, Maximilian von 63 Hartung, Fritz 24, 26, 46, 71, 73, 74, 80 Hennig, Eike 49 Herzfeld, Hans 43, 48, 86, 87 Hildebrand, Klaus 51–53, 55, 56, 60, 68, 91 Hilferding, Rudolf 50 Hillgruber, Andreas 51–53, 55, 56, 66, 90 Hindenburg, Paul von 79 Hitler, Adolf 1, 8, 9, 14, 26, 47, 72, 85, 89, 119 Hobsbawm, Eric 56 Hobson, John Atkinson 50 Holstein, Friedrich von 63, 64, 68 Hubatsch, Walther 82, 86 Huber, Ernst Rudolf 74, 76, 80 Jansen, Christian 31 Jarausch, Konrad 94 Kaindl, Raimund Friedrich 25, 27 Kantorowicz, Hermann 84 Kaschuba, Wolfgang 100 Kehr, Eckart 10, 84, 91, 110, 111 Kennan, George F. 94 Kennedy, Paul 54, 111 Kiderlen-Wächter, Alfred von 79 Kießling, Friedrich 92 Kluke, Paul 46 Kocka, Jürgen 50, 111, 116, 120 Krüger, Paulus [genannt Ohm] 79 Krupp, Friedrich Alfred 97
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Personenregister Kühne, Thomas 14, 43, 117, 121 Kuhlemann, Frank Michael 106 Lamprecht, Karl 115 Langewiesche, Dieter 30, 39, 41, 42, 122 Lasker, Eduard 40 Lenin, eigentl. Uljanow, Wladimir Iljitsch 50 Leo XIII., Papst 32 Lepsius, Johannes 57 Lepsius, M. Rainer 20, 94–99, 101–108 Lloyd George, David 85 Lösche, Peter 99, 102 Loth, Wilfried 35, 53, 103–105 Ludwig XIV., König von Frankreich 75 Ludwig, Emil 70–73, 75, 80 Lüdtke, Alf 48, 115 Lütge, Friedrich 94 Luther, Martin 18 Lutz, Heinrich 29 Luxemburg, Rosa 50 Mann, Golo 86 Marcks, Erich 7, 8 Marx, Karl 44, 53, 55 Medick, Hans 49 Meinecke, Friedrich 8, 51, 115 Metternich, Klemens Wenzel Fürst von 2, 25 Mock, Wolfgang 112 Moeller, Robert G. 108, 111 Moltke, Helmuth Graf von [der Ältere] 9 Moltke, Helmuth von [der Jüngere] 90 Mommsen, Wolfgang J. 11, 12, 14, 15, 40, 49, 50, 69, 78–81, 90, 92, 111, 116, 119, 120 Mork, Gordon R. 43, 49 Mussolini, Benito 85 Nipperdey, Thomas 11–15, 40, 54, 96, 101, 107 Napoleon Bonaparte 9 Nietzsche, Friedrich 113 Nolte, Paul 114, 120 Ossietzky, Carl von 72 Perrey, Hans-Jürgen 72 Peukert, Detlev J. K 113, 114, 116 Pflanze, Otto 36, 43, 48 Pius IX., Papst 32 Poincaré, Raymond 85 Rachfahl, Felix 61, 62, 64, 65 Radkau, Joachim 78 Ranke, Leopold von 14, 53 Raphael, Lutz 119 Rathenau, Walther 80 Rauh, Manfred 98
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Reinhard, Wolfgang 56 Renner, Karl 25 Renouvin, Pierre 85 Retallack, James 122 Rich, Norman 48 Riehl, Axel T. G. 53 Rietzler, Kurt 90 Ritter, Gerhard 8–10, 23, 24, 26, 27, 31, 81, 85, 86, 88, 89, 91, 120 Ritter, Gerhard A. 101, 120 Robespierre, Maximilien de 9 Röhl, John C. G. 19, 69, 74–80, 90 Rohe, Karl 97–99, 106 Rosenberg, Hans 10, 33, 34, 36, 50 Rothfels, Hans 61, 62, 64, 65, 119, 120 Salisbury, Robert Cecil Marquess of 62, 63 Salomon, Felix 119 Schäfer, Dietrich 4, 5 Schieder, Theodor 10, 40, 81, 83, 85, 120 Schieder, Wolfgang 92, 103 Schlangen, Walter 48 Schmitt, Bernardotte E. 85 Schmitt, Carl 40 Schnabel, Franz 19, 22–24, 26, 27, 30, 31 Schöllgen, Gregor 50, 56 Schönberger, Christoph 98 Schröder, Gerhard 89 Schüßler, Wilhelm 25 Schumpeter, Joseph Alois 50, Schweinitz, Hans Lothar von 57, 61 Seier, Hellmut 42 Sell, Friedrich C. 38 Sheehan, James J. 39, 111 Sombart, Nicolaus 77, 78, 80 Spenkuch, Hartwin 117 Sperber, Jonathan 97, 106 Srbik, Heinrich Ritter von 25–27, 31 Stolleis, Michael 37 Stresemann, Gustav 64 Stürmer, Michael 11, 12, 14, 15, 78 Sybel, Heinrich von 3–6, 15, 22, 25, 31, 51 Taylor, Alan John Percivale 46, 47 Tenfelde, Klaus 102 Thompson, Edward P. 101 Townsend, Mary 46 Treitschke, Heinrich von 1, 3, 5, 6, 15, 25, 31, 115, 120, 121 Trützschler von Falkenstein, Heinz 61, 62 Tucholsky, Kurt 71 Uebersberger, Hans 63 Ullmann, Hans-Peter 15, 19, 34, 35, 56, 81 Ullrich, Volker 15, 55, 93
Personenregister Veblen, Thorstein 5 Victoria, Gemahlin Kaiser Friedrichs III. 46 Virchow, Rudolf 32 Wahl, Adalbert 5–8, 84 Walter, Franz 102 Wandruszka, Adam 22, 99 Weber, Max 13, 38, 53, 55, 109, 110, 113 Wegerer, Alfred von 84, 85 Wehler, Hans-Ulrich 10–15, 19, 30, 33, 36, 37, 43–45, 47–56, 67, 79–81, 91, 108–110, 112, 113, 115–117, 120, 123
Werner, Anton 32 Wilhelm I., König von Preußen und deutscher Kaiser 1, 18, 22, 46, 47, 57, 66, 70, 78 Wilhelm II., deutscher Kaiser 1, 3, 6, 18, 19, 47, 68–81, 83, 84, 87, 89, 90, 118, 119, 121, 122 Wilson, Woodrow 85 Winkler, Heinrich August 15, 102, 112, 120 Zechlin, Egmont 90 Ziekursch, Johannes 5–7, 10, 84 Zorn, Wolfgang 48
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Sachregister Absolutismus 78 Adel 33, 103, 116, 122 Afrika 45, 46, 56, 59 Ägypten 59 Akteneditionen nach dem Ersten Weltkrieg 60, 83, 92 Alltag, Alltagsgeschichte 13, 14, 39, 109, 110, 113, 115–117 Altes Reich vor 1806 26 Antisemitismus, antisemitische Parteien 42 Arbeiter, Arbeiterkultur, Arbeiterbewegung 43, 94, 97, 99, 100, 101, 103, 105, 116 Armenfürsorge 39, 42 Asien 56 Attentat von Sarajewo 82, 87 Aufklärung 5 Auschwitz 8 Baden 28, 39 Balkan, Balkankriege 58, 59, 84 Bayern 28 Befreiungskriege 1, 2, 66 Belgien 82, 122 Berliner Kongress 58 Bonapartismus 11, 13, 44, 50, 55 Borussianismus, borussische Geschichtsschreibung 2, 3, 15, 24, 120 Bosporus 59 Bulgarien 58, 59, 61 Bundesrepublik Deutschland 14, 23, 24, 27, 83, 86, 89, 93, 99, 102, 120, 121 Bürgertum, bürgerliche Gesellschaft 36, 38, 40, 41, 94, 95, 97, 99, 101, 103, 106, 109, 110, 112, 113, 116, 122 Bürokratisierung 104 Charismatische Herrschaft 13, 55, 80 Cleavage-Konzepte 95, 98, 105 Daily-Telegraph-Affäre 73, 76, 78 Dänemark 43 Dänischer Krieg 1864 3, 21, 36 Demokratie, Demokratisierung 6–8, 38, 40, 45, 49, 74, 79, 94–96, 98, 106, 109, 110, 113, 122 Deutsche Demokratische Republik 27, 96, 101 Deutsche Vereinigung 1989/90 21, 29, 39, 120 Deutscher Bund 2, 23, 26, 28–30 Deutscher Dualismus 4 Deutscher Sonderweg 5, 8–14, 18, 33, 108–112, 117, 119, 120
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Deutsch-Französischer Krieg 1870/71 3, 9, 21, 22, 36 Diplomatie, Diplomatiegeschichte 29, 33, 47, 51, 53, 55, 56, 59–61, 65–67, 75, 83–86, 91, 92 Dreibund Deutsches Reich – Österreich-Ungarn – Italien 59 Dreikaiserbündnis Deutsches Reich – ÖsterreichUngarn – Russland 34, 59 Eliten, Elitentheorien 36, 45, 69, 75, 78–81, 84, 90, 91, 98, 100, 104, 105, 107, 109, 110, 112, 113, 117 Elsass-Lothringen 39, 43, 58 Emigration, Exil 7, 70, 73, 78, 84, 111 England, Großbritannien, British Empire 5, 14, 46, 47, 54, 55, 58, 59, 61–64, 66, 68, 82, 83, 85–88, 92, 98–100, 108, 122 Entente 62 Entlassung Bismarcks 1890 6, 45, 56, 57, 67 Ereignis, Ereignisgeschichte 11, 28, 115 Erster Weltkrieg 4–7, 11, 12, 14, 15, 17–19, 26, 27, 30, 33, 42, 57, 63, 65, 69–71, 73, 77–85, 87–89, 91–95, 100, 108, 109, 112, 114, 119, 122 Europäische Einigung 15, 22, 39 Europäisches Mächtesystem 12, 21, 23, 28–30, 34, 45–47, 54, 58, 60, 65, 68, 92, 93 „Farbbücher“ 82 Feudalisierung 116 Finanzen, Finanzpolitik, Steuerpolitik, Zölle 32, 35, 36, 41, 45 Fischer-Kontroverse 10, 11, 15, 19, 20, 72, 81–94, 111, 115, 118, 122, 123 Flotte, Flottenbau, Marine 35, 80, 81, 84, 91, 111 Föderalismus, föderative Strukturen 6, 23, 24, 29, 30, 42 Fortschritt 2, 41 Frankreich 5, 26, 31, 46, 47, 54, 55, 57, 58, 61, 62, 65, 66, 82–88, 122 Französische Revanchepolitik 46, 54, 58 Französische Revolution 6, 9, 18, 22 Freihandel 32, 33, 44 Geistesgeschichte 33, 51, 115 Gemeinwohl, Gemeinwohlrhetorik 41, 42 Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung 24–26 Geschichtspolitik 25, 27 Geschlechtergeschichte, Frauengeschichte, Männergeschichte 17, 93, 101, 110, 111, 117, 121
Sachregister Gesellschaft, Gesellschaftsgeschichte 9, 11–13, 15, 37, 52, 53, 55, 56, 109, 110, 117–119, 122, 123 Gewerkschaften 42, 100 Gleichgewicht – Hegemonie 11, 51 Globalisierung 15, 22, 123 Großdeutsch/kleindeutsch 3, 7, 21–26, 29, 30 „Große Depression“ (H. Rosenberg) 33, 34, 35, 36, 44, 45, 49 Gründerkrise 32, 34, 36, 41 Handlungsspielraum 27, 39, 41, 65, 84 Herrschaft, Herrschaftssystem, Politisches System 5, 11–14, 18, 45, 54, 74, 75, 78, 80, 109 Hessen 28 „Historiker der Bundesrepublik“ (P. Nolte) 120 Historikergenerationen 3, 7, 9, 10, 17, 20, 26, 28, 48, 49, 51, 53, 55, 70, 74, 88, 89, 91, 102, 115, 120 Historikerschulen 10, 17, 20, 111 Historikertag 20, 81, 89, 115 Historische Belletristik 72 Historische Bibliographie online 94 Historische Biographik 33, 75, 77, 78, 103 Historische Sozialwissenschaft 33, 34, 35, 52, 108–110, 114–116, 119 Historismus 14, 53 „Ideen von 1914“ 4, 33 Ideengeschichte 38, 39 Imperialismus, Sozialimperialismus 11, 43, 44, 92, 93 Individualisierung 104 Industrialisierung, Industrielle Revolution 2, 11, 13, 28, 37, 44, 49, 51, 94, 96, 100, 104, 105, 113, 122 Industriegesellschaft, Industriestaat 1, 12, 36, 76, 81, 96, 109, 110, 114 Industrieverbände 32, 33, 34, 36, 110 „Innere Reichsgründung“ (H. Böhme) 19, 31–43, 118 Institutionengeschichte 103, 105 Interessenverbände 33, 45, 65, 87 Italien 30, 59, 63, 66, 85, 86, 122 Jahrhundertwende 4, 15, 22, 25, 69, 78, 114, 115, 120 Julikrise 1914 60, 72, 85, 87, 88, 90, 91, 93 Kabinettspolitik 66 Kaiser, Kaiserlicher Hof 1, 6, 19, 40, 69–81, 87 Kapitalismus 11, 40, 109, 110 Kartell 33–35, Katholizismus, Katholische Kirche, Katholizismusforschung 3, 19, 23, 24, 32, 39, 42, 43, 94, 95, 97, 99, 100, 102–107, 118,
Kino 1, 101, Kissinger Diktat 59, 60, 62, 67 Klasse, Klassenbewusstsein, Klassenkampf, Klassengesellschaft 11, 13, 40, 55, 95, 97, 113 „Klassische Moderne“ (D. Peukert) 112–114, 116 Königgrätz 21, 26 „Königsmechanismus“ (N. Elias) 74–81 Kolonien, Kolonialpolitik 19, 43–56, 92, 118, 119, 121–123 Kommunismus, Kommunistische Parteien 99, 102 Konservative Wende 32, 33, 36, 37, 55 Konservativismus, Konservative, Konservative Parteien 3, 23, 33, 35, 41, 42, 46, 94, 95, 100, 106, 107, 109, 113 Kreisordnung 40 Kriegsniederlage 1918 1, 5, 6, 25, 57, 61, 70, 72 „Kriegsrat“ 8.12.1912 90 Kriegsschuldfrage, Kriegsschulddebatte 20, 61, 70, 71, 73, 81–94, 119 Kriegsziele, Kriegszieldebatte 86–89 Krüger-Depesche 79 Kultur, Kulturgeschichte 1, 11–14, 18, 20, 23, 43, 53, 72, 95, 96, 103, 106–108, 110–113, 115–118, 121–123 „Kulturkampf“ (R. Virchow) 32, 35, 43, 105, 106 Landesgeschichte 26 Landwirtschaft, ländliche Gesellschaft, landwirtschaftliche Verbände 32–34, 36, 99, 110 Liberalismus, Liberale 2, 3, 5–7, 19, 21, 28, 30–33, 37–43, 46, 61, 70, 94, 95, 99, 100, 106, 107, 118 Linksliberalismus, Linksliberale Parteien 35, 38, 41, 43, 46, 50, 99 Literatur 1 Locarno 64 Macht, Machtstaat, Machtpolitik 8, 11, 12, 23, 29, 30, 36–38, 40, 45, 47, 51, 54, 55, 79, 81 Marokko-Krisen 79 Marxismus, Historischer Materialismus 50, 51, 96, 108 Massenkultur 1, 101, 102 Mecklenburg 39 Mentalitäten, Mentalitätsgeschichte 13, 43, 93, 101, 103–105, 116, 117 Milieu, sozialmoralische Milieus, politische Lager 20, 42, 94–108, 118, 121 Militär, Militarisierung, Militarismus 9, 33, 40, 45, 65–68, 80, 81, 84, 87, 90, 97, 101, 112, 113 Mitteleuropa 7, 22–24, 26, 27, 57 Mittellage 11, 12, 59, 67 Mittelmeerabkommen Italien – England – Österreich-Ungarn 59 Mittelstaaten 28, 30
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Sachregister Mobilität 40 Moderne, Modernisierung, Modernisierungstheorien 1, 5, 11–14, 16, 40, 42, 49, 50, 74, 78, 80, 95, 100, 104, 105, 109, 110, 113, 114, 117–121, 123 Musik 1 Nation, Nationalismus, Nationale Bewegung, Nationalstaat 1–4, 7, 8, 11, 12, 14–16, 21–25, 28–31, 39, 40–43, 55, 66, 78, 89, 95, 98–100, 106, 112–114, 119, 121, 122 Nationalliberalismus, Nationalliberale Partei 21, 24, 32, 35, 37, 38, 41, 46 Nationalsozialismus, Faschismus, NSDAP, NS-Zeit 7–10, 13, 15, 19, 23–26, 45, 63, 89, 94, 95, 98, 102, 109, 112–114, 119, 120, 122 „Negative Integration“ (D. Groh) 101 Nervosität 15, 78 Neuer Kurs Wilhelms II. 57, 66 Niederlande 70, 78, 122 Norddeutscher Bund 31, 32, 37, 40, 41 Öffentlichkeit, öffentliche Meinung 60, 66, 81 „Organisierter Kapitalismus“ 11, 50 Osmanisches Reich 58 Österreich, Österreich-Ungarn 3, 4, 7, 21–23, 25–30, 58, 59, 63, 66, 83, 86–88, 122 Osteuropa 7, 33 Ostrumelien 58, 59 Ozeanien 56 Parlament, Parlamentarisierung, parlamentarisches System 24, 34, 35, 38, 40–42, 54, 60, 65, 74, 98, 121, 122 Parteien, Parteiensystem 1, 33, 35, 38, 41, 42, 65, 74, 75, 87, 94–99, 101, 103, 104, 106, 107, 121 „Persönliches Regiment“ Wilhelms II. 69, 72, 73, 75, 77, 79, 80 Polen 7, 26, 43, 100 Politisierung, politische Mobilisierung, Massenmobilisierung 1, 11, 33, 41, 42, 49, 97, 98, 104, 113, 114 Politikgeschichte 12, 14, 17–20, 29, 38, 51, 52, 61, 75, 85, 86, 89, 90, 92, 103, 107, 109, 110, 114, 115, 118, 121 Politikwissenschaften 47, 50, 95, 107, 109 Posen 39 Präventivkrieg 66, 68, 90 Presse, Zeitungen 13 Preußen 2–6, 21, 26–30, 33, 40, 58, 105, 117 Preußische Reformen 9 Preußischer Verfassungskonflikt 3, 35 Preußisch-Österreichischer Krieg 1866 3, 4, 7, 21, 26, 28, 36 Primat der Außenpolitik 52, 55, 91, 117
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Primat der Innenpolitik 10–12, 34, 45, 50–52, 55, 56, 67, 84, 91, 109, 111, 117 Protestantismus, protestantische Kirchen, Protestantismusforschung 5, 7, 24, 42, 94, 97, 99, 100, 106 Quellen 17, 22, 26, 28, 36, 38, 44, 46–50, 53, 57, 60, 61, 64, 69, 71, 73, 75, 76, 82, 83, 85–87, 89, 92, 103 Rapallo 64 Region, Regionalismus, Regionalgeschichte 3, 28, 29, 38, 39, 42, 43, 95, 96, 98, 101, 104–107, 109, 110, 117, 122 Reichsämter, Reichsbehörden 63, 70, 76, 83 „Reichsfeinde“ 43, 100, 101 Reichsgründung 1–4, 6–8, 18, 19, 21–44, 58, 65, 66, 68, 71, 83, 84, 95, 97, 119, 123 Reichskanzler, Reichsleitung 22, 32, 40, 70, 87, 88, 99 Reichstag, Reichstagswahlen 32, 35, 38, 40, 45–47, 66, 74, 76, 97, 113 Reichsverfassung 5, 6, 12, 13, 33, 39, 40 Religion, Religionssoziologie, Religionsgeschichte 13, 23, 95, 96, 103–107 Revolution 1848/49 1, 2 Revolution 1918/19 1, 5, 6 Rezensent, Rezension 12, 25, 72, 89, 110, 111 Riezler-Tagebücher 90 Rückversicherungsvertrag 19, 56–69, 84, 118, 121 Rumänien 63 Russland, Sowjetunion 5, 8, 19, 29, 33, 46, 54, 57–66, 68, 82–84, 87, 88, 119, 122 Rüstung 9, 66, 91–93 Ruhrgebiet 97, 100, 101, 105 Sachsen 97, 98, 101 Säkularisierung 11, 16, 97, 104 Sammlungspolitik 33, 35, 36, 45 Schule 97, 101 Schwarzes Meer 59 Schweiz 72, 98, 122 Selbstverwaltung 40 Septemberprogramm Bethmann Hollwegs 90 Serbien 59, 87, 88 Sozialgeschichte 11–13, 15, 19, 20, 29, 50–52, 74, 75, 79, 89, 91, 96, 103, 104, 108–112, 114–118 Sozialismus, sozialistische Parteien, SPD 3, 5, 28, 35, 41, 42, 43, 50, 82, 83, 95, 97–102, 106, 107, 118 Sozialistengesetz 32, 35, 43, 45, 100, 106 Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat 1, 42, 45, 120 Sozialwissenschaften 10, 11, 44, 47, 50, 95, 107, 109 Spanien 59
Sachregister Sport, Fußball, Turnen 1, 99–101 Staat, Staatlichkeit, Staatsraison 9, 15, 22, 29 Staatsbürgerrecht 39 Städte, Kommunen, Urbanisierung, „Kommunaler Sozialliberalismus“ (Langewiesche) 42, 97, 104, 109 Stand, Ständestaat, Ständische Gesellschaft 6, 33, 40, 103 „Stille Parlamentarisierung“ (M. Rauh) 98 Strukturgeschichte 11, 20, 29, 39, 48, 75, 79, 116 Süddeutschland 21, 24 Sudetendeutsche, Sudetenkrise 7, 26 Transnationale Geschichte 53, 94, 122 Tschechoslowakei 7, 26 Unfallversicherung 35 USA 10, 72, 85, 89, 98, 119, 120 Vereine, Verbände 1, 42, 96, 99, 100, 102, 104, 106, 112, 113 Vergleich, Vergleichende Geschichtsschreibung 39, 50, 56, 92, 96, 98, 103, 107, 110, 116, 117, 121 Versailler Vertrag 7, 70, 72, 82–85, 88, 89 Volk, Volkstum, Volksgeschichte 7, 15, 26, 73, 74, 86 Währung 39 Wahlen, Wahlrecht, Wahlkampf, Wahlbeteiligung 1, 21, 35, 41, 42, 94, 97, 105, 106
Wahlforschung 94, 96–99 Weimarer Republik 5–7, 9, 10, 14, 15, 19, 24, 25, 57, 58, 71–73, 78, 91, 96, 97, 102, 106, 107, 111, 113, 114 Weltgeschichte, World History 43, 51, 56, 69, 122 Weltpolitik 47, 54, 55, 58, 86–89 Westeuropa 5, 33, 110, 116 Westfalen 39, 97 West-östliche Doppelkrise 1885/87 58 Widerstand (gegen den Nationalsozialismus) 8, 9, 23, 24, 89 Wilhelminismus, Wilhelminische Zeit 4, 10, 70, 74, 76–78, 86–89, 91, 103, 109, 110, 112–114, 118, 119, 122 Wirtschaft, Wirtschaftsgeschichte 11, 13, 14, 18–20, 33, 35, 41, 43–45, 48–50, 60, 62, 66, 67, 92, 95, 107, 115, 118, 121 Wissenschaft, Wissenschaftsgeschichte 13, 66, 70, 72, 123 Württemberg 28, 39, 99, 112 Zeitgeschichte 64, 65, 70, 119 Zentrumspartei 3, 32, 33, 35, 41, 42, 97, 99, 102–105, 112 Zollverein 21, 23, 28 Zweibund Deutsches Reich – Österreich-Ungarn 34, 54, 66 Zweifrontenkrieg 59 Zweiter Weltkrieg 9, 12, 18, 22, 27, 30, 84, 85, 88
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