Einigkeit und Recht, doch Freiheit?: Das Deutsche Kaiserreich in der Demokratiegeschichte und Erinnerungskultur 3515131507, 9783515131506

Wie demokratisch war der Obrigkeitsstaat? Die Autorinnen und Autoren liefern detaillierte Einblicke in Verfassungsstrukt

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German Pages 446 [450] Year 2021

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INHALT
EINLEITUNG: WIE DEMOKRATISCH WAR DER OBRIGKEITSSTAAT? (Andreas Braune / Michael Dreyer / Markus Lang / Ulrich Lappenküper)
VERFASSUNG UND POLITISCHES SYSTEM
VERFASSUNG UND STAATSRECHTSLEHRE. Konstruktion und Kritik (Michael Dreyer)
„WER DEUTSCHLAND REGIEREN WILL, MUß ES SICH EROBERN.“ Das deutsche Kaiserreich als monarchisches Projekt Wilhelms I. (Jan Markert)
DER BUNDESRAT IN VERFASSUNG UND WIRKLICHKEIT (Oliver F. R. Haardt)
RETHINKING FEDERALISM. Das Kaiserreich als dynamisches und kooperatives Mehrebenensystem (Paul Lukas Hähnel)
KAISERREICH KANN KOMPROMISS (Wolfram Pyta)
STREITKULTUR IM KAISERREICH. Politische Versammlungen zwischen Deliberation und Demonstration (Theo Jung)
DIE TRIPOLARITÄT DER REICHSHAUPTSTADT. Berliner Politik im Spannungsfeld von Reich, Staat und Kommune 1871–1918 (Lennart Bohnenkamp)
MASSENDEMOKRATIE UND GESELLSCHAFT, PARLAMENT UND PARTEIEN
ZWISCHEN KOOPERATION UND KONFLIKT. Eine Fallstudie zur Auseinandersetzung des Liberalismus mit der Marine um die Ministerverantwortlichkeit im frühen Kaiserreich (Sebastian Rojek)
DER BADISCHE GROßBLOCK 1905–1913. Zur Kooperation zwischen Liberalen und Sozialdemokraten im Kaiserreich (Michael Kitzing)
AUSGRENZUNG DER ENTTÄUSCHTEN. Sozialdemokratie und Reichsgründung (Walter Mühlhausen)
DAS SOZIALISTENGESETZ VON 1878. Demokratiegeschichtlicher „Sündenfall“ des Kaiserreichs? (Jürgen Schmidt)
SOZIALDEMOKRATISCHE KOMMUNALPOLITIK IM KAISERREICH AM BEISPIEL MAGDEBURG (Ralf Regener)
„STADTMÜTTER WERDEN“ Die Modernisierung städtischer Gemeinden im Kaiserreich durch die bürgerliche Frauenbewegung (Kerstin Wolff)
INTELLEKTUELLE UND RELIGIÖSE MILIEUS
„RADIKALER KONSERVATISMUS“ IM DEUTSCHEN KAISERREICH (Ulrich Sieg)
POLITISCHER KATHOLIZISMUS UND DEMOKRATISIERUNG IM KAISERREICH (Stefan Gerber)
DIE REICHSGRÜNDUNG ZWISCHEN JUDEN-EMANZIPATION UND ANTISEMITISMUS (Sabine Mangold-Will)
DIE REICHSGRÜNDUNG. Ein Erinnerungsort im deutschen Judentum? (Tobias Hirschmüller)
ERINNERUNGSKULTUR
DIE HOHENZOLLERN NACH DEM STURZ DER MONARCHIE (Martin Sabrow)
KRIEG MACHT NATION. Eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums zur Gründung des deutschen Kaiserreichs (Katja Protte)
DAS DEUTSCHE KOLONIALREICH NACH 1918. Trauma, Glorifizierung, Vergessen und spätes Erinnern (Ulf Morgenstern)
VOM UMGANG MIT DER REICHSGRÜNDUNG IN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE NACH 1871 (Ulrich Lappenküper)
ZWISCHEN „WEIßER LEGENDE“ UND „SCHWARZER LEGENDE“ Das Kaiserreich als Objekt von Geschichtspolitik (Christoph Nonn)
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Einigkeit und Recht, doch Freiheit?: Das Deutsche Kaiserreich in der Demokratiegeschichte und Erinnerungskultur
 3515131507, 9783515131506

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Einigkeit und Recht, doch Freiheit? Das Deutsche Kaiserreich in der Demokratiegeschichte und Erinnerungskultur

Herausgegeben von Andreas Braune, Michael Dreyer, Markus Lang und Ulrich Lappenküper Weimarer Schriften zur Republik

Franz Steiner Verlag

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Weimarer Schriften zur Republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner, Prof. Dr. Alexander Gallus, Prof. Dr. Kathrin Groh, Prof. Dr. Christoph Gusy, Prof. Dr. Marcus Llanque, Prof. Dr. Walter Mühlhausen, Prof. Dr. Wolfram Pyta, Dr. Nadine Rossol, Prof. Dr. Martin Sabrow Band 17

Einigkeit und Recht, doch Freiheit? Das Deutsche Kaiserreich in der Demokratiegeschichte und Erinnerungskultur Herausgegeben von Andreas Braune, Michael Dreyer, Markus Lang und Ulrich Lappenküper

Franz Steiner Verlag

Gedruckt aus Mitteln des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft und der Otto-von-Bismarck-Stiftung. Unter Mitwirkung des Projektes „Orte der Demokratiegeschichte“ beim Weimarer Republik e.V. (gefördert aus Mitteln der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien) und in Kooperation mit der Forschungsstelle Weimarer Republik / Forschungsverbund Demokratiegeschichte an der FSU Jena.

Umschlagabbildung: Berlin, Reichstag. Aufnahme aus dem Fotoalbum „Der Deutsche Reichstag und sein Heim“. Abgeordnete im Plenarsaal bei einer Plenarsitzung, 1889 © Bundesarchiv, Bild 116-121-145, Fotograf: Julius Braatz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13150-6 (Print) ISBN 978-3-515-13156-8 (E-Book)

INHALT Andreas Braune / Michael Dreyer / Markus Lang / Ulrich Lappenküper Einleitung: Wie demokratisch war der Obrigkeitsstaat? .......................................IX VERFASSUNG UND POLITISCHES SYSTEM Michael Dreyer Verfassung und Staatsrechtslehre. Konstruktion und Kritik. .................................. 3 Jan Markert „Wer Deutschland regieren will, muß es sich erobern.“ Das deutsche Kaiserreich als monarchisches Projekt Wilhelms I. ........................ 11 Oliver F. R. Haardt Der Bundesrat in Verfassung und Wirklichkeit ..................................................... 39 Paul Lukas Hähnel Rethinking Federalism. Das Kaiserreich als dynamisches und kooperatives Mehrebenensystem .............................................. 55 Wolfram Pyta Kaiserreich kann Kompromiss............................................................................... 77 Theo Jung Streitkultur im Kaiserreich. Politische Versammlungen zwischen Deliberation und Demonstration .............. 101 Lennart Bohnenkamp Die Tripolarität der Reichshauptstadt. Berliner Politik im Spannungsfeld von Reich, Staat und Kommune 1871–1918 ......................... 121 MASSENDEMOKRATIE UND GESELLSCHAFT, PARLAMENT UND PARTEIEN Sebastian Rojek Zwischen Kooperation und Konflikt. Eine Fallstudie zur Auseinandersetzung des Liberalismus mit der Marine um die Ministerverantwortlichkeit im frühen Kaiserreich .................................. 145

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Inhalt

Michael Kitzing Der Badische Großblock 1905–1913. Zur Kooperation zwischen Liberalen und Sozialdemokraten im Kaiserreich ................................. 161 Walter Mühlhausen Ausgrenzung der Enttäuschten. Sozialdemokratie und Reichsgründung ............ 179 Jürgen Schmidt Das Sozialistengesetz von 1878. Demokratiegeschichtlicher „Sündenfall“ des Kaiserreichs? ............................... 199 Ralf Regener Sozialdemokratische Kommunalpolitik im Kaiserreich am Beispiel Magdeburg .............................................................. 213 Kerstin Wolff „Stadtmütter werden“. Die Modernisierung städtischer Gemeinden im Kaiserreich durch die bürgerliche Frauenbewegung ...................................... 231 INTELLEKTUELLE UND RELIGIÖSE MILIEUS Ulrich Sieg „Radikaler Konservatismus“ im deutschen Kaiserreich ...................................... 249 Stefan Gerber Politischer Katholizismus und Demokratisierung im Kaiserreich ....................... 267 Sabine Mangold-Will Die Reichsgründung zwischen Juden-Emanzipation und Antisemitismus.......... 283 Tobias Hirschmüller Die Reichsgründung – Ein Erinnerungsort im deutschen Judentum? ................. 297 ERINNERUNGSKULTUR Martin Sabrow Die Hohenzollern nach dem Sturz der Monarchie ............................................... 321 Katja Protte KRIEG MACHT NATION. Eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums zur Gründung des deutschen Kaiserreichs ........... 341

Inhalt

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Ulf Morgenstern Das Deutsche Kolonialreich nach 1918. Trauma, Glorifizierung, Vergessen und spätes Erinnern ..................................... 371 Ulrich Lappenküper Vom Umgang mit der Reichsgründung in der deutschen Geschichte nach 1871 ......................................................................... 389 Christoph Nonn Zwischen „weißer Legende“ und „schwarzer Legende“. Das Kaiserreich als Objekt von Geschichtspolitik .............................................. 407 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 425

EINLEITUNG: WIE DEMOKRATISCH WAR DER OBRIGKEITSSTAAT? Andreas Braune / Michael Dreyer / Markus Lang / Ulrich Lappenküper Am 29./30. Oktober 2020 trafen sich ca. 40 Expertinnen und Experten, um über die Stellung des Kaiserreichs in der deutschen Demokratiegeschichte zu diskutieren. Die Tagung sollte eigentlich in der Mendelssohn-Remise in Berlin stattfinden, wurde aufgrund der Corona-Pandemie jedoch kurzfristig als Online Workshop abgehalten. Doch warum eine wissenschaftliche Tagung zum Kaiserreich? Und was hat ein häufig als monarchischer Obrigkeitsstaat bezeichnetes politisches System mit Demokratie zu tun? Der unmittelbare Anlass für die Tagung war das 150-jährige Jubiläum der Reichsgründung am 18. Januar 1871. „Wie kann man dieses Jubiläum heute angemessen begehen?“, so eine der zentralen Fragestellungen der Tagung und dieses Konferenzbandes. Diese Frage so zu stellen, bedeutet gleichzeitig, dass es auch „unangemessene“ Formen des Erinnerns gibt. In der Tat findet man in den letzten Jahren mehr und mehr Versuche, das Kaiserreich gegen die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft und anderer Geistes- und Sozialwissenschaften für rechtspopulistische und rechtsextreme Traditionsbildung zu vereinnahmen oder in eine „geglättete“ deutsche Geschichte zu integrieren. Zuletzt hat etwa der Streit um die Farben des Kaiserreiches und ihre Instrumentalisierung für geschichtsrevisionistische Absichten für Diskussion gesorgt. Die Teilnehmer der Tagung waren sich einig, dass diesem Missbrauch mit differenzierten Darstellungen aktueller Forschungsergebnisse in der Öffentlichkeit begegnet werden soll. Diese Darstellungen ordnen wir in eine Demokratiegeschichte ein. Darunter verstehen wir die Untersuchung historischer Ereignisse, Prozesse und Organisationen, in denen Individuen und Gruppen um die Verwirklichung von Grund- und Menschenrechten, Mitbestimmung, freien Wahlen und Parlamentarismus, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit in Staat und Gesellschaft gerungen haben – egal ob die konkreten Bemühungen im Einzelfall unmittelbar von Erfolg gekrönt waren oder nicht. Vorträge und Diskussionen der Tagungsteilnehmerinnen und Teilnehmer arbeiteten die ambivalente Rolle heraus, die dem Kaiserreich in diesem historischen Prozess zukommt. Selbstverständlich war es ein Obrigkeitsstaat, ohne Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Volk bzw. dem Reichsparlament. Zwar fanden die Wahlen zum Reichstag unter einem allgemeinen und freien Männerwahlrecht ab 25 Jahren statt – im internationalen Vergleich bemerkenswert demokratisch. Aber im Obrigkeitsstaat konnten sich die Bürger (und erst recht die Bürgerin-

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nen) nicht als Träger der Souveränität oder als politische Vollbürger verstehen, weil die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung von ihrem Verhalten weitgehend abgekoppelt blieben. Sie blieben Untertanen von Monarchen, von ‚deren‘ Regierungen und ihrer Verwaltung. Als der Staat sich von der aufsteigenden Sozialdemokratie bedroht sah, reagierte er mit dem repressiven „Sozialistengesetz“. Die Repression führte aber eher zu einer Mobilisierung und Stärkung der Arbeiterbewegung und keinesfalls zu deren Zerschlagung. Parteien konnten im Reichstag und in den Landtagen ein Kompromiss-Dispositiv ausbilden und strategische Bündnisse erproben, allesamt wichtige demokratische Verhaltensmuster. Ohne die Möglichkeit zur Übernahme von Regierungsverantwortung wurde jedoch gleichzeitig eine Haltung der politischen Verantwortungslosigkeit und permanenten Opposition befördert. Und gerade der Blick auf andere Regierungsebenen zeigt Strukturen, die für eine Demokratiegeschichte anschlussfähig sind. Der komplexe Föderalismus etwa machte vielfältige Aushandlungsprozesse nötig, die einem obrigkeitsstaatlichen ‚Durchregieren‘ entgegenwirkten, und auf kommunaler Ebene eröffneten sich Handlungsspielräume und Partizipationsmöglichkeiten für bislang ausgeschlossene soziale Gruppen. Der Workshop hat bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern den Sinn für die Komplexität des politischen Systems, der Gesellschaft und der politischen Kultur des Kaiserreichs geschärft. Diese Erkenntnisse haben wir bereits im direkten Anschluss an die Tagung in einer Broschüre veröffentlicht, die sich anlässlich des Jubiläums der Reichsgründung an ein interessiertes Publikum und Multiplikatoren in Politik, Medien und politischer Bildung richtete.1 Mit diesem Band legen wir nun die detaillierten Ausführungen der Kolleginnen und Kollegen auch für die weitere fachwissenschaftliche Diskussion vor, die im 150. Jahr der Reichsgründung bereits zahlreiche Publikationen und einige Kontroversen hervorgebracht hat. Wir hoffen und glauben, mit den vielfältigen Beiträgen unseres Bandes den Stand der interdisziplinären Forschung zum Kaiserreich abbilden und der Auseinandersetzung mit dieser ambivalenten Epoche deutscher Geschichte neue Impuls geben zu können. 1. EINIGKEIT UND RECHT, DOCH FREIHEIT? Der Titel der Konferenz und dieses Bandes nimmt ganz augenscheinlich Anleihen beim Lied der Deutschen, das Heinrich Hoffmann von Fallersleben schon 1841 gedichtet hatte. Es blieb lange Zeit ein politisches Lied unter vielen und stand im Kaiserreich mit seinem doch recht republikanischen Grundton nicht als Nationalhymne zur Debatte. Heil Dir im Siegerkranz oder Die Wacht am Rhein waren die ‚inoffiziellen‘ Hymnen zwischen 1871 und 1918, da es keine offizielle gab. Gleichwohl: Als Teil des Langemarck-Mythos fand das Lied der Deutschen im Weltkrieg plötzlich besondere Beachtung, haben doch angeblich die jungen Soldaten am 10. No-

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Der Tagungsbericht ist im Eigenverlag erschienen. Er kann unter https://www.demokratiegeschichte.de/extra/150jahre als pdf abgerufen werden.

Einleitung: Wie demokratisch war der Obrigkeitsstaat?

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vember 1914 mit „Deutschland, Deutschland über alles“ auf den Lippen die feindlichen Anhöhen bei Ypern gestürmt. Wenige Jahre später, im Jahr 1922, wurde das Lied auf Initiative des ersten demokratischen Staatsoberhauptes Friedrich Ebert zur deutschen Nationalhymne erklärt, mit allen drei Strophen. Die Beschränkung auf die dritte Strophe erfolgte dann erst in der Bundesrepublik. Wenn wir deren erste Zeile indirekt zitieren, verdeutlicht sich also, dass wir aus einer demokratiegeschichtlich interessierten Rückschau auf die Zeit des Kaiserreiches schauen, weil das Kaiserreich nie beanspruchte, sich an der Botschaft des Liedes zu orientieren. Das soll freilich aber auch keine demokratiegeschichtliche Teleologie implizieren. Sehr wohl steckt darin aber unsere leitende Frage. ‚Einigkeit‘ im Sinne der Schaffung eines deutschen Nationalstaates hatten die liberalen Bewegungen seit dem Vormärz gefordert, und sie hatten sie mit ‚Bismarcks Einigungswerk‘ erhalten. Das war zwar nicht der Weg, den sich die meisten Liberalen gewünscht hatten – hatten sie sich doch durch die nationale Einigung auch die Abschüttelung des einzelstaatlichen ‚Despotismus‘ erhofft. Und auch die kleindeutsche Einigung unter preußischer Hegemonie war nicht das favorisierte Modell aller. Nachdem die Revolution von 1848 aber gescheitert war und die nationale Einigung weiter ausstand, wurde sie 1871 schließlich vollzogen. Auch die Forderung nach ‚Recht‘ im Sinne von Rechtsstaatlichkeit wurde im Kaiserreich weitgehend umgesetzt. Ja, in der Praxis der Rechtsprechung mochte vieles Klassenund Herrschaftsjustiz gewesen sein. Wesentliche Prinzipien von Rechtsförmigkeit und Rechtsstaatlichkeit wurden aber weiter ausgebaut und gestärkt. Das betraf nicht nur die weitere Konstitutionalisierung im Bereich des Staatsrechts des Reiches und der Länder – also jene Forderung, die mit dem Schlagwort des Rechts im Vormärz mit dem Verlangen nach ‚Verfassungen‘ ganz besonders assoziiert war – sondern auch andere Rechtsgebiete, allen voran das bürgerliche Recht und das Strafrecht. Dass das Kaiserreich den Deutschen, die innerhalb seiner Grenzen lebten, Einigkeit und Recht brachte, ist unstrittig. Doch brachte es ihnen auch Freiheit? Auch Freiheit ist in diesem Zusammenhang zunächst nur ein Schlagwort, und es kann sehr Unterschiedliches bedeuten. In unserem Zusammenhang steht es als Chiffre für Demokratie, aber deckungsgleich sind beide Begriffe keineswegs. Im Liberalismus des Vormärz meinte Freiheit vor allem ‚bürgerliche Freiheit‘, mit einem starken Fokus auf der Freiheit bzw. Sicherheit des Individuums vor willkürlichen Interventionen des monarchischen Obrigkeitsstaates. In einem sehr elementaren Sinne meint dies zunächst die habeas-corpus-Rechte des Individuums, also das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und den Schutz vor willkürlicher Inhaftierung ohne Rechtsgrundlage als Recht gegenüber dem Staat (weshalb es auch eng mit dem Schlagwort des ‚Rechts‘ verbunden ist). Es meint in einem wirtschaftsliberalen Sinne auch das Recht auf Eigentum und dessen möglichst ungestörten und freien Gebrauch, was sich nicht nur gegen staatliche Interventionen richtete, sondern auch gegen Elemente der vormodernen / vorkapitalistischen Wirtschaftsordnung wie Zunftzwang, restriktive Gewerbeordnungen etc. Aber diese ‚bürgerliche Freiheit‘ hatte auch immer eine politische Dimension, allen voran in der Forderung nach Presse- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Vereinigungsfreiheit, denn sie sollten die freie politische Meinungsbildung und -artikulation ermög-

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lichen. Aber auch hier gilt: Zunächst verstehen sie sich als ‚negative Freiheiten‘ (Isaiah Berlin) gegenüber dem Staat, als Rechte und Freiheiten zur politischen Meinungsbildung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Zu genuin politischen bzw. demokratischen Freiheiten werden sie erst, je mehr aus ihnen Forderungen nach politischen Partizipationsrechten an den Angelegenheiten des Staates werden. Auch dabei gibt es graduelle Unterschiede: von einem bloßen Petitionsrecht, auf dessen Weg man ‚untertänigst‘ etwas vom Staat erbittet, bis hin zur ‚Aneignung‘ des Staates durch die bürgerliche Gesellschaft durch parlamentarische Repräsentation und parlamentarische Verantwortlichkeit der Staatsregierung. Politische Freiheit in diesem demokratischen Sinne meint daher die wachsende Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an den Angelegenheiten des Staates. Dabei sind insbesondere die Frage nach dem Wahlrecht (in welchem Grad der Inklusivität kann die Bevölkerung an der politischen Willensbildung teilhaben?) und der politischen Verantwortung der Herrschenden vor den Ergebnissen der politischen Willensbildung entscheidend. Mit der Formulierung der Partizipationsmöglichkeiten von „Bürgerinnen und Bürgern“ sei auf einen letzten entscheidenden Aspekt verwiesen, um den Begriff der Freiheit in sinnvoller Weise mit dem der Demokratie zu verknüpfen: auf den Begriff der Gleichheit. Nur als gleiche Freiheiten sind all diese Freiheiten demokratische Freiheiten. Es war lange ein Vorwurf gegen den ‚bürgerlichen‘ Freiheitsbegriff, dass er nur die Freiheit für das Bürgertum als sozialer Schicht (bourgeois) meinte, nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft als politische Bürger (citoyens). Aber weil das Konzept der Freiheit seit der Aufklärung fast immer naturrechtlich begründet wurde, war die Beschränkung von Freiheitsrechten auf einen kleinen Teil der menschlichen Gemeinschaft nicht konsequent durchzuhalten. Das Gleichheitsversprechen im Freiheitsbegriff entfaltete daher wahrscheinlich auf lange Sicht sogar die größere politische Dynamik als die eigentliche Forderung nach ‚Freiheit‘. Sei es in der ‚Emanzipation‘ und Gleichberechtigung religiöser Minderheiten, von Frauen oder nicht-bürgerlichen Schichten: immer ging es um einen „Kampf um Anerkennung“ und einen „Anteil der Anteilslosen“ an der ‚gleichen Freiheit‘, von dessen Genuss sie bis dahin ausgeschlossen wurden. Auch die zuletzt für das Kaiserreich diagnostizierte „Fundamentalpolitisierung“ breiter Bevölkerungsschichten ist auf dieses Gleichheitsversprechen im Freiheitsbegriff zurückzuführen. Gleichwohl: Forderungen nach einer solchen Ausdehnung der gleichen Freiheit und der demokratischen Partizipation sind das eine, die Bereitschaft eines politischen Systems, diese Forderungen aufzugreifen und sich ihnen anzupassen, sind etwas anderes. Wie demokratisch also war der Obrigkeitsstaat? 2. VERFASSUNG UND POLITISCHES SYSTEM Im Bereich der Verfassungsordnung zeichnen die Beiträge ein gemischtes Bild. In der Interpretation der Verfassung war kaum Raum für demokratische Ideen geschweige denn demokratische Praktiken. Auch das Staatsoberhaupt war sehr auf die Wahrung der monarchischen Macht bedacht. Auf der Ebene des Föderalismus finden sich jedoch Strukturen und Mechanismen, die einem autoritären „Durchre-

Einleitung: Wie demokratisch war der Obrigkeitsstaat?

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gieren“ entgegenstanden und stattdessen Kompromiss, Abstimmung und auf Konsens ausgerichtete Verhandlungen zwischen vielfältigen Akteuren notwendig machten. MICHAEL DREYER verfolgt die Diskussion um die Verfassung des Kaiserreichs von der Verfassungsgebung 1867 im Norddeutschen Bund bis zum Ersten Weltkrieg. Dreyer charakterisiert das Reich als „klassische[s] Modell einer konstitutionellen Monarchie“ mit einem für die Zeit „bemerkenswert demokratischen Wahlrecht“. In der staatsrechtlichen Diskussion allerdings habe Demokratie praktisch keine Rolle gespielt, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit dem demokratisch gewählten Reichstag. Führende Wissenschaftler und Kommentatoren beschäftigten sich stattdessen mit der Frage der Souveränität im Bundesstaat. Erst im Vorfeld des Ersten Weltkriegs sei es zu einer ernsthaften Beschäftigung mit Demokratie als politischem System gekommen, wobei die Autoren durch die Bank die konstitutionelle Monarchie des Kaiserreichs als überlegen ansahen. Immerhin, man setzte sich mit der Demokratie auseinander, was Dreyer als Indikator für die Wahrnehmung einer normativen Bedrohung der konstitutionellen Monarchie interpretiert. Aber: „Warnende Stimmen [...], die die Stärkung der Demokratie verlangen, wurden im deutschen Obrigkeitsstaat überhört, bis es zu spät war.“ JAN MARKERT fokussiert seinen Blick auf die Person und das Herrschaftsverständnis Wilhelms I. Er stellt dem gängigen Bild Wilhelms, der sich für Politik kaum interessiert habe, eine alternative Betrachtung entgegen, die den Kaiser als zutiefst politische Figur interpretiert. Die Gründung und den inneren Ausbau des Kaiserreichs stellt er als Kulmination eines langfristigen antirevolutionären monarchischen Projekts Wilhelms I. dar. Der von der Forschung bislang weitestgehend marginalisierte erste Deutsche Kaiser hatte seit den Revolutionserfahrungen 1848/49 die Ziele einer Konstitutionalisierung und Nationalisierung der Hohenzollernmonarchie verfolgt, um so die gefährdete Stellung der Krone zu stärken. Die Reichsgründung stellte den Höhepunkt dieses „dynastischen Hijackings“ der Deutschen Frage dar. Sowohl vor als auch nach 1871 spielte Wilhelm I. eine zentrale Rolle im politischen Entscheidungszentrum Berlin, wo es nie zu einer Unterordnung des Kaisers gegenüber dem „Eisernen Kanzler“ Otto von Bismarck kam. Vielmehr agierte Bismarck stets in den Bahnen, die Wilhelm I. ihm vorgab, so Markert. Dieses monarchische Herrschaftsverständnis Wilhelms I. sollte die Geschichte des deutschen Kaiserreichs insgesamt nachhaltig und entscheidend prägen. Für OLIVER F. R. HAARDT ist der Bundesrat das zentrale Organ für das Verständnis der Verfassungsordnung. Der Bundesrat war laut Haardt als „Bollwerk monarchischer Macht“ konzipiert. Ihm fiel formell die Rolle einer Reichsregierung zu. Da die Gesandten der monarchischen Einzelstaaten aber nur ihren jeweiligen Regierungen gegenüber verantwortlich waren, konnten sie weder individuell noch in ihrer Gesamtheit vom Reichstag zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Parlamentarisierung des föderalen Verfassungsgefüges in der Gestalt, in der es 1871 geschaffen wurde, war damit unmöglich. Eben diese Gestalt änderte sich jedoch in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung fundamental. Mehrere strukturelle Wandlungsprozesse drängten den Bundesrat immer weiter in ein politisches Schattendasein, das seine Funktion zur Verhinderung parlamentarischer Übergriffe auf

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die Regierung langsam aushöhlte. Mehr und mehr machte die mit den Jahren um den Kanzler entstehende Reichsregierung den Bundesrat zu einem Satellitenorgan. Infolgedessen konnte die Regierung sich aber auch nur noch mehr schlecht als recht hinter dem Bundesrat verstecken, um den Angriffen des Reichstages auszuweichen. Auch für PAUL LUKAS HÄHNEL ist die föderale Staatsstruktur des Kaiserreichs die zentrale Analyseebene. Die Forschung hat dem Föderalismus oftmals unter dem Postulat der preußischen Hegemonie und des „Scheinföderalismus“ nur sekundäre Bedeutung beigemessen. Hähnel plädiert jedoch dafür, die dezentrale Staatsstruktur als ein generelles gesellschaftliches Konfliktlösungsprinzip zu verstehen, denn die Reichsverfassung verband Exekutiv- und Verbundföderalismus miteinander. Landesexekutive und Reichsgesetzgebung waren institutionell verklammert, und ein Großteil der staatlichen Aufgaben ließ sich nur im Zusammenspiel von Reich und Gliedstaaten erledigen. Die Art und Weise, wie die Verfassung Kompetenzen zwischen den Staatsebenen verteilte, bedingte Koordinationszwänge, förderte ebenenübergreifende Kooperationen und begünstigte eine vertikale Verflechtung der Staatsebenen. Föderale Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse wurden dabei von konsensorientierten Verhaltensnormen geprägt. Die Bedeutung dieser Aushandlungsprozesse auch jenseits der föderalen Strukturen betont ebenfalls WOLFRAM PYTA. Er argumentiert, dass der Kompromiss – verstanden als institutionalisiertes Ausgleichsverfahren zur Herstellung bindender Entscheidungen – zur Richtschnur der maßgeblichen Akteure in Parlament, Bundesrat und Parteien avancierte, je stärker sich der erste deutsche Nationalstaat etablierte. Pyta verweist darauf, dass eine sich immer mehr verfestigende Kompromisskultur die kulturelle Basis für kompromisshafte Handlungsmuster bildete. Mit diesem interpretatorischen Neuansatz sucht Pyta einen begrifflichen und systematischen Zugang zur Beschreibung der Komplexität des Kaiserreichs. Dem stellt THEO JUNG den Aktionsmodus des Streits und der Streitkultur entgegen. In älteren Darstellungen galt das Kaiserreich oft als Gesellschaft, die komplett auf den Befehlston ausgerichtet gewesen sei. Das Pendant zum Bild eines repressiven Obrigkeitsstaats war die Vorstellung einer diskussionsunfähigen Untertanengesellschaft. In jüngerer Zeit ist dagegen auf die vitale Diskussionskultur der Ära hingewiesen worden, die nicht zuletzt in den politischen Versammlungen zum Ausdruck kam. Mit Blick auf die Interaktionsformen dieser Arena hebt der Beitrag die Ambivalenzen der politischen Streitkultur des Kaiserreichs hervor. Während in den ersten Jahrzehnten des Regimes eine deliberative Versammlungsform vorherrschte, bei der Vertreter verschiedener Lager vor einem heterogenen Publikum miteinander ins Gespräch kamen, verschob sich der Schwerpunkt ab den 1890er Jahren zunehmend zur reinen Parteiversammlung, deren Funktion vor allem darin lag, die Geschlossenheit und Begeisterung des eigenen Lagers zu demonstrieren. Ruhiger wurden die auch zuvor schon sehr tumultuösen Versammlungen dadurch allerdings nicht. Vielmehr etablierte sich eine Parallelpraxis gegenseitiger Versammlungsstörungen und -sprengungen, die als physischer Revierkampf Teil der politischen Auseinandersetzung wurden. LENNART BOHNENKAMP fügt den Betrachtungen zum Föderalismus eine weitere Ebene hinzu. Am Beispiel der Reichshauptstadt Berlin zeigt er die Wechsel-

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wirkungen auf, die im tripolaren Spannungsfeld von Reich, Staat und Kommune erzeugt wurden. Er sieht dieses Spannungsfeld als eine Ursache für die Hyperkomplexität des Regierungssystems vor 1914 und leitet daraus eine Dysfunktionalität desselben ab. Seine Analyse des politischen Systems unter Einbeziehung der kommunalen Perspektive unterscheidet sich dabei deutlich von anderen Beiträgen in diesem Heft. Sein Fazit: Nicht die Blockade einer politischen Modernisierung sei das Dilemma des deutschen Kaiserreichs gewesen, sondern die Unfähigkeit des Regierungssystems, die vorhandenen Modernisierungstendenzen so zu kanalisieren, dass sie sich nicht destruktiv, sondern produktiv auswirkten. 2. MASSENDEMOKRATIE UND GESELLSCHAFT, PARLAMENT UND PARTEIEN Die ambivalente Bewertung des politischen Systems des Kaiserreichs setzt sich auf der gesellschaftlichen Ebene und bei den Parteien fort. Die Entwicklung parlamentarischer Macht in einem politischen System (noch) ohne politische Verantwortung untersucht SEBASTIAN ROJEK am Beispiel des Konfliktes zwischen Parlament und Marine. Der erste Chef der Admiralität, General Albrecht von Stosch, verfolgte eine offenherzige Kommunikationsstrategie gegenüber dem Parlament und inszenierte die Seestreitkräfte als Symbol der geeinten Nation. Es gelang ihm, die Unterstützung vor allem der liberalen Parteien zu sichern und die Flottenpläne bewilligt zu bekommen. Dabei erweckte er aber den Eindruck, den Parlamentariern weitreichende Befugnisse über sein Ressort einzuräumen. Nach einer Schiffskatastrophe im Mai 1878 kam es zum Konflikt zwischen Reichstag und Regierung, denn nun konnten die Liberalen und ihre Medien gerade im Namen der Nation Aufklärung über die Ursachen des Unglücks verlangen. Den Höhepunkt der Krise bildete ein Misstrauensvotum gegen den Chef der Admiralität. Zwar scheiterte dies an den Mehrheitsverhältnissen, es zeigte jedoch den Willen des Parlaments, die Regierung und ihre Mitglieder parlamentarischer Kontrolle zu unterwerfen. MICHAEL KITZING setzt sich mit der Entwicklung des badischen Nationalliberalismus auseinander. Anders als im Reich waren die Nationalliberalen in Baden über Jahrzehnte „Regierungspartei“, wobei sie vom starken Rückhalt des Großherzogs profitierten. Auch das bis 1905 geltende indirekte Landtagswahlrecht stärkte ihre Stellung. Aufgrund des Drucks von Linksliberalen, Zentrum und Sozialdemokraten kam es jedoch zur Einführung des direkten Wahlrechtes, wodurch die Nationalliberalen in die Defensive gerieten. Um ihre dominierende Position gleichwohl zu verteidigen, schlossen die Nationalliberalen zwischen 1905 und 1913 mit den Linksliberalen und den Sozialdemokraten Stichwahlabkommen. Aus diesen heraus entwickelte sich auch eine inhaltliche Zusammenarbeit der drei Parteien. Kitzing erläutert die lokalen und nationalen Entwicklungen, die zur Entstehung und zum späteren Scheitern dieser Wahlbündnisse beitrugen. Während also die Nationalliberalen ihren Platz im neuen Nationalstaat wie selbstverständlich einnahmen, war das 1870/71 begründete Reich nicht das, was

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sich die junge sozialdemokratische Arbeiterbewegung von der lang ersehnten staatlichen Einheit erträumt hatte. Das Reich blieb für sie eine „fürstliche Versicherungsanstalt gegen die Demokratie“, wie WALTER MÜHLHAUSEN zeigt. Ihre Ablehnung der Kriegskredite 1870 machte sie zu „vaterlandslosen Gesellen“, gegen die sich der Staat in einer Abwehrsituation wähnte. Es folgten Ausgrenzung und Verfolgung (mit dem Sozialistengesetz 1878–1890 als Höhepunkt), auch wenn in der SPD der auf Integration ausgerichtete reformistische Flügel kontinuierlich an Einfluss gewann. Eine der Spätfolgen der Stigmatisierung der SPD war es, so das Fazit, dass die nationalistische Rechte sie für die Kriegsniederlage 1918 und ihre unmittelbare Folge, den Versailler Vertrag, verantwortlich machte. Die von den Sozialdemokraten, den „Novemberverbrechern“, getragene Revolution habe erst zu dieser Niederlage geführt. In solcher Sicht war die Republik ein Produkt des Verrats, dessen man die Sozialdemokratie schon immer verdächtigt hatte. Letztendlich erleichterte dieses Urteil, das aus dem in der Kaiserzeit geformten Stereotyp von der landesverräterischen SPD erwuchs, die Zerstörung der Weimarer Republik. JÜRGEN SCHMIDT nimmt das von Mühlhausen bereits erwähnte Sozialistengesetz unter die Lupe. Dieses Sozialistengesetz, das von 1878 bis 1890 die politischen Aktivitäten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung beschnitt, verdeutlicht für Schmidt den obrigkeitsstaatlichen Charakter des Kaiserreichs und gleichzeitig dessen Grenzen. Ziel des Gesetzes war die Ausgrenzung der Arbeiterschaft und der Arbeiterbewegung. Es erdrosselte diese politischen Kräfte aber keineswegs, vielmehr schweißte es das sozialdemokratische Milieu zusammen und ließ eine schlagkräftige parlamentarische Opposition entstehen, die nach 1890 politischen und gesellschaftlichen Druck ausübte. Bemerkenswert ist auch, dass die Sozialdemokratie in und nach den Jahren der Illegalität nicht den Weg der Gewalt beschritt, sondern sich für den friedlichen Protest und den Kampf mit gesetzlichen Mitteln entschied. Die nicht intendierten Folgen von Bismarcks Sozialistengesetz zeigen die Bedeutung von politischem, zivilgesellschaftlichem Engagement sowie die Kraft parlamentarisch-oppositionellen Verhaltens gegenüber autokratisch-obrigkeitlichen Systemen. Sie zeigen auch die große Bedeutung der Sozialdemokratie der Kaiserreichszeit für die deutsche Demokratiegeschichte. Stärker auf die Schaffung von Handlungsspielräumen zielt der Beitrag von RALF REGENER. Er lenkt den Blick auf die Provinz und die Kommunalpolitik. Am Beispiel von Magdeburg, der Hauptstadt der preußischen Provinz Sachsen, zeigt Regener, wie es den Sozialdemokraten gelang – trotz schwieriger Anfänge in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und anhaltender Schikanen durch Behörden, Polizei, Justiz und Arbeitgeber –, vorhandene Handlungsspielräume des Obrigkeitsstaates zu nutzen. Wichtigster Schauplatz der Kommunalpolitik war die Stadtverordnetenversammlung. Vor allem aufgrund des Drei-Klassen-Wahlrechts gab es dort zwar nur eine kleine sozialdemokratische Fraktion. Nichtsdestotrotz konnten Anliegen wirksam artikuliert und Forderungen zum Teil auch durchgesetzt werden. KERSTIN WOLFF sucht nach der Beteiligung von Frauen an der Politik im Kaiserreich. Dazu betrachtet sie unkonventionelle Formen der Beteiligung jenseits des Wahlrechts (welches den Frauen bis 1918 verwehrt blieb) und findet erfolgreiche politische Akteurinnen im Bereich der kommunalen Sozial- und Bildungspolitik. In

Einleitung: Wie demokratisch war der Obrigkeitsstaat?

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der Kommune bewiesen die Frauen, dass sie in der Lage waren, auf konkrete Probleme erfolgreich mit öffentlich-privaten Partnerschaften zu reagieren. Für die Kommunen bewiesen Frauen sich auf diese Weise als verlässliche und gleichwertige Verhandlungspartnerinnen, förderten die Entwicklung eines belastungsfähigen Wohlfahrtsstaates und verhalfen dem Staat gleichzeitig zu einem starken Modernitätsschub. 3. INTELLEKTUELLE UND RELIGIÖSE MILIEUS Wie wurden die vielfach schon angesprochenen gesellschaftlichen Entwicklungen wie Modernisierung und Demokratisierungsdruck von unterschiedlichen intellektuellen und religiösen Gruppen wahrgenommen, erlebt und verarbeitet? Die Abhandlung von ULRICH SIEG beginnt mit dem radikalen Konservatismus und fragt nach dessen Erfolgsbedingungen. Er entstand nach der Revolution von 1848, als sich Konservative den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel und ihre eigene politische Erfolglosigkeit erklären mussten. Zu diesem Zweck rekurrierten Intellektuelle auf geschichtsphilosophische Denkfiguren, die eine bessere Zukunft nach dem Untergang einer maroden Gegenwart in Aussicht stellten. In der Folgezeit stilisierten sich Schlüsselfiguren dieser Weltsicht wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Houston Stewart Chamberlain zu verfemten Außenseitern, konnten aber auf öffentliches Interesse und eine rasch wachsende Anhängerschaft bauen. Um 1900 waren ihre Ideen im deutschen Bürgertum wie unter den Verlierern der rasanten Modernisierung bereits mehrheitsfähig. Viele der Schriften erschienen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Niederlage der Mittelmächte nicht mehr anschlussfähig. Gleichwohl hatten die Autoren dazu beigetragen, apokalyptisches Denken und eschatologische Geschichtsbilder unreflektiert zu verbreiten. Dies trug zu einer Klärung der Gegenwartsprobleme wenig bei und sollte sich in Zeiten der politischen Krise rächen. War dieser „radikale Konservatismus“ ein Erfolgsmodell im Kaiserreich, so sieht STEFAN GERBER den politischen Katholizismus zum Zeitpunkt der Reichsgründung in der Defensivposition. Seit den 1830er Jahren sah die katholische Kirche ihre Autonomie von Säkularisation, Aufklärung und einer bürokratischen Staatskirchenpolitik bedroht. Als Konsequenz konstituierte sich der politische Katholizismus von Beginn an als Verfassungspartei, da die Verwirklichung kirchlicher und religiöser Freiheit im Staat nur noch im Rahmen konstitutioneller Grundrechtssicherung denkbar und möglich war. Im Rahmen der Kulturkampfgesetzgebung fand diese Positionierung ihre Bestätigung, das Zentrum profilierte sich als Partei der konstitutionellen Rechtssicherung und ging ähnlich wie die Sozialdemokratie gestärkt aus dem Konflikt mit dem Staat hervor. Als Grundrechts- und Verfassungspartei, durch seine breite Mobilisierung im Kulturkampf, als Wahlrechts- und Sozialstaatspartei und durch ihre außerordentliche politische Integrationsfähigkeit, die sie im katholischen Milieu zur „Volkspartei“ machte, hat das Zentrum Entscheidendes zur Demokratisierung des Kaiserreichs beigetragen und konnte 1919 ohne Probleme in die Rolle einer staatstragenden Partei der Republik schlüpfen.

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Anschließend betrachtet SABINE MANGOLD-WILL das Spannungsverhältnis zwischen Antisemitismus und Emanzipation des deutschen Judentums. Antisemitismus war im Kaiserreich ein weit verbreitetes Phänomen. Aber genauso gilt: Das 1871 gegründete Deutsche Reich garantierte gesetzlich die „Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“. Diese rechtliche Norm eröffnete in der Lebenspraxis der deutschen Juden zwischen 1871 und 1914 neue Möglichkeiten und bedeutete mithin auch mehr Freiheit – eine Freiheit, die gesellschaftlich immer wieder bestritten, aber rechtlich auf Reichsebene nicht zurückgenommen wurde. Daran anschließend beschäftigt sich TOBIAS HIRSCHMÜLLER in seinem Beitrag mit der Frage, wie liberale, orthodoxe und zionistische deutsche Juden an die Reichsgründung erinnerten. Auf der Quellengrundlage von jüdischen Wochen- und Monatsschriften untersucht er insbesondere die anlässlich von Jubiläen erschienenen Kommentare. Hirschmüller kommt dabei zum Ergebnis, dass eine Erinnerung an die Entstehung des Reiches meist in der liberalen jüdischen Presse praktiziert wurde. Bezugspunkte der Erinnerung waren zum einen die symbolische Gründung des Reiches am 18. Januar, da mit der deutschen Einigung für Juden die formale rechtliche Gleichstellung als Deutsche erreicht wurde. Zum anderen war die Erinnerung an die Schlacht von Sedan ein Fixpunkt, da hier auch die jüdischen deutschen Soldaten ihren Beitrag geleistet hatten und somit die erzielte Anerkennung von den Redaktionen als verdient kommuniziert wurde. Die Bezugnahmen auf die jüdischen Verdienste bei der „Reichsgründung“ waren gleichzeitig in entscheidendem Maße der Abwehr von steigendem Antisemitismus geschuldet. 5. ERINNERUNGSKULTUR In einem abschließenden Teil widmen sich die Beiträge der Wirkungsgeschichte des Kaiserreichs in der deutschen Geschichte und in der Erinnerungskultur. MARTIN SABROW fragt nach dem Verhältnis der Hohenzollern zur Demokratie. Er sieht in der Weimarer Republik die Entwicklung zweier gegeneinander laufender Linien: die zunehmende Integration der entmachteten Kaiserfamilie in die bürgerliche Gesellschaft und die Herausbildung eines monarchischen Gegenmilieus. Während der kulturelle Monarchismus eine breite Wirkung in der gesamten Zeit der Weimarer Republik entfalten konnte, blieb der Monarchismus als politische Bewegung doch schwach. Sabrow macht dafür mehrere Faktoren verantwortlich. Den relevanten Figuren fehlte einerseits die Statur, um das „politische und symbolische Vakuum“ zu füllen, welches der unrühmliche Sturz der Monarchie 1918 hinterlassen hatte. Andererseits waren auch die Versuche erfolglos, den Aufstieg der Nationalsozialisten für eine monarchische Restauration zu nutzen. Aufgrund ihrer Bereitschaft zum Bündnis mit den Nationalsozialisten habe die Kaiserfamilie jedoch eine große Mitverantwortung an der Zerstörung der Republik auf sich genommen. ULF MORGENSTERN widmet sich den kolonialen Ambitionen des Kaiserreichs und deren Langzeitwirkungen. Deutsche Reeder, Händler und Siedler waren lange schon global engagiert, bevor das Deutsche Kaiserreich spät in den Wettlauf um

Einleitung: Wie demokratisch war der Obrigkeitsstaat?

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Kolonien eintrat. Der Versailler Vertrag beendete diese Epoche formell, doch Deutsche blieben auch weiterhin Teil des weltweiten kolonialen Projekts. Die daraus resultierenden ungleichen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen sowie die oft übersehenen gesellschaftlichen und kulturellen Einschreibungen bewertet Morgenstern als Aufforderung zu einer Auseinandersetzung mit diesem Themenkreis. Historische Forschungen könne und solle dabei die Grundlage für die demokratischen Diskurse und Verhandlungen der Gegenwart liefern. Die engen Verflechtungen von Krieg und Nation untersucht die Ausstellung „KRIEG MACHT NATION“ des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, die KATJA PROTTE vorstellt. Das Konzept von Nation und Nationalstaat steht heute mehr denn je im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Sehnsucht nach Heimat und regionaler Identität. Das Militärhistorische Museum hat daher die 150jährige Wiederkehr des Deutsch-Französischen Krieges und der Gründung des deutschen Kaiserreichs zum Anlass genommen, ein Thema aufzugreifen, dem sich lange Zeit kein großes Ausstellungsprojekt mehr gewidmet hat: der kriegerischen Gründung des ersten deutschen Nationalstaats. Die Ausstellung zeigt die fast vergessenen Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 als Kulminationspunkte von Fortschrittsglauben und Nationalidee im 19. Jahrhundert, die unsere Vorstellung von Krieg und Nationalstaat bis heute weit mehr prägen, als vielen Menschen bewusst ist. Sie ermutigt Besucherinnern und Besucher, genauer hinzuschauen, anstatt das Kaiserreich und seine Vorgeschichte entweder als „gute alte Zeit“ zu verklären oder als Wurzel allen Übels in der deutschen Geschichte zu verdammen. In einer kritischen Auseinandersetzung mit jüngst publizierten Urteilen über den angeblich rein obrigkeitsstaatlichen, antidemokratischen und bellizistischen Charakter des deutschen Kaiserreichs beleuchtet der Beitrag von ULRICH LAPPENKÜPER den facettenreichen politisch-gesellschaftlichen Diskurs der Deutschen über Reich und Reichsgründung und schlägt dabei den zeitlichen Bogen von 1871 bis in die Gegenwart. Vor dem Hintergrund der neuen Forschungen sieht Lappenküper das Kaiserreich als die wohl einzig realistische Antwort auf die seit Generationen schwelende deutsche Frage wie auch als eine wichtige Etappe auf dem verschlungenen Weg Deutschlands zur Demokratie. Er plädiert daher dafür, den 150. Jahrestag der Reichsgründung intensiv dafür zu nutzen, das Bewusstsein der Öffentlichkeit über eine wesentliche Epoche deutscher Geschichte zu schärfen und dieser Epoche einen Platz im Demokratiegedächtnis der Bundesrepublik nicht zu versagen. Der abschließende Beitrag von CHRISTOPH NONN widmet sich schließlich der Betrachtung des Kaiserreichs aus der Perspektive der Geschichtspolitik. In einem Überblick der Geschichtsschreibung zum Kaiserreich ordnet er diese in ihren jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext ein. Galten in den frühen Jahren der Bundesrepublik die wirtschaftliche Stabilität und die Rechtssicherheit des Kaiserreichs als große Errungenschaften, betonten Historiker in den 1970er Jahren unter dem Eindruck der deutschen Zweistaatlichkeit den antidemokratischen Charakter und machten das Kaiserreich für den „deutschen Sonderweg“ und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich. In einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Eckard Conze wirbt er für ein differenziertes Bild des Kaiserreichs, in seiner ganzen Komplexität, im internationalen Vergleich, mit offener Zukunft und der Möglich-

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keit, Potenziale zu entfalten oder eben auch deren Entfaltung zu verhindern. Wenn es einen „Schatten“ des Kaiserreichs gegeben habe, so Nonn, dann in der Kombination eines ausgesprochen demokratischen Wahlrechts mit einer ausgesprochen undemokratischen Verfassungsstruktur. Weil die Macht des gewählten Parlaments eng begrenzt und einseitig negativ blieb, entwickelte sich im Kaiserreich eine Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit. Auf die 1918 dann etablierte parlamentarische Regierungsweise waren so weder Parteien noch Bürger vorbereitet. 6. FAZIT: DEMOKRATISIERUNG OHNE DEMOKRATIE Doch was steht diesem Kaiserreich nun an angemessener Erinnerung zu? Die Antwort darauf fällt nicht leicht. Zweifelsohne bildeten die Jahrzehnte des Kaiserreichs die Phase des Durchbruchs der „klassischen Moderne“. Der Historiker Detlef Peukert charakterisierte sie so: „In ihr entstanden die Züge unserer gegenwärtigen Lebenswelt, erfolgte der Durchbruch der modernen Sozialpolitik, Technik, Naturwissenschaft, der Humanwissenschaften und der modernen Kunst, Musik, Architektur und Literatur.“ Aber erfolgte auch der Durchbruch der modernen Demokratie? In verfassungsrechtlicher und politischer Hinsicht muss man klar feststellen: nein. Das politische System des Kaiserreichs war auf die Verhinderung von formeller Demokratisierung ausgelegt und erbrachte diese „Leistung“ bis zum Schluss. Hinzu kam, dass die Fürsten am monarchischen Prinzip, dem Gottesgnadentum und der fürstlichen Souveränität im Gegensatz zur Volkssouveränität bis zum Schluss als Herrschaftsdoktrin festhielten. Auch dies stand einer verfassungsrechtlichen Demokratisierung bis zu den Oktoberreformen 1918 im Weg und wurde im November 1918 durch die Revolution hinweggefegt. Erst dann war der Weg zu einer modernen parlamentarischen Demokratie frei. Gleichwohl sind in der politischen und gesellschaftlichen Praxis des Kaiserreichs klare Tendenzen hin zu einer Demokratisierung zu diagnostizieren. Der Reichstag gewann kontinuierlich an Einfluss, das moderne Parteiensystem entstand, in den Kommunen und einzelnen Gliedstaaten wurden verschiedenste demokratische Handlungsformen erprobt, der Föderalismus und die komplizierte Verfassungsarchitektur zwangen zu Kooperation statt obrigkeitsstaatlichem Durchregieren. Die Gesellschaft des Kaiserreichs war hochgradig pluralistisch und pflegte verschiedenste Ausdrucksformen. Gesellschaftlich und politisch ausgeschlossene Gruppen wie Sozialdemokraten, Frauen und Deutsche jüdischen Glaubens identifizierten und nutzten Spielräume für ihre unterschiedlichen „Kämpfe um Anerkennung“. Ja, es gab eine autoritäre, nationalistische und in großen Teilen expansionistische politische Kultur, aber es gab eben auch diese Pluralisierung der Lebensverhältnisse und Ausdrucksformen. In gesellschaftlicher Hinsicht kann man demnach Elemente der Demokratisierung erkennen, nur trafen sie auf ein politisches und intellektuelles Establishment und auf ein Verfassungsgefüge, das diese als Anmaßung, Zumutung und existentielle Herausforderung wahrnahm und eher abzuwehren als zu integrieren versuchte.

VERFASSUNG UND POLITISCHES SYSTEM

VERFASSUNG UND STAATSRECHTSLEHRE Konstruktion und Kritik Michael Dreyer 1. VERFASSUNGGEBUNG UND VERFASSUNG Am 16. April 1867 trat ein Unikum in die Welt: 22 souveräne Staaten hatten sich auf eine gemeinsame Verfassungsordnung verständigt, und im konstituierenden Reichstag verabschiedeten 297 Abgeordnete in nur 35 Sitzungen, die sich über gerade mal 55 Tage erstreckten, die 79 Artikel der Verfassung des Norddeutschen Bundes, die vier Jahre später weitgehend unverändert zur Verfassung des Deutschen (Kaiser-)Reiches mutieren sollte. Zum Vergleich: die Sitzungen der Weimarer Nationalversammlung erstreckten sich über 175 Tage, die des Parlamentarischen Rates über 265 Tage. Unter diesen Umständen wird man bei den Beratungen von 1867 keine tiefschürfenden Debatten erwarten dürfen, die das „Wesen“ des zu gründenden Staates zum Inhalt gehabt hätten oder die sich gar der Frage nach Demokratie oder Konstitutionalismus gewidmet hätten. Die Thronrede des Königs von Preußen zu Beginn des Reichstags setzte den Ton, nach ihr haben die verbündeten Regierungen, im Anschlusse an gewohnte frühere Verhältnisse, sich über eine Anzahl bestimmter und begrenzter, aber praktisch bedeutsamer Einrichtungen verständigt, welche ebenso im Bereiche der unmittelbaren Möglichkeit, wie des zweifellosen Bedürfnisses liegen1

Demokratischer Aufbruch klingt anders, aber den konnte man von König Wilhelm, seinem Ministerpräsidenten Graf Bismarck-Schönhausen und den „hohen Verbündeten“ kaum erwarten. Wie ging der konstituierende Reichstag damit um? Die Verhandlungen waren kurz, aber nicht ohne Kontroversen. Diäten für die Abgeordneten der kommenden Reichstage wurden eingeführt2, nach einer Rücktrittsdrohung Bismarcks3 aber wieder gestrichen.4 Der sächsische Staatsminister von Friesen wollte dem Reichstag sogar das für jedes Parlament elementare Budgetrecht verweigern5 – von Demokratie ist dies alles weit entfernt. Von einer parla-

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Sten. Ber., I. Ebd., S. 481f. Ebd., S. 695. Ebd., S. 711. Ebd., S. 650.

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Michael Dreyer

mentarischen Monarchie, wie sie damals schon lange in England bestand, konnte keine Rede sein; selbst die konstitutionelle Ministerverantwortlichkeit wurde erst durch das berühmte „Amendment Bennigsen“ eingeführt, der den Bestimmungen über die Gegenzeichnungspflicht des Kanzlers bei monarchischen Akten die Worte „welcher dadurch die Verantwortung übernimmt“6 hinzufügte. Erst in der 20. Sitzung am 27. März wurde die Position des Bundeskanzlers des Norddeutschen Bundes, des späteren Reichskanzlers, von einem bloßen Sekretär der verbündeten Regierungen zu der eines verantwortlichen Politikers heraufgestuft, und auch dies erst, nachdem frühere Anträge, die bereits in die gleiche Richtung gingen, gescheitert waren.7 Der nationalliberale Abgeordnete Johannes Miquel, der spätere Oberbürgermeister von Frankfurt und preußische Finanzminister, drückte die Verwirrung der Abgeordneten angesichts des Verfassungsentwurfs aus: Der Entwurf nun, welcher uns vorliegt, entspricht der politischen Basis, auf der er entstanden ist. Der Entwurf tritt bei der ersten Beschauung uns rauh und eckig entgegen, er befriedigt weder ein politisches Ideal, noch ein theoretisches Ideal, noch entspricht er einem historischen Vorgang; der Entwurf ist nicht zu vergleichen mit der amerikanischen, noch mit der schweizerischen Bundesverfassung, noch auf eine Linie zu stellen mit der Reichsverfassung [der Paulskirche]; der Entwurf gewährt keinen Einheitsstaat, keinen Bundessstaat und keinen Staatenbund; der Entwurf ist völlig originell, wie die politische Lage neu und originell ist, die er formuliren soll. Große Völker copiren nicht, große Völker in großen Umständen sind immer neu.“8

Die fertige Verfassung lässt sich knapp als graphische Übersicht darstellen (Abb. 4). Dies ist das klassische Modell einer konstitutionellen Monarchie, ohne parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung und sogar ohne Grundrechtskatalog. Immerhin, ein demokratisches Element enthielt die politische Ordnung: der Reichstag wurde nach einem 1867/71 bemerkenswert demokratischen Wahlrecht gewählt. Zwar waren Frauen, Soldaten und Empfänger von Armenfürsorge ausgeschlossen, aber das verbleibende allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer ab 25 Jahre gab es damals nirgendwo, nicht einmal in Republiken wie der USA und der Schweiz. Wie wurde diese Verfassung nun in der zeitgenössischen staatsrechtlichen und politiktheoretischen Diskussion aufgenommen?

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Ebd., S. 403. Ebd. sowie S. 359ff., 374, 385ff. Ebd. S. 111f.

Verfassung und Staatsrechtslehre: Konstruktion und Kritik

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Abb. 1: Die „Bismarckschen Reichsverfassung“9

2. MONARCHIE, REPUBLIK, DEMOKRATIE? DIE VERFASSUNG IN DER DISKUSSION Die Verfassung des Kaiserreiches trägt eine klare konservative und nationalliberale Handschrift, und natürlich waren die Sozialdemokratie und der politische Katholizismus, viele Hannoveraner, Nordhessen und Schleswig-Holsteiner, ethnische Minderheiten (Dänen, Polen, viele Elsass-Lothringer) zutiefst unzufrieden. In Gotha

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Verfassungsdiagramm (Schema) zur „Bismarckschen Reichsverfassung“ von 1867 und Folgejahren. Mit Entwicklung der Bezeichnungen sowie der Anzahlen der Reichstagsmitglieder und Bundesratsstimmen Eigene Grafik nach https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid= 1715439 (Zugriff 22.7.2021).

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1875 und Erfurt 1891 formulierten die Sozialdemokraten ihren Alternativentwurf zur existierenden politischen Ordnung. Aber zutiefst zufrieden waren überwiegend die Staatsrechtler, die jetzt das Monopol über die wissenschaftliche Interpretation der Verfassung für sich reklamierten. Endlich gab es eine geschriebene Verfassung, und nun konnte man „Amateure“ wie die Historiker Georg Waitz und Heinrich von Treitschke, die bislang in der staatstheoretischen Debatte eine Rolle gespielt hatten, von der akademischen Diskussion weitgehend ausschließen. Staatsrechtler wie Otto (von) Gierke, Georg Jellinek, Paul Laband, Ludwig von Rönne, Herrmann Schulze und Max (von) Seydel übernahmen jetzt die Debatte, und obwohl das noch viel Raum für methodische und inhaltliche Meinungsverschiedenheiten ließ, sprachen sie alle die gleiche Sprache, nämlich die der juristischen Staatsinterpretation. In ihren Debatten um die Konstruktion und das Wesen des Reiches, um die richtige Auslegung der Verfassung, spielt die Frage der Demokratie im Grunde überhaupt keine Rolle. Die positivistische Staatsrechtslehre ist an der Auslegung konkreter Verfassungsbestimmungen interessiert, nicht an abstrakten Prinzipien. Selbst im Reichstag wird kein Hauch von Demokratie entdeckt. Paul Laband, der wohl einflussreichste Staatsrechtsdenker des Kaiserreiches, beschreibt den Reichstag so: Die staatsrechtlichen Befugnisse des Reichstages bestehen nicht darin, daß ein Theil der dem Reiche zustehenden Staatsgewalt von ihm ausgeübt wird, daß er an den Herrschaftsrechten des Reiches einen Antheil hat, daß er ein Mitträger der Souveränetät ist; sondern darin, daß Kaiser und Bundesrath bei der gesammten Regierung des Reiches theils an die Zustimmung theils an die Kontrolle des Reichstages gebunden sind.10

Demokratisches Wahlrecht hin oder her: der Reichstag hatte nicht mehr Rechte als jedes andere Parlament in einer der deutschen konstitutionellen Monarchien. Der Reichstag ist für Labend kein Teil der Staatsgewalt, sondern er hat lediglich bestimmte Mitwirkungsrechte, durch die die Staatsgewalt an Zustimmung und Kontrolle gebunden sein kann! Man fühlt sich in den Vormärz zurückversetzt, als altständische Modelle der Repräsentation das Parlament als Teil der Gesellschaft sahen, dem der Staat dialektisch gegenüberstand. Aber es kommt noch drastischer. Denn das Reich ist nach fast einhelliger Auffassung der Staatsrechtler auch keine Monarchie – der König von Preußen übt als Kaiser die Rechte des Bundespräsidiums aus (Art. 11.1 RVerf), aber dadurch wird er nicht zum Reichsmonarchen. Der Kaisertitel ist lediglich „ein Sonderrecht des Königs von Preußen“11. Was ist also das Reich? Georg Jellinek scheut sich nicht, die Konsequenz zu ziehen und nennt das Reich eine „Republik“12. Und Laband geht

10 Laband (1902): Staatsrecht, S. 51. 11 Ebd., S. 41. 12 Jellinek (1914): Staatslehre, S. 712.

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noch einen Schritt weiter: „Das Deutsche Reich ist nicht eine juristische Person von 40 Millionen Mitgliedern, sondern von 25 Mitgliedern“13. Und da diese Mitglieder gleichberechtigt seien, müsse das Deutsche Reich als demokratische Republik bezeichnet werden. Diese Auffassung wurde zwar nicht von allen Fachkollegen geteilt, aber nach Meinung des führenden deutschen Staatsrechtlers war der Ruf nach Demokratie überflüssig, denn Deutschland war bereits eine Demokratie und kein „Kaiserreich“! Wenn also die Frage nach Monarchie oder Republik kein großes Thema in der Zunft war, womit füllten sich dann die Seiten der staatsrechtlichen Fachzeitschriften? Abgesehen von rechtspositivistischen Beschreibungen des von jeglicher Politik scheinbar sauber abstrahierten Status quo gab es vor allem ein Streitthema, das das Deutsche Reich von Anfang an begleitete: das Wesen des Bundesstaates und des nichtsouveränen Staates. 3. DAS WESEN DES (MONARCHISCHEN) BUNDESSTAATES Die überaus komplexen – und letzten Endes fruchtlosen – Irrungen und Wirrungen der Debatte um den Begriff des Bundesstaates lassen sich hier auch nicht ansatzweise schildern.14 Sie waren allerdings beinahe unvermeidlich, denn einen monarchischen Bundesstaat hatte es noch nie zuvor gegeben; die USA und die Schweiz waren demokratische Republiken. In der Zeit zwischen der Paulskirche und der Reichsgründung beruhte die herrschende Lehre auf Ideen des Historikers Georg Waitz, der in Anlehnung u.a. an Tocqueville von der Souveränitätsteilung zwischen Bund und Einzelstaaten im Bundesstaat ausging. Das war politisch attraktiv, denn so konnte man sowohl Österreich wie Preußen versprechen, dass beide Staaten auch in einem Bundesstaat souverän blieben. Aber dieses Problem war 1866 gewaltsam gelöst worden, und damit hielt sich auch die Theorie von Waitz nicht länger. Nach der Reichsgründung konnte der junge bayerische Jurist Max Seydel zeigen, dass Souveränität nicht teilbar sei.15 Allerdings kombinierte es dies mit dem seit Jean Bodin feststehenden Dogma der Staatslehre, dass ein Staat notwendig souverän sein müsse. Das hieß für Seydel, dass entweder nur der Bund oder nur die Einzelstaaten souverän sein müssen, dass es mithin nur Einheitsstaaten oder Staatenbünde gebe – aber eben keinen Bundesstaat. Nun hatte man aber im deutschen Liberalismus nicht seit 1817 nach Einheit und Freiheit im Bundesstaat gestrebt, um sich genau in dem Moment, in dem man beides erreicht glaubte, belehren zu lassen, dass es gar keinen Bundesstaat geben könne! Zur Rettung trat wieder Laband an: er akzeptierte die Argumentation Seydels über die Unteilbarkeit der Souveränität – aber nicht die seit 1576 fast unbestrittene Lehre von der Notwendigkeit der Souveränität für den Staat. Laband erfand mit 13 Laband (1876): Staatsrecht, S. 88 und Laband (1902): Staatsrecht, S. 91. 14 Dazu Dreyer (1987): Föderalismus, S. 245–529. 15 Seydel (1872): Bundesstaatsbegriff.

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einem brillanten Manöver den nichtsouveränen Staat,16 der Teil eines souveränen Bundesstaates sein könne, aber trotzdem seinen besonderen Staatscharakter behalte. Ein Problem war gelöst, ein neues geschaffen: wie sollte dieser neue Staatsbegriff von der Kommune abgegrenzt werden? Und zwar nicht nur praktisch, sondern in der Staatsrechtstheorie? Mit diesem Problem hat sich die deutsche Staatsrechtslehre bis 1918 herumgeschlagen, ohne eine Lösung zu finden – weil es keine Lösung gab. Die Konstruktionen des Bundesstaates sowie des Reiches als einer Demokratie mit 25 Mitgliedern zeigte eigentlich nur, wie weit von der politischen Realität die deutschen Staatsrechtler entfernt waren. Es ging auch anders. Hugo Preuß, später einer der schärfsten liberal-demokratischen Kritiker des Wilhelminismus und noch später Autor des Weimarer Verfassungsentwurfs, beklagte schon in seinen ersten Schriften die Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungsrealität. Das Reich sei eine Monarchie mit dem Kaiser als Reichsmonarchen.17 Korrelat zur Monarchie müsse eine demokratische Ausrichtung des politischen Systems sein – ein Volksstaat statt eines Obrigkeitsstaates, wie Preuß vor allem im Weltkrieg in zahlreichen, immer drängenderen Schriften forderte.18 Damit war die Forderung nach Demokratie auch in der wissenschaftlichen Diskussion wieder auf der Tagesordnung. 4. WERT UND UNWERT DER DEMOKRATIE ALS STAATSFORM Es ist vielleicht kein Zufall, dass in den Jahren vor dem Kriegsausbruch 1914 gleich mehrere Bücher über die Demokratie als politisches System erschienen. So schrieb der Nationalökonom Wilhelm Hasbach über „Die Moderne Demokratie“19, der Historiker Hans Delbrück über „Regierung und Volkswille“20 – beides bezeichnenderweise keine Juristen. Nach fast 600 Seiten von durchweg feindlicher Darstellung der Demokratie kommt Hasbach zu dem Schluss, „daß die Konstruktion keiner demokratischen Staatsform derjenigen des liberalen Staates, das heißt der konstitutionellen Monarchie, überlegen ist“21. Und auch Delbrück beklagt die Mängel der „Parteiregierung“22 und fragt rhetorisch, wie „es gekommen [sei], daß Deutschland in der Sozialpolitik allen anderen Ländern soweit voraus gewesen ist?“23 Die Antwort ist klar:

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Laband (1876): Staatsrecht, S. 55. Preuß (1889): Organische Bedeutung, S. 420–449. Etwa Preuß (1915): Deutsche Volk. Hasbach (1912): Demokratie. Delbrück (1914): Regierung und Volkswille. Hasbach (1912): Demokratie, S. 579 Delbrück (1914): Regierung und Volkswille, S. 180. Ebd., S. 181.

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Ohne eine Art von unparteiischem Schiedsrichtertum, wie es dem König und seinen Beamten zwischen den streitenden Interessen naturgemäß innewohnt, ist es kaum möglich, zu einer guten Sozialpolitik zu kommen. … [Die Sozialpolitik] kann man nicht in die Hand einer Partei geben.24

Die deutsche Wissenschaft konnte auch 1914 der Demokratie nichts abgewinnen. Dass man sich überhaupt damit auseinandersetzte ist aber ein Indikator der gewandelten Zeiten. 1871 wurde die Demokratie in der Analyse des Kaiserreiches von den Gelehrten schlicht ignoriert, aber im frühen 20. Jahrhundert wurde die normative Bedrohung der konstitutionellen Monarchie von einigen Autoren offenbar gespürt. Delbrücks bei aller Ablehnung der Demokratie nüchterne Darstellung erschien kurz vor Ausbruch des Krieges – und er nimmt bereits die Argumentation vorweg, die wenig später mit den „Ideen von 1914“ verbunden werden sollte. Danach sei die deutsche „soziale Demokratie“ der bloß formalen politischen Demokratie des Westens überlegen und Deutschland habe im Grunde bereits die bessere Demokratie. „Kultur“ wurde gegen bloße „Zivilisation“ gestellt. Auch hier waren es übrigens primär Geistes- und Sozialwissenschaftler (etwa Paul Natorp, Hermann Oncken, Johann Plenge, Max Scheler, Georg Simmel, Werner Sombart, Ernst Troeltsch), die den deutschen Konstitutionalismus gegen die Demokratie verteidigten, und weniger Juristen. Warnende Stimmen wie die von Hugo Preuß25 (1915) und später Max Weber26 (1918), die die Stärkung der Demokratie verlangten, wurden im deutschen Obrigkeitsstaat überhört, bis es zu spät war. LITERATUR Delbrück, Hans: Regierung und Volkswille. Eine akademische Vorlesung, Berlin 1914. Dreyer, Michael: Föderalismus als ordnungspolitisches und normatives Prinzip. Das föderative Denken der Deutschen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1987. Hasbach, Wilhelm: Die Moderne Demokratie. Eine politische Beschreibung, Jena 1912. Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1914 (erstmals 1900). Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1. Bd., Tübingen 1876. Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Handbuch des Oeffentlichen Rechts II.1, 3. neubearb. Aufl., Tübingen / Leipzig 1902. Preuß, Hugo: Die organische Bedeutung der Art. 15 und 17 der Reichsverfassung, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft 45 (1889), S. 420–449. Preuß, Hugo: Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915. Seydel, Max: Der Bundesstaatsbegriff. Eine staatsrechtliche Untersuchung, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft 28 (1872), S. 185–256. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, Erster Band: Von der Eröffnungs-Sitzung am 24. Februar und der Ersten bis zur Fünfunddreißigsten und Schluß-Sitzung am 17. April 1867, Berlin 1867. Weber, Max: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, München / Leipzig 1918.

24 Ebd. 25 Preuß (1915): Deutsche Volk. 26 Weber (1918): Parlament und Regierung.

„WER DEUTSCHLAND REGIEREN WILL, MUß ES SICH EROBERN.“ Das deutsche Kaiserreich als monarchisches Projekt Wilhelms I. Jan Markert „Unsere Generation erscheint mir wie die Märtyrer Generation“, klagte der spätere erste Deutsche Kaiser Wilhelm I. im November 1831 gegenüber seiner Schwester Charlotte, der Ehefrau des russischen Zaren Nikolaus I., „wir sollen Alles durchmachen; vielleicht viele Umstellungen in der Welt und menschlichen Gesellschaft erleben, die, man muß es der göttlichen Weisheit vertrauen, – einst zum Heil der Menschen ausschlagen sollen, – von welchem Heil ich jedoch jetzt nichts ahnden kann“.1 Innerhalb des vorangegangenen Jahres war im Zuge der Julirevolution das bourbonische Königshaus in Frankreich gestürzt worden. Die Signalwirkung des Pariser Umsturzes hatte mehrere revolutionäre Unruhen in Europa zur Folge, in Belgien, Deutschland, Italien und Polen. Mit diesen Ereignissen war endgültig die Illusion zerstört worden, dass die revolutionären Umbrüche zwischen 1789 und 1815 lediglich eine Art historischen „Betriebsunfall“ dargestellt hätten.2 „Die Souvraine Macht gehet mit dem Jahre 1830 zu Grabe, und die jetzigen Souvraine oder ihre Nachkommen werden es einst schwer büßen müssen“, lautete Wilhelms pessimistische Momentaufnahme.3 Wie viele seiner Standesgenossen des „langen 19. Jahrhunderts“ blickte der Hohenzollernprinz besorgt in die Zukunft. Die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die Europa nach der Französischen Revolution prägen sollten, stellten das dynastische Herrschaftsmodell vor bis dato ungekannte Herausforderungen. Waren Monarchien jahrhundertelang nicht darauf angewiesen gewesen, ihre Raison d’Être zu rechtfertigen, mussten die gekrönten Staatsoberhäupter und andere monarchische Akteure angesichts einer zunehmend selbstbewussteren Öffentlichkeit nunmehr aktiv um die Unterstützung ihrer Untertanen werben. In besonderem Maße musste die fürstliche Herrschaftsordnung mit einer erfolgreichen Regierungsarbeit überzeugen können, wollte sie den Forderungen nach stärkerer politischer Partizipation der Bevölkerung entgegentreten. Die Konstitutionalisierung der Monarchie

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Wilhelm an Charlotte, 13. November 1831. GStA PK, BPH, Rep. 51, Nr. 857. Die hier verwendeten Zitate werden in der ursprünglichen Sprache und Schreibweise der verzeichneten gedruckten und ungedruckten Quellen wiedergegeben. Vgl. pars pro toto Zamoyski (2016): Phantome, S. 385–420; Evans (2018): Jahrhundert, S. 107–129. Wilhelm an Charlotte, 28. Oktober 1830. GStA PK, BPH, Rep. 51, Nr. 856.

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stellte für Europas Königshäuser eine tiefgreifende Zäsur dar. Sie verschob das politische Gravitationszentrum des im vorrevolutionären Zeitalter rein dynastisch definierten Staates zu Ungunsten der Krone – eine Parlamentarisierung oder Demokratisierung der Regierung war mit dieser Entwicklung jedoch nicht zwangsläufig vorgezeichnet. Mit dem Aufkommen der nationalen und sozialen Frage wurde das monarchische System nach 1789 zudem mit zwei existentiellen Herausforderungen konfrontiert. Sie zu ignorieren erwies sich letztendlich für alle Dynastien als unmöglich. Speziell die Idee der „Nation“ entwickelte sich zu einer Legitimationsinstanz, die in Konkurrenz zum Konzept dynastischer Loyalität und Souveränität stand.4 Den Thron auf dem Boden populärer Forderungen zu stabilisieren war angesichts dieser Bedrohungen eine erfolgversprechende Strategie, die jedoch die monarchischen Akteure in die herausfordernde Situation versetzte, ihren noch aus dem Ancien Régime übernommenen Herrschaftsanspruch von Gottes Gnaden mit der notwendigen Zustimmung einer immer komplexer werdenden Öffentlichkeit in Einklang zu bringen.5 Diese Epoche der Neuerfindung der Monarchie erlebte der 1797 geborene Wilhelm I. nicht nur aus nächster Nähe mit. Anders als die tradierte bismarckzentrierte Historiographie argumentiert, spielte er eine aktive, ja teils entscheidende Rolle im Transformationsprozess, den die Hohenzollernmonarchie nach der Märzrevolution 1848 durchlief und der sie schließlich an die Spitze Deutschlands führte. Zudem erwies er sich als politisch wesentlich reflektierter und anpassungsfähiger, als es bislang dargestellt wurde.6 Zeit seines Lebens und seiner Herrschaft verfolgte Wilhelm das Ziel, die dominierende Position der preußischen Krone gegen revolutionäre Bedrohungen zu verteidigen. Übertragen auf seine politische Biographie können innerhalb dieser monarchischen Agenda drei grundlegende Phasen differenziert werden: Eine reaktionäre Phase vor 1848, während der er politischen Reformen der absolutistischen Hohenzollernmonarchie und jeglicher Änderung des 1815 geschaffenen Wiener 4

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Dieses aus der Revolutionszeit hervorgegangene Konkurrenzverhältnis, das in fast ganz Europa bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Ein- und schließlich Unterordnung der Krone unter die Nation zur Folge hatte, betonen insbesondere Kroll (2007): Legitimationsstrategien, S. 364f.; Langewiesche (2008): Reich, S. 112–125. Die moderne Monarchieforschung hat das tradierte Narrativ einer langen Niedergangsgeschichte monarchischer Herrschaft in Europa nach 1789 unter der Perspektive politik-, gesellschafts- und kulturhistorischer Fragestellungen überzeugend revidiert. Vgl. grundlegend Sellin (2011): Gewalt; Langewiesche (2013): Monarchie; Müller (2019): Thronfolger. Eine eingehende wissenschaftliche Analyse des Lebens und der Herrschaft Wilhelms I. stellt bis heute ein Desiderat dar. Die jüngst von Robert-Tarek Fischer verfasste Biographie beispielsweise verzichtet durchgehend auf eine Verwendung der umfangreichen archivalischen Privatkorrespondenz des Monarchen, was zu zahlreichen fehlerhaften und falschen Argumenten hinsichtlich dessen Person und Politik führt. Vgl. Fischer (2020): Wilhelm I. Einen begrenzten Erkenntnisgewinn kann lediglich die ältere Arbeit des DDR-Historikers Karl Heinz Börner vorweisen, die auf Wilhelms ungedruckten Nachlass zurückgreift. Vgl. Börner (1984): Wilhelm I. Der Verfasser dieses Beitrags arbeitet aktuell im Rahmen seiner Promotion an einer politischen Biographie des ersten Hohenzollernkaisers mit einem Hauptfokus auf dem Zeitraum 1840 bis 1866.

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Kongresssystems entschieden entgegentrat, aus Furcht, dies würde einen Schneeballeffekt in Richtung Revolution mit sich bringen. Eine präventive Phase zwischen Märzrevolution und Reichsgründung, die durch Wilhelms Konzepte und zielgerichtete Politik einer Konstitutionalisierung und allen voran Nationalisierung Preußens als deutschem Supremat gekennzeichnet ist. Und schließlich eine konservierende Phase nach 1871, in welcher der „Heldenkaiser“7 seine populäre und einflussreiche Stellung dazu nutzte, das in den Kriegen 1866 und 1870/71 Gewonnene abzusichern. Das deutsche Kaiserreich, seine Gründung und sein innerer Ausbau, können in diesem Kontext als Kulmination eines langjährigen antirevolutionären monarchischen Projekts Wilhelms I. betrachtet werden, dessen Grundzüge sich insbesondere auf die Revolutionserfahrungen 1848/49 zurückverfolgen lassen. 1. VOM „KARTÄTSCHENPRINZEN“ ZUM „GEGENSTAND DER ALLGEMEINEN HOFFNUNG“: WILHELM UND DAS PROJEKT DER KONSTITUTIONALISIERUNG UND NATIONALISIERUNG DER HOHENZOLLERNMONARCHIE Ursprünglich war der erste Hohenzollernkaiser als zweitgeborener Sohn des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. nicht für die Thronfolge vorgesehen. Da sich jedoch bereits früh abzeichnete, dass die Ehe seines älteren Bruders, dem späteren König Friedrich Wilhelm IV., kinderlos bleiben sollte, gewann Wilhelm seit Mitte der 1820er Jahre eine zusehends prominentere Position am Berliner Hof.8 Hatte er noch 1820 erklärt, „ich gehöre wahrlich nicht zu denen, die überall Revolution sehen und am wenigsten bei uns, wo das Volk so rein und unverdorben ist als irgendwo“9, änderte sich dies im Winter 1825/26 infolge des revolutionären Dekabristenaufstands gegen seinen Schwager Nikolaus I.10 Während eines persönlichen Besuchs am russischen Hof übernahm Wilhelm die dort vorherrschende Auffassung, es gäbe eine „allgemeine u[nd] gleiche Verbreitung der revolutionairen Gesinnungen u[nd] Bewegungen über ganz Europa“.11 „Ich gehörte bisher auch zu

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So der Titel einer offiziösen Biographie des Kaisers anlässlich des 100. Jahrestags seiner Geburt. Vgl. Oncken (1897): Heldenkaiser. 8 Wilhelms Stellung als potentieller Thronerbe wurde vor allem im Vorfeld seiner Eheschließung mit der Weimarer Prinzessin Augusta 1829 deutlich. Wie er treffend schrieb, habe deren Mutter nur deshalb „ein gnädiges Auge auf mich geworfen [...], um mich für die Tochter zu gewinnen, [...] da ich ihr nur in den Augen steche in der Erwartung, daß Fritz keine Deszendenz bekommt.“ Wilhelm an Luise Radziwill, 8. Oktober 1825. Jagow (1939): Jugendbekenntnisse, S. 154. Zudem hatte sich um den Prinzen bereits „ein Kreis von Mißvergnügten gesammelt“, die sowohl dem König als auch dem Kronprinzen politisch oppositionell gegenüberstanden, wie der österreichische Diplomat August Ernst von Steigentesch am 25. Januar 1824 nach Wien berichtete. Stern (1899): Steigentesch, S. 262. 9 Wilhelm an Charlotte, 11. März 1820. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 511a, Bd. 1. 10 Vgl. Katzer (1998): Staatsstreich. 11 Wilhelm an Friedrich Wilhelm III., 4. März 1826. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509a.

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den Ungläubigen, weil ich nichts erfuhr“, schrieb Wilhelm seinem Bruder aus St. Petersburg. „Leider haben die hiesigen Ereignisse Aller Welt die Augen öffnen müssen, daß mit solchen Dingen nicht als Nichtexistirend umgegangen werden darf; denn sonst kommt es so weit wie wir hier sahen.“12 Dieses „Damaskuserlebnis“ sowie die Erfahrungen der Julirevolution 1830 prägten die politische Biographie des Prinzen in entscheidendem Maße. Er sollte eine wahre Revolutionsparanoia entwickeln – eine Paranoia, die er mit vielen monarchischen Akteuren und konservativen Eliten des Vormärz teilte.13 Forderungen nach politischen Reformen der absolutistischen Hohenzollernmonarchie, gar nach einer konstitutionellen Regierung – der „neumodische[n] Doctrin [...], Alles durch die Menge, und im letzten Fall, durch Rebellion von den Souvrainen zu erzwingen“, wie er es bezeichnete – trat er scharf entgegen. „Solche Lehren zu unterdrücken ist [...] die erste Pflicht jedes treuen Unterthanen, namentlich der Angestellten, u[nd] unter diesen wieder die, des Soldaten. Wo ein anderer Sinn lebt, da ist die Rébellion im Werden, u[nd] wehe denen die da wähnen, sie später bändigen zu wollen!!“14 Mit Zensur, Polizeimaßregeln und Waffengewalt sollten reale wie vermeintliche revolutionäre Konfliktherde im Keim erstickt werden.15 Jedoch erst mit dem Herrschaftsantritt seines Bruders Friedrich Wilhelm IV. 1840 gelangte Wilhelm als präsumtiver Thronfolger zu einer einflussreichen politischen Position. Diese nutzte er, um die Politik des in seinen Augen schwachen und wankelmütigen Königs zu torpedieren. Friedrich Wilhelm IV. verfolgte sein eigenes monarchisches Projekt, begründet in seinem religiös-mythischen Blick auf vermeintliche Traditionen monarchisch-ständischer Herrschaft.16 Sein jüngerer Bruder konnte mit derart abstrakten Vorstellungen der Monarchie wenig anfangen. Die ständischen Reformpläne, die der König vor 1848 verfolgte, betrachtete Wilhelm als ersten Schritt in Richtung einer Konstitutionalisierung Preußens und versuchte daher kontinuierlich, diese zu torpedieren.17 „Welchʼ ein Leiden, wenn ein Monarch an zu reger, unpraktischer Phantasie leidet!!“, klagte er über Friedrich Wilhelm IV.18 Die bisweilen antagonistische Beziehung der beiden königlichen Brüder trug während des Vormärz entschieden dazu bei, das öffentliche Ansehen der absolutistischen Hohenzollernmonarchie und das Wilhelms als Thronfolger und Haupt der reaktionären Hofopposition zu desavouieren.19

12 Wilhelm an Friedrich Wilhelm (IV.), 10. März 1826. GStA PK, VI. HA, Nl. Vaupel, Nr. 56, Bl. 217f. 13 Vgl. Caruso (2017): Nationalstaat, S. 47f. 14 Wilhelm an Karl Wilhelm von Willisen, 25. Mai 1832. Ritter (1908): Briefe, S. 191. 15 Neben dem zaristischen Russland besaß für Wilhelm insbesondere die Regierung des österreichischen Staatskanzlers Klemens von Metternich „Vorbildcharakter“, was den Umgang mit politischem und gesellschaftlichem Dissens vor 1848 anging. Vgl. Srbik (1926): Metternich. 16 Vgl. ausführlich Barclay (1995): Anarchie. 17 Vgl. Bahne (1970): Verfassungspläne. 18 Wilhelm an Charlotte, 24. April 1845. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 511a, Bd. 2, Bl. 212. 19 Leopold von Gerlach, ein enger Vertrauter Friedrich Wilhelms IV., warnte wiederholt vor der Gefahr, die Wilhelms Opposition für die Krone darstellte. Es drohe eine offene Spaltung des

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Abb. 1: Thomas Nast: The studious and peaceable Boy20

konservativen Lagers oder gar der Regierung, der Prinz würde „an Popularität bei der großen Masse der anticonstitutionellen Officianten u[nd] wirkl[ich] alt Pr[eußischen] Conservativen u[nd] besonders bei der Armee gewinnen. Officianten u[nd] Armee sind aber in unserm Lande eine Macht.“ Gerlach an Ludwig Gustav von Thile, 3. Februar 1845. GA, LE02750, S. 147. Dieser Bruderzwist blieb auch der Öffentlichkeit nicht verborgen. Beispielhaft berichtet Karl August Varnhagen von Ense über „die schrecklichsten Aeußerungen“, die er in Berlin im Frühjahr 1845 während der ersten größeren öffentlichen Debatte über die Reformpläne des Königs vernahm: „[...] der König wollte dem Volke einen Brocken hinwerfen, aber der Prinz von Preußen hat ihn weggeschnappt; der vorige König Friedrich Wilhelm der Vierte, – ‚Sie wollen sagen, der jetzige?‘ – Nein, der vorige, der jetzige ist der Prinz von Preußen, – und was dergleichen Reden mehr sind.“ Tagebuch Varnhagen von Ense, 21. Februar 1845. Varnhagen (1862): Tagebücher. Bd. 3, S. 35. 20 Quelle: Pullen, Henry William: The Fight at Dame Europa’s School, New York 1871, S. 13. Der US-amerikanische Karikaturist Thomas Nast – 1846 im Alter von sechs Jahren mit seiner Mutter und seiner Schwester aus der Pfalz in die USA emigriert – zeigt Wilhelm in den hier ausgewählten Illustrationen aus der Perspektive von 1871 in unterschiedlichen historischen

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Der Ausbruch der Märzrevolution 1848 stellte schließlich eine elementare Zäsur dar. Als blutbefleckter „Kartätschenprinz“ verschrien, sah sich Wilhelm gezwungen, vor dem Zorn der Barrikadenkämpfer zeitweilig nach Großbritannien zu fliehen.21 Dort begann für ihn eine Phase der politischen Neuorientierung, die auch nach seiner Rückkehr auf die politische Bühne in Preußen nicht ihr Ende fand. Wie er seiner Schwester Luise aus dem Londoner Exil schrieb, werde er „wahr und wahrhaftig dem neuen Preußen meine Kräfte eben so willig reichen, wie dem alten! Was hinter uns ist, ist vorüber! [...] in das Unwiederbringliche muß man sich fügen!“22 Die Revolutionserfahrungen hatten Wilhelm die Schlussfolgerung ziehen lassen, dass die Monarchie zu ihrem Überleben der Unterstützung der Öffentlichkeit bedurfte – die sich 1848/49 vor allem in Form einer explosionsartig wachsenden Presse-, Publikations-, Parteien- und Vereinslandschaft sowie vom öffentlichen Publikum mit Interesse verfolgten Parlamentsdebatten Gehör verschaffte – und daher deren Forderungen teilweise entgegenkommen musste.23 „Bajonette sind nur gut gegen die Bündnisse der Zeit aber nicht gegen die Wahrheit die in der Zeit liegt“, reflektierte er 1850 über die vorangegangenen Umbruchsjahre.24 Insbesondere die beiden zentralen Forderungen der Revolution: die Konstitutionalisierung und Nationalisierung Preußens im Rahmen einer deutschen Einigung sollten als Integrationsangebot an die politisierte und mobilisierte Bevölkerung – darunter vor allem das Bürgertum – übernommen und durchgesetzt werden, wollte die Krone ihr entscheidendes politisches Gewicht bewahren. „Es gibt wohl keinen größeren Antagonisten der Constitution als mich, und wahrlich, die Neu-Zeit hat dies nicht vermindert“, gestand er, „aber kann man immer gegen den Strom schwimmen? Dasselbe gilt auch von der sogenannten deutschen Träumerei.“25 Der ehemalige „Kartätschenprinz“ sollte nach 1848 sowohl seine Umgebung als auch die Öffentlichkeit mit einer neugewonnenen politischen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit überraschen, die ihn von anderen monarchischen Akteuren seiner Generation unterschied – auch innerhalb der Hohenzollerndynastie. Zwar hatte sich Friedrich Wilhelm IV. während der Revolution einen Verfassungsoktroi abringen lassen – und dadurch das Scheitern seines monarchisch-ständischen Projekts besiegelt.26 Dennoch sollte er Zeit seiner verbliebenen Herrschaft Ideen konzipieren, das konstitutionelle Korsett seines Königtums abzuwerfen.27 Sein jüngerer Bruder hingegen gehörte nach 1848 zu den wenigen Mitgliedern des Herrscherhauses, die sich für die Notwendigkeit des Konstitutionalismus aussprachen. Wie der Prinz es gegenüber dem liberalen Abgeordneten Karl von Vincke-

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Situationen und mit einem vergleichsweise unvoreingenommenen Blick, als eigenständigen Akteur, frei von höfischem Kultus und Bismarck-Mythos. Vgl. detailliert Haenchen (1936): Flucht. Wilhelm an Luise, 6. April 1848. GStA PK, BPH, Rep. 51, Nr. 853. Vgl. pars pro toto Siemann (1985): Revolution, S. 90–112; Hein (2015): Revolution, S. 55–67. Wilhelm an Leopold von Orlich, 22. Mai 1850. Egloffstein (1904): Wilhelm I., S. 38. Wilhelm an Charlotte, 11. März 1850. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 511a, Bd. 2, Bl. 487. Vgl. Grünthal (1983): Verfassungsoktroi; Barclay (1995): Anarchie, S. 264f. Vgl. ausführlich Kraus (1995): Konstitutionalismus.

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Olbendorf ausdrückte, hatte er sich „den Beinamen des Reaktionärs auf gesetzlich verfassungsmäßigem Wege gegeben.“28 Dem Parlament gestand er im neugeschaffenen System dabei eine gesetzgebende Funktion zu, nicht jedoch eine Kontrolle der monarchischen Regierung. Dem König gegenüber versuchte Wilhelm zu erklären, er halte „eine parlamentarische Gesetzgebung für wenig beengend für die Krone, wenn nur keine parlament[arische] Regierung damit verbunden ist, d.h. daß ein von den Kammern zurükgewiesenes Gesetz, nicht immer die Auflösung derselben oder den Wechsel des Ministeriums zur Folge haben muß.“ Die Regierung könne sogar Vorteile daraus ziehen, denn wäre „dies Gesetz ein gerechtes u[nd] wohlthätiges, so fällt das Odium der Verwerfung auf die Kammern; war dasselbe indessen lükenhaft, fehlerhaft pp. so bringt die Regierung dasselbe in verbesserter Form wiederum vor.“29 Das Monarchische Herrschaftsprinzip, nicht der Parlamentarismus sollte das politische System prägen.30 Es war allerdings die bislang ungelöste Deutsche Frage, in der Wilhelm die entscheidende Möglichkeit sah, gleichzeitig eine zentrale politische Forderung der Revolution zu befriedigen und den Thron zu stärken, sollte es gelingen, Preußen als Führungsmacht eines zu schaffenden Nationalstaates zu etablieren. Die Nationalisierung der Hohenzollernmonarchie – die Verknüpfung nationaler und dynastischer Interessen – sollte die Krone im Inneren neu legitimieren und nach außen Berlin als deutschem Supremat eine einflussreichere Stellung im europäischen Mächtekonzert erlangen lassen. Dieses Konzept hatte Wilhelm erstmals eigenständig im November 1848 formuliert, als sich abzuzeichnen begann, dass Österreich nicht Teil des Paulskirchenprojekts sein würde. Mit dem Zustandekommen der deutschen Einheit ohne Wien – einer sogenannten kleindeutschen Lösung –, so Wilhelm, „ist Preußens Spiel gewonnen, weil wir [...] als einzige Großmacht Europas die zu Deutschland nun nur noch gehört, auftreten.“ Anders als sein Bruder zeigte er sich offen dafür, mit Vertretern der Frankfurter Nationalversammlung zu verhandeln, „da Einmal das Deutsche Parlament sich eine moralische Macht in Deutschland erworben habe, ihm auch bei der Bestimmung über das Oberhaupt eine Meinung über das Oberhaupt eingeräumt werden müsse; aber als alleiniger Verschenker der Kaiser Krone könne man das Parlament doch nicht anerkennen.“31 Seine legitimistischen Bedenken, eine Krone „von Volkes Gnaden“ anzunehmen, die Friedrich Wilhelm IV. in weitaus stärkerem Maße teilte, wog Wilhelm jedoch mit der Gefahr 28 Wilhelm an Karl von Vincke-Olbendorf, 5. März 1851. Schultze (1931): Briefe. Bd. 1, S. 140. Seit dem Vormärz unterhielt der Prinz eine regelmäßige Korrespondenz mit Vincke-Olbendorf, die ihm den Kontakt zum liberalen Kreis um dessen Cousin Georg von Vincke ermöglichte. Vgl. Behr (2009): Vincke, S. 97f. 29 Wilhelm an Friedrich Wilhelm IV., 7. Februar 1853. Baumgart (2013): Briefwechsel, S. 426f. 30 Die preußische Verfassung – und später auch die des deutschen Kaiserreichs – stellte mit dieser spezifischen Form des monarchischen Konstitutionalismus, in dem der König einen machtpolitischen Vorrang vor dem Parlament genoss, im Europa des 19. Jahrhundert einen Normalund keinen Sonderfall dar. Vgl. ausführlich Kirsch (1999): Monarch. 31 Wilhelm an Charlotte, 25./29. November 1848. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 511a, Bd. 2, Bl. 415f.

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einer siegreichen Revolution ab, sollte die Hohenzollernmonarchie sich der Nationalbewegung brüsk entgegenstellen. Ein „unabsehbares Interregnum“, warnte er seinen Bruder, würde „die unausbleibliche Folge sein [...] wehrend welcher Zeit, die rothe Republik ungeheure Fortschritte machen müßte.“32 Auch nach dem Ende der Revolution betonte er nach wie vor die Notwendigkeit, Preußen müsse auf der Welle des Nationalismus reiten – diesen jedoch in gemäßigte und vor allem monarchische Bahnen lenken –, um der Gefahr eines erneuten nationalrevolutionären und demokratischen Umsturzes vorzubeugen.33 „Das Nicht zu Standekommen einer Deutschen Einigung ist das Ziel der Révolution, die zwar diese Einigung auch an der Stirn trägt, aber nur um die Republik zu gründen, oder sonst Anarchie zu säen, bei der sich gut Fischen läßt“, verteidigte er seine Position gegenüber Charlotte und Nikolaus I., die jegliche deutschlandpolitischen Schritte Berlins als revolutionär verurteilten. „Man muß also die Sache aus den Händen der Révolution reißen, um sie correct zu formen. Auf diese Art eine Deutsche Einigkeit wollen heißt also nicht, die Gelüste der Révolution fördern, sondern ihnen entgegentreten.“34 Was der spätere Kaiser hier skizzierte, war das Konzept eines dynastischen Hijackings der Deutschen Frage. Wie eine deutsche Einheit unter preußischem Supremat zu erreichen sei – ob über den friedlichen Weg einer Reform des Deutschen Bundes oder einen Krieg gegen den innerdeutschen Rivalen Österreich und dessen Verbündete – machte Wilhelm von den Zeitverhältnissen abhängig. „Wer Deutschland regieren will, muß es sich erobern; à la Gagern geht es nun einmal nicht“, schrieb er etwa im Mai 1849 mit Blick auf den Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung, Heinrich von Gagern – im Kontext des Revolutionskriegs in Südwestdeutschland sprach Wilhelm unzweifelhaft von militärischen Eroberungen.35 Damit nahm er Otto von Bismarcks 1862 ausgesprochenes Diktum machtstaatlicher Politik vorweg, „nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden [...] sondern durch Eisen und Blut.“36 Nachdrücklich unterstützte Wilhelm daher die preußische Unionspolitik unter der Leitung des Diplomaten Joseph von 32 Wilhelm an Friedrich Wilhelm IV., 19. März 1849. Baumgart (2013): Briefwechsel, S. 236. 33 Wilhelm war nicht der einzige monarchische Akteur des 19. Jahrhunderts, der neben den Gefahren, die der Nationalismus für die traditionelle dynastische Herrschaftsordnung darstellte, auch dessen Potential als Legitimierungs- und Überlebensstrategie der Krone erkannte. Vgl. pars pro toto Kroll (2007): Legitimationsstrategien; Sellin (2018): Nationalisierung. 34 Wilhelm an Charlotte, 12. September 1849. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 511a, Bd. 2, Bl. 462. 35 Wilhelm an Oldwig von Natzmer, 20. Mai 1849. Natzmer (1889): Hohenzollern. Bd. 4, S. 64. Wie sehr er den preußischen Militäreinsatz in Baden auch als Instrument der Berliner Deutschlandpolitik begriff, machte Wilhelm deutlich, als er Anfang 1850 scharf gegen Pläne über den Abzug der Besatzungstruppen protestierte: „So lange wir Süd-Deutschland durch unsere alleinBesetzung ganz Badens, politisch u[nd] strategisch flaquiren, so lange sind wir Herren SüdDeutschlands [...] Hat Oestreich erst einen Ort im Baden[schen] besetzt, so greift es allmählig nach mehr, gehet nie hinaus u[nd] incorporirt es sich.“ Wilhelm an Friedrich Wilhelm IV., 9. Januar 1850. Baumgart (2013): Briefwechsel, S. 289f. 36 Rede Otto von Bismarcks in der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses, 29. September 1862. GW Bd. 10, S. 140.

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Radowitz. Nachdem Friedrich Wilhelm IV. am 3. April 1849 die ihm von der Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone abgelehnt hatte und das Paulskirchenprojekt gescheitert war, drängten Radowitz und der preußische Thronfolger auf die Schaffung eines von Berlin geführten, konservativ-monarchischen Bundesstaats.37 Im Auftrag seines Bruders agierte Wilhelm 1849/50 als dessen persönlicher Emissär auf mehreren diplomatischen Missionen, um den Widerstand der Großmächte gegen den Unionsplan zu brechen und die Unterstützung der deutschen Klein- und Mittelstaaten zu gewinnen.38 Als im Verlauf des Jahres 1850 immer mehr Verbündete von Berlin abfielen und Radowitz am preußischen Hof an Rückhalt verlor, drängte Wilhelm den König zu einer festeren Politik gegen den wachsenden Widerstand im Inneren und Äußeren.39 Sollte die Unionspolitik als monarchisches Gegenprojekt zur Frankfurter Nationalversammlung scheitern, warnte er Friedrich Wilhelm IV., „so bist Du und sind alle Fürsten compromittirt vor der Welt, vor ihren Unterthanen und vor der Pauls-Kirche, indem diese sagt [...] ‚Wir konnten und wir hatten es gemacht, weil die Fürsten nie etwas zu Stande bringen werden! und so zeigte es jetzt sich wieder!‘“40 Die Folge würde sein, fürchtete Wilhelm, „daß eine augenblickliche Schilderhebung der Révolution stattfinden würde, und die Antipathie gegen Preußen würde stärker sein als nach dem 3ten April [1849], da man das Abspringen von unseren eigenen Plänen uns nachweisen würde, was uns um alles Ansehen brächte.“41 Eine solche revolutionäre Schilderhebung blieb aus, als Preußen im November 1850 unter österreichischem und russischem Druck in der Punktation von Olmütz die Unionspolitik aufgab. Wilhelm – und mit ihm große Teile der preußischen Öffentlichkeit – empfanden die sogenannte „Schmach von Olmütz“ jedoch als demütigende Niederlage.42 Wäre stattdessen „der Krieg gefolgt“, behauptete er in Überschätzung des politischen wie militärischen Handlungsspielraums Berlins Ende 1850, „so stand Preußen an der Spitze Deutschlands und brauchte keine Diplomatie und Revolution mehr zu scheuen.“43 Während der Reaktionszeit der 1850er Jahre plädierte der Thronfolger stattdessen dafür, dass die Hohenzollernmonarchie ihren neuen konstitutionellen Charakter nutzen müsse, die öffentliche Meinung gegen das absolutistische Österreich zu gewinnen. Preußen solle, wie er an Ministerpräsident Otto von Manteuffel schrieb, „die moralische Eroberung Deutschlands“ anstreben „und so doch dem Ziele entgegengehen, welches ihm von der Vorsehung vorgezeichnet ist, nämlich Deutsch37 Vgl. grundlegend Meinecke (1913): Radowitz; Barclay (2000): Unionspolitik. 38 Siehe beispielsweise Wilhelm an Augusta, 26. Februar 1850. Schuster / Bailleu (1912): Nachlaß. Bd. 1/II, S. 413f.; Wilhelm an Friedrich Wilhelm IV., 31. Mai 1850. Baumgart (2013): Briefwechsel, S. 316–325. 39 Vgl. Blasius (1992): Psychopathologie, S. 190–199. 40 Wilhelm an Friedrich Wilhelm IV., 9. Mai 1850. GStA PK, VI. HA, Nl. Vaupel, Nr. 59, Bl. 679f. 41 Wilhelm an Friedrich Wilhelm IV., 19. Februar 1850. GStA PK, VI. HA, Nl. Vaupel, Nr. 59, Bl. 583. 42 Vgl. Frischbier (2015): Olmütz. 43 Wilhelm an Fritz von Berg, 28. März 1851. Knesebeck (1929): Briefe, S. 308f.

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lands Lenker und Führer zu werden.“44 Gegenüber der Öffentlichkeit trat Wilhelm demonstrativ als Verfechter einer seit 1848 vor allem in liberalen Kreisen propagierten „deutschen Berufung“45 Preußens auf. Denn eine weitere Erfahrung, die er während der Revolutionsereignisse gewonnen hatte, war der Wert von Public Relations.46 Indem er nach 1848 über Reden, Auftritte und Publikationen gezielt den Kontakt zur politischen Öffentlichkeit suchte, gelang es ihm nicht nur, das Image des „Kartätschenprinzen“ abzulegen, sondern auch, sich vom reaktionären Hof seines Bruders zu distanzieren und zum „Gegenstand der allgemeinen Hoffnung“ zu werden, wie es der Historiker Theodor von Bernhardi 1855 ausdrückte.47 2. „POLITIK, KRIEG UND FRIEDEN MACHE ICH SELBST.“ DAS PERSÖNLICHE REGIMENT DES KÖNIGS VOR DER REICHSGRÜNDUNG Die Chance, seine politischen Konzepte in die Tat umzusetzen, kam 1858, als Wilhelm die Regentschaft für den unheilbar erkrankten König übernahm und gemäß der verfassungsrechtlichen Prärogative den Regierungskurs selbst bestimmen konnte.48 Nachdem Friedrich Wilhelm IV. 1861 gestorben war, bestieg sein jüngerer Bruder schließlich den Thron. Mit dem von ihm selbst ausgewählten Ministerium der Neuen Ära begann der Regent das Experiment eines persönlichen Regiments, das durch seine eigenhändige Leitung der Innen- und Außenpolitik gekennzeichnet war. In den ersten Herrschaftsjahren übte er seine Macht sehr aktiv aus:

44 Wilhelm an Otto von Manteuffel, 20. Februar 1851. Poschinger (1902): Manteuffel. Bd. 1, S. 107–112. 45 Vgl. grundlegend Hardtwig (1980): Geschichtsbild. 46 Hier sei beispielhaft auf Wilhelms Zusammenarbeit mit dem Publizisten Louis Schneider verwiesen, der seit den 1850er Jahren für ihn die Rolle eines Spin Doctors übernahm. Vgl. Sterkenburgh (2016): Narrating. 47 Aufzeichnungen Theodor von Bernhardis, Sommer 1855. Bernhardi (1893): Leben. Bd. 2, S. 238. Als es im Mai 1854 zu einem öffentlichen Bruch zwischen den beiden Brüdern über die preußische Krimkriegspolitik kam, versammelte sich ein Demonstrationszug vor Wilhelms Palais in Berlin, der jenen hochleben ließ und die Abdankung des Königs forderte, wie Varnhagen berichtet. Tagebuch Varnhagen von Ense, 17. Mai 1854. Varnhagen (1869): Tagebücher. Bd. 11. S. 74. 48 Eine detaillierte Chronologie und Analyse des Zeitraums von der Erkrankung Friedrich Wilhelms IV. im Oktober 1857 bis zur Entlassung der Regierung Manteuffel im November 1858 liegt seitens Günther Grünthal vor. Vgl. Grünthal (1990): Ende. Grünthal stellt Wilhelm als weitestgehend passiven Akteur dar, der bei den Entscheidungsfragen der Stellvertretung, Regentschaft und Regierungsbildung maßgeblich von seinem Umfeld beeinflusst und bedrängt worden sei. Diese einseitige Skizzierung lässt sich maßgeblich darauf zurückführen, dass Grünthal den archivalischen Briefwechsel des Prinzen in jenem Zeitraum nicht verwendet. Zudem geben der umfangreiche Nachlass Leopold von Gerlachs im Erlanger Gerlach-Archiv, insbesondere die 1858 geführten Tagebücher (GA, LE02760) und Korrespondenzen (GA, LE02774) des königlichen Generaladjutanten, Anlass zu mehreren Korrekturen.

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Wilhelm übernahm persönlich die Führung des Staatsministeriums, hatte er doch bewusst auf die Ernennung eines starken Ministerpräsidenten verzichtet.49 „Politik, Krieg und Frieden mache ich selbst“, betonte er gegenüber seiner Ehefrau Augusta.50 Entscheidenden Wert legte er darauf, dass seine Minister sich lediglich als Ausführungsorgane seines königlichen Willens betrachteten – „daß die Leute meine und nicht ihre Idéen ausführen“, wie er Luise schrieb51 – und in dieser Rolle gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit auch auftraten. Die hohe öffentliche Popularität, die er zu Beginn seiner Regierung in Preußen und Deutschland genoss, ließ Wilhelm auf politische Erfolge der Hohenzollernmonarchie in der Deutschen Frage hoffen. Vor 1862 ergriff er mehrere persönliche Initiativen, eine Reform des Deutschen Bundes anzustoßen, die Preußen die politische und militärische Hegemonie im außerösterreichischen Deutschland sichern sollte.52 So etwa im Winter 1861/62, als er über seinen Außenminister Albrecht von Bernstorff diplomatisch vortasten ließ, ob das Projekt einer von Berlin geführten kleindeutschen Union – und die Schaffung eines deutschen Nationalparlaments – auf fruchtbaren Boden fallen würde. In Wien und an den Höfen der deutschen Klein- und Mittelstaaten stieß diese sogenannte Bernstorff-Note, die als Wiederaufnahme der Radowitz’schen Unionspolitik verstanden wurde, jedoch auf entschiede-

49 Zwischen der Regentschaftsübernahme 1858 und der Ernennung Bismarcks 1862 leitete Wilhelm fast jede fünfte Sitzung des Staatsministeriums. Da das Kabinett keinen einheitlichen politischen Charakter besaß, sondern bewusst aus Konservativen und Liberalen zusammengesetzt war, gelang es den Ministern de facto nie, einig gegenüber dem Monarchen aufzutreten und so auf Dauer eine politisch unabhängigere Stellung zu gewinnen. Vgl. Haupts (1978): Regierung, S. 68–72; PPS Bd. 5, S. 33f. 50 Wilhelm an Augusta, 18. Juli 1859. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 7, Bl. 68. Auch Bismarck berichtet in seinen Memoiren, dass der Regent ihm im persönlichen Gespräch Anfang 1859 erklärt habe, „Mein auswärtiger Minister und mein Kriegsminister werde ich selbst sein; das verstehe ich.“ NFA IV, S. 126. 51 Wilhelm an Luise, 1. Februar 1859. GStA PK, BPH, Rep. 51, Nr. 853. Mit dem Beginn der Neuen Ära verlor auch Bismarck seinen bisherigen Posten am Frankfurter Bundestag und wurde stattdessen zum preußischen Gesandten in St. Petersburg ernannt – er selbst fühlte sich „an der Newa kalt gestellt“. Bismarck an Malwine von Arnim-Kröchlendorff, 10. Dezember 1858. GW Bd. 14/I, S. 495. Die genauen Hintergründe dieser diplomatischen Versetzung können nicht genau rekonstruiert werden. Vgl. Kaernbach (1991): Bismarck, S. 117f. Vieles spricht jedoch dafür, dass Wilhelm diesen Vorgang nicht als Degradierung betrachtete, da er, wie Bismarck selbst schrieb, „gar keine Idee davon hatte, daß mir der Wechsel unlieb sein könnte.“ Bismarck an Gustav von Alvensleben, 8. Februar 1859. GW Bd. 14/I, S. 500. Auch verteidigte er Bismarck gegen dessen zahlreiche Kritiker, allen voran seine eigene Ehefrau Augusta: „In F. a/M. hat er vielleicht durch Persönlichkeit angestoßen, aber seine Position als Preuße war ganz korrekt; er ist und wird aber angefeindet, weil er sich nicht blindlings dem Öst[erreichischen] Willen unterwarf und daher nicht auch dem der andern Gesandten.“ Wilhelm an Augusta, 9. Mai 1859. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 7, Bl. 7. 52 Hier sei beispielsweise der auf den Prinzregenten persönlich zurückgehende preußische Antrag zur Reform der Bundeskriegsverfassung im Januar 1860 genannt, der eine Zweiteilung des militärischen Oberbefehls zwischen Berlin und Wien vorsah. Vgl. Bailleu (1897): Kriegsverfassung; Huber (1988): Verfassungsgeschichte. Bd. 3, S. 400f.

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nen Widerstand. Preußen, so der Vorwurf, verfolge einen Kurs machtstaatlicher Expansionspolitik und nationaler Revolutionierung.53 Auch für die Hohenzollernmonarchie war es existentiell, in der Deutschen Frage „das Nationale von dem Revolutionären zu unterscheiden“, reflektierte Wilhelm gegenüber Augusta.54 Aber – wie ein britischer Diplomat nach einem persönlichen Gespräch mit dem Herrscher 1860 berichtete – „he was sure, that if some great change for the better government of Germany was not promptly made, the people would take the matter into their own hands, and some sovereigns who now thought themselves secure, would be swept from their thrones.“55 Noch war Wilhelm nicht entschlossen, den Widerstand der deutschen Monarchen mit militärischen Mitteln zu brechen. Stattdessen wollte er zunächst „der öffentlichen Meinung den Ausspruch“ überlassen, wie er gegenüber König Johann von Sachsen darlegte, „wer Praktisches, Einigendes und Kraftverleihendes für Deutschland will, – ob Preußen oder die demselben systématisch opponirenden Stimmen am Bundestage??“56 Als neue Handlungsebene und Faktor der Politik außerhalb der Regierungszimmer und königlichen Salons hatte die parlamentarische und publizistische Öffentlichkeit seit der Märzrevolution kontinuierlich an Gewicht gewonnen. Ihren Widerstand zu provozieren stellte nicht nur für Preußen ein unkalkulierbares Risiko dar, sondern für alle deutschen Höfe. Dieser Umstand machte die öffentliche Meinung – in ihren unterschiedlichen Formen und Ausdrucksweisen – jedoch auch zum potentiellen Verbündeten einer offensiven Politik in der Deutschen Frage und konnte diese gegen den Widerstand ihrer Gegner legitimieren.57 Sowohl die Hohenzollernmonarchie als auch die Staaten des sogenannten „Dritten Deutschland“ warben seit dem Ende der 1850er Jahre um Unterstützung für ihre Reformpläne des Deutschen Bundes. Letztere befürworteten eine Stärkung der föderalen Strukturen des Bundes, scheiterten jedoch sowohl am Widerstand der beiden deutschen Großmächte als auch an Rangstreitigkeiten und Interessenskonflikten untereinander. Kaum eine Dynastie war freiwillig zum Souveränitätsverzicht im Namen der „Nation“ bereit.58 Wilhelm selbst kritisierte die Triaspolitik der „Sonderbündlereien“ der Klein- und Mittelstaaten scharf. Er drohte: „Preußen wird niemand auffressen, der sich ihm nicht opponiert; wenn solche

53 Vgl. Börner (1976): Krise, S. 156–158; Huber (1988): Verfassungsgeschichte. Bd. 3, S. 411– 413; Müller (2005): Bund, S. 333–335. Dass die spätere Deutschlandpolitik Bismarcks in der Kontinuität der preußischen Ambitionen seit 1858 stand – und damit implizit der persönlichen Politik Wilhelms I. – wurde bislang nur selten betont. Ausnahmen sind Roosbroeck (1966): Vorgeschichte, S. 42; Siemann (1990): Gesellschaft, S. 271; Lutz (1994): Deutschland, S. 437. 54 Wilhelm an Augusta, 9. September 1860. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 8, Bl. 53f. 55 George Villiers an John Russell, 4. November 1861. APP Bd. 2/II, S. 489. 56 Wilhelm an Johann von Sachsen, 17. Februar 1860. Herzog von Sachsen (1911): Briefwechsel, S. 396. 57 Vgl. pars pro toto Nipperdey (1983): Bürgerwelt, S. 709–712; Siemann (1990): Gesellschaft, S. 194–198. 58 Vgl. pars pro toto Angelow (1996): Sicherheitspolitik, S. 226–230; Gruner (2012): Bund, S. 105f.

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Opposition aber in entscheidenden Krisen sich zeigt, dann freilich wird es bei der Mahlzeit darauf ankommen, wer den besten Magen hat!“59 Wilhelms Hoffnung, die preußische Öffentlichkeit und deutsche Nationalbewegung für die Hohenzollernmonarchie zu gewinnen, scheiterte jedoch bald durch die verhärteten Fronten des innerpreußischen Verfassungskonfliktes.60 Diesen Konflikt, der über die Frage der Heeresreform ausgebrochen war – und damit im Kern die königliche Kommandogewalt und Machtstellung des Throns berührte –, reduzierte der Monarch auf die Formel „Krone gegen Parlament“. „In Preußen muß die Konstitution und deren Fortsetzung und Ausbau nie die Grenzen überschreiten, welche die Macht und Kraft des Königtums in einer Art schmälert, die dasselbe zum Sklaven des Parlaments macht“, verteidigte er seine rasch festgefahrene Position gegenüber seinem Schwiegersohn, Großherzog Friedrich von Baden.61 Seine Umgebung versuchte den König beständig in zwei entgegengesetzte Richtungen zu bewegen: entweder Konzessionen gegenüber dem Abgeordnetenhaus zu machen oder das konstitutionelle System per Staatsstreich abzuschaffen. Wilhelm entschied sich für eine dritte Option. Im September 1862 ernannte er Bismarck zum Ministerpräsidenten – zum „Konfliktminister“.62 Anders als von Bismarck rückblickend porträtiert63 – und von vielen Historikern bis heute unkritisch übernommen64 –, gab Wilhelm diesem keine Blankovollmacht, sondern stellte detaillierte Bedingungen, wie in der inneren und deutschen Politik vorzugehen sei. Konkret schrieb er in dem von ihm verfassten stichpunktartigen Regierungsprogramm, das er Bismarck am 22. September 1862 auf Schloss Babelsberg vorlegte – in vielerlei Hinsicht eine Blaupause für die 59 Wilhelm an Charlotte, 26. November 1859, Börner (1993): Briefe, S. 420. 60 Zur zentralen Rolle Wilhelms in der Genesis des Verfassungskonflikts siehe Börner (1987): Wilhelm I., S. 63–67; Dierk (2003): Heeresreformen, S. 448–456. 61 Wilhelm an Friedrich von Baden, 17. Februar 1862. Oncken (1927): Baden. Bd. 1, S. 322. 62 Das populäre Narrativ, dass Wilhelm im September 1862 kurz davor gestanden habe, abzudanken und nur durch Bismarck von diesem Schritt abgehalten worden sei, muss endgültig ins Reich der Mythen verwiesen werden. Bereits Wilhelm Treue hat überzeugend argumentieren können, dass die Abdankungsdrohung des Königs Druck auf das Ministerium ausüben sollte, die Forderung des Monarchen nach einem budgetlosen Regiment zu unterstützen und dass Bismarcks Ernennung bereits seit Monaten eine ernstzunehmende Option darstellte, sollten sich die Minister dem nicht fügen. Vgl. Treue (1939): Wilhelm I. Ähnlich argumentieren Börner (1976): Krise, S. 221; Gall (1980): Bismarck, S. 239; Kolb (2009): Bismarck, S. 59f. 63 Vgl. NFA IV, S. 157–159. 64 Obwohl Lothar Gall und Eberhard Kolb zurecht darauf hinweisen, dass die Abdankungsdrohung des Königs strategischer Natur war, folgen beide in ihrer Darstellung der Babelsberger Audienz völlig den Gedanken und Erinnerungen. Fälschlicherweise behaupten sie zudem, allein Bismarck habe Inhalt und Verlauf der Audienz überliefert. Vgl. Gall (1980): Bismarck, S. 244; Kolb (2009): S. 54. Tatsächlich verfasste Wilhelm bereits am 23. September 1862 einen achtseitigen eigenhändigen Brief an Augusta, in dem er über die Babelsberger Gespräche am Vortag detailliert berichtet. Die Darstellung des Königs widerspricht der späteren Bismarck’schen Version in zentralen Punkten. Vgl. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509, Jahr 1862, Bl. 113–116. Dieser Brief war interessanterweise bereits Arnold Oskar Meyer bekannt, der ihn in seiner Bismarck-Biographie in Auszügen zitiert. Vgl. Meyer (1949): Bismarck, S. 176f.

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preußische Innen- und Außenpolitik der kommenden Jahre –, der neue Ministerpräsident solle der „Conservatif-Constitutionelle[n] Fahne aber Altpreuß[ischen] Traditionen“ folgen. Im Streit mit dem Parlament forderte der Monarch ein „Regieren ohne Budjet, [...] in der milit[ärischen] Frage; keine Conceßionen“ und explizit solle die Regierung „die Bernstorff[sche] Politik festhalten in der Deutschen Frage“.65 Bismarck musste sich in Babelsberg der kompromisslosen Position des Königs unterordnen, insbesondere im Verfassungskonflikt. Wie er 1866 erzählte, sei er seit seiner Ernennung gezwungen gewesen, die ungewollte Rolle des „Reaktionärs“ zu spielen – er konnte Wilhelms „volles Vertrauen nur gewinnen, indem ich zeigte, daß ich auch vor der Kammer nicht zurückschrecke, um die Armee-Reorganisation durchzuführen.“66 Insgesamt besaß Bismarck im ersten Jahr seiner Regierung nur sehr eng gefasste Bewegungsmöglichkeiten und musste stets mit seiner Entlassung rechnen, sollten politische Erfolge im Inneren oder im Äußeren ausbleiben. 67 „Man kann es in 100 Angelegenheiten verfolgen, daß Bismarck auf den König nicht den geringsten Einfluß hat,“ lautete das nüchterne Urteil des preußischen Diplomaten Robert von der Goltz im November 1863. „Ersterer hält sich eben nur dadurch, daß er seine Ansicht stets unterordnet.“68 Dies änderte sich erst graduell nach dem siegreichen Krieg gegen Dänemark 1864. Doch auch Bismarcks weiteres Vorgehen bis 1871 wäre unmöglich gewesen, hätte der spätere „Eiserne Kanzler“ in seiner Deutschlandpolitik nicht die volle Unterstützung seines Monarchen genossen. Zwar kam es wiederholt zu Konflikten zwischen den beiden nicht immer harmonisierenden Persönlichkeiten, doch blieben diese stets den gemeinsamen politischen Zielen untergeordnet, die König und Ministerpräsident verfolgten: die Verteidigung des Monarchischen Prinzips gegen die Herausforderungen des Parlamentarismus und die Einigung Deutschlands unter preußischer Suprematie.69

65 Regierungsprogramm Wilhelms, ohne Datumsangabe [September 1862], GStA PK, VI. HA, Nl. Zitelmann, K.L., Nr. 2, Bl. 15. Auch der scheidende Außenminister Bernstorff berichtete, der „König hat übrigens die Fortführung meiner Politik [...] ausdrücklich von Herrn v. Bismarck verlangt.“ Albrecht von Bernstorff an Heinrich VII. Reuß, 2. Oktober 1862. Ringhofer (1906): Bernstorff, S. 548. 66 So erinnerte sich der ungarische Aristokrat Arthur von Seherr-Thoß an ein Gespräch, das er mit Bismarck am 8. Juli 1866 geführt hatte. GW Bd. 7, Nr. 122, S. 140. Bereits im August 1865 hatte Bismarck dem russischen Diplomaten Alexander von Mengden gegenüber gesagt: „Wenn es nach mir gegangen, wäre ich mit der Kammer fertig geworden, ich hätte in der Militär-Frage nach gegeben [...]. Der König ist aber in dieser Frage verrannt.“ Stolberg-Wernigerode (1962): Bismarckgespräch, S. 362. 67 Vgl. Gall (1980): Bismarck, S. 282; Pflanze (1997): Bismarck. Bd. 1, S. 194; Clark (2006): Preußen, S. 597f. 68 Robert von der Goltz an Albrecht von Bernstorff, 17. November 1863. Stolberg-Wernigerode (1941): Goltz, S. 351. 69 Wie Vizekanzler Otto zu Stolberg-Wernigerode sich erinnerte, war Bismarck dem alten Kaiser „eigentlich unsympathisch, wie ich oft Gelegenheit hatte zu bemerken, aber er hielt ihn für den größten Staatsmann, erinnerte sich in kritischen Augenblicken des großen Danks, den er und das Land ihm schuldeten und gab nur dann aus diesem Grunde nach.“ Breitenborn (1996):

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Abb.2: Thomas Nast: Laying their heads together.70

3. ES IST NICHT LEICHT, UNTER WILHELM KANZLER ZU SEIN: DER „HELDENKAISER“ UND DAS MONARCHISCHE PRINZIP IM KAISERREICH Mit der Reichsgründung erlebte Wilhelms Projekt des dynastischen Hijackings der Deutschen Frage seinen unbestrittenen Höhepunkt, auf den er seit 1848 zunächst weitestgehend allein, dann seit 1862 gemeinsam mit Bismarck hingearbeitet hatte. Dabei stellten Nationalismus und Nationalbewegung stets nur Mittel zum Zweck des Machterhalts und -gewinns der Krone dar – anders als seine beiden Nachfolger auf dem Thron, Friedrich III. und Wilhelm II., sollte Wilhelm I. nie Anhänger deutschnationalen Gedankenguts werden. Als Kind des Ancien Régime verband ihn ideologisch wenig mit der Generation des zusehends aggressiver werdenden Nationalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Während der Märzrevolution hatte er

Stolberg-Wernigerode, S. 126. Der bayerische Diplomat Hugo von Lerchenfeld-Köfering berichtete, der Monarch soll gesagt haben, „seine Untertanen müßten ihm großen Dank dafür wissen, daß er so lange einen derartig unangenehmen, widerhaarigen Menschen wie Bismarck im Interesse des Staates als Kanzler ertragen habe.“ Lerchenfeld-Köfering (1935): Erinnerungen, S. 258. 70 Quelle: Pullen, Henry William: The Fight at Dame Europa’s School, New York 1871, S. 15.

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den Klagen seiner Schwester Luise zugstimmt, „daß einem das Deutschthum verquer im Leibe liegt!“71 1859 echauffierte er sich über die weitverbreitete „Deutschomanie“, gestand jedoch gleichzeitig ein, diese „Tendenz muß anerkannt werden, aber das ‚Wie‘ uns überlassen und vor jedem Drängen gewarnt werden.“72 Die Reichsgründung betrachtete der König, den nach wie vor das Schreckgespenst einer nationalen und demokratischen Revolution umtrieb, daher letztlich als reines Macht- und Überlebensprojekt der Hohenzollernmonarchie.73 Im Vorfeld der Kaiserproklamation in Versailles rühmte er in seiner Privatkorrespondenz vor allem „Preußen, das so hochgestellt ist und den ganzen deutschen Umschwung 1866 und 70 hervorbrachte“.74 Dieser deutsche Umschwung sollte die Anhänger der Nationalbewegung in Parteigänger des preußischen Königtums transformieren. Neben den Vorteilen, die ein nationalpolitisches Agieren der Krone bot, musste Wilhelm nach 1862 allerdings auch zusehends die Restriktionen wahrnehmen, die eine wachsende politische Öffentlichkeit als unverrückbarer Entscheidungsfaktor seinem Handlungsspielraum auferlegte. Über die mögliche Annexion Schleswigs und Holsteins durch Preußen – gegen den Widerstand Österreichs und des Deutschen Bundes – erklärte er im September 1865 seinem Schwager, Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, „Staat und die Armee wollen dieselbe [die Annexion], er habe mit diesen beiden Faktoren zu rechnen“.75 Auch die Abtretung Elsass-Lothringens durch das besiegte Frankreich erschien ihm 1870 deshalb unumgänglich, da dies „die allgemeine Stimme in ganz Deutschland“ sei „und wollen sich die Fürsten dieser Stimme entgegenstemmen, so risquiren sie ihre Throne“.76 Jedoch bot ihm das Feld militärischer Entscheidungsfragen insbesondere auf den französischen Schlachtfeldern die einzigartige Gelegenheit, in der Rolle des Obers-

71 Wilhelm an Luise, 30. April 1848. GStA PK, BPH, Rep. 51, Nr. 853. 72 Wilhelm an Augusta, 6. September 1859. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 7, Bl. 94f. 73 Dem Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach versuchte Wilhelm Ende 1865 zu erklären, man stünde am Vorabend einer Revolution, wenn Preußen sich in der Frage der politischen Ordnung Deutschlands nicht durchsetzen könne: „Auch wirst Du mir einwenden, ich sei ein Revolutionsriecher, wie man mich auch verhöhnend vor 1848 nannte; – aber leider haben meine Geruchsnerven damals sich als sehr scharf und richtig bewährt, und ich fürchte auch jetzt ihre Richtigkeit nicht bezweifeln zu dürfen. [...] Damals hielt man eine Revolution in Deutschland für unmöglich, und jetzt? – Also: wird sie wirklich künftig vor den Thronen stehen bleiben?“ Wilhelm an Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, 28. Oktober 1865. Schultze (1924): Briefe. Bd. 2, S. 68. Bismarck bat den König am 14. November, diesen Brief, in dem die Notwendigkeit einer monarchischen Entwicklung der nationalen Frage betont wird, „meinen Collegen vertraulich mitteilen zu dürfen, damit auch sie aus der so bündigen und überzeugenden Entwicklung der Politik Eurer Majestät sich in dem Bestreben, dieselbe nach den allerhöchsten Intentionen durchzuführen, vergewissern und nach dem damit gegebnen Compaß steuern.“ GW Bd. 5, S. 323. 74 Wilhelm an Augusta, 12. Dezember 1870. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 15, Bl. 222f. 75 Tagebuch Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, 19. September 1865. Steglich (1996): Quellen. Bd. 1, S. 2. 76 Wilhelm an Augusta, 7. September 1870. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 15, Bl. 102.

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ten Kriegsherren seine monarchische Kommandogewalt öffentlichkeitswirksam zu inszenieren – und als siegreicher „Heldenkaiser“ der jubelnden geeinten Nation entgegenzutreten.77 Auch zur Zeit des Kaiserreichs begnügte sich Wilhelm I. niemals mit der Rolle eines repräsentativen Monarchen und passiven Politikbeobachters, eines Kaisers „unter“ Bismarck.78 Nach wie vor war er entschlossen, die im neuen gesamtdeutschen konstitutionellen System verbliebenen monarchischen Prärogativen zu verteidigen und auch auszuüben. Das Verhältnis von Kaiser und Kanzler kann trotz Bismarcks einzigartigem politischem Handlungsspielraum, den ihm Wilhelm infolge der Siege 1864, 1866 und 1870/71 gewährt hatte, als Weiterentwicklung des persönlichen Regiments der Neuen Ära charakterisiert werden: Statt selbst zu versuchen, das Ministerium, den Regierungsalltag und die Auseinandersetzung mit Parlament und Öffentlichkeit zu leiten, überließ der alternde Monarch diese kräfteaufreibenden Aufgaben zusehends seinem ersten Minister, der allein ihm gegenüber verantwortlich war und von dem Wilhelm wusste, dass jener in seinem Sinne handeln würde. Aus der Perspektive des Kaisers stellte Bismarck vorrangig ein Instrument dar, seine dynastische Agenda erfolgreich durchzusetzen.79 Diese Regierungs- und Arbeitsaufteilung sollte entscheidend dazu beitragen, das Monarchische Prinzip in Preußen und in Deutschland zu stärken, wo die Reichsverfassung die dominierende Stellung des preußischen Königs und Deutschen Kaisers zementierte. Das monarchisch-föderative System des Kaiserreichs setzte den Machtbefugnissen der preußischen Krone faktisch kaum Grenzen, auch wenn Wilhelm verfassungsrechtlich lediglich die Rolle eines primus inter pares innerhalb des dynastischen Solidaritätskollegs einnahm. Die Bundesfürsten zogen sich jedoch nach 1871 aus der deutschen Politik weitestgehend zurück. Diese Entwicklung begünstigte die staatliche Zentralisierung und erlaubte es dem Kaiser als „Reichsmonarch“ mit weitreichenden Prärogativen zu agieren.80 Bereits bei den ministeriellen Verhandlungen über die Verfassung des Norddeutschen Bundes Ende 1866 hatte Wilhelm bestimmenden Wert darauf gelegt, dass die Macht der Krone im Bundespräsidium – und nach 1871 im Kaisertum – nicht nur erhalten blieb, sondern auch

77 Vgl. ausführlich am Beispiel des Deutsch-Französischen Kriegs Sterkenburgh (2020): Revisiting. 78 Dieser vielzitierte Ausspruch geht auf Ludwig Bamberger zurück: „Man weiß aber auch, wie sein geliebter König oft schwer an ihm [Bismarck] zu tragen hatte. Die Wendung, die derselbe einmal einem Vertrauten gegenüber gebraucht haben soll: ‚Es ist nicht leicht, unter einem solchen Kanzler Kaiser zu sein‘, klingt glaubhaft.“ Bamberger (1899): Bismarck, S. 8. 79 Zu Wilhelms politischen Positionen im Inneren und Äußeren nach 1871, seinem Verhältnis zu Bismarck und seinem Einfluss innerhalb der Reichsleitung siehe ausführlich Markert (2019): Außenpolitik; ders. (2020): Zentrumspartei. Bismarcks Kanzlerschaft war keineswegs charismatischer Natur, stattdessen gründete die Machtposition des Reichskanzlers allein auf der traditionellen Herrschaft der Hohenzollernmonarchie. Vgl. Jansen (2004): Bismarck; Spenkuch (2019): Preußen, S. 214–216. 80 Vgl. Haardt (2020): Bund, S. 339–342; Müller (2021): Entkrönung.

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ausgebaut wurde.81 Im Oktober 1866 hatte er Augusta erklärt, „die einheitliche Verfassung des großen Preußen wird dereinst das Maßgebende für ganz Norddeutschland sein“ und ausdrücklich jede Form von Konstitutionalismus von der Hand gewiesen, die das Monarchische Prinzip schwäche.82 Anders als das preußische Königtum besaß das Kaisertum zudem als Identifikationssymbol der Reichseinheit eine nationale und daher fast plebiszitäre Legitimität.83 Wilhelm war sich nicht nur des politischen Gewichts dieser neuen Stellung bewusst, sondern auch seiner weitverbreiteten volkstümlichen Popularität.84 Diese nutzte er, um sowohl hinter den Kulissen der Berliner Regierungszentrale als auch öffentlich den monarchischen Charakter des Kaiserreichs zu unterstreichen. Wie Kronprinz Friedrich Wilhelm 1874 berichtete, war sein Vater auch nach dem Ende des Verfassungskonflikts von dem „ganzen alten Groll gegen die parlamentarischen Einrichtungen“ erfüllt.85 Als neugeschaffene Bühne gesamtdeutscher Politik wurde insbesondere der Reichstag vom Monarchen mit Argwohn und Geringschätzung beobachtet.86 Dem Parlament warf er vor, „immer mehr die Ansicht zu verfolgen, die ihm zustehende parlamentarische Gesetzes-Kraft u[nd] Bestimmung in eine Präponderanz über die Regierung, d. h. in eine parlamentarische Regierung umzuwandeln“. Einer solchen Entwicklung, befahl er Bismarck, „muß auf das Entschiedenste entgegengetreten werden.“87 Gegenüber Augusta schimpfte er, „daß der Reichstag sich in Alles mischen will, was ihn nichts angeht und nur sich und nicht das Land im Auge hat.“88 Fortwährend drängte der Kaiser seinen Kanzler, gegenüber dem Parlament keinerlei Zweifel an der zentralen Stellung der Krone aufkommen zu lassen.89 Die Zusammenarbeit Bismarcks mit der Nationalliberalen

81 Vgl. detailliert Becker (1958): Bismarck, S. 279–289. 82 Wilhelm an Augusta, 13. Oktober 1866. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 12, Bl. 138f. 83 Siehe hierzu die ausführliche Analyse zeitgenössischer Debatten bei Fehrenbach (1969): Kaisergedanke, S. 55–81. 84 Die gesamtdeutsche Rezeptionsgeschichte der Hohenzollernmonarchie und Wilhelms I. nach 1871 wurde von Eva Giloi detailliert anhand der zeitgenössischen materiellen Objekt- und Geschenkkultur analysiert. Vgl. Giloi (2008): Kornblume; Dies. (2011): Monarchy, S. 159–184. 85 Friedrich Wilhelm an Friedrich von Baden, 18. Dezember 1874. Fuchs (1975): Baden. Bd. 1, S. 180. 86 Neben dem Kaisertum stellte der Reichstag nach 1871 eine der wenigen gesamtdeutschen Institutionen und nationalen Identifikationssymbole dar, was den von Wilhelm seit dem Verfassungskonflikt beschworenen Gegensatz von Krone und Parlament auf eine neue politikkulturelle Ebene ausweitete. Vgl. Pyta (2021): Reichstag, S. 139–143. 87 Wilhelm an Otto von Bismarck, 16. März 1879. OBS, B 126, Bl. 114–116. 88 Wilhelm an Augusta, 27. Mai 1871. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 16, Bl. 69. 89 Beispielhaft sei hier der „Allerhöchste Erlass“ vom 2. Januar 1882 genannt, in dem im Namen des Monarchen öffentlich proklamiert wurde: „Das Recht des Königs, die Regierung und die Politik Preußens nach Eigenem Ermessen zu leiten, ist durch die Verfassung eingeschränkt, aber nicht aufgehoben. […] Es ist deshalb Mein Wille, daß sowohl in Preußen wie in gesetzgebenden Körpern des Reichs über Mein und Meiner Nachfolger verfassungsmäßiges Recht zur persönlichen Leitung der Politik Meiner Regierung kein Zweifel gelassen […] werde […].“ Fenske (1978): Reich, S. 291f.

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Partei, die dessen Gesetzgebung in den 1870er Jahren unterstützte, wurde vom Monarchen daher kritisch beargwöhnt.90 Bismarcks Sohn Herbert erklärte er, „man muß den Liberalen nie nachgeben, sonst kommen wir auf englische Wege.“91 Unter der britischen Queen sei zu sehen, „wohin das Liebäugeln mit den Liberalen [...] von Stufe zu Stufe führt bis zum Sturz der Monarchin“, was „treffend auf jede Regierung“ sei, die sich auf dieses Experiment einlasse.92 Angesichts der Wahlerfolge von Zentrum, Liberalen und Sozialdemokraten schimpfte er über die „Blindheit“ der Wähler, „die nicht sehen wollen, daß Alles was nicht konservativ ist, der Umsturzpartei durch schlechte Wahlen in die Hände arbeitet.“93 Es benötigte nicht erst Bismarcks Einfluss, um den Kaiser von einer kompromisslosen Politik gegen die vielen vermeintlichen „inneren Reichsfeinde“ des jungen Nationalstaats zu überzeugen. Mit Beginn des Kulturkampfs betrachtete er Zentrum und katholischen Klerus als Gegner der Hohenzollernmonarchie, „die ja die Religion nur zum Deckmantel für politische Umtriebe brauchen.“94 Wie Karl von Wilmowski, als Chef des Geheimen Civilkabinetts ein langjähriger persönlicher Mitarbeiter des Kaisers, sich erinnerte, sei der Monarch davon überzeugt gewesen, „daß Ultramontane und das ‚Centrum‘ die weltliche Macht der Krone anzutasten und diese dem Pabste unterzuordnen strebten.“95 Während der Repressionspolitik gegen die Sozialdemokratie war es Bismarck, der regelmäßig von seinem Souverän zu einer härteren Linie gegen die „Umsturzpartei“ gedrängt wurde. Bereits seit dem Vormärz hatte Wilhelm argumentiert, dass die soziale Frage eine akute Bedrohung für die Monarchie darstellte. Eine revolutionäre Bewegung der „Prolétarier“, so Wilhelm 1846, betrachtete er als den „Anfang der neuen Révolution, welche gegen die reiche Mittel Klasse gerichtet ist, wie die erste, gegen die Adels Vorzüge gerichtet war!“96 Die „Idée des Communismus“, hatte er Charlotte 1850 geschrieben, sei „der gefährlichste Feind, der uns droht, da er der handgreiflichste und deshalb der am meisten verführende ist.“97 Nachdem 1878 zwei Attentate auf ihn verübt worden waren, übte der Kaiser während der Reichstagsverhandlungen über das Sozialistengesetz Druck auf seinen Kanzler aus, der Kritik und den

90 Wie Lothar Gall betont, war Bismarcks konservativer Kurswechsel im Inneren 1878/79 auch durch den schwindenden Rückhalt des Kaisers motiviert. Vgl. Gall (1980): Bismarck, S. 556– 558. 91 Herbert von Bismarck an Otto von Bismarck, 11. Januar 1884. Bußmann (1964): Staatssekretär, S. 191. 92 Wilhelm an Augusta, 15. November 1883. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 28, Bl. 116f. 93 Wilhelm an Augusta, 6. November 1881. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 26, Bl. 78f. 94 Wilhelm an Augusta, 26. September 1874. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 19, Bl. 77. 95 Besier (1977): Wilmowski, S. 146. 96 Wilhelm an Charlotte, 21. Oktober 1846. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 511a, Bd. 2, Bl. 257. 97 Wilhelm an Charlotte, 13. Januar 1850. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 511a, Bd. 2, Bl. 480.

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Revisionsforderungen der Oppositionsparteien kompromisslos entgegenzutreten.98 Auch in den Folgejahren griff Wilhelm aktiv in die öffentliche Debatte über Für und Wider des Sozialistengesetzes ein.99 Bis zu seinem Lebensende nutzte er seine Popularität und monarchische Autorität, um den Kampf gegen „Umsturzpartei“ und „innere Reichsfeinde“ entschlossen durchzuführen und jegliche Konzessionen an den Parlamentarismus zu verhindern.100 Dadurch trug Wilhelm maßgeblich dazu bei, die politischen und gesellschaftlichen Spannungen zu verschärfen, die Deutschland bis zum Untergang des Kaiserreichs – und darüber hinaus – prägen sollten. Eine ambivalente Position bezog er hingegen in der Debatte um den wachsenden Antisemitismus, wie er etwa in Form der öffentlichen Agitation des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker verkörpert wurde.101 „Der Kaiser billigt nicht das Treiben des Hofpredigers Stöcker, aber er meint, daß die Sache sich im Sande verlaufen werde, und hält den Spektakel für nützlich, um die Juden etwas bescheidener zu machen“, notierte der spätere Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst 1880 nach einem Gespräch mit dem Monarchen.102 Gegenüber Augusta äußerte Wilhelm jedoch die Besorgnis, „daß diese antisemitischen Aufstände doch einmal zu einem sehr ernsten Ereignis führen werden, denn die Juden sind einmal gehaßt wie sie sind, bei uns noch am wenigsten.“103

98 Siehe beispielsweise Wilhelm an Augusta, 3. September 1878. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 23, Bl. 30f.; Tiedemann (1909): Reichskanzlei, S. 303f.; Tagebuch Lucius von Ballhausen, 7. Oktober 1878. Stoedten (1920): Bismarck-Erinnerungen, S. 143. 99 So etwa während der Reichstagsdebatte über die Verlängerung des Sozialistengesetzes im Frühjahr 1884. Vgl. Adolf Marschall von Bieberstein an Ludwig Turban, 22. März 1884. Fuchs (1975): Baden. Bd. 2, S. 244f.; Wilhelm an Augusta, 17. Mai 1884. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 29, Bl. 10. 100 Im letzten Brief, den Wilhelm an Bismarck schrieb – am 6. Februar 1888, einen Monat vor seinem Tod –, gratulierte er jenem zur erfolgreichen Verteidigung des Militärhaushalts im Reichstag gegen die Anträge der Oppositionsfraktionen, wodurch die Gefahr einer „Parlamentsarmee“ auf absehbare Zeit gebannt worden sei. Vgl. OBS, B 126, Bl. 256. Zum Kontext siehe Bendikat (2003): Kartellwahlen. 101 Die Haltung des Kaisers gegenüber dem Judentum im frühen Kaiserreich ist insbesondere mit Blick auf die kontroverse Auseinandersetzung um den Antisemitismus seines Enkels Wilhelm II. und den möglichen Kontinuitätslinien zur Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des Dritten Reichs relevant. Vgl. pars pro toto Röhl (1995): Antisemitismus; Clark (2008): Wilhelm II., S. 325–330; Hopp (2020): Scheinwerferlicht. 102 Tagebuch Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 29. November 1880. Curtius (1907): Hohenlohe. Bd. 2, S. 307. Dass Wilhelms Verhältnis gegenüber dem Judentum eher traditionell religiös-antijudaistischer anstatt moderner, biologistisch-antisemitischer Natur war, legen Aufzeichnungen Wilmowskis nahe, der am 29. September 1880 über Äußerungen des Kaisers schrieb, „daß Allerhöchst die ‚Hetzereien‘ gegen die Juden allerdings mißbilligten, im übrigen aber es einem Prediger nicht verargen können, wenn er die Religion des von den Juden verfolgten Heilands gegen das Judentum in Schutz nehme.“ Jöhlinger (1921): Bismarck, S. 143. 103 Wilhelm an Augusta, 12. September 1883. GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 28, Bl. 86.

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Abb. 3: Thomas Nast: The Bully Boy that did it.104

4. DAS KAISERREICH, NICHT BISMARCKREICH „Wie kommt es, daß das Königthum unter Kaiser Wilhelm sich zu neuer Macht, herrlicher und glänzender wie je, entwickelt hat in einem Jahrhundert, das für die Entwicklung der monarchischen Idee weit ungünstigere Vorbedingungen lieferte als seine Vorgänger?“, fragte der Journalist Hermann Klee 1888, als der Monarch im Alter von fast 91 Jahren unter großer öffentlicher Anteilnahme verstarb.105 Zwar handelte es sich in mancherlei Hinsicht um eine rhetorische Frage, denn Klee hatte jahrelang im Dienste der Bismarck’schen Pressepolitik gearbeitet. Doch tatsächlich befand sich die Hohenzollernmonarchie zum Zeitpunkt von Wilhelms Lebensende auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, politischen Legitimität und Stabilität: Die etwa 200.000 Trauergäste, die dem Beerdigungszug des „Heldenkaisers“ durch

104 Quelle: Pullen, Henry William: The Fight at Dame Europa’s School, New York 1871, S. 8. 105 Klee (1888): Königthum, S. 3f.

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Berlin beiwohnten, fungierten als sichtbare Beweise für den Erfolg des monarchischen Projekts des Herrschers.106 Ohne die Revolutionserfahrungen 1848/49 hätte der ehemalige „Kartätschenprinz“ den Weg zur Nationalstaatsgründung jedoch freiwillig nie beschritten und es hätte keinen Anlass gegeben, ihn bis zum Sturz der Monarchie 1918 in unzähligen Denkmälern als Verkörperung der Reichseinheit zu verewigen.107 Er hatte erkannt, dass dynastische Machtpolitik neuen Regeln folgen musste, dass die Krone nicht mehr gegen den Protest und Widerstand der Öffentlichkeit regieren konnte. Indem er gemeinsam mit Bismarck die zentrale Forderung der Märzrevolution, die Schaffung eines konstitutionellen deutschen Nationalstaats, erfüllt hatte, agierte Wilhelm sowohl in der Rolle eines Vollstreckers und eines Vollenders der revolutionären Nationalbewegung. Kronprinzessin Victoria, eine scharfe Kritikerin der Politik ihres kaiserlichen Schwiegervaters und seines Kanzlers, hatte bereits 1885 über das Kaiserreich treffend bemerkt: „Der Kaiser u[nd] der Fürst Bismarck sind die Schöpfer dieser Dinge gewesen u[nd] der Stempel ihrer Persönlichkeit u[nd] ihrer Auffassungen sind allen Dingen aufgedrückt. Es kann nie wieder einen Kanzler geben wie den Fürsten Bismarck; – kein anderer Kaiser hätte so zu ihm gepaßt, u[nd] unter diesen Männern allein ist entstanden, was wir heute vor uns sehen, – ein eigenartiges Gebilde mit seinen großen Seiten, aber auch mit seinen Schwächen.“108 Wilhelm hatte es bis zuletzt als seine und seiner Dynastie Aufgabe betrachtet, das Monarchische Prinzip zu verteidigen. Da sein Verhältnis zu seinem Sohn Friedrich Wilhelm seit dessen Opposition im Verfassungskonflikt persönlich wie politisch zerrüttet war, hatte er seine dynastische Aufmerksamkeit in seinen letzten Lebensjahren fast ausschließlich auf seinen Enkel konzentriert.109 „Prinz Wilhelm wird vom Kaiser ausdrücklich gelobt als eine Hoffnung der Zukunft“, hieß es bereits 1885 in Hofkreisen.110 Indem er dem letzten Hohenzollernkaiser Wilhelm II. die Verpflichtung zur Verteidigung der dominierenden Stellung der Krone und zum Kampf gegen den Parlamentarismus bewusst weitergab, prägte das Herrschaftsverständnis Wilhelms I. die weitere Entwicklung des Kaiserreichs auch über seinen Tod in hohen Maßen hinaus. QUELLEN Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), Berlin-Dahlem GStA PK, Brandenburg-Preußisches Hausarchiv (BPH) GStA PK, BPH, Rep. 51, König (Kaiser) Wilhelm I. GStA PK, VI. Hauptabteilung (HA)

106 Zur Inszenierung, Ablauf und öffentlichen Rezeption des pompösen Leichenzugs Wilhelms I. am 16. März 1888 siehe detailliert Ackmann (1990): Totenfeiern, S. 284–287; Hughes (2008): Demonstrations, S. 230–244. 107 Vgl. Alings (1996): Monument, S. 212–224; Jechel (2010): Reiterdenkmäler. 108 Victoria an Heinrich Friedberg, 1. Juli 1885. Baumgart (2011): Kolonialerwerb, S. 480. 109 Vgl. ausführlich Müller (2013): Friedrich III. S. 25–45. 110 Tagebuch Johann Heinrich Gelzer, 21. Juni 1885. Fuchs (1975): Baden. Bd. 2, S. 347.

Das deutsche Kaiserreich als monarchisches Projekt Wilhelms I.

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DER BUNDESRAT IN VERFASSUNG UND WIRKLICHKEIT Oliver F. R. Haardt „Die Tätigkeit des Bundesrates [ist] eine Farce, an der sich zu beteiligen die Mühe nicht lohnt“, beschwerte sich der badische Ministerpräsident Julius Jolly 1872.1 Diese Klage war keineswegs ungerechtfertigt. Bereits ein Jahr nach Gründung des Deutschen Reiches war die von Bismarck in den Verfassungsverhandlungen geschürte Erwartung, der Bundesrat würde als Verkörperung des Fürstenbundes der Regierungsmotor des neuen Nationalstaates sein, verpufft. Je mehr Zeit verging, desto deutlicher wurde, wie weit die Länderkammer von dieser Rolle entfernt war. Alle Sitzungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wurden daher kaum beachtet. Der routinemäßige Austausch zwischen den Landesregierungen fand über ihre diplomatischen Gesandtschaften und nicht im Bundesrat statt. Das dortige Plenum, in dem über Gesetze und andere Maßnahmen abgestimmt wurde, war kein Ort für Verhandlungen, da die Bevollmächtigten an die Weisung ihrer jeweiligen Regierung gebunden waren. Langwierige Vorträge waren unerwünscht. Als ein neuer Bevollmächtigter diese ungeschriebene Regel einmal missachtete, wies ihn ein altgedienter Kollege zurecht, indem er kurz, aber laut schnarchte. Darüber hinaus war der Bundesrat alles andere als selbstständig. Er hatte keine eigenen Sekretäre, Bücher oder Akten. Der Betrieb konnte überhaupt nur am Laufen gehalten werden, weil das Reichskanzleramt beziehungsweise ab 1879 das Reichsamt des Innern alle nötigen Büromitarbeiter und Sachmittel stellte. Es existierte noch nicht einmal ein eignes Gebäude. Das formell höchste Organ der Verfassung war zunächst Untermieter im Reichskanzler- und dann im Reichsinnenamt. Nach der Einweihung des neuen Reichstagsgebäudes 1894 fanden die Sitzungen immer öfter in einem extra dafür dort eingerichteten Prunksaal statt. 1. DAS STIEFKIND DER KAISERREICHSHISTORIOGRAPHIE In Anbetracht dieser Umstände entsteht schnell der Eindruck, dass der Bundesrat ein verstaubtes Gremium aus unbedeutenden Gesandten war, die nichts weiter taten, als ihren Anweisungen gemäß die Hand zu heben. Dementsprechend gering ist das Interesse, mit dem Historikerinnen und Historiker den Bundesrat bedacht haben. Die Länderkammer ist gewissermaßen das „Stiefkind“ der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich, wie Hans Fenske schon 1974 in einem 1

Zit. in Fuchs (1984): Bundesstaaten und Reich, S. 93.

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Oliver F. R. Haardt

Literaturbericht feststellte.2 Diese Einschätzung trifft unserer Tage noch genauso zu. Während Studien zum Reichstag, den Reichskanzlern und den Kaisern ganze Regalreihen füllen, passen die wenigen Arbeiten zum Bundesrat bequem auf einen kleinen Schreibtisch. Darunter sind vor allem staatsrechtliche Untersuchungen, die teils noch aus dem späten Kaiserreich oder der Weimarer Republik stammen.3 Dazu kommen die fünf zwischen 1897 und 1901 veröffentlichten Bände Heinrich von Poschingers, die allerdings mehr eine begeisterte Apotheose Bismarcks als eine nüchterne Analyse der Vorgänge in der Länderkammer sind.4 Die relevanten geschichtswissenschaftlichen Studien erschöpfen sich in zwei kurzen Aufsätzen aus den 1980er Jahren und einer Monographie Hans-Otto Binders, die sich ganz auf die Beziehungen des Bundesrates zu Bismarck konzentriert und daher auch mit dessen Entlassung endet. Selbst in Heiko Holstes ansonsten sehr gründlicher rechtshistorischer Studie zum Wandel des deutschen Bundesstaates zwischen 1867 und 1933 spielt der Bundesrat nur eine Nebenrolle.5 Mehr Aufmerksamkeit hat der Bundesrat im Zusammenhang mit jenen größeren historiographischen Debatten erfahren, die sich mit der Entwicklung des Regierungssystems insgesamt und den dafür verantwortlichen strukturellen Wandlungsprozessen auseinandergesetzt haben. Besonders die Diskussion um die vermeintliche Parlamentarisierung der Reichsleitung hat den Bundesrat immer wieder in den Blick genommen. Dabei haben die verschiedenen Seiten der Debatte gezeigt, dass die Länderkammer im Laufe der Jahre in ihrer Bedeutung hinter den Reichstag zurücktrat und immer mehr zu einem Spielball der Reichsleitung wurde.6 Auch wenn die allermeisten Historiker in diesem Kontext Manfred Rauhs Parlamentarisierungsthese abgelehnt haben, prägt die Debatte darüber unseren Blick auf den Bundesrat bis heute.7 Der Rahmen, den Rauh für die Betrachtung des Bundesrates abgesteckt hat, ist nämlich nie gesprengt worden. Nach wie vor konzentrieren sich große Gesamtdarstellungen zum politischen System des Kaiserreiches in der Regel auf das Verhältnis zwischen Reichsleitung und Reichstag. Den Bundesrat begreifen sie als einen Nebenschauplatz, der zwar einer Parlamentarisierung im Wege stand und die preußische Hegemonie absicherte, aber „faktisch keine so prominente Rolle spielte“, wie es in einem aktuellen Seminarbuch zum Bismarckreich heißt.8 Dadurch wird das komplexe Dreiecksverhältnis, das die Verfassung zwischen Reichstag, Bundesrat und Kanzler beziehungsweise Kaiser definierte, auf eine einfache Zweierbeziehung zwischen Regierung und Parlament reduziert. Anders gesagt: Statt als Zentrum wird der Bundesrat als bloße Randerscheinung eines 2 3 4 5

6 7 8

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„hegemonialen Föderalismus“ begriffen, innerhalb dessen die preußisch geprägte Reichsleitung die Politik in Auseinandersetzung mit dem Reichstag bestimmte und die Regierungen der Mittel- und Kleinstaaten außen vor standen, wie schon Christian Henrich-Franke bemerkte.9 Dadurch spricht man dem Bundesrat von vornherein jede größere Bedeutung ab und verzichtet darauf, seine innere Dynamik sowie seine verfassungspolitische Bremsfunktion näher zu untersuchen. Das größte Problem an dieser Sichtweise ist das verengte Blickfeld, das sie produziert. Sie betrachtet den Bundesrat als einen vom Rest des Verfassungssystems weitgehend isolierten Teil und übersieht so die vielen Formen föderaler Entscheidungsfindung, die außerhalb seines institutionellen Rahmens existierten, aber eng mit ihm verflochten waren. Der Bundesrat bildete gewissermaßen das Zentrum eines Netzes einzelstaatlicher Einwirkungsmechanismen, durch das „jeder irgendwie wichtige Akt der Gesetzgebung erst nach umständlichem Verhandeln und Feilschen mit den Landesregierungen, namentlich den Mittelstaaten, durchgesetzt werden“ konnte, wie der Staatsrechtler Heinrich Triepel 1907 in seiner Untersuchung von Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche bemängelt.10 Eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projektgruppe an der Universität Siegen hat die Strukturen und Prozesse dieses informellen Systems föderalen Regierens zwischen 2012 und 2016 in mehreren Studien zu ausgewählten Gesetzgebungsprozessen akribisch aufgedeckt.11 Dank dessen haben wir zwar ein viel klareres Bild davon gewonnen, wie sich die Rolle des Bundesrates im Laufe der Jahre in dem immer komplexer werdenden institutionellen Gefüge der föderalen Regierungsordnung wandelte. Darüber, wie sich seine interne Dynamik entwickelte und wie diese mit seiner sich verändernden Position im Verfassungssystem zusammenhing, wussten wir bis vor kurzem aber weiterhin ausgesprochen wenig. Das hat erst die verfassungsgeschichtliche Gesamtschau des Kaiserreiches geändert, die ich Ende 2020 veröffentlicht habe. Darin habe ich die innere Zusammensetzung und die äußere Funktion des Bundesrates im politischen System des Reiches in allen Einzelheiten für die gesamte Zeitspanne zwischen der Reichsgründung und der Revolution untersucht.12 Die Ergebnisse dieser komplexen Analyse können in dem begrenzten Rahmen des vorliegenden Aufsatzes nur grob skizziert werden. Das will ich im Folgenden in drei Abschnitten tun. Der erste wird sich mit der Stellung des Bundesrates in der Verfassung von 1871 beschäftigen und dabei zeigen, dass die Länderkammer als zentrale Schutzvorrichtung monarchischer Souveränität konzipiert war. Danach wird der Aufsatz schildern, wie sich die Anwesenheitsmuster auf den Bänken der Einzelstaaten im Laufe der Zeit entwickelten. Diese Darlegung wird die Mechanismen aufdecken, die die Länderkammer mit den Jahren nationalisierte. Der letzte 9 Henrich-Franke (2018): Integrieren durch Regieren, S. 18. 10 Triepel (1907): Unitarismus und Föderalismus, S. 122f. 11 Hähnel (2017): Föderale Interessenvermittlung. Liedloff (2017): Föderale Mitwirkung. Höfer (2017): Einzelstaatliche Einflussnahme. Dazu die relevanten Aufsätze in Ambrosius / HenrichFranke / Neutsch (2015): Föderale Systeme. Dies. (2018): Integrieren durch Regieren. 12 Haardt (2020): Bismarcks ewiger Bund.

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Abschnitt wird schließlich einen chronologischen Überblick über die sechs Phasen geben, in denen die großen strukturellen Wandlungsprozesse der Verfassung den Bundesrat immer weiter in ein Schattendasein drängten und so den Aufstieg des Reichstages ermöglichten. Aus Platzgründen verzichte ich dabei auf detaillierte Literaturangaben und eine genaue Beschreibung der rechtlichen Grundlagen und statistischen Untersuchungen, auf denen mein Argument beruht. Alle Einzelheiten dazu finden sich in meinem kürzlich veröffentlichten Gesamtwerk zur Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs.13 2. MONARCHISCHE SCHUTZVORRICHTUNG Der Bundesrat war – soviel ist hinlänglich bekannt – ein Garant der preußischen Hegemonie. Die Stimmverteilung gab Preußen ein starkes Übergewicht. Außerdem gab es mehrere Verfahrensregeln, die Preußen begünstigten, wie etwa die Stichstimme in Fällen von Stimmengleichheit oder ein faktisches Vetorecht gegen alle Verfassungsänderungen (Sperrminorität). Die Absicherung der preußischen Hegemonie war aber nicht der wichtigste Daseinszweck des Bundesrates. Das lässt sich schon daran erkennen, dass Preußens Stimmgewicht nicht so stark war, wie es hätte sein können. Zwar schlug Bismarck 1866 bei der Ausarbeitung der norddeutschen Bundesverfassung, die vier Jahre später unter Hinzufügung einiger süddeutscher Sonderrechte praktisch für das Reich übernommen wurde, dem Hohenzollernkönigreich die Stimmen jener Bundesglieder zu, die Preußen im Zuge der Reichsgründung annektiert hatte (Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt). Ansonsten übernahm er aber die Stimmverteilung des alten Bundestages aus der Bundesakte von 1815 ohne Änderungen.14 Er verzichtete ganz bewusst darauf, diese Distribution, die auf der Bevölkerungsgröße der einzelnen Staaten Anfang des 19. Jahrhunderts beruhte, an die aktuellen Verhältnisse anzupassen, da dann „die anderen Regierungen neben Preußen vollständig mundtot gemacht“ worden wären, wie er in seinen Putbuser Diktaten erklärte.15 Mehr als an einem maximalen Ausbau der preußischen Hegemonie war ihm bei der Konstruktion des Bundesrates also an der Bewahrung des bündischen Scheins gelegen, in den er die Verfassung hüllte, um das monarchische Prinzip zu schützen. Dementsprechend war der Bundesrat vor allem als Bollwerk monarchischer Macht angelegt. Um diese dezidiert antiparlamentarische Funktion zu verstehen, müssen wir den Aufbau, die Arbeitsweise und die Aufgaben beleuchten, die die Verfassung für ihn festlegte. Die Länderkammer bestand aus den Regierungsge-

13 Ebd., bes. Kapitel 5 und 6. Siehe auch Haardt (2020): Innenansichten des Bundesrates. 14 Das Herzogtum Schleswig, das zu der nach dem Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 eingerichteten österreich-preußisch geführten Sonderverwaltungszone an der Nordgrenze des Deutschen Bundes gehörte, wurde 1866 zwar ebenfalls von Preußen annektiert, war zu diesem Zeitpunkt aber kein ordentliches Bundesglied und hatte infolgedessen auch kein Stimmrecht im Bundestag, das Preußen sich hätte einverleiben können. 15 Zweites Putbuser Diktat.

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sandten der zweiundzwanzig einzelstaatlichen Monarchien und drei freien Städte des Reiches. Zusammen bildeten diese Bevollmächtigten eine Vollversammlung. Die Funktion und die Zusammensetzung dieses Plenums waren – auch wenn dort keine Verhandlungen stattfanden – äußerst wichtig. Es bildete nämlich den Ort für alle entscheidenden Abstimmungen im Gesetzgebungsverfahren. Kein legislatives Projekt, aber auch keine zur Durchführung der Gesetze notwendige Verordnung – es sei denn, sie fiel in den Zuständigkeitsbereich des Kaisers – konnte in Kraft treten, ohne im Plenum von einer Stimmenmehrheit angenommen zu werden. Außerdem bildete das Plenum Ausschüsse, in denen Gesetzesentwürfe und andere Maßnahmen beraten und überarbeitet wurden. Die Verfassung schuf insgesamt acht solcher Ausschüsse, die jeweils mit einem bestimmten Feld der Reichsgewalt betraut waren. Kurz nach der Reichsgründung kamen vier weitere hinzu. Jeder Ausschuss bestand aus den Vertretern von mindestens vier verschiedenen Landesregierungen. Nach 1890 wurde diese Zahl für die meisten Ausschüsse auf sieben erhöht. Das Plenum verteilte die Sitze in den Ausschüssen bis auf wenige Ausnahmen jährlich durch Wahlen an die einzelnen Staaten. Die Landesregierungen beriefen ihre Vertreter in den Ausschüssen aus den Reihen ihrer Bundesratsbevollmächtigten. In den Ausschüssen verfügte jeder Einzelstaat über eine Stimme. Anders als im Plenum, wo das Stimmgewicht der einzelnen Staaten sehr unterschiedlich ausfiel, war das Beschlussverfahren in den Ausschüssen also egalitär. Zumindest theoretisch konnte dort also jede Landesregierung ihre Interessen auf Augenhöhe mit dem Hegemonialstaat Preußen vertreten. Die Arbeit der Ausschüsse und der Abstimmungsprozess im Plenum waren eng miteinander verzahnt. Wurde eine neue Gesetzesvorlage ins Plenum eingebracht, überwies man sie zumeist gleich an den relevanten Ausschuss. Waren dort die Verhandlungen abgeschlossen, stellte ein Referent – diese Position wurde für manche Fachgebiete traditionell von bestimmten Staaten besetzt, etwa in Finanzfragen von Bayern und in Verfassungsangelegenheiten von Sachsen – die Ergebnisse der Vollversammlung mündlich oder schriftlich vor. Daraufhin konnten Änderungen am Gesetzentwurf vorgeschlagen werden, bevor die erste Abstimmung im Plenum erfolgte. Wurde der (abgeänderte) Entwurf abgelehnt, war er in seiner jetzigen Form gescheitert. Gewann er eine Mehrheit der Stimmen, ging er anschließend an den Reichstag. Dieser verhandelte den Entwurf seinerseits in entsprechenden Ausschüssen und konnte ihn dann entweder verwerfen, in gleicher Form annehmen oder Veränderungen verlangen. Geschah Letzteres, kam der Entwurf zurück in den Bundesrat. Das Plenum konnte ihn alsdann entweder in der vom Reichstag geänderten Form annehmen, woraufhin er dem Kaiser zur Ausfertigung übermittelt wurde, oder wieder an den relevanten Ausschuss zu weiteren Beratungen überweisen. Waren diese abgeschlossen, schritt das Plenum zur Schlussabstimmung. Gab es keine Mehrheit, war der Entwurf gescheitert. Fiel das Votum dagegen positiv aus, ging der Entwurf zurück an den Reichstag. Wurde er dort angenommen, lag es am Kaiser, ihn im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Lehnte das Parlament ihn hingegen ab, war er endgültig gescheitert. Durch dieses doppelte Zustimmungsverfahren war das Bundesratsplenum der Dreh- und Angelpunkt des von der Verfassung vorgegebenen Gesetzgebungspro-

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zesses. Egal, welche zusätzlichen Verhandlungsforen sich mit der Zeit herausbildeten – am Plenum führte kein Weg vorbei. Nicht umsonst bezeichnete Bismarck den Bundesrat wenige Monate nach der Reichsgründung im Reichstag als „ein Palladium für unsere Zukunft, eine große Garantie für die Zukunft Deutschlands“.16 Damit spielte er auf die strategische Stellung der Länderkammer an. Der Bundesrat war das zentrale Organ der Verfassung. Als institutionelle Verkörperung des Fürstenbundes besaß er wichtige Kompetenzen in allen drei Zweigen der Staatsgewalt. Zusammen mit dem Reichstag bildete er die nationale Legislative. Ohne seine Zustimmung konnte kein Reichsgesetz verabschiedet werden. Auch in der Exekutive gab die Verfassung ihm eine bedeutende Position. Er teilte sich mit dem Kaiser, der als „Bundespräsidium“ dem von der Länderkammer verkörperten Fürstenbund gewissermaßen vorsaß, die Regierungsgewalt des Reiches. Da der Bundesrat dabei den kollektiven Souverän des Reiches repräsentierte, nämlich die Gesamtheit der verbündeten Regierungen, genoss er einige exekutive Vorrechte, die klassischerweise einem Monarchen zustanden. Am wichtigsten waren das Recht, Verordnungen zur Ausführung der Reichsgesetze zu erlassen, und die Befugnis, im Rahmen der sogenannten Reichsexekution in Einzelstaaten, der ihre verfassungsmäßigen Pflichten verletzten, zu intervenieren. Schließlich hatte der Bundesrat auch wichtige Aufgaben im Justizwesen inne. Die Reichsverfassung schuf keinen Verfassungsgerichtshof, sondern eine Reihe alternativer Konfliktlösungsmechanismen. An diesen war der Bundesrat stets in der einen oder anderen Form beteiligt. Für Streitigkeiten zwischen verschiedenen Einzelstaaten war er sogar ganz allein zuständig. Durch diese zentrale Position in der Verfassung schützte der Bundesrat die wichtigsten Schaltstellen monarchischer Macht vor möglichen Übergriffen des Reichstages. Als institutionelle Verkörperung des kollektiven Souveräns des Reiches bestand der Bundesrat aus Gesandten, die allein ihren jeweiligen Heimatregierungen gegenüber verantwortlich waren und daher nominell gar nicht zur Reichsebene gehörten. Folglich konnten sie auch nicht vom nationalen Parlament belangt, geschweige denn zur Rechenschaft gezogen werden. Das galt auch für den Reichskanzler, da die Verfassung diesen als Präsidialgesandten Preußens definierte. Als Ersatz für eine offizielle Reichsregierung war der Bundesrat und alle Stellen, die – wie der Kanzler – in seinen Schutzbereich eingepflegt waren, gegenüber dem Reichstag somit unangreifbar. Anders gesagt: Die Verzahnung der unterschiedlichen Regierungsebenen des monarchischen Bundesstaates im Knotenpunkt Bundesrat stellte strukturell sicher, dass eine Parlamentarisierung des föderalen Verfassungsgefüges in der Gestalt, in der es 1871 geschaffen wurde, überhaupt nicht möglich war. Am deutlichsten betonte Bismarck diese antiparlamentarische Blockierfunktion wohl in den 1880er Jahren, als liberale Forderungen nach Einführung einer verantwortlichen Reichsregierung wegen der zunehmend wichtigeren Rolle der Chefs der Reichsämter immer lauter wurden: „In der Erhaltung des Föderativ-Staats

16 Stenographische Berichte, 19.4.1871, S. 299.

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erblicke ich eine viel größere Widerstandsfähigkeit gegen das republikanische Andrängen, das sich im Reichstage wie in ganz Europa bemerkbar macht, als sie dem Einheitsstaate zu Gebote stehen würde, wo nur eine einzige Regierung, nicht eine Mehrheit von Regierungen, dem Reichstage gegenüber stehen würde.“17 Diese Überlegung hatte allerdings einen Haken: Die Verfassung verharrte nach der Reichsgründung eben nicht in dem Zustand von 1871, sondern veränderte sich im Laufe der Jahrzehnte fundamental. Angetrieben von einer umfangreichen Zentralisierung, die den Schwerpunkt staatlicher Macht von den Einzelstaaten auf das Reich verlagerte, bauten mehrere große Wandlungsprozesse den strukturellen Rahmen föderalen Regierens gründlich um. Der Kaiser erhob sich vom primus inter pares im Kreis der Bundesfürsten zu einem Reichsmonarchen. Der Kanzler wuchs in die Rolle des Chefs einer kaiserlichen Reichsregierung hinein, die nach und nach in Person der Leiter der obersten Reichsbehörden, den sogenannten Reichsämtern, um ihn herum entstand und sich zusehends von ihren preußischen Wurzeln emanzipierte. Und der Reichstag ersetzte die einzelstaatlichen Regierungen als wichtigsten Verhandlungspartner der exekutiven Entscheidungsträger des Reiches. Diese Entwicklung der Verfassungsrealität drängte den Bundesrat in ein politisches Schattendasein, das seine Schutzfunktion zur Verhinderung parlamentarischer Übergriffe auf die Regierungsgewalt langsam aushöhlte. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, müssen wir zunächst den Wandel begreifen, der sich im Innern des Bundesrates vollzog. 3. DIE NATIONALISIERUNG DER LÄNDERKAMMER Das Innenleben des Bundesrates geriet innerhalb der ersten zwei Jahrzehnte nach der Reichsgründung komplett unter die Kontrolle der sich gleichzeitig ausdifferenzierenden Reichsregierung. Diese Nationalisierung der Länderkammer vollzog sich auf der Grundlage einer zweiteiligen Manipulation der Zusammensetzung des Plenums. 3.1. Die Übernahme der preußischen Bank Zunächst machte sich die Reichsregierung die preußische Bundesratsvertretung zu eigen. Zu diesem Zweck sorgte der Reichskanzler dafür, dass der Kaiser in seiner Eigenschaft als preußischer König eine große Schar leitender Beamter der Reichsämter zu stellvertretenden Bundesratsbevollmächtigten Preußens ernannte. Auf diese Weise schleuste die Reichsregierung ihre eigenen Interessenvertreter gewissermaßen durch die Hintertür in die Länderkammer ein und ließ sie dort die mit Abstand wichtigste Bank besetzen. Anders gesagt: Die Reichsregierung nutzte die Institution der Stellvertreter als ein Vehikel zur Verreichlichung der preußischen

17 Zit. in Poschinger (1898): Fürst Bismarck und der Bundesrat, Bd. 4, S. 165.

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Bundesratsbank. Bis 1910 stieg so der Anteil an Reichsbeamten unter allen preußischen Bevollmächtigten auf über 90 Prozent. Die Reichsregierung übernahm mit der preußischen Bundesratsgesandtschaft also eines der wichtigsten Instrumente der preußischen Hegemonie und versetzte sich dadurch in die Lage, das zentrale Organ der Verfassung selbst zu dirigieren. In dieser Entwicklung zeigte sich, dass im föderalen Regierungssystem des Kaiserreiches keine Borussifizierung Deutschlands, sondern eine Mediatisierung Preußens erfolgte. Statt sich nach der Reichsgründung zu konsolidieren oder gar weiter auszudehnen, löste sich die Vorherrschaft der preußischen Regierung über das Reich schrittweise auf. Dafür hätte es kaum einen deutlicheren Beleg geben können als die Übernahme der preußischen Bundesratsbank durch die Reichsleitung. Denn diese Manipulation der verfassungsrechtlich festgelegten Strukturen nahm der ursprünglichen Hegemonialmacht des Reiches das fundamentalste Recht, das jedem Einzelstaat üblicherweise in einer föderalen Ordnung zusteht: die eigenständige Teilnahme am Willensbildungsprozess des Bundes. Diese Entmündigung schlug sich im Bundesrat noch in mehreren anderen Faktoren nieder. So sank die Anwesenheit der preußischen Fachminister im Laufe der Zeit gen Null. Wegen der oben beschriebenen Arbeitsweise des Bundesrates saßen dort zwar von Beginn an hauptsächlich Verwaltungsfachleute, die eine Position unterhalb der Ministerebene bekleideten. In den ersten zwei Jahrzehnten nach der Reichsgründung erschienen die Leiter der obersten preußischen Ministerialbehörden aber immerhin noch sporadisch zu besonders wichtigen Sitzungen. Danach verschwanden die Ressortminister praktisch komplett aus der preußischen Delegation. Noch stärker manifestierte sich diese Verreichlichung darin, dass ab Mitte der 1880er Jahre bis zum Ausbruch des Krieges durchgängig mehr Mitglieder des Preußischen Staatsministeriums auf der preußischen Bank Platz nahmen, die kein Ressort leiteten, als solche, die ein Landesministerium führten. Diese Minister ohne Ressort waren hochrangige Beamte aus den obersten Verwaltungsbehörden des Reiches, zumeist die Staatssekretäre, die den Reichsämtern vorstanden. Sie wurden von ihrem obersten Chef, dem Kaiser, in seiner Eigenschaft als König von Preußen zu Mitgliedern des Preußischen Staatsministeriums ernannt, um dort die Interessen der Reichsleitung zu vertreten. Dass die durch diese Staatssekretarisierung des preußischen Kabinetts ins Amt gekommenen „falschen Minister“ die preußische Bundesratsdelegation öfter verstärkten als die eigentlichen Ressortleiter, zeigt, wie sehr die Reichsregierung letztere spätestens in Wilhelminischer Zeit beherrschte. Am deutlichsten drückte sich diese totale Kontrolle aber darin aus, dass die Position des preußischen Stimmführers fast immer von einem Repräsentanten der kaiserlichen Reichsregierung besetzt wurde. Bereits 1871 wurde die preußische Stimme in 67 Prozent der Sitzungen von einem leitenden Reichsbeamten abgegeben. Ab den 1880er Jahren steigerte sich dieser Anteil auf über 90 Prozent.

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3.2 Der Rückzug der Kleinstaaten Um die Abstimmungen im Bundesrat für sich zu entscheiden, reichten die siebzehn preußischen Stimmen allein nicht aus. Dazu brauchte es mindestens dreizehn weitere Stimmen. Deshalb übte die Reichsregierung – häufig unter Zuhilfenahme jener Machtmittel, auf die der Kaiser in seiner Rolle als preußischer König Zugriff hatte – massiven Druck auf die kleinstaatlichen Regierungen dahingehend aus, ihre eigenständige Teilnahme am Entscheidungsprozess des Bundesrates aufzugeben. Ohne echte Chance, sich gegen die Übermacht der wichtigsten Regierungsstellen im Reich zu wehren, zogen sich die allermeisten kleinstaatlichen Regierungen tatsächlich aus dem Plenum zurück und etablierten ein komplexes Substitutionssystem, das sie zu Mehrheitsbeschaffern der preußischen Bank degradierte. Das Rückgrat dieses Systems waren die sogenannten Substitutionsbevollmächtigten. Dabei handelte es sich um Gesandte, die zusätzlich zu den Stimmen ihrer Heimatregierungen auch noch die Stimmen anderer Landesregierungen abgaben. Einige Substitutionsbevöllmächtigte vertraten bis zu zehn Staaten und gaben daher mitunter mehr Stimmen ab als der Stimmführer der preußischen Bank. Die Doppelrolle dieser Spezialgesandten ermöglichte die Bildung von mehreren Abstimmungsgemeinschaften, die praktisch immer mit der preußischen Delegation stimmten und so Mehrheiten für die Reichsregierung produzierten. Diese Praxis war von Beginn an die Regel, nahm im Laufe der Jahre aber noch weiter zu. Während der gesamten Kaiserzeit lag der Anteil an Substitutionen auf den Bänken der Kleinstaaten immer deutlich über 50 Prozent, in der Spitze sogar über 70 Prozent. Wie groß die Kontrolle war, die das Substitutionssystem der preußischen Bank über das Plenum gab, wird deutlich, wenn man das Teilnahmeverhalten WaldeckPyrmonts betrachtet. Das nordhessische Fürstentum war ein Sonderfall unter den Kleinstaaten. Im Juli 1867, also einige Monate nach dem Ende des Deutsch-Deutschen Krieges, schloss der chronisch finanzschwache Zwergstaat einen sogenannten Akzessionsvertrag mit Preußen. Dieses Abkommen übertrug der preußischen Regierung praktisch die gesamte innere Verwaltung und alle Außenbeziehungen Waldeck-Pyrmonts. Da letztere auch das Verhältnis des Fürstentums zu dem sich gerade formierenden Bund einschlossen, fiel Preußen nach Inkrafttreten der föderalen Verfassung die waldecksche Bundesratsstimme zu. In der Praxis verfügte Preußen deswegen nicht über siebzehn, sondern über achtzehn Stimmen im Plenum. Mit den Jahren verzichtete Preußen aber immer öfter darauf, für WaldeckPyrmont einen Delegierten ins Plenum zu schicken. In diesen Fällen wurde die Stimme des Fürstentums einfach nicht abgegeben und verfiel. Zwischen 1899 und 1901 war der waldecksche Bevollmächtigte erstmals häufiger ab- als anwesend. Nach 1907 wurde das zum Dauerzustand. Bis 1918 blieb die waldecksche Bank in einigen Jahren in über 80 Prozent der Sitzungen unbesetzt. Dieser beständige Verzicht bekundete, dass die preußische Bank nicht darauf angewiesen war, die Stimme Waldecks in Anspruch zu nehmen, um im Plenum Mehrheiten zu erreichen. Durch das sich über die Jahre immer besser einspielende Substitutionssystem waren ihr so viele Zusatzstimmen sicher, dass sie die eine des nordhessischen Fürstentums getrost verfallen lassen konnte. Die Tatsache, dass

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diese Handhabung ab der Jahrhundertwende zur Regel wurde, spiegelt die Kontrolle wider, die die preußische Bank seit Anbeginn des Reiches über den Bundesrat gewonnen hatte. Spätestens zu Beginn des neuen Jahrhunderts bestimmte sie die Mehrheitsbildung im Plenum unangefochten. Diese Vorrangstellung bedeutet aber nicht, dass es die preußische Regierung war, die den Bundesrat beherrschte. Im Gegenteil: Da die preußische Bank, wie wir oben gesehen haben, schon lange vor 1900 von Abgesandten der Reichsämter vereinnahmt worden war, verschaffte das Substitutionssystem nun vielmehr der sich seit Jahrzehnten stetig konsolidierenden Reichsregierung zuverlässige Mehrheiten. In Kombination miteinander machten die Übernahme der preußischen Bank und der erzwungene Rückzug der kleinstaatlichen Regierungen den Bundesrat also zu einem Satellitenorgan der Reichsregierung, das deren Vorlagen in den allermeisten Fällen ohne größere Probleme abnickte. Man mag gegen diese Interpretation der statistischen Daten zu den Anwesenheitsmustern im Bundesrat einwenden, dass ein Großteil der Reichsbeamten, die den Bundesrat über die preußische Bank kontrollierten, gebürtige Preußen waren. Dieser Vorbehalt entkräftet allerdings das Argument der Nationalisierung der Länderkammer keineswegs. Natürlich ist es schwer, im dichten Netz der Verantwortlichkeiten, welches das Reich besonders mit seinem hegemonialen Mitgliedsstaat verflocht, Bundes- und Landesinteressen sauber voneinander abzugrenzen. Außerdem vertreten Entscheidungsträger nicht immer zwangsweise die Interessen, die mit ihren Ämtern verbunden sind. Persönliche Zugehörigkeitsgefühle, strategische Überlegungen und gegebenenfalls auch Unwissenheit oder Unfähigkeit spielen stets eine Rolle. Das gilt besonders nach einem so epochalen Umbruch, wie es die Umwandlung Deutschlands von einem bunten Flickenteppich eigenständiger Länder in einen gemeinsamen Nationalstaat war. Dennoch ist es gerechtfertigt, sich bei der Analyse der Zusammensetzung der Bundesratsdelegationen auf die Loyalität der Beamte gegenüber ihrer jeweiligen Dienststelle zu verlassen. Mehrere neuere Studien zur föderalen Interessenvermittlung haben gezeigt, dass diese Loyalität auf den Posten der Reichsverwaltung schon in den Anfangsjahren relativ ausgeprägt war.18 Je mehr Zeit nach der Reichsgründung verging, desto stärker wurde sie außerdem. Das lag einfach daran, dass sich auf der Funktionärseben des Reiches immer klarer herausstellte, was Pflichtbewusstsein gegenüber dem Reich eigentlich bedeutete, wie ein deutsches Nationalgefühl mit traditionellen, partikularistischen Zugehörigkeitsgefühlen zu vereinbaren war, wie die neuen Strukturen der Verfassung funktionierten und wie Politik und Verwaltung innerhalb dieses Rahmens gerade in neu entstehenden Regierungsfeldern effektiv gestaltet werden konnten. Spätestens in der Wilhelminischen Epoche waren die Ministerialämter Preußens und des Reiches sowie die diesen nachgeordneten Behörden klar voneinander getrennte Bereiche, deren jeweilige Repräsentanten verschiedene, an ihre jeweiligen Dienststellen gebundene Interessen vertraten, die mitunter in starkem Kontrast zueinander 18 Besonders die verschiedenen Bände in der Reihe Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, siehe oben Fn. 11. Vgl. auch Kreutzmann (2012): Die höheren Beamten.

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standen, wie zahlreiche Studien zu den verschiedenen Zweigen der obersten Reichsverwaltung zeigen.19 Gerade für die Phase, in der die Übernahme der preußischen Bank durch die Reichsregierung, die Zurückdrängung der Kleinstaaten und die damit einhergehende Nationalisierung des Bundesrates ihren Höhepunkt erreichten, besteht es also an der oben erläuterten Bedeutung dieser statistisch klar belegbaren Entwicklungen kein Zweifel. 4. DAS SCHATTENDASEIN DES BUNDESRATES UND DER AUFSTIEG DES REICHSTAGES Die Nationalisierung des Bundesrates führte mitnichten dazu, dass die einzelstaatlichen Regierungen jeglichen Einfluss auf die Gestaltung der Reichspolitik verloren. Im Gegenteil: Mit den Jahren bildete sich rund um den Bundesrat ein umfangreiches Netz an alternativen Entscheidungsprozessen und -foren heraus, die gerade den Regierungen der kleineren Einzelstaaten mitunter mehr Gehör verschaffte, als es die Länderkammer je getan hatte. Allerdings beeinträchtigte die Nationalisierung des Bundesrates dessen Funktion als Schutzwall gegen die Machtansprüche des Reichstages. Die bloße Existenz der Länderkammer schirmte zwar die Reichsregierung, die in den ersten Jahren nach der Reichsgründung entstand und liberalen Forderungen nach Einführung einer parlamentarischen Verantwortlichkeit der exekutiven Entscheidungsträger eine konkrete Angriffsfläche bot, vorerst weiterhin ab. Mit der Zeit wurde diese Schutzfunktion aber zusehends schwächer. Insgesamt lassen sich in der Verfassungsentwicklung des Kaiserreiches sechs Phasen unterscheiden, in denen der Bundesrat immer weiter an den Rand und der Reichstag immer weiter ins Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses rückten. Diese Entwicklung begann nicht erst nach dem Abgang Bismarcks, sondern gleich nach der Reichsgründung. Außerdem war es nicht so, dass der Reichstag das, was der Bundesrat an politischem Einfluss verlor, unmittelbar hinzugewann. Es gab kein Nullsummenspiel der Macht zwischen den beiden Legislativorganen. Vielmehr war es so, dass der Reichstag im Zuge einer ganzen Reihe von komplexen strukturellen Wandlungsprozessen davon profierte, dass sich eine von Preußen unabhängige kaiserliche Reichsregierung ausformte, vom Bundesrat emanzipierte und sich so gegenüber dem Parlament exponierte. Anders gesagt: Je stärker die Reichsregierung auf Kosten des Bundesrates wurde, desto stärker wurde der Reichstag. Mit Manfred Rauhs These von der „stillen Parlamentarisierung“ hat dieses „Paradoxon des deutschen Konstitutionalismus“, wie es Mark Hewitson nennt, herzlich wenig zu tun.20

19 Jüngst z. B. Hüntelmann (2008): Hygiene im Namen des Staates. 20 Rauh (1973): Föderalismus und Parlamentarismus, ders. (1977): Parlamentarisierung, Hewitson (2018): Germany and the World, S. 95. Zu den Unterschieden siehe speziell auch Haardt (2020): Bismarcks ewiger Bund, S. 385–389, 405–410, 598–601.

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4.1. 1867/71–1876: Die praktische Umsetzung der Idee vom Fürstenbund In den ersten sechs Jahren nach der Reichsgründung versuchte Bismarck, das neue Regierungssystem soweit wie möglich staatenbündisch zu betreiben. Mit anderen Worten: Er lotete aus, inwieweit man den von der Verfassung gerade geschaffenen Bundesstaat als Fürstenbund auslegen konnte. Zu diesem Zweck ließ er die einzelstaatlichen Regierungen ihre Verhandlungen aus dem offiziellen institutionellen Rahmen der Verfassung auslagern. Statt den Bundesrat machten sie ihre diplomatischen Missionen in Berlin zum wichtigsten Forum, um sich kurzzuschließen. Als Koordinationsstelle diente das Kanzleramt unter der Leitung von Rudolph Delbrück. Das von ihm etablierte System föderalen Regierens wies dem Bundesrat von Anfang an eine Nebenrolle im politischen Entscheidungsprozess zu, da die wichtigsten Entscheidungen schon getroffen wurden, bevor überhaupt das offizielle Gesetzgebungsverfahren begann. Diese Praxis hatte den Vorteil, den Reichstag von den wesentlichsten Vorentscheidungen fernzuhalten. Das kam aber zu dem Preis, dass die wichtigste von der Verfassung unverrückbar vorgeschriebene Institution zum Schutz monarchischer Macht in diesen prägenden Anfangsjahren nie richtig ausgebildet wurde. 4.2. 1876–1879/80: Der Durchbruch der Reichsregierung Zwischen 1876 und 1879/80 splittete sich das Kanzleramt in mehrere oberste Reichsbehörden auf. Dadurch formierte sich eine von Preußen institutionell unabhängige Reichsregierung. Diese begann umgehend damit, den Bundesrat durch die oben beschriebenen Unterwanderungsvorgänge unter ihre Kontrolle zu bringen. Da die Länderkammer jedoch am Rande des politischen Entscheidungsprozesses stand, der sich in den ersten Jahren nach der Reichsgründung formiert hatte, vermochte sie die Reichsregierung nur unzureichend vom Reichstag abzuschirmen. Dessen verstärkte Angriffe auf den Kanzler und die Leiter der Reichsämter waren umso wirkungsvoller, weil sich die einzelstaatlichen Regierungen, allen voran die preußische, vom Durchbruch der Reichsregierung bedroht fühlten und dieser bei zahlreichen Gesetzgebungsprojekten die Gefolgschaft versagten. Kurzum: Die Front der verbündeten Regierungen bröckelte. Die Risse, die dadurch in den bündischen Schutzmauern rund um die Reichsregierung entstanden, konnte der Reichstag nutzen, um letztere verstärkt anzugehen. 4.3. 1879/80–1890: Die gescheiterte Restauration Nach der innenpolitischen Wende von 1878 reagierte Bismarck auf die anhaltenden Vorstöße des Reichstages mit dem Versuch, die in den letzten zehn Jahren entstandene Regierungsordnung wieder in den Zustand zurückzuversetzen, der in der geschriebenen Verfassung vorgesehen war. Der Grundgedanke dieser staatenbündischen Restauration lag darin, den Bundesrat endlich ins Zentrum des föderalen

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Entscheidungssystems zu stellen und die Reichsregierung gänzlich hinter das so gestärkte Bollwerk monarchischer Souveränität zurückzuziehen. Alle Maßnahmen, die Bismarck zur Umsetzung dieses Planes unternahm, wie zum Beispiel eine Reform der bundesrätlichen Geschäftsordnung, scheiterten jedoch kläglich. Die Eigendynamik, die die Monarchisierung des Kaiseramtes, die Verselbständigung der Reichsregierung, die Nationalisierung des Bundesrates und der Aufstieg des Reichstages infolge der kontinuierlichen Zentralisierung föderaler Kompetenzen entwickelt hatten, war mittlerweile einfach zu stark. So ging der Umbau des Verfassungssystems in eine Reichsmonarchie im Endeffekt ungebremst weiter. Am Ende von Bismarcks Kanzlerschaft war der Bundesrat daher bereits nur noch ein Nebenschauplatz, auf dem die Reichsregierung in Auseinandersetzung mit dem Reichstag den Ton angab. 4.4. 1890–1907/08: Die Neuausrichtung der Reichsmonarchie Nach Bismarcks Abgang 1890 stellten sich zunächst erhebliche Koordinationsprobleme ein. Das föderale Entscheidungssystem musste sich nach dem Ausscheiden seines alles dominierenden Übervaters erst einmal neu sortieren. Dieser Anpassungsprozess brachte für den Bundesrat jedoch keine Veränderung. Er blieb am Rande des politischen Geschehens, wo er vor allem als Rückzugsort diente, dessen schützende Sphären die Reichsregierung aufsuchen konnte, um besonders heftigen Übergriffen des Reichstages auszuweichen. Statt in der Länderkammer brachten sich die einzelstaatlichen Regierungen vornehmlich in jene alternativen Verhandlungsforen ein, die schon unter Bismarck entstanden waren und jetzt in den Mittelpunkt des föderalen Entscheidungsprozesses rückten. Besonders wichtig waren einerseits die Spezialkommissionen, vermittels derer die Reichsregierung neben Vertretern der Landesregierungen auch Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft bereits in die Entwurfsphase von Gesetzesvorlagen einband, und andererseits die Reichstagsausschüsse, in denen die Vertreter der großen Fraktionen, der Reichsregierung und der einzelstaatlichen Regierungen direkt miteinander verhandeln konnten. Vor allem Letzteres machte die Reichsregierung zusehends abhängig von der Kooperationsbereitschaft bestimmter Schlüsselfraktionen, deren Wünsche die zuständigen Reichsämter denn auch immer häufiger bereits bei der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen berücksichtigten. Dieses System litt unter zahlreichen Unruhefaktoren, die im Laufe der Zeit aber weniger wurden. Einer der größten war der Kaiser mit seinen unberechenbaren Interventionsversuchen. Die Daily-Telegraph-Affäre von 1908 zwang Wilhelm II. jedoch, sich zukünftig mehr zurückzunehmen. 4.5. 1909–1914: Das integrierte System zwischen Stabilität und Krise Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts hatte sich das seit der Reichsgründung herausgebildete Netz alternativer Entscheidungsmechanismen so sehr verdichtet, dass ein integriertes System entstanden war. Dieses besaß in allen

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Politikfeldern einheitliche und professionalisierte politisch-administrative Abläufe, koordinierte die verschiedenen Machtzentren auf Reichs- und Landesebene durch zahllose institutionelle Verflechtungen und erwies sich trotz mehrerer schwerer Krisen, bei denen sich politische und verfassungsstrukturelle Probleme vermischten (Scheitern einer preußischen Wahlrechtsreform, Zabernaffäre), insgesamt als relativ stabil. Gleichzeitig baute es die Barrieren, die einer Parlamentarisierung der Reichsgewalt entgegenstanden, ein ganzes Stück weit ab. Das lag vor allem daran, dass der Bundesrat endgültig zu einem bloßen Verwaltungsausschuss herabsank, hinter dem sich die Reichsregierung nur noch mehr schlecht als recht vor dem Reichstag verstecken konnte. Bevor die Schüsse von Sarajevo die Umstände föderalen Regierens komplett veränderten, standen daher alle Anzeichen darauf, dass der sich seit der Reichsgründung vollziehende Strukturwandel der Verfassung verstärkt in Richtung einer konstitutionellen Reichsmonarchie mit einer von der Kooperation des Parlamentes abhängigen Regierung weitergehen würde. 4.6. 1914–1918: Die Doppeldiktatur und der Durchbruch des Reichstages Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte der Bundesrat formal gesehen eine Renaissance. Die Kriegsordnung umfasste neben einer Militärdiktatur des Kaisers nämlich auch eine Zivildiktatur der Länderkammer. Das Kriegsermächtigungsgesetz vom August 1914 verlieh dem Bundesrat ein umfangreiches Notverordnungsrecht, das den normalen Gesetzgebungsprozess in vielen Bereichen ersetzte. Da der Bundesrat durch die Verreichlichung der preußischen Bank und das Substitutionssystem unter den Kleinstaaten zu diesem Zeitpunkt aber schon lange zu einem Satellitenorgan der Reichsregierung geworden war, handelte es sich in Wirklichkeit um eine Ermächtigung des Kanzlers und der Chefs der Reichsämter. Durch diese Machtkonzentration exponierte sich die Reichsregierung endgültig so weit, dass sie die Schutzfunktion des Bundesrates aufbrach. Infolgedessen konnten die Mehrheitsparteien unter dem Druck der sich verschlechternden militärischen Lage ab Sommer 1917 schrittweise in die Reichsregierung eindringen. Die Oktoberreformen des Folgejahres beteiligten sie schließlich offiziell an der Regierungsgewalt. Schon wenige Wochen später wurde die so geschaffene parlamentarische Monarchie von der Revolution überrollt. Der Bundesrat war da schon so unbedeutend geworden, dass er in diesem Umwälzungsprozess überhaupt keine Rolle mehr spielte. 5. FAZIT Zwischen Reichsgründung und Revolution wandelte sich das föderale Verfassungsgefüge des Reiches fundamental. Der Bundesrat spielte dabei eine eigentümliche Rolle. Er führte von Anfang an ein Schattendasein am Rande des föderalen Entscheidungsprozesses, das seiner eigentlich von der Verfassung vorgesehenen Stellung als Zentrum des politischen Prozesses widersprach. Seine Funktion beschränkte sich im Wesentlichen darauf, eine strukturelle Barriere zu bilden, die die

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sich mit der Zeit immer weiter ausformende Reichsregierung vor dem Reichstag schützte und so eine Parlamentarisierung der Reichsgewalt verhinderte. Diese verfassungspolitische Bremsfunktion war allerdings ausgesprochen wichtig für die Entwicklung des ausgeklügelten Regierungssystems, das Bismarck einst so flexibel eingerichtet hatte, dass bündische und hegemoniale, unitarische und partikularistische sowie monarchische und parlamentarische Kräfte je nach politischer Lage stets so ausbalanciert werden konnten, dass das monarchische Prinzip und die preußische Hegemonie keinen Schaden nehmen würden. Ohne die verfassungspolitische Bremse funktionierte diese komplexe Verfassungsmaschine in der politischen Praxis nämlich ebenso wenig wie ohne den zweitaktigen Motor aus Reichsleitung und Reichstag, der sich bald nach der Reichsgründung herausbildete. Für die Verortung des Kaiserreiches in der deutschen Demokratiegeschichte ist der Bundesrat somit eine Art Indikator, der die Langlebigkeit, Widerstandkraft, aber auch Wandlungsfähigkeit des monarchischen Obrigkeitsstaates im Kaiserreich belegt. Bis zu den Oktoberreformen von 1918, die es Reichstagsabgeordneten nicht nur erstmals ermöglichten, in die Reichsregierung einzutreten und die Leitung von Reichsämtern zu übernehmen, sondern auch, Mitglieder des Bundesrates zu werden und so in das ehemalige Bollwerk monarchischer Macht einzudringen, machte die Länderkammer durch ihre bloße Existenz eine Parlamentarisierung des Regierungssystems unmöglich. Insofern ist der Bundesrat per se ein Beweis dafür, dass ein wie auch immer geartetes parlamentarisches System im Kaiserreich bis zum Herbst 1918 nie entstanden ist. Gleichzeitig zeigt die Umwandlung des Bundesrates in ein Satellitenorgan der Reichsregierung und seine damit zusammenhängende Marginalisierung in der politischen Praxis aber auch, dass sich das Verfassungssystem im Laufe der Jahre dynamisch veränderte und dabei Freiräume entstanden, die den Einfluss des Reichstages erheblich vergrößerten. Will die Forschung den Ort des Kaiserreiches in der deutschen Demokratiegeschichte präziser bestimmen, muss sie genau diese Dynamik des Verfassungssystems zukünftig stärker in den Blick nehmen, als das bisher der Fall war. QUELLEN Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. Online verfügbar unter: https://www.reichstagsprotokolle.de/index.html. Zweites Putbuser Diktat „Unmaßgebliche Ansichten über Bundesverfassung“. In: Gesammelte Werke, Bd. 6a, 1929, Nr. 616, S. 169.

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Oliver F. R. Haardt

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RETHINKING FEDERALISM Das Kaiserreich als dynamisches und kooperatives Mehrebenensystem Paul Lukas Hähnel „Der Löwe und die Maus können sich nicht konföderieren.“1 Mit diesem häufig zitierten Satz bewertete der zeitgenössische Publizist Constantin Frantz aus der Retrospektive den Zusammenschluss von 25 Staaten zum Deutschen Kaiserreich im Jahre 1871.2 Er versinnbildlicht, welche schwere Hypothek das preußische Übergewicht für das föderale System des Kaiserreichs darstellte. Der Ausspruch negiert zum einen, dass ein funktionsfähiger Föderalismus im Kaiserreich überhaupt existieren konnte. Zum anderen betont er die extremen Gegensätze zwischen Preußen und den restlichen Einzelstaaten des Kaiserreichs. Der stolze, starke, preußische Löwe steht der kleinen, schwachen, gliedstaatlichen Maus gegenüber. Wie soll unter diesen Voraussetzungen ein Bund geschlossen werden, in dem sich die Maus nicht der Dominanz des Löwen unterwirft? Schon ein flüchtiger Blick auf die territoriale Gliederung des Kaiserreichs reicht aus, um anhand der realen Größenverhältnisse zwischen den Einzelstaaten des Kaiserreichs zu verstehen, was Constantin Frantz mit seiner Metapher aus dem Tierreich ausdrücken wollte. Das Reichsgebiet ist größtenteils in Preußisch Blau eingefärbt. Ähnlich der Bewertung von Constantin Frantz dominiert auch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung eine Sichtweise auf das politische System des Kaiserreichs, die unter dem Postulat des hegemonialen Föderalismus die dezentrale Staatsorganisation als Schein-3 oder Pseudoföderalismus4 charakterisiert und ihr darüber hinaus nur sekundäre Bedeutung zuspricht.5 Dabei bestimmen zwei verschiedene, allerdings oftmals miteinander verknüpfte Erkenntnisinteressen die geschichtswissenschaftliche Forschung zur föderalen Staatsstruktur des Kaiserreichs. Dies ist zum einen die Entwicklung des preußisch-deutschen Dualismus und zum anderen die Frage, ob sich das Regierungssystem im Verlauf des Kaiserreichs 1 2 3 4 5

Frantz (1962): Föderalismus, S. 232. Dreyer (1986): Föderalismus, S. 590; Holste (2001): Bundesstaat, S. 123; Preuß (2008): Politik, S. 423; Funk (2010): Föderalismus, S. 204. Fuchs (1984): Bundesstaaten, S. 104; Preuß (2008): Politik, S. 423. Beyme (2010): System, S. 367. Hans-Ulrich Wehler widmet beispielsweise im dritten Band seiner voluminösen Gesellschaftsgeschichte dem Bundesrat lediglich einen Absatz, s. Wehler (2006): Gesellschaftsgeschichte, S. 857.

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parlamentarisierte.6 Für beide Ansätze bildet die dezentrale Staatsstruktur des Kaiserreichs die unabhängige und nicht die abhängige Variable. In diesem Rahmen wird der Föderalismus im Kaiserreich oftmals auf das föderale Repräsentativorgan Bundesrat begrenzt betrachtet. Der Bundesrat wird als zentrales Reichsorgan und damit gewissermaßen als Träger der Souveränität identifiziert, der allerdings seiner prominenten Rolle nicht gerecht werden konnte.7 Damit einhergehend wird auch der einzelstaatlichen Vertretung auf Reichsebene eine umfassende Machtlosigkeit konstatiert. Die föderale Staatsordnung erfüllte demnach vornehmlich zwei Funktionen. Zum einen verschleierte und sicherte das föderale Repräsentativorgan des Kaiserreichs die preußische Vorherrschaft. Dem mit Abstand größten Gliedstaat kam zwar im Bundesrat weniger als die Hälfte der Stimmen zu, die ihm nach proportionaler Repräsentation seines Territoriums und seiner Bevölkerung im Verhältnis zum gesamten Staatsgebiet und zur Gesamtbevölkerung zugestanden hätten. Trotzdem konnte Preußen die Politik im Bundesrat tonangebend diktieren8, da aufgrund seines wirtschaftlichen und politischen Gewichts das Gros der Kleinstaaten mit ihm stimmte und somit Mehrheiten in der Regel sichergestellt waren.9 Außerdem reichten die preußischen Stimmen, um eine Verfassungsänderung und Eingriffe in eigene Sonderrechte zu blockieren. Föderalismus wird in diesem Sinne nicht nur als eine staatsrechtliche, sondern auch realpolitische Verankerung der preußischen Hegemonie verstanden.10 Zum anderen schirmte der Bundesrat die Exekutive vor dem Reichstag in zweifacher Weise ab und schützte somit das Kaiserreich vor einer Parlamentarisierung. Erstens schloss der letzte Satz des neunten Artikels der Reichsverfassung eine gleichzeitige Mitgliedschaft in Bundesrat und Reichstag aus und bildete damit ein formelles Hindernis, da dem Reichskanzler per Verfassung Vorsitz und Leitung der

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Exemplarisch: Binder (1971): Reich, S. 6; Rauh (1977): Parlamentarisierung; Hubatsch (1984): Preußen; Hauser (1987): Preußen; Unruh (1987): Stellung, S. 266; Born (2001): Preußen. 7 Esch (1911): Gesandtschaftsrecht, S. 109; Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 87; Wehler (2006): Gesellschaftsgeschichte, S. 857; Die Reichsverfassung umging den Begriff der Souveränität und ließ die Frage nach dem Sitz und Träger dieser Eigenschaft in der Schwebe. Siehe auch den Beitrag von Oliver F. R. Haardt in diesem Band. 8 In diesem Zusammenhang wird häufig die Position des Bundesratsbevollmächtigten von Mecklenburg-Schwerin, Karl von Oldenburg, zitiert, der als Reflex auf das Ausscheiden seiner Landesregierung aus dem Ausschuss für Handel und Verkehr den Bundesrat als „Abstimmungsmaschine“ abqualifizierte, s. Oldenburg (1929): Bundesrat, S. 18; Weber (1918): Parlament, S. 136f.; Dahl (1969): Lübeck, S. 155; Fuchs (1984): Bundesstaaten, S. 99f.; Holste (2001): Bundesstaat, S. 213; Funk (2010): Föderalismus, S. 229; differenzierter ordnet Hans-Otto Binder das Zitat ein, s. Binder (1971): Reich, S. 133f. 9 Es gibt nur wenige Fälle, in denen Preußen im Bundesrat überstimmt wurde. Ein in diesem Zusammenhang oft genanntes Beispiel ist die Entscheidung über den Standort des Reichsgerichts. Nur knapp setzte sich Leipzig gegen das preußische Votum für Berlin durch, s. Reichold (1977): Zaunkönige, S. 193. 10 Rauh (1973): Föderalismus, S. 52; Ullmann (1988): Interessenverbände, S. 69; Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 96f.

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Geschäfte des Bundesrats zustanden und er deshalb zugleich kein Reichstagsmandat ausüben konnte.11 Zweitens bedrohten nach dieser Lesart Versuche des Reichstags, seinen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte des Reichs zu verstärken, die vitalen Interessen der im Bundesrat vertretenen monarchischen Gliedstaaten und trafen daher dort auf Widerstand. Die Machtarithmetik zwischen dem Bundesrat als föderalem und dem Reichstag als demokratischem Repräsentativorgan wird dabei zumeist als Nullsummenspiel konstruiert. Demzufolge konnte ein Aufstieg des Reichstags nur mit einer Schwächung des Bundesrats einhergehen.12 Ebenso wird in diesem Zusammenhang auf den per Dreiklassenwahlrecht gewählten Preußischen Landtag verwiesen, den Hans-Ulrich Wehler als „heimliche zweite Kammer“ bezeichnete. Dort, so Wehler, „konnte die Politik des ‚Empire State‘ formuliert, der Ministerpräsident festgelegt und in seinem Doppelamt als Reichskanzler zur Beachtung des erwünschten Kurses angehalten werden.“13 Föderalismus und Parlamentsherrschaft werden letztendlich für das Kaiserreich als zwei Prinzipien aufgefasst, die sich nicht verbinden ließen.14 Der vorliegende Beitrag hinterfragt die mit dieser Perspektive verbundene Verengung des Föderalismus auf die Institution Bundesrat und ihre reaktionären Züge, da – so die These – sie den Blick auf die Funktionsweise und den Wandel des Föderalismus im Kaiserreich einschränkt.15 Dafür wird als heuristisches Mittel das politische System des Kaiserreichs als Mehrebenensystem konzeptualisiert und die föderale Staatsordnung unter zwei Gesichtspunkten diskutiert: als Ausgangspunkt für vertikale und horizontale Verflechtungen zwischen den Staatsorganen und Staatsebenen und als generelles Konfliktlösungsprinzip. Die empirische Grundlage der folgenden abstrakt gehaltenen Ausführungen bilden die Ergebnisse des zwischen 2012 und 2016 an der Universität Siegen durchgeführten DFG-Projekts „Integrieren durch Regieren: Funktionsweisen und Wandel des Föderalismus im Deutschen Reich 1871–1914“.16 Dem Projekt lag die Fragestellung zugrunde: Wie funktionierte und wandelte sich die politische Entscheidungsfindung im föderalen System des Deutschen Reiches? Um hierauf eine

11 Max Weber führte diese Regelung der Reichsverfassung nicht auf ein strategisches Kalkül zurück. Vielmehr sei sie lediglich aus „Gedankenlosigkeit“ einer englischen Bestimmung nachempfunden worden, s. Weber (1918): Parlament, S. 44. 12 Vgl. Kreuzer (2004): Verfassungsordnung, S. 23 u. 32–36. 13 Wehler (2006): Gesellschaftsgeschichte, S. 857. 14 Funk (2010): Föderalismus, S. 233. 15 Beispielsweise werden in den großen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Kaiserreichs von Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang Justin Mommsen und Thomas Nipperdey aus den 1990er Jahren „der ausgeprägte Regionalismus und die föderalistische Struktur kaum systematisch als Motor oder Bremsfaktor der politischen Entwicklung des Kaiserreichs untersucht.“ Zitat: Kühne (1998): Kaiserreich, S. 210; Mommsen (1990): Nationalstaat; Nipperdey (1992): Machtstaat; Wehler (2006): Gesellschaftsgeschichte. 16 Aus dem Projekt sind folgende Publikationen hervorgegangen: Lilla (2014): Bundesrat; Ambrosius et al. (2015): Systeme; Hähnel (2017): Interessenvermittlung; Höfer (2017): Einflussnahme; Liedloff (2017): Mitwirkung; Ambrosius et al. (2018): Integrieren.

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Antwort zu geben, wurde in methodisch-theoretischer Hinsicht eine historisch-hermeneutische Quellenanalyse mit politikwissenschaftlichen Ansätzen kombiniert.17 In methodisch-praktischer Hinsicht konzentrierte sich das Forschungsvorhaben auf die drei Politikfelder Finanzpolitik (Reichsfinanzreform)18, Sozialpolitik (Unfallversicherung)19 und Verbraucherpolitik (Nahrungsmittelregulierung)20 als Teilprojekte. Zusätzlich wurde im näheren Projektumfeld die Verkehrspolitik (Eisenbahnen)21 analysiert. Die Auswahl der Politikfelder erfolgte, um zum einen high and low politics abzubilden. Zum anderen sollten neben alten Politikfeldern, in denen bereits vor der Reichsgründung in den ehemals souveränen Gliedstaaten etablierte Entscheidungsstrukturen existierten, auch neue Politikfelder erfasst werden, in denen im Jahre 1871 auf Reichs- und gliedstaatlicher Ebene keine tradierten beziehungsweise nur rudimentär entwickelten Strukturen vorhanden waren. Die Politikfeldanalysen stützten sich auf Fallbeispiele, die gescheiterte und erfolgreiche Gesetzgebungsprojekte umfasst und den Zeitraum zwischen den späten 1870er Jahren und dem Beginn der 1910er abgedeckt haben. Zudem wurden die rekonstruierten Gesetzgebungsprozesse in eine prälegislative Phase, in der Informationen beschafft, politische Programme ausgearbeitet und Gesetzesentwürfe erstellt wurden, und in eine legislative Phase unterteilt, die das eigentliche formalrechtliche Gesetzgebungsverfahren in den gesetzgebenden Organen abbildete. Dieses Vorgehen diente dazu, den Zeitpunkt einzelstaatlicher Einflussnahme zu lokalisieren. Die Teilprojekte stützten sich daher – neben Drucksachen und Protokollen der gesetzgebenden Organen – in erster Linie auf Ministerialakten auf Reichs- und einzelstaatlicher Ebene.22 Weiterhin greift der Beitrag auf Ansätze zurück, die als Maßstab für die Charakterisierung des politischen Systems des Kaiserreichs nicht das britische Westminister Modell heranziehen. Vielmehr betrachten sie das Kaiserreich aufgrund seiner fragmentierten Gesellschaft und der Historizität der Einzelstaaten als ein Verhandlungssystem, in dem versucht wurde, über Konkordanzstrukturen und konsensuale Koordination die Interessen der verschiedenen Machtzentren auszugleichen und Konfliktlösungen zu finden.23 Schließlich bauen die folgenden Ausführungen auf politikwissenschaftlichen Studien auf, die das Konzept des kooperativen Föderalismus und der Politikverflechtung auf das Kaiserreich übertragen und hiermit unmit-

17 Das Projekt griff auf Konzepte der politikwissenschaftlichen Europa- und Integrationsforschung und insbesondere auf den Multi-Level-Governance Ansatz zurück. Weiterhin wurden politische Prozesse anhand von Phasenmodellen im Sinne des Politikzyklus` unterteilt. 18 Höfer (2017): Einflussnahme. 19 Liedloff (2017): Mitwirkung. 20 Hähnel (2017): Interessenvermittlung. 21 Henrich-Franke (2012): Integration. 22 Zur Quellenbasis s. Hähnel (2017): Interessenvermittlung, S. 48–50; Höfer (2017): Einflussnahme, S. 23–25; Liedloff (2017): Mitwirkung, S. 38–40. 23 Lehmbruch (1967): Proporzdemokratie; ders. (2000): Parteienwettbewerb; Lijphart (1984): Democracies; Schönberger (2001): Parlamentarisierung, S. 663f. Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfram Pyta in diesem Band.

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telbar verbunden Pfadabhängigkeiten in der Entwicklung des Föderalismus in Deutschland und Kontinuitäten in der Funktionsweise föderaler Arrangements betonen.24 1. DAS KAISERREICH ALS MEHREBENENSYSTEM Zunächst bietet es sich aus drei Gründen an, das Kaiserreich als Mehrebenensystem zu betrachten.25 Erstens schuf die Reichsverfassung kein Trennsystem, in dem Gestaltungs- und Funktionsbereiche zwischen den Staatsebenen immer klar abgrenzbar waren. Ressourcen der politischen Steuerung wurde zwar den unterschiedlichen Staatsebenen (Reich, Gliedstaaten, Gemeinden) zugeordnet, die Kompetenzbereiche überlagerten sich allerdings teilweise. Die Reichsebene war zwar den subnationalstaatlichen Ebenen übergeordnet, die Gliedstaaten behielten allerdings weiterhin wesentliche Eigenschaften selbstständiger Staaten. Formalrechtlich waren diese nicht aus der Verfassung abgeleitet, sondern originäre Hoheitsrechte.26 Weiterhin existierten eigene Organe der Gliedstaaten neben den Organen des Gesamtstaates, die in keinem Über- oder Unterordnungsverhältnis, sondern gleichberechtigt nebeneinanderstanden. Schließlich begründete die Reichsverfassung ein asymmetrisches föderales System. Die staatsrechtlichen Kompetenzen verteilten sich ungleich zwischen den Gliedstaaten und ergaben eine abgestufte Rechtsstellung. Reichs- und preußische Institutionen waren staatsrechtlich miteinander verbunden, einige Gliedstaaten besaßen Reservatrechte, andere hingegen nicht. Es fällt also schwer, das gesamte System hierarchisch zu strukturieren. Zweitens übten viele Akteure im Regierungssystem des Kaiserreichs Doppeloder Mehrfachfunktionen aus. Darunter befanden sich institutionalisierte und nichtinstitutionalisierte Mehrebenenakteure. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Personalunion des Monarchen, der als König von Preußen auch Kaiser des Reiches war. Daneben waren auch die Landesregierungen institutionalisierte Mehrebenenspieler durch ihre Mitgliedschaft im Bundesrat, während sich viele Reichstagsabgeordnete als nicht-institutionalisierte Mehrebenenspieler klassifizieren lassen, da sie gleichzeitig ein Landtagsmandat innehatten.27 Diese Akteure entwickelten ihre Politikstrategien vor dem Hintergrund, dass sie auf mindestens zwei Ebenen gleichzeitig agierten und dadurch in unterschiedlichen Regelungssystemen eingebunden waren. Der heuristische Nutzen des Mehrebenenkonzepts liegt in dieser Hinsicht darin, dass es einen funktionalen Zugang bietet und den Fokus auf spezifische Funktionszusammenhänge legt, die sich durch diese Verbindungen der Staatsebenen ergaben. Beispielsweise entstanden Interessen- und Ressourcenabhängigkeiten, 24 Lehmbruch (2004): Föderalismus, S. 348; Haungs (1993): Chancen, S. 121; zum Begriff der Politikverflechtung, s. Scharpf et al. (1976): Politikverflechtung. 25 Zur Konzeptualisierung des Begriffs Mehrebenensystem, s. Benz (2010): Governance. 26 Huber (1988): Verfassungsgeschichte, S. 778. 27 Zu Doppelmandaten im Kaiserreich s. Hähnel (2018): Mehrebenen-Parlamentarismus und den Beitrag von Lennart Bohnenkamp in diesem Band.

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die sich auf die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse auswirkten und spezifische Konfliktlösungsmechanismen schufen. Drittens musste sich die Verfassungsordnung erst noch in der politischen Praxis mit Leben füllen. In der Forschung wurde bereits in den 1970er Jahren die institutionelle Dynamik des Kaiserreichs herausgestellt, die damit einherging, den neuformierten Nationalstaat als einheitlichen Wirtschafts- und Rechtsraum zu festigen. Die politischen Strukturen und staatlichen Aufgabenfelder veränderten sich zwar, die Verfassung wurde allerdings nicht an die gewandelte Verfassungsrealität angepasst. Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit klafften zunehmend auseinander.28 In der Forschung sind drei Entwicklungslinien auf der Reichsebene unumstritten. Erstens löste sich die Reichsverwaltung vom Bundesrat und preußischem Staatsapparat und differenzierte sich zunehmend durch die Gründung von Reichsämtern aus, die quasi in die Funktion von Reichsministerien rückten. Zweitens baute der Reichstag seine Position im Institutionengefüge des Kaiserreichs aus und spielte insbesondere nach 1890 eine wachsende Rolle bei der Gestaltung der Politik. Drittens politisierte sich die Bevölkerung zunehmend. Die Verfassung ließ allerdings nicht nur dem Gesamtsystem, sondern auch den Gliedstaaten erhebliche Freiräume, sich dynamisch fortzuentwickeln. Sie schrieb keine Staatsform für die Gliedstaaten vor und verband die Staatsebenen nur durch einen losen Rahmen miteinander.29 Daher war auch die einzelstaatliche Ebene im Kaiserreich durch eine hohe institutionelle Dynamik geprägt. Die Gliedstaaten waren zwar überwiegend konstitutionelle Monarchien mit gewählten Volksvertretungen. Allerdings unterschieden sich einerseits die formellen Formen politischer Partizipation und informellen Praktiken zwischen den Einzelstaaten. Andererseits entwickelten sich die politischen Systeme auf der subnationalstaatlichen Ebene auch in verschiedene Richtungen. In einigen Gliedstaaten, insbesondere in Süddeutschland, wurde das Wahlrecht demokratisiert und der Landtag konnte seine Stellung im politischen System ausbauen, während in anderen Gliedstaaten vergleichbare Prozesse ausblieben.30 Diese Entwicklungen auf Reichs- und Landesebene betrafen sowohl die Statik zwischen den Staatsebenen als auch die Funktionsweise des Föderalismus im Allgemeinen. Der heuristische Zugriff auf das Kaiserreich als Mehrebenensystem bietet sich in dieser Hinsicht an, um die Gestaltung und den Wandel von ebenenübergreifenden Steuerungs- und Koordinationsinstrumenten zu untersuchen, die sich aus der institutionellen Dynamik ergaben.

28 Vgl. Rauh (1973): Föderalismus; Huber (1988): Verfassungsgeschichte. 29 Vgl. Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 85f.; Mußgnug (1987): Beziehungen, S. 109. 30 Lässig (1995): Wahlrechtsreformen.

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2. DIE FÖDERALE STAATSORDNUNG ALS AUSGANGSPUNKT FÜR HORIZONTALE UND VERTIKALE VERFLECHTUNGEN Die Entstehung der spezifischen Variante des Föderalismus im Deutschen Kaiserreich lässt sich als eine aus der Entwicklung des 19. Jahrhunderts geronnenen institutionellen Lösung der deutschen Frage verstehen. Die Staatsorganisation griff in vielerlei Hinsicht auf föderale Traditionen zurück und passte sich den historischen Realitäten an. Bei der Staatsgründung bestand Legitimationsdruck gegenüber der Nationalbewegung und den ehemals souveränen Landeszentralbehörden. Die Reichsverfassung rekurrierte daher auf Terminologien aus dem alten Reich und nahm auf die historisch gewachsenen Strukturen der Einzelstaaten Rücksicht. Sie bildete zum einen als zentrales Staatsorgan den Bundesrat der Bundesversammlung des Deutschen Bundes nach, um den Regierungen und insbesondere den süddeutschen Staaten den Eintritt in das Kaiserreich zu erleichtern.31 Zum anderen vermied sie semantische Ausdrücke, die auf eine bundesstaatliche Ordnung hindeuteten, und benutzte hingegen solche, die mit einem Staatenbund assoziiert wurden, um die Befindlichkeiten der ehemals souveränen Staaten im Hinblick auf ihre staatsrechtlichen Qualitäten zu schonen.32 Die verfassungsrechtlichen Normen ließen den gewählten Sprachgebrauch allerdings nur als verbale Selbstinszenierung erscheinen. Die Verfassung war – ob bewusst oder unbewusst – so formuliert, dass sie im Sinne einer konstruktiven Zweideutigkeit unterschiedlich interpretiert werden konnte.33 Sie war kurz und knapp gehalten, ließ vieles ungeklärt und eröffnete verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten.34 Schließlich bildete die Weise, wie Aufgaben und damit einhergehend Kompetenzen zwischen den Staatsebenen verteilt wurden, auf zweierlei Art den Ausgangspunkt für vertikale Verflechtungen. Eine Ursache hierfür lag in den Wechselwirkungen zwischen Programmentwicklung der Reichsebene (Gesetzgebung) und Programmvollzug (Gesetzesvollzug) der Landesebene begründet35, die andere in dem Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit von Reich und Gliedstaaten in der Gesetzgebung. In diesem Kontext zeigen Ergebnisse der empirischen Föderalismusforschung, dass moderne Bundesstaaten dazu neigen, immer

31 Hierzu führte Bismarck in seinem Diktat zur künftigen Verfassung Deutschlands aus: „Die Vorzüge dieses Systems bestehen in seiner Anlehnung an das Hergebrachte, dem sich die Regierungen als etwas Gewohntem und Selbstverständlichem leichter fügen werden als jeder neuen Kombination, die ebenso, wie es ursprünglich die Verteilung der Plenarstimmen war, den Charakter der Willkürlichkeit tragen müsste, wenn man nicht etwa auch im Bundestage die Stimmen nach der Bevölkerung verteilen wollte, wodurch die übrigen Regierungen neben Preußen vollständig mundtot gemacht würden.“ S. Bismarck (1929): Werke, S. 169. 32 Vgl. Grimm (2009): Kaiserreich, S. 89. 33 Bismarck führte in seinen Diktaten zur künftigen Verfassung Deutschlands aus: „Man wird sich in der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des Bundesstaates geben mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken.“ S. Bismarck (1929): Werke, S. 167. 34 Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 85. 35 Vgl. Benz (2010): Governance, S. 114.

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mehr Aufgaben zu zentrieren. Damit nehmen auch die Verflechtungen zwischen der Bundesebene und den Gliedstaaten zu.36 Die Reichsverfassung verklammerte die Reichsgesetzgebung mit der Landesexekutive in doppelter Weise und schuf damit ein Kooperationsverhältnis zwischen den Staatsebenen. Die Landesregierungen waren zum einen durch ihre Mitgliedschaft im Bundesrat ein wesentlicher Faktor in der Reichsgesetzgebung und zum anderen für den Vollzug der Gesetze und die Implementierung der beschlossenen Entscheidungen im Bereich der inneren Politik zuständig. Daher verband die Staatsorganisation Vollzugs- und Exekutivföderalismus miteinander.37 Aus dieser Funktionsverknüpfung resultierte, dass sich wesentliche staatliche Aufgaben nur im Zusammenspiel von Reichs- und Landesebene bewältigen ließen und ein hoher Koordinationsbedarf zwischen den Staatsebenen bestand, da das System ohne wechselseitige Kooperationen nicht adäquat funktionieren konnte. Ebenso verankerte diese Verknüpfung bereits in der Reichsverfassung einen ‚Verwaltungsföderalismus‘, der die deutsche Staatsorganisation auch gegenwärtig prägt.38 Der hohe Koordinationsbedarf zwischen der Reichs- und Landesebene förderte ebenenübergreifende Kooperationen. In der politischen Praxis entwickelten sich daher horizontale und vertikale Verflechtungen zwischen den Staatsebenen und Staatsorganen.39 Politik und Verwaltung verzahnten sich zunehmend auf der Ministerialebene, da es sich aus zwei miteinander zusammenhängenden Gründen anbot, die Landeszentralbehörden an der Konzeption der Maßnahmen zu beteiligen, die diese später implementieren mussten. Zum einen erhöhte die Abstimmung zwischen Entscheidungs- und Vollzugsebene die Chancen, beschlossene Maßnahmen erfolgreich umzusetzen – Vorhaben blieben wirkungslos, ohne die nötige Bereitschaft der Landesregierungen, diese auch sorgfältig zu implementieren. Zum anderen waren aufgrund der bundesstaatlichen Verwaltungsstruktur auf der Landesebene Sachkenntnisse und praktische Erfahrungen vorhanden, die im gleichen Maße nicht auf Reichsebene existierten. Diese Expertise war in manchen Fällen notwendig, um die auf Reichsebene zu beschließenden Regulierungsmaßnahmen praxisorientiert zu gestalten und in den Referenzrahmen des gesamten Staatsgebietes einzubetten. Daher institutionalisierten sich im Laufe des Kaiserreichs auf jeder Stufe der politischen Willensbildung Formen der föderalen Interessensvermittlung. Dies führte dazu, dass der Bundesrat nicht immer der Ort war, wo verhandelt und Entscheidungen zwischen den Gliedstaaten untereinander und zwischen den Regierungsebenen getroffen wurden, obwohl er in der Verfassung die einzige institutionelle Verbindung zwischen den einzelnen Landesregierungen und zwischen der Reichs- und Landesebene darstellte.40 Zum einen war das Abstimmungsverfah-

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Binder (1971): Reich, S. 110f.; Benz (2010): Governance, S. 113. Vgl. Lehmbruch (2015): Entwicklungspfad. Mußgnug (1987): Ausführung, S. 188. Für ein Phasenmodell der Verflechtungsprozesse im Kaiserreich, vgl. Henrich-Franke (2018): Integrieren. 40 Die staatsrechtlichen Verschmelzungen von Reichs- und preußischen Institutionen sind an dieser Stelle nicht berücksichtigt.

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ren umständlich, und die Verhandlungen prägte ein statischer Beratungsmodus. Die weisungsgebundenen Delegierten mussten in ständiger Rücksprache mit den Landeszentralbehörden stehen. Sie konnten daher nicht flexibel auf Verhandlungslösungen reagieren. Entscheidungen wurden oftmals vertagt. Zum anderen waren die in der Regel juristisch geschulten Verhandlungsführer nicht immer befähigt, Fachdiskussionen über spezielle Sachthemen zu führen. Dies betraf insbesondere technische Regulierungsfragen über komplexe ökonomische oder wissenschaftliche Zusammenhänge. Die Verfahrensmodalitäten des Bundesrats waren also ineffizient, und Verhandlungen liefen schleppend ab. Daher flankierten den Bundesrat mit der Zeit unterschiedliche Strukturen, in denen ein Ausgleich zwischen abweichenden Interessen der verschiedenen Staatsebenen und den verschiedenen gesetzgebenden Gebietskörperschaften erzielt werden konnte. Sie institutionalisierten sich in der Realität föderaler Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse je nach Politikfeld in unterschiedlichem Ausmaß, auf verschiedenen Entscheidungsebenen und über unterschiedliche Kanäle.41 Dieser Prozess sollte allerdings nicht derart verstanden werden, dass der Bundesrat seine Bedeutung verloren habe oder gar entmachtet worden sei. Vielmehr legitimierte er als konstitutioneller Bezugspunkt, dass sich weitere Abstimmungsstrukturen etablierten.42 Den Gesetzesvollzug konnte das Reich ohne eine verfassungsrechtliche Kompetenz lediglich informell lenken. Es entwickelten sich Instrumente, mit denen das Reich versuchte, Vollzugsstandards der Gliedstaaten anzugleichen. Die Reichsämter traten in die Funktion von Moderatoren und koordinierten die Zusammenarbeit der zuständigen Landeszentralbehörden, damit allgemeine Richtlinien oder gleichlautende Verwaltungsanweisungen erlassen wurden. Mitunter wurde hierfür auch auf den Bundesrat als Verhandlungs- und Beschlussforum zurückgegriffen. Im Falle des Fleischbeschaugesetzes von 1900 institutionalisierte sich ein Expertengremium (Fleischbeschaukommission), das bei strittigen Punkten die Reich-Glied-

41 In der Finanzpolitik etablierten sich schon in den 1870er Jahren Konferenzen auf höchster Regierungsebene zwischen Vertretern der Gliedstaaten und der Reichsadministration als Instrument, um Leitlinien für politische Programme abzustimmen, bevor sie im Bundesrat beraten wurden. Im Politikfeld der Nahrungsmittelregulierung war es seit den 1890er Jahre üblich, dass zumindest die größeren Gliedstaaten in die Politikformulierung eingebunden wurden und sie zu vorläufigen Gesetzesentwürfen Stellung beziehen konnten, bevor die Verhandlungen im Bundesrat begannen. Daneben institutionalisierten sich korporatistische Gremien und Körperschaften, in denen die Medizinalverwaltungen der Regierungsebenen eng zusammenarbeiteten. Die Abstimmung innerhalb dieser Strukturen war in der Regel auch dem formalrechtlichen Gesetzgebungsverfahren vorgelagert. Föderale Einflussnahme fand hingegen bei den Verhandlungen über das Unfallversicherungsgesetz von 1884, über die Revision des Gesetzes in den 1890er Jahren und über die Reichsversicherungsordnung in erster Linie in den Fachausschüssen des Bundesrats durch Spezialisten der mittelstaatlichen Verwaltungen statt. Hier wirkten die Mittelstaaten insbesondere an der materiellen Ausgestaltung der Gesetze mit, s. Hähnel et al. (2015): Mitbestimmung; Hähnel (2017): Interessenvermittlung, Höfer (2017): Einflussnahme; Liedloff (2017): Mitwirkung. 42 Hähnel (2017): Interessenvermittlung, S. 432–443.

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staaten Koordination lenkte.43 Ohne rechtsverbindlich kodifizierte Grundlage bestand in dieser Hinsicht kein Einigungszwang unter den Gliedstaaten. Die Zusammenarbeit ruhte daher auf einer konsensuellen Basis. Durch ihre Bereitschaft, in diesem Rahmen Vollzugsstandards zu harmonisieren, verloren die Gliedstaaten Gestaltungsspielräume ohne eigene Kompetenzen abtreten zu müssen. Ähnliche Koordinationsinstrumente entstanden auch, um gesetzliche Standards auf der Landesebene anzugleichen.44 Die Verfassung untergliederte die Gesetzgebungskompetenz in drei verschiedene Zuständigkeitstypen: Reichszuständigkeit,45 konkurrierende Gesetzgebung46 und Länderzuständigkeit. Im Verlauf des Kaiserreichs nahm die Regulierungsdichte auf Reichsebene zu. Der Staat griff in immer weitere Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft ein. Groß angelegte Reichskodifikationen sollten einen einheitlichen Wirtschaftsraum schaffen. Die Reichsebene machte von ihren Gesetzgebungskompetenzen Gebrauch und begann, den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auszuschöpfen. Daher verringerten sich die Gestaltungsspielräume der Landesregierungen, landesrechtliche Normen zu erlassen. Allerdings erhielten sie im Gegenzug auch neue Kompetenzen, da nun Reichsrecht die entsprechenden Materien regelte und Gesetzesänderungen an die Zustimmung des Bundesrats gebunden waren. Dies kompensierte sicherlich nicht den Verlust autonomer Gestaltungsspielräume, jedoch ging hiermit einher, dass die Landesregierungen ihr Augenmerk zunehmend auf die Reichsebene richteten. Die eigentlichen Verlierer dieser Entwicklung waren die Landtage.47 Sie versuchten daher, Einfluss auf die Reichspolitik ihrer Landesregierungen im Bundesrat zu nehmen. Dies geschah insbesondere in Süddeutschland nach der Jahrhundertwende. Die Landtage etablierten sich dort als relevante Akteure im politischen System und drängten ihre Landesregierungen dazu, auf Reichsebene selbstbewusster aufzutreten.48 In diesem Sinne sahen die Landtage im Budgetrecht ein Mittel, um Einfluss auf die Instruktionserteilung der Bundesratsbevollmächtigten durch die einzelstaatlichen Regierungen zu erhalten. Die Rechtmäßigkeit eines derartigen Vorgehens war in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre umstritten.49 Bestimmte Interpellationen und Initiativen der Landtage kamen den gliedstaatlichen Regierungen auch entgegen und stärkten ihre Verhandlungsposition auf Reichsebene.50 Allerdings gab es auch eine Querverbindung zwischen den Landtagen und dem Reichstag. Schon bei der Gründung des Kaiserreichs waren die parlamentarischen 43 Ebd., S. 276–281. 44 Vgl. Heitsch (2001): Ausführung; Zur horizontalen Koordination landesrechtlicher Standards in den wirtschaftsrelevanten Politikfeldern Arbeitsschutz, Steuern und Eisenbahnen, s. Ambrosius (2018): Dimensionen. 45 In die unmittelbare Reichszuständigkeit fielen das Wahl-, Zoll-, Wehr- und Haushaltsrecht. 46 RV Art. 4. Den Begriff der konkurrierenden Gesetzgebung kannte die Verfassung nicht. Er entwickelte sich erst in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs. 47 Jellinek (1909): Regierung, S. 33. 48 Funk (2010): Föderalismus, S. 244–246. 49 Westphal (1910): Einfluss; Fuchs (1984): Bundesstaaten, S. 95. 50 Zwehl (1983): Verhältnis, S. 116.

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Ebenen personell miteinander verflochten, da seit der ersten Legislaturperiode im Reichstag das gleichzeitige Ausüben eines Landtagsmandats als integraler Bestandteil zur parlamentarischen Kultur gehörte. Fast die Hälfte der Abgeordneten hatte im Jahr ihrer Wahl einen Landtagsitz inne. Diese Reichstagsabgeordneten hatten eine Doppelfunktion als Landes- und Reichsvertreter. Sie schufen personelle Verbindungen zwischen den Landtagen und dem Reichstag, repräsentierten Gliedstaatlichkeit auf Reichsebene und bildeten damit ein Bindeglied zwischen den Regierungsebenen. Diese Verflechtungen waren ein informelles Strukturelement im politischen System des Kaiserreichs, da die Verfassungen auf Reichs- und Landesebene diese Form der Ämterkumulation nicht rechtlich normierten. Durch das Mehrheitswahlrecht auf Reichsebene vertraten die einzelnen Abgeordneten die Interessen ihrer Wahlkreise und argumentierten oftmals landespolitisch. Die Abgeordneten schärften damit ihr Profil für die anstehenden Wahlen. Landespolitik und Wahlkreisinteressen konnten insbesondere bei den kleineren Gliedstaaten häufig kongruieren. In diesen Fällen war das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten regional oder föderal geprägt und teilweise deckungsgleich mit den Positionen der Landesregierungen.51 Der bayerische Doppelmandatsträger Georg Arbogast von und zu Franckenstein rechtfertigte beispielsweise die von ihm herbeigeführte und nach ihm benannte Franckensteinische Klausel im Zollgesetz von 1879 mit föderalen Interessen.52 Außerdem traten die Landesregierungen auch an Abgeordnete aus ihrem Staatsgebiet heran, um Forderungen im Reichstag zu vertreten, mit denen sie sich im Bundesrat nicht durchsetzen konnten.53 Im Rahmen der Finanzreform 1878/7954 nutzte beispielsweise der badische Bundesratsbevollmächtigte Karl Friedrich von Turban erfolgreich seine persönlichen Kontakte zu Reichstagsabgeordneten aus Baden, um die geplante Steuerbelastung für den im Großherzogtum traditionell verbreiteten Anbau und die Fabrikation von Tabak zu senken. Die badische Regierung hatte zwar zuvor dem Entwurf im Bundesrat zugestimmt. Sie entschied sich allerdings bewusst dazu, die Vorlage im Sinne der Landesinteressen im Stillen umzugestalten, um nicht offen in den Konflikt mit den Leitlinien der Reichspolitik des Reichskanzlers zu geraten.55 Ein ähnliches Beispiel lässt sich auch für die Regulierung von Nahrungsmitteln im Falle der Weingesetzgebung zeigen.56 Schließlich verflochten sich die Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse von Bundesrat und Reichstag in der Reichstagskommission, die im Verlauf des Kaiser-

51 Hähnel (2018): Mehrebenen-Parlamentarismus; Ambrosius (2018): Dimension, S. 84–85; Anders s. Ritter (2000): Reichstag, S. 911–913. 52 Nach der Verabschiedung des Tarifgesetzes schrieb Franckenstein seiner Frau: „Dem Zentralismus ist ein föderalistischer Damm gesetzt.“ Zit. n.: Aretin (2003): Franckenstein, S. 105. 53 Zwehl (1983): Verhältnis, S. 116. 54 Zur Verhandlung der Zoll- und Finanzreform von 1878/79 s. Höfer (2017): Einflussnahme, S. 43–108. 55 Reichert (1966): Baden, S. 85–87. 56 Hähnel (2017): Interessenvermittlung, S. 376–383

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reichs Züge eines Vermittlungsausschusses annahm.57 Ein Grund dafür war die Verhandlungsreihenfolge der gesetzgebenden Organe. Nach dem formalrechtlichen Verfahren konnten Gesetze nur durch übereinstimmenden Mehrheitsbeschluss des Reichstags und des Bundesrats verabschiedet werden. Gesetzesinitiativen konnten sowohl aus dem Reichstag als auch aus dem Bundesrat hervorgehen. Dabei machte die Verfassung keine Angaben zur Verhandlungsabfolge der gesetzgebenden Organe. In der Regel ging aber ein Gesetzesentwurf zunächst an den Bundesrat und dann an den Reichstag.58 Im Reichstag erfolgte die eigentliche gesetzgeberische Detailarbeit in der Kommission.59 Um zu verhindern, dass sich die inhaltlichen Vorstellungen der Legislativorgane zu weit auseinanderbewegten und Gesetzgebungsvorhaben scheiterten, nahmen mit der Zeit immer mehr Vertreter der Reichsadministration und des Bundesrats an den Kommissionsverhandlungen teil. Daher entwickelte sich die Reichstagskommission zu einem zentralen Ort der inhaltlichen Kompromissbildung.60 Sie diente als Informations- und Steuerungszentrum, um über den Stand der Verhandlungen im Bilde zu sein und gegebenenfalls eingreifen zu können.61 Ein Grund hierfür war, dass die Reichstagskommission unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagte. In den Kommissionsverhandlungen wurde auch schon das anschließende Votum des Bundesrats vorweggenommen. Die Delegierten der Landesregierungen agierten hier in ihrer Doppelfunktion als Reichs- und Landesvertreter. Einerseits stimmten diese ihre Position mit den Vertretern der Reichsadministration ab und versuchten dem Reichstag gegenüber geschlossen als Bundesrat beziehungsweise „verbündete Regierungen“ aufzutreten. Dies schloss aber andererseits nicht aus, dass die größeren Gliedstaaten im Reichstag begannen, ihren spezifischen landespolitischen Interessen zu folgen und beispielsweise über Doppelmandatsträger oder Abgeordnete, die einen Wahlkreise im eigenen Staatsgebiet vertraten, Änderungsanträge einzureichen.62 Die strikte Trennung zwischen den Organen Reichstag und Bundesrat entsprach nicht der Verfassungswirklichkeit.63

57 Vgl. Ritter (2000): Reichstag, S. 915; Ritter (2005): Föderalismus, S. 28; Henrich-Franke (2018): Integrieren, S. 42–48. 58 In den untersuchten Fallbeispielen im Rahmen des DFG-Projektes ging weder ein Gesetzesentwurf aus dem Reichstag hervor, noch wurde ein Entwurf zuerst im Reichstag eingereicht, s. Hähnel (2017): Interessenvermittlung; Höfer (2017): Einflussnahme; Liedloff (2017): Mitwirkung. 59 Schönberger (2001): Parlamentarisierung, S. 644–646. 60 Vgl. Ullrich (1996): Gesetzgebungsverfahren, S. 133. 61 Im Falle der Unfallversicherung und der Reichsversicherungsordnung nahmen Vertreter der Gliedstaaten seit den 1890er Jahre auch vermehrt an den Reichstagsverhandlungen teil, um die Reichsadministration zu kontrollieren, da sie sich wiederholt nicht an vorherige Absprachen gehalten hatte, s. Liedloff (2017): Mitwirkung, S. 219–363, 407f. 62 Zwehl (1983): Verhältnis, S. 116. 63 Ritter (2005): Föderalismus, S. 28.

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3. FÖDERALISMUS ALS KONFLIKTLÖSUNGSPRINZIP In der Forschung wird betont, dass die konstitutionelle Ordnung gleich in doppelter Weise eine Kompromissstruktur prägte, da sie Elemente eines Bundesstaates und eines Staatenbunds sowie liberale und konservative Strömungen miteinander verband und die Frage, „wie viel Nettomacht jeweils konkurrierende Institutionen besaßen, offen ließ.“64 Dieser Kompromisscharakter der Reichsverfassung spiegelte sich auch in der Koexistenz verschiedener politischer Kulturen auf den unterschiedlichen Staatsebenen.65 Anknüpfend an diese Auffassung lässt sich Föderalismus nicht nur im engeren Sinne als eine spezifische Kompetenzverteilung innerhalb eines Staats begreifen, die sich durch verschiedene Staatsebenen auszeichnet und der einzelstaatlichen Ebene weitreichende und autonome Gestaltungsspielräume lässt, sondern auch weiter gefasst als ein grundsätzliches gesellschaftliches Konfliktlösungsprinzip. Gemeinschaftsbildung erfolgt durch Konsens, der sich in institutionalisierten Formen auf jeder Stufe der politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse ausbildet.66 Nach diesem Ansatz geht es beim Föderalismus um ein verfassungsrechtliches Grundprinzip von allgemeiner Gültigkeit, das Herrschaft durch partnerschaftliche Politik begrenzt. Zugespitzt wird „Machtpolitik“ der „Vereinbarungspolitik“ gegenübergestellt.67 Nach Reinhart Koselleck bieten „föderale Lösungen […] den Vorteil, sich auf ein Mindestmaß an gemeinsamem Recht und gemeinsamer Politik zu einigen, das es erlaubt, ein Höchstmaß an Autonomie der Teilhaber zu sichern.“68 Unter dieses Begriffsverständnis lassen sich auch das Subsidiaritätsprinzip und die Idee der vertikalen Gewaltenteilung subsummieren. Letztere visiert dabei nicht die strikte Trennung der Staatsebenen an. Vielmehr zielt die „Gewaltenteilung im Bundesstaat […] auf wechselseitige Machtbegrenzung, die nur funktioniert, wenn zentrale und dezentrale Einheiten wechselseitig aufeinander einwirken können.“69 Demgemäß waren die institutionelle Verklammerung der Reichsgesetzgebung und Landesexekutive sowie die herausgestellten Interdependenzen zwischen Programmentwicklung der Reichsebene (Gesetzgebung) und Programmvollzug (Gesetzesvollzug) der Landesebene ein Element wechselseitiger Machtbegrenzung. Ebenso kann im Sinne der vertikalen Gewaltenteilung der bundesstaatliche Aufbau und im Speziellen die Bundesratskonstruktion nicht nur als

64 Zitat: Demuth (2005): Macht, S. 224; Der Kompromisscharakter der Reichsverfassung wird unterschiedlich bewertet, es überwiegen jedoch negative Einschätzungen. Beispielsweise charakterisieren Wolfgang Justin Mommsen („System der umgangenen Entscheidungen“) und Hans-Ulrich Wehler („Komplex dilatorischer Kompromisse“) die Verfassung als dilatorischen Kompromiss, während Ernst Rudolf Huber das Verhältnis zwischen Gesamt- und Teilstaat als gelungenen Ausgleich beurteilt, s. Wehler (2006): Gesellschaftsgeschichte, S. 302; Mommsen (1983): Verfassung, S. 197; Huber (1988): Verfassungsgeschichte, S. 778. 65 Ritter (2000): Reichstag, S. 904. 66 Friedrich (1964): Föderalismus, S. 166. 67 Schäfer (1975): Ordnung; Rumpler (1977): Föderalismus, S. 227f. 68 Koselleck (2006): Diesseits, S. 503. 69 Benz (2010): Governance, S. 113.

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ein Bollwerk gegen eine Parlamentarisierung des politischen Systems angesehen werden, sondern auch als eine Institution, die eine gewisse Kontrollrealität gegenüber autoritären Tendenzen der Reichsadministration und des Kaisers entwickeln konnte.70 Die Verbindung von Exekutiv- und Verbundsföderalismus entfaltete allerdings nicht nur eine wechselseitige Machtbegrenzung. Der hiermit untrennbar verbundene hohe Koordinationsbedarf zwischen den Staatsebenen bedingte auch spezifische Entscheidungsfindungsverfahren und -prozesse, denen eine gewisse kollektive Logik inhärent war und die sich nicht unter dem Westminster-Modell fassen lassen. Den hohen Koordinationsaufwand aufgrund der Funktionsteilung zwischen Reichsgesetzgebung und einzelstaatlichem Gesetzesvollzug bewältigten Konkordanzmechanismen71 effizienter als Mehrheitsentscheidungen. Sie bildeten letztendlich auch ein Instrument, um die historisch gewachsenen Verwaltungskörper in den neuen Staat zu integrieren, indem ein proportionaler Interessenausgleich in Aussicht gestellt wurde.72 Daher lässt sich das Kaiserreich zumindest im Hinblick auf seinen föderalen Aufbau als ein Verhandlungssystem charakterisieren, in dem versucht wurde, Entscheidungen über bürokratische Initiativen und interministerielle Zusammenarbeit basierend auf Proporz und Konkordanz zu fällen und nicht durch konsequente Mehrheitsbeschlüsse.73 Konkordanzstrukturen etablieren sich insbesondere in hochgradig fragmentierten Gesellschaften. Mehrheitsentscheidungen, in denen eine Mehrheit eine Minderheit dominiert, bilden in derart heterogenen Gesellschaften kein probates Mittel, um Konflikte dauerhaft zu lösen und die Interessen einzelner Gruppen zu befriedigen. Kompromisse und Verhandlungen unter möglichst breiter Übereinstimmung und Einbeziehung von Minderheiten nach festgelegten Proporzregeln bieten sich als geeignetere Konfliktlösungsmittel an. Vor diesem Hintergrund ist auch die politisch, sozial und kulturell ausgesprochen fragmentierte Gesellschaft des Kaiserreichs zu betrachten, in der traditionelle und moderne Elemente gleichzeitig nebeneinander existierten. Regionale Gegensätze, konfessionelle Spaltung und abgeschlossene sozialmoralische Milieus prägten das Kaiserreich bis zu seinem Untergang. Diese Unterschiede manifestieren sich auch in den einzelnen Gliedstaaten.74 Die Stimmverteilung und das Abstimmungsverhalten im Bundesrat sowie das Interaktionsverhalten zwischen den Gliedstaaten bildeten Konkordanzstrukturen. Ersteres folgte – ob bewusst oder unbewusst – dem Prinzip der degressiven Repräsentation, da nicht nur Preußen, sondern auch die Mittelstaaten Bayern, Sachsen und Württemberg geringere Stimmen hatten, als ihre Gebiets- und Bevölkerungs-

70 Kreuzer (2004): Verfassungsordnung, S. 35. 71 Zum kooperativen Interaktionsverhalten der Gliedstaaten in den Politikfeldern Arbeiterschutz, Steuern und Eisenbahnen s. Ambrosius (2018): Dimensionen; Für die Nahrungsmittelregulierung, s. Hähnel (2017): Interessenvermittlung. 72 Schönberger (2001): Parlamentarisierung, S. 631f. u. 659. 73 Ebd., S. 627. 74 Vgl. Kühne (2005): Demokratisierung, S. 304f.

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anteile im Verhältnis zur Gesamtheit entsprachen. Diese Stimmenverteilung lässt sich nur historisch erklären75 und sollte den Kleinstaaten eine angemessene Repräsentation garantieren. Sie schuf „tatsächlich eine Gewaltengliederung eigener Art.“76 Das Abstimmungsverfahren im Bundesrat sah Mehrheitsbeschlüsse vor, allerdings lag nur formal die rechtliche Entscheidung über Beschlüsse des Bundesrats bei der gesamtheitlichen Vertretung der Gliedstaaten im Plenum. Die zuvor tagenden Ausschüsse des Bundesrats präjudizierten die Entscheidungen. Sie setzten sich in der Regel aus sieben Gliedstaaten zusammen. Hier fanden die Detailverhandlungen statt, jedes Mitglied führte nur eine Stimme, und Preußen hätte leicht überstimmt werden können. Allerdings kam es nur in Ausnahmefällen zu Kampfabstimmungen. Stattdessen folgten die entscheidenden Akteure informell dem Einigkeitsprinzip. Dies bedeutete jedoch nicht, dass Entscheidungen ohne Gegenstimmen verabschiedet wurden. Es bedeutete vielmehr, dass die Maxime galt, konsensfähige Lösung für kleinere und größere Interessengegensätze zu finden. Auch wenn sich schon klare Mehrheiten abzeichneten, wurde die Minderheit nicht überstimmt, sondern weiterverhandelt. Freiwillige Absprachen und konsensorientiertes Verhalten determinierten die Interaktion der Akteure und prägten die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse.77 Sie fanden nicht nur im Bundesrat statt, sondern auch abseits der konstitutionellen Strukturen und bevor das formalrechtliche Gesetzgebungsverfahren überhaupt eingeleitet wurde. Dieses Verhandlungssystem umfasste die größeren und mittleren Gliedstaaten. Die Kleinstaaten, abseits der Hansestaaten, blieben in der Regel außen vor.78 In diesem Rahmen verzichteten auf der einen Seite die Gliedstaaten und insbesondere die Kleinstaaten darauf, Preußen in wesentlichen Sachfragen zu überstimmen.79 Lediglich wenn die Mittelstaaten befürchteten, staatsrechtliche Kompetenzen zu verlieren, oder bei potenziellen Eingriffen in den eigenen Verwaltungsapparat, votierten sie gegen den größten Gliedstaat.80 Auf der 75 Die Stimmenverteilung im Bundesrat wurde mit zwei Ausnahmen der Frankfurter Bundesversammlung nachempfunden. Zum einen erhielt Preußen die Stimmen der 1866 annektierten Staaten. Zum anderen bekam Bayern zwei zusätzliche Stimmen. 76 Unruh (1987): Stellung, S. 266. 77 Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 91; Kreuzer (2004): Verfassungsordnung, S. 35; Liedloff (2017): Mitwirkung, S. 413. 78 Für die Finanzpolitik, s. Höfer (2017): Einflussnahme, S. 343–347; Zu den Hansestaaten im Politikfeld der Nahrungsmittelregulierung, s. Hähnel (2018): Hansestaaten. 79 Dahl (1969): Lübeck, S. 92. 80 Beispielsweise verhinderten in Folge der Hamburger Choleraepidemie Anfang der 1890er Jahre die Mittelstaaten Bayern, Sachsen und Württemberg sowie der Kleinstaat Reuß ä.L. das von Preußen unterstützte Reichsseuchengesetz, da der Gesetzesentwurf den Reichskanzler unter anderem ermächtigte, einen Reichskommissar mit Weisungsbefugnissen gegenüber den einzelstaatlichen Behörden zu bestellen, s. Schneider (1921): Tagen, S. 88; HStAD MA 8629, Schreiben des sächs. Bundesratsbevollmächtigten an das Ministerium des Äußeren, 6. Februar 1893; Ebd., Schreiben der sächs. Gesandtschaft in München an das Ministerium des Äußern, 24. Februar 1893; Um die Jahrhundertwende ließ sich schließlich auf Reichsebene der Reichsgesundheitsrat nur als formal kompetenzloses Konsultationsorgan unter Beibehaltung föderaler

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anderen Seite brachte Preußen den größeren Gliedstaaten, insbesondere, wenn ein oder mehrere Königreiche einer Angelegenheit besonderen Wert beimaßen, eine hohe Konzessionsbereitschaft entgegen, um diese durch Zugeständnisse für das jeweilige Vorhaben zu gewinnen.81 Auf diese Verhaltensnorm haben schon Zeitgenossen aufmerksam gemacht.82 Walter Jellinek charakterisierte sie als „ungeschriebenen Verfassungsbrauch“ und „Verfassungsgrundsatz“. Er verstand darunter rechtlich nicht kodifizierte Regeln, die in Betracht gezogen werden müssen, um zu verstehen, wie das von der Verfassung vorgegebene System funktioniere. 83 Diese kooperative politische Kultur knüpfte an analoge Verhandlungstraditionen aus vergangenen staatlichen Zusammenschlüssen an und entwickelte konkrete Züge im Deutschen Zollverein.84 Das Streben nach einstimmigen Beschlüssen wurde noch durch zwei weitere Faktoren unterstützt. Zum einen förderte der nichtöffentliche und vertrauliche Verfahrensmodus des Bundesrats85 die Kompromissbereitschaft. Zum anderen über-

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Organisationsprinzipien und Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesrats errichten, s. Hähnel (2017). Interessenvermittlung, S. 459–463. Beispiele aus dem Politikfeld Verkehr stellten die Verhandlungen über die Entwürfe eines Reichseisenbahngesetzes zwischen 1874 und 1875 dar, s. Henrich-Franke (2012): Integration, S. 149–241; Weichlein (2004): Nation, S. 66; Für ein Beispiel aus dem Aktienrecht, s. Selgert (2018): Entscheidungsfindung, S. 170f.; Ein Beispiel aus der Sozialpolitik, das allerdings nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit staatsrechtlichen und administrativen Kompetenzen steht, bildet der erste Entwurf eines Erweiterungsgesetzes zur Unfallversicherung. Dieser scheiterte 1896 in den Bundesratsausschüssen, weil die Interessen der außerpreußischen Gliedstaaten übergangen wurden, s. Hähnel et al. (2015): Mitbestimmung, S. 114–123; Liedloff (2017): Mitwirkung, S. 252–262. Lerchenfeld-Köfering (1935): Erinnerungen, S. 192. Jellinek (1929): Wandlungen, S. 140f. Der badische Bundesratsbevollmächtigte Eugen von Jagemann charakterisierte dieses System folgendermaßen: „im Allgemeinen herrschte ein guter föderaler Geist gegenseitigen Hebens, Tragens, Ausgleichens, richtigen Maßes, Förderung des Ganzen, bei dem es selten Sieger und Besiegte, meist ein endliches Einverständnis gab,“ s. Jagemann (1925): Jahre, S. 110; ähnlich beschrieb es der langjährige bayerische Gesandte Hugo von Lerchenfeld-Köfering: „Nicht überstimmen, sondern sich verständigen!“, s. Lerchenfeld-Köfering (1935): Erinnerungen, S. 194; Bismarck beschrieb das Entscheidungsverfahren des Bundesrats am 16. März 1869 im Reichstag: „Wenn wir die Bundespolitik so auffassen, dass wir im Bundesrat eben einfach abstimmen, zusammenzählen und, wo zweiundzwanzig Stimmen sind, sagen: Der hat recht, wo nur einundzwanzig sind, der hat unrecht [...], dann wäre das Geschäft für mich sehr vereinfacht und viel angenehmer. Aber so behandeln wir die Sache nicht. [...] Nun liegt aber zwischen souveränen verbündeten Regierungen die Sache anders als zwischen einzelnen Mitgliedern eines Abgeordnetenhauses; man braucht die Waffe der Majorität mit mehr Schonung, und ich glaube, man tut im Interesse der Bundespolitik wohl daran. Wir suchen die Regierungen, die mit uns nicht gleicher Meinung sind, zunächst zu überzeugen und suchen ihre Übereinstimmung zu gewinnen; namentlich, wenn gewichtige Stimmen widersprechen, verhandeln wir mit ihnen, machen Kompromisse und Konzessionen [...].“ 8. Sitzung am 16.03.1869, Stenografischer Bericht, Leg. 1, Sess. 1869, Bd. 1, S. 92. Jellinek (1929): Wandlungen, S. 140f. Schröcker (1966): Verfassungsrecht, S. 156ff.; Clark (2007): Preußen, S. 454; Kreutzmann (2015): Föderalismus. Fuchs (1984): Bundesstaaten, S. 83–101.

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nahm der Reichskanzler durch die Lex Bennigsen die Verantwortung für die Beschlüsse des Bundesrats86 und musste diese vor dem Reichstag vertreten. Ein geschlossenes, nach außen sichtbares kollektives Auftreten des Bundesrats gegenüber dem Reichstag verbesserte die Verhandlungsposition des Reichskanzlers und war ein starkes Argument für den eigenen Führungsanspruch. Insofern hatte auch der Reichskanzler ein Interesse daran, einen breiten Kompromiss im Bundesrat zu erzielen. Da Konflikte zwischen den Regierungsebenen und zwischen den Gliedstaaten nicht über Mehrheitsentscheidungen bewältigt wurden, bildeten Interessensgegensätze zwischen den Landesregierungen die Quelle für synthetisierte Problemlösungen. Dies bedeutete allerdings auch, dass inhaltliche Differenzen teilweise ausgeklammert und Verhandlungen in die Länge gezogen wurden. Ungenaue Formelkompromisse oder Einigungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner waren Möglichkeiten, um in Auseinandersetzungen zwischen gegensätzlichen Positionen zu vermitteln. Konkrete Entscheidungen konnten in die gliedstaatlichen Subsysteme verlagert oder in den Auslegungsspielraum des Maßnahmenvollzugs gelegt werden.87 4. FAZIT Die Konzeptualisierung des Kaiserreichs als Mehrebenensystem schärft den Blick für Funktionszusammenhänge und die allmähliche Etablierung spezifischer Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren, die sich aus der Struktur der Verfassung ergaben. Sie liefert eine neue Perspektive auf das politische System des Kaiserreichs und insbesondere auf informelle Wandlungsprozesse. Der Föderalismus im Kaiserreich war eben nicht nur eine Sinnstiftungspraxis, um die Befindlichkeiten der ehemals souveränen Gliedstaaten zu schonen und auf dem Verfassungspapier ihre Bedeutung herauszustellen. Vielmehr schuf die spezifische Variante des Föderalismus im Kaiserreich ein System zunehmend interdependenter Handlungsebenen. In der Art und Weise wie die Verfassung Funktionen, Kompetenzen und Aufgaben zwischen den Staatsebenen und Staatsorganen verteilte, war schon die Keimzelle für eine zunehmende vertikale Ent- und Verflechtung der Staatsebenen als auch horizontale Verflechtung der Staatsorgane angelegt. Dies führte dazu, dass sich das institutionelle Gefüge des Regierungssystems gravierend veränderte und Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit zunehmend auseinanderklafften. Die Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse in den gesetzgebenden Organen Bundesrat und Reichstag waren miteinander verwoben, die informelle Koordination des Gesetzesvollzugs stellte die Reich-Gliedstaaten-Beziehung auf eine neue Grundlage und zwischen den Ebenen angesiedelte informelle und formelle Kooperationsstrukturen ergänzten das in der Reichsverfassung umrissene Abstimmungsverfahren zwischen den Staatsebenen. Weiterhin erforderte das föderale institutio-

86 RV Art. 17 Satz 2. 87 Hähnel (2017): Interessenvermittlung, S. 443 u. 482.

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nelle Arrangement eine Konsens- und Kompromissbereitschaft zwischen den Staatsebenen und zwischen den Gliedstaaten und förderte Konkordanzstrukturen. Im Abstimmungsverhalten der Gliedstaaten im Bundesrat zeigte sich zwar die ausgeprägte Asymmetrie im föderalen Staatsaufbau, diese wurde jedoch durch die Praxis der konsensorientierten Willensbildung abgeschwächt und milderte das preußische Übergewicht. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, soll an dieser Stelle noch deutlich betont werden, dass Preußen natürlich eine hegemoniale Stellung im politischen System einnahm, die nicht in Abrede gestellt werden kann. Insbesondere bei hochpolitischen Fragen und wenn vitale Interessen Preußens tangiert waren, bestimmte der größte Gliedstaat maßgeblich die Politik im bundesstaatlichen Gefüge. Allerdings lässt die Konzentration auf diese Fälle das eigentliche Tagesgeschäft des politischen Betriebs außer Acht, das ebenso wichtig ist, um das politische System adäquat zu bewerten. Damit sind Spezialgesetze, Verordnungen, Ausführungsbestimmungen oder die Harmonisierung landesrechtlicher Standards gemeint, die weniger im Blick der Öffentlichkeit standen, allerdings notwendig waren, um einen einheitlichen Wirtschafts- und Rechtsraum zu formen und an die Herausforderungen der sozioökonomischen Umwandlungsprozesse des ausgehenden langen 19. Jahrhunderts anzupassen. Diese Facette des politischen Systems des Kaiserreichs ist in der Forschung bisher nur randständig behandelt worden und erhielt keinen Eingang in übergreifende Darstellungen zur Geschichte des Kaiserreichs. In diesem Sinne konnten sich der Löwe und die Maus doch konföderieren, um am Ende dieser Ausführungen zu Constantin Frantz zurückzukommen. Die Historiographisierung des Föderalismus im Kaiserreich ist immer noch von zeitgenössischen Denk- und Deutungsmustern geprägt. Dabei zeigen sich zum einen eine offensichtliche Strukturähnlichkeit zwischen der spezifischen Föderalismusvariante des Kaiserreichs und dem föderalen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland und zum anderen ausgeprägte Kontinuitäten in der institutionellen Dynamik beider föderaler Systeme. Dies sind, um nur ein paar Beispiele zu nennen, die Verbindung von Exekutiv und Vollzugsföderalismus, Koordinationsprobleme im Bereich der konkurrierenden und kooperativen Kompetenzwahrnehmung der nationalstaatlichen und subnationalstaatlichen Ebene, die Entstehung informeller Steuerungsgremien wie beispielsweise Ministerpräsidentenkonferenzen und die zunehmende Verflechtung zwischen den Staatsebenen. In dieser Hinsicht prägt uns der Föderalismus des Kaiserreichs noch heute. QUELLEN Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (HStA): - 10717 Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten, 8629.

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KAISERREICH KANN KOMPROMISS Wolfram Pyta 1. KOMPROMISSE IN VERHANDLUNGSSYSTEMEN Der Kompromiss erfreut sich in Zeiten verschärfter Polarisierung ansteigender Wertschätzung. Denn er bändigt die Flut des Populismus, weil er darauf vertraut, dass gutes Regieren auf Verfahrensabläufen beruht, welche Institutionen und deren Träger so ausrichten, dass der Ausgleich von Interessen zum Fluchtpunkt politischen Handelns erhoben wird. Die Selbstbesinnung auf die Grundlagen einer liberalen Demokratie hat die Unverzichtbarkeit des Kompromisses unterstrichen.1 In der politischen Praxis wie der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland ist der Kompromiss fest verankert. Gewiss spielt dabei eine wichtige Rolle, dass das politische System der Bundesrepublik kompromisshaftes Agieren der Institutionen und deren Träger begünstigt. Doch ist der Kompromiss ein legitimes Kind der zweiten deutschen Demokratie oder reichen seine Wurzeln viel weiter zurück – mindestens bis in den ersten deutschen Nationalstaat? Diese Frage aufzuwerfen, heißt zugleich, den ersten deutschen Nationalstaat einer Neubetrachtung zu unterziehen. Es ist die Leitthese der vorliegenden Betrachtung, dass in das Deutsche Kaiserreich der Kompromiss sowohl institutionell als auch kulturell eingeschrieben war. Dies bedeutet zum einen, dass das von 1871 bis 1914 währende politische System so konstruiert war, dass sich kompromisshafte Verfahren entwickeln konnten und im Laufe der Zeit einen immer erheblicheren politischen Stellenwert erlangten. Zum anderen gründete dieses kompromissförmige Agieren auf einem bestimmten kulturellen Fundament: Als praxeologische Leitschnur hatte sich der Kompromiss tief in die politische Kultur des Kaiserreichs eingegraben. Eine solche Neuakzentuierung des Kaiserreichs kann aus nachvollziehbaren Gründen an dieser Stelle nur skizzenhaft erfolgen. Es ist geplant, die in diesem Aufsatz angerissenen Aspekte demnächst in monographischer Form auszubreiten. Zugleich sei vorab betont, dass der hier gewählte Blick nicht die Befunde der etablierten Kaiserreichsforschung bestreitet.2 Es soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass im Kaiserreich wichtige politische und kulturelle Felder existierten, in denen der Kompromiss nicht hoch im Kurs stand.3 Das Militär bildete eine kompromiss-

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Nonn (2020): Wie Demokratien enden, S. 309–328. Studien, die sich als geschichtspolitische Streitschriften verstehen wie das Buch von Conze (2020): Schatten, werden an dieser Stelle nicht berücksichtigt. Stellvertretend für die im Folgenden aufgezählten Punkte sei auf die eindrucksvolle Darstellung von Wehler (1995): Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, verwiesen.

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freie Zone, nahm eine extrakonstitutionelle Stellung ein und entzog sich damit tendenziell dem Einfluss auf Kompromiss gepolter Akteure. Speziell in Preußen nutzten vor allem agrarische Interessengruppen ihre Vetofunktion, um einseitige Interessenpolitik zu betreiben, die alles andere als den Geist des Kompromisses atmete. Die monarchischen Spitzen waren ebenfalls keine Aushängeschilder einer Kompromisskultur; die sie umgebenden höfischen Zirkel ebenfalls nicht. Der Reichsmonarch war ebenfalls dem Kompromiss nicht zugeneigt, sondern postulierte vielmehr einen auf seine Person zugeschnittenen Herrschaftsanspruch, der freilich an der komplexen Realität des politischen Systems rasch zerschellte. Der erste Reichskanzler, Otto von Bismarck, verschaffte sich eine herausragende Position, weil er sich zu Lasten der politischen Träger der Kompromisskultur politisch entfaltete.4 Aber auch Bismarck kam nicht umhin, dem Kompromisswillen wichtiger Akteure gelegentliche Zugeständnisse zu machen. Worin besteht der heuristische Mehrwert, ungeachtet dieser Befunde einen neuen Zugriff zum Kaiserreich zu wählen und dessen Kompromissfähigkeit zum archimedischen Punkt dieses Beitrags zu erheben? Der Hauptgrund ist der, dass auf diese Weise ein begrifflicher wie systematischer Zugang gefunden wird, um die Komplexität des Kaiserreichs angemessen analysieren zu können. Klassiker der Forschung wie Wolfgang J. Mommsen haben in nuce bereits mit dem Begriff „Kompromiss“ operiert, ohne ihn allerdings zur Zentralkategorie zu erheben. Dabei hat Wolfgang Mommsen schon 19785 eine Problemskizze des Regierens im Kaiserreich vorgelegt, deren analytische Schärfe die Komplexität dieses politischen Systems freilegt. Es lohnt sich, seine wichtigsten Erkenntnisse in Erinnerung zu rufen: Als Bundesstaat verschrieb sich das Reich dem mühsamen Geschäft des Austarierens der Interessen seiner Bundesmitglieder. Die Reichsleitung war auf die legislative Kompetenz eines Parlaments angewiesen, das nach einem demokratischen Männerwahlrecht zusammengesetzt war und das daher wie ein Seismograph den politischen Reifegrad von Gesellschaft und Kultur abbildete. Politische Parteien fungierten als Organisatoren und Beschleuniger eines immer stärkeren Partizipationsverlangens, das sich allerdings an den autoritären Machtreservaten der preußisch-deutschen Militärmonarchie brach. Mommsen folgert aus dieser Komplexität zu Recht, dass selbst ein Bismarck nicht einfach durchregieren konnte und dass stattdessen ein komplexes und schwer zu steuerndes Interaktionsgefüge die politischen Rahmenbedingungen absteckte: „Nicht nur der Reichstag, auch die Regierung war zu positiver Politik nur imstande, wenn es zu einer Verständigung zwischen diesen so überaus verschiedenartig fundamentierten und zusammengesetzten Verfassungsfaktoren kam.“6 Für Mommsen ist sein „System umgangener Entscheidungen“ Ausdruck der Komplexität eines politischen Systems, das auf „Verständigung“ geeicht war, weil es keine eindeutigen hierarchischen Strukturen gab. Die analytisch fruchtbare Kate4 5 6

Pflanze (1998): Reichskanzler, S. 595 und S. 674. Vgl. Mommsen (1978): System umgangener Entscheidungen. Ebd., S. 257.

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gorie, die den systemischen Zwang zu Verständigung und Kooperation auf den Begriff bringt, ist von Mommsen dabei immer wieder in Anspruch genommen worden: der Begriff „Kompromiß“.7 In diesem Beitrag soll es darum gehen, das analytische Potential der Kategorie „Kompromiss“ stärker auszuschöpfen als dies die geschichtswissenschaftliche Forschung bislang getan hat. In Gesamtdarstellungen8 wie einzelnen Abhandlungen wird gelegentlich dem Kaiserreich eine kompromisshafte Anlage attestiert, ohne dass dieser Befund jedoch systematisch ausgeschöpft worden wäre. Eine Ausnahme stellt ein überaus instruktiver Aufsatz von Carl-Wilhelm Reibel aus dem Jahre 20119 dar, der vor allem mit Blick auf die Parteien eine vielversprechende, auf den Kompromiss fokussierte Forschungsskizze vorgelegt hat. Vergleichende verfassungshistorische Studien gehen gelegentlich auf einen im deutschen Konstitutionalismus angelegten Hang zum Kompromiss ein, ohne diese Befunde systematisch weiter auszuführen.10 Allerdings hat Ernst Rudolf Huber in einem wenig beachteten Beitrag der konstitutionellen Monarchie „die Bereitschaft und Fähigkeit des koordinierten Verfassungsfaktoren zum Kompromiss“11 attestiert und damit den systemischen Stellenwert des Kompromisses für ein funktionierendes Verfassungsgefüge unterstrichen. Die Unterbelichtung des Kompromisses liegt auch daran, dass die Historie hinsichtlich der Ausschöpfung des heuristischen Potentials des Kompromiss-Ansatzes anschlussfähige Erkenntnisse von Nachbarwissenschaften bislang nicht intensiv genug rezipiert hat. „Kompromiss“ ist im Begriffshaushalt solcher Wissenschaften fest verankert, die der Frage nachgehen, wie politische Systeme einer bestimmten Komplexitätsstufe mit sich daraus ergebenden Anforderungen an den politischen Prozess umgehen. In der Politikwissenschaft ist damit ein Kernelement der sogenannten „Governance“-Forschung angesprochen12; aber auch die Rechtswissenschaft beschäftigt sich hiermit; und eine an Niklas Luhmann angelehnte Soziologie ohnehin. Alle diese Disziplinen bescheren der Geschichtswissenschaft wichtige Einsichten zur begrifflichen Konturierung des Kaiserreichs – unter der Prämisse, dass das Kaiserreich als ein sogenanntes „Verhandlungssystem“ gelten kann: als ein komplexes politisches System mit einer Vielzahl entscheidungsbeteiligter Insti-

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Mommsens Aufsatz setzt den Begriff „Kompromiß“ oder die an ihn angelehnten Adjektive konsequent ein, um den strukturellen Verständigungszwang des Kaiserreichs zu untermauern, ebd., S. 244, S. 258–260, S. 262 und S. 264. 8 Eine Fülle verstreuter Befunde bei Pflanze (1997): Reichsgründer, S. 670–689 und S. 719 sowie Pflanze (1998): Reichskanzler, S. 76f.; S. 80f., S. 122, S. 140, S. 202, S. 213, S. 259–261, S. 273, S. 613, 9 Reibel (2011): Bündnis und Kompromiss 10 Vgl. die Vielzahl von Belegen in Kirsch (2002): Verfassungsstaat, vor allem S. 59, 109–111 und S. 119 11 Huber (1970): Bismarcksche Reichsverfassung, S. 192. 12 Vgl. dazu vor allem Benz / Scharpf / Zintl (1992): Horizontale Politikverflechtung; Benz (2004): Governance; Schuppert / Zürn (2008): Governance; Voigt (1995): Der kooperative Staat.

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tutionen und Akteure, das einen systemischen Zwang zu kompromisshaftem Ausgleich einschließt. Dem Kaiserreich wird mithin eine Steuerungsfähigkeit attestiert, die seinem systemadäquaten Umgang mit diesem Grundproblem komplexer Staatlichkeit geschuldet ist. Dieser Ausgleichsmodus wirft für das jeweilige politische System „Kooperationsgewinne“13 ab – auch deswegen, weil es die Legitimität eines solch ausgeklügelten Verhandlungssystems durch die Einbindung vieler Verfahrensbeteiligter erhöht. Auf diese Weise sind wir zugleich zu einer Begriffsbestimmung gelangt, die diesem Beitrag zugrunde liegt: In Anlehnung an die Erkenntnisse der „Governance“-Forschung soll Kompromiss den institutionalisierten Modus einer auf Entscheidung ausgerichteten Handlungskoordination in Verhandlungssystemen bezeichnen.14 Wenn der analytische Schwerpunkt auf die soziale Handlungskoordinierung gelegt wird, ergibt sich daraus eine Fokussierung auf das institutionelle Arrangement des politischen Systems. In Bezug auf das Kaiserreich bedeutet dies, dass eine Vielzahl von Einrichtungen an Entscheidungen partizipierte und dass sich dabei unterschiedliche Ebenen miteinander verflochten. Dieser Befund trifft für das Kaiserreich schon deshalb zu, weil es sich um ein ausgeprägt föderales Staatswesen handelte und daher die Koordination zwischen der einzelstaatlichen Ebene und der Reichsebene zwingend erforderlich war. Der analytische Vorzug der Kategorie „Kompromiss“ besteht auch darin, dass sie bereits zeitgenössische Wissenschaftler zur terminologischen Etikettierung des spezifischen Ausgleichscharakters des Kaiserreichs benutzten. Zwei Gründerväter der deutschen Soziologie, Georg Simmel und Ferdinand Tönnies, haben beide im Jahre 1908 in dieser Hinsicht gehaltvolle Abhandlungen verfasst 15, die allem Anschein nach von der Simmel- und Tönnies- Forschung bislang kaum rezipiert wurden.16 Beide zählen den Kompromiss zu einer Kulturtechnik, die sich auch für die „praktische Politik“17 vorzüglich eigne, weil sie vor allem die politischen Parteien zur Verständigung auf übergreifende pragmatische Ziele anhalte. Zugleich trug der Kompromiss nach dem Urteil maßgeblicher politischer Akteure auch wesentlich zum Funktionieren eines konstruktiven Parlamentarismus bei. Ludwig Windthorst, der sich als parlamentarischer Gegenspieler Bismarcks einen Namen machte18, hat bereits zwei Jahre nach dem ersten Zusammentritt des Deutschen Reichstags das Hohelied des Kompromisses angestimmt als Grundgesetz parlamentarischen Handelns. Der Zentrumspolitiker Windthorst betonte im Juni 1873 die systemisch angelegte Notwendigkeit, „Kompromiß zu machen, d.h. entgegenzukommen anderen

13 Scharpf (1992): Einführung, S. 21. 14 Vgl. Benz (2004): Einleitung, S. 25; Börzel (2008): Schatten der Hierarchie, S. 119; Schuppert (2011): Alles Governance?, S. 28. 15 Vgl. Tönnies (1908): Kompromisse sowie Simmel (1908/1992): Ende des Streits. 16 Knapper Hinweis auf Simmel und Tönnies bei Voigts (1994): Kompromiss, S. 197. 17 Tönnies (1908): Kompromisse, S. 933. 18 Zu Windthorst ist grundlegend Anderson (1988): Windthorst.

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auch berechtigten Anschauungen. […] Auf diesem Ausgleichen und Entgegenkommen beruhen überhaupt die Ordnungen parlamentarischer Verhältnisse.“19 Wenn im Folgenden die Kompromisskultur und Kompromisspraxis im Kaiserreich akzentuiert wird, bedeutet dies nicht, dass die zunehmende Etablierung kompromissförmiger Verfahren die konstitutionelle Monarchie zwangsläufig in ein parlamentarisches System transformiert hätte. Ein mit dem Siegeszug der Kompromisskultur einhergehender Einflussgewinn des Reichstags konnte sich auch darin gefallen, die Kontrollrechte des Parlaments maximal auszureizen und sich damit vom entscheidenden Schritt – nämlich der Berufung und Abberufung der Regierung durch das Parlament – abbringen zu lassen.20 Aber auch wenn eine am Kompromiss angelehnte politische Praxis nicht in eine parlamentarische Regierungsform einmünden muss, so bildet doch der Kompromiss als kulturelle Grundlage wie als etablierte Verfahrensform eine unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren parlamentarischer Systeme.21 Der Kompromiss bedurfte keiner demokratischen Herrschaftsordnung, um zur Entfaltung zu kommen. Aber er bildete den kulturellen Nährboden, auf dem demokratisch-parlamentarische Aushandlungsverfahren gedeihen konnten.22 2. KOMPROMISSDISPOSITIV Es ist die zweite Leitthese dieses Beitrags, dass der Kompromiss nicht nur ein pragmatischer Verfahrensweg war, um ein komplexes politisches System steuern zu können. Er konnte diesen Status deswegen erlangen, weil sich eine Disposition zum Kompromiss tief in die Kultur des Kaiserreichs eingegraben hatte. Begrifflich und methodisch lässt sich die kulturelle Verankerung des Kompromisses auf zweierlei Weise angehen. Die Diskurstheoretiker Jürgen Link23 und Rolf Parr haben den Blick dafür geschärft, dass die Handlungsorientierung von Diskursen besonders ausgeprägt ist, wenn ihnen der Status von Normalität zuerkannt wird. Daher ist es heuristisch ergiebig, eine „normalistische Rahmung von Kompromissen“24 (Rolf Parr) als Fundament dafür anzusehen, dass der Kompromiss eine derartige Handlungsrelevanz erreichte. Kompromisse standen als Gradmesser politischen Handelns demnach deswegen hoch im Kurs, weil sie dem Ideal des Normalen entsprachen. Für den Katholizismus ist dieser Befund empirisch untermauert worden: In der kirchlich geprägten katholischen Lebenswelt setzte sich in der zweiten Hälfte

19 So Ludwig Windthorst in der 60. Sitzung des Reichstags vom 24. Juni 1873, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. I. Legislatur-Periode, IV. Session, Bd. 2, Berlin 1873, S. 1397; den Hinweis auf diese Rede Windthorst verdankt der Verfasser Dr. Sebastian Rojek. 20 So die scharfsinnige Argumentation von Schönberger (2001): Überholte Parlamentarisierung. 21 Pyta (2020): Weimarer Republik als Experimentierfeld demokratischer Kompromißkultur. 22 Richter (2021): Aufbruch in die Moderne, S. 7f. 23 Vgl. vor allem Link (2006): Versuch über den Normalismus, insbesondere S. 280–295. 24 Parr (2019): Kompromisse.

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des 19. Jahrhunderts ein Dispositiv durch, das man als „Regeldispositiv“ bezeichnen kann. Dieses „Regeldispositiv“ lehnte sich an im Umlauf befindliche, empirisch feststellbare Verhaltensnormen an und kann daher als ein Normalismusdispositiv gelten, in das auch der Hang zu kompromisshaftem Handeln einfloss. Versteht man unter „Dispositiv“ das zweckgerichtete Verhältnis zwischen Diskursen und Praktiken samt ihnen korrespondierenden Institutionen, dann lautet die Kernaussage: Das Deutschen Kaiserreich zeichnete sich durch ein Kompromissdispositiv aus, das den Status eines Normalismusdispositivs besaß. Einen ähnlichen Befund erhält man, wenn man Ergebnisse der Politischen Kulturforschung heranzieht. Der von der Geschichtswissenschaft immer noch viel zu wenig rezipierte Karl Rohe, ein Brückenbauer zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft, hat in einem perspektivenreichen Aufsatz bereits im Jahre 1990 das begriffliche Gerüst für einen solchen Zugriff bereitgestellt. Rohe und mit ihm die Politische Kulturforschung25 verweisen darauf, dass politische Ordnungsvorstellungen erst dann politikmächtig werden, wenn sie in die Deutungs- wie Soziokultur Eingang gefunden haben und damit in das kulturelle Fundament eingelassen sind. So kann dem Kompromiss ein fester Platz in der politischen Kultur zugewiesen werden: als operatives Prinzip, welches das Handeln der politischen Akteure zu steuern vermag.26 Doch damit ist das heuristische Potential Rohes für unsere Fragestellung noch nicht ausgeschöpft. Rohes feine Unterscheidung zwischen der Ausdrucksseite und der Inhaltsseite der politischen Kultur27 wirf auch für die Exploration des Kompromisses weiterführende Erträge ab. Denn sie weist einer heuristischen Suchbewegung ihre Richtung, indem sie diese auf die sprachliche Seite des Kompromisses verweist. Ein Aushandlungsverfahren sprachlich mit nüchternen Termini zu bezeichnen und auf eine auftrumpfende Kraftsemantik28 zu verzichten, ist ein bewusster kommunikativer Akt, der mit sprachlichen Mitteln auch emotional konnotierte Deutungshoheit über Entscheidungen herzustellen versucht. Hinter verschlossenen Türen den Kompromiss praktizieren, um ihn danach in der Öffentlichkeit zu verleugnen und semantische Spurenverwischung zu betreiben, wäre das Gegenteil einer Kompromisskultur, in welcher der Kompromiss einen festen semantischen Stellenwert besitzt. Insofern führt die konsequente Verfolgung dieser Spur dazu, der Begriffsgeschichte systematische Aufmerksamkeit zu schenken und nach dem Stellenwert des Kompromisses im politischen Begriffshaushalt des Kaiserreichs Ausschau zu halten.29 Dabei wollen wir die Frage anreißen, ob der semantische Preis für kompromissförmiges Entscheiden darin bestand, auf die Konstruktion mit-

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Rohe (1992): Wahlen und Wählertraditionen, S. 14–18. Rohe (1990): Politische Kultur, S. 334–336. Ebd., S. 337. Vgl. Gehring (2019): Probleme politisierter Kraftsemantik. Zur Methode der Begriffsgeschichte vgl. vor allem Steinmetz (2008): Vierzig Jahre Begriffsgeschichte; Müller / Schmieder (2016): Begriffsgeschichte.

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reißender Fahnenwörter30 ebenso zu verzichten wie auf eine emotional anrührende Geltungsgeschichte. Welche Inneneinsichten in die politische Kultur des Kaiserreichs eröffnen sich, wenn man die Genese einer kompromisshaften Entscheidung nicht in die Narration eines siegreichen Kampfes oder einer mannhaften Niederlage kleiden konnte? Wie kann sich der Kompromiss gegen dezisionistische Entscheidungsformen behaupten, die im Kompromiss eine Schrumpfform „eigentlichen“ Entscheidens erblicken?31 Ganz allgemein gesprochen: Welche Rückschlüsse auf Entscheidungskulturen32 ergeben sich aus dem Stellenwert des Kompromisses? Rohes Hinweis auf die Inhaltsseite der politischen Kultur sensibilisiert den Forscher für den Handlungsaspekt von politischer Kultur33 und daran anschließend für den Entscheidungscharakter des Kompromisses: Der Kompromiss ist als eine spezifische Variante von Entscheidungshandeln zu begreifen, bei dem institutionell legitimierte Verfahrensbeteiligte aus den ihnen vorliegenden Handlungsalternativen sich für diejenige Lösung entscheiden, die von allen mitgetragen werden kann.34 Kompromiss ist also keineswegs ein Prozess ergebnisoffener Deliberation, sondern ein entscheidungsförmiges Verfahren, das über einen wichtigen legitimatorischen Vorzug verfügt: Denn seine Bindungskraft erstreckt sich auf eine möglichst große Anzahl Verfahrensbeteiligter und legt damit eine Vielzahl von Akteuren auf eine gemeinsam getroffene Lösung für einen fest umrissenen Zeitraum fest. Daran schließt sich die Frage nach einem spezifischen Entscheidungsstatus des Kompromisses an: Besitzt hinsichtlich des „Entscheidens über Entscheidungen“35 der Kompromiss eine andere Qualität als Entscheidungen, die ohne Aushandlungsverfahren zustande kamen? Fehlt dem Kompromiss daher der Bekenntniszwang und die Verantwortungszurechnung, die „einsame Entscheidungen“ ausmachen? 3. FÖDERALISMUS ALS KOMPROMISSTREIBER Damit verfügen wir über einen begrifflichen und methodischen Kompass, um das Kaiserreich zu inspizieren. Dabei konzentrieren wir uns im Sinne der leitenden Fragestellungen auf diejenigen Bereiche, in denen eine Kompromisskultur das politische Handeln der leitenden Akteure prägte: die Beziehungen zwischen der Reichsgewalt und den Einzelstaaten; die Absprachen zwischen politischen Parteien bei der Aufstellung der Wahlkreiskandidaten sowie auf das Agieren der Reichstagsfraktionen bei der Aushandlung von Gesetzesvorlagen.

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Eitz / Wengeler (2014): Semantische Kämpfe. Vgl. den knappen Hinweis bei Huber (1970): Bismarcksche Reichsverfassung, S. 193. Pfister (2019): Kulturen des Entscheidens. Rohe (1990): Politische Kultur, S. 338. Generell zum Entscheiden vgl. Luhmann (2002): Politik der Gesellschaft, S. 140; Schimank (2005): Entscheidungsgesellschaft. 35 Luhmann (2000): Organisation und Entscheidung, S. 37.

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Das Kaiserreich war auch deswegen als Verhandlungssystem konzipiert, weil der institutionalisierte Ausgleich zwischen den Gliedstaaten und der Reichsgewalt die Grundlage des vielbeschworenen Verfassungskompromisses des Jahres 1871 darstellte. Daraus ergab sich ein politischer Steuerungsbedarf, der in zwei Richtungen zielte: Einmal lief im Bundesrat als der verfassungsmäßigen Vertretung der Gliedstaaten ein komplexer Willensbildungsprozess unter den Gliedstaaten ab36; zum Anderen – und dies wird erst von der jüngeren Forschung angemessen berücksichtigt37 – entwickelten sich immer ausgefeiltere Formen, um zwischen dem Bundesrat und dem Reichstag koordinative Verfahren zu etablieren. Denn da die Zustimmung beider Verfassungsorgane erforderlich war, damit eine Gesetzesinitiative Gesetzeskraft erlangte, waren differenzierte Abstimmungsprozesse zwischen Bundesrat und Reichstag erforderlich. In beiden Fällen entwickelten sich mit der Zeit Aushandlungsprozesse, die – und dies ist für unsere Argumentation entscheidend – auf Kompromiss geeicht waren. Die Verfahrensbeteiligten richteten ihr Handeln nach der Richtschnur aus, Entscheidungen wenn möglich so zu fällen, dass sie alle wichtigen Akteure inhaltlich mittragen konnten. Der erste Blick gilt dabei der Entscheidungsfindung im Bundesrat selbst. Hier hatte sich nach einer Eingewöhnungsphase immer stärker das Prinzip des politischen Einvernehmens zwischen den wichtigsten Einzelstaaten herauskristallisiert. Dass Preußen als „Hegemonialmacht“ seine Interessen mit Hilfe willfähriger Kleinstaaten via Bundesrat rücksichtslos durchsetzte und damit der Bundesrat nur ein verkapptes Organ preußischer Vorherrschaft im Bundesrat bildete, ist ein Stereotyp, das schon in den 1970er Jahren durch empirische Forschung entkräftet wurde. Vielmehr suchte Preußen im Bundesrat eine Verständigung mit Bayern und den übrigen Mittelstaaten, wobei sich aus diesem Arrangement eine strukturelle „Kompromißbereitschaft“38 ergab. Bayern erhielt dabei eine Art Vetorecht; eine Majorisierung des zweitgrößten Bundesstaates durch die übrigen Bundesstaaten war zwar der Theorie nach möglich, aber in der Praxis unvorstellbar. Umgekehrt bildeten sich auch keine antipreußischen Allianzen gegen die stärkste Bundesmacht. Antipreußische Kraftproben blieben aus, weil auch die süddeutschen Königreiche Preußens Stellung anerkannten und nie konfrontativ gegen die Gründungsmacht des Reiches vorgegangen wären. Der Präsident des württembergischen Staatsministeriums hat diesen Grundsatz vor dem württembergischen Abgeordnetenhaus im Jahre 1899 in folgende Worte gekleidet: „Unter den gegebenen Verhältnissen sind die einzelstaatlichen Regierungen, wenn sie Erfolge im Bundesrat erzielen wollen, nicht auf den Weg des Abzwingens gewiesen, sondern auf den Weg des Einvernehmens, der freundschaftlichen Auseinandersetzung, des gegenseitigen Vertrauens und der Verständigung.“39 Kompromisshaftes Agieren war 36 Siehe hierzu auch den Beitrag von Oliver F. R. Haardt in diesem Band. 37 Vgl. hier vor allem die instruktiven Ausführungen von Henrich-Franke (2018): Integrieren durch Regieren, vor allem S. 16–19. 38 Rauh (1973): Föderalismus und Parlamentarismus, S. 95; vgl. zudem die beeindruckende Studie von Haardt (2020): Bismarcks ewiger Bund. 39 Rede Mittnachts vom 7. Dezember 1899, abgedruckt bei Ritter (1975): Kaiserreich, S. 48.

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das Alltagsgeschäft im Bundesrat; doch wegen der politischen Unsichtbarkeit dieses Verfassungsorgans wurde der Kompromiss in semantischer Hinsicht gewissermaßen unter Verschluss gehalten. Das zähe Ringen um einen Kompromiss fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Damit fehlte eine semantische Begleitmusik, die den Kompromiss als Tugend föderalen Interessenausgleichs mit lauter Stimme verkündete. Doch der Föderalismus war auch noch in anderer Hinsicht Geburtshelfer des Kompromisses als eingespieltes Verfahren des Interessenausgleichs. Denn nicht allein der Abstimmungsprozess zwischen den Gliedstaaten im Verfassungsorgan Bundesrat trug kompromisshafte Züge. Die Gliedstaaten wirkten darüber hinaus noch in doppelter Weise als Kompromissgeneratoren, was dem Umstand geschuldet war, dass jedes Gesetzesvorhaben der Zustimmung des Bundesrats wie des Reichstags bedurfte. Daraus ergab sich ein struktureller Koordinationsbedarf zwischen den Gliedstaaten, der Reichsadministration und dem Reichsparlament, der vor allem seit den 1880er Jahren in einem kompromissförmigen Modus geregelt wurde. Dabei sind zwei Verfahren zu unterscheiden: Dem eigentlichen Legislativprozess vorgelagert war ein Koordinierungssystem, in dem Vertreter der Einzelstaaten zusammen mit Reichsbehörden und dazu gebetenen Experten auf informelle Weise inhaltliche Pflöcke einschlugen. Diese Verflechtung, die in der neueren Forschung als Verwaltungsföderalismus bezeichnet wird, trug zweifellos auch dazu bei, dass „inhaltliche Kompromisse ausgehandelt wurden“40, bevor der „offizielle“ Gesetzgebungsprozess überhaupt in Gang gesetzt wurde. Doch je stärker ab 1890 Interessenverbände in diesen Prozess eingeschaltet wurden, desto mehr kamen korporative Elemente zur Geltung, die diesem Aushandlungsprozess eine machtpolitische Schieflage verliehen.41 Denn wenn Lobbygruppen wie der „Bund der Landwirte“ im Vorraum der Abstimmungsprozesse zwischen Gliedstaaten und Reichsverwaltung ihre Partikularinteressen so einbringen konnten, dass diese in das Ergebnis der Aushandlungen einflossen, eröffnete sich eine Grauzone nicht legitimierter Einflussnahmen, die nicht mit dem Kompromiss als einem institutionalisierten Verfahren vereinbar waren, an dem allein Staatsorgane und parlamentarische Körperschaften mitwirkten. Korporatistische Einflussnahme machte solche prälegislativen Aushandlungsprozesse zu einem politischen Deal, der nicht dem Geist des politisch austarierten Kompromisses entsprach. Doch seit den 1890er Jahren bildete sich ein innovatives neues „Kompromissforum“42 heraus, das ausschließlich legitimierte staatliche und parlamentarische Entscheidungsträger versammelte. Der institutionelle Nukleus waren vom Reichstag eingesetzte Reichstagskommissionen. Solche Kommissionen waren – und dies ist entscheidend – häufig verkappte Koordinationsagenturen, in denen unter stiller Moderation der zuständigen Reichsämter die in Berlin versammelten Bundesratsge40 Henrich-Franke (2018): Integrieren durch Regieren, S. 40; zur Kompromissförmigkeit dieses Aushandlungspozesses siehe auch ebd., S. 31 und S. 45. 41 Ebd., S. 43. 42 Ebd., S. 41.

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sandten oder deren Vertreter auf informelle Weise so einbezogen wurden, dass am Ende ein für die Reichsleitung, den Reichstag und die Bundesstaaten gleichermaßen akzeptables Ergebnis herauskam.43 Einen ähnlichen Zweck verfolgten ad hoc gebildete Foren vertraulicher Beratungen, in denen auf Initiative der Reichsämter Vertreter der Bundesstaaten wie der Reichstagsfraktionen eine gemeinsame Lösung im Vorfeld der offiziellen Befassung der beiden legislativen Organe anstrebten.44 Dieses System „inhaltlicher Kompromissfindung“45 gelangte erst nach dem Ausscheiden Bismarcks zur Entfaltung. Der politische Übervater hatte bis dahin immer wieder den Versuch unternommen, solche Koordinationsanstrengungen dadurch strukturell unmöglich zu machen, dass er das preußische Abgeordnetenhaus als parlamentarische Konkurrenz zum Reichstag aufwertete und generell über den preußischen Pfad die politische Agenda des Reiches in seinem Sinne zu bestimmen trachtete. Doch Bismarck konnte letztlich nicht verhindern, dass sich Preußen in diesem Sinne von der Reichsgesetzgebung partiell entkoppelte und damit das preußische Abgeordnetenhaus mit seiner konservativen Majorität als Gegengewicht gegen den Reichstag nicht in dem gewünschten Sinne einsetzbar war.46 4. FRAKTIONENPARLAMENT In jedem Fall rückte der Reichstag allmählich immer stärker ins Zentrum der Kompromissbildung. Informelle Absprachen zwischen den Bundesstaaten und einflussreichen Reichstagsabgeordneten blieben ein Nebenpfad. Denn der Reichstag bekannte sich immer mehr dazu, als Zentralorgan der Kompromissfindung zu fungieren. Dass das Reichsparlament diese Kernaufgabe in inhaltlicher Hinsicht meisterte, wird am Ende dieser Ausführung dargelegt. Hier soll es zunächst darum gehen, eine wichtige, bislang wenig beachtete strukturelle Grundlage dafür freizulegen: Je mehr Abgeordnete ihr Mandat einem kompromissförmigen Aushandlungssystem zwischen den politischen Parteien verdankten, desto mehr wuchs die Zahl derjenigen Mandatsträger an, in die sich die Kompromisskultur so eingeschrieben hatte, dass sie zur bestimmenden Leitschnur ihres parlamentarischen Handelns avancierte. Damit kommt dem Prozess der Aufstellung der Kandidaten für den Reichstag eine bislang von der Forschung wenig beachtete47 Rolle für den Siegeszug der Kompromisskultur zu. Kandidatenaufstellungen in einem Mehrheitswahlsystem mit Stichwahl sind gewissermaßen die hohe Schule des Kompromisses, weil poli43 Ausführlich am Beispiel der Reichsversicherungsordnung hierzu Henrich-Franke (2011): Wandlungen föderalen Regierens, vor allem S. 395f.; siehe auch ders. (2018): Integrieren durch Regieren, S. 41–46 sowie Haardt (2020): Bismarcks ewiger Bund, S. 486. 44 Vgl. Hähnel / Höfer / Liedloff (2015): Föderale Mitbestimmung, S. 119–123 sowie Ayass (2009): Revision der Unfallversicherungsgesetze, S. XXIf. 45 Henrich-Franke (2011): Wandlungen föderalen Regierens, S. 396. 46 Vgl. Thier (1999): Steuergesetzgebung und Verfassung, vor allem S. 224 und S. 354. 47 Als Ausnahme siehe die überaus instruktiven Studien von Reibel (2007): Handbuch der Reichstagswahlen und Reibel (2011): Bündnis und Kompromiß.

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tischen Wettbewerbern zugemutet wurde, den eigenen Kandidaten zugunsten eines Vertreters konkurrierender Parteien zurückzuziehen. So viel politische Selbstentäußerung konnte man von den für die Kandidatenaufstellung verantwortlichen Parteigremien nur erwarten, wenn sie auf einen verlässlichen Modus des Interessenausgleichs bauen konnten, der ihnen politische Kompensationen in anderen Wahlkreisen zusicherte. Erst ein „Kompromisssystem zwischen den Parteien“48 bewirkte, dass verfahrensmäßig abgestimmte Abläufe eingehalten wurden, an deren Ende eine die Kompromissbeteiligten bindende Absprache stand. Solche Wahlkreisbündnisse konnten dann die Gestalt eines Kompromisses erhalten, wenn sie auf einem präzisen, nachprüfbaren und kontrollierten Verfahren beruhten. Allein der Umstand, dass die Forschung nicht weniger als acht Typen49 von Wahlbündnissen ermittelt hat, spricht dafür, dass es sich um ein ausgefeiltes und fein austariertes System kompromisshafter Absprachen handelte. Ob es sich um ein freies Bündnis, ein Organisationsbündnis, ein Plattformbündnis, ein Stellvertretungsbündnis, ein diachrones Abkommen, ein alternierendes Wahlbündnis, ein wahlkreisübergreifendes Aussparungsabkommen oder ein Separationsbündnis handelt – in allen Fällen folgten die Verfahrensbeteiligten einer auf Kompromiss ausgerichteten politischen Logik, dass der Verzicht auf eine eigene Kandidatur durch Ausgleich an anderer Stelle kompensiert werden würde. Dass sich eine solche Disposition so tief eingraben konnte, ist vor allem auf das geltende Wahlrecht zurückzuführen. Es handelte sich um ein absolutes Mehrheitswahlrecht, bei dem nur derjenige Kandidat in den insgesamt 397 Wahlkreisen das Mandat errang, der die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigte. Erhielt keiner der Bewerber im ersten Wahlgang die absolute Majorität, dann fand eine Stichwahl der beiden Bestplatzierten statt. Dieses Wahlrecht brachte den strukturellen Zwang zu Wahlkreisabsprachen zwischen den politischen Parteien mit sich.50 Denn da seit 1890 im Durchschnitt vier Bewerber pro Wahlkreis antraten, erhöhten sich die Wahlaussichten beträchtlich, wenn die jeweilige Partei auf Wahlkreisebene Abkommen mit anderen Parteien abschloss, die aufgrund dessen auf einen eigenen Bewerber verzichteten und ihren Anhängern empfahlen, für den Kompromisskandidaten zu stimmen. Da die Hochburgen der Parteien immer mehr abschmolzen und sich immer weniger Bewerber direkt im ersten Wahlgang durchzusetzen vermochten, war bei der letzten Reichstagswahl im Januar 1912 ein Wahlbündnis der Regelfall – nämlich in 299 von 397 Wahlkreisen.51 Wer waren nun auf der Ebene der politischen Parteien die Verfahrensbeteiligten, die Wahlbündnisse als Kompromiss abschlossen? Diese Frage ist durchaus dazu angetan, die Leistungsfähigkeit politischer Parteien im Kaiserreich neu zu beleuchten. Denn eigentlich waren die Parteien soziostrukturell und kulturell für 48 Reibel (2007): Handbuch, S. 22* 49 Ebd., S. 25*–31*. 50 Siehe hierzu mit Blick auf die badische Landespolitik den Beitrag von Michael Kitzing in diesem Band. 51 Vgl. Reibel (2011): Bündnis und Kompromiß, S. 79.

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solche Wahlkompromisse wenig geeignet. Die deutschen Parteien waren in fragmentierten politisch-kulturellen Milieus (politischer Katholizismus, sozialistische Arbeiterbewegung; bürgerlich-städtisch-protestantisch; agrarisch-protestantisch) beheimatet, deren Angehörige sich vielfach in abgeschotteten Lebenswelten aufhielten. Dies verlieh dem deutschen Parteiensystem seine über das Kaiserreich hinausreichende Stabilität und garantierte den politischen Parteien ihre Stammwählerschaft.52 Warum sollten ausgerechnet Parteien, deren politisches Personal kaum lebensweltliche Berührungsflächen aufwies, kompromissförmige Handlungsstrukturen hervorbringen?53 Blickt man hingegen auf diejenigen Gremien, die über die Aufstellung der Wahlkreiskandidaten befanden, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Obgleich noch viel Forschungsarbeit im Feld der historischen Kandidatenaufstellung zu leisten ist,54 wird man konstatieren, dass sowohl an der politischen Basis wie auch in den Parteizentralen ein pragmatischer Geist des Wahlkompromisses vorhanden und aktivierbar war. Die parteipolitischen Eliten erwiesen sich als Avantgarde des Kompromisses deswegen, weil das Wahlrecht aus systematischen Gründen einen derartigen Handlungsdruck erzeugte. Warum sollte in umkämpften Wahlkreisen eine Partei, die keine ernsthaften Aussichten auf die Gewinnung des Mandats besaß, einen eigenen Kandidaten aufstellen? War es nicht politisch klüger, schon im ersten Wahlgang den Kandidaten einer anderen Partei zu favorisieren, sofern sich diese Partei in anderen Wahlkreisen zu Gegenleistungen verpflichtete? Solche taktischen Argumente fielen auch bei lokalen Parteiorganisationen auf fruchtbaren Boden – also dort, wo im Regelfall über die Kandidatenaufstellung entschieden wurde. In diesen Wahlkomitees waren vor allem lokale Honoratioren tätig; und dass sich diese taktisch sehr flexibel auf die jeweiligen Wahlerfordernisse einstellten, spricht dafür, wie stark die Kompromissfähigkeit der lokalen Parteieliten ausgeprägt war. Starres Blockdenken bildete die Ausnahme; die Wahlkomitees trafen ihre Entscheidung über eine Wahlempfehlung für den Kandidaten einer anderen Partei nach taktischen Gesichtspunkten und legten damit Zeugnis für eine ausgeprägte Flexibilität ab, die Grundvoraussetzung für eine ergebnisoffene Kompromissfindung ist. Diese Grundhaltung ist auch bei den Parteiführungen anzutreffen und offenbart sich vor allem in den beiden Wahlgängen der letzten Vorkriegsreichstagswahl im Januar 1912. In beiden Wahlgängen riefen Parteiführungen ihre Anhänger dort zu taktischem Wählen auf, wo es feste Wahlabsprachen gab. Vor dem zweiten Wahlgang, in dem noch insgesamt 191 Mandate zu vergeben waren, schlossen die linksliberale „Fortschrittliche Volkspartei“ und die Sozialdemokratische Partei ein komplexes Stichwahlabkommen ab, das sich für beide Parteien an der Wahlurne auszahlen sollte.55 52 Vgl. Pyta (1997): Politische Kultur und Wahlen. 53 Vgl. auch Kühne (1994): Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur, vor allem S. 209–211. 54 Vgl. dazu aus politikwissenschaftlicher Perspektive Kannenberg (2021): Manuskript zur historischen Kandidatenaufstellung. 55 Hierzu immer noch maßbeglich Bertram (1964): Wahlen 1912, vor allem S. 149–155 und S. 221–227.

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Wenn man Wahlbündnisse allein nach den sich in gewonnenen Mandaten niederschlagenden Kennziffern beurteilt, unterschlägt man allerdings einen Effekt: Parteien, die wie die SPD in aller Regel im ersten Wahlgang auch in aussichtslosen Wahlkreisen sogenannte Zählkandidaten aufstellten und sich den Verzicht darauf nicht durch taktische Absprachen abhandeln ließen, erhöhten ihren prozentualen Stimmenanteil am Gesamtergebnis. Umgekehrt schöpften solche Parteien, die sich ihr Nichtantreten in solchen Wahlkreisen durch Wahlabsprachen honorieren ließen, das für sie mögliche Wählerpotential gezielt nicht aus. Wenn man nun den prozentualen Anteil der für eine Partei abgegebenen Stimmen zum hauptsächlichen Beurteilungsmaßstab für Wahlerfolge erhebt, dann führt dies zu einer Verzerrung: Parteien, die sich auf derartige Aussparungsabkommen einlassen, werden unter Wert gehandelt; und Parteien wie die SPD, die sich nie an solchen Abkommen, die bereits für den ersten Wahlgang galten, beteiligten, stehen besser da. Die bewusst kalkulierte Reduzierung des auf die eigene Partei entfallenden Stimmenanteils war ein politischer Preis, den man für derartige Wahlabsprachen zu entrichten hatte – und dies wurde auch gegenüber den Wählern kommuniziert, wie ein Wahlaufruf der westfälischen Zentrumspartei vom Dezember 1911 dokumentiert: In verschiedenen, für das Zentrum aussichtslosen Wahlkreisen haben die zuständigen Wahlkomitees beschlossen, […] schon im ersten Wahlgang Kandidaten anderer Parteien die Stimme zu geben.[…] Gewiß werden infolgedessen bei dieser Wahl viele Stimmen für das Zentrum nicht gezählt. Aber das Wohl des Vaterlandes steht über der Partei. Mögen alle Zentrumswähler darauf bedacht sein, diese Einbuße durch zahlreiche Vermehrung der Zentrumsstimmen in allen Zentrumswahlkreisen zu ersetzen. 56

Wahlabsprachen waren aber weit mehr als Techniken, um in einem zunehmend komplexer werdenden Parteiensystem eine optimale Ausbeute an Mandaten zu erzielen. Kompromissförmige Absprachen zwischen den Parteien ebneten eben auch – und dieser Aspekt bedarf besonderer Vertiefung – einem bestimmten Typus von Politikern den Einzug in den Reichstag: dem Kompromisskandidaten. Mit dieser bereits zeitgenössisch etablierten Bezeichnung57 ist keine qualitative Herabsetzung des Bewerbers gemeint – im Gegenteil. Denn ein solcher Kandidat musste Voraussetzungen mitbringen, die ihn als Brückenbauer zwischen mindestens zwei, manchmal sogar drei politischen Wettbewerbern profilierten. Denn nur so konnte er im zweiten Wahlgang die Stimmen der Anhänger derjenigen Parteien auf sich vereinigen, die zu seinen Gunsten verzichteten oder – falls ihr Kandidat im ersten Wahlgang ausgeschieden war – eine Wahlempfehlung für die entscheidende zweite Runde aussprachen. Das Anforderungsprofil an solche parteiübergreifend vermittelbaren Wahlkreiskandidaten war damit klar: Eifrige Parteisoldaten konnte man in absolut sicheren Wahlkreisen nominieren; in umkämpften Wahlkreisen waren sie

56 Wahlaufruf der westfälischen Zentrumspartei vom 19. Dezember 1911, abgedruckt in Lepper (1998): Volk, Kirche und Vaterland, S. 362. 57 Vgl. dazu den Redebeitrag des der polnischen Fraktion entstammenden Reichstagsabgeordneten Paul Brandys vom 18. April 1913: Verhandlungen des Reichstags. Bd. 289, S. 4903.

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deplatziert. Wollte man die Stimmen des politischen Katholizismus mobilisieren, durfte man keinen engagierten Kulturkämpfer aufstellen. So schälte sich ein Idealtypus von Kompromisskandidat heraus, der durch seine Persönlichkeit dafür bürgte, dass er divergierende Parteiinteressen zusammenführen konnte. Diese Eigenschaften musste der Gesuchte durch glaubhaftes öffentliches Auftreten in seinem Wahlkreis performativ und inhaltlich einlösen, wobei die lokalen Medien als Verstärker seiner Botschaft des Kompromisses dienten. Auf diese Weise zogen immer mehr erfolgreiche Wahlkreisbewerber in den Reichstag ein, die bereits auf lokaler Ebene ihre Eignung unter Beweis gestellt hatten. Sie waren damit das ideale „Personal des Kompromisses“58, um im Reichstag als parlamentarische Anwälte des Kompromisses zu fungieren. Wir wollen an zwei Beispielen die Auswahlmechanismen solcher Kandidaten untersuchen, die später im Reichstag die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllten und sich als politische Brückenbauer betätigten. Dazu richten wir unser Augenmerk zunächst auf den in der preußischen Provinz Sachsen gelegenen Wahlkreis Wolmirstedt-Neuhaldensleben. Die Nationalliberalen konnten diesen Wahlkreis nur dann gegen die im Aufwind befindliche SPD gewinnen, wenn sie einen Kandidaten nominierten, der der deutsch-konservativen wie der freikonservativen Honoratiorenschaft in diesem Teil der Magdeburger Börde vermittelbar war. Dazu empfahl sich der preußische Landtagsabgeordnete Eugen Schiffer, weil er bereits im preußischen Abgeordnetenhaus ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis mit den dortigen Konservativen aufgebaut hatte.59 Dass Eugen Schiffer im mosaischen Glauben seines Breslauer Elternhauses aufgewachsen war und erst im reiferen Mannesalter – mit 36 Jahren – zur evangelischen Kirche übergetreten war,60 war allem Anschein nach kein Hinderungsgrund für konservative und freikonservative Wähler, im zweiten Wahlgang den jüdisch sozialisierten Eugen Schiffer zu wählen, nachdem es im ersten Wahlgang ihre Kandidaten nicht in die Stichwahl geschafft hatten. Bei einer Rekordwahlbeteiligung von mehr als 91 % konnte Schiffer den erheblichen Rückstand aus dem ersten Wahlgang zu seinem sozialdemokratischen Konkurrenten wettmachen und mit einem Vorsprung von 1300 Stimmen in den Reichstag einziehen.61 Im Reichstag legte er den Grundstein für eine politische Karriere, die ihn in der Weimarer Republik zum Reichsminister aufsteigen lassen sollte. Das zweite Beispiel zeugt von der Flexibilität, mit der Parteien auf eine sich ändernde Konstellation nach dem ersten Wahlgang reagierten und im zweiten Wahlgang demjenigen zum Sieg verhalfen, der für sie am ehesten als Kompromisskandidat vermittelbar war. Dazu wenden wir uns dem Wahlkreis Karlsruhe-Bruchsal zu, der seit der Reichstagswahl 1903 in den Händen der SPD war, die sich bei

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Reibel (2011): Bündnis und Kompromiss, S. 78. Kühne (1994): Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur, S. 540f. Dazu Seier (2006): Dauer und Wandel, S. 46–48. Dazu Reibel (2007): Handbuch der Reichstagswahlen, S. Bd. 1. S. 487–488; Frölich (2006): Exzellenz, S. 99f.; Schiffer (1951): Leben für den Liberalismus, S. 19f sowie Bertram (1964): Wahlen zum Reichstag, S. 106f.

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der Wahl von 1912 im Aufwind befand. Dennoch sollte der dem linken Parteiflügel zugerechnete Abgeordnete Adolf Geck seine Wiederwahl verfehlen, weil sein linksliberaler Konkurrent Ludwig Haas sich zielgerichtet als Kompromisskandidat der bürgerlichen Mitte präsentiert hatte.62 Den Ausschlag gaben die Wähler der katholischen Zentrumspartei, welche durch ihre Beweglichkeit nach links und rechts den Wahlkompromiss stärker als alle anderen politischen Parteien verinnerlicht hatte.63 In der Stichwahl hatten sich ihre Wähler zwischen Haas und Geck zu entscheiden oder der Wahlurne fernzubleiben. Hier kam es am Wahltag selbst zu einem sogenannten „freien Bündnis“: Die badischen Zentrumsgrößen gaben Parole für Haas aus, ohne dass es förmliche Absprachen oder Kompensationsgeschäfte mit der FVP gab. Vermutlich gab dabei auch den Ausschlag, dass der jüdische Glaube von Haas dem badischen politischen Katholizismus Gewähr dafür zu bieten schien, dass sich Haas im Reichstag als Angehöriger einer konfessionellen Minderheit für den Abbau der letzten Kulturkampfgesetze einsetzte. Jedenfalls bildete Haas im Reichstag ein wirkungsvolles politisches Gespann mit seinem Landsmann Constantin Fehrenbach von der Zentrumspartei, einem Streiter gegen Antisemitismus64 und einem scharfen Kritiker von Grenzüberschreitungen des Militärs. Haas und Fehrenbach bildeten ein wirkungsvolles Duo, als sich der Reichstag im Jahre 1913 mit der hierfür besonders signifikanten Zabern-Affäre befasste.65 Die erzieherische Wirkung66 einer systemisch angelegten Wahlkompromisskultur machte auch vor der SPD nicht halt, die programmatisch bis 1914 noch in schroffer Gegnerschaft zum bestehenden System verharrte. Sie wirkte integrativ, weil konfrontative Muster abgebaut und Chancen einer Kooperation ausgelotet wurden, die weit über taktische Wahlbündnisse hinausreichten. Wenn die Freisinnigen oder das Zentrum solche Absprachen mit der SPD trafen, dann konnte diese Partei in toto nicht mehr als systemoppositionelle Gegnerin angesehen werden. Umgekehrt war der Wahlkompromiss eine politische Erziehungsanstalt für die SPD, weil er den Verzicht auf eine revolutionäre Umwälzung der Staats- und Wirtschaftsordnung implizierte. Lange dominierte in der SPD eine „Kompromissfurcht“, die sich aber umso mehr verflüchtigte, als die SPD auch dank Wahlabsprachen von Wahlsieg zu Wahlsieg eilte und die beiden wichtigsten intellektuellen Parteiautoritäten Karl Kautsky und Eduard Bernstein dem Kompromiss ihren Segen erteilten.67 Insofern war das allmähliche Hineinwachsen der Sozialdemokratie in die politische Ordnung des Kaiserreichs auch ein Ergebnis der politischen Schulung ihrer politischen Führung in der pragmatischen Logik des Wahlkompromisses. Selbst in der 62 63 64 65

Dazu Weinhold (2017): Haas in Karlsruhe. Hierzu auch Reibel (2011): Bündnis und Kompromiss, S. 86. Mazura (1994): Zentrumspartie und Judenfrage, S. 60f. und S. 183. Vgl. die Reichstagsreden von Haas vom 26. April, 31. Mai und 4. Dezember 1913: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. 14. Wahlperiode, S. 5197, S. 5377 und S. 6188. 66 Dazu Reibel (2011): Bündnis und Kompromiss, S. 76 sowie Bertam (1964): Wahlen zum Reichstag, S. 260. 67 Dazu Kühne (1994): Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur, S. 211; Gilcher-Holtey (1986): Mandat des Intellektuellen, S. 103; Mittmann (1976): Fraktion und Partei, S. 107–109.

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literarischen Schrift, die nicht selten als besonders eindrucksvolles Spiegelbild der inneren Befindlichkeit des Kaiserreichs gilt, in Heinrich Manns Der Untertan, hat diese pragmatische Disposition zum Kompromiss ihren Niederschlag gefunden. Mann schildert darin in ironisch zugespitzter Form, wie sich die Zentralfigur seines Romans, der Fabrikbesitzer Diederich Heßling, mit dem Führer der örtlichen Sozialdemokratie hinsichtlich der Stadtverordnetenwahl verständigte, da beide Seiten an einem Kompromiss interessiert waren.68 5. KOMPROMISSFINDUNG IM REICHSTAG Kompromisse als institutionalisiertes und ergebnisorientiertes Aushandlungsverfahren finden ihre eigentliche politische Heimstätte im Parlament. Dieser Befund gilt nicht nur für politische Systeme, in denen Parlament und Regierung so eng verknüpft sind, dass die Regierungsbildung unter garantierter Mitwirkung der Volksvertretung erfolgt. Insofern war die konstitutionelle Monarchie des Kaiserreichs hinsichtlich des Stellenwerts des parlamentarischen Kompromisses nicht defizitär gegenüber dem Typus der parlamentarischen Monarchie. Im Gegenteil: Gerade weil Reichsleitung und Parlamentsmehrheit entkoppelt waren, erlangten Gesetzgebungsverfahren häufig den Status eines Kompromisses. Denn da die Reichsleitung bei ihren Projekten nicht auf eine feste parlamentarische Mehrheit bauen konnte, musste sie sich für jedes Gesetz neu in Einvernehmen mit dem Reichstag setzen, um die erforderliche Zustimmung des Parlaments zu erhalten. Damit setzte genau jenes komplexe Aushandlungsverfahren ein, das wir als hervorstechendes Kennzeichen des Kompromisses identifiziert haben. Die parlamentarischen Akteure dieses Verfahrens waren dabei klar umrissen: Es waren die Fraktionen, die den parlamentarischen Willensbildungsprozess organisierten und damit die herausragenden Träger einer parlamentarischen Kompromisskultur bildeten. Die politikwissenschaftliche Parlamentarismusforschung hat die Bedeutung von Fraktionen als „zentrale Aktionseinheit“69 des Parlaments betont. Es wird Zeit, dass sich die Geschichtswissenschaft dieser wichtigen Erkenntnis öffnet und sich stärker als bislang dieser genuin parlamentarischen Einrichtung zuwendet. Dies würde auch dazu führen, die empirisch gesättigten Befunde hinsichtlich des politischen Bedeutungsgewinn des Reichstags im Kaiserreich70 um eine wichtige Facette anzureichern: Der Reichstag erlangte eine Stärkung seiner Position auch deswegen, weil er als lebendiges Fraktionenparlament mit einem darauf zugeschnittenen Wahlsystem strukturell gerüstet war, um den systemischen Kompromisszwang in geeignete institutionelle Formate zu überführen, die konstruktive Lösungen hervorbrachten.

68 Mann (2021): Der Untertan, S. 277. 69 Hier sind vor allem die Forschungen von Suzanne Schüttemeyer anzuführen; vgl. vor allem Schüttemeyer (1998): Fraktionen, Zitat S. 26. 70 Reibel (2011): Bündnis und Kompromiß; Haardt (2020): Bismarcks ewiger Bund.

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Dass die Fraktion den Mittelpunkt der politischen Willensbildung konstituierte, lässt sich besonders deutlich am Beispiel der Zentrumspartei ablesen. Denn die Reichstagsfraktion war das wichtigste politische Organ, in dem der politische Katholizismus zu einer handlungsfähigen Einheit zusammenwuchs. Das Zentrum verfügte über keine professionell ausgebaute Parteiorganisation, so dass es eigentlich nur durch seine parlamentarische Aktionseinheit auf Reichsebene als politischer Faktor in Erscheinung trat.71 Innerhalb der Reichstagsfraktion etablierte sich der Kompromiss als innerfraktioneller Grundsatz: Denn nur durch beständigen Ausgleich konnten die regionalen und sozialen Unterschiede austariert werden, die in der einzigen Volkspartei in der Reichstagsfraktion abgebildet wurden. Adlige Großgrundbesitzer aus Schlesien, Volksschullehrer aus Oberschwaben und Gerichtsräte aus dem Rheinland ergaben ein landsmannschaftlich wie beruflich buntes Bild.72 Innerhalb dieses so vielfältigen politischen Körpers musste die Kunst des innerfraktionellen Kompromisses immer wieder eingeübt werden, damit die Fraktion sich nach außen als handlungsfähige politische Einheit zu präsentieren vermochte. Dass man damit selbst einem scheinbar auf dem Zenit seines Einflusses stehenden Reichskanzler Bismarck Kompromisse abtrotzen konnte, zeigte sich im Sommer 1879. Denn nur auf den ersten Blick hatte sich Bismarck mit seinem Paradigmenwechsel vom Freihandel zum Schutzzoll durchgesetzt, als der Reichstag auch auf seine Initiative hin Schutzzölle sowohl für gewerbliche Produkte wie für landwirtschaftliche Erzeugnisse beschloss. Denn die Ziele des Reichskanzlers gingen viel weiter: Er wollte zudem besonders einträgliche indirekte Steuern (Finanzzölle) massiv erhöhen und so das Reich, dem allein die Einnahmen daraus zuflossen, finanziell auf eigene Füße stellen und es von der Subventionierung durch Zuwendungen der Bundesstaaten (Matrikularbeiträge) emanzipieren. Damit wollte er nicht nur das föderale Kräfteverhältnis zugunsten des Reiches verschieben, sondern eine Kernkompetenz des Reichstags – das jährliche Budgetbewilligungsrecht – entwerten. Die Einführung von Schutzzöllen und die Erhöhung bestimmter Finanzzölle bildeten für Bismarck also eine Einheit; aber er musste die Erfahrung machen, dass er sich mit dieser Position nicht durchsetzen konnte. Es war der Fraktionsvorsitzende der Zentrumsfraktion, Georg Arbogast Freiherr von und zu Franckenstein, der sich so zum Herren des Verfahrens aufschwang, dass Bismarck dreimal persönlich in Verhandlungen mit diesem hartnäckigen Verfechter parlamentarischer wie föderaler Interessen eintreten musste.73 Die Lösung dieser Frage ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie schon in der Bismarckzeit das Parlament zum Zentralakteur der Kompromissfindung auf-

71 Mittmann (1976): Fraktion und Partei, S. 13f. und S. 80f. sowie Raasch (2015): Adel auf dem Feld der Politik, S. 339f. 72 Vgl. Mittmann (1976): Fraktion und Partei, S. 40–44 sowie Raasch (2015): Adel auf dem Gebiet der Politik. 73 Vgl. Raasch (2015): Adel auf dem Feld der Politik, S. 392–394 sowie Pyta (1991): Landwirtschaftliche Interessenpolitik, S. 75–114.

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steigen und die Reichsleitung auf ein Ergebnis verpflichten konnte.74 Dafür mussten bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, die in diesem Fall alle zutrafen: Die zur Mehrheitsbildung erforderlichen Fraktionen einigten sich in einem fraktionsinternen Willensbildungsprozess auf Verhandlungspositionen, wobei der Zentrumsfraktion auch in diesem Fall eine Schlüsselrolle zufiel. Im nächsten Schritt bildeten sich inhaltliche Allianzen heraus, hier zwischen der Zentrumsfraktion und der deutsch-konservativen sowie freikonservativen Fraktion. Ausgehandelt wurde der Kompromiss aber letztlich im Schoße der zuständigen Kommission des Reichstags. Diese Ausschüsse waren auch deswegen ideale Kompromissgeneratoren, weil sie im Regelfall geheim tagten und daher dort die erforderlichen vertraulichen Absprachen getroffen werden konnten. Zudem waren hier ausgesprochene Fachleute versammelt, so dass die anstehende Frage im Modus des Expertendiskurses verhandelt werden konnte und damit strukturell einer Kompromisslösung zugewandt war. In den Ausschüssen wurden mithin Kooperationstechniken eingeübt, die den Kompromiss als parlamentarischen Normalweg verfahrenstechnisch verankerten.75 Dabei konnte es in den Kommissionen durchaus zu Mehrheitsentscheidungen kommen; aber diese nahmen die spätere Abstimmung im Reichstag vorweg, weil deren Ausgang die Fraktionen band. Genau so geschah es, als die zuständige Zolltarifkommission am 25. Juni 1879 den wegweisenden Antrag des Fraktionsvorsitzenden der Zentrumsfraktion mit 16:11 Stimmen annahm.76 Die kompromisshafte Regelung der Zollfrage ist aber auch deswegen ein Musterbeispiel für eine politische Kompromisskultur, weil die parlamentarische Schlüsselfigur zugleich als Anwalt föderaler Interessen auftrat. Der bayerische Freiherr von und zu Franckenstein schnürte ein politisches Gesamtpaket, das nicht zuletzt den Zweck verfolgte, gegen die Intentionen des Reichskanzlers die Finanzkontrolle der Bundesstaaten über das Reich zu bewahren – und zwar dadurch, dass durch die nach ihm benannte „Franckensteinsche Klausel“ (§ 8 des Zolltarifgesetzes vom 8. Juli 1879) alle den Betrag von 130 Millionen Reichsmark übersteigenden Einnahmen aus besagtem Zolltarifgesetz an die Einzelstaaten flossen. Damit hatte sich das Reich nicht aus der Abhängigkeit von den finanziellen Zuwendungen der Bundestaaten befreien können. Zugleich hatte sich der Reichstag im kompromissförmigen Aushandlungsprozess zwischen Reichsleitung, Bundesstaaten und Nationalparlament eine Schlüsselstellung gesichert: Es waren nicht die verbündeten Regierungen und damit nicht der Bundesrat und dessen Bevollmächtigte, welche die föderalen Interessen gegenüber der Reichsgewalt zur Geltung brachten, sondern der Reichstag. Dies war darauf zurückzuführen, dass die Zentrumsfraktion die ihr auf den Leib geschneiderte Rolle eines Ausgleichs zwischen Ost-, West- und Süddeutschland engagiert wie nie zuvor

74 Beste Quelle hierzu sind die Aufzeichnungen Franckensteins vom 14. Juli 1879, abgedruckt bei Pyta (1991): Landwirtschaftliche Interessenpolitik, S. 125–143. 75 Ähnlich auch Reibel (2011): Bündnis und Kompromiss, S. 78 und S. 88. 76 Vgl. die Aufzeichnung Frankensteins vom 18. Juli 1879, bei Pyta (1991): Landwirtschaftliche Interessenpolitik, S. 135.

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wahrnahm.77 Es war ein bayerischer Freiherr, der seine Fraktion zum Vorkämpfer des Föderalismus machte und den nach ihm benannten Kompromiss explizit als föderalen Ausgleich wahrnahm. In einer für sich bestimmten Aufzeichnung zog er am 18. Juli 1879 folgende Bilanz: Der Zentrumsfraktion ist es gelungen durch den Antrag, der meinen Namen trägt […], der centralistischen Tendenz der Reichs-Gesetzgebung wenigstens auf finanziellem Gebiete einen Damm zu ziehen. Möge es endlich den verbündeten Regierungen belieben den Weg zu verlassen, den sie aus Angst oder aus Unverstand seit dem Bestehen des Reiches […] zu gehen belieben. […] Das Centrum und im Centrum die sogenannten ultramontanen Bayern haben noch einmal das rollende Rad zum Stillstehen gebracht.78

Der Reichstag stieg immer dann zum Zentralort der Kompromissfindung auf, wenn Bundesrat und Reichsleitung keine kraftvollen Gestaltungsvorlagen machten. Diese bereits in der Bismarckzeit zu registrierende Tendenz gewann von 1890 an mehr und mehr an Fahrt, je mehr Bundesstaaten direkt mit den Fraktionen verhandelten.79 So verlagerte sich der legislative Aushandlungsprozess immer stärker in das Parlament, das am Ende dieses Prozesses den Einzelstaaten sogar den Einstieg des Reiches in die Erhebung direkter Steuern abhandelte und damit einen Durchbruch in der Finanzverfassung erzielte.80 Dieser Coup glückte, weil ein politisches Projekt vor allem von der Reichsleitung gewollt wurde, das so prestigeträchtig war, dass sich dessen Befürworter politisch banden und sich damit auf den komplexen Modus der Finanzierung dieses Vorhabens einlassen mussten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es ausgerechnet der feste Wille zur Vermehrung der Präsenzstärke des deutschen Heeres war, der dessen Initiatoren – neben der Reichsleitung die betont nationalen Fraktionen des Reichstags – unter Kompromissdruck setzte. Denn die Frage der Finanzierung dieses kostspieligen Unterfangens erwies sich als Einfallstor für den Zugriff des Reichstags auf direkte Steuern – und dazu noch solcher Steuern, die in allererster Linie Besitzende trafen. Es war die zuständige Reichstagskommission – die Budgetkommission –, in der am 22. Mai 1912 die politischen Weichen gestellt wurden: Dort hatten sich diejenigen politischen Kräfte der rechten Mitte auf eine Kompromisslinie verständigt, die dem Reich erstmals direkten Zugriff auf Besitzsteuern erlaubte. Die beiden Fraktionsvorsitzenden von Zentrum (Erzberger) und Nationalliberalen (Bassermann) hatten dem Reichstag zudem Entscheidungszwang auferlegt, weil er bis zum Frühjahr 1913 eine solche allgemeine Besitzsteuer verabschieden sollte.81 Damit hatten sie die komplexen Abstimmungsprozesse über die Finanzierung der im April 1912 eingebrachten Wehrvorlage inhaltlich und zeitpolitisch präjudiziert: Sofern Reichsleitung und Bundesrat diesen Weg nicht blockierten – aber damit hätten sie

77 Dazu vor allem Haardt (2020): Bismarcks ewiger Bund, S. 446f; siehe auch Hähnel u.a., S. 106. 78 Aufzeichnung Franckenstein, 18. Juli 1879, abgedruckt bei Pyta (1991): Landwirtschaftliche Interessenpolitik, S. 143. 79 Vgl. Haardt (2020): Bismarcks ewiger Bund, S. 495f. 80 Haardt (2020): Bismarcks ewiger Bund, S. 528. 81 Rauh (1977): Parlamentarisierung, S. 249–251.

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die Entscheidungsunfähigkeit der Institutionen herbeigeführt –, hatte der Reichstag das Heft des Handelns in die Hand genommen.82 Als der Bundesrat im März 1913 die Initiative in der Frage der Finanzierung der Wehrvorlage endgültig an den Reichstag abtrat, orientierten sich die nun folgenden Verhandlungen zwischen den Reichstagsfraktionen an der Vorgabe der Budgetkommission vom Mai 1912. Auf dieser Grundlage schnürte eine „große Koalition“ von Nationalliberalen, Zentrumspartei, Linksliberalen und Sozialdemokraten ein Finanzpaket, das dem Reich erstmals Zugriff auf direkte Besitzsteuern erlaubte: Neben einem einmaligen, vermögensabhängigen Wehrbeitrag verabschiedete das Parlament eine regelmäßig zu erhebende Vermögenszuwachssteuer, die neben Einkommen und Besitz auch durch Erbfall entstehende Vermögenszuwächse steuerlich erfasste.83 Dass erstmals die Sozialdemokratie einem Gesetzesvorhaben ihre Zustimmung erteilte, war die politische Krönung einer bereits seit langem praktizierten parlamentarischen Kompromisskultur: Die Einbindung einer programmatisch mit dem bestehenden System hadernden Kraft wie der SPD in das parlamentarische Kompromissbildungsverfahren zeugte von der integrativen Wirkung solcher politische Mechanismen. Umgekehrt isolierten sich diejenigen Gruppen, die in zentralen Sachfragen keine Kompromissbereitschaft zeigten. Dieses Schicksal widerfuhr ausgerechnet den beiden konservativen Reichstagsfraktionen: Sie verweigerten sich der Vermögenszuwachssteuer und wurden damit an den politischen Rand gedrängt, weil sie auch über den Bundesrat den Besitzsteuerkompromiss nicht zu Fall bringen konnten. Das politische System des Kaiserreichs hatte sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs als eine überaus entwicklungsfähige Ordnung erwiesen84 und seine kompromissförmigen Strukturen so ausgebaut, dass es auf diesem Weg auch einstmals systemoppositionelle Kräfte aufnehmen konnte. Die Integration der SPD erfolgte über den Nachweis ihrer Kompromissbefähigung. Diesen großen Befähigungsnachweis erbrachte die Reichstagsfraktion, als sie sich nach heftigem inneren Ringen am 25. Juni 1913 mit knapper Mehrheit85 für die Annahme zweier Deckungsvorlagen aussprach, mit denen ausgerechnet die Finanzierung einer Heeresvermehrung eingeleitet werden sollte.

82 Die passive Beobachterrolle des Bundesrats wird ersichtlich aus dem Briefwechsel des bayerischen Bundesratsbevollmächtigten Lerchenfeld an den bayerischen Ministerpräsidenten Hertling: Deuerlein (1973): Briefwechsel Hertling-Lerchenfeld, vor allem S. 160–163. 83 Kroborth (1986): Finanzpolitik, vor allem S. 221–276. 84 So auch Haardt (2020): Bismarcks ewiger Bund. 85 Bloch (2009): Südekum, S. 125.

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STREITKULTUR IM KAISERREICH Politische Versammlungen zwischen Deliberation und Demonstration Theo Jung Die aktuellen Erfahrungen mit politischer Polarisierung haben die Frage nach den kommunikativen Formen des politischen Austausches neuerdings wieder verstärkt auf die Agenda gesetzt. Ist der Tonfall öffentlicher Debatten verroht oder werden Sagbarkeitsgrenzen durch politische Korrektheit gerade immer mehr eingeschränkt? Inwiefern treffen unterschiedliche Meinungen überhaupt noch aufeinander, wo sie sich doch allzu leicht in ihren jeweiligen Echokammern einigeln können? Und ist es überhaupt immer wünschenswert, mit Rechten / Linken zu reden, oder gibt es einen Punkt, an dem die gemeinsame Basis für einen sinnvollen Austausch fehlt? Im Hintergrund solcher Kontroversen steht die Überzeugung, dass Demokratie auf eine bestimmte Form der kommunikativen Konflikteinhegung angewiesen ist. Nur eine gesunde Streitkultur, in der Gegensätze im offenen Austausch von Argumenten ausgetragen und eingehegt werden, vermöge die in modernen Gesellschaften nun mal unvermeidliche Pluralität von Standpunkten und Interessen kommunikativ zu überbrücken. In früheren Jahrzehnten galt das Deutsche Kaiserreich oft als Kontrastfolie zu diesem deliberativen Ideal. Das Pendant zum Bild eines repressiven Obrigkeitsstaats war die Vorstellung einer diskussionsunfähigen Untertanengesellschaft. Sowohl in der historischen Forschung wie in der breiteren Öffentlichkeit dominierte die etwa von Norbert Elias vertretene Diagnose, nach der der „Verkehrskanon“ des Kaiserreichs auf die „Umgangsstrategie des Befehlens und Gehorchens“ anstatt des „Überredens und Überzeugens“1 ausgerichtet gewesen sei, mit verheerenden Folgen für die langfristige politische Entwicklung Deutschlands. In jüngerer Zeit sind jedoch vermehrt gegenläufige Stimmen laut geworden, wobei vor allem Margaret L. Andersons Practicing Democracy neue Perspektiven geöffnet hat. Die Autorin vertritt die These, dass das allgemeine Männerwahlrecht bei der Reichstagswahl ein Feld für politische Partizipation geöffnet habe, auf dem breite Bevölkerungsteile die Chance erhielten, im undemokratischen Rahmen Demokratie zu praktizieren (im Sinne des Aus- wie des Einübens).2 Gegen die tradi-

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Elias (1990): Über die Deutschen, S. 90–91. Siehe auch Dahrendorf (1965): Gesellschaft und Demokratie. Anderson (2000): Practicing Democracy. Vgl. auch Fairbairn (1997): Democracy. In der neueren Forschung werden analoge Thesen vor allem von Hedwig Richter prominent vertreten. Vgl. Richter (2017): Moderne Wahlen.

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tionelle Vorstellung von einer mundtotgemachten oder mundfaulen Gesellschaft hebt Anderson dabei auch die Vitalität der politischen Diskussionskultur des Kaiserreichs hervor. Eine Arena, die in diesen Zusammenhängen besonders im Vordergrund steht, ist die politische Versammlung. Eine nähere Betrachtung der sich wandelnden Rollen von Rednern, Gegenrednern, Publikum und Außenseitern in diesem Kontext kann also dazu beitragen, die Ambivalenzen der Streitkultur des Kaiserreichs herauszustreichen. Sie zeigt, wie in diesem Kontext mit politischen Gegensätzen umgegangen wurde, welche Mechanismen zum Austrag politischer Konflikte es gab und wie sich die dabei herausgebildeten Interaktionsmuster im Laufe der Zeit wandelten. Die zentrale These des Beitrags lautet, dass sich die politischen Versammlungen ab den späteren 1880er Jahren tendenziell von einem Ort der Deliberation zu einem der Demonstration verwandelten, dass diese graduelle Schwerpunktverschiebung aber langfristig eine Situation zeitgleich existierender, konkurrierender Modelle entstehen ließ, um die herum sich ein neues Feld der politischen Auseinandersetzung über die Gestalt der wahren politischen Versammlung entfaltete. Der Beitrag ist in vier Abschnitte gegliedert. Auf einer Erörterung der politischen Versammlungspraxis in den Anfangsjahrzehnten des Kaiserreichs folgt die Auseinandersetzung mit den Momenten des Wandels, die darin seit den 1880er Jahren sichtbar wurden. Der dritte Abschnitt geht auf die Ambivalenzen des zeitgenössischen Metadiskurses über die veränderte Praxis ein. Im letzten Schritt werden diese Ergebnisse durch vergleichende Seitenblicke auf die Entwicklung in anderen europäischen Ländern sowie auf die Weiterentwicklung der politischen Versammlungskultur in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg kontextualisiert. Das Fazit zieht einige allgemeine Schlussfolgerungen hinsichtlich des Umgangs mit politischer Pluralität im Kaiserreich. 1. KONTRADIKTORISCHE VERSAMMLUNGEN Nach der Reichsgründung bildeten sich im Kaiserreich im internationalen Vergleich relativ schnell feste Parteistrukturen heraus. Um sie herum entstand eine Versammlungsform, die sich von den spontanen Ansammlungen im Kontext von besonderen Ereignissen oder Protesten durch eine versammlungsrechtlich und polizeilich reglementierte Organisationsform unterschied. In den ersten Jahrzehnten nach der Reichsgründung dominierte dabei der sogenannte kontradiktorische Versammlungstypus, der sich organisatorisch an einer quasiparlamentarischen Formsprache orientierte. Zum Anfang der Versammlung wurde ein Vorstand gewählt, der die Ordnung zu wahren hatte. Es gab verschiedene Redner, die unterschiedliche Standpunkte und Lager vertraten und nicht nur miteinander, sondern auch mit dem Publikum in Diskussion traten. Die Teilnehmer waren sowohl in politischer wie in sozialer Hinsicht heterogen. Während die Hauptredner meist den gesellschaftlichen Eliten angehörten, sahen sie sich einer Zuhörerschaft gegenüber, die nach zeitgenössischer Ansicht die gesamte politische Nation umfassen sollte. Ganz unbeschränkt war der Zugang zu solchen

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Versammlungen in der Praxis allerdings nicht. Schon die Wahl des Versammlungsorts wirkte sich notwendigerweise auf die soziale Zusammensetzung des Publikums aus. Frauen blieben von der Versammlungsöffentlichkeit in den meisten deutschen Ländern ohnehin ausgeschlossen, auch wenn ihre Anwesenheit in manchen Fällen stillschweigend geduldet wurde. Dennoch war die Vorstellung, dass die Versammlungen prinzipiell einen offenen Charakter hatten, entscheidend für ihre Dynamik. Aufgrund ihres gemischten Charakters und der Tatsache, dass das Publikum durch Fragen, Kommentare, Zwischenrufe und anderen Reaktionen stets aktiv in das Geschehen eingriff, betrachteten viele Zeitgenossen solche Veranstaltungen als Quasi-Volksversammlungen, die als zwar nur momentane, aber doch allgemeine Repräsentation des lokalen Volkswillens gelten durften. Über die Lagergrenzen hinweg gehörte dabei zum Verständnis einer legitimen, repräsentativen und rationalen Politik, dass auch dem jeweiligen Gegner ein Mindestmaß an Redefreiheit eingeräumt werden sollte. Teilweise wurden solche Versammlungen von einer neutralen Instanz oder von mehreren Parteien oder Gruppen gemeinsam organisiert, die sich das Podium „in einem Ton der Konzilianz oder gar der Freundschaft“3 teilten. Aber auch bei Parteitreffen wurde regelmäßig Zeit für sogenannte Diskussionsredner oder Interpellanten eingeräumt. Die Gegenredner wurden im Vorfeld bei den Organisatoren angemeldet und konnten in der Regel mit mindestens einer halben Stunde Sprechzeit rechnen. Wenn der Vorsitzende die gegnerischen Beiträge doch einmal vorschnell abkürzte, führte dies oft zu Protesten, auch aus dem eigenen Publikum. Als ein Teil des Publikums einer vom Kandidaten der Welfenpartei Adolf von Grote einberufenen Versammlung in Harburg 1878 drohte, den sozialdemokratischen Diskussionsredner das Reden unmöglich zu machen, griff der Organisator August Brinkmann mit der Bemerkung ein, dass sie es nicht wie die Liberalen halten wollten, die „jedem Andersdenkenden das Sprechen unmöglich“ machten: „wir müssen einen jeden Redner aussprechen lassen […] übrigens bin auch ich gewohnt, in einer sozialdemokratischen Versammlung stets anständig behandelt zu werden.“4 Wer gar keine Gegner einlud, setzte sich dem Verdacht aus, den argumentativen Kampf zu scheuen oder selbst kein ernstzunehmender politischer Akteur zu sein. Wenn sich kein Gegenredner fand, platzierten Parteien deshalb gelegentlich sogar selbst Personen im Publikum, um wenigstens pro forma eine konträre Stimme aufkommen zu lassen. Hellmut von Gerlach machte als Agitator für den Nationalsozialen Verein in den konservativ geprägten ländlichen Gegenden Schleswig-Holsteins die Erfahrung, dass es für eine gelungene Versammlung entscheidend sei, diese „etwas dramatisch“ zu gestalten: „Also Diskussionsredner, Gegner oder wenigstens Scheingegner an die Front!“ Da kam uns ein Gesinnungsgenosse aus Hamburg zu Hilfe, ein prächtiger Navigationslehrer, der zugleich ein ausgezeichneter Radler war. Der kam immer Sonnabend und Sonntag auf die

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Stampfer (1957): Erfahrungen, S. 45–46. Siehe auch ebd., S. 56–57. Vorwärts (28.7.1878), S. 3. Vgl. Kutz-Bauer (1988): Arbeiterschaft, S. 281; Anderson (2000): Practicing Democracy, S. 295–305.

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Theo Jung Dörfer zu unseren Versammlungen geradelt und markierte dort die Opposition. Im adretten Sportkostüm meldete er sich nach dem Referat zum Wort und erklärte: ‚Ich komme gerade von Hamburg auf einer Radtour vorbei und bin in die Versammlung gegangen weil mich Politik interessiert. Von der neuen Partei hört man ja so allerlei, was dafür und dagegen spricht. Mir hat die Rede ganz gut gefallen, aber manches ist mir noch nicht klar geworden. Ich möchte mich belehren und bitte deshalb, daß mir der Herr Kandidat ein paar Fragen beantwortet.‘ Dann legte er mit einer Reihe von Fragen los, die den Eindruck eines ehrlichen Suchens und Zweifelns machten. Für [den Kandidaten] Damaschke und uns andere waren das alles natürlich nur erwünschte Stichworte. Der Navigationslehrer stellte Ergänzungsfragen. Das Publikum hörte sehr interessiert zu, griff nun sogar manchmal selbst in die Debatte ein. Das ‚Theater‘ war da! 5

Eine besondere Bedeutung hatte die Institution des Diskussionsredners für die Sozialdemokraten, für die sie oft die einzige Möglichkeit darstellte, sich Gehör zu verschaffen. Unter den Sozialistengesetzen, als es ihnen verboten war, eigene Veranstaltungen abzuhalten, nutzten sie die Treffen anderer Parteien, um ihre Stimme in die Öffentlichkeit zu tragen. Auch danach blieb der Diskussionsredner eine wichtige Waffe, vor allem im ländlichen Raum, wo die eigene Anhängerschaft dünn gesät, die Obrigkeit meist feindlich gesinnt und die Inhaber von Wirtshäusern wenig erpicht darauf waren, Genossen ihre Räumlichkeiten zu überlassen.6 So traten im Saarland selbst die prominentesten Sozialdemokraten nicht auf eigenen Veranstaltungen auf, sondern bei den Kundgebungen des Zentrums oder des Freikonservativen Freiherrn von Stumm.7 In Kassel gelang es Philipp Scheidemann einmal sogar, auf einer Versammlung des Reichsverbands gegen die Sozialdemokratie Sprechzeit zu erzwingen. Der Vorstand räumte ihm zehn Minuten Gelegenheit ein, um dem Publikum die Vorzüge der Sozialdemokratie zu erläutern.8 Der Hinweis auf die Bedeutung der kontradiktorischen Versammlung vermag das Bild einer generell diskussionsunfähigen Gesellschaft zu differenzieren. Doch darf eine solche Korrektur nicht dazu verleiten, die Konstellation nun umgekehrt zu idealisieren. Zwischen dem kontradiktorischen Ideal und der tatsächlichen Praxis der Veranstaltungen lag nicht selten eine breite Kluft. Nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität der Teilnehmenden konnte die Atmosphäre durchaus ruppig sein. Dazu trug erneut auch bei, dass diese Arena zeitgenössisch als eine Art Volksversammlung betrachtet wurden, was stets auch den Anspruch auf eine aktive Rolle des anwesenden Publikums implizierte. Dieses beschränkte sich nicht immer auf Fragen und eigenen Diskussionsbeiträge, sondern ging immer wieder auch zu Zwischenrufen oder Tumult über.9

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Gerlach (1937): Von rechts nach links, S. 159–160. Vgl. Gawatz (2001): Wahlkämpfe, S. 194–203; Arsenschek (2003): Die Wahlfreiheit, S. 303– 321. Vgl. Bellot (1954): Hundert Jahre, S. 183–184, 208, sowie zum Rheinland und zur Lausitz Monshausen (1968): Politische Wahlen, S. 272–273, 341; Buchwitz (1973): 50 Jahre, S. 43– 44, 56–58. Scheidemann (1928): Memoiren, Bd. I, S. 96–97. Siehe auch Noske (1919): Wie ich wurde, S. 21; Gerlach (1937): Von rechts nach links, S. 32–33; Löbe (1990): Der Weg, S. 56–59. Vgl. zu den Sozialdemokraten Welskopp (2000): Das Banner, S. 291–338.

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Außerdem ist daran zu erinnern, dass die Versammlungen stets nur eine politische Arena unter mehreren darstellten. Wie Armin Owzar am Beispiel Hamburgs gezeigt hat, bildete die lagerübergreifende Diskussionskultur der Versammlungen in mancher Hinsicht gerade das Gegenstück zu vielen anderen Sphären der politischen Alltagskommunikation. Während die Vertreter der jeweiligen Eliten auf der öffentlichen Bühne ihre Wortgefechte austrugen, schotteten sich die sozialmoralischen Milieus am Arbeitsplatz, im Familienleben und bei der Freizeitgestaltung weitgehend voneinander ab.10 Und auch im Kontext der Versammlungen waren die Grenzen zwischen den verschiedenen Lagern nie ganz aufgehoben. Besonders die sozialdemokratischen Gegenredner waren keinesfalls immer willkommen und wenn sie doch empfangen wurden, blieben Konflikte nicht immer aus. In den ländlichen Gegenden um Hamburg machten Gegner den Sozialdemokraten das Reden „mit Harmonikas, Krikris und andern Klapperwerkzeugen“11 unmöglich oder unterbrachen die Reden mit ständigen Hochrufen auf den Kaiser, worauf die anwesenden Genossen dann wieder mit einem Hoch auf die Sozialdemokratie antworteten. In Einzelfällen arteten solche Auseinandersetzungen auch in Gewalt aus. Gerade in dieser Hinsicht zeichnete sich in der Versammlungspraxis im Laufe der Zeit ein deutlicher Wandel ab. Der wichtigste Grund, eine allzu rosige Sicht auf die politische Versammlungskultur des Kaiserreichs zurückzuweisen, liegt also darin, dass seine fünf Jahrzehnte sich in dieser Hinsicht nicht auf einen einheitlichen Nenner bringen lassen. 2. MOMENTE DES WANDELS Schon ab den 1880er Jahren machten sich in den Versammlungen Anzeichen eines zunächst schleichenden, auf Dauer aber tiefgreifenden Charakterwandels bemerkbar. Philipp Scheidemann beobachtete, wie die Gelegenheiten, über die Lagergrenzen hinweg mit Gegnern zu debattieren, immer rarer wurden. 12 Diskussionsredner anderer Parteien oder Strömungen wurden seltener eingeladen und in manchen Fällen nicht einmal mehr geduldet. Damit verbunden war eine veränderte organisatorische Form, bei der die Versammlungen zunehmend auf einen einzigen Hauptredner ausgerichtet wurden. Dadurch entfiel nicht nur die Debatte mit Gegenrednern, sondern auch die argumentative Interaktion mit dem Publikum. Während dieses durch Platzkartenvergabe oder andere organisatorische Maßnahmen nach Möglichkeit auf die eigene Anhängerschaft eingeschränkt wurde, beschränkte sich seine Rolle zunehmend auf die bloße Anwesenheit und lautstarke Unterstützung des Redners, durch die nach innen den Zusammenhalt des eigenen Lagers gestärkt und nach außen seine zahlenmäßige Stärke und energische Unterstützung unter Beweis ge-

10 Vgl. Owzar (2006): Reden ist Silber, S. 157–161 et passim. 11 Laufenberg (1911): Arbeiterbewegung, Bd. I, S. 608–609. Vgl. auch Müller (1925): Breslauer Sozialdemokratie, Bd. II, S. 302; Braun (1999): Molkenbuhr, S. 74–75. 12 Scheidemann (1928): Memoiren, Bd. I, S. 71.

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stellt wurden. So gestalteten sich immer mehr Versammlungen als Monolog mit Beifall; aus einem Ort der Deliberation wurde einer der Demonstration. Die graduelle Schwerpunktverschiebung von der kontradiktorischen Debattenveranstaltung zur Parteikundgebung hing nicht zuletzt mit der stärker werdenden Organisationskraft der Parteien und Verbände zusammen. Diese reagierten dabei auch auf den tumultuösen Charakter, der die kontradiktorischen Konfrontationen vor und mit einem gemischten Publikum regelmäßig ausgezeichnet hatte. Allerdings führten solche Disziplinierungsbemühungen in der Praxis keineswegs zur Pazifizierung der politischen Versammlungsöffentlichkeit. Vielmehr veränderte sich der Charakter der Störungen. Dadurch, dass Gegner nicht länger in den Veranstaltungsablauf eingebunden waren, waren deren Handlungsspielräume von vornherein darauf beschränkt, von außen auf ihn einzuwirken. Außerdem verlor die Versammlung durch ihre Homogenisierung den Charakter einer repräsentativen Öffentlichkeit, in der zumindest prinzipiell alle gesellschaftlichen Gruppen und politischen Lager eine Stimme hatten. Gerade der eigene Ausschluss diente oft zur Rechtfertigung, gegnerische Versammlungen zu stören, zu kapern oder zu sprengen. Die dazu angewandten Mittel waren nicht neu. Das Repertoire reichte vom Zwischenruf und lautem Lachen über das Pfeifen, Stampfen, Trommeln, Rufen und Singen bis hin zur komplett ausgewachsenen Katzenmusik. Neben akustischen Störungen wurden unliebsame Redner gelegentlich mit Feuerwerk, Eiern, Fisch, Gemüse oder schlimmstenfalls sogar mit Steinen, Stühlen oder anderen Gegenständen beworfen. Es wurde Ruß oder Cayennepfeffer verstreut, um das Weiterreden unmöglich zu machen, und in vereinzelten Fällen arteten Rangeleien zu veritablen Saalschlachten aus.13 Ähnliches war auch zuvor schon gelegentlich vorgekommen. Was sich allerdings geändert hatte, war der Organisationsgrad solcher Ereignisse. Aus einer Praxis, die in der Regel relativ spontan von einzelnen Elementen des Publikums ausgegangen war, wurde um die Jahrhundertwende zunehmend eine koordinierte und gewissermaßen routinisierte Aktionsform. Parteien bildeten sogenannten Sprengkolonnen, die meist einige wenige, im Einzelfall aber bis zu 1.500 Personen umfassten, um die Versammlungen ihrer Gegner zu kapern, oder wenn das nicht gelang, ihre Auflösung zu bewirken. Das geltende Versammlungsrecht bot dafür günstige Anknüpfungspunkte. Da jede Versammlung mit der Wahl eines vorsitzenden Bureaus eröffnet werden musste, bot sich hier eine erste Gelegenheit, der organisierenden Gruppe die Kontrolle zu entreißen. Gelang dies nicht, ging man mit mehr oder weniger rabiaten Methoden zur Störung über. Da selbst geringfügige Zeichen von Unruhe für die anwesenden Polizisten Anlass sein konnten, die Versammlung aufzulösen, ließ sich der Gegner auf diesem Weg leicht zum Schweigen bringen.

13 Siehe etwa Severing (1950): Mein Lebensweg, Bd. I, S. 27–28. Vgl. für weitere Fälle Romeyk (1969): Die politischen Wahlen, S. 355; Grießmer (2000): Massenverbände, S. 41–42; Czitrich-Stahl (2014): Arthur Stadthagen, S. 117, 180, 548–549.

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Infolge ihres relativ hohen Organisationsgrades taten sich die Sozialdemokraten, die Antisemiten und das Zentrum mit solchen Praktiken besonders hervor. Aber auch Liberale und Konservative beteiligten sich daran, wenn auch nur, um sich gegen den gefühlten Ansturm ihrer Gegner zu wehren.14 Aufgrund der unterschiedlichen räumlichen Verteilung der jeweiligen Anhängerschaften gestalteten sich die gegenseitigen Störungen vor allem im Vorfeld der Wahlen als territorialer Revierkampf. Das galt in den Städten, in denen die erfolgreiche Durchführung einer Veranstaltung in ‚feindlichen‘ Vierteln als besonderer Erfolg gefeiert wurde, aber auch auf dem Land, wo sich besonders die Konservativen mit Unterstützung der lokalen Eliten und Behörden gegen den befürchteten Vormarsch der Sozialdemokratie zur Wehr setzten.15

Abb. 1: Carl Koch, nach einer Zeichnung von E. Hosang: Eine berliner Wahlversammlung: Entfernung der Ruhestörer16

14 Siehe etwa die Hinweise in RT V/2/IV (12.6.1883), S. 3010 (Richter); VII/2/II (10.2.1888), S. 828 (von Friesen); XI/1/I (28.1.1904), S. 547 (Glowatzki), oder auch Reiwald (1903): Geschichte, S. 17–18. 15 Vgl. Saul (1975): Der Kampf, S. 177–187. 16 Quelle: Illustrirte Zeitung (15.2.1890), S. 154.

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Abb. 2: Carl Koch: Aus berliner Wahlversammlungen, Detail: Ausübung des Hausrechts17

Aufgrund ihres zunehmend organisierten Charakters wurden solche ‚Exzesse‘ schon bald erwartbar. „Ein unvermeidliches Uebel aller Parteiversammlungen ist der Ruhestörer“, beobachtete die Leipziger Illustrirte Zeitung im Kontext der Reichstagswahlen von 1890: Erscheint er nur vereinzelt auf der Bildfläche, so ist er bald unschädlich gemacht, schwieriger gestaltet sich der Reinigungsproceß, wenn die verneinenden Geister rottenweise auftreten; dann geht leider mit der Ausübung des Hausrechtes ein gut Stück Zeit verloren, oft genug endet die Versammlung infolge des künstlich herbeigeführten Tumultes mit polizeilicher Auflösung.18

Mit Blick auf eine von den Nationalliberalen, Konservativen und dem Bund der Landwirte gemeinsam veranstaltete Versammlung ging die Zeitung weiter ins Detail. Dabei hob sie hervor, dass das Auftreten der „in keiner politischen Versammlung fehlenden gewerbsmäßig angestellten Ruhestörer“ inzwischen ebenso routinemäßig durch entsprechende Gegenmaßnahmen der anwesenden „Ordnungsmänner“ begegnet wurde. Durch lange Erfahrung gewitzigt haben sie zur Unschädlichmachung der Krakehler besondere Maßregeln getroffen. Jene Quälgeister sitzen gewöhnlich um die hundert Köpfe stark beisammen, um von einem Punkte aus die größte Kraft entwickeln zu können. Die Ordnungsmänner kennen aber ihre Pappenheimer und umgeben diese zunächst mit einer Menschenmauer von stämmigen Gestalten. Von diesem Wall führt eine lange freigehaltene Gasse bis zum – Aus-

17 Quelle: Illustrirte Zeitung (22.2.1890), S. 178. 18 Vor den Wahlen, in: Illustrirte Zeitung (22.2.1890), S. 180.

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gang des Saales. […] Kaum hat der erste Ruhestörer seinen Unkenruf ausgestoßen, so wird er auch schon von nervigen Fäusten ergriffen, aus dem Knäuel herausgezogen und durch die lange Gasse abgeführt.19

So glimpflich wie im geschilderten Fall gingen solche Konfrontationen aber nicht immer aus. Um solche Situationen zu vermeiden, ergriffen die Veranstalter daher schon im Vorfeld verschiedene Maßnahmen, um ihre Versammlungen vor Störungen zu schützen. Als die Treffen der Freisinnigen Volkspartei im Berliner Reichstagswahlkampf des Jahres 1881 wiederholt von Antisemiten und Sozialdemokraten gekapert wurden, versuchten die Organisatoren die Zusammensetzung des Publikums zunächst durch die Vergabe von personalisierten Platzkarten zu regulieren. Als sich die Antisemiten jedoch immer wieder auf falschen Namen Karten besorgten, sah sich die Partei genötigt, beim Einlass eine umfassende Personenkontrolle durch eine „Privatpolizei gegen Bezahlung, zu der besonders handfeste Parteigenossen ausgewählt wurden“20 einzurichten. Auch andere Gruppen bildeten solche inoffiziellen Schutzgruppen, die sodann auch beim Angriff auf gegnerische Veranstaltungen eine Rolle spielten. Um die Ordnung auch während des Versammlungsablaufs leichter wahren zu können, wurden außerdem die interaktiven Programmteile wie die Vorstandswahl und die Diskussion immer mehr eingeschränkt. Der liberale Führer Eugen Richter machte es sogar zur Bedingung seiner Auftritte, dass bei der jeweiligen Versammlung keine Debatte stattfinde. Wenn ein physischer Konflikt wenig erfolgversprechend schien, versuchten die Parteien, den Gegner manchmal auch auszutricksen. Sie kündigten Kundgebungen unter irreführenden Titeln oder erst in allerletzter Minute an, um zu vermeiden, dass sich feindliche Elemente unter das Publikum mischen konnten. Besonders die Sozialdemokraten hielten allerdings dagegen, indem sie eine Art Frühwarnsystem einrichteten: Die Genossen waren angehalten, ihre Parteifunktionäre schnellstmöglich telefonisch oder telegrafisch zu informieren, wenn irgendwo eine gegnerische Veranstaltung angekündigt wurde, sodass sie rechtzeitig eintreffen konnten. So ergab sich ein gegenseitiger Waffenwettlauf, der von den Sozialdemokraten „geradezu sportmäßig“21 betrieben wurde, wie es Scheidemann ausdrückte. 3. AMBIVALENTE REAKTIONEN Als die Versammlungen verstärkt zum Medium der Demonstration wurden, bildete sich um sie herum eine parallele Praxis gegenseitiger Störungen, in denen der politische Kampf im Modus eines akustischen und gelegentlich auch physischen Kräftemessens ausgetragen wurde. Allerdings ist es wichtig, angesichts solcher Tenden19 Eine berliner Wahlversammlung, in: Illustrirte Zeitung (15.2.1890), S. 154. 20 Richter (1894): Im alten Reichstag, Bd. II, S. 202–203. Siehe auch ebd. Bd. II, S. 241. Vgl. für weitere Fälle Müller (1925): Breslauer Sozialdemokratie, Bd. II, S. 352–353; Müller (1962): Politische Strömungen, S. 64. 21 Scheidemann (1928): Memoiren, Bd. I, S. 71, 93–97. Siehe auch Schirmer (1924): 50 Jahre, S. 33–35, 70, sowie zu den Linksliberalen Thompson (2000): Left Liberals, S. 286–287.

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zen nicht vorschnell von einer generellen Verrohung der Streitkultur auszugehen, bei der der gesittete Austausch von Argumenten nach und nach zum gewaltsamen Kampf eskaliert sei. Zeitgenossen haben das zum Teil so gesehen oder zumindest dargestellt. Wenig überraschend wurden gegnerische Sprengungsversuche in der politischen Gesinnungspresse allgemein skandalisiert, während dasselbe Verhalten beim eigenen Lager als Notwehr entschuldigt wurde. Dazu gehörte auch die Betonung der Tatsache, dass die eigenen Versammlungen weiterhin einen offen-kontradiktorischen Charakter hätten, während sich der Gegner der Debatte durch unfaire Mittel entziehe. In solchen gegenseitigen Vorwürfen überlagerten sich Normen politischer Mannhaftigkeit mit der Frage nach den legitimen Mitteln politischer Auseinandersetzung. Ab den 1890er Jahren entfalteten sich um solche Fragen immer wieder öffentliche Kontroversen. Sofern die politische Versammlung weiterhin als quasi-repräsentative Volksversammlung betrachtet wurde, konnte ihre Sprengung als Mundtotmachung der vox populi empfunden werden. Im Lichte der zeitgenössischen Massensoziologie wurden die Störungen außerdem als Zeichen eines Verfalls der rationalen Debattenkultur im Zeitalter der Massen gedeutet.22 Es ist nicht schwer zu verstehen, warum solche Narrative populär waren. Einerseits knüpften sie an Traditionen eines elitären Antipopulismus an. Andererseits ließen sie sich aber auch leicht instrumentalisieren, indem sie den jeweiligen Kontrahenten als Zerstörer des respektablen Diskurses darstellten. Allerdings ist auffällig, dass im politischen Metadiskurs über die Störungen neben abwertenden Ausdrücken auch neutralere Bezeichnungen auftauchten. Der Tonfall der oben zitierten Darstellung in der Illustrirten Zeitung ist keineswegs empört, sondern verrät eher eine beschwichtigende, in Teilen sogar belustigte Perspektive. Das war keineswegs ungewöhnlich. Immer wieder wurden solche Ereignisse als sportliches Kräftemessen, als Schauspiel oder als „nachgerade ein harmloses Vergnügen“23 beschrieben. Während die physische Dimension der Debattenkultur im politischen Metadiskurs also regelmäßig Gegenstand entrüsteter Kommentare war, spricht doch Vieles dafür, dass sie von vielen Zeitgenossen als legitimer oder zumindest unproblematischer Bestandteil der politischen Streitkultur betrachtet wurden. Als sich die antisemitischen Parteien im März 1906 im Reichstag für eine Verschärfung des Versammlungsrechts einsetzten, stießen sie damit bei ihren Kollegen auf wenig Resonanz. Ein beträchtlicher Teil der Debatte erschöpfte sich in den jeweiligen Versuchen der Sozialdemokraten und der Antisemiten, sich gegenseitig den Schwarzen Peter für die Sprengungspraktiken zuzuschieben. Während die Antisemiten die Sozialdemokraten bezichtigten, mit ihrem „Terrorismus“ eine „Art von Gewaltherrschaft“ oder sogar „Schreckensherrschaft“24 über die Versammlungsöffentlichkeit 22 Vgl. im Überblick Middendorf (2013): Masse. 23 Laufenberg (1911): Arbeiterbewegung, Bd. I, S. 608. 24 RT XI/2/III (21.3.1906), S. 2187, 2199, 2210 (Liebermann von Sonnenberg, Raab, Burckhardt).

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auszuüben, erwiderten diese, dass wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen werfen solle, da die „Dreschflegelpolitik“25 genauso oft von den Antisemiten selbst ausginge. Über solchen gegenseitigen Schuldzuweisungen hinaus spiegelte sich in den Debattenbeiträgen jedoch vor allem die Ansicht, dass die bestehende Praxis zwar gelegentlich unerfreuliche Auswüchse mit sich bringe, im Ganzen aber doch nicht wirklich reformbedürftig sei. Der Konservative Max Porzig konnte sich mit Blick auf den Wahlkampf von 1904 an nur eine einzige Gelegenheit erinnern, bei der die Sozialdemokraten eine Versammlung mit „etwas Tumult“26 erfüllt hätten. Der nationalliberale Abgeordnete Albrecht Patzig räumte zwar ein, dass es in manchen Fällen zu Störungen kam, fügte aber hinzu: „Aber darüber dürfen wir doch nicht nervös werden! Wo in der Welt spielen sich solche Kämpfe ohne den und jenen störenden Zwischenfall ab?“27 Er hielt das Problem außerdem für lösbar, wenn man selbst von solchen Mitteln konsequent Abstand nehme und außerdem darauf achte, dass die jeweiligen Versammlungsleiter gut ausgebildet seien, um auf eventuelle Unregelmäßigkeiten adäquat zu reagieren. Der Zentrumsabgeordnete Johannes Giesberts wiederum verwies darauf, dass die Katholiken in seiner rheinischen Heimat mit dem sogenannten Terrorismus bisher sehr gut fertig geworden seien, indem sie deutlich gemacht hätten, dass sie für jede gesprengte Versammlung im Gegenzug selbst auch eine ihrer Gegner sprengen würden. So habe sich in der Praxis ein „gewisses Gewohnheitsrecht“ beziehungsweise ein „allgemeines Versammlungsfaustrecht“ herausgebildet, das er zwar nicht unbedingt zur Nachahmung empfehlen könne, angesichts dessen sich eine Verschärfung des Versammlungsrechts aber erübrige.28 Auch wenn sich die Antisemiten gegen die bagatellisierende Darstellung der Störungen als „harmlosen Wahlulk“29 wehrten, wurde ihr Antrag abgelehnt. So mischten sich in die politisch instrumentalisierte Empörung auch Andeutungen einer zumindest impliziten Akzeptanz einer Praxis, die auf allen Seiten des politischen Spektrums zunehmend zum Alltag gehörte. Diskursive Entrüstung und praktische Akzeptanz standen in Widerspruch zueinander, aber ergänzten sich auch, sofern jede Gruppe in der Tat gleichzeitig daran interessiert war, sich einerseits als respektabel und rational legitimiert, aber andererseits auch als wehrhaft, energisch, und männlich zu inszenieren. Zu dieser widersprüchlichen Konstellation gehörte auch, dass die Konflikte in der Praxis zwar einen handfesten, aber auch hochgradig ritualisierten Charakter hatten. Auch wenn sich manche Situationen zuspitzten, blieb das Geschehen meist auf Rangeleien beschränkt, die vor allem den Charakter eines symbolischen Kräftemessens hatten. Gewöhnlich fingen solche Ereignisse mit akustischen Störungen an und durchliefen danach situativ bedingt verschiedene Eskalationsstufen, von gegensei25 26 27 28 29

Ebd., S. 2191–2193, 2204, 2208–2209, 2215 (Baudert, Bernstein, Stücklen, Hofmann). Ebd., S. 2197 (Porzig). Ebd., S. 2195 (Patzig). Ebd., S. 2193, 2215 (Giesberts). Ebd., S. 2201, 2207 (Raab, Lattmann).

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tigen Beschimpfungen über Drohgebärden und punktuelle Handgreiflichkeiten bis hin zur ‚Saalschlacht‘. Eine solche schrittweise Eskalation implizierte aber keine völlige Enthemmung. In der Regel orientierten sich beide Seiten an unausgesprochenen Normen eines ehrlichen Kampfs, die zwar situativ immer neu ausgehandelt wurden, dabei aber doch eine gewisse Stabilität und Verbindlichkeit über die Lager hinweg entwickelten. Ein allzu großes quantitatives Ungleichgewicht wurde ebenso abgelehnt wie das Angreifen von Frauen, Kindern oder Greisen. Manchmal kamen neben Fäusten auch Gegenstände und sogar Waffen zum Einsatz, aber auch hier wurde von den Beteiligten auf eine gewisse Verhältnismäßigkeit geachtet. Wer sich allzu militärisch gerierte, verließ in zeitgenössischen Augen das Feld der Politik. Schließlich hing die zeitgenössische Beurteilung auch von der Motivation der Beteiligten ab. Die gegenseitigen Verdächtigungen, dass es sich bei den jeweiligen Gegnern um bezahlte Schläger oder alkoholisierte Krawallbrüder gehandelt habe, verweist darauf, dass dieselbe Praxis unterschiedlich beurteilt wurde, je nachdem ob sie aus ‚politischen‘ oder ‚unpolitischen‘ Motiven hervorging. 4. VERGLEICHENDE PERSPEKTIVEN Andersons Hervorhebung der kontradiktorischen Versammlungen des Kaiserreichs stand im Zeichen ihrer übergreifenden These, dass sich im Rahmen dieses autoritär strukturierten Regimes an verschiedenen Stellen überraschend ‚demokratische‘ Praktiken etabliert hätten. Aus diesem Blickwinkel standen die diachronen Entwicklungen der Versammlungspraxis weniger im Vordergrund. Dasselbe gilt für die vergleichende Perspektive auf andere Länder. Andersons Vermutung, dass die kontradiktorische Veranstaltungsform eine Besonderheit des Kaiserreichs dargestellt habe, erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht haltbar.30 Schon ein kurzer Seitenblick auf Großbritannien und Frankreich lässt erkennen, dass nicht nur dieser Versammlungsmodus selbst, sondern auch ihre Entwicklung in den Jahrzehnten um 1900 in einem breiteren europäischen Zusammenhang zu verorten sind. Mit Blick auf Frankreich hat die Politikwissenschaftlerin Paula Cossart gezeigt, dass hier die réunion contradictoire von den späten 1860er bis in die 1880er Jahren hinein den maßgeblichen Modus der politischen Versammlung darstellte.31 Wie in Deutschland bezog sich der dialogische Moment dabei auf das Verhältnis der Debattenredner zueinander, aber auch auf deren Verhältnis zum Publikum. Sich dem argumentativen Wortkampf zu entziehen, indem man nur gleichgesinnte Redner einlud oder das Publikum auf die eigene Anhängerschaft einschränkte, wurde allgemein als feige abgelehnt. Auch in Großbritannien gab es verschiedene Versammlungsformen, in denen Vertreter unterschiedlicher Richtungen aufeinandertrafen. Neben den von den Parteien organisierten Wahlkampfversammlungen war die kon-

30 Anderson (2000): Practicing Democracy, S. 295. 31 Cossart (2010): Le Meeting, S. 84–102, 123–124.

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tradiktorische Form in den sogenannten hustings hier sogar als integraler Bestandteil des Wahlprozesses etabliert. In diesen Nominierungsversammlungen stellten sich die Kandidaten der Bevölkerung ihres Wahlkreises vor, sodass die Vertreter der Parteien nicht nur miteinander, sondern auch mit einem Publikum konfrontiert waren, das grundsätzlich die gesamte Einwohnerschaft umfasste.32 Auch in den Entwicklungen der darauffolgenden Jahrzehnte zeigten sich über die Nationsgrenzen hinweg deutliche Konvergenzen. Im Vereinigten Königreich wurde die hustings im Zuge der Wahlrechtsreform von 1872 durch eine schriftliche Prozedur ersetzt. Schon bald danach änderten auch die Wahlkampfversammlungen ihre Gestalt. Die Parteien organisierten vermehrt getrennte Veranstaltungen, sodass die Kandidaten verschiedener Couleur immer seltener aufeinandertrafen. Der Londoner Lokalpolitiker Henry Jephson beobachtete 1892: It is true that in recent years meetings have assumed a very one-sided character, so far at least as the speaking is concerned, and that it is not often a speaker opposing the object for which the meeting is held can obtain a hearing. The old system of the rival candidates at an election speaking from the same hustings has ceased to exist; each now holds his separate meetings. Likewise, in times gone past, […] at numerous county and other meetings, opposing speakers discussed the question in the presence of the meeting. Now, such a practice scarcely obtains.33

Es ist bezeichnend, dass Jephson die Einseitigkeit der neueren Versammlungen auf den Aspekt der Rede einschränkte. Genauso wie in Deutschland waren die Jahrzehnte um 1900 auch in Großbritannien von einer Konstellation gekennzeichnet, in denen die Versuche der Parteien, eine größere Kontrolle über den Versammlungsablauf zu erreichen, von einer zunehmend routinisierten Störungspraxis konterkariert wurden.34 Die Ratgeberliteratur, die die britischen Parteien seit den 1890er Jahren zur Unterstützung ihres Wahlkampfs produzierten, ging ausführlich auf die Mittel ein, mit denen gegnerische Störungen verhindert werden konnten. Die Wahl eines populären Vorsitzenden könne schon viel bewirken, hieß es etwa. Es wurde empfohlen, auch Frauen einzuladen, da ihre Anwesenheit das Verhalten der Männer positiv beeinflusse. Sofern potenzielle Störenfriede von vornherein als solche identifiziert werden konnten, sollten diese möglichst im Saal verteilt oder in den ersten Reihen platziert werden, wo sie leichter in Schach zu halten seien. Schließlich wurde dazu geraten, einen „good body of friends“ an verschiedenen Stellen unter das Publikum zu mischen, „to endeavour to preserve order by peacable means, and

32 Vgl. O’Gorman (1992): Campaign Rituals; Vernon (1993): Politics, S. 123–126, 225–230; Lawrence (1998): Speaking, S. 178–193; Lawrence (2009): Electing our Masters, S. 14–36, 43–47, 53. 33 Jephson (1892): The Platform, Bd. II, S. 431. 34 Siehe für autobiografische Darstellungen etwa Howes (1907): Fight, S. 25, 97–98, 215–218, 301–303, 307; Russell (1911): One Look Back, S. 189–190; Lansbury (1928): My Life, S. 85– 87, 92–93.

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only in the last resort to remove the offender by force, but without violence or injury.“35 Wie in Deutschland oszillierte der öffentliche Diskurs über solche Ereignisse auch im Vereinigten Königreich zwischen Skandalisierung und Duldung. Während die jeweiligen Gegner einerseits als ungesittete rowdies diskreditiert wurden, drückte sich in vielen Darstellungen auch eine unterschwellige Akzeptanz der Störungen als legitimen Modus des politischen Konfliktaustrags aus. Nach den besonders tumultuösen Wahlen von 1885 beschrieb die Times die „political frenzy“ der vergangenen Monate als gesundes Ventil für gesellschaftliche Spannungen: „A good fight at intervals of four or five or six years is very well.“36 Ein amerikanischer Beobachter merkte kurz vor dem Ersten Weltkrieg an, dass die Engländer die politische Versammlung generell „as a demonstration, rather than a place for serious discussion“ betrachteten, sodass auch die „counter demonstration“ allgemein zu den legitimen Mitteln politischer Auseinandersetzung gerechnet werde.37 Sowohl mit Blick auf die Störungspraktiken selbst als auf den deutenden Metadiskurs darüber gestaltete sich die Konstellation in Frankreich anders. Auch hier zeichnete sich seit den 1880er Jahren eine Intensivierung der Störungen ab. Da sich in Frankreich aber nur relativ schwache Parteistrukturen entwickelten, gingen solche Aktionen hauptsächlich von außerparlamentarischen Bewegungen aus, sodass ihre Dynamik stärker von den Konjunkturen politischer Krisensituationen bedingt war.38 In den Anfangsjahren der Dritten Republik machten sich vor allem die Sozialisten und Anarchisten als „trouble-fête des meetings“39 einen Namen. Allerdings blieben die Störungen in dieser Phase auf vereinzelte Ausnahmesituationen beschränkt. Dies änderte sich im Kontext der Boulangismuskrise der späten 1880er Jahre und vor allem der Dreyfusaffäre um die Jahrhundertwende. Zur Abkehr der jeweiligen antirepublikanischen Kräfte vom politischen Status quo gehörte auch die Ablehnung der kontradiktorischen Versammlungspraxis, die als Sinnbild eines Regimes betrachtet wurde, das in seinem eigenen Wortschwall unterzugehen schien. In ihren Versammlungen lag der Akzent daher weniger auf dem diskursiven Austausch als auf der Demonstration der Teilnehmerstärke und Einmütigkeit der Anhängerschaft. Dieselbe Einstellung wurde auch gegnerischen Versammlungen gegenüber an den Tag gelegt, die regelmäßig durch eigens dafür formierte Banden gestört oder gesprengt wurden. Auch wenn die Republikaner den neuen Stil der politischen Konfrontation durchweg als Verfall der politischen Kultur beklagten, ließ sich die kontradiktorische Praxis im gewandelten Kontext immer schwieriger durchsetzen.40 Durch die enge Verkopplung der Versammlungspraxis mit der Frage

35 Rowe (1892): Manual, S. 60. Siehe auch Woodings (1892): Manual, S. 98–99; Lloyd (1905): Elections, S. 20–24. 36 The Times (9.12.1885), S. 9. 37 Lowell (1908–1912): Government of England, Bd. II, S. 62–65. 38 Vgl. Cossart (2010): Le Meeting, S. 200–235. 39 Le Matin (31.7.1887), S. 1. 40 Vgl. Guiral / Thuillier (1980): La Vie quotidienne, S. 59–60; Birnbaum (1998): Le Moment, S. 13–89.

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nach der Legitimität des Regimes bildete die Auseinandersetzung über die Störungen in der französischen Öffentlichkeit einen Stellvertreterdiskurs über politische Grundsatzfragen. Vor diesem Hintergrund war für eine relativierende Sicht, wie sie in Großbritannien und Deutschland immer wieder durchschimmerte, kein Platz. Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern trägt dazu bei, die Ambivalenzen der Versammlungskultur des Kaiserreichs in einem breiteren Kontext einordnen. Dazu gehört zweitens auch die Frage, inwiefern in den beobachteten Momenten des Wandels um 1900 spätere Entwicklungen vorgezeichnet waren. Zweifellos ließen sich manche der erörterten Phänomene als Schritte eines langfristigen Polarisierungsprozesses beschreiben, durch den eine von der parlamentarischen Formsprache eingehegte politische Streitkultur schrittweise ausgehöhlt und schließlich zerstört worden sei. Die gegenseitigen Versammlungsstörungen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erinnern in mancher Hinsicht an ähnliche Phänomene danach. Zeitgenossen, die die politische Versammlungspraxis des Kaiserreichs und der Weimarer Republik gleichermaßen erlebt hatten, hoben manchmal die Kontinuitäten über die politischen Umbrüche hinweg hervor. Zumindest hinsichtlich der Versammlungsstörungen betrachtete etwa Paul Löbe die vierzig Jahre seiner politischen Karriere bis 1933 als eine Einheit. Er betonte, dass seine eigenen Versammlungen generell nur sehr selten gestört worden waren und dass solche Vorfälle bis zum Auftreten der Kommunisten und Nationalsozialisten nahezu gewaltfrei abgelaufen seien.41 Theodor Heuss sah sich angesichts des Auftretens der nationalsozialistischen Jugendverbände im Jahr 1931 an seine eigenen Jugendjahre erinnert, als er als Student selbst dem sozialdemokratischen Abgeordneten Georg von Vollmar entgegengetreten war. Vor diesem Hintergrund betrachtete er sich als nicht „sentimental genug, um über die ‚Verwilderung‘ des politischen Tons zu klagen“, auch wenn er einräumte, dass die „innere menschliche Situation“ damals anders gewesen sei.42 Auch in der Forschung klingen an manchen Stellen Parallelen an. So hat etwa Andreas Wirsching in einer Studie zu Paris und Berlin in der Zwischenkriegszeit den Kampf um ein „virtuelles Meinungsmonopol“43 als Grundelement des politischen Extremismus der Zwischenkriegszeit hervorgehoben. Die entscheidende Funktion politischer Gewalt sei es gewesen, Demonstrationen und Versammlungen Andersdenkender zu stören und wenn möglich zu sprengen und so den Gegner zum Schweigen zu bringen. Zumindest auf funktionaler Ebene lässt sich dabei also eine gewisse Äquivalenz mit den Saalschlachten der Vorkriegszeit feststellen. Allerdings dürfen neben solchen Analogien auch die erheblichen Diskontinuitäten nicht übersehen werden. Die politische Gewalt auf den Straßen und in den Versammlungssälen der Zwischenkriegszeit ist in der historischen Forschung lange im Lichte der These einer ‚Brutalisierung‘ der politischen Kultur durch den Krieg 41 Löbe (1990): Der Weg, S. 192–196. 42 Brief an Margarete Beutler-Freksa v. 18.3.1931, zit. n. Heuss (2008): Bürger, S. 410. Siehe auch Heuss (1953): Vorspiele, S. 241–244. 43 Wirsching (1999): Weltkrieg zum Bürgerkrieg, S. 247–248, 251, 454–455, 591 et passim.

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betrachtet worden. Demgegenüber haben viele neuere Studien gerade für die ersten Nachkriegsjahre eine relative Pazifizierung des politischen Raums festgestellt.44 Ohne auf solche Debatten hier näher eingehen zu können, ist doch darauf hinzuweisen, dass in beiden Deutungen die Kriegserfahrung als entscheidende Wasserscheide hervorgehoben wird, während für die späten 1920er und frühen 1930er Jahren außerdem noch einmal ein gravierender Qualitätswandel in Bezug auf den Intensitätsgrad und die Gewaltsamkeit solcher Auseinandersetzungen beobachtet wird. Einen unilinearen, mit dem Zeitalter der Massen um 1900 einsetzenden Prozess der schrittweisen Polarisierung der politischen Kultur Deutschlands gab es nicht. 5. FAZIT Aus dem Überblick über die Entwicklung der Versammlungspraxis treten vier zentrale Schlussfolgerungen hervor. Erstens muss betont werden, dass der zähe Mythos von der generellen Diskussionsunfähigkeit des Kaiserreichs von seiner lebendigen politischen Debattenkultur Lügen gestraft wird. Allerdings zeichnete sich in dieser Hinsicht seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein gradueller Wandel ab, der sich als Schwerpunktverschiebung von der Deliberation zur Demonstration kennzeichnen lässt. Dass parallele Entwicklungen auch für Frankreich und Großbritannien festgestellt worden sind, verweist darauf, dass hier nicht nur national spezifische, sondern auch allgemeinere Faktoren zum Tragen kamen, wie die Entstehung der Massenpresse, der ansteigende Organisationsgrad der Parteien und ein politischer Mobilisierungsschub im Kontext des erweiterten Wahlrechts. Der Charakter dieser langfristigen Entwicklung war – dies ist die zweite Beobachtung – vielschichtig. Die Versammlungskultur war von Anfang an von einer Grundspannung zwischen einer quasi-parlamentarischen Formsprache und einer Vielfalt von teilweise noch in volkstümlichen Protesttraditionen gründenden Störpraktiken geprägt. Auch die steigende Organisationskraft der Parteien, die sich etwa durch eine Homogenisierung des Publikums und die Einschränkung dialogischer Programmpunkte um eine größere Kontrolle über den Versammlungsablauf bemühten, führte letztlich nicht zu der von manchen erwarteten oder erhofften Disziplinierung der politischen Interaktion. Vielmehr erhielt die Störungspraxis eine neue Gestalt. Aus einem relativ spontanen, situativen Ereignis wurde ein organisierter Aktionsmodus. Zur Schwerpunktverschiebung von der kontradiktorischen Versammlung zur Parteikundgebung gehörte somit als Gegenstück die Parallelpraxis gegenseitiger Störungs- und Sprengungsversuche. Die beiden Ebenen des politischen Kampfes passten auch insofern zusammen, dass in beiden Fällen die Funktion im Vorder-

44 Vgl. klassisch Mosse (1990): Fallen Soldiers, S. 159–181, sowie zum Einstieg in die neueren Debatten Wirsching / Schumann (2003): Violence and Society; Schröder (2016): Händler und Helden; Mergel (2018): Betrug, S. 105.

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grund stand, das quantitative Gewicht und die energische Unterstützung des eigenen Lagers performativ unter Beweis zu stellen. Nicht nur an den Extremen, sondern im gesamten politischen Spektrum bemühten sich Parteien, auch physisch die Hoheit über das Forum der politischen Versammlung zu erlangen. Vereinzelt wurden dabei sogar Tendenzen der Institutionalisierung sichtbar, wie etwa die Selektion eines auf diese Art der Auseinandersetzung spezialisierten Personals. Bezüglich des Umgangs mit politischer Pluralität hebt der Blick auf die Versammlungspraxis daher drittens die Notwendigkeit hervor, allzu eindeutige Pauschalurteile über ‚das‘ Kaiserreich zu vermeiden. Bekanntlich endete Thomas Nipperdey seine Darstellung dieses Regimes mit der Bemerkung, dass ihre Grundfarbe nicht schwarz und weiß, sondern „grau, in unendlichen Schattierungen“45 war. Was bei dieser oft zitierten Formulierung aber meist vergessen wird, ist, dass damit gerade nicht gemeint war, dass sich die Epoche durch ein uniformes Mittelmaß ausgezeichnet habe. Vielmehr betonte Nipperdey, dass sich die Grautöne bei näherer Betrachtung als das Zusammenwirken einer kaleidoskopischen Vielfalt von unterschiedlichen und nicht selten widersprüchlichen Elementen erwiesen. Gerade auch mit Blick auf die politische Streitkultur dieser Epoche ist es unumgänglich, einerseits die Differenzen zwischen unterschiedlichen politischen Arenen und Interaktionsmodi, andererseits aber auch die inneren Ambivalenzen einzelner Zusammenhänge zu berücksichtigen. Die kontradiktorischen Versammlungen bildeten einen Kontrast zu vielen anderen Bereichen der politischen Auseinandersetzung, die von Abschottung, Konflikt und Repression gekennzeichnet waren, aber negieren diese nicht. Darüber hinaus traten gerade auch in der Praxis der Störungen sowie im zeitgenössischen Umgang mit ihnen eigene Ambivalenzen zutage. In der Presseöffentlichkeit wurden solche Ereignisse fast ausnahmslos skandalisiert. Parteien stellten ihre Gegner als Zerstörer der argumentativen Auseinandersetzung dar. Kulturkritiker diagnostizierten eine allgemeine Krise der Debatte im Zeitalter der Massen. Doch obwohl solche Äußerungen als Teil des öffentlichen Diskurses ernst zu nehmen sind, dürfen sie nicht für bare Münze genommen werden. Trotz der lautstarken Entrüstung weist Einiges darauf hin, dass dieser Modus der physischen Auseinandersetzung von vielen Zeitgenossen als legitimer Teil der politischen Interaktion akzeptiert wurde. Diskursive Polarisierung und praktisches Arrangieren standen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das aber nicht zugunsten einer der beiden Alternativen aufgelöst, sondern selbst als Kennzeichen einer komplexen Konstellation begriffen werden muss. Schließlich schärft die Auseinandersetzung mit den Versammlungen den Blick für die Vielfalt politischer Partizipationsmodi. Die Vorstellung, dass der Großteil der Bevölkerung im Kontext des sich etablierenden politischen Massenmarkts um die Jahrhundertwende immer stärker auf die Rolle eines passiven Konsumenten reduziert wurde, ist nur bedingt tragfähig. Richtig ist, dass der Aspekt der diskursiven Interaktion nicht nur zwischen den verschiedenen Lagern, sondern auch zwischen

45 Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 905.

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dem Redner und seinem Publikum tendenziell in den Hintergrund gedrängt wurde. Neben den neuen quantitativen Dimensionen der Versammlungen spielte dabei auch die Logik einer sich verändernden Medienlandschaft eine Rolle, die immer stärker auf die Figur des ‚großen‘ Redners fokussiert war. Doch auch wenn das Versammlungspublikum nur noch selten individuell zu Wort kam, blieb es keineswegs passiv. Einerseits wurde seine Bedeutung als Resonanzkörper gerade gesteigert, da die Lautstärke und Energie der Publikumsreaktionen eine wesentliche Rolle spielten für das performative Ziel der Veranstaltung, die Macht des eigenen Lagers zu demonstrieren. Darüber hinaus bildete die Praxis der Versammlungsstörungen und ihrer Verhinderung einen Partizipationsmodus, durch den sich gerade auch Bevölkerungsschichten, die im Verbalkampf eher selten gehört wurden, in der politischen Arena bemerkbar machten. LITERATUR Anderson, Margaret L.: Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton, NJ 2000. Arsenschek, Robert: Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich. Zur parlamentarischen Wahlprüfung und politischen Realität der Reichstagswahlen 1871–1914 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 136), Düsseldorf 2003. Bellot, Josef: Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft (1815– 1918), Bonn 1954. Birnbaum, Pierre: Le Moment antisémite. Un tour de la France en 1898, Paris 1998. Braun, Bernd: Hermann Molkenbuhr (1851–1927). Eine politische Biographie (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 118), Düsseldorf 1999. Buchwitz, Otto: 50 Jahre Funktionär der deutschen Arbeiterbewegung, 4. Aufl., Berlin 1973. Cossart, Paula: Le Meeting politique. De la délibération à la manifestation, 1868–1939, Rennes 2010. Czitrich-Stahl, Holger: Arthur Stadthagen – Anwalt der Armen und Rechtslehrer der Arbeiterbewegung. Politische Biographie eines beinahe vergessenen sozialdemokratischen Juristen und Reichstagsabgeordneten. Diss., Fernuniv. Hagen 2014. Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. Elias, Norbert: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1990. Fairbairn, Brett: Democracy in the Undemocratic State. The German Reichstag Elections of 1898 and 1903, Toronto 1997. Gawatz, Andreas: Wahlkämpfe in Württemberg. Landtags- und Reichstagswahlen beim Übergang zum politischen Massenmarkt (1889–1912) (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 128), Düsseldorf 2001. Gerlach, Hellmut von: Von rechts nach links, hrsg. v. Emil Ludwig, Hildesheim 1978, zuerst 1937. Grießmer, Axel: Massenverbände und Massenparteien im wilhelminischen Reich. Zum Wandel der Wahlkultur, 1903–1912 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 124), Düsseldorf 2000. Guiral, Pierre / Thuillier, Guy: La Vie quotidienne des députés en France, 1871–1914, Paris 1980. Heuss, Theodor: Vorspiele des Lebens. Jugenderinnerungen, Tübingen 1953. Heuss, Theodore: Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933 (Stuttgarter Ausgabe), hrsg. v. Michael Dorrmann, München 2008. Howes, Joseph: Twenty-Five Years’ Fight With the Tories, Leeds 1907. Jephson, Henry: The Platform. Its Rise and Progress, 2 Bde., New York / London 1892.

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DIE TRIPOLARITÄT DER REICHSHAUPTSTADT Berliner Politik im Spannungsfeld von Reich, Staat und Kommune 1871–1918 Lennart Bohnenkamp Es war schon ein seltsames Gebilde, das vor 150 Jahren im Spiegelsaal von Versailles das Licht der Welt erblickte. Das im Jahr 1871 gegründete deutsche Kaiserreich war ein Kuriosum, ein Unikum in der Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Das Reich war nämlich kein Einheitsstaat wie die 1870 gegründete Dritte Französische Republik oder das 1861 gegründete Königreich Italien, auch kein Bundesstaat wie das 1830 gegründete Königreich Belgien oder die 1848 gegründete Schweizerische Eidgenossenschaft.1 Die Eigenartigkeit des Kaiserreichs bestand in seinem „hegemonialen Föderalismus“2, in dem diffusen Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander von preußischen Institutionen und Reichsinstitutionen in der doppelten Hauptstadt Berlin, Hauptstadt des Königreichs Preußen und zugleich Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs. In der Forschung gehen die Meinungen, wie die historische Bedeutung dieses seltsamen Gebildes einzuschätzen ist, weit auseinander.3 Die eine Seite sieht in der preußischen Hegemonie den Kern eines Sonderweges, der Deutschland in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts hineingeführt habe: in den Ersten und Zweiten Weltkrieg, in das NS-Regime und seine Verbrechen, in den Kalten Krieg und die deutsch-deutsche Teilung. Seit den 1970er Jahren war der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler einer der führenden Vertreter dieser sogenannten Sonderwegsthese, die auch in jüngeren Publikationen wieder in abgeschwächter Form aufgegriffen wurde, etwa von Hartwin Spenkuch oder Eckart Conze.4 Im Mittelpunkt dieser Sonderwegsthese stehen daher die preußischen Institutionen und ihre Funktion als konservatives Bollwerk gegen die „Parlamentarisierung“ und „Demokratisierung“ des Kaiserreichs. Die andere Seite sieht in der preußischen Hegemonie eher ein Relikt aus alten Zeiten, eine überholte Tradition, die sich im Kaiserreich bereits selbst überlebt hatte. Die preußische Hegemonie habe sich nämlich im Laufe der Jahrzehnte abgeschwächt und sei spätestens in der Vorkriegszeit aufgelöst worden. Seit den 1970er 1 2 3 4

Daum et al. (2006–2023): Verfassungsgeschichte. Nipperdey (1986): Föderalismus, S. 83. Siehe hierzu den Beitrag von Ulrich Lappenküper in diesem Band. Wehler (1973): Kaiserreich; Wehler (1995): Gesellschaftsgeschichte; Spenkuch (2019): Preußen; Conze (2020): Schatten.

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Jahren war Manfred Rauh einer der führenden Vertreter dieser sogenannten Parlamentarisierungs- und Unitarisierungsthese, die in den letzten Jahren wieder von Christopher Clark, Frank-Lothar Kroll und Hedwig Richter vertreten wird.5 Im Mittelpunkt dieser These stehen im Gegensatz zur Sonderwegsthese nicht die preußischen Institutionen, sondern die Reichsinstitutionen und vor allem der Reichstag mit seinem wachsenden Einfluss auf die Reichsregierung.6 Und selbst diejenigen Historiker, die den Begriff der „Parlamentarisierung“ kritisch sehen und lieber von einer Konsolidierung des Parlamentarismus im Rahmen der konstitutionellen Monarchie sprechen, beziehen sich in ihrer Argumentation nur auf das Reich und nicht auf Preußen.7 Über alle Streitpunkte hinweg sind sich die Kontrahenten in einem Punkt aber erstaunlich einig: Denn beide Thesen konstruieren einen Dualismus zwischen Preußen und Reich, den es – so mein Gegenargument – in der hochkomplexen Verfassungswirklichkeit des Kaiserreichs in dieser Form nicht gegeben hat. In dem von der DFG geförderten Forschungsprojekt über „Politik in der doppelten Hauptstadt Berlin“8 untersuche ich deshalb preußische Politik und Reichspolitik nicht länger als zwei voneinander unabhängige Handlungseinheiten. Es ist Zeit für einen „Prussian turn“, der die preußischen Institutionen stärker in die Untersuchung der Reichsinstitutionen integriert und die preußisch-deutsche Regierungspraxis anhand der Regierungsakten, Parlamentsprotokolle, Selbstzeugnisse und Zeitungsartikel sowohl Preußens als auch des Reichs rekonstruiert. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen deshalb vor allem kulturgeschichtliche Fragen nach den „Wahrnehmungsweisen“, „Wechselwirkungen“9 und „Verflechtungen“10 zwischen preußischer Politik und Reichspolitik: Welche Akteure regierten mit welchen Praktiken und mit welchen Effekten in der doppelten Hauptstadt Berlin? Und welche gewollten und ungewollten Dynamiken erzeugte das Wechselspiel zwischen preußischer Politik und Reichspolitik? Mit diesem Ansatz wird die histoire croisée, die eigentlich für transnationale Beziehungen konzipiert wurde, in gewisser Weise auf die Innenpolitik übertragen. Eine solche Kulturgeschichte der Politik, die „nicht nur neue Geschichten auffinden, sondern auch die alten Geschichten neu erzählen“11 will, vertritt den Anspruch, eine Neuinterpretation des preußisch-deutschen Regierungssystems von 1871 bis 1918 vorlegen zu können. Meine These lautet, dass die Wechselwirkungen zwischen preußischer Politik und Reichspolitik seit den 1880er Jahren zu unkontrol5

Rauh (1973): Föderalismus; Rauh (1977): Parlamentarisierung; Clark (2007): Preußen; Kroll (2013): Moderne; Richter (2020): Demokratie. Siehe aktuell auch Haardt (2020): Bund. 6 Zum Forschungsstand der Unitarisierungs- und Parlamentarisierungsthese siehe zuletzt kritisch Spenkuch (2019): Preußen, S. 214–231. Siehe auch Kühne (2005): Parlamentarisierung. 7 Schlegelmilch (2014): Perspektiven; Hewitson (2001): Constitutional Crisis. 8 Prof. Dr. Ute Daniel (Leiterin): Politik in der doppelten Hauptstadt Berlin 1867–1918. Wechselwirkungen, Verflechtungen und Interferenzen zwischen preußischer Politik und Reichspolitik vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Kaiserreichs. 9 Daniel (2006): Kulturgeschichte, S. 12, 60. 10 Werner / Zimmermann (2002): Verflechtung, S. 609. 11 Mergel (2012): Kulturgeschichte, S. 7.

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lierbaren Eigendynamiken führten, die den hegemonialen Föderalismus in der Vorkriegszeit an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit brachten. Die Dysfunktionalität des preußisch-deutschen Regierungssystems vor 1914 war zwar nicht in der Bismarckschen Reichsverfassung angelegt, wurde aber durch gesamtgesellschaftliche Umwälzungen begünstigt, für die das Reich im Jahr 1871 weder gedacht noch gemacht worden war. In diesem Aufsatz werde ich die Fragestellung des DFG-Projekts um eine dritte Untersuchungsebene erweitern. Denn die Metropole Berlin war im Kaiserreich nicht nur Reichshauptstadt und preußische Hauptstadt, sondern auch die größte deutsche Stadtgemeinde ihrer Epoche. Die Berliner Politiker bewegten sich, so meine Grundannahme, in einem Spannungsfeld, dessen drei Pole das Reich, der Staat Preußen und nicht zuletzt auch die Kommune Berlin bildeten. Diese Tripolarität der Reichshauptstadt erzeugte ihre ganz spezifischen Probleme, die der Gegenstand dieses Aufsatzes sein sollen. 1. DIE VERDOPPELUNG DER PERSÖNLICHKEIT: PERSONELLE VERFLECHTUNGEN IM REGIERUNGSSYSTEM DES KAISERREICHS Die engmaschigen Verflechtungen zwischen Reich, Staat und Kommune zeigten sich vor allem in den zahlreichen Personalunionen der politischen Akteure. Das Charakteristische am hegemonialen Föderalismus war, dass viele Politiker Doppeloder sogar Dreifachfunktionen ausübten, die sie auf allen drei Feldern der Berliner Politik zu gefragten Mitspielern machten. Von diesen Personalunionen war nur die des Monarchen in Artikel 11 der Reichsverfassung festgeschrieben. Die Rechte des doppelten Monarchen ergaben sich aus der Kombination der Reichsverfassung von 1871 mit der preußischen Verfassung von 1850: Der Kaiser und König allein hatte das Recht, die Reichsregierung genauso wie die preußische Staatsregierung zu ernennen und zu entlassen. Dieses sogenannte monarchische Prinzip, das dem Monarchen die Prärogative gegenüber Regierung und Parlament einräumte, war eine preußische Tradition, die aufgrund der Personalunion des Monarchen auf das Reich übertragen wurde.12 Nur in der Kommunalpolitik war das monarchische Prinzip stärker eingeschränkt. Diese Tradition der kommunalen Selbstverwaltung war in der preußischen Städteordnung von 1853 gesetzlich festgeschrieben und ging auf die Steinsche Städtereform von 1808 zurück. Der Berliner Magistrat wurde nicht wie die Reichsregierung oder die Staatsregierung vom Monarchen ernannt, sondern von der Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt. Der Monarch hatte allerdings das Recht, diese Wahl zu

12 Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 85–109. Siehe hierzu den Beitrag von Jan Markert in diesem Band.

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bestätigen, und in Einzelfällen machte Wilhelm II. auch von seinem Recht Gebrauch, einem gewählten Mitglied des Magistrats die Bestätigung zu verweigern.13 Aus der Personalunion des Monarchen, der als König von Preußen auch Kaiser des Reiches war, leiteten sich in der Verfassungswirklichkeit des Kaiserreichs auch die Personalunionen auf der Regierungsebene ab. Der Reichskanzler war immer zugleich auch Vorsitzender des Bundesrats, fast durchgängig preußischer Außenminister und meist auch zugleich preußischer Ministerpräsident. Die Staatssekretäre der Reichsämter waren zugleich preußische Bevollmächtigte im Bundesrat und konnten zusätzlich zu preußischen Ministern ohne Ressort ernannt werden. Die preußischen Ressort-Minister wiederum vertraten als preußische Bundesratsbevollmächtigte die Regierung im Bundesrat und im Reichstag.14 Der Berliner Oberbürgermeister schließlich hatte seit der Gründung des preußischen Herrenhauses im Jahr 1854 dort einen ständigen Sitz.15 Und auch einige Stadträte im Berliner Magistrat übten nebenbei ein Mandat im Reichstag oder im Abgeordnetenhaus aus. Der Reichskanzler Bernhard von Bülow erklärte gegenüber den preußischen Ministern im Jahr 1905 dementsprechend, dass in der Regierungspolitik „zwischen preußischen und Reichsinteressen umsoweniger geschieden werden könne, als Seine Majestät der König zugleich deutscher Kaiser sei“16. Auch auf der Parlamentsebene gab es zahlreiche Doppelmandate in allen erdenklichen Kombinationen: Die meisten sogenannten „Doppelmandatare“ waren gleichzeitig Mitglieder im Reichstag und Mitglieder im Abgeordnetenhaus, häufig sogar für denselben Wahlkreis.17 Der nationalliberale Doppelmandatar Eugen Schiffer nannte dieses Phänomen scherzhaft die „Verdoppelung meiner politischen Persönlichkeit“18. Es gab aber auch Parlamentarier, die Mitglied im Reichstag und gleichzeitig Mitglied im Herrenhaus waren.19 Der linksliberale Doppelmandatar Eugen Richter sah in der Personalunion der Parlamente ein notwendiges Äquivalent zur Personalunion der Regierungen. Im Reichstag betonte er schon in der BismarckZeit, dass „eine gewisse Personalunion auch der Abgeordneten“ notwendig sei, „[w]eil in der obersten Spitze Personalunion herrscht, weil die Minister für Preußen und das Reich vielfach dieselben sind“20. Im Reichstag gab es daher auch um die Jahrhundertwende noch so viele Mitglieder des preußischen Landtags, dass Zeitgenossen wie der sozialdemokratische Parteivorsitzende August Bebel den Eindruck haben konnten, sie hätten nicht den 13 Flemming / Schaulinski / Ulrich (2020): Rote Rathaus, S. 87–90; Spenkuch (1998): Herrenhaus, S. 315–327. 14 Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 85–109. Siehe hierzu den Beitrag von Oliver Haardt in diesem Band. 15 Spenkuch (1998): Herrenhaus, S. 306–312. 16 GStA PK, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3607: Sitzungsprotokolle des Staatsministeriums, Bd. 150, Bl. 30–30v (02.01.1905). 17 Hähnel (2018): Doppelmandate. 18 Schiffer (1951): Liberalismus, S. 20. 19 Spenkuch (1998): Herrenhaus, S. 194–201, 258–262, 408–412. 20 StBRT, 81. Sitzung, 07.05.1883, S. 2355.

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deutschen Reichstag, sondern immer noch den „Norddeutschen Reichstag“21 vor sich. Unter den 397 Reichstagsabgeordneten saßen in der Legislaturperiode 1898– 1903 immerhin 108 Mitglieder des Abgeordnetenhauses und 16 Mitglieder des Herrenhauses.22 Viele Berliner Stadtverordnete hatten ebenfalls zusätzliche Mandate im Reichstag oder im Abgeordnetenhaus. Einige Parlamentarier hatten sogar Dreifachmandate und vertraten ihre Partei in allen drei Berliner Parlamenten. Und auch die Journalisten der Hauptstadtpresse waren häufig in allen drei Berliner Parlamenten akkreditiert. Mit ihrer dreifachen Berichterstattung schufen sie einen gemeinsamen Kommunikationsraum, in dem über alle politischen Fragen im Spannungsfeld von Reich, Staat und Kommune diskutiert werden konnte.23

Abb. 1: Robert Meinhardt (1835–1910): Ansicht von Berlin aus der Vogelperspektive, 1871 24

21 StBRT, 180. Sitzung, 02.05.1902, S. 5240A. 22 Zum Abgeordnetenhaus: Kühne (1994): Dreiklassenwahlrecht, S. 254. Zum Herrenhaus: Eigene Auswertung nach Haunfelder (1999, 2004, 2010): Handbuch. 23 Zur Bismarck-Zeit siehe Biefang (2009): Reichstag, S. 66–96. 24 Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 270, A 2062.

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2. DIE DYSFUNKTIONALITÄT DES REGIERUNGSSYSTEMS: WECHSELWIRKUNGEN IM SPANNUNGSFELD VON REICH, STAAT UND KOMMUNE Aus den personellen Verflechtungen zwischen Reich, Staat und Kommune entwickelten sich starke Wechselwirkungen, die das Regierungssystem in den ersten Jahren nach der Reichsgründung zunächst stabilisierten. Im besten Fall konnten diejenigen Akteure, die sich in der Tripolarität der Reichshauptstadt zurechtfanden, ihren Einfluss in Gesetzgebungsprozessen auf allen drei Ebenen geltend machen und dabei Interessengegensätze zwischen Reich, Staat und Kommune moderieren und ausgleichen. Doch das Momentum von 1871 brachte dem Kaiserreich kein Glück. Denn schon in den 1880er Jahren setzten in ganz Europa gesellschaftliche, wirtschaftliche und auch politische Umwälzungen ein, für die Ulrich Herbert den Begriff der „Hochmoderne“25 geprägt hat: das Bevölkerungswachstum und die Hochindustrialisierung in den Städten, die Herausbildung der Arbeitermilieus und die Fundamentalpolitisierung der unteren Bevölkerungsschichten und schließlich die Entstehung des modernen Interventions- und Sozialstaats. Unter diesen neuartigen Bedingungen des politischen Handelns erwies sich der hegemoniale Föderalismus schon bald als revisionsbedürftige Fehlkonstruktion. Die spezifischen Wechselwirkungen zwischen Reich, Staat und Kommune erzeugten seit den 1880er Jahren drei hochkomplexe Eigendynamiken, die sich im Laufe der Jahrzehnte wechselseitig verstärkten und sich schließlich in der Vorkriegszeit zu einem geradezu unlösbaren Problemkomplex verdichteten. Diese drei Eigendynamiken sind von der Forschung zwar bereits punktuell untersucht worden, jedoch meist nur isoliert für die Reichspolitik und nicht im Spannungsfeld von Reich, Staat und Kommune. Erst eine integrative, kulturgeschichtliche Perspektive, welche die Berliner Politik in einem Gesamtkontext betrachtet, kann diese Eigendynamiken sichtbar machen und damit auch die spezifischen Probleme des preußisch-deutschen Regierungssystems besser erklären. 2.1. Existenzielles Schwänzen: Die Überlastung des Politikbetriebs Die Entstehung des modernen Interventions- und Sozialstaats und die damit einhergehende Professionalisierung des Politikbetriebs ließ die Arbeitsbelastung der Berliner Politiker seit den 1880er Jahren drastisch ansteigen. In den 1870er Jahren waren die meisten Regierungsmitglieder und Parlamentarier noch Honoratioren, die nach der berühmten Definition von Max Weber zwar „für die Politik“, aber nicht

25 Zur Theorie der „Hochmoderne“: Herbert (2007): High Modernity. Zur Geschichte der „Hochmoderne“ im Kaiserreich: Herbert (2014): Geschichte Deutschlands, S. 25–116. Siehe ausführlich Wehler (1995): Gesellschaftsgeschichte, S. 493–847.

Die Tripolarität der Reichshauptstadt

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„von der Politik“ lebten.26 Seit den 1880er Jahren übernahmen aber in den Berliner Parlamenten immer mehr Berufspolitiker die Führungspositionen ihrer Fraktionen.27 Wie sich die Professionalisierung des Politikbetriebs jedoch auf den Arbeitsalltag der Berliner Parlamentarier ausgewirkt hat, ist von der Forschung bisher nur für den Reichstag und für das Herrenhaus untersucht worden.28 Es fehlen jedoch vergleichende Studien, die auch den Parlamentsalltag der Mitglieder des Abgeordnetenhauses und der Stadtverordnetenversammlung in den Fokus rücken.29 Denn nicht nur die Gesetzgebung des Reiches, sondern auch die preußische Gesetzgebung wurde seit den 1880er Jahren immer umfassender und komplexer. Vor allem der Reichstag und das Abgeordnetenhaus mussten seit dieser Zeit immer häufiger und länger tagen. Zum Vergleich: In den 1870er Jahren tagten Reichstag und Abgeordnetenhaus nicht länger als drei bis vier Monate pro Session und brauchten dafür jeweils selten mehr als 80 Plenarsitzungen. Die beiden Parlamente konnten also in den Winter- und Frühlingsmonaten problemlos nacheinander tagen. Um die Jahrhundertwende tagten die beiden Parlamente dagegen regelmäßig sechs bis sieben Monate pro Session und brauchten dafür meistens weit über 90 Plenarsitzungen.30 Für Doppelmandatare war die Ausdehnung der Sessionen ein echtes Problem: Häufige Überschneidungen von Sitzungsterminen ließen sich nicht mehr vermeiden.31 Der Zentrumspolitiker Carl Herold, der wie andere Doppelmandatare oft mehrmals am Tag zwischen Reichstag und Abgeordnetenhaus hin- und herpendelte, wurde von seinen Kollegen bald nur noch scherzhaft der „Hin- und Herold“32 genannt. Wer das Hin- und Herpendeln zu stressig fand, bevorzugte eine einfachere Lösung: das „Schwänzen“. Ein konservativer Doppelmandatar brachte die Problematik schon im Jahr 1892 zur Heiterkeit des Reichstags auf den Punkt: „Es ist das Schwänzen für die Herren, die auf Doppelmandate reingefallen sind, wie ich auch, eine Existenzbedingung des Inhabers. Er kann gar nicht bestehen ohne Schwänzen, entweder hier oder da.“33 Das „Schwänzen“ wurde tatsächlich seit den 1890er Jahren zur Regel und verursachte wiederum neue Probleme: Die Parlamente waren aufgrund der vielen schwänzenden Doppelmandatare häufiger beschlussunfähig, was die Bearbeitung der Gesetzentwürfe und die Dauer der Tagungen wiederum in die Länge zog. Und die längere Tagungsdauer wiederum verschärfte das Problem

26 Weber (1919): Politik als Beruf, S. 13–14. 27 Biefang (2009): Reichstag, S. 162–175. Siehe auch die Aufsätze in dem Sammelband Gall (2003): Politikstile im Wandel. 28 Biefang (2009): Reichstag, S. 175–201; Spenkuch (1998): Herrenhaus, S. 484–488. 29 Zu dieser Forschungslücke siehe beispielhaft die neueren Überblicksdarstellungen Heimann (2011): Landtag und Flemming / Schaulinski / Ulrich (2020): Rote Rathaus. 30 Zur Übersicht der Legislaturperioden und Sessionen der Berliner Parlamente siehe StBRT, StBAH, StBHH und StBSV. 31 Siehe beispielhaft Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 20.09.1892, Morgen-Ausgabe, S. 2 (ZEFYS). 32 Schiffer (1951): Liberalismus, S. 20. 33 StBRT, 152. Sitzung, 20.01.1892, S. 3752D.

128

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des „Schwänzens“. Die Doppelmandatare mussten daher den Schwerpunkt ihrer Mitarbeit entweder in den Reichstag oder in den Landtag verlegen.34 140 120 100 80 60 40

20 0

Reichstag

Abgeordnetenhaus

Abb. 2: Anzahl der Plenarsitzungen in einer Session.35

Und auch für die Berliner Kommunalpolitiker wurde es immer schwieriger, ihre Doppel- und Dreifachmandate terminlich miteinander zu vereinbaren. Der linksliberale Stadtrat Otto Fischbeck war in der Vorkriegszeit neben seiner kommunalpolitischen Tätigkeit auch einige Jahre lang gleichzeitig sowohl Mitglied des Reichstags als auch Mitglied des Abgeordnetenhauses gewesen. Zusätzlich war er auch noch Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender, erst im Abgeordnetenhaus, ab 1912 im Reichstag. Wenn alle drei Berliner Parlamente gleichzeitig tagten, kamen für Fischbeck zu den dicht gestaffelten Sitzungen des Reichstags und Landtags auch noch die wöchentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats hinzu.36 Eine solche Mehrfachbelastung war auch für einen Berufspolitiker wie Otto Fischbeck zu viel. Im Januar 1913 kündigte er an, dass er „wegen Ueberlastung und mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand“ als Partei- und Fraktionsvorsitzender der Linksliberalen zurücktreten müsse.37 Im Juni 1913 trat Fisch-

34 GStA PK, VI. HA, Nl Winckler, J. F., Nr. 24: Meine Chronik, 6. Abschnitt: Politische und kirchliche Tätigkeit bis zum Weltkriege, S. 15. 35 Eigene Statistik nach StBRT und StBAH. Eine Session umfasst in dieser Statistik alle Plenarsitzungen vom 01.09. bis zum 31.08. des Folgejahres. Die Beschriftung der x-Achse zeigt nur jede zweite Session an. 36 Wermuth (1922): Beamtenleben, S. 324–327. 37 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 21.01.1913, Rubrik „Parteibewegung“, S. 2 (ZEFYS).

Die Tripolarität der Reichshauptstadt

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beck auch nicht mehr zur Landtagswahl an und war also vorerst „nur“ noch Stadtrat und Hinterbänkler im Reichstag.38 Seine Ambitionen auf das Amt des Berliner Oberbürgermeisters musste Fischbeck unter diesen Umständen aufgeben.39 Die Zeiten, in denen ein Oberbürgermeister wie Max von Forckenbeck gleichzeitig Mitglied des Reichstags und Mitglied des preußischen Landtags war, waren definitiv vorbei. Man könnte es auch so formulieren: Ein Doppel- oder Dreifachmandat wurde zum politischen Burnout-Faktor Nr. 1 im Kaiserreich.

Abb. 3: Reichstagsgebäude in Berlin, um 190540

Die Professionalisierung der Politik hat das personelle Verflechtungssystem seit den 1890er Jahren an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Die häufige Beschlussunfähigkeit der Berliner Parlamente und die Arbeitsüberlastung der Parlamentarier führte dazu, dass die Reichstagsabgeordneten seit der Jahrhundertwende parteiübergreifend die Einführung von Diäten für den Reichstag forderten.41 Sobald die Doppelmandatare im Reichstag eigene Diäten bekommen würden, wären sie nicht mehr auf ihre Landtagsmandate angewiesen, für die sie in Preußen genauso wie in den meisten anderen Bundesstaaten seit den 1870er Jahren Diäten bekamen. Als schließlich im Mai 1906 das Diätengesetz beschlossen und mit sofortiger Wirkung in Kraft getreten war, befreiten sich viele Parlamentarier von dem

38 39 40 41

Kühne (1994): Handbuch, S. 839. Wermuth (1922): Beamtenleben, S. 326. Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Band 16. Leipzig 1908, o. S. Butzer (1999): Diäten, S. 207–246.

130

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Druck ihres Doppelmandats und traten schon bei der nächsten Abgeordnetenhauswahl im Juni 1908 nicht mehr an. Der Anteil derjenigen Mitglieder des Abgeordnetenhauses, die gleichzeitig Mitglieder des Reichstags waren, sank daher nach der Einführung der Reichstagsdiäten von stabilen 25% (1898, 1903) auf 16% (1908) und schließlich auf einen historischen Tiefstwert von 10% (1913).42 Diese Eigendynamik war nach 1906 in allen bürgerlichen Parteien zu beobachten und lässt sich daher nicht allein mit dem Wahlsieg der SPD von 1912 erklären. Der Rückgang der Doppelmandate ist von der Forschung auch durchaus registriert worden. Aber ihre politische Bedeutung für einen funktionierenden hegemonialen Föderalismus wurde bisher nicht erkannt, weil die Doppelmandate fast immer nur unter dem finanziellen Gesichtspunkt der Diätenlosigkeit des Reichstags diskutiert wurden.43 Dabei hatte der freikonservative Doppelmandatar Karl Freiherr von Gamp-Massaunen schon im Januar 1904 gerade deshalb vor der Einführung von Reichstagsdiäten gewarnt, weil sie zu einem Rückgang der Doppelmandate führen könnten. Gamp-Massaunen betonte, „daß ein gewisser Zusammenhang namentlich zwischen der preußischen Gesetzgebung und der des Reiches ganz unvermeidlich ist“44. Die Desintegration der Berliner Fraktionen war besonders für die konservativen und liberalen Parteien problematisch, weil ihre Parteiapparate nur schwach ausgebildet waren und ihre Parlamentarier nur über Doppelmandate in die Fraktionsarbeit ihrer Parteifreunde eingebunden waren.45 Eine funktionale Differenzierung der Doppel- und Dreifachmandate war zwar die logische Folge der Professionalisierung des Politikbetriebs. Das preußisch-deutsche Regierungssystem mit seinen charakteristischen Doppelmandaten war aber für Honoratioren gedacht, die nicht „von der Politik“, sondern „für die Politik“ lebten. Für Berufspolitiker und die Herausforderungen eines modernen Interventions- und Sozialstaats war der hegemoniale Föderalismus nicht geschaffen. 2.2 Ungekrönte Könige: Das Auseinanderdriften der Mehrheitsverhältnisse Die Desintegration des personellen Verflechtungssystems wurde seit den 1880er Jahren durch das immer stärkere Auseinanderdriften der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in den drei Berliner Parlamenten noch verschärft. In den 1870er Jahren waren alle drei Parlamente noch von den liberalen Parteien dominiert worden. Das änderte sich jedoch schon seit den 1880er Jahren. Denn die unterschiedlichen Wahlrechtssysteme in Reich, Staat und Kommune reflektierten die gesell-

42 Kühne (1994): Dreiklassenwahlrecht, S. 354. 43 Kühne (1994): Dreiklassenwahlrecht, S. 353–355; Butzer (1999): Diäten, S. 144–147; Biefang (2009): Reichstag, S. 169–170. Eine rühmliche Ausnahme aus der Perspektive der süddeutschen Bundesstaaten: Hähnel (2018): Doppelmandate. 44 StBRT, 18. Sitzung, 25.01.1904, S. 465D. 45 Siehe zu den Parteistrukturen die Aufsätze im Sammelband Dowe / Kocka / Winkler (1999): Parteien im Wandel.

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131

schaftlichen Umwälzungen und die damit verbundene Fundamentalpolitisierung der unteren Bevölkerungsschichten auch unterschiedlich stark. Im Reichstag, der nach dem gleichen Wahlrecht gewählt wurde, stellte die katholische Zentrumspartei seit den 1890er Jahren mit um die 100 Mandaten immer die stärkste Fraktion. Nur bei der Wahl von 1912 konnten die Sozialdemokraten mit ihren 110 Mandaten einmalig am Zentrum vorbeiziehen.46 Im preußischen Abgeordnetenhaus, das nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählt wurde, drifteten die Mehrheitsverhältnisse dagegen deutlich nach rechts: Hier stellten die Konservativen seit den 1880er Jahren mit weit über 100 Mandaten immer die stärkste Fraktion.47 In der Berliner Stadtverordnetenversammlung, die ebenfalls nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählt wurde, drifteten die Mehrheitsverhältnisse dagegen deutlich nach links: Die linksliberalen Fraktionen verfügten zwar vom Anfang bis zum Ende des Kaiserreichs über die Mehrheit der Mandate, aber ihr Vorsprung auf die Sozialdemokraten schmolz langsam aber sicher dahin.48 Diese parlamentarische Disparität, die sich ab der Jahrhundertwende noch einmal drastisch verschärfte, erschwerte den Regierungen, die zumindest in Preußen und im Reich an der Spitze noch immer in Personalunion geführt wurden, die Konzeption einheitlicher Regierungsrichtlinien, die Bildung stabiler Parteikoalitionen und das Aushandeln parlamentsübergreifender Kompromisse.49 Das Auseinanderdriften der Mehrheitsverhältnisse hatte aber nicht nur Auswirkungen auf die Regierungsarbeit. Je stärker die Mehrheiten auseinanderdrifteten, desto mehr verloren die Doppelmandate ihre ohnehin schon schwindende Integrationskraft: In der Berliner Stadtverordnetenversammlung konnte Oscar Cassel, der Fraktionsvorsitzende der Linksliberalen, stellvertretende Vorsitzende der Versammlung und „ungekrönte König von Berlin“, nach Lust und Laune schalten und walten.50 Im preußischen Abgeordnetenhaus dagegen, wo er ebenfalls ein Mandat hatte und zu den führenden Mitgliedern seiner Fraktion zählte, musste er immer wieder erleben, wie seine kleine Oppositionspartei mit ihren 30 bis 40 Mitgliedern von den 140 bis 150 Konservativen und ihren jeweiligen Bündnispartnern kompromisslos überstimmt wurde. So geschah es zum Beispiel beim sogenannten Zweckverbandsgesetz für Groß-Berlin im Sommer 1911, als das Abgeordnetenhaus sich über den scharfen Protest von Cassel und den anderen Vertretern Berlins hinwegsetzte und die kommunalen Strukturen der Metropolregion Berlin reformierte.51 Im preußischen Abgeordnetenhaus wiederum herrschte der Fraktionsvorsitzende der Konservativen, Ernst von Heydebrand, als „ungekrönter König von Preußen“.52 Im 46 47 48 49

Ritter (1980): Arbeitsbuch, S. 38–42. Siehe im einzelnen auch Reibel (2007): Handbuch. Kühne (1994): Handbuch, S. 54–83. Baasen (2012): Wahlen. GStA PK, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3611: Sitzungsprotokolle des Staatsministeriums, Bd. 154, Bl. 287v–289v (25.06.1907). 50 Wermuth (1922): Beamtenleben, S. 319–320. 51 Flemming / Schaulinski / Ulrich (2020): Rote Rathaus, S. 91–97. 52 BLHA, Rep. 7 Freier, Nr. 7: Lebenserinnerungen G. v. Plehwe und Tätigkeitsberichte K. v. Plehwe, Bl. 6.

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Reichstag dagegen, wo er auch ein Mandat hatte, musste er erleben, wie seine vergleichsweise kleine Oppositionspartei mit ihren 50 bis 60 Mitgliedern von den etwa 100 Abgeordneten des Zentrums und ihren jeweiligen Bündnispartnern überstimmt wurde.53 RT 1871

AH 1870

RT 1881

AH 1882

RT 1893

AH 1893

RT 1903

AH 1903

RT 1912

AH 1913

Konservative

14,9%

26,4%

12,6%

27,9%

18,1%

33,0%

13,6%

33,3%

10,8%

33,2%

Freikonservative

9,7%

Nationalliberale

32,7%

Linksliberale54

12,3%

Zentrum

– 11,5% 14,6%

– 4,9% 29,2%

+ 3,5% 12,7%

– 0,4% 16,5%

11,8%

+ 4,7%

SPD

0,5%

0%

+ 0,5%

– 15,3% 7,1%

14,5%

– 7,4% 11,8%

15,7%

– 3,9% 29,0%

14,1%

+ 14,9% 25,2%

22,4%

+ 2,8% 3,0%

0%

+ 3,0%

– 14,9% 7,1%

15,2%

– 8,1% 13,4%

20,6%

– 7,2% 12,1%

4,6%

+ 7,5% 24,2%

21,7%

+ 2,5% 11,1%

0%

+ 11,1%

– 19,7% 5,3%

13,9%

– 8,6% 12,8%

18,5%

– 5,7% 9,1%

7,6%

+ 1,5% 25,2%

22,4%

+ 2,8% 20,4%

0%

+ 20,4%

– 22,4% 3,5%

12,2%

– 8,7% 11,3%

16,5%

– 5,2% 10,6%

9,0%

+ 1,6% 22,8%

23,3%

– 0,5% 27,7%

2,3%

+ 25,4%

Tab. 1: Ausgewählte Mandatsanteile der Parteien und die Differenz zwischen Reichstag (RT) und Abgeordnetenhaus (AH)55

Und je weiter die Mehrheitsverhältnisse auseinanderdrifteten, desto kleiner wurden die Schnittmengen zwischen den Berliner Fraktionen ihrer jeweiligen Parteien. Nicht alle Parlamentarier gaben ihr Doppelmandat freiwillig auf, weil sie aufgrund der Professionalisierung des Politikbetriebs überlastet waren. Im preußischen Abgeordnetenhaus gab es viele Parlamentarier, denen es seit der Jahrhundertwende schlichtweg nicht mehr gelang, ihre Reichstagswahlkreise gegen die Sozialdemokraten zu gewinnen. Als zum Beispiel Oscar Cassel im Januar 1907 in seinem angestammten Berliner Wahlkreis, in dem er unter dem Dreiklassenwahlrecht immer die Stadtverordneten- und Abgeordnetenhauswahl gewonnen hatte, nun auch unter 53 Westarp (1935): Konservative Politik, S. 194–196. 54 Die Linksliberalen umfassen alle freisinnigen, fortschrittlichen und demokratischen Splitterparteien. 55 Eigene Statistik nach Kühne (1994): Handbuch, S. 55 und Ritter (1980): Arbeitsbuch, S. 38– 42.

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dem gleichen Wahlrecht zur Reichstagswahl antrat, musste er gegen seinen sozialdemokratischen Herausforderer eine klare Niederlage einstecken. So kam es, dass die drei linksliberalen Führungspolitiker der Stadtverordnetenversammlung zwar bis 1918 ihre Doppelmandate im Abgeordnetenhaus behielten, aber keiner von ihnen mehr in die Reichstagsarbeit seiner Partei eingebunden war.56

Abb. 4: Preußisches Abgeordnetenhaus, um 190057

Unter diesen Bedingungen fiel es den bürgerlichen Parteien schwer, sich in der Wahlrechtsfrage eindeutig zu positionieren. Die einzige Partei, die konsequent die Einführung des gleichen Wahlrechts für alle drei Berliner Parlamente forderte, war die SPD. Die SPD war aber auch die einzige Partei, die in allen drei Parlamenten vom gleichen Wahlrecht profitiert hätte. Nicht einmal die Linksliberalen und das Zentrum setzten sich geschlossen für die Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen ein, obwohl ihre Parteiprogramme diese Forderung sogar enthielten. Gerade die Zurückhaltung der preußischen Linksliberalen hatte einen wichtigen Grund: In der Stadtverordnetenversammlung konnten sie ihre Mehrheit gegenüber den Sozialdemokraten nur auf der Grundlage des Dreiklassenwahlrechts halten.58

56 Reibel (2007): Handbuch, S. 123–124, 132–133; Kühne (1994): Handbuch, S. 174–177. Siehe auch Wermuth (1922): Beamtenleben, S. 330–332. 57 Quelle: Album von Berlin. 55 Ansichten nach Momentaufnahmen in Photographiedruck. Berlin [1900], o. S. 58 Kühne (1994): Dreiklassenwahlrecht, S. 381, 471–472, 508. Siehe auch Wermuth (1922): Beamtenleben, S. 330, 399 und Mutius (1928): Nachlaß Dallwitz, S. 148.

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Nach dem Scheitern der preußischen Wahlrechtsreform im Frühjahr 1910 war die Situation so verfahren, dass man sogar von einer „Resignation der bürgerlichen Wahlreformbewegung“ und einem „verfassungspolitischen Immobilismus“59 sprechen kann. Die Verschiedenheit der Wahlrechtssysteme war aus Sicht des preußischen Handelsministers und ehemaligen Reichsstaatssekretärs Reinhold von Sydow „ein Fehler im Aufbau“60 des Kaiserreichs. Das preußisch-deutsche Regierungssystem war eben für möglichst homogene Mehrheitsverhältnisse in den Berliner Parlamenten gedacht. Für auseinanderdriftende Parlamentsmehrheiten und die Herausforderungen einer sich politisierenden Wählerschaft war der hegemoniale Föderalismus nicht geschaffen. 2.3. Freie Fahrt für alle: Die dreifache Parlamentarisierung Neben der Überlastung des Politikbetriebs und dem Auseinanderdriften der Mehrheitsverhältnisse gab es eine dritte Eigendynamik, welche die Handlungsspielräume der Regierungen zusätzlich einengte: die dreifache Parlamentarisierung im Reich, in Preußen und in der Stadtgemeinde Berlin. In der Bismarck-Zeit war der Einfluss der drei Berliner Parlamente auf ihre jeweiligen Regierungen noch vergleichsweise gering.61 Nach der Jahrhundertwende gewann der Reichstag jedoch – darin ist sich die Forschung einig – immer mehr Einfluss auf die Politik der Reichsregierung.62 Die gleichzeitigen Parlamentarisierungsprozesse im Abgeordnetenhaus und in der Stadtverordnetenversammlung wurden allerdings von der Forschung bisher kaum zur Kenntnis genommen.63 Eine weitere Schwäche der Parlamentarisierungsdebatte ist, dass der Begriff „Parlamentarisierung“ meist nicht genau definiert wird. Diejenigen Historiker, die mit einer klaren Definition arbeiten, verstehen unter „Parlamentarisierung“ in der Regel die Regierungsbildung und das Agenda-Setting durch eine Parlamentsmehrheit.64 Nach dieser Definition war das parlamentarische Regierungssystem in der Berliner Kommunalpolitik am weitesten vorangeschritten. Nur hier hatte ein Berliner Parlament tatsächlich das Recht, seine Regierung zu wählen. Und im Frühjahr 1912 zeigte die Stadtverordnetenversammlung, dass sie auch die Macht hatte, einen Oberbürgermeister zum Rücktritt zu drängen. Der Oberbürgermeister Martin 59 Kühne (1994): Dreiklassenwahlrecht, S. 569–574, Zitate S. 573–574. 60 GStA PK, VI. HA, FA R. v. Sydow, Nr. 4414: Lebenserinnerungen, Bl. 370. 61 Zum Reichstag siehe Biefang (2009): Reichstag, S. 237–277. Siehe hierzu den Beitrag von Sebastian Rojek in diesem Band. 62 Zum Problem der parlamentarischen Regierungspraxis im Reichstag vor 1914 siehe Daniel (2020): Demokratiegeschichte, S. 34–35. Ausführlich Rauh (1977): Parlamentarisierung; Kühne (2005): Parlamentarisierung; Haardt (2020): Bund. 63 Zu dieser Forschungslücke siehe beispielhaft die neueren Überblicksdarstellungen Heimann (2011): Landtag und Flemming / Schaulinski / Ulrich (2020): Rote Rathaus. 64 Daniel (2020): Demokratiegeschichte, S. 34–35; Spenkuch (2019): Preußen, S. 218–219, 229– 230. Siehe hierzu den Beitrag von Christoph Nonn in diesem Band.

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Kirschner hatte sich in mehreren Personalentscheidungen nicht gegen die Stadtverordneten durchsetzen können.65 Da die Stadtverordnetenversammlung jedoch auf ihrer Forderung beharrte, kündigte Kirschner entnervt seinen Abschied an.66 Der Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung, Paul Michelet, verhandelte zunächst mit den Vorsitzenden der Fraktionen über die Wahl eines geeigneten Nachfolgers. Die Wahl fiel schließlich auf Adolf Wermuth, den gerade erst entlassenen Staatssekretär des Reichsschatzamts. Bevor Wermuth jedoch der Stadtverordnetenversammlung als Kandidat vorgestellt werden konnte, erhielt er eine Einladung in Michelets Wohnung am Schöneberger Ufer südlich des Tiergartens. Dort traf er zu seiner Überraschung auch auf Oscar Cassel. Cassel unterwarf den Kandidaten nach Wermuths Erinnerung „einem gelinden Examen“. Erst als Cassel nach diesem vertraulichen Vorgespräch der Kandidatur zugestimmt hatte, konnte Wermuth im Mai 1912 zur Wahl antreten. Das bedeutete in der Praxis: Gegen den Willen des „ungekrönten Königs von Berlin“ konnte kein Oberbürgermeister sein Amt antreten. Und gegen die linksliberale Mehrheit der Stadtverordnetenversammlung konnte kein Magistrat auf Dauer regieren. Aus diesem Grund bestand eine der ersten Amtshandlungen des neuen Oberbürgermeisters Wermuth darin, die Personalforderungen der Stadtverordneten zu erfüllen.67 Im preußischen Abgeordnetenhaus ging der Einfluss der Konservativen zwar nicht so weit, dass sie die Staatsregierung selbst bilden oder stürzen konnten. Aber die Auswahl der Regierungsmitglieder war zumindest indirekt von der konservativen Mehrheit im Abgeordnetenhaus abhängig. In der letzten Staatsregierung des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg saßen von acht Ressort-Ministern immerhin vier Minister, die entweder früher einmal Parlamentarier oder Mitglieder in einer der beiden konservativen Parteien gewesen waren.68 Einer von ihnen war Bethmann selbst, der im Jahr 1890 als Freikonservativer für kurze Zeit im Reichstag gesessen hatte und seitdem als „Parteigenosse“69 galt. In seinen Memoiren beschrieb Bethmann, wie ausgerechnet die Konservativen das parlamentarische Regierungssystem im preußischen Abgeordnetenhaus etabliert hatten: „In Preußen war ein der Parlamentarisierung ähnlicher Zustand in dem Anspruch der Konservativen auf entscheidende und die Linke so gut wie exkludierende Beeinflussung der Regierung praktisch beinahe verwirklicht.“70 Nicht nur im Rückblick, auch schon während seiner Kanzlerschaft klagte Bethmann in den Sitzungen des preußischen

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StBSV, 6. Sitzung, 09.02.1911, S. 66–73; StBSV, 18. Sitzung, 23.05.1912, S. 205–208. Wermuth (1922): Beamtenleben, S. 317–318, 324–326. Wermuth (1922): Beamtenleben, S. 318–321, 330–332, Zitat S. 319. Theobald von Bethmann Hollweg, August von Trott zu Solz, Johann von Dallwitz und Clemens Freiherr von Schorlemer-Lieser. Siehe Gerhold (2002): Schorlemer, S. 44. 69 Vossische Zeitung, 13.05.1912, Montags-Ausgabe, Leitartikel „Der Kanzler im Urteil seiner Parteigenossen“, S. 1 (ZEFYS). 70 Bethmann (1919): Betrachtungen, S. 97.

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Staatsministeriums mehrfach über die „Errichtung einer konservativen Diktatur“71 im Abgeordnetenhaus. In Preußen bedeutete „Parlamentarisierung“ also nicht, dass der „ungekrönte König von Preußen“ und seine Konservativen im Abgeordnetenhaus die Staatsregierung selbst ernennen oder entlassen konnten. Dieses Recht blieb im Besitz des tatsächlich gekrönten Königs von Preußen – und die Konservativen achteten sorgsam darauf, dass sie dieses Recht nicht antasteten.72 Und dennoch war die parlamentarische Stellung der Konservativen im preußischen Abgeordnetenhaus so stark, dass sie die Regierungsagenda mitbestimmen konnten, wie zahlreiche Beispiele aus der Vorkriegszeit belegen.73 Gerade diejenigen Regierungsmitglieder, die in ihren Doppelfunktionen sowohl mit dem Reichstag als auch mit dem Landtag zusammenarbeiten mussten, hielten die „Parlamentarisierung“ in Preußen sogar für durchschlagender als im Reich. In seinen Memoiren ergänzte Bethmann seine Beobachtungen zur „Parlamentarisierung“ in Preußen mit einem Seitenblick auf das Reich: Im Reiche aber, wo der Gedanke von der unbefriedigten Linken scharf vertreten wurde, stiftete er doch mehr Unruhe, als daß er bei dem Mangel jeder auch nur äußerlich geschlossenen, geschweige denn innerlich homogenen Parteienmehrheit praktisch erreichbare Ziele aufgedeckt hätte.74

Mit anderen Worten: Es war für eine Reichsregierung, die nicht mit den 110 Sozialdemokraten im Reichstag zusammenarbeiten wollte, geradezu unmöglich, eine „innerlich homogene Parteienmehrheit“ aus Konservativen, Liberalen und Zentrum zu bilden. Das war auch der Grund dafür, dass der Reichstag im Gegensatz zur Stadtverordnetenversammlung und zum Abgeordnetenhaus kaum einen Einfluss auf die Regierungsbildung hatte: Die Parlamentarier der größten Fraktionen des Reichstags – Sozialdemokraten und Zentrum – galten dem Kaiser schlichtweg nicht als regierungsfähig. Wenn man also für die Regierungspraxis der Vorkriegszeit mit Blick auf den Reichstag den Begriff der „Parlamentarisierung“ verwenden möchte, dann müsste man eigentlich mit Blick auf das Abgeordnetenhaus und die Stadtverordnetenversammlung von einer dreifachen „Parlamentarisierung“ sprechen. Der Vergleich zwischen den Parlamentarisierungsprozessen in Reich, Staat und Kommune sollte aber nicht den Eindruck erwecken, als hätten sich diese Prozesse unabhängig voneinander ausgewirkt: Jeder Parlamentarisierungserfolg, den eines der drei Berliner

71 GStA PK, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3616: Sitzungsprotokolle des Staatsministeriums, Bd. 159, Bl. 142v–143 (18.04.1910). 72 Westarp (1935): Konservative Politik, S. 366–370; Spenkuch (2019): Preußen, S. 229–230; BLHA, Rep. 7 Freier, Nr. 7: Lebenserinnerungen G. v. Plehwe und Tätigkeitsberichte K. v. Plehwe, Bl. 3–5. 73 Siehe unter anderem: GStA PK, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3319: Verlangen des Landtags nach Anwesenheit der Minister bei den Beratungen, Bl. 98–113; BArch R 43/1091: Abgeordnetenhaus. Diäten und Reisekosten, Bl. 98–112. 74 Bethmann (1919): Betrachtungen, S. 97.

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Parlamente erkämpfte, konnte auch Rückwirkungen auf die anderen beiden Parlamente haben.

Abb. 5: Muster für eine Freifahrkarte für Mitglieder des Deutschen Reichstages, 191275

Ein Beispiel für solche Wechselwirkungen ist die bereits erwähnte Einführung von Diäten für Reichstagsabgeordnete im Mai 1906. Das Diätengesetz wird in der Forschung häufig als Beleg für die Parlamentarisierung und Unitarisierung des Reichstags angeführt.76 Bei dieser Behauptung wird jedoch erstens übersehen, dass der Reichstag seine Forderung nur deshalb durchsetzen konnte, weil er immer wieder auf die Ungerechtigkeit hingewiesen hatte, dass ja auch das Abgeordnetenhaus längst Diäten bekam.77 Zweitens fühlte sich nach der Einführung der Reichstagsdiäten im Mai 1906 nun wiederum das Abgeordnetenhaus benachteiligt. Denn die Reichstagsabgeordneten behielten nach 1906 ihre Freifahrtkarten auf allen deutschen Eisenbahnstrecken, die sie ursprünglich als Ausgleich für die Diätenlosigkeit des Reichstags bekommen hatten. Solche Freifahrtkarten wollte das Abgeordnetenhaus nun auch für die preußischen Eisenbahnen haben – und bekam sie schließlich nach hart umkämpften Verhandlungen mit der Staatsregierung im Frühjahr 1910.78 Vom Reichstag und Abgeordnetenhaus schwappte die Debatte schließlich auch in die Stadtverordnetenversammlung hinüber. Hier waren es die Doppelmandatare der Linksliberalen und Sozialdemokraten, die seit 1906 ebenfalls Freifahrkarten für die

75 Die Worte „Muster“ und „Als Freifahrkarte nicht zu benutzen“ sind im Original in Rot gedruckt. Quelle: Eisenbahndirektion Mainz (Hrsg.): Amtsblatt der Königlich Preußischen und Großherzoglich Hessischen Eisenbahndirektion in Mainz, 29.01.1912, Nr. 5. Bekanntmachung Nr. 74, S. 30. 76 Butzer (1999): Diäten, S. 449–450. 77 StBRT, 18. Sitzung, 25.01.1904, S. 468C. 78 BArch R 43/1091: Abgeordnetenhaus. Diäten und Reisekosten, Bl. 98–112.

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Stadtverordneten auf allen Berliner Straßenbahnen forderten.79 Für Oscar Cassel war diese Forderung eine Selbstverständlichkeit: „Wir treten doch immer dafür ein, daß im Reiche und im Lande den Abgeordneten freie Fahrt gewährt wird.“80 Solche Parlamentarisierungsspiralen, in denen sich die Forderungen der Berliner Parlamentarier wechselseitig verstärkten, gab es auch in anderen Themenfeldern, beispielsweise in der Frage nach der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, die seit Jahr 1912 sowohl im Reichstag als auch im Abgeordnetenhaus intensiv diskutiert wurde.81 Als der Reichskanzler und Ministerpräsident Bethmann schließlich im Winter 1913/14 wegen seines Verhaltens während der Zabern-Affäre im Reichstag und Herrenhaus ein doppeltes Misstrauensvotum erhielt – und das aus jeweils entgegengesetzten Motivlagen –, stand das Kaiserreich am Rande der Unregierbarkeit.82 Dem nach links driftenden Reichstag war der Ministerpräsident Bethmann zu rechts. Und dem nach rechts driftenden Landtag war der Reichskanzler Bethmann zu links. Sicherlich wäre das Regieren mit dem Reichstag für den Reichskanzler einfacher gewesen, wenn er nicht gleichzeitig auch Ministerpräsident gewesen wäre. Und umgekehrt hätte der Ministerpräsident wohl ganz gut mit den Konservativen im Landtag auskommen können, wenn er nicht gleichzeitig Reichskanzler gewesen wäre. Nur war eine dauerhafte Trennung der beiden Regierungsämter undenkbar in einem Reich, in dem der König von Preußen zugleich deutscher Kaiser war. Über einen Mittelsmann ließ der resignierte Bethmann den Konservativen deshalb bereits im Sommer 1913 nach der Verabschiedung der Wehrvorlage ausrichten, dass er über seinen Abschied nachdenke: „[E]r sehe ein, daß gegen die Konservativen in Preußen Deutschland nicht regiert werden könne“83. Umgekehrt galt Bethmanns Erkenntnis freilich auch: Das Reich konnte nicht nur gegen die Konservativen, sondern auch mit den Konservativen nicht mehr regiert werden. Das preußisch-deutsche Regierungssystem war eben für eine konstitutionelle Monarchie gedacht, in der die Regierung über den Parteien stand und allein vom Vertrauen des Monarchen abhing, der die Einheitlichkeit der preußisch-deutschen Politik garantierte. Für eine parlamentarische Monarchie, in der die Regierung auch von dem Willen der auseinanderdriftenden Parlamentsmehrheiten abhängig war, war der hegemoniale Föderalismus nicht geschaffen.

79 StBSV, 35. Sitzung, 29.11.1906, S. 425. 80 StBSV, 1. Sitzung, 19.01.1913, S. 12–14, Zitat S. 14. 81 GStA PK, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3319: Verlangen des Landtags nach Anwesenheit der Minister bei den Beratungen, Bl. 98–113. 82 Zum Misstrauensvotum des Reichstags siehe Rauh (1977): Parlamentarisierung, S. 186–202. Zum Misstrauensvotum des Herrenhauses siehe StBHH, 3. Sitzung, 10.01.1914, Sp. 21–48. 83 Westarp (1935): Konservative Politik, S. 388. Siehe hierzu abweichend den Beitrag von Wolfram Pyta in diesem Band.

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3. LÄHMENDE HALBHEITEN: VERSUCH EINER SYNTHESE Aus der wechselseitigen Verstärkung aller drei Eigendynamiken resultiert meine Hauptthese: Die Überlastung des Politikbetriebs, das Auseinanderdriften der Mehrheitsverhältnisse und die dreifache Parlamentarisierung führten zu einer zunehmenden Desintegration bis hin zur Dysfunktionalität des preußisch-deutschen Regierungssystems vor 1914. Nicht die epochalen Umwälzungen der Hochmoderne an sich waren das spezifische Problem des deutschen Kaiserreichs. Die Professionalisierungs-, Demokratisierungs- und Parlamentarisierungsprozesse, die das Kaiserreich seit den 1880er Jahren prägten, gab es auch in anderen europäischen Staaten des späten 19. Jahrhunderts.84 Das Problem des Kaiserreichs war, dass die Tripolarität der Reichshauptstadt und ihre Wechselwirkungen zwischen Reich, Staat und Kommune diese drei Modernisierungsprozesse auf höchst eigenartige Weise deformierten: Die Entstehung des Interventions- und Sozialstaats führte zwar zur Professionalisierung des Politikbetriebs, aber gleichzeitig auch zur Arbeitsüberlastung der Doppelmandatare und damit zur Desintegration des personellen Verflechtungssystems. Die Fundamentalpolitisierung der unteren Bevölkerungsschichten führte zwar zu einer Demokratisierung des Reichstags, aber gleichzeitig auch zum Auseinanderdriften der Mehrheitsverhältnisse und damit zur Verkomplizierung der Regierungspraxis. Die dreifache Parlamentarisierung und ihre Parlamentarisierungsspiralen verstärkten zwar den Einfluss der Parlamente auf ihre Regierungen, blockierten aber mit ihren entgegengesetzten Wirkrichtungen gleichzeitig die Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems vor allem in Preußen und im Reich – und mit abgeschwächtem Effekt auch in der Stadtgemeinde Berlin. Unter diesem Problemkomplex litt auch Theobald von Bethmann Hollweg in seiner Doppelrolle als Reichskanzler und Ministerpräsident. Die „Anomalie zwischen der ausgesprochen konservativen Richtung der preußischen Politik und der liberaleren Führung der Reichsgeschäfte“ war nach seiner Wahrnehmung die ungelöste „Kernfrage“ des preußisch-deutschen Regierungssystems: „Der Zwang, mit zwei Parlamenten verschiedener Zusammensetzung und entgegengesetzter Gesinnung zu arbeiten, mußte jede Regierung in lähmende Halbheiten verstricken.“85 Aus diesem Befund lässt sich entgegen der bisherigen Forschungskontroverse weder ein preußisch-deutscher Sonderweg noch eine Parlamentarisierung oder Unitarisierung des Kaiserreichs ableiten. Meine kulturgeschichtlich inspirierte Neuinterpretation besteht vielmehr darin, der Eigenartigkeit des Kaiserreichs mit einer Synthese aus beiden Ansätzen zu begegnen: Nicht die vermeintlich preußische Blockade einer politischen „Modernisierung“ war das Dilemma des deutschen Kaiserreichs, sondern die Unfähigkeit des hegemonialen Föderalismus, die durchaus vorhandenen Modernisierungstendenzen im Rahmen seines hyperkomplexen Regierungssystems so zu kanalisieren, dass sie sich nicht destruktiv, sondern produktiv auswirkten.

84 Richter (2020): Demokratie. 85 Bethmann (1919): Betrachtungen, S. 96; Bethmann (1921): Betrachtungen, S. 175–176.

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QUELLEN Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde: BArch R 43/1091: Abgeordnetenhaus. Diäten und Reisekosten. Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam: BLHA, Rep. 7 Freier, Nr. 7: Lebenserinnerungen G. v. Plehwe und Tätigkeitsberichte K. v. Plehwe. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem: GStA PK, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3319: Verlangen des Landtags nach Anwesenheit der Minister bei den Beratungen. GStA PK, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3607, 3611, 3616: Sitzungsprotokolle des Staatsministeriums, Bd. 150, 154, 159. GStA PK, VI. HA, FA R. v. Sydow, Nr. 4414: Lebenserinnerungen. GStA PK, VI. HA, Nl Winckler, J. F., Nr. 24: Meine Chronik, 6. Abschnitt: Politische und kirchliche Tätigkeit bis zum Weltkriege. StBAH: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten. Berlin 1867–1918. StBHH: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses. Berlin 1867–1918. StBRT: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. Berlin 1867–1918, http:// www.reichstagsprotokolle.de (letzter Zugriff 24.04.2021). StBSV: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin. Berlin 1874–1918, https://digital.zlb.de/viewer/ metadata/16046606/1/ (letzter Zugriff 28.04.2021). ZEFYS: Zeitungsinformations-System der Staatsbibliothek zu Berlin, https://zefys.staatsbibliothekberlin.de/ (letzter Zugriff 24.04.2021).

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MASSENDEMOKRATIE UND GESELLSCHAFT, PARLAMENT UND PARTEIEN

ZWISCHEN KOOPERATION UND KONFLIKT Eine Fallstudie zur Auseinandersetzung des Liberalismus mit der Marine um die Ministerverantwortlichkeit im frühen Kaiserreich Sebastian Rojek Am Vormittag des 31. Mai 1878 ereilte die junge Kaiserliche Marine ein schweres Unglück: An diesem Tag kollidierte das Panzerschiff „Großer Kurfürst“ bei seiner allerersten Ausfahrt mit seinem Schwesterschiff „König Wilhelm“ vor der britischen Küste auf dem Weg zu einer Geschwaderübung.1 Die Marine musste den Totalverlust ihres modernsten Kriegsschiffs und überdies den Tod von 269 Seeleuten verkraften.2 Der fatale Zusammenstoß hatte sich ereignet, obwohl das „Wetter schön und klar, die See ruhig gewesen“3 waren. Deshalb war die Verwunderung in der Presse groß, wie „ein solches Unglück in der neunten Vormittagsstunde eines klaren Tages bei ruhiger See hat geschehen können“.4 Da die Medien das Unglück sogleich als eine Katastrophe deuteten, welche die gesamte Nation getroffen habe,5 kam es zu einer annähernd zweijährigen öffentlichen Debatte um die Ursachen des Unglücks. Das aufsehenerregende Attentat auf den Kaiser am 2. Juni und die darauffolgende Reichstagsauflösung sowie das Sozialistengesetz änderte an dieser Situation nichts, verband es sich doch mit einem Narrativ, das darauf hinauslief, dass die Nation gleich zwei Katastrophen auf einmal zu verarbeiten habe,6 die „schwer auf dem deutschen Volk drücken“7, wie der Liberale Julius Hölder seinem Tage-

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Vgl. zum bis heute nicht vollständig aufgeklärten Unglück, dessen Ursachen wohl in einer Mischung aus Unerfahrenheit der Mannschaft, Manövrierfehlern und / oder technischen Mängeln zu suchen sind: Sondhaus (1997): Kurfürst; ders. (1997): Preparing, S. 125–135. Hubatsch (1958): Admiralstab, S. 42. Gutachten der Havarie-Commision über die Collision S.M.S. ‚König Wilhelm‘ mit S.M.S. ‚Großer Kurfürst‘ vom 31. Mai 1878 (Kiel, 18.07.1878), in: BArch-MA, RM 1/18, Bl. 2–19, hier Bl. 4. Neue Preußische Zeitung, 2.6.1878. Vgl. Vossische Zeitung, 1.6.1878, 2.6.1878; Kölnische Zeitung, 1.6.1878 Zweites Blatt, 3.6.1878 Zweites Blatt; Neue Preußische Zeitung, 2.6.1878, Kölnische Zeitung, 1.6.1878 Erstes Blatt; Germania, 1.6.1878. Vgl. etwa Kölnische Zeitung, 5.6.1878 Zweites Blatt, 7.6.1878 Erstes Blatt, und im Jahresrückblick, 3.1.1879 Erstes Blatt; Vossische Zeitung 3.8.1878. Allg. zur Medialisierung und den Folgen des Mordanschlags Dietze (2008): Kornblumen; Mühlnikel (2014): Attentate, S. 51– 67, S. 125–130, S. 177–180. Tagebucheintrag Julius Hölders am 4. Juni 1878, gedruckt bei Langewiesche (Hrsg.) (1977): Tagebuch, S. 107.

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buch anvertraute. Trotz der neuen politischen Turbulenzen blieb der Schiffsuntergang also ein relevantes Medienereignis, auf das die Presse nichtsdestotrotz immer wieder zurückkam. Im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stand der Staatssekretär der Marine, General-Admiral Albrecht von Stosch, dessen Amtsführung bald als Ursache des Unfalls galt. Die komplexe Katastrophenbewältigungskommunikation erreichte schließlich im März 1880 verfassungspolitische Dimensionen, als die Linksliberalen im Reichstag „eine Art Misstrauensvotum“8 gegen den Chef der Marine einbrachten, um ihn dazu zu zwingen, Parlament und Öffentlichkeit endlich volle Rechenschaft über die Ursachen des Unglücks abzulegen. Obwohl der Antrag an den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag scheiterte, kann der in der Forschung bisher kaum beachtete Fall doch als Sonde dienen, um etwas über die Demokratisierungsbzw. Parlamentarisierungspotentiale im frühen Kaiserreich zu erfahren.9 In gewisser Weise setzte sich in dieser Debatte nämlich der preußische Verfassungskonflikt der 1860er Jahre fort. In diesem war es darum gegangen, dass die sich in der preußischen Fortschrittspartei sammelnden Liberalen, die über den Nationalverein mit der gesamtdeutschen Handlungsebene verknüpft war, danach strebten, mittels der Nichtbewilligung des Budgets Einfluss auf die allein dem König unterstehende Heerespolitik zu nehmen. Der über Jahre schwelende Konflikt, in dem sich Kammer und Kabinett unversöhnlich gegenüberstanden, während die Regierung ohne ordentlichen Haushalt agierte, wurde erst nach der Schlacht von Königgrätz 1866 durch einen Kompromiss gelöst, als Ministerpräsident Otto von Bismarck aus einer Position der Stärke eine Indemnitätsvorlage einbrachte, die darauf hinauslief, den Haushalt nachträglich zu bestätigen und auf den Boden der Verfassung zurückzukehren. Das Heer allerdings unterstand weiter der Krone.10 In der Folge spaltete sich der Liberalismus in die Links- und die Nationalliberalen, die um der nationalen Ziele Willen bereit waren, mit Bismarck zusammenzuarbeiten und die Konflikte um das Militär vorerst hintanzustellen.11 Um zu verstehen, warum das Schiffsunglück im Mai 1878 überhaupt bis in die Höhen liberaler Verfassungspolitik führte, gilt es zunächst die Lage der Seestreitkräfte nach den sogenannten Einigungskriegen zu skizzieren. In den Preußisch-Deutschen Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 war die kleine preußische Marine beziehungswiese diejenige des Norddeutschen Bundes

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Schulthess (Hrsg.) (1881): Geschichtskalender 1880, S. 84. Vgl. zur Debatte um die Parlamentarisierungschancen des Kaiserreichs lediglich Kreuzer (2004): Verfassungsordnung; Fahrmeir (2016): Monarchie; Biefang / Schulz (2016): Constitutionalism, bes. S. 67–70. 10 Zur Indemnitätsvorlage immer noch Ritter (1915): Entstehung; ausführlich zur Entwicklung des Liberalismus Winkler (1964): Liberalismus; Jansen (2012): Fortschrittspartei; zum Ergebnis des Konflikts Schwabe (1980): Indemnitätsgesetz; zuletzt Biefang (2016): Kompromiss. 11 Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei, Juni 1867, in: Mommsen (Hrsg.) (1960): Parteiprogramme.

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militärisch bedeutungslos gewesen.12 Aus Sicht der politischen und landmilitärischen Führungsspitzen sowie weiter Teile der Öffentlichkeit und des Parlaments waren die Seestreitkräfte nicht an dem gemeinsamen Waffengang beteiligt gewesen, der die geeinte Nation erst schuf.13 Deshalb sollte ein Armeegeneral an ihre Spitze gestellt werden, um dieser Institution die angeblich notwendige Disziplin einzuimpfen und einen erfolgreichen Flottenaufbau zu gewährleisten. Die Wahl fiel auf General von Stosch, der während des Deutsch-Französischen Krieges durch sein Organisationstalent aufgefallen war.14 Stosch stand auf seiner neuen Position vielfältigen Herausforderungen gegenüber: Die Konservativen sahen die Marine kritisch, „weil sie 1848 entstand und deshalb für ein Kind gefährlicher Freiheit galt“, wie sich der Konter-Admiral Richard Dittmer später erinnerte.15 Auch innerhalb seines Ressorts stieß Stosch auf Widerstand, da erfahrene Admirale, die gehofft hatten, selbst an die Spitze rücken zu können, dem General weichen mussten. Hinzu kam, dass Stosch sich erst einmal Ansehen innerhalb seiner Behörde erarbeiten musste, da er bei den Seeoffizieren als „Landratte“ galt und ihn sein harscher Ton im persönlichen Umgang zunächst wenig beliebt machte.16 Stoschs neues Amt als Staatssekretär der Marine, beziehungsweise Marineminister, wie es zeitgenössisch häufig vereinfachend hieß, setzte voraus, dass er sich mit dem Reichstag auseinandersetzte. Denn seine Position bewegte sich zwischen verschiedenen konstitutionellen Sphären.17 In Fragen der Verwaltung und des Budgets war er vom Reichstag abhängig, während die militärischen Aspekte, die den „extrakonstitutionellen Kern“18 der Reichsverfassung bildeten, dem Parlament entzogen und der kaiserlichen Kommandogewalt zugeordnet waren. Die Stellung Stoschs gestaltete sich zusätzlich dadurch schwierig, dass er als Liberaler galt, der dem Kronprinzen nahestand und unter einem Kaiser Friedrich III. das Kanzleramt erhalten könnte.19 Reichskanzler Bismarck nahm den General-Admiral deshalb als Konkurrenten

12 Vgl. zur maritimen Dimension der preußisch-deutschen Kriege Howard (1962): War, S. 75f; Schulze-Hinrichs (1970): Seekrieg; Steinmetz (1972): Schatten; Kreker (1973): Marine; Petter (1979): Flottenrüstung, S. 79f., S. 99–102; Sondhaus (1997): Preparing, S. 71–85, S. 92–96; Wawro: War, S. 188–192; Olivier (2004): Strategy, S. 55–58, S. 64–72; Krüger (2008): Küstenverteidigung, S. 253–258. 13 Rojek (2017): Hoffnungen, S. 15–28. 14 Batsch (1896): Stosch, S. 224; Coler (1938): Berufung; Schröder (1939): Stosch, S. 63f.; Sieg (2005): Ära, S. 24. 15 Vgl. „Vom Schiffsjungen zum Admiral“, Tagebuchaufzeichnungen von Konter-Admiral Richard Dittmer (18.12.1840–10.9.1925). In: BArch-MA, RM 8/199 Bl. 99 (Zitat), vgl. auch ebd. Bl. 83f.; Coler (1969): Bismarck, hier bes. S. 584–588; Verchau (1972): Jachmann, S. 66; Olivier (2004): Strategy, S. 79f. 16 Sondhaus (1997): Preparing, S. 102; Schröder (1939): Stosch, S. 66. 17 Sieg (2005): Ära, S. 33–41, S. 558f. 18 Nipperdey (1992): Machtstaat S. 99. Vgl. auch Meisner (1940): Kriegsminister, S. 89. 19 Hollyday (1959): Bismarck; Sieg (2005): Ära, S. 63–65; Baumgart (2014): Einleitung, S. 36.

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wahr, und es kam immer wieder zu Konflikten zwischen den beiden Männern, die Kaiser Wilhelm I. zu wiederholten Interventionen zwangen.20 Stoschs Ausgangslage war also alles andere als einfach, und er fühlte sich angesichts der zahlreichen neuen Herausforderungen anfänglich „wie ein Schuljunge“21. Seine wichtigste Aufgabe bestand zunächst darin, eine Parlamentsmehrheit davon zu überzeugen, in einen Flottenbau zu investieren, der das neue Reich zu einer veritablen Seemacht machen sollte. Obwohl dem Reichstag aufgrund der kaiserlichen Kommandohoheit kein direkter Zugriff auf das Militär zustand, so bot doch das Budgetrecht den Parlamentariern einen Hebel, um die Entwicklung der militärischen Institutionen kontrollieren zu können. Es ist zwar richtig, dass das Parlament im Kaiserreich keinen Einfluss auf die Regierungsbildung hatte und auch – trotz wiederholter Vorstöße der Liberalen in diese Richtung22 – keine Ministerverantwortlichkeit vorlag,23 aber die Forschung der letzten Jahre hat doch deutlich werden lassen, dass der Reichstag die prägende Institution nationaler Politik gewesen ist. Dies hing vor allem damit zusammen, dass das Parlament im Laufe der 1870er Jahre zu einer „Bühne“ nationaler Politik avancierte, die im Zentrum der politischen Presseberichterstattung stand und Staatssekretären und Abgeordneten den Weg zu reichsweiter Bekanntheit eröffnete.24 Da die Parlamentarier aus dem allgemeinen, gleichen und direkten (Männer-)Wahlrecht hervorgingen, konnten sie mit einem gewissen Recht behaupten, den Willen der Nation zu vertreten. Das fortschrittlichste Wahlrecht Europas bildete für das Parlament sowohl eine Argumentationsressource um Ansprüche zu stellen, als auch einen Grund dafür, warum die (liberale) Presse den Reichstag immer wieder als Stimme der Nation beschrieb. Stosch stand also einer rasch an Selbstbewusstsein gewinnenden Institution gegenüber, als er sich auf seinen ersten Auftritt auf dieser Bühne vorbereitete. Stoschs Freund, der liberale Schriftsteller Gustav Freytag,25 hatte diese zentrale Stellung des neuen Parlaments schon früh antizipiert und bot sich dem General daher als informeller Medienberater an, um ihm dabei zu helfen, die Auftritte im parlamentarischen Kommunikationsraum erfolgreich zu gestalten. Noch vor Stoschs Jungfernrede im Reichstag riet Freytag seinem Freund, sich mit den Abgeordneten gut zu stellen, auf militärischen Befehlston zu verzichten und eine offenherzige Kommunikationsstrategie zu wählen: „Die Leitung der M[arine] muß freundlich und […] mitteilend gegenüber der Nation sein. Die Leute wollen für das Geld, das sie 20 Bethcke (1930): Generale, S. 91–126; Coler (1967): Konflikt; Sieg (2005): Ära, S. 24, S. 41, S. 43f., S. 50–57, S. 59, S. 83f., S. 102, S. 489; Baumgart (2014): Einleitung, S. 33–38. 21 Zitiert nach Sieg (2005): Ära, S. 41; siehe auch Hollyday (1960): Rival, S. 102. 22 Morsey (1957): Reichsverwaltung, S. 287–301. 23 Boldt (1990): Verfassungsgeschichte, S. 175, S. 177f.; Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 100. 24 Biefang (2003): Reichstag, ders. (2004): Integration; ders. (2009), Seite, bes. S. S. 37–49, S. 65–96, S. 83–92, S. 306–309; Bösch (2012): Parlamente, S. 371–381. 25 Zur Person Martini (1961): Freytag; Hahn / Oschmann (Hrsg.) (2016): Freytag; zur Freundschaft mit Stosch Freytag (1887): Erinnerungen, S. 319–323; Hassell (1919): Erinnerungen, S. 153f.; Baumgart (2014): Einleitung, S. 17–19.

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diesem großen Interesse zahlen auch hübsch reichlich und regelmäßig von demselben erfahren.“26 Nur „ehrliche Offenheit und würdevolle Freundlichkeit“, könnte die gegenüber dem Militär vorhandenen Vorurteile der „klugen Leute vom Reichstag“ abbauen helfen und „durch die Reichstagsritzen“ Stoschs „Renomee über das Land“ verbreiten.27 Tatsächlich folgte Stosch diesem Rat und verblüffte die Abgeordneten bei seiner Jungfernrede mit dem Eingeständnis, er habe keine Kompetenzen auf dem Gebiet der Marine, müsse sich erst einarbeiten und bitte daher das Parlament um einen Vertrauensvorschuss. Erst in einigen Jahren könne er einen Flottenplan vorlegen, über den dann aber die Abgeordneten souverän entscheiden dürften. Dass ein General dem Reichstag scheinbar so weitreichende Kompetenzen über sein Ressort zubilligte, beeindruckte die Parlamentarier. In der Folge arbeitete der General-Admiral vor allem mit den liberalen Fraktionen recht einträchtig zusammen.28 Im liberalen Ideenhaushalt galt nämlich eine starke Flotte spätestens seit der Revolution von 1848 als Symbol einer geeinten, souveränen und tendenziell auch expansionistischen Nation.29 Stoschs liberales Image und seine offene Art gegenüber dem Reichstag, die sich auch in Einladungen an die Abgeordneten, die Flotte zu besuchen,30 ausdrückte, führte dazu, dass der Flottenaufbauplan von 1873 angenommen wurde. Stosch ging geschickt auf die liberalen Vorstellungen ein und inszenierte die Flotte, etwa anlässlich des Stapellaufs der Großen Kurfürst, als symbolische Repräsentation der Nation, die sich nach der errungenen Reichseinigung nun anschickte, auch die Weltmeere zu erobern.31 Stoschs öffentliches Ansehen steigerte sich und die Marine schien auf einem guten Weg.32 Die Marinepolitik fügte sich in dieser Phase also nahtlos in den Kontext der liberalen Ära im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung ein, als die Nationalliberalen die Partner Bismarcks bei der Ausgestaltung zentraler nationaler Politikfelder waren, ohne jedoch die Verfassungsordnung anzutasten und etwa nach einer Parlamentarisierung zu streben. Warum auch? Sie glaubten, der Zeitgeist sei auf ihrer Seite, während Bismarck gemeinsam mit ihnen eine liberale Agenda betrieb, früher oder später – so der Fortschrittsglaube – müsse dann auch die Parlamentarisierung folgen. Gegen Ende der 1870er-Jahre allerdings geriet diese Kooperationspolitik in eine Krise: Die National- und Linksliberalen verloren in der Wählergunst, waren durch innere Spaltungen geschwächt, und eine ökonomische Krise nährte

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Freytag an Stosch (4./5.12.1871), in: Helmolt (Hrsg.) (1913): Briefe, S. 83. Ebd., S. 84. Brysch (1996): Marinepolitik, S. 268, S. 281–283, S. 355. Winkler (1964): Liberalismus, S. 56, S. 60; Fenske (1978): Tendenzen; Müller (1997): Ziele; Fitzpatrick (2007): Fall. 30 Sondhaus (1997): Preparing, S. 111; Biefang (2009): Seite, S. 150–159. 31 Vgl. Neue Preußische Zeitung, 21.9.1875; Vossische Zeitung 18.9.1875; Berliner Börsen-Zeitung, 18.9.1875 Morgenausgabe; Allgemeine Zeitung, 21.9.1875; Der Sammler. Belletristische Beilage zur „Augsburger Abendzeitung“, 21.9.1875. 32 Vgl. z. B. Wikede (1875): Entwickelung.

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Zweifel an einer liberal ausgestalteten Wirtschaftspolitik.33 Genau in diese Phase fiel die Schiffskatastrophe. Hier ist nicht der Raum, die verästelte Debatte um das Unglück in allen Facetten darzustellen, weshalb im Folgenden allein die (verfassungs-)politische Dimension beleuchtet wird.34 Infolge des Unglücks fokussierte sich die öffentliche Diskussion immer stärker auf die Person Stoschs, dem nun als Armeeangehöriger die Kompetenz abgesprochen wurde, die Marine adäquat leiten zu können. Sein landmilitärisch geprägtes System sei der Komplexität dieser Institution nicht angemessen und führe sie dem Ruin entgegen, wie das Unglück beweise.35 Auch marineintern geriet der GeneralAdmiral unter Druck, da höhere Offiziere an seiner Kompetenz zweifelten und ihm die Verantwortung für die Katastrophe zuschrieben.36 Der junge Kapitänleutnant Alfred Tirpitz war sich beispielsweise sicher: „Stosch persönlich trifft die ganze Schuld.“37 Stosch leitete daraufhin eine Abkehr von seiner bisherigen Kommunikationspolitik ein, verschanzte sich hinter der kaiserlichen Kommandohoheit und wollte über die Ursachen des Unglücks keine öffentliche Stellungnahme abgeben. Deshalb forderte die Presse von der „Vertretung des deutschen Volkes“38, sich der Sache anzunehmen. In den folgenden zwei Jahren konfrontierten die Parlamentarier den Staatssekretär jeweils anlässlich der Budgetverhandlungen mit ihren Fragen und Vorwürfen. Die erste Gelegenheit hierzu ergab sich im Frühherbst 1878. Hier erhofften sich die Medien endlich Aufklärung über das Unglück, über dessen Verlauf und Ursachen sich die Admiralität ausschwieg.39 Kein Wunder, dass „von allen Seiten der Sturm nach Einlaßkarten zu der betreffenden Sitzung“ begann.40 Der nationalliberale Abgeordnete Alexander Graf Mosle41 forderte in dieser Debatte eine stärkere Rolle des Parlaments jenseits der Kommandohoheit. Er verlangte einen Bericht über das Unglück, damit der Reichstag – und nicht etwa die Admiralität selbst – anschließend „beschließen kann, ob […] weitere Maßnahmen“42 innerhalb der Marine zu treffen seien, um eine solche Katastrophe zukünftig zu verhindern. Doch Stosch wies solche weitreichenden Forderungen stets zurück, 33 Langewiesche (1988): Liberalismus, S. 164–180; ders. (2001): Bismarck; Jansen (2001): Bismarck. 34 Vgl. ausführlich zu den übrigen Dimensionen der Debatte und ihren Folgen für die Kaiserliche Marine Rojek (2017): Hoffnungen, S. 35–58; ders. (2019): Expertise. 35 So vor allem der Tenor der wirkmächtigen Schriften des Marineoffiziers Eduard K. E. Jachmann, der unter dem Deckmantel der Anonymität Stoschs Kompetenz massiv in Zweifel zog. [Jachmann] (1877/78): Beleuchtung; ders. (1878/79): Antwort; ders. (1879): Marineminister. Vgl. ausführlich zu diesem Strang der Debatte Rojek (2017): Hoffnungen, S. 29, S. 42–48; ders. (2019): Expertise, S. 292f. 36 Coler (1967): Palastrevolte. 37 Tirpitz an seine Eltern (8.7.1878), in: BArch-MA, N 253/388, Bl. 107. 38 Vossische Zeitung, 24.8.1878 (Hervorhebung i. O.). Vgl. auch ebd., 11.8.1878, 16.8.1878. 39 Vossische Zeitung, 5.9.1878. 40 Germania, 14.9.1878. 41 Zur Person Haunfelder (2004): Abgeordneten, S. 286. 42 Verhandlungen des Reichstages Bd. 51, S. 15 (3. Sitzung am 13.9.1878).

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indem er sich als Fachmann gerierte, der allein entscheide, „wer ein Urtheil zur Sache habe.“43 Die Laien im Parlament könnten überhaupt nicht beurteilen, was die Seestreitkräfte bräuchten und wie sie zu führen seien. Damit konnte er die Debatte allerdings nicht beenden, vielmehr geriet er noch mehr in den Fokus öffentlicher Kritik, da nun die Frage aufkommen musste, ob denn ein Armeegeneral überhaupt über das notwendige Fachwissen verfügte, um sein Ressort adäquat leiten zu können.44 Die Presse zeigte sich ebenfalls unzufrieden und kommentierte, die Hoffnungen „auf ein kleines Seegefecht zwischen dem Reichstag und der Admiralität“ seien „gründlich enttäuscht“ worden.45 Vor allem die liberalen Blätter forderten nun ein stärkeres Engagement „ihrer“ Abgeordneten.46 Die publizistische Diskussion schwelte über Monate und Jahre weiter, um jeweils im Vorfeld der Budgetverhandlungen wieder zum Hauptthema zu werden. Stosch trug sich angesichts des öffentlichen und parlamentarischen Drucks mehrfach mit Rücktrittsgedanken, ohne sich jedoch zu diesem Schritt durchringen zu können, da er vermeiden wollte, als Feigling dazustehen.47 Schon im März 1879 übten liberale Abgeordnete heftige Kritik am Marinechef, ob seiner mangelhaften Informationspolitik. Die Debatte entfernte sich nun immer stärker von den eigentlichen Ursachen des Unglücks hin zu verfassungspolitischen Fragen, vor allem da Stosch ablehnte, den Reichstag über die Hintergründe der Katastrophe zu informieren. Diese Geheimhaltung musste, zumal inzwischen auch seine eigene fachliche Kompetenz in Zweifel gezogen wurde, den Verdacht nähren, er habe etwas zu verbergen. Die Liberalen fühlten sich daher dazu aufgerufen, im Namen der Nation den Vorhang zu lüften und Einblick in den Arkanbereich des Militärs zu nehmen. Deshalb beklagte der am linken Flügel der Nationalliberalen stehende Eduard Lasker48 im Hinblick auf die allein militärintern durchgeführten Untersuchungen zu dem Unglück, dass der „Rechtszustand unseres Landes nicht gestattet, daß solche Untersuchungen wie in anderen Ländern öffentlich geführt werden.“49 In seiner Argumentation erschien das Parlament als der legitime Vertreter der Nation, der demnach verlangen dürfe, „daß uns die Regierung alles Material zustellen“ solle.50 Damit war aber der parlamentarische Zugriff auf solche Dokumente gefordert, die in die Kommandosphäre des Kaisers fielen und eigentlich dem Reichstag entzogen waren. Der Linksliberale Albert Hänel51 schlug in dieselbe Kerbe, denn der Staatsrechtler war einer der entschiedensten Vertreter einer Parlamentarisierung des Reiches und war gewillt, das Budgetrecht als Hebel zu benut43 44 45 46 47 48 49 50 51

Ebd., S. 21. Rojek (2017): Hoffnungen, S. 43–48. Germania, 14.9.1878. Vossische Zeitung, 14.9.1878; Kölnische Zeitung, 14.9.1878 Zweites Blatt. Vgl. Stosch an Freytag (8.6.1878), in Baumgart (Hrsg.) (2014): General, S. 208; Stosch an Freytag (2.8.1878), in: ebd., S. 214–216. Zur Person Haunfelder (2004): Abgeordneten, S. 251–253. Verhandlungen des Reichstags Bd. 52, S. 378 (18. Sitzung am 11.3.1879). Ebd., S. 379. Zur Person Haunfelder (2004): Abgeordneten, S. 174f.

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zen, um die eigenen Ziele zu befördern.52 Mit verfassungspolitischen Forderungen hatte er 1878 auch seinen Wahlkampf bestritten.53 Er führte aus, Stosch müsse für die Übergabe der Untersuchungsakten an den Reichstag „eintreten, er müßte es zu einer Bedingung seines ferneren Verbleibens im Amt machen, daß es ihm gestattet werde, durch die volle Klarlegung des Materials seine Verwaltung zu rechtfertigen und derselben neues Vertrauen zuzuführen.“54 Hänel forderte, die Beratung des Etats solle ausgesetzt bzw. wichtige Teile des Etats nicht angenommen werden, bis Stosch sich bereit erklärt habe, für die Übergabe der Akten einzutreten. Hier lag eine gewisse Drohung vor, denn über das Budget war den Abgeordneten immerhin ein Hebel in die Hand gegeben, um auf die Marine (bzw. das Militär) Druck auszuüben. Der General-Admiral sollte sich also gegen seinen Kaiser stellen, um eine Forderung des Parlaments durchzusetzen, indem er dem Monarchen gegenüber mit Rücktritt drohte. Hier hätte ein Präzedenzfall geschaffen werden können, der einen ersten Schritt in Richtung der Etablierung einer Ressortministerverantwortlichkeit hätte bedeuten können. Denn tatsächlich hatten solche „effektiven Präzedenzfälle“ immer wieder dazu beigetragen, das parlamentarische System Westeuropas hervorzubringen.55 Der Chef der Admiralität wies diese Forderung allerdings zurück. Er werde dem Parlament nicht mitteilen, „in welcher Art ich zu meinem Kriegsherrn mich in diesen Sachen stellen werde.“56 Die Debatte war damit aber keineswegs abgeschlossen. In der liberalen Presse beklagte man zwar einmal mehr, dass „die obersten Rathgeber des Kaisers ihre gegen die Volksvertretung hart vertheidigte Verantwortlichkeit allein dem Kaiser gegenüber so verstehen, sich hinter das unverantwortliche Reichsoberhaupt zurückzuziehen, wo die Discussion jeder öffentlichen Angelegenheit aufhört“.57 Doch entwickelte sich hier zugleich eine Argumentation, die darauf hinauslief, dass „in Folge des Stellvertretergesetzes auch die politische Verantwortlichkeit der MarineAngelegenheiten auf den Ressortchef übertragen werden sollte.“58 Das Stellvertretergesetz vom 8. März 1878 führte nämlich zu einer gewissen Kollegialisierung der Reichsregierung, indem die Staatssekretäre nun für einzelne Geschäftsbereiche als Stellvertreter des Reichskanzler gegenzeichnen durften und damit eine selbstständigere Stellung erlangten als zuvor.59 Demnach – so die Interpretation der liberalen Presse weiter – müsse es auch zu „den Rechten und Pflichten des Reichstages“ gehören, „über die Angelegenheit des ‚Großen Kurfürst‘ eine Erörterung herbeizuführen, und dem Lande volle Aufklärung darüber zu verschaffen.“60 52 53 54 55 56 57 58 59

Vgl. Vitzthum (1971): Politik, S. 74–78. Kiehl (1966): Hänel, Bd. 1, S. 323–325. Verhandlungen des Reichstags Bd. 52, S. 380 (18. Sitzung am 11.3.1879). Siemann (1995): Staatenbund, S. 413. Ebd., S. 381. (18. Sitzung am 11.3.1879). Vossische Zeitung, 13.3.1879 Morgenausgabe. Vossische Zeitung, 14.3.1879 Morgenausgabe. Morsey (1957): Reichsverwaltung, S. 302–312; Huber (1988): Verfassungsgeschichte, S. 823– 825; Haardt (2020): Bund, S. 431. 60 Vossische Zeitung, 14.03.1879 Morgenausgabe.

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Aber diese Aufklärung ließ lange auf sich warten. Denn erst im Februar 1880, fast zwei Jahre nach der Katastrophe, publizierte die Marine einen schmalen Untersuchungsbericht in den Beiheften des Marineverordnungsblattes,61 der aber den liberalen Medien nur als „ein schlechter Kuchen“ galt, „aus welchem alle Rosinen sorgfältig herausgenommen sind.“62 Der Bericht sah keinerlei Fehlverhalten bei der Marineführung und hielt sich mit Details zurück. Die Empörung darüber, dass eine derart lange und die Öffentlichkeit immer wieder bewegende Debatte, auf diese Weise beendet werden sollte, erreichte auch den parlamentarischen Kommunikationsraum. Denn noch im selben Monat hielt Albert Hänel im Reichstag eine Rede, die argumentativ schon ein Jahr vorher in der entsprechenden Parteirichtungspresse entwickelt worden war.63 Nach der von ihm vorgetragenen linksliberalen Interpretation von Reichsverfassung und Stellvertretergesetz habe Stosch als Stellvertreter des Reichskanzlers „das konstitutionelle Recht und die konstitutionelle Pflicht, uns […] Rechenschaft zu geben“.64 Hänel zeigte sich verwundert darüber, dass der Marinechef „seiner verfassungsmäßigen Verpflichtung“ noch nicht nachgekommen sei.65 Stosch wies diese Interpretation mit Verweis auf höhere Interessen von sich. Eduard Lasker brachte daraufhin einen Antrag ein, der das Ziel hatte, „den Herrn Chef der Admiralität als verantwortlichen Stellvertreter des Reichskanzlers aufzufordern, einen Bericht über die Katastrophe des ‚Großen Kurfürsten‘ dem Reichstage vorzulegen.“66 Damit war der Versuch unternommen worden, Stosch als einen dem Parlament verantwortlichen Minister zu behandeln, bzw. „eine Art Misstrauensvotum“67 gegen ihn einzubringen. Der Reichstagspräsident entschied, diesen Antrag gesondert zu behandeln und ihn zu vertagen, so dass im Folgenden mit der Annahme des Marineetats durch das Parlament fortgefahren wurde. Die Liberalen sahen nun eine Einheitsfront gegen den Chef der Admiralität gerichtet, denn diesem stehe „die wahrscheinliche Mehrzahl der Mitglieder des Reichstages, eine große Menge seemännischer Fachleute und der überwiegende Teil des Volkes und der Presse“ gegenüber.68 Die Pressedebatte konzentrierte sich nun auf die Anfang März stattfindende Reichstagssitzung, in welcher der Hänel’sche Antrag verhandelt werden sollte. Während Konservative und Katholiken dem Antrag von Beginn an nur

61 Der Untergang (1880); hierzu auch Vossische Zeitung, 4.1.1880 Sonntagsausgabe; Kölnische Zeitung 4.1.1880 Sonntagsausgabe; Neue Preußische Zeitung, 7.2.1880. 62 Kölnische Zeitung, 25.2.1880; ähnlich auch ebd., 28.8.1880 Zweites Blatt. 63 Vgl. Vossische Zeitung, 13.3.1879 Morgenausgabe, 14.3.1879 Morgenausgabe, 18.3.1879 Morgenausgabe. 64 Verhandlungen des Reichstags Bd. 58, S. 90. (7. Sitzung am 24.2.1880). 65 Ebd. 66 Ebd., S. 91. Auch abgedruckt in: Verhandlungen des Reichstages Bd. 60, S. 150 (Nr. 24, 24.2.1880). 67 So die zeitgenössische Bezeichnung des Antrags in: Schulthess (Hrsg.) (1881): Geschichtskalender 1880, S. 84. 68 Kölnische Zeitung, 25.2.1880 Zweites Blatt. (Hervorhebung S.R.) Wortgleich wurde dieser Satz wiederholt in: Vossische Zeitung, 26.2.1880 Abendausgabe.

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wenig Aussicht auf Erfolg zuschrieben, bemühten sich die Liberalen aufzuzeigen, dass sie sich im Einklang mit einer Mehrheit befänden und die Entscheidung des Parlaments durchaus noch offen sei. Der Reichstag müsse nun mindestens ein Zeichen setzen, anstatt sich schlicht und einfach der Regierung zu beugen.69 Der rechte Flügel der Nationalliberalen allerdings lehnte die „konstitutionelle Spitze“70 des Antrags ab und hielt – ebenso wie die katholische Zentrumspartei und die Konservativen – die Kompetenzen des Reichstags für überschritten. Aus diesen Gründen kam keine Mehrheit für den Antrag zustande.71 Damit hatte „Hr. v. Stosch den Angriff auf seine Position mit Hülfe der Nationalliberalen abgeschlagen; aber seine Stellung ist erschüttert.“72 Die Mehrheit der Nationalliberalen sahen eher in einer kritischen Kooperation als im offenen Konflikt mit der Regierung einen Weg, ihre Ziele langfristig zu erreichen. Die Differenz zwischen den auf liberalen Prinzipien beharrenden Linksliberalen und den auf Kompromissen bedachten Nationalliberalen prägte also auch diesen Versuch, die Verfassungsordnung des Reiches im liberalen Sinne auszugestalten.73 Stoschs liberales Image verhinderte zudem seine völlige Demontage, da immer noch Hoffnungen bestanden, er könne Bismarcks Nachfolger und damit mittelfristig ein Partner der Liberalen werden. 74 Nichtsdestotrotz beweist der Antrag, dass nicht alle Liberalen sich mit der Verfassungsordnung des Kaiserreichs und der Sonderrolle des Militärs soweit abgefunden hatten, dass sie keine offensiven politischen Bestrebungen mehr auf diesem Feld entwickelten. Immer noch fanden sich Abgeordnete zum Konflikt mit der Regierung bereit. Betrachtet man die Debatte um den Untergang der „Großer Kurfürst“ unter Berücksichtigung der Leitbegriffe des vorliegenden Bandes, so zeigt sich, dass Einigkeit insofern vorherrschte, dass es der jungen Marine gelungen war, als Nationalsymbol zu fungieren. Deshalb bot der als nationale Katastrophe breit rezipierte Unglücksfall einen geeigneten Ansatzpunkt, um den Versuch zu unternehmen, den Reichstag als Stimme der Nation aufzuwerten, diesen gegen den Marineminister in Stellung zu bringen und damit die Zugriffsrechte des Parlaments auszweiten. Die Empörung über den fahrlässigen Unfall, die vielen Toten sowie die Peinlichkeit, die frühen Seemachtbestrebungen durch solch eine vermeidbare Katastrophe zurückgeworfen zu sehen, ließ sich also nutzen, um verfassungspolitische Fortschritte zu erzielen. Tatsächlich hatte die ganze Angelegenheit auch langfristige Konsequenzen. Denn Stoschs kooperatives Verhältnis zu den Liberalen war seitdem 69 Vgl. z. B. Germania, 28.2.1880; Neue Preußische Zeitung, 29.2.1880; Vossische Zeitung, 26.2.1880 Morgenausgabe, 28.2.1880 Morgenausgabe, 2.3.1880 Morgenausgabe, 3.3.1880 Morgenausgabe, 4.3.1880 Morgenausgabe; Kölnische Zeitung, 4.3.1880. 70 Verhandlungen des Reichstags Bd. 58, S. 253. (12. Sitzung, 4.3.1880). 71 Die Bedeutung dieses Ausgangs der Verhandlungen wurde in der zeitgenössischen Presse klar erkannt: Allgemeine Zeitung Nr. 66, 6.3.1880; Berliner Börsen-Zeitung Nr. 118, 5.3.1880 Morgen-Ausgabe; Berliner Tageblatt Nr. 110, 5.3.1880 Abend-Ausgabe. 72 Allgemeine Zeitung, Nr. 67, 7.3.1880. 73 Vgl. zu den Differenzen zwischen National- und Linksliberalen Jansen (2001): Bismarck, S. 99; Lauterbach (2007): Reform, bes. S. 17–19, S. 29f. 74 Brysch (1996): Marinepolitik, S. 318.

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beschädigt, und weder ihm noch seinen Nachfolgern gelang es in den folgenden Dekaden, für größere Flottenrüstungspläne Unterstützung zu erhalten. Die zweijährige Debatte zeigt aber vor allem, dass der Reichstag sich schon früh als legitimer Vertreter der Nation verstand, der gerade auf dem Feld der Marinepolitik ein gehöriges Wort mitsprechen wollte. Die starke Verknüpfung der Marine mit nationalen Zielen, die Stosch vorgenommen hatte, erwies sich also als zweischneidiges Schwert: Sie wertete zwar einerseits seine Institution auf, bot aber andererseits für die Volksvertretung das Potential, einen stärkeren Einfluss des Parlaments auf die Marine zu verlangen. Die nationale Schiffskatastrophe und die Frage nach der Kompetenz der Admiralität, die Marine im Sinne der Nation aufzubauen, boten hierfür einen günstigen Angriffspunkt. Insgesamt zeigt die Debatte um das Unglück, dass die Frage nach der Parlamentarisierung des Reiches nach wie vor konfliktbehaftet, vor allem aber offen war. Der Kampf um die parlamentarische Freiheit im Sinne einer Ministerverantwortlichkeit und eines Zugriffs auf das Militär musste fortgesetzt werden. QUELLEN Archivalien Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i. Br. RM 1/18 (Kaiserliche Admiralität) RM 8/199 (Kriegswissenschaftliche Abt. der Marine (Marinearchiv)) N 253/388 (Nachlass Alfred von Tirpitz)

Gedruckte Quellen Allgemeine Zeitung Baumgart, Winfried (Hrsg.): General Albrecht von Stosch. Politische Korrespondenz 1871–1896 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 70), München 2014. Berliner Börsen-Zeitung Berliner Tageblatt Der Sammler. Belletristische Beilage zur „Augsburger Abendzeitung“ Der Untergang S. M. Schiffes „Großer Kurfürst“ auf Grund der gerichtlichen Untersuchungsacten dargestellt. Beihefte zum Marineverordnungsblatt Nr. 27 (1880), S. 3–18. Freytag, Gustav: Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1887. Germania Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei, Juni 1867, in: Wilhelm Mommsen (Hrsg.): Deutsche Parteiprogramme (Deutsches Handbuch der Politik Bd. 1), München 1960, S. 147–151. Hassell, Ulrich von: Erinnerungen aus meinem Leben 1848–1918, Stuttgart 1919. Helmolt, Hans F. (Hrsg.): Gustav Freytags Briefe an Albrecht von Stosch, Stuttgart / Berlin 1913. [Jachmann, Eduard K. E.]: Fachmännische Beleuchtung der Katastrophe von Folkestone des deutschen Panzerschiffes Großer Kurfürst. Deutsche Revue 2. Jg. (1877/78), Bd. 2, S. 281–290. [Jachmann, Eduard K. E.]: Fachmännische Antwort auf die Rede des Ministers von Stosch im deutschen Reichstag, in: Deutsche Revue 3. Jg. (1878/79), Bd. 1, S. 89–95. [Jachmann, Eduard K. E.]: „Marineminister von Stosch und die Katastrophe bei Folkestone“ Von Fr. Loß. Fachmännisch beleuchtet von einem vormaligen Seeoffizier, Berlin 1879.

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DER BADISCHE GROßBLOCK 1905–1913 Zur Kooperation zwischen Liberalen und Sozialdemokraten im Kaiserreich Michael Kitzing 1. EINLEITUNG „Wir werden in Deutschland keinen Schritt vorankommen, bevor nicht die vereinigten liberalen und demokratischen Gruppen den taktischen Anschluss an die Sozialdemokratie gefunden haben.“1 Mit diesen Worten umschrieb der linksliberale Politiker Ludwig Haas (1875–1930) die Zielperspektive der Liberalen im Jahr 1905. Tatsächlich kam es 1905 in Baden zu einem Wahlkampfabkommen sämtlicher liberaler Parteien mit der SPD (sog. Großblockabkommen), das auch in den Jahren 1909 und 1913 verlängert wurde. Für das Kaiserreich bedeutete dieses Wahlkampfabkommen eine Sensation ersten Ranges. Denn während die Nationalliberalen (NL) in Baden mit dem Anspruch einer „regierenden Partei“ (Lothar Gall) auftraten, stand die SPD noch immer im Geruch, eine Umsturzpartei zu sein. Unter welchen Voraussetzungen kam das Großblockabkommen zustande? Handelte es sich dabei lediglich um ein taktisch motiviertes Bündnis ohne inhaltliche Substanz oder entwickelten die Großblockpartner vielmehr ein gemeinsames politisches Programm? Betrieben die NL zumindest in Baden zusammen mit der SPD eine Politik, die auf eine weitere Demokratisierung, ja Parlamentarisierung des bestehenden politischen Systems zielte? Unter welchen Voraussetzungen erfolgte die gerade genannte zweimalige Verlängerung des Großblockabkommens und warum scheiterte dieses am Ende doch, bzw. ließ sich nicht auf die Reichsebene übertragen? Neben dem Blick auf das Zustandekommen, Chancen und Scheitern des Großblocks, möchte der Beitrag einleitend einen knappen Überblick über die verschiedenen liberalen Gruppen und deren Verhältnis untereinander im Reich geben. Am Beispiel der badischen NL soll zudem aufgezeigt werden, dass die Parteien im Kaiserreich ihre Basis zuallererst in den Ländern hatten und hier eine durchaus eigenständige Entwicklung durchliefen, die markante Unterschiede zur Entwicklung im Reich aufweisen konnte.

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Zit. nach Rothmund (1979): Blockpolitik, S. 116. – Dank an Madline Gund für ihre stetige Unterstützung.

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2. DIE ENTWICKLUNG DER LIBERALEN PARTEIEN IM REICH BIS 1918 Die erste liberale Parteigründung in Deutschland nach dem Ende der Reaktionsdekade war 1861 die Deutsche Fortschrittspartei in Preußen. Diese setzte sich programmatisch für eine kleindeutsche Reichseinigung unter preußischer Führung auf der Grundlage der Reichsverfassung von 1849 ein, zudem forderte sie die Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien in Preußen.2 Zwar verfügte die Deutsche Fortschrittspartei noch über keine eingeschriebenen Mitglieder, gleichwohl war sie die erste Partei, die dauerhaft parlamentarische Arbeit und außerparlamentarische Agitation miteinander verband. So unterstützte sie ihre Kandidaten im Rahmen von Wahlkämpfen finanziell durch Sammlungen sowie durch den Druck von Werbematerial.3 1867 lösten sich die NL von der Fortschrittspartei.4 Anders als der Rest der Fortschrittspartei waren die NL bereit, Otto v. Bismarck (1815–1898) für das Regieren ohne verfassungsgemäß verabschiedeten Haushalt während des preußischen Heeres- und Verfassungskonfliktes in den vorangegangenen Jahren Indemnität zu erteilen. Während die Fortschrittspartei in der Opposition verharrte, rückten die NL an Bismarck heran. Im Zusammenspiel mit dem Kanzler trieben sie in den nächsten zwölf Jahren den inneren Ausbau des Norddeutschen Bundes bzw. des Deutschen Reiches voran,5 auch waren Kanzler und NL durch die gemeinsame Frontstellung gegen die katholische Kirche im Kulturkampf verbunden.6 Gleichwohl gestaltete sich die Kooperation zwischen Bismarck und den NL keineswegs immer konfliktfrei, Spannungen bestanden vor allem zwischen Bismarck und Vertretern des linken Flügels der NL. Im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Sozialistengesetzes und dem Übergang zum Schutzzoll kam es am Ende der 1870er Jahre zum Bruch zwischen Bismarck und den Nationalliberalen.7 Dem waren Verhandlungen zwischen Bismarck und dem Parteivorsitzenden der NL, Rudolf v. Bennigsen (1824–1902), über einen Eintritt Bennigsens in die Reichsleitung als Stellvertreter Bismarcks vorausgegangen. Doch hatte Bennigsen gefordert, dass außer ihm noch zwei weitere nationalliberale Politiker in die Reichsleitung bzw. das preußische Kabinett aufgenommen werden sollten, was einen wesentlichen Schritt in Richtung Parlamentarisie2 3 4 5

6 7

Vgl. Mommsen (1964): Parteiprogramme, S. 132–135. Bergsträßer (1965): Geschichte, S. 20; außerdem zur Fortschrittspartei vgl. Biefang (1997): National-preußisch; Jansen (2012): Fortschrittspartei. Zur Nationalliberalen Partei vgl. Huber (1969): Verfassungsgeschichte 4, S. 63–74; Fenske (1994): Parteiengeschichte, S. 112–116; Seeber / Hohberg (1985): Nationalliberale Partei. Zur Geschichte des inneren Reichsausbaus wie auch zur Kooperation Bismarcks mit den NL vgl. Huber (1969): Verfassungsgeschichte 4, S. 140f.; Mommsen (1993): Ringen, S. 353–384; Nipperdey (1993): Machtstaat, S. 319, 359–363; Lauterbach (2000): Vorhof. Vgl. Nipperdey (1993): Machtstaat, S. 319. Zur konservativen Wende Bismarcks und dessen Bruch mit den NL Mommsen (1993): Ringen, S. 467–491; Nipperdey (1993): Machtstaat, S. 325–327, 382–408.

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rung bedeutet hätte. Die Nationalliberalen wären dann nicht mehr nur regierungsnahe, sondern tatsächlich Regierungspartei gewesen. Genau dies wollte Bismarck jedoch verhindern, so dass es zu keiner Einigung kam. Thomas Nipperdey hat beschrieben, wie sehr Bismarck fortan seinen Elan darauf gesetzt hat, die Nationalliberale Partei zu zerbrechen und ihren Einfluss zu vermindern.8 Tatsächlich kam es über die Frage des Schutzzolls, den Bismarck mit Hilfe der Konservativen und des Zentrums durchsetzte, zur Spaltung der NL. Zunächst brach deren rechter Flügel bzw. eine Gruppe Schutzzollanhänger aus der Partei aus.9 Zwei Jahre später trennte sich auch der linke Flügel der Nationalliberalen. Nunmehr bildeten prominente liberale Politiker wie u. a. Eduard Lasker (1829–1884), Ludwig Bamberger (1823– 1899), Max v. Forckenbeck (1821–1892) und Marcus Pflüger (1824–1907) eine eigene Fraktion unter dem Namen Liberale Vereinigung.10 Diese schloss sich 1884 mit der Fortschrittspartei zur Deutsch-Freisinnigen Partei als linksliberaler Sammlungsbewegung zusammen.11 Die Deutsch-Freisinnige Partei forderte u. a. die „Entwicklung eines wahrhaft konstitutionellen Verfassungslebens“, die durch „Abkürzung der militärischen Dienstpflicht“ von drei auf zwei Jahre, einjährige Budgetperioden (um die Verwaltung regelmäßiger und effektiver zu kontrollieren) und die Einführung von Abgeordnetendiäten erreicht werden sollte. Zudem lehnten die Deutsch-Freisinnigen das Sozialistengesetz, aber auch die staatliche Sozialpolitik ab; sozial Schwächere sollten durch Reduktion der indirekten Steuern entlastet werden. In der Außenpolitik traten die Deutsch-Freisinnigen für Freihandel und gegen den Erwerb von Kolonien ein.12 Jedoch zerbrach die Partei 1893 über der Frage der Zustimmung zur Heeresvorlage.13 Neben sachlichen Differenzen polarisierte innerparteilich vor allem der Vorsitzende Eugen Richter (1838–1906). In den ausgehenden 1890er Jahren und kurz nach der Jahrhundertwende bestanden schließlich vier linksliberale Parteien, die zumindest einzelne Abgeordnete in den Reichstag entsandten: die aus der Deutsch-Freisinnigen Partei hervorgegangene Freisinnige Volkspartei und die Freisinnige Vereinigung sowie außerdem die Demokraten und der Nationalsoziale Verein.14 Bei den Demokraten handelt es sich um eine Gruppe auf der äußersten Linken des Liberalismus, die ihren Schwerpunkt vor allem in Württemberg hatte. Der Nationalsoziale Verein war durch Friedrich Naumann (1860–1919) geprägt worden und hatte sich zum Ziel gesetzt, Kaisertum, Imperialismus und Sozialpolitik miteinander zu verbinden. 8 9 10 11

Ebd., S. 325–327. Vgl. Huber (1969): Verfassungsgeschichte 4, S. 68. Vgl. ebd., S. 68f. Vgl. Seeber (1983): Deutsch-Freisinnige Partei; Huber (1969): Verfassungsgeschichte 4, S. 79– 81. 12 Exemplarisch zu den Forderungen der Deutsch-Freisinnigen Hoécker (2020): Freischärler, S. LVIII–LXV, die Zitate S. LX. 13 Vgl. Huber (1969): Verfassungsgeschichte 4, S. 81–83. 14 Zur den verschiedenen linksliberalen Gruppierungen zwischen 1894 und 1910 vgl. ebd., S. 83– 89; Elm (1984): Freisinnige Volkspartei; ders. (1984): Freisinnige Vereinigung; Simon (1969): Demokraten; Düding (1972): Der Nationalsoziale Verein.

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1903 kam es zum Zusammenschluss zwischen dem Nationalsozialen Verein und der Freisinnigen Vereinigung. Nach dem Tode Richters 1906 verbanden sich alle drei verbliebenen linksliberalen Parteien im Reichstag zu einer Fraktionsgemeinschaft; 1910 fanden alle linksliberalen Gruppierungen endlich in der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) zusammen.15 Immerhin war es den linksliberalen Gruppierungen über die Jahrzehnte – wenn auch mit Schwankungen nach oben wie nach unten – gelungen, ihren Wähleranteil zu halten.16 Die Fortschrittspartei hatte 1871 9,3% der Stimmen erhalten, die FVP kam 1912 auf etwas über 12%. Dagegen waren die NL 1871 mit 30,6% der Stimmen die dominierende Kraft gewesen, bis 1912 fielen sie jedoch auf 13,6% zurück. Zwar wurde in der Forschung aufgezeigt, dass die NL 1912 bei einer deutlich gewachsenen Bevölkerung und bei einer ebenfalls deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung absolut mehr Stimmen gewinnen konnten als 1871.17 Auch konnte nachgewiesen werden, dass die Nationalliberalen keineswegs in allen Wahlkreisen Stimmen verloren. Stimmengewinne wurden allerdings vor allem in solchen Wahlkreisen erzielt, in denen die NL in den 1870er Jahren auf einem sehr schlechten Ausgangsniveau gestartet waren.18 Mit Blick auf die Wahlergebnisse ist die Geschichte der NL letztlich eine Geschichte des Niedergangs – und hierfür gab es zahlreiche Gründe: Zunächst einmal war das Wahlergebnis von 1871 in einer Ausnahmesituation entstanden. Die NL hatten ihr vorrangiges Ziel, die kleindeutsche Reichseinigung, erreicht und standen im Zenit ihres Erfolgs.19 Damit fehlte der Partei jedoch gleichzeitig eine weiterführende Zielperspektive. Natürlich bildeten der innere Reichsausbau und die Festigung rechtsstaatlicher Grundsätze auch weiter zentrale Aufgaben für die NL. Dies waren jedoch keine Themen, für die politisch die Massen mobilisiert werden konnten.20 Gleichzeitig befanden sich die Nationalliberalen in den 1870er Jahren in der schwierigen Situation, die Regierung zu unterstützen, ohne aber in dieser vertreten zu sein. Für Fehlentwicklungen wurden die NL vom Wähler jedoch mitverantwortlich gemacht.21 Wie sehr Bismarck schließlich 1878/79 darauf gezielt hat, die NL zu schwächen, wurde bereits erwähnt.

15 Huber (1969): Verfassungsgeschichte 4, S. 89–91. 16 Die Wahlergebnisse der liberalen Parteien bei Nipperdey (1993): Machtstaat, S. 522. 17 Ebd., S. 521; Langewiesche (1988): Liberalismus, S. 133 sowie S. 308f. (Tabelle 4) und S. 311 (Tabelle 6); vgl. auch Willock (2001): Nationalliberale, S. 74. Dabei weist Willock jedoch darauf hin, dass die NL abgesehen von den Kartellwahlen 1887 ihre absolute Wählerzahl von 1874 erst 1907 wieder überboten haben. 18 Vgl. ebd., S. 74f. 19 Vgl. Langewiesche (1988): Liberalismus, S. 135f. – Die Nationalliberalen hatten freilich 1871 zudem den Vorteil, dass das Parteienspektrum noch weit weniger ausdifferenziert und die Konkurrenz somit geringer war als 1912.; auch Willock (2001): Nationalliberale, S. 74. 20 Vgl. Fenske (1990): Notizen, S. 96; Nipperdey (1993): Machtstaat, S. 323, 524; Willock (2001): Nationalliberale, S. 80f. 21 Vgl. Nipperdey (1993): Machtstaat, S. 323.

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Auch das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Männerwahlrecht auf Reichsebene erwies sich für die NL als ungünstig – wie auch das Mehrheitswahlrecht. Die NL verstanden sich grundsätzlich als eine Volkspartei. Die Mehrheit ihrer Wähler entstammte gleichwohl dem Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum. Dies erklärt freilich, warum die NL auf der kommunalen Ebene, wo in den meisten Bundesstaaten bis 1918 ein Zensuswahlrecht galt, wesentlich besser abschnitten als auf der Reichsebene.22 Sicherlich gelang es den NL durchaus auch, Wähler unter den Handwerkern, in der Landwirtschaft, unter den Katholiken, ja in gewissem Grad sogar in der Arbeiterschaft zu gewinnen. Unter den Voraussetzungen des Mehrheitswahlrechts konnten diese auf das ganze Land verteilten und nicht auf einzelne Hochburgen konzentrierten Stimmen jedoch nicht in Mandate umgesetzt werden.23 Vor allem aber fehlte den NL, die den Anspruch vertraten, den gesellschaftlichen Ausgleich und das Allgemeinwohl im Auge zu haben und nicht ausschließlich die konfessionellen und wirtschaftlichen Interessen eines bestimmten Milieus zu vertreten, eine schlagkräftige Organisation. Dieses Problem war grundsätzlich bereits in den 1870er Jahren angelegt, verschärfte sich aber mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft, der immer stärkeren Bedeutung materieller Interessen in der Politik und dem Übergang zum politischen Massenmarkt in den 1890er Jahren.24 Die Zentrumspartei konnte ihre Wahlagitation ganz auf die katholischen Interessen abstimmen und dabei auf das katholische Vereinswesen und auf den Volksverein für das katholische Deutschland zurückgreifen. Genauso verfügten die Sozialdemokraten mit den Gewerkschaften und die Konservativen mit dem Bund der Landwirte über schlagkräftige Interessen- bzw. Vorfeldorganisationen. Anhänger der NL waren in der Reichsgründungsepoche bspw. bei den Turnern, Schützen und Sängern organisiert, diese Vereine waren jedoch inzwischen ins Unpolitische abgedriftet.25 In den 1890er Jahren gab es freilich mit dem Alldeutschen Verband, dem Kolonialverein, dem Flottenverein, dem Evangelischen Bund oder einer ganzen Reihe Industrie- und Handelsverbände Organisationen, die den NL nahe standen. Aber diese Organisationen waren keineswegs ausschließlich den NL verpflichtet, sondern pflegten genauso Kontakte zu den konservativen Parteien und ggf. auch zu den Linksliberalen.26 Erschwerend kam hinzu, dass die Neigung zum individualistischen im Gegensatz zum kollektiven Denken bei den NL eine Scheu vor dem Aufbau einer effektiven Parteiorganisation bewirkte.27 Noch bis in die 1890er Jahre operierten die Liberalen im Rahmen von Wahlkämpfen lediglich mit Vertrauens-

22 Vgl. u. a. Pohl (1995): Kommunen. 23 Vgl. Fenske (1976): Wahlrecht, S. 24; Willock (2001): Nationalliberale, S. 76; Nipperdey (1993): Machtstaat S. 523. 24 Vgl. Willock (2001): Nationalliberale, S. 77f., 80; Nipperdey (1993): Machtstaat, S. 324f., auch 526f. 25 Vgl. ebd., S. 322, auch 519f. 26 Vgl. Willock (2001): Nationalliberale, S. 79. 27 Vgl. Naumann (1964): Organisation, S. 260; Willock (2001): Nationalliberale, S. 78f.

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leuten und spontan gebildeten Komitees. Erst nach der Jahrhundertwende begannen sie mit dem Aufbau eines Parteiapparates.28 3. DIE BADISCHEN NATIONALLIBERALEN ALS „REGIERENDE PARTEI“ Die Situation der badischen NL gestaltete sich deutlich günstiger als die ihrer Reichspartei. Dies lag vor allem an ihrem Rückhalt bei Großherzog Friedrich I. (1826–1907), der von Jugend an eine liberale Prägung erhalten hatte29 und im März 1860 eine Grundsatzentscheidung traf, an der in Baden bis zum Ende der Monarchie festgehalten wurde: Nachdem in diesem Jahr der Entwurf eines Konkordats zwischen dem Großherzogtum Baden und dem Heiligen Stuhl von der Zweiten Kammer mit einer dreiviertel Mehrheit abgelehnt worden war, berief Friedrich I. die beiden parlamentarischen Spitzenrepräsentanten der badischen Liberalen in die Regierung, was einen politischen Erdrutsch bedeutete.30 Damit wurden erstmals in einem Staat des Deutschen Bundes Repräsentanten der liberalen Kammermehrheit ins Kabinett berufen. Dies bedeutete den Übergang vom monarchischen Konstitutionalismus, bei dem die Regierung einzig dem Monarchen verpflichtet war, jedoch unabhängig von den Parlamentsmehrheiten berufen wurde, zum parlamentarischen System. Zwar ist Großherzog Friedrich I. ab dem Ende der 1860er Jahre wieder davon abgekommen, die jeweiligen parlamentarischen Führer der (national)liberalen Fraktion zu Ministern zu berufen, auch hat der Großherzog ab diesem Zeitpunk wieder stärker sein Recht betont, die Minister unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in der Kammer zu ernennen.31 Gleichwohl aber waren sämtliche badischen Staatsminister bis 1918, abgesehen von einer Ausnahme, Mitglieder der NL. Dementsprechend stimmte sich die Regierung seit den 1860er Jahren in allen zentralen Fragen mit der NL-Landtagsfraktion ab, sodass diese sich – anders als im Reich – gleichsam als „regierende Partei“ verstehen konnten. Folglich war auch die gesamte Verwaltung im Großherzogtum Baden durch Männer geprägt, die Mitglieder der NL waren oder diesen zumindest nahe standen. Auch profitierten die NL in ihrem Ansehen von den umfangreichen gesellschaftlichen Reformen, die die badischen Regierungen in den frühen 1860er Jahren

28 Zur Arbeit der für die Liberalen typischen Komitees und zur allmählichen Professionalisierung des Politikbetriebs bei den Liberalen um 1900 vgl. Nipperdey (1993): Machtstaat, S. 515–521, insbes. 515f. und 520f., 528. 29 Zur liberalen Haltung Großherzogs Friedrich I. vgl. Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 51; Hug (1992): Baden, S. 259. 30 Zu den Auseinandersetzungen um den Konkordatsentwurf und zur politischen Wende des Jahres 1859/1860 vgl. Becht (2009): Parlamentarismus, S. 718–742; Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 51–53; Engehausen (2005): Baden, S. 121–125; Hug (1992): Baden, S. 259–262. 31 Vgl. u.a. ebd., S. 271; Engehausen (2005): Baden, S. 140.

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verabschiedet hatten.32 Hierzu gehörten u. a. die Trennung von Justiz und Verwaltung auf der unteren Ebene und damit verbunden die Neuregelung der Gerichtsorganisation, die Stärkung der Rechte von Schöffen bei Strafprozessen, der Abschluss der Judenemanzipation, die Einführung der Gewerbefreiheit und die Verabschiedung eines Gesetzes, das die Möglichkeiten zur Ministeranklage regelte. Am Ausgang der 1860er Jahre erfuhr die badische Verfassung mit der Einführung des (nahezu) allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrechts eine weitere Demokratisierung.33 Jedoch wurde noch immer indirekt gewählt, d.h. die Bevölkerung wählte in einem ersten Schritt Wahlmänner, die ihrerseits in einem zweiten Schritt den Abgeordneten kürten. Auch erhielt der Landtag jetzt das Recht der Gesetzesinitiative und Geschäftsordnungsautonomie. Einhergehend mit den genannten Reformgesetzen trieben Regierung und nationalliberale Landtagsmehrheit durch eine umfassende Kulturkampfgesetzgebung zudem die Säkularisierung der Gesellschaft voran.34 Stärkten all diese Maßnahmen das Prestige der badischen NL, so gerieten diese gleich ihrer Reichspartei am Ende der 1870er Jahre in eine Krise, 1881 ging gar die absolute Mehrheit im Landtag verloren.35 Hiervon profitierte vor allem die Katholische Volkspartei (KVP), die sich seit der späten Mitte der 1860er Jahre als Reaktion auf die Kulturkampfgesetze gebildet hatte.36 1881 konnte die KVP 23 der 63 Landtagsmandate für sich gewinnen. Jedoch kam es ab Mitte der 1880er Jahre zum Wiederaufstieg der NL. Hierzu trug erneut der Großherzog bei, der 1883 seine Behörden dazu aufforderte, den Wahlkampf seiner „regierenden Partei“ zu unterstützen.37 Auch die nun immer stärkere Betonung des Nationalen, sowohl auf Reichswie auf Landesebene,38 verhalf den Nationalliberalen zu neuerlichem Stimmengewinn. Vor allem aber kam diesen zu Pass, dass es innerhalb der KVP nunmehr zu innerparteilichen Auseinandersetzungen kam, so dass diese bis 1887 auf 9 Landtagsmandate zurückfiel.39 Dies ermöglichte den NL im gleichen Jahr wieder die Dreiviertelmehrheit der Landtagsmandate zu gewinnen, 1891 konnten sie immerhin noch die absolute Mehrheit verteidigen.40

32 Vgl. ebd., S. 127f.; Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 61f. 33 Zu den Verfassungsreformen am Ende der 1860er Jahre vgl. Engehausen (2005): Baden, S. 147–155; Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 62–65; Becht (2009): Parlamentarismus, S. 814f. 34 Vgl. u. a. Hug (1992): Baden, S. 265–272; Engehausen (2005): Baden, S. 155–157. 35 Zu den Fraktionsstärken im Landtag vgl. Rothmund (1979): Blockpolitik, S. 129. 36 Zur Katholischen Volkspartei vgl. Bachem (1928): Zentrumspartei, S. 357–418; Dorneich (1974): Kirchenkampf. 37 Vgl. Engehausen (2005): Baden, S. 162. 38 Vgl. das Heidelberger Erklärung von 1885 bei Mommsen (1964): Parteiprogramme S. 158– 160; Huber (1969): Verfassungsgeschichte 4, S. 69f. 39 Zur Krise der KVP vgl. Bachem (1928): Zentrumspartei, S. 403–418; Kremer (1983): Mit Gott, Nr. 1, hier: S. 31–34. 40 Angaben zu den Fraktionsstärken bei Rothmund (1979): Blockpolitik, S. 129.

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Von diesem Zeitpunkt an setzte der Verfall der Nationalliberalen in der Wählergunst jedoch endgültig ein. Denn nach dem Wegfall des Sozialistengesetzes 1890 trat mit der bald auch schon im Landtag vertretenen SPD ein weiterer Konkurrent hinzu.41 Noch negativer für die NL machte sich das organisatorische Talent Theodor Wackers (1845–1921) bemerkbar, der seit 1888 an der Spitze der reorganisierten KVP, nunmehr unter dem Namen Zentrumspartei, stand. Wacker stärkte nicht nur die Strukturen seiner Partei42 und machte sich für die Neugründung von Männerklöstern in Baden stark, sondern forderte zudem vehement eine Wahlrechtsreform ein.43 Tatsächlich ermöglichte das in Baden noch immer gepflegte indirekte Wahlrecht den Nationalliberalen bis zur Landtagswahl 1905, die stärkste Kammerfraktion zu stellen. Denn die Wahlmänner, die letztlich die Abgeordnetenwahl vollzogen, entstammten meist dem Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, das eher liberal als katholisch wählte. Außerdem fanden die Abgeordnetenwahlen unter Leitung eines Wahlkommissars statt, bei dem es sich um den jeweiligen Amtsvorstand handelte, der so gut wie immer nationalliberal war und die Wahl im Sinne seiner Partei beeinflussen konnte. Zugleich profitierten die NL vom Zuschnitt der Wahlkreise, der das städtisch-protestantische Element bevorzugte und agrarisch-katholische Gebiete benachteiligte. Seit dem Beginn der 1890er Jahre gelang es Wacker, eine äußerst heterogene Koalition aus Zentrumspartei, Freisinn, Demokratie und Sozialdemokraten zu schmieden. Natürlich hatten all diese Gruppen völlig unterschiedliche Ziele, geeint waren sie jedoch in dem Bestreben, durch eine Wahlrechtsreform die starke Stellung der NL zu brechen.44 Im Gefolge der Agitation Wackers verloren die Nationalliberalen 1893 die absolute Mehrheit und konnten anschließend nur noch Rückzugsgefechte liefern, so dass sie sich Ende 1900 zur Einführung des direkten Wahlrechts bekennen mussten. Diese wurde gleichwohl nochmals vier Jahre hinausgeschoben, da in der Regierung noch immer Vorbehalte herrschten. Erst 1904 kam es im Zuge einer größer angelegten Verfassungsreform zur Einführung des direkten Landtagswahlrechtes. Damit verbunden erhöhte sich die Zahl der Sitze im Landtag von 63 auf 73, was zugleich einen Neuzuschnitt der Wahlkreise bedeutete. Hierdurch wurde die bisher für die NL so günstige Bevorzugung städtisch-protestanti-

41 Vgl. Engehausen (2009): Anfänge. 42 Vgl. Kremer (1983): Mit Gott, S. 188f. 43 Vgl. Merz (1978): Katholische Parteien, S. 36–38 (einschließlich Hinweise auf die Schriften Wackers, in denen dieser das indirekte Wahlrecht wie auch die Wahlkreiseinteilung einer umfassenden Kritik unterzog); auch Kremer (1983): Mit Gott, Nr. 46, 47, 48. 44 Zu den Koalitionen der 1890er Jahre und das Ringen um die Reform des Wahlrechts und der Verfassung vgl. Ehrismann (1993): Verfassungspolitik, S. 266–516; Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 17–24; Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 69–73; Engehausen (2005): Baden, S. 175–179; zu den Fraktionsstärken vgl. Rothmund (1979): Blockpolitik, S. 129.

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scher Regionen beim Zuschnitt der Wahlkreise zwar nicht gänzlich preisgegeben, aber doch abgemildert.45 4. DER BADISCHE GROßBLOCK: ENTSTEHUNG – CHANCEN – SCHEITERN Von Beginn an war klar, dass durch die Wahlrechtsreform Zentrum und Sozialdemokratie profitieren würden, mithin die NL Einbußen erleiden würden. Um dies zu verhindern, schlossen die NL Ende 1904 mit Freisinn und Demokraten ein Wahlkampfabkommen für die kommenden Wahlen.46 Gleichwohl konnten die somit zum Kleinblock vereinigten Liberalen nicht verhindern, dass die Zentrumspartei in den Hauptwahlen 1905 in 28 der 73 Landtagswahlkreise die absolute Mehrheit erhielt und damit jeweils das Mandat erobern konnte. In 23 Wahlkreisen kam es zur Stichwahl, wobei die Zentrumspartei in acht Kreisen gute bis sehr gute Chancen auf den Mandatsgewinn hatte. Damit stand der Gewinn der absoluten Mehrheit durch das Zentrum unmittelbar bevor, zumal dieses noch auf die Unterstützung der kleinen konservativen Rechtsstehenden Vereinigung zählen konnte.47 Dies musste aus nationalliberaler Sicht (wie auch aus Sicht der Regierung) unbedingt verhindert werden. Denn anders als in Preußen und im Reich war in Baden der Kulturkampf noch keineswegs abgeebbt. Vielmehr waren die ersten Jahre nach der Jahrhundertwende durch überaus polemisch geführte Auseinandersetzungen zwischen NL und bekennenden Katholiken über die Frage der Zulassung von Männerklöstern geprägt.48 Um nun in den Stichwahlen eine katholische Landtagsmehrheit zu verhindern, schlossen sich alle liberalen Kräfte mit der SPD zum Großblock zusammen.49 Die nationalliberal geprägte Regierung dürfte über dieses Vorgehen informiert gewesen sein, auch verurteilte sie erst nach der Wahl und auf Druck des Großherzogs das Wahlabkommen zwischen NL und SPD.50 In jedem Fall aber war das Großblockabkommen erfolgreich: Die Zentrumspartei gewann in den Stich-

45 Zu den neuen Regelungen der badischen Verfassung vgl. Ehrismann (1993): Verfassungspolitik, S. 516–527; Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 73–75; Engehausen (2005): Baden, S. 179f. 46 Vgl. ebd., S. 181f.; Rothmund (1979): Blockpolitik, S. 118f.; Fenske (1981): Südwesten, S. 169. 47 Vgl. Willock (2001): Nationalliberale, S. 147; Fenske (1981): Südwesten, S. 169; Engehausen (2005): Baden, S. 183. 48 Vgl. Rothmund (1979): Blockpolitik, S. 117f.; Kremer (1983): Mit Gott, Nr. 30, Nr. 31 (Auseinandersetzungen über die Frage der Zulassung von Orden); Nr. 68 (zur Benachteiligung katholischer Organe bei der Vergabe öffentlicher Bekanntmachungen). 49 Zum Großblock und dessen Wahlerfolg vgl. Engehausen (2005): Baden, S. 183–187; Fenske (1981): Südwesten S. 169f.; Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 75f.; Rothmund (1979): Blockpolitik, S. 119; grundsätzlich zur Entwicklung des Großblocks aus Sicht des Zentrums vgl. Schofer (1913): Großblockbilanz. 50 Vgl. Engehausen (2005): Baden, S. 186f.; Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 76.

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wahlen keinen weiteren Kreis. Auch gelang es 1905 den NL im Zusammenspiel mit der SPD ihren Anspruch auf das Amt des Landtagspräsidenten zu verteidigen. Gleichzeitig wurde mit Adolf Geck (1854–1942) erstmals ein Sozialdemokrat zum zweiten Vizepräsidenten des Landtags gewählt.51 Wenn auch die badische SPD auf dem rechten Flügel ihrer Reichsparteiorganisation stand und ein revisionistisches Programm verfocht52 – dies hatte das Wahlkampfabkommen überhaupt erst möglich gemacht –, so fanden Liberale und SPD in der Legislaturperiode 1905–1909 gleichwohl zu keiner inhaltlichen Kooperation.53 Für die Nationalliberalen ging es zunächst einzig darum, Ansprüche der Zentrumspartei zurückzuweisen und ihre eigene Stellung als politisch maßgebliche Kraft zu wahren. Zudem verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den Großblockparteien, als Landtagsvizepräsident Geck 1907 nicht an der Beisetzung des allseits beliebten Friedrich I. teilnahm.54 Anschließend konnten sich Liberale und SPD noch nicht einmal mehr auf die Besetzung des Landtagspräsidiums einigen, so dass 1907–1909 mit Constantin Fehrenbach (1852–1926) erstmals ein Zentrumspolitiker und mithin ein Vertreter der zuvor gemeinsam bekämpften Partei an der Spitze des Hauses stand.55 Den Landtagswahlkampf 1909 führte der Vorsitzende der badischen NL Rudolf Obkircher (1859–1916) schließlich gleichermaßen gegen das Zentrum wie auch die SPD. In diesem Wahlkampf war es den NL zudem nicht gelungen, ein flächendeckendes Wahlkampfabkommen mit den linksliberalen Gruppierungen zu schließen, was dazu beitrug, dass die Kampagne in einer Katastrophe endete. Bei den Hauptwahlen gewannen die NL gerade einmal vier der 73 Sitze, Obkircher büßte sein Mandat ein und verlor in der Folge Fraktions- und Parteivorsitz an Edmund Rebmann (1853–1938), der nunmehr eine deutliche Wendung erneut in Richtung SPD vollzog. Wie schon 1905 kam es 1909 zum Abschluss eines Stichwahlabkommens aller Liberalen mit der SPD, ebenfalls wie schon 1905 konnte damit die absolute Mehrheit von Zentrum und Rechtsstehender Vereinigung verhindert werden.56 Anders als vier Jahre zuvor kooperierten Liberale und SPD 1909 jedoch nicht nur bei der Besetzung des Landtagspräsidiums, sondern auch auf einer ganzen Reihe von Politikfeldern, wobei sie jetzt auch auf die Unterstützung der Regierung

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Vgl. Thiel (1996): Großblockpolitik, S. 38–40; Willock (2001): Nationalliberale, S. 148. Vgl. Franzen (1979): SPD, S. 88–92. Vgl. Willock (2001): Nationalliberale, S. 149; Fenske (1981): Südwesten, S. 170f. Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 57; Engehausen (2005): Baden, S. 187f.; Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 77. 55 Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 58–60; Willock (2001): Nationalliberal, S. 150. 56 Zum Landtagswahlkampf bzw. Ergebnis des Landtagswahlkampfes 1909 vgl. Engehausen (2005): Baden, S. 188f.; Fenske (1981): Südwesten, S. 171f.; Fenske (1993): Badische Verfassung, S. 77; Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 82–105; Willock (2001): Nationalliberale, S. 151f.

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zählen konnten.57 Überaus geschickt verteidigte Rebmann zudem gegenüber kritischen Stimmen in den eigenen Reihen das Großblockbündnis. Dabei erging sich Rebmann zwar immer wieder in Ausfällen gegen die SPD, aber diese hatten eher demonstrativen Charakter. Im Grunde definierte Rebmann es als politisches Ziel und als nationale Aufgabe, die SPD an den bestehenden Staat heranzuführen.58 In diesem Sinn waren die badischen NL jetzt bereit, eine progressive Politik einzuschlagen: Dies galt zuerst einmal für das Gebiet der Fiskalpolitik. Im Zusammenspiel mit der Regierung verabschiedeten die Großblockparteien eine Steuerreform, in deren Rahmen es zur Einführung einer Vermögenssteuer kam.59 Zweitens erfolgte 1910 eine Volksschulgesetznovelle.60 Jetzt wurde der Klassenteiler auf 70 Schüler reduziert, zugleich waren nunmehr auch Mädchen bis zum 14. Lebensjahr schulpflichtig und innerhalb der Lehrpläne wurde das Gewicht der Realien gestärkt. Vor allem aber wurde die Volksschullehrerausbildung professionalisiert und damit verbunden die Gehälter der Volksschullehrer wie auch -lehrerinnen erhöht, die auf diese Weise an den Mittelstand herangeführt wurden. Schließlich kam es zur Einstellung von Schulärzten, entsprechend den Wünschen der SPD konnten außerdem Kinder aus kirchenfernen Elternhäusern aus dem Religionsunterricht ausscheiden. Drittens einigten sich die Großblockpartner auf die Einführung simultaner Lehrerbildungsanstalten61 und viertens auf eine Neufassung der Kommunalordnung.62 In Gemeinden mit mehr als 2.000 Einwohnern wurde jetzt bei der Wahl des Bürgerausschusses das Proporzwahlrecht eingeführt. Die Nationalliberalen setzten sich allerdings mit dem Erhalt des Dreiklassenwahlrechts in den Kommunen durch, jedoch wurde die Zusammensetzung der Wahlklassen vereinfacht und das Wahlalter auf 25 gesenkt. Auch musste jeder Wähler weiterhin eine Gemeindesteuer von jährlich mindestens 20 M entrichten, doch mussten die Wähler nicht mehr wie bisher über eine „selbständige Lebensstellung“ verfügen. Die Frage, wie bzw. was als eine „selbständige Lebensstellung“ zu definieren sei, hatte wiederholt Anlass zu Kontroversen geboten und war auf Wunsch der SPD gestrichen worden. Überhaupt waren die Kommunen der Ort, an dem von einer überaus fruchtbringenden Kooperation von NL und SPD gesprochen werden kann. Dies belegt das Beispiel Freiburg im Breisgau. Hier führte der nationalliberale Oberbürgermeister Otto Winterer (1846–1915) entsprechend den Vorschlägen des dortigen Arbeitersekretärs Wilhelm Engler (1873–1938) einen Arbeitsnachweis nach dem GenterSystem ein: „In der belgischen Stadt Gent hatten unsere Genossen“, so Engler in seinen Lebenserinnerungen, „erreicht, dass den Arbeitern, die in ihrer Gewerk57 Vgl. die Bemerkung des Innenministers Heinrich Graf Bodman in der Sitzung der I. Kammer vom 13. Juli 1910, wobei dieser von der Sozialdemokratie als „großartige(r) Bewegung zur Hebung des vierten Standes“ sprach, vgl. Fenske (1981): Südwesten S. 173. 58 Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 137–140; auch Rothmund (1979): Blockpolitik, S. 126. 59 Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 117–120; Willock (2001): Nationalliberale, S. 153f. 60 Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 120–123; Hug (1992): Baden, S. 290; Willock (2001): Nationalliberale, S. 154. 61 Fenske (1981): Südwesten, S. 173. 62 Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 123–125; Willock (2001): Nationalliberale, S. 154.

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schaft gegen Arbeitslosigkeit versichert waren, aus städtischen Mitteln ein Zuschuss zur gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung gewährt wurde in der gleichen Höhe, wie der gewerkschaftliche Unterstützungssatz vorgesehen war.“63 Die Freiburger Stadtverwaltung wandelte die Vorlage Englers nur insoweit um, als sich der Arbeitnehmer nicht nur bei der Gewerkschaft, sondern auch bei der Stadt versichern konnte. Auch darüber hinaus hob Engler hervor, dass Winterer in Freiburg eine Vielzahl Anliegen der unteren Bevölkerungsschichten im Zusammenspiel mit der lokalen SPD verwirklicht habe. Hierzu gehörte u.a. der Bau von Kleinwohnungen nicht nur für Mitarbeiter der Stadtverwaltung, sondern allgemein für breitere Bevölkerungsschichten, die Einrichtung eines Wohnungsnachweises genauso wie einer Rechtsauskunftsstelle, an die sich vor allem sozial Schwächere wenden konnten. Genauso lobte Engler die Schaffung von Tarifverträgen für die städtischen Angestellten und die Errichtung einer Hinterbliebenenversorgung für die Mitarbeiter der Stadt Freiburg.64 Ein letztes gemeinsames Ziel der Großblockparteien bildete die Einführung des Proporzwahlrechts auf Landesebene.65 Dabei befürwortete die SPD das Proporzwahlrecht aus prinzipiellen Erwägungen,66 während die NL aus machtpolitischen Gründen hierfür eintraten. Denn – wie schon erwähnt – verfügten die NL kaum über Wählerhochburgen, vielmehr verteilten sich ihre Anhänger über das ganze Land. Dies hatte unter den Voraussetzungen des Mehrheitswahlrechts zur Folge, dass Stimmgewinne, die die NL in agrarischen-katholischen wie auch in von der Arbeiterschaft geprägten Bezirken, also in Hochburgen des Zentrums und der SPD, erringen konnten, nicht zum Tragen kamen und sich bestenfalls als Manövriermasse bei Stichwahlen eigneten. Durch die Einführung des Proporzwahlrechts hätten diese Wählerpotentiale der NL zur Geltung gebracht werden können, wodurch die Partei in Zukunft auch keine ungeliebten Wahlbündnisse zur Sicherung ihrer Mandate mehr hätte schließen müssen. Um die für die Einführung des Proporzwahlrechts notwendige verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zu gewinnen, schlug die SPD 1913 den NL die Ausweitung des Großblockabkommens auf beide Wahlgänge vor. Dieser Vorschlag fand zwar die Zustimmung der nationalliberalen Landtagsfraktion wie auch des Engeren Ausschusses der Partei, nicht jedoch der Landesversammlung.67 Letztlich überwogen in der nationalliberalen Landesversammlung die Vorbehalte gegen eine zumindest kurzfristig noch engere Kooperation mit der SPD, vor allem erwies sich aber die Konkurrenz zwischen den Großblockpartnern als zu stark, um sich über

63 Engler (1991): Freiburg, S. 73. 64 Vgl. Kitzing (2010). Engler, S. 441f. 65 Zu diesem Reformvorhaben und den Motiven der Nationalliberalen für die Einführung des Proporzwahlrechts einzutreten vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 201–204; Willock (2001): Nationalliberale Partei, S. 146; Fenske (1981): Südwesten, S. 174. 66 Vgl. das Erfurter Programm der SPD (1891), abgedruckt in: vom Bruch / Hofmeister (2006): Quellen, S. 221–226, hier: S. 223. 67 Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 210–214; Willock (2001): Nationalliberale, S. 159f.

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eine Verteilung der potentiellen Mandate bereits im ersten Wahlgang zu einigen.68 Somit kam das Großblockabkommen 1913 wiederum nur für die Stichwahlen zustande. Erneut konnte eine katholisch-konservative Landtagsmehrheit abgewehrt werden, was diesmal jedoch auch schon der einzige Erfolg des Großblockbündnisses war.69 Zwar besetzten die Großblockparteien noch das Landtagspräsidium ausschließlich mit ihren Vertretern, anders als zwischen 1909 und 1913 fanden sie jedoch zu keiner gemeinsamen Politik. Der einzige gemeinsame Antrag bezog sich auf die Einführung des Proporzwahlrechts, der jedoch aufgrund der ablehnenden Haltung des Zentrums die notwendige Zweidrittelmehrheit verfehlte,70 das Großblockbündnis hatte damit jede weitere Perspektive verloren. Worin lagen nun die Gründe für das Scheitern des Großblocks? Tatsächlich stand bereits seit 1904 die Kooperation zwischen den NL und den linksliberalen Parteien auf schwachen Füßen. Ideologisch vertraten die Linksliberalen wie die SPD eine Reihe politischer Reformanliegen, die von den NL nicht geteilt wurden. Bspw. traten die Linksliberalen für das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht in den Kommunen ein, genauso wünschten sie die Abschaffung der Ersten Kammer und die Trennung von Staat und Kirche.71 Aber auch in technischorganisatorischen Fragen kam es immer wieder zu Reibereien zwischen Linksliberalen und NL. So wünschten die Linksliberalen regelmäßig eine Garantie ihrer Mandate, hierdurch entstand bei den NL im Gegenzug der Eindruck, viel zu große Zugeständnisse an die Linksliberalen zu machen.72 Die Verärgerung auf der nationalliberalen Seite wuchs, da die linksliberalen Parteien sich nur allzu wenig an den finanziellen Lasten der gemeinsamen Wahlkampfführung beteiligten.73 Außerdem wurden von linksliberaler Seite in Bezirken, in denen sich die liberalen Parteien auf einen gemeinsamen Kandidaten geeinigt hatten, linksliberale Vereine gegründet, die in Konkurrenz zur nationalliberalen Parteiorganisation traten.74 Noch schwieriger gestaltete sich freilich die Zusammenarbeit zwischen NL und SPD: Von Beginn an bestanden sowohl in der Reichsorganisation wie auch innerhalb der badischen Landespartei bei den NL erhebliche Widerstände gegen eine Kooperation mit den Sozialdemokraten. So gehörte der Pforzheimer Fabrikant Albert Wittum (1844–1923) und nach 1909 vor allem Obkircher zu den prominenten Kritikern des Großblocks auf Landesebene.75 In Freiburg gründete gar Diakonis-

68 Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 214–218. 69 Vgl. Ebd., S. 219–229. 70 Vgl. Ebd., S. 229–233; zur Ablehnung des Proporzwahlrechts durch die Zentrumspartei vgl. Kremer (1983): Mit Gott, Nr. 50. 71 Vgl. Programm der Deutschen Volkspartei in: Roth / Thorbecke (1907): Landstände, S. 137; Willock (2001): Nationalliberale, S. 141f. 72 Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 82–87; Willock (2001): Nationalliberale, S. 142–144, 145f. 73 Vgl. ebd., S. 145. 74 Vgl. ebd., S. 144f. 75 Vgl. Obkircher (1912): Nationalliberale, insbes. S. 269; Willock (2001): Nationalliberale S. 155f.,158.

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senhaus-Pfarrer Wilhelm Karl (1864–1938), der sich bis dahin bei den Nationalliberalen engagiert hatte, aus Protest gegen die Großblockpolitik einen lokalen Ableger der Freikonservativen.76 – Überaus geschickt nutzte zudem Wacker die parteiinternen Spannungen innerhalb der NL aus. So ging die Zentrumspartei ab 1909 bei Reichs- und Landtagswahlen gezielt dazu über, nationalliberale Kandidaten zu unterstützen, deren kritische Haltung gegenüber dem Großblockexperiment bekannt war. Indem das Zentrum somit zumindest in einigen Fällen nationalliberalen Gegnern des Großblocks zu Mandaten verhalf, konnte ein Keil zwischen die Großblockpartner getrieben werden.77 In einigen SPD-Organen wurden gar Zweifel an der prinzipiellen Loyalität des nationalliberalen Partners artikuliert.78 Schwerer aber noch als die Strategie Wackers belastete die Entwicklung auf Reichsebene den badischen Großblock: Natürlich war nach dem Zerbrechen des Bülow-Blocks die Schaffung einer Koalition „von Bebel bis Bassermann“ auch auf Reichsebene eine zumindest theoretische Möglichkeit. Tatsächlich standen jedoch die nationalliberale Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus sowie die Landesverbände in Hessen, Westfalen und Schleswig-Holstein den Entwicklungen in Baden ablehnend gegenüber.79 Vor allem aber verhinderten die unterschiedlichen sozioökonomischen Voraussetzungen eine Übertragung der in Baden praktizierten Zusammenarbeit zwischen NL und Sozialdemokraten auf das Reich. Denn abgesehen von der industriellen Verdichtungszone im Rhein-Neckar-Gebiet war Baden um 1900 ein im Wesentlichen noch immer kleinstädtisch-agrarisch geprägtes Land, in dem der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital weit weniger scharf ausgeprägt war als im Reich insgesamt, womit in Baden deutlich günstigere Bedingungen für eine Kooperation zwischen Arbeiterschaft und reformorientierten Teilen des Bürgertums herrschten als auf der nationalen Ebene. Schließlich war es die Reichspolitik, die massiv negative Auswirkungen auf den Großblock in Baden hatte: Die 1913 im Reichstag beschlossene neuerliche Heeresvorlage wurde von den NL begrüßt, von der SPD dagegen bekämpft. Diese Debatte machte auch vor dem badischen Landtag nicht Halt und trug somit wesentlich zum Ende des badischen Großblocks bei.80 5. ZUSAMMENFASSUNG UND BILANZ Mit Blick auf das Rahmenthema des Bandes stellt sich abschließend die Frage nach den demokratischen Potentialen des Kaiserreichs: Unter den deutschen Staaten war Baden auf dem Weg hin zu einer parlamentarischen Demokratie sicherlich am Weitesten fortgeschritten. Bereits die Verfassung des Jahres 1818 galt als besonders 76 Vgl. Syré (1996): Karl. 77 Vgl. Thorbecke (1911): Zentrum; Thiel (1976): Großblockpolitik, S. 189–194; Willock (2001): Nationalliberale, S. 156–158, 162. 78 Vgl. Volksstimme vom 28. Januar 1912. 79 Vgl. Willock (2001): Nationalliberale, S. 160f. 80 Vgl. ebd., S. 162; Fenske (1981): Südwesten, S. 173.

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progressiv. Unter Mitwirkung der Liberalen wurde diese vor allem in den 1860er Jahren und nochmals kurz nach der Jahrhundertwende weiterentwickelt. Es wäre nicht zutreffend, Baden als parlamentarische Monarchie zu bezeichnen, hierfür betonte Großherzog Friedrich I. seine Kompetenz, die Regierung ernennen zu dürfen, letztlich doch zu stark. Anders als im Reich konnten sich die Nationalliberalen in Baden gleichwohl als „regierende Partei“ fühlen, denn sowohl die Mitglieder der Regierung wie auch die Spitzenbürokratie rekrutierte sich nahezu ausnahmslos aus Anhängern und Mitgliedern der NL. Dies korrelierte mit der dominierenden Stellung der NL im Landtag bis zum Beginn der 1890er Jahre. Erst dann verloren diese in der Wählergunst und sahen sich zu Wahlkampfbündnissen zunächst mit den linksliberalen Kräften und schließlich mit der in Baden stark revisionistisch geprägten Sozialdemokratie genötigt. Somit wurde in Baden erstmals im Kaiserreich der Versuch unternommen, die SPD an den bestehenden Staat heranzuführen. Allerdings verband Liberale und Sozialdemokraten am Beginn wie auch am Ende des badischen Großblocks lediglich die gemeinsame Frontstellung gegen die katholische Zentrumspartei. Zwischen 1909 und 1913 fanden jedoch alle drei Großblockpartner auf den Feldern Finanzpolitik, Schule, Kommunales und damit verbunden der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu einer gemeinsamen Linie und einer durchaus erfolgreichen, verhältnismäßig progressiven Politik. Gleichwohl konnte sich das Bündnis nicht längerfristig etablieren. Zu groß war die Konkurrenz um Wahlkreise auch zwischen den Großblockpartnern und zu sehr machten sich reichspolitische Fragen als Störfeuer bemerkbar. LITERATUR Bachem, Karl: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei. Bd. 4. Köln 1928. Becht, Hans-Peter: Badischer Parlamentarismus 1819 bis 1870. Ein deutsches Parlament zwischen Reform und Revolution. Düsseldorf 2009. Bergsträßer, Ludwig: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland. 11. Aufl., München / Wien 1965 Biefang, Andreas: National-preußisch oder deutsch-national? Die deutsche Fortschrittspartei in Preußen 1861–1867. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (1997), S. 360–383. Bruch, Rüdiger vom / Hofmeister, Björn (Hrsg.): Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 8: Kaiserreich und Erster Weltkrieg. Stuttgart 2006. Dorneich, Julius: Der Kirchenkampf in Baden (1860–1876) und die katholische Gegenbewegung. In: Freiburger Diözesanarchiv 94 (1974), S. 547–588. Düding, Dieter: Der Nationalsoziale Verein 1896–1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus. München 1972. Elm, Ludwig: Freisinnige Vereinigung (FVg) 1893–1910. In: Fricke, Dieter (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte Bd. 2. Leipzig 1984, S. 682–693. Ders.: Freisinnige Volkspartei (FVp) 1893–1910. In: Fricke, Dieter (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Bd. 2. Leipzig 1984, S. 694–797. Ehrismann, Renate: Der regierende Liberalismus in der Defensive. Verfassungspolitik im Großherzogtum Baden 1876–1904. Frankfurt am Main 1993. Engehausen, Frank: Kleine Geschichte des Großherzogtums Baden 1806–1918. Leinfelden-Echterdingen 2005.

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AUSGRENZUNG DER ENTTÄUSCHTEN Sozialdemokratie und Reichsgründung Walter Mühlhausen Am 18. Januar 1871 wurde der preußische König Wilhelm I. im Schloss zu Versailles zum Deutschen Kaiser proklamiert. Der feierliche Akt manifestierte die nationale Einheit des Deutschen Reiches, das mit der Reichsverfassung wenige Monate später eine rechtliche Grundlage bekam. Die Einheit war geschaffen, ein im Staatenvergleich doch fortschrittliches Recht, wenn auch unvollendet, gesichert. Doch die Freiheit? Sie blieb auf der Strecke, wie der Tag der Kaiserproklamierung – über den Moment hinaus – aufzeigte. Denn die Kulisse im Spiegelsaal von Versailles bildeten Fürsten, Generäle, Soldaten, Diplomaten und Höflinge. Es war kein Vertreter des vierten Standes, des Proletariats, und auch keiner seiner politischen Sachwalter unter den Zaungästen. Auf den zahlreichen Gemälden des Zeitzeugen Anton von Werner von diesem Staatsakt ist neben den uniformierten Ordensträgern eine rote Ballonmütze nicht zu erspähen. August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die prominenten Führer der jungen sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung, erlebten diesen Tag im Gefängnis. Wären sie frei gewesen und hätte man sie eingeladen – eigentlich ein undenkbarer Akt –, so hätten sie sich wohl in Abstinenz geübt. Den Claqueur wollte bei der „Kaisermache“1 keiner der Sozialdemokraten spielen, keiner dem neuen monarchischen Staatsoberhaupt in irgendeiner Form huldigen, denn das neue Reich war in ihren Augen ein Staat ohne Freiheit – einer Freiheit, die sie sich auf die Fahnen geschrieben hatten. So gehörte keiner der acht sozialdemokratischen Abgeordneten der 30-köpfigen Delegation des Norddeutschen Reichstages an, die am 18. Dezember in Versailles Wilhelm I. bat, durch „Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen“.2 Bei der Abstimmung am 10. Dezember votierten die anwesenden sechs sozialdemokratischen Vertreter gegen die Übertragung der Kaiserwürde auf den König von Preußen und auch gegen die diesbezügliche Adresse an Wilhelm I.3 1 2

3

Ausdruck bei Bebel (1997): Leben, S. 325. Zitat aus der „Adresse“; diese mit den Abstimmungen und der Auslosung in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes. I. LegislaturPeriode (II. Außerordentliche Session 1870), Berlin 1870, S. 183–185. Ebd., S. 181. Zwei Sozialdemokraten fehlten. Die Überreichung der Adresse ist dokumentiert in: Besondere Beilage zu dem stenographischen Berichten über die 12. Sitzung; ebd.

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Sie verzichteten jedoch darauf, bei der Kür der 30 Abgesandten ihre Namen aus dem Lostopf entfernen zu lassen, was möglich gewesen wäre. Folgt man den Erinnerungen des beteiligten Sozialistenführers August Bebel, so ließen es die Sozialdemokraten darauf ankommen, ob das Los auf einen von ihnen fallen würde. Der Erwählte hätte freilich die Nominierung publikumswirksam abgelehnt. Dazu kam es nicht. Bebel kommentierte die entgangene Chance zur öffentlichen Ablehnung: „Aber das Glück blieb uns fern.“4 Für die Deputation des Reichstages hatte die Sozialdemokratie nur noch Hohn übrig und sprach von einer „Selbstverspottung des Parlaments“.5 Die Parallelität der Kaiserproklamierung im Schloss der französischen Könige und der Haft der Sozialisten symbolisierte in besonderer Weise das Verhältnis zwischen neugeschaffenem Reich und aufstrebender Arbeiterbewegung – und dies auf Dauer. Der neue Staat Bismarckʼscher Prägung war nicht das, was sich die Sozialdemokraten von der lang ersehnten staatlichen Einheit erträumt hatten. Und der neue Nationalstaat wollte die Arbeiterbewegung nicht integrieren, sondern ausgrenzen. Der äußeren Reichseinheit folgte keine innere. Mit der Reichsgründung lösten sich die Bindungen der von unerfüllten nationalstaatlichen Hoffnungen getragenen Arbeiterbewegung und der bürgerlich-nationalen Bewegung, die sich nun weitgehend am Ziel ihrer nationalen Wünsche wähnte.6 Bürgerliche und proletarische Demokratie trennten sich – „zu früh“, um gemeinsam dem Nationalstaat eine liberaldemokratische Prägung zu geben.7 In den Reichsgründungsmonaten war die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nur eine politische Randerscheinung, „nachgerade lächerlich kraftlos“.8 Zu diesem Zeitpunkt marschierten die sozialdemokratischen Parteien noch getrennt. Dies waren der 1863 von Ferdinand Lassalle begründete „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ (ADAV), der vorübergehend sogar in zwei Zweige aufgespalten war. Daneben gab es zunächst den als Reflex auf den ADAV geschaffenen, von Liberalen dominierten „Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine“ (VDAV, später „Verband“). Dieser hatte nur zeitlich begrenzten Erfolg. Aus inneren Auseinandersetzungen um den nunmehr von der Führung eingeschlagenen sozialdemokratischen Kurs formierte sich hieraus 1869 in Eisenach die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (SDAP), deren wesentlicher Vorläufer die Sächsische Volkspartei (SVP) war, die bei der Wahl zum konstituierenden Norddeutschen Reichstag im Februar 1867 die beiden einzigen sozialdemokratischen Mandate errungen hatte. Der neuen SDAP schloss sich nach seiner Auflösung im gleichen Jahr der Verband der Deutschen Arbeitervereine an. Die sich noch in der Phase der programmatischen Verortung befindlichen Parteien sozialdemokratischer Provenienz besaßen 1870 zusam-

4 5 6 7 8

Bebel (1997): Leben, S. 325. So „Der Volksstaat“ (Leipzig), das Zentralorgans der SDAP, vom 14. Dezember 1870, zitiert bei Jung (1988): Bebel, S. 67. Vgl. Groh / Brandt (1992): Gesellen, S. 22. Siehe die Argumentation bei Grebing (1985): Arbeiterbewegung, S. 65. Tenfelde (2001): Bismarck, S. 115; siehe zur Fraktionierung der Arbeiterbewegung zu dieser Zeit und deren Trennung vom Liberalismus Lehnert (1977): Reform, S. 26–35.

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men um die 20.000 Mitglieder, unterlagen hinsichtlich der Gefolgschaft – aber auch der Führerschaft – einer hohen Fluktuation und waren zum Teil untereinander höchst zerstritten. Bei der Wahl zum ordentlichen Reichstag des Norddeutschen Bundes im August 1867 verbuchten die sozialdemokratischen Parteien 1,7 Prozent und stellten – einschließlich späterer Nachwahlen – acht von 297 Abgeordneten. Bei der ersten Reichstagswahl am 3. März 1871 schrumpfte als Quittung für die vermeintlich antinationale Haltung im Einigungsprozess die Zahl der Mandatsträger, die man der Sozialdemokratie zurechnen konnte, auf die zwei in Sachsen gewählten Vertreter August Bebel und Reinhold Schraps.9 3,2 Prozent der Wähler (nach Zahl: 124.000) votierten für sozialdemokratische Kandidaten. Die Fraktionierung schlug sich auch auf der Gewerkschaftsebene nieder, wo neben den liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen mit ihren ca. 35.000 Mitgliedern zwei sozialdemokratische Verbände mit jeweils um die 18.000 Mitgliedern konkurrierten. Angesichts dieser offenkundigen Schwäche der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung mutet es befremdlich an, mit welcher Intensität Regierung und Gesellschaft vor, während und vor allem auch nach der Reichsgründung die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ausgrenzten und verfolgten. Es bestand offenkundig eine Wechselwirkung. Die kollektive Erfahrung der Exklusion erhöhte innerhalb der Sozialdemokratie die Solidarität, erzeugte eine Wagenburgmentalität und förderte den Zusammenschluss der beiden Parteien ADAV und SDAP im Mai 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). 1. UNERFÜLLTE HOFFNUNGEN – DER NORDDEUTSCHE BUND Vor dem preußisch-österreichischen Krieg waren die Radikaldemokraten getragen von der Hoffnung auf eine Lösung der nationalen Frage durch eine Volksbewegung von unten, die einen Preußen und Deutsch-Österreich umfassenden Volksstaat hervorbringen sollte, um damit auch den Dualismus zwischen den beiden für immer zu überwinden. Die Donaumonarchie müsse dafür freilich aufgelöst werden. Es herrschte Einigkeit im Ziel, dem großdeutsch-demokratischen Nationalstaat, wobei für die Leitfiguren Wilhelm Liebknecht und August Bebel dies immer im Zusammenhang mit der Lösung der sozialen Frage stand.10 Daraus wurde nichts, so dass 9

Oft wird festgestellt, dass beide Parteien (ADAV und SDAP) 1871 auf zwei Mandate gekommen seien; u. a. bei der allzu flott geschriebenen Darstellung von Ullrich (1999): Großmacht, S. 65. Ein genauer Blick wäre hier vonnöten: Schraps war 1869 nicht von der Sächsischen Volkspartei zur SDAP gegangen. Er galt zwar noch als Sozialdemokrat, doch – so schreibt Bebel (1997): Leben, S. 333 – eigentlich hätte man „von Rechts wegen“ nicht Schraps, der „streng genommen nicht mehr zur Partei gehörte“, sondern einen anderen Kandidaten aufstellen müssen. 10 Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 48–49 und S. 63–64; für unser Thema ist diese Studie immer noch grundlegend; für Bebels Zielvorstellungen im Vorfeld des Norddeutschen Bundes vgl. Jung (1988): Bebel, S. 31.

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die vornehmliche Kritik das mächtige Preußen unter Reichskanzler Otto von Bismarck ins Visier nahm. Der antipreußische Duktus spiegelt sich in den Worten Liebknechts vom November 1865 wider: „Mit Preußen gegen Deutschland oder mit Deutschland gegen Preußen“.11 Im nationalen Einigungsprozess zeigten sich die beiden sozialdemokratischen Richtungen zunächst uneins. Die mit der Bildung des Norddeutschen Bundes realisierte Zentralisierung und die Überwindung der Kleinstaaterei wurden noch von vielen bedingt positiv verbucht. Für den theoretischen Übervater Karl Marx im Londoner Exil war die Schaffung eines zentralisierten Reiches eine unerlässliche Voraussetzung für die Entwicklung einer schlagkräftigen zentral organisierten Arbeiterbewegung, die dann, anders als eine zersplitterte Bewegung in einem in souveräne Einzelstaaten aufgespaltenen Deutschland, im Klassenkampf bestehen konnte. Mit dem Norddeutschen Bund sei der Weg zu einer starken Arbeiterbewegung geebnet und in letzter Konsequenz die Überwindung des Klassenstaates erleichtert worden. Die Auffassung seines Partners Friedrich Engels war nüchternpragmatischer: Man sollte das Faktum akzeptieren, ohne es zu billigen.12 Kritisch wurde die preußische Dominanz im neuen Zentralstaat gesehen. Genau hieran entzündete sich der Widerspruch der beiden Galionsfiguren der Sozialdemokratie, August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Für sie – wie für viele andere Gefolgsleute, die sich später in der vor allem in Sachsen starken SDAP sammelten – war dies lediglich ein territorial amputiertes Gebilde, eine obrigkeitsstaatlich oktroyierte Rumpf-Einheit ohne Deutsch-Österreich. Eine ihrer Vorläuferinnen, die 1866 als Zweigorganisation der liberal-demokratischen Deutschen Volkspartei maßgeblich von Bebel und Liebknecht ins Leben gerufene SVP, hatte sich in ihrem Chemnitzer Gründungsprogramm vom August des Jahres gegen jede Art von obrigkeitsstaatlich verordneter Einigung gewandt. Stattdessen setzte sie auf die Herstellung der großdeutschen Einheit von unten auf demokratischem Wege.13 Von daher war die Lösung ohne Österreich für sie nicht der Weg zur gesamtnationalen Einheit, zumal man sich, trotz der begrüßten Parlamentarisierung und des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts, von demokratischer Freiheit und demokratischer Teilhabe weit entfernt wähnte: „Wenn die deutsche Einheit nicht das ganze Deutschland umfaßt, so kann es eine Einheit nicht genannt werden.“14 Für Bebel war der Norddeutsche Bund der „verkehrteste Weg zur Einigung Deutschlands“,15 nur ein „Groß-Preußen […], umgeben von einer Anzahl Vasallen-Staaten, deren Regierungen nichts weiter als Generalgouverneure der Krone Preußens sind“. Letztlich sei

11 Zitiert bei Steinberg (1970): Sozialismus, Internationalismus, S. 325; s. a. Pracht (1990): Parlamentarismus, S. 18 ff. 12 Engels an Marx, 25. Juli 1866, zitiert bei Pracht (1990): Parlamentarismus, S. 19. 13 Das Programm in Dowe / Klotzbach (2004): Dokumente, S. 150–153; vgl. Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 64. 14 Liebknecht am 9. Dezember 1870 im Reichstag; Stenographische Berichte [wie Anm. 2], S. 152. 15 In einem Zeitungsartikel vom April 1868, zitiert von Jung (1988): Bebel, S. 35.

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der Bund dazu bestimmt, „Deutschland zu einer großen Kaserne zu machen, um den letzten Rest von Freiheit und Volksrecht zu vernichten.“16 Anders beurteilten die Lassalleaner, schwerpunktmäßig im Preußischen verankert, die Einheit im Kleinen unter preußischer Hegemonie. Hier galt immer noch das Wort des 1864 in einem Duell um eine Frau getöteten Parteigründers Lassalle: „Großdeutschland moins les dynasties“ blieb das Endziel 17 So war der Kampf um die Einigung immer auch ein Kampf gegen die Fürsten. Für den neuen ADAVVorsitzenden Johann Baptist von Schweitzer war die nicht vom Volk erkämpfte, sondern von der preußischen Regierung verfügte Lösung zwar nicht jene, die er gewollt hatte, aber sie war nun einmal da und, weil es die Überwindung der Kleinstaaterei bedeutete, zu akzeptieren. Seine Haltung war taktisch bestimmt, nicht prinzipieller Natur. Man sprach von der Möglichkeit, dass das durch Preußen geschaffene Gebilde zur Herstellung der deutschen Einheit führen würde. Das bedeutete aber nicht, dass seine Partei nicht die inneren Verhältnisse verändern wollte. Einen weiteren gravierenden Unterschied zur sozialdemokratischen Konkurrenz SDAP machte Schweitzer im Reichstag öffentlich fest. Es ging um die generelle Haltung zur Nation: „Wir mit einem Wort, obwohl unzufrieden mit den inneren Zuständen und dahin strebend, dieselben gründlich zu ändern, stehen innerhalb des neu sich bildenden Vaterlandes, jene aber stehen außerhalb desselben, wollen außerhalb desselben stehen. Das ist es, was uns von ihnen trennt und das mußte hier bestimmt constatirt werden.“18 Ob er da richtig analysierte? In der Tat wurde Schweitzer, obwohl er gewiss Sympathien hegte, kein Mitglied der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiter Assoziation (IAA), dem Zusammenschluss der sozialistischen Parteien, während Bebel und Liebknecht dieser von Marx wesentlich beeinflussten I. Internationalen persönlich angehörten. Die Gegensätze in der nationalen Frage offenbarten die Führungsköpfe der beiden Richtungen im Reichstag: Schweitzer lobte den preußischen „Machtkern“ als Kraft gegenüber dem Ausland. Demgegenüber sprach Liebknecht von einer das Reich zerreißenden und nach außen hin schwächenden „Blut -und Eisen-Politik“.19 Deutlich unterschieden sich SDAP und ADAV auch in der Wertung des allgemeinen Wahlrechts. Die Lassalleaner beurteilten das neue Wahlrecht positiv und münzten dies zu einem späten Erfolg ihrer verstorbenen Parteiikone Lassalle um: Bismarck habe sich als dessen Vollzugsgehilfe erwiesen. Die SDAP witterte im Wahlrecht und Reichstag einen bonapartistischen Coup des Eisernen Kanzlers zur 16 Am 10. April 1867; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1967. Erster Band, Berlin 1867, Zitate S. 678 und S. 679; s. a. Bebel (1997): Leben, S. 282–283. 17 Lassalle an Karl Rodbertus am 12. Mai 1863; vgl. Ramm (2004): Lassalle, S. 87. 18 Sitzung vom 18. Oktober 1867; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes. I. Legislatur-Periode – Session 1867. Erster Band, Berlin 1867, S. 471; zu diesen Differenzen „prinzipieller Natur“ (so Bebel) mit Schweitzer, vgl. Jung (1988): Bebel, S. 43–46, Zitat S. 46. 19 Liebknecht am 30. September und Schweitzer am 18. Oktober 1967; Stenographische Berichte [wie Anm. 18], S. 187 und S. 471.

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Herrschaftssicherung unter Zügelung des Liberalismus.20 Später dann differierten Bebel und Liebknecht in der Einschätzung des Parlaments: Während Liebknecht weiter das allgemeine Wahlrecht als „Spiel- und Werkzeug des Absolutismus“ diskreditierte und im Reichstag kein Instrument zur Durchsetzung der sozialdemokratischen Interessen sah, folgte ihm Bebel nicht, der die parlamentarische Ausprägung der Sozialdemokratie – trotz zeitweiliger Parlamentsfeindlichkeit – forcierte.21 Bis zum deutsch-französischen Waffengang 1870 änderte sich nichts: Die SDAP favorisierte die großdeutsche Lösung, während der ADAV sich mit der von Preußen erzwungenen kleindeutschen Einigung als Faktum abfand, zumal der preußisch-österreichische Dualismus überwunden war. Doch müsse der Kampf um die Emanzipation der Arbeiterschaft und die Verwirklichung von Freiheit und Demokratie fortgeführt werden. In seinem auf der Erfurter Generalversammlung zum Jahresende 1866 verabschiedeten Programm gab der ADAV die Parole aus: „Durch Einheit zur Freiheit.“ Das bedeutet nichts weniger als den Verzicht auf die umgehende Realisierung der Freiheit – das hätten die späteren Eisenacher niemals unterschrieben. Fünf Monate später hieß es in den Grundzügen des ADAV apodiktischer mit anderer Wertigkeit: „Einheit mit Freiheit.“22 Das meinte einen untrennbaren Zusammenhang. Diese Einschätzung teilten beide Richtungen. Die Gegensätze zwischen den eher zentralistisch, kleindeutsch-preußisch orientierten Lassalleanern und den eher föderativ großdeutsch, anti-preußischen Eisenachern spülte die Reichsgründung fort, denn die Frage „kleindeutsch“ oder „großdeutsch“ war damit gelöst. Eine weitere Entscheidung von größter Tragweite zeichnete sich nun ab: War die Arbeiterbewegung bis zur Reichsgründung Teil der nationalen Bewegung gewesen, so verabschiedete sie sich aus dieser über die so nicht gewollte Nationalstaatsformierung und konzentrierte sich fortan auf die Lösung der sozialen Frage. 2. WANDLUNGEN DER EINSTELLUNG ZUM DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN KRIEG Die Haltung der Sozialdemokraten zum deutsch-französischen Krieg teilt sich deutlich in zwei Phasen mit dem Tag von Sedan, dem 2. September 1870, als Wendepunkt. Bei Ausbruch des Krieges tat sich eine Kluft innerhalb der Arbeiterbewegung auf, mit Trennlinien quer durch die Parteien. Es kam zu einer dreifachen Spaltung.23 Die Mehrheit ging zu Beginn von einem deutschen Verteidigungskrieg aus und befand sich im Einklang mit der öffentlichen Meinung, dass dieser den

20 Pracht (1990): Parlamentarismus, S. 25–26. 21 Steinberg (1979): Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, S. 64–65. 22 Grundzüge des ADAV, beschlossen auf der Generalversammlung im Mai 1867 in Braunschweig, in Dowe / Klotzbach (2004): Dokumente. S. 154–156; vgl. Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 66. 23 Grebing (1985): Arbeiterbewegung, S. 64.

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Deutschen von Napoleon III. aufgezwungen worden sei. Schließlich hatte er am 19. Juli den Krieg erklärt. Das ADAV-Blatt „Der Social-Demokrat“ machte am Tag vor der Abstimmung über die Kriegskredite noch einmal deutlich: „Jeder Deutsche ist ein Verräter, der jetzt nicht zu seinem Volke steht.“24 So votierten die Lassalleaner mit allen anderen Mandatsträgern mit Ja, dem sich nur Bebel und Liebknecht durch ihre Enthaltung verweigerten. Sie zogen sich die Kritik aus dem eigenen sozialdemokratischen Lager zu, die auch von der sich in der Emigration befindlichen „Zwei-Mann-Partei“25 Marx und Engels kam, denn – so Marx: „Die Franzosen brauchen Prügel.“ Und weiter folgerte er: „Siegen die Preußen“, dann werde dies zur Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse führen und den „Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen“.26 Das war das Kalkül, und es sollte so kommen. Liebknecht und Bebel27 begründeten ihre Enthaltung in einer dem Reichstag übergebenen Erklärung mit dem Zwiespalt, in dem sie sich wähnten: Eine Zustimmung zur Kriegsfinanzierung wäre einem Vertrauensvotum für die preußische Regierung gleichgekommen, die diesen Krieg mit vorbereitet habe; eine Ablehnung hätte als Billigung der verbrecherischen Politik des Kriegsgegners, vor allem auch von Napoleon III. aufgefasst und als Akt des Landesverrats gewertet werden können.28 Die Enthaltung in der Frage der Kriegsfinanzierung dieses als dynastisch qualifizierten Krieges wies den Weg aus dem Dilemma. Der dritte Eisenacher im Reichstag, der einstige Lassalleaner Friedrich Wilhelm Fritzsche, votierte wie die Abgeordneten um Schweitzer für die Kriegsfinanzierung und befand sich damit in Übereinstimmung mit dem Braunschweiger Ausschuss, dem Leitungsgremium seiner SDAP. Die Spaltung der jungen Partei drohte. Die in Braunschweig ansässige Zentrale verurteilte das Vorgehen von Bebel und Liebknecht „auf das Härteste“;29 beide hätten sich dem Volke entfremdet. Bebel und Liebknecht warfen dem Ausschuss wiederum patriotischen Übereifer vor; Liebknecht formulierte seinen „Ekel vor dem patriotischen Dusel“.30 In einem in einer Auflage von 10.000 Exemplaren in Umlauf gebrachten „Aufruf an die Partei“ vom 24. Juli bekundeten die von Wilhelm Bracke geführten Braunschweiger, die bis Ende der 1860er Jahre noch dem ADAV angehört hatten und noch in deren Kategorien dachten, den entschlossenen

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Am 20. Juli 1870, zitiert bei Bouvier (1982): Revolution, S. 212. Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 67. Brief an Engels vom Juli 1870, ausführlich zitiert bei Klönne (1981): Arbeiterbewegung, S. 50. Über die ursprünglichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Bebel und Liebknecht, vgl. Jung (1988): Bebel, S. 57–58. 28 Ebd., S. 58 (auch zum Folgenden); s. a. Brandt / Lehnert (2013): Demokratie, S. 55. Da keine Debatte stattfand, legten beide ihre Motive schriftlich nieder; Verhandlungen des […] zu einer außerordentlichen Session einberufenen Reichstages des Norddeutschen Bundes. Vom 19. bis 21. Juli 1870 […], Berlin 1870, S. 14; ihre Erklärung in: Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 6. 29 So Bebel im Leipziger Prozess; Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 313; vgl. Bebel (1997): Leben, S. 309. 30 In einem Brief an Wilhelm Bracke vom 1. September 1870; zitiert bei Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 93.

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Willen zur Verteidigung des deutschen Bodens. Und weiter riefen sie dazu auf, den „ganz Deutschland“ umfassenden Staat nach den „heiligen Principien der Demokratie und des Socialismus“ zum sozialdemokratischen Volksstaat zu formen und dem neuen Staat in seiner noch dynastischen Färbung den Stempel der eigenen Ideen aufzudrücken.31 Die Erfolge der deutschen Truppen und die Gefangennahme Napoleons schufen eine vollkommen neue Situation, auf die sich die Sozialdemokratie einzustellen hatte. Die Kluft verkleinerte sich, auch innerhalb der SDAP schwand das Konfliktpotential: „Jetzt waren mit einem Schlage alle Differenzen zwischen uns beseitigt.“32 Nach dem militärischen Triumph von Sedan, in dessen Vorfeld sich innerhalb der Arbeiterbewegung schon Ansätze eines Ausgleichs bemerkbar machten, zog man gemeinsam an einem Strang, gegen die Weiterführung des Krieges, nicht zuletzt wegen der von beiden Parteien begrüßten Ausrufung der Republik in Paris. Die unerwartete Wendung der Dinge müsse zum Ende des Krieges führen, zu einem ehrenvollen Frieden für die neue französische Regierung, die sich vom „infamen Friedensbrecher“ Napoleon losgesagt habe, wie es im Friedensmanifest des Braunschweiger Ausschusses vom 5. September hieß, das zugleich zum internationalen Kampf des Proletariats aufrief und am Ende die Losung ausgab: „Es lebe die Republik!“33 Das Pamphlet entsprach in Duktus und Zielen dem Aufruf vom 24. Juli, ergänzt um die Forderung, einen ehrenvollen Frieden ohne Annexionen zu schließen. Im Juli war staatlicherseits nichts geschehen. Jetzt aber griff die Staatsmacht ein. Auch wenn das Manifest von der Pflicht zur Landesverteidigung schrieb, wurden die Ausschussmitglieder vier Tage später verhaftet, in Ketten gelegt, menschenunwürdig zur Schau gestellt und in einer 36-stündigen Bahnfahrt in die ostpreußische Festung Lötzen verfrachtet.34 Auch der Vorsitzende der in Hamburg ansässigen Kontrollkommission der Partei, August Geib, wurde arretiert und nach Lötzen gebracht. Ursprünglich unter der Anschuldigung des Hoch- und Landesverrats hatte sich der Braunschweiger Ausschuss um Wilhelm Bracke und Genossen im November 1871 vor dem Kreisgericht in Braunschweig lediglich wegen Vergehens gegen die öffentliche Ordnung zu verantworten. Zunächst zu mehrmonatigen Gefängnistrafen verurteilt, wurde die Strafe nach Beschwerde der Angeklagten vom Herzoglichen Obergericht in Wolfenbüttel Anfang Februar 1872 unter Anrechnung der Untersuchungshaft auf einige Wochen Gefängnis reduziert. Übrig geblieben war jetzt nur 31 Auszüge in Bracke (1872): Braunschweiger Ausschuß, S. 3–4. 32 Was Bebel (1997): Leben, S. 313, hier über sein und Liebknechts Verhältnis zum Braunschweiger Ausschuss schreibt, galt für die gesamte sozialdemokratische Bewegung. Zur Bedeutung von Sedan für die Haltung der Sozialdemokraten vgl. generell Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 94–101. 33 „Manifest des Ausschusses der sozial-demokratischen Arbeiterpartei“ in: Der HochverrathsProzeß (1894), S. 414–418. 34 Bracke (1872): Braunschweiger Ausschuß, S. 11–12 und S. 40–50; von Bebel auch vor dem Reichstag am 3. Dezember 1870 ausführlich geschildert. Stenographische Berichte [wie Anm. 2], S. 60.

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noch der Vorwurf der Führerschaft eines „gesetzwidrige Zwecke“ verfolgenden Vereins.35 Auch wenn das Ende fast einem Freispruch gleichkam, so war das Vorgehen gegen die Braunschweiger der staatliche Sündenfall und markierte den Beginn der nunmehr prägenden Unversöhnlichkeit von Staat und Arbeiterbewegung. Bebel und Liebknecht, die nicht dem Vorstand angehörten, blieben auf freiem Fuß – aber nicht mehr lange. Die zweite Kriegsanleihe am 26. November 1870 lehnten alle Mandatsträger der Sozialdemokratie einmütig ab, denn jetzt war der expansive Charakter des Krieges für sie offenkundig. Die Losung lautete: „Ein billiger [d. i. gerechter – W. M.] Friede mit der französischen Republik! Keine Annexion! Bestrafung Bonapartes und seiner Mitschuldigen!“36 Bebel, der sich Patriotismus (im Sinne der Nation, nicht der Staatsordnung) und Internationalismus gleichermaßen verpflichtet fühlte, betonte in der Debatte das Selbstbestimmungsrecht der Völker: Man sollte die Finger von Elsass und Lothringen lassen. Diese Rede, „eine Sternstunde seines parlamentarischen Engagements“ (Jürgen Schmidt), wurde begleitet von lauten Unmutsäußerungen und Missfallensbekundungen bis hin zum Ruf: „Hinaus mit ihm.“37 Liebknecht konterte den Vorwurf einer gegen die Nation gerichteten Haltung der Sozialdemokratie mit einer Anklage der Regierung: „Während Sie uns als unnational vorwerfen, daß wir das sogenannte Deutsch-Lothringen und den Elsaß nicht gewaltsam an Deutschland gerissen haben wollen, da halten Sie immer noch die 12 oder 13 Millionen Deutsch-Oesterreicher, die deutsch sein wollen, während die Bewohner jener Landstriche es nicht sein wollen, von Deutschland ausgeschlossen.“38 3. OHNE ILLUSIONEN IN DAS GEEINTE KAISERREICH Wenige Wochen später, bei der Beratung über die Bundesverfassung, griffen Bebel und Liebknecht die Regierung als Gegner von Einheit und Freiheit frontal an: „Nun, wir haben jetzt die Einigung, und wir werden sehen, wie es mit der Freiheit beschaffen ist“, konstatierte Bebel,39 wobei der zweite Teil, als Hoffnung formuliert, für ihn längst entschieden war: Die Freiheit würde auf der Strecke bleiben. Und damit auch die innere Einheit. Gerade die Verhaftungen und Verfolgungen warfen kein „schönes und ermutigendes Licht auf das, was in nächster Zeit Deutschland in

35 Die beiden Urteile nebst Begründungen in Bracke (1872): Braunschweiger Ausschuß, S. 195– 198 und S. 231–239; s. a. Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 19–20. 36 Aus einem regelmäßigen Aufruf im „Volksstaat“ in seinen Ausgaben seit dem 21. September; zitiert bei Bouvier (1982): Revolution, S. 222, auch: Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 7. 37 Siehe die Wertung bei Schmidt (2013): Bebel, S. 109–110; vgl. die ausführliche Schilderung bei Bebel (1997): Leben, S. 319–321. 38 Am 26. November 1870; Stenographische Berichte [wie Anm. 2], S. 18; für Bebel vgl. Jung (1988): Bebel, S. 64. 39 Am 6. Dezember 1870; Stenographische Berichte [wie Anm. 2], S. 91.

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freiheitlicher Beziehung trotz aller Opfer […] zu erwarten“ habe. 40 Und auch aus dem Kreis des ADAV war zu vernehmen, dass ihre Losung, durch die Einheit zur Freiheit zu kommen, wohl doch vorerst nur Wunschdenken bleibe. Von „Einheit mit Freiheit“ konnte schon gar keine Rede sein.41 Die Reichsverfassung vom April 1871 blieb für sie ein unvollendeter Kontrakt, der eben nicht das Fundament einer freiheitlichen Demokratie legte. Sie war, so Bebel im November 1871, „keine Verfassung für das Volk, das ist weiter Nichts als der Scheinkonstitutionalismus in rohester Form, das ist der nakte (sic) Cäsarismus“.42 Wilhelm Liebknecht hatte am 9. Dezember 1870 im Reichstag des Norddeutschen Bundes das sich abzeichnende staatliche Gebilde als Absolutismus reinsten Wassers kritisiert: „Der neue Bund wird dann in krassester Form das, wozu er bestimmt ist: eine fürstliche Versicherungsanstalt gegen die Demokratie.“ Eben weil dies so war, hatte er sogleich auch eine Empfehlung für den geeigneten Ort der Inthronisation des Monarchen parat: „Die Krönung des neuen Kaisers […], um ihr die würdige symbolische Bedeutung zu geben, sie wäre vorzunehmen da draußen, auf dem Gensdarmenmarkt; da ist der passendste Ort für die Krönung des modernen Kaisers, denn dieses Kaiserthum kann in der That nur durch den Gensdarmen aufrecht erhalten werden.“43 Der Akt von Versailles war dann für ihn nicht mehr als nur eine „Kaiserposse“.44 Die gegen die Kriegsanleihen opponierende und die Form der inneren Ausgestaltung des Reiches missbilligende Sozialdemokratie war nun staatlichen Übergriffen ausgesetzt. Bebel und Liebknecht wurden am 17. Dezember 1870 verhaftet. Damit wollte die Regierung die Parteiführung lahmlegen, „während des Kriegs und der Wahl“, wie Liebknecht an Marx im April 1871 schreiben sollte.45 Tatsächlich kamen sie erst mehr als drei Wochen nach der Reichstagwahl vom 3. März, bei der Bebel erneut ein Mandat errungen hatte, vorübergehend auf freien Fuß. Der dann fast ein Jahr nach der Entlassung Bebels und Liebknechts im März 1872 beginnende Leipziger Hochverratsprozess, „mehr ein politischer Racheakt als ein rechtsstaatliches Verfahren“,46 endete mit jeweils zwei Jahren Festungshaft für Bebel und Liebknecht, während ihr Mitangeklagter Adolf Hepner, Redakteur des „Volksstaats“,

40 Am 26. November 1870; ebd., S. 11; vgl. hierzu Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 101–104. 41 Schweitzer am 24. März 1871 im „Social-Demokrat“, zitiert bei Steinberg (1970): Sozialismus, Internationalismus, S. 336. 42 Am 8. November 1871; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. I. Legislatur-Periode – II. Session 1871. Erster Band, Berlin 1871, S. 184. 43 Stenographische Berichte [wie Anm. 2], S. 154; die Debatte zusammengefasst bei Bebel (1997): Leben, S. 324–325. 44 Ausdruck in einem Brief Liebknechts an den Parteisekretär Leonhard von Bonhorst, mehrfach zitiert im Leipziger Verfahren; Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 334, S. 502 und S. 576. 45 Bouvier (1982): Revolution, S. 223. 46 So Ilse Fischer: August Bebel – Parteiführer und „Kaiser der kleinen Leute“. In: Faulenbach / Helle (2013): Menschen, S. 33–42, hier S. 37; zum Prozess ausführlich Bebel (1997): Leben, S. 357–363, über seine Haft, die er am 8. Juli 1872 antrat, ebd., S. 367–384.

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freigesprochen wurde, obwohl er die gleichen Ansichten vertrat.47 Bebel und Liebknecht wurden der Vorbereitung des Hochverrats durch Gründung der sozialistischen Partei und durch Mitarbeit in der 1864 in London ins Leben gerufenen Internationalen Arbeiter-Assoziation für schuldig befunden. Die Definition für Hochverrat in den entsprechenden Paragraphen sowohl des sächsischen als auch des seit 1871 geltenden neuen deutschen Strafgesetzbuches, auf denen die Anklage beruhte, war eindeutig: Sie meinte die gewaltsame Änderung der Staatsverfassung. Und die Beschuldigten hätten die Vorbereitung hierfür getroffen, auch wenn „der Tag des gewaltsamen Angriffs noch nicht festgesetzt sei“.48 In diesem Sinne brauchte es schon juristischer Winkelzüge zur Verurteilung. So handelte es sich einerseits um eine „willkürlich konstruierte Anklage“, andererseits um ein angesichts des Hochverratsvorwurfs doch mildes Urteil. „Festungshaft“ klang schwerwiegend, war es aber nicht, denn sie zog keinen Entzug der Bürgerrechte und des Wahlrechts nach sich. Sie galt weithin nicht als ehrenrührig. Zudem genossen die Inhaftierten doch einige Annehmlichkeiten.49 Waren die Sozialdemokraten in ihren revolutionären Attitüden nicht doch Hochverräter? Gewiss: Sie zielten auf eine gründliche Umgestaltung der bestehenden Ordnung, aber mit gesetzlichen Mitteln, nicht mit putschistischer Taktik. Das Programm der SDAP von 1869 enthielt zehn Forderungen zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, die mit systemimmanenten Mitteln, letztlich über die Mehrheit im Parlament, erkämpft werden sollten. Die anvisierten Reformen waren nicht grundstürzend und konnten alle auf friedlichem Wege innerhalb des Systems realisiert werden.50 Das Verfahren von Leipzig war Ausfluss einer um sich greifenden Sozialistenhysterie, einer Angst vor den sich revolutionär gebärdenden Sozialdemokraten, die durch aktionistische Attitüden und radikale Worte Öl in das Feuer der Panik gossen. Aber der Wortradikalismus war zum großen Teil nichts weiter als eine „permanente Verhüllung des nichtrevolutionären Charakters der Partei“. Dieser „pseudoradikale Charakter der Partei“ trat schon im Leipziger Prozess zum Vorschein.51 Gebetsmühlenartig wurde dort und andernorts immer wieder betont, dass das vielgebrauchte Wort von der Revolution keinen gewaltsamen Akt bedeuten musste, sondern wohl eher nur die Totalität des unweigerlich kommenden Wandels kennzeichnete.52 In dem der Marx’schen Analyse folgenden sozialdemokratischen Verständ-

47 Siehe die Erklärung Hepners, der sich zu den gleichen Handlungen und Haltungen wie die beiden Verurteilten bekannte: „Ich bin freigesprochen worden, weil ich weder Liebknecht noch Bebel heiße.“ Nach dem „Volksstaat“ in: Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 640–641. 48 Zitat aus der Anklageschrift in: ebd., S. 89. 49 Siehe dazu Schmidt (2013): Bebel, S. 113. 50 Programm in Dowe / Klotzbach (2004): Dokumente, S. 160–161. 51 So Steinberg (1979): Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, S. 72. 52 Dazu mehrfach die Ausführungen von Bebel und Liebknecht vor dem Gericht; Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 107–108, S. 160 u. ö., sowie in der Einleitung von Liebknecht, ebd. S. 25: Leipzig habe gezeigt, dass man eben nicht „mit einigen revolutionären Hammerschlä-

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nis würde die kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung über kurz oder lang ohnehin zusammenbrechen.53 Diese naturgesetzliche Revolution würde kommen, man musste sich nur vorbereiten auf eben diese Revolution. Wie hatte Lassalle bereits 1862 formuliert: „Man kann nie eine Revolution machen; man kann immer nur einer Revolution, die schon in den tatsächlichen Verhältnissen einer Gesellschaft eingetreten ist, auch äußere rechtliche Anerkennung und konsequente Durchführung geben. Eine Revolution machen wollen, ist eine Torheit unreifer Menschen, die von den Gesetzen der Geschichte keine Ahnung haben.“54 Lassalle hatte hier zumindest Marx und dessen Entwicklungstheorie verstanden. Man bekannte sich dazu, dass die sozialdemokratische Propaganda den Bestand des Staates und der Gesellschaft gefährden würde, aber von einem konkret geplanten Umsturz war nicht die Rede. Freilich sollte am Ende der Volksstaat stehen, aber eben nicht errichtet über einen wüsten Angriff: politischer Kampf ja, aber kein subversiver Gewaltstreich.55 Der sozialdemokratische Volksstaat, so wurde hervorgehoben, könne auch innerhalb der bestehenden Staatsform geschaffen werden: „Der Ausdruck freier Volksstaat ist ganz unverfänglich und nicht durchaus gleichbedeutend mit Republik. Der freie Volksstaat ist dann vorhanden, wenn dem Volke ein überwiegender Einfluss auf die Gesetzgebung und Verwaltung gesichert ist und auch in der Monarchie denkbar.“56 Von daher war die Verurteilung von Bebel und Liebknecht aus sozialdemokratischer Sicht unrechtmäßige Klassenjustiz und wurde bis weit hinein in das liberaldemokratische Lager kritisiert. Die Verfahren von Braunschweig und Leipzig zerstörten die sozialdemokratische Hoffnung auf eine Anerkennung der Arbeiterbewegung durch Staat und Gesellschaft. Auf ein Entgegenkommen brauchte die Sozialdemokratie nicht mehr zu zählen. Die einschneidenden Erfahrungen von Verfolgung und Ausgrenzung förderten die Ansicht, dass eine Demokratisierung der Verhältnisse nur über den Klassenkampf zu erzielen war. Man bediente sich einer radikaleren Semantik, vor allem mit der Erfahrung des Sozialistengesetzes im Rücken.57 Die Fronten verhärteten sich. Es blieb hinsichtlich der Einstellung der Sozialdemokratie dabei: „Man war Gegner des Reiches in seiner realen Gestalt, aber nicht der Vorstellung vom Reich als einem nationalen Ganzen.“58

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gen“ Staat und Gesellschaft zertrümmern wolle; man stünde damals wie heute auf dem „Boden der organischen Entwicklung und des Klassenkampfes“. Steinberg (1979): Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, S. 18. Lassalle (1919): Reden 2, S. 165; s. a. Brandt / Lehnert (2013): Demokratie, S. 44. So Bebel vor dem Gericht in Leipzig; Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 389. Bracke im Braunschweiger Prozess; Bracke (1872): Braunschweiger Ausschuß, S. 100. Das wurde freilich von der Anklagebehörde bestritten; ebd., S. 87. Siehe Butzlaff (2013): Liberalismus, S. 30–31. Grebing (1985): Arbeiterbewegung, S. 64.

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4. STIGMATISIERUNG DER SOZIALDEMOKRATIE IM FRÜHEN KAISERREICH Es war August Bebel, der im Moment der sich abzeichnenden Niederlage der Pariser Kommune im Reichstag am 25. Mai 1871 nochmals die Solidarität der deutschen Sozialisten mit den von den französischen Regierungstruppen blutig niedergerungenen Kommunarden bekundete.59 Von Beginn des Pariser Aufstandes an hatte die deutsche Arbeiterbewegung, sowohl Eisenacher als auch Lassalleaner, ihre Sympathie mit der proletarisch-kleinbürgerlichen Kommune, „der Arbeiterregierung in dem eigentlichsten Sinne des Wortes“, in Resolutionen und Aktionen öffentlich gemacht.60 Bebel nutzte den Reichstag als Bühne. So warnte er am 24. April, als er die geforderten weiteren außerordentlichen Kriegsausgaben ablehnte, vor einer Gewaltpolitik gegenüber der Kommune. Dabei bezog er ein weiteres Mal ganz entschieden gegen die Annexion von Elsass und Lothringen Stellung.61 Einen Monat später prophezeite er, dass der Kampf in Paris nur ein kleines Vorpostengefecht sei und bald ganz Europa erfassen werde.62 Mit diesen Worten schürte der später als Arbeiterkaiser verehrte Bebel eine weit um sich greifende Revolutionsfurcht. Reichskanzler Bismarck behauptete jedenfalls später bei seiner Grundsatzerklärung zum Sozialistengesetz am 17. September 1878, dass diese Rede – er erinnerte sich nicht mehr, ob von Bebel oder Liebknecht – auf ihn wie ein Lichtstrahl gewirkt habe. Das darin enthaltene pathetische Bekenntnis zur Pariser Kommune, „zu dem Evangelium dieser Mörder und Mordbrenner“, habe ihn zu der Erkenntnis geführt, „in den sozialdemokratischen Elementen“ einem Feind gegenüberzustehen, „gegen den der Staat, die Gesellschaft“ sich in einer Notwehrsituation befinden würde.63 Es stimmte gewiss, dass die Sozialdemokratie letztlich diesen Staat überwinden wollte. Ob man allerdings von „Notwehr“ in einer akuten Gefahrensituation sprechen konnte, um die nun einsetzende gesetzlich unterfütterte Verfolgung zu legitimieren, war angesichts der sich nach den August-Wahlen des Jahres auf 7,6 Prozent der Wähler und neun der insgesamt 397 Mandate (also etwas mehr als zwei Prozent) stützenden SAPD wohl doch auch Panikmache. Gleichwohl: Die Sozialdemokratie als Emanzipationsbewegung, die Gleichberechtigung aller Staatsbürger und Demokratisierung der Gesellschaft auf ihre Fahnen schrieb, wurde

59 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. I. LegislaturPeriode – I. Session 1871. Zweiter Band, Berlin 1871, S. 921; vgl. Jung (1988): Bebel, S. 67– 73; auch Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 108–109. 60 „Der Volksstaat“ vom 7. Juni 1871; zitiert bei Jung (1988): Bebel, S. 68. Siehe vor allem Bouvier (1882): Revolution, S. 211–233, die grundlegend für die Haltung der Sozialdemokratie zur Pariser Kommune ist; auf Einzelnachweis wird verzichtet. 61 Stenographische Berichte [wie Anm. 59]. Erster Band, Berlin 1871, S. 348–351; vgl. Jung (1988): Bebel, S. 69. 62 Stenographische Berichte [wie Anm. 59]. Zweiter Band, S. 921. 63 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. 4. Legislaturperiode. I. Session 1878. Erster Band, Berlin 1878, S. 1; wieder abgedruckt in Gall (1981): Reden, S. 186.

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als Herausforderung für den Staat begriffen. Eben weil keine Aussicht auf Integration der von der auf dynastischen Prinzipien beruhenden Nationsbildung enttäuschten sozialistischen Arbeiterbewegung bestand, sah sich der Staat auf „Gedeih und Verderb“ zur Repression gezwungen.64 Grundlage des Kampfes gegen die Sozialdemokratie in den zwei Jahrzehnten der Amtszeit Bismarcks als Reichskanzler bildeten jene beiden Elemente, die er im Oktober 1871 in einer Aufzeichnung umriss: auf der einen Seite Entgegenkommen bei den Wünschen der arbeitenden Klassen durch Gesetzgebung und Verwaltung, auf der anderen Seite Eindämmung mit Hilfe von Verbots- und Strafgesetzen.65 In dieser Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ – wie das im sozialdemokratischen Sprachgebrauch hieß – wurde zunächst die Knute hervorgeholt und mit aller Härte unter Ausnutzung der gegebenen rechtlichen Möglichkeiten gegen die Sozialdemokratie vorgegangen. Insgesamt erzielte die strafrechtliche Verfolgung nicht die erhoffte Wirkung, die Sozialdemokratie einzudämmen, sondern stärkte ihr Zusammengehörigkeitsgefühl, verschaffte ihr Popularität und führte ihr neue Mitglieder zu. Die Partei, die vernichtet werden sollte, erhielt „einen mächtigen Aufschwung“.66 Für den prominenten Volksparteiler und 48er Demokraten Johann Jacoby, der nach einer Rede in Königsberg gegen den „Eroberungskrieg“ und gegen die Annexion von Elsass und Lothringen ebenfalls im September 1871 verhaftet worden war,67 war der Leipziger Hochverratsprozess der Grund, der SDAP beizutreten.68 Und Bebel, der in einem weiteren Verfahren noch neun Monate Haft wegen Majestätsbeleidigung erhielt und dem gerichtlich das Reichstagsmandat aberkannt wurde, erreichte bei der notwendigen Nachwahl 1873, obwohl er in Haft saß, eine größere Stimmenzahl als zwei Jahre zuvor. Der mit der Reichsgründung verstärkt einsetzende Druck auf Lassalleaner und Eisenacher, die bei den Wahlen 1874 – „Auftakt einer allgemeinen Verbrüderungsbewegung“69 zwischen beiden – ihre Stimmenanteile auf 6,8 Prozent steigern und damit mehr als verdoppeln konnten, beschleunigte den ein Jahr später vollendeten Einigungsprozess. Im Programm der in Gotha vereinigten Partei war, auch aus Furcht vor möglicher staatlicher Repression, davon zu lesen, dass man „mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft“ anstrebe.70 Getrieben von surrealer Notstandspanik holte Bismarck nach zwei Attentaten auf den Kaiser im Frühjahr 1878 mit den Sozialistengesetzen schwerstes Geschütz aus dem Arsenal. Die schließlich auf insgesamt zwölf Jahre ausgedehnten Aus-

64 Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 121. 65 Gall (1980): Bismarck, S. 497. 66 Liebknecht in seiner Einleitung zu: Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 19; zur frühen Verfolgung und Ausgrenzung der Sozialdemokratie vgl. Mühlhausen (1993): Strategien, S. 294–298. 67 Rede in Auszügen in Bracke (1872): Braunschweiger Ausschuß, S. 15–16. 68 Sein Beitrittsschreiben vom 2. April 1872 ist abgedruckt in: Der Hochverraths-Prozeß (1894), S. 21. 69 So Lehnert (1977): Reform, S. 33. 70 Dowe / Klotzbach (2004): Dokumente, S. 164–170.

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nahmegesetze stellten die Sozialdemokraten außerhalb der Legalität. Eben weil die Partei verboten war, ihre Führer jedoch wählbar waren und auch gewählt wurden, blieben der Sozialdemokratie als Betätigungsfelder lediglich Wahlkämpfe und Parlament. Das Gesetz bestärkte das Misstrauen des sozialdemokratisch organisierten Arbeiters gegenüber dem Staat, den er als Unterdrückungsinstrument erlebte, und leistete der Durchsetzung der marxistischen Theorie in der Arbeiterbewegung Vorschub. Gegen die Repressionen des Staates und gesellschaftliche Ausgrenzung boten sozialdemokratische Partei und Gewerkschaften Zuflucht und Heimstatt. Ihr Wachstum konnte nicht gebremst werden. Am Ende des Ausnahmegesetzes 1890 standen die SAPD und ihre Anhängerschaft gefestigter und insgesamt gestärkt da – mit einem weitaus größeren Zuspruch als 1878: Man verbuchte 19,7 Prozent und 35 Sitze. Auch nach dem Sozialistengesetz gehörte es zur Staatsräson, die sozialistische Bewegung niederzuhalten. Die Sozialdemokratie, die sich der Internationalität verschrieb, die nicht den nationalen Gedenktag der erfolgreichen Schlacht von Sedan feierte, sondern am 18. März an die Berliner Barrikadenkämpfe der Revolution von 1848 und an den Aufstand der Pariser Kommune von 1871 erinnerte und ab 1890 den 1. Mai als Feiertag des internationalen Proletariats beging, musste zwangsläufig in den Verdacht der nationalen Unzuverlässigkeit geraten. Ihre Mitglieder wurden als Agenten der Internationale abgestempelt. Die Gesellschaft des Kaiserreiches mochte es nicht verstehen, dass ein Sozialdemokrat zugleich ein deutscher Patriot und ein internationaler Sozialist sein konnte.71 Der „Stachel des Misstrauens und der Verbitterung“72 drang tief in das Herz des geächteten sozialdemokratischen Arbeiters. Innerhalb der Sozialdemokratie kam es einem Ritterschlag gleich, als Reichsfeind verfolgt oder gerichtlich belangt worden zu sein. Man gab zu, „Reichsfeind“ zu sein – genau besehen: ein Feind des zum Deutschen Reich erweiterten Preußen, des Klassenstaates.73 Dennoch: die Haltung blieb ambivalent. Auf der einen Seite bekannte sich die SPD zur Reichseinheit und stellte sie auch nicht mehr in Frage, auf der anderen lehnte sie die innere Verfassung unter „Pickelhaube“ und „Korporalstock“74 ab. Diese galt es zu überwinden. Egal, ob man glaubte, das sukzessive über Reformen bewerkstelligen zu können, oder ob man auf den großen Kladderadatsch, die Revolution, wartete – für die Mehrheit der Sozialdemokratie (gewiss nicht für alle) blieb das Maxime, was der führende Theoretiker Karl Kautsky 1893, in Fortsetzung der Worte Lassalles 30 Jahre zuvor, festhalten sollte: „Die SPD ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei.“75 1881 hatte es Kautsky so beschrieben: „Unsere

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So der Untertitel der Biographie von Jung (1988): Bebel. Potthoff / Miller (2002): Geschichte, S. 51. Vgl. die bei Conze / Groh (1966): Arbeiterbewegung, S. 117 zitierte Rede von Liebknecht. Beide Ausdrücke im „Volksstaat“ Nr. 75 vom 22. August 1873, zitiert bei Steinberg (1970): Sozialismus, Internationalismus, S. 343. 75 Karl Kautsky: Ein sozialdemokratischer Katechismus, in: „Die Neue Zeit“ XII Jg./I. Bd., Nr. 12 vom 13. Dezember 1893, S. 361–369, hier S. 368. Für Lassalle siehe oben Anm. 54.

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Aufgabe ist es nicht, die Revolution zu organisieren, sondern uns für die Revolution zu organisieren; nicht die Revolution zu machen, sondern sie zu benutzen.“76 Daraus ergab sich die Konzentration auf den Ausbau und die Festigung der Parteiorganisation, die für diesen Zeitpunkt präpariert sein müsse. 5. AUSBLICK: DAUERHAFTE PRÄGUNGEN POLITISCHER KULTUR In Deutschland bildete sich nicht zuletzt aufgrund der verspäteten Reichsgründung und der Repression eine einzige zentralistische sozialdemokratische Partei heraus, die durch diese Organisation nachgerade befähigt war, innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung eine führende Rolle zu übernehmen. Insofern erfüllten sich die Hoffnungen der Parteiführer in der Reichsgründungszeit. Gradmesser des Erfolges waren ständig steigende Mitglieder- und Wählerzahlen: „Für uns wurde jeder Wahltag ein Zähltag“, umriss Parteivorstandsmitglied Hermann Molkenbuhr zur 50-Jahr-Feier der Parteigründung die unbedingte Orientierung auf den Stimmzettel.77 Die SPD eilte von einem Wahlsieg zum nächsten. Doch bei den sogenannten „Hottentottenwahlen“ 1907 erlitt sie, als Vaterlandsverräter an den Pranger gestellt, einen herben Rückschlag, der den Glaubenssatz vom steten Zuwachs ins Wanken brachte. Nun galt es, die nationale Zuverlässigkeit zu demonstrieren. Was folgte, war ein „zwar zuerst nur feiner, dann sich aber ständig verbreiternder Riss innerhalb der SPD, was ihre Stellung zu Nation und Vaterland anging“. 78 Es kristallisierte sich immer mehr eine Linie heraus, die ihre positive Haltung in der Frage der Nation auch öffentlich bekundete. Die nunmehr nach vorn drängende und die Partei dominierende zweite Generation von Arbeiterführern, jene der Geburtsjahrgänge 1861 bis 1884, besaß eine weit größere Integrationsfähigkeit und Integrationswilligkeit in das politische System als die Vorgängergeneration der Parteigründer.79 Das Weltbild der jüngeren Alterskohorte hatte sich nach dem Sozialistengesetz in einer intakten und rasch wachsenden Organisation geformt und verfestigt. Aus der durch gesellschaftliche Ausgrenzung, Legalitätskurs und Wachstum bedingten Binnenorientierung auf die Partei entstand ein ausgeprägter Organisationspatriotismus, ja nachgerade ein „Organisationsfetischismus“.80 Mit anderen Worten: Nicht die Bewegung war alles, sondern die Organisation. So wuchs neben der radikalen Richtung ein immer stärker werdender reformistischer Flügel, der den Blick nicht auf den sozialistischen Zukunftsstaat ausrichtete, sondern das Hier und Heute durch parlamentarische Mitarbeit verbessern wollte.

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Zitat bei Steinberg (1979): Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, S. 61. „Hamburger Echo“ Nr. 120 vom 25. Mai 1913. Groh / Brandt (1992): Gesellen, S. 115. Vgl. zu diesen beiden Alterskohorten die entsprechenden Beiträge in: Schönhoven / Braun, Bernd (2005): Generationen. 80 Ausdruck entlehnt bei Steinberg (1979): Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, S. 61.

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Das Erfurter Programm von 1891 bot mit einem theoretischen (marxistischen) ersten Teil und einem praktizistischen (reformerischen) zweiten Teil beiden Strömungen, der reformpolitischen wie auch der radikal-revolutionären, Rückhalt.81 Ein Relikt der Reichsgründungszeit erwies sich als schwere Hypothek der Demokratie von Weimar. Es waren Verhaltensmuster in jenen Kreisen, in deren Augen die Sozialdemokraten seit 1870/71 vaterlandslose Staatsfeinde waren und es auch blieben – ungeachtet des nationalen Schulterschlusses bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914, als die überwiegende Mehrheit der SPD den Burgfrieden schloss, womit für alle ersichtlich war, dass sie sich im Grunde zu einer nationalen Partei ‚gemausert‘ hatte.82 Die nationalistische antidemokratische Rechte sah hingegen nach dem Kriegsende im November 1918 durch Revolution und Republikgründung das bestätigt, was sie seit den Anfangstagen des Kaiserreichs glauben wollte: Die Sozialdemokratie, deren Mitglieder man weiterhin wie einst im Kaiserreich als vaterlandslose Gesellen und finstere Volksverderber brandmarkte, wurde verantwortlich gemacht für die Kriegsniederlage und die Folgen in Gestalt des als Schmach empfundenen Versailler Vertrages vom Juni 1919. Die unselige Dolchstoßlüge wurde zum probaten Transporteur dieses Irrglaubens. Sie bildete auch die Basis für den Landesverratsvorwurf in Richtung des ersten Reichspräsidenten, des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert, der in einem von über 200 von ihm angestrengten Verleumdungsverfahren 1924 tatsächlich juristisch bestätigt werden sollte. Nicht nur der vormalige kaiserliche Heerführer Erich Ludendorff, bis zum Herbst 1918 Adlatus des Dolchstoß-Erfinders Paul von Hindenburg in der Obersten Heeresleitung, sah es nach dem Skandalurteil als erwiesen an, dass die Sozialdemokraten „schuldig des Landesverrats und strafwürdige Verbrecher“ seien.83 Dieser politische Rufmord konnte nur auf der 50 Jahre zuvor geformten und nachfolgend sich verfestigenden Stigmatisierung der Arbeiterbewegung als Verräter an der Nation reifen. An Gefährlichkeit hatte die in der Reichsgründungszeit geborene antisozialdemokratische Propaganda nichts eingebüßt – im Gegenteil: Galt die Diffamierung der Sozialdemokraten im Kaiserreich dem Systemfeind, so traf sie jetzt die als „Novemberverbrecher“ diskreditierten Stützen der demokratischen Ordnung und damit die vermeintlich auf Unrecht basierende Republik als Ganzes. Letztendlich trug dies mit zur Zerstörung Weimars 1933 bei. Und man geht gewiss nicht fehl in der Interpretation, dass vieles auch noch in die politische Kultur der Adenauer-Zeit hinüberschwappte, wenn Exilanten („Brandt alias Frahm“) und / oder Sozialdemokraten (CDU-Plakat: „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!“) der nationalen Unzuverlässigkeit bezichtigt wurden. Die in der Anfangszeit des Kaiserreiches geborenen Klischees überdauerten die Systembrüche und stellten so eine verheerende Nachlassenschaft des Bismarck-Reiches dar. 81 Zur Einordung des bis 1921 gültigen Programms vgl. Helga Grebing: Das Erfurter Programm. In: Faulenbach / Helle (2013): Menschen, S. 42–47; Programm in Dowe / Klotzbach (2004): Dokumente, S. 171–175. 82 Vgl. Mühlhausen (2014): Völker. 83 Mühlhausen (2007): Ebert, zum Prozess S. 936–966; das Zitat von Ludendorff S. 954.

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Ausgrenzung der Enttäuschten: Sozialdemokratie und Reichsgründung

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DAS SOZIALISTENGESETZ VON 1878 Demokratiegeschichtlicher „Sündenfall“ des Kaiserreichs? Jürgen Schmidt 1. EINLEITUNG Beim Studium der Geschichte lohnt es manchmal, sich schlicht der Zeithorizonte zu vergegenwärtigen: In den rund 43 Jahren des Kaiserreichs zwischen Reichsgründung und Ausbruch des Ersten Weltkrieges stand die deutsche Sozialdemokratie weit über ein Viertel der Zeit unter Beobachtung, Drangsalierung und Verfolgung des Sozialistengesetzes – Versuche des Verbots mittels Gesetze zuvor und danach nicht mitgerechnet. Man muss nicht an den Überlieferungsstrang und die Traditionsbildung der Leidens- und Heroenzeit anknüpfen, um zu ahnen, dass das Sozialistengesetz von Emotionen der Angst, Überwältigung, Hilflosigkeit begleitet war. „Ich bin in heller Verzweiflung, heute sind wieder sieben von den neun neuesten Ausgewiesenen – lauter Familienväter – hier eingetroffen, und ich weiß nicht mehr, woher ich die Mittel nehmen soll“, schrieb im Oktober 1879 August Bebel, der den parteiinternen Hilfsfonds für verfolgte Sozialdemokraten verwaltete, an Friedrich Engels.1 Dabei trafen manche dieser Gefühle keineswegs nur auf die Sozialdemokraten als die Verfolgten zu, sondern auch große Teile des Bürgertums und der politischen Eliten sahen sich gefährdet. Redete und schrieb die Sozialistische Arbeiterpartei nicht ständig von Revolution, Klassenhass und dem Zusammenbruch der Gesellschaft, dass der deutschkonservative Abgeordnete Hans Hugo von Kleist-Retzow im Reichstag schlussfolgerte: „Ich bleibe also dabei, daß die ganze Sozialdemokratie der Weg ist zum Hochverrath, daß sie eine Maulwurfsarbeit übt, eine Untergrabung der Fundamente der Staatsordnung ist“.2 Der nationalliberale Abgeordnete Eduard Lasker fand es daher auch „ganz natürlich, daß in dieser großen Debatte nicht allein die Gefühle, sondern auch die Leidenschaften auf vielen Seiten des Hauses erregt sind“.3 Solche Emotionen ließen sich instrumentalisieren – und sie wurden von der Presse, der Reichsregierung und dem Reichskanzler massiv instru-

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A. Bebel an F. Engels, 21. Oktober 1879, in: Bebel (1995): Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2/2, S. 24. H. H. von Kleist Retzow, 17. September 1878, in: Verhandlungen (1878): 4. Legislaturperiode, 1. Session, S. 72. E. Lasker, 18. Oktober 1878, in: ebd., S. 354.

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mentalisiert.4 Sie bilden aber zugleich eine Folie, vor deren Hintergrund sich ein demokratiegeschichtlicher Sündenfall abspielte. Damit erhält der Blick auf das Sozialistengesetz eine zusätzliche Perspektive, die über die richtige, aber auch hinlänglich bekannte These der Instrumentalisierung der Sozialistenfurcht zur Durchsetzung einer neuen Innenpolitik des Reichskanzlers Bismarck hinausweist. Dass es sich bei dem Sozialistengesetz um einen demokratiegeschichtlichen Sündenfall handelt, darüber sind sich Historiker wie Thomas Nipperdey und HansUlrich Wehler sowie so verschiedene Sozialwissenschaftler wie Gustav Schmoller, Ferdinand Tönnies, Max Weber und Robert Michels, die – bis auf Michels – auch Zeitzeugen des Sozialistengesetzes waren, einig.5 Wie sollen sich aus diesem Gesetz also „demokratiegeschichtliche“ Funken schlagen lassen? Andererseits lässt sich zweifellos der großen Mehrheit der Abgeordneten des deutschen Reichstags zugutehalten, dass sie dem ersten Unterdrückungsversuch der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung eine klare Absage erteilten. Nach einem gescheiterten Attentat auf Kaiser Wilhelm I. durch den Klempnergesellen Max Hödel6 brachte Reichskanzler Otto von Bismarck am 20. Mai 1878 einen Gesetzesentwurf „zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen“ ein, der in seiner Willkür durchaus eine Gefahr für die bürgerlichen Parteien darstellte. Mit 251 gegen 57 Stimmen lehnten die Reichstagsabgeordneten daher das Gesetz, das „gesetzestechnisch miserabel gearbeitet“ war, ab.7 Dieser widerständige Akt der parlamentarischen Mehrheit sollte sich erst rund zwölf Jahre später im Januar 1890 wiederholen, als die Reichstagsmehrheit eine weitere Verlängerung des Sozialistengesetzes – freilich nun gegen einen deutlich geschwächten und einem der Unterstützung durch den Kaiser beraubten Reichskanzler – ablehnte. Der vorliegende Beitrag rekonstruiert dabei das parlamentarisch-demokratische Einknicken der Parlamentsmehrheit nicht nur als instrumentelle machtpolitische Konsequenz, sondern nimmt die dabei zum Ausdruck gebrachten Ängste als Handlungsmovens mit in den Blick.8 Darüber hinaus fragt der Beitrag auch danach, welche mittelbaren, der Demokratie förderlichen und hinderlichen Konsequenzen sich aus diesem Gesetz ableiten lassen. Der offensichtliche Sündenfall erhält so auch eine gewisse Ambivalenz: Das Kaiserreich war keine Demokratie, also konnte es keinen demokratiegeschichtlichen Sündenfall geben. Andererseits zeigt der Beitrag, wie Kommunikationsverweigerung, tatsächliche und geschürte Ängste parlamentarisch-demokratische Zusammenarbeit und Kompromisse behinderten sowie polizeistaatliche Willkür eine sozial-demokra-

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Roller (1994): Die ‚rote Gefahr‘. Wehler (1995): Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 799f., 904–907; Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 383–385, 399f.; Schmoller (1913): Charakterbilder, S. 52, Tönnies (1929): Sozialistengesetz, S. 1f.; Weber (1918): Parlament, S. 311 („Hetzjagd des Ausweisungsparagraphen im Sozialistengesetz“); Michels (1910): Soziologie, S. 90 („Wutepoche des Sozialistengesetzes“). Zur Geschichte der Attentate im Kaiserreich siehe Mühlnikel (2014): Fürst. Weichlein (2012): Sozialistengesetz, S. 92; Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 396. Grundlegend für diesen Zusammenhang in der Geschichte der Bundesrepublik Biess (2019): Republik der Angst, S. 21–24. Allgemein zur Emotions- und Gefühlsgeschichte Hitzer (2011): Emotionsgeschichte; Frevert (2020): Mächtige Gefühle.

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tische Bewegung von unten unterdrückte – also ein demokratiegeschichtlicher „Verhinderungs-Sündenfall“. Dass in diesem Ausgrenzungsprozess die Sozialdemokratie in und nach den Jahren der Illegalität allerdings nicht den Weg der Gewalt beschritt, sondern sich für den friedlichen Protest und den Kampf mit den gesetzlich zur Verfügung stehenden Mitteln entschied, zeigt wiederum die besondere Bedeutung der Sozialdemokratie für die Demokratiegeschichte im Kaiserreich. 2. DEBATTEN UND GEFÜHLE BEI DER ENTSTEHUNG DES SOZIALISTENGESETZES Die Bestrebung Otto von Bismarcks und der Regierung vom Mai 1878 zur Durchsetzung eines Gesetzes gegen die Sozialdemokratie war keineswegs der erste staatliche Versuch gewesen, die politische Kraft der Arbeiterbewegung auszuschalten. Bereits vor Gründung des Kaiserreichs hatten der von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) und die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) unter Verfolgung und Gefängnisstrafen gelitten. Nach Gründung des Nationalstaats kam es 1872 in Leipzig zum Prozess gegen August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Adolf Hepner. Gegen die drei hatte die Staatsanwaltschaft den Vorwurf des Hochverrats konstruiert, weil sie sich 1870/71 im Reichstag und in den Parteizeitungen gegen die Kredite zur Durchführung des Krieges gegen Frankreich sowie gegen die Annexion von Elsass-Lothringen ausgesprochen hatten. Weitere juristische Schritte folgten. So ließ 1874 der preußische Obrigkeitsstaat den ADAV in Preußen auflösen und verbot dort 1876 die aus den beiden sozialdemokratischen Parteien hervorgegangene vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei (SAP).9 Als keinen Monat nach dem ersten Attentat von Max Hödel durch den in prekärer Situation lebenden Akademiker Karl Nobeling am 2. Juni 1878 erneut ein Anschlag auf den Kaiser verübt wurde, kippte in der Öffentlichkeit wie im Reichstag die Stimmung. Konservative wie liberale Zeitungen sahen eine Verstrickung der Sozialdemokratie in das Attentat. „Weite Kreise der Nation“ befanden sich „in einem Zustand, der an Wahnsinn grenzte. Die Sozialdemokratie war geradezu vogelfrei“, resümierte Eduard Bernstein aus sozialdemokratischer Perspektive in der Rückschau die Situation.10 Revolutionsfurcht wurde geschürt und machte sich breit. Selbst das liberal gesinnte, von Rudolf Mosse herausgegebene „Berliner Tageblatt“ hielt sich nicht zurück: „Gemeinsamer Kampf, gemeinsame Gegenwehr wider die unermüdliche Propaganda der den Staat unterwühlenden Sozialdemokratie“, forderte das Blatt.11 Bismarck nutzte die Gunst der Stunde, löste den Reichstag auf und ließ ihn im Juli neu wählen. In der Ausnahmestimmung war der Verlierer weniger die Arbeiterpartei als vielmehr die Nationalliberale Partei, die mehr als ein

9 Siehe auch den Beitrag von Walter Mühlhausen in diesem Band. 10 Bernstein (1907–1910): Berliner Arbeiter-Bewegung, Bd. 1, S. 363. 11 Berliner Tageblatt, Nr. 130, 6. Juni 1878, S. 3.

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Fünftel ihrer Mandate verlor (29 von 128). Geschockt von diesem Debakel, ließen sie ihre rechtsstaatlichen Ideale hinter sich und schlossen sich dem antiliberalen Trend an. Bissig kommentierte Wilhelm Liebknecht in der dritten Beratung des Gesetzes: Aus Furcht vor dem rothen Gespenst will das deutsche Bürgerthum, so weit es durch die Nationalliberalen vertreten ist, das Sacrificium des Volksrechts, das Opfer der Freiheit bringen. Und wir sollen daran schuld sein, wir sollen die bürgerliche Freiheit nicht hoch achten. Der Vorwurf klingt gar wunderbar in dem gegenwärtigen Moment, wo die Vertreter des Bürgerthums selbst die bürgerliche Freiheit auf dem Altar des Cäsarismus opfern. Wir aber schätzen die Freiheit hoch, die [S]ie opfern.12

Argumentiert wurde in der Debatte überhaupt immer wieder mit Gefühlen, Ängsten und Bedrohungsszenarien. Der Zentrumsabgeordnete Peter Reichensperger, der wie seine Fraktion das Gesetz ablehnte, machte der Sozialdemokratie den Vorwurf, dass ihre „Agitatoren dem zweifellos leidenden Theil unserer Arbeiterbevölkerung die Noth und die Leiden ihres Daseins in den möglichst grellsten und übertriebensten Farben darstellten und zugleich den Neid und Haß gegen ihre angeblichen Unterdrücker und deren Genüsse wachgerufen haben.“ Ob freilich „diesem Wahngebilde, ob dieser Mischung von humanitären Aspirationen und zügelloser Leidenschaft und Begierden“ durch Polizeiaktionen entgegengetreten werden könne, sei äußerst zweifelhaft.13 Demgegenüber waren sich die konservativen Abgeordneten sicher, dass nur polizeilich-staatliche Macht vor den sozialdemokratischen Gefahren schützen könne. Düster-merkwürdige Bilder ließen sich dabei die Abgeordneten einfallen. Von Kleist-Retzow sah eine „geistige Richtung“ „über das ganze Volk ausgegossen“, „ganz in ähnlicher Weise, wie bei gewissen natürlichen atmosphärischen Niederschlägen sich Millionen kleiner Thiere zeigen, die die Blüthen und Früchte ganzer Felder zerstören“.14 Das biologistische Schreckensszenario ließ eigentlich in letzter Konsequenz nur eine Vernichtung durch Pestizide zu, die es freilich in diesem Sinne in den 1870er Jahren noch nicht gab. Das näher liegende Bild der Heuschrecken, die auch in Europa immer wieder eingefallen waren, wurde dagegen nicht bemüht. Der Abgeordnete Otto Heinrich von Helldorff-Bedra von der Deutschkonservativen Partei wiederum argumentierte: Wenn es sich um Schutz gegen drohende Gewalt handelt, so ist doch wirklich die Staatsmacht, die exekutive Gewalt die Stelle, an welche man sich zunächst wenden muß. Wer schutzsuchend gegen Räuber, gegen Ueberfluthung sich an die ausübende Gewalt wendet, der ist doch deshalb noch nicht ein Vertreter von Polizeiwillkür.15

Die Politiker der Mitte und Rechten, die in ihrer aus Konservatismus, Nationalliberalismus, bürgerlichen Eliten und adligem Junkertum bestehenden „Blase“ behei12 W. Liebknecht. 18. Oktober 1878, in: Verhandlungen (1878): 4. Legislaturperiode, 1. Session, S. 345 (Hervorhebung von JS). Allerdings setzten die Nationalliberalen durch, dass das Gesetz alle zweieinhalb Jahre dem Reichstag erneut zur Abstimmung vorgelegt werden musste. 13 P. Reichensperger, 16. September 1878, in: ebd., S. 34. 14 H. H. v. Kleist-Retzow, 17. September 1878, in: ebd., S. 74. 15 O. H. von Helldorff-Bedra, 18. Oktober 1878, in: ebd., S. 351.

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matet waren, sahen sich in ihrer Haltung durch das Medienecho auf die Attentate bestätigt.16 Von daher fand die gegenüber dem ersten Entwurf verschärfte Fassung im neuen Reichstag mit 221 Stimmen der Konservativen und Nationalliberalen eine klare Mehrheit. Doch immerhin auch 149 Abgeordnete der Linksliberalen, des Zentrums und der Sozialdemokratie votierten gegen das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Trotz dieser 149 Abgeordneten, die diese polizeistaatliche Form der Bekämpfung der Arbeiterbewegung ablehnten, handelt es sich mit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes um einen Sündenfall, der deutlich macht, dass jeder Versuch, das Kaiserreich demokratiegeschichtlich zu verorten, äußerst widersprüchlich ausfallen muss. Einer der Gründungsväter der Soziologie, Ferdinand Tönnies, sprach im Rückblick von einem „bedeutenden Fall der Verfolgung und Unterdrückung aus politischen Beweggründen“.17 Die Konsequenzen waren enorm: Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, sozialdemokratische Zeitungen, Vereine, Gewerkschaften wurden verboten. Mitglieder der Partei kamen ins Gefängnis, wurden aus ihren Heimatstädten ausgewiesen, viele gingen ins Exil. Zwischen 1878 und 1888 verhängten die Gerichte insgesamt 800 Jahre Haftstrafen. Natalie Liebknecht beschrieb die alltäglichen Kontrollen und Schikanen und klagte gegenüber Friedrich Engels in einem Brief vom 11. Dezember 1880 ihr Leid. So hätte sie einige Kisten erhalten, die vom Zoll vollständig „entleert, der Inhalt gewogen, geprüft“ worden sei; und schließlich verlangten sie noch eine ziemlich bedeutende Steuer. Ist dies Alles gesetzlich? […] Die Reaction schreitet lustig voran u. geht’s so fort, zweifle ich keinen Augenblick, daß wir einer gewaltsamen Katastrophe entgegengehen. Daß mein Mann wieder so lange von seiner Familie getrennt sein muß, ist für uns sehr unangenehm u. nachtheilig. Je älter die Kinder werden, je peinlicher werden diese langen Trennungen für mich, je nachtheiliger für sie. Die großen Jungen bedürfen des Vaters. Mir graut vor der Zukunft, ich sehe sie nur ganz schwarz.18

3. STABILISIERUNG DER SOZIALDEMOKRATIE TROTZ UNTERDRÜCKUNG Allerdings hatte diese brutale Praxis des Gesetzes keinen vernichtenden Effekt. Zum Ersten – und zentral – setzte das Sozialistengesetz die in den Wahlgesetzen festgelegte Wahl von Einzelpersonen nicht für Sozialisten außer Kraft. Damit konnten Sozialdemokraten, obwohl deren sozialdemokratische Grundhaltung bekannt war, sich in den Reichstag wählen lassen. So wuchs während des Kaiserreichs trotz eingeschränkter Wahlkampfmöglichkeiten die Sozialdemokratie, und mit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion etablierte sich ein politisches Zentrum der

16 Bruns (2017): 1878 als sicherheitskulturelle Wende, S. 239f.; Dietze (2008): Kornblumen, S. 40–60. 17 Tönnies (1929): Kampf, S. 2. 18 N. Liebknecht an F. Engels, 11. Dezember 1880, in: Eckert (Hrsg.) (1963): Liebknecht, S. 278– 280.

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Arbeiterbewegung. Stolz etwa berichtete Friedrich Engels aus London an Johann Philipp Becker in Genf am 4. November 1881: Unsre Leute in Deutschland haben sich bei den Wahlen famos bewährt. […]. Und das unter dem Druck des Ausnahmegesetzes und Belagerungszustandes, ohne Presse, ohne Versammlungen, ohne irgendwelche öffentliche Agitationsmittel und mit der Gewißheit, daß dafür wieder an tausend Existenzen innerhalb der Partei geopfert werden. Es ist ganz famos, und der Eindruck in ganz Europa, namentlich aber hier in England, ganz enorm gewesen.19

Darüber hinaus funktionierte der Aufbau illegaler Organisationsstrukturen innerhalb Deutschlands und die Koordination zwischen den Aktivitäten im Reich mit den im Ausland errichteten sozialdemokratischen Institutionen sehr gut. Parteitage wurden jenseits der Staatsgrenze abgehalten; die in Zürich, später in London herausgegebene Zeitung „Der Sozialdemokrat“ kam massenweise ins Land, worauf der preußische Staatsminister und Minister des Innern Ernst Ludwig Herrfurth 1890 im Reichstag fast schon anerkennend einräumte, dass „dessen Einschmuggelung und Verbreitung geradezu als der Sport der Sozialdemokratie bezeichnet werden kann. (Hört! hört!)“.20 Mildernd wirkte sich zum Zweiten aus, dass während der zwölf Jahre seines Bestehens das Sozialistengesetz im zeitlichen Verlauf nicht immer gleich hart und konsequent umgesetzt wurde. Zwischen 1881 und 1886 zeichnete sich gar eine „milde“ Umsetzung des Gesetzes ab. Verhaftungen und Ausweisungen wurden selten, ehe sich wieder eine „verschärfte Praxis“ abzeichnete – eine Einteilung, die Bebel schon im Januar 1890 bei der dritten Lesung zur Verlängerung des Sozialistengesetzes vorgenommen hatte.21 Doch schon ab Mitte 1889 wurde deutlich, dass das Gesetz sein Bedrohungspotential verlor. Selbst in dem in Preußen gelegenen Erfurt erschien bereits ab dem 1. September 1889 die eindeutig sozialdemokratisch ausgerichtete Zeitung „Thüringer Tribüne“, die nicht mehr verboten wurde. Vor allem das schärfste Mittel des Gesetzes wurde kaum noch angewendet: die Verhängung des Kleinen Belagerungszustandes, der die Ausweisung politisch missliebiger sozialdemokratischer Akteure aus ihrer Heimatstadt erlaubte: „Seit 3 Jahren ist aus Berlin kein Mensch mehr […] ausgewiesen worden. Ja, noch mehr, man hat sogar gestattet, daß anderwärts Ausgewiesene hier in Berlin nicht bloß arbeiten, sondern selbst politisch thätig sein und agitiren durften“, berichtete Bebel offen im Januar 1890 im Reichstag.22 Drittens gab es bei den Verfolgungsbedingungen starke regionale Unterschiede. Im liberalen Südwesten Deutschlands, in Teilen Bayerns, aber auch in einzelnen Orten wie Essen lässt sich für die gesamten zwölf Jahre eine eher milde Praxis feststellen. In Erfurt wiederum boten sich beispielsweise die an Preußen angrenzenden thüringischen Gebiete als Rückzugsräume an. 1883 und 1884 trafen 19 F. Engels an J. P. Becker, 4. November 1881, in: Marx / Engels (1956ff.): Werke, Bd. 35, S. 235f. 20 Minister des Innern Herrfurth, 25. Januar 1890, in: Verhandlungen (1890): 7. Legislaturperiode, 5 Session, S. 1240. 21 A. Bebel, 25. Januar 1890, in: ebd., S. 1226; Resch (2012): Sozialistengesetz, S. 104ff. 22 A. Bebel, 25. Januar 1890, in: Verhandlungen (1890): 7. Legislaturperiode, 5 Session, S. 1238.

Das Sozialistengesetz von 1878: Demokratiegeschichtlicher Sündenfall?

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sich Erfurter und thüringische Sozialdemokraten mehrmals im Thüringischen, da in den Herzogtümern Gotha und Coburg noch Vereins- und Pressefreiheit galten. 1884 kam es so zu Übergriffen der preußischen Polizei während einer sozialdemokratischen Versammlung im thüringischen Bischleben. Innenpolitische Irritationen zwischen Preußen und dem Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha folgten. Daraufhin erließ der Landtag Gotha-Coburgs 1884 ein Gesetz, das die „Versammlungsfreiheit für die Dauer des Sozialistengesetzes durch die Einführung einer Anmeldepflicht“ zwar einschränkte, allerdings nicht ein generelles „polizeiliches Recht auf Versammlungsverbote“ erließ.23 Diese Kompetenzstreitigkeiten lagen auch an den juristischen Gegebenheiten: „Denn wenn es unklar war, wie ein Reichsgesetz auszulegen war, dann lag die Entscheidung darüber bei der Landesregierung bzw. den zuständigen Ministerien. Das hatte sich bereits bei der Umsetzung des Sozialistengesetzes zwischen 1878 und 1890 gezeigt“.24 Schließlich zeichnete sich in der Praxis eine Unterscheidung zwischen harter Verfolgung der Partei und Mäßigung gegenüber den Gewerkschaften ab.25 So konnten beispielsweise die Buchdrucker mit der Umbenennung ihrer Gewerkschaft in „Unterstützungsverein Deutscher Buchdrucker“ ihre gewerkschaftliche Arbeit ununterbrochen fortsetzen. Außerdem entstanden mit der milden Phase in den 1880er Jahren lokal organisierte Fachvereine einzelner Berufsgruppen. In Kassen organisierten sich Arbeiter und sicherten sich gegen Krankheits- und Arbeitslosenrisiken ab. Die Zahl der sozialdemokratischen Gewerkschaftsmitglieder belief sich so – bei aller Vorsicht gegenüber den erhobenen Zahlen – nach Ende des Sozialistengesetzes auf über 250.000 Mitglieder gegenüber rund 50.000 vor Beginn des Gesetzes. Streiks blieben zunächst zwar die Ausnahme; doch seit 1888 nahmen sie mit anziehender wirtschaftlicher Konjunktur zu. Allein in den drei Jahren vor Auslaufen des Sozialistengesetzes kam es zu rund 670 Streiks. Bedenkt man außerdem, dass zwischen 1881 und 1890 der Anteil der abgegebenen Stimmen für die SAP von 6,1 auf 19,7 Prozent und die Zahl der Reichstagsmandate von 12 auf 35 stieg, kann – trotz aller persönlichen Schicksalsschlägen – nur von einem realpolitischen Scheitern des Sozialistengesetzes gesprochen werden.26 Es zeigte sich, dass die Idee der staatlich-politischen Unterdrückung einer sozialen Bewegung angesichts fortbestehender sozialer Klassenkonflikte nicht die Lösung sein konnte. Bebel konstatierte im Reichstag 1890: Aber auch das ganze ökonomische System, das Sie repräsentiren, drängt die Massen in die gleiche Richtung! Die Massen sehen selbst tagtäglich in ihren eigenen Kreisen, wie die Proletarisirung zunimmt. Jeder erkennt, wie unsere Mittelschichten in dem Auflösungsprozeß, den das Großkapital und die stetig fortschreitende Konzentration der Kapitalien in Industrie, Handel und Verkehr herbeiführt, rapid zu Grund gehen, wie sie unter der Konzentration und

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Schmidt (2005): Begrenzte Spielräume, S. 52. Freytag (2018): Das Wilhelminische Kaiserreich, S. 186. Weichlein (2012): Sozialistengesetz, S. 96f. Daten nach Schneider (1989): Gewerkschaften, S. 493f.; Althammer (2009): Bismarckreich, S. 54.

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Jürgen Schmidt Akkumulation der großen Kapitalien in den Händen einer immer kleineren Zahl von Kapitalmagnaten in der furchtbarsten Weise leiden.27

Aus Sicht der Sozialdemokratie half gegen diese strukturellen Ursachen der Arbeiterbewegung kein polizeiliches Verfolgungsmittel. Letztlich gestand das indirekt die Regierung in ihrem Bericht über die Lage der Sozialdemokratie ebenso ein, wie auch verschiedene Abgeordnete wie der linksliberale Abgeordnete Theodor Barth auf die Tatsache hinwiesen, dass „gerade unter der Oberfläche sich die sozialdemokratische Bewegung viel weiter ausgedehnt hat, als das bislang der Fall war“.28 4. NICHT-INTENDIERTE KONSEQUENZEN UND DEMOKRATIEGESCHICHTLICHE WIRKUNGEN Trotz des Scheiterns verbanden sich mit dem Sozialistengesetz weitere Konsequenzen für die innenpolitische Entwicklung des Kaiserreichs. Zum Ersten trug die Zustimmung der Nationalliberalen zum Gesetz zur Spaltung des Liberalismus bei. Die „liberalen Zentralwerte“ wurden zerrieben.29 Als die Nationalliberalen weitere Zugeständnisse zu Bismarcks Politik machten – insbesondere die Zustimmung zu einem siebenjährigen Militärhaushalt –, spaltete sich eine linksliberale Gruppe ab. Diese Spaltung des Liberalismus sollte bis weit über das Ende des Kaiserreichs hinaus andauern. Darüber hinaus ging letztlich der Großteil der Arbeiterschaft beiden Flügeln des Liberalismus verloren. Zum Zweiten zeichnete sich schnell ab, wie bereits kurz erwähnt, dass polizeiliche Willkür und juristische Verfolgung keine besonders erfolgreichen Strategien bildeten, um ein gesellschaftspolitisches Phänomen wie die Ausbildung einer selbstbewussten und politisierten Lohnarbeiterschaft obrigkeitsstaatlichen Direktiven zu unterwerfen.30 Denn die Lohnarbeiterschaft und die Arbeiterbewegung speisten sich auch aus den sozialen Folgen der Industrialisierung. Daher wurde von Sozialreformern und Bismarck eine sozialpolitische Linie entwickelt, die schon seit Beginn der 1870er Jahre kapitalistisch-wirtschaftsliberale Dogmen hinterfragte.31 In Form der Sozialversicherungen gegen die Risiken von Krankheit, Unfall und Alter nahm sie Gestalt an. Entgegen der ursprünglichen Intention von Bismarck einer über Steuergelder finanzierten Versicherung, entstand ein beitragsfinanziertes Versicherungssystem, das bis in unsere Gegenwart Bestand hat. Von den Zeitge-

27 A. Bebel, 25. Januar 1890, in: Verhandlungen (1890): 7. Legislaturperiode, 5. Session, S. 1229. 28 Th. Barth, 4. November 1889, in: Verhandlungen (1890): 7. Legislaturperiode, 5. Session, S. 111. 29 Langewiesche (1988): Liberalismus, S. 177. 30 Das schließt keineswegs aus, dass mit dem Sozialistengesetz die politische Polizei, polizeiliche Professionalisierung und internationale Kooperation einen Schub erhielten: Bruns (2017): 1878 als sicherheitskulturelle Wende; Mühlnikel (2014): Fürst; Haupt (2019): Den Staat herausfordern, S. 84f. 31 Althammer (2009): Das Bismarckreich, S. 147.

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nossen des Kaiserreichs als das „Zuckerbrot“ im Gegensatz zur „Peitsche“ des Sozialistengesetzes wahrgenommen, ist diese Entgegensetzung in der neueren Forschung zwar nicht unumstritten.32 Doch als eingängige Formel für den janusköpfigen Umgang mit der Arbeiterschaft und der Arbeiterbewegung behält sie ihre Plausibilität. Langfristig wirkten die durch die Sozialgesetzgebung geschaffenen Institutionen als Integrationsmittel, da beispielsweise in den allgemeinen Ortskrankenkassen viele Sozialdemokraten Organisations- und Verwaltungsaufgaben übernahmen, sich für gesellschaftliche Reform einsetzten und zur Stabilität des Kaiserreichs beitrugen. Zum Dritten verbanden sich demokratiegeschichtliche Wirkungen mit dem Sozialistengesetz. So wurde auf der einen Seite das „Vertrauen der deutschen Arbeiter in die Unparteilichkeit ihrer Reichsregierung“ zerstört.33 Insgesamt blieben auch nach dem Ende des Sozialistengesetzes die Sozialdemokratie und ihre Anhänger als „Reichsfeinde“ oder „vaterlandslose Gesellen“ in weiten Teilen des Bürgertums und der politischen Eliten stigmatisiert. Ein marxistisches Verständnis von einer in Klassenkämpfe verstrickten Gesellschaft konnte sich etablieren, wie oben das Zitat August Bebels zeigte. Die Arbeiterschaft fühlte sich ausgegrenzt. Kompromisse innerhalb des Systems waren auf politischer Ebene nicht vorgesehen. Als in Baden und Bayern in den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sich auch von Seiten der Sozialdemokratie die Fronten lockerten, gar Landeshaushalten zugestimmt wurde (siehe zur Praxis von Wahlbündnissen den Beitrag von Michael Kitzing) und die Idee eines links-liberalen Bündnisses von August Bebel bis zu dem sozialpolitisch engagierten nationalliberalen Politiker Ernst Bassermann kursierte, blieben dies innerhalb der Sozialdemokratie mit großer Mehrheit abgelehnte Einzelfälle und auf der Seite des Bürgertums nur von Einzelpersonen wie Friedrich Naumann verfolgte unrealistische Gedankenspiele. Doch auf der anderen Seite förderte die Entscheidung der Sozialdemokratie, zwar den Weg in die Illegalität, aber nicht den Weg des gewaltsamen Widerstands zu gehen, demokratisch-parlamentarische Entwicklungen. Dem Staat wurde so die Möglichkeit einer blutigen, radikalen Vernichtung der Partei genommen. Bereits 1879 hatte Liebknecht gegenüber Friedrich Engels festgehalten: „Mit unserer ‚Gesetzlichkeit‘ wollen wir sie tödten“.34 Abgewehrt wurden von der Mehrheit der Sozialdemokratie Aufrufe zu Gewalt und Widerstand, wie sie von den zu den Anarchisten abwandernden Johann Most und Wilhelm Hasselmann kamen.35 Auch August Bebels und Wilhelm Liebknechts Korrespondenzpartner Friedrich Engels schwankte immer wieder zwischen Radikalität und Legalität. Einerseits kritisierte Engels „die Herren Literaten der Partei“ mit ihrem Versuch, „eine reaktionär, bürgerlich, zahm und gebildete Schwenkung durchzuführen“, um kein Jahr später einzuräumen: 32 33 34 35

Ayaß (2004): Rezension. Anderson (2009): Lehrjahre, S. 359. W. Liebknecht an F. Engels, 30. Oktober 1878, in: Eckert (1963): Wilhelm Liebknecht, S. 258. Albrecht (1990): Ende der Illegalität, S. 12.

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Jürgen Schmidt Agitatorische und parlamentarische Arbeit werden auf die Dauer sicher sehr langweilig. Es ist damit wie mit dem Annoncieren, Reklamemachen und Herumreisen im Geschäft: der Erfolg tritt nur langsam und für manchen gar nicht ein. Aber es geht nun einmal nicht anders, und wer einmal darin ist, muß das Ding bis zu Ende durchmachen, oder all die vorige Mühe ist verloren. Und unter dem Sozialistengesetz ist dieser einzige offengebliebne Weg absolut nicht zu entbehren.36

Die Sozialdemokratie rettete mit dieser Verhaltensweise nicht nur ihre Organisation und festigte sie. Sie demonstrierte ihre Fähigkeit als zivilgesellschaftliche Akteurin, die ihrer Anhängerschaft selbst in einer langanhaltenden Phase polizeistaatlicher Willkür und Verfolgung die Bedeutung rechtsstaatlicher Normen vermittelte: „Wir sind doch mittlerweile zu weit vorgeschritten in politischer Bildung, und auch in Bezug auf allgemeine Kultur, als daß nicht der geringste Staatsbürger das Bedürfniß der allgemeinen Rechtsgleichheit tief empfinden sollte“, resümierte August Bebel 1890 vor dem Reichstag.37 Einigermaßen aufgeschlossene bürgerliche Politiker ließen – trotz aller rhetorischen Abgrenzung zur Sozialdemokratie – einen Bewusstseinswandel erkennen. Der nationalliberale Abgeordnete und Amtsrichter Wilhelm Kulemann räumte ein, dass „die Arbeiterbewegung als solche ihre Berechtigung“ habe, und er erkannte ihre Bedeutung hinsichtlich der „Hebung der materiellen Lage der Arbeiter“ sowie der „Hebung des Standesbewußtseins, der Entwickelung einer selbstständigen Vertretung der Arbeiterinteressen“.38 Noch einen Schritt weiter ging der Abgeordnete und Landrat Heinrich Prinz zu Carolath-Schönaich in der gleichen Reichstagsdebatte: Ich wünsche, daß der Deutsche eintritt in die sozialdemokratische Bewegung, daß er in die Versammlungen geht, daß er das Fehlerhafte und zum Theil Unsinnige der Sozialdemokratie klarlegt und es nicht scheut, sich in Diskussionen einzulassen. (Unruhe rechts.) Leichter ist es ja ohne Zweifel, sich hinter die Polizei zu stecken und zu sagen: die soll es machen; schwerer, mühseliger, unangenehmer ist der von mir angegebene und empfohlene Weg. Aber ich bin immer noch der Meinung, daß eine freie Diskussion, eine Widerlegung der Irrthümer der Sozialdemokratie, der Sache der Ordnung, mithin auch dem Staate viel mehr nützen wird, als alle polizeilichen Mittel. (Bravo! links.).39

Solche Stimmen mochten Haltungen von Außenseitern sein, die keine Mehrheit fanden – „Unruhe rechts“, wie es im Reichstagsprotokoll hieß. Aber sie verdeut-

36 F. Engels an F. A. Sorge, 29. Juni 1882, in: Marx / Engels (1956ff.): Werke, Bd. 35, S. 333; F. Engels an A. Bebel, 10. Mai 1883, in: Marx / Engels (1956ff.): Werke, Bd. 36, S. 25. 37 A. Bebel, 25. Januar 1890, in: Verhandlungen (1890): 7. Legislaturperiode, 5 Session, S. 1227. 38 W. Kulemann, 25. Januar 1890, in: ebd., S. 1247. Ansonsten gehörte allerdings Kulemann zu den Abgeordneten, die für eine Verlängerung des Gesetzes plädierten: Gegen die „Gährung […] im Staatsgefäß […] wollen wir dieses Staatsgefäß mit einem ganz besonders haltbaren eisernen Reifen umkleiden und dafür sorgen, daß unser Staat diese große Periode der Gährung übersteht. Das ist die Aufgabe, die wir als staatserhaltende Parteien nicht ablehnen können. Wir haben dafür zu sorgen, daß der Staat, wenn er von einer solchen Bewegung in seinen Grundvesten [sic] bedroht ist, Stand hält, und daß wir ihn unverletzt unseren Nachkommen überliefern. (Lebhaftes Bravo.)“ (ebd., S. 1252). 39 H. Prinz zu Carolath-Schönaich, 25. Januar 1890, in: ebd., S. 1247, 1243.

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lichen den Gestaltungsspielraum, den neben der illegalen Aktivität der parlamentarisch-demokratische Weg während des Sozialistengesetzes geöffnet hatte. Zudem erkannte die Arbeiterschaft und die Sozialdemokratie die große Bedeutung eines „egalitären Wahlgesetzes“.40 Neben dem sozialdemokratischen Milieu der Stadtviertel, Kneipen, Vereine und Debatten erhielt das Parlament eine wichtige Kommunikationsfunktion, da dort die Möglichkeit bestand, Arbeiterinteressen zu vertreten und einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Darüber hinaus erfolgte über staatliche Sozialisationsinstanzen wie Militär und Schule, über die Einbindung in kommunale Aufgaben sowie über die Beteiligung in den Gremien der Sozialversicherungen eine politische und gesellschaftliche Integration der Arbeiterschaft und der Sozialdemokratie in das deutsche Kaiserreich. Es ist kein Zufall, dass sich mit dem Ende des Sozialistengesetzes innerhalb der Sozialdemokratie der Spielraum für eine Debatte um die Reform oder gar Revision des Marxismus öffnete. Friedrich Engels hatte wenige Wochen vor dem Auslaufen des Sozialistengesetzes eine solche Entwicklung schon vorausgesehen: Ihr habt seit 3 Jahren eine Masse von einer Million neuen Zuwachs. Diese Neuen haben unter dem Sozialistengesetz nicht hinreichende Lektüre und Agitation genießen können, um auf der Höhe der alten Parteileute zu stehn. Viele darunter haben nur den guten Willen und die guten Vorsätze, mit denen bekanntlich die Hölle gepflastert ist. Es wäre ein Wunder, wenn sie nicht auch den Feuereifer aller Neubekehrten hätten. So bilden sie ein Material, ganz geeignet, von den sich vordrängenden Literaten und Studiosen, die Euch Opposition machen, ergattert und gemißbraucht zu werden.41

Schließlich zeigte sich in der Debatte um die Verlängerung des Sozialistengesetzes im Jahr 1890 ein weiterer zentraler demokratiegeschichtlicher Aspekt: nämlich die Frage der Repräsentation der Arbeiter, „der Massen“ durch die Sozialdemokratie. Politische Bildung und Urteilskraft verdankten diese Bevölkerungsschichten aus Sicht August Bebels allein der Sozialdemokratie. Der Staat hingegen habe hier versagt: Wenn Sie über die angebliche Urtheilsfähigkeit der großen Massen hier so von oben herab urtheilen – ja, wem verdankt denn die große Masse diese Urtheilsunfähigkeit? Ihnen allein, meine Herren, Ihrem Herrschaftssystem, der Art und Weise, wie Sie die Massen zu unterdrücken und in politischer Unwissenheit zu erhalten suchen. […] (Widerspruch rechts.).42

Innenminister Herrfurth reagierte zunächst reflektiert auf den Alleinvertretungsanspruch der Arbeiterschaft durch die Sozialdemokratie: Sie sind Vertreter des deutschen Volkes und insoweit auch Vertreter der deutschen Arbeiter, aber nicht mehr und mit besserem Recht als jeder der anderen 388 Reichstagsabgeordneten. (Sehr richtig!) Meine Herren, selbst in dem irrthümlichen Sinne, in welchen Sie von der sozialdemokratischen Fraktion das Wort ‚Arbeiter‘ gebrauchen, indem Sie es gewissermaßen für gleichbedeutend setzen mit Handarbeitern oder eigentlich mit ‚städtischen Fabrikarbeitern‘, ist

40 Anderson (2009): Lehrjahre, S. 359f. 41 F. Engels an W. Liebknecht, 10. August 1890, in: Marx / Engels (1956ff.): Werke, Bd. 37, S. 445. 42 A. Bebel, 25. Januar 1890, in: Verhandlungen (1890): 7. Legislaturperiode, 5. Session, S. 1228.

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Jürgen Schmidt es unrichtig, daß sie von den Arbeitern gewählt und zur Vertretung dieser Arbeiter berufen seien. Jede andere Partei in diesem hohen Hause hat unter ihren Wählern ebenso viel, wenn nicht mehr Arbeiter, (sehr richtig!) und wenn die Mehrzahl der Sozialdemokraten allerdings aus solchen Arbeitern bestehen mag, so gehört die Mehrzahl der Arbeiter keineswegs den Sozialdemokraten an. (Sehr richtig!)

Diese demokratietheoretisch argumentierende Passage in Herrfurths Reichstagsrede endete jedoch in emotionaler Verunglimpfung und Fehlwahrnehmung: Meine Herren, nicht die politisch gebildeten, denkenden selbstbewußten Elemente der Arbeiter vertreten Sie [die Sozialdemokratie, JS], sondern die verhetzten, hetzenden und unzufriedenen Elemente aller Stände. (Sehr richtig!) […] Sie sind nicht alleinige Vertreter der deutschen Arbeiter, immer aber Vertreter desjenigen Theils der Arbeiter, der nicht arbeiten will.43

Solche Perzeption behinderten eine Vermittlung und Verständigung; ja, und unter den politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen klassenherrschaftlicher Strukturen erschwerten bis verunmöglichten sie einen Dialog. Das Sozialistengesetzt hatte für diese Kommunikationsunfähigkeit den polizeistaatlichen Rahmen geliefert. 5. FAZIT Insgesamt nahm das Sozialistengesetz der deutschen Arbeiterbewegung die Luft zum Atmen, aber es erdrosselte den Gegner nicht. Im Gegenteil: Das Gesetz schweißte das sozialdemokratische Milieu enger zusammen, ließ eine schlagkräftige parlamentarische Opposition entstehen, die nach 1890 auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gestalterischen Druck ausübte. Diese nicht intendierten Folgen von Bismarcks Sozialistengesetz relativieren keineswegs den demokratiegeschichtlichen Sündenfall des Kaiserreichs und seine demokratischen Defizite. Aber die Reaktionen der Sozialdemokratie auf das Sozialistengesetz zeigen umgekehrt die Bedeutung von politischem, zivilgesellschaftlichem Engagement sowie die Kraft parlamentarisch-oppositionellen Verhaltens gegenüber autokratisch-obrigkeitlichen Systemen – und bilden so ein Referenzpunkt für friedliche Demokratiebestrebungen bis in die Gegenwart. Schließlich zeigen die Debatten im Reichstag um das Gesetz, wie im obrigkeitsstaatlichen Kaiserreich um liberale Werte gerungen wurde, wie Emotionen instrumentalisiert wurden und einen rationalen Interessensausgleich erschwerten. Das Sozialistengesetz kam 1890 zu Fall: Seine offensichtliche Erfolglosigkeit und eine innenpolitische Kehrtwende, bei der das kurzzeitige Interesse des Kaisers Wilhelm II., die Arbeiterschaft als Gefolgschaft zu gewinnen, einen Anteil hatte, spielten dabei eine wichtige Rolle.44 Damit war jedoch keineswegs ein Ende der Ausgrenzung der Sozialdemokratie verbunden. Die unterschied-

43 Minister des Innern Herrfurth, 25. Januar 1890, ebd. S. 1240f. 44 Zu den Gründen für das Ende des Sozialistengesetzes im Zusammenhang mit Bismarcks Machtverlust und dem „neuen Kurs“ siehe Nipperdey (1992): Machtstaat, S. 699–709; Wehler (1995): Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 993–1000; Freytag (2018): Das Wilhelminische Kaiserreich, S. 187–191.

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lichen Einstellungen, wie Staat und Gesellschaft in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem und einer konstitutionell-parlamentarischen Monarchie aussehen sollten, waren verhärtet. Über eine emotionale Aufladung der jeweiligen Positionen ließen sich die Anhänger der Lager leicht mobilisieren. LITERATUR Albrecht, Willy: Ende der Illegalität. Das Auslaufen des Sozialistengesetzes und die deutsche Sozialdemokratie im Jahre 1890 (Schriften der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte), Heidelberg 1990. Althammer, Beate: Das Bismarckreich 1871–1890 (Seminarbuch Geschichte), Paderborn u.a. 2009. Anderson, Margaret Lavinia: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009. Ayaß, Wolfgang: Rezension zu: Metzler, Gabriele: Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall. München 2003. In: H-Soz-Kult, 08.07.2004, www.hsozkult.de/ publicationreview/id/reb-4655. Bebel, August: Ausgewählte Reden und Schriften. Band 2/2: Briefe 1878 bis 1890. Bearbeitet von Ursula Herrmann u.a., München u.a. 1995. Bernstein, Eduard: Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung. 3 Bände (1907–1910). Nachdruck Glashütten/Taunus 1972. Biess, Frank: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek bei Hamburg 2019. Bruns, Tobias: 1878 als sicherheitskulturelle Wende in der deutschen Geschichte. In: Kampmann, Christoph / Marciniak, Angela / Meteling, Wencke (Hrsg.): „Security turns its eye exclusively to the future“. Zum Verhältnis von Sicherheit und Zukunft in der Geschichte, Baden-Baden 2017, S. 233–257. Dietze, Carola: Von Kornblumen, Heringen und Drohbriefen. Ereignis und Medienereignis am Beispiel der Attentate auf Wilhelm I. In: Lenger, Friedrich / Nünning, Ansgar (Hrsg.): Medienereignisse der Moderne. Darmstadt 2008, S. 40–60. Eckert, Georg (Hrsg.): Wilhelm Liebknecht. Briefwechsel mit Karl Marx und Friedrich Engels, The Hague 1963. Frevert, Ute: Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung. Deutsche Geschichte seit 1900, Frankfurt am Main 2020. Freytag, Nils: Das Wilhelminische Kaiserreich, 1890–1914 (Seminarbuch Geschichte), Paderborn u.a. 2018. Haupt, Heinz-Gerhard: Den Staat herausfordern. Attentate in Europa im späten 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main / New York 2019. Hitzer, Bettina: Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen. In: H-Soz-Kult, http://www.hsozkult. de/literaturereview/id/forschungsberichte-1221, 23. November 2011 (Zugang: 20.05.2021). Langewiesche, Dieter: Liberalismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1988. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke. 44 Bände, Berlin (DDR) 1956ff. Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens (1910). Hrsg. und mit einer Einführung von Frank R. Pfetsch, Stuttgart 1988. Mühlnikel, Marcus: „Fürst, sind Sie unverletzt?“ Attentate im Kaiserreich 1871–1914, Paderborn 2014. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Zweiter Band: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992. Resch, Stefan: Das Sozialistengesetz in Bayern 1878–1890 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 161), Düsseldorf 2012.

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Roller, Kathrin: Die ‚rote Gefahr‘. Das Feindbild ‚Sozialdemokratie‘ der Konservativen im frühen Kaiserreich. In: Jahr, Christoph (Hrsg.), Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 81–114. Schmidt, Jürgen: Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870–1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd 165), Göttingen 2005. Schmoller, Gustav von: Charakterbilder, Berlin 1913. Schneider, Michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 1989. Verhandlungen des Deutschen Reichstags 1878 und 1889/1890 (Auswahl). Online-Ausgabe: https://www.reichstagsprotokolle.de/rtbiaufauf_k4.html. Tönnies, Ferdinand: Der Kampf um das Sozialistengesetz 1878, Berlin 1929. Weber, Max: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918). In: ders.: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winkelmann, Tübingen 1988, S. 306–443. Weichlein, Siegfried: Das „Sozialistengesetz“. In: Kruke, Anja / Woyke, Meik (Hrsg.): Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung 1848 – 1863 – 2013, Bonn 2013, S. 92–97. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995.

SOZIALDEMOKRATISCHE KOMMUNALPOLITIK IM KAISERREICH AM BEISPIEL MAGDEBURG Ralf Regener Kommunalpolitik ist ein gängiger Begriff, auch in unserer heutigen Zeit. Kommunalwahlen gehören zum politischen und demokratischen Alltag. Man hat ein ungefähres Bild, was zur Kommunalpolitik gehört. Umso wichtiger ist es zu definieren, was es für den hier behandelten Kontext bedeutet. Kommunalpolitik im hier gebrauchten Sinne ist zuallererst das Agieren in der Gemeindevertretung, hier die Magdeburger Stadtverordnetenversammlung. Das schließt selbstredend Fragen wie Wahlrechtsregelungen, innerparteiliche Kandidatenauswahl, Wahlkampf und -ergebnisse, aber auch mittelbare und unmittelbare Folgen der Arbeit im Stadtparlament ein. Auch wenn dies der Kern der Sache ist, so ist letztlich damit nicht alles verhandelt. Kommunalpolitik ist hier ebenso politisch motiviertes Handeln verschiedener Akteure, das vor allem eine lokale Wirkung erzielen soll. Die Arbeit und Wirkung einer Parteizeitung gehört ebenso dazu wie die Etablierung von lokal begrenzten Einrichtungen, die die materielle Not der Arbeiter und ihrer Familien lindern sollen, wie beispielsweise ein Konsumverein. Auch das Verhältnis zu den Gewerkschaften hat Rückwirkungen auf die kommunalpolitische Arbeit und muss hier angesprochen sein. Damals wie heute haftet der Kommunalpolitik etwas Langweiliges, wenig Aufregendes an. Gern geht der Blick Richtung Berlin und zu den leitenden Personen und Institutionen des Reichs bzw. heute des Bundes. Bedeutender scheint, was dort verhandelt und beschlossen wird, schon allein, weil es Auswirkungen auf das gesamte Land haben kann. Wie man die Kommunalpolitik auch sieht, man sollte in jedem Fall festhalten, dass diese einen viel direkteren Einfluss auf das Leben der Menschen hat:1 kommunale Sozialpolitik, städtische Infrastruktur und Versorgung, lokale Wirtschaftsförderung, öffentliche Daseinsvorsorge, Stadtentwicklung, all das und vieles mehr sind elementare Fragen der Kommunalpolitik. Entscheidungen dazu werden vor Ort von lokal bekannten Personen getroffen. Für einige Akteure war die Kommunalpolitik Basis und Sprungbrett für spätere Verantwortung in größeren Zusammenhängen, sei es in der Landes- oder Reichspolitik oder in Führungspositionen in nationalen Verbänden. Die Magdeburger Kommunalpolitik im Kaiserreich hat einige dieser Persönlichkeiten hervorgebracht.2 1 2

Vgl. von Saldern (1976): Die Gemeinden, S. 295f. Vgl. Krapf (2019): Die letzten Bastionen, S. 5.

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Was ist nun also sozialdemokratische Kommunalpolitik unter den Bedingungen des Kaiserreichs? Diese Frage soll am Beispiel Magdeburgs, der Hauptstadt der preußischen Provinz Sachsen beantwortet werden. Nicht nur nach Berlin, sondern auch in die Provinz muss man schauen, um das Kaiserreich in die Demokratiegeschichte Deutschlands einzuordnen. Dabei soll die These leitend sein, dass der Obrigkeitsstaat bei richtiger Handhabung durch fähige und engagierte Persönlichkeiten bei allen vorhandenen Repressalien durchaus Möglichkeiten bot, die eigenen Anliegen wirksam und breit zu artikulieren und zum Teil auch durchzusetzen. Dies ist der Kontext, in dem sozialdemokratische Kommunalpolitiker in Magdeburg agierten. Welche Möglichkeiten hatten sie, ihren Positionen auf lokaler Ebene Gehör zu verschaffen? Welchen strukturellen Hindernissen sahen sie sich gegenüber? Welche konkreten Erfolge konnten sie erzielen? Die Beantwortung dieser Fragen geschieht im Bewusstsein der faktischen Begrenztheit lokalen Handelns, der Einbindung in übergeordnete Strukturen und der Abhängigkeit der Entwicklung von Format und Fähigkeiten lokaler Persönlichkeiten. Dies lässt die Magdeburger Geschehnisse zunächst einmal für sich selbst stehen, was gleichwohl nicht ausschließt, dass immer wieder reichsweite Tendenzen durchscheinen. 1. GRUNDPROBLEME DER SOZIALDEMOKRATISCHEN KOMMUNALPOLITIK Kommunalpolitik war für die Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich allgemein ein schwieriges Feld. Das hatte sowohl mit der Partei selbst als auch den staatlichen Rahmenbedingungen zu tun. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildeten theoretischen Grundsätze der Partei rückten mindestens den gesamten Staat in den Vordergrund. Der Klassenkampf sollte letztendlich die bestehende Ordnung als Ganzes überwinden. Kleinteilige und lokale Verbesserungen, durchzusetzen in Stadt- und Gemeindevertretungen, waren zunächst mehr als zweitrangig für das Endziel der sozialistischen Gesellschaft.3 Nicht nur das. Bisweilen wurden kommunalpolitische Aktivitäten nicht nur als sinnlos betrachtet und zynisch als „Gas- und Wassersozialismus“ bezeichnet, sondern sogar als ehrlos und gefährlich diskreditiert, da lokale Kompromisse letztlich die ideologische Identität und das Einheitsideal der Partei gefährden würden.4 Daneben waren die sehr unterschiedlichen kommunalen Aktivitäten schwer reichsweit zu koordinieren und mussten für eine Programmpartei wie die SPD erschwerend auf die Theoriebildung wirken.5 Die innerparteiliche Auseinandersetzung um die Jahrhundertwende, vor allem der Revisionismusstreit, sorgte für eine neue Gewichtung.6 Danach war es besser möglich, den Fokus verstärkt auf soziale Reformen und kleinteilige Verbesserun3 4 5 6

Vgl. Grünthal (1999): Historische Perspektiven, S. 77–85. Vgl. Rebentisch (1985): Die deutsche Sozialdemokratie, S. 2–10. Vgl. von Saldern (1976): Die Gemeinden, S. 307. Vgl. Nipperdey (2013): Machtstaat, S. 568ff.

Sozialdemokratische Kommunalpolitik am Beispiel Magdeburg

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gen zu legen, als unbedingt auf das große Ziel der Revolution hinzuarbeiten oder gar deren Eintreten abzuwarten. In dieser Auslegung wurde den Gemeinden sogar eine Pionierfunktion bei der Verbesserung der Lebensverhältnisse zugesprochen. Diese Veränderung spiegelt sich auf den Reichsparteitagen ab 1901 wider. Anfangs nur zögerlich diskutiert, kam es 1904 in München zu einem Parteitagsbeschluss zur Kommunalpolitik. Darauf folgten lokal begrenzte Kommunalprogramme, so auch in Magdeburg.7 Von staatlicher Seite waren die Sozialdemokraten in ihren Möglichkeiten beschnitten, da auf den Ebenen unterhalb des Reiches nach Steueraufkommen mittels Drei-Klassen-Wahlrecht abgestimmt wurde. Hinzu traten restriktive Versammlungs- und Vereinsgesetze, unter deren Zuständigkeit auch politische Parteien standen, immer wiederkehrende Schikanen durch Behörden, Polizei und Arbeitgeber sowie ein mindestens tendenziöser, nicht selten klassenabhängig handelnder Justizapparat.8 Von einer gleichberechtigten Teilhabe an einer oftmals bürgerlich dominierten Kommunalpolitik konnte daher kaum die Rede sein. 2. GRÜNDUNG, FORMATION UND SOZIALISTENGESETZE Die frühen Magdeburger Sozialdemokraten hatten schon aufgrund der lokalen Gegebenheiten einen schweren Stand. Als Hauptstadt und Verwaltungszentrum der preußischen Provinz Sachsen beherbergte Magdeburg viele Beamte und Angestellte. Da die Elbestadt im 18. und 19. Jahrhundert die stärkste Festung Preußens war, gab es daneben einen relativ hohen Anteil an Militärangehörigen. Diese Gruppen waren überwiegend konservativ bis nationalliberal eingestellt.9 Sehr drastisch und sicherlich auch etwas übertrieben drückte es der Sozialdemokrat Ernst Wittmaack (1878–1942)10 in der Rückschau aus: Wer die Geschichte der Magdeburger Partei verstehen will, muß das Milieu der Stadt und ihrer Bürgerschaft in der zweiten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts kennen. Magdeburg war preußische Militär- und Festungsstadt, sein Bürgertum war blindlings militärfromm und königstreu, und dumpfer Kasernengeist lag über allem Leben der Stadt. Dem geldsackstolzen Bürger galt das arbeitende Volk nichts. Gegen seine Leiden und Sorgen war er im höchsten Maße gleichgültig. Befangen im Kastengeist, abhold jedem politischem Fortschritt, bei der drückenden Enge und Schwüle der Festungsstadt unzugänglich allem ungewohnten Neuen empfand der Bürger das Auftreten der Sozialdemokratie als eine unerhörte Störung seiner Ruhe, als unerhörtes Antasten seiner Privilegien. Er reagierte mit leidenschaftlichem Haß, mit bitterster Feindschaft.11

Der Festungscharakter und die damit einhergehenden sehr eingeschränkten Möglichkeiten der Stadterweiterung bedingte einen großen Missstand für die Wohnsi-

7 8 9 10 11

Vgl. Rebentisch (1985): Die deutsche Sozialdemokratie, S. 3–7. Vgl. Ritter / Tenfelde (1992): Arbeiter, S. 683. Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 15ff. Vgl. Herlemann (2002): Wittmaack, S. 813f. Wittmaack (1929): Magdeburgs Parteibewegung, S. 39.

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tuation insbesondere der Arbeiterfamilien. Dieser Umstand verschärfte sich mit dem immensen Wachstum der Stadt im Rahmen der Industrialisierung noch. Auch wenn nach 1870 viele Festungsbestimmungen aufgehoben wurden und die Stadt sich auf das Umland ausdehnen konnte, kam die einsetzende Bautätigkeit den akuten Bedürfnissen keineswegs nach. Die Anfänge der Magdeburger Arbeiterbewegung reichen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Von einer eigenständigen Organisation kann man jedoch frühestens ab den 1860er Jahren sprechen, als durch einige Vertreter der Versuch unternommen wurde, sich aus der organisatorischen Abhängigkeit von Bürgertum und Liberalen zu befreien und einen eigenen Verein zu gründen. Ab dem Tag seiner Gründung im Sommer 1868 stand der Arbeiterverein Magdeburgs unter behördlicher Beobachtung. Rechtliche Grundlage von Überwachung und Schikane war das preußische Vereinsgesetz von 1850, das direkte Verbindungen von politischen Organisationen nicht zuließ. In den Statuten des Vereins wurde deshalb auf eine erklärte politische Ausrichtung verzichtet. Neben diese Probleme traten ganz praktische. Ein Lokal, das den Vereinsversammlungen offenstand, gab es nur in der Altstadt. Dazu kamen die langen Arbeitszeiten, die es den Mitgliedern vor allem aus den Randbezirken fast unmöglich machten, an Treffen teilzunehmen. Mit der Reichsgründung kamen schwere Jahre auf die organisierten Arbeiter Magdeburgs zu. Einerseits änderte sich das geistige Klima.12 Die militärischen Erfolge festigten die bestehende Ordnung der Monarchie. Hinzu kam der wirtschaftliche Erfolg in den ersten Jahren des Kaiserreichs. Widerspruch konnte leicht als Verrat am Vaterland gebrandmarkt werden. Da vormals führende Sozialdemokraten Magdeburgs, wie Julius Bremer, sich aus persönlichen Gründen zurückzogen, gab es bis 1876 keine Organisation der Arbeiter in Magdeburg.13 Großen Anteil an dieser Situation hatte der Jurist Hermann Tessendorf (1831– 1895).14 Den Grundstein für seine spätere Karriere – 1886 wurde er schließlich Oberreichsanwalt in Leipzig – legte er mit seinem unerbittlichen und rücksichtslosen Vorgehen gegen die Magdeburger Arbeiterbewegung bis 1873. Tessendorf sah es als seine Aufgabe an, die im Wachsen befindliche Bewegung so früh und so nachhaltig wie möglich zu stoppen, politisch und strafrechtlich gegen jede kleinere und größere Aktion vorzugehen. Mit seinen Methoden und seinem Eifer stach er sogar im ohnehin strengeren Preußen hervor, man verlieh ihm schließlich den Beinamen „Sozialistenfresser“.15 Ihm nachfolgende Staatsanwälte in Magdeburg orientierten sich scheinbar am Beispiel Tessendorf und agierten in der Folgezeit ähnlich bedingungslos und unnachgiebig.16 Die vielversprechenden Neuanfänge Mitte der 1870er Jahre, die Neugründung eines Vereins und Etablierung einer Zeitung, wurden durch die Sozialistengesetze 12 Siehe hierzu aus Perspektive der Reichspolitik den Beitrag von Walter Mühlhausen in diesem Band. 13 Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 17–32. 14 Vgl. Drechsler (2002): Tessendorf, S. 718. 15 Vgl. Mühlhausen (2017): Gegen den Reichsfeind, S. 333ff. 16 Vgl. Müller (1910): Magdeburger Polizei, S. 17f.

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ab 1878 wieder zunichte gemacht. Ohne organisatorisches Band wurde die Arbeit erst eingestellt und dann nach und nach im Untergrund weitergeführt. Allerdings fällt auch ein erster bemerkenswerter Erfolg in diese Zeit. Mit August Heine (1842– 1919) zog 1884 das erste Mal ein Sozialdemokrat für Magdeburg in den Reichstag ein. Schon drei Jahre später musste man dieses Mandat allerdings wieder verloren geben. Ebenfalls 1887 kam es in Magdeburg zum sogenannten Geheimbund-Prozess. Wegen ihrer illegalen politischen Betätigungen wurden führende Magdeburger Sozialdemokraten angeklagt und schließlich zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Die organisierte illegale Arbeit kam infolgedessen fast vollständig zum Erliegen.17 3. ERFOLGREICHES AGIEREN IN DER STADTVERORDNETENVERSAMMLUNG AB 1890 Noch im Jahr 1890 bildeten sich zunächst Arbeitervereine in den einzelnen Stadtteilen, ein Jahr später für ganz Magdeburg. Mit der Volksstimme konnte schnell eine eigene Zeitung etabliert werden und erste Wahlerfolge stellten sich ein. Ebenfalls 1890 wurde das Reichstagsmandat zurückerobert, mit Wilhelm Klees gab es den ersten sozialdemokratischen Stadtverordneten. Die polizeilichen und behördlichen Maßnahmen ließen um die Jahrhundertwende jedoch keineswegs nach. Diese reichten so weit, dass sich der Sozialdemokratische Verein 1895 wieder auflöste. Neben dieses Problem trat die Ansicht vieler Magdeburger Genossen, die Gewerkschaftsarbeit sei zu diesem Zeitpunkt wichtiger als parteipolitisches Agieren. Der Verein wurde zugunsten der Gewerkschaft aufgelöst, der Einsatz für konkrete wirtschaftliche Verbesserungen wurde als drängender eingeschätzt. Darüber hinaus wären mehrere Mitgliedschaften eine nicht unerhebliche finanzielle Belastung.18 Erst fünf Jahre später konstituierte sich der Verein neu.19 Diese Neugründung stand in direktem Zusammenhang mit dem zum 1. Januar 1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuch. Damit wurde das Verbindungsverbot für politische Vereine aufgehoben, also eines der wichtigsten Mittel der polizeilichen und juristischen Schikane.20 Wichtigster Schauplatz der Kommunalpolitik war die Stadtverordnetenversammlung. Das dort angewandte Drei-Klassen-Wahlrecht und die öffentliche Stimmabgabe machten es den Sozialdemokraten außerordentlich schwer, auch nur einige wenige Mandate zu erringen. Die Rückwirkungen der öffentlichen Stimmabgabe schilderte Hermann Beims folgendermaßen: Der Wähler musste an den Wahlvorstand herantreten, seinen Namen laut nennen und danach laut und deutlich den Kandidaten nennen, den er wählen wollte. Auf diese Art hatten die reaktionär gerichteten Arbeitgeber und Hausbesitzer eine bequeme Handhabe gegen sozialdemo-

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Vgl. Regener (2020): Magdeburger Sozialdemokratie, S. 49–56. Vgl. Pollmann (2013): Sozialdemokratie, S. 25f. Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 38–57. Vgl. Nipperdey (2013): Machtstaat, S. 198.

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Ralf Regener kratische Wähler, der in fast allen Fällen sofort unter Druck gesetzt wurde. Er wurde in der Fabrik geschurigelt oder entlassen, man steigerte die Miete, behandelte seine Kinder in der Schule schlecht. Ja, es gab nicht wenige Lehrer, die am Tage nach der Wahl die Kinder sozialdemokratischer Wähler vor die Klasse treten ließen und sie beschimpften, weil ihr Vater einem Sozialdemokraten seine Stimme gegeben hatte. 21

Ebenfalls nachteilig für die Sozialdemokraten war der Umstand, dass die Wahlen unter der Woche und zum Teil vormittags stattfanden. Die geltenden Arbeitszeiten machten eine Teilnahme schwierig bis unmöglich.22 Nichtsdestotrotz waren ab 1890 permanent Sozialdemokraten im Stadtparlament vertreten. Für die etablierten bürgerlichen Vertreter war dies eine einschneidende Veränderung. Bis dahin unter sich, wurden die Sozialdemokraten in erste Linie als Störenfriede empfunden, die „den Klassenhaß in die Gemeindevertretung“23 tragen würden. Kommunale Angelegenheiten seien ohnehin keine Frage der Politik und die Gemeindevertretung auch kein Parlament, so die verbreitete Ansicht der bürgerlichen Vertreter. Als eine der ersten Städte im Kaiserreich verfügte Magdeburg über ein sozialdemokratisches Programm für die anstehenden Kommunalwahlen. Weitere Vorreiter waren ab 1890 beispielsweise die Städte Nürnberg, Stuttgart und Chemnitz.24 Zur Stadtverordnetenwahl 1894 wurde der entsprechende Text in der Volksstimme abgedruckt. Zuvorderst bemerkenswert sind die theoretischen Vorüberlegungen, die sich letztlich wie eine Rechtfertigung lesen, um überhaupt an Gemeindewahlen teilzunehmen. Das ist der schon angesprochene Richtungsstreit der SPD im Kleinen und Lokalen. So heißt es, dass „die arbeitende Bevölkerung […] in allen öffentlichen Körperschaften des Reiches, des Landes und der Gemeinde“ vertreten sein muss, um zu einer „stufenweisen Sozialisierung der Gesellschaft“ zu kommen. Daneben tritt die allgemeine Forderung nach Selbstbestimmung der Gemeinden und nach demokratischem Wahlrecht. Weitere zehn konkrete Forderungen werden darüber hinaus gestellt. Diese sind sehr weit gefächert und reichen von Gehaltserhöhungen und Arbeitszeitverkürzung für städtische Arbeiter, Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot über die Schulpolitik bis hin zu Finanz- und Steuerangelegenheit, so das stufenweise Ansteigen der Einkommens- und Vermögensabgaben.25 Der Großteil dieser Forderungen beschäftigte die Magdeburger Sozialdemokraten mindestens bis zum Ende des Kaiserreichs, wie noch zu zeigen sein wird, sogar mit einem gewissen Erfolg nach jahrelanger beharrlicher Arbeit. Die 72 Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung von Magdeburg arbeiteten auf der Grundlage einer Magistratsverfassung. Als Exekutive an der Spitze der Verwaltung standen der Oberbürgermeister und der aus der Versammlung gewählte Magistrat. Allgemein war man mit den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft betraut, vor allem städtische Beschlussfassung, Gemeindefinanzen und aus-

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Beims (1929): Die Sozialdemokratie, S. 16. Vgl. Asmus (2005): Die Jahre 1848 bis zur Gegenwart, S. 404. Volksstimme vom 8.11.1905. Vgl. Rebentisch (1985): Die deutsche Sozialdemokratie, S. 10–20. Vgl. Volksstimme vom 1.11.1894.

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führende Rechte in Polizei- und Schulwesen. Die geltende Geschäftsordnung verhinderte, dass die kleine sozialdemokratische Fraktion Anträge oder Anfragen einbringen konnte. Daneben wurden Disziplinarmaßnahmen, wie der Ordnungsruf, immer wieder einseitig eingesetzt oder Redebeiträge der Sozialdemokraten verhindert, indem die Mehrheit den Übergang zur Tagesordnung beschloss. Die Geschäftsordnung wurde bis 1914 sogar einige Male angepasst und bezüglich solcher Maßnahmen verschärft. Die Möglichkeit, ein dauerhaftes Redeverbot zu erteilen und die Erhöhung der Mindestanzahl für das Stellen von Anträgen waren wirkungsvolle Veränderungen mit klarer Stoßrichtung gegen die Sozialdemokratie.26 Trotz dieser Situation gelang es, einige beachtliche Erfolge zu erzielen. Dazu gehörte das Thema Wohnungsnot. Die schon beschriebenen städtischen Besonderheiten wurden noch verstärkt durch das Agieren der Hausbesitzer und Vermieter, die aus der prekären Situation nicht selten noch einen Vorteil ziehen wollten und die Knappheit dazu nutzten, Mieten zu erhöhen. Zumeist wurden die Probleme vom Oberbürgermeister und Magistrat nicht anerkannt. In einem Ausschuss, der sich mit diesen Fragen befassen sollte, saßen zumeist Hausbesitzer. Entsprechend gering war das Bemühen, Ergebnisse zu liefern. Die Sozialdemokraten agierten in zwei Richtungen. Zum einen wurden immer wieder Vorschläge eingebracht, Wohnraum mit städtischen Mitteln zu schaffen. Solange das Problem jedoch mangels eines anerkannten statistischen Nachweises negiert werden konnte, hatte das wenig Erfolgschancen. Um Abhilfe zu schaffen, regten die Sozialdemokraten erfolgreich an, einen entsprechenden Bericht von der städtischen Armenverwaltung anfertigen zu lassen, der letztendlich die Beschreibungen der Sozialdemokraten stützte. Damit war das Problem nicht mehr einfach wegzudiskutieren, einige bürgerliche Abgeordnete wurden dadurch überzeugt. Als 1910 viele Krankheitsfälle, vor allem Tuberkulose, hinzukamen, die man der schlechten Wohnsituation zuschrieb, wurde eine alte sozialdemokratische Forderung aufgegriffen und ein städtisches Wohnungsamt eingerichtet. Dieses hatte längst nicht alle Befugnisse, die man ursprünglich als nötig erachtete, um die Lage zu bessern und den Mietern etwas Schutz zu bieten, doch nach vielen Jahren Arbeit war das zumindest ein sehr konkreter Erfolg. Die Lohnsituation der städtischen Arbeiter war ein weiterer wichtiger Punkt auf der Agenda der SPD. Nach langen und fruchtlosen Debatten wurde 1901 eine Statistik vom Magistrat vorgelegt. Diese machte sowohl auf die großen und kaum nachvollziehbaren Unterschiede in der Besoldung der einzelnen Gewerke als auch auf die Niedriglöhne aufmerksam. In der Folge konnten im Verbund mit den Gewerkschaften immer wieder kleine Verbesserungen erzielt werden, wie die Auszahlung von Weihnachtsgeld, Bestimmungen zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Lohnsteigerungen für einzelne Gruppen. Die Anwesenheit im Stadtparlament ermöglichte es den Sozialdemokraten in dem Zusammenhang auch, unbequeme Fragen nach kürzlich erfolgter üppiger Besoldungserhöhung für Oberbürgermeis-

26 Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 134–138.

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ter, Magistrat und städtische Beamte zu stellen. Ein konkreter Erfolg für die Lohnsituation der städtischen Arbeiter konnte noch 1913 erzielt werden, indem eine vom Magistrat erarbeitete Lohnklassenregelung angenommen wurde, die Ordnung und Sicherheit für die Arbeiter brachte.27 Als letztes Beispiel soll das Problem der Arbeitslosigkeit angeführt werden. Auch hier wurde es über weite Strecken vom Oberbürgermeister, Magistrat und der Mehrheit der bürgerlichen Abgeordneten zunächst nicht als Problem anerkannt. Saisonale Schwankungen, Faulheit einzelner Arbeiter und ökonomische Zwänge wurden als Relativierungen angeführt. Da man als Sozialdemokraten nicht die Macht hatte, Beschlüsse zu fassen, war es auch hier das Vorgehen, das Thema aktuell zu halten, beispielsweise über organisierte Arbeitslosenversammlungen an öffentlichen Plätzen. Aber auch das stellte keine verlässliche Größe dar. Einen belastbaren Nachweis lieferte dagegen das Statistische Amt Magdeburg. Die dort erfassten Zahlen boten wenig Möglichkeit zur Verwässerung. Eine Maßnahme, die auf Drängen der Sozialdemokraten folgte, war das Etablieren von städtisch organisierten und bezahlten Arbeitsstellen in größerer Zahl, sogenannte Notstandarbeiten, die für einige Arbeitslose die gröbste Not lindern konnte. Die genannten Beispiele lassen ein gewisses Muster erkennen, also immer wieder angewandte Strategien, die die Schikane und die fehlenden Möglichkeiten der Sozialdemokraten in der Kommunalpolitik zum Teil ausgleichen sollten. Über Jahre hinweg wurden Punkte der sozialdemokratischen Agenda, Wohnungsnot, Lohnsituation, Arbeitslosigkeit aber auch schmerzhafte Steuererhöhungen und Lebensmittelteuerungen angesprochen und als städtische Aufgabe definiert. Falschen oder tendenziösen Mutmaßungen wurde begegnet, indem zuverlässige statistische Erhebungen, im besten Fall von einer städtischen Einrichtung selbst, erarbeitet werden sollten. So konnten einige Bürgerliche überzeugt werden, das Thema wenigstens als dringlich anzusehen und sich dessen auch anzunehmen. Nicht selten wurden im weiteren Verlauf Vorschläge der Sozialdemokraten aufgegriffen und wenigstens teilweise umgesetzt, freilich ohne die Vorarbeiten der Sozialdemokraten dabei offiziell anzuerkennen. 4. FÜHRENDE PERSÖNLICHKEITEN Möchte man den Begriff Kommunalpolitik etwas weiter fassen, so kann man noch einige Aspekte jenseits des Agierens in der Gemeindeversammlung nennen. Am Beispiel einiger herausragender Persönlichkeiten lässt sich die inhaltliche Diversität der Magdeburger Sozialdemokratie, lassen sich aber auch weitere Handlungsspielräume im Obrigkeitsstaat gut verdeutlichen. Der in Oberschlesien geborene Otto Landsberg (1869–1957) passt zunächst einmal nicht in die oberflächliche Vorstellung eines sozialdemokratischen Politikers im Kaiserreich. Als promovierter Jurist und Sohn eines Arztes würde man ihn

27 Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 138–148.

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eher als Bildungsbürger bezeichnen. Trotz seiner Herkunft und Vita trat er noch vor der Jahrhundertwende in die SPD ein, ab 1895 war er als Rechtsanwalt in Magdeburg tätig. Ab 1903 gehörte er für sechs Jahre zu den wenigen sozialdemokratischen Stadtverordneten, 1912 konnte er das Magdeburger Reichstagsmandat gewinnen. Überregional wurde er spätestens ab 1918 bekannt, als er Mitglied des Rates der Volksbeauftragten wurde und wenige Monate später der erste Reichsjustizminister der Weimarer Republik. Darüber hinaus vertrat er seinen Freund Friedrich Ebert beim Magdeburger Reichspräsidentenprozess 1925.28 Die juristische Expertise von Otto Landsberg war auch für die Magdeburger Sozialdemokratie im Kaiserreich außerordentlich wichtig. Der eigentümliche Zustand des Rechtswesens im Kaiserreich, die Mischung aus kodifiziertem und einklagbarem Recht, also Errungenschaften der prinzipiellen Rechtsstaatlichkeit, einerseits und die partielle Klassenjustiz, also das tendenzöse Agieren vieler Beamter, seien es nun Richter, Polizei oder höhere Verwaltungsbeamte andererseits,29 brauchte zur Verteidigung und Durchsetzung sozialdemokratischer Anliegen geschultes und sachkundiges Personal. Auch der Umstand, dass längst nicht alle Vertreter des Staats mit gleichem Eifer vorgingen, machte dies unverzichtbar. So konnte einige Male dem überharten Vorgehen der Polizei Einhalt geboten werden: „Mit Vorliebe bediente sich der Polizeipräsident Keßler des Groben-Unfug-Paragraphen, mit dem er die gewagtesten und lächerlichsten Maßnahmen begründete, so daß sogar die Gerichte ihn häufiger im Stich ließen.“30 Diese Sachlage bezeugen auch die Vorgänge in Bezug auf die geplanten Umzüge anlässlich des 1. Mai 1910. Die Sozialdemokraten stellten beim Magdeburger Polizeipräsidenten von Alten entsprechende Anträge, die erstaunlicherweise auch genehmigt wurden. Kurze Zeit später schaltete sich der Innenminister ein, um die Genehmigung doch noch rückgängig zu machen. Letztlich mussten die Sozialdemokraten nach vielem Hin und Her umplanen. Doch der Vorgang zeigt, wie unterschiedlich verschiedene Institutionen des Staates reagieren konnten und dass man trotz aller Schikanen sicher nicht von durchgängiger Klassenjustiz sprechen kann.31 Sehr häufig vertrat Landsberg Magdeburger Genossen, die aufgrund ihrer Texte in der Volksstimme angeklagt wurden, wegen Majestätsbeleidingung, Beleidigung des Reichskanzlers oder auch Aufruf zu Gewalttätigkeiten. Freisprüche oder große Erfolge, wie ein Grundsatzurteil des zuständigen Oberverwaltungsgerichts zugunsten der SPD bezüglich der Anwesenheit von Poizeibeamten in nichtöffentlichen Versammlungen, waren freilich selten, doch Landsberg gelang es immer wieder das Strafmaß wesentlich zu verringern bis dahin, dass lediglich eine Geldzahlung angesetzt wurde. Neben der konkreten juristischen Tätigkeit war Landsberg Redner auf vielen Versammlungen und informierte die Arbeiterinnen und Arbeiter 28 29 30 31

Vgl. Abmeier (1982): Landsberg, S. 514f. Vgl. Nipperdey (2013): Machtstaat S. 192f. Wittmaack (1929): Magdeburgs Parteibewegung, S. 45. Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 131f.

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über ihre Rechte oder neue Gesetze, die einen Bezug zur Arbeiterbewegung hatten.32 In diesem Zusammenhang muss man auch eine gewisse Entwicklung anerkennen, die darin besteht, dass das einseitige und parteiliche Vorgehen der Justiz sich mit der Zeit abschwächte. Nach der Einschätzung Landsbergs ging die Schikane in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg merklich zurück. 1910 schätzte er die Situation folgendermaßen ein: Die Zeiten, in denen die Magdeburger Gerichtsabteilungen wahre juristische Schreckenskammern waren, sind vorüber, hoffentlich für immer. Zwar das goldene Zeitalter ist für uns ebensowenig gekommen wie für die Genossen im übrigen Preußen. Aber seit vielen Jahren ist unseren Strafrichtern deutlich das Bestreben anzumerken, gerecht zu sein auch in politischen Strafsachen, die sich von den sonst ihrer Aburteilung unterliegenden Sachen dadurch unterscheiden, daß nicht ein ihnen gleichgültiger Mensch, sondern ein politischer Gegner als Angeklagter vor ihnen steht. Es gelingt vielen Richtern nicht stets, völlig objektiv zu bleiben. 33

Im Gegensatz zu Otto Landsberg verfügte Hermann Beims (1863–1931) über einen typischen Hintergrund. Er wurde in armen Verhältnissen geboren, war Sohn eines Webers und durfte trotz seiner erkennbaren Talente und Fähigkeiten keine höhere Schule besuchen. Schließlich absolvierte er eine Tischlerlehre. Man kann ihn als unermüdlichen Arbeiter, Netzwerker und hervorragenden Organisator charakterisieren. Als er 1902 nach Magdeburg kam und Sekretär des neugebildeten Gewerkschaft-Kartells der Berufsverbände wurde, herrschte noch viel Streit und Missgunst zwischen den einzelnen Verbänden. Doch innerhalb weniger Jahre schaffte es Beims, alle Berufsverbände zusammenzuführen. Er sprach jährlich auf über 100 Versammlungen, eignete sich Wissen und Expertise in Rechts- und Verwaltungsfragen an, um die Anfragen der einzelnen Arbeiterinnen und Arbeiter in abendlichen Sprechzeiten zu beantworten und war Initiator praktischer Unternehmungen, wie der Gründung des Mieter-Bau- und Sparvereins. Nachdem das Gewerkschaftskartell einigermaßen gefestigt war, sollte er ab 1906 gleiches Organisationsgeschick für den neu zu schaffenden Parteibezirk Magdeburg anwenden. Auch hier konnte er die größeren Unstimmigkeiten und Widerstände beheben, bis 1914 kam es zu einer Steigerung der Ortsgruppen von 57 auf 150 und der Mitglieder von 8.300 auf 39.000. Das rapide zahlenmäßig Erstarken und die jeweilige organisatorische Einheitlichkeit von Partei und Gewerkschaften schufen wesentliche Grundlagen dafür, dass die Arbeiterbewegung immer mehr zu einem bestimmenden Faktor auch in der Kommunalpolitik werden konnte. Darüber hinaus ist diese Entwicklung Teil des Phänomens der Massenpolitisierung der Gesellschaft des Kaiserreichs, eines der entscheidenden Wesensmerkmale der Zeit.34 Beims umsichtiges und besonnenes Agieren während des Krieges und der Novemberrevolution ließ ihn zunächst zum ersten sozialdemokratischen Magistrat und schließlich 1919 sogar zum Oberbürgermeister aufsteigen. In seiner zwölfjährigen Amtszeit führte er Magdeburg 32 Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 67–72 und S. 119f. 33 Landsberg (1910): Erinnerungen, S. 40. 34 Vgl. Richter (2021): Aufbruch, S. 8–13.

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beinah durch die gesamte Zeit der Weimarer Republik und konnte in der Folgezeit wichtige Impuls in der Stadtentwicklung setzen.35 Bezüglich der Herkunft lässt sich wiederum Alwin Brandes (1866–1949) irgendwo zwischen Otto Landsberg und Hermann Beims einordnen. Der Vater war gelernter Schlosser und besaß Anfang der 1860er Jahre eine eigene kleine Firma in der Nähe des sächsischen Görlitz, seine Mutter war eine Kaufmannstochter. Während der Reichseinigungskriege verlor der Vater seinen Besitz, arbeitsbedingt musste die Familie oft den Wohnort wechseln. Alwin Brandes absolvierte ebenfalls eine Schlosserlehre. Nach Wanderschaft, Heirat und Militärdienst führte ihn sein Weg nach Magdeburg. Dort engagierte er sich in der SPD, vor allem jedoch in der Gewerkschaftsbewegung. 1900 wurde er Geschäftsführer des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) in Magdeburg. Mehr noch als seine oben vorgestellten Magdeburger Genossen lehnte er 1914 den Krieg und die Kreditbewilligung ab, sodass er 1917 in die USPD eintrat. Landsberg und Beims blieben in der MSPD. 1922 kehrte auch Brandes in die SPD zurück. In der Zeit der Weimarer Republik war er einer der Reichsvorsitzenden des DMV, ab Mitte der 1920er Jahre dessen unbestrittene Führungspersönlichkeit.36 Als Mitglied des Magdeburger Stadtparlaments widmete sich Brandes vor allem Themen, die einen starken Bezug zur Gewerkschaft hatten, so Lohnfragen, Arbeitsbedingungen, Arbeitslosenzahlen und -unterstützung. Besonders wichtig erschien ihm die Bekämpfung der Erwerbslosigkeit. Brandes Verdienst in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg ist es, dieses Thema immer wieder vehement angesprochen und damit auch die schon beschriebenen regionalen Fortschritte eingeleitet zu haben. Dem Gewerkschafter Brandes bot die Ordnung des Kaiserreichs sogar einige zusätzliche Möglichkeiten. Gewerkschafts-Veranstaltungen und -feste, in Magdeburg kamen dazu nicht selten über 10.000 Personen zusammen, mussten von staatlichen Stellen anders behandelt werden. Die offizielle Aussage der Stadt Magdeburg war, dass städtische Lokale keiner politischen Partei, wohl aber wirtschaftlichen Vereinigungen wie dem DMV offen stünden. 1907 konnte das stadteigene Lokal Herrenkrug für ein größeres Fest genutzt werden. Für eine Versammlung der SPD wäre das undenkbar gewesen. Von einer Kontinuität kann man jedoch auch hier nicht sprechen, denn nicht selten wurden verwaltungstechnische Gründe angeführt oder mit dem Hinweis auf die Nähe zwischen sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaft eine Absage erteilt.37 Alle drei Persönlichkeiten, geboren zwischen 1863 und 1869, eint, dass sie der gleichen Altersklasse, der sogenannten zweiten Generation der Arbeiteranführer, angehören. Diese waren tendenziell weniger theoriefromm und somit integrationswilliger, vor allem auch deshalb, da sie die Repressalien des Sozialistengesetzes zum großen Teil nicht direkt zu spüren bekommen hatten.38 Weiterhin waren alle 35 36 37 38

Vgl. Drechsler (1992): Beims, S. 7–17. Vgl. Kotowski (1955): Brandes, S. 520. Vgl. Mielke (2019): Brandes, S. 72–84. Näheres dazu findet sich im Beitrag von Walter Mühlhausen in diesem Band.

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drei keine gebürtigen Magdeburger, sie hatten nicht einmal in der preußischen Provinz Sachsen ihre Wurzeln. Welche Umstände auch immer das Zusammentreffen gerade in Magdeburg begründen, in jedem Fall ist es ein Hinweis auf die erhöhte Mobilität der Bevölkerung im Kaiserreich.39 Wenn man sich die weiteren Lebenswege anschaut, so fällt weiterhin das Herauswachsen aus der Provinz, hin zu noch größerer Verantwortung auf Reichsebene bei Landsberg und Brandes auf. Hermann Beims blieb zwar Kommunalpolitiker, das aber einerseits in Spitzenposition in einer Großstadt und andererseits immer mit Blick auf größere Zusammenhänge. In der Weimarer Republik war er zeitweise Mitglied der Nationalversammlung, des Reichstag, des Preußischen Staatsrates und Abgeordneter des Provinziallandtages. Diese Positionen nutze er, um für die politische Neuordnung Mitteldeutschlands mit der Stadt Magdeburg als Zentrum zu werben.40 Man mag einwenden, dass an dieser Stelle kein prominenter Vertreter des linken Parteispektrums genannt wurde. So wäre beispielsweise Albert Vater (1859– 1923) anzuführen, der in der Zeit des Kaiserreichs ebenso ein unermüdlicher Streiter für die Rechte der Arbeiter und schließlich Mitgründer der Magdeburger KPD war. Für Magdeburg in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik muss man jedoch ein klares Übergewicht des Mitte-Rechts-Flügels der Sozialdemokraten konstatieren. Jene Gruppierungen also, die ohnehin praktischem Handeln und lokalen Verbesserungsmöglichkeiten aufgeschlossener gegenüberstanden. Hermann Beims konstatierte hinsichtlich der lokalen Situation Folgendes: Die Frage, ob wir uns positiv schaffend am Gemeindeleben beteiligen oder jener Unterströmung in der Partei folgen und lediglich angreifend die bürgerliche Mehrheit bekämpfen sollen, ist in Magdeburg schon früh in positivem Sinne entschieden worden. Unsere kleine Gruppe stand zwar in schärfster Kampfstellung den „Harmonie“-leuten [gemeint ist die Fraktion der bürgerlichen Abgeordneten, R. R.] gegenüber, aber unsere Kritik war niemals und zu keiner Zeit negierend, sondern immer anregend und aufbauend. […] Unsere Stellung in der Stadtverordneten-Versammlung war darum überragend, weil wir für den Fortschritt auf allen Gebieten des Gemeindelebens zielstrebig uns einsetzten und dabei die Schäden des herrschenden Systems offenlegten.41

Hinzu kam, dass unterschiedliche Auffassungen auch auf kommunaler Ebene erst mit Weltkrieg und Nachkriegszeit akut wurden. Bis 1914 erschienen die theoretischen Differenzen nicht zentral, sodass für die sozialdemokratische Kommunalpolitik die drei genannten Persönlichkeiten als beispielhaft für die Magdeburger Zusammenhänge angeführt werden können. Darüber hinaus muss man grundsätzlich an dieser Stelle anmerken, dass kommunalpolitisches Handeln ohnehin Sache der Revisionisten bzw. des rechten Parteiflügels geblieben ist. Für die Parteilinke blieb die Kommunalpolitik entweder zweitrangig bis überflüssig oder die Kommune wurde eher als konkreter Revolutionsort gesehen, was beispielsweise sozialpoli-

39 Vgl. Nipperdey (2013): Arbeitswelt, S. 34 und 292f. 40 Vgl. Lehnert (2021): Die politische Entwicklung Magdeburgs, S. 96–104. 41 Beims (1929): Die Sozialdemokratie, S. 20.

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tisches Wirken im Sinne einer evolutionären Verbesserung nicht als sinnvoll erschienen ließ.42 5. DIE VOLKSSTIMME Um doch noch einmal auf Albert Vater zurückzukommen: Dieser war eine wichtige Person beim Wachsen der sozialdemokratischen Zeitung Volksstimme über die Stadtgrenzen Magdeburgs hinaus. Als 1902 der erste Versuch unternommen wurde, die Volksstimme als Organ für den gesamten Parteibezirk Magdeburg aufzuwerten, wurde Vater zum Vorsitzenden des entscheidenden Komitees gewählt. Dort gab es noch große Widerstände, beispielweise von den Genossen aus Halberstadt, die einen zu großen Einfluss der Magdeburger fürchteten, sodass dieses Vorhaben erst sechs Jahre später realisiert werden konnte.43 Zu diesem Zeitpunkt war die Volksstimme schon eine feste Größe in der sozialdemokratischen Kommunalpolitik. Die Anfänge waren dagegen sehr beschwerlich. Schon 1890, also unmittelbar nach dem Ende der Sozialistengesetze, wurde ein Überschuss aus der Wahlkampfkasse eingesetzt, um eine neue sozialdemokratische Zeitung für Magdeburg und Umgebung zu gründen. Viel Werbung und eine Probenummer mit 50.000 Exemplaren sollten schnell für eine größere Anzahl an Lesern sorgen, auch um das Unternehmen wirtschaftlich tragbar zu machen. Doch zu Beginn war die Resonanz verhalten. Gerade einmal 2.000 Abonnenten konnten kurzfristig gewonnen werden. Das machte die ersten Jahre zu einem ständigen Überlebenskampf. Doch mit der Zeit stellte sich Besserung ein, im Jahr 1901 hatte man schon 10.000 Abonnementen, zu Beginn des Ersten Weltkrieges 34.000. Parallel dazu stiegen die Einnahmen durch Inserate. Im Wissen, dass dieser Punkt die wirtschaftliche Grundlage der Zeitung betraf, waren die Inserate auch immer wieder Ziel der behördlichen Schikane. So wurden Inserenten persönlich von der Polizei aufgesucht, um nachzufragen, ob sie tatsächlich etwas bei der Volksstimme aufgegeben hatten. Die offizielle Begründung war das Ermitteln und ggf. Verhindern von Scheininseraten. Daneben wurden Personen direkt von der Polizei angeschrieben, die in der Volksstimme genannt wurden, mit dem Ziel auf die Möglichkeit hinzuweisen, Strafanzeige gegen die Zeitung zu stellen. Tatsächlich waren die vielfältigen behördlichen Schikanen sehr schmerzlich für die Volksstimme und ihre Redakteure. Jede Möglichkeit einer Strafanzeige wurde genutzt, Gesetze und Verordnungen teilweise fast willkürlich ausgelegt. Oft kam es zu Geldstrafen, nicht selten mussten Redakteure für längere Zeit ins Gefängnis. Als die Volksstimme nach zehn Jahren Bilanz zog, kamen 100 Anklagen, 40 Verurteilungen mit insgesamt über zwölf Jahren Haft, über 7.000 Mark Geldstrafe und fast 34.000 Mark für Gerichts- und Anwaltskosten zusammen.44

42 Vgl. von Saldern (1976): Die Gemeinden, S. 317ff. 43 Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 102–109. 44 Vgl. Vgl. Wittmaack (1910): Die Volksstimme, S. 54.

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Das Magdeburger Vorgehen scheint sogar ein solches Ausmaß angenommen zu haben, dass es reichsweit als bemerkenswert eingestuft wurde. So berichten andere sozialdemokratische Zeitungen von den besonders schweren Bedingungen für die Magdeburger Volksstimme. Ein Prozess wegen Majestätsbeleidigung, welcher mit neun Monaten Haft für den Angeklagten endete, erregte sogar solch großes Aufsehen, dass es sowohl im Reichstag kontrovers diskutiert wurde als auch in liberalen und Zentrums-Zeitungen bis hin zu Hans Delbrück in den Preußischen Jahrbüchern scharf kritisiert wurde.45 Die Frankfurter Zeitung sprach in diesem Zusammenhang von einer sehr bedenklichen Entwicklung, da "eine ganz neue Kategorie von Majestätsbeleidigung erfunden worden [sei], die alles bisherige weit in den Schatten stellt, nämlich die indirekte Majestätsbeleidigung, die durch Kritik an Einrichtungen verübt wird, an denen der Herrscher Anteil hat."46 Im Zuge eines weiteren Prozesses wegen Majestätsbeleidigung, der mit sechs Monaten Haft für den Angeklagten endete, prägte der Staatsanwalt den Begriff der „wahrscheinlichen Majestätsbeleidigung“. Auch dies wurde als äußert kritik- und fragwürdig in einigen bürgerlichen Zeitschriften bewertet.47 Diese Schikanen änderten langfristig jedoch nichts daran, dass die Volksstimme ein äußert wichtiges Forum der Kommunalpolitik war. Unmittelbar ist es daran zu erkennen, dass die sozialdemokratischen Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung, ihr Wissen dazu nutzten, Themen, Debatten und Entscheidungen des Stadtparlaments transparent zu machen. In der Volksstimme wurde Tag und Uhrzeit der öffentlichen Sitzungen bekannt gegeben. Auch die Tagesordnung war zu finden, was besonders wichtig war, wenn heikle Fragen besprochen wurden. In diese Kategorie gehörten beispielsweise größere Zuschüsse aus der öffentlichen Kasse zu patriotischen Festen, wie der Sedanfeier, oder Beteiligungen am Geburtstagsgeschenk des Kaisers. Das Bekanntwerden dieser Praktiken war deshalb wichtig, weil man in diesem Zuge stets verlangte, dieses Geld eher für soziale Belange auszugeben. Mittelbar fand die Kommunalpolitik über viele andere Aspekte Eingang. So wurden Informations- und Wahlkampfveranstaltungen beworben und nachträglich geschildert, Streiks und das dazugehörige Vorgehen der Unternehmer ausgewertet, kritisches Vorgehen der Polizei angeprangert und Boykott-Maßnahmen koordiniert. Daneben fanden sich aber auch Meldungen zu verhandlungsbereiten Arbeitgebern und erfolgreiche Abschlüsse, genauso wie die Auflistung von Lokalen und Wirtschaften, die man aufgrund ihrer Offenheit für Sozialdemokraten in erster Linie aufsuchen sollte.48 Die Volksstimme bot die Möglichkeit einen Großteil der Arbeiter einzubinden, eine Brücke zwischen Funktionären und Basis zu schaffen. Es wurde fortwährend aufgeklärt und informiert, punktuell konnte Widerstand organisiert werden. In einer bemerkenswerten Szene gab es einen kleinen Tumult auf der Zuschauer-Tribüne des Magdeburger Stadtparlaments. Nachdem sich ein bürgerlicher Abgeordneter im 45 46 47 48

Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 63–68 Volksstimme vom 19.12.1896. Vgl. Wittmaack (1910): Die Volksstimme, S. 53f. Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 149–159.

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Rahmen der entsprechenden Diskussion äußert abschätzig über Arbeitslose geäußert hatte, kann es zu lauten Zwischenrufen und Unmutsbekundungen der Arbeiter. Die Tribüne musste anschließend von der Polizei geräumt werden. Diese unmittelbare Reaktion der Basis verdeutlicht die wichtige Rolle der Volksstimme sehr gut. Politische Debatten konnten transparent gemacht und Öffentlichkeit hergestellt werden, Widerspruch konnte sofort erfolgen, Entscheidungen fanden nicht mehr im Verborgenen statt. 6. GENOSSENSCHAFTEN In der prinzipiellen Haltung der Sozialdemokratie zu Konsumvereinen spiegeln sich die eingangs geschilderten theoretischen Vorbehalte gegen ein kommunalpolitisches Agieren bzw. praktischen Verbesserungsbestrebungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter im Kleinen. Erst kurz vor der Jahrhundertwende, auf dem SPD-Parteitag 1899 in Hannover, änderte sich die offizielle Parteilinie dahingehend, dass eine Resolution zu diesem Thema eher eine neutrale Stellung bezog, im Gegensatz zu vorherigen Grundsätzen, die das Genossenschaftswesen für unvereinbar mit dem Leitbild der Partei einstufte. Zu diesem Zeitpunkt konnte die Konsumgenossenschaft Magdeburg-Neustadt schon auf 35 Jahre Bestehen zurückblicken. Auch hier maß man theoretischen Überlegungen zur Ausbildung des Klassenbewusstseins oder zur Überwindung der bestehenden Ordnung in jedem Fall weniger Gewicht bei als ganz praktischen Verbesserungen im alltäglichen Leben der Arbeiter und ihrer Familien. Insgesamt kann man von einer Erfolgsgeschichte sprechen: Gestartet mit 90 Personen bei der Gründungsveranstaltung im Jahr 1863 waren es im Jahr1899 bereits 17.000 Mitglieder. Diese profitierten zum einen von den günstig angebotenen Waren des täglichen Lebens. Die Zahl der Bäckereien, Lager und Transportmittel wuchsen stetig. Zum anderen wurden die Mitglieder an der jährlichen Dividende beteilig, als kulturelles Aushängeschild gab es eine gut ausgestattete Bibliothek. Die pragmatische Haltung der Magdeburger Sozialdemokraten fand darin Ausdruck, dass sich viele Genossen selbstverständlich darin engagierten, bis dahin, dass der Jahresbericht des sozialdemokratischen Vereins Magdeburgs im Jahr 1906 feststellte, dass das Verhältnis zum Konsumverein von wohlwollendere Neutralität geprägt sei, darüber hinaus sogar seinen Mitgliedern empfehle, den Verein aktiv zu unterstützen, um weiterhin die Lebenssituation der Arbeiter zu verbessern. Eine gewisse Distanz zwischen Konsumverein und Partei erschien schon allein deshalb geboten, um den Behörden keinen Grund zu geben, mit fadenscheinigen Argumenten gegen den Verein vorzugehen. Mit dem Verweis, dass die Vereinsleitung sozialdemokratisch geprägt sei und Überschüsse für Parteizwecke gebraucht werden, wurde beispielsweise Lehrern, Eisenbahn- und Postbeamten untersagt, dem Verein anzugehören. Solche und

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weitere Maßnahmen trafen den Verein hart, konnten das Anwachsen aber letztlich nur verzögern.49 Parallel dazu steht der Mieter-Bau und Sparverein, gegründet 1900. Über Mitgliedsbeiträge sollte Kapital angesammelt werden, um Wohnungen zu bauen und so die schon beschriebene Not stückweise zu lindern. Trotz vielfältiger Probleme, wie der Ankauf von geeignetem Bauland, konnten 1905 bereits vier Häuser mit fast 40 Wohnungen bezogen werden. Bis zum Beginn des Krieges kamen kontinuierlich weitere dazu. 7. FAZIT Zu Beginn des Ersten Weltkrieges konnten die Magdeburger Genossen auf eine unter den Umständen der Zeit durchaus positive Bilanz zurückschauen. Viele Möglichkeiten und bürgerlich-liberale Freiheiten, die das System des Kaiserreichs, wenn auch nur eingeschränkt, bot, wie Organisations- und Wahlmöglichkeiten, liberale Presselandschaft und gewisse Rechtsstaatlichkeit, wurden – auch zum Teil gegen die offizielle Parteilinie – genutzt, um Themen zunächst öffentlich zu besetzen, Lösungsvorschläge einzubringen und nicht selten über diverse Umwege wenigstens teilweise umzusetzen. Das stete Anwachsen der Mitgliederzahlen sowohl der Partei als auch der Gewerkschaften, die hohen Abonnementenzahlen der Volksstimme und nicht zuletzt der starke Zuspruch zum Konsumverein bestätigten die erfolgreiche Arbeit. Die Mitarbeit in den Gemeinden war letztlich jedoch ein Kristallisationspunkt für die theoretische Diskussion um Wesensmerkmale der Partei. Denn schließlich bedeutet aktive und praktische sozialdemokratische Kommunalpolitik auch das mindestens teilweise Arrangieren mit dem bestehenden Staat, völlig gleich, ob gewollt oder ungewollt. Die damit verbundene unumgängliche Annahme von vorhandenen Regeln und Verhaltensweise stützt bei aller Kritik und Änderungsbestreben den Staat. Auf der Ebene der Kommunalpolitik bedeutet das, dass die Gemeinden sich so immer weiter von der Zuschreibung entfernten, ein Hebel der Revolution sein zu können. Sie wurde immer mehr zu einem Feld der evolutionären Weiterentwicklung des schon Bestehenden.50 Das gesamte Phänomen kann man als negative Integration bezeichnen. Auf der einen Seite das Behalten des Stigmas der vaterlandslosen Gesellen inklusive polizeiliche Schikane, Klassenjustiz und darin begründete Aufbau einer eigenen Subkultur. Auf der anderen Seite steter Wachstum der Mitglieder und Sympathisanten sowie Hineinwachsen in den Staat, weil man trotz aller Behinderungen die bestehenden Möglichkeiten nutzte.51 Wie auch immer man damals wie heute das Handeln vor Ort theoretisch einordnen möchte, es hatte eine unübersehbare Langzeitwirkung. Wie vieles andere

49 Vgl. Drechsler (1995): Die Magdeburger Sozialdemokratie, S. 160–169. 50 von Saldern (1976): Die Gemeinden, S. 317ff. 51 Vgl. Ullrich (1999): Die nervöse Großmacht, S. 176.

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kam durch den Ersten Weltkrieg die kommunalpolitische Arbeit der Sozialdemokratie fast zum Erliegen. Mitgliederschwund, Burgfrieden und Versorgungsprobleme verschoben die Prioritäten zwangsläufig. Unter völlig veränderten Bedingungen konnte nach dem Krieg an bestehende Strukturen angeknüpft werden. Wie erfolgreich und langwirkend die Arbeit letztlich war, verdeutlicht vor allem der Umstand, dass Magdeburg in der gesamten Zeit der Weimarer Republik von sozialdemokratischen Oberbürgermeistern regiert wurde. Das ist umso bedeutender, wenn man bedenkt, dass das nur in wenigen anderen Großstädte der Fall war.52 LITERATUR Abmeier, Hans-Ludwig: Landsberg, Otto. In: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 514f. [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd116681616.html#ndbcontent Asmus, Helmut: 1200 Jahre Magdeburg. Von der Kaiserpfalz zur Landeshauptstadt. Eine Stadtgeschichte, Bd. 3: Die Jahre 1848 bis zur Gegenwart, Halberstadt 2005. Beims, Hermann: Die Sozialdemokratie in der Stadtverwaltung Magdeburg. In: Parteitagskomitee (Hrsg.): Die rote Stadt im roten Land. Ein Buch über das Werden und Wirken der Sozialdemokratie in der Stadt Magdeburg und dem Bezirk Magdeburg-Anhalt. Sozialdemokratischer Parteitag, Magdeburg 1929, S. 13–38. Drechsler, Ingrun: Allen Gewalten zum Trotz. Hermann Beims Weg an die Spitze des Magistrats. In: Meckel, Ernst Eugen (Hrsg.): Hermann Beims, Magdeburgs großer Oberbürgermeister 1919–1931, Bonn 1992, S. 7–17. Drechsler, Ingrun: Die Magdeburger Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, Oschersleben 1995. Drechsler, Ingrun: Tessendorf, Hermann Ernst Christian. In: Heinrich, Guido / Schandera, Gunter (Hrsg.): Magdeburger biographisches Lexikon. 19. und 20. Jahrhundert. Biographisches Lexikon für die Landeshauptstadt Magdeburg und die Landkreise Bördekreis, Jerichower Land, Ohrekreis und Schönebeck, Magdeburg 2002, S. 718. Grünthal, Günther: Historische Perspektiven Sozialdemokratischer Kommunalpolitik. In: Stadtarchiv Chemnitz (Hrsg.): Beiträge zur Stadtgeschichte von Chemnitz. (Aus dem Stadtarchiv Chemnitz, Bd. 3), Radebeul 1999, S. 77–99. Herlemann, Beatrix: Wittmaack, Ernst. In: Heinrich, Guido / Schandera, Gunter (Hrsg.): Magdeburger biographisches Lexikon. 19. und 20. Jahrhundert. Biographisches Lexikon für die Landeshauptstadt Magdeburg und die Landkreise Bördekreis, Jerichower Land, Ohrekreis und Schönebeck, Magdeburg 2002, S. 813f. Krapf, Manfred: Die letzten Bastionen? Die deutsche Sozialdemokratie in den Städten und Kreisen, Baden-Baden 2019. Kotowski, Georg: Brandes, Alwin. In: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 520 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd122898257.html#ndbcontent Landsberg, Otto: Erinnerungen. In: Parteitags-Komitee, Sozialdemokratische Partei Deutschlands / Bezirksverband Magdeburg (Hrsg.): Von Fehden und Kämpfen. Bilder aus der Geschichte der Arbeiterbewegung Magdeburgs. Sozialdemokratischer Parteitag Magdeburg 1910, Magdeburg 1910, S. 36–40 Lehnert, Detlef: Die politische Entwicklung Magdeburgsvor der Wahl der Sozialdemokraten Hermann Beims zum Oberbürgermeister. In: Köster, Gabriele / Poenicke, Cornelia / Volkmar,

52 Vgl. Naßmacher (1977): Einleitung, S. 12.

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Christoph (Hrsg.): Die Ära Beims in Magdeburg. Ein Oberbürgermeister als Wegbereiter der Moderne, Halle (Saale) 2021, S. 93–116. Mielke Siegfried / Heinz, Stefan: Alwin Brandes (1866–1949). Oppositioneller – Reformer – Widerstandskämpfer, Berlin 2019. Mühlhausen, Walter: Gegen den Reichsfeind. Anmerkungen zur Politik von Staat und Gesellschaft gegenüber der Sozialdemokratie im Kaiserreich. In: Lappenküper, Ulrich (Hrsg.): Otto von Bismarck und das „lange 19. Jahrhundert“ Lebendige Vergangenheit im Spiegel der „Friedrichsruher Beiträge“ 1996–2016, Paderborn 2017. Müller, August: Magdeburger Polizei und Justiz. In: Parteitags-Komitee, Sozialdemokratische Partei Deutschlands / Bezirksverband Magdeburg (Hrsg.): Von Fehden und Kämpfen. Bilder aus der Geschichte der Arbeiterbewegung Magdeburgs. Sozialdemokratischer Parteitag Magdeburg 1910, Magdeburg 1910, S. 17–35 Naßmacher, Karl-Heinz: Einleitung. In: ders. (Hrsg.) Kommunalpolitik und Sozialdemokratie. Der Beitrag des demokratischen Sozialismus zur kommunalen Selbstverwaltung, Bonn 1977, S. 12. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1966–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgerwelt, München 2013. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1966–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 2013. Pollmann, Klaus: Sozialdemokratie und Gewerkschaften 1890–1914 in Magdeburg. In: Historische Kommission des SPD-Landesverbandes Sachsen-Anhalt (Hrsg.): 150 Jahre SPD. 150 Jahre Sozialdemokratie im heutigen Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2013, S. 23–31. Rebentisch, Dieter: Die deutsche Sozialdemokratie und die kommunale Selbstverwaltung. Ein Überblick über Programmdiskussionen und Organisationsproblematik 1890–1975. In: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 25 (1985), S. 1–78. Regener, Ralf: Die Magdeburger Sozialdemokratie in der Zeit der Sozialistengesetze. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 27 (2020), S. 49–56. Richter, Hedwig: Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, Berlin 2021. Ritter, Gerhard A. / Tenfelde, Klaus: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914. (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 5), Bonn 1992. von Saldern, Adelheid: Die Gemeinde in Theorie und Praxis der Deutschen Arbeiterorganisationen 1863–1920. Ein Überblick. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 12 (1976), S. 295–352. von Saldern, Adelheid: Sozialdemokratische Kommunalpolitik in Wilhelminischer Zeit. Die Bedeutung der Kommunalpolitik für die Durchsetzung des Reformismus in der SPD. In: Kommunalpolitik und Sozialdemokratie. Der Beitrag des demokratischen Sozialismus zur kommunalen Selbstverwaltung, hg. v. Karl-Heinz Naßmacher, Bonn / Bad Godesberg 1977, S. 18–62. Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871– 1918, Frankfurt am Main 1999. Wittmaack, Ernst: Magdeburgs Parteibewegung. In: Parteitagskomitee (Hrsg.): Die rote Stadt im roten Land. Ein Buch über das Werden und Wirken der Sozialdemokratie in der Stadt Magdeburg und dem Bezirk Magdeburg-Anhalt. Sozialdemokratischer Parteitag, Magdeburg 1929, S. 39–54. Wittmaack, Ernst: Die Volksstimme, In: Parteitags-Komitee, Sozialdemokratische Partei Deutschlands / Bezirksverband Magdeburg (Hrsg.): Von Fehden und Kämpfen. Bilder aus der Geschichte der Arbeiterbewegung Magdeburgs. Sozialdemokratischer Parteitag Magdeburg 1910, Magdeburg 1910, S. 52–58.

„STADTMÜTTER WERDEN“ Die Modernisierung städtischer Gemeinden im Kaiserreich durch die bürgerliche Frauenbewegung Kerstin Wolff Dass die Politik bzw. das Staatsleben im 19. Jahrhundert eine rein männliche Angelegenheit war, betonen nicht nur heutige Historiker und Historikerinnen. Auch Zeitgenossen fanden klare Worte, um die Beziehung von Frauen zum Staat bzw. zur Politik zu beschreiben. So stellte der Jurist und Staatstheoretiker Johann Caspar Bluntschli 1870 im Deutschen Staats-Wörterbuch klar: Hauptgründe [für die Nichtbeteiligung von Frauen am Staatsleben; K.W.] sind die herkömmliche Sitte aller Völker, welche den Staat, der unzweifelhaft ein männliches Wesen ist, als auch die Aufgabe und Sorge der Männer betrachtet, und die Bestimmung der Frauen vorzugsweise in der Familie sucht. [...] man ist überzeugt, daß die unmittelbare Theilnahme an den Staatsgeschäften unweiblich, für den Staat gefährlich und für die Frauen verderblich wäre. 1

Die Definition des Staates als männliches Wesen wurde dabei von der Vorstellung flankiert, dass alleine durch den Akt der Wahl, also durch die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte, entweder die Frauen oder der gesamte Staat zu Schaden kommen könnten. So polemisierte zum Beispiel der Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation gegen die Bestrebungen, das Frauenwahlrecht einzuführen, mit dem Argument, das Staatsleben würde auf einer ‚natürlichen‘ Arbeitsteilung der Geschlechter aufgebaut sein. In den Worten des Bundes: Die menschliche Kultur, wie wir sie heute haben, beruht auf der naturgemäßen Arbeitsteilung, nach welcher die Männer in Gemeinde und Staat, die Frauen in Haus und Familie die verantwortliche Arbeit leisten. Die Mannweiber, die das Frauenstimmrecht fordern, werden unsere Kultur zu einer Suffragettenkultur degradieren. 2

Aus diesen Äußerungen und der Tatsache, dass Frauen bis 1919 sowohl vom aktiven als auch vom passiven Wahlrecht vor allem auf Reichstagsebene ausgeschlossen waren, wird häufig geschlossen, dass Frauen generell von einer politischen Partizipation ausgeschlossen waren. In der Literatur ist dann zu lesen: „Im Gegensatz zu Männern, die auch bei geringem Verdienst zumindest an den Reichs- und Landtagswahlen teilnehmen konnten, waren Frauen von der politischen Partizipation bis zum

1 2

Bluntschli (1870): Staats-Wörterbuch, S. 130. Langemann (1913): Bekämpfung der Frauenemanzipation, S. 12

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Kerstin Wolff Ende des Kaiserreichs gänzlich ausgeschlossen. Sie besaßen weder das kommunale noch das nationale Wahlrecht.“3

Oder ein anderer Autor: „Zumeist blieben Frauen vom städtischen Bürgerrecht ausgeschlossen [...]. Hier [im Ausschluss der Frauen vom aktiven Wahlrecht; K.W.] zeigt sich die partielle Exklusion der Frauen aus dem bürgerlichen Klassenverband in aller Schärfe: Frauen galten als politisch unmündig, sie wurden deshalb von der städtischen Selbstverwaltung ausgeschlossen.“4 Bei genauerer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass hier nicht ein Ausschluss von Frauen vom Politischen insgesamt beschrieben wird, sondern lediglich der Ausschluss von der Wahlhandlung. Damit wird der Prozess der demokratischen Willensbildung und der politischen Partizipation auf den Wahlakt reduziert und ignoriert, dass das Wählen als Ausdruck demokratischer Willensbildung erst im 19. Jahrhundert herausgebildet wurde und es vielfache Ausschlüsse gab, die nicht nur Frauen betrafen – das bekannteste Beispiel ist hier sicher das preußische Dreiklassenwahlrecht. Hedwig Richter hat in ihren Arbeiten zur Entwicklung von Wahlen im 19. Jahrhundert in Preußen diese Entwicklung nachgezeichnet. Sie konnte zeigen, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Wahl in Preußen eine aufwändige Sache war, die auch schon mal mehrere Tage dauern konnte und von den Wahlberechtigten nicht als ein Recht, sondern als eine lästige Pflicht verstanden wurde. „Die Wahlen waren eine Bürde. Der Gottesdienst, die Predigt, die Wahl des Wahlvorstandes, die aufwändigen Wahlverfahren […] all das ließ die Wahlen zu einer nicht enden wollenden Veranstaltung werden. Die Wahlhandlung in den preußischen Kirchen dehnten sich meist auf vier bis fünf Stunden aus.“ Die Folge waren Wahlverdruss und eine „Gleichgültigkeit bei dem Wahlgeschäft.“5 Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts gelang es dem Staat, der auf die Legitimität durch Wahlen immer mehr angewiesen war, die Wahlhandlung so zu gestalten, dass sich immer mehr [bürgerliche] Männer bereitfanden, an diesen teilzunehmen. Als das Männerwahlrecht allerdings immer inklusiver wurde – 1871 wurde im Deutschen Kaiserreich ein sehr fortschrittliches allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Reichstagswahlrecht für alle männlichen Deutschen über 25 Jahre eingeführt – wurde der Ausschluss von Frauen erklärungsbedürftig. Hier war es die immer schlagkräftiger werdende bürgerliche Frauenbewegung, die spätestens ab den 1890er Jahren durch ihre Debatten um ein inklusives Wahlrecht die Idee des reinen Männerwahlrechts unter Druck setzte. Allerdings war es argumentativ nicht leicht und von Teilen einer konservativ geprägten Frauenbewegung auch nicht per se angestrebt, die Idee der Wahlunmündigkeit aller Frauen auszuhebeln. Zu tief saßen die Vorurteile gegen die ‚Frau auf der Straße‘, die ‚falsch wählen‘ würde – was in der damaligen Zeit bedeutete, sie würde ihre Stimme der SPD geben.

3 4 5

Bartelsheim (1997): Bürgersinn und Parteiinteresse, S. 332. Schmuhl (1995): Die Herren der Stadt, S. 40. Richter (2020): Demokratie, S. 41f.

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So ist die Antwort auf die Frage, warum Wahlen – von Ausnahmen abgesehen – eine reine Männersache blieben, vielschichtig. […] Der Wahlakt gewann ebenso wie das jeweilige Staatskonzept und wie Herrschaft überhaupt durch seine Identifizierung mit Männlichkeit grundsätzlich an Bedeutung und Attraktivität. Zugleich trugen Wahlen mit ihrer evidenten Männlichkeit zur Reproduktion der sozialen Geschlechterordnung bei.6

Aber zurück zur städtischen Gemeinde, die im Folgenden im Zentrum der Betrachtung stehen soll. 1. DIE STÄDTISCHE GEMEINDE ALS FRAUENPOLITISCHE AUSGANGSBASIS Stadtgemeinden im 19. Jahrhundert zu untersuchen ist leider – bis heute – kein boomendes Forschungsfeld. Birgitta Bader-Zaar führt dafür – neben einer durchaus schwierigen Quellenlage – als Grund an, „kommunale Mitbestimmung sei eine eher unpolitische und damit konservative Forderung.“7 Dabei erweist sich die Mikroebene als politisch interessanter und vielfältiger als gedacht. Dies gilt auch für das kommunale Wahlrecht, in dem häufig „weniger das Geschlecht als Vermögen, Einkommen und Bildung definierten, wer wählen durfte und wer nicht.“8 Zu beobachten ist zum Beispiel, dass es kommunale Wahlverordnungen gab die Frauen nicht prinzipiell ausschlossen. Lokale Rechte konnten dem parlamentarischen Recht also vorausgehen – ein Phänomen, welches sich durchaus auch in mehreren US-amerikanischen Bundesstaaten und außerhalb von Europa zeigte – so Bader-Zaar. Neben diesem historisch-analytischen Zugang zum politischen Raum der Kommune bietet die Untersuchung der konkreten Praxis von zeitgenössisch engagierten Frauen vor Ort eine ergänzende Perspektive. Durch eine solche Untersuchung wird es möglich, verschiedene Stadt-Räume und – damit verbunden – verschiedene Politik-Räume (wie beispielsweise das Arbeiten in einem (Frauen)verein oder das ehrenamtliche Engagement in einem städtischen Gremium) aufzuzeigen. Dieses Verständnis von Raum ermöglicht einen genaueren Blick auf die gesellschaftlichen Gruppen, die in einem Ort durch ihre Handlungen einen Raum herstellen und ihn mit Ideen und Aktionen gestalten. So verstanden wird die Gemeinde ein politischer Utopieort, in dem ausprobiert werden konnte, wie eine geschlechtsspezifisch gleichwertig gedachte Stadtgemeinde aussehen konnte. Als Trägerinnen dieser Versuche treten die thematisch breit aufgestellten bürgerlichen Frauenvereine auf. Sie gründeten Altenheime und Kindergärten, stifteten Krankenhäuser, betrieben Lesehallen und Mittagstische – alles Unternehmungen praktischer Kommunalpolitik. Was also passierte in den Kommunen des 19. Jahrhunderts genau und warum engagierte sich vor allem die bürgerliche Frauenbewegung hier so dauerhaft?

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Richter (2020): Demokratie, S. 227. Bader-Zaar (2018): Politische Rechte von Frauen, S. 79. Ebd.

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Elena Frank und Ralf Vandamme definierten im Jahr 2017 Kommunalpolitik als „Möglichkeit, das eigene Lebensumfeld [...] zu gestalten – als aktiver Bürger, als gewählter Repräsentant in der Politik bzw. Gemeindevertretung oder als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter der Verwaltung.“9 Sie weisen damit auf eines der wichtigsten Charakteristika von Kommunalpolitik hin, die Möglichkeit der eigenständigen Gestaltung des Wohn- und Lebensortes. Die historische Entwicklung der Kommunalpolitik ist in Deutschland eng mit der Steinschen Städteordnung von 1808 verknüpft. Kern der damals angestoßenen Kommunalreform war der Ausbau einer effektiven Verwaltung, die einerseits dazu beitragen sollte, die Stellung Preußens zu stärken aber auch „den ‚Charakter der Nation durch die Verwaltung‘ zu bilden.“10 Der kommunalen Selbstverwaltung und seiner Trägerin, dem liberalen Bürgertum, kam in diesem Prozess eine wichtige Rolle zu. Sie war es, die den Urbanisierungs- und Modernisierungsdruck ab der Mitte des 19. Jahrhunderts steuerte und damit politisch immer mehr an Bedeutung gewann. Interessant ist hierbei, dass sich die Aufgaben der städtischen Verwaltungen ab der Reichsgründung noch einmal vervielfältigten. Der Aufbau städtischer Eigenbetriebe wie Gas- und Wasserwerke, aber auch die Herstellung der technischen Infrastruktur einer Stadt wie Ab- und Brauchwasserversorgung, Schlacht- und Viehhöfe und der Beginn des Öffentlichen Personennahverkehrs sind hier zu verzeichnen. Dieser Aufbau, der gleichzeitig eine Modernisierung war, war dringend notwendig, denn die Bevölkerung wuchs in dieser Phase sprunghaft an. Zwischen 1871 und 1910 wuchs die Gesellschaft um 24 auf 65 Millionen, wobei es die Städte waren, die am stärksten wuchsen. So stieg der Anteil der Stadtbevölkerung zwischen 1871 und 1910 von 36 % auf 60 %, die Großstadtbevölkerung von 4,8 % auf 21,3 %.11 Die Hauptlast schulterten dabei die Kommunen, deren „Leistungsfähigkeit […] nun auch im Ausland, etwa in den USA, wahrgenommen [wurde; K.W.]. Damit waren die Städte und Kommunen noch vor dem Ersten Weltkrieg zu Schrittmachern auf dem Weg in den Sozialstaat geworden.“12 Welchen Anteil an dieser Modernisierung hatten nun Frauen? Bei einem oberflächlichen Blick mag diese Frage erstaunen, denn Frauen waren – qua Geschlecht – komplett von der städtischen Selbstverwaltung ausgeschlossen. Sie hatten (in den meisten Fällen) kein kommunales Wahlrecht und konnten somit nicht in die Stadtverordnetenversammlungen einziehen. Außerdem wurden sie erst langsam als Mitarbeiterinnen in die städtische Verwaltung aufgenommen. Weitet man aber den retrospektiven Blick und inkludiert „institutionell weniger verfestigte Partizipationsformen“13, ergibt sich ein radikaler Perspektivwechsel, „eine andere Auffassung von Politik und politischem Handeln und eine Umkehr der ‚Relevanzhierarchie‘ der historischen Forschung“.14 Notwendig ist dafür ein vertiefter Blick auf 9 10 11 12 13 14

Frank / Vandamme (2017): Was ist Kommune? Hildebrandt (2017): Selbstverwaltung. Zu den Zahlen siehe: Häussermann (2012): Verstädterung. Hildebrandt (2017): Selbstverwaltung. Kühne (1998): Staatspolitik, S. 184. Lipp (1986): Schimpfende Weiber, S. 8.

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die Praxis der Kommunen, darauf, wie der Prozess der Modernisierung hin zum Wohlfahrtsstaat genau ablief. Hier gerät die bürgerliche Frauenbewegung in den Fokus, die sich bereits ab den späten 1860er Jahren aufgemacht hatte, die Kommune umzugestalten. Wie sie dies machte und welche Erfolge sie damit aufweisen konnte, illustriere ich im Folgenden anhand eines Beispiels aus der Stadt Kassel. 2. DER CASSELER FRAUENBILDUNGSVEREIN UND SEINE KOMMUNALE SCHULPOLITIK15 In der Zeitschrift Der Frauen-Anwalt findet sich Anfang des Jahres 1870 ein Artikel der Kasselerin Marie Calm: Cassel, im Februar 1870. In Folge der Generalversammlung des Allg. d. Frauenvereines dahier [sic] wurde im Oktober vorigen Jahres ein Frauenbildungsverein in hiesiger Stadt gegründet, der von etwa 46 Frauen ausgehend, jetzt bereits eine Mitgliedschaft von mehr als 100 Frauen erreicht hat. [...] Durch die hier abgehaltene Versammlung war die Frauenbewegung geweckt, die Ansichten darüber geklärt worden und das einzelne Glied fand in der Kette des Vereins Muth und Kraft das als gut und notwendig Erkannte auch zur That werden zu lassen. 16

Diesen wenigen Sätzen ist zu entnehmen, dass sich bereits vier Jahre nach der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) in Leipzig der Casseler Frauenbildungsverein (CFBV) gegründet hatte, und zwar in Folge der dritten Generalversammlung des ADF. Der ADF kann als erster reichsweit agierender Frauenverein der bürgerlichen Frauenbewegung bezeichnet werden, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, „für die erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen mit vereinten Kräften zu wirken“ – so Paragraf I der Vereinssatzung.17 Bereits bei der Gründung war festgelegt worden, dass es zu jährlichen Vereinsversammlungen in wechselnden Städten – den sogenannten Wanderversammlungen – kommen sollte. Dieser Vorschlag des Zentralvereins, der darauf abzielte, die Idee des neuartigen Frauenvereins in das gesamte Land zu tragen, erwies sich als wichtiger Motor des ADF bzw. der gesamten Frauenbewegung in Deutschland. Kassel als Gründungsort war nicht zufällig ausgewählt worden. Bereits 1867, auf der Generalversammlung in Leipzig, war Marie Calm in den Ausschuss des ADF gewählt worden. Diese Verbindung war es, die die Einladung nach Kassel im Jahr 1869 ermöglichte. Calm lenkte auch in den nächsten 17 Jahren die Geschicke

15 Ich konzentriere mich in diesem Aufsatz bewusst auf die bürgerliche Frauenbewegung und ihre kommunalpolitische Arbeit. Die proletarische Frauenbewegung gemeinsam mit der Sozialdemokratie zeigten recht lange ein fast völliges Desinteresse an einer kommunalpolitischen Arbeit, was sicher auch mit der absoluten Vorrangstellung der Liberalen in den Gemeinden, die durch die geltenden Gemeindewahlordnungen abgesichert wurde, zusammenhing. Siehe: Wolff (2003): Stadtmütter, S. 85f. 16 Calm (1870/71): Correspondenzen, S. 33. 17 Otto-Peters (1866): Das Recht, S. 8.

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des CFBV. Sie lebte als Schriftstellerin und Lehrerin in der Stadt, war in engem Kontakt mit Louise Otto-Peters, Auguste Schmidt und Henriette Goldschmidt und wird in Anna Plothows Band: Die Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung als „der gute Genius des Allgemeinen deutschen Frauenvereins“ bezeichnet. Marie Calm war zeitweise im Gesamtvorstand des ADF vertreten und organisierte die Wanderversammlungen mit. Ihr Talent war, „die Geister und Herzen willig [zu machen; K.W.], die Saat der neuen Gedanken aufzunehmen“18, so ebenfalls bei Plothow nachzulesen. In Kassel trafen sich die Frauen in den ‚bescheidenen Räumen‘ des ArbeiterFortbildungsvereins – eine interessante Ortswahl, die darauf verweist, dass in den 1860er Jahren die Idee der Verknüpfung von Frauen- und Arbeiteremanzipation unter den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen noch lebendig war. Dies betonte auch Louise Otto-Peters, die in ihrer Rede in Kassel ausführte: Als ich unter das Programm dieser Versammlung das Wort schreiben konnte: im Saale des Arbeiterbildungsvereins, da ward mir schon damit eine besondere Freude, ich nahm das Wort als ein Zeichen guter Vorbedeutung! Wir stellen uns auf die Seite der Arbeit und der Arbeiter, wir proklamieren die Heiligkeit der Arbeit und der Bildung auch für die Frau und wir dürfen hoffen, daß diejenigen Arbeiter, in deren Lokal wir tagen, in uns keine gefährlichen Konkurrentinnen sehen, sondern Schwestern, die gerade so wie sie ein Recht haben, an die Verbesserung ihrer Lage zu denken, Hand in Hand mit ihnen. 19

Mit dem CFBV, der in den nächsten Jahren eine Reihe von weiblichen Bildungseinrichtungen gründete, setzte in der Stadt eine Entwicklung ein, die die schulischen und außerschulischen Ausbildungsmöglichkeiten junger Frauen und Mädchen massiv verbesserte. Aber nicht nur das. Der Bildungsverein entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer Vernetzungsstelle für vielfältige Frauenaktivitäten in der Stadt. So entstanden aus ihm heraus zahlreiche andere Vereine, die sich anderen kommunalen Aufgaben zuwandten oder weitere Vernetzungen schufen. Darüber hinaus webte der CFBV sehr früh am Netz der reichsweiten Frauenbildungsvereine mit und brachte den Kasselerinnen und Kasselern die Ideen der frühen Frauenbewegung nahe. Oder um es mit Johanna Wäscher aus dem Jahr 1904 zu sagen: „Er [der CFBV; K.W.] wollte den Frauen ‚die neuen Bahnen‘ zeigen und ebnen helfen, auf die sie unerbittlich hingewiesen wurden durch die vollständig veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen der Zeit, die tausende von Frauen zwang, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen.“20

Der CFBV wuchs in den ersten Jahren stark an und hatte um die Jahrhundertwende etwa 350 Mitglieder. Als seine Aufgabe sah er es an, „die geistigen Interessen der Frauen zu fördern; er wollte den Frauen Gelegenheit bieten, sich für einen Lebensberuf tüchtig zu machen, um die notwendige wirtschaftliche Selbständigkeit

18 Plothow (o.J.): Die Begründerinnen, S. 67. 19 Rede von Louise Otto-Peters, nachgewiesen in: Boetcher-Joeres (1983): Anfänge deutsche Frauenbewegung, S. 199. Hervorhebungen im Original. 20 Wäscher (1904): Casseler Frauenvereine, S. 236.

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zu erlangen, die zur inneren Selbständigkeit, zur Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit die notwendige Grundlage bietet.“21

In Kassel gab es Mitte des 19. Jahrhunderts ca. 3.500 Mädchen zwischen fünf und 14 Jahren. Die Freischule – also eine Volksschule ohne Schulgeldpflicht – wurde von 550 Mädchen besucht. Auf der öffentlichen Töchterschule / Bürgertöchterschule befanden sich weitere etwa 1.000 Schülerinnen und noch einmal knapp 600 auf privaten Mädchenschulen.22 Der Unterricht war an allen Schulen gleichermaßen auf die Vorbereitung auf Ehe und Familie ausgerichtet. Hier setzte der CFBV an, der diesen Schulen eine klar emanzipatorische Frauenbildungspolitik entgegensetzte. Der CFBV gründete eine Fachschule für confirmierte Mädchen, die bereits am 1. Februar 1870 im ehemaligen Bährschen Hause in der Marktgasse ihre Arbeit aufnehmen konnte. Zu Beginn ihrer Arbeit hatte die Schule noch mit schwerwiegenden Vorurteilen zu kämpfen, was aus dem Bericht des CFBV aus dem Jahr 1872 deutlich wird. „Die Aufgabe, die man sich gesetzt, war nicht leicht; vor allem galt es, die öffentliche Meinung, die in vielen Kreisen der Gesellschaft noch gegen die Bestrebungen des Vereins eingenommen war, zu Gunsten derselben umzustimmen.“23 Für die Akzeptanz in der EinwohnerInnenschaft war es sicher sehr hilfreich, dass der CFBV immer eng mit der Stadt Kassel, dem Kommunallandtag und der ‚königlichen Regierung‘ zusammenarbeitete. Konkret bedeutete das, dass es neben laufenden Zuschüssen der Stadt zu den Unterhaltskosten von verschiedenen Seiten immer wieder finanzielle Zuwendungen für einzelne Ausbildungszweige oder etwa die Übernahme der Kosten für einzelne Schülerinnen gab, um Freiplätze für Mädchen aus ärmeren Familien zu schaffen. Die Berichte des CFBV, die für den gesamten Zeitraum fast vollständig vorliegen, vermitteln das Bild einer harmonischen und produktiven Zusammenarbeit mit allen zuständigen Behörden. Der CFBV entwickelte im Laufe der Jahrzehnte sieben Abteilungen, die sich in vier thematische Richtungen zusammenfassen lassen: Hauswirtschaft und Handarbeiten, Erziehung (Fröbel-Pädagogik), gewerbliche und kaufmännische Ausbildung und schließlich die Lehrerinnenausbildung. Den Anfang und das Herzstück bildeten Handarbeiten und Hauswirtschaft. Sowohl Marie Calm als auch Auguste Förster, die 1887 deren Nachfolge im CFBV antrat, waren von der Notwendigkeit fundierter hauswirtschaftlicher Kenntnisse für Mädchen überzeugt. Damit sollten sie nicht nur in die Lage versetzt werden, den eigenen Haushalt zu managen. Vielmehr sahen die Aktivistinnen des CFBV auf diesem Gebiet am ehesten die Chance, Einstiege in den Arbeitsmarkt zu schaffen – sprich: Möglichkeiten für Mädchen und Frauen zu erschließen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der CFBV richtete konsequenterweise nicht nur eine Fachschule für Handarbeiten und eine Kochschule ein, sondern er ergriff auch praktische Maßnahmen für die Zeit nach der Ausbildung. Die Schülerinnen der Kochschule boten einen ‚Mittagstisch für berufstätige Damen‘ an, präsentierten also ihre Erzeugnisse direkt der Öffentlich-

21 Ebd., S. 136. 22 Wahlfeldt / Willerding (1987): Mädchenbildung, S. 27ff. 23 Wäscher (1904): Casseler Frauenvereine, S. 4.

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keit und waren damit als Könnerinnen ihres Faches wahrnehmbar. Dieser Mittagstisch trug nicht unerheblich zur Finanzierung der Kochschule bei. Mit der Konzentration auf die hauswirtschaftlichen Qualifikationen befand sich der CFBV ideologisch in Übereinstimmung mit dem Gros der bürgerlichen Frauenbewegung, wonach der ‚natürliche‘ Beruf ‚der Frau‘ auf ihre Berufstätigkeit und ihren Einsatz für die Gemeinschaft ausgedehnt werden sollte. Um dies zu erreichen, mischte sich die Schulleiterin Auguste Förster über den Verein hinaus in die Diskussion um Unterrichtsinhalte an den Volksschulen ein. Aus der Überzeugung, dass gerade für Mädchen aus Arbeiterfamilien hauswirtschaftliche Kenntnisse wichtig seien, um mit wenig Geld einen Haushalt organisieren zu können, erreichte sie 1896, dass in einer Art Modellprojekt Hauswirtschaft als Pflichtfach für alle Mädchen in den Kasseler Volksschulen eingeführt wurde. Dies wurde in der Fachwelt sehr skeptisch betrachtet, der Versuch wurde aber so erfolgreich von der Bevölkerung angenommen, dass die Bestimmung auf ganz Preußen ausgedehnt wurde. Doch bei allem Engagement von Auguste Förster ging es im CFBV nicht ausschließlich um Hauswirtschaft. Bereits ab 1886 hatte er sich der erzieherischen Ausbildung zugewandt und richtete mit dem an der Organisation des PestalozziFröbel-Hauses in Berlin orientierten Kinderhort seine zweite Abteilung ein. Der Hort sollte einerseits die Berufstätigkeit von Frauen fördern, indem er Müttern die Möglichkeit bot, ihre Kinder tagsüber dort in Obhut zu geben. Auf der anderen Seite diente er der praktischen Ausbildung von Erzieherinnen. Daraus entstand im Laufe der nächsten Jahrzehnte eine Erzieherinnenausbildungsstätte, die – später in Trägerschaft der Stadt – bis in die 1990er Jahre bestehen blieb. Im Jahr 1911 konnte der Kinderhort dann sogar in ein eigenes Haus umziehen, welches die Frauen des CFBV hatten erbauen lassen. Die Stadt Kassel hatte für den Kinderhort ein Grundstück zur Verfügung gestellt, bei einem großangelegten Kornblumenverkauf an Kaisers Geburtstag wurden 32.000 Mark eingenommen, mit denen der Bau finanziert wurde. Die kaufmännische Schule kam 1896 dazu und etablierte einen neuen Ausbildungszweig, der auf den rasanten Anstieg kaufmännischer Berufe antwortete. Auch bei dieser Gründung blieben sich die Schulgründerinnen treu und verfolgten einen ganzheitlichen Ansatz. Wie bei der Kochschule wurde auch in der kaufmännischen Schule ein Ladengeschäft eröffnet, in dem Schülerinnen mit den praktischen Tätigkeiten ihres zukünftigen Berufes vertraut gemacht wurden. Die Besucherinnen der kaufmännischen Schule erwerben hierdurch Warenkenntnis, lernen wiegen, messen, packen, Lagerbuch und Kasse führen und treten somit nicht gänzlich unbewandert in das Geschäftsleben ein. Sie stehen den praktischen Anforderungen desselben nicht mehr fremd gegenüber, was nicht zu unterschätzen und von großem Wert für Chef und Angestellte ist,

so nachzulesen in einem Bericht über die Schulen des CFBV aus dem Jahr 1904.24 Der vierte Bereich, die Lehrerinnenausbildung, hatte sich aus der Not heraus entwickelt. Denn von Anfang an hatte der CFBV Probleme, geeignete Lehrerinnen 24 Wäscher (1904): Casseler Frauenvereine, S. 197.

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zu finden. So machte er aus dieser Not eine Tugend und begann 1875 mit der Ausbildung von Handarbeitslehrerinnen, später ergänzt durch Kurse zur Ausbildung von Turn-, Hauswirtschafts- und Gewerbelehrerinnen. 1910 hatte sich aus den einzelnen Kursen ein Lehrerinnenseminar als eigene Ausbildungsstätte entwickelt.

Abb. 1: Die Schule des Casseler Frauenbildungsvereins um 190025

Mit all diesen Einrichtungen unterhielt der CFBV zu Anfang des 20. Jahrhunderts insgesamt sieben Abteilungen, in denen Mädchen und Frauen Qualifikationen erwerben konnten, die ihnen ermöglichten, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu sichern. Damit verfolgte der CFBV ein dezidiert emanzipatorisches Ziel, nämlich das Selbstständigwerden junger Frauen in einem Beruf, sei es als Lehrerin, kaufmännische Angestellte oder als verheiratete Ehefrau und Mutter, die dank ihrer guten Ausbildung verstand, ihren Beruf auszufüllen und zu meistern. Die Macherinnen des CFBV setzten aber nicht nur auf die nachwachsende Generation, sondern hatten auch ihre eigenen Mitglieder und deren (Weiter)Bildung im Blick. So stellte der CFBV alljährlich ein breites und interessantes Vortragsprogramm zusammen. Es waren wohl diese Vorträge, die den Verein in der Stadt als Veranstaltungsort bekannt machten. Berühmte auswärtige Rednerinnen und Redner wechselten sich mit Vortragenden aus Kassel ab und so entstand im Laufe der Jahrzehnte mit dem CFBV ein Bildungsort nicht nur für Eingeweihte und Frauenrechtlerinnen. Der

25 kollegium der elisabeth-knipping-schule (1970): Elisabeth-Knipping-Schule, S. 10 (FotografIn unbekannt).

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Frauenverein war mit dieser Politik so erfolgreich, dass er 1892 an den Bau eines eigenen Hauses in der Gießbergstraße gehen konnte, welches bereits 1894 (zum 25jährigen Jubiläum des Vereins) fertiggestellt werden konnte. Mit 53 Räumen und drei Sälen wurde dieses beeindruckende Haus Sitz und Tagungsort vieler weiterer Vereine, etwa des Kaufmännischen Vereins für weibliche Angestellte, des Vereins Frauenbildung–Frauenstudium, aber auch eines Stenographinnenkränzchens und eines Damengesangvereins. Für etwa 25 Jahre war die Adresse Gießbergstraße 13 Dreh- und Angelpunkt des weiblichen Vereinslebens in Kassel. Dieses reiche Ensemble an Frauenvereinen endete 1919/20 erstaunlich unspektakulär. Der Frauenbildungsverein (und viele seiner Satellitinnen) ist offensichtlich aufgelöst worden. Es gibt darüber keinerlei erhaltene Dokumente, er taucht einfach in den Adressbüchern nicht mehr auf. Hierfür sind vermutlich mehrere Gründe ausschlaggebend gewesen. Einmal der Übergang in die neue Staatsform und die Gewährung des Frauenwahlrechts, welches bei vielen aktiven Frauen zu der Überzeugung geführt hatte, ihre Ziele seien erreicht und weitere Vereinstätigkeit nicht mehr erforderlich. Darüber hinaus darf aber auch nicht übersehen werden, dass durch den Ersten Weltkrieg bei vielen bürgerlichen Familien finanzielle Ressourcen vernichtet wurden, auf deren Grundlage das ehrenamtliche Engagement vieler Frauen beruhte. Belegt ist, dass der CFBV im Laufe des Ersten Weltkrieges in große finanzielle Schwierigkeiten geriet. 1917 wurde die Fachschule wegen Materialmangels geschlossen, 1918 wurde für den Kinderhort ein eigener Verein gegründet; später wurde er von der Stadt übernommen und zusammen mit der Erzieherinnenausbildung als Auguste-Förster-Haus weitergeführt. 1920 ging die Fachschule dann in städtische Trägerschaft über. Alle diese Einrichtungen haben noch viele Jahrzehnte weiterexistiert, die Fachschule – heute allerdings mit sehr viel breiterem Angebot und als koedukative Schule – gibt es heute noch, seit 1956 trägt sie den Namen Elisabeth Knippings, die von 1912 bis 1933 Direktorin war und in deren Händen wohl die Abwicklung des Vereins und die Übergabe an die Stadt gelegen hatte.26 3. AUF- UND AUSBAU DES WOHLFAHRTSSTAATES So faszinierend die Geschichte des CFBV auch ist, bei genauerer Betrachtung der Entwicklung der Schulpolitik im Kaiserreich wird deutlich, dass der Aufbau dieser Infrastruktur in Kassel nicht singulär war. In fast allen Städten, in denen sich Frauenbildungsvereine als Ortsvereine des ADF gegründet hatten, sind ähnlich Entwicklungen zu verzeichnen.27 Die Frage stellt sich, warum dies so war. Um dies zu verstehen, ist es sinnvoll, noch einmal einen Schritt zurückzutreten und die Aufgaben, die sich den städtischen Gemeinden im 19. Jahrhundert stellten, in die Überlegungen einzubeziehen. Der Historiker Thomas Nipperdey stellte bereits zu Beginn der 1990er Jahre in seiner Deutschen Geschichte fest: „Wie immer es mit der 26 Siehe: ebd. 27 Siehe dazu: Wolff (2019): Respekt.

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Selbstverwaltung auf dem Lande und in den Kreisen oder Provinzen gewesen sein mag, Kernbereich und Höhepunkt der Selbstverwaltung ist die Stadt.“28 Er spielt mit dieser Aussage auf den sich ab den 1850er Jahren immer schneller ausbreitenden Prozess der Urbanisierung an, der den Stadtraum vor allem durch Zuzug aber auch durch eine zunehmende Entmischung der Bevölkerungsschichten – die sich jetzt zunehmend in eigenen Stadtteilen zusammenschlossen – neu strukturierte. Im Zuge dieser Umgestaltung übernahmen die Städte einen „neuen Eigenbereich der Politik“29, der durch die städtische Selbstverwaltung ausgeführt wurde. Die schon länger existierenden Stadtverwaltungen wurden aber in den meisten Fällen von der neuen Aufgabe des Aufbaus einer kommunalen Daseinsfürsorge überrascht. Die Verwaltungsstruktur der meisten Städte unterschieden sich nicht wesentlich von der, die seit der Städteordnung von 1808 aufgebaut worden war und die Stadtverwaltungen sahen ihre Aufgabe darin, das Bestehende zu verwalten. Perspektiven, die in die Zukunft gerichtet waren, sowie weitreichende Veränderungen und Modernisierungen wurden von dieser Seite aus nicht in Betracht gezogen. Durch Industrialisierung und Urbanisierung musste sich dieses Vorgehen allerdings schnellstens ändern, da die Städte sich zunehmend vor neue Aufgaben gestellt sahen. „Die Urbanisierung bedeutete für die kommunale Selbstverwaltung eine entscheidende Stärkung der gemeindlichen Eigenverantwortung in der Verwaltung der lokalen Angelegenheiten, welche durch sie eine so wesentliche Ausweitung erfahren hatte, daß die Gemeinden auch de facto zu einer eigenständigen Gewalt innerhalb des Staates und neben Staat und Reich werden konnten.“30

Diesen Prozess steuerte vor allem das Bürgertum – wie es die Steinschen Städteordnungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits vorgesehen hatten. Allerdings – und diese Selbstverständlichkeit muss hier explizit benannt werden – das Bürgertum bestand aus Männer und aus Frauen gleichermaßen.31 Während die bürgerlichen Männer – häufig unbeeinflusst von anderen Interessensgruppen, die sich aufgrund der sie ausschließenden Wahlordnungen nicht adäquat an der Kommunalpolitik beteiligen konnten – ihren politischen Willen als gewählte Vertreter in den entsprechenden städtischen Gremien durchsetzen konnten, waren es die bürgerlichen Frauen, die durch den Aufbau kommunal wichtiger Infrastruktureinrichtungen die Städte fit für das 20. Jahrhundert machten. Es kann fast von einer Art Teamwork gesprochen werden, denn die Frauenbewegung setzte sich aus Bürgerinnen zusammen, die die Ehefrauen, Schwestern, Töchter, Mütter, Cousinen oder Tanten derjenigen waren, die als (Ober)Bürgermeister, Stadtverordnete, Schulvorsteher oder Verwaltungsmitarbeiter ebenfalls am Aus- und Aufbau der städtischen Kommune

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Nipperdey (1992): Deutsche Geschichte. Band 2, S. 140. Ebd., S. 155 Krabbe (1985): Kommunalpolitik und Industrialisierung, S. 15. Hierzu grundlegend: Habermas (2000): Frauen und Männer.

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arbeiteten.32 Mit den ADF-Aktivistinnen, von denen es hunderte in fast allen Städten des Kaiserreichs gab, treten uns diese selbstbewussten und selbstverständlichen Bürgerinnen in der Kommune entgegen, die ein auf Frauen ausgerichtetes Fürsorgenetz aufbauten, welches sie in den allgemeinen Ausbau der sozialen Infrastruktur der Städte integrierten. Sie nutzten damit die Möglichkeiten, die in den 1870er und 1880er Jahren im Aufbau der Stadtgemeinden lag und beeinflussten diese in ihrem Sinne. Die theoretische Forderung der Berufs- und Ausbildungsfreiheit für das weibliche Geschlecht wurde so praktisch umgesetzt und gleichzeitig der Platz der Bürgerin in der Kommune selbstbewusst besetzt. Die Schulgründungen der Frauenbildungsvereine stellten in den 1870er Jahren einen entscheidenden Modernisierungsschub des Mädchenschulsystems dar; ein Schub, der nicht von städtischer oder staatlicher Seite aus erfolgte, sondern privat aus der Vereinstätigkeit der Frauenbildungsvereine. Spätestens zu Beginn der Weimarer Republik konnten die Städte dann gut funktionierende Schulinfrastrukturen für Mädchen übernehmen, die sie selber nicht aufgebaut hatten. Die hier sichtbar werdende aktive kommunale Aufbauarbeit ist Teil einer städtischen Politik, die in einer gesamtgesellschaftlichen Phase der Fundamentalpolitisierung entstand, verstanden als eine zunehmende politische Partizipation aller Bevölkerungsgruppen, die in Vereinen, in den Medien und in öffentlichen Versammlungen politische Fragen diskutierten und in Eigeninitiative Lösungen für gesamtgesellschaftliche Probleme suchten. Kirsten Heinsohn hat darauf hingewiesen, dass dieser Prozesse nicht nur den männlichen Teil der Bevölkerung erfasste, sondern auch den weiblichen. Der Aufbau kommunaler Strukturen, die die ADF-Ortsgruppen in den 1870er und 1880er Jahren leisteten, sind damit als eine spezifisch weiblich markierte Form der Beteiligung am politischen Ausbau der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, als Ausdruck der Fundamentalpolitisierung von Bürgerinnen, die damit nicht nur Nutznießerinnen dieses Prozesses wurden, sondern ihn auch zugleich weiter anfeuerten.33 Es waren allerdings nicht nur gesamtgesellschaftliche Prozesse, die dazu beitrugen, ein aktives bürgerliches Frauenengagement auf den Weg zu bringen. Diese Art der städtischen Politik wurde bewusst von der bürgerlichen Frauenbewegung propagiert. Bereits auf der dritten Generalversammlung des ADF, die 1868 in Kassel stattfand, hatte Henriette Goldschmidt aus Leipzig auf die Aufgabe der Frauen in den Gemeinden aufmerksam gemacht. Unter dem Titel: Über die Verwendbarkeit der Frauen zu Gemeindeämtern betonte sie in ihrem Vortrag die Notwendigkeit, Frauen Gemeindeämter zu übertragen, „bezahlte wie nicht bezahlte, […] bei den Waisenhäusern, Gefängnissen, Verbesserungsanstalten u.s.w. Dazu bedürfe man die Hilfe der Behörden und vorbereitenden Anstalten und um diese müsse man petitionieren.“34 Sie hoffte durch dieses kommunalpolitische Engagement langfris32 Auf die Tatsache, dass die Frauenbewegung als Projekt (allerdings nicht als Lieblingsprojekt) eines liberalen Bürgertums verstanden werden muss, hat Sylvia Schraut hingewiesen. Siehe: Schraut (2013): Bürgerinnen. 33 Heinsohn (2015): Ambivalente Entwicklungen, S. 40–49. 34 Dritte Generalversammlung (1869), S. 174.

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tig eine Anerkennung als vollumfängliche Staatsbürgerin erreichen zu können. Als Bürgerin machte sie sich hier die Vorstellungen liberaler Staatstheoretiker zunutze, die davon ausgingen, dass die kommunale Arbeit langsam aber sicher auch die Staatsspitze und die Politik des Staates insgesamt verändern würde, denn alle Glieder eines Staates – so Hugo Preuss in den 1880er Jahren – seien wesensgleich und unterschieden sich lediglich in der Größe. Das heißt, dass alle Staatsebenen mit grundsätzlich gleichen Rechten, Pflichten und Funktionen versehen waren. Alles, was demnach auf der Gemeindeebene passierte, setze sich zwangsläufig auch auf der nächsthöheren Ebene fort, so lange, bis diese Entwicklung auch die Staatsspitze ergriffen hatte.35 Diese Idee nutzte die bürgerliche Frauenbewegung nun für ihre eigene Arbeit. Sie nahm an, dass sie durch eine aktive Mitarbeit in der Kommune den langen Weg hin zur vollen staatsbürgerlichen Anerkennung von Frauen gehen könne. Die Kommune wurde damit zu dem Ort, an dem die Frauenbewegung ganz praktisch ‚bewies‘, dass es sinnvoll ist, auch Frauen als Staatsbürgerinnen anzuerkennen. Dies wäre auch deshalb dringend notwendig – so die bürgerliche Frauenbewegung – weil die bisherige Gesellschaft durch die einseitige Bevorzugung des Männlichen eine rein männliche Gesellschaft sei und keine menschliche. Wenn dies geändert werden sollte, müssten Frauen ihren spezifischen Anteil beim Auf- und Ausbau der Gesellschaft einbringen dürfen, denn nur Frauen seien in der Lage, die Gesellschaft ‚weiblicher‘ – und damit ‚ganzheitlich‘ – zu machen. Erst aus der Zusammenarbeit von Männern und Frauen könne eine wahrhaft menschliche Gesellschaft entstehen. Beginnen sollte dieser Prozess in der Kommune, die insofern zu einem politischen Utopieraum wurde, als dass die in ihrem Rahmen geleistete emanzipatorische Arbeit langsam auf den Staat übergehe und diesen dadurch verändere – also eine Art frühem bottum-up Prinzip. Das kommunalpolitische Engagement der bürgerlichen Frauenbewegung ist also ein Ringen um die Gewährung vollumfänglicher Staatsbürgerinnenrechte. Dies machte auch Helene Lange in einem Aufsatz aus dem Jahr 1904 deutlich, in dem sie formulierte, dass nur durch einen langsamen ‚Entwicklungsprozess‘ das politische Stimmrecht der Frau erreicht werden könne. Ausgangspunkt sei dabei die Arbeit in den Kommunen, die langsam ausgedehnt werden sollte. „[U]nd wird einmal der Augenblick gekommen sein, wo die Frau in ihre vollen Bürgerrechte eintritt, so werden unzweifelhaft die heute noch landläufigen Einwände gegen die politische Betätigung der Frau […] auch bei uns als erledigt gelten.“36 Das Engagement der bürgerlichen Frauenbewegung war also nicht nur auf den Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Ziele gerichtet. Vielmehr ging es darum, die volle Staatsbürgerschaft für die weibliche Hälfte der Bevölkerung – idealerweise der gesamten Menschheit – zu ermöglichen. Forschungsarbeiten, die sich mit den Reformen um 1900 beschäftigen, weisen darauf hin, dass der sich im Aufbau befindliche Wohlfahrtsstaat ab den 1890er 35 Preuss (1920): Die Entwicklung, S. 266–286. 36 Lange (1904): Die Frau, S. 533.

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Jahren einen kräftigen Schub erhielt.37 Schulen, Krankenhäuser, Altenheime und Kindergärten wurden durch die Frauenbewegung ebenso gegründet wie Erholungsheime, Lesesäle oder Volksküchen. Diese Einrichtungen, die in vielen Fällen zu Beginn der Weimarer Republik in staatliche Hände übergingen, sind als Elemente eines erstarkenden Wohlfahrtsstaates zu verstehen. Die Aktivistinnen der Frauenbewegung bauten dabei soziale, karitative und auf das weibliche Leben ausgerichtete Fürsorgeeinrichtungen auf und ergänzten damit den als männlich gedachten Staat. Laura Baker spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer ‚domestication of politics‘. Sie versteht darunter die Einbeziehung der ‚häuslichen‘ Sphäre in die Politik (also Bereiche, die zuvor im Privathaushalt angesiedelt waren wie Kranken- und Altenpflege, aber auch Hygienevorschriften oder Lebensmittelkontrollen) und die ‚Zähmung‘ des als männlich gedachten politisch-öffentlichen Einflussbereiches.38 So verstanden ist die kommunalpolitische Arbeit der Frauenbewegung im Kaiserreich sowohl ein emanzipativer Schritt auf dem Weg zur Anerkennung der Staatsbürgerschaft der Frau, als auch ein Engagement für den Wohlfahrtsstaat des 19. und 20. Jahrhunderts – speziell für weibliche Belange. Es zeigt sich damit überdeutlich, dass sich die aktive Stadtbürgerin bereits im 19. Jahrhundert aufgemacht hatte, ihre Gemeinde zu verändern – und das auch ohne nationales Wahlrecht! LITERATUR Bader-Zaar, Birgitta: Politische Rechte für Frauen vor der parlamentarischen Demokratisierung. Das kommunale und regionale Wahlrecht in Deutschland und Österreich im langen 19. Jahrhundert. In: Richter, Hedwig / Wolff, Kerstin (Hrsg.): Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018, S. 77–98. Baker, Paula: The Domestication of Politics. Women and American Political Society, 1780–1920. In: The American Historical Revue 89 (1984), H. 3, S. 620–647. Bartelsheim, Ursula: Bürgersinn und Parteiinteresse. Kommunalpolitik in Frankfurt am Main 1848– 1914, Frankfurt am Main / New York 1997. Bluntschli, Johann Caspar (Hrsg.): Deutsches Staats-Wörterbuch, Bd. 11, München 1870. Boetcher-Joeres, Ruth-Ellen (Hrsg.): Die Anfänge der deutschen Frauenbewegung – Louise OttoPeters, Frankfurt am Main 1983. Calm, Marie: Correspondenzen. In: Der Frauen-Anwalt 1 (1870/71), S. 33. Dritte Generalversammlung des ADF. In: Neue Bahnen 4 (1869), S. 171–175. Frank, Elena / Vandamme, Ralf: Was ist eine Kommune? Zur Bedeutung von Kommunalpolitik heute. In: Informationen zur politischen Bildung 333 (2017), https://www.bpb.de/izpb/257291/ was-ist-eine-kommune-zur-bedeutung-von-kommunalpolitik-heute?p=all. Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850), Göttingen 2000. Häussermann, Hartmut: Verstädterung, https://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaelt nisse-eine-sozialkunde/138635/verstaedterung

37 Zu den Reformbewegungen um 1900 existiert eine breite Literatur, siehe exemplarisch dazu: Kerbs / Reulecke (1998): Handbuch Reformbewegungen; Schröder (2001): Arbeiten für eine besser Welt. 38 Baker (1984): Domestication.

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Heinsohn, Kirsten: Ambivalente Entwicklungen. 150 Jahre Frauenbewegung, Politik und Parteien. In: Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 67/68 (2015), S. 40–49. Hildebrandt, Jens: Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung. In: Informationen zur politischen Bildung 333 (2017), https://www.bpb.de/izpb/257298/geschichte-der-kommunalen-selbstver waltung?p=all Kerbs, Diethart / Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, Wuppertal 1998. kollegium der elisabeth-knipping-schule (Hrsg.): elisabeth-knipping-schule 1870–1970, Kassel 1970. Krabbe, Wolfgang R.: Kommunalpolitik und Industrialisierung. Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Fallstudien zu Dortmund und Münster, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1985. Kühne, Thomas: Staatspolitik, Frauenpolitik, Männerpolitik. Politikgeschichte als Geschlechtergeschichte. In: Medick, Hans / Trepp, Anne-Charlotte (Hrsg.): Geschlechterpolitik und Allgemeine Geschichte, Göttingen 1998, S. 171–231. Lange, Helene: Die Frau als Bürgerin. In: Die Frau 11 (1904), S. 526–535. Langemann, Ludwig: Der deutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation. Seine Aufgaben und seine Arbeit, Berlin 1913. Lipp, Carola (Hrsg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Baden-Baden 1986. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte. 1866–1918, Band 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992. Otto-Peters, Louise: Das Recht der Frauen auf Erwerb. Blicke auf das Frauenleben der Gegenwart, Hamburg 1866. Plothow, Anna: Die Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung, Leipzig o.J. Preuss, Hugo: Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland. In: Anschütz, Gerhard / Berolzheimer, Fritz u.a. (Hrsg.): Handbuch der Politik, 1. Bd.: Die Grundlagen der Politik, Berlin / Leipzig 1920, S. 266–286. Richter, Hedwig: Demokratie – eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2020. Richter, Hedwig / Wolff, Kerstin (Hrsg.): Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018. Schmuhl, Hans-Walter: Die Herren der Stadt. Bürgerliche Eliten und städtische Selbstverwaltung in Nürnberg und Braunschweig vom 18. Jahrhundert bis 1918, Bielefeld 1995. Schröder, Iris: Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt am Main 2001. Schraut, Sylvia: Bürgerinnen im Kaiserreich. Biografie eines Lebensstils, Stuttgart 2013. Wäscher, Johanna: Die Casseler Frauenvereine 1812–1904, Cassel 1904. Wahlfeldt, Andrea / Willerding, Rita: Mädchenbildung in Frauenhand. Der Casseler Frauenbildungsverein 1869 – ein Projekt der bürgerlichen Frauenbewegung, Kassel 1987. Wolff, Kerstin: Respekt für die Provinz! Die ADF-Gründungen in Leipzig, Kassel, Frankfurt am Main, Dresden und Gießen. In: Schötz, Susanne / Berger, Beate (Hrsg.): Frauen in der Geschichte Leipzigs – 150 Jahre Allgemeiner Deutscher Frauenverein, Leipzig 2019, S. 123–150. Wolff, Kerstin: Stadtmütter. Bürgerliche Frauen und ihr Einfluss auf die Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert (1860–1900), Königstein/Taunus 2003. Wolff, Kerstin: „... und frage vergebens nach den Müttern in der Stadt.“ Überlegungen zu weiblichen und männlichen Zugängen zur bürgerlichen Kommunalpolitik. In: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 14 (2002), S. 41–69. Wolff, Kerstin: Unsere Stimme zählt. Die Geschichte des deutschen Frauenwahlrechts, Überlingen 2018.

INTELLEKTUELLE UND RELIGIÖSE MILIEUS

„RADIKALER KONSERVATISMUS“ IM DEUTSCHEN KAISERREICH Ulrich Sieg Der politische Konservatismus besitzt in der Geschichtsschreibung zum „langen neunzehnten Jahrhundert“ keinen guten Leumund. Seine Vertreter gelten als rückwärtsgewandte Interessenwahrer, die aus verstocktem Egoismus die Zeichen der Zeit nicht erkannt und den Demokratisierungsprozess massiv behindert hätten. Hierbei seien sie zu weit gegangen und hätten seit der „ungewollten Revolution“ 1848 (Wolfgang J. Mommsen) menschenverachtende und insbesondere judenfeindliche Positionen nach vorn gespielt. Erst recht gelte dies für die Bismarck-Ära. So sei die Geschichte des modernen Antisemitismus ohne die ausführliche Berücksichtigung konservativer Politiker wie Adolf Stoecker schlechterdings nicht zu schreiben.1 Für diese Perspektive spricht einiges, auch wenn der Kenntnisstand zur deutsch-jüdischen Geschichte im Nachmärz immer noch beklagenswert gering ist. Betrachtet man allerdings die vielen Geschichtswerke zum Kaiserreich genauer, so fällt auf, dass häufig Intellektuelle im Zentrum stehen, die sich nur sehr bedingt als „konservativ“ charakterisieren lassen.2 Einflussreiche Denker ganz unterschiedlicher Couleur verfochten einen tiefschwarzen Kulturpessimismus, der sich mit genuin konservativen Überzeugungen kaum ansatzweise in Einklang bringen lässt. Ihre eigentümlich hermetischen Weltbilder waren nicht zuletzt eine Reaktion auf umfassende Veränderungen in der Gesellschaft. Ungeachtet aller industriellen Dynamik herrschte nach der gescheiterten Märzrevolution in Deutschland ein „Gefühl von ,Vergeblichkeit‘“.3 Man hatte gesehen, welche Kraft der Nationalismus entfalten konnte, wusste aber nicht, sie für die eigenen Zwecke zu nutzen. Klar war lediglich, dass man eine derart tiefgreifende Infragestellung der politischen Verhältnisse nie wieder erleben wollte. Gewiss reichten die Konzepte für eine konservative Partei zurück bis zu den sozialpolitischen Flugschriften des Marburger Romanisten Victor Aimé Huber in den1840er

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Hierzu detailliert Brakelmann / Greschat / Jochmann (1982): Protestantismus und Politik. Eine überzeugende Kartierung des historischen Geländes bietet Pulzer (2004): Entstehung. Dies gilt auch für die bis heute Maßstäbe setzende Darstellung, die vor allem die gewaltige Wirkung Nietzsches herausarbeitet: Nipperdey (1990): Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 686–691 und passim. So treffend Brandt (2002): Europa 1815–1850, S. 212.

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Jahre.4 Doch zur Entstehung des politischen Konservatismus in Preußen bedurfte es der grundstürzenden Revolutionserfahrung von 1848/49.5 Für einige Jahre verfügte Hermann Wagener über beträchtlichen Einfluss, der die Gefährlichkeit des angeblich stark jüdisch geprägten Liberalismus für den Zusammenhalt des Gemeinwesens herausstellte.6 Schon bald wurde freilich der von ihm beeinflusste Bismarck zur bestimmenden Gestalt im deutschen Einigungsprozess und seine Person für die Einschätzung des politischen Konservatismus zentral. Dies gilt nicht zuletzt für die Bewunderung seiner militärischen Erfolge und die dahinterstehende realpolitische Agenda.7 Weit weniger thematisierte man, wie reserviert politikferne Intellektuelle auf Bismarcks instrumentelles Politikverständnis reagierten. Genau dieses Themenfeld steht im Mittelpunkt des folgenden Aufsatzes, der sich mit Intellektuellen auseinandersetzt, die energisch ihre Opposition zu den herrschenden Zuständen betonten. Nacheinander werden Paul de Lagarde, Friedrich Nietzsche, Otto Julius Langbehn und Houston Stewart Chamberlain behandelt, deren Vorstellungen allenfalls bei oberflächlicher Betrachtung konvergieren. Tatsächlich verfochten sie höchst unterschiedliche Auffassungen von Staat und Gesellschaft, wenn sie ihren diesbezüglichen Gedanken überhaupt größere Wichtigkeit zumaßen. Auffällig ist jedoch die kulturphilosophische Grundierung ihrer Ideen, die sie Aussagen von hoher Reichweite mit großer Selbstverständlichkeit treffen ließ. Was dies für die Ausformung des radikalen Konservatismus in Deutschland bedeutet, kann im Rahmen eines kurzen Essays allenfalls skizziert werden. Dieser konzentriert sich auf Zusammenhänge, welche die charakteristischen Eigenarten der behandelten Denker und insbesondere die Gründe für ihre Fundamentalopposition gegen das Kaiserreich plastisch hervortreten lassen. 1. ERBITTERTER JUDENHASS UND DIE VERSCHMELZUNG VON FEINDBILDERN Der junge Orientalist Paul Bötticher zählte zu den leidenschaftlichen Gegnern der Märzrevolution, deren Veränderungen er als ungerechtfertigten Angriff auf die Tradition ablehnte. Dies heißt jedoch nicht, dass er im Lager der Reaktion stand, die er als zutiefst korrupt betrachtete. Er selbst nahm 1854 den Namen seiner Großtante Ernestine de Lagarde an, deren Erbe ihm die Konzentration auf seine wissenschaft-

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Vgl. Grothe / Liebmann (2010): Konservative deutsche Politiker, S. 3. Dazu umfassend Schwentker (1988): Konservative Vereine. Vgl. Albrecht (2010): Antisemitismus und Antiliberalismus. Aus der breiten Literatur zu Bismarcks Rolle bei der Reichsgründung sei lediglich genannt Pflanze (1997): Bismarck. Einführungen in die Welt des Konservatismus bieten Grothe / Liebmann (2010): Konservative deutsche Politiker, Schildt (1998): Konservatismus in Deutschland.

„Radikaler Konservatismus“ im Deutschen Kaiserreich

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lichen Studien erleichterte.8 Ein Jahr zuvor hatte er in einem Vortrag verkündet, er sei „zu konservativ, um nicht radikal zu sein“. Insbesondere ging es ihm um die Anstrengung, das „eigentümliche Leben Preußens leistungsfähig zu erhalten“.9 Damit meinte er keineswegs, der Mensch solle sich von der Tradition lösen; er sah vielmehr den Idealzustand deutschen Lebens in ferner Vergangenheit bei den Ottonen und Saliern. Was der melancholische Gelehrte, der dank der Unterstützung des preußischen Königs Wilhelm I. seit 1869 den Göttinger Lehrstuhl für orientalische Sprachen bekleidete, unter „radikalem Konservatismus“ genau verstand, ist nicht leicht auszumachen. Zu unscharf sind seine Ausführungen, die primär eine entseelte Gegenwart kritisieren, als dass sie verlässliche Orientierung über sein politisches Weltbild bieten könnten. Sie finden sich erst in der 1886 gedruckten Gesamtausgabe letzter Hand der Deutschen Schriften, mit denen Lagarde die Religionsferne des BismarckReichs scharf kritisierte.10 Da Originalmanuskripte fehlen, lässt sich nicht klären, ob und wenn ja in welchem Ausmaß er seine politischen Auffassungen geändert hat. Kaum strittig dürfte hingegen sein, dass die Selbstdeutung als „radikal konservativ“ für Lagarde einige Wichtigkeit besaß, da er in seinem Œuvre immer wieder auf sie Bezug nahm.11 Lagardes Bedeutung in der Geschichte des modernen Antisemitismus wird selten bestritten, doch ist nicht so klar, worauf sie eigentlich beruht. Im Unterschied zu Bruno Bauer, Wilhelm Marr oder Richard Wagner gehörte er keineswegs zu den Renegaten der 1848er-Revolution, die häufig für die Verschärfung des ideologischen Klimas in puncto Judenfeindschaft in Anspruch genommen werden.12 Mit ihnen teilte er lediglich die apokalyptische Geschichtsdeutung, die den Beginn einer besseren Zukunft nach dem Zusammenbruch einer maroden Gegenwart erwartete. In den konkret verfochtenen ethischen Wertvorstellungen waren jedoch die Unterschiede erheblich. So argumentierte Lagarde in einem patriarchalischen Bezugsrahmen, während radikale Linkshegelianer mit Vorliebe die Institution „Familie“ angriffen. Auch die Überzeugung, die Juden würden je länger je mehr einen „Staat im Staate“ bilden, ist keineswegs eine Lagardesche Spezialität. Sie wurde beispielsweise vom Berliner Historiker Heinrich von Treitschke geteilt, der als Herausgeber der Preußischen Jahrbücher und Autor einer mit vehementer Ablehnung der Kleinstaaterei geschriebenen Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert weit8

Zur Vita Lagardes Sieg (2007): Deutschlands Prophet, hier S. 54–55. Ferner Stern (2005): Kulturpessimismus, S. 27–139, sowie neuerdings Paul (2020): Paul Anton de Lagarde, S. 9–29. 9 Lagarde: Konservativ? Zitiert nach ders. (1920): Deutsche Schriften, S. 5–17, hier S. 5–6. 10 Ausführlich zu Lagardes Opus magnum, das sich als geschlossene Weltsicht präsentierte, während es tatsächlich Aussagen aus ganz unterschiedlichen Kontexten enthielt, die primär mit rhetorischen Mitteln „stimmig“ gemacht wurden: Sieg (1997): Deutschlands Prophet, S. 161– 227. Die bibliographischen Informationen nach Lagarde (1902): Deutsche Schriften, S. 420. 11 Vgl. dazu die leider weitgehend vergessene Studie von Lougee (1962): Paul de Lagarde. 12 So prononciert Mehring (2016): Abteilung, S. 305. Wie schwierig die konkrete Wirkung antisemitischer Vorstellungen zu bestimmen ist, zeigt Bergmann (2020): Tumulte.

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hin bekannt war.13 Mit der Resonanz von Bismarcks publizistischem Adjutanten konnte sich allerdings kaum ein Akademiker am Ende des Reichsgründungsjahrzehnts messen. Bezeichnenderweise ist Lagardes Wirkung im sogenannten Berliner Antisemitismusstreit, in dem es um die Zugehörigkeit der Juden zur deutschen Nation ging, vergleichsweise gering. So suggestiv seine Gedankenführung in den Deutschen Schriften auch war, zu den konkreten Streitpunkten der politischen Debatte hatte er wenig zu sagen.14 Die schroffe Ablehnung des Liberalismus durch Lagarde schlug da schon höhere Wellen. Mit seinen Angriffen auf den exzessiven Konsum und die Oberflächlichkeit von liberalen Emporkömmlingen folgte er gängigen Topoi. Schon eher eigene Züge trug die Kritik an modischen Freiheitsvorstellungen, die allzu leicht in moralischer Indifferenz münden würden. Insbesondere die liberale „Toleranz“ betrachtete Lagarde als verwerflich, weil sie weder mit einem hierarchisch gefügten Gemeinwesen noch mit echter Religiosität vereinbar sei. Und für Aufmerksamkeit sorgte seine Kritik am preußischen Bildungswesen, dessen „Dressur“ mit den Bedürfnissen junger Menschen und dem Ideal selbstbestimmten Lebens unvereinbar sei. Gleichzeitig verlieh Lagarde den Überforderten eine Stimme, wenn er für die raschen Veränderungen der Gegenwart eine „Graue Internationale“ verantwortlich machte, hinter der ‚jüdisch geprägte‘ Liberale steckten.15 Allerdings herrschte an Verschwörungstheorien im politischen Antisemitismus kein Mangel, und Lagarde bemühte sich auch nicht sonderlich darum, die von ihm vertretenen Ideologeme zu einem Alleinstellungsmerkmal auszubauen. In puncto Rassismus legte der Orientalist, der lange reserviert auf das neue Signalwort „Antisemitismus“ reagierte, einige Zurückhaltung an den Tag. Sein Ansehen als Gelehrter wollte er nicht durch allzu große Nähe zu politischen Glücksrittern und geistigen Hochstaplern wie dem katholischen Judenhasser August Rohling oder dem hessischen Agitator Otto Böckel gefährden. Dass Lagarde durch gezielte Tabubrüche und eine elastische Doppelmoral dem Antisemitismus Vorschub leistete, ist freilich auch unstrittig. Die Kombination aus intellektueller Reserve und untergründiger Sympathie entsprach einer weit verbreiteten Haltung. So ist es denn kein Zufall, dass die voluntaristische Aussage: „Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte“ zu Lagardes bekanntesten Sätzen gehörte. Sie faszinierte noch nach dem Ersten Weltkrieg, als das Syntagma „konservative Revolution“ zur Zauberformel auf der extremen Rechten wurde.16

13 Albanis (2002): Identity, S. 27. Aus der umfangreichen Literatur zu Treitschke, der sich wie Lagarde gern als selbstloser Patriot präsentierte, seien erwähnt Dorpalen (1957): Heinrich von Treitschke, Lange (1998): Heinrich von Treitschke und Wyrwa (2009): Genese. 14 In der umfassenden Darstellung des Problemfeldes Jensen (2005): Doppelgänger spielt Lagarde deshalb auch nur eine marginale Rolle. 15 Vgl. Sieg (2014): Antisemitismus und Antiliberalismus, S. 100–102. 16 Hierzu aufschlussreich Beßlich (2002): Faszination des Verfalls, S. 24f. Das Zitat findet sich in: Lagarde (1920): Aufgaben, S. 26.

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In geschichtsphilosophischer Hinsicht bevorzugte Lagarde das große Karo. In idealistischer Tradition sah er im Deutschtum einen Sollensbegriff, der sein eigentliches Licht aus der Zukunft empfängt. Zu den wichtigen Inspirationsquellen zählte Fichte, obwohl er nur selten ausdrücklich erwähnt wird.17 Darin drückte sich nicht nur Lagardes Selbstvertrauen als Ordinarius an einer renommierten Universität aus, es erleichterte auch, Divergenzen in der eigenen Weltsicht zu überspielen. Als Wissenschaftler verfocht Lagarde einen knochentrockenen Positivismus, der sich mit der Klärung von Detailfragen plagte und ebenso skeptisch wie urteilsscheu generalisierende Aussagen mied.18 In seinen zeitkritischen Erörterungen bevorzugte er hingegen eine Sprache, die sich an starken Kontrasten orientierte und eindeutige moralische Urteile fällte. Ein eigentümliches Mischungsverhältnis zeigte sich in seiner Ankündigungsrhetorik, die eine Analyse des politischen oder wissenschaftlichen Problembestands mit kühnen Zukunftsversprechen verband. Dies verweist auf das eigentliche Erfolgsgeheimnis Lagardes, das nicht inhaltlicher, sondern formaler Natur ist. Mit einer radikalen Rhetorik wandte er sich direkt an die Menschen und verlieh ihren seelischen Nöten Ausdruck. Damit kam er einem Bedürfnis nach Sinngebung entgegen, das die etablierten Kirchen nicht mehr zu befriedigen vermochten. Die Hauptstoßrichtung seiner Kritik zielte auf den Protestantismus. Lagardes Urteil war drastisch und an Verachtung kaum zu überbieten: „Die protestantischen Geistlichen aller Schattierungen sind nichts anderes als theologisch angefärbte Projectionen politischer Velleitäten: Maden, welche die Farbe der sie fütternden Frucht annahmen.“19 Während Lagarde die menschlichen Schwächen evangelischer Geistlicher süffisant ausbreitete, blieb sein eigenes Religionsverständnis einigermaßen unklar. Doch gerade mit einer existentiellen Rhetorik, die viel versprach, aber schon wegen ihrer Unschärfe zu wenig verpflichtete, sicherte der theologische Außenseiter der von ihm propagierten „nationalen Religion“ Aufmerksamkeit. Sie sollte einem sozial und kulturell zerklüfteten Gemeinwesen ein neues Fundament geben und zugleich den Führungsanspruch Deutschlands in Europa legitimieren. Schon zu Lebzeiten war Lagarde ein einflussreicher Autor. Aber es dürfte eine bezeichnende Tatsache sein, dass er nach seinem Tod 1891 in der ambivalenten Stimmung des Wilhelminismus erst recht in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rückte. Seine hochgradig schwankenden Texte, welche die nationale Machtentfaltung verherrlichten und zugleich die Sehnsucht nach innerer Einkehr ausdrückten, trafen nun den Ton der Stunde.20 Um Lagardes Ruhm kümmerten sich 17 Heinßen (2003): Historismus und Kulturkritik, S. 472; allgemein zu Lagardes Anleihen beim deutschen Idealismus Schütte (1965), Lagarde und Fichte. 18 Überzeugend zu Lagardes Positivismus Marchand (2009): German Orientalism, S. 168–174. Damit ist natürlich keineswegs gesagt, dass sich in Lagardes wissenschaftlichem Œuvre nicht auch versteckte Werturteile finden lassen. Seine Bedeutung als Orientalist ist jedenfalls schwierig auszuloten und steht im Mittelpunkt der Beiträge in: Behlmer / Gertzen / Witthun (2020): Nachlass Paul de Lagarde. 19 Lagarde (1920): Konservativ? S. 13. 20 Hierzu nach wie vor erhellend Stern (2005): Kulturpessimismus, S.125–139.

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vor allem seine akademischen Schüler, die in unterschiedlichen Disziplinen dem Vorbild des herrischen Gelehrten zu folgen suchten. Aber auch die Witwe Anna de Lagarde sollte nicht vergessen werden. Sie verfasste eine anschauliche Biographie ihres Mannes für eine größere Leserschaft und ordnete zugleich seinen umfangreichen Nachlass in der Göttinger Bibliothek dergestalt, dass Lagardes heroischer Kampf gegen eine missgünstige Umwelt deutlich hervortrat. Nicht zuletzt die Ablehnung „liberaler Oberflächlichkeit“ und „jüdischer Anmaßung“ ist dort reich dokumentiert.21 Von zentraler Bedeutung für Lagardes Resonanz um die Jahrhundertwende war dann der Jenaer Verleger Eugen Diederichs, der ein gutes Gespür für die religiöse Sehnsucht seiner Zeitgenossen hatte. In Ausgaben für ein breites Publikum vereinfachte er Lagardes Texte nicht nur stilistisch, sondern nahm auch inhaltlich eine gezielte Komplexitätsreduktion vor. So wurde um die Jahrhundertwende aus einem Orientalisten, dessen wissenschaftliche Probleme sich nur dem Fachgelehrten erschlossen, der „Prophet einer deutschen Nationalreligion“.22 An dieser Stilisierung war Lagarde, der schon früh die Sinnhaftigkeit seiner wissenschaftlichen Forschungen und politischen Interventionen herausgestellt hatte, alles andere als unschuldig. Man kann deshalb auch nicht davon sprechen, dass Diederichs mit seinen verlegerischen Initiativen Lagarde grob verfälscht hat.23 Eher trifft es zu, dass seine Ausgaben in gezielt vereinfachter Sprache die Abgründe Lagardes verstecken halfen und so einer breiten Aufnahme seiner Vorstellungen den Weg bereiteten. Eine Generation zuvor hatte der junge Nietzsche mehr Skepsis gegenüber dem selbstgewissen Orientalisten an den Tag gelegt. 2. ABGRÜNDE DER KULTURKRITIK Als Paul de Lagarde zu Beginn der 1870er Jahre die innere Hohlheit der BismarckÄra kritisierte, hatte Friedrich Nietzsche bereits beträchtliche Reserven gegenüber dem Deutschen Kaiserreich entwickelt. Der junge Gelehrte, der 1868 mit gerade einmal 24 Jahren auf die Baseler Professur für griechische Sprache und Literatur berufen worden war, störte sich massiv an jenen triumphierenden Gegenwartsdeutungen, die aus dem Sieg der preußischen Waffen umstandslos auf eine Überlegenheit der deutschen Kultur schlossen. Dementsprechend neugierig reagierte er, als ihn der befreundete Theologe Franz Overbeck über Lagardes Haltung in Kenntnis setzte.24 En détail lassen sich Passagen und Ideen im Œuvre Nietzsches zeigen, in denen ein Einfluss Lagardes möglich oder gar wahrscheinlich ist. Sie reichen von

21 Vgl. Sieg (2007): Deutschlands Prophet, S. 301–303, sowie Mund / Mangel (2020). 22 So pointiert Graf (1996): Laboratorium, S. 247. 23 Ein Musterbeispiel wäre der reichbebilderte Band Lagarde (1913): Deutscher Glaube, der sich in der gefälligen Gestaltung und leichten Verständlichkeit von früheren Lagardeschen Bleiwüsten deutlich unterschied. 24 Zum Folgenden grundlegend Sommer (1998): Agitation, komprimiert Sieg (2007): Deutschlands Prophet, S. 168–170.

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Nietzsches Vorliebe für den Ausdruck „moralin“ bis zu seiner vehementen Ablehnung des Apostels Paulus. In der Verurteilung der selbstzufriedenen „Gründerzeit“, die ihnen morsch und zukunftslos vorkam, stimmten sie im Wesentlichen überein. Nietzsche war freilich ein viel zu feinfühliger Psychologe, als dass ihn Lagarde auf Dauer hätte beeindrucken können. Er spürte hinter der grundsätzlichen Gegenwartskritik des angesehenen Orientalisten die Ressentiments eines zutiefst verunsicherten Menschen. Lagardes Sprachgewalt beeindruckte Nietzsche nicht im Geringsten. Vielmehr folgerte er aus dessen pathetischer Diktion eine fehlende Ernsthaftigkeit in religiösen Fragen. In einem unveröffentlichten Aphorismus aus dem Jahre 1880 heißt es unter direkter Bezugnahme auf Lagarde: „Wenn der Stil und Gesammtausdruck des Priesters des redenden und schreibenden, nicht schon den religiösen Menschen ankündigt, so braucht man seine Meinungen über Religion und zu Gunsten derselben nicht mehr ernst zu nehmen.“25 Bedenkt man, wie viele Zeitgenossen Lagarde mit seiner prophetischen Diktion beeindruckte, ist dies ein ungewöhnlich hellsichtiges Urteil. Das bedeutet freilich nicht, dass Nietzsche selbst gegen den Zauber feierlicher Rhetorik vollständig gefeit war. Und so beredt er die eigene Unabhängigkeit preisen mochte, so sehr sehnte er sich doch nach Schülern. In den letzten Monaten seines bewusst wahrgenommenen Lebens freute sich der vereinsamte Nietzsche sehr über den einsetzenden Ruhm. Eine Schlüsselrolle für die wachsende Resonanz spielen die Vorlesungen von Georg Brandes in Kopenhagen. Der erfolgreiche Journalist ventilierte die Chiffre „aristokratischer Radicalismus“, die auf großes Interesse stieß und von Nietzsche als ausgesprochen zutreffend betrachtet wurde. Geradezu euphorisch hatte er Brandes am 2. Dezember 1887 über den neuen Ausdruck geschrieben: „Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe.“26 In diesem Urteil spiegelte sich nicht nur die Freude, endlich als Zeitkritiker ernst genommen zu werden, sondern auch ein ausgeprägter Wille zur Distinktion. Nietzsches Hoffnung, die eigene Wirkung steuern zu können, sollte sich allerdings als Chimäre erweisen. Erschöpft und vereinsamt brach Nietzsche in den letzten Tagen des Jahres 1888 zusammen und wurde in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Der Autor, der einst „Gottes Tod“ und einen „Aufbruch zu neuen Ufern“ verkündet hatte, wurde zum Pflegefall – und alsbald zum Gegenstand eines gewaltigen öffentlichen Interesses. Dabei kam der Vorstellung, Nietzsches Leben sei Ausdruck eines „aristokratischen Radicalismus“, der sich um die Mediokrität der Gegenwart nicht kümmere, eine zentrale Bedeutung zu.27 Gerade weil konservative Kreise ihn als ruchlosen Atheisten verurteilten, faszinierte Nietzsche die Jugend, die Künstler und die großstädtische Intelligenz. Eine rasch steigende Zahl von Menschen betrachtete ihn als Inbegriff schöpferischen Lebens, für das kein Preis zu hoch sei. Erstaunlicherweise

25 Hierzu detailliert Sommer (1998): Agitation, S. 185. 26 Nietzsche (1984): Briefe Januar 1887 – Januar 1889, S. 205–207, hier S. 206. Den ideengeschichtlichen Kontext skizziert Sieg (2013): Nietzsche, S. 66f. 27 So dezidiert Golomb / Wistrich (2001): Nietzsche’s Politics, S. 321.

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spielte in der enthusiastischen Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende die prima facie biedere Schwester eine Schlüsselrolle. Tatsächlich wusste Elisabeth Förster-Nietzsche, die 1895 diesen Doppelnamen gerichtlich erstritten hatte, genau, was sie wollte: die irdische Verewigung ihres Bruders und bleibenden Ruhm für sich.28 Zu diesem Zweck schien es ihr ratsam, energisch Nietzsches geistesaristokratische Haltung herauszustellen. Gleichzeitig betonte sie unablässig, wie nah sie ihrem Bruder gestanden habe. Die Lüge verfing, weil sich die Menschen im rasanten Wandel ihrer Zeit nach Authentizität sehnten und Elisabeth Förster-Nietzsche diesen Wunsch punktgenau zu bedienen wusste. Ihre umfangreiche Biographie des Bruders, die Züge einer Heiligenlegende trug, wurde von den Zeitgenossen enthusiastisch gefeiert, und ihre unsoliden Werkausgaben fanden reißenden Absatz. Es war ihr Nietzsche-Bild, das den meisten Zeitgenossen plastisch vor Augen stand, und deshalb verdient es erhebliche Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt des Weimarer Nietzsche-Archivs stand die Arbeit an einer monumentalen Werkausgabe. Elisabeth Förster-Nietzsche, die eine bemerkenswerte Sammlertätigkeit entfaltet hatte, sorgte auf Schritt und Tritt dafür, dass ihr heroisches Bild des Bruders in der Öffentlichkeit keinen Schaden nahm. 29 Sie streute freundliche Anekdoten über Nietzsches Jugend, lobte seine Tugendhaftigkeit und stellte ihn in eine Tradition wahrhaft idealistischen Philosophierens. In versteckter Konkurrenz zu Cosima Wagner, die in Bayreuth das Andenken ihres Mannes pflegte, stilisierte sie Nietzsche zum heroischen Autor des Zarathustra, der seinen unverständigen Zeitgenossen die Lehre vom Übermenschen verkündet habe. Gleichzeitig sorgte sie dafür, dass die Art, wie Nietzsches geistesaristokratische Weltsicht präsentiert wurde, nicht die Grenzen des Schicklichen überschritt. Obwohl Elisabeth Förster-Nietzsche keinen akademischen Grad hatte, besaß sie ein gutes Gefühl, was das Bildungsbürgertum von ihr erwartete. Am wichtigsten war es, die Anerkennung der Universitäten zu gewinnen, die um die Jahrhundertwende im Zenit ihres Ansehens standen. Aus diesem Grund kompilierte Elisabeth Förster-Nietzsche aus nachgelassenen Materialien ein umfangreiches Hauptwerk, dessen willkürlicher Charakter seit langem unstrittig ist.30 Es erschien ein Jahr nach Nietzsches Tod am 25. August 1900 und trug den wuchtigen Titel Der Wille zur Macht. Die Edition war auf geistige Überschaubarkeit ausgerichtet und präsentierte Nietzsches Texte so, dass sie gut in die wilhelminische Welt passten. Das Publikum war begeistert: Endlich verfügte es über einen Philosophen, der seine tragische Weltsicht in apodiktische Äußerungen kleidete.31 Auch als Nietzsches angebliches Hauptwerk in der Zweitauflage des Jahres 1906 auf

28 Sieg (2019): Macht des Willens. 29 Einen guten Überblick über die vielfältigen Aktivitäten Elisabeth Förster-Nietzsches bietet der Band von Lorenz / Valk (2020): Kultur – Kunst – Kapital. 30 Dazu maßgeblich: Montinari (1982), Nietzsches Nachlaß; eine nüchterne Einführung in die Entstehungsgeschichte geben Fischer / Föhl / Förster (2014): Nietzsches Nachlass, S. 66–74. 31 Nietzsche (1901): Der Wille zur Macht; als Hintergrund instruktiv: Fuchs (1997): Der Wille zur Macht.

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mehr als den doppelten Umfang angeschwollen war, hielt sich die Skepsis gegenüber der Editionspraxis des Nietzsche-Archivs in Grenzen. Offenbar wollten viele Menschen bei einem derart sinnstiftenden Denker wie Nietzsche nicht so genau hinschauen. Ein wichtiger Grund für die mangelnde Kritikfähigkeit bestand in der Selbstverständlichkeit des zeitgenössischen Geniekults, für den Julius Langbehn zu Beginn der 1890er Jahre wichtige Schrittmacherdienste geleistet hatte. 3. DIE FASZINATION DER KUNSTRELIGION Julius Langbehn, der häufig in einem Atemzug mit Paul de Lagarde genannt wird, unterschied sich markant von dem ebenso mürrischen wie hart arbeitenden Orientalisten. 1851 im nordschleswigschen Hadersleben geboren, kümmerte sich Langbehn wenig um Konventionen und lebte als Langzeitstudent in den Tag hinein. Der Münchener Promotion in Archäologie im Jahre 1880 folgten wenig später die Eklats. Weil er sich darüber ärgerte, wie viel Zeit das Archäologische Institut Berlin für die Gewährung eines Reisestipendiums benötigte, schied er aus der Wissenschaft aus. Und die Weigerung der Fakultät, den Doktortitel zurückzunehmen, beantwortete er mit der Zusendung der zerrissenen Promotionsurkunde, was dort für einige Turbulenzen sorgte.32 Fortan lebte Langbehn als freier Schriftsteller und wartete auf den Durchbruch, der sich nicht so rasch einstellte. 1889 suchte er Kontakt zu Lagarde, der ein paar lobende Worte äußerte, aber im Grunde mit dem wissenschaftlichen Dilettanten nicht viel zu tun haben wollte. Im Folgejahr erschien anonym ein Buch, das überall Furore machte. Es trug den eigentümlichen Titel Rembrandt als Erzieher und kritisierte die zeitgenössische Kultur von hoher Warte. Allenthalben rätselte man darüber, wer der Verfasser sei, und manch einer nahm an, das Werk stamme aus Lagardes Feder. Tatsächlich war die Stimme einer jüngeren Generation zu vernehmen, die sich um Details nicht scherte, sondern mit einer großen Synthese die Lösung der Gegenwartsprobleme anstrebte. Ihr Autor Julius Langbehn, dem es noch eine Weile gelang, das Inkognito zu wahren, setzte auf die Bedeutung der Kunst. Mittels ihrer Inspiration sollten die Halbheiten der Gegenwart überwunden und ein schöpferisches Leben möglich werden. Langbehns Sprache war gewollt rätselhaft und setzte eher auf kühne Assoziationen als auf rationale Argumentation. „Nur wer zu lösen vermag, vermag auch zu binden. Skepsis ist hell, Mystik ist dunkel; ihr Zusammenwirken ist helldunkel, und helldunkel ist der Sinn des Volks des Bauern des Niederdeutschen.“33 Rembrandt selbst bedeutete Langbehn wenig und stand vor allem dafür, dass das Leben in ein geheimnisvolles Licht getaucht werden müsse, damit es wieder Würde gewinne.

32 Sieg (2007): Deutschlands Prophet, S. 295f. Vermutlich aufgrund des nicht vorhandenen Nachlasses fehlt leider eine umfassende Langbehn-Biographie. Den intellektuellen Kontext betrachten Behrendt (1994): Zwischen Paradox und Paralogismus, sowie nuanciert Heinßen (2003): Historismus und Kulturkritik. 33 Langbehn (1890): Rembrandt als Erzieher, S. 133.

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In den politischen Passagen enthielt Rembrandt als Erzieher den konventionellen Vorschlag, für eine erstrebenswerte Zukunft auf eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft und echten Seelenadel zu setzen. Die harmonisierende Gedankenführung ist offenkundig. Es komme gerade in der Erziehung darauf an, „nicht zu entzweien, sondern zu versöhnen; das Unten und Oben; das Außen und Innen des Menschenlebens zur Einheit zusammenzufassen!“34 Die Kehrseite des Idylls bestand in der scharfen Ablehnung des Liberalismus, den Langbehn als Ausdruck materialistischer Gewinnsucht betrachtete. Der Fortschrittspartei attestierte er gar einen umfassenden „Nihilismus“. Dies erleichterte auch die Verschärfung der judenfeindlichen Inhalte, die Langbehn vornahm, nachdem der Hype um die Erstauflage von Rembrandt als Erzieher abgeklungen war. Ausdrücklich stellte er eine Verbindung zur antisemitischen Bewegung her, „indem er die Juden mit Gift und Fäulnis in Verbindung brachte und ihnen ein Elendsjahr bereiten wollte“.35 An der Schäbigkeit von Langbehns Verhalten, der sonst gern einen selbstlosen Idealismus für sich in Anspruch nahm, gibt es nichts zu deuteln. Seine Wirkung in die Reformbewegungen und insbesondere in die Jugendbewegung hinein sorgte dafür, dass er für mindestens eine Generation die kulturkritischen Debatten in Deutschland unheilvoll bestimmte. Deshalb ist es auch nicht zufällig, sondern naheliegend und zutreffend, wenn er in vielen Geschichten des modernen Antisemitismus einen wichtigen Platz einnimmt.36 Gleichwohl verdient noch eine andere Dimension seiner Gedankenführung erhöhte Berücksichtigung. Langbehn nahm eine dezidierte Abwertung der Vernunft zu Gunsten des Irrationalen vor und beanspruchte für sein Urteil philosophische Dignität. Die Wissenschaft forderte er dazu auf, sich zwischen „Buch und Bild“ zu entscheiden, und ließ keinen Zweifel daran, dass einprägsamen Bildern die Zukunft gehören werde. In kategorischer Diktion forderte er vom Volk eine Pfadentscheidung, ob Kunst oder Wissenschaft „die Herrschaft im deutschen Geistesleben“ besitzen solle.37 Mancher Zeitgenosse mag sich über den Protest Langbehns gegen das kulturelle Establishment gefreut haben – zumal sein aphoristischer Stil Deutungsoffenheit suggerierte und ganz unterschiedliche Menschen anlockte. Aber es war doch die Sprache des von Ressentiment erfüllten Populismus, die auf die Dauer nur unheilvolle Konsequenzen haben konnte. Wie weit die Ablehnung von Vernunft und Wissenschaft um die Jahrhundertwende gediehen war, zeigte der bemerkenswerte Erfolg von Richard Wagners Schwiegersohn, Houston Stewart Chamberlain.

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Ebd., S. 192; zum Folgenden ebd., S. 127. So zutreffend Breuer (2001): Ordnungen der Ungleichheit, S. 342. Pulzer (2004): Entstehung, S. 255–260, und Stern (2005): Kulturpessimismus, S. 141–246. Langbehn (1890): Rembrandt als Erzieher, S. 309; das vorige Zitat findet sich ebd., S. 8. Die Ablehnung des nur zu „Skeptizismus“ führenden Buchstabenglaubens durchzieht das gesamte Werk.

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4. RASSE ALS ZAUBERFORMEL Der Anlass für Chamberlains Monographie war äußerlich. Der geschäftstüchtige Münchener Verleger Hugo Bruckmann wollte mit einem Werk seines Hauses das 20. Jahrhundert einläuten. Bei der Suche nach einer „Edelfeder“ verfiel er auf den Wahldeutschen Chamberlain, der sich als Herold der Bayreuther Bewegung bereits einen Namen gemacht hatte.38 Chamberlain schätzte die deutsche Kultur und war der Überzeugung, dass sie auch in der neuen Leitwissenschaft Biologie eine entscheidende Rolle spielen werde. Als Journalist verfügte er über viel Erfahrung, aber die wissenschaftliche Organisation großer Stoffmengen war ihm eher fremd. Als das neue Säkulum in greifbarer Nähe war, hatte er sich fast ausschließlich mit den Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts befasst. Im Münchener Kulturverlag konnte man damit schwerlich zufrieden sein, doch das unter diesem Titel 1899 veröffentlichte Werk wurde ein spektakulärer Erfolg. Chamberlain hielt sich nicht mit Kleinigkeiten auf, sondern bot eine Gesamtdeutung des Geschichtsprozesses von beeindruckender Einfachheit. Der selbsternannte „Wissenschaftskünstler“ vertrat die Auffassung, die Geschichte sei nur als Ausdruck von Rassenkämpfen zu verstehen. Auf eine detaillierte Beweisführung verzichtete er. Stattdessen plädierte Chamberlain dafür, dass auch in der Geschichtswissenschaft das Zeitalter des Dilettanten angebrochen sei, der im Unterschied zum Experten über einen unverstellten Blick auf die Phänomene verfüge. Nicht nur im Bildungsbürgertum war man über die gewagten Generalisierungen erfreut, auch Wilhelm II., der viel von der eigenen Intuition hielt, schätzte den selbstbewussten Autodidakten. Chamberlain wurde zum hofierten Mitglied seiner Entourage und Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts zum festen Bestandteil der preußischen Gymnasiallehrerausbildung.39 Während Chamberlain heute der Ruf eines düsteren Untergangspropheten voraneilt, schätzten ihn viele Zeitgenossen als optimistischen Künder eines deutschen Jahrhunderts. Besonderen Wert legte er darauf, über eine umfassende Weltanschauung zu verfügen, die dem Menschen im Meer der Informationen eine verlässliche Orientierung bieten könne. Schaut man freilich genauer hin, entdeckt man nicht nur einen luftigen Umgang mit wissenschaftlichen Tatsachen, sondern auch das gezielte Schüren von Ressentiments. Ausdrücklich bestritt Chamberlain den schöpferischen Charakter des Judentums, das er vielmehr für zahllose Fehlentwicklungen der Moderne verantwortlich machte. Ja, es schien ihm aus diesem Grund unabweisbar, Christus strikt vom Judentum zu trennen. Chamberlain sah in ihm das „absolute religiöse Genie“, das mit der ihn umgebenden Kultur nicht das Geringste gemein hatte.40 38 Zum Folgenden Large (2000): Spiegelbild des Meisters?. sowie besonders anregend Martynkewicz (2009): Salon Deutschland, S. 54–57 und passim. 39 Berding (1988): Moderner Antisemitismus, S. 150; welche Bedeutung die Intuition des Dilettanten für das Gesamtgefüge und die Attraktivität von Chamberlains Weltsicht hatte, zeigt Martynkewicz (2009): Salon Deutschland, S. 100–102. 40 Chamberlain (1919): Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 750.

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Im liberal eingestellten Bürgertum wusste man jedenfalls, was von Chamberlain zu halten sei. So wurde der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ nicht müde, über die massiv judenfeindlichen Inhalte seiner Kulturphilosophie zu klagen. Der Protest schlug allerdings keine höheren Wellen. Der Star des wilhelminischen Kulturbetriebs, der so unterschiedliche Gestalten wie Adolf von Harnack und Rudolf Kassner beeindruckte, war viel zu alert, als dass er sich auf eine weltanschauliche Linie festlegen ließe. Und in welchem Ausmaß er mit Schlüsselfiguren des politischen Antisemitismus wie Heinrich Claß oder Theodor Fritsch Kontakte pflegte, wollten die meisten Zeitgenossen nicht wissen.41 An dieser Situation änderte auch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nichts. Mit einem einfachen Trick wurde Chamberlain der meistgelesene deutschsprachige Autor im „Krieg der Geister“. Er attackierte die Briten mit Hilfe von Topoi, die sich gewöhnlich gegen Juden richteten. Das Spektrum der Vorwürfe reichte von materialistischer Habgier bis zur charakterlosen Gesinnung. Auf diese Weise unterlief Chamberlain die Kriegszensur und machte zugleich seine ideologische Position unmissverständlich klar. Allein von der ersten Auflage seiner Kriegsaufsätze erschienen mehr als 75.000 Exemplare. Die aufklärerischen Broschüren, die Chamberlains Sicht entkräften sollten, blieben aufgrund ihrer geringen Auflage weitgehend wirkungslos.42 Wie immer man die Haltung der deutschen Juden bei Kriegsausbruch einschätzen mag, die meisten von ihnen mussten erkennen, dass das im „Burgfrieden“ enthaltene Versprechen endgültiger Gleichberechtigung eine Illusion war. Die „Judenzählung“ im Herbst 1916 empfanden viele dann als bittere Bestätigung dafür, dass es im Deutschen Kaiserreich Staatsbürger unterschiedlicher Klassen gab und geben sollte.43 Konservativ im Wortsinn kann man Chamberlains Weltsicht gewiss nicht nennen. Aber mit seinen kulturpessimistischen Tiraden traf er in einem immer radikaleren Krieg den Zeitgeschmack. Ähnliches gilt für seine apokalyptische Vorstellung eines Entscheidungskampfes der germanischen Völker. Doch verlor seine heroische Weltanschauung entscheidend an Überzeugungskraft, als sich die Mittelmächte den überlegenen Kräften der Entente beugen mussten. Zahlreiche Intellektuelle, die in kühnen Bildern den Erfolg deutscher Waffen beschworen, hatten sich mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen.44

41 Zu den Abgründen von Chamberlains politischer Verortung: Bermbach (2015): Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker. Seine Vernetzung in jüdischen Zirkeln, die sich nicht unerheblich der Sogkraft seiner lebensphilosophisch geprägten Metaphorik verdankt, analysiert Brömsel (2015): Exzentrik und Bürgertum. 42 Zur Bedeutung Chamberlains für die zentralen ideologischen Auseinandersetzungen im Weltkrieg Sieg (2001): Jüdische Intellektuelle, S. 183–187. 43 Als Einführung in die komplexe Thematik immer noch instruktiv Angress (1980): „Judenzählung“, S. 117–135; den Gesamtrahmen gibt: Panter (2014): Jüdische Erfahrungen. 44 Zur Erosion lang gehegter Überzeugungen in den letzten Kriegsmonaten: Afflerbach (2018): Auf Messers Schneide, S. 458–521.

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5. ERLÖSUNGSHOFFNUNGEN UND DIE MACHT DER LÜGE In der unmittelbaren Nachkriegszeit, die viele Menschen als enttäuschend empfanden, bestand an hochgemuter Kulturphilosophie kaum Bedarf. Darunter litten vor allem jene Autoren, welche die Zukunft in milden Farben ausgemalt hatten. So interessierten sich nur noch wenige für die Weltsicht des 1908 verstorbenen Langbehn. Auch ein so umtriebiger und gut vernetzter Autor wie Chamberlain hatte den Zenit seines Ruhms überschritten. Der Antisemitismus stand seit der Russischen Revolution und der Niederlage der Mittelmächte im Zeichen verschwörungstheoretischer Vorstellungen, so dass optimistisch getönte Weltanschauungen ein Gutteil ihrer Attraktivität verloren.45 Unter den bürgerlichen Eliten blieb die Sehnsucht nach dem Kaiserreich stark, an dessen Sieg im Weltkrieg man bis zum letzten Moment geglaubt hatte.46 Gleichzeitig hofften viele Menschen auf einen fundamentalen Neuanfang. Die einen vertrauten auf die Partizipationschancen der jungen Republik, die anderen setzten auf die prinzipielle Überwindung geschichtlicher Kontinuitäten. So beschwor Friedrich Gogarten am 30. September 1920 auf der Wartburg einen absoluten Moment jenseits der historischen Zeit: „Hier ist die reine Gegenwart“, äußerte der junge Pastor selbstgewiss auf einer gemeinsamen Tagung der Freunde der Christlichen Welt, der Freunde der Freien Volkskirche und des Bundes für Gegenwartschristentum. „Hier ist der Augenblick zur letzten Vollendung gebracht.“47 Natürlich herrschte nicht an allen Orten eine derart exaltierte Stimmung, aber das Beispiel Gogartens zeigt doch plastisch, welche rhetorischen Höhen zu Beginn der Weimarer Republik erreicht wurden. Einem Zeitzeugen erschien es gar, als sei mit diesem Martin Luther zugegen, „dem Teufel sein Tintenfaß an den Kopf zu schmeißen“.48 Angesichts der gewaltigen Erwartungshaltung nach dem Krieg konnten nicht viele Autoren des Kaiserreichs auf dem Buchmarkt bestehen. Ihren Bildungskosmos betrachtete man zunehmend als antiquiert und ihre Wertewelt als unnötigen Ballast im Konkurrenzkampf einer modernen Massengesellschaft. Noch am ehesten hielten sich Autoren wie Paul de Lagarde, die scharfe ideologische Munition für die Auseinandersetzungen einer politisch und kulturell zerklüfteten Gegenwart lieferten. Dabei spielte es vermutlich eine wichtige Rolle, dass dessen chiliastisch getönte Geschichtsphilosophie mit drastischen Äußerungen über die bürgerliche Welt des Kaiserreichs einherging.49 Die stärkste Wirkung in die Kultur der Weimarer Republik hinein hatte fraglos Friedrich Nietzsche. Zum einen blieb er dank der Qualität seiner Texte und der

45 Vgl. Friedländer (1998): Das Dritte Reich und die Juden, S. 87–111. 46 Conze (2018): Versailles 1919, S. 357. 47 Gogarten (2020): Die Krisis unserer Kultur, Sp. 771. Zum ideenhistorischen Hintergrund aufschlussreich: Goering (2017): Friedrich Gogarten, S. 80–140, besonders S. 100–104. 48 Schäfer (1920): Wartburg. 49 Vgl. Sieg (2007): Deutschlands Prophet, S. 327f.

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ungewöhnlichen Sensibilität seiner kultursoziologischen Analysen, das, was er schon seit längerem war: der „Eideshelfer“ beinahe jeder Bewegung, die weltanschaulichen Einfluss erstrebte.50 Zum anderen eignete sich seine Philosophie hervorragend dafür, die veränderte Lage als „Aufbruch zu neuen Ufern“ zu feiern. Menschen mit Gespür für das Ausmaß des historischen Umbruchs und die damit verbundenen Verluste konnte dies erheblich irritieren. So äußerte Ernst Troeltsch, der maßgebliche Repräsentant des Kulturprotestantismus, im März 1919 über Nietzsche grimmig, mit dessen Popularität er die klassischen Mittelschichttugenden untergehen sah: „Ohne Nietzsche geht nichts im intellektuellen Deutschland […]. Alles ohne Liebe, ohne Selbstbescheidung, ohne die gesunden bürgerlichen Tugenden der Rechtlichkeit und Arbeitstreue, alles phantastische Eschatologie und Schaustellung eigener geistiger Unabhängigkeit!“51 Dies war ein stark wertendes Urteil, das manche Nachfolger gefunden hat, und in vielem vermutlich die düstere Nachkriegssituation spiegelt. Bei allen Aussagen über Nietzsches unheilvolle Wirkung für die deutsche Geschichte gilt es freilich zu bedenken, dass er seinen Lesern zumeist in den Editionen der Schwester vor Augen stand. Für sein heroisches Nachleben und den Erfolg am Buchmarkt hatte sie eine gezielte Vereindeutigung seiner Philosophie vorgenommen, die intellektuell desaströs und politisch fatal war.52 Die Geschichte des „radikalen Konservatismus“ in Deutschland weist nicht zufällig manche Berührungspunkte zu Nietzsches eigentümlicher Wirkungsgeschichte auf. Überfordert von den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, kam es im konservativen Lager schon im Nachmärz zu eschatologischen Geschichtsbildern. Doch statt sie selbst zum Reflexionsgegenstand zu erheben, ließ man es mit einer Verklärung der guten, alten Zeit bewenden. Dies trug zu einer Klärung der Gegenwartsprobleme wenig bei und sollte sich in Zeiten der politischen Krise rächen. LITERATUR Afflerbach, Holger: Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor. München 2018. Albanis, Elisabeth: German-Jewish Cultural Identity from 1900 to the Aftermath of the First World War. Tübingen 2002. Albrecht, Henning: Antisemitismus und Antiliberalismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855–1873. Paderborn u. a. 2010. Angress, Werner T.: The German Army’s „Judenzählung“ of 1916. Genesis – Consequences – Significance. In: Leo Baeck Institute Year Book 23 (1980), S. 117–135. Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart / Weimar 1996. Behlmer, Heike / Gertzen, Thomas L. / Witthun, Orell (Hrsg.): Der Nachlass Paul de Lagarde. Orientalistische Netzwerke und antisemitische Verflechtungen. Berlin / Boston 2020.

50 Dazu monographisch: Aschheim (1996): Nietzsche und die Deutschen; ebd., S. 127, Anm. 35, das Zitat. 51 Troeltsch (2015): Spectator-Briefe, S. 72–78, hier S. 75. 52 Dies erörtert facettenreich Sommer (2017): Nietzsche und die Folgen.

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POLITISCHER KATHOLIZISMUS UND DEMOKRATISIERUNG IM KAISERREICH Stefan Gerber 1. DER POLITISCHE KATHOLIZISMUS ALS VERFASSUNGSPARTEI Der politische Katholizismus in Deutschland entfaltete sich seit den 1830er Jahren aus der Defensive: Mit der Säkularisation und der Auflösung des Alten Reiches waren die Grundlagen der Reichskirche zerstört worden. An die Stelle des bisherigen Systems war in den Staaten des Rheinbundes und des Deutschen Bundes (wie auch in den nicht zum Bund gehörenden Teilen des österreichischen Kaisertums und in den katholischen Orten bzw. Kantonen der Eidgenossenschaft) eine von Aufklärung und bürokratischem Etatismus geprägte Staatskirchenpolitik getreten. Diese fasste die innere Autonomie der katholischen Kirche in Deutschland und ihre Bindung an das Papsttum, die sich nach dem Ende von Reichskirche, Febronianismus und nationalkirchlichem Episkopalismus wieder festigte, als Bedrohung und Hindernis beim Aufbau moderner Staatlichkeit auf.1 Aus dieser wachsenden Spannung resultierten in verschiedenen deutschen Staaten schon in der Vormärzzeit schwerwiegende Konflikte im Überschneidungs- und Konkurrenzbereich von Staat und Kirche. Sie wurden zu einem wirkmächtigen Mobilisierungsimpuls für die „katholische Bewegung“.2 Zugleich machten sie früh deutlich, was den politischen Katholizismus in Deutschland bis zu seinem Ende 1933 als ein wesentlicher Grundzug prägen sollte: Da die Verwirklichung kirchlicher und religiöser Freiheit im Staat nach 1815 nur noch im Rahmen konstitutioneller Grundrechtssicherung denkbar und möglich war, konstituierte sich der politische Katholizismus von Beginn an als „Verfassungspartei“.3 Noch in ihrem letzten Parteiprogramm, den Richtlinien vom 16. Januar 1922, sollte die Zentrumspartei betonen, dass ihre „Stellung […] zu den innerstaatlichen Angelegenheiten […] durch die christliche Staatsauffassung und durch ihren überlieferten Charakter als Verfassungspartei“ bestimmt werde.4 1 2

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Zum Überblick über die Situation um 1800 vgl. u. a. Lill (1981): Reichskirche; Burkhard (2000): Staatskirche; Decot (2005): Kontinuität und Innovation. Zum Überblick vgl. Bachem I (1927): Vorgeschichte; Lill (1981): Reichskirche; Hollerbach (1981): Verfassungsstaatlichkeit; Nowak (1995): Geschichte, S. 64–111. Zum „Kölner Ereignis“: Keinemann (1974): Kölner Ereignis; ders. (1986): Kölner Wirren. Vgl. Becker (1984): Staats- und Verfassungsverständnis. Richtlinien der Deutschen Zentrumspartei, 16. Januar 1922. Vgl. Lepper (1998): Volk, S. 418– 428, hier S. 418.

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Unter dem Namen der „Verfassungspartei“ fanden sich im Dezember 1870 katholische Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses zu einer Fraktion zusammen. Grundlage war ein aus Diskussionen seit der Mitte der 1860er Jahre erwachsenes knappes Parteiprogramm vom Oktober 1870, das als „Soester Programm“ fast bis zum Ende des Kaiserreichs in Geltung bleiben sollte. Es hatte unter den verschiedenen programmatischen Entwürfen der katholischen Bewegung, die im Sommer und Herbst 1870 im Umlauf waren5, die breiteste überregionale Wahrnehmung gefunden. Nach der ersten Reichstagwahl entstand im März 1871 auch eine Reichstagfraktion des „Zentrums“. Diese Bezeichnung hatte sich 1859 die schon seit 1852 bestehende, kurzlebige katholische Fraktion im preußischen Landtag gegeben und damit eine Mittelstellung zwischen Liberalismus und Konservatismus reklamiert. Ziel der Gründung war keine katholische Interessenpartei, sondern eine „Volkspartei“ auf breiter sozialer Grundlage.6 Föderalistisch und trotz der Anerkennung des kleindeutschen Nationalstaates in großdeutscher Tradition stehend, legte das Zentrum den politischen Schwerpunkt auf die grundrechtliche Absicherung religiöser Freiheit und kirchlicher Rechte (insbesondere der konfessionellen Schule), auf sozialen Ausgleich und eine christlich fundierte Gesellschaftspolitik. Obgleich nicht der liberalen Bewegung entsprossen, wurde die Partei damit zur Grund- und Bürgerrechtspartei. Sie machte das bereits in den ersten Wochen des neuen Reichstages durch den Antrag deutlich, Grundrechte (Meinungsfreiheit, Zensurverbot, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Religions- und Kirchenfreiheit) nach dem Modell der geltenden preußischen Verfassung in die Bismarcksche Reichsverfassung aufzunehmen. Sehr deutlich trat dabei hervor, dass es das religionspolitische Interesse war, welches das Zentrum – in dessen Fraktion es bis ins 20. Jahrhundert hinein durchaus auch Sympathien für ständische bzw. neokorporatistische Ordnungsmodelle gab – zur Verfassungs- und Grundrechtspartei machte. Freie Religionsausübung und die Stellung der Kirche im Staat waren aus der Sicht des politischen Katholizismus geradezu ein Paradigma der Freiheits- und Bürgerrechte schlechthin, die man, so der rheinische Zentrumspolitiker Peter Reichensperger am 1. April 1871 bei der Begründung des Grundrechtsantrages im Reichstag, nicht getrennt voneinander betrachten könne: Ich gehe in meiner Auffassung von der Ueberzeugung aus, daß alle Freiheiten mit Nothwendigkeit solidarisch verbunden sind, und daß man keine fallen lassen kann, ohne daß sie alle in Gefahr kommen. Und ich füge dem Ausdrucke meiner Ueberzeugung hinzu, daß, wenn einmal die größte Korporation der Welt, die katholische Kirche, nicht mehr verfassungsmäßig ge-

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Vgl. Ruppert (2002): Programme. Konfessionelle und integrative Komponente wurden in der Bezeichnung der Organisation des politischen Katholizismus in Baden zusammengefügt, die als „Katholische Volkspartei“ firmierte und sich erst 1888 in „Zentrumspartei“ umbenannte. Die Bezeichnung der „Christlichen Volkspartei“, die das Zentrum – parallel zur Selbstbezeichnung anderer bürgerlicher Parteien als „Volksparteien“ – zu Beginn der Weimarer Republik zu verwenden begann, setzte sich nicht durch.

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schützt ist […] alles andere desfallige Freiheits- und Vereinsrecht nur noch auf thönernen Füßen steht.7

Es war in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass die Nationalliberalen dem Zentrum in dieser Debatte das Recht bestritten, sich als „Verfassungspartei“ zu bezeichnen, da es nur der Vertreter spezifischer Interessen innerhalb des Katholizismus sei.8 Schon im Oktober 1870 hatte der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler, eine Symbolfigur der katholischen Bewegung und ab 1871 Reichstagsabgeordneter, in einem grundsätzlich staatskonservativ gestimmten Brief an Bismarck in Versailles als Motiv der konstitutionellen Grundrechtsforderungen des Zentrums für das neue Kaiserreich den Schutz des Gemeinwohls und das Zusammenwachsen des neuen Nationalstaates benannt: Er halte, so Ketteler, die Aufnahme der grundrechtlichen „Bestimmungen der preußischen Verfassung in die deutsche Reichsverfassung für den höchsten Akt politischer Klugheit. Ohne religiösen Frieden wird die Zukunft Deutschlands nie gesichert sein.“9 Der sogenannte „Toleranzantrag“, den die Zentrumsführer Ernst Lieber, Martin Spahn, Carl Bachem und Adolf Gröber im Reichstag zum ersten Mal im November 1900 stellten und bis 1912 mehrfach wiederholten10, war eine Fortsetzung solcher von religiöser Interessenwahrung angetriebenen Verfassungspolitik: Sowohl für die einzelnen Reichsangehörigen als auch für die in einem Bundesstaat anerkannten Religionsgemeinschaften sah das vorgeschlagene Reichgesetz vollständige Religions- und Kultusfreiheit vor, wobei einige Bestimmungen – so die über die Freiheit für „religiöse Genossenschaften, Gesellschaften und Vereine aller Art“ oder über die Freiheit „Kirchengebäude mit Thürmen zu erbauen und auf denselben Glocken anzubringen“ – direkt auf Regelungen zielten, die auch nach dem Ende des Kulturkampfes die Freiheit der katholischen Religionsausübung im ganzen Reich oder einzelnen Bundesstaaten noch immer beschränkten.11 Obgleich auch in Katholizismus und Zentrumspartei antijüdische Deutungsund Argumentationsmuster virulent waren12, wurde die Zentrumspartei aufgrund der verfassungspolitischen Interessenkonvergenz zwischen der großen konfessionellen Minderheit der Katholiken und der kleinen Minderheit der jüdischen Deutschen zudem auch zu einem Verteidiger der konstitutionellen und religiösen Rechte der jüdischen Bevölkerung.13

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Stenographische Berichte (1871), S. 105. So v. a. Eduard Lasker, auf den Hermann von Mallinckrodt und Peter Reichensperger antworteten. Vgl. Stenographische Berichte (1871), S. 173–179. Vgl. auch Borutta (2010): Antikatholizismus, S. 294. Ketteler (1872): Centrums-Fraktion, S. 40. Vgl. Cremers (1973): Toleranzantrag; Sebaldt (1994): Toleranzantrag. Vgl. Stenographische Berichte (1901), S. 367. Vgl. Blaschke (1999): Antisemitismus. Vgl. Mazura (1994): Judenfrage.

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2. POLITISCHE MOBILISIERUNG IM KULTURKAMPF: WÄHLER UND FRAUEN Der im April 1871 mit großer Mehrheit abgelehnte „Grundrechtsantrag“ markierte einen programmatischen, auf den rechtsstaatlichen Ausbau des politischen Systems im Kaiserreich zielenden Kern der Zentrumspolitik. Das galt umso mehr, als der politische Katholizismus bald nach der Reichsgründung bekanntlich unter massiven Druck geriet. Der von Bismarck im Bündnis vor allem mit dem Nationalliberalismus entfesselte „Kulturkampf“ führte zu teilweise massiven Einschränkungen von Bürgerrechten und -freiheiten, denen sich das Zentrum vehement entgegenstellte.14 Das Bestreben der Partei, sich zur überkonfessionellen „Volkspartei“ weiterzuentwickeln, wurde durch diese neuerliche katholische Defensive, die die Mentalität der deutschen Katholiken bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägen sollte, zwar zurückgeworfen. Zugleich konnte das Zentrum sich aber noch schärfer als zuvor als eine Partei der konstitutionellen Rechtssicherung profilieren, von der nicht nur die katholischen Deutschen, sondern alle Angehörigen des neuen kleindeutschen Reichs profitieren mussten. Die Aporien, die sich zwischen liberalen Ansprüchen und Selbststilisierungen einerseits und der restriktiven Praxis des nationalliberalen Antikatholizismus andererseits ergaben, wurden, je länger desto stärker, unübersehbar. Bitter brachte Zentrumsführer Ludwig Windthorst sie auf den Punkt, wenn er angesichts des Lutherjubiläums von 1883 an Peter Alexander Reuss schrieb: „Sie feiern die angeblich errungene Gewissensfreiheit und schmieden neue Ketten für ihre katholischen Mitbürger.“15 Der „Kulturkampf“ führte somit nicht nur – ganz entgegen den Intentionen Bismarcks – zu einer Konsolidierung und Stärkung der Partei des politischen Katholizismus, die bei den ersten Reichstagwahlen in der „Abbauphase“ des Kulturkampfes 1881 eindrucksvoll demonstrierte, wie weitgehend sie das katholische Deutschland unter dem Außendruck des Kulturkampfes politisch integrieren konnte: 86,3 Prozent der Wähler katholischer Konfession gaben ihre Stimme für das Zentrum ab, das mit 100 Mandaten erstmals stärkste Partei im Reichstag wurde.16 Der Konflikt machte dem deutschen Katholizismus, seiner Partei und der ganzen deutschen Öffentlichkeit darüber hinaus auch deutlich, dass der konstitutionelle Parlamentarismus des Kaiserreichs ungeachtet des Fehlens einer dem Reichstag verantwortlichen Regierung eine Plattform bot, der Politik des Reichskanzlers und dem „Primat der Exekutive“ gerade auf konstitutioneller Basis öffentlich entgegenzutreten und damit sukzessive auch das System selbst zu verändern.17

14 Zum Überblick vgl. die Beiträge in Lill / Traniello (1993): Kulturkampf; Clark / Kaiser (2002): Kulturkampf. 15 Brief von Ludwig Windthorst an Peter Alexander Reuss, 4. September 1883. In: Aschoff (2002): Briefe, S. 228. 16 Vgl. Schauff / Morsey (1928): Wahlverhalten, S. 74. 17 Dieser „Primat der Exekutive“ wird jetzt wieder stark herausgestrichen von Conze (2020): Schatten, S. 116–121.

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Zudem bewirkte der Kulturkampf im katholischen Segment der deutschen Gesellschaft eine Politisierung und politische Mobilisierung, die deutlich über den Grad an Fundamentalpolitisierung hinausging, den die gesamte Gesellschaft im Zeichen des demokratischen Reichstagswahlrechtes erreichte. Denn sie betraf im Katholizismus noch stärker als in anderen Gruppen nicht nur die über 25-jährigen Männer, die nach dem für den Reichstag geltenden allgemein und gleichen Wahlrecht die Möglichkeit politischer Mitbestimmung besaßen. Das Zentrum mobilisierte im Kulturkampf auch in bisher ungekanntem Ausmaß katholische Frauen, die in verschiedensten Aktionsformen, bis hin zu Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, passivem und auch aktivem Widerstand gegen Kulturkampfmaßnahmen (besonders im Schulbereich) die Arbeit des politischen Katholizismus unterstützten. Nationalliberale und konservative Gegner von Katholizismus und Zentrum gingen so weit, von der mittelbaren Ausübung des Wahlrechts durch die katholischen Frauen zu sprechen, die maßgeblichen Einfluss auf die Wahlentscheidungen ihrer Ehemänner nähmen und ihrerseits über die seit dem 19. Jahrhundert stark „verweiblichte“ kirchliche Praxis, vor allem über die Beichte, unter der Anleitung des Klerus stünden. Dieser Argwohn gegenüber dem „femininen“ Katholizismus reichte bis zu dem Vorwurf, katholische Ehefrauen verweigerten ihren Gatten die sexuelle Zuwendung oder die häusliche Versorgung, wenn sie nicht das Zentrum wählten.18 Obwohl die Zentrumspartei offiziell nie für das Frauenstimmrecht eintrat, begann die Partei im Zusammenspiel mit dem 1903 in Köln unter Emilie Hopmann und Hedwig Dransfeld gegründeten Katholischen Frauenbund19, der vor allem Katholikinnen der bürgerlichen Mittelschichten organisierte, Frauen direkt in die Wahlkampfarbeit einzubinden und zu politischen Versammlungen einzuladen, was bis 1908 nicht erlaubt war.20 Dabei hatte man im politischen Katholizismus nicht in erster Linie eine politische Emanzipation der Frauen, sondern ihre Rolle als politische Multiplikatorinnen in Familie und Haus, aber auch in Pfarrei und Kommune im Blick. Zudem wurden Frauen als Kerngruppe der sich im Kaiserreich breit entfaltenden katholischen Sozialarbeit und damit auch der christlichen Sozialreform angesehen, die in der politischen Agenda des Zentrums fest verankert war.21 Bereits im November 1905 war es der Vorsitzende der Zentrumsfraktion Alfred Graf von Hompesch, der im Reichstag mit anderen Zentrumsabgeordneten den Antrag stellte, Frauen die Teilnahme an „sozialpolitischen“ Vereinen und Versammlungen zu gestatten.22 Im selben Jahr 1905 unterstützten im bayerischen Landtag einige Zentrumsabgeordnete23, an ihrer Spitze der Bauernvertreter, Land-

18 Vgl. Anderson (2009): Lehrjahre, S. 170–173. 19 Dazu grundlegend: Breuer (1998): Frauenbewegung. Auch: Sack (1998): Zwischen religiöser Bindung, besonders S. 27–41. 20 Vgl. Anderson (2009): Lehrjahre, S. 169. 21 Zum Verständnis der Frauenrollen im politischen Katholizismus vgl. die Beiträge in Raasch / Linsenmann (2018): Frauen. 22 Vgl. Stenographische Berichte (1906), S. 1608f. (Antrag Nr. 42, 29. November 1905). 23 Wohl 8–10 Abgeordnete. Vgl. Rosenbusch (1998): Frauenwahlrecht, S. 371.

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tags- und Reichstagsabgeordnete Georg Heim, die weitere parlamentarische Behandlung einer Petition auf Einführung des Frauenwahlrechts. Heim sprach sich auch auf dem Würzburger Katholikentag von 1907 offen für das Frauenwahlrecht aus.24 In Preußen hatte das Zentrum schon 1876 einen Vorstoß unterstützt, finanziell unabhängigen geschäftstreibenden Frauen das Gemeindewahlrecht zu gewähren.25 Diese Konzentration auf Frauen der „gehobenen“ Schichten wandelte sich im späten Kaiserreich: Als nach dem Reichsvereinsgesetz von 1908 die 1890 begründete erste katholische Massenorganisation, der „Volksverein für das katholische Deutschland“ auch Frauen aufnehmen konnte, mahnte die Volksvereinsführung, die politische und soziale „Schulung“ der Frauen, bei der man z. T. mit dem Katholischen Frauenbund und den katholischen Standesorganisationen der Frauen wie z. B. dem 1885 gegründeten „Verein katholischer deutscher Lehrerinnen“ konkurrierte26, müsse alle Volksschichten einbeziehen. Gerade angesichts der im späten Kaiserreich unübersehbaren politischen Integrationsproblemen des Zentrums in der katholischen Arbeiterschaft, die im politischen Katholizismus besonders nach den sozialdemokratischen Erfolgen bei den Reichstagswahlen 1912 alarmiert zur Kenntnis genommen wurden, schien Arbeiterfrauen und berufstätigen Frauen eine entscheidende Funktion zuzukommen – denn das „funktionale“ Motiv bei der Einbeziehung katholischer Frauen in politisch-soziale Handlungsfelder blieb im Katholizismus weitgehend erhalten: Politische Frauenarbeit diente der Anbindung der katholischen Männer, der Wähler des Zentrums. Dieses funktionale Verständnis der „Frauenfrage“ herrschte insbesondere in der Zentrumspartei als Kern des politischen Katholizismus vor. Der Entstehung von Zentrumsfrauenorganisationen im späten Kaiserreich, wie z. B. in Düsseldorf 1912, stand die Partei daher mit großer Skepsis gegenüber, die von Eindämmungsversuchen bis zu Auflösungsforderungen reichte.27 Diese Haltung korrespondierte im wesentlichen mit der eindeutigen Ablehnung der „politischen Frau“ durch den deutschen Episkopat des Kaiserreichs, obwohl das Zentrum auch in diesem Bereich seinen Charakter als „politische“, nicht konfessionelle oder gar an bischöfliche Weisungen gebundene Partei herauszustellen suchte. Zudem gab es auch unter den deutschen Bischöfen des Kaiserreichs durchaus Bewegung in der Frage der politischen Betätigung von Frauen: So trat Michael von Faulhaber schon in seiner Straßburger Professorenzeit und dann als Bischof von Speyer und Münchener Erzbischof nicht nur nachdrücklich für das Universitätsstudium einer (freilich eng begrenzten) Anzahl von Frauen ein, sondern hielt spätestens während des Ersten Weltkrieges die Einführung des Frauenwahlrechts für unausweichlich. Schon 1913 hatte er deutlich gegen diejenigen Stellung bezogen, die die Ablehnung des Wahlrechts der

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Vgl. Arning (2018): Frauen, S. 131. Vgl. Anderson (2009): Lehrjahre, S. 126, 169. Vgl. Breuer (1998): Frauenbewegung, S. 172–187. Ebd., S. 183–187, 348f.

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Frauen theologisch-dogmatisch fundiert sahen: Man könne, so Faulhaber, „persönlich ein Gegner des Frauenstimmrechts sein, aber nicht aus Glaubensgründen.“28 Insgesamt ist also festzuhalten: Die Demokratisierungsdynamik der Gesellschaft des Kaiserreichs, auf die der politische Katholizismus mit der fortschreitenden Einbindung von Frauen reagieren musste, um seine politische Integrationskraft zu bewahren, machte die Politisierung auch der katholischen Frauen unabwendbar. Dass der politische Katholizismus das Frauenwahlrecht 1918/19 schnell aufgriff, ja zu einem politischen Erfolg gestalten konnte, hängt nicht nur mit dem Pragmatismus der Zentrumspartei, sondern ganz entscheidend mit den skizzierten Entwicklungen während der vier Jahrzehnte des Kaiserreichs zusammen. Denn was in den Jahren nach 1900 plastisch und unaufhaltsam wurde, hatte bereits im weiblichen Engagement während des Kulturkampfes zu wachsen begonnen. Auch hier muss es die Sicht auf die gesellschaftliche und politische Realität des Kaiserreichs also verzerren, den Fokus ausschließlich oder vorrangig auf die Grenzen der Handlungsspielräume katholischer Frauen in Gesellschaft und Politik zu richten. Innerhalb unübersehbarer (aber doch fortwährend durchlässigerer) Grenzen vollzog sich in diesem Bereich eine nachhaltige Veränderung, die das Kaiserreich als demokratiegeschichtliche „Inkubationszeit“, als Phase von Wandel und Möglichkeiten hervortreten lässt. Zwischen dem späten Kaiserreich und der Weimarer Republik zeigt sich deshalb auch auf diesem Feld weit mehr Kontinuität als Bruch: Bei den Wahlen zur Nationalversammlung, als das Zentrum unter allen Parteien die meisten Frauen mobilisieren konnte29, mussten die Katholikinnen nicht erst politisiert werden, auch wenn ihre Akzeptanz als politische Akteurinnen in der Zentrumspartei prekär blieb. 3. PARLAMENTE UND WAHLRECHT Zu dem von der Parlamentarismusforschung konstatierten „Einflussgewinn“ des Reichstages im politischen Gefüge des Kaiserreichs30 hat der politische Katholizismus durch eine rege parlamentarische Arbeit beigetragen. Ludwig Windthorst, die bis zu seinem Tod 1891 dominierende Führungsfigur des politischen Katholizismus, war im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus über Jahrzehnte geradezu eine Verkörperung der politischen Lebensform des Parlamentariers 31 – „einer der ersten Berufsparlamentarier in Deutschland“.32 Die Reichstagsfraktion blieb auch nach der späten Konstituierung eines „Reichsausschusses“ des Zentrums als 28 So zit. in Breuer (1998): Frauenbewegung, S. 198. Vgl. auch Röwekamp (2018): Kampf um die Ehe, S. 230f., Anderson (2009): Lehrjahre, S. 504. 29 Vgl. Schauff / Morsey (1928): Wahlverhalten, S. 64–68; Morsey (1966): Zentrumspartei, S. 145. 30 Zu neuerem Forschungsstand und Diskussionen: Kühne (2005): Demokratisierung. 31 Vgl. dazu Anderson (1988): Windthorst. 32 Morsey (2004): S. 146.

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gesamtdeutsches Führungsgremium im Februar 191433 das unbestrittene Kraftzentrum der Partei.34 Entschieden trat das Zentrum denn auch in allen Wahlkämpfen des Kaiserreichs für die Erhaltung des allgemeinen und gleichen Reichstagswahlrechts ein und unternahm immer wieder Versuche, dieses Wahlrecht auch in den Bundesstaaten durchzusetzen. Schon 1873 beantragte Windthorst im preußischen Landtag die Ersetzung des Dreiklassenwahlrechts durch ein allgemeines und gleiches Wahlrecht.35 In Bayern setzte das Zentrum, nachdem es für die Landtagswahl 1905 eine Wahlabsprache mit der gemäßigten bayerischen SPD getroffen hatte, in einem auch innerparteilich nicht unumstrittenen Bündnis mit den Sozialdemokraten 1905/06 das allgemeine, direkte, aktive und passive Landtagswahlrecht der Männer durch. Auch bei der Landtagswahl von 1907 trat das Zentrum – wiederum gegen Bedenken aus dem bayerischen Episkopat und aus der eigenen Anhängerschaft – mit der Stichwahlparole „Mit den Sozialdemokraten gegen die Liberalen!“ an.36 In Baden, wo bereits das allgemeine gleiche Landtagswahlrecht der Männer bestand, setzte sich das Zentrum erfolgreich für das 1904 eingeführte direkte Wahlrecht zur zweiten Kammer des Landtages ein – Auftakt einer Entwicklung, die zur Bildung des „Großblocks“ und zur vorübergehenden Schwächung des Zentrums als stärkster politischer Kraft in Baden führen sollte.37 Auch im Großherzogtum Hessen unterstützte die Partei die in der Wahlrechtsreform von 1911 schließlich erreichte geheime und direkte Wahl der zweiten Kammer.38 In Württemberg kämpfte das Zentrum unter der Führung Adolf Gröbers, der ab 1917 auch die Zentrumsfraktion im Reichstag und ab 1919 die Fraktion in der Weimarer Nationalversammlung führen sollte39, für die Einführung des Verhältniswahlrechtes.40 Die Motive für Windthorsts Forderung in den 1870er Jahren nach der Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, was faktisch einen wirkungsvollen Demokratisierungsschritt für den größten Bundesstaat bedeutet hätte41, machte indes deutlich, wie spannungsvoll sich im Zentrum christliche, katholisch-konfessionelle und konservative Elemente verbanden. Denn ganz offen sprach Windthorst 1873 aus, dass der Beweggrund für seinen Antrag derselbe war, der auch Bismarck zur Gewährung des demokratischen Reichstagswahlrechts geführt hatte: Er erhoffte sich von der Masse der bäuerlichen, unter- und kleinbürgerlichen Wähler eine deutlich stärker konservative Wahlentscheidung als bei den sogenannten „oberen Klas-

33 Vgl. dazu Bachem VII (1930): Vorgeschichte, S. 422–437. Vgl. auch den Beitrag von Wolfram Pyta in diesem Band. 34 Vgl. dazu Koch (1984): Zentrumsfraktion; Anderson (1988): Windthorst. 35 Vgl. Anderson (1988): Windthorst, S. 186–188; Bachem III (1927), S. 282–285. 36 Vgl. Volkert (2002): Reform; Bachem VIII (1931), S. 38–46. 37 Vgl. Thiel (1976): Großblockpolitik, besonders S. 17–24; Bachem VIII (1931), S. 144–158. Siehe hierzu auch den Beitrag von Michael Kitzing in diesem Band. 38 Ebd., S. 215f. 39 Vgl. Raberg (1998): Gröber. 40 Vgl. Gawatz (2001): Wahlkämpfe, S. 33–82, 99–108, 249–258; Bachem VIII (1931), S. 82f. 41 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Kühne (1994): Dreiklassenwahlrecht.

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sen“. Angesichts grundsätzlicher Bedenken in der Zentrumsfraktion des preußischen Abgeordnetenhauses, die vor allem von dem hochkonservativen protestantischen Mitstreiter und „Hospitanten“ der Fraktion, Ernst Ludwig von Gerlach, vorgebracht wurden, stimmte Windthorst zwar der Sympathie für den im Dreiklassenwahlrecht zumindest rudimentär bewahrten Gedanken des „Ständetums“ ausdrücklich zu, führte aber ins Feld, „daß wir eine wild-feindliche Regierung uns gegenüber hätten, und daß die bedrohten Rechte in Kirche und Schule unabhängig seien von Standes- und Vermögensunterschieden.“42 Ständegesellschaft – so sollte Windthorst es in der Debatte des Abgeordnetenhauses noch einmal in einer ganz prinzipiell katholisch-konservativen, antiliberalen, antikapitalistischen und auf einer Linie mit Sozialkonservativen wie Hermann Wagener liegenden Zuspitzung betonen – war eben nicht die vom preußischen Dreiklassenwahlrecht begünstigte „Plutokratie“: „Das destruktivste Element der Welt ist das Geld, und der Versuch, das allgemeine Wahlrecht durch den Geldbeutel zu korrigieren, ist der allerbedenklichste, den man machen kann.“43 Eine solche Argumentation war nicht nur für Gerlach, sondern ebenso für viele der in den konservativen Parteien verbliebenen preußischen Konservativen nachvollziehbar, auch wenn sie bei Windthorst weniger gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Überzeugung entsprang als vor allem taktischen Stellenwert besaß. 44 4. SCHICHTENÜBERGREIFENDE INTEGRATION UND POLITISCHER PRAGMATISMUS Sozial war die Partei des politischen Katholizismus so heterogen, wie keine andere deutsche Partei. Den auf der Führungsebene von Fraktion und Partei stark präsenten Vertretern des rheinischen, westfälischen, schlesischen und süddeutschen Adels standen Industrielle aus der Rheinprovinz und Schlesien, ein breites Feld katholischer bürgerlicher Mittelschichten und die wachsende Zahl katholischer Arbeiter gegenüber. Gerade in der Arbeiterschaft des rheinisch-westfälischen Industriegebietes konnte sich das Zentrum, je mehr die Sozialdemokratie nach 1890 an Boden gewann, nur mit Mühe behaupten. Es gelang durch den bereits erwähnten „Volksverein für das katholische Deutschland“, der nicht erst in der Weimarer Republik für das katholische Deutschland zum „Verein der Vereine“ wurde45, durch die katholischen Arbeitervereine mit ihren sozialpolitisch wirkenden Pfarrern und Kaplä-

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So Gerlach in seinen Erinnerungen. So zit. Bachem III (1927), S. 284. So zit. Anderson (1988): Windthorst, S. 186. Zu Gerlach grundlegend Kraus (1994): Gerlach, hier besonders Bd. 2, S. 859–920. Vgl. Grothmann (1997): „Verein der Vereine“.

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nen46, durch die Mobilisierung für das Zentrum auf den Katholikentagen 47 und durch eine parlamentarisch kontinuierlich betriebene Sozial- und Arbeiterschutzpolitik. Für sie bildete der wesentlich von dem westfälischen Bauernführer Burghard von Schorlemer-Alst erarbeitete und von dem Zentrumsabgeordneten Ferdinand Heribert Graf von Galen im März 1877 in den Reichstag eingebrachte erste umfassende Arbeiterschutzantrag den Auftakt. Mit ihm versuchte man, absehbaren parlamentarischen Initiativen der Sozialdemokraten zuvorzukommen. Auch im Arbeiterschutzantrag wurde einmal mehr deutlich, dass es nicht liberale oder gar „revolutionäre“, sondern sozialkonservative Ideale waren, die in der Zentrumspolitik faktisch auf eine sozial- und rechtsstaatliche Weiterentwicklung des Kaiserreichs hinwirkten: Der angestrebte umfassendere Sonntags-, Familien- und Frauenschutz sowie das im Antrag geforderte Verbot der Fabrikarbeit von Kindern waren von diesem Motiv bestimmt.48 In der Sozialpolitik wie auch in der Schutzzollpolitik, die das Zentrum nach dem Ende des Kulturkampfes und der „konservativen Wende“ Bismarcks (bei gleichzeitiger Wahrung seiner föderalistischen Grundsätze durch die „Franckensteinsche Klausel“) unterstützte49, zeigte sich die Ambivalenz, welche die Partei auch in ihrer politischen Kommunikation prägte – eine Ambivalenz, die von den einen als Vermittlungs- und Kompromissfähigkeit bewundert, von den anderen schon seit Windthorsts Tagen als „Eiertanz“ verhöhnt wurde. Der Zentrumsführer bis 1891, ohnehin mit tausenden von Wortmeldungen im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus ein parlamentarischer Rhetoriker von hohen Graden, hatte die Kunst perfektioniert, zu einem Antrag im Parlament so Stellung zu nehmen, dass die Zentrumsfraktion sich ihre taktische Freiheit bei der anschließenden Abstimmungsentscheidung erhielt.50 Aber auch und vor allem nach innen war eine politische Kommunikation des „Sowohl-als auch“ unerlässlich, die ganz pragmatisch vollzogen und kaum je politikstrategisch oder gar politiktheoretisch reflektiert wurde. Heinz Hürten hat die „eigentümliche Theorielosigkeit“, mit der sich der politische und soziale Katholizismus in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts formiert hatte, als ein Grundcharakteristikum hervorgehoben, das in seinem Kern bis zum Ende erhalten geblieben sei: „Eine Theorie der katholischen Bewegung als Blaupause zu ihrer Gestaltung hat es nie gegeben.“51 Theoretische Reflexion von Politik galt im politischen Katholizismus lange als Domäne liberaler und

46 Vgl. v. a. Heitzer (1979): Volksverein; Klein (1996): Volksverein. Aus den Lokal- und Regionalstudien seien nur drei neuere Beispiele für das Ruhrgebiet, das Rheinland und Süddeutschland herausgegriffen: Bers (1979): Katholische Arbeitervereine; Ammich (1991): Arbeitervereine; Bachem-Rehm (2004): Ruhrgebiet. 47 Vgl. Ruppert (2015): Laien. 48 Zur Sozialpolitik und zum „Antrag Galen“ vgl. u. a. Wattler (1978): Sozialpolitik; Ayaß (2006): Hitze. 49 Vgl. Horstmann (1983): Wirtschaftspolitik. 50 Vgl. Anderson (1988), S. 243–255. 51 Hürten (1992): Katholiken, S. 29.

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sozialistischer Doktrinäre. Erst im politischen Katholizismus der Weimarer Republik sollten sich dann Stimmen mehren, die das Bedürfnis artikulierten, die politische Flexibilität der Zentrumspartei auch „ideologisch“ zu untersetzen und sie als eine aus der religiös entlasteten Integrationskraft des Katholizismus fließende „typisch katholische“ complexio oppositorum zu theoretisieren.52 Im Kaiserreich stand alltägliche und pragmatische Integration der Partei nach innen auf dem Programm, die Kompromisswillen und Kompromissfähigkeit als Grundkompetenz notwendig machte und mit Sicherheit zur „Koalitionsfähigkeit“ des Zentrums sowohl im Konstitutionalismus des Kaiserreichs als auch im Übergang zur institutionellen Parlamentarisierung ab 1917 wesentlich beigetragen hat. So waren, um nur schlagwortartig auf einige zentrale Beispiele aus der Innenpolitik des Kaiserreichs zu verweisen, einerseits den Konservativen in der Partei staatliche Sozialpolitik und Protektionismus als Ausdruck gesellschaftsstabilisierender, sozialkonservativ-patriarchaler Daseinsvorsorge zu vermitteln, andererseits dem Arbeiterflügel als Instrumente eines sozialreformistischen Systemumbaus. Forderungen nach erweiterter politischer Partizipation und Parlamentarisierung wurden durch das noch in den „Leitsätzen“ der Partei vom 30. Juni 1918 eindeutige Bekenntnis zu einer „starken Monarchie“ ausgeglichen.53 Die nach 1890 verlässliche Unterstützung des Zentrums für die finanziell ausgreifende und unitarisch wirkende Flotten- und Rüstungspolitik im Zeichen der „Weltpolitik“ auf der einen Seite wurde durch die von der Partei durchgesetzte föderale Finanzgesetzgebung und durch Kritik an der deutschen Kolonialverwaltung auf der anderen Seite konterkariert. Diese Kritik führte 1907 zu einer Reichstagswahl („Hottentottenwahlen“), die ein letztes Mal von Blockbildung gegen Zentrum und Sozialdemokratie bestimmt war.54 5. AUF DEM WEG IN DIE PARLAMENTARISCHE DEMOKRATIE? Unverkennbar verlor die Partei im späten Kaiserreich an politischer Integrationskraft. 1912 wählten nur noch 54,6 Prozent der katholischen Wähler das Zentrum, das aufgrund des Mehrheitswahlrechts und der Tatsache, dass seine Wähler geographisch konzentriert lebten und der Partei den größten Anteil sogenannter „sicherer Wahlkreise“ unter allen Parteien sicherten, seine Mandatszahl aber im wesentlichen behaupten konnte.55 Ungeachtet solcher Erosionserscheinungen konnte das Zentrum den Spagat zwischen Demokratisierungsforderungen, Sozialkonservatismus und „nationaler Politik“ im Wilhelminismus nicht zuletzt deshalb aushalten, weil der auch im späten Kaiserreich noch virulente Antikatholizismus als Integrationsklammer wirkte. Das zeigten nicht nur gesellschaftliche Vorgänge wie der

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Vgl. Ruppert (1992): Zentrum, S. 170. Auch: Ruppert (2007): Politik. Vgl. Lepper (1998): Volk, S. XX. Zum Kontext vgl. Nipperdey (1995): Deutsche Geschichte 1866–1918 II, S. 729–741. Vgl. Schauff / Morsey (1928): Wahlverhalten, S. 74.

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„Fall Spahn“ 1901 oder der in den protestantischen Universitäten und Hochschulen heftige, nicht selten in Gewalt eskalierende Kampf gegen die katholischen Studentenverbindungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.56 Auch auf der parteipolitischen Ebene musste das Zentrum noch im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg die Erfahrung machen, dass nicht nur seine politische Anschlussfähigkeit geschätzt, sondern dass im Zweifel auch von allen „anderen“, von der Sozialdemokratie bis zu den Konservativen, Politik gegen den politischen Katholizismus gemacht wurde. Die bereits erwähnten Reichstagswahlen 1907 und die badische „Großblockpolitik“ ab 1905 zeigten das deutlich; gelegentliche Kooperation und Wahlabsprachen mit Konservativen, Liberalen und SPD änderten daran nichts. Zugleich grenzte sich die Partei deutlich von der Zumutung direkter kirchlicher Handlungsanweisungen ab. Im Zentrums- und Gewerkschaftsstreit des frühen 20. Jahrhunderts setzte sich gegen die integralistische Richtung die Auffassung durch, dass das Zentrum auch in Zukunft programmatisch keine „katholische“, sondern eine politische Volkspartei auf christlicher Grundlage sein solle.57 Nach heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei, aber auch angesichts andauernder konfessionalistischer Vorwürfe gegen das Zentrum, betonten die Reichstagsfraktion, die Zentrumsfraktion im preußischen Abgeordnetenhaus und der Landesausschuss der preußischen Zentrumspartei im November 1909 in einer gemeinsamen Erklärung, das Zentrum sei „grundsätzlich eine politische nichtkonfessionelle Partei […] auf dem Boden der Verfassung des Deutschen Reiches.“58 Mit der Beteiligung an der Friedensresolution des Reichstages 1917 und der entscheidenden Rolle, die das Zentrum im „Interfraktionellen Ausschuss“ spielte, signalisierte die Partei des politischen Katholizismus dann während des Weltkrieges, dass sie bereit war, in einer parlamentarischen Monarchie kompromissgetragen bzw. koalitionsartig entscheidende politische Verantwortung zu übernehmen.59 Eine deutsche Republik lag bis in den November 1918 hinein nicht im politischen Horizont der Zentrumspartei. Auch das politische Fahnenwort der „Demokratie“ lehnte die Partei ab. Papst Leo XIII. hatte zwar im Zuge der „Ralliement“-Politik gegenüber dem laizistischen Frankreich auch die Republik zu einer für Katholiken akzeptablen Staatsform erklärt. Die „christliche Demokratie“ aber wollte dieser für das 20. Jahrhundert bahnbrechende päpstliche Soziallehrer in seiner Enzyklika „Graves de communi“ von 1901 auf sozialcaritative Aktivitäten beschränkt wissen. Das Zentrum vermied daher den Terminus, der zudem mit dem Ruch des Revolutionären und dem Beigeschmack Rousseauscher Volkssouveränitätstheorie umgeben war.60 Die Stunde

56 Vgl. Weber (1980): Fall Spahn; Stitz:(1960): Kulturkampf. 57 Vgl. Zu den wesentlichen Grundlinien von Gewerkschaftsstreit und „Zentrumsstreit“ vgl. Stegmann / Langhorst (2005): Geschichte, S. 694–700; Busemann (2017): Laienemanzipation, S. 293–325. 58 Vgl. den Wortlaut der Erklärung in Bachem VII (1930), S. 236f. 59 Bermbach (1967): Vorformen; Rauh (1977): Parlamentarisierung; Schönberger (2001): Überholte Parlamentarisierung. 60 Vgl. Uertz (2005): Gottesrecht; Gerber (2016): Pragmatismus.

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einer „christlichen Demokratie“, die nach Hans Maiers Definition die Demokratie im Unterschied zum „politischen Katholizismus“ als ein „Faktum von providentieller Bedeutung“ sieht, war noch nicht gekommen.61 Unübersehbar aber ist, dass das Zentrum durch seine breite Mobilisierung im Kulturkampf, als Verfassungs-, Wahlrechts- und Sozialstaatspartei sowie durch seine außerordentliche politische Integrationsfähigkeit Entscheidendes zur Demokratisierung des Kaiserreichs beigetragen hat. Auch im Blick auf den politischen Katholizismus erweist sich das Kaiserreich als faszinierender Möglichkeitsraum der politischen und gesellschaftlichen Moderne in Deutschland und Europa, als demokratische Übungsperiode62, die das deutsche Verständnis von Demokratie bis heute ganz wesentlich prägt. Nimmt man hinzu, dass auch der Rechtstaat seine entscheidenden Wurzeln im Kaiserreich hat, wird deutlich, dass es, trotz der unbezweifelten Schwerkraft und institutionellen Sicherung des monarchisch-militärisch-bürokratischen Komplexes bis 1914, einseitig und verkürzend ist, die Wirkung des Kaiserreichs auf die deutsche Gegenwart vorrangig mit dem Bild des „Schattens“ beschreiben zu wollen.63 Gerade der politische Katholizismus und die Zentrumspartei können nicht als Beispiel dafür herangezogen werden, dass die Demokratisierung im Kaiserreich, wie zuletzt Eckart Conze im Anschluss an Christoph Schönberger betont hat, einen Übergang zum Parlamentarismus blockiert habe.64 Der politische Katholizismus trieb diese Demokratisierung wesentlich mit voran, agierte innerhalb ihrer Dynamiken und strebte dabei keine Systemdurchbrechung an. Aber er bewies – obgleich eine gewaltige und konfliktträchtige Anpassungsleistung vollzogen werden musste, welche die Partei einmal mehr an den Rand der Auflösung brachte – ab dem November 1918 auch seine seit 1870 gewonnene Fähigkeit, schnell und konsequent „auf den Boden der Tatsachen“ zu treten und in die Rolle einer staatstragenden Partei der Republik zu schlüpfen.65 LITERATUR Anderson, Margaret Lavinia: Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks. Düsseldorf 1988. Anderson, Margaret Lavinia: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Kaiserreich. Stuttgart 2009. Ammich, Michael: Die katholischen Arbeitervereine im Bistum Regensburg 1849–1939. Köln 1991.

61 Maier (2006): Revolution, S. 31f. 62 Anderson (2009): Lehrjahre, S. 512–522 sehr differenziert zu der Frage, ob diese „Einübung“ demokratischen Agierens integrierend und befriedend oder eher konfliktverschärfend und desintegrierend gewirkt habe. Dagegen recht holzschnittartig zu diesem Problem: Conze (2020): Schatten, S. 129–134. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 125–134. 65 Zur Diskussion darüber grundlegend Loth (1984): Katholiken; Loth (2018): Katholizismus, S. 167–196, 258–275.

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DIE REICHSGRÜNDUNG ZWISCHEN JUDEN-EMANZIPATION UND ANTISEMITISMUS Sabine Mangold-Will Die aktuelle Debatte anlässlich der Gründung des „Deutschen Reiches“ vor 150 Jahren ist reich an alten Kontroversen und neuen Blickwinkeln. Sie ist – das dürfte mittlerweile offensichtlich geworden sein – vor allem eine geschichtspolitische Auseinandersetzung: mittels der Stellungnahme zum Kaiserreich werden die gegenwärtigen Hoffnungen für das künftige Deutschland verhandelt. Solche gesellschaftlichen Interventionen gehören zur Geschichte selbst. Die gegenwärtigen sind indes deshalb so bemerkenswert, weil sie nach rund 70 Jahren bundesrepublikanischer Geschichtswissenschaft auf seltsame Weise zu Vereinfachungen und Einseitigkeiten neigen. Den Historiker, der die Vergangenheit erkennen und erklären, aber nicht richten will, kann indes allein das anhaltende „Verständnis für die weltumstürzende Erkenntnis des Historismus“1 leiten: dass nämlich „frühere Zeiten“ nicht zuerst an den „Errungenschaften“ der Gegenwart zu messen oder „im Namen einer idealgesetzten Zukunft“ zu entsorgen sind.2 Jede Epoche ist vielmehr unmittelbar aus eigenem Recht – das ist die Zumutung des Historikers an die Gegenwart, die nicht zu verwechseln ist mit einem „Freibrief“ für die Vergangenheit. So und in diesem Sinne sollen denn also in diesem Sammelband zu 150 Jahren Reichsgründung einige wenige Worte zu Judentum und Antisemitismus im Kaiserreich nicht fehlen. Es gäbe – das muss vorausgeschickt werden – wesentlich Berufenere als mich, über dieses Thema zu schreiben. Es existieren glücklicherweise zahlreiche fundierte und zugleich gut lesbare Zusammenfassungen zu Judentum und Antisemitismus im Kaiserreich,3 eine der besten, weil differenziertesten zuletzt von Christoph Nonn in seinem ebenso unterhaltsamen wie forschungsnahen Buch zum Kaiserreich.4 Mein kleiner Zwischenruf kann daher nur auf das hinweisen, was in der Forschung längst bekannt ist, will nur zeigen, wie sich das Thema heute darstellt. Er versteht sich mithin selbst als geschichtspolitischer Einwurf: Wenn es ihm gelingt, 1 2 3

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Sommer (2021): Wie man historische Identität zerstört, S. 3. Diese Auffassung und Formulierung, einschließlich der Zitate, nach: Nipperdey (1993): Machtstaat vor der Demokratie, S. 888. Vgl. u.a. Brenner / Jersch-Wenzel / Meyer (1996): Emanzipation und Akkulturation, bes. Kap. 8.5: Die unvollständige Integration, S. 315–325. Lowenstein / Mendes-Flohr / Pulzer / Richarz (1997): Umstrittene Integration 1871–1918. Brechenmacher (2011): Jüdisches Leben im Kaiserreich. Althammer (2017): Das Bismarckreich 1871–1890, S. 106–112. Nonn (2021): 12 Tage und ein halbes Jahrhundert, S. 357–409.

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jene Stimmen zu verstärken, denen es um Historisierung und Differenzierung geht, dann hätte dieser bescheidene Beitrag sein Ziel bereits erreicht. Wie Staat und Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches mit der jüdischen Minderheit in ihren Grenzen umgingen, verweist auf Belastungen wie Entwicklungsmöglichkeiten des 1871 gegründeten Einheitsstaates. Beide zusammen ergeben ein Bild. Das Folgende ist, wie gesagt, kein Forschungsbeitrag im engeren Sinne; es ist der Versuch einer Bestandsaufnahme. Mein Text setzt sich daher aus zwei Teilen zusammen: Zunächst werde ich einen kurzen Blick auf die Reichsgründungsgedenken 1971 und 2021 werfen, um zu fragen, welche Bedeutung dem Thema „Judentum und Antisemitismus“ damals wie heute in der Gesamtbeurteilung des Reiches zugeschrieben wurde. Im zweiten Teil werde ich dann zusammentragen, was aus Sicht der Fragestellung der Tagung, aus der dieser Sammelband hervorgegangen ist, zur Reichsgründung, den deutschen Juden und dem Antisemitismus zu sagen ist. Denn die Veranstalter, die Mitglieder der AG Orte der Demokratiegeschichte im Namen des Vereins Weimarer Republik und der Otto-von-Bismarck-Stiftung, hatten ihre Konferenz zu „150 Jahre Kaiserreich“ mit der Frage überschrieben: „Einigkeit und Recht, doch Freiheit?“. Mit dem Verweis auf das Deutschlandlied August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens, dessen dritte Strophe die Nationalhymne der gegenwärtig existierenden Bundesrepublik Deutschland bildet5, wurde die Geschichte des Kaiserreiches innerhalb der „Demokratiegeschichte“6 Deutschlands zwischen (historisch vereinfacht gesprochen) 1848 und 1949, hier verstanden als Chiffre für die Bundesrepublik unter dem Grundgesetz, das die Menschenwürde in den Mittelpunkt von Demokratie rückt, verortet. Ganz abgesehen davon, dass damit eine westdeutsche Rahmung aufscheint, die die DDR als sich ebenfalls Demokratie nennende Variante (aus) der deutschen Geschichte ausblendet, wird – bei aller konkreten Differenzierung – doch ein Geschichtsbild evoziert, das die Normativität der Demokratie als Raum nicht allein politisch-bürgerlicher Freiheit, sondern auch persönlicher und souveräner Freiheit beschwört. Doch wie fügt sich das Kaiserreich unter der Perspektive von Judentum und Antisemitismus in diese, wie ich es lieber nennen würde, „Demokratisierungsgeschichte“ ein? Zumal in eine Demokratisierungsgeschichte, die unter „Freiheit“ mehr versteht als die uneingeschränkte Möglichkeit an der Selbstregierung des Volkes teilzunehmen; deren Maß also, im Begriff der 5

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Das „Lied der Deutschen“ dichtete Heinrich August Hoffmann von Fallersleben im August 1841 auf der damals zu Großbritannien gehörenden Nordseeinsel Helgoland. Seine dritte Strophe, seit 1991 die Nationalhymne des vereinigten Deutschlands, lautet: „Einigkeit und Recht und Freiheit / Für das deutsche Vaterland! / Danach lasst uns alle streben / Brüderlich mit Herz und Hand! / Einigkeit und Recht und Freiheit / Sind des Glückes Unterpfand – / Blüh im Glanze dieses Glückes, / Blühe, deutsches Vaterland!“ Lang (2021): Wie demokratisch war der Obrigkeitsstaat?, S. 3. Unter Demokratiegeschichte wird nach Definition der Herausgeber eine ergebnisoffene Demokratisierungsgeschichte verstanden. Demokratie steht synonym für die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer rechtsstaatlichen und parlamentarischen Demokratie sowie der Verpflichtung auf die Wahrung der „Menschenwürde“.

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Menschenwürde verdichtet, die Sicherheit der körperlichen Unversehrtheit und die Freiheit von gesetzlicher wie sozialer Diskriminierung bildet. 1. BUNDESPRÄSIDENTEN UND HISTORIKER 1971 UND 2021 Jüdisches Leben im Kaiserreich spielte für die Beurteilung der Staatsgründung von 1871 noch beim 100-Jahr-Gedenken weder für die Historiker noch die politische Elite der Bundesrepublik Deutschland eine explizite Rolle. In seiner Ansprache am Vortag des 18. Januar 1971 hatte der erste sozialdemokratische Bundespräsident Gustav Heinemann vor allem das Auseinandertreten von Einheit und Freiheit im Blick.7 Das Reich, das er vor den Augen seiner Zuhörer entstehen ließ, hatte nicht nur unvollendet und verspätet zur Einheit gefunden. Es bot vor allem keine „volle innere Freiheit der Bürger“. Wie Heinemann formulierte, sei bei der Ausrufung des Reiches nicht nur „keiner von den 1848ern zugegen“ gewesen, sondern auch das Reichstagswahlrecht habe keine „Verbindung von demokratischem und nationalem Wollen“ dargestellt.8 Der Hinweis auf nationale oder religiöse Minderheiten kam in Heinemanns Ansprache hingegen nicht vor. Nie war Deutschland in dieser Hinsicht eben homogener als in der frühen Bundesrepublik. Dabei hatte die historische Forschung längst den Blick für die nationalen und konfessionellen Minderheiten in die Beurteilung des Kaiserreiches miteinbezogen. Je ein großer Aufsatz zu Polen und Dänen, zu Elsaß-Lothringen wie zum Katholizismus finden sich beispielsweise in der aus 16 Studien bestehenden historiographischen Bestandsaufnahme, die Theodor Schieder im Vorfeld des Gedenktages 1970 vorgelegt hatte.9 Ein eigenständiges Kapitel zu Judentum und Antisemitismus sucht der Leser indes auch in diesem Standardwerk zur Reichsgründung vergeblich. Wie anders fiel dagegen die Rede des gegenwärtigen sozialdemokratischen Bundespräsidenten anlässlich der Reichsgründung vor 150 Jahren aus. Es kam Frank-Walter Steinmeier sichtlich ungelegen, dass ausgerechnet ihm die Aufgabe zukam, das Gedenken an diesem Jahrestag moderieren zu müssen.10 Noch immer traten in Steinmeiers Rede, die sich selbst in die Tradition Heinemanns stellte, Einheit und Freiheit im Kaiserreich in Konkurrenz zueinander. Insbesondere das Reichstagswahlrecht erschien in ihr als verunglückter Manipulationsversuch Bismarcks, das lediglich als Nebenwirkung demokratisierende Kraft entfaltete. Doch während Heinemann das Kaiserreich noch eindeutig aus der deutschen Demokratiegeschichte ausschloss, klang bei Steinmeier nun immerhin der Sinn für die Doppelgesichtigkeit des Kaiserreiches an. Nicht zuletzt sein Hinweis auf jüdisches Leben nach 1871 in Deutschland zeigte die – wenn auch widerwillige – Adaption des forschungsnahen Bildes vom ambivalenten Kaiserreich: Ausdrücklich sprach er 7 8 9 10

Heinemann (1975): 100. Jahrestag der Reichsgründung. Die Zitate in der Reihenfolge: ebd., S. 47, S. 46 und S. 47. Vgl. Schieder (1970): Reichsgründung 1870/71. Steinmeier (2021): 150. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches.

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von „Militarismus, nationaler Überheblichkeit, Antiparlamentarismus und Antisemitismus“ als Erscheinungen des Nationalsozialismus’, „für die Wurzeln auch im Kaiserreich gelegen haben.“11 Zugleich gedachte er im Zusammenhang mit den „vorgeblichen inneren Feinden“ neben den Sozialdemokraten, der polnischen und katholischen Bevölkerung nunmehr auch der „formal gleichberechtigten jüdischen Bevölkerung, die gleichwohl einem zunehmenden Antisemitismus ausgesetzt war“. Wer wie Steinmeier ausgerechnet „Gesetzgebung und Rechtsprechung“ der Bundesrepublik Deutschland in die „Tradition des Kaiserreiches“ stellte, konnte also an der gesetzlichen Gleichberechtigung der deutschen Juden in der Beurteilung der Reichsgründung nicht vorbei. 2. GESETZ UND HOFFNUNG 1924, in den „guten“ Jahren der Weimarer Republik also, erschien in Berlin die Autobiographie des preußischen Justizrates Dr. Martin Lövinson. Lövinson, geboren 1859, war der Sohn eines aus Danzig stammenden, zu Wohlstand aufgestiegenen Möbelfabrikanten, der sein ganzes Leben in Berlin verbracht hatte, bevor er 1930 ebenda starb. An das Jahr 1871 erinnerte er sich darin mit den folgenden Worten: So bin ich denn in meiner Erzählung bis zum Jahre 1871, d. h. bis zu meinem 12. Lebensjahre gekommen […] Es ist nicht nur für unseren kleinen Familienkreis, sondern für die politischen und sozialen Verhältnisse des gesamten Vaterlandes eine Schicksalsstunde geworden. Der siegreiche Krieg fand seinen Abschluß in dem ruhmreichen Frankfurter Frieden und der Gründung des neuen Deutschen Reichs. […] Besonders ging auch uns Juden der Umschwung der inneren Verhältnisse lebhaft an. Durch das Gesetz über die Gleichberechtigung der Bekenntnisse vom Jahre 1869 waren in ganz Deutschland nunmehr die Schranken gefallen, die in den Gesetzen gegen den Zugang zu den Ämtern für sie aufgerichtet waren. […] Die beiden Vettern meiner Mutter [...] kamen mit dem Eisernen Kreuze aus dem Felde zurück. Man sprach von jüdischen Richtern und Verwaltungsbeamten […] So war denn auch in unsren Kreisen die Freude und Hoffnung eine fast unbeschreibliche. Nicht, dass jeder Jude eine Staatsstellung ersehnt hätte; aber dass das Gefühl der grundsätzlichen Entrechtung, eines Helotentums, von uns genommen schien, das hob den Sinn und spornte zu Leistungen im Dienste des Vaterlandes nunmehr auch auf den Gebieten der friedlichen Entwicklung. 12

Es sind solche und ähnliche Erinnerungen an den Moment der Reichsgründung, die – keineswegs ungetrübt von antisemitischen Erfahrungen, aber doch frei von dem Erleben des Jahres 1933 – unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen: Denn sie haben Historiker wie Christoph Nonn oder Thomas Brechenmacher, die zu den besten Kennern jüdischen Lebens im Kaiserreich zählen, dazu veranlasst, von der „Begeisterung“ und den „weittragenden Hoffnungen“ der deutschen Juden anlässlich der Reichsgründung und ihrer Feiern zu sprechen.13 Wie kamen die deutschen 11 Die Hervorhebung von SMW. 12 Lövinson (1924/1989): Geschichte meines Lebens, S. 152–154. 13 Nonn (2005): Jüdisches Leben am Niederrhein im Kaiserreich, S. 137. Brechenmacher (2011): Jüdisches Leben im Kaiserreich, S. 125.

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Staatsbürger jüdischen Glaubens (wie eine wachsende Mehrzahl von ihnen sich selbst verstand) dazu? Wo doch die politischen Nachgeborenen sicher sind, es gäbe angesichts der Reichsgründung gar nichts zu feiern. Bereits 2005 hat Christoph Nonn mit seinem konkreten, nämlich aufs Lokale gerichteten Blick beschrieben, wie eine jüdische Gemeinde in der preußischen Provinz selbstverständlich zu den Sedansfeiern – also zum Gedenken an die Schlacht von Sedan im September 1870, bei der nicht nur Napoleon III. gefangen genommen worden war, sondern auch jüdische Deutsche mitgekämpft hatten14 – Schmuck und Fahnen aufzog, und eine Nachbargemeinde bald nach der Reichsgründung Landkarten des neuen deutschen Reiches und ein Portrait des neuen Kaisers für die jüdische Schule kaufte. Natürlich war das – wie Nonn abwägend formulierte – auch ein Akt der integrativen Anpassung durch die jüdischen Gemeinden, die den „Test“ auf die Loyalität der jüdischen Minderheit akzeptierten.15 Doch gerade der quellenkritische Blick des Historikers, der auch die unausgesprochenen Zwänge und Nöte mitdenkt, erlaubt es, mit ebenso viel Recht zu formulieren: Die Zustimmung zur Reichsgründung war weder vorgeschoben noch einfach funktional. Freude und Hoffnung, die in Memoiren und Erinnerungen auftauchten, waren noch weniger nur ein Produkt der Rückschau. Sie finden sich vielmehr zeitgenössisch bereits in unterschiedlichen jüdischen Zeitungen16, denn sie hatten einen realen Anhaltspunkt. Das Deutsche Kaiserreich startete mit der rechtlichen Gleichstellung der Juden. Das war ein Grund zum Feiern und ein Grund hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Oder wie der Rabbiner und Chefredakteur der wichtigsten Wochenzeitung des bürgerlichen Judentums, Ludwig Phillipson, in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, einen Tag vor der Proklamation Kaiser Wilhelms I. in Versailles formulierte: Es ist wahr, wir sind noch nicht am Ziele. […] Doch wo so Viel erreicht ist, kann auch der Fortgang nicht ausbleiben. […] Überlassen wir uns daher unbehindert den freudigen Empfindungen über diesen Neubau des Vaterlandes; hoffen wir, daß es zum Segen der gesammten Menschheit gereichen, ein Tempel des Friedens, der höchsten Gesittung, der Wissenschaft und Kunst werden wird.17

Nicht alles an dieser überschüssigen Erwartung erfüllte sich, aber ebensowenig erwiesen sich alle Hoffnungen nur als Imagination oder Illusion. Die Mehrheit der deutschen Juden erlebte das Kaiserreich bis zum Ersten Weltkrieg vielmehr, auch und nicht zuletzt im europäischen Vergleich18, als Ort der Emanzipation, an dem 14 Zur jüdischen Teilhabe am Krieg und der zeitgenössischen wie nachträglichen Interpretation der Kriegsteilnahme in den unterschiedlichen jüdischen Milieus vgl. Krüger (2006): „Sind wir denn nicht Brüder?“ 15 Vgl. Nonn (2005): Jüdisches Leben am Niederrhein im Kaiserreich, S. 137–139. 16 Vgl. dazu den Beitrag von Tobias Hirschmüller in diesem Band. 17 Philippson (1871): Das deutsche Reich und die Juden, S. 42, rechte Spalte und S. 43, linke Spalte. 18 Vgl. Nonn (2021): 12 Tage und ein halbes Jahrhundert, S. 406. Ergänzend anmerken ließe sich, dass gerade die Migrationsforschung, sei es indirekt oder explizit, auf die vergleichsweise hohe Anziehungskraft des Kaiserreichs nicht zuletzt auf jüdische Zuwanderer aus Osteuropa verweist, die erst den Anlass zu Grenz- und Einreiseregimen gaben.

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sie als gleichberechtige Bürger mit vielfältigen gesellschaftlichen Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten weitgehend frei von Gewalterfahrungen, wenn auch nie bedingungslos anerkannt, leben konnten. 3. GESETZ UND GLEICHHEIT Die Verwirklichung der „umstürzende(n), revolutionäre(n) aufklärerische(n) Idee der Gleichheit für alle“19 in naturrechtlicher wie rechtlicher Hinsicht, von der Hedwig Richter neuerdings spricht, als sei sie in unserer Gegenwart bereits ein Exotismus, startete im Kaiserreich mit der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Minderheit. Tatsächlich war das „Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“ von Wilhelm I. bereits am 3. Juli 1869 – also knapp zwei Jahre vor der Reichsgründung – in seiner Funktion als Oberhaupt des Norddeutschen Bundes mit Wirkung für die darin vereinigten (nord)deutschen Länder in Kraft gesetzt worden. Es lautete: Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hiedurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Theilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Aemter vom religiösen Bekenntniß unabhängig sein.20

Die Juden, die 1870 als Preußen oder Sachsen, Oldenburger oder Mecklenburger in den „nationalen Krieg“21 gezogen waren, hatten dies demnach bereits als rechtlich gleichgestellte Staatsangehörige und Bürger getan. Umso mehr durften sie erwarten, dass im bevorstehenden deutschen Gesamtstaat diese Rechtsgleichstellung nicht nur beibehalten, sondern endlich für alle Juden in ganz Deutschland gelten würde. Schon bald nach der Proklamation des Reiches wurde das entsprechende Gesetz auf Beschluss des erweiterten, nun gesamtdeutschen Reichstags im April 1871 denn auch auf den letzten, dem Geltungsbereich des Norddeutschen Bundesrechtes beigetretenen Staat, nämlich Bayern, übertragen.22 Damit galt es einheitlich für alle dem Reich zugehörigen Einzelstaaten ohne Unterschied. Praktisch war die Reichsgründung, so könnte man den Beschluss des Deutschen Reichstages kleinreden, demnach vor allem aus Sicht der bayerischen Juden, gegen die bis dahin noch immer „zahlreiche Ausnahmebestimmungen“ bestan-

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Richter (2021): Aufbruch in die Moderne, S. 12. Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes, 1869, Nr. 28, S. 292. Krüger (2006): „Sind wir denn nicht Brüder?“. Es handelt sich dabei formal um das „Gesetz betreffend die Einführung norddeutscher Bundesgesetze in Bayern“, in dem unter § 2, Nr. 10 das Gesetz vom 3. Juli 1869 genannt wird. Vgl. https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k1_bsb00018324_00227.html Es wird in der 15. Sitzung des Deutschen Reichstages vom 14. April 1871 angenommen. Das Protokoll verzeichnet eine allgemeine Zustimmung durch „– fast ohne Ausnahme – das ganze Haus“. https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k1_bsb00018324_00252.html

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den23, ein Zugewinn an rechtlichen Möglichkeiten. Doch was hier gültig gesetzt wurde, war nicht einfach irgendein Recht für einen Teilstaat. Es war vielmehr ein Rechtsprinzip, das gesetzlich deutschlandweit verankert wurde: die Idee der politischen und privatrechtlichen Diskriminierungsfreiheit aufgrund religiöser Zugehörigkeit. Grundsätzlich erwies sich die Reichsgründung damit als ein Zugewinn an Rechten, die Bismarck womöglich nicht vorgesehen hatte, die er allerdings auch nicht bekämpfte. Das eben war aber für die deutschen Liberalen und Demokraten seit dem Vormärz eines der zentralen Argumente für eine nationale Reichsgründung: Sie würde mehr Menschen mehr Rechte bringen; das gilt, auch wenn dabei zunächst nur an die Männer gedacht wurde. Die Einigung, die in Hoffmann von Fallersleben Lied als „Einigkeit“ auftritt: sie würde – so die lang gehegte und gepflegte Zukunftsprojektion der Liberalen und Demokraten – endlich den konservativen einzelstaatlichen Regelungen ein Ende machen und an ihre Stelle ein liberales, ja ein demokratisches, auf jeden Fall ein „fortschrittliches“ Recht setzen, das sowohl die deutsche Nation entkonfessionalisierte wie alle Deutschen unabhängig von ihrer Konfession gleichstellte. Hier, im April 1871, ist demnach ein seltener Moment der echten Verwirklichung dieses politischen Traums der Revolutionäre von 1848. Einheit bedeutete im Denken der Liberalen und Demokraten ein Gewinn an Rechten, weil die „Repression“ in den Einzelstaaten verortet wurde. In diesem Sinne gingen jüdische Kritik an der noch unvollkommenen Verwirklichung der praktischen Gleichstellung in den Einzelstaaten mit einem Überschuss an Loyalität für das Reich einher: „Ist doch ein Bundesgesetz für die Gleichberechtigung da, welches den einzelnen Regierungen ein mißwollendes Verfahren schwer macht und wodurch wir in allen Fällen an die höchste Instanz zu appelliren berechtigt sind.“24, ermutigte und mahnte die Allgemeine Zeitung des Judentums Leser wie einzelstaatliche Regierungen. Die föderale Struktur Deutschlands war (und ist) nicht per se progressiv; aber die der Reichsgründung vorausgehende Entwicklung auf dem Gebiet der Judenemanzipation insbesondere in den süddeutschen Einzelstaaten offenbarte zugleich ihr entsprechendes Potential.25 Die nationale Einführung des Gesetzes zur Gleichberechtigung der Konfessionen markierte demnach Endpunkt wie Neuanfang: Der gesellschaftliche Kampf um die politische Anerkennung der rechtlichen Gleichstellung der Juden, der spätestens 1848 mit und in der Frankfurter Nationalversammlung begonnen hatte, war im Moment der Reichsgründung erfolgreich. Die reichsweite Umsetzung des Gesetzes blieb eine immerwährende Aufgabe.

23 Zur Judengesetzgebung im Königreich Bayern vor und nach 1871 vgl. Ludyga (2013): Die Rechtsstellung der Juden im Königreich Bayern, S. 201. 24 Philippson (1871): Das deutsche Reich und die Juden, S. 43, linke Spalte. 25 Zur Entwicklung der Judenemanzipation in den deutschen Ländern vor 1871 vgl. Rürup (1986): The Tortuous and Thorny Path to Legal Equality.

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4. GESETZ UND ERINNERUNG Wenn die Reichsgründung einen derart spektakulären Moment der Emanzipation bedeutete, warum hat das dann kaum jemand be- und vermerkt? Warum blieb dieser Rechtsakt selbst in der Rückschau so merkwürdig unkommentiert? Nach einer Kommentierung, gar einer liberal-demokratischen Jubelarie der Volksvertreter innerhalb wie außerhalb des nationalen Parlamentes oder der einzelstaatlichen Parlamente sucht man vergeblich. Den Stenographischen Protokollen des Deutschen Reichstages zufolge verliefen die Reichstagssitzungen im Frühjahr 1871, auf denen die Übernahme der Norddeutschen Bundesverfassung wie der norddeutschen Bundesgesetze durch Bayern auf der Tagesordnung standen, zwar nicht ohne Aussprache; das Gesetz vom 3. Juli 1869 aber war kein besonderer Gegenstand der Debatte und Diskussion mehr. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ein Zeichen von Normalität oder von Desinteresse? Auf jeden Fall spricht es nicht für politische Euphorie: „Am Ende akzeptierte man das, was in der Vergangenheit soviel Aufregung verursacht hatte, in allen deutschen Parlamenten ohne große Debatte“, hat Shulamit Volkov schon vor rund 30 Jahren mit einem Unterton von Erstaunen und Bedauern resümiert.26 Langfristig erwies sich dieses Schweigen selbst im Reichstag der Reichsgründungsperiode als ein symbolhaftes „Handicap“: Als Erinnerungsort taugte das reichsweite Inkrafttreten des „Gesetzes, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“ als Moment der Emanzipation schlicht nicht. Nicht einmal den mecklenburgischen Abgeordneten der Fortschrittspartei und Revolutionär des Jahres 1848 Moritz Wiggers27, dem das Gesetz im Norddeutschen Bund maßgeblich seine Verwirklichung verdankte, kennt daher heute noch jemand. Denn auch er schwieg 1871 und nutzte den Moment nicht, um auf diesen bedeutsamen Augenblick der deutschen Geschichte hinzuweisen. Wer nach dem Demokratiepotential des Kaiserreiches sucht, darf dennoch den Blick für Individuen wie Moritz Wiggers nicht verlieren. Denn er gehört zu jenen Protagonisten, die Reinhard Rürup zu seiner These veranlassten, die Emanzipation der Juden sei am Ende „ein unvermeidbarer Schritt“ geworden, „in dem sich die liberalen Tendenzen des Rechtsstaates manifestierten.“28 Tatsächlich war die Gleichberechtigung der Juden für Wiggers keine Frage von fürsorglicher Minderheitenpolitik, sondern von liberal-demokratischen Grundprinzipien: Der liberale, dem einzelnen Menschen persönliche Freiheiten und politische Rechte garantierende „moderne“ Staat duldete keine Sonderrechte, in keine Richtung: in ihm soll-

26 Volkov (1994): Die Juden in Deutschland, S. 112; ähnlich schon S. 45. 27 Zu Wiggers vgl. Klenz (1897): Wiggers, Moritz. Zu seinem Engagement in Mecklenburg und im Norddeutschen Bund zugunsten der Judenemanzipation vgl. Bernhardt (1989): Bewegung und Beharrung, passim. 28 So Reinhard Rürup in der Wiedergabe von Volkov (1994): Die Juden in Deutschland, S. 112. Vgl. Rürup (1986): The Tortuous and Thorny Path to Legal Equality, bes. S. 31.

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ten vielmehr alle Individuen ohne Unterschied mit gleichen Rechten ausgestattet sein, das war seine sensationelle Gleichheitsidee, von der auch andere „Emanzipationsbewegungen“ zehrten. In diesem Sinne hatte die liberale Mehrheit des Norddeutschen Reichstags bereits 1867 bezeichnenderweise ein Gesetz gefordert, „welches alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Glaubensbekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte“29 aufhebt. Genau deswegen sollte der Grundsatz der konfessionellen Gleichberechtigung ursprünglich direkt in der Bundesverfassung von 1867, als Bestandteil von Artikel 3, der die Staatsbürgerschaft regelte, verankert werden. 30 Doch damit drangen die Liberalen nicht durch. Auf Bundesebene erhielt die Gleichheit der Mitglieder unterschiedlicher Religionen vor dem Recht damit keinen Verfassungsrang, sondern wurde „nur“ in einem Bundesgesetz festgeschrieben. Dennoch gilt es zweierlei festzuhalten: 1. Weil es sich dennoch um die Verwirklichung eines liberalen Staatsgrundsatzes handelte, war das Gesetz vom 3. Juli 1869 gerade nicht als Judenemanzipationsgesetz, sondern als Gesetz zur Gleichberechtigung der Konfessionen mit Blick auf die Rechte im und gegenüber dem Staat formuliert. 2. Wollte der erweiterte norddeutsche Reichstag im Moment der Reichsgründung die ihm gewährte, wenn auch beschränkte Macht unter Beweis stellen, dann musste er wenigstens dafür sorgen, dass seine Gesetze nun auch in allen deutschen Ländern gelten würden – im reaktionären Mecklenburg ebenso wie in einem Bayern mit vormoderner Sondergesetzgebung. Nur deswegen wurde es im April 1871 überhaupt noch einmal notwendig, ausdrücklich auch das die Verfassung ergänzende Gesetz zur Gleichberechtigung aller Bürger unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit noch einmal im Reichstag aufzurufen und über seine reichsweite Gültigkeit abstimmen zu lassen. 5. FREIHEITEN UND ANGRIFF AUF DAS GESETZ Der Titel der Tagung, aus dem dieser Beitrag hervorgegangen ist, operiert mit einem Freiheitsbegriff, der Recht und Freiheit, wenn auch nicht als Gegensatz, so doch als nicht deckungsgleich denkt. Die Frage „Recht, doch Freiheit?“ suggeriert, mehr gesetzlich verbriefte Rechte müssten nicht zwangsläufig mehr Freiheit bedeuten. Die Alltagserfahrung allein legt die Erkenntnis nahe, dass Recht und Gesetz in der Tat noch nicht dessen Umsetzung und Einhaltung bedeuten. Den hoffnungsfrohen Liberalen und Demokraten des 19. Jahrhunderts leuchtete dennoch die Kausalität am ehesten ein, mehr Rechte im und gegenüber dem Staat bedeuteten unbe-

29 Verhandlungen des Reichstages, 1867, Bd. 3, 27. Sitzung vom 23.10.1867, S. 597, zitiert nach: Bernhardt (1989): Bewegung und Beharrung, S. 294. 30 Vgl. Artikel 3 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 im Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes, Nr. 1 v. 26. Juli 1867, S. 3. Die ausführlichste, mir bekannte Schilderung des Zustandekommens des Gesetzes vom 3. Juli 1869 findet sich bei Bernhardt (1989): Bewegung und Beharrung, S. 293–301 (= Das Bundesgesetz über die Emanzipation der Juden vom 3. Juli 1869).

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dingt auch mehr Freiheit: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ stehen im „Lied der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben nicht nur gleichwertig nebeneinander, sondern lassen sich auch als untereinander logisch verknüpft lesen. In diesem Sinne war das Gesetz vom Juli 1869 und seine Bestätigung vom April 1871 im neu gegründeten Deutschen Reich ein tätiger Sprechakt mit Folgen: Das Recht eröffnete bis dahin verschlossene Möglichkeiten und ermöglichte mithin auch praktisch mehr Freiheit oder, wie ich lieber formulieren mag, mehr Freiheiten. Es handelte sich im besten Sinne des Rechtsstaates um ein Ermöglichungsgesetz: Wie Martin Lövinson in seinen bereits zitierten Memoiren formulierte: Nicht jeder Jude wollte Beamter des Kaiserreichs werden, aber wer es wollte, durfte es nun: Einen preußischen Justizrat Dr. Martin Lövinson hätte es ohne dieses Gesetz nicht gegeben. So entstanden mit der Gründung des Kaiserreiches neue Räume für neue Lebens- und Karrierewege, an die zuvor nicht einmal zu denken war.31 Deswegen fand das Kaiserreich nicht nur, aber erst recht im persönlichen Rückblick ein hohes Maß an Loyalität; deswegen erschien es – und nicht nur im retrospektiven Vergleich mit der Diskriminierungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten – zuweilen als Idyll der deutsch-jüdischen Symbiose. Bei allem Einspruch, der nicht nur von Gershom Scholem dagegen erhoben worden ist, darf die historische Bewertung den Gehalt dieser positiven Erinnerungen dennoch nicht außer Acht lassen: Das Kaiserreich schuf die rechtliche Grundlage, ohne die es keine Freiheit(en) geben kann. Von seiner Zusage auf Gleichberechtigung „als des Glückes Unterpfand“ traten die politischen Institutionen des Kaiserreichs nicht zurück. Das Gleichberechtigungsgesetz wurde vom kaiserlichen Staat nie aufgehoben. Umso kritischer allerdings muss jeder Moment in der Geschichte des Deutschen Kaiserreiches betrachtet werden, an dem nicht allein gesellschaftliches Vorurteil gegen die deutschen Juden sich äußerte, sondern in dem das Gesetz und damit das Prinzip der Gleichberechtigung angegriffen und in Frage gestellt wurde. Die antisemitische Kampagne und Petition von 1880/8132, die zwar nicht explizit, aber de facto die Rücknahme des Gesetzes von 1869 forderte, gehört daher in der Geschichte des Antisemitismus im Kaiserreich breite Aufmerksamkeit. Christhard Hoffmann, der in einem Aufsatz den Zusammenhang zwischen der politischen, auf die Reichshauptstadt konzentrierten Kampagne von 1880 und den antisemitischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen 1881 hergestellt hat33, formulierte bereits 1994 deutlich, welche Bedeutung dem „Verhalten der staatlichen Autorität, besonders der Regierung, der Polizei und der Justiz“34 angesichts des Gewaltmo-

31 Vgl. Hamburger (1968): Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Hamburgers noch immer unverzichtbares Werk verdeutlicht die individuellen Möglichkeiten, die das Recht schuf, und verweist zugleich auf die gesellschaftlichen Grenzen der rechtlich gegebenen Freiheit. 32 Vgl. dazu Krieger (2004): Einleitung, in der die Antisemitenpetition in den Berliner Antisemitismusstreit eingeordnet wird. Die Petition ist abgedruckt: Krieger (2004): Der „Berliner Antisemitismusstreit“, Teil 2, S. 579–83. 33 Hoffmann (1994): Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten. 34 Ebd., S. 100.

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nopols des Staates bei der Verbreitung judenfeindlicher Einstellungen wie Aktionen zukam: Dort wo sie solche Denkweisen wie Praktiken duldeten oder – wie Bismarck – zu instrumentalisieren suchten, beförderten sie de facto die Bereitschaft, aus Vorurteilen nicht nur diskriminierende Praxis, sondern gewaltbereiten Freiheitenraub werden zu lassen. Dass sich solche Erscheinungen auf vorübergehende Phasen beschränkten, hing im Kaiserreich bei allen antisemitischen Einstellungen in Gesellschaft, Parteien und den staatlichen Institutionen mit einem noch verbreiteten, wenn auch anfälligen35 politischen Anti-Antisemitismus zusammen. 6. SCHLUSSBEMERKUNG Am Ende erwiesen sich – nicht erst aus der Sicht der Nachgeborenen, sondern bereits der Zeitgenossen – dieser politische Anti-Antisemitismus und die durch das Gesetz geschaffenen Freiheiten dennoch nur als die eine Seite des Jahrhunderts von Reform, Aufbruch und Emanzipation. Denn die alltägliche Praxis der Ämtervergabe, der Berufung und Zulassung jüdischer Richter, Standesbeamten oder Professoren konterkarierte, ja ignorierte die rechtliche Norm beständig. Gravierender noch: dort, wo die eingeräumten Freiheiten genutzt wurden, blieben sie öffentlich um- und bestritten, womit indirekt am Gesetz selbst gerüttelt wurde. Der gesellschaftliche Antisemitismus, der mentale Vorbehalt, verschwand nicht mit dem Gesetz; ja er erlebte sogar eine neue Dimension, die kausal mit der erfolgreichen Emanzipation zusammenhing. Bezeichnend dafür war und bleibt der Auslöser für die antisemitisch grundierte politische Debatte um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation des Kaiserreiches: Heinrich v. Treitschkes Aufsatz „Unsere Aussichten“, der Ende 1879 erschien. Denn von einer gesetzlichen „Schmälerung der vollzogenen Emanzipation“ distanzierte Treitschke sich als „offenbares Unrecht“36; dennoch markierte sein Aufsatz „die Auflösung des bisherigen liberalen Konsenses über die Emanzipation der Juden“37. Der neue Antisemitismus, den er salonfähig machte, musste, da er weiterhin nach Unterscheidungen suchte, nach dem Wegfall der vormodernen sichtbaren und rechtlichen Diskriminierungsmaßnahmen in seiner Logik nach wesenhaften Kennzeichen suchen, die selbst den unsichtbaren, wegen seiner Religion nicht mehr angreifbaren und rechtlich nicht zu unterscheidenden Juden markieren sollten. Antijüdische Vorurteile und alltägliche Exklusionspraktiken existierten demnach nicht einfach nur weiter, sie wurden ergänzt durch einen

35 Vgl. dazu einerseits Christophs Nonn Abwägungen zum Anti-Antisemitismus im Parteienspektrum des Kaiserreichs: Nonn (2021): 12 Tage und halbes Jahrhundert, S. 400–406. Vgl. aber auch Michael Brenners Aufsatz zum Problem des Anti-Antisemitismus im Kaiserreich: Brenner (1993): „Gott schütze uns vor unseren Freunden“. 36 Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher 44 (1879), S. 559–576, zitiert nach: Krieger (2004): Der „Berliner Antisemitismusstreit“, Teil 1, S. 10–16, das Zitat: S. 14. 37 Krieger (2004): Einleitung, S. XVIII.

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prinzipiellen, weltanschaulichen, biologistisch begründeten rassischen Antisemitismus, der die Inklusion der Juden in die Konstruktion der deutschen Nation dauerhaft verhindern sollte.38 Wichtiger noch aber als das Vorurteil war die bürokratische Praxis, die – wie es am Ende des Kaiserreiches schien – aufgrund des konstitutionellen „Regierungssystems […] darin gipfelte, die Grundsätze der Verfassung auf dem Wege der Verwaltung zu beseitigen“39. Dennoch, oder gerade deswegen erscheint es mir auf der Grundlage des Wissens um die Omnipräsenz und Virulenz des Antisemitismus im Kaiserreich so wichtig, nach den Kriterien zu fragen, die ihn vom Antisemitismus der nationalsozialistischen Bewegung wie vom Nationalsozialismus als Staat unterschieden. Grundsätzlich neigt die historische Forschung nach langem Ringen eher dazu, auf die Diskontinuitäten hinzuweisen, die mit dem Ende des Kaiserreiches einhergingen. Kriegserfahrung und Niederlage im Ersten Weltkrieg werden neuerdings nicht nur in der Antisemitismusforschung viel stärker akzentuiert als noch vor 30 Jahren. Die unterschiedliche Ausprägung antisemitischer Gewalt, die sich im Kaiserreich auf wenige Fälle und kurze politische Momente konzentrierte, wird dabei in erster Linie angeführt. Aber auch der Hinweis auf die Verfassungs- und Rechtsgrundlage des Staates darf an dieser Stelle noch einmal zugespitzt werden: Antisemitismus war keine Staatsdoktrin, keine unhinterfragbare, von der Justiz sanktionierte Ideologie einer regierenden Partei oder der maßgeblichen politischen Akteure des Kaiserreichs. Wie Christoph Nonn gerade noch einmal formuliert hat, fällt eher die „relative Schwäche der antisemitischen Parteien“40 im Kaiserreich auf, die zudem umgeben waren von großen Parteien, in denen politisch der Anti-Antisemitismus dominierte. Konkret und zugleich exemplarisch formuliert: Es gab antisemitische Katholiken, aber das Zentrum hatte weder ein antisemitisches Programm noch unterstützte es antisemitische Anträge im Reichstag. Der Antisemitismus, so sehr er auch sozial verbreitet war, stellte, auch das hat die Kaiserreichsforschung mit Blick auf den Berliner Antisemitismusstreit41 und die Gründung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus42 immer wieder gezeigt, keine unwidersprochene Erscheinung dar. Offensichtlich antisemitische Reden wurden im Reichstag gehalten, aber die Reaktionen darauf reichten von „Heiterkeit“ bis Ablehnung. Offensichtlich antisemitische Anträge wurden im Reichstag gestellt, aber sie blieben regelmäßig „unerledigt“, fanden also keine Zustimmung.43 Eine Demokratiegeschichte des 38 Stellvertretend für die komplexe Forschung und umfangreiche Literatur zum Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert sei hier nur ein Handbuchtitel genannt: Nonn (2008): Antisemitismus. 39 Bürger (1918): Im neuen Deutschland, S. 102. 40 Nonn (2021): 12 Tage und ein halbes Jahrhundert, S. 406. 41 Zum Berliner Antisemitismusstreit und den Anti-Antisemiten vgl. Krieger (2004): Der „Berliner Antisemitismusstreit“. 42 Vgl. Suchy (1983/1985): The Verein zur Abwehr des Antisemitismus. 43 Wenn ich es recht sehe, gibt es zwar mehrere Beiträge zur Geschichte der antisemitischen Parteien und Abgeordneten, aber keine Geschichte des politischen Anti-Antisemitismus im Deutschen Reichstag einschließlich einer Analyse seiner Protagonisten. Ihr Wirken läßt sich bisher nur indirekt aus der Aufarbeitung der antisemitischen Debatten im Reichstag erschließen.

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Kaiserreichs mag dazu beitragen, diese Erfolge des Anti-Antisemitismus und ihre Akteure, die – wie Moritz Wiggers und seine Mitstreiter – so oft namenlos oder wenigstens fast unbekannt geblieben sind, stärker in den Fokus von Analyse und Erinnerung zu rücken. Als das Kaiserreich im November 1918 unterging, hatten die Kämpfer gegen den Antisemitismus die hoffnungsschwere Freude der Reichsgründungstage nicht vergessen; sie wiederholten sie vielmehr, indem sie nun fest darauf vertrauten, dass die demokratische Republik das vollenden würde, wofür das Kaiserreich den Grundstein gelegt hatte. Im Journal des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, der 1891 zu Beginn der zweiten Erfolgswelle des politischen Antisemitismus gegründet worden war, konnte man im November 1918 lesen: „[M]an darf sich heute schon der sicheren Erwartung hingeben, daß der Satz ‚Gleiches Recht für alle’ nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch in unserem künftigen Staatswesen wirkliche Rechtskraft erlangen wird.“44 Die Erwartungen waren bei aller zwischenzeitlichen Enttäuschung also nicht weniger geworden, im Gegenteil. Die Erfahrung des kaiserzeitlichen Ermöglichungsgesetzes transformierte sich in die Forderung nach einer Garantie der gesetzlich zugesagten Freiheiten. Recht und Freiheit, so schien es, würden fortan erst recht nicht mehr zu trennen sein. LITERATUR Althammer, Beate: Das Bismarckreich 1871–1890, 2. Aufl. Paderborn 2017. Bernhardt, Hans-Michael: Bewegung und Beharrung. Studien zur Emanzipationsgeschichte der Juden im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin 1813–1869, Hannover 1989. Brechenmacher, Thomas: Jüdisches Leben im Kaiserreich. In: Heidenreich, Bernd / Neitzel, Sönke (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich 1890–1914, Paderborn 2011, S. 125–141. Brenner, Michael / Jersch-Wenzel, Stefi / Meyer, Michael A: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871 (= Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hrsg. v. Michael A. Meyer, Bd. II), München 1996. Brenner, Michael: „Gott schütze uns vor unseren Freunden“. Zur Amivalenz des Philosemitismus im Kaiserreich. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 174–199. Bürger, Curt: Im neuen Deutschland. In: Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 28 (1918), Nr. 20/21 vom 16. November 1918, S. 102f. Hamburger, Ernest: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848–1918, Tübingen 1968. Heinemann, Gustav W.: 100. Jahrestag der Reichsgründung. Ansprache zum 100. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches über alle Rundfunk- und Fernsehanstalten, 17. Januar 1971. In: ders.: Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969–1974, Frankfurt a. M. 1975, S. 45–51. Hoffmann, Christhard: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten. Die antisemitischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 3 (1994), S. 93–120. Klenz, Heinrich: Wiggers, Moritz. In: Allgemeine Deutsche Biographie 42 (1897), S. 465–468 https://www.deutsche-biographie.de/pnd 117370886.html

44 Bürger (1918): Im neuen Deutschland, S. 102.

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Krieger, Karsten (Hrsg.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, 2 Teile, München 2004. Krieger, Karsten: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, 2 Teile, München 2004, Teil 1, S. X–XXXI. Krüger, Christine G.: „Sind wir denn nicht Brüder?“ Deutsche Juden im nationalen Krieg 1870/71, Paderborn 2006. Lang, Markus: Wie demokratisch war der Obrigkeitsstaat? Zur Einleitung. In: AG Orte der Demokratie (Hrsg.): Einigkeit und Recht, doch Freiheit? 150 Jahre Kaiserreich. 29.–30. Oktober 2020. Eine Onlinetagung, Weimar 2021, S. 3–11. Lowenstein, Steven M. / Mendes-Flohr, Paul / Pulzer, Peter / Richarz, Monika: Umstrittene Integration 1871–1918 (= Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hrsg. v. Michael A. Meyer, Bd. III), München 1997. Lövinson, Martin: Geschichte meines Lebens, Teil I: Die goldene Jugendzeit, Berlin 1924, zitiert nach: Richarz, Monika (Hrsg.): Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780– 1945, München 1989, S. 145–154. Ludyga, Hannes: Die Rechtsstellung der Juden im Königreich Bayern. In: Holzner, Thomas / ders. (Hrsg.): Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts, Paderborn 2013, S. 193–206. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, München 2. Aufl. 1993. Nonn, Christoph: 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des Deutschen Kaiserreiches 1871–1918, 2. Aufl. München 2021. Nonn, Christoph: Antisemitismus, Darmstadt 2008. Nonn, Christoph: Jüdisches Leben am Niederrhein im Kaiserreich. Das Beispiel Geldern. In: Grübel, Monika / Mölich, Georg (Hrsg.): Jüdisches Leben im Rheinland. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2005, S. 137–170. Philippson, Ludwig: Das deutsche Reich und die Juden. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums, Jg. 35, Nr. 3 vom 17. Januar 1871, S. 41– 43. Richter, Hedwig: Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, Berlin 2021. Rürup, Reinhard: The Tortuous and Thorny Path to Legal Equality. „Jew Laws“ and Emancipatory Legislation in Germany from the Late Eighteenth Century. In: Leo Baeck Institute Year Book 31 (1986), S. 3–33. Schieder, Theodor (Hrsg.): Reichsgründung 1870/71: Tatsachen, Interpretationen, Kontroversen, Stuttgart 1970. Sommer, Michael: Sommer-Zeit: Wie man historische Identität zerstört. In: Nordwest Zeitung v. 31. März 2021, S. 3. Steinmeier, Frank-Walter: 150. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches, 13. Januar 2021, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/ 2021/01/210113-150Jahre-Reichsgruendung.html; die gesprochene Rede unter: https://www.youtube.com/watch?v=2b-4Z6oN6ps Suchy, Barbara: The Verein zur Abwehr des Antisemitismus. In: Leo Baeck Institute Year Book 28 (1983), S. 205–239 (Teil I) und 30 (1985), S. 67–100 (Teil II). Volkov, Shulamit: Die Juden in Deutschland 1780–1918, München 1994.

DIE REICHSGRÜNDUNG Ein Erinnerungsort im deutschen Judentum? Tobias Hirschmüller Einen offiziellen Nationalfeiertag hat es im Deutschen Kaiserreich zwar nicht gegeben, doch lagen mit den Geburts- und Namenstagen und Regierungsjubiläen der Fürsten, dem Sedantag oder auch den Bismarck-Geburtstagen eine ganze Reihe von Festanlässen vor. Zu diesen Jahrestagen konnten sich einerseits die Herrscherhäuser als Landesschirmherrn inszenieren und andererseits bekannten sich verschiedene gesellschaftliche Korporationen mit zum Teil konkurrierenden Intentionen zur deutschen Nation und zu den Dynastien. Diese Festkultur erfasste lange nicht alle gesellschaftlichen Schichten, sondern vornehmlich das Bürgertum und rief zudem auch Protesthervor, wie etwa in der Sozialdemokratie.1 Die Beteiligung oder zumindest die Positionierung der Juden in Deutschland zu diesen Nationalfeiern wurde in der Geschichtswissenschaft bisher selten berücksichtigt. Der Forschungsstand beläuft sich bisher mit Blick auf das 19. Jahrhundert beziehungsweise das Kaiserreich auf eine Anzahl von untersuchten Einzelaspekten.2 Über die Rezeption der Weimarer Verfassungsfeiern in jüdischen Zeitungen schreibt Thomas Meyer: „Die Verfassungsfeiern während der Weimarer Republik haben kaum ein dokumentierbares Echo im deutschen Judentum gefunden.“ Er bilanzierte weiter, hierin sei weder von einem „Symbol oder vom symbolischen Handeln“ sprechen, noch lasse sich „von einem spezifischen Kultur-Verständnis“ reden.3 Dass hingegen Juden in Deutschland in der nationalen Festkultur im Vorfeld der sogenannten Reichsgründung engagiert waren, konnte Erik Lindner am Beispiel der Schiller- und Fichtefeiern von 1859 und 1862 belegen.4 In zahlreichen Untersuchungen zur jüdischen deutschsprachigen Presse wurde anhand der Berichterstattung der Grad der Integration der verschiedenen Glaubensrichtungen der Juden im Deutschen Kaiserreich sowie auch der Weimarer Republik betrachtet. Die Arbeiten von Gabriel Eikenberg „Der Mythos der deutschen Kultur 1

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Düding (1987): Nationalfeste; Schellack: Nationalfeiertage, S. 15–132; Machtan (1994): Bismarck; Zur Einführung: Hattenhauer (2006): Nationalsymbole, S. 157–166; Reichel (2012): Nationalsymbole, S. 144–162. Vor allem: Krüger (1998): Krieg, S. 276–289; in Ansätzen auch bei: Laube (2001): Heldengalerie; Krüger (2014): Patriotismus. Meyer (2010): Verfassungsfeiern, S. 328. Lindner (2001): Festkultur. Auch: Lindner (1997): Patriotismus, S. 281–300.

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im Spiegel jüdischer Presse“5 sowie von Sarah Panter „Jüdische Erfahrungen und Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg“6 sind hierfür zentrale Beispiele. Bei den Forschungen zur sogenannten „inneren Einheit“ der Deutschen im Jahr 1914 hat Thomas Raithel nur darauf hingewiesen, dass die „Presseerklärungen jüdischer Verbände in Deutschland auf nationale Resonanz“ abzielten.7 Eine ausschließliche Untersuchung der jüdischen nationalen Erinnerungskultur an die Entstehung des Deutschen Kaiserreiches im 19. und 20. Jahrhundert hat bisher kaum und wenn meist auf regionaler Ebene stattgefunden. Während Jacob Toury8 und Erik Lindner9 die Haltungen während des Prozesses der sogenannten Reichsgründung in den Jahren 1864 bis 1871 anschneiden, konnte Christiane G. Krüger die einschlägige Arbeit zu den deutschen Juden im Deutsch-Französischen Krieg mit einem Ausblick auf die Erinnerung im Kaiserreich vorlegen.10 Die Darstellungen der Erinnerung der Verdienste von jüdischen Veteranen in entsprechenden Vereinen in lokalgeschichtlichen Forschungen11 und die errichteten Denkmäler für Gefallene12 lassen jedoch die berechtigte Frage aufkommen: War die Reichsgründung ein Erinnerungsort im deutschen Judentum? Exemplarisch überlieferte Reden wie von Abraham Lewinsky (1866–1941)13, einem aus dem schlesischen Loslau stammenden Rabbiner, nicht nur zur „Hundertjahr-Feier für den Kaiser Wilhelm I. (1797–1888) am 21. März 1897“14, sondern auch beim Festgottesdienst in der Synagoge zu Hildesheim anlässlich der „25jährigen Wiederkehr des Sedantages“ am 1. September 1895 in Hildesheim15 verdeutlichen die Forschungsrelevanz weiter. Zwar könnten Einwände eingebracht werden, ob es ein „deutsches Judentum“, dem sich einheitliche Einstellungen zuschreiben lassen, gab und gibt, oder nicht eher viele jüdische Deutsche mit unterschiedlichen und eventuell miteinander ringenden Weltsichten. Daher muss vorausschickend erklärt werden, dass nur skizzenhaft Anschauungen herausgearbeitet werden können, die innerhalb dieser Gruppe besonders häufig auftraten.16 Dieses Vorgehen kann auch nur in dem Bewusstsein praktiziert werden, dass dieses Bild immer eine Abstraktion sein wird, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Zudem ist die Fragestellung eng mit einem innerjüdischen Identitätsdiskurs verbunden, der

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Eikenberg (2010): Mythos. Panter (2014): Erfahrungen 2014. Raithel (1996): Einheit, S. 295. Jüdische Positionen hingegen kaum berücksichtigt bei: Bruendel (2003): Volksgemeinschaft. Toury (1966): Orientierung, S. 131–153. Lindner (1997): Patriotismus, S. 307–340. Krüger (1998): Krieg, S. 276–289; Krüger (2014): Patriotismus. Auch: Bannasch (2010): Perspektiven, S. 59–79. Schlesier (2014): Bürger, S. 437–439. Imhof (2017): Rhön, S. 278–281. Brocke / Julius (2009): Handbuch, S. 336–337. Hierzu auch: Schneider (2003): Hildesheim. Lewinsky (1897): Rede. Lewinsky (1895): Rede. Hierzu unter anderem: Urban-Fahr (1998), Presse; Krüger (2005): Öffentlichkeit, S. 149.

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seit der zweiten Hälfte, insbesondere dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt geführt wurde. Denn sie führt in das Spannungsfeld zwischen religiöser und nationaler Zugehörigkeit, von welchem die Identitätsentwürfe jüdischer Menschen geprägt waren.17 Als Quellengrundlage für die Untersuchung wurden, gemessen an ihrer Auflagenzahl und Erscheinungsdauer, deutschsprachige jüdische Zeitungen ausgewählt, die verstärkt seit dem 19. Jahrhundert erschienen und im weiteren Verlauf zunächst vorgestellt werden. Darauf folgt in chronologischen Schritten von der Entstehung des Kaiserreiches, über die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik die Darlegung von Kontinuitäten und Wandel jüdisch-deutscher Erinnerungskultur an die Reichsgründung. 1. ZEITUNGEN ALS QUELLE ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN JUDEN Zeitungen stellen eine wichtige Quelle für die Geschichtswissenschaft dar, ganz besonders für große Teile des 19. und des 20. Jahrhunderts, in denen sie im gesamten transatlantischen Raum das entscheidende Nachrichtenmedium waren.18 Ermöglicht wurde dies durch eine bis dahin noch nie dagewesene Alphabetisierungsrate und dadurch, dass günstigere Produktion und steigender Wohlstand einer verhältnismäßig großen Anzahl von Menschen Zugang zum Konsum von Zeitungsausgaben verschafften. Ein Bewusstsein für die Relevanz dieses Mediums war auch in allen größeren Strömungen des Judentums gegeben, wodurch im 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreich ein breites Spektrum an speziell jüdischen Monatsund Wochenzeitungen entstand,19 deren Redakteurinnen und Redakteure auch von Diskussionen um jüdische Identitäten geprägt waren.20 Für die Geschichtswissenschaft bilden diese Periodika somit eine zentrale Fundgrube für die Erforschung der Geschichte des deutschen Judentums, zumal durch den Nationalsozialismus viele andere Dokumente vernichtet wurden. Michael Nagel führte hierzu noch aus, dass sich die historische deutsch-jüdische Presse „seit ihrem Beginn nicht als eine ‚Ghetto-Presse‘, sondern als integrativer Teil der allgemeinen Presse“ präsentierte, die insgesamt nach Milieus und weltanschaulichen Lagern gegliedert war, und daher „Teil einer Allgemeinen Pressegeschichte“ ist. Zudem stellt sie in „ihrer zeitgenössischen Wirkung einen einflußrei-

17 Zur Einführung: Mosse (1993): Patriotismus; Meyer (1996): Deutsch. Darüber hinaus zu nennen: Picht (1994): Judentum; Berger (2001): Selbstdefinition; Buschmann (2001): Auferstehung; Gotzmann (2002): Modernisierungsdiskurse; Campagner (2004): Judentum; NeumannSchliski (2011): Konzepte. 18 Ein kurzer Überblick: Hirschmüller: Kriegsgesellschaften, S. 185–196. 19 Zur Einführung: Suchy (1989): Presse; Borut (1996): Presse; Heuberger / Horch / Glasenapp (2016): Periodika. 20 Neumann-Schliski (2011): Konzepte.

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chen Faktor innerhalb der Geschichte des deutschsprachigen und europäischen Judentums dar.“21 Als die drei wichtigsten politischen und religiösen Richtungen im Judentum gelten die liberale, die orthodoxe und die zionistische.22 Die bedeutendste Organisation der liberalen Juden war der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV), bei dem schon der Name auf das Selbstverständnis hinweist, sich zuerst als deutsche Staatsangehörige zu fühlen und einen assimilierten Lebensstil zu pflegen.23 Als religiöse Gegenbewegung zu jenem reformierten Judentum war in der Mitte des 19. Jahrhunderts die orthodoxe Strömung entstanden, die auf eine konsequente Befolgung der jüdischen religiösen Regeln bestand. Wenn die Orthodoxen auch keine homogene Gruppe bildeten, einte sie doch die Ablehnung der vom CV vertretenen Assimilation.24 In der Gegenposition zum liberalen Judentum bestand eine Gemeinsamkeit mit den Zionisten, die nicht wie der CV das Judentum als Religion verstanden, sondern die ab der Jahrhundertwende das nationalpolitische Ziel der Gründung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina verfolgten und hierfür unter anderem in der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ organisiert waren.25 Von diesen drei Strömungen war das Gedenken an die deutsche Einigung zu Jahrestagen in der liberalen am stärksten und in der zionistischen am wenigsten präsent. Von einer konstanten Erinnerungskultur an die Reichsgründung kann insbesondere in der liberalen „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ gesprochen werden. Das Blatt ist durch seinen langen Erscheinungszeitraum von 1837 bis 1922 eines der bedeutendsten deutschsprachigen jüdischen Periodika.26 Eine ähnliche Resonanz besaß die Reichsgründung unter anderem noch in der ebenfalls liberalen und vom CV herausgegebenen Monatsschrift „Im deutschen Reich“.27 2. UMSTRITTENE GEDENKTAGE Ludwig Geiger (1848–1919), ein aus Breslau stammender Anhänger des liberalen Reformjudentums und ab 1908 Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“,28 schrieb in einer um 1915 erschienenen Publikation über die Juden und den Krieg: „So kam das Jahr 1870 heran. Zum ersten Mal durften sich die deutschen Juden als volle und ganze Staatsbürger betrachten. Sie nahmen an dem nationalen und populären Kriege gegen Frankreich mit voller Begeisterung Teil.“29 Doch

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Nagel (2008): Presse, S. 379. Auch: Borut (1996): Presse; Seul (2015): Presse. Toury (1966): Orientierungen. Barkai (2002): Centralverein. Breuer (1986): Orthodoxie. Kaufmann (2006): Zionismus. Horch (1985): Erzählliteratur; Nagel (2011): Allgemeine Zeitung des Judentums. Bitzer (2013): Im deutschen Reich. Flade (2015): Familiengeschichten. Geiger (1915): Juden, S. 48.

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ausnahmslos mit „Enthusiasmus“30 wurde, wie dies auch in der Forschung an manchen Stellen behauptet wird, auf den Krieg von 1870/1871 nicht reagiert. Über den Vorabend des Krieges schrieb Jacob Toury: „Trotzdem herrschte bei den Juden zunächst keine vorbehaltlose Begeisterung für das deutsche Einigungswerk, das im Verfolg der preußischen Machtpolitik Gestalt anzunehmen begann.“31 Sigmund Heumann, Korrespondent der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ und Fürther Kaufmann, schrieb im Dezember 1869, dass die Juden durchaus keinen Grund haben, durch Dick und Dünn mit Preußen zu gehen, denn nirgends hatten die Juden härtere Kämpfe auszufechten und heute noch müssen sie jeden Schritt zur Durchführung der ihnen über 20 Jahre von der Verfassung gewährleisteten Emancipation durch langen Streit auf realem Boden erkämpfen, was die früheren und letzten Debatten im preuß. Abgeordnetenhause mehr als bestätigen.32

Der im Juli 1870 erwartete Ausbruch eines deutsch-französischen Krieges wurde in der deutsch-jüdischen Presse, ob in der liberalen „Allgemeinen Zeitung des Judentums“33 oder in deren Gegengewicht, der orthodoxen Zeitung „Der Israelit“34, dann auch mehrheitlich mit Sorge und Bedauern betrachtet, da unabhängig vom Ausgang des Krieges weitere internationale Verwicklungen befürchtet wurden. Die nationale Feindschaft sollte nicht auf die innerjüdischen Verhältnisse übertragen werden.35 Aber auch grundsätzlich wurde vor dem Kriegsgegner Frankreich Haltung bewahrt. Die liberale „Allgemeine“ schrieb: Ein unsäglicher Schmerz ist jedem Menschenfreunde, jedem echt religiösen Gemüthe bereitet. Die beiden größten Culturvölker der Jetztzeit stehen im Begriff, sich mit Krieg zu überziehen, mit ungeheuren Heeren, mit raffinirtesten Zerstörungsmitteln, mit Waffen, wie man sie bis hierher nicht gekannt, auf einander loszustürzen, und voraussichtlich einen Kampf zu beginnen, der nur durch die äußerste Erschöpfung beider oder durch die völlige Niederlage des einen Volkes beendet werden kann!36

Ähnlich kommentierte die orthodoxe Presse: Es ist etwas Furchtbares in der Vorstellung, daß die zwei größten, gebildetsten Nationen der Gegenwart, durch gemeinsame Culturarbeit zur Freundschaft bestimmt, sich in tödlicher Umarmung verstricken sollen, daß Hunderttausende von Männern und Jünglingen, ihren Beschäftigungen entrissen, einem frühzeitigen Grabe oder der Krankheit und Verkrüppelung entgegengeführt werden, und herzzerreißend ist der Gedanke an die Witwen und Waisen, die den Vater und den Lehrer werden entbehren müssen!37

30 Gidal (1997): Juden, S. 230. 31 Toury (1966): Orientierungen, S. 132. 32 Sigmund Heumann: Fürth (Privatmitth.). In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 18. Dezember 1869. 33 Der Augenblick. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 26. Juli 1870. 34 In ernster Zeit. In: Der Israelit, 20. Juli 1870. 35 Vom Völkerhaß. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 30. August 1870. 36 An unsere Glaubensgenossen. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 2. August 1870. 37 Zum Schutze des Höchsten. In: Der Israelit, 3. August 1870.

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Der Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges hatte in der jüdischen Presse in den deutschen Staaten eine Vielzahl von heterogenen Reaktionen hervorgerufen. Die Forschungen von Christine Krüger zeigen ein Konglomerat aus innerjüdischen Differenzen und Loyalitätskonflikten auf, wobei die grundsätzliche Wertschätzung gegenüber den Glaubensbrüdern auf der Gegenseite, den französischen Juden, immer gewahrt blieb.38 Eines „der erhebendsten Gefühle des menschlichen Herzens“ sei „die Liebe zum Vaterlande“, schrieb „Der Israelit“, mahnte jedoch gleichzeitig: „Auch wir werden uns in unserem Patriotismus nicht irre machen lassen“. Denn mit dem Krieg wurde auch ein stärkerer Antisemitismus wahrgenommen: „Es ist die alte Gehässigkeit, die alte Verfolgungssucht, die alte Aufhetzerei gegen die Juden. Als im Jahre 1866 die Preußen vermittels ihrer vorzüglichen Karten den Weg über die Rhön fanden, da wurde – um das Volk gegen die Juden aufzuhetzen – ausgesprengt, die Juden hätten ihnen die Wege gezeigt.“39 Das Blatt begrüßte daher den Waffenstillstand als Friedensherstellung und weniger als deutschen Triumph.40 In der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ wurde schon im November 1870 die Befürchtung geäußert, dass ein deutscher Sieg den Militarismus im eigenen Lande steigern würde, und weitreichende innenpolitische Folgen befürchtet.41 Nach Andrea Hopp habe ein Großteil des jüdischen Bürgertums die BismarckVerehrung übernommen: „Im Kult um den Reichskanzler verlieh das jüdische Bürgertum seiner treuen Ergebenheit gegenüber dem modernen deutschen Nationalstaat Ausdruck.“42 Zudem geht sie davon aus, Juden hätten den zur Schau gestellten Patriotismus anlässlich nationaler Feste übernommen, und zieht hierfür einen Text über die Sedanfeiern von Theodor Schieder aus dem Jahr 1961 heran, der jene Bevölkerungsgruppe nicht berücksichtigt.43 Hierin muss Hopp widersprochen werden, denn die Erinnerung an die Schlacht von Sedan war nicht unkritisch gefeiert worden, sondern die Feste auch immer ein Ausdruck gesellschaftlicher Spannungen.44 Hinsichtlich der historischen Erinnerungsdaten ist zudem festzuhalten, dass im Vergleich zu anderen Teilen der Bevölkerung der Geburtstag des sogenannten „Reichsgründers“ Otto von Bismarck (1815–1898) am 1. April eher eine geringe Rolle spielte. In liberalen, konservativen und völkischen Kreisen im Deutschen Reich war dies ein zentraler Festtag.45 In der jüdischen Presse wurde darauf kaum Bezug genommen, abgesehen vom 100. Geburtstag des „eisernen Kanzlers“ – eine Bezeichnung, mit der auch liberale Juden ihre Wertschätzung zum Ausdruck brachten. Präsenter waren in der jüdischen Presse der 18. Januar, der Tag der Kaiserproklamation 1871 in Versailles, sowie die Erinnerung an die Schlacht von Sedan um den 2. Sep38 39 40 41 42 43 44

Krüger (1998): Krieg, S. 202–236. Vaterlandsliebe. In: Der Israelit, 10. August 1870. Waffenstillstand. In: Der Israelit, 1. Februar 1871. Die Aussichten. II. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 22. November 1870. Hopp (1999): Bismarck, S. 32. Hopp (1999): Bismarck, S. 3; Schieder (1961): Kaiserreich, S. 125–153. Graf (1994): Sedanfeier; Becker (2001): Sedantage; Schneider (2002): Sedantag; Dannenfeld (2004): Institutionalisierung; Herzig (2007): Reichsnation. 45 Hirschmüller (2018): Geschichtskultur, S. 193–198.

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tember.46 Wobei auch hier zu berücksichtigen ist, dass beide Ereignisse in der liberalen jüdischen Presse nicht jährlich kommentiert wurden, sondern nur zu größeren Jubiläen, wie zu jeder vollen Dekade oder insbesondere den 25. Jahrestagen in den Jahren 1895/1896. Die Kaiserproklamation symbolisierte hierbei die Herstellung des deutschen Nationalstaates, die jüdischen Zeitungen verbanden damit die in der Reichsverfassung verankerte Gleichberechtigung der Religionen und so die Anerkennung der jüdischen Deutschen als Staatsbürger und Staatsbürgerinnen.47 Bei der Erinnerung an die Schlacht von Sedan wie auch an die Kriege von 1864 und 1866 standen die Leistungen der Soldaten mit jüdischem Glauben im Zentrum.48 Deren Einsatz- und Opferbereitschaft galt als Nachweis, dass die deutschen Juden ihren Beitrag bei der Herstellung des neuen deutschen Kaiserreiches erbracht hatten, sich als deutsch fühlten und somit die rechtliche Gleichstellung auch verdient hatten. Eine militaristische Erinnerungspraxis, etwa um „die blutgetränkten Schlachtfelder uns vor die Seele zu führen und des Untergangs, der Vernichtung des Feindes uns zu freuen“ und um „den Krieg um des Krieges Willen zu verherrlichen“,49 wurde mehrheitlich abgelehnt. Ein Bedeutungsverlust der Sedanfeiern, wie dies Christine Seeger nach 1895 grundsätzlich für die deutsche Gesellschaft annimmt, kann somit für die jüdischen Deutschen nicht festgestellt werden.50 Auch in den regionalen Kult um Sedan waren die ortsansässigen Juden teilweise integriert.51 Eine Dazugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft konnte dadurch möglich werden. So erinnerte sich Theodor Lessing (1872–1933) an eine deutschnationale Rede, die er anlässlich eines Sedantages in der Schule gehalten hatte: „Nun war ich kein Fremdling mehr.“52 Dabei darf nicht vergessen werden, dass immer wieder betont wurde, wie auf die scheinbare Einheit

46 Ein Kriegsgedenkbuch wurde bereits 1871 publiziert: Allgemeinen Zeitung des Judenthums, Redaktion (1871): Gedenkbuch. Die Zahlen jüdischer Kriegsteilnehmer sind verlässlich kaum zu ermitteln: Berger (2009): Soldaten, S. 64–65. 47 Zum 18. Januar. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 17. Januar 1896; Beermann, Max: 1701–1901. Eine Festbetrachtung zur 200 Jahrfeier des preußischen Königthums. In: Der Israelit, 17. Januar 1901. Zur Rechtsstellung einführend: Pulzer (1997): Gleichstellung, S. 151– 192. Siehe hierzu auch den Beitrag von Sabine Mangold-Will in diesem Band. 48 Die Combattanten jüdischer Religion im Kriege 1870/71. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 11. Januar 1876; Kriegserinnerungen: In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 6. September und 11. Oktober 1895; Feldzugsbriefe eines jüdischen Truppenarztes. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 29. November 1895; Die Juden auf dem Schlachtfelde. Verwundete und Todte. Beilage zur „Jüdische Presse“, 1. Januar 1896; Juden auf dem Schlachtfelde. Verwundete und Todte. Im Deutschen Reich, Januar 1896; Juden als Soldaten II. In: Im Deutschen Reich, Januar 1901; Herzberg, J.: Durch die Sabbatlampe. In: Frankfurter Israelitisches Familienblatt, 14. November 1912. 49 Hildesheimer, M.: Ein Vierteljahrhundert. Festpredigt zur Feier des Sedan-Tages in der Synagoge der Adaß-Israel in Berlin. In: Die jüdische Presse, 5. September 1895. 50 Seeger (1992): Sedanfeiern, S. 123. 51 Scholz: Pfarrarchiv, o. S. 52 Hartwig (1999): Lessings, S. 53.

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durch die Reichsgründung die „Ernüchterung“ infolge des anhaltenden Antisemitismus folgte.53 Nach Wahrnehmung aller Strömungen im Judentum hatte sich manches auch nach 1871 nicht zum Besseren entwickelt.54 Franz Oppenheimer (1864– 1943) erinnerte sich 1931: „Den Einzug der siegreichen Truppen 1871 durften wir mit den Eltern von teuren Plätzen aus einem Konditor-Schaufenster der damaligen Königgrätzer Straße mit ansehen.“55 Im Laufe der Zeit sei jedoch dann die „Hybris des Siegers“ gefolgt.56 Antisemiten versuchten ständig, die Leistungen jüdischer Soldaten zu schmälern,57 oder kritisierten das Auflisten jüdischer Namen auf Gefallenendenkmälern.58 So boten der Tag der Reichsgründung und der Sedantag auch immer wieder Anlass, diese Missstände anzusprechen.59 Die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ war hierfür auch bereit, die Kritik der Sozialdemokratie an den Sedanfeiern zu verurteilen. Andererseits darf aber nicht vergessen werden, dass in der liberalen jüdischen Presse auch die französischen jüdischen Soldaten des Krieges von 1870/1871 für den Einsatz für ihr Vaterland Wertschätzung erfuhren.60 Die Botschaften waren wohl auch an die übrigen Deutschen gerichtet. Durch den Verweis auf die jüdischen Leistungen bei der Reichsgründung sollte über die rechtliche auch die mentale Anerkennung als Deutsche erzielt werden. 3. KAISERTREUE STATT BISMARCKKULT Von den berühmten Einzelpersonen rund um die Herstellung der deutschen Einheit spielte Bismarck im Vergleich zu dem seit den 1870ern vielerorts entstehenden Mythos, der ihn als „Reichsschmied“ feierte, in den jüdischen Zeitungen eher eine untergeordnete Rolle. Selbst die liberale jüdische Presse ging auf Distanz zum „Heroenkult“ um den preußischen Staatsmann.61 Von „Bismarckschwärmern“62 schrieb die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ und eines „allzu eisernen Kanzlers“63

53 Zum 18. Januar. In: Die jüdische Presse, 15. Januar 1896. 54 J. I.: Aus vergangener Zeit 1870–71. Aus Tagebuchblättern. Handwerk und Gewerbe. Zentralorgan des Zentralverbandes selbstständiger jüdischer Handwerker Deutschlands, Juni, Juli u. August 1916. 55 Oppenheimer (1931): Erinnerungen, S. 48. 56 Oppenheimer (1931): Erinnerungen, S. 60. 57 Deutschland. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 14. September 1880; Miscellen. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 8. Dezember 1893. 58 Wochen-Chronik. In: Allgemeine Israelitische Wochenschrift, 6. September 1895. 59 Umschau. In: Im Deutschen Reich, Januar 1896; Nach 25 Jahren. In: Allgemeine Israelitische Wochenschrift, 23. August 1895. 60 Zum Sedantag. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 30. August 1895. 61 Ludwig Bamberger᾽s „Charakteristiken“. In: Israelitische Wochenschrift, 29. Juni 1894; Umschau. In: Im deutschen Reich, März 1899. 62 Die Woche. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 30. September 1898. 63 Wie und die Sozialdemokratie. In: Jüdische Rundschau, 7. Dezember 1906.

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erinnerte sich die zionistische Jüdische Rundschau64. Noch deutlicher schrieb es ein Autor im „Berliner Vereinsboten“, dem Central-Organ für die jüdischen Vereine Berlins: Ich kann mich nun einmal zu dieser Höhe der Begeisterung nicht vorarbeiten und bin nicht Patriot im Sinne jener Sozialpolitiker, die die Rassenhetze, das Erbe aus der Aera Bismarck, mit unverdrossener Kraft weiter kultivieren und nicht selten in der Ueberschwänglichkeit der Vergötterung und Beweihräucherung dieses Mannes rückhaltlos erkennen lassen, dass sie am liebsten dem 1. April die Bedeutung des 27. Januar gegeben hätten.65

Das zweite genannte Datum bezieht sich auf den Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) und damit unterstellt der „Berliner Vereinsbote“ den BismarckAnhängern, sie stünden in Gegnerschaft zum monarchischen Staat. Wenn Bismarck in der jüdischen Presse eine größere Berücksichtigung erfuhr, sei es zum Todestag oder zum 100. Geburtstag, geschah dies weniger mit dem Schwerpunkt auf seinem angeblichen Einigungswerk. Es war stattdessen ein zentrales Anliegen, zu betonen, dass er kein Antisemit gewesen sei.66 Dementsprechend erregte die Betonung einer judenfeindlichen Haltung bei Bismarck durch Antisemiten immer wieder Missfallen.67 Diese Anfeindungen versuchte man zu widerlegen, indem auf die jüdischen Personen in Bismarcks Umfeld verwiesen wurde: „Fürst Bismarck hat tatsächlich bei Ausführungen großer nationaler Dinge weder nach dem Katechismus noch nach der Abstammung gefragt, wenn er fähige Mitarbeiter suchte und fand.“68 So wurde immer wieder an Bismarcks Vertrauten Gerson von Bleichröder (1822–1893)69 und vereinzelt an die Zusammenarbeit mit Wilhelm Cahn (1939–1920) erinnert. Selten wurde in der Presse Dankbarkeit geäußert, da „das deutsche Volk dem Fürsten Bismarck die Verfassung des Deutschen Reiches verdankt, welche die letzten Schranken, die der Emancipation entgegenstanden, in allen deutschen Landen hinweggeräumt hat.“70 Auffällig ist, dass aus der Donaumonarchie nach Deutschland eingewanderte Juden vermehrt Bismarck-Verehrer waren. Der im westungarischen Poppa geborene und damit aus Österreich-Ungarn stammende orthodoxe Gegner des Zionismus Raphael Breuer (1881–1932)71 erinnerte an den Spiegelsaal

64 Schütz (2019): Konstruktion. 65 Aprilgedanken. In: Berliner Vereinsbote. Central-Organ für die jüdischen Vereine Berlins, 2. April 1897. 66 Bismarck und die Juden. In: Israelitisches Familienblatt, 27. Oktober 1904; Wolff, A.: Bismarck und wir. Ein programmatisches Bekenntnis zu seinem 100. Geburtstag. In: Die jüdische Presse, 26. März 1915. 67 Umschau. In: Im deutschen Reich, April 1903. 68 Ein weißer Rabe im „Verein Deutscher Studenten“. In: Im Deutschen Reich, Oktober 1907. 69 Bismarck und die Juden. In: Der Israelit, 1. April 1915; Bismarcks hundertjähriger Geburtstag. In: Israelitisches Familienblatt, 31. März 1915; Bismarck-Erinnerungen. Zu seinem 100. Geburtstag. In: ebd. Wilhelm Chan war Kanzleivorsteher bei der Bayerischen Gesandtschaft in Paris und erlebte dort den Krieg: Archiv Bibliographia Judaica: Lexikon 4, S. 390–392. 70 Fürst Bismarck. In: Der Israelit, 1. August 1898. 71 Brocke / Julius (2009): Handbuch, S. 103–106.

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von Versailles, „wo der eiserne Kanzler seinen königlichen Herrn mit der Kaiserkrone schmückte“.72 Der Bismarck-Mythos hatte auch in den Habsburgerstaat ausgestrahlt und dort Teile der jüdischen Bevölkerung erfasst. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der ebenfalls aus Ungarn stammende Adolph Kohut (1848–1917), der dem Reichskanzler wohl für die Aufhebung eines Einreiseverbotes nach Berlin dankbar war.73 Er verfasste in erzählerischem Stil Bücher über Bismarcks angeblichen Humor,74 die erschienene Literatur über ihn75, dessen Verhältnis zu Frauen76 sowie weitere scheinbare Charaktereigenschaften.77 Während des Ersten Weltkrieges folgte auch das Buch „Bismarcks Urteil über Frankreich, Rußland und England“, in welchem despektierliche Äußerungen über jene Völker gesammelt waren.78 Kohut nannte den Krieg von 1866 auch den „deutsch-österreichische[n] Krieg“,79 eine Begriffswahl, die Preußen zum Vorkämpfer der deutschen Einheit stilisieren sollte.80 Inwieweit darüber hinaus der Bismarckkult Teile des jüdischen Bürgertums und andere deutsche Juden erfasste, ist schwer abzuschätzen. Der in Brandenburg geborene und in Chemnitz wie Zittau aufgewachsene Paul Mühsam (1876–1960) beschrieb eine Szene aus seiner Jugend: Als ich zu Bismarcks 80. Geburtstag ein selbstgefertigtes Gedicht, das von allen abgegebenen als das beste anerkannt worden war, vortragen sollte, gingen auf dem Weg zum Festakt zwei Schüler einer anderen Klasse an mir vorüber, von denen der eine dem anderen die Bemerkung zuflüsterte, daß man dazu nicht gerade mich hätte auswählen brauchen. Die Äußerung kränkte mich, doch es schien mir nicht der Mühe wert, darauf einzugehen.81

Die Passage verdeutlicht die potenziell auch vorhandene Begeisterung jüdischer Schüler für Bismarck wie auch die Ablehnung dieser durch andere Deutsche. Mehr Wertschätzung in der jüdischen Presse als Bismarck erfuhr Helmuth von Moltke (1800–1891), dem als Chef des Generalstabs der preußischen Armee der entscheidende Anteil an den militärischen Siegen in den „Einigungskriegen“ zugeschrieben wurde. Als „treue Söhne des deutschen Vaterlandes betrauern auch die

72 Breuer, Raphael: Der JLA zum Gruße. In: Der Israelit, 8. Juli 1909. 73 Neubach (1967): Ausweisungen, S. 20 u. 164; Archiv Bibliographia Judaica (2006): Lexikon 14, S. 196–211. Das Engagement Bismarcks ist nicht belegt. Kohut schreibt davon in: Kohut, Adolph: Bismarcks Stellung zum Judentum und zu den Juden. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 26. März, 2., 9. 16. und 23. April 1915, hier: 23. April 1915 74 Kohut (1889): Humorist. 75 Kohut (1889): Literatur; Kohut (1901): Bismarckiana. 76 Kohut (1894): Frauen. 77 Kohut (1889): Mensch. Auch: Kohut (1909): Württemberg; Kohut (1911): Großen; Kohut (1915): Worte; Kohut (1915): Ungarn. 78 Kohut (1914): Urteil. 79 Kohut, Adolph: Zum Andenken Ignaz Kuranda᾽s. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 21. Juni 1912. 80 Hirschmüller (2016): Klischee, S. 194. 81 Mühsam [1994]: Mensch, S. 203.

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deutschen Juden den Heimgang des großen und edlen Mannes“, schrieb die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ zu Moltkes Tod im April 1891.82 Als zentrale Figur bei der Herstellung des Reiches galt jedoch Kaiser Wilhelm I., der in der liberalen Presse als „Heldenkaiser“ verehrt wurde. 83 Ihm sei die Gleichberechtigung der Juden in Deutschland im Jahr 1871 zu verdanken, hieß es, und er galt als Garant, dass diese Errungenschaft auch gewahrt blieb. Dieser Sicht widerspricht eine Äußerung des historischen Wilhelm, an die sich Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819–1901) zu erinnern behauptete: „Wir kamen dann auf die Judenfrage. Der Kaiser billigt nicht das Treiben des Hofpredigers Stöcker, aber er meint, daß die Sache sich im Sande verlaufen werde, und hält den Spektakel für nützlich, um die Juden etwas bescheidener zu machen.“84 Tatsächlich hat wohl der Hohenzoller ebenfalls auf den aufkommenden Antisemitismus mit Bedenken geblickt, wie er an seine Frau schrieb: „Ich habe aber ein Vorgefühl, daß diese antisemitischen Aufstände doch einmal zu einem sehr ernsten Ereignis führen werden, denn die Juden sind einmal gehaßt wie sie sind, bei uns noch am wenigsten.“85 Auch nach dem Tod von Wilhelm I. 1888 und der Entlassung Bismarcks 1890 setzte keine generelle Aufwertung des „Alten im Sachsenwald“ ein. Zum 25. Jahrestag kam etwa die orthodoxe Zeitung „Die jüdische Presse“ ohne die Erwähnung von Bismarck aus und schloss mit den Worten: „Heil unserem Kaiser! Heil dem deutschen Reich!“86 Die Bitte, die Tradition eines Schutzherrn der rechtlichen Sicherheit der deutschen Juden fortzuführen, wurde zum Reichsgründungstage auch an dessen Enkel Wilhelm II. gerichtet: „Der deutsche Kaiser steht an der Spitze der Welt, weil er die Wage der Gerechtigkeit hält in starker Hand. Möge Frieden und Zufriedenheit den Kaiser und sein Volk beglücken und der Ruhm der Gerechtigkeit über dem Deutschen Reiche leuchten bis zu späten Tagen!“87 Dass dies überhaupt so formuliert wurde, verdeutlicht erneut, wie sehr deutsche Juden um die Gewährleistung ihrer Rechtssicherheit fürchteten. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde noch einmal verstärkt an die Leistungen der jüdischen Soldaten in den sogenannten Einigungskriegen erinnert,88 was wohl auch auf den nach Kriegsausbruch noch einmal gesteigerten Antisemitis-

82 Korrespondenzen und Nachrichten. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 1. Mai 1891. 83 Deutschland. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 22. März 1888; Kaiser Wilhelm I. In: Die jüdische Presse, 15. März 1888. 84 Tagebuch Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 29. November 1880. In: Curtius (1907): Denkwürdigkeiten. Bd. 2, S. 307. 85 Wilhelm I. an Augusta, 12. September 1883. In: GStA PK, BPH, Rep. 51 J, Nr. 509b, Bd. 28, Bl. 86. 86 Zum 18. Januar. In: Die jüdische Presse, 15. Januar 1896. 87 Zum 18. Januar. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 17. Januar 1896. 88 Ein Tapferer des Kriegs 1870/71. In: Die jüdische Presse, 28. August 1914; Reißer, Regina: Kriegserinnerungen einer alten Frau. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 11. Dezember 1914.

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mus zurückzuführen war.89 Der liberale Rabbiner Cäsar Seligmann90 erkannte einen Vorteil gegenüber 1870, da nun eine jüdische Feldseelsorge gewährleistet war.91 Geiger räumte über die Reichsgründung ein: „Es war eine herrliche Zeit, die in der Rückerinnerung vielleicht noch verklärter erscheint, als sie den Mitlebenden vorkam.“92 So musste er bilanzieren: „Als der Friede geschlossen war, hofften die Juden, nun sei jeder Unterschied verschwunden. Nun seien sie, was viele von ihnen seit Jahrzehnten erträumt hatten, voll und ganz Deutsche geworden. Sie sollten bald erfahren, wie sehr sie sich getäuscht hatten.“93 Im Oktober 1918 erschien in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ ein Abbild Bismarcks mit dem Aufruf: „Wenn einst Bismarcks Geist durch sein bedrängtes Land geht – findet der eiserne Kanzler ein eisernes Volk? Daß er es findet, sorge dafür! Hilf auch Du, daß Dein Volk bestehe: Zeichne die Kriegsanleihe!“94 Solche Militarisierungen blieben jedoch auch in den Kriegszeiten die Ausnahme. Stattdessen wurde eher darauf verwiesen, dass auch unter den Bedingungen des Weltkrieges die Gräber der 1870 in deutschen Lazaretten verstorbenen kriegsgefangenen französischen Glaubensbrüder gepflegt wurden.95 4. NEUPOSITIONIERUNGEN UND ALTE KONFLIKTE IN DER WEIMARER REPUBLIK Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Sturz der Monarchie verlor die Reichsgründung auch in der liberalen jüdischen Presse an Bedeutung, da die Redaktionen sich mit der neuen demokratischen Staatsform arrangieren wollten und konnten.96 Dies verdeutlicht insbesondere das Jahr 1921, als sich die Kaiserproklamation zum 50. Mal jährte. Von der KPD-Presse über die Zeitungen in der bürgerlichen Mitte bis zu den völkischen Blättern wurde der Jahrestag kommentiert.97 In den jüdischen Zeitungen, auch in den liberalen, waren hierzu kaum mehr Bezugnahmen anzutreffen. Die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ hob noch hervor, dass einem Juden die „Ehre zuteil wurde, auf dem Schloß zu Versailles die erste deutsche Reichsflagge zu hissen“, und dass der ebenfalls von einem Glaubensbru-

89 Breding (1997): Aufstieg. 90 Brocke / Julius (2009): Handbuch, S. 564–570. 91 Seligmann, Cäsar: Erinnerungen aus dem Kriegsjahr 1870. Gottesdienst bei Metz am Versöhnungsfest. Jüdische Seelsorge. In: liberales Judentum. Monatsschrift für die religiösen Interessen des Judentums. September 1914. 92 Geiger, Ludwig: Erinnerungen aus dem Jahre 1870/71. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 20. November 1914. 93 Geiger (1915): Juden, S. 59. 94 Der Gemeindebote. Beilage zur „Allgemeinen Zeitung des Judentums“, 4. Oktober 1918. 95 Zwei Franzosengräber in Schwerin i. M. 1870/1914, in: Allgemeine Zeitung des Judentums vom 6. November 1914. 96 Angress (1971): Revolutionszeit. 97 Hirschmüller (2010): Geschichte; Hirschmüller (2018): Kommunismus, S. 412–414.

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der komponierte „Berliner Einzugsmarsch“ von 1866 und der deutsche Triumphmarsch von 1871 von Kaiser Wilhelm I. angenommen wurden, ebenso wie dessen Trauermarsch von 1888.98 Somit sollte vor dem Hintergrund des omnipräsenten Antisemitismus auch in der Republik99 weiterhin verdeutlicht werden, dass Juden ihren Beitrag bei der deutschen Einigung geleisteten haben. Die gleiche Intention verfolgte „Der Schild“, die Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten.100 Hier wurden die Leistungen der Teilnehmer an den Einigungskriegen in Erinnerung101 gehalten und die „Blutopfer“ des Weltkrieges in die Tradition des DeutschFranzösischen Krieges gestellt. Doch war auch dies wieder in erster Linie der Abwehr von Hass gegen die Juden in Deutschland geschuldet. So wurde sich beispielsweise im Jahr 1931 mit Verweis auf die Leistungen im Deutsch-Französischen Krieg dagegen verwahrt, dass der Braunschweiger Staatsminister für Inneres, Kultur und Volksbildung Anton Franzen (NSDAP, 1896–1968) Juden als „Ausländer“ bezeichnete.102 Hierin war auch eine Konstante in den übrigen jüdischen Zeitungen jenseits der Jahrestage anzutreffen. Doch wenn auch nicht mehr durch die Zeitungen aus eigener Initiative an die Kaiserproklamation oder Sedan erinnert wurde, so finden sich doch immer wieder Berichte, dass jüdische Studentenverbindungen zu Reichsgründungsfeiern Präsenz zeigten,103 manche, wie die „Vineta“ (Charlottenburg) zum ersten Mal.104 Gleichzeitig musste immer wieder festgestellt werden, dass Juden die Teilnahme an entsprechenden Feierlichkeiten verweigert wurde.105 So wurde der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten am 18. Januar 1931 auf Drängen der Nationalsozialisten von einer von der Kriegskameradschaft und dem Stahlhelm veranstalteten Feier in Kaiserslautern mit dem Verweis auf „unüberwindliche Schwierigkeiten“ ausgeladen.106 Auch wurde mit Beunruhigung festgestellt, dass antisemitische Redner bei Reichsgründungsfeiern missliebige Leute als Juden bezeichneten.107 In Berlin mussten bei Ausschreitungen anlässlich entsprechender Gedenkveranstal-

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Wochenschau. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 2. April 1921. Hecht (2002): Antisemitismus. Nagel (2016): Schild. Tugendreich, Julius: Die jüdischen Frontsoldaten 1870/71. In: Der Schild. Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, 26. Juli 1929. Löwenstein, Leo: Dem 60jährigen Reich! In: Der Schild. Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, 22. Januar 1931. Vereinsnachrichten. In: K.C.-Mittelung, 15. April 1925. Vereinsnachrichten. In: K.C.-Mittelung, März/April 1925. Stern, Erich: Macht oder Recht? Die grundsätzliche Bedeutung der jüngsten Vorgänge in Freiburg. In: K.C.-Mittelung, April–Juni 1925; Die Reichsgründungsfeier der Universität München. In: Bayerische israelitische Gemeindezeitung, 9. Februar 1927; Aus den Gemeinden. In: Jüdisch-liberale Zeitung, 28. Januar 1931; Die Woche. In: Jüdische Zeitung, 13. Februar 1931. Die Vertreter der jüdischen Frontsoldaten von einer Reichsgründungsfeier ferngehalten. In: Das Jüdische Echo, 30. Januar 1931. Aus dem Irrgarten des Antisemitismus. In: Israelitisches Familienblatt, 6. März 1930.

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tungen bereits nationalsozialistische Drohungen wahrgenommen werden wie: „Erst wenn die Juden bluten, dann sind wir befreit.“108 Damit blieb das Jahr 1871 aus jüdischer Sicht zwiespältig, da nach dem „glorreichen Feldzuge 1870/71“ auch der Antisemitismus mit all seinen Gefahren angewachsen war.109 Die Anerkennung der Leistung der deutschen Einheit sollte dadurch nicht geschmälert werden. Die liberale CV-Zeitung sah durch diese Errungenschaft sogar einen Neid bei den europäischen Nachbarn hervorgerufen, der zum Kriegsausbruch 1914 geführt habe: „Diese Errichtung eines starken Machtzentrums im Herzen Europas, das war es, was die Mächte uns nie verzeihen konnten, und hier liegt eine der tiefsten Ursachen des Weltkrieges.“110 So wurde in den Zeitungen aller Strömungen einerseits immer wieder an die jüdischen Veteranen in den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/1871111 erinnert oder auch noch an Bleichröder.112 Noch im September 1933, als Hitler schon fast acht Monate an der Regierung war, verwies die zionistische „Jüdische Rundschau“ auf die Leistungen von Ludwig Bamberger und Eduard Lasker beim Ausbau der Reichseinheit nach 1871.113 Andererseits blieb es das Bestreben, darauf zu verweisen, dass Bismarck nicht dem gegen die Juden gerichteten völkischen Wunschbild entsprach. So schreib die CV-Zeitung: „Der Bismarck mit den Kürassierstiefeln, dem rasselnden Säbel und der auftrumpfenden Faust ist ein beliebtes Idealbild der völkischen Kreise. Zu gern würden sie den eisernen Kanzler auch als Judenhasser großen Ausmaßes für sich in Anspruch nehmen.“114 Jeder würde dabei aus den „Gedanken und Erinnerungen“ beliebige Versatzstücke herauslesen.115 Doch tauge, so der Autor, weder Bismarck noch Friedrich der Große als „Kronzeugen“ gegen die deutschen Juden.116

108 Ausschreitungen im Berliner Westen. „Prost Neujahr! Juda verrecke! Deutschland erwache!“ In: Jüdische Rundschau, 15. September 1931. 109 Mannheimer, Abraham: 50 Jahre Antisemitismus. Geschichtlicher Streifzug für das jüngere Geschlecht. In: Der Israelit, 27. Dezember 1928. 110 Hermann Funke: Nationalismus und Liberalismus. Ein zeitgeschichtlicher Rückblick. In: CVZeitung, 19. Dezember 1930. 111 Beispielsweise: Vermischtes. Halberstadt. In: Der Israelit, 25. September 1924; Aus den Gemeinden. In: Jüdisch-liberale Zeitung, 18. Dezember 1925. 112 Jöhlinger, Otto: Bismarcks Stellung zum Judentum, Jüdisch-liberale Zeitung, 12. August 1921. Der Nationalökonom Otto Jöhlinger hatte seine Ergebnisse zuvor auch in Buchform publiziert, um die völkischen Thesen, Bismarck sei konsequenter Gegner der Juden gewesen, zu widerlegen. Im Jahr 1922 begründete er das Seminar für Zeitungskunde und Zeitungspraxis, aus dem später das Institut für Zeitungswissenschaft an der Universität Berlin hervorging. Jöhlinger (1921): Bismarck; Braeuer (1974): Jöhlinger. 113 Simon, Ernst: Die Juden und der deutsche Nationalismus. In: Jüdische Rundschau, 20. September 1933. 114 Ein Kronzeuge der Völkischen? Hermann Wendel über Ludwigs Bismarck-Buch. In: CV-Zeitung, 24. Dezember 1924. 115 May, Richard: Gesellschaftliche Aechtung. Eine sehr zeitgemäße Betrachtung. In: CV-Zeitung, 28. November 1924. 116 May, Richard: Völkische Außenpolitik. In: CV-Zeitung, 20. März 1924.

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Zu dem Komplex, dass historische Beispiele in den gesellschaftlichen Konflikten der jungen Republik als Argumente meist gegen die demokratische Staatsform und damit „Geschichte gegen Demokratie“117 gerichtet waren, gehört auch die weitere Präsenz des 18. Januar und dies insbesondere im universitären Umfeld. Wie Dirk Blasius richtig anmerkte, war es eine der „vielen Facetten, die die Grenzen der integrierenden Kraft von Weimars politischer Ordnung aufzeigen“, dass dem Tag der Reichsgründung „eine weit höhere Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde“ als jenem der Unterzeichnung der Weimarer Reichsverfassung.118 Jegliche Versuche, „ihn republikanisch umzudeuten“, sind gescheitert.119 Die Feiern zum 18. Januar wurden in der jüdischen Presse grundsätzlich befürwortet, sehr wohl aber erregten die Begleitumstände immer wieder Missfallen. So galten „Jüdisch-liberalen Zeitung“ jedoch die „Hakenkreuzler“ durch ihr Benehmen als die eigentlichen Störenfriede nationaler Gedenkfeiern.120 Auch schrieb die vom „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ in der Nachfolger von „Im deutschen Reich“ und der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ herausgegebene „Central-Verein-Zeitung“ im Januar 1930: „Es blieb den Nationalsozialisten vorbehalten, die schöne und würdige Tradition der akademischen Reichsgründungsfeiern durch eine gerade an diesen Tagen besonders beschämende Hetze zu durchbrechen.“121 Als Adolf Hitler 1924 während des Prozesses nach dem gescheiterten Putsch in München erklärte, er wolle die „Deutsche Frage lösen“, entgegnete das zionistische „Jüdische Echo“,122 „so viel uns auch von Bismarcks Werk durch Krieg, Zusammenbruch und Revolution verloren gegangen, das Kostbarste und Wesentlichste, die Deutsche Einheit“ sei „durch alle Stürme gerettet worden“.123 Die Bekenntnisse zum 1871 entstandenen Reich und die Erinnerung an die Verdienste der Juden bei der Herstellung der deutschen Einigung konnten jedoch die von den Redaktionen damit erhofften Ziele wie zuvor in der Monarchie nicht erreichen. Die völkischen Kreise und schließlich die Nationalsozialisten nutzten Bismarck und dessen Antisemitismus, um die Juden als Feinde Deutschlands zu diskreditieren.124

117 Hirschmüller (2010): Geschichte. 118 Blasius (2017): Reichsgründungsfeiern, S. 71. Zu den Universitäten auch: Engehausen (2001): Reichsgründungsfeiern; Gerber (2002): Reichsgründungsfeiern. 119 Guhl (2010): Reichsgründungsfeiern, S. 255. 120 Wiener Brief. Ein Tag der Hakenkreuzler. In: Jüdisch-liberale Zeitung, 13. Februar 1925. 121 So schaffen die Nationalsozialisten „Ordnung“!... In: CV-Zeitung, 24. Januar 1931. 122 Wiesmann (2003): Antwort. 123 Der Hitlerprozeß. In: Das Jüdische Echo, 4. April 1924. 124 Hirschmüller (2010): Geschichtsbild.

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5. AMBIVALENTE PERSPEKTIVEN NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Nach 1945 hatte die Erinnerung an das 1871 entstandene Reich als historische Bezugsgröße bei den Juden in Deutschland endgültig ihre Bedeutung verloren. Zudem erreichte die jüdische Presse in beiden deutschen Teilstaaten aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr die Blüte wie zur Zeit der Weimarer Republik. Die „Allgemeine Jüdische Wochenzeitung“, ab 2002 „Jüdische Allgemeine“, das auflagenstärkste deutschsprachige jüdische Blatt der Nachkriegszeit, sieht sich in der Tradition der liberalen Zeitungen des Judentums.125 Sie bezog anlässlich von Reichsgründungsjubiläen in der Bundesrepublik 1951 und 1961 und selbst zum 100 Jahrestag 1971 wie auch 2021 keine Stellung. Distanziert wurden die Feierlichkeiten zu Bismarcks 150. Geburtstag 1965 kommentiert: „Bei der Würdigung dieses Staatsmannes fehlte selten der Hinweis auf seine Fähigkeit, eine gegebene Situation und mögliche Entwicklung realistisch einzuschätzen und sich hiernach zu richten. Hierzu gehört neben dem unbeugsamen Willen zu Aktionen die durchdachte und absichtliche Beschränkung auf einen Rahmen, dessen Ausweitung als gefährlich erkannt wurde.“126 Doch dürfe nicht vergessen werden, dass der bisherige Verlauf des 20. Jahrhunderts „nicht zu einer positiven Bewertung der sogenannten Realpolitik“ ermutige. Auch anlässlich des „Preußenjahres“ 2001 schrieb der Historiker Wolfgang Wippermann in dem Blatt, trotz „vielgerühmter Toleranz der Hohenzollern“ seien die Juden „Preußen zweiter Klasse“ geblieben. Eine wirkliche Emanzipation sei nach 1871 deswegen nicht erfolgt, weil die hierfür notwendige Einbürgerung wegen des in Preußen 1842 eingeführten „Blutrechtes“ nicht erfolgen konnte. Stattdessen seien zehntausende Juden als „unerwünschte Ausländer“ ausgewiesen worden. Gleichwohl führte Wippermann an: „Und für die Schoa wird man Preußen nun wirklich nicht verantwortlich machen können.“ Außerdem sei die rechtliche Lage in den anderen Staaten in Europa im Vergleich „nicht viel besser“ gewesen.127 Die Ambivalenz, die Bismarck und das Jahr 1871 für deutsche Juden bis heute in sich bergen, fasste der israelische Historiker Moshe Zimmermann anlässlich des 200. Geburtstages des „Reichsgründers“ im Jahr 2015 in der „Jüdischen Allgemeinen“ zusammen. Die Reichsgründung bedeutete die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung einerseits, ein Anwachsen des Antisemitismus in den folgenden Jahrzehnten andererseits. „Ich liebe sie unter Umständen“, habe Bismarck selbst geäußert. Zimmermann verwies zudem darauf, dass sich der Zionismus die judenfeindliche Haltung des „Alten im Sachsenwald“ zu Nutze machen wollte. Zudem besaß Bismarck in der nationalen Frage auch eine Vorbildfunktion: „Für den Vater des

125 Giordano (1961): Narben. 126 „Imago“ der Bundesrepublik. Kohle und Prügelknaben. In: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 9. April 1965. 127 Wippermann, Wolfgang: Preußen zweiter Klasse. Für Juden galt die viel gerühmte Toleranz der Hohenzollern nur eingeschränkt. In: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 1. Februar 2001.

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Zionismus, Theodor Herzl, war Bismarck wahrscheinlich weniger ein Instrument des Antisemitismus, sondern vielmehr der ultimative Schulmeister in Sachen Nationalismus.“ Schließlich, so Herzl, habe der erste Reichskanzler mit dem geeinten Deutschland erreicht, wonach die zionistische Bewegung für die Juden strebe, eine Vereinigung in ihrer „Heimstätte“.128 Eine konstante Erinnerung besitzen jedoch Bismarck und das Jahr 1871 in der jüdischen Presse nicht mehr. Hierin besteht eine Parallele zur Mehrheit der übrigen bundesdeutschen Bevölkerung, bei welcher der Prozess der Reichsgründung im 19. Jahrhundert mittlerweile entweder im kollektiven Gedächtnis nicht mehr präsent ist oder als identitätsstiftender Faktor keine Relevanz mehr besitzt. 6. ZUSAMMENFASSUNG Dieser kurze Themenaufriss zeigt, dass die Reichsgründung vor allem in der liberalen jüdischen Presse einen Erinnerungsort bildete. Die von jüdischen Soldaten erbrachten Leistungen in den „Einigungskriegen“ galten als Beleg für deren deutsches Nationalbewusstsein und damit die legitime Gleichberechtigung in der Reichsverfassung, in zunehmendem Maße aber auch für die Existenzberechtigung von jüdischem Leben in Deutschland. Dieser Befund bestätigt somit die These von Krüger, dass es sich um „Gedenken als Abwehr“129 handelte. Diese letzte Funktion behielt die Erinnerung an die Reichsgründung bei, wenn auch neue, demokratische Erinnerungsorte nach 1918 die Jahre 1870/1871 als Identitätsbezug auch im liberalen Judentum schnell abgelöst hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg besaßen die nationale Einigung der Deutschen im 19. Jahrhundert und deren Folgen kaum mehr eine Bedeutung in der jüdischen Erinnerungskultur in der Bundesrepublik. Sie dient gegenwärtig als Beispiel für die Ambivalenz der Erfahrung mit deutschen Identitätskonstruktionen, die auch 150 Jahre später formale Anerkennung und gleichzeitig immer wieder vorkommende Ablehnung beinhalten. In diesem Sinne ist die Reichsgründung als Erinnerungsort im deutschen Judentum ein Indikator für das angespannte Verhältnis zum Umfeld gewesen und geblieben.

128 Zimmermann, Moshe: Otto von Bismarck. „Ich liebe sie unter Umständen.“ In seinem Verhältnis zu den deutschen Juden war der Reichskanzler ein Sohn seiner Zeit. In: Jüdische Allgemeine, 1. April 2015 (https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/ich-liebe-sie-unter-umstaen den/?q=Kaiserreich%201871, Zugriff: 10. Juli 2021). 129 Krüger (1998): Krieg, S 276–283.

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ERINNERUNGSKULTUR

DIE HOHENZOLLERN NACH DEM STURZ DER MONARCHIE Martin Sabrow Die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs endete nicht mit der Proklamation der Deutschen Republik am 9. November 1918, und sein Platz in der deutschen Demokratiegeschichte lässt sich nicht ohne den Blick auf die Zeit nach der Abdankung des letzten Hohenzollernmonarchen bestimmen.1 Allerdings verliert der Sammelbegriff des Hohenzollernschen Herrscherhauses nach 1918 seine Aussagekraft. Denn „die“ Hohenzollern stellten nach 1918 zu keiner Zeit eine geschlossene Dynastie dar, wie sie allenfalls noch ihrem Oberhaupt Wilhelm II. im Doorner Exil vorschwebte, noch agierten sie im Rahmen einer einheitlichen politischen Kultur und Öffentlichkeit. Das Spektrum der entmachteten Familie reichte schon vor 1945 von nationalsozialistischen Aktivisten wie August Wilhelm bis hin zu demokratisch gesinnten Nachfahren wie Louis Ferdinand, die in ihrer autobiographischen Selbstdarstellung dem Widerstand gegen Hitler nahegestanden haben wollten.2 1. DIE FRIEDLICHE ABLÖSUNG DER MONARCHIE Ausgangspunkt aller Betrachtung ist der Umstand, dass mit der Ablösung der monarchischen Herrschaftsform in Deutschland, anders als etwa in Frankreich oder Russland, keine soziale oder kulturelle Vernichtung verbunden war. Stattdessen vollzog sich die staatsrechtliche Umwälzung in einer „Mischung von Bewahrung und Distanz“:3 Königliche Schlösser wurden nach 1918 nicht zu republikanischen Regierungssitzen umgeformt oder als greifbares Zeichen historischer Überwindung geplündert und geschleift. Dies blieb, unter veränderten historischen Umständen, der Zeit nach 1945 vorbehalten, als das SED-Regime gegen bürgerschaftlichen 1

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Der folgende Beitrag ist in Teilen unter dem Titel „Die Hohenzollern und die Demokratie nach 1918“ bereits digital in der Online-Ausgabe des Deutschland Archivs vom 18.12.2020 erschienen: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/324774/die-hohenzol lern-und-die-demokratie-nach-1918-i; https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutsch landarchiv/324802/die-hohenzollern-und-die-demokratie-nach-1918-ii. Zur Problematik der auf Distanz zum NS-Regime bedachten und mit gezielten Auslassungen arbeitenden Ich-Erzählung Louis Ferdinands: Urbach (2019): Nützliche Idioten, S. 74ff.; sowie zuletzt Pakelder / Schenk / von der Bas (2021): Der Kaiser, S. 93ff.; siehe auch jüngst: Machtan (2021): Der Kronprinz. Biskup / Kohlrausch (2018): Einleitung, S. 30.

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Protest die kriegsbeschädigten Stadtschlösser von Berlin und Potsdam abtragen und die Gutshäuser des preußischen Kleinadels verfallen ließ, während in die Schlösser von Stuttgart oder Wiesbaden demokratische Landesparlamente einzogen. 1918 aber bildete die einzige Ausnahme das Berliner Stadtschloss, in dem während der Revolutionswirren die aus Kiel und Emden gekommene Volksmarinedivision hauste und mit Plünderungen und Zerstörungen nicht sparte. Ihr vandalistisches Auftreten in Berlin stärkte den monarchischen Gedanken in gleichem Maße, wie es den Ruf der Revolution im Berliner Bürgertum nachhaltig schädigte. Doch am Ende waren es die Königstreuen, die dem Berliner Stadtschloss die stärksten Wunden schlugen. An den Weihnachtstagen 1918 begannen von Potsdam herangeschaffte Truppen des geschlagenen Heeres, das Schloss in einem ersten Aufblitzen der Gegenrevolution mit schwerem Geschütz in Schutt und Asche zu legen, bis die hinzuströmende Bevölkerung Berlins die Kampfhandlungen unterband und so mit der demokratischen Revolution auch das königliche Schloss schützte. 2. DER KULTURKAMPF ZWISCHEN REPUBLIKANERN UND MONARCHISTEN Das Haus Hohenzollern hat der Republik von Weimar diese Milde nicht gelohnt, sondern ihr in teils nonchalanter und teils aggressiver Distanz gegenübergestanden. Dabei gilt: Ungeachtet einzelner Legitimationskrisen des Wilhelminischen Kaiserreichs wie im Zuge der Daily-Telegraph-Affäre4 1908 konnte sich der Monarchismus als abgegrenzte politische Haltung erst ausbilden, nachdem die monarchische Ordnung mit der Novemberrevolution ihre Selbstverständlichkeit verloren hatte. Daraus gingen in den vierzehn Jahren der ersten deutschen Republik zwei gegeneinander laufende Linien hervor: Die eine markiert die allmähliche Einebnung des grundsätzlichen Gegensatzes zwischen republikanischer und monarchischer Welt und die zunehmende Integration der entmachteten Kaiserfamilie in die bürgerliche Gesellschaft; die andere Linie beschreibt im Kontrast dazu die Herausbildung und Festigung eines monarchistischen Gegenmilieus, das sich um restaurative Inseln wie das holländische Exil Ex-Kaiser Wilhelms II., die Person seines Sohnes Wilhelm, den medialen Preußenkult oder die Traditionspflege einer ganzen Stadt wie Potsdam herum kristallisierte.

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Anmaßende und ungeschickte Äußerungen Wilhelms II. über das deutsch-britische Verhältnis, die am 28. Oktober 1908 als Interview im Londoner „Daily Telegraph“ erschienen, sorgten für Empörung in der deutschen Öffentlichkeit und wurden auch von Seiten Großbritanniens, Russlands und Frankreichs als diplomatische Taktlosigkeit empfunden. Der „Telegraph“-Artikel löste eine Staatskrise aus, in deren Zuge Reichskanzler Bernhard von Bülow, dem der Text vorab zur Durchsicht vorgelegen hatte, seinen Rücktritt anbot und auch Forderungen nach einer Abdankung des Kaisers laut wurden.

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Schon zum ersten „Kaisergeburtstag“ nach der Novemberrevolution hatte die starke monarchistische Strömung im deutschen Bürgertum ihre Sprache wiedergefunden und meldete ihre restaurativen Ansprüche mit markanter Geste an: Wir leben in einer sogenannten sozialistischen Republik; aber wert und lieb sind uns die alten deutschen Farben schwarz-weiß-rot, und wir träumen den Traum von dem heimlichen Kaiser, bis dieser Traum – wir legen uns auf die Person des jetzigen Kaisers wirklich nicht fest, wenn wir ihm auch eine Heimat in der Heimat wünschen –, wieder seine Erfüllung findet. Wir stellen diese Scheinregierung, dieser Scheingeltung und Scheinmacht unser Bekenntnis zu Kaiser und Reich entgegen und warten auf den Tag, da dem deutschen Volke und dem deutschen Reiche wieder ein deutscher Kaiser beschieden sein wird.5

Um die in unterschiedlicher Stärke monarchistisch ausgerichteten Rechtsparteien DNVP und DVP herum bildete sich mit der von Ernst Troeltsch beschriebenen „Welle von rechts“ im Laufe des Jahres 1919 eine Vielzahl von Gruppierungen und Vereinen, die sich der monarchistischen Traditionspflege entweder programmatisch verschrieben – wie der 1922 aufgelöste „Bund der Aufrechten“ bzw. „Bund Aufrechter Monarchisten“ – oder in ihrer politischen Ausrichtung einer Erneuerung der Monarchie vorarbeiteten. Dies gilt insbesondere für den Frontsoldatenbund „Stahlhelm“ und sein Gegenstück, den 1923 gegründeten „Bund Königin Luise“, der sich unter Führung der ehemaligen Kronprinzessin Cecilie zu einem der größten Frauenvereine der Weimarer Republik mit 200.000 Mitgliedern und prononciert royalistischer Ausrichtung entwickelte. Zum besonderen Kristallisationsort eines restaurativen Monarchiegedankens, der dem republikanischen Staatswesen nicht den geringsten Kredit gewährte, avancierte in den Weimarer Jahren mit Potsdam die Stadt, die von den Hohenzollern geprägt war wie keine andere und mit Berlin um den ersten Rang als Hohenzollernsche Grablege wetteiferte. Welche Rolle die Stadt als monarchistischer Traditionsort in der Weimarer Republik spielte, trat insbesondere bei der Beisetzung der am 11. April 1921 in Doorn verstorbenen und nach Potsdam überführten Kaisergattin Auguste Victoria (geb. 22.10.1858) zutage, die sich in der Bevölkerung deutlich größerer Beliebtheit erfreut hatte als der Kaiser selbst.6 Schon Monate vor ihrem Tod hatten Preußen und das Reich angesichts des zu erwartenden Aufeinanderprallens von monarchischer und republikanischer Gedenkkultur Position bezogen. Während die Preußische Regierung lapidar mitteilte, dass sie „keine Beileidskundgebung beabsichtige“, wurde auf Reichsebene der Beschluss gefasst, „daß die Reichsregierung durch ein Telegramm des Herrn Reichskanzlers an den Prinzen Eitel Friedrich ihrem Beileid Ausdruck geben, an der Beisetzungsfeierlichkeit aber nicht teilnehmen solle“.7 In krassem Gegensatz zur absichtsvollen Kühle der staatlichen Institutionen stand die Bewegung in der Gesellschaft. „Eine Völkerwanderung“, registrierte die Vossische Zeitung, ergoss sich am 19. April 1921 über Potsdam und den Weg, den

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Dem Kaiser. Zum 27. Januar, in: Deutsche Tageszeitung, 27.1.1919. Obert (2011): Auguste Victoria, S. 91ff. Bundesarchiv, R 43 I/1363, Nr. 152, Kabinettssitzung vom 11.1.1921.

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der von Geistlichkeit und Generalität gerahmte Trauerzug vom Kaiserbahnhof „Wildpark“ in den Antikentempel vor dem Neuen Palais im Park Sanssouci nahm. Ex-Kaiser und -Kronprinz waren in ihrem Exil festgehalten; aber an ihrer statt säumten Hunderttausende die Straßen und bildeten ein überwältigendes Ehrenspalier ergriffen salutierender Massen, deren feierlichen Abschiedsgruß an die wegen ihres karitativen Engagements in der Bevölkerung immer noch sehr populäre ExKaiserin die Wochenschau mit huldigenden Untertiteln in die Welt trug. Auf seinem Weg nach Potsdam hatte der aus drei Wagen bestehende Trauerzug ab der holländisch-deutschen Grenze an jeder größeren Bahnstation Ehrungen empfangen, deren Ausmaß an den Brautzug Marie Antoinettes von der Wiener Hofburg zu Ludwig XVI. nach Versailles 150 Jahre zuvor erinnerte. „Überall wurden Kränze in dem Zug niedergelegt und an allen Orten hatte sich zahlreiches Publikum eingefunden. Als der Zug im Bahnhof von Braunschweig einlief, setzte Geläute der Kirchenglocken ein, das andauerte, bis der Zug den Bahnhof wieder verlassen hatte.“8 Unterstützt durch freundliches „Hohenzollernwetter“, entwickelte sich die Potsdamer Trauerzeremonie zu einer machtvollen Huldigung an das entmachtete Kaiserhaus und sein verklungenes Reich. Im fernen Danzig wurde eine Sitzung des Senats „mit einer Trauerkundgebung für die ehemalige Kaiserin eröffnet“9; in Potsdam beobachtete der Berichterstatter der deutsch-nationalen Deutschen Tageszeitung, dass noch „in den Buchhandlungen reichgeschmückte Bilder der Kaiserin zwischen Kerzen aufgestellt“ seien, und fand die Stadt in Trauer versunken: „Ein leiser Regen sickert auf Potsdam herab. Die Stadt trägt ein ernstes, festliches Trauergewand. Fast kein Haus und kein Fenster, aus dem nicht eine schwarz-weiß-rote oder schwarz-rot-goldene Fahne von Trauerflor umwickelt heraushängt.“10 Monarchistische Aufzüge und Ansprachen vor den Quartieren der angereisten alten Eliten um Hindenburg und Mackensen meldete die Vossische Zeitung11, die auch ein bündiges Resümee aus republikanischer Sicht zog: „Für ein paar kurze Morgenstunden ist in Potsdam das wilhelminische Zeitalter noch einmal zu gespenstisch strahlendem Leben erwacht. Glockengeläut, wehende Fahnen und Spalier von Zehntausenden. [...] Es war wie die Leichenparade einer gestorbenen Zeit, die nach ihrem Untergang noch einmal allen Glanz und alle Pracht ihrer äußeren Attribute sammelte, und im Schimmer der Ordensketten und Uniformen ihre Treue zu ihrem Herrscherhause bekundete.“12 Die Nachrichtenlage dieses Tages belegte allerdings auch, dass die Trauerfeier für die verstorbene Kaisergattin nicht einmal in Potsdam die politisch-kulturelle Gespaltenheit der Weimarer Republik übertönte. Während die kaisertreue Presse über die „gewaltigsten Menschenmassen“ jubelte, die Auguste Victoria das letzte Geleit gaben, und penibel 50 Ovationen registrierte, mit denen allein

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Die Trauerfeier in Potsdam, in: Vossische Zeitung, 19.4.1921, Morgen-Ausgabe (M.-A.). Kundgebungen in Potsdam, in: ebd., 20.4.1921, M.-A. Der Kaiserin Heimkehr, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 19.4.1921, M.-A. Kundgebungen in Potsdam, in: Vossische Zeitung, 20.4.1921, M.-A. Die Beisetzung der Kaiserin, in: ebd., 19.4.1921, Abend-Ausgabe (A.-A.).

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Hindenburg von der begeisterten Menge bedacht worden sei,13 kündigten die Betriebsräte des Potsdamer Magistrats einen 24-stündigen Generalstreik an, wenn der Fahnenschmuck zu Ehren der verstorbenen Kaiserin auf den öffentlichen Gebäuden der Stadt nicht unverzüglich eingeholt würde.14 Potsdam wahrte seine Prägung als Hort des Monarchismus auch im Weiteren: Als am 24. Juni 1922 dort ein Ordensfest der Johanniter stattfand, auf dem unter Anwesenheit Hindenburgs der Kaisersohn Prinz Eitel Friedrich zum Ritter geschlagen wurde, ließ sich die Veranstaltung von der mittags einlaufenden Nachricht, dass der deutsche Außenminister Walther Rathenau eben in Berlin einem Mordanschlag erlegen sei, nicht weiter beirren; sie nahm vielmehr einer Pressemitteilung zufolge auch nach Eintreffen der Mordmeldung ihren ruhigen Fortgang.15 In anderen Bevölkerungskreisen hingegen wurde das Rathenau-Attentat zum Fanal einer wütenden Empörung gegen die Traditionsbestände der Hohenzollern. In den Tagen nach dem Anschlag machten empörte Demonstranten in zahlreichen deutschen Städten Jagd auf mit Kronen und Hoflieferantentiteln verzierte Geschäftsschilder, holten schwarz-weiß-rote Fahnen von den Korporationshäusern studentischer Verbindungen; in Travemünde wurde Prinz Heinrich gezwungen, den schwarz-weiß-roten Stander einzuholen, den er am Topp seiner Yacht führte. Ein besonders hitziger Kulturkampf entbrannte nach den Attentaten der frühen Weimarer Republik um das in Straßennamen und Platzbezeichnungen bewahrte Erinnerungsinventar an die Hohenzollernherrschaft. Im Reichstag verlangten die Linksparteien USPD und KPD, „die Hoheitszeichen des alten Regimes aus dem Reichstag zu entfernen“; was insbesondere das Standbild Wilhelms I. in der Wandelhalle betraf, das nach Vermittlung durch Reichstagspräsident Paul Löbe für die Trauerfeier immerhin verhüllt wurde.16 Im Kölner Rathaus kam es zu einem Skandal, als die Stadtverordnetenversammlung über den sozialdemokratischen Antrag beriet, den dortigen Kaiser-Wilhelm-Ring und den Hohenzollern-Ring in WaltherRathenau-Ring bzw. Erzberger-Ring umzutaufen. Nachdem Abgeordnete der Linken tätlich gegen ihre Kollegen von der Rechten, die den Antrag ablehnten, vorgegangen waren, musste die Sitzung abgebrochen werden.17 Auch in anderen Städten verbanden die Vorstöße zur Ehrung Walther Rathenaus im Straßenbild mit der beantragten Umbenennung das Ziel, die öffentlichen Erinnerungen an die Kaiserzeit zurückzudrängen, und setzten das Bemühen fort, den Kampf gegen die Feinde der Republik durch Eliminierung der monarchischen Traditionen zu führen. Allerdings verebbte diese Säuberungswelle auch bald wieder oder brach sich am örtlichen Widerstand bürgerlicher Mehrheiten. In Berlin scheiterte sogar die zunächst als „selbstverständliche Verpflichtung“18 betrachtete

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Die Beisetzung der Kaiserin, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 19.4.1921, A.-A. Kundgebungen in Potsdam, in: Vossische Zeitung, 20.4.1921, M.-A. Sabrow (1999): Die verdrängte Verschwörung, S. 98ff. Die Kaiserstatue in der Wandelhalle, in: Vossische Zeitung, 27.6.1922, M.-A. Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 8.7.1922. Ebd.

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Umbenennung der schicksalhaften Koenigsallee, in der Rathenau ermordet worden war, weil die bezirkliche Öffentlichkeit in diesem Straßennamen fälschlicherweise nicht den Bankier Felix Koenigs, sondern die Hohenzollern geehrt sah. In der Berlin-Wilmersdorfer Bezirksverordnetenversammlung führte der Umbenennungsantrag mehrfach zu wüsten Tumulten19, und es vergingen vier Jahre, bis 1926 schließlich eine neugebaute Seitenstraße der Koenigsallee auf den Namen „Rathenauallee“ getauft wurde, während die Grunewalder Koenigsallee ihren Namen durch alle historischen Umschwünge bis heute bewahrt hat. 3. DIE VERMÖGENSAUSEINANDERSETZUNG Während auf der einen Seite Monarchismus und Republikanismus ihre Fehden austrugen, schritt auf der anderen Seite paradoxerweise eine allmähliche Integration der Hohenzollern und ihres Erbes in die neue Ordnung voran. Für diese Integration erbrachte der neue Staat enorme Vorleistungen, während die entmachtete Herrscherfamilie mit ihrem exilierten Oberhaupt rhetorisch unbeirrt die „Entfachung der großen Nationalen Bewegung mit dem Ziel der Wiederherstellung der Monarchie“20 beschwor und sich eher ungewollt und hinterrücks zur Anpassung an die neuen Verhältnisse gedrängt sah. In den Tagen der Novemberrevolution hatte der Rat der Volksbeauftragten nicht zuletzt aus Sorge vor alliierten Reparationsforderungen eine entschädigungslose Enteignung der deutschen Fürstenhäuser gescheut und die preußische Regierung die Apanagen für die Kaisersöhne lediglich um 25 Prozent gekürzt, ansonsten aber weiterlaufen lassen und bis Sommer 1919 sogar aus der Staatskasse finanziert.21 Anders als in Österreich, wo das Vermögen der Habsburger mit Ausnahme eines kleinen Teils zugunsten von Kriegsopfern enteignet wurde, betrachtete man in Deutschland die Vermögensauseinandersetzung nicht als politische, sondern als rechtliche Frage – nur in Sachsen-Gotha wurde das Fürstenvermögen entsprechend einer Forderung der Arbeiter- und Soldatenräte im Juli 1919 umstandslos eingezogen, was das Reichsgericht 1925 prompt ungeachtet öffentlichen Protestes rückgängig machte.22 Eine rechtlich fundierte Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Eigentum ließ sich aber im Falle von Fürstenhäusern, deren Besitz in die Zeit vor der Trennung von Staat und Herrscher zurückreichte, nicht leicht treffen. Vielfach hatten die Herrscherdynastien des Deutschen Reichs neben Privatund Staatsvermögen auch noch ein sogenanntes Hausvermögen in Gestalt von Kunstschätzen und landwirtschaftlichen Domänen gebildet, das im Fall von Mecklenburg-Strelitz über die Hälfte der Landesflächen ausmachte, und dessen Kompen-

19 Der Westen, 5.10.1922. 20 Wilhelm II., Aufzeichnung vom 26.8.1928, zit. n. Weiling (1988): Die „Christlich-deutsche Bewegung“, S. 87. 21 Machtan (2006): Der Kaisersohn bei Hitler, S. 96. 22 Stentzel (2000): Zum Verhältnis, S. 275f.

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sation auch im Falle Sachsens die Staatskasse schlicht gesprengt hätte, wie Ministerpräsident Erich Zeigner im Sächsischen Landtag eingestand.23 Angesichts dieser unklaren Rechtslage konnte der gestürzte Kaiser noch vor einer endgültigen Einigung mit Preußen das bewegliche Gut der Hohenzollern in über 60 Güterwagen aus Deutschland nach Doorn transportieren lassen, denen weitere 140 Möbelwagen auf dem Straßenweg folgten.24 In anderen Ländern des Deutschen Reiches kam es in den Folgejahren zu einer gütlichen Einigung, für die beispielhaft die Gründung des Wittelsbacher Ausgleichsfonds 1923 steht. Mit ihm brachten die Wittelsbacher ihre ehemaligen Vermögenswerte zusammen mit ihrem Privatvermögen in eine Stiftung ein, die zur Wahrung des kulturellen Erbes des entthronten Herrschergeschlechts und zur Deckung der Unterhaltskosten für seine Familienmitglieder errichtet wurde. Im Fall der Hohenzollern hingegen blieb die Vermögensauseinandersetzung lange strittig, nachdem erst Preußen und dann die Hohenzollernfamilie den jeweils vorgelegten Einigungsvorschlägen widersprochen hatten. Ein neuer Vergleichsentwurf von 1925 sprach dem Haus Hohenzollern etwa drei Viertel des umstrittenen Grundbesitzes zu und führte auf Reichsebene zu einem von der KPD initiierten Volksbegehren zur „Enteignung der Fürstenvermögen“, dem sich widerstrebend auch die SPD anschloss. Das Volksbegehren zeitigte durchschlagenden Erfolg – nicht nur in der Arbeiterschaft, sondern auch in katholischen und liberalen Kreisen war das Enteignungsbegehren, anders als beispielsweise in Bayern und Ostelbien, sehr populär. Überraschen konnte die verbreitete Empörung gegen die Fürstenentschädigung im Übrigen nicht, denn der Kompensationsanspruch der ehemals regierenden Fürsten stach grell gegen die kümmerlichen Unterstützungsgelder für Millionen von Kriegsopfern ab und ließ sich leicht als eklatantes Gerechtigkeitsproblem angreifen. Ein daraufhin eingebrachter Gesetzentwurf zur entschädigungslosen Enteignung scheiterte jedoch an der bürgerlichen Mehrheit im Reichstag und führte in dramatisch aufgeladener Stimmung zu einem Volksentscheid, der allerdings am 20. Juni 1926 nur eine relative Mehrheit erreichte. Damit blieb dem Volksentscheid, ungeachtet überwältigender Zustimmung der abgegebenen Stimmen, der Erfolg versagt. Denn zuvor hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg, der offen Partei für die Fürstenseite ergriff, das eingebrachte Gesetz als verfassungsändernd eingestuft und damit an eine absolute Mehrheit von JaStimmen gebunden, zu der in der Auszählung dann 4,5 Millionen Stimmen fehlten. Der Volksentscheid trübte das öffentliche Bild der Hohenzollern weiter und führte nicht nur die tiefe Kluft zwischen Republikanern und Monarchisten bis hin zu dem offen parteilich agierenden Reichspräsidenten vor Augen. Er schürte auch die sozialen Spannungen und öffnete demagogische Agitationsräume – so sprach sich etwa Hitler zur nachhaltigen Irritation von Weggefährten wie Joseph Goebbels 23 von Aretin (2018): Vom Umgang, S. 162. 24 von Ilsemann (1967): Der Kaiser in Holland, S. 114; Schalenberg (2018): Schlösser zu Museen, S. 189; Eine jüngste Untersuchung im Auftrag von Huis Doorn spricht von 64 Eisenbahnwaggons mit kaiserlichem Hausrat, die 1919 und 1920 nach Doorn gesandt wurden. Pakelder / Schenk / von der Bas (2021): Der Kaiser, S. 24.

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gegen eine Fürstenenteignung aus und forderte, statt der Fürsten besser die Juden zu enteignen. Dennoch ordnete sich der gescheiterte Volksentscheid in eine Linie ein, die auf die zunehmende Integration der vormals regierenden Fürstenhäuser in den rechtlichen und politischen Rahmen der Republik zielte. In Preußen kam es im Oktober 1926 zu einer Einigung, die den Hohenzollern gut 60 Prozent und dem preußischen Staat knapp 40 Prozent des beschlagnahmten Vermögens an Grund und Boden zusprach, dazu die Mehrzahl der Hohenzollernschlösser und weitere Vermögenswerte, unter ihnen Tausende von Kunstgegenständen. 4. VOM MACHTSYMBOL ZUM ERINNERUNGSORT Der Vergleich bildete die Grundlage für eine allmähliche Musealisierung des Monarchischen. Wie in Bayern, wo die Wittelsbacher Landesstiftung für Kunst und Wissenschaft zur Verwalterin eines großen Teils der Bestände der Münchner Museen wurde, verschob sich auch der Fokus des öffentlichen Wirkens der Hohenzollern allmählich von der Restaurationspolitik zur Kulturpflege. Auf Grundlage der 1926 erfolgten Einigung wandelten sich die ehemaligen Residenzschlösser in Berlin zu Schlossmuseen, deren Interieur häufig nach musealen Gesichtspunkten aus dem früheren Nutzungszusammenhang entnommen und zur Verstärkung musealer Sammlungen an anderer Stelle verwendet wurde. Die museale Nachnutzung stellte, wie Marc Schalenberg argumentierte, „sozialpsychologisch gleichsam ein abfederndes Versöhnungsangebot“ dar, das mit der historischen Verortung der Hohenzollerndynastie auch die Möglichkeit zur betrachtenden Distanzierung von der einstigen Macht einer verblichenen Fürstenherrschaft bot.25 Die galt namentlich für eine besondere Erbschaft der Monarchie, das sogenannte Hohenzollern-Museum. Maßgeblich durch den späteren Hunderttage-Kaiser Friedrich gefördert, war nach der Reichseinigung im Berliner Schloss Monbijou ein Dynastiemuseum zur Verehrung des Hohenzollernhauses entstanden, das den Untertanen das Bild eines volksnahen und heroischen Herrschergeschlechtes nahebringen sollte.26 Über das im Herbst 1918 und noch vor Ausbruch der Revolution geschlossene Dynastiemuseum bestimmte der Einigungsvertrag, dass das im Eigentum der Hohenzollern verbliebene Hausmuseum unter staatlicher Obhut weiterbestehen und auch die den Hohenzollern gehörigen Sammlungsgegenstände präsentieren solle. Mit anderen Worten: Die Hohenzollern wollten ihr Privatmuseum auf Staatskosten als Mittel der öffentlichen Meinungsbildung genutzt wissen, und der preußische Staat ließ sich darauf ein. Was zunächst wie eine staatliche Demutsgeste wirkte, entpuppte sich allerdings als eine weitblickende Entscheidung. Denn unter der Regie seiner unabhängig agierenden Direktoren trug das Familienmuseum der Hohenzollern zu einer außerordentlichen Stärkung der nationalen Museumslandschaft bei. Die neugestalteten 25 Schalenberg (2018): Schlösser zu Museen, S. 198. 26 Ich folge hier und im Weiteren der luziden Analyse von Luh (2018): Eine Erbschaft der Monarchie, S. 200–216.

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Räume wurden Zug um Zug ihrer „patriotischen Pietät“ entkleidet27, und über das Privatleben der Hohenzollernfamilie erfuhren die in das Museum strömenden Besucher und Besucherinnen kaum noch etwas, dafür umso mehr von der höfischen Wohnkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Vergleichbare Schritte zur dynastischen Abrüstung unternahmen auch die Mitglieder des entmachteten Kaiserhauses, nur dass sie in ihrem Fall Zug um Zug von der sozialen Machtverkörperung zur familiären Privatisierung führten. Schon der fest auf seine Rückkehr hoffende Ex-Kaiser präsentierte sich im Exil weniger als restaurationsbeflissener Ränkeschmied und Herold der Gegenrevolution, sondern vorzugsweise als Privatier, dessen größte Passion das Holzhacken war und der seine Sägeleistung gern zur Schau stellte. Der frühere Kronprinz Wilhelm trat in der Öffentlichkeit bevorzugt als Sportenthusiast und Lebemann in Erscheinung, und Prinz Oskar gab sich betont als Privatmann, der seine Freunde nicht nach dem Gotha, also dem Genealogischen Adelshandbuch, aussucht. In der nächsten Generation führte der Kaiserenkel Louis Ferdinand die individualisierende Abkehr von einem monarchischen Lebensentwurf schon im Titel seiner Memoiren vor und betonte, dass er sich nach der Entmachtung der Hohenzollern in Potsdam wie „in einem der Mausoleen“ gefühlt habe, „in denen meine Vorfahren beigesetzt waren. Der goldene Käfig aus kaiserlichen Tagen hatte lediglich einer freiwilligen Abschließung Platz gemacht. Meine Familie war sozusagen in den Ruhestand getreten; sie hatte die neue Situation de facto hingenommen, jedoch nicht de jure anerkannt.“28 Er selbst hingegen bemühte sich in der Weimarer Zeit, dem überkommenen königlichen Lebensstil einen zeitgemäßen entgegenzusetzen: „Mit jugendlicher Übertreibung und Ausschließlichkeit kehrte ich der Vergangenheit den Rücken [...]. Jeden historischen Hintergrund suchte ich in meinem bürgerlichen Leben auszulöschen“29 – eine Haltung, die ihm nach eigener Auskunft auch in Ostpreußen während der NS-Zeit zugutekam: „Äußerlich waren unsere Beziehungen zu den NS-Behörden korrekt. Sie betrachteten mich als einen verhältnismäßig harmlosen Bürger, der ganz in seinem Familienleben aufging und nicht nur gegen den Nationalsozialismus, sondern gegen Politik überhaupt gleichgültig war.“30 5. DIE RÜCKKEHR DER HOHENZOLLERN AUF DIE POLITISCHE BÜHNE Doch die allmähliche Integration des Hauses Hohenzollern in die bürgerliche Gesellschaft der Zeit nach 1918 bildet nur die eine Seite der Medaille. Denn neben dem kulturellen Monarchismus, der mit der Kraft des Faktischen eingehegt und überformt wurde, wirkte in der Weimarer Republik auch ein politischer Monarchis27 28 29 30

Ebd., S. 210. L. F. Prinz von Preußen (1968): Die Geschichte meines Lebens, S. 66f. Ebd., S. 76. Ebd., S. 290.

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mus, der seine starken Bastionen im Beamtentum wie in der Reichswehr hätte zur Geltung bringen können, um gezielt auf die Abschaffung der Weimarer Ordnung hinzuarbeiten.31 Mit der Rückübersiedlung des ehemaligen Kronprinzen nach Deutschland wurde die politische Bühne Weimars zudem seit Ende 1923 um einen Akteur ergänzt, der die vielen unterschiedlichen Monarchiehoffnungen auf ein wenigstens in Umrissen erkennbares Volkskönigtum bündelte und vor allem den stärksten Mangel jeder legitimistischen Restaurationspolitik beseitigte: Im Gegensatz zu seinem in Doorn festgehaltenen Vater stand Wilhelm jr. als Kronprätendent im Wartestand politisch zur Verfügung. Vor allem aber haftete ihm nicht das auch in nationalkonservativen Kreisen gepflegte Odium des kaiserlichen Thronflüchtlings an, der im Herbst 1918 Volk und Heer im Stich gelassen hatte, um sich ins Exil zu retten, statt an der Spitze seiner Truppen gegen die Revolution in der Heimat zu marschieren oder den Heldentod an der Front zu suchen.32 Doch so stark und machtvoll der Monarchismus als kulturelle Strömung wirkte und auch in der Republik an „Kaiserwetter“ und „Kaisergeburtstag“ festhielt, so schwach blieb er auch in der späteren Weimarer Republik als politische Bewegung.33 In zutreffender Einschätzung der Lage umriss der frühere Freikorpsführer Hermann Ehrhardt diesen Zustand 1926 in seinem politischen Arbeitsprogramm: „Wir lehnen es ab, mit dem Gedanken an die Wiedererrichtung der Monarchie zu spielen. Grundsätzlich die Monarchie für die bessere Staatsform haltend, sind wir davon überzeugt, dass die Aufwerfung der monarchischen Frage in jetziger Zeit den Todesstoß für die Monarchie bedeuten würde.“34 Erst 1970 erfuhr die Öffentlichkeit, dass Reichskanzler Heinrich Brüning ausweislich seiner posthum erschienenen Memoiren insgeheim auf die Wiedereinführung der Monarchie hingearbeitet haben wollte – was allerdings nicht einmal seine engsten Mitarbeiter bestätigen konnten und in der Forschung heute als unglaubwürdige Selbstrechtfertigung eines Weimarer Totengräbers bewertet wird.35 In seinem holländischen Exil bar jeden Einflusses auf die Politik der Weimarer Republik, sah sich der abgedankte Kaiser im Bannkreis seiner zweiten Frau Hermine von Schönaich-Carolath auf erbitterte Ausbrüche ohnmächtiger Wut gegen die Republik beschränkt, die Besucher und Besucherinnen des Hauses Doorn häufig in ihrer Radikalität und Realitätsverkennung gleichermaßen erschreckten. Die Novemberrevolution erschien ihm als „ein Verrath des von dem Judengesindel getäuschten belogenen Deutschen Volkes gegen Herrscherhaus u. Heer“, für das es nach seiner Rückkehr schwer gestraft würde.36 Den ersten Jahrestag seines Sturzes

31 Zur Unterscheidung zwischen einem „Monarchismus im weiteren“ bzw. „im engeren Sinne“ siehe Hofmann (2018): Obsoleter Monarchismus, S. 242. 32 Zur Bedeutung der Kaiserflucht für die „Dekomposition des adligen Weltbilds“: Malinowski (2003): Vom König zum Führer, S. 228ff. 33 F. Freiherr Hiller von Gaertringen (1976): Zur Beurteilung des „Monarchismus, S. 138–186. 34 Institut für Zeitgeschichte, Archiv, Ed 414, Nl, Frank (1926): Nationale Einheit tut not. 35 Rödder (1997): Dichtung und Wahrheit, S. 116. 36 Röhl (2008): Wilhelm II., S. 1278.

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beging er mit den Worten, dass die „Revolutionshelden“ alle gehängt werden müssten, und die Ermordung Matthias Erzbergers 1921 ließ ihn vor Freude beinahe tanzen. „Jedenfalls hat solange ich beim Kaiser bin, kein Ereignis beim Kaiser einen so grossen Jubel ausgelöst wie dieses“, berichtete Wilhelms Leibarzt konsterniert.37 Kaum weniger verächtlich reagierte der Ex-Monarch ein Jahr später auf die Ermordung des deutschen Außenministers und kommentierte Rathenaus Tod gegenüber dem deutschen Botschafter in Den Haag mit einem kühlen „Ist ihm ganz recht geschehen“, wie Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch notierte.38

Abb. 1: „Wilhelm III. Mein Gott, bis ich mal den Thron besteige, sind meine Anhänger von der neuen Kaiserpartei alle tot“39

37 Zit. n. ebd., S. 1279. 38 Kessler (2003): Tagebücher, S. 386 (Eintrag vom 3. April 1923). 39 Quelle: Simplicissimus 33. Jg., Nr. 30, 22.10.1928.

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Zu Wilhelms überraschend feindseliger Haltung gegenüber einem der führenden Köpfe des Wilhelminischen Zeitalters, mit dem er bis 1914 etwa zwanzigmal zu Vorträgen und Unterredungen zusammengetroffen war,40 mochte beigetragen haben, dass Rathenau gleich nach Kriegsende ein ungeschminktes Porträt des Kaisers gezeichnet hatte, das dessen öffentlichen Ansehensverlust verstärkte. Rathenaus Analyse fiel umso unbarmherziger aus, als er die „zerrissene Natur“ des seiner Aufgabe nicht gewachsenen Monarchen weniger auf dessen persönliche Unzulänglichkeit als auf die unheilvolle Anbetung seiner „prusso-mechanischen“ deutschen Bevölkerung zurückführte41, für die er freilich zwei Jahrzehnte zuvor mit einem beflissenen Vortrag vor dem Kaiser über elektrische Alchemie selbst kein geringes Beispiel gegeben hatte.42 Sich selbst sah der entmachtete Kaiser als Opfer einer jüdischen Weltverschwörung, gegen die er als „das beste Heilmittel“ ein „reguläres internationales Allerweltspogrom à la Russe“ empfahl und gegen die er 1927 in einem eigenhändigen Schreiben an einen amerikanischen Freund Worte fand, die zu der Zeit selbst in der nationalsozialistischen Kampfpresse kaum zu lesen waren: „Die Presse, Juden und Mücken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muß. I believe the best would be gas?“43 Wilhelms bedeutendster Biograph John Röhl hat mit Blick auch auf solche Äußerungen eine Kontinuitätslinie zwischen der Wilhelminischen Ära und dem Dritten Reich gezogen, die den exilierten Monarchen als Bindeglied zwischen Zweitem und Drittem Reich auffasst, der „in Hitler seinen Vollstrecker“ sah.44 Diese zugespitzte Sicht, die die Korrespondenz zwischen Isolation und Erbitterung des in seinen Hass- und Revanchefantasien eingesponnenen Kaisers a. D. außer Acht lässt, ist in der Forschung eher skeptisch aufgenommen worden.45 In der Tat hatte derselbe Hohenzollernchef, der 1927 das Judentum im Stile des nationalsozialistischen „Stürmers“ schmähte, bis zu seiner Abdankung enge Kontakte mit prominenten Juden von Albert Ballin bis Walther Rathenau unterhalten und wurde von völkischen Autoren wie Heinrich Claß als besonders instinktloser „Gönner der Juden“ beschimpft.46 Auch sein Urteil über Hitler schwankte beständig zwischen Anerken-

40 Die Angabe nach Rathenaus eigenem Zeugnis: Rathenau (1919): Der Kaiser, S. 26. 41 Ebd., S. 27 u. 29. Rathenaus Gesamturteil: „Nie hat eine Epoche mit größerem Recht den Namen ihres Monarchen geführt. Die Wilhelminische Epoche hat am Monarchen mehr verschuldet als der Monarch an ihr; sie waren verstrickt in Leben und Tod, und wie beim Holzscheit Meleagers war der Brand des einen das Ende des andern.“ Ebd., S. 44. 42 Hellige (1968): Wilhelm II. und Walther Rathenau, S. 538–544. 43 Wilhelm II. an Poultney Bigelow, 15.8.1927, zit. n. Cecil (1989): Wilhelm II., S. 311f.; Röhl (2008): Wilhelm II., S. 1295. 44 „Wilhelm II. sah in Hitler seinen Vollstrecker“. Biograph John Röhl erklärt, inwieweit Deutschlands Ex-Monarch in den Nazis seine politischen Erben sah, in: Süddeutsche Zeitung, 4.6.2011. 45 Vgl. Epkenhans (2008): Rezension, http://www.sehepunkte.de/2009/04/14559.html [zuletzt aufgerufen am 14.12.2020]; Clark (2008): Wilhelm II., S. 325. 46 Frymann (1912): Wenn ich der Kaiser wärʼ.

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nung und Ablehnung47, ebenso wie er Göring zugleich hofierte und als eitlen Parvenu verachtete, dessen Beförderung zum General ihn in Wut versetzte, wie sein Flügeladjutant Sigurd von Ilsemann in seinen durchweg schonend gehaltenen Aufzeichnungen bezeugte.48 Noch in seinen letzten Lebensjahren vermochte Wilhelm sich bei Kriegsausbruch 1939 erregt über die „Schmach und Schande“ auszulassen, „daß Deutschland – und vor allem die Armee – sich diesen gemeinen Kerl mit seinen Komplizen so lange gefallen ließe“49, und beglückwünschte im folgenden Sommer Hitler hymnisch „zu dem von Gott geschenkten gewaltigen Sieg mit den Worten Kaiser Wilhelms des Großen: Welch eine Wendung durch Gottes Fügung.“50 6. WARTEN AUF DIE RESTAURATION Stetig blieb der Ex-Kaiser lediglich in seinem Bestreben, mithilfe antirepublikanischer Kräfte wieder auf seinen angestammten Thron zurückkehren zu können. Die Hoffnung auf Wiedererrichtung der Monarchie mit ihm an der Spitze durchzog sein Denken im Exil von dem Tag an, an dem er sich vor der Auslieferung an die Entente sicher fühlte, bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939, mit dem er die Hoffnung auf eine Empörung des deutschen Volkes gegen Hitlers Alleinherrschaft verband. Alle zu Hause seien „zu schlapp“, befand er nach dem gescheiterten Hitler-LudendorffPutsch im November 1923 und befand optimistisch: „Es bedarf ja nur eines kleinen Stoßes, und die Regierung fliegt, um den alten Verhältnissen Platz zu machen.“51 Doch die Haus Doorn durchwehende Hoffnung auf eine Restauration der Monarchie, die dem exilierten Herrscher Gelegenheit geben würde, die Dinge daheim „schon wieder in Schwung (zu) bringen als Diktator“, sah sich Jahr um Jahr enttäuscht, bis dann der nationalsozialistische Aufstieg endlich den ersehnten Umschwung zu bringen schien: „In Doorn hört man seit Monaten nur noch, daß die Nationalsozialisten den Kaiser auf den Thron zurückbringen würden; alles Hoffen, alles Denken, Sprechen und Schreiben gründet sich auf diese Überzeugung“, beobachtete Ilsemann Ende 1931.52 Zweimal ließ sich der Ex-Monarch dazu bringen, Hermann Göring in Doorn zu empfangen, um die NS-Bewegung hinter sich und seine Rückkehrambitionen zu bringen, und sah sich mit der von ihm mit Befriedigung aufgenommenen Regierungsübernahme am 30. Januar 1933 kurz vor dem Ziel, auf den Thron zurückgerufen und gleichsam als siegreicher Dritter aus dem Kampf zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten hervorzugehen. Erst als Hitler vor der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes im Reichstag er-

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F. W. Prinz von Preußen (2003): „Gott helfe unserem Vaterland“, S. 85ff. von Ilsemann (1968): Der Kaiser in Holland, S. 229 (Eintrag vom 3.9.1933). Ebd., S. 332 (Eintrag vom 26.8.1939). Telegramm Wilhelms an Adolf Hitler, 17.6.1940, zit. n. ebd., S. 345. Wilhelms I. tatsächliche Äußerung lautete: „Welchʼ eine Wendung durch Gottes Führung!“ 51 Röhl (2008): Wilhelm II., (Anm. 33), S. 1281. 52 Ilsemann (1968): Der Kaiser in Holland, Bd. II, S. 175.

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klärte, dass er „die Frage einer monarchischen Restauration [...] zur Zeit als indiskutabel“ ansehe, sah sich Wilhelm von einer Sekunde auf die andere seiner Hoffnungen beraubt: „Das saß wie ein Blattschuß“, hielt Wilhelms Adjutant fest. „Ich beobachtete den hohen Herrn ganz genau, seine Züge strafften sich, die Augen wurden ganz groß, mehr als das eine Wort: ‚So!‘ brachte er nicht über seine Lippen. Wie er das sagte, klang es wie die Bestätigung eines Verurteilten, der seinen Urteilsspruch vernimmt.“53 Fortan nahm Wilhelm Abschied von der Vorstellung, seine Restaurationshoffnungen auf die NS-Bewegung zu gründen. Ende 1933 notierte Ilsemann als Standpunkt des Ex-Kaisers, „daß man sich dem neuen System restlos feindlich gegenüberstellen müsse, daß man Hitler auch nicht helfen dürfe, sondern daß man abwarten müsse, bis die Nazis kaputt seien, um dann den Thron wieder zu besteigen“.54 Das Verbot monarchistischer Organisationen nach Wilhelms 75. Geburtstag 1934 schließlich ließ dessen Begeisterung über den Zerfall der Weimarer Republik weiter abkühlen. Fortan ging der enttäuschte Ex-Kaiser auf Distanz zu Hitler, den er nur mehr als früher oder später scheiternden Konkurrenten betrachtete, und erst dessen Siege über Polen und Frankreich brachten ihn ab 1939 wieder zum Jubeln über Deutschlands erneuerte Größe. 7. KRONPRINZ WILHELM UND DER NATIONALSOZIALISMUS So erwies sich der gestürzte Monarch, dem der eigene Sohn attestierte, dass er „von erschreckender Weltfremdheit“ sei55, in seiner notorischen und grotesken Fehlperzeption als eine weitgehend wertlose Figur auf dem Spielfeld der Weimarer Republikfeinde. Allerdings hatte auch der frühere Kronprinz und „frische Lebemann“ Wilhelm nicht die Statur, um das von seinem Vater hinterlassene „politische und symbolische Vakuum“56 zu füllen, wenngleich die Rolle, die er in der Spätphase der Weimarer Republik spielte, bis heute in der Forschung umstritten ist. Ihre Bewertung berührt zusammen mit der historischen Einordnung bekanntlich auch eine politisch und vermögensrechtlich immer noch aktuelle Frage, seitdem der Bund im Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 Personen, die dem Nationalsozialismus „erheblichen Vorschub“ geleistet hätten, von jeder Entschädigung für besatzungsrechtlichen oder besatzungshoheitlichen Vermögensverlust ausgeschlossen hat. Was unter Vorschubleistung genau zu verstehen sei, wurde im sogenannten Hugenberg-Urteil 2005 durch die Kriterien einer „gewissen Stetigkeit“ und einer „nicht ganz unbedeutend(en) Wirkung“ präzisiert und ist auf die Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme eingegrenzt worden.57

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Ebd., S. 216 (Eintrag vom 21. März 1933). Ebd., S. 239 (Eintrag vom 26. November 1933). Zit. n. Röhl (2008): Wilhelm II., S. 1298. Malinowski (2003): Vom König zum Führer, S. 229. Urteil vom 17.03.2005 - BVerwG 3 C 20.04, https://www.bverwg.de/170305U3C20.04.0, [zuletzt aufgerufen am 14.12.2020]

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Beide Kriterien wird man im Fall der Hohenzollern für erfüllt ansehen müssen. Nicht nur der ehemalige Kaiser hatte sich bis zu seinem abrupten Schwenk im März 1933 zur Unterstützung Hitlers bekannt, weil dessen Bewegung „nationale Energie“ verkörpere, „die uns Deutsche wieder aufwärts führen“ werde. 58 Sein Sohn Wilhelm warb nicht erst nach dem nationalsozialistischen Machtantritt in den USA für eine Anerkennung Hitlers als Retter der zivilisierten Welt. Schon 1928 hatte er den italienischen Faschismus als „eine fabelhafte Einrichtung“ gerühmt, deren „geniale Brutalität“ dafür gesorgt habe, dass „Sozialismus, Kommunismus, Demokratie und Freimaurerei [...] ausgerottet [sind] und zwar mit Stumpf und Stil [sic!]“.59 Folgerichtig protestierte Wilhelm bei Reichswehrminister Wilhelm Groener im April 1932 energisch gegen das von der Reichsregierung verfügte Verbot von SA und SS, das ein „wunderbares Menschenmaterial“ zerschlage, und er sondierte in derselben Zeit auf Schloss Cecilienhof eine Machtteilung mit Hitler, falls er sich selbst für die Wahl zum Reichspräsidenten zur Verfügung stellen würde. Nachdem diese Kandidatur am Einspruch seines Vaters in Doorn gescheitert war, der um jeden Preis verhindern wollte, dass ein Hohenzoller im Fall seiner Wahl einen Eid auf die Republik hätte schwören müssen, verlegte Wilhelm sich auf eine Unterstützung seines vermeintlichen Bündnispartners und gab bekannt, dass er im zweiten Wahlgang Hitler wählen werde. Unabhängig von der Frage, ob dieser Aufruf Hitler im zweiten Wahlgang zwei Millionen Stimmen eingebracht – wie der Kronprinz selbst behauptete60 – oder vielmehr gekostet haben mag, wie in der Forschungsdiskussion geltend gemacht worden ist,61 lässt sich diese Handlung schwerlich anders denn als willentliche Unterstützung interpretieren. Eine solche Sicht kann sich auch auf die hier aufschlussreichen Tagebucheinträge von Joseph Goebbels stützen, der seine ursprüngliche Aversion gegenüber dem Kronprinzen, über den er am 10. Februar 1933 überaus abfällig „Ein Anschmeißer! Brechreiz!“ geurteilt hatte,62 nur einen Monat später gründlich revidierte und Wilhelms Eintreten für die NS-Regierung in den USA als maßgebliche Unterstützung einstufte: „Greuelpropaganda: Kronprinz hilft mir sehr durch einen offenen Brief.“63 An Goebbelsʼ schwankendem Hohenzollernbild lässt sich aber zugleich zeigen, dass die historische Fachwissenschaft nicht mit der juristischen Urteilsfindung deckungsgleich sein kann, in die sie in Folge des Hugenberg-Urteils unglücklicherweise hineingezogen worden ist, sondern der notwendigen Eindeutigkeit der Rechtsprechung das Bemühen um inhaltliche Differenzierung und zeitliche Kontextuali58 Zit. n. Urbach (2019): Nützliche Idioten, (Anm. 1), S. 75. 59 Zit. n. F. W. Prinz von Preußen (2003): „Gott helfe unserem Vaterland“, S. 209. 60 Kronprinz Wilhelm an Lord Rothermere, 20.6.1934, zit. n. zu Hohenlohe (1991): Stephanie, S. 100f. 61 Clark, Hat Kronprinz Wilhelm, http://www.hohenzollern.lol/gutachten/clark.pdf, [zuletzt aufgerufen am 27.11.2020]; Pyta / Orth, Gutachten, S. 51ff., http://www.hohenzollern.lol/gutach ten/pyta.pdf, [zuletzt aufgerufen am 27.11.2020.] 62 Eintrag vom 10.2.1933, in: Fröhlich (2006): Die Tagebücher, S. 126. 63 Eintrag vom 25.März 1933, in: ebd., S. 155.

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sierung entgegensetzen muss. Derselbe Goebbels, der sich Anfang August so dankbar für die Unterstützung des Kronprinzen zeigte, hatte nur wenige Tage zuvor selbst unterstrichen, dass das Haus Hohenzollern offenbar ganz andere Ziele verfolgte als die zur Macht gelangte NS-Elite: „Unterredung Kronprinz. Frage Monarchie. Die glauben alle an ihre Restaurierung. Ich habe keinen Hehl gemacht. Wäre unsere größte Dummheit.“64 Entgegen einer teleologischen Betrachtung, die ungeprüft von der Wirkung auf die Absicht schließt, bleibt festzuhalten, dass Hitler und die Hohenzollern sich auf der Grundlage von ideologischer Nähe und politischer Konkurrenz wechselseitig für ihre Zwecke einzuspannen suchten. Um sich die Unterstützung durch den Kronprinzen zu sichern, hatte ihm Hitler bereits 1926 so listig wie lügnerisch versichert, allein die Wiederherstellung der Hohenzollernmonarchie anzustreben. Aber auch Wilhelm spielte mit unterschiedlichen Karten und war sich, anders als sein 1930 in die NSDAP eingetretener und ein Jahr später in der SA zum Standartenführer aufgestiegenen Bruder August Wilhelm, lange unschlüssig, ob er mehr auf den mit ihm befreundeten Hindenburg-Intimus Kurt von Schleicher oder aber auf den rabaukenhaften Hitler setzen sollte.65 8. DER TAG VON POTSDAM Das Finale dieses Ringens um gegenseitige Indienstnahme fand bei einem Staatsakt am 21. März 1933 in Potsdam statt, der der anschließenden Reichstagseröffnung in der Berliner Krolloper vorausging und symbolpolitisch das letzte Erlöschen der seit 1930 in Agonie verfallenen Weimarer Republik markiert. Am „Tag von Potsdam“, der bis heute vorwiegend und verkürzt als eine von Hitler und Goebbels listig inszenierte „Rührkomödie“ (André François-Poncet) begriffen wird, betraten die unterschiedlichen Umgestaltungshoffnungen von Monarchisten und Nationalsozialisten die Potsdamer Garnisonkirche in effektvollem Mummenschanz – Hitler linkisch im ungewohnten Frack und Zylinder statt im Braunhemd; der ehemalige Kronprinz in der Uniform des ihm früher unterstellten Husarenregiments „Wilhelm Kronprinz“. Die Umstände sprachen für die monarchische Reaktion und nicht für die braune Revolution; das den Hohenzollern so eng verbundene Potsdam präsentierte sich überwiegend in Schwarz-Weiß-Rot statt in der Hakenkreuzfahne, und zum öffentlichen Sieger dieses Tages avancierte nicht Hitler, sondern der messianisch verehrte Hindenburg, der schon vor dem Staatsakt eine Triumphfahrt durch die Stadt unternommen hatte und unter dem Jubel der Massen anschließend noch eine Parade abnahm, als Hitler schon längst wieder eilig nach Berlin entschwunden war. Doch das von Vizekanzler Franz von Papen verfolgte Zähmungskonzept, das Hitlers Massenbewegung für einen ständischen und monarchischen Umbau der 64 Eintrag vom 5. August 1933, in: ebd., S. 241. 65 Urbach (2019): Nützliche Idioten, S. 84.; Vgl. auch das Urteil der jüngsten Überblicksdarstellung einer niederländischen Historikerkommission: „Im Jahr 1932 schien er abwechselnd Rivale und Bündnispartner Hitlers gewesen zu sein.“ Pakelder / Schenk / von der Bas (2021): Der Kaiser und das „Dritte Reich“, S. 15.

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Republik in Dienst zu nehmen hoffte, hatte der Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung und ihrer raschen Gesellschaftsdurchdringung außer leerer Symbolik nichts entgegenzusetzen. Vergeblich hoffte an diesem Tag noch im fernen Doorn Wilhelm II., als triumphierender Dritter aus dem Kampf zwischen Demokratie und Hitler-Diktatur hervorzugehen. Doch seine Hoffnung, als „der einzige Unparteiische“ nun unverzüglich zurückberufen zu werden und dafür den „Nazi-Schwung“ mitzubenutzen66, stand in groteskem Gegensatz zur politischen Wirklichkeit in den Wochen des nationalsozialistischen Machtausbaus. Er „habe bestimmt nicht die Absicht, als Rennpferd für einen kaiserlichen Jockey zu dienen, der ausgerechnet in dem Augenblick, in dem ich die Ziellinie passiere, auf meinen Rücken springen will“, bekannte Hitler unmittelbar vor seiner Betrauung mit der Regierung.67 Am Ende gelang es den Hohenzollern nicht, die „NS-Bewegung als trojanisches Pferd der Restauration" (Stephan Malinowski) zu nutzen; vielmehr bedienten sich die Nazis erfolgreich des monarchischen Renommees, solange es ihnen dienlich war, und sie machten den fundamentalen Unterschied von brauner Revolution und monarchischer Reaktion handgreiflich sichtbar, als sie fest im Sattel saßen – ein Jahr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden die monarchistischen Vereinigungen verboten.68 Wenig später erstickte die als „Röhm-Putsch“ in die Geschichte eingegangene Säuberungsaktion innerhalb der deutschen Rechten die letzten Illusionen der Monarchisten. Die Hohenzollern verschwanden aus dem Blick der Öffentlichkeit; auch der zum Gruppenführer aufgestiegene Hohenzollernprinz August Wilhelm sah sich kaltgestellt. Prinz Wilhelm selbst trat 1936 aus dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) aus, nachdem er infolge eines überschwänglichen Gratulationstelegramms an Mussolini für dessen Sieg in Abessinien unter Zensur gestellt worden war. In der Folge machte er nur noch durch sporadische Glückwunschtelegramme an Hitler von sich reden, in denen er Hitler 1939 zur Angliederung Böhmens und Mährens ebenso gratulierte wie 1940 zu seinen Siegen über Polen, Belgien und Frankreich. Zu aktivem Widerstand fanden die Hohenzollern im Gegensatz etwa zu den Habsburgern oder den Wittelsbachern nicht. Eine gewisse Ausnahme bildet einzig Louis Ferdinand, der in den ersten Jahren des NS-Regimes selbst noch auf eine Verständigung zwischen dem deutschen Diktator und dem amerikanischen Präsidenten gesetzt und zu seiner Hochzeit 1938 auch Hitler eingeladen hatte. 69 Folgt man seinen in diesem Punkt allerdings nicht überprüfbaren Memoiren, ließ er sich seit November 1939 passiv in Planungen des militärischen Widerstands einbinden und zeigte sich 1943 sogar bereit, für den Fall eines Regimesturzes als Kronprätendent zur Verfügung zu stehen, sofern sein Vater dem zustimme. Der aber erklärte,

66 Zit. n. F. W. Prinz von Preußen (1985): Das Haus Hohenzollern, S. 119. 67 So gab Goebbels einen Ausspruch Hitlers wieder. Vgl. Fröhlich (2006): Die Tagebücher, S. 98, Eintrag vom 4.1.1933. 68 Zum anlassgebenden Tumult während einer Berliner Feierveranstaltung zum 75. Geburtstag Wilhelms II. am 27. Januar 1934 s. Malinowski (2003): Vom König zum Führer, S. 511f. 69 Pakelder / Schenk / von der Bas (2021): Der Kaiser und das „Dritte Reich“, S. 100.

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„sich allen derartigen Bewegungen ferngehalten“ zu haben, und riet dies auch seinem Sohn, der in der Folge auch nicht in das Attentat vom 20. Juli 1944 involviert war.70 Die Hohenzollern teilten so das Schicksal der monarchistischen Bewegung nach 1918 insgesamt. In ihrem Traum von der Wiederaufrichtung eines erneuerten Volkskönigtums hatte das monarchistische Lager die nationalsozialistische Bewegung zunächst als Konkurrenz angesehen und sich ihr dann 1933 begeistert zugewandt, weil es glaubte, „dass dank Hitler die Restauration der Hohenzollernmonarchie unmittelbar bevorstehe“71, wie der „Bund der Aufrechten“ verlautbarte, in dem Prinz Eitel Friedrich Mitglied war. Als sich dies als Fehlspekulation erwies, zogen sich die Mitglieder des aufgelösten Bundes in eine enttäuschte Halbdistanz zurück, die infolge der vielen ideologischen Gemeinsamkeiten aber durch Hitlers außenpolitische Erfolge und militärische Siege immer wieder in enthusiastische Zustimmung umschlagen konnte. Ihre öffentliche Strahlkraft büßten allerdings mit den Lebenden auch die Toten der Hohenzollerndynastie ein, die seit dem 18. Jahrhundert Potsdam zum auratischen Erinnerungsort des Preußentums und seines Herrschergeschlechts gemacht hatten. Die schon Anfang 1943 von der Potsdamer Garnisonkirche in einen unterirdischen Bunker am Stadtrand ausgelagerten Särge Friedrichs des Großen und seines Vaters Friedrich Wilhelm I., des Soldatenkönigs, wurden im März 1945 gegen den Willen der Hohenzollernfamilie in ein Kalibergwerk im Thüringischen Eichsfeld verbracht, das hauptsächlich als Heeresmunitionsdepot diente, und dort zusammen mit den im Januar 1945 vom ostpreußischen Tannenberg-Denkmal nach Potsdam überführten Särgen Paul von Hindenburgs und seiner Frau in einer aufgemauerten Kammer unterhalb einer fünf Meter dicken Felsenschicht gelagert.72 Als sie dort Ende April 1945, zusammen mit zahlreichen Schätzen aus dem Berliner Hohenzollernmuseum, darunter die preußischen Kronjuwelen und 225 preußische Kriegsflaggen, von der US-Armee aufgefunden und umgehend aus ihrer explosiven Nachbarschaft geborgen wurden, waren die Hohenzollern und ihre Hoffnung auf eine monarchische Restauration endgültig von der politischen Bühne ins Museumsdepot gewandert.

70 L. F. Prinz von Preußen (1968): Die Geschichte meines Lebens (Anm. 25), S. 259f. u. 298ff. 71 Hofmann (2018): Obsoleter Monarchismus (Anm. 28), S. 254. 72 National Archives and Records Administration, College Park (Maryland), RG 59, 862.1233, Office of Military Government for Greater Hesse, Report on the Interment of the Bodies of Friedrich Wilhelm I, Friedrich II, Paul von Hindenburg und Gertrude (sic!) von Hindenburg in the Elizabethkirche, Marburg/Lahn, Land Greater Hesse, August 1946.

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KRIEG MACHT NATION Eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums zur Gründung des deutschen Kaiserreichs Katja Protte Das Konzept von Nation und Nationalstaat steht heute mehr denn je im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Sehnsucht nach Heimat und regionaler Identität. Das Militärhistorische Museum in Dresden hat daher die 150-jährige Wiederkehr des Deutsch-Französischen Krieges und der Gründung des deutschen Kaiserreichs zum Anlass genommen, ein Thema aufzugreifen, dem sich lange Zeit kein großes Ausstellungsprojekt mehr gewidmet hat: der kriegerischen Gründung des ersten deutschen Nationalstaats. Die Ausstellung bildete den bislang fehlenden Mittelteil einer Trilogie zum langen 19. Jahrhundert, die 2013 mit Blutige Romantik – 200 Jahre Befreiungskriege gegen Napoleon begann und die 2014 fortgesetzt wurde mit 14 – Menschen – Krieg. Diese Trilogie griff internationale Gedenkjahre auf, um historische Ereignisse vertiefend museal darzustellen und ihre Bezüge zur Gegenwart herauszuarbeiten, wobei dem Perspektivwechsel zwischen den verschiedenen kriegsbeteiligten Ländern eine wichtige Bedeutung zukam. Die Ausstellung KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand sollte vom 9. April 2020 bis 31. Januar 2021 in Dresden gezeigt werden. Angesichts der Corona-Pandemie verkürzte sich die Laufzeit auf die dreieinhalb Monate vom 16. Juli bis 30. Oktober 20201 (Abb. 1). 1. LEITGEDANKEN Im Herbst 2011 öffnete das neukonzipierte Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden seine Pforten. Nach Plänen des Architekten Daniel Libeskind ist ein spektakulärer Erweiterungsbau entstanden: ein Keil, der sich mitten durch das 1

Vgl. Bauer / Pieken / Rogg (2013): Blutige Romantik; dies. (2014): 14 – Menschen – Krieg; Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION. Dieser Beitrag beruht zum Teil auf Konzeptpapieren, Ausstellungs- und Katalogtexten, die die Kuratierenden der Ausstellung, Gerhard Bauer und Katja Protte, gemeinsam mit den Werkvertragsnehmerinnen Alma Hannig und Eva Langhals erarbeitet haben. Die Gliederung des Katalogs gibt nur in Teilen die Ausstellungsgliederung wieder. Diese ist anhand des Objektverzeichnisses, ebd., S. 386–413, nachzuvollziehen. Zu einer Auswahl der für die Ausstellung relevanten Literatur vgl. ebd., S. 420– 423.

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historistische Arsenalhauptgebäude schiebt (Abb. 2). 1873–1877 als Waffenarsenal errichtet, diente der Altbau nacheinander fünf verschiedenen deutschen Armeen als Ausstellungsort: der königlich-sächsischen Armee, der Reichswehr, der Wehrmacht, der NVA und der Bundeswehr. Der Libeskind-Keil steht für einen neuen, vielschichtigen Umgang mit der Geschichte von Krieg und Frieden, von Militär, Politik und Gesellschaft. Eng verzahnt mit dem Altbau lädt die Architektur des Neubaus dazu ein, die Blickrichtung zu ändern und neue Perspektiven zu entdecken. Das Museum versucht nicht, deutsche Militärgeschichte in ungebrochenen Traditionslinien darzustellen, sondern nutzt Brüche und Perspektivwechsel als Strukturprinzip. Multiperspektivisch ist das Haus auch in der Art des musealen Erzählens. Es verbindet zwei grundlegend unterschiedliche Präsentationsformen: eine Chronologie in den Flügeln des Altbaus und einen Themenparcours im LibeskindKeil, in dem zeitlich übergreifende Bereiche wie Militär und Technologie, Leiden am Krieg oder Krieg und Gedächtnis zu finden sind. Beide Ausstellungsteile eint der Blick auf den einzelnen Menschen, der Gewalt ausübt und/oder erleidet.2 Diesen Grundprinzipien folgt auch die Ausstellung KRIEG MACHT NATION. Der Gründung des Deutschen Reiches gingen drei Kriege voraus: 1864 zogen Preußen und Österreich nach Konflikten um die staatliche Einbindung des Herzogtums Schleswig gegen Dänemark in den Krieg. 1866 gipfelte der preußisch-österreichische Machtkampf um die Vorherrschaft im Deutschen Bund in einem sogenannten Bruderkrieg, ausgelöst von Streitigkeiten um die Verwaltung der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Österreich unterlag und musste der Gründung eines Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung zustimmen. Der preußische Machtzuwachs beunruhigte Frankreich. 1870 eskalierte ein diplomatischer Streit um die spanische Thronfolge zu einer Frage der nationalen Ehre, so dass aus dem schwelenden Konflikt eine offene Konfrontation wurde. Norddeutscher Bund und süddeutsche Staaten kämpften nun gemeinsam gegen Frankreich. Noch im Krieg, am 18. Januar 1871, fand die Kaiserproklamation in Versailles statt. Anders als die Weltkriege sind diese drei für Preußen siegreichen Kriege heute für ein breiteres Publikum weitgehend vergessene Kriege. Ziel war, diese Kriege als Kulminationspunkte von Nationalidee und Fortschrittsglauben im 19. Jahrhundert zu beleuchten, die unsere Vorstellung von Krieg und Nationalstaat bis heute weit mehr prägen, als vielen Menschen bewusst ist. Die Frage nach den unterschiedlichen Hoffnungen und Zielen, die Menschen mit der Idee der Nation verbanden, und nach der Bedeutung, die sie Machtpolitik und Kriegen dabei zuschrieben, zog sich als Leitmotiv durch die Ausstellung. Nation sollte nicht als naturgegebene Konstante und die deutsche Einigung nicht als Ergebnis eines Bismarckʼschen Masterplans erscheinen. Stattdessen wurde Nationsbildung als langwieriger, schwieriger Prozess dargestellt, den viele Akteure und Akteurinnen miteinander ausgehandelt oder gewaltsam gegeneinander erkämpft haben. Ausgehend von den europäischen Revolutionen 1848/49 wurde das Wech-

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Vgl. Protte (2018): Deutungsmacht und Eigensinn, S. 107–116, bes. S. 107; Pieken (2013): 40,1°; Pieken / Rogg (2011): Ausstellungsführer; dies. (2011): Ausstellung und Architektur.

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selspiel zwischen Modernisierung monarchischer Macht, bürgerlich dominierter Nationalbewegung sowie einer zunehmend an Einfluss gewinnenden Arbeiterbewegung beleuchtet. Mit Objekten, Zitaten und Biografien zeigte die Ausstellung die Hinwendung großer Teile des liberalen Bürgertums zu einer Kriege einkalkulierenden „Realpolitik“3 – nicht nur bei den Einigungsbestrebungen in den deutschen, sondern auch in den italienischen Staaten. Die Ausstellung richtete den Blick auf bekannte Protagonisten einer kleindeutschen, preußisch-monarchisch dominierten Lösung wie Bismarck, Moltke und Wilhelm I. Doch ebenso gab sie deren Gegenspielern und Kritikern Raum: von frühen Friedensaktivisten4 über den Pathologen und linksliberalen Politiker Robert Virchow, den Bismarck-Attentäter Ferdinand Cohen-Blind und den Sozialdemokraten August Bebel bis hin zu dem Zeitungsredakteur Wilhelm Obermüller5, der nicht einsah, warum sich 1870 für einen preußisch geführten Krieg auch Sachsen totschießen lassen sollten. Drei Siege unter preußischer Führung in enger zeitlicher Folge entwickelten eine Eigendynamik, die auch viele Menschen begeisterte, die einer Reichsgründung unter preußisch-monarchischen Vorzeichen zunächst skeptisch gegenüberstanden. Reichskanzler Bismarck wurde zum Symbol nationaler Stärke, das Offizierkorps stieg zum „erste[n] und vornehmste[n] Stand im Staate“6 auf und das Militär galt für große Teile der Gesellschaft als strahlendes Vorbild. Die Ausstellung beschäftigte sich mit diesen zweischneidigen Siegen, zeigte aber auch die Folgen, die die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 für das nationale Selbstverständnis der damals unterlegenen Länder Dänemark, Österreich und Frankreich hatten. Dänemark – Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein Mittelstaat mit nationalistisch-aggressiver Außenpolitik – erfand sich neu als der friedliche, soziale, auf innere Entwicklung konzentrierte Kleinstaat, den wir heute kennen.7 Österreichs Führungsrolle in der multi-ethnischen Habsburger Monarchie war durch die Niederlage so geschwächt, dass Ungarn nun seine Forderungen nach mehr Gleichberechtigung durchsetzen konnte und sich 1867 die österreichisch-ungarische k. u. k. Doppelmonarchie bildete.8 Frankreich wurde nach der Niederlage von Sedan im September 1870 wieder Republik und erlebte mit dem Aufstand der Pariser Commune 1871 eine innere Zerreißprobe, die das nationale Gedächtnis ebenso prägte wie der Krieg gegen die deutschen Besatzer.9 Die Modernisierungsdiskurse in der wissenschaftlichen Forschung zum 19. Jahrhundert nahm die Ausstellungsplanung in mehrfacher Hinsicht auf.10 Die 3

Rochau (1853): Grundsätze der Realpolitik; vgl. Jansen (2007): „Revolution“ – „Realismus“ – „Realpolitik“, S. 223–259; ders. (2008): Reichsgründer, S. 358–364. 4 Vgl. Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 35. 5 Vgl. ebd., S. 182–183; Fontane (1873): Krieg gegen Frankreich, Bd. 1, S. 63. 6 Der Offizier (1889), Sp. 1452. 7 Vgl. Østergård / Østergaard (2020): 1864. Dänemarks Trauma und Chance, S. 72–87. 8 Vgl. Hannig (2020): Österreich und der Krieg 1866, S. 144–155. 9 Vgl. Le Ray-Burimi (2020): 1870/71 – Krieg, Pariser Kommune und kulturelles Erbe, S. 258– 267. 10 Vgl. u.a. Förster / Nagler (1997): Road to Total War; Epkenhans / Groß (2003): Aufbruch in die Moderne; Mehrkens (2008): Statuswechsel; Aschmann (2019): Durchbruch der Moderne?; Paulmann (2019): Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube.

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Idee der Nation war – in ihrer ganzen Wirkmacht und Widersprüchlichkeit – Identifikationsangebot und Weltordnungsversuch zugleich. Sie sollte museal in ihrer Wechselwirkung mit den Phänomenen einer sich unter den Vorzeichen der Moderne verändernden Welt erfahrbar werden. Die Ausstellung zeigte die zunehmende Dynamik der wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zwischen 1848 und 1871 als Narrativ, das untrennbar mit der Frage nach Krieg und Nation verbunden ist. Fabriken, Eisenbahnen, Telegrafen, beginnende Massenpresse und das Streben nach Freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe veränderten nicht nur den Alltag der Menschen, sondern auch politische Handlungsspielräume und die Art und Weise, wie Kriege geführt wurden. Offene Feldschlachten, große Reiterattacken und bunte Uniformen lassen häufig vergessen, wie viele Elemente der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 dem Ersten Weltkrieg weit näher waren als den Napoleonischen Kriegen. Während immer effizientere Geschütze und Gewehre entwickelt wurden, Eisenbahnen die Kriegführung beschleunigten, ausdehnten und massenhaft Kriegsgefangene und Verletzte weit hinter die Fronten beförderten, organisierten sich Bürgerinnen und Bürger, um das Leid auf den Schlachtfeldern zu lindern. Die Gründung der Rotkreuzbewegung 1863 und die erste Genfer Konvention 1864 sind die Keimzelle dessen, was heute als humanitäres Völkerrecht unser Kriegsbild bestimmt. 2. AUSSTELLUNG Den Auftakt der Ausstellung bildete ein Prolog mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne von 1848 und Ernst Moritz Arndts Gedicht „Des Deutschen Vaterland“ mit der berühmt gewordenen Zeile „Das ganze Deutschland soll es sein!“, gedruckt 1848 auf Flugblättern in unterschiedlichen Versionen11 und, als Raumton, gelesen von heutigen Kindern und Jugendlichen. 1813 während der Befreiungskriege geschrieben, wurde das Gedicht, mehrfach vertont, zu einer inoffiziellen Hymne der deutschen Nationalbewegung und gehörte im Kaiserreich schließlich als Schullektüre zum nationalen Kanon; es wurde auf patriotischen Schulfeiern am Sedantag oder zu Kaisers Geburtstag vorgetragen.12 Die Kinderstimmen verwiesen auf diesen Kontext. Das gelegentliche Stocken, das Ringen mit der ungewohnten Sprache, verstärkten die befremdende Wirkung, die solche nationale Emphase heute oftmals hat. Assoziationen von Kinderstimmen mit einer vermeintlich unschuldigen Frühphase der Nationalbewegung konterkariert Arndts Gedichttext selbst. Er feiert nicht nur deutsche Sprache und deutsches Wesen, sondern predigt gleichzeitig Franzosenhass. Die Idee der Nation versprach Fortschritt, Freiheit und Teilhabe, ging aber von Anfang an mit Ausgrenzung und kriegerischer Abgrenzung einher. Dieses 11 Vgl. Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 30–31, 386. 12 Vgl. z.B. Zimmer (2009): Kanon, S. 161, 310. Diese Audiostation hat das Museumspädagogische Team des Militärhistorischen Museums (Avgi Stilidis, Ines Schnee und Erik Zimmermann) entwickelt.

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Spannungsverhältnis griff die Ausstellung immer wieder auf. Sprache, (Vor-)Geschichte, Bildung, Religion (Abb. 11–13) oder Wirtschaft wurden anhand von Objekten und Objektgruppen als Themenfelder behandelt, die allgemein als die Grundlagen von Nationen verstanden werden, aber zugleich oft auch die Sprengkraft haben, nationalen Konsens in Frage zu stellen.13 Die Ausstellung KRIEG MACHT NATION bestand aus zwei räumlich getrennten Teilen: dem Exponat-basierten Hauptteil in der Wechselausstellungshalle des ehemaligen Arsenalhauptgebäudes und einem stärker inszenierten, essayistisch angelegten Ausblick in einer ehemaligen Industriehalle hinter dem Hauptgebäude. Verbunden wurden beide Teile mit Figurensilhouetten, die Besuchende vom Vorplatz des Museums in das Foyer und über das Freigelände in den zweiten Ausstellungsteil leiteten. Zusammen mit teils typischen, teils überraschenden Zitaten und Zuschreibungen erscheinen zum Beispiel Bismarck, Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt „Sisi“/„Sissi“, Friedrich Engels, Theodor Fontane, Karl May, der elsässische Künstler und Schriftsteller Jean-Jacques Waltz, die österreichische Pazifistin Bertha von Suttner, die französische Anarchistin Louise Michel und auch weniger bekannte Menschen, deren Biografien auf unterschiedliche Weise mit den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 in Beziehung stehen (Abb. 3). Das heutige Hauptgebäude des Museums ist selbst Teil der Epoche, der sich die Ausstellung KRIEG MACHT NATION widmete. Es wurde maßgeblich mit französischen Reparationsgeldern errichtet und bildet das Zentrum der Dresdner Albertstadt, damals eine der größten Kasernenstädte Europas. Für den Ausstellungsgestalter Thomas Ebersbach (Leipzig) war der Wechselausstellungsraum mit seinen überwölbten Rustika-Sandsteinpfeilern Chance und Herausforderung zugleich. In einem als Bildergalerie fungierenden Umgang ließ er die historistische Architektur wirken. Im Zentrum des Raums band er die Exponate in ein dunkel gehaltenes Gangsystem ein, das die Säulenhalle diagonal durchschnitt. Der hell-dunkel Kontrast und die harte Kantensetzung der Wände nahmen das aggressive Moment der Pracht- und Imponier-Architektur verfremdet auf, während die Nüchternheit der Gestaltung deren Überwältigungscharakter brach und so einen eigenen Erlebnisraum für die Auseinandersetzung mit den Exponaten schuf (Abb. 4/5). Besuchende erwartete hier eine chronologische Erzählung von den Revolutionen 1848/49 bis zur Reichsgründung 1871 und ein Themenraum, der nach modernen Elementen der Kriegführung und des Kriegserlebens in der Heimat fragte. Dessen Zentrum bildete eine Vitrine in Form einer stilisierten Litfaßsäule. Ein Drittel der Vitrine gab den Blick auf verschiedene als Feldtelegrafen genutzte Geräte frei. Auf zwei Dritteln der Säule waren Kriegsdepeschen mit Nachrichten von den Kriegsschauplätzen der Jahre 1866 und 1870/71 in Reproduktion angebracht. So sollte die immer wichtigere Rolle, die schnelle Kommunikation spielte, vermittelt werden, sowohl für das Dirigieren von Truppen über weite Entfernungen hinweg wie für die ganz neuen Möglichkeiten der Bevölkerung, in der Heimat Nachrichten vom Kriegsschauplatz 13

Vgl. Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 74, 88–89, 164–165, 200– 203, 246–247.

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fast in Echtzeit zu erhalten. Vom Generalstab redigiert, per Telegraf verschickt und umgehend gedruckt, hingen die Depeschen teils noch am selben Tag an Litfaßsäulen aus oder wurden von Zeitungen als Extraausgaben vertrieben (Abb. 6/7).14 Eingefasst wurden Chronologie und Themenraum von der bereits erwähnten Bildergalerie, die Gemälde als Leitmedium der Kriegserinnerung im 19. Jahrhundert präsentierte. In dieser Reihe realistisch-patriotisch aufgefasster Schlachtengemälde, Kriegsszenen und Porträts aus den unterschiedlichen kriegsbeteiligten Ländern (Abb. 8) fielen einige Bilder aus dem Rahmen. Gleich beim Betreten der Ausstellung sah man zum Beispiel an der gegenüberliegenden Galeriewand einen Leuchtkasten mit der vielfach vergrößerten Darstellung eines elend sterbenden Soldaten, den Adolph Menzel 1866 mit eindringlicher Intensität in einem Lazarett am böhmischen Kriegsschauplatz gezeichnet, diese Zeichnung aber nicht veröffentlicht hatte (Abb. 4). 1878 von dem Kunstkritiker Friedrich Pecht befragt, warum er keine Schlachten der Kriege 1866 und 1870/71 gemalt habe, fragte er zurück: „muß denn der Gräuel gemalt werden?!?“15 Die Intervention, eine intime kleine Zeichnung auf Gemäldemaß zu vergrößern, stellte in der Ausstellung die Frage nach den Grenzen der Zeigbarkeit im Kontext der jeweils genutzten Medien. Anders als in der Bildergalerie wurden in Chronologie und Themenraum neben Realien und kleineren Gemälden vor allem Zeichnungen, Holzstiche und Fotografien gezeigt, die Zerstörungen, Gewalt und Leid oft direkter darstellen als das repräsentative, auf Dauer angelegte Medium der Malerei. Gerade das fotografische Erbe der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 ist über Fachkreise hinaus wenig bekannt und rückt diese Konflikte für Besuchende näher an die eigenen Medienerfahrungen heran. Eine Filmprojektion in der Bildergalerie wies bereits auf das andere Medium voraus, das für die Kriegserinnerung im 20. und 21. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielen sollte. Der Stummfilm „Bombardement d’une maison“ (1897) von Georges Méliès verwandelt eine gute Minute lang eines der berühmtesten französischen Kriegsgemälde, Alphonse de Neuvilles „Les Dernières Cartouches“ (1873), in eine bewegte Szene.16 Dies ist ein Beispiel von vielen, wie Bilder des Krieges 1870/71 vor dem Ersten Weltkrieg auch für die Sehgewohnheiten der nachwachsenden Generation lebendig gehalten wurden. Vor der Erfindung des Films waren Schlachtenpanoramen ein Massenmedium, das Spektakel und patriotische Erbauung zugleich bot. In der ehemaligen Industriehalle hinter dem Hauptgebäude mündete die Ausstellung KRIEG MACHT NATION 14 Vgl. Becker (2020): Nachrichten vom Kriegsschauplatz, S. 300–311; Hagemann (2020): Moltke, S. 276–280. 15 Adolph Menzel an Friedrich Pecht, Berlin, 9.12.1878, zit. nach: Keisch / Riemann-Reyher (2009): Adolph Menzel, S. 757–758, hier S. 758; vgl. Jensen (2000): Adolph Menzel, S. 174– 175; Protte (2020): Risse im Panorama, S. 367–368. 16 „Bombardement d’une maison“ / „Bombardement eines Hauses“, Regie: Georges Méliès (1861–1938), Frankreich 1897, schwarzweiß, 01:10 Min., ©Lobster Films Collection. Gemälde und Film zeigt das youtube-Video „Les Dernières Cartouches (1870–1897) Guerre Franco-Allemande“ des Entertainment-Education WebTV vom 11.03.2011, https://www. youtube.com/watch?v=uTWddzIuhwU, letzter Aufruf am 21.04.2021.

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in einer verfremdeten Nachinszenierung von Louis Brauns Dresdner Schlachtenpanorama „Die Erstürmung von St. Privat am 18. August 1870“ (1883) (Abb. 9). Monumentale 360°-Gemälde hatten sich besonders im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts großer Popularität erfreut. Im Wieder- und Nacherleben glorreicher Schlachten einten solche Panoramen die Gesellschaft des Kaiserreichs.17 Anders als das Original bildete die Nachinszenierung jedoch keinen abgeschlossenen Raum. Je nach Blickwinkel fügte sich das Schlachtenpanorama zu einem großen Ganzen zusammen oder zerfiel in Einzelteile und gab dabei Durchgänge zu Ausstellungsbereichen frei, die über die Zeit der Reichsgründung hinauswiesen. Auf der einen Seite wurde die Geschichte des humanitären Völkerrechts einem zunehmend industrialisierten Rüstungswettlauf gegenübergestellt – beides Entwicklungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen und unser Kriegsbild bis heute bestimmen. Auf der anderen Seite richtete sich der Blick auf die Bindungskräfte, die besonders von dem gemeinsam errungenen Sieg über Frankreich ausgingen, und die damit verbundene hohe Wertschätzung des Militärs im Kaiserreich. Es wurden aber auch Konfliktlinien aufgegriffen, die die Gesellschaft spalteten: der Umgang mit nationalen Minderheiten, der Kulturkampf um den Einfluss der katholischen Kirche, das Sozialistengesetz, Antisemitismus (Abb. 13), der Kampf um das Wahlrecht für Frauen. Stand das Medium Schlachtenpanorama für Teilhabe an der Nation jenseits direkter politischer Partizipation, erschienen hier politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzungen der Zeit, in denen es auch immer darum ging, wer zur Nation gehören sollte und wer nicht – und wer welchen Einfluss im neuen deutschen Nationalstaat beanspruchen konnte.18 3. LEBENSLÄUFE Fast am Ende des Ausstellungsrundgangs konnten Besuchende in einem Raum mit übergroßen Stühlen Platz nehmen, die sie selbst auf Kindermaß schrumpfen ließen. Dort hingen deutsche sowie französische Bilder- und Jugendbücher zum Blättern19 (Abb. 10). Diese veranschaulichen, wie präsent die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 vor dem Ersten Weltkrieg in Kinderzimmern waren und wie stark besonders die im Deutsch-Französischen Krieg verschärften, rassistisch aufgeladenen Feindbilder nachwirkten (Abb. 14/15). Zur Zeit der Reichsgründung hatte die ältere Generation noch die Befreiungskriege gegen Napoleon I. erlebt; die Lebensspanne der jüngeren Generation hingegen konnte sich bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus erstrecken.

17 Vgl. Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 346–355; Becker (2009): Augen-Blicke der Größe; ders. (2001): Bilder von Krieg und Nation, S. 470–482; Parth (2010): Zwischen Bildbericht und Bildpropaganda, S. 113–117, 237–241. 18 Vgl. Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 376–379. 19 Vgl. ebd., S. 413.

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Bei einem Gang durch die Ausstellung KRIEG MACHT NATION hatten Besuchende die Gelegenheit, ganz unterschiedlichen Menschen zu begegnen, oft mehrfach, an verschiedenen ihrer Lebensstationen.20 Im Folgenden sollen – in ihren Verschränkungen mit teils gegenläufigen Lebensentwürfen und Schicksalen – drei Biografien aufgegriffen werden, die jede auf ihre Art in der Ausstellung für die stark militärische Prägung des Kaiserreichs standen. Die Biografie des preußischen Königs und deutschen Kaisers Wilhelm I. (1797–1888) zum Beispiel zieht sich durch die gesamte Ausstellung. Als junger Mann hatte Wilhelm 1814 an den Befreiungskriegen gegen Napoleon I. teilgenommen; sein ganzes Leben hindurch verstand er sich als Soldat. 1848/49 war er Prinz von Preußen und trat für ein hartes militärisches Vorgehen gegen Revolutionäre ein, was ihm den Schmähnamen „Kartätschenprinz“ einbrachte. Exponate aus dieser Zeit verdeutlichen, wie unterschiedlich Erinnerungen und Loyalitäten der Menschen waren, die über 20 Jahre später die Reichsgründung unter Wilhelm I. erleben würden. Premierleutnant Heinrich Haering hatte in der Nacht vom 20./21. April 1848 das Ruderboot über die Havel geführt, in dem der Prinz von Preußen die Festung Spandau verließ, um nach London zu fliehen. Nach dessen Rückkehr erhielt Haering einen gravierten Degen und ein Dankschreiben von Wilhelm persönlich. Immer wieder erzählte er gerne von diesem Erlebnis. Sein im Schleswig-Holsteinischen Infanterie-Regiment Nr. 163 dienender Sohn führte den Degen weiter. Nach dessen Tod gehörten Schreiben und Degen zu den besonders geschätzten Traditionsstücken seines Regiments.21 Der Messerschmied David Reuschle verwahrte hingegen ein Souvenir an die Berliner Barrikadenkämpfe am 18. März 1848 in einer kleinen Schmuckschatulle: eine Kartätschkugel (Abb. 16). Kartätschen sind Artilleriegeschosse mit einer Schrotladung, die, in eine Menschenmenge geschossen, verheerend wirkten und unter den Barrikadenkämpfern gefürchtet waren.22 In der Vitrine zum preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt, der bald nach Wilhelms Regierungsübernahme die erste Hälfte der 1860er Jahre prägte, wurden der König, seine Unterstützer und seine Gegner auf Carte-de-Visite-Fotografien gezeigt (Abb. 17). Mit diesen sehr populären Porträtaufnahmen im Visitenkartenformat fanden Fotografien erstmals eine massenhafte Verbreitung. Als 1859 der französische Kaiser Napoleon III. und nach ihm andere europäische Herrscherhäuser anfingen, ihre Porträts in dieser modernen Form unters Volk zu bringen, entwickel20 In der Literatur zu den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 wird zunehmend mit der Verflechtung von Einzelschicksalen gearbeitet. Bahnbrechend war hier Buk-Swienty (2011): Schlachtbank Düppel; zu 1870/71 vgl. v.a. Arand (2018): 1870/71; Pölking / Sackarnd (2020): Bruderkrieg. 21 Vgl. Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 36; Danckert (1929): Degen, S. 2–4; Brief des Kgl. Preuß. Generals der Infanterie a. D. Bruno von Mudra (Schwager des vormaligen Premierleutnants Haering) (1932), S. 2. Den Hinweis auf diese Quellen verdanken wir dem ehemaligen Leiter der Truppenverwaltung der Panzerbrigade 18 Holstein, Rolf Postel, der 2008 auch die Übergabe der Haering-Objekte an das Militärhistorische Museum begleitet hat. 22 Vgl. Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 37.

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ten sich die kleinen Visitformate zu beliebten Sammelobjekten. Jeder konnte nun seine eigene Heldengalerie anlegen, in der Monarchen nicht größer erschienen als linksliberale Politiker.23 Im weiteren Ausstellungsrundgang begegnete man Wilhelm I. zum Beispiel auf einer der zahllosen Lithografien wieder, die ihn ruhig und souverän mit seinem Stab mitten im Schlachtgeschehen zeigten. Weniger souverän wirkte der Monarch in einem Brief, den Bismarck am 21. Januar 1871, kurz nach der Kaiserproklamation in Versailles, an seine Gattin schrieb: Mein Liebling / ich habe Dir schrecklich lange nicht geschrieben, verzeih, aber diese Kaisergeburt war eine schwere, und Könige haben in solchen Zeiten ihre wunderlichen Gelüste, wie Frauen bevor sie der Welt hergeben was sie doch nicht behalten können. Ich hatte, als Accoucheur [Hebamme], mehrmals das dringende Bedürfnis eine Bombe zu sein und zu platzen, daß der ganze Bau in Trümmer gegangen wäre. 24

Wilhelm I. hatte sich nur widerwillig damit abgefunden, dass er mit Rücksicht auf die anderen deutschen Fürsten nicht „Kaiser von Deutschland“, sondern nur „deutscher Kaiser“ werden durfte. Nicht nur Bayern und andere deutsche Staaten sorgten sich um ihre Souveränität; selbst Wilhelm fürchtete, dass Preußen in Deutschland aufgehen würde. Auch Bismarck hatte eine Reichsgründung nicht um ihrer selbst willen verfolgt, sondern in Zeiten immer stärker werdender Nationalbewegungen als bestes Mittel erachtet, Preußens Macht zu vergrößern und die Position des Monarchen zu festigen. Die nach der Reichsgründung verstärkt einsetzende Verklärung Wilhelms I. zum greisen Heldenkaiser zeigten ein Gemälde25 in der Bildergalerie sowie Wilhelm-Denkmäler in einem Mobile mit Postkartenreproduktionen verschiedener deutscher Nationaldenkmäler, das im zweiten Ausstellungsteil aufgehängt war. Doch auch Revolutionäre von 1848/49 wollten ihre Rolle bei der Reichsgründung gewürdigt sehen und sich als vollwertiger Teil des neuen Reiches fühlen. Die liberale Familienzeitschrift Die Gartenlaube berichtete 1872 über die Einweihung eines Denkmals in Kirchheimbolanden/Rheinpfalz. Es gedachte der Toten jenes Pfälzischen Aufstands, den 1849 Truppen unter dem Oberkommando Wilhelms niedergeschlagen hatten. Die Zeitschrift begrüßte die Enthüllung eines solchen Denkmals als ein Zeugniß für die dermalen im Reiche herrschende Macht, daß sie in den einst von ihr als Rebellen Bekämpften nun ihre Vorkämpfer anerkannt, die dasselbe gewollt haben, was jetzt am hellen Tag und vor aller Welt wie vom gesammten Volke auch von der herrschenden Macht auf den Thronen erstrebt wird: des deutschen Reiches Heil!26

Verkörperte Wilhelm I. im Hinblick auf die Reichseinigung die ältere Generation, so war Eugen Leo (1833–1904) ein Vertreter der mittleren Generation, die die

23 Vgl. ebd., S. 38–41; Becker (2003): „Heldengalerie“, S. 47–52. 24 Zit. nach: Lappenküper (2020): Bismarcks Reichseinigung, S. 56. 25 Ferdinand Keller (1842–1922), Ölskizze zu dem Gemälde „Kaiser Wilhelm der Siegreiche“ (Einzug Kaiser Wilhelms durch das Brandenburger Tor) von 1888, Öl auf Leinwand, 117 x 145,5 cm (ohne Rahmen), Eigentum des Hauses Hohenzollern, SKH Georg Friedrich Prinz von Preußen, als Dauerleihgabe am Militärhistorischen Museum (Inv.Nr. XBAA1374). 26 Denkmal für Volkskämpfer (1872), S. 609, 612.

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Hauptlast der Kämpfe getragen hatte und das Kaiserreich bis ins 20. Jahrhundert hinein prägte. Als Hauptmann führte er 1870/71 die 2. Leichte Batterie der in Köln stationierten I. Abteilung des Rheinischen Feldartillerie-Regiments Nr. 8. Im Kölnischen Stadtmuseum ist ein in seiner Geschlossenheit äußerst seltener Nachlass der 1879 gegründeten Vereinigung Feldzugs-Batterie „Leo“ 1870/71 überliefert, der in wesentlichen Teilen für die Ausstellung KRIEG MACHT NATION entliehen werden konnte. Er ermöglicht fast so etwas wie eine Gruppenbiografie. Zum Nachlass gehörten zwei Kruppsche Vier-Pfünder-Feldkanonen C/67 der Batterie, welche nach ihrer Ausmusterung in der Kölner Eigelsteintorburg präsentiert wurden. Krupps aus Gussstahl gefertigte Hinterladergeschütze wurden zu Ikonen der sogenannten Reichseinigungskriege. Sie hatten erheblich zur militärischen Überlegenheit Preußens beigetragen. Neben Gedenkplakette und Schlachtfeldsouvenirs ist auch die fotografische Überlieferung der Kriegervereinigung besonders interessant (Abb. 19). Sie reicht von Aufnahmen der Batterie in Frankreich 1870/71 über Porträts ihrer Angehörigen – teils mit Vermerken zu deren Werdegang – und wiederkehrenden Ehemaligen-Treffen bis zum Foto des Grabsteins, den die Veteranen dem überraschend in Florenz verstorbenen Leo setzten. Die Inschrift lautete: Was er seinem Kaiser und seinem Vaterlande gewesen, gehört der Geschichte an, was er uns gewesen, das kann nur der voll fühlen, der die Ehre und das Glück hatte, unter seinem glorreichen Kommando im Feuer zu stehen.27

Nach der Reichsgründung 1870/71 wurden Kriegervereine zu einem Massenphänomen und einem wichtigen nationalen Integrationsfaktor. Im Laufe der Zeit bildeten sich Dachorganisationen, die versuchten, die Vereine stärker politisch, besonders gegen die Sozialdemokratie auszurichten. In einer Ansprache, die der zum Oberst a. D. avancierte Leo am 5. April 1900 in Köln an seine Kriegskameraden richtete, betonte er den hehren Anspruch des Vereins: Das treue Zusammenhalten, Pflegen der Erinnerung der großen Zeit, welche wir gemeinsam durchlebt und durchkämpft, gebe die Gewähr, daß, wenn wir das Reich in neuer Herrlichkeit haben aufbauen helfen, unsere Kinder das Errungene erhalten werden: „Wir stehen einander fest zu Kaiser und Reich und rufen auch heute: Hoch lebe unser Kaiser und Herr, Se. Majestät Kaiser Wilhelm II.“28

Für viele Veteranen hatte ihr Verein jedoch vor allem eine soziale Funktion. Sie trafen dort Menschen, die ihre Kriegserfahrungen teilten. Darüber hinaus konnten sie sich durch Ehemaligentreffen oder zumindest vermittelt durch Grußnachrichten auch einem General oder einem Kriegsberichterstatter verbunden fühlen – Menschen, die viele Kriegervereinsmitglieder in ihrem Alltagsleben nie persönlich kennengelernt hätten. Auch die Angehörigen der Feldzugs-Batterie „Leo“ 1870/71

27 Vgl. Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 370–375, Foto mit Grabstein auf S. 374–375. Mario Kramp, Stefan Lewejohann und Rita Wagner vom Kölnischen Stadtmuseum verdanken wir die Hintergrundinformationen zu diesem Bestand. 28 Zit. nach: Droz (1901), „Leo“, S. 105–106.

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verstanden sich als eine Schicksals- und Solidargemeinschaft. Ihr Chronist Max Droz schrieb: Wir hatten gemeinsam schwere Tage im Feldzuge erlebt und ist dies wohl der Grund, weshalb wir alte Soldaten heute noch nach 30 Jahren fast wie eine Familie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit haben. Erhöht wird dies durch das Gedenken an unseren Hauptmann Leo mit seinen Offizieren.29

Für die Nachgeborenen waren der Wehrdienst und der Status als Reservist, besser noch Reserveoffizier, eine Möglichkeit, am Glanz des Militärs teil zu haben. Aufwändig gestaltete Reservistenbilder, -krüge und -pfeifen zeugen von der gesellschaftlichen Wertschätzung des Wehrdienstes im Kaiserreich. In der Ausstellung KRIEG MACHT NATION bildete bewusst eine große Regalvitrine mit 63 Reservistenkrügen unterschiedlicher Einheiten den Hintergrund für die Exponate der Feldzugs-Batterie „Leo“ 1870/71 (Abb. 18). Es waren die Kinder und Jugendlichen der Einigungskriege, die ihre Faszination für die drei siegreich geführten Feldzüge an die nächste Generation weitergaben und sie in den Ersten Weltkrieg schickten. Oft war es „ihre Sehnsucht nach der Partizipation an dem Krieg, den sie selbst als Jugendliche 1870/71 (noch) nicht hatten kämpfen dürfen.“30 Eines der bekanntesten dieser Kriegskinder ist wohl der spätere Kaiser Wilhelm II. (1859–1941). Doch eine militärische Prägung war nicht nur Männersache. In der Ausstellung KRIEG MACHT NATION wird eine ebenso, wenn auch auf ganz andere Weise zwiespältige, weibliche Biografie dieser jüngeren Generation aufgegriffen, eingebunden in ihre Familiengeschichte. Die preußische Offizierstochter Alexandrine Gravelotte von Rosen (1870–1946) wurde im Krieg, am 27. August, geboren. In der Ausstellung begegnet man ihr zunächst in den Briefen ihrer Eltern Benedikte und Julius im Themenraum An der Schwelle zum modernen Krieg. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 beförderte allein die Norddeutsche Feldpost fast 90 Millionen Briefe und Postkarten sowie zwei Millionen Pakete. Die Eheleute schrieben einander mehrmals in der Woche, oft seitenlange Briefe, allein von Benedikte sind 174 Briefe überliefert. Sie schilderte ihren Alltag in allen Einzelheiten und nahm regen Anteil an den Kriegserlebnissen ihres Mannes. Bei der Geburt ihrer Tochter schrieb sie auch noch nach Einsetzen der Wehen weiter. Das Mädchen wurde auf den Namen Alexandrine Benedikte Johanna Gravelotte getauft – nach der Schlacht bei Gravelotte am 18. August 1870 (auch als Schlacht bei St. Privat bekannt), in der ihr Vater gekämpft hatte. Diesem Beispiel einer gelungenen Kommunikation zwischen Heimat und Front wird das bittere Schicksal von Karoline Weidner gegenübergestellt. Einen Brief an ihren als Unteroffizier dienenden Mann Friedrich vom 5. August 1870 erhielt sie mit dem Zusatz „Im Gefechte bei Weißenburg getötet“ auf dem Umschlag zurück. Als sie zweieinhalb Monate später noch keine offizielle Benachrichtigung über das Schicksal ihres Ehemanns erhalten hatte, schrieb sie an sein Regiment. Ihr Brief kam mit dem Vermerk wieder, dass ihr Mann bei Weißenburg „den schönen Todt für König und Vater29 Ebd., S. 101. 30 Hannig (1993): Schatten von Spichern, S. 273.

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land“ gestorben sei. Wie einem weiteren Brief vom 11. Dezember zu entnehmen ist, wartete sie zwei Monate später immer noch auf die Zusendung des Totenscheins, den sie dringend benötigte, um staatliche Unterstützung zu beantragen. Hiermit endete die Überlieferung der Familie Weidner.31 Alexandrine Gravelotte von Rosen begegnete Besuchenden auf dem Weg zum zweiten Ausstellungsteil als Figurensilhouette eines kleinen Mädchens wieder, das im Familienkreis zeitweise liebevoll das „Gravelottchen“ genannt wurde (Abb. 20). Im zweiten Ausstellungsteil stand ihre Silhouette als junge Frau mit dem Armreif, den sie 1887 zur Konfirmation erhalten hatte. Eingelassen war das Eiserne Kreuz, das ihr Großvater väterlicherseits 1815 in der Schlacht bei Waterloo errungen hatte (Abb. 21). Wie Fotografien zeigen, trug sie diesen Armreif ihr Leben lang. Verheiratet mit einem deutsch-baltischen Gutsbesitzer, engagierte sie sich im Ersten Weltkrieg in der Krankenpflege, erlebte die Auswirkungen der russischen Oktoberrevolution und begeisterte sich später für die Idee einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. 1937 zog sie zu ihrer Tochter Freda nach Marburg, die mit dem liberal gesinnten Soziologen Max zu Solms verheiratet war. Freda schrieb über ihre Mutter: „ich weiß niemand, der Deutschland so geliebt hat wie sie“.32 4. AUSBLICK Die Ausstellung endete mit einem kurzen Ausblick auf die Zeit nach 1945. Nach zwei Weltkriegen und dem Holocaust war die deutsche Reichsgründung von 1871 kaum noch von öffentlichem Interesse. Historikerinnen und Historiker aus fünf verschiedenen Ländern dachten in einem für die Ausstellung produzierten Interviewfilm darüber nach, welche Fernwirkungen die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 haben und welche Rolle die im 19. Jahrhundert geprägte Nationalidee heute noch spielt.33 Ein Mitmach-Mobile lud Besuchende ein, auf bunten Kärtchen festzuhalten, was sie sich für Deutschlands Zukunft wünschen. Der Wunsch nach Frieden, Toleranz, Gleichberechtigung, nach weniger Hass und mehr Freundlichkeit war groß. Es wurden allerdings auch eher identitäre Haltungen geäußert. Und einen Satz wie „Friedensverträge schließen, Weltkrieg beenden. / www.BismarcksErben.org“

31 Zu den Briefwechseln der Familien Weidner und von Rosen vgl. Bauer / Protte / Wagner (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 312–315. Der Briefwechsel Weidner befindet sich im Bestand des Militärhistorischen Museums; der Briefwechsel, wie alle weiteren Objekte der von Rosens, waren eine Leihgabe des Familienarchivs von Rosen, Hamburg. 32 Familiengeschichte von Rosen, Bd. IV, S. 239–248, Zitat S. 247. 33 Historikerinnen und Historiker aus fünf Ländern im Gespräch: Uffe Østergård, Aarhus/Dänemark, Universität Aarhus; Miloš Řezník, Prag/Tschechien, Leiter Deutsches Historisches Institut Warschau; Birgit Aschmann, Berlin/Deutschland, Humboldt-Universität zu Berlin; Monique Fuchs, Straßburg/Frankreich, Leiterin Historisches Museum Straßburg; Manfried Rauchensteiner, Wien/Österreich, ehem. Direktor Heeresgeschichtliches Museum Wien; Produktion: kursiv | text – objekt – raum GmbH / TIME PRINTS KG – Film & Medien, 2019/20.

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musste man schon zweimal lesen, um hier das Gedankengut der ReichsbürgerBewegung zu erkennen (Abb. 22–24).34 Die Epoche der sogenannten Reichseinigungskriege und das Kaiserreich werden oft entweder als gute alte Zeit verklärt, in der die Kriege noch bunt und glorreich und das Leben übersichtlich und klar gewesen seien, oder als Wurzel allen Übels in der deutschen Geschichte verdammt. Die Ausstellung wollte Besuchende bewusst einer großen Vielstimmigkeit aussetzen und sie ermutigen, genauer hinzuschauen, zu entdecken, dass die Herausforderungen, vor denen Menschen damals standen, manchmal gar nicht so weit entfernt sind von den Fragen, die uns noch heute beschäftigen, wenn auch unter anderen Vorzeichen: Wie kann man Frieden sichern? Lässt sich Kriegsleid überhaupt mildern? Wie viel nationale Unabhängigkeit, wieviel europäische und weltweite Integration wollen wir? Brauchen wir überhaupt noch Nationalstaaten und, wenn ja, wofür? Was hält ein Land zusammen? LITERATUR Arand, Tobias: 1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen, Hamburg 2018. Aschmann, Birgit (Hrsg.): Durchbruch der Moderne? Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main / New York 2019. Bauer, Gerhard / Pieken, Gorch / Rogg, Matthias (Hrsg.): Blutige Romantik – 200 Jahre Befreiungskriege. Essays und Katalog, 2 Bde. (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 4 u. 5), Dresden 2013. Bauer, Gerhard / Pieken, Gorch / Rogg, Matthias (Hrsg.): 14 – Menschen – Krieg. Essays und Katalog, 2 Bde. (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 9), Dresden 2014. Bauer, Gerhard / Protte, Katja / Wagner, Armin (Hrsg.): KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 15), Dresden 2020. Becker, Frank: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 7), München 2001. Becker, Frank: Die „Heldengalerie“ der einfachen Soldaten. Lichtbilder in den deutschen Einigungskriegen. In: Holzer, Anton (Hrsg.): Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003, S. 39–56. Becker, Frank: Augen-Blicke der Größe. Das Panorama als nationaler Erlebnisraum nach dem Krieg von 1870/71. In: Requate, Jörg (Hrsg.): Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft / Les médias au XIXe siècle (Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris, Bd. 4), München 2009, S. 178–191. Becker, Frank: Nachrichten vom Kriegsschauplatz. In: Bauer, Gerhard / Protte, Katja / Wagner, Armin (Hrsg.): KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 15), Dresden 2020, S. 300–311.

34 Insgesamt wurden 671 Karten von Besuchenden ausgefüllt. Diese werden im Sachgebiet Schriftgut/Hausarchiv des Militärhistorischen Museums verwahrt.

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Blumenstein, Isaac: Über den jüdischen Gottesdienst im Felde bei Metz, 19.10.1870. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 01.11.1870, https://www.alemannia-judaica.de/mannheim_rabbiner_ lehrer.htm, Aufruf 28.04.2021. Buk-Swienty, Tom: Schlachtbank Düppel. 18. April 1864. Die Geschichte einer Schlacht, Berlin 2011 (erstmals auf Dänisch 2008). Danckert, Hans: Der Degen des Oberleutnant Haering, in: Bundes-Zeitung der Vereinigungen ehemaliger 163er, 01.03.1929, S. 1–5. Denkmal für Volkskämpfer. In: Die Gartenlaube, 1872, H. 37, S. 609, 612. Droz, Max: Kurzer Abriß der Geschichte der ehemaligen Feldzugs-Batterie „Leo“. 2. leichte Batterie des Rheinischen Feld-Art.-Regts. No. 8, 1870/1871, Berlin 1901. Epkenhans, Michael / Groß, Gerhard P. (Hrsg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und der Otto-von-Bismarck-Stiftung): Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan (Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 60), München 2003. Familiengeschichte der Freiherren und Grafen von Rosen, 6 Bde., hrsg. im Selbstverlag [Claus von Rosen], Hamburg 2020. Förster, Stig / Nagler, Jörg (Hrsg.): On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861–1871, Cambridge / New York / Melbourne 1997. Fontane, Theodor: Der Krieg gegen Frankreich, 4 Bde. (Manesse Bibliothek der Weltgeschichte), 2. Aufl., Zürich 1988 (erstmals Berlin 1873–1876). Hagemann, Frank: Moltke – Kriegsbild und Führungsdenken. In: Bauer, Gerhard / Protte, Katja / Wagner, Armin (Hrsg.): KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 15), Dresden 2020, S. 272–281. Hannig, Alma: „Wenn man alle Welt gegen sich und gar keinen Freund hat …“. Österreich und der Krieg 1866. In: Bauer, Gerhard / Protte, Katja / Wagner, Armin (Hrsg.): KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 15), Dresden 2020, S. 144–155. Hannig, Jürgen: Im Schatten von Spichern. Militarismus und Nationalismus im Saarrevier vor dem Ersten Weltkrieg. In: Jenal, Georg (Hrsg.) / Haarländer, Stephanie (Mitarb.): Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag, München 1993, S. 257–276. Jansen, Christian: „Revolution“ – „Realismus“ – „Realpolitik“. Der nachrevolutionäre Paradigmawechsel in den 1850er Jahren im deutschen oppositionellen Diskurs und sein historischer Kontext. In: Bayertz, Kurt / Gerhard, Myriam / Jaeschke, Walter (Hrsg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Der Materialismus-Streit, Hamburg 2007, S. 223–259. Jansen, Christian: Die Reichsgründer. In: Laufer, Ulrike / Ottomeyer, Hans (Hrsg.): Gründerzeit 1848–1871. Industrie & Lebensträume zwischen Vormärz und Kaiserreich. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin, Dresden 2008, S. 358–364. Jensen, Jens Christian: Adolph Menzel. Gemälde, Gouachen, Aquarelle, Zeichnungen im Museum Georg Schäfer, Schweinfurt, 2. Aufl., München 2000. Keisch, Claude / Riemann-Reyher, Marie Ursula (Hrsg.): Adolph Menzel. Briefe, Bd. 2 1856 bis 1880 (Deutscher Verein für Kunstwissenschaft. Quellen zur deutschen Kunstgeschichte vom Klassizismus bis zur Gegenwart, Bd. 6), Berlin / München 2009. Krüger, Christine G.: „Sind wir denn nicht Brüder?“ Deutsche Juden im nationalen Krieg 1870/71 (Krieg in der Geschichte, Bd. 31), Paderborn u.a. 2006. Lappenküper, Ulrich: Bismarcks Reichseinigung. In: Bauer, Gerhard / Protte, Katja / Wagner, Armin (Hrsg.): KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 15), Dresden 2020, S. 46–57.

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Le Ray-Burimi, Sylvie: 1870/71 – Krieg, Pariser Kommune und kulturelles Erbe. In: Bauer, Gerhard / Protte, Katja / Wagner, Armin (Hrsg.): KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 15), Dresden 2020, S. 258–267. Mehrkens, Heidi: Statuswechsel. Kriegserfahrung und nationale Wahrnehmung im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge, Bd. 21), Essen 2008. Mudra, Bruno von: Schreiben an die Bundes-Zeitung. In: Bundes-Zeitung der Vereinigungen ehemaliger 163er, 01.01.1932, S. 2. Der Offizier, Teil II Der Offizier und das dynastische Prinzip. In: Militär-Wochenblatt 74 (7. August 1889), H. 67, Sp. 1451–1456. Østergård, Uffe / Østergaard, Bjørn: Der Krieg 1864. Dänemarks Trauma und Chance. In: Bauer, Gerhard / Protte, Katja / Wagner, Armin (Hrsg.): KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 15), Dresden 2020, S. 72–87. Parth, Susanne: Zwischen Bildbericht und Bildpropaganda. Kriegskonstruktionen in der deutschen Militärmalerei des 19. Jahrhunderts (Krieg in der Geschichte, Bd. 56), Paderborn u.a. 2010. Paulmann, Johannes: Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850–1914 (C. H. Beck Geschichte Europas), München 2019. Pieken, Gorch: 40,1°. Militärhistorisches Museum, Dresden. Architektur, Dresden 2013. Pieken, Gorch / Rogg, Matthias (Hrsg.): Militärhistorisches Museum der Bundeswehr. Ausstellung und Architektur, Dresden 2011. Pieken, Gorch / Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer, Dresden 2011. Pölking, Hermann / Sackarnd, Linn: Der Bruderkrieg. Deutsche und Franzosen 1870/71, Freiburg im Breisgau 2020. Protte, Katja: Deutungsmacht und Eigensinn. Das MHM – ein militärhistorisches Museum für Menschen mit und ohne Uniform. In: Falkenberg, Regine / Jander, Thomas (Hrsg. für das Deutsche Historische Museum): Assessment of Significance. Deuten – Bedeuten – Umdeuten, Berlin 2018, S. 107–116. Protte, Katja: Risse im Panorama. Die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 in der deutschen Schlachten- und Ereignismalerei. In: Bauer, Gerhard / Protte, Katja / Wagner, Armin (Hrsg.): KRIEG MACHT NATION – Wie das deutsche Kaiserreich entstand (Forum MHM. Schriftenreihe des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Bd. 15), Dresden 2020, S. 356–369. Rochau, Ludwig August von: Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, Stuttgart 1853, Reprint, hrsg. v. Hans Ulrich Wehler, Frankfurt am Main 1972. Wagner, Rita: Vision der Emanzipation, https://www.koelnisches-stadtmuseum.de/Vision-derEmanzipation, letzter Aufruf 28.04.2020. Zimmer, Ilonka: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2009.

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ABBILDUNGEN

Abb. 1: Ausstellungsplakat Militärhistorisches Museum / Thomas Ebersbach

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Abb. 2: Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden 2011 Militärhistorisches Museum / Ingrid Meier

Abb. 3: Figurensilhouetten als Leitsystem zwischen erstem und zweitem Ausstellungsteil Militärhistorisches Museum / Andrea Ulke

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Abb. 4: Blick in den ersten Ausstellungsteil Lars Förster Hinten links unterbricht Adolph Menzels vergrößerte Zeichnung eines sterbenden Soldaten die Reihe bunter Schlachtengemälde in der Bildergalerie.

Abb. 5: Blick in den ersten Ausstellungsteil Militärhistorisches Museum / Andrea Ulke

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Abb. 6: Blick in den Themenraum An der Schwelle zum modernen Krieg Lars Förster

Abb. 7: „Die neusten Depeschen“, Ludwig Löffler (1819–1876): Vor einer Litfaßsäule in Berlin während des Kriegs 1870/71, Holzstich aus einer illustrierten Zeitschrift Militärhistorisches Museum, Inv.Nr. BBAY0250

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Abb. 8: Louis Braun  (1836–1916): Die Deutschen in   Versailles, 1877,   Öl auf Leinwand,   88,5 x 177 cm   Militärhistorisches   Museum,   Inv.Nr. BBAW3875 /  Andrea Ulke 

Der in München tätige Württemberger Louis Braun malte ein „Wimmelbild“, das fast als ein Gegenentwurf zu einer preußisch dominierten Geschichte großer Männer gelesen werden kann, wie sie Anton von Werner in seinen späteren Fassungen der Versailler Kaiserproklamation propagierte. Dargestellt ist eine Situation im Herbst 1870. Im Hintergrund ist das Versailler Schloss – Symbol französischer Machtpolitik – zu sehen, auf dem eine schwarz-weiß-rote Flagge weht. Im bunten Treiben preußischer, bayerischer, württembergischer, sächsischer sowie eines Braunschweiger Soldaten und französischer Einheimischer fallen Bismarck und Moltke rechts im Mittelgrund kaum auf. Der preußische König Wilhelm ist, mit bloßem Auge kaum zu erkennen, weit hinten rechts in einer Kutsche abgebildet.

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Abb. 9: Blick in den zweiten Ausstellungsteil  Militärhistorisches Museum / Andrea Ulke 

Abb. 10: Leseraum „Krieg im Kinderzimmer“ im zweiten Ausstellungsteil Bundesregierung / Guido Bergmann 

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Abb. 11: Erinnerungstuch „Gottesdienst am Versöhnungstage im Lager vor Metz. 1870“, monogrammiert GM, Baumwolle, 63,5 x 67,5 cm  Militärhistorisches Museum, Inv.Nr. BBAW0750 / Andrea Ulke  Den Krieg 1870/71 hielten viele Soldaten jüdischen Glaubens für eine Gelegenheit, sich als vollwertiger Teil der deutschen Nation zu beweisen, obwohl es auch Bedenken gab, gegen Frankreich in den Krieg zu ziehen. Denn es hatte als erstes europäisches Land Jüdinnen und Juden volle Bürgerrechte gewährt. Unter der Überschrift „Haben wir nicht Alle einen Vater? Hat uns nicht Alle ein Gott geschaffen?“ zeigt dieses Tuch eine Jom-Kippur-Feier deutscher Belagerungstruppen vor Metz. Es ist weniger Tatsachenbericht als Ausdruck des Wunsches nach Integration. Eventuell war ursprünglich eine Feier unter freiem Himmel mit fast 1.200 Teilnehmern geplant. Stattfinden konnten unter den Kriegsbedingungen aber wohl lediglich drei Gottessdienste, die der eigens angereiste Rabbiner Dr. Blumenstein am 4./5. Oktober 1870 mit rund 60 Teilnehmern in zwei Räumen eines Privathauses in St. Barbe abhielt. (Vgl. Bauer / Protte / Wagner (Hrsg.) (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 203, 377–���;���������������������������������; Krüger (2006): „Sind wir denn nicht Brüder?“, S. 113–���;�������������������������������������������

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Abb. 12:  Wilfrid­Constant Beauquesne  (1847–1913): Pax Morientibus!,  Öl auf Leinwand, 46 × 32,5 cm  Bayerisches Armeemuseum  Ingolstadt / Andrea Ulke  Das Gemälde zeigt eine französische Ordensschwester, die den eindringenden Preußen ein Kreuz entgegenreckt. Der Krieg 1870/71 wurde zum Kampf des katholischen Frankreichs gegen das protestantische Preußen stilisiert – ungeachtet der mehrheitlich katholischen süddeutschen Verbündeten und der Abgrenzung vieler französischer Republikaner gegen den Einfluss der katholischen Kirche. (Vgl. Bauer / Protte / Wagner (Hrsg.) (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 200–202.)

Abb. 13: Von der Polizei am 28./29. Septem­ ber 1881 aufgefundenes judenfeindliches   Agitationsmaterial aus einer Akte des   Königlichen Polizeipräsidiums, Berlin,   zur „Judenfrage“, 1881–1883  Landesarchiv Berlin,  A. Pr. Br. Rep. 030 15223, S. 30 Deutsche jüdischen Glaubens hatten nach der Gleichstellung der Konfessionen im Norddeutschen Bund 1869 und im Deutschen Reich zwar meist nicht mehr mit rechtlichen Benachteiligungen zu kämpfen. Sie sahen sich aber seit der Wirtschaftskrise 1873 wieder vermehrt Anfeindungen ausgesetzt, die zunehmend rassistisch motiviert waren. (Vgl. Bauer / Protte / Wagner (Hrsg.) (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 377–378. Diesen Archivfund verdanken wir Eva Langhals, Potsdam.)

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Abb. 14: Aus: Das Kaiser­Bilderbuch, mit Reimversen von Dr. Hermann Hoffmeister,  2. verbesserte Aufl., Leipzig (erstmals 1877) Militärhistorisches Museum, FISt 00 120 238 750  In Deutschland waren die französischen Kolonialtruppen oft Motiv rassistischer Propaganda.

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Abb. 15: Aus: Paul Déroulède: Monsieur le Hulan et Les Trois Couleurs. Conte de Noël,  illustrations de Kauffmann, Paris 1884  Militärhistorisches Museum, FISt 00 121 040 750  In diesem Bilderbuch schlägt ein Ulanenoffizier elsässischen Kindern die Köpfe ab und nur durch einen Weihnachtszauber werden diese am Ende wieder zum Leben erweckt. In Frankreich verkörperte besonders der Ulan das Bild des grausamen Deutschen. Die mit langen Lanzen ausgerüstete leichte Kavallerie kam als Vorhut oft zuerst in eine Ortschaft und wirkte mit ihren für französische Verhältnisse großen Pferden besonders furchteinflößend. (Vgl. Bauer / Protte / Wagner (Hrsg.) (2020): KRIEG MACHT NATION, S. 208–211.)

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Abb. 16: Kartätschkugel, Erinnerungsstück des Messer­ schmieds David Reuschle an die  Berliner Märzrevolution 1848  Museum für Stadtgeschichte  Templin / Andrea Ulke 

Abb. 17: Wilhelm I. (1797–1888), Carte­de­Visite­Fotografie,   1860er Jahre, 8,8 x 5,6 cm  Militärhistorisches Museum,  BBAM8627 

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Abb. 18: Ausstellungseinheit zum Kriegerverein Feldzugs-Batterie „Leo“ 1870/71 mit Reservistenkrüge­Vitrine im Hintergrund  Militärhistorisches Museum / Tilo Meissner 

Abb. 19:  Fotografien des  Kriegervereins  Feldzugs-Batterie „Leo“ 1870/71 aus dem Kölnischen  Stadtmuseum  Rheinisches  Bildarchiv,  Patrick Schwarz /  Katja Protte 

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Abb. 20: Figurensilhouette zur Offizierstochter   Alexandrine Gravelotte von Rosen (1870–1946)  Familienarchiv von Rosen, Hamburg / Thomas Ebersbach 

Abb. 21: Armreif mit Eisernem Kreuz des Großvaters, den Alexandrine Gravelotte  von Rosen 1887 zur Konfirmation geschenkt bekam  Familienarchiv von Rosen, Hamburg / Andrea Ulke 

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Abb. 22–24: Reaktionen von Ausstellungsbesuchenden auf die Frage „Was wünschen Sie sich, was wünschst Du Dir für Deutschlands Zukunft?“ Militärhistorisches Museum

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DAS DEUTSCHE KOLONIALREICH NACH 1918 Trauma, Glorifizierung, Vergessen und spätes Erinnern1 Ulf Morgenstern 1.KURZ, ABER NICHT SCHMERZLOS: DEUTSCHLAND ALS KOLONIALMACHT (1884–1914/19) Wer von Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert spricht, darf über die Kolonialgeschichte nicht schweigen. So kann eine Erkenntnis lauten, zu der man seit einigen Jahren nach dem Blick in die Feuilletons und in einen stetig wachsenden Teil der historischen Fachliteratur kommen kann. Was ist daran neu? Lange Zeit gehörte das globale Wirtschaften von deutschen Unternehmern und die diesen Verflechtungen folgende überseeische Expansion des Kaiserreichs nur als Fußnote zu den um den ersten deutschen Nationalstaat gestrickten Narrativen. In unterschiedlicher Gewichtung dominierten dabei vielmehr die Schlagworte von nationaler Einigung, beginnender Parlamentarisierung, Rechts- und / oder Obrigkeitsstaat, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Dynamik, Klassengesellschaft und Minderheitenunterdrückung, Föderalismus und Mobilität, Emanzipation und Reformpädagogik, Militarismus und Medienmacht, Chauvinismus und jähem Ende nach der Kriegsniederlage im November 1918.2 Zu diesen um die innere Entwicklung Deutschlands kreisenden Themen kam im Rückblick auf die deutsche Außen-, sprich: die europäische Bündnispolitik, auch das mit Bernhard von Bülows Forderung nach einem „Platz an der Sonne“ und der Hunnenrede Wilhelms II. verbundene Feld des Hochimperialismus und einer aggressiven Weltpolitik hinzu. Im Verhältnis zu den Kolonialreichen Großbritanniens und Frankreichs, aber auch denen der Niederlande und Belgiens oder den alten Imperien Spaniens oder

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Der Beitrag nimmt Anleihen bei einem früheren Text, vgl. Morgenstern (2018): Die nächste große Debatte? S. 99–103. Auch in dieser erweiterten Form kann er das gestellte Thema nur anreißen und auf Desiderate verweisen. Die Dissertation von Bürger (2017): Deutsche Kolonialgeschichte(n), zeigt, wieviel Forschungsfragen zum Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte nach dem Ende des deutschen Kolonialreichs noch im Umfang von Monographien zu bearbeiten sind. Den Gang der Forschung der letzten Jahrzehnte sowie die Akzentuierungen der jüngsten Zeit zeichnet die Einleitung eines insgesamt als anregend und stimmig zu bezeichnenden Sammelbands nach. Vgl. Aschmann (2019): „Das Säkulum der Widersprüche“, S. 7–28.

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Portugals wirkte der deutsche Drang nach Weltgeltung allerdings seltsam bemüht.3 Die zunächst Schutzgebiete genannten Kolonien lagen über den Globus verstreut, hatten im Vergleich eher überschaubaren Umfang und waren von 1884 bis 1914/18 auch nur während dreier Jahrzehnte im Besitz des Deutschen Reichs.4 Man konnte beim Gang durch das an Katastrophen reiche 20. Jahrhundert tatsächlich zu dem Eindruck kommen, als ob Bismarcks kategorische Antwort an einen um mehr Engagement im nordafrikanischen Grenzgebiet zwischen französischen und britischen Einflusssphären bittenden Kolonialenthusiasten der Wahrheit entsprochen und danach Geltung behalten hätte: ‚Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Rußland, und hier‘ – nach links deutend ‚liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte, das ist meine Karte von Afrika.‘5

Diese Selbstzuschreibung einer durch diplomatische Notwendigkeiten in Europa im Wesentlichen auf die Jahre 1884/85 begrenzten Bismarckschen Kolonialpolitik6 setzte sich aus unterschiedlichen Gründen in der kollektiven Erinnerung der Deutschen durch. Aber sie stimmte im Grunde weder an jenem frostkalten 5. Dezember 1888, als Bismarck sie in Betonung der Bedeutung des europäischen Mächtegleichgewichts gegenüber dem weltreisenden Journalisten Eugen Wolf bei einer Kutschfahrt im norddeutschen Schnee formulierte, noch in den Jahren nach seiner Regierungszeit. Bereits als Gastgeber der Berliner Afrika-Konferenz hatte Bismarck 1884/857 nicht unerheblichen Einfluss auf die Verteilung von Interessensphären der Kolonialmächte genommen, und auch in seinen verbleibenden Regierungsjahren blieb er dauerhaft mit kolonialpolitischen Themen befasst, die sich vielfach nicht mehr von der europäischen Außenpolitik klassischen Stils trennen ließen. Das galt noch mehr für die Nachfolger Bismarcks – zu denken ist etwa an den mühelos die Kontinente überwindenden „Tausch“ Sansibars gegen Helgoland8 im Juli 1890. Neben überseeischen Gebietserweiterungen, blutigen Kolonialkriegen mit Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und einer aberwitzigen Verlängerung der Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs9 von Europa nach Ostafrika war das Deutsche Reich in fast jede Facette des gemeinsamen kolonialen Projekts des Westens verstrickt10 (wobei der ältere Binnenkolonialismus des Osmanischen Reiches sowie der jüngere in den Vereinigten Staaten von Amerika und auch der des Zaren-

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Berman (2003): Der ewige Zweite, S. 19–34. Ähnlich auch Blom (2009): Der taumelnde Kontinent. S. 143–145. 4 Vgl. einführend Gründer (2018): Geschichte der deutschen Kolonien; Speitkamp (2005): Deutsche Kolonialgeschichte; und van Laak (2005): Über alles in der Welt. 5 Wolf (1904): Vom Fürsten Bismarck, S. 7. Abdruck auch bei Andreas (1926): Bismarck. Gesammelte Werke, S. 644–647, Zitat S. 646. 6 Bührer (2016): Bismarck, S. 238–265. 7 Eckert (2013): Die Berliner Afrika-Konferenz, S. 137–149. 8 Rüger (2017): Helgoland. 9 Kuß (2010): Deutsches Militär; Bührer (2011): Die Kaiserliche Schutztruppe. 10 Zimmerer (2015): Colonialism and Genocide, S. 433–451.

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reichs nicht vergessen werden sollte). Allerdings war das Kaiserreich formell ein „Latecomer“.11 Die lautstarke Kolonialpropaganda von Lobbyverbänden schaffte es nicht, die gewünschten Siedlerströme nach Deutsch-Ostafrika, Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika oder an die asiatischen Spots zu locken12 – die Auswanderung kannte fast nur die Richtung über den Atlantik in die USA oder in die Nationalstaaten Südamerikas. Das lag auch daran, dass das Reich trotz stetig wachsender Kosten noch immer weniger in seine koloniale Infrastruktur investierte, als mancher Enthusiast es sich erträumte. Die deutschen Kolonien blieben als Projektionsflächen der imperialistisch gestimmten Metropolen daher vor allem „Phantasiereiche“13, allein das kleine Togo war am Ende kein Zuschussgeschäft mehr. Dennoch sollte die tatsächliche Bedeutung der deutschen Kolonien nicht unterschätzt werden, die jeweiligen indigenen Bevölkerungsschichten konnten im Alltag als Bürger zweiter Klasse oder als Objekt moderner Kriegsführung ein Lied davon singen. Die Deutschen hatten sich binnen weniger Jahre bereitwillig an der „Unterwerfung der Welt“14 beteiligt, und sie hofften in den Friedensjahren des Kaiserreichs – bis auf wenige linksliberale oder sozialdemokratische Gegner – auf ein stetiges Wachstum bei Landesausbau, Zivilisationsmission und diesbezüglichen Prestiges im Kreis der etablierten Imperialmächte. Einige Unternehmer machten über Jahrzehnte erkleckliche Gewinne, zu denken ist etwa an Hamburger und Bremer Reedereien oder an Baukonzerne, die Aufträge für Häfen, Straßen und Eisenbahnen verbuchten. Was noch wichtiger war als der Wunsch nach Prosperität der deutschen Überseeterritorien als Absatzmärkte und Rohstofflieferanten, war die chronologische und geografische Überschreitung dieses Rahmens. Deutsche hatten nicht nur lange vor 1884 in Übersee gelebt und Waren und Rohstoffe von dort nach Europa, Amerika und Asien im- und von dort exportiert. Sie taten es auch nach der Abtretung der deutschen Kolonien im Versailler Vertrag und zwar mit der wirtschaftlichen Selbstbedienungsmentalität und Überzeugung von der eigenen zivilisatorischen Sendung der übrigen Kolonialmächte. Geografisch waren den Ansiedlungsideen von deutschen Auswanderern und den Aktivitäten deutscher Unternehmer, Missionare und Forschungsreisender kaum Grenzen gesetzt – ob in den Kolonien anderer Mächte oder in völkerrechtlich anerkannten Staaten, überall finden sich deutsche Handelsniederlassungen und Siedlungen, gern „Colonien“ genannt. Diese kulturelle und sprachliche Vielfalt endete erst, als im Zuge des Ersten Weltkriegs in den Kolonialgebieten der Alliierten deutsche Ortsnamen verschwanden, Schulen ge-

11 Zeller (2007): Germany: The Latecomer, S. 238–253. 12 Die demographische Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit behandelt ausführlich Kundrus (2003): Moderne Imperialisten, S. 43–137. 13 Kundrus (2003): Phantasiereiche. 14 Reinhard (2016): Die Unterwerfung der Welt.

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schlossen wurden und die deutschen Communities zur Assimilation oder erneuten Auswanderung gezwungen wurden.15 2. PHANTOMSCHMERZEN: KOLONIALREVISIONISMUS IN DER WEIMARER REPUBLIK Man muss sich den vielfältigen Austausch und das globale Grundrauschen vorstellen16, um zu verstehen, welchen Schock das Ende des Kolonialreichs auslöste, als die Siegermächte dem Deutschen Reich 1919 die Unfähigkeit als Kolonialmacht ins Stammbuch schrieben. Im Versailler Vertrag wurde zwar nur die Alleinschuld des Deutschen Reichs am Kriegsausbruch und das Abtreten seiner afrikanischen und asiatischen Kolonien festgeschrieben, aber auch die Feststellung des deutschen Scheiterns als Kolonialmacht fand über die empörte politische Publizistik den Weg in die Köpfe – in denen sie sich als Legende von der Anmaßung der Pariser und Londoner Kolonialherren festsetzte. Der Kolonialrevisionismus der Zwischenkriegszeit und die mythisierenden Inszenierungen und Redensarten von treuen Askaris17, die auch noch in der Bundesrepublik im Umlauf waren, verfestigten dieses Zerrbild eines „sauberen“ deutschen Kolonialismus.18 Historiker mit Schwerpunkten in der Global-, Imperial-, Kolonial- und Genozidgeschichte beklagen längst die unkritische Haltung ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger etwa bei der NamibiaNostalgie im Reisebüro oder dem Kitsch des Kolonialretrostils in Möbelhäusern des mittleren Preissegments. Allerdings blieben diese Monita in Deutschland lange auf den akademischen Elfenbeinturm beschränkt. Diese Wirkungseinschränkung wissenschaftlicher Erkenntnis in der Öffentlichkeit gilt auch für Forschungen über den Kolonialismus der Zwischenkriegszeit. Inzwischen ist in einer Reihe von Studien nachgewiesen, dass nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der damit einhergehenden nochmaligen Ausdehnung britischer und französischer Einfluss- und Herrschaftsgebiete nicht nur der koloniale Machtanspruch des weißen Europas erst zwischen den beiden Weltkriegen seinen Höhepunkt erreichte19, sondern dass auch die Kolonialbegeisterung der Deutschen erst durch den diesbezüglichen Phantomschmerz in den Jahren der Weimarer Republik und des Dritten Reiches auf einen solchen zusteuerte. Das Ende des formalen Kolonialismus bedeutete hier wie anderswo während der Weimarer Republik nicht das Ende der per se noch immer asymmetrischen 15 Vgl. pars pro toto den Band über die internierten Deutsch-Australier auf der Adelaide vorgelagerten Torrens-Halbinsel von Monteath (2014): Interned, den Sammelband von Raab / Wirrer (2007): Die deutsche Präsenz, bzw. die Studien von Mark (2012): Im Schatten, und ders. (2013), Krieg an fernen Fronten, und Fuhrmann (2006): Der Traum. 16 Conrad (2006): Globalisierung und Nation. 17 Waz (2005): Heia Safari!, S. 187–203 18 Mühlhahn (2017): The Cultural Legacy. 19 Das Konzept des „Imperial Overstretch“ entstammt bereits aus dem berühmten Buch von Paul Kennedy (1987): The rise and fall.

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kolonialen Kontakte Einzelner20 oder des kolonialen Engagements und Interesses der Wirtschaft (im Rahmen einer generellen globalen Vernetzung), auch wenn – je länger, je mehr – die Wiedererrichtung des kaiserzeitlichen deutschen Kolonialreichs spätestens im Dritten Reich anderen expansionistischen Denkwelten Platz machte.21 Neuere Forschungen haben gezeigt, wie sehr das zur Republik gewordene Deutsche Reich bald wieder mit der Welt verwoben war: Der erstarkende Nationalismus und die globale Verflochtenheit waren wie zuvor im Kaiserreich zwei Seiten einer Medaille.22 Und auch kolonialistische Machtansprüche gehörten zum Selbstverständnis des nach der Rückgewinnung des verlorenen Großmachtstatus strebenden größten Industriestaats Europas.23 Reihenweise wurden Denkmäler errichtet, deren Botschaft – die Trauer über den Verlust des einstiges Prestiges – noch dem Letzten aufging (pars pro toto 1924 am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, 1930 in Weimar auf dem Bismarckplatz oder 1932 in Bremen). Außerhalb der politischen Sphäre hielten Völkerschauen (etwa jene von „Lippen-Negern“ 1930 im Leipziger Zoo) sowie Thematisierungen in Presse und Film die Erinnerung an die deutschen Kolonien publizistisch aufrecht und sorgten für eine stetige Wiederholung kolonialer Motive, auch wenn die zu Mandatsgebieten der Alliierten gewordenen Überseegebiete noch ferner schienen als vor 1918.24 Und selbstverständlich blieb auch die deutsche Wirtschaft weltweit vernetzt, die Verbraucher kauften weiterhin im Kolonialwarenladen und wer (wie einige ab der Mitte der 1920er Jahre zurückgekehrte landwirtschaftliche Unternehmer) nach Afrika reisen wollte, konnte seine Fahrt auf den für die Deutsche Ost-Afrika Linie bzw. für die Woermann-Linie fahrenden Passagierschiffen Ussukuma, Usamaro, Wangoni, Usambara, Wahehe, Wadai, Njassa und Tanganjika antreten – acht zwischen 1920 und 1924 gebauten und nach Landschaften und Volksstämmen in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika bzw. im Tschad und Malawi benannten Ozeandampfern; auch eine Adolph Woermann fehlte nicht.

20 Kundrus (2020): S. 89–106, vgl. dort den Überblick weiterführender Literatur S. 91, Anm. 4. 21 Vgl. zum Wandel kolonialistischer Vorstellungen Lewerenz (2006): Die Deutsche AfrikaSchau, und den Sammelband von Krobb / Martin (2014): Weimar Colonialism. Und in umgekehrter Perspektive Wagner (2016): Non-European Perspectives, S. 56–72. 22 Einen aktuellen Forschungsüberblick bietet Lingelbach (2020): Globalgeschichtliche Perspektiven, S. 23–49. Besonders verwiesen sei auf zwei neuere Sammelbände Cornelißen / van Laak u.a. (2020): Weimar und die Welt, und Braune / Dreyer (2020): Weimar und globaler politischer Wandel. 23 S. dazu zuletzt Hesse (2020): Die globale Verflechtung, S. 347–377. 24 Bischoff (2018): The goddess, S. 63–85; Struck (2010): Die Eroberung; Kundrus (2020): Nach Versailles. S. 89–106.

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3. KONTINENTALE KOMPENSATION: KOLONIALREVISIONISMUS IM DRITTEN REICH In den Vorstellungen weiter Bevölkerungskreise verlor nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten die Ablehnung der die Abtretung der deutschen Kolonien behandelnden Artikel 118 bis 158 des Versailler Vertrages jene Züge ostentativer Zurückweisung, die sie in den 1920er Jahren gehabt hatte. Sie war weniger akut als kurz nach dem verlorenen Krieg25 und wurde als Gegenstand einer breiten kolonialrevisionistischen Publizistik26 wie auch als Teil eines umfassenderen Revisionismus ins Allgemeine gekehrt. Das bedeutet nicht, dass das Beharren auf der Wiedererrichtung des deutschen Kolonialreichs nachließ. Hitler selbst und das parteiamtliche Schrifttum sind diesbezüglich eindeutige Quellen.27 Motive überseeischer Herrschaft und Siedlung schwangen in der NS-Propaganda weiterhin mit,28 und diese griff immer die als geläufig angenommenen Bilder vom Kolonialreich des Wilhelminismus und seiner Wurzeln in der Bismarckzeit wiederholt auf. Sinnbild des populären Kolonialrevisionismus der NS-Zeit waren Abenteuerromane und Sammelalben mit Zigarettenbildern.29 Kolonialausstellungen lockten überall in Deutschland ein an Exotismen interessiertes Publikum (u.a. 1934 in Köln, 1935 in Freiburg und 1939 in Dresden). Das Regime benutzte revisionistische Grundstimmungen – etwa durch Denkmalsaufstellungen für Carl Peters in Hannover 1935 oder in der propagandistisch aufwendig inszenierten Schiffstaufe des Dampfers „Windhuk“ im August 193630 – und band sie etwa in Form des seit 1936 alle eigenständigen Verbände zusammenführenden Reichskolonialbundes in die eigene Politik ein. Formelle Selbstständigkeit erkaufte sich dieser Dachverband durch bedingungslose Unterordnung unter die Vorgaben der NS-Propaganda und -politik. Als diese nach dem Überfall auf die Sowjetunion ganz andere Kolonialpläne umzusetzen begann, wurde der mehr als zwei Millionen Mitglieder zählende Reichskolonialbund im Februar 1943 sang- und klanglos aufgelöst.

25 Vgl. u.a. Berger (1938): Kampf um Afrika. 26 Wenig analytisch, als Überblick aber nützlich ist Schöfert (2013): Der Reichskolonialbund. 27 Vgl. etwa Student (1941): Bismarcks Kolonialerwerb, S. 8–11. Die Forderung nach der Rückgabe der ehemaligen überseeischen Kolonien wurde stärker in andere expansionistische Planungen (und nach 1939: Durchführungen!) integriert und verlor damit die singuläre Schärfe der Weimarer Jahre. Grundlegend dazu noch immer Hildebrand (1969): Vom Reich zum Weltreich. 28 Vgl. dazu im Detail Linne (2008): Deutschland jenseits des Äquators? 29 Eine aufwendige Ausnahme ist diesbezüglich die wahrscheinlich detaillierteste Würdigung der Anfänge der deutschen Kolonialpolitik, die der 1943 bereits ins Abseits der Macht driftende ideologische Chefhistoriker des Dritten Reiches vorlegte. Frank (1943): Carl Peters. 30 Der Hamburger Stapellauf vom 27. August 1936 ist u.a. abgebildet in dem um Harmonisierung zwischen dem kolonialpolitischen Amt der NSDAP, dem Reichskolonialbund und dem Kolonialkriegerbund bemühten Sammelband von Schnee (1937): Das Buch der deutschen Kolonien, S. 18.

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Zuvor wurden freilich noch andere Töne angeschlagen. Am Jahresende 1941 wurde den Siegen Rommels in fadenscheiniger Anspielung eine historische Legitimation zugeschrieben: „Deutschland ist mit einer guten Vorhut schon auf afrikanischem Boden. Damit für uns alle wieder der Blick frei wird zu den ewig grünen, jungfräulichen Wäldern am Kilimandscharo, an den brandungsweißen Küsten von Kamerun und Togo, dafür liegen in würdigen Gräbern feierlich bestattet, unter dem Kreuz mit dem Tropen- oder Stahlhelm vor Tobruk und hinter Sollum unsere Gefallenen.“31 4. LEGENDE MIT BEGRENZTER REICHWEITE: KOLONIALE ERINNERUNG(EN) NACH 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich ein widersprüchliches Bild. Einerseits wandte sich die Mehrheit der Deutschen mit zunehmendem Desinteresse von der Kolonialgeschichte ab, die in Form von Denkmälern und Straßennamen im öffentlichen Raum gleichsam zu einem folkloristischen Bestandteil des allgemeinen Ehrregimes der Nation aus Monarchen, Generälen, Dichtern und Komponisten wurde. Einige „alte Afrikaner“ bemächtigten sich hingegen erneut des Themas und griffen im Kontrast zu den Verbrechen des Dritten Reiches den Mythos von der vermeintlich sauberen deutschen Kolonialgeschichte wieder auf. Afrika-Veteranen genossen in diesen Kreisen hohes Ansehen und noch 1955 wurde ein in der NSZeit für das Düsseldorfer Rheinufer geplantes Denkmal zu Ehren Paul von LettowVorbecks im östlich von Hamburg gelegenen Aumühle eingeweiht – mit dem in Deutsch-Ostafrika geborenen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten KaiUwe von Hassel als Festredner.32 Die in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft noch lange eingängige, nationale und großmachtpolitische Aufladung des letzten Wohnsitzes Bismarcks lockte bald nach dem Krieg wieder Zehntausende in den Sachsenwald. Und aus dem dabei formulierten, übergreifenden Deutschlandnarrativ, das durch die Teilung des Landes wie unter Phantomschmerz zu einer neuen inhaltlichen Verhandlung herausforderte, destillierten Gruppen mit einem Interesse an der über die europäischen Grenzen der deutschen Vergangenheit hinausgehenden Bismarck-Erzählung noch bzw. wieder ein kolonialgeschichtliches Scharnier in ihre von Verunsicherungen gekennzeichnete Gegenwart. Dieser implizit-explizit überseeische Geschichtsgebrauch des Waldfleckens zwischen Hamburg und der „Zonengrenze“ war denn auch das Hauptmotiv der Metaphern-beladenen Rede von Hassels. Otto II. von Bismarck, ältester Enkelsohn Otto von Bismarcks und seit 1953 CDUBundestagsabgeordneter, hatte seinen Parteikollegen von Hassel eingeladen und dieser führte aus:

31 Estermann (1941): Meister der Wüste, S. 179. Zur propagandistischen Gleichsetzung Rommels und Lettow-Vorbecks s. Kuß (2016), Die Erinnerungskultur, S. 233–251. 32 Vgl. Morgenstern (2021): Globalgeschichte unter Buchenwipfeln.

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Ulf Morgenstern Hier im Sachsenwald unweit der Gedenkstätte des Altreichskanzlers Otto von Bismarck zu stehen, ist für jeden, der sich den Sinn für die Bedeutung und die Größe preußischer und deutscher Geschichte bewahrt hat, immer wieder ein Erlebnis eigener Art. […] Heute vollendet sich das erste Jahrzehnt seit jener schmerzlichsten Stunde der deutschen Geschichte, da Deutschland, das Bismarck schuf, zerbrach. […] Wir sind versammelt […] zu einer Stunde des Gedenkens an Otto von Bismarck, der vor 70 Jahren die ersten deutschen Kolonien schuf, der 1884 deutschen Kaufleuten, die in West- und Südwestafrika rechtmäßig Land erworben und Niederlassungen gegründet hatten, den Schutz durch das Deutsche Reich garantierte.33

Das Datum der Veranstaltung, der 8. Mai 1955, war in seiner Symbolkraft einleuchtend. So scheint es. Allerdings schreibt man damit den bis zu 500 „alten Afrikanern“ und ihren nationalkonservativen Kameraden aus befreundeten Bünden und Vereinigungen ein nationalstaatlich und zeitgeschichtlich abgeklärtes Bewusstsein zu, über das sie vermutlich die Stirn gerunzelt hätten. Auch und gerade für sie war die zehnte Wiederkehr der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches ein wehmütiger Moment, der kaum geeignet war, um bei einer feierlichen Zusammenkunft als Jubiläum der tiefsten Niederlage begangen zu werden.34 Stattdessen holten die Anwesenden bei wahrscheinlicherem Frühlingswetter den bereits Ende März verstrichenen 85. Geburtstag des bei den Deutschen wie den britischen Besatzern wohlgelittenen Paul von Lettow-Vorbeck nach. Eckard Michels bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt, Lettow-Vorbeck sei in der jungen Bundesrepublik kein „Dinosaurier“ aus einem fernen Zeitalter gewesen: „Er wurde vielmehr […] unkritisch als ein Vorbild von Vaterlandsliebe, Pflichterfüllung, Ehrenhaftigkeit, Opferbereitschaft, professioneller Kompetenz, Weltläufigkeit und Menschlichkeit dargestellt.“35 Der agile Greis hatte sich mit der Initiative zu der Denkmalsaufstellung selbst ein pompöses Geschenk gemacht, verpasste dann allerdings die Einweihung, da er sich einer Augenoperation unterziehen musste.36 Die ausgefallene Ehrung konnte Lettow-Vorbeck fünf Jahre später nachholen, als sein 90. Geburtstag im Curio-Haus in Hamburg abermals in Anwesenheit von Kai-Uwe von Hassel und des Herzogs Adolf Friedrich von Mecklenburg, des letzten Gouverneurs von Togo, gefeiert wurde. Vertreter der Stadt und der Bundeswehr sowie zahlreiche „alte Afrikaner“ nahmen an dem Bankett teil; schriftlich gratulierte Bundespräsident Lübke ebenso wie Bundeskanzler Adenauer und Verteidigungsminister Strauß.37

33 Hassel [1997]: Das Ostafrika-Schutztruppendenkmal, S. 23. Vgl. dazu und zur Rede von Hassels bei der Beisetzung Lettow-Vorbecks 1964 Schulte-Varendorff (2006): Kolonialheld für Kaiser und Führer, S. 124–127. 34 Über den Eindruck der drei Tage zuvor geschlossenen Pariser Verträge, die für die Bundesrepublik die Aufhebung des Besatzungsstatus, weitgehende Souveränität sowie den Beitritt zur Nato und der Westeuropäischen Union brachten, auf die in Aumühle im Geiste der kaiserzeitlichen Imperialmacht Versammelten kann nur spekuliert werden. 35 Michels (2008): „Der Held von Deutsch-Ostafrika.“, S. 336. 36 Hamburger Anzeiger vom 9. Mai 1955. 37 Michels (2008): „Der Held von Deutsch-Ostafrika.“, S. 344.

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Abb.1: Deutsch-Ostafrika-Ehrenmal in Aumühle bei Hamburg (Foto: Natalie Wohlleben).

Zurück in den Mai 1955: Die Enttäuschung über diese Verhinderung dürfte bei den Anwesenden ebenso groß gewesen sein wie bei Lettow-Vorbeck selbst.38 Denn dieser hatte die Aufstellung des ursprünglich in den 1930er Jahren von Düsseldorfer Kolonialrevisionisten für das dortige Rheinufer in Auftrag gegebenen Denkmals von langer Hand geplant und mit der Witwe des Bildhauers Walter von Ruckteschell das mögliche Terrain bereits im November 1953 besichtigt. Walther von Ruckteschell (1882–1941), Maler, Graphiker und Bildhauer, hatte im Ersten Weltkrieg in der Schutztruppe unter dem Kommando Lettow-Vorbecks gedient. Danach trat er mit Mappenwerken über dieses Thema hervor.39 1936 schuf Ruckteschell für die Ehrenhalle des Olympischen Dorfes bei Döberitz nördlich von Berlin ein Ensemble aus einer Büste und einem Wandrelief einer schreitenden Kriegerformation; ein ähnliches folgte 1939 für die Lettow-Vorbeck-Kaserne in Hamburg Jenfeld. Wenn der öffentliche Raum einer Großstadt nach 1945 nicht mehr in Frage kam, dann musste eine Alternative auf privatem Grund gesucht werden. Otto II. von Bismarck stellte ein repräsentatives Grundstück am westlichen Rand des Sachsenwal-

38 Vgl. dazu Michels (2013): Paul von Lettow-Vorbeck, S. 373–386, wo neben zahlreichen Benennungen von Bundeswehr-Kasernen und der Verleihung der Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt Saarlouis (1956!) auch eine mehrmonatige, von der „Deutschen Illustrierten“ bezahlte Afrikareise Lettow-Vorbecks im Jahr 1953 erwähnt wird, S. 376. 39 Vgl. dazu das kolonialrevisionistisch notorische Buch Lettow-Vorbeck (1920): „Heia Safari!

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Abb. 2: Veranstaltungsprospekt 1955 (Lothar Neinass, Aumühle).

des neben dem Freisitz des Aumühler Ausflugslokals „Waldesruh am See“ zur Verfügung.40 Andere Kosten entstanden dem Fürsten zunächst nicht, denn den Transport des Denkmals von Dachau nach Aumühle übernahm die Frankfurter Philipp Holzmann AG, die in Deutsch-Ostafrika die Eisenbahnprojekte der Jahre 1905 bis 1914 verantwortet hatte. Später waren sich die Gemeinde Aumühle und die Bismarcksche Verwaltung uneinig in Bezug auf die Reinigung.41 Dabei ging der Erbe des Sachsenwaldes geschickt auf den Wunsch der Afrika-Veteranen ein, ohne sich durch eine Platzierung des in seiner Darstellung an Eindeutigkeit nicht zu überbietenden Denkmals in seinem Wohnort Friedrichsruh persönlich zu kompromittieren.42 Die allegorische Darstellung Lettow-Vorbecks als anführenden weißen Offizier mit Tropenhelm (ohne spezifische Hoheitszeichen, etwa Schulterstücke eines General-

40 Zeller (1999): Monumente für den Kolonialismus, S. 136. 41 „Wer pflegt das Denkmal?“, in: Hamburger Abendblatt vom 7. April 1963. 42 Wohl wegen seiner in den ausgehenden 1980er Jahren immer weniger zu ignorierenden Problematik ist das Denkmal nicht erwähnt in den die verpachteten „gastronomischen Betriebe“ explizit behandelnden Abschnitten von Opitz (1990): Die Bismarcks, S. 139–142.

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majors) und der ihm dienenden Ostafrikaner konnte einfacher nicht sein. Zeitgenössisch wurde die Personengruppe wie folgt beschrieben: „Das Denkmal zeigt einen stehenden Soldaten der damaligen Schutztruppe, daneben zeigend einen Askari, einen Neger, der in der Schutztruppe gedient hat, und sitzend einen erschöpften Askari.“43 Wenn der Einweihung des Aumühler Denkmals hier ausführlich nachgegangen worden ist, dann weil es sich bei dieser Feierlichkeit und bei der Beerdigung Lettow-Vorbecks im Jahr 1964, zu der die Bundeswehr Askaris einfliegen ließ, um die beiden letzten Höhepunkte kolonialgeschichtlicher Selbstvergewisserung im öffentlichen Raum handelte. Wie ein bizarrer Ausdruck der gelegentlich überstrapazierten Formulierung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wirkt das ehrenvolle Begräbnis Lettow-Vorbecks vor den Dekolonisationsentwicklungen der 1950er und 1960er Jahre. Zwar wurden die Nationalstaatsgründungen und Bürgerkriege in Afrika und Asien in der Bundesrepublik und der DDR als weltgeschichtlich bedeutende Ereignisse wahrgenommen. Auch dass die Befreiungsbewegungen aufs Engste mit den beiden Lagern des Kalten Krieges verbunden waren, stand den Zeitgenossen im geteilten Deutschland vor Augen – Teile der Wirtschaft in Ost und West verdienten direkt mit an dem auf die Südhalbkugel exportierten Systemkonflikt.44 Aber tatsächlich relevant war die eigene Kolonialgeschichte bald nur noch innerhalb kleiner Kreise. Das änderte auch die dreiteilige ARD-Verfilmung von Uwe Timms Roman „Morenga“ nicht, die dem Fernsehpublikum 1985 die Gräuel des in Teilen mit dem Ziel der Vernichtung geführten Krieges gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwest-Afrika (1904–1908) in die Wohnzimmer brachte.45 Ein spätes Beispiel von Kolonialapologetik war eine Rede des bereits zitierten Kai-Uwe von Hassel, der nach seiner Ministerpräsidentenzeit in Kiel Bundesverteidigungs- und Vertriebenenminister, Bundestagspräsident sowie Mitglied des Europarats und des Europaparlaments geworden war.46 Neben dem Engagement für die parlamentarische Demokratisierung und die europäische Integration der Bundesrepublik gehören zu seiner Vita aber auch kolonialistische Reflexe unter interessierten Gleichgesinnten, deren Tonlage nur schwer in das Jahr 1984 zu passen scheint. Vor der „Jahreshauptversammlung des Traditionsverbandes ehemaliger Schutz- und Überseetruppen / Freunde der früheren deutschen Schutzgebiete e.V.“ sprach von Hassel im Haus des Kurgastes zu Bad Lauterberg im Harz am 13. Ok43 Auf „dieses schöne Denkmal deutscher Geschichte“ wies ein nicht nur die Enthüllung falsch datierender Artikel hin. Vgl. „Wieder Afrika-Denkmal“, in: Der Sachsenwald vom 22. März 1955. 44 Heyden (2019): Das gescheiterte Experiment; Schliehe (2016): Deutschlands Hilfe. 45 Timm (1978): Morenga. Die Verfilmung wurde am 13., 17. und 20. März 1985 ausgestrahlt. Siehe dazu auch den Bildband Timm (1981), Deutsche Kolonien, in dessen Vorwort es heißt: „Im öffentlichen Bewußtsein ist die deutsche koloniale Vergangenheit heute – wenn überhaupt – noch immer in der Weise präsent wie vor 1945: Als Legende vom tüchtigen Deutschen, der in Afrika Straßen und Eisenbahnen gebaut und den Schwarzen das Einmaleins beigebracht hat.“, ebd. S. 7. 46 Speich (2001): Kai-Uwe von Hassel.

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tober 1984 über „Europa und Afrika, 1884–1984“. Seine Empörung über die Kritik am deutschen Kolonialismus und der Arbeit seiner Vorfahren, die „Leistungen vollbrachten, die nur der ideologisch gefärbte Besserwisser nicht wahr haben will“, und über den Niedergang Tansanias, wo „Diebstahl […] an der Tagesordnung [sei], Faulheit und Korruption […] die Gesellschaft [durchsetzten und wo] Erbautes verfällt, mit deutscher oder der Hilfe anderer Industriestaaten Geschaffenes […] wieder zugrunde“ gehe, blieb zwar nicht nur auf die Zuhörerschaft begrenzt, sondern wurde in der einschlägigen Vereinsliteratur auch gedruckt.47 Aber über diese sich generationell lichtenden Veteranen hinaus („langanhaltender Beifall“) fanden die Stoßseufzer keine Aufmerksamkeit. Die Deutschen hatten im Alltag der Aufbaugesellschaften in Ost und West andere erinnerungspolitische Prioritäten.48 Dem Sturz des Wissmanndenkmals vor dem Hauptgebäude der Universität Hamburg hatte die Politik der Hansestadt 1967 nur noch einen zögerlichen Versuch der Wiederaufstellung entgegenzusetzen – 1968 brachten ihn Studenten endgültig zu Fall, die Behörden ließen den Dingen ihren Lauf, nennenswerter Widerspruch aus der Stadtgesellschaft blieb aus.49 Das Selbstbild der Deutschen in Bezug auf die Verbindung zur ehemals kolonisierten Welt durchlief bis Ende des 20. Jahrhunderts eine gewisse Entkonkretisierung. Einerseits reduzierte es sich auf anekdotenhafte Redensarten wie in den glättenden Bildern von Hassels, die sich auch in skurril inszenierten Kontakten wie den Besuch des Königs von Tonga widerspiegelten, dem Bundespräsident Carstens im November 1979 ausgerechnet ein Modell jener kaiserlichen Korvette Hertha überreichte, auf der am 1. November 1876 die Vorfahren des Monarchen einen immerwährenden Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich hatten unterschreiben müssen.50 Andererseits sah man sich durchaus auch in der Eigenwahrnehmung als von der Kanonenboot- zur Scheckbuchdiplomatie übergegangene Finanziers einer soliden Entwicklungshilfepolitik51, in Ost und West.52 Der west- und seit 1990 gesamtdeutsche Namibia-Tourismus brachte in positivistischer Selbstgewissheit beide Aspekte zusammen.53

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Hassel [1984]: Europa und Afrika 1884–1984, S. 18f., 32. Vgl. Eckert (2008): Spätkoloniale Herrschaft, S. 3–20. Uhlmann (2007): Das Hamburger Wissmann-Denkmal, S. 281–285. Süddeutsche Zeitung vom 20. November 1979. Vgl. zur Entwicklung in beiden deutschen Staaten Eckert (2015): Westdeutsche Entwicklungszusammenarbeit, S. 27–44, Roos / Seidl (2015): Im „Südwesten“ nichts Neues? S. 182–224. Spanger / Brock (1987): Die beiden deutschen Staaten in der Dritten Welt; Engel / Schleicher (1998); van der Heyden / Benger (2009): Kalter Krieg in Afrika. 52 In der Bundesrepublik wurde der Begriff „Entwicklungshilfe“ ab ungefähr 1960 verwendet. Die DDR sprach hierarchiefreier von „Wirtschaftshilfe“ (gemeint war freilich „antiimperialistische Solidarität“), was seit den 1990er Jahren im wiedervereinigten Deutschland mit dem Begriff „Entwicklungszusammenarbeit“ versucht wird. 53 Schmidt-Lauber (2000): „Liebe Landsleute“, S. 243–254.

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5. NEUZUGANG IM ERINNERUNGSHAUSHALT? DER DEUTSCHE KOLONIALISMUS NACH DER WIEDERVEREINIGUNG Insgesamt ist die deutsche Kolonialgeschichte damit lange Zeit zu einem Randthema geworden. Im Zentrum der kanonisierten Gewissheiten der deutschen Geschichte standen seit den ausgehenden 1960er-Jahren die Verbrechen des „Dritten Reichs“. Daran schließt sich heute das Wissen um die zögerliche Distanzierung sowie späte und mühsame Aufarbeitung an. Bis in die Gegenwart sind Nationalsozialismus und Holocaust ein ständiges Diskursthema. Historische Forschungen und Debatten haben nicht unmaßgeblich zu einer Sensibilisierung in einem breiten öffentlichen Bewusstsein beigetragen. Allerdings beklagen Historiker auch, dass eine zu ausschließliche Fokussierung auf „die besagten 12 Jahre“ (Theodor Heuss) den Blick auf andere Epochen und Themen zu verstellen drohe, und zwar auf solche mit positiver Konnotation (deutsche Demokratiegeschichte seit 1848)54 wie solche mit negativer wie die seit 1990 intensiv erforschte SED-Diktatur.55 Daneben beansprucht seit den 2000er-Jahren auch die Globalgeschichte Deutschlands vor und nach dem Ersten Weltkrieg einen zusehends größeren Raum. Das deutsche Kaiserreich und seine staatlichen Vorläufer wurden und werden von ihr, wenn auch nicht voraussetzungslos und wertfrei, jedoch anders als zuvor in den ideologisch aufgeladenen Debatten um einen deutschen Sonderweg als historisch eigenständige Lemmata im Wörterbuch der deutschen Geschichte betrachtet und nicht mehr auf eine Vorgeschichte des „Dritten Reichs“ reduziert.56 Selbstverständlich kommt aber auch eine entwicklungsoffenere Beschäftigung mit der Zeit des Hochimperialismus nicht an dessen unstrittigen Schattenseiten vorbei. Dazu zählt neben den eklatant ungleichen wirtschaftlichen Hierarchien zwischen Europa und dem globalen Süden auch der formelle Kolonialismus. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Staatsministerin Monika Grütters, stellte bei der Eröffnung eines Symposiums im Deutschen Historischen Museum am 7. Juni 2018 indikativisch fest: „Viel zu lange war die Kolonialzeit ein blinder Fleck in der deutschen Erinnerungskultur.“57 Ob dieser Bewusstseinswandel in Politik, Kultur und Medien im letzten Jahrzehnt stärker durch die atmosphärischen Veränderungen der bundesrepublikanischen Migrationsgesellschaft und die diese begleitenden Konflikte über historische Straßennamen oder durch die erinnerungspolitischen Setzungen alter und neuer

54 Vgl. in jüngster Zeit das Engagement der AG Orte der Demokratiegeschichte (Arbeitsgemeinschaft zur Stärkung unserer demokratischen Wurzeln). https://demokratie-geschichte.de. 55 Neben der Fülle von Einzelforschungen und Arbeiten an den Forschungszentren in München / Berlin (Institut für Zeitgeschichte), Potsdam (Zentrum für Zeithistorische Forschung) und Dresden (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung) werden Forschung und politische Bildungsarbeit zu diesem Thema von einer breiten Gedenkstättenlandschaft und der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur getragen. 56 Große Kracht (2005): Die Fischer-Kontroverse, S. 47–67. 57 Zitiert nach: Bienert (2020): So wird die Geschichte aufgearbeitet.

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Museen geprägt wurde oder vielleicht doch auch durch die historische Forschung58, wird Gegenstand zukünftiger zeithistorischer Studien sein. Der koloniale Boom der Geschichtswissenschaft seit den ausgehenden 1990er Jahren wird als Begleitmusik der postkolonialen Debatten auf jeden Fall einzupreisen sein – zu welchem Grad, ist gegenwärtig noch kaum genau zu bemessen, da einer aufgeregten universitären und medialen Diskussion außerhalb von Teilen migrantischer Milieus in weiten Teilen der Bevölkerung ein wohlmeinendes Desinteresse entgegensteht. Das ändert sich gegenwärtig langsam durch die aller Orten einziehende Provenienzforschung für koloniales Raubgut in Museen, die Einrichtung von Forschungsstellen für (post-)koloniale Geschichtsforschung und etwa den breiten Diskurs über die Ausgestaltung des Berliner Humboldt-Forums. Unkommentierte Straßennamen und Denkmäler, die an Helden nach den Maßstäben der Epoche der weißen Überlegenheit erinnern, empören heute insbesondere Vertreter von zivilgesellschaftlichen Interessengruppen, etwa afrikanisch-stämmige Deutsche. Dass aus diesem Diskursumfeld Forderungen erhoben werden, wonach Begriffe wie Afrikareisender, Entdecker und Missionar in Anführungsstriche gesetzt werden sollten, zeigt, welche Wahrnehmungen und Empfindungen in den Einwanderungsgesellschaften und akademischen Milieus der Großstädte abseits der deutschen Mehrheitswahrnehmung existieren. Die damit verbundenen Aufgeregtheiten sollten in eine sachliche, demokratisch-verhandelte Auseinandersetzung münden.59 Auch wenn für Nicht-Mediziner bei der Entlehnung von diagnostischen Begriffen Vorsicht geboten ist, da sich bei unbedachtem Pathologisieren von gesellschaftlichen Entwicklungen leicht schiefe Metaphern einschleichen, die ihre Autoren als überscharfe Kritiker entlarven, scheint ein durch Jürgen Zimmerer populär gemachtes Sprachbild doch den „Befunden“ zu entsprechen: Die „koloniale Amnesie“60 scheint in Deutschland überwunden. Die Erinnerungen kommen nicht nur wieder, die Bilder des verdrängten Vergangenen finden Eingang in den Erinnerungshaushalt einer grundlegend gewandelten Gesellschaft. Man sollte freilich aufpassen, dass aus dem gelegentlich erhöhten Ruhepuls keine Neurasthenie wird, jener nervöse Epochengrundzug des in seinen Maßlosigkeiten zu Recht inkriminierten Zeitalters des Hochimperialis-

58 Die historische Forschung hat nicht nur eine Reihe von Einzelstudien und Lokaluntersuchungen vorgelegt, vgl. für einen thematischen Überblick etwa die Sammelbände van der Heyden / Zeller (2007): Kolonialismus hierzulande; und Zimmerer (2013): Kein Platz an der Sonne; sie hat auch die Frage aufgeworfen, warum die eigene Zunft die Kolonialgeschichte so lange als randständiges Thema betrachtet hat, s. u.a. Bley (1996): Unerledigte deutsche Kolonialgeschichte, S. 317–323; Krüger (2003): Vergessene Kriege, S. 120–137; Eckert (2018): Vergangenheit, die nicht vergehen will, S. 151–161; Eckert (2018): Eine Geschichte von Gedächtnislücken, S. 268–287. 59 Anregend sind in diesem Sinne die Sammelbände Foroutan u.a. (2018): Das Phantom „Rasse“; Brogiato / Röschner (2020): Koloniale Spuren. Zunehmend werden hier auch mehrsprachige Formate veröffentlicht, wie Reyels u.a. (2018): Humboldt Lab Tanzania; oder – didaktisch bemüht schrill – Hopmann / Siegenthaler (2021): HEY, KENNST DU RUDOLF DUALA MANGA BELL? 60 Zimmerer (2015): Kulturgut aus der Kolonialzeit, S. 22–25.

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mus. Schließlich verhandelt die Kolonialgeschichte nichts weniger als die Geschichte der Gegenwart, die unzweifelhaft eine Geschichte der Globalisierung ist. LITERATUR [-]: Hamburger Anzeiger vom 9. Mai 1955. [-]: „Wer pflegt das Denkmal?“, in: Hamburger Abendblatt vom 7. April 1963. [-]: „Wieder Afrika-Denkmal“, in: Der Sachsenwald vom 22. März 1955. [-]: Süddeutsche Zeitung vom 20. November 1979. Andreas, Willy (Hrsg.): Bismarck. Gesammelte Werke, Bd. 8 (= Gespräche, Bd. 2), Berlin 1926. Aschmann, Birgit: „Das Säkulum der Widersprüche“. Das 19. Jahrhundert und der Durchbruch der Moderne? Eine Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Der Durchbruch der Moderne? Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2019, S. 7–28. Berger, Arthur: Kampf um Afrika, Berlin 1938. Berman, Russell A.: Der ewige Zweite. Deutschlands sekundärer Kolonialismus. In: Kundrus, Birthe (Hrsg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 19–34. Bienert, Michael: So wird die Geschichte kolonialer Völkerschauen aufgearbeitet. In: Tagesspiegel vom 10. August 2020. Bischoff, Eva: The goddess and the beast. African-German encounters. In: Fitzpatrick, Matthew P. / Monteath, Peter (Hrsg.): Savage Worlds. German encounters abroad, 1798–1914, Manchester 2018, S. 63–85. Bley, Helmut: Unerledigte deutsche Kolonialgeschichte. In: ders. (Hrsg.): Afrika. Geschichte und Politik. Ausgewählte Beiträge 1967–1992, Berlin 1996, S. 317–323. Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, München 2009. Braune, Andreas / Dreyer, Michael (Hrsg.): Weimar und die Neuordnung der Welt. Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918, Stuttgart 2020. Brogiato, Heinz Peter / Röschner, Matthias: Koloniale Spuren in den Archiven der Leibniz-Gemeinschaft, Halle (Saale) 2020. Bührer, Tanja: Die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Koloniale Sicherheitspolitik und transkulturelle Kriegführung 1885 bis 1918, München 2011. Bührer, Tanja: Bismarck und der Scramble for Africa. Von einer „hybriden Art der Verantwortung“. In: Lappenküper, Ulrich / Urbach, Karina (Hrsg.): Realpolitik für Europa. Bismarcks Weg, Paderborn 2016, S. 238–265. Bürger, Christiane: Deutsche Kolonialgeschichte(n): der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD, Bielefeld 2017. Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006. Cornelißen, Christoph / van Laak, Dirk (Hrsg.): Weimar und die Welt. Globale Verflechtungen der ersten deutschen Republik, Göttingen 2020. Eckert, Andreas: Die Berliner Afrika-Konferenz (1884/85). In: Zimmerer, Jürgen (Hrsg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a. M. / New York 2013, S.137–149. Eckert, Andreas: Spätkoloniale Herrschaft, Dekolonisation und internationale Ordnung. Einführende Bemerkungen. In: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), S. 3–20. Eckert, Andreas: Westdeutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika. Ein Blick auf die 1950er bis 1970er Jahre. In: Gallus, Alexander / Schildt, Axel / Siegfried, Detlef (Hrsg.): Deutsche Zeitgeschichte – Transnational, Göttingen 2015, S. 27–44.

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VOM UMGANG MIT DER REICHSGRÜNDUNG IN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE NACH 1871 Ulrich Lappenküper „Wir stehen heute fest auf dem Fundament der Freiheitsbewegung und der Demokratiegeschichte“, beteuerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 3. Oktober 2020 in seiner Rede zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit – und fügte dann erläuternd hinzu: „Wir berufen uns auf die Ideen des Hambacher Festes, der Paulskirche, der Weimarer Demokratie, des Grundgesetzes und der Friedlichen Revolution“. Vom Kaiserreich war in der präsidialen Aufzählung nicht die Rede, und das Staatsoberhaupt machte auch keinen Hehl daraus, warum: Die deutsche Einheit sei „nach Kriegen mit unseren Nachbarn“ erzwungen worden, anschließend hätten die Regierungen „mit eiserner Hand […] durchregiert“, und nur „ein kurzer Weg“ habe „zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt“.1 Ähnlich düster klingt es im neuen Buch des Marburger Historikers Eckart Conze „Die Schatten des Kaiserreichs“, dessen prägnanter Untertitel „Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe“ schon hinreichend deutlich macht, wie der Autor zum Kaiserreich steht. „Es gibt nichts zu feiern“, heißt es dann unzweideutig im Klappentext. „Das Reich von 1871, es ist vergangen. Das Deutschland der Gegenwart steht nicht in seiner Tradition.“2 Conzes Diktum erinnert an das bekannte Wort Gustav Heinemanns vom „schwierigen Vaterland“ aus dem Jahre 1969, aber auch an den Befund des Schweizer Historikers Walter Hofer, der einem Sammelband zum 100. Jahrestag der Reichsgründung 1971 das Urteil voranstellte: „Zu feiern gibt es nichts; denn das Einigungswerk, das vor hundert Jahren vollbracht wurde, ist seit 25 Jahren zerstört – vertan durch die hybride Politik eines größenwahnsinnigen Diktators, begraben unter den Trümmern des ‚tausendjährigen Reiches‘ eines Adolf Hitler.“3 Doch wir vernehmen aktuell auch andere Stimmen, etwa die des Publizisten Klaus-Jürgen Bremm, der die Reichsgründung in seinem jüngst erschienenen Buch über „70/71“ als „europäischen Glücksfall“ bezeichnet.4 Man könnte also den Eindruck gewinnen, als ob der historischen Zunft, ja der deutschen Öffentlichkeit ein neuer Historikerstreit bevorsteht. Ob er die Forschung trotz aller Entzweiungen so zu befruchten vermag, wie die Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre, oder so wenig

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Steinmeier (2020): Rede zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung; s.a. ders. (2021): Rede zum 150. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches. Conze (2020): Schatten, Klappentext. Hofer (1970): Einleitung, S. 11. Bremm (2019): 70/71, S. 277.

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Erkenntnisgewinn bringen wird, wie der Historikerstreit der 1980er Jahre, ist noch nicht ausgemacht. Deshalb möchte der folgende Aufsatz den Versuch unternehmen, den Umgang mit Reich und Reichsgründung in einem zeitlichen Bogen von 1871 bis heute sine ira et studio neu zu beleuchten. Welche Rolle spielte der als Reich geschaffene Nationalstaat für die historische und politische Selbstverständigung der Deutschen? Und wie sollten wir heute mit dem Erbe von 1871 umgehen? 1. DIE GRÜNDUNG DES KLEINDEUTSCHEN NATIONALSTAATS: ERSEHNT UND GESCHMÄHT „Deutschland? Aber wo liegt es?“, fragte Friedrich Schiller 1796 in seinen berühmten Xenien. „Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“5 Als die Deutschen Schillers Sehnsuchtsort, das „Deutsche Reich“, ein Dreivierteljahrhundert später gefunden hatten, brachen nicht alle in Freudentaumel aus.6 Den großdeutsch und föderalistisch gesinnten Vertretern des politischen Katholizismus missfiel, dass die deutsche Frage kleindeutsch und unitarisch beantwortet zu sein schien, als „unvollendeter Nationalstaat“.7 Bayerische Patrioten und Welfen befürchteten eine Verpreußung. Zentrumspolitiker wie Ludwig Windthorst oder Sozialdemokraten wie August Bebel kritisierten die Nationalstaatsgründung durch Krieg, monierten die Annexionen und bemängelten das politische System. Sogar manchen Nationalliberalen beschlich ein ungutes Gefühl: „Es wäre eine leidige Verkehrung,“ mahnte etwa der Historiker Georg Gottfried Gervinus, „wenn Deutschland die Thätigkeiten eines Culturvolkes für die eines Machtvolkes dahingeben und von Krieg zu Krieg verwickelt werden sollte.“8 Ganz anders äußerte sich sein ebenfalls liberaler Kollege Heinrich von Sybel. „Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben? Was zwanzig Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt!“9 Mit der „Geburt der Nation aus dem Krieg“10, daran kann kein Zweifel bestehen, hatte die jahrzehntealte Frage nach der Einigung Deutschlands 1871 eine delikate Antwort erhalten: im Ausland mit „Mißtrauen“11 beäugt und auch im Innern nicht überall begrüßt. Doch dieser Befund darf nicht die Tatsache verdecken, dass die Reichsgründung nicht nur mit der wohlwollenden Neutralität der Großmächte, sondern auch mit breiter Zustimmung der Deutschen erfolgt war. Schon vier Wochen vor der Kaiserproklamation durch die Bundesfürsten hatte der Reichstag des

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Schiller (1796): Xenien 95. Vgl. jüngst Bendikowski (2020): 1870/71. Schieder (1992): Grundfragen, S. 134. Gervinus (1872): Denkschrift, S. 29. Heinrich von Sybel an Hermann Baumgarten, 27.1.1871, S. 494. Becker (2001): Bilder, S. 292. Reichstagsrede Schultze-Delitzsch, 30.3.1871, S. 55.

Vom Umgang mit der Reichsgründung in der deutschen Geschichte nach 1871

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Norddeutschen Bundes Preußens König Wilhelm I. durch eine Deputation in Versailles die Kaiserkrone andienen lassen. Dem Monarchen gefiel die Nachricht von der Ankunft der Abgeordneten zwar zunächst ganz und gar nicht, weil er den Antrag der Volksvertretung erst nach dem der Fürsten entgegenzunehmen wünschte. Nachdem ihm dann die Meldung von der Zustimmung der Fürsten zur Gründung des Kaiserreichs zugegangen war, nahm Wilhelm I. das ihm am 18. Dezember, notabene vom ehemaligen Präsidenten der Frankfurter Paulskirche, Eduard von Simson, überbrachte Angebot so wohlwollend, ja ergriffen an, dass sein Schwiegersohn Friedrich I. von Baden das Datum zu einem „Ehrentag für Deutschland“ erhob.12 Trotz eines fehlenden Akklamationsaktes „von unten“, vom Volk, war die Reichsgründung also mitnichten nur ein Akt „von oben“! Sie war freilich „nicht alternativlos“13, doch die gegebenen Möglichkeiten hatten sich in den Vorjahren allesamt als realitätsfern erwiesen. Mancher der durch die Gegensätze zwischen Preußen und Süddeutschland, zwischen Demokratie und Aristokratie, Zivilgesellschaft und Militärelite und zwischen den Konfessionen entstandenen Risse im Gebäude der deutschen Einheit sollten mit der Zeit ebenso schwinden wie die Widerstände der Partikularisten.14 2. BÜRDEN DES REICHSGEDANKENS 1871–1918 Mit der verfassungsmäßigen Verankerung der emotional aufgeladenen Begriffe Kaiser und Reich lebte in Deutschlands politischer Semantik nicht nur die alte Kyffhäuser-Sehnsucht der Romantik, sondern auch das Streben der 48er wieder auf. Ungeachtet aller Bemühungen, die Kaiser- und Reichsidee „als föderativen und großdeutschen Schutzschild gegen den kleindeutsch-preußischen Unitarismus“ in Stellung zu bringen15, legte der universale Reichsgedanke dem jungen Nationalstaat eine schwere Bürde in die Wiege. „Wir wollen es nicht verschweigen“, rief der liberale Reichstagsabgeordnete Rudolf von Bennigsen im März 1871 mahnend in Erinnerung, „es hat Zeiten gegeben, […] wo die Deutschen in der Zeit der Kraft des mittelalterlichen deutschen Kaiserthums der Schrecken Europas gewesen sind.“16 Wiewohl dank des Wahlrechts, der Rechtsstaatlichkeit, des Parteienwesens oder der Pressefreiheit demokratische Elemente ins politische System Einzug hielten, wurde der Reichsgründungsakt noch von einem weiteren Faktum überschattet: dem Primat der Einheit gegenüber der Freiheit. Und noch ein weiteres, wenngleich nicht auf Deutschland beschränktes Problem sollte sich im Kaiserreich ausbreiten: Mit dem sich verschärfenden Nationalismus ging seit den 1880er Jahren eine „Wen-

12 Tagebucheintragung Friedrich von Baden, 18.12.1870, S. 260; s.a. Tagebucheintragung Kronprinz Friedrich Wilhelm, 18.12.1870, S. 279; Biefang (2009): Die andere Seite der Macht. 13 Conze (2020): Schatten, S. 23; in identischer Diktion Bendikowski (2020): 1870/71, S. 349. 14 Nonn (2020): 12 Tage, S. 56f. 15 Langewiesche (2000): Reich, Nation und Staat, S. 211. 16 Reichstagsrede Bennigsens, 30.3.1871.

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dung des Reichsgedanken[s] ins Imperiale“17 einher, durch die sowohl die von Wilhelm I. proklamierte Rolle Deutschlands als „zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens“18 als auch Bismarcks Politik der Saturiertheit19 konterkariert wurden. Das dem Reich auferlegte eigentümliche Schicksal, „nicht so sein zu dürfen, wie alle anderen waren, expansionistisch und imperialistisch“20, genügte den Wilhelminern nicht mehr. In einem bewusst an das Zeremoniell der Versailler Kaiserproklamation von 1871 erinnernden Festakt fasste der junge Kaiser Wilhelm II. seine Gedanken 1896 in die stolzen Worte: „Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden.“21 3. DIE BESCHWÖRUNG DES REICHSMYTHOS 1918–1945 Auch wenn die Hohenzollern-Monarchie 1918 ruhmlos unterging, war der Reichsgedanke in Deutschland keineswegs diskreditiert. Indem die Mütter und Väter der Weimarer Verfassung ihn im Text der Konstitution verankerten, ging es um mehr als um die bloße Bewahrung eines „traditionalistisch-historischen Staatsname[ns] für den deutschen Nationalstaat“.22 Neben der in der Gesellschaft fortlebenden Anhänglichkeit gegenüber dem 1806 untergegangenen Alten wie dem 1871 gegründeten Zweiten Reich23 spielte dabei wohl auch die Tatsache eine Rolle, dass mancher Deutsche die Weimarer Republik geradezu als „Antithese“ des Kaiserreichs ansah.24 Zur 50. Wiederkehr der Kaiserproklamation bezeichnete der Herzens-Monarchist und Vernunft-Republikaner Gustav Stresemann es am 18. Januar 1921 in einer flammenden Rede auf dem Bonner Drachenfels als Bismarcks Vermächtnis, unermüdlich daran zu wirken, dass das Reich eines Tages in seiner alten Größe wieder erstehe.25 Der von Stresemann beschworene Mythos vom Reich erlangte in den folgenden Jahren eine immer größere, aber auch diffusere Bedeutung. Sie umfasste den Ruf der Deutschnationalen nach einer Rückkehr zum Bismarckreich wie auch das Plädoyer der Abendländischen Bewegung für eine deutsche Führungsrolle in Mitteleuropa.26 Die Nationalsozialisten bedienten sich zunächst des von Arthur Moeller

17 Schieder (1992): Das Deutsche Kaiserreich, S. 197; s.a. grundlegend Hildebrand (1995): Reich – Großmacht – Nation. 18 Thronrede Wilhelms I. im Deutschen Reichstag, 21.3.1871, S. 145. 19 Reichstagsrede Bismarcks, 11.1.1887, S. 209. 20 Hildebrand (2011): Eigenweg, S. 272. 21 Trinkspruch Wilhelms II., 18.1.1896, S. 145; vgl. ausführlich Fehrenbach (1969): Wandlungen. 22 Schieder (1992): Das Deutsche Reich, S. 225. 23 Vgl. Verfassung des Deutschen Reichs, 11.8.1919, S. 151. 24 Sontheimer (1968): Antidemokratisches Denken, S. 222; vgl. ausführlich James (1991): Deutsche Identität, S. 141–170. 25 Rede Stresemanns, 18.1.1921. 26 Vgl. Wolfrum (2001): Geschichte als Waffe, S. 37; Conze (2005): Das Europa der Deutschen, S. 45.

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van den Bruck geprägten Topos vom „Dritten Reich“ , in dem der Universalismus des mittelalterlichen Reiches zu einem nationalen deutschen Messianismus erhöht wurde.27 Dann aber schwenkten sie auf den national entgrenzten Begriff eines „Großgermanischen Reiches deutscher Nation“28 um und unterfütterten ihn mit pervertierter Rassenideologie. Nicht der Nationalstaat, so konstatiert Heinrich August Winkler treffend, „sondern der Mythos vom Reich, das mehr sein wollte als ein Nationalstaat“, führte 1945 „in die Selbstzerstörung Deutschlands“.29 4. DER REICHSDISKURS IN DER NACHKRIEGSZEIT 1945–1961 Trotz der bedingungslosen Kapitulation bestand Deutschland völkerrechtlich nach dem Willen der Alliierten in den Grenzen von 1937 fort.30 Eine Benennung des westdeutschen Provisoriums als Reich kam für die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen und Vorgängern der Weimarer Nationalversammlung indes nicht in Frage – wohl weniger aus innerer Überzeugung, denn aus Rücksicht auf das Ausland.31 Indem der Parlamentarische Rat die Bundesrepublik jedoch als Rechtsnachfolger des als handlungsunfähig deklarierten Deutschen Reiches definierte, zugleich als ein Provisorium, dem qua Grundgesetz die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands aufgetragen wurde, öffnete er das Tor zu einem intensiven Reichsdiskurs, der in den 1950er-Jahren von fünf Argumentationslinien bestimmt wurde: 1. Der von der rechtsextremen „Deutschen Reichspartei“ formulierten Forderung nach einer Wiedererrichtung eines völkisch homogenen Reichs32; 2. der von einer politisch-emotionalen Reichstreue getragenen Hoffnung auf ein Wiedererstehen des Reichs in der Form einer sozialistischen Republik (man denke an Kurt Schumacher) 33 oder einer christlich geprägten „Brücke zwischen Ost und West“ (à la Jakob Kaiser) 34; 3. der etwa von Friedrich Meinecke35 oder Thomas Mann36 gezogenen Kontinuitätslinie vom Kaiserreich zum „Dritten Reich“;

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Vgl. van den Bruck (1923): Das Dritte Reich. Hofer (1970): Versuch einer Bilanz, S. 337. Winkler (2000): Der lange Weg nach Westen, S. 655. Vgl. Protokoll zwischen den Regierungen der USA, Großbritanniens und der UdSSR, 12.9.1944, S. 111; s.a. den luziden Aufsatz von Hillgruber (2021): Der deutsche Nationalstaat. Vgl. Sitzung im Grundsatzausschuss, 6.10.1948, S. 169f. Vgl. Sowinski (1998): Reichspartei. Vgl. Schumacher (1985): Reden, passim. Kaiser (1988): Brücke. Meinecke (1946): Die deutsche Katastrophe. Vortrag Thomas Manns in der Library of Congress, 29.5.1945, S. 1144.

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4. der von den Repräsentanten des ‚neuen‘ Abendlandgedankens vertretenen Ansicht, das Kaiserreich habe seinen Namen vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bloß usurpiert37, und 5. dem von Konrad Adenauer gefällten Verdikt, im Kaiserreich habe „anstelle der sittlichen Idee der nationalen Freiheit […] ein auf die Macht gegründeter Nationalismus“ den Ton angegeben.38 Auf welchʼ schwankendem Boden sich die Debatte im politisch-gesellschaftlichen Raum bewegte, verdeutlichte der 80. Jahrestag der Reichsgründung 1951. Während die Bundesregierung sich unfähig zeigte, die selbst gestellte Frage nach einem öffentlichen Gedenken konsensual zu beantworten39, sperrte sich Bundespräsident Theodor Heuss vehement dagegen, die Verkündung der von ihm initiierten Stiftung eines Bundesverdienstkreuzes „der historischen Kontinuität willen“ auf den 18. Januar zu legen.40 Ganz anders agierte der Bundestag bzw. dessen Präsident Hermann Ehlers, der es als selbstverständlich erachtete, an das Jubiläum zu erinnern. Unter lebhaftem „Beifall [der Abgeordneten] in der Mitte und Rechts“ – so vermerkt es das Protokoll – betonte Ehlers am Jahrestag der Kaiserproklamation, dass die Deutschen der Reichsgründung im Willen um Frieden und um die Zugehörigkeit zur europäischen Gemeinschaft sehr wohl „als eines bedeutsamen Ereignisses unserer Geschichte in Achtung gedenken“ könnten.41 Schenkt man einer zeitgenössischen Umfrage der Wochenzeitung „Die Zeit“ Glauben, traf Ehlers damit nicht nur die Stimmung der Abgeordneten: 45 % der Befragten bezeichneten das Kaiserreich vor 1914 als jene Zeit, in der es Deutschland im 20. Jahrhundert am besten gegangen sei.42 Das von Ehlers implizit artikulierte Bemühen, Adenauers Politik der Westintegration mit einer gesamtdeutsch orientierten Symbolpolitik zu verbinden, mündete 1954, ein Jahr nach dem Volksaufstand in der DDR, in die Ausrufung des 17. Juni zum Tag der deutschen Einheit und in die Gründung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland. Adenauer hielt sich von den Aktivitäten des Kuratoriums weitgehend fern, weil dessen Ziele ihm zu stark am Reich Bismarcks und zu wenig an Europa orientiert waren. Nachdem das westdeutsche Provisorium durch die Pariser Verträge von 1955 seines Erachtens nach die Souveränität zurückerlangt hatte, gab der Kanzler der europäischen Integration den klaren Vorrang vor der Wiedervereinigung. Anhänger der Abendlandbewegung wie Paul Wilhelm Wenger gingen noch einen Schritt weiter, indem sie die nationalstaatliche Entwicklung Europas seit 1789 als Irrweg bezeichneten, den Deutschland durch die Rückbesinnung auf den Deutschen Bund von 1815 und durch die Realisierung einer föderalistischen Verflech-

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Vgl. von Hehl (2012): Adolf Süsterhenn; Conze (2005): Das Europa der Deutschen. Rede Adenauers, 6.12.1951, S. 233. Kabinettssitzung, 9.1.1951, S. 64. Für Heuss was das der Termin, „an dem 1701 ein ziemlich mäßiger hohenzollernscher Kurfürst sich als Friedrich I. und König von Preußen etablierte“: Heuss an Adenauer, 3.8.1951, S. 82. 41 Bundestagsrede von Ehlers, 18.1.1951, S. 4196. 42 Vgl. Winkler (2000): Weg, S. 169.

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tung mit seinen ostmitteleuropäischen Nachbarn hinter sich lassen sollte.43 Theodor Heuss erinnerte 1958 in einer Rede vor dem US-Kongress an das Heilige Römische Reich, um darauf hinzuweisen, dass die Deutschen bereits „in einer ausschließlich europäischen Bindung und Verantwortung“ gelebt hätten, als andere Staaten noch „konkrete Expansionspolitik“ betrieben.44 Für den Präsidenten wie für den Kanzler und den Publizisten galt freilich gleichermaßen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956, wonach das Reich von 1871 „als staats- und völkerrechtliches Subjekt nicht untergegangen“ und die Wiederherstellung der deutschen Einheit ein „vordringliches nationales Ziel“ sei.45 5. WIDERSTAND GEGEN DIE PREISGABE DER REICHSIDEE 1961–1969 Wie diffizil die gesellschaftliche und politische Debatte auch weitere fünf Jahre später noch war, verdeutlichte der 90. Jahrestag der Reichsgründung 1961. Einen von Bundesinnenminister Gerhard Schröder im Kabinett angeregten Gedenkaufruf lehnte Bundeskanzler Adenauer mit dem Argument ab, es gebe „kaum ein Reich, das so kurz bestanden“ habe. Zwar mochte ihm von Seiten der Minister niemand widersprechen46, doch national orientierte Christdemokraten, aber auch national orientierte Liberale vom Schlage eines Thomas Dehler oder Reinhold Maier warnten vor der Preisgabe der Reichsidee.47 Der Bundestag reagierte auf ihre Mahnungen mit der Abhaltung einer Gedenkstunde, in der Präsident Eugen Gerstenmaier sein Bekenntnis zum Fortbestand des Reiches mit einem Plädoyer zu einer „redlichen Hinwendung zu der Gemeinschaft mit unseren Nachbarvölkern und der freien europäisch-atlantischen Welt“ verband.48 „Nation, Vaterland, Deutsches Reich“, so sekundierte der Bundesvorsitzende der FDP, Erich Mende, am gleichen Tag in einem Rundfunkbeitrag, gehörten keineswegs „auf den geschichtlichen Müllhaufen“.49 Der Bau der Berliner Mauer versetzte allen Hoffnungen auf einen einigen deutschen Nationalstaat einen schweren Schlag. Während einzelne Stimmen wie die des Philosophen Karl Jaspers die Orientierung auf das Bismarck-Reich als die Lebenslüge der Bundesrepublik kritisierten und zum Verzicht auf Wiedervereinigung aufriefen50, hielt die Bevölkerung wie auch die politische Klasse nicht nur am Fortbestand der deutschen Nation fest, sondern auch an einer weitgehend positiven Konnotation des Kaiserreichs. Gewiss, die SPD plädierte im Zuge eines Prozesses der 43 44 45 46 47 48 49 50

Vgl. Wenger (1956): Föderalismus, S. 245–253. Rede von Heuss, 5.6.1958, S. 267. Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, 17.8.1956, S. 85. Kabinettssitzung, 11.1.1961, S. 62 mit Anm. 18; Notiz von Hans-Joachim von Merkatz zur Kabinettsitzung vom 11.1.1961. Vgl. Wengst (1997): Thomas Dehler; Matz (1989): Reinhold Maier. Bundestagsrede Gerstenmaiers, 18.1.1961. Rundfunkansprache Mendes, 18.1.1961, S. 144. Vgl. Jaspers (1960): Freiheit.

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„Selbstanerkennung der Bundesrepublik“51 mittlerweile dafür, das Verhältnis zum zweiten deutschen Staat neu zu gestalten. Doch ihr Vorsitzender Willy Brandt gab noch 1965 zu Bismarcks 150. Geburtstag unumwunden zu, dass zu „Stolz“ bei der Gründung des Deutschen Reiches „wirklich Grund“ gewesen sei. 52 Bundeskanzler Ludwig Erhard beteuerte anlässlich eines Festakts im Bundestag zu Ehren des „großen Staatsmann[es]“, der Wille zur Wiedervereinigung dürfe nicht „mit der Idee des Reiches Bismarckscher Prägung, vor allem mit ihren zahlreichen romantischen Verklärungen[,] aber auch Verzerrungen“ verbunden werden.53 Von der in Teilen der Gesellschaft – bei bayerischen Regionalisten, konservativen Katholiken, großdeutschen Traditionalisten und kritischen Historikern – mittlerweile vorhandenen Distanz zu Reich und Reichsgründer54 war bei Erhard und Brandt also nur bedingt die Rede. Erst der „Machtwechsel“55 von 1969 sowie die sozialen Veränderungen ließen den gesellschaftlich-politischen Konsens bröckeln. 6. GESCHICHTSPOLITISCHE NEUGRÜNDUNG DER REPUBLIK 1969–1971 Von der Staatsspitze unterstützt, strebte die sozialliberale Koalition parallel zu ihrer Wende in der Deutschlandpolitik eine geschichtspolitische Neugründung der Republik an. Ein erstes Signal gab der neue Bundespräsident Gustav Heinemann, indem er Deutschland bei seinem Amtsantritt als „schwieriges“ Vaterland und den „Obrigkeitsstaat“ des Kaiserreichs als „Unglück“ bezeichnete, das „in das Verhängnis des Dritten Reiches geführt“ habe.56 Als Heinemann dann anlässlich des 100. Jahrestages der Kaiserproklamation 1971 in einer Fernsehansprache die teleologische Linie von der Reichsgründung bis zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs verbal erneuerte, löste er einen geschichtspolitischen Skandal aus. „Hundert Jahre Deutsches Reich“, so lautete sein eindringliches Credo, „– dies heißt eben nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945.“57 Zahlreiche Kritiker warfen dem Staatsoberhaupt Geschichtsklitterung vor. Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel erinnerte in einer Ansprache zum Jubiläum daran, dass die Deutschen heute wie damals vor der Aufgabe stünden, die Einheit der Nation zu wahren, „dies freilich nicht in nationalstaatlichen Denkkategorien des 19. Jahrhunderts“.58 Auch der ehemalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger hielt mit seinem Unmut über Heinemann nicht hinter dem Berg. 1967

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Wolfrum (1999): Geschichtspolitik, S. 12. Artikel Brandts. In: Die Welt, 27.3.1965, S. 590. Bundestagsrede Erhards, 1.4.1965, S. 929. Schubert (2004): Abschied vom Nationalstaat?, S. 237. Baring (1982): Machtwechsel. Antrittsrede Heinemanns, 1.7.1969, S. 151 u. 149. Rundfunk- und Fernsehansprache Heinemanns, 17.1.1971, S. 155. Bundestagsrede von Hassels, 20.1.1971, S. 4928.

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hatte er als Regierungschef in einer großen Bundestagsrede vor der „kritische[n] Größenordnung“ eines wiedervereinigten Deutschlands gewarnt.59 Jetzt aber ermahnte der CDU-Vorsitzende Heinemann öffentlich, dass das Gedenken an die Reichsgründung „weder in voreingenommener Weise durch eine totale Glorifizierung noch durch eine totale Verwerfung dieses Jahrhunderts deutscher Geschichte geschehen“ könne.60 Ostentativ legte Kiesinger am Morgen des 18. Januar gemeinsam mit den Spitzen der CDU-Landesverbände aus Hamburg und Schleswig-Holstein im Bismarck-Mausoleum in Friedrichsruh einen Kranz nieder.61 Führende Presseorgane wie die Wochenzeitung „Die Zeit“ fühlten sich dadurch zu einer geschichtspolitischen Breitseite gegen das „Pilgern zum Reichsahn“ provoziert. „Nach Versailles konnte man nicht, zum Grabe Wilhelms I. wollte man nicht pilgern. Also blieb zum Gedenken an vergangene Größe nur Friedrichsruh.“62 Dass wenige Stunden nach Kiesinger Bundesminister Egon Franke im Namen der sozialliberalen Bundesregierung ebenfalls einen Kranz am Grabe Bismarcks niederlegte63, hielt das Hamburger Blatt nicht für erwähnenswert. Wenngleich das Bundeskabinett der Reichsgründung wie seine christdemokratisch-liberalen Vorgänger nicht gedenken mochte, stimmte es immerhin der Prägung einer Gedenkmünze zu 5 DM zu, die auf der Vorderseite das Reichstagsgebäude in Berlin zeigte.64 Auch eine Briefmarke65 und zwei Ausstellungen erinnerten an das Jubiläum. Die wissenschaftliche Leitung oblag dem Frankfurter Historiker Lothar Gall, der im Begleitkatalog deutlich machte, dass das Deutsche Reich von 1871 zwar „verschwunden“ sei, nicht aber das Problem, „wie man unter den gegebenen Umständen zu einer Lösung der ‚deutschen Frage‘“ gelangen könne.66 Bundeskanzler Brandt würdigte die Reichsgründung am Tag der Kaiserproklamation als „Werk Bismarcks, eines der großen Staatsmänner unseres Volkes“. Die militärische Lösung der deutschen Frage könne „heute kein Vorbild“ mehr sein, habe indes „den damaligen Einsichten und Möglichkeiten“ entsprochen; eine „gute Zukunft“ gebe es für das deutsche Volk freilich nur im Rahmen europäischer Lösungen“.67 Für Teile der deutschen Presse waren Brandts Worte bereits zu viel des Lobes, auch wenn sie nicht alle gleich einen „Tag der Trauer“ ausriefen 68 oder das Reich von 1871 für „tot“ erklärten. „Das Bismarck-Reich“, so erklärte der wortgewaltige Herausgeber des „Spiegel“, Rudolf Augstein, „erst als Realität, dann als

59 Bundestagsrede Kiesingers, 17.6.1967, S. 226. 60 Artikel Kiesingers im „Deutschland-Union-Dienst“, 18.1.1971. 61 Laut Terminkalender hatte Kiesinger am Vorabend eine Einladung des CDU-Bundestagsabgeordneten Otto (II.) von Bismarck auf Schloss Friedrichsruh angenommen. 62 Artikel Die Zeit, 22.1.1971. 63 Vgl. Artikel Bergedorfer Zeitung, 16./17.1.1971; Artikel Hamburger Abendblatt, 19.1.1971. 64 Kabinettssitzung, 14.1.1971. 65 Vgl. Hahn (2019): Geschichtspolitische „Visitenkarten“, S. 114. 66 Gall (1971): Zur Einführung, S. 52. 67 Erklärung Brandts, 18.1.1971, S. 387 u. 388. 68 Artikel Hans Heigerts, 16./17.1.1971.

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Reise in die Vergangenheit, dann als Illusion ist genau 100 Jahre alt geworden. Im Jahre 1970 ist es dahingeschieden.“69 Markante Bruchlinien provozierte die Frage nach dem Umgang mit der Reichsgründung übrigens auch in der geschichtswissenschaftlichen Zunft. Während der Bonner Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher die Zeit der Feiern für „endgültig und notwendig vorbei“ erklärte, weil die zweite deutsche Demokratie „ohne das endgültige Scheitern der Reichskonzeption von 1871 mit all ihren imperialen Konsequenzen“ nicht denkbar sei70, rief sein Kölner Kollege Theodor Schieder dazu auf, „die Möglichkeit nationaler Verbindung der Teile des Rest-Reiches, so wie sie sich seit 1945 gebildet haben, offenzuhalten“.71 7. ZWIST ÜBER DAS ERBE DES REICHS 1972–1989 Obwohl das Bundesverfassungsgericht 1973 abermals dazu aufforderte, die Wiederherstellung der deutschen Einheit auf dem Territorium des Reiches als politisches Ziel nicht aufzugeben72, schälte sich seit dem Abschluss des Grundlagenvertrags mit der DDR 1972 im gesellschaftlichen wie politischen Diskurs der Bundesrepublik ein zunehmend schärferer Zwist über das Erbe des Reiches heraus. Während die einen sich am Leitbild der Staatsnation von 1871 orientierten, hoben die anderen auf die Kulturnation ab, deren Wurzeln ins Jahr 1848 wiesen. Bei einem Besuch in Friedrichsruh notierte der Schriftsteller Rolf Hochhuth am 16. Juli 1976 im Gästebuch des Bismarck-Museums: „Auf der Suche nach dem verlorenen – Reich…“.73 Zwei Jahre später schrieb Bundespräsident Walter Scheel dem Volk ins Stammbuch, dass die Reichsidee nicht mehr Fixpunkt des Einheitsstrebens sein könne.74 Bundeskanzler Helmut Schmidt fand die präsidiale „Einordnung des Reichsmythos und seiner Wirkung auf die Entwicklung des politischen Bewußtseins der Deutschen […] sehr erhellend“. In einer Ansprache zur Eröffnung des Historikertages betonte er, dass nur die Wiederherstellung des geistigen und des wirtschaftlichen Zusammenhangs von ganz Europa die Chance für eine „zukünftige Vereinigung unserer eigenen Nation unter einem gemeinsamen Dach“ bieten würde.75 Demgegenüber beteuerte sein Vorgänger Brandt in einer Rede zur 100. Wiederkehr der Verabschiedung des Sozialistengesetzes, das Deutsche Reich sei „kein Willkürstaat“, wohl aber ein „monarchischer Obrigkeitsstaat“ gewesen. Der von Bismarck bestimmte Zeitabschnitt vermittle „nicht nur Niederdrückendes“,

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Artikel Rudolf Augsteins, 11.1.1971. Artikel Brachers, 15.1.1971. Artikel Schieders, 15.1.1971. Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, 31.7.1973. Gästebucheintrag Hochhuths, 16.7.1976. Rede Scheels, 17.6.1978, S. 276. Rede Schmidts, 4.10.1978, S. 72 u. 82.

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sondern auch „Inspirierendes“, denn der „Freiheitsfaden in der deutschen Geschichte – er konnte immer wieder aufgegriffen […] werden“.76 Je länger die Deutschen die Existenz zweier deutscher Staaten anzuerkennen bereit waren, desto fraglicher schien es, ob das Bismarckreich noch als Referenzmodell ihres Nationsverständnisses taugte. Anlässlich des 110. Jahrestages der Reichsgründung 1981 rief der Publizist Günter Gaus vehement dazu auf, möglichst nicht mehr von einer deutschen Nation zu reden77, und provozierte damit eine fast so lebhafte öffentliche Diskussion wie Heinemann zehn Jahre zuvor. Die christdemokratisch-liberale Regierung unter Helmut Kohl hielt nach dem Machtwechsel von 1982 am Ziel der deutschen Einheit fest, meinte indes, über den Nationalstaat Bismarck’scher Prägung hinaus denken zu müssen. Wie Kohl wiederholt darlegte, zielte sein Nationsverständnis weder auf einen Machtstaat in den Grenzen von 1937 ab78 noch notwendigerweise auf die staatliche Einheit.79 Denn nicht die Einheit war für ihn der „Kern der deutschen Frage“, sondern die Freiheit. Auch von der Souveränität im Sinne des klassischen Nationalstaates meinte er sich verabschieden zu müssen, da der „Bau Europas“ nicht von „souveräne[n] Staaten“, sondern von „souveräne[n] Völker[n]“ vollendet werden würde.80 Als die europäische Einigung mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 neue Gestalt gewann, geriet Kohls Kurs von links wie von rechts unter massiven Beschuss. Konservative Publizisten und Staatsrechtler wie auch nationalgesinnte Christdemokraten warfen ihm vor, das Ziel des vereinten Europa dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes überzuordnen. Der Sozialdemokratie nahestehende Intellektuelle wie Hans-Ulrich Wehler wetterten hingegen über die Wiederbelebung der „Leiche des 1945 endgültig gescheiterten Bismarckreiches […] in der politischen Vorstellungswelt“.81 Das nationale Bewusstsein der Zeit dürfte wohl eine Formel von Karl Dietrich Bracher am besten erfasst haben, die die Bundesrepublik als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ bezeichnete.82 Auch unter Christdemokraten mehrten sich Stimmen, die die Idee der nationalen Einheit umzudeuten schienen. Anfang 1988 erklärte die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen Dorothee Wilms die deutsche Frage zu einer „Frage der Selbstbestimmung“, die im Einklang mit dem Willen und den Werten Europas beantwortet werden müsse. Der territoriale Aspekt sei „nachgeordnet“, wenngleich Deutschland rechtlich in den Grenzen von 1937 fortbestehe. Musste schon eine 76 Rede Brandts, 11.6.1978, S. 172 u. 175. 77 Vgl. Gaus (1981): „Die Elbe – ein deutscher Strom, nicht Deutschlands Grenze“, S. 57. 78 Die Grenzen von 1937 sei für die Westmächte „ein völkerrechtlich verbindliches Ausgangsdatum, aber keine territoriale Zielvorgabe“, erklärte Staatsminister Alois Mertes 1985 gegenüber der Presse; Artikel Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 15.1.1985. 79 Vgl. Korte (1998): Deutschlandpolitik, S. 154. 80 Bericht Kohls zur Lage der Nation, 27.2.1985, S. 9009 u. 9011. In identischem Duktus auch in Kohls Bericht zur Lage der Nation, 8.11.1989, S. 51. 81 Wehler (1986): Geschichtsbewußtsein, S.2; eine überarbeitete Fassung in: ders. (1988): Aus der Geschichte lernen?, S. 24. 82 Bracher (1986): Politik und Zeitgeist, S. 406.

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solche Relativierung des Nationalstaats in Teilen der Union auf Widerstand stoßen, schien das Fass für die Nationalkonservativen vollends übergelaufen, als Wilms dann auch noch den Eindruck hervorrief, dass die Überwindung der „Teilung Europas“ vor der Überwindung der „deutsche[n] Teilung“ zu erfolgen habe. 83 Nach turbulenten innerparteilichen Debatten deklarierte die CDU wenige Monate später die Wiedervereinigung als „das vordringlichste Ziel unserer Politik“84 und löste damit im politischen Bonn einen Sturm der Entrüstung aus. Selbst Willy Brandt nannte die Hoffnung auf Wiedervereinigung nun eine „spezifische Lebenslüge der zweiten Deutschen Republik“.85 Sein Parteifreund Hans-Jochen Vogel definierte den Nationsbegriff in einer Bundestagsdebatte Ende 1988 als „Geschichts-, Kultur-, Sprach- und Gefühlsgemeinschaft“, was auf eine Entstaatlichung des Begriffs der Einheit hinauslief.86 Noch radikaler äußerte sich der Grünen-Abgeordnete Helmut Lippelt, der den Terminus der deutschen Nation ganz aufgeben wollte. „Nationen sind keine Naturtatsachen. Sie definieren sich nicht über gemeinsame Sprache, wie Völker es tun. Sie definieren sich über gemeinsame Geschichte. Sie sind auf komplizierte Weise historisch entstanden, und sie können historisch auch wieder verwirkt werden.“87 8. DER „POSTKLASSISCHE DEMOKRATISCHE NATIONALSTAAT“ ALS LEGITIMER NACHFOLGER DES „VERGANGENEN“ REICHS Angesichts dieser Stimmungslage im Lande konnte es kaum überraschen, dass der Mauerfall in Berlin und die friedliche Revolution in der DDR bei manchem Akteur auf der politischen Linken 1989/90 massives Unbehagen auslösten. Dabei war für die politisch Verantwortlichen beider deutscher Staaten doch ganz klar, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung nicht ins Bismarckreich zurückkehren werde.88 Auch in den Zwei-plus-Vier-Mächte-Verhandlungen ließen die Außenminister die „juristische Mumie“ des Reiches „achtlos am Wegesrand liegen“. 89 Und als die Republik ein Jahr darauf hitzig über den Regierungssitz des geeinten

83 Rede von Wilms in Paris, 25.1.1988, S. 44 u. 45. 84 Beschluss des CDU-Parteitags vom 13.–15.6.1988, S. 4; vgl. ausführlich Korte (1998): Deutschlandpolitik, S. 401–409. 85 Ansprache Brandts im West-Berliner Renaissance-Theater, 11.9.1988, S. 783. Was seine Gegner als Absage an die Idee der nationalen Einheit verstanden, bedeutete seiner Meinung nach indes lediglich eine Absage an das Bismarckreich und an die Einheit in den Grenzen von 1937. 86 Bundestagsrede Vogels, 1.12.1988, S. 8101. 87 Bundestagsrede Lippelts, 1.12.1988, S. 8107. 88 Vgl. Art. 2 des Einigungsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, 31.8.1990. 89 Schönberger (2020): Geschichten, S. 60.

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Deutschland debattierte, legte die Bundesregierung abermals Wert auf die Feststellung, dass man sich „nicht zum Deutschen Reich wiedervereinigt“ habe.90 Sieht man einmal von der rechtsextremen Bewegung der „Reichsbürger“ ab91, hält die überwiegende Mehrheit der Deutschen die vereinte Nation seit 1990 für den legitimen Nachfolger des 1945 „vergangenen“ Reichs92 und betrachtet sie nicht als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“93, sondern als einen „postklassischen demokratischen Nationalstaat unter anderen“.94 Freilich bewegen wir uns noch immer in vielfältiger Weise in jenem politischen Raum, der 1871 geschaffen bzw. unter Rückgriff auf bereits vorhandene Gegebenheiten im kleindeutschen Nationalstaat eingerichtet worden ist: Man denke an die staatlichen Institutionen, das (1918 von der Weimarer Republik um das Frauenwahlrecht erweiterte) allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht, den Föderalismus, den Rechts- und den Sozialstaat oder den Aufstieg der bürgerlichen Kultur. 95 Dank zahlreicher neuer Forschungen gilt das Kaiserreich heute als die wohl einzig realistische Antwort auf die seit Beginn des 19. Jahrhunderts schwelende deutsche Frage. Weitgehende Einmütigkeit besteht außerdem darin, dass seine Gründung keineswegs bereits den Keim des Untergangs in sich trug und dass das über Jahrzehnte als Friedensmacht in der Mitte Europas agierende Kaiserreich wie „ein Fortschrittsmodell als Rechts-, Verwaltungs- und Sozialstaat“ wirkte.96 Ob der 150. Jahrestag der Reichsgründung am 1. Januar 2021 „zu Stolz doch wirklich Grund“ bietet, wie Willy Brandt 1965 bekannte, mag jeder für sich entscheiden. Das Jubiläum sollte aber intensiv dazu genutzt werden, das Bewusstsein der Öffentlichkeit über eine wesentliche Epoche deutscher Geschichte zu schärfen, einer Epoche, der wir den ihr zustehenden Platz im Demokratiegedächtnis der Bundesrepublik nicht versagen sollten. LITERATUR Adenauer, Konrad: Rede vom 6.12.1951. In: ders.: Reden 1917–1967. Eine Auswahl, hrsg. von Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 232–237. Altmaier, Peter: Geleitwort. In: Mayer, Tilman (Hrsg.): Bismarck: Der Monolith. Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2015, S. 7–12. Artikel Bergedorfer Zeitung, 16./17.1.1971. Artikel Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 15.1.1985. Artikel Hamburger Abendblatt, 19.1.1971.

90 Bundestagsrede Norbert Blüms, 10.6.1991, S.2737. Zur Hauptstadtdebatte vgl. Tschirch (1999): Kampf; Schäfer (1999): Abschied; Möller (2002): Beschluss. 91 Vgl. Schönberger (2020): Geschichten, u. Günther (2020): „Die Uhr noch einmal zurückdrehen“. 92 Hildebrand (1995): Das vergangene Reich. 93 Bracher (1986): Politik und Zeitgeist, S. 406. 94 Winkler (2000), Weg, S. 638. 95 Nipperdey (1992): Deutsche Geschichte, S. 878; s.a. Rede von Bundespräsident Joachim Gauck, 1.4.2015, S. 21; Festvortrag von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, 1.4.2015; Geleitwort von Bundesminister Peter Altmaier. 96 Leonhard (2021): Von Versailles nach Versailles, S. 37.

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ZWISCHEN „WEIßER LEGENDE“ UND „SCHWARZER LEGENDE“ Das Kaiserreich als Objekt von Geschichtspolitik Christoph Nonn Urteile über die Zeit des deutschen Kaiserreichs sagen seit 1918 meist mehr über die Zeit aus, in der sie getroffen wurden, als über das Kaiserreich selbst. Bei Politikern, Journalisten und anderen Personen des öffentlichen Lebens waren und sind Aussagen über die Geschichte des Kaiserreichs nicht nur beeinflusst von der jeweiligen Gegenwart. Sie werden auch davon bestimmt, was man damit im Hier und Jetzt erreichen will. Historiker und Wissenschaftler verwandter Disziplinen machen selten eine Ausnahme, soweit sie Personen des öffentlichen Lebens werden, also öffentliche Aufmerksamkeit finden. Und jene Historiker, denen es mehr um das Kaiserreich geht als um die Gegenwart, finden in der Regel kaum Aufmerksamkeit. Schon unmittelbar nach dem Ende der Monarchie schieden sich so die Geister bei der Bewertung der jüngsten Vergangenheit entlang parteipolitischer Orientierungen. Konservative imaginierten das Kaiserreich nach 1918 in leuchtenden Farben und kontrastierten dieses positive Bild gezielt mit der Gegenwart der Weimarer Republik, die sie in tristem Grau malten. In der rechten Presse, bei Wahlkämpfen, auf politischen Kundgebungen, bei Bismarck-Feiern und nicht zuletzt im damals noch konservativ geprägten Mainstream der deutschen Geschichtsschreibung wurde das Reich der Hohenzollern als eine vermeintlich bessere Zeit gefeiert – eine Zeit, die wieder auferstehen könne, wenn nur das bei eben diesen Gelegenheiten nach Kräften diffamierte „System“ der Gegenwart überwunden sei. Die Anhänger der Republik distanzierten sich dagegen naheliegender Weise deutlich von der monarchischen Vergangenheit. Das galt auch für die Minderheit deutscher Historiker, die Linksliberalen, Sozialdemokraten und dem Zentrum nahestanden. Autoren wie Walter Goetz, Johannes Ziekursch oder Veit Valentin sahen die Wurzeln der Weimarer Demokratie vor allem in der Revolution von 1848. Die Reichsgründung 1871 erschien ihnen dagegen eher als eine Verirrung. Das halbe Jahrhundert des Kaiserreichs interpretierten sie als einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte. Diese sei erst 1918 wieder auf den „richtigen“ Weg zurückgekehrt.1

1

Untersucht worden ist das vor allem am Bild des ersten Reichskanzlers zwischen den Weltkriegen: Gerwarth (2007): Bismarck-Mythos; Hardtwig (2005): Bismarck-Mythos, S. 61–90;

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Allein manche national denkende Liberale, wie der „Vernunftrepublikaner“ Hermann Oncken, unternahmen zumindest halbherzige Versuche, das Kaiserreich als Vorgeschichte der Weimarer Demokratie neu zu denken. Mit einer Mischung aus Sympathie und kritischer Distanz zeichnete Oncken die Reichsgründung von 1871 als eine Verbindung von „alten historischen Gewalten und den neuen Triebkräften der Zeit“. Sie sei der erste Schritt zu einem nationalen Gemeinwesen der Deutschen gewesen. Das 1871 entstandene Kaiserreich habe die Erfordernisse der Zeit angesichts von Industrialisierung und Massenpolitik freilich nur unvollkommen erfüllt. Erst in der Weimarer Republik sei die soziale und demokratische Vollendung des deutschen Nationalstaats geglückt. „Unvollendet“ erschien das Kaiserreich Oncken allerdings auch, weil 1871 lediglich ein kleindeutscher Nationalstaat ohne Österreich zustande gekommen war. Die Hoffnung auf eine „Wiedergeburt der großdeutschen Idee“ teilte Oncken keineswegs allein, aber besonders mit weiter rechtsstehenden Historikern. Wie diese und ihre republiktreuen Opponenten von links hielt er zudem an der Wahrnehmung Bismarcks als „Reichsgründer“ fest.2 Der Bismarck-Mythos verband sich seit 1914 darüber hinaus auch mit der Vorstellung eines „deutschen Sonderwegs“. Was seit Beginn des Ersten Weltkriegs von den westlichen Kriegsgegnern des Deutschen Reichs abwertend formuliert worden war, wurde in Deutschland trotzig zur nationalen Tugend stilisiert. Konservative Historiker wie Adalbert Wahl, der zwischen 1926 und 1936 eine vierbändige Geschichte des Kaiserreichs veröffentlichte, sahen in diesem einen „Höhepunkt der Menschheitsgeschichte überhaupt“. Für Autoren wie Wahl oder auch Erich Marcks war das ganz fraglos „fast allein“ das Werk „Bismarcks: dessen, der alles gewollt und alles getan hat“. In einem 1936 erschienenen Buch von Marcks wurde Bismarck schließlich zum Wegbereiter Hitlers und dieser zum Vollender der Reichsgründung stilisiert.3 Das Andenken an die „Bismarcksche Reichsgründung“ leistete zwischen 1918 und 1933 so einen Beitrag zum Untergang der ersten deutschen Demokratie. Als Waffe gegen die Weimarer Republik verwendet wurde der Bismarck-Mythos allerdings vor allem von der traditionellen Rechten. Die Nationalsozialisten nutzten diese Waffe zwar auch. Aber ihre Versuche einer Vereinnahmung des Mythos stießen allzu offensichtlich an Grenzen. Die Konstruktion einer Kontinuität von 1871 zu 1933, von Bismarck zu Hitler, erwies sich als äußerst schwer. Hitlers „großdeutsche“ Ziele und seine Weltherrschaftspläne standen in klarem Gegensatz zur „kleindeutschen“ Reichsgründung von 1871 und der von Bismarck danach verkündeten Politik der „Saturiertheit“. Das wurde bereits 1938/39 deutlich, als das nationalsozialistische Deutschland über die Politik einer Revision des Versailler Vertrags hinausging. Spätestens 1941 war es für niemanden mehr zu übersehen. Die Monarchie und Bismarck traten denn auch als historischer Bezugspunkt nationalsozialistischer

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Machtan (1994): Bismarck; Raasch (2010): Gesellschaft, S. 63–134; Bussenius (2004): Tradition. Oncken (1924): Sinn, S. 36; und vgl. ders. (1920): Wiedergeburt. Wahl (1926): Geschichte, S. IX; Marcks (1936): Aufstieg, S. XII–XIV.

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Propaganda immer mehr zurück. Stattdessen beanspruchte der konservative Widerstand gegen Hitler die Erinnerung an das Kaiserreich und den toten Kanzler zunehmend als Legitimationsobjekt für sich.4 Doch nicht nur deswegen war das Bild der Hohenzollernmonarchie auch in der frühen Bundesrepublik ausgesprochen positiv. Als das Allensbacher Institut für Demoskopie einem repräsentativen Querschnitt der westdeutschen Bevölkerung 1951 die Frage stellte, wann es den Deutschen im 20. Jahrhundert am besten gegangen sei, antworteten die meisten Befragten: vor 1914. Denn die Jahre des Kaiserreichs vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich in der Erinnerung älterer Mitbürger durch all das ausgezeichnet, was sie danach schmerzlich vermisst hatten: fast ununterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwung, beständige Verbesserung der Lebensmittelversorgung und nicht zuletzt eine jahrzehntelange Epoche des Friedens. Nach zwei verheerenden Kriegen, der krisenhaften Zwischenkriegszeit und den Hungerjahren nach 1944/45 erschien das Kaiserreich als Inbegriff einer „guten alten Zeit“.5 Es ist vor allem dieses in der Historiographie der 1950er Jahre und ihren Popularisierungen entstandene Bild des Kaiserreichs, auf das bis heute nationalkonservative und radikal rechte Geschichtsbilder aufbauen, wie sie etwa in der AfD und unter „Reichsbürgern“ verbreitet sind. Dabei werden neben den bereits genannten Aspekten auch die Begründung der Sozialversicherung in den 1880er Jahren und der rechtsstaatliche Charakter der Hohenzollernmonarchie betont. Die für sie ebenso charakteristischen massiven sozialen Verwerfungen und ihr autoritäres politisches System wurden und werden dagegen ignoriert, Kontinuitätslinien zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich“ bestritten. Während der 1950er Jahre, in die sich die heutigen Nationalkonservativen zurücksehnen, lag das schon deshalb nahe, weil auch in dieser Zeit soziale Gegensätze gerne minimiert und mit der Rede von einer „Mittelstandsgesellschaft“ wegargumentiert wurden, während die Distanzierung vom Nationalsozialismus sich vielfach in Rhetorik erschöpfte und Adenauers „Kanzlerdemokratie“ selbst stark autoritäre Züge trug.6 Während der beiden folgenden Jahrzehnte, den 1960er und 1970er Jahren, veränderte sich dann jedoch die Gesellschaft der Bundesrepublik von Grund auf. Und damit veränderte sich auch das Bild des Kaiserreichs in großen Teilen dieser Gesellschaft beträchtlich. Mit dem Boom des „Wirtschaftswunders“ nahm das Bedürfnis nach historischer Orientierung an einer „guten alten Zeit“ ab. Gegenüber der schönen bunten Welt der Werbung und der Konsummöglichkeiten, die bald diejenigen der Zeit vor 1914 weit überstiegen, verblasste der Glanz des Kaiserreichs. Statt das Paradies in die Vergangenheit zu projizieren, fanden die Bundesbürger es

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Zum Bild des Kaiserreichs während des Nationalsozialismus Raasch (2010): Gesellschaft, S. 135–220; Gerwarth (2007): Bismarck-Mythos, S. 167–179; Machtan (1994): Bismarck. Noelle / Neumann, Jahrbuch (1956): S. 126. Neben der neu aufkommenden Demoskopie lässt sich das Bild des Kaiserreichs in der frühen Bundesrepublik am ehesten historiographiegeschichtlich anhand der Diskussion über Bismarck erschließen: Gall (1971): Bismarck-Problem; Hallmann (1972): Revision; Raasch (2010): Gesellschaft, S. 221–258.

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zunehmend in der Gegenwart. Diese lief schon Ende der 1950er Jahre dem Kaiserreich den Rang ab, als das Allensbacher Institut erneut danach fragte, wann es den Deutschen im 20. Jahrhundert am besten gegangen sei.7 Auch mit der wachsenden Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft8 wuchs die gefühlte Distanz zum Kaiserreich. Angesichts der inneren Demokratisierung der Bundesrepublik nach dem Ende der „Kanzlerdemokratie“ erschien es immer weniger als positives Modell. Stattdessen wurde jetzt der bisher meist ignorierte autoritäre Charakter der Reichsverfassung von 1871 mehr hervorgehoben. Mit der schwachen Stellung des Reichstags machten Historiker mehr und mehr die offensichtlichen demokratischen Defizite der Hohenzollernmonarchie zum Maßstab ihrer Beurteilung. Betont wurden deshalb nun auch zunehmend die Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Vor allem jüngere Historiker, die sich mehr oder weniger mit der Richtung der „Historischen Sozialwissenschaft“ identifizierten, popularisierten diese neue Sicht. Von der Bildungsexpansion profitierend, besetzten sie in den 1970er Jahren zahlreiche Lehrerstellen an Schulen und universitäre Lehrstühle. Zumindest bis zur Jahrtausendwende prägten sie die Darstellung der Geschichte des Kaiserreichs und der Reichsgründung wesentlich. Über die historischen Handbücher und Schulbücher, die sie schrieben oder beeinflussten, und über ihre Schüler tun sie es zum Teil bis heute. Die „Historische Sozialwissenschaft“ stellte das Bild der Reichsgründung auf den Kopf. Bisher im Mainstream der deutschen Historiografie und Öffentlichkeit meist als nationale Heldentat gesehen, mutierte sie zu Bismarcks Schurkenstück. Durch die Reichsgründung, betonten nun etwa einflussreiche Historiker wie HansUlrich Wehler oder Wolfgang Mommsen, habe Bismarck die 1871 eigentlich anstehende Modernisierung und Demokratisierung Deutschlands verhindert. Mehr noch: Mit ihr sei Deutschland auf eine schiefe Bahn geraten, auf der es dann in den Nationalsozialismus rutschte. Aus dem Geist des Militarismus entstanden, habe der Nationalstaat von 1871 sich zu einer Brutstätte des Antisemitismus und Radikalnationalismus entwickelt. Vom Kaiserreich zum „Dritten Reich“ führe deshalb eine klare Linie der Kontinuität.9 Fritz Fischer hatte mit seiner These, das kaiserliche Deutschland habe 1914 den Ersten Weltkrieg gezielt ausgelöst, und die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch die aggressive Außenpolitik des „Dritten Reiches“ sei deshalb keineswegs ein „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte, bereits Anfang der 1960er Jahre eine damals in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik weitverbreitete Überzeugung infrage gestellt. Die Repräsentanten der „Historischen Sozialwissenschaft“ gingen noch einen Schritt weiter: In ihrer Interpretation hatte schon Bismarck mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, der wesentlich dazu beitrug, die Reichsgründung zu ermöglichen, eine Tradition militaristischer Politik 7 8 9

Noelle / Neumann (1965): Jahrbuch, S. 230. Herbert (2002): Wandlungsprozesse. Wehler (1973): Kaiserreich; ders. (1995): Gesellschaftsgeschichte; Mommsen (1990): Der autoritäre Nationalstaat.

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begonnen. Bismarcks vermeintlich entscheidende Rolle in der „Julikrise“ 1870, früher bereits als Ausweis seiner Genialität und nationalen Überzeugungen gerühmt, diente jetzt als Beleg seiner taktischen Perfidie. Der von Eberhard Kolb auf Grundlage einer erschöpfenden Auswertung der zeitgenössischen Quellen geführte Nachweis, dass die entscheidenden Provokationen 1870 tatsächlich von französischer Seite ausgegangen waren, ging in der nun neu wuchernden Legendenbildung um die „Emser Depesche“ unter.10 Statt zu Orten historischer Identifikation wurden Reichsgründung, Kaiserreich und Bismarck jetzt zu Ausgangspunkten unheilvoller Traditionen erklärt, von denen sich die Deutschen ebenso entschieden zu distanzieren hätten wie von dem mit ihnen durch vielfältige Kontinuitätslinien verbundenen Nationalsozialismus. Dass es sich bei diesem Urteil auch um einen „Reflex der eigenen zeitgeschichtlichen Situation“ handelte, wie eine aufmerksame Beobachterin schon 1970 anmerkte,11 wird aus der Rückschau umso klarer. Die neuen negativen Wertungen waren ebenso zeitgebunden wie die früheren, von ihnen abgelösten positiven. Die Existenz zweier deutscher Staaten ließ etwa Hans-Ulrich Wehler Anfang der 1970er Jahre davon ausgehen, „daß der Bann der normativen Verbindlichkeit des nationalen Einheitsstaates gebrochen“ sei.12 Statt einer durch die Ostverträge scheinbar in weite Ferne gerückten Wiedervereinigung müsse das Augenmerk in der Gegenwart vielmehr auf eine soziale Demokratisierung der Bonner Republik gerichtet werden. Und dafür schien das als konservativ und obrigkeitsstaatlich charakterisierte Kaiserreich den Vertretern der „Historischen Sozialwissenschaft“ ebenso wenig als Modell zu taugen wie der von ihnen unterstützten, durch Willy Brandts SPD geführten Bundesregierung. Für die CDU und ihr nahestehende konservativere Historiker wie Theodor Schieder oder Lothar Gall blieb der Nationalstaat dagegen eine moderne Errungenschaft, eine Grundlage von Sozialstaat, Rechtsstaat und Demokratie. Deshalb bemühten sie sich zumindest implizit um eine Rehabilitation von Bismarck und der Reichsgründung, die als mögliches Modell für eine Wiedervereinigung gesehen werden konnte.13 Bezeichnenderweise fanden solche politisch motivierten Darstellungen von Historikern ein wesentlich größeres Echo als Bücher, die weniger an der Gegenwart als an der Vergangenheit des Kaiserreichs interessiert waren. Das galt etwa für die Werke der Briten David Blackbourn, Geoff Eley und Richard Evans. Denen waren die geschichtspolitischen Motive ihrer deutschen Kollegen fremd. Ihre substantielle Kritik an der These der „Historischen Sozialwissenschaft“ vom Kaiserreich als konstitutiver Epoche eines deutschen „Sonderwegs“ in die Moderne entfachte Anfang der 1980er Jahre in der Öffentlichkeit allenfalls ein Strohfeuer. Auf den Spuren der

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Kolb (1970): Kriegsausbruch. Fehrenbach (1970): Reichsgründung, S. 289. Wehler (1973): Kaiserreich, S. 227f. Schieder / Deuerlein (1970): Reichsgründung; Gall (1971): Bismarck; zum politischen Hintergrund auch Epkenhans (2020): Reichsgründung, S. 113–117.

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drei Briten und der US-amerikanischen Historikerin Margaret Anderson folgende, differenzierte Darstellungen von Wilfried Loth und Dieter Langewiesche sind schon seit langem nicht mehr im Druck – im Gegensatz zu den wesentlich einseitigeren und früher erschienenen Büchern von Wehler oder Gall.14 Das dürfte vor allem damit zu tun haben, dass die Interpretationen des Kaiserreichs der „Historischen Sozialwissenschaft“ genauso wie ihrer konservativen Gegner sich vorzüglich als geschichtspolitische Moralkeulen eignen. Dreh- und Angelpunkt dieser geschichtspolitischen Instrumentalisierung ist in beiden Fällen die Interpretation des Nationalsozialismus und ihre Instrumentalisierung für die Auseinandersetzung zwischen Linken und Konservativen. Das Kaiserreich an sich interessiert dabei im Grunde gar nicht: Es ist vielmehr sein Verhältnis zum „Dritten Reich“ und das polemische Kapital, das sich daraus zur Bekämpfung des politischen Gegners schlagen lässt, um das es geht. Bei der von den Vertretern der „Historischen Sozialwissenschaft“ und ihren Epigonen gezeichneten „schwarzen Legende“ des Kaiserreichs ist das besonders deutlich. Sie heben zum einen die rückwärtsgewandte, anachronistische Natur der Hohenzollernmonarchie hervor, ihren Charakter als „spätfeudalen“ oder „halbabsolutistischen“ Staat. Zum anderen betonen sie Kontinuitäten zwischen diesem als konservativ konstruierten Kaiserreich und dem Nationalsozialismus, weil dieser dann ebenfalls als im Kern konservativ erscheint. Damit wird letzten Endes der Konservatismus schlechthin in die ideologische Nähe des „Dritten Reiches“ gerückt. Die konservativen Gegner der „Historischen Sozialwissenschaft“ verwehren sich dagegen. Sie unterstreichen deshalb stattdessen die „modernen“ Aspekte des Kaiserreichs. Der landläufigen Gleichsetzung von „Modernität“ mit der Gegenwart folgend, charakterisieren sie es sogar häufig als Vorgeschichte der heutigen deutschen Demokratie. Dagegen bestreiten sie nachdrücklich Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich“. Betont wird von ihnen stattdessen die in der Totalitarismustheorie konstruierte Nähe von Nationalsozialismus und Kommunismus. Damit rücken sie die politische Linke selbst in die ideologische Nähe des Nationalsozialismus. Diese Interpretationsmuster reichen weit zurück. Die „linke“ Interpretation wurde bereits in den 1930er und 1940er Jahren von deutschjüdischen Emigranten wie Erich Eyck und Hans Rosenberg begründet, die aus Deutschland nach Großbritannien oder in die USA flüchten mussten.15 Zumindest im Westen Deutschlands von der tonangebenden konservativen Historiographie auch nach 1945 zunächst ignoriert, wurde sie in den 1960er Jahren von der nachwachsenden Historikergeneration aufgenommen. Im folgenden Jahrzehnt bildeten sich dann die jeweiligen historiographischen Fronten voll aus. Sie entstanden vor dem Hintergrund eines poli14 Blackbourn / Eley (1980): Mythen; Evans (1987): Rethinking; Eley (1986): Unification; Blackbourn (1987): Populists; Loth (1996): Kaiserreich; Langewiesche (1988): Liberalismus; Wehler (1973): Kaiserreich; Gall (1980): Bismarck. 15 Eyck (1941–44): Bismarck; Rosenberg (1967): Große Depression.

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tischen Systems, das durch den Gegensatz von SPD und CDU/CSU geprägt war. Seitdem werden die Argumente der beiden Seiten beständig recycelt – obwohl die politischen Rahmenbedingungen sich wesentlich geändert haben.16 Den jüngsten Wiedergänger der Debatte, die sich geschichtspolitisch unverändert geräuschvoll, aber wissenschaftlich unergiebig seit nun mehr als einem halben Jahrhundert im Kreis dreht, hat Eckart Conze vorgelegt. Bewegt haben ihn dazu, wie er erfrischend offen erklärt, politische Motive – nämlich die Sorge vor einer „Renationalisierung“ der Bundesrepublik. Diese äußere sich in einem Rechtsruck der politischen Kultur, die nicht zuletzt historisch unterfüttert werde.17 Als Indikator erscheint Conze dafür zunächst der Aufstieg der AfD. Dass dieser mit einem Geländegewinn nationalkonservativer Geschichtsbilder einhergeht, glaubt er zum einen aus dem großen Echo schließen zu können, das Christopher Clarks Buch über den Beginn des Ersten Weltkriegs hierzulande gefunden hat. Denn Clark widerspricht der These von einer deutschen Hauptschuld am Ausbruch der Feindseligkeiten 1914, die zu einem zentralen Glaubensartikel der „Historischen Sozialwissenschaft“ und ihrer Epigonen geworden ist.18 Zum anderen betrachtet Conze die Ansprüche der Hohenzollern, in der DDR enteigneten Familienbesitz zurückerstattet zu bekommen, als besorgniserregendes Signal. Denn diese Ansprüche würden nicht nur von einigen Historikerkollegen unterstützt. Wie die Restaurierung des Stadtschlosses der Hohenzollern in Berlin seien sie vielmehr Anzeichen einer weitverbreiteten Neigung, das Kaiserreich neuerdings durch eine rosarote Brille zu sehen. Conze scheint es deshalb dringend geboten, dieser Neigung entgegenzuwirken, indem er über die „wahre“ Natur des Kaiserreichs aufklärt. Denn dieses sei nun einmal ein „autoritärer Nationalstaat“ gewesen, „ausgestattet zwar mit liberalen und demokratischen Potentialen“, die aber nicht zum Tragen gekommen wären. 19 Deshalb werden sie in seinem Buch auch kaum thematisiert, das den bezeichnenden Titel „Schatten des Kaiserreichs“ trägt. Das kopiert die Praxis der älteren Darstellungen Hans-Ulrich Wehlers, Wolfgang Mommsens, Volker Berghahns und Volker Ullrichs,20 in denen ebenfalls die Ambivalenzen der komplexen Welt des Kaiserreichs vereindeutigt wurden: Aspekte, die nicht in das Bild des „autoritären Nationalstaats“ passen, kommen nur in angehängten Halb- und Nebensätzen vor. Diese übernehmen weitgehend die Funktion von Deponien nutzlosen Schutts. Denn für die eigentliche Natur des Kaiserreichs, so auch Conze, seien sie letztlich irrelevant. Zwar habe es keinen deutschen

16 So etwa auf konservativer Seite von Kroll (2013): Geburt der Moderne, und Kraus (2015): Bismarck; auf linker bei Berghahn (2003): Kaiserreich, und Ullrich (2013): Die nervöse Großmacht. 17 Conze (2020): Schatten, S. 15–17 (auch zum folgenden). 18 Clark (2013): Schlafwandler. 19 Conze (2020): Schatten, S. 19. 20 Wehler (1995): Gesellschaftsgeschichte; Mommsen (1990): Der autoritäre Nationalstaat; Berghahn (2003): Kaiserreich; Ullrich (2013): Die nervöse Großmacht.

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historischen „Sonderweg“ gegeben. Aber das Kaiserreich dürfe auch nicht „weichgezeichnet“ werden „als ‚normale‘ Nation“, wie das etwa Historikerinnen wie Margaret Anderson und Hedwig Richter täten.21 Wie vor ihm bereits Wehler, Mommsen, Berghahn und Ullrich unterstreicht Eckart Conze stattdessen das, was das Kaiserreich zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus mache. Das gelte vor allem für den Charakter des Kaiserreichs als „Kriegsgeburt“. Dieser beständig wiederholte Begriff zieht sich wie ein Leitmotiv durch den ersten Teil von Conzes Buch, der den „Weg zum Nationalstaat“ thematisiert. Die Entstehung des deutschen Kaiserreichs war in der Tat eindeutig die Folge der aus der Rückschau so genannten „Reichseinigungskriege“, insbesondere des deutsch-französischen Kriegs 1870/71. Diese „Kriegsgeburt“ des Reiches, so suggeriert Conze hier wie auch später im Buch mehrfach, habe die Entfesselung des Ersten Weltkriegs durch Deutschland, die Niederlage von 1918 und als Folge davon wiederum den Zweiten Weltkrieg heraufbeschworen. Dabei hätte es ja, betont er am Ende dieses ersten Teils, durchaus Alternativen zur gewaltsamen Nationalstaatsgründung gegeben. Es spricht für Conze, dass er diese auf der Höhe des Forschungsstandes auch kritisch auf ihre Chancen hin durchleuchtet. Der Deutsche Bund hätte weiterbestehen können – was aber wegen seines illiberalen Charakters als Instrument der Fürstenautokratie für die liberale Nationalbewegung nicht akzeptabel war. Der Bund hätte von einer Staatenföderation zu einem großdeutschen Föderalstaat weiterentwickelt werden können – was als Machtzusammenballung im Zentrum Europas jedoch das Veto der übrigen Mächte des Kontinents provoziert hätte. Schließlich hätte ein Nationalstaat statt von oben auch auf demokratische Weise von unten, aus der Bevölkerung heraus, geschaffen werden können wie in der Revolution 1848/49 versucht – was scheiterte, weil die Revolutionsbewegung zu zersplittert war und sich außerdem auf Dauer weder den alten Gewalten im Innern noch dem Einspruch der europäischen Mächte gewachsen erwies. Letzten Endes waren die Alternativen zur realhistorischen „Kriegsgeburt“ des deutschen Nationalstaats als Kompromiss zwischen Fürsten und Nationalbewegung allesamt theoretische.22 Es spricht auch für Conze, wenn er an anderer Stelle anmerkt, die deutsche Nationalgeschichte müsse im europäischen Vergleich gesehen werden. Zutreffend stellt er fest, dass die Klassiker der „Historischen Sozialwissenschaft“ in den 1970er Jahren und danach das allenfalls als Absichtserklärung formuliert, aber kaum in die Praxis umgesetzt haben. Ihre Vertreter maßen das Deutsche Kaiserreich lediglich an dem von der whig historiography produzierten, idealisierten Bild Großbritanniens, das damals schon von der neueren britischen Forschung längst widerlegt worden war.23 Allerdings zieht er aus dieser Erkenntnis selbst auch keine praktischen Konsequenzen. Dabei wäre ein Vergleich der Entstehung des deutschen Nationalstaats

21 Conze (2020): Schatten, S. 20–22. 22 Ebd., S. 99–102. 23 Ebd., S. 21.

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von 1871 mit den anderen Nationsbildungen in Europa außerordentlich erhellend. Denn schon ein oberflächlicher Blick in Einführungen zur vergleichenden Nationalismusforschung würde zeigen, dass Prozesse der Nationalstaatsbildung auf dem ganzen Kontinent von Gewalt in Form von Kriegen und Revolutionen begleitet waren, ja ohne diese kaum denkbar erscheinen. Die „Kriegsgeburt“ der deutschen Nation war im europäischen Vergleich nicht die Ausnahme, sondern die Regel.24 Dann aber fragt sich, warum die anderen durch „Kriegsgeburten“ zur Welt gekommenen europäischen Nationalstaaten im Innern nicht eine Entwicklung zu einer Diktatur durchmachten, die der nationalsozialistischen vergleichbar wäre. Und der Annahme, dass von den „Reichseinigungskriegen“ und insbesondere dem deutschfranzösischen Krieg gleichsam eine Art Pfadabhängigkeit zu 1914 und 1939 führt, ist erst recht jeder Boden entzogen. Verglichen mit diesen grundsätzlichen Fragen ist es wohl nur eine Fußnote, dass der Beginn des Krieges von 1870/71 unter Spezialisten vor allem als Folge französischer Politik gilt und weniger als die Bismarcks, wie es der verbreitete Mythos von der Emser Depesche will.25 Eine geradlinige militaristische Kontinuität von 1870/71 bis 1945 als Spezifikum deutscher Nationalgeschichte gehört dennoch zum festen Bestandteil geschichtspolitischer Konstruktionen in den genannten Handbüchern und weiten Teilen der Öffentlichkeit. Dass die Auslösung des Zweiten Weltkriegs eindeutig aufs Kerbholz Deutschlands geht, wird kaum ein Wissenschaftler ohne Verlust jeder Glaubwürdigkeit bestreiten können. Was die Auslösung des Ersten Weltkriegs angeht, ist das dagegen umstritten. Eckart Conze stellt sogar fest, dass auch andere als nur deutsche Akteure im Juli 1914 zur Eskalation beigetragen haben. Das geschieht freilich einmal mehr in einem beiläufigen Nebensatz, um dann seitenweise ausführlich nur die Rolle der deutschen Regierung bei der Verschärfung der Krise zu beleuchten. Nun hat auch das seit Fritz Fischer Tradition in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung über die Julikrise 1914. Und vielleicht sogar mit guten Gründen: Jeder kehre vor der eigenen Haustür. Der Bestseller von Christopher Clark über den Beginn des Ersten Weltkriegs hat dagegen keinen auf eine Nation konzentrierten Blickwinkel. Der Verkaufserfolg von Clarks Buch in Deutschland kann viele Gründe haben: ein gutes Marketing des Verlags, der Name des bereits durch andere erfolgreiche Publikationen bekannt gewordenen Autors, sein Stil, seine Vergleiche der Ereignisse von 1914 mit aktuellen Entwicklungen, und die von Conze vermutete Attraktivität einer Darstellung, die Deutschland nicht die Hauptschuld an der Auslösung des Ersten Weltkriegs zuweist, für bestimmte Kreise hierzulande. Wie auch immer: Clark führt letztlich allein das auf leicht lesbare Weise zusammen, was von angelsächsischen Historikern, die anders als ihre deutschen Kollegen alle Akteure der Julikrise 1914 gleichermaßen in den Blick genommen haben, seit Jahrzehnten zusammengetragen worden ist.26 Wenn in der Bundesrepublik

24 Zuletzt dazu Langewiesche (2019): Der gewaltsame Lehrer. 25 Kolb (1970): Kriegsausbruch; Wetzel (2001): Duell. 26 Überblicke bei Wilson (1995): Decisions; Hamilton / Herwig (2003): Origins.

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dagegen der Tunnelblick auf die Berliner Akteure der Julikrise dominiert, ist das angesichts des weiteren Verlaufs der deutschen Geschichte nur verständlich. Die Frage nach der deutschen Verantwortung für den Beginn des Ersten Weltkriegs war spätestens seit dem Versailler Kriegsschuldparagraphen ein Politikum. Und vielleicht ist es das, wie Conze vermutet, heute auch wieder. Weil die Nationalsozialisten die Republik von Weimar auch als „Erfüllungsgehilfen“ der alliierten „Kriegsschuldlüge“ bekämpften und den Zweiten Weltkrieg als Antwort auf diese verstanden, sind für deutsche Historiker in dieser Frage die Fettnäpfchen schon aufgestellt, in die man treten könnte. Da ist es dann weniger riskant, sich auf den Nachweis des deutschen Beitrags zur Julikrise 1914 zu konzentrieren. Das ist allerdings nicht nur etwas einseitig. Es ist eigentlich auch unnötig. Denn eine Relativierung der deutschen Verantwortung für den Kriegsbeginn 1914 relativiert ja keineswegs die eindeutige deutsche Verantwortung für 1939. Schließlich war es alles andere als zwangsläufig, auf die Niederlage von 1918 und den Frieden von Versailles mit unilateraler Aggression zu reagieren, wie Hitler und die Nationalsozialisten es taten. Die Politik multilateraler Verständigung, wie sie Hermann Müller, Walther Rathenau und Gustav Stresemann während der Weimarer Republik praktizierten, beweist das zur Genüge. Ebenso wenig wie es eine Pfadabhängigkeit von 1918/19 zu 1939 gab, muss es eine Kontinuität von deutscher Kriegstreiberei gegeben haben, die von 1870 über 1914 bis 1939 reicht. Eckart Conze betont zu Recht deshalb in „Schatten des Kaiserreichs“ wiederholt die prinzipielle Offenheit historischer Entwicklungen und beruft sich dabei auf Thomas Nipperdey. Gleichzeitig betont er aber nicht nur, der „Schatten“ der „Kriegsgeburt“ habe schwer auf dem 1871 gegründeten deutschen Staat gelastet. Nach dem Untergang der Hohenzollernmonarchie sei es auch der „Schatten des Kaiserreichs“ gewesen, der „zum Scheitern der ersten deutschen Demokratie entscheidend beitrug“.27 Den Nachweis dazu versucht er in einem zweiten Hauptteil zu führen, der mit „Der autoritäre Nationalstaat“ überschrieben ist. Zwar gelte das, gesteht Conze zu, für Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft des Kaiserreichs nur mit Einschränkungen. Hier habe es vielmehr zahlreiche liberale und demokratische Tendenzen gegeben. Aber die gesellschaftliche Demokratisierung, die sich in der Entstehung von Massenverbänden mit Hunderttausenden von Mitgliedern ausdrückte, habe letzten Endes nur den autoritären Staat gestärkt, weil die Verbände an Parteien und Parlamenten vorbei mit den autokratisch regierenden Eliten Geschäfte gemacht hätten.28 Das ist eine alte These der Forschung vor allem über die Industrieverbände des Kaiserreichs, die in den 1960er und 1970er Jahren florierte. Danach gab es zwischen aristokratischen Großagrariern in der Regierung und insbesondere der Schwerindustrie enge Beziehungen, ein „Bündnis von Roggen und Eisen“. Allerdings haben schon frühe Arbeiten über industrielle Organisationen wie die von Hans-Peter Ullmann über den Bund der Industriellen gezeigt, dass die Industrie im 27 Conze (2020): Schatten, S. 102, 15. 28 Ebd., S. 133.

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Kaiserreich nicht mit einer Stimme sprach. Zudem drängten die Verbände die Parteien keineswegs beiseite oder machten sie sich zu Diensten, wie die Forschung der 1980er und 1990er Jahre deutlich machte: Vielmehr ging an den Parteien und den Parlamenten immer weniger ein Weg vorbei.29 Die Organisationen der Industriellen waren auch keineswegs Massenorganisationen. Eher kann das schon für Agrarverbände gelten, wie für den 1893 gegründeten Bund der Landwirte. Eckart Conze macht den Bund, der eng mit der Deutschkonservativen Partei zusammenarbeitete, einmal mehr zum Kronzeugen für die Annahme einer Verankerung von Antisemitismus und Antisozialismus im politischen Mainstream des Kaiserreichs. Tatsächlich war der Bund der Landwirte, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs 330.000 Mitglieder zählte, stramm antisozialistisch eingestellt, und in seinen Publikationen finden sich öfter judenfeindliche Ausfälle.30 Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus ist gerade unter Historikern die Sensibilität für solche Quellenfunde groß. Gelegentlich verschwimmen dabei aber auch ein wenig die Proportionen. So suggeriert Conze, der Bund der Landwirte sei eigentlich eine Organisation zur Verbreitung von Antisemitismus gewesen, der sich nur „vordergründig ein bestimmtes Interesse auf die Fahnen geschrieben“ habe.31 Warum hat er sich dann aber nicht „Bund der Antisemiten“ genannt? Und warum waren diejenigen, die etwas derartiges taten, nämlich die erklärten Antisemitenparteien und ihre Vorfeldorganisationen im Kaiserreich, vergleichsweise herzlich wenig erfolgreich? Bei den Reichstagswahlen der 1890er Jahren konnten sie nie mehr als vier Prozent der abgegebenen Stimmen gewinnen. Danach ging ihr Stimmenanteil noch weiter zurück.32 Auch die Belege für eine Verankerung von Antisozialismus im mainstream der politischen Kultur des Kaiserreichs sind bei näherer Betrachtung ziemlich dürftig. Die SPD hatte am Vorabend des Ersten Weltkriegs über eine Million Mitglieder, mit großem Abstand mehr als jede andere Partei des Kaiserreichs – und mehr als drei Mal so viel wie der Bund der Landwirte, die größte explizit antisozialistische Organisation. Die der SPD eng verbundenen Freien Gewerkschaften hatten sogar zweieinhalb Millionen Mitglieder. Seit den 1880er Jahren hatte die SPD bei den Reichstagswahlen beständig Wähler dazugewonnen. Vor dem Weltkrieg machten mehr als ein Drittel der Stimmberechtigten ihr Kreuzchen bei der Sozialdemokratie. Währenddessen verloren deren erbittertste Feinde, die Konservativen, zunehmend an Anhängern. Das Zentrum kooperierte 1907, die Liberalen 1912 bei den Wahlen mit der SPD. Während des Weltkriegs fanden diese drei Parteigruppen sich schließlich im Interfraktionellen Ausschuss zusammen, der die antisozialistischen Konservativen ausgrenzte und zur Keimzelle der Weimarer Koalition wurde.

29 Ullmann (1976): Bund der Industriellen; ders. (1988): Interessenverbände; ders. (2005): Politik. 30 Conze stützt sich hier wie Wehler, Mommsen, Berghahn, Ullrich und andere auf Puhle (1966): Agrarische Interessenpolitik. 31 Conze (2020): Schatten, S. 148. 32 Levy (1975): Downfall.

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Zwar trennten „nationale“ Fragen, wie die Aufrüstung der Flotte und des Heeres oder die Kolonialpolitik, zeitweise auch Sozialdemokraten einerseits, die „bürgerlichen“ Parteien einschließlich Liberalen und Zentrum andererseits. Wenn Conze allerdings „Radikalnationalismus“ als „bestimmendes Element der politischen Kultur“ im Kaiserreich identifiziert, dann wirft er nach dem Vorbild von Wehler, Mommsen, Berghahn und Ullrich nicht nur verschiedene Ausprägungen von „nationaler“ Gesinnung in einen Topf. Er wiederholt auch einmal mehr eine Behauptung, die zwar weit verbreitet, aber empirisch nicht zu belegen ist, während vieles gegen sie spricht.33 Nicht zufällig hat die Forschung den Begriff „Radikalnationalismus“ geprägt. Gemeint ist damit eine Ideologie, die Nationalismus mit Militarismus, Sozialdarwinismus und rabiat rassistischen und antisemitischen Überzeugungen verbindet. Radikalnationalisten im Kaiserreich propagierten eine Vereinigung aller Gebiete, die von Deutschsprachigen besiedelt wurden, oder auch allen deutschen „Kulturbodens“ in Europa. Auf dem Gebiet des Deutschen Reichs forderten sie eine radikale Bekämpfung von „Reichsfeinden“ wie den Sozialdemokraten und „fremdvölkischen“ Minderheiten, insbesondere den Polen. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg tendierten sie schließlich zu Forderungen nach „ethnischer Säuberung“, was auf die Vertreibung der polnischen Minderheit hinauslief. Zu unterscheiden vom Radikalnationalismus ist das, was etwa Mark Hewitson treffend „Normalnationalismus“ genannt hat.34 Dieser war in der Tat ein bestimmendes Element der politischen Kultur des Kaiserreichs. Er dominierte in den millionenstarken Krieger- und Veteranenvereinen. Er dominierte auch in den meisten anderen Verbänden. Urteilt man nach den Ergebnissen der Reichstagswahlen, dann nahm die von jeher geringe Attraktivität radikal nationalistischen Gedankenguts in der deutschen Bevölkerung des Kaiserreichs sogar deutlich ab. Denn eine wachsende Mehrheit der Wähler entschied sich für Parteien wie die SPD, das Zentrum oder die Linksliberalen. Diese waren zwar „national“ oder wurden es, aber nicht radikal nationalistisch. Radikalen Nationalismus gab es hauptsächlich beim Alldeutschen Verband, teilweise auch bei dem ebenfalls in den 1890er Jahren entstandenen Flottenverein und dem 1912 gegründeten Deutschen Wehrverein. Besonders die Alldeutschen nahmen in vielem die Ideologie der Nationalsozialisten vorweg. Deswegen räumt Conze, dem es ja vor allem um die „Schatten“ geht, die das Kaiserreichs auf die weitere deutsche Geschichte geworfen hat, ihnen besonders großen Raum ein – obwohl er einräumen muss, dass der Alldeutsche Verband mit seinen maximal 23.000 Mitgliedern für die Verhältnisse der Zeit definitiv keine Massenorganisation war. Der Verband habe aber eine „enorme Öffentlichkeitswirkung“ gehabt – eine These, die im Widerspruch steht zu der Feststellung, dass er sich angesichts der durch Wahlen bescheinigten politischen Erfolglosigkeit immer weiter radikalisierte.

33 Conze (2020): Schatten, S. 135. 34 Hewitson (2015): Nationalism.

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Wehr- und Flottenverein handelt Conze dagegen nur knapp ab, trotz deren höherer Mitgliederzahl. Die Standardwerke von Marilyn Coetzee und Geoff Eley zu diesen Organisationen hat er nicht konsultiert. Ihnen hätte er entnehmen können, dass gerade im größten dieser „nationalen“ Verbände, dem Flottenverein, eine „radikalnationalistische“ Ausrichtung außerordentlich umstritten war und sich letztlich nie voll durchsetzen konnte. Zudem werden dort die von Conze aus Lexika übernommenen und auf Selbstangaben der Vereine selbst zurückgehenden Mitgliederzahlen korrigiert. Denn wenn man korporative und Mehrfachmitgliedschaften abrechnet, schrumpft die tatsächliche Mitgliederzahl beim Wehrverein von angeblich 360.000 auf allenfalls noch 80.000, beim Flottenverein von angeblich über einer Million auf etwa 270.000. Selbst der gar nicht so radikale Flottenverein bleibt damit noch hinter Berufsverbänden und Gewerkschaften, Bauernorganisationen, konfessionellen Verbänden und nicht zuletzt der SPD weit zurück.35 Mit anderen Worten: Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus hat es mit Blick auf radikalen Nationalismus, Antisemitismus und Antisozialismus zwar gegeben. Besonders ausgeprägt waren diese aber nicht. Eher überwiegt in dieser Hinsicht Diskontinuität. Anders verhält es sich im Bereich der politischen Mentalitäten. Das knappe halbe Jahrhundert zwischen Reichsgründung 1871 und Revolution von 1918 war die Zeit, in der die Deutschen politisch mündig wurden. Ein für die Verhältnisse der Zeit ausgesprochen demokratisches Wahlrecht zum nationalen Parlament ermöglichte zum ersten Mal allen erwachsenen Männern dauerhafte Teilnahme an Politik. Das Interesse daran nahm beständig zu. Die Beteiligung an Reichstagswahlen erreichte vor 1914 Höhen, die es in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Reichstagsdebatten erfreuten sich im Kaiserreich denkbar großer öffentlicher Aufmerksamkeit. Das politische System des Kaiserreichs begünstigte allerdings eine Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit. Denn mit dem ausgesprochen demokratischen Wahlrecht zum nationalen Parlament korrespondierte eine ausgesprochen undemokratische Verfassungsstruktur. Die Macht des Reichstags blieb, bei allen Veränderungen der Verfassungsrealität zu seinen Gunsten seit 1871, doch begrenzt und einseitig negativ. Durch die Verweigerung des Budgets vermochte das Parlament als Ganzes Vorhaben der Exekutive vor allem Steine in den Weg zu legen. Die einzelnen Parteien konnten darüber hinaus durch Verhandlungen mit der Reichsleitung politische Geschäfte machen, indem sie von Fall zu Fall die Stimmen ihrer Abgeordneten gegen Zugeständnisse an die eigene Klientel eintauschten. Verantwortung übernehmen konnten – und mussten – sie aber nicht. Im Lauf der Zeit arrangierten sich die meisten Parteien mit diesem System, das für sie manche Vorteile hatte. Denn es bot die Möglichkeit, Einfluss auszuüben und politisch mitzugestalten, ohne für die Resultate voll verantwortlich gemacht zu werden. Parteiführer, Aktivisten und Wähler gewöhnten sich an eine politische Praxis,

35 Conze (2020): Schatten, S. 148–158; und vgl. dagegen Eley (1980): Reshaping; Coetzee (1990): German Army League.

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die von Demagogie geprägt war. Im engeren Sinn demokratische Tugenden, wie die Bereitschaft zum Interessenausgleich durch Kompromiss, erlernten sie dagegen nicht. Politische Mehrheiten kamen ad hoc zustande. Zu festen Parteikoalitionen fanden sich die Parteien im Kaiserreich in aller Regel nicht zusammen – und die einzige Ausnahme von der Regel, der 1907 gebildete Bülowblock, scheiterte nach gerade einmal zwei Jahren an der fehlenden Kompromissbereitschaft der Beteiligten. Die politischen Eliten kamen selten in die Verlegenheit, unpopuläre Entscheidungen gegenüber ihrer Klientel zu begründen. Und den Wählern wurde entsprechend selten zugemutet, Unvermeidliches zu akzeptieren oder selbst Verantwortung für ihr Gemeinwesen zu übernehmen. Eine verantwortungsvolle Zivilgesellschaft konnte so kaum entstehen. 1918 veränderte sich die Situation dann gleichsam über Nacht. Der demokratisch gewählte Reichstag wurde jetzt zum politischen Machtzentrum, die Regierung ihm verantwortlich, das Wahlvolk zum Souverän. Doch weder die Parteien noch die Bürger waren darauf vorbereitet. Es gelang ihnen nicht, die in einem halben Jahrhundert angeeignete Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit in wenigen Jahren zu überwinden. Das hat der Weimarer Republik eine gewaltige Hypothek aufgebürdet. Wer nach kausalen Zusammenhängen zwischen der Entwicklung des Kaiserreichs und dem weiteren Verlauf der deutschen Geschichte sucht, wird sie vor allem hier finden. Weil es die Mentalität der Verantwortungslosigkeit in Kaiserreich wie Weimarer Republik rechts wie links gab, eignet sich dieser Befund allerdings nicht zur geschichtspolitischen Instrumentalisierung. Deshalb hat er für die linken Vertreter der „schwarzen Legende“ über das Kaiserreich ebenso wenig Attraktivität wie für ihre Gegner, die konservativen Verbreiter der „weißen Legende“. Eckart Conze und die übrigen Erben der „Historischen Sozialwissenschaft“ haben durchaus recht damit, dass die „weiße Legende“ über das Kaiserreich wissenschaftlich außerordentlich fragwürdig ist. Die Hohenzollernmonarchie war alles andere als ein Hort sozialer Gerechtigkeit und Demokratie. Wenn Manfred Rauh vollmundig meinte, das Kaiserreich habe 1914 „auf der Schwelle zum parlamentarischen System“ gestanden, unterschlug er dabei, dass von den Zeitgenossen kaum jemand bereit war, diese Schwelle zu überschreiten.36 Allerdings ist es ebenso einseitig, das Kaiserreich als durchtränkt von Radikalnationalismus, Antisemitismus und Antisozialismus zu sehen. Und es ist nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch fragwürdig. Selbst wenn man wie ich Eckart Conzes Sorgen über den Aufstieg der AfD teilt und die Forderungen der Hohenzollern ebenso bedenklich findet wie den Wiederaufbau ihres Berliner Stadtschlosses mit Steuermitteln: Wie effektiv kann es denn sein, auf die geschichtspolitischen Einseitigkeiten einer neuen Rechten mit den alten Einseitigkeiten von links zu kontern? Wen will man damit überzeugen? Oder geht es wie auf der Rechten auch nur um eine Selbstvergewisserung in Echokammern?

36 Rauh (1977): Parlamentarisierung, S. 145.

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Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls auf, wenn man sieht, wie aus den 1970er Jahren stammende Argumentationslinien ungebrochen tradiert werden, die historische Forschung der letzten vier Jahrzehnte aber in Halbsätzen abgetan und nahezu vollkommen ignoriert wird. Zumal auch die politische Grundierung der Debatte seltsam vorgestrig wirkt: Denn da wird immer noch ein Ringen um historische Deutungshoheit zwischen Rechts und Links fortgesetzt, als wäre der Gegensatz von CDU/CSU und SPD nach wie vor so bestimmend für die deutsche Politik wie in den 1970ern. Dabei hat das deutsche Parteiensystem sich doch seitdem fundamental verwandelt, weil neue Konflikte wie die um Umwelt, Generationengerechtigkeit und die Probleme einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft quer zum klassischen Links-Rechts-Denken liegen. Nicht wenige der in den 1970er Jahren besonders erregt diskutierten politischen Themen, wie besonders die Ostverträge und die deutsche Einheit, sind dagegen längst selbst Geschichte geworden. Anders als von den Vertretern der klassischen „Historischen Sozialwissenschaft“ damals erwartet, sind Nation, nationale Identität und Nationalismus aber dennoch keine Auslaufmodelle geworden. Einerlei ob wir heute tatsächlich Zeuge einer „Renationalisierung“ sind oder das Denken in nationalen Kriterien nicht eher ungebrochen geblieben ist: Ich kann Eckart Conze nur zustimmen, dass es nun darum gehen muss, ein liberales, „freiheitliches Nationsverständnis“ gegen ein ethnisch-exklusives durchzusetzen.37 Bei der historischen Fundierung eines solchen Nationsverständnisses wird man um die Beschäftigung mit der Nationsbildung im deutschen Kaiserreich nicht herumkommen. Dann aber bitte ohne Einseitigkeiten, Auslassungen und den Schnee von gestern. LITERATUR Berghahn, Volker: Das deutsche Kaiserreich 1871–1914, Stuttgart 2003. Blackbourn, David / Eley, Geoff: Mythen deutscher Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1980. Blackbourn, David: Populists and Patricians, London 1987. Bussenius, Daniel: Eine ungeliebte Tradition. Die Weimarer Linke und die 48er Revolution. In: Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Griff nach der Deutungsmacht, Göttingen 2004, S. 90–114. Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013. Coetzee, Marilyn Shevin: The German Army League. Popular Nationalism in Wilhelmine Germany, New York 1990. Conze, Eckart: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, Stuttgart 2020. Eley, Geoff: Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, New Haven 1980. Eley, Geoff: From Unification to Nazism, Boston 1986. Evans, Richard: Rethinking German History, London 1987. Epkenhans, Michael: Reichsgründung 1870/71, München 2020. Eyck, Erich: Bismarck. Leben und Werk, Bd. 1–3, Erlenbach-Zürich 1941–1944.

37 Conze (2020): Schatten, S. 15.

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AUTORINNEN UND AUTOREN Lennart Bohnenkamp ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Politik in der doppelten Hauptstadt Berlin 1867–1918. Wechselwirkungen, Verflechtungen und Interferenzen zwischen preußischer Politik und Reichspolitik vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Kaiserreichs“ an der TU Braunschweig. Andreas Braune ist stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Michael Dreyer lehrt politische Theorie und Ideengeschichte an der FSU Jena. Er ist Vorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Stefan Gerber leitet das Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er lehrt dort auch als Privatdozent am Historischen Institut. Oliver F. R. Haardt ist Lumley Research Fellow in History am Magdalene College, Cambridge, UK. Paul Lukas Hähnel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Neuere Geschichte des Instituts für Geschichtswissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Tobias Hirschmüller ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Theo Jung ist Assistent am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Michael Kitzing ist freischaffender Historiker in Singen. Markus Lang leitet das Projekt „Orte der Demokratiegeschichte“ beim Weimarer Republik e.V. Ulrich Lappenküper ist Geschäftsführer und Vorstand der Otto-von-BismarckStiftung. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der HelmutSchmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg. Sabine Mangold-Will ist apl. Professorin für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Bergischen Universität Wuppertal.

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Autorinnen und Autoren

Jan Markert ist Promotionsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung im Fachbereich Neueste Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ulf Morgenstern ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Otto-von-Bismarck-Stiftung. Er ist Lehrbeauftragter im Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg. Walter Mühlhausen ist Geschäftsführer und Mitglied des Vorstandes der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg und apl. Professor für Geschichtswissenschaft an der TU Darmstadt. Christoph Nonn ist Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Katja Protte ist Sachgebietsleiterin Kunst und Ausstellungskuratorin im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr Dresden. Wolfram Pyta ist Professor für Neuere Geschichte, Leiter der Abteilung für Neuere Geschichte und Direktor der Forschungsstelle Ludwigsburg des Historischen Instituts der Universität Stuttgart. Ralf Regener ist Leiter der Abteilung Medienbearbeitung und Fachreferent für Geschichte der Universitätsbibliothek der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sebastian Rojek ist Akademischer Mitarbeiter in der Abteilung für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart. Martin Sabrow ist Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Jürgen Schmidt ist Leiter des Karl-Marx-Hauses Trier. Ulrich Sieg ist Professor im Fachgebiet Neueste Geschichte der Philipps-Universität Marburg. Kerstin Wolff ist Leiterin der Forschungsabteilung im Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) in Kassel.

weimarer schriften zur republik

Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune

Franz Steiner Verlag

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ISSN 2510-3822

Michael Dreyer / Andreas Braune (Hg.) Weimar als Herausforderung Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert 2016. XIV, 310 S., 10 Abb., 11 Fotos, 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11591-9 Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.) Republikanischer Alltag Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität 2017. XVIII, 353 S., 4 Abb., 4 Fotos, 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11952-8 Andreas Braune / Mario Hesselbarth / Stefan Müller (Hg.) Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922 Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus? 2018. XXXII, 262S., 3 Abb., 7 Fotos, kt. ISBN 978-3-515-12142-2 Michael Dreyer Hugo Preuß Biografie eines Demokraten 2018. XXV, 513 S., 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12168-2 Albert Dikovich / Alexander Wierzock (Hg.) Von der Revolution zum Neuen Menschen Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur 2018. 347 S. ISBN 978-3-515-12129-3 Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.) Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort 2019. XXVI, 326 S., 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12219-1 Patrick Rössler / Klaus Kamps / Gerhard Vowe Weimar 1924: Wie Bauhauskünstler die Massenmedien sahen / How Bauhaus artists looked at mass media

Die Meistermappe zum Geburtstag von Walter Gropius / The Bauhaus masters’ gift portfolio for Walter Gropius 2019. 208 S., mit zahl. Abb., geb. ISBN 978-3-515-12281-8 8. Sebastian Schäfer Rudolf Olden – Journalist und Pazifist Vom Unpolitischen zum Pan-Europäer. Moralische Erneuerung im Zeichen moderner Kulturkritik 2019. 438 S., kt. ISBN 978-3-515-12393-8 9. Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune Konsens und Konflikt Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik 2019. XXIII, 354 S., 9 Abb., 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12448-5 10. Sebastian Elsbach Das Reichsbanner Schwarz-RotGold Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik 2019. 731 S., 3 Abb., 15 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12467-6 11. Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.) Weimar und die Neuordnung der Welt Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918 2020. XIII, 326 S., 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12676-2 12. Daniel Führer Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte Tagebücher der Weimarer Republik (1913–1934) 2020. 378 S., 12 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12583-3 13. Sebastian Elsbach / Marcel Böhles / Andreas Braune (Hg.) Demokratische Persönlichkeiten in der Weimarer Republik 2020. XIX, 241 S., 7 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12799-8

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15.

Elias Angele „Schützt die Revolution!“ Die Stadtwehr Bremen 1919–1921: Geschichte und Quellen 2021. 260 S., 13 Abb., 5 Tab., kt. ISBN 978-3-515-13009-7 Lucia J. Linares German Politics and the ‘Jewish Question’, 1914–1919 2021. 233 S., kt. ISBN 978-3-515-13069-1

16.

Andreas Braune / Michael Dreyer / Sebastian Elsbach (Hg.) Vom drohenden Bürgerkrieg zum demokratischen Gewaltmonopol (1918–1924) 2021. XXIV, 282 S., 2 Abb., 1 Tab., kt. ISBN 978-3-515-13152-0

Wie demokratisch war der Obrigkeitsstaat? Die Autorinnen und Autoren liefern detaillierte Einblicke in Verfassungsstruktur, Parteienlandschaft, poli­ tische Prozesse und gesellschaftliche Bewegungen in der Zeit des Kaiserreichs, das 47 Jahre lang die deutsche Geschichte geprägt hat. Sie thematisieren Erinnerungskultur(en) und die Behandlung in der Historiographie. Deutlich wird, dass das Kaiserreich durchaus Tendenzen gesellschaftlicher Demokratisierung zeigte. Das politische und intellektuelle Establishment sowie das Verfassungsgefüge versuchten aber, diese eher abzuwehren als sie zu integrieren. Der Platz des Kaiserreiches in der deutschen Demokratie­ geschichte bleibt daher ambivalent, und dies spiegelt sich bis heute in der Erinnerungskultur wider.

ISBN 978-3-515-13150-6

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