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German Pages 239 [242] Year 2015
Pravu Mazumdar (Hg.)
Foucault und das Problem der Freiheit
32 Staatsdiskurse Franz Steiner Verlag
Pravu Mazumdar (Hg.) Foucault und das Problem der Freiheit
Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 32
Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Erfurt Norbert Campagna, Luxemburg Paula Diehl, Berlin Michael Hirsch, München Manuel Knoll, Istanbul Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Göttingen Birgit Sauer, Wien Peter Schröder, London
Pravu Mazumdar (Hg.)
Foucault und das Problem der Freiheit
Franz Steiner Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-11229-1 (Print) ISBN 978-3-515-11232-1 (E-Book) Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Bosch Druck, Ergolding Printed in Germany
EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt
INHALT
EINLEITUNG Pravu Mazumdar: Foucault und das Problem der Freiheit .......................................................... 11
TEIL I FREIHEIT UND AUSSEN Alex Demirović: Für eine Freiheit jenseits der Freiheit ............................................................. 39 Arne Klawitter: Freiheit des Außen .......................................................................................... 59
TEIL II FREIHEIT UND MACHT Felix Heidenreich: Die Problematisierung von Freiheit bei Foucault und Honneth ..................... 77 Gerhard Unterthurner: Normalisierungsmacht und Freiheit nach Foucault ........................................ 89
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Inhalt
Yu-Lin Chiang: Die Umschreibung der Freiheit bei Foucault: Auf der Suche nach einem neuen Recht ....................................................... 119 Christoph Hubig: Typen der Macht und Spielräume der Freiheit ............................................. 135
TEIL III FREIHEIT UND ETHOS Walter Seitter: Ist Foucault ein Liberaler? ............................................................................ 153 Zara S. Pfeiffer: Queere Subjektivierungen. Scheitern als Praxis der Freiheit ....................... 171 Wilhelm Miklenitsch: Anonymität, Anomalität. Foucault und Deleuze: Parallele Philosophien der Freiheit ............................................................... 185 Autoren ......................................................................................................... 237
EINLEITUNG
FOUCAULT UND DAS PROBLEM DER FREIHEIT Pravu Mazumdar
1. MACHT UND FREIHEIT Foucault genießt den Ruf eines Analytikers der Macht, der gewaltige Materialbestände durcharbeitet und die Regelhaftigkeit historischer Prozesse untersucht, in denen sich diskursive und nichtdiskursive Kräfte verbinden und Machteffekte zeitigen. Es wäre allerdings einseitig und verfehlt, in Foucaults kritischen Unternehmungen nichts anderes als metahistorische Auseinandersetzungen mit der Macht zu sehen. Von einer anderen Perspektive aus erscheinen seine Forschungen als wiederholte Anläufe, in den Spielen der Macht auch Spiele der Freiheit zu erkennen. Eine Analytik der Macht im Sinne Foucaults ist deshalb stets mit einer Analytik der Freiheit verschränkt, die – wie wir später sehen werden – als eine Geschichte des Denkens, genauer, der Freiheit des Andersdenkens in Erscheinung treten kann. Macht und Freiheit sind also die zwei kaum entwirrbaren Wirklichkeiten, die in Foucaults Arbeiten als zwei gleichzeitige Erscheinungsweisen von Kräfteverhältnissen sichtbar werden. Eine solche Gleichzeitigkeit kann man aber von zwei unterschiedlichen Blickwinkeln aus darstellen. Zum einen: Wo Freiheit ist, ist auch Macht. Zum anderen: Wo Macht ist, ist auch Freiheit. 2. WO FREIHEIT IST, IST AUCH MACHT Man kann also davon ausgehen, dass auf Foucaults Forschungswegen überall Freiheiten begegnen, die an das Problem der Macht gekoppelt sind. Denn die Frage: „Wie lebt man die Freiheit?“ ist untrennbar von der Frage: „Wie wird Macht ausgeübt?“ Im Folgenden werden einige Stationen aus Foucaults Auseinandersetzungen mit dem Problem der Freiheit in ihrem Machtbezug aufgezählt. Damit soll ein Doppeltes erreicht werden. Zum einen soll ein problemgeschichtlicher Einstieg in Foucaults Werk angeboten, zum anderen aber auch in die Fragestellung des Bandes eingeführt werden. Das Problem der Freiheit meldet sich bereits in einer der frühesten Schriften Foucaults: der 1954 erschienenen Einleitung zu Ludwig Binswangers Essay
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„Traum und Existenz“1, in der Träume oder Kunstwerke nicht mehr nur als Ausdruck verborgener psychischer Mechanismen betrachtet werden, sondern als das Sichtbarwerden der „ursprünglichste[n] Freiheit des Menschen.“2 Unter Freiheit versteht der junge Foucault im Anschluss an Binswanger eine grundlegende ontologische Mobilität3 der menschlichen Natur, die stets auf die Gegenmacht einer transzendenten Welt, letztlich des Todes, stößt und sich in den Bildern der Einbildungskraft entlädt: „Auf diese Weise erhalten alle Träume von einem gewaltsamen Tod …, in denen man letzten Endes das Aufeinanderstoßen einer Freiheit und einer Welt erkennen muss, ihren Sinn.“4
Wir beachten hier das Motiv des Aufeinanderstoßens (l’affrontement) der Kräfte, das nicht nur ein konstantes Motiv in Foucaults Denken bleibt, sondern fast drei Jahrzehnte später in seinen letzten Stellungnahmen auch ausdrücklich reflektiert wird, als es darum geht, Machtausübung auf Situationen zurückzuführen, in denen Freiheiten aufeinander stoßen. Doch wollen wir nicht vorgreifen. Somit taucht – noch diesseits des psychoanalytischen Unbewussten – ein Raum möglicher Freiheiten auf, der sowohl dem Traum als auch allen Ausdrucksakten im Wachzustand als Hintergrund dient5 und drei Dimensionen aufweist, die in Anlehnung an den Koordinatenraum der galileisch-kartesischen Physik als die drei Freiheitsachsen der menschlichen Existenz bezeichnet werden können.6 Denn: Wie in der Physik geht es auch hier um Freiheit als Möglichkeit von Bewegung – im Unterschied etwa zur aristotelischen Tradition, die für gewöhnlich die Freiheit im Ausgang von subjektiven Prinzipien wie Selbstursächlichkeit oder Selbstgesetzlichkeit denkt.7 Zugleich aber versteht es sich, dass die Freiheitsontologie des jungen Foucault nicht die Bewegung physikalischer Körper im Blick hat, sondern die der menschlichen Existenz, die ja seit Heideggers fundamentalontologischer Unterscheidung von der Seinsweise alles Vorhandenen abzusetzen und in ihrer Eigenart als Dasein aufzunehmen ist.8 In diesem Sinne meint hier der Ausdruck „Freiheit“ die Möglichkeiten des menschlichen Werdens, die nicht im dreidimensionalen physikalischen Raum, sondern in einem dreifach dimensionierten ontologischen Bewe-
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Binswanger 1930. Ludwig Binswanger (1881–1966), Freund und Vertrauter Freuds und Leiter der berühmten Klinik Bellevue in Kreuzlingen (Schweiz), hat wesentliche Anregungen aus Martin Heideggers Daseinsanalytik in die psychoanalytische Anthropologie aufgenommen und die Daseinsanalyse als therapeutische Schulrichtung begründet. Foucaults lange Einleitung zur französischen Ausgabe von Traum und Existenz ist eine seiner zwei frühesten und 1954 gleichzeitig erschienenen Publikationen. Siehe Foucault 1954, 1954 a. Foucault 1954, S. 142. Erinn C. Gilson versteht diesen Begriff als Grundlage der Ethikentwürfe von Foucault und Deleuze. Siehe Gilson 2014, S. 77 ff. Foucault 1954, S. 142. Ibid., 1954, S. 151–162. Ibid., 1954, S. 157 f. Siehe Aristoteles 1985, Drittes Buch. Siehe Heidegger 1986, S. 42.
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gungsraum – entlang drei Qualitätsachsen – zur Entfaltung kommen. So kann sich etwa zwischen den Polen nah und fern die epische Freiheit der menschlichen Ortsveränderung realisieren, zwischen hell und dunkel die lyrische Freiheit des menschlichen Zustandswechsels und zwischen oben und unten schließlich die Freiheit der tragischen Fallbewegung, in der sich die Existenz selbst in Augenblicken wie Entstehen, Scheitern und Sterben konstituiert.9 Doch ist die Ausübung der Freiheit auch Ausübung der Macht. Denn die Freiheit ist eine drängende Kraft – und der Raum meiner Freiheitsgrade „Zeichen meiner Macht“.10 In den ‚uneigentlichen‘ Formen der Existenz treten allerdings andere Kräfte – und Mächte – auf den Plan, wie etwa die souveräne Drohkraft des Todes, was dazu führen kann, dass die Entfaltung der Freiheit ins Stocken gerät, Wahnbilder aufkommen und Verhaltensstörungen zutage treten.11 Wo Freiheit ist, ist auch Macht. Dazu gehört auch, dass eine Pluralität der Kräfte einer Pluralität der Freiheiten und einer Problematisierung der ursprünglichen Freiheit der Existenz entspricht. Dieser frühe Text Foucaults macht die Korrelation zwischen Freiheit und Macht noch in der Allgemeinheit einer Fundamentalontologie der Freiheit, gestützt durch vereinzelte Krankheitsberichte, sichtbar. Doch vollzieht sich der künftige Forschungsweg Foucaults bekanntlich unter dem methodologischen Anspruch, das Denken stets im Zusammenhang einer subjektfernen, diskontinuierlichen und faktenreichen Geschichte gesagter Dinge zu entfalten. Im Brennpunkt solcher Forschungen steht fortan die tragische Achse der Freiheit: die Vertikale von Aufstieg und Fall als die ontologische Bewegungsachse des Auftauchens und Untergehens ganzer Ordnungen des Wissens und der Macht im Zuge historischer Prozesse der Problematisierung evidenter Tatsachen. In „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1961)12 geht es zunächst um die Freiheit des Wahnsinns, die im Europa des sechzehnten Jahrhunderts als eine grundlegende Möglichkeit der menschlichen Existenz empfunden wird und eine besondere Art der Rede hervorbringt, die abwechselnd als Kritik, als apokalyptische Voraussage und als eine Weisheit erscheint, die den Menschen über sich selbst aufzuklären vermag. An der Schwelle zum siebzehnten Jahrhundert setzt aber eine Problematisierung dieser Freiheit ein, die im kartesischen Zweifel ein augenfälliges Maß erreicht und zum Ausdruck bringt, „dass der Wahnsinn außerhalb des Gebietes gestellt ist, in dem … [er] sein Recht auf Freiheit besitzt.“13 Auf die Drohkraft der Freiheit des Wahnsinns antwortet die Macht der Problematisierung mit einem Akt der Grenzziehung, die sich in der Praxis der Internierung konsolidiert und den Wahnsinn und die Vernunft als Alternativen innerhalb einer binären Logik verortet, die fortan einen Menschen entweder als wahnsinnig oder als ein denkendes Wesen, aber niemals als beides zugleich in Erscheinung treten lässt. Im Zuge der 9 10 11 12 13
Foucault 1954, S. 157 f. Ibid., S. 153. Ibid., S. 153 ff. Foucault 1961. Ibid., S. 70.
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Französischen Revolution wird nun die Internierung zum Gegenstand einer erneuten Problematisierung, die dazu führt, dass der Ausgrenzungsraum der Internierung, gemäß der Schrittfolge einer schwellenzeitlichen Transformationslogik, in den Besserungsraum des Asyls umgebaut wird. Das alles beherrschende Thema dabei ist die Befreiung des Wahnsinns: Die Irren werden zwar von ihren Ketten befreit, nicht aber ohne zugleich in ein moralisches Bewusstsein und ein therapeutisches Übungsfeld der sozialen Anpassung eingesperrt zu werden. Die Geschichte des Wahnsinns erscheint somit (1) als eine Geschichte der Freiheit, das heißt aber auch der Macht und der Drohkraft des Wahnsinns; (2) als eine Geschichte der unterschiedlichen Unfreiheiten der Internierung und des Asyls, in denen sich nacheinander die Macht einer ‚kartesianischen‘ Vernunft bzw. einer ‚postkantischen‘ Moral manifestiert; (3) als eine Geschichte der Macht, der Ohnmacht und der reaktiven Unfreiheit einer kollektiven Ordnung, die im Wahnsinn eine Gefahr wittert und ihn anhand von institutionalisierten Handlungen der Grenzziehung problematisiert. Auf diese Weise könnte man die Arbeiten Foucaults Punkt für Punkt durchgehen, um darin den Einsatz einer Analytik der Freiheit aufzuweisen. Das gilt auch für das in „Die Ordnung der Dinge“14 analysierte Ereignis, das für die anthropologische Wissensordnung im neunzehnten Jahrhundert konstitutiv ist: das Auseinandertreten der Raster von Sprache und Repräsentation am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Dieses Ereignis lässt sich an vier inkompatiblen Typen einer vorher nicht da gewesenen diskursiven Freiheit ablesen. Als Objekt der vergleichenden Philologie erhält die Sprache die Dichte einer historischen Materialität, die nicht mehr restlos von der Repräsentation sichtbar gemacht werden kann. Als Mittel der Erkenntnis offenbart die Sprache einen semantischen Überschuss, der ihre Funktion der Repräsentation der Dinge übersteigt und nur durch das Verfahren der Formalisierung zu entfernen ist. Dieser Überschuss kann aber auch auf einen Hintergrund verborgener Bedeutungen zurückgehen, der anhand von Verfahren der Interpretation ans Licht zu holen ist. In allen drei Bereichen meldet sich die paradoxe Freiheit einer Sprache, die sich einerseits von der Figur der Repräsentation gelöst hat, andererseits aber fortfährt, sich der Repräsentation zu bedienen, um die Divergenz beider auseinander getretener Raster aufzuheben. Die diskursive Freiheit erreicht aber ihr radikalstes Maß in der Seinsweise der modernen Literatur, die darin besteht, dass sich die Sprache gänzlich von der Repräsentation löst und zur generativen Sprache der Fiktion wird. Infolge dieser radikalen Freiheit erscheint die Literatur als ein „Gegendiskurs“15 gegenüber dem Diskurs der Wissenschaften, die weiterhin im Machtbereich der Repräsentation agieren und formalisierend, interpretierend und objektivierend verfahren. In der Gegendiskursivität der Literatur meldet sich ein Agon zwischen der Freiheit fiktionaler Diskurse auf der einen Seite und der reaktiven Macht wissenschaftlicher Diskurse auf der anderen, die weiterhin vom Prinzip der Repräsentierbarkeit einer wahren Welt
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Foucault 1966. Ibid., S. 76.
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ausgehen – ein Agon, der nach wie vor die Ordnungen des zeitgenössischen Wissens beherrscht. Auf andere Weise meldet sich das Problem der diskursiven Freiheit in Foucaults „Archäologie des Wissens“16: anhand der komplexen Formen, in denen die Freiheit der Aussageereignisse und die Macht diskursiver Formationen miteinander verschränkt sind. Man sieht zu, wie die Regulierung diskursiver Freiheit über vier Schwellen führt, die vier verschiedenen Niveaus diskursiver Wahrheitsspiele entsprechen: die Schwellen der Positivität, der Epistemologisierung, der Wissenschaftlichkeit und der Formalisierung.17 In „Die Ordnung des Diskurses“18, der Inauguralvorlesung Foucaults am Collège de France, ist bekanntlich von Prozeduren der Kontrolle und der Einschränkung des Diskurses19 die Rede, von einem wilden Außen diskursiver Freiheit, von diskursiver Disziplin und einer „diskursiven Polizei“, die für Wahrheitsspiele konstitutiv sind: „Es ist immer möglich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss. Die Disziplin ist ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses. Sie setzt ihr Grenzen durch das Spiel einer Identität, welche die Form einer permanenten Reaktualisierung der Regeln hat.“20
In den siebziger Jahren kehrt Foucault zur Problemebene von „Wahnsinn und Gesellschaft“ zurück, indem er das Problem der Freiheit auf der Ebene sowohl diskursiver als auch nichtdiskursiver Praktiken aufgreift. So macht er in „Überwachen und Strafen“ (1975)21 sichtbar, (1) wie im achtzehnten Jahrhundert eine Mikrophysik der Macht verstärkt in die Freiheit und Wildnis der Körper eingreift; (2) wie der Einsatz infinitesimaler Disziplinartechniken die ungerichteten Körperkräfte auf Linie bringt, sie zur höchsten Effizienz bündelt und aus dem „formlosen Teig“22 untauglicher Körper maschinenähnliche Soldatenkörper fabriziert; (3) wie zur gleichen Zeit die „totale und asketische Institution“23 des Gefängnisses aufgestellt wird: als ein von Disziplinartechniken durchdrungener Raum der Freiheitsberaubung, sowie als institutionelles Mittel zum Zweck der technischen Veränderung von Individuen, die dort gefügig und nützlich gemacht und zur ‚Freiheitsfähigkeit‘ umgearbeitet werden; (4) wie schließlich die panoptikale Architektur der Gefängnisse und einer Vielzahl weiterer moderner Einrichtungen wie Fabriken, Schulen, Spitäler den Automatismus disziplinierender Überwachung etabliert. Auf die vielfältigen Möglichkeiten von Bewegung und Verhalten, darunter die problematischen des Verbrechens und der Sexualität, antworten die modernen Gesellschaften mit der Aufstellung von Normen und der Überführung eines potenziell 16 17 18 19 20 21 22 23
Foucault 1969. Ibid., S. 265 ff. Foucault 1970. Ibid., S. 17. Ibid., S. 25. Foucault 1975. Ibid., S. 173. Ibid., S. 301.
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freiheitlichen Chaos der Möglichkeiten in Ordnungen der Norm und der Abweichung. Vor allem zeigt die Analyse des Sexualitätsdispositivs in „Der Wille zum Wissen“24, dass moderne Macht nicht nur und nicht einmal vorrangig als Unterdrückung funktioniert, sondern als Anreizung und Lenkung der Freiheit, sofern sie sich allerdings innerhalb von regierungspolitisch eingerichteten Toleranzgrenzen äußert. In diesem Zusammenhang tritt die liberale Gouvernementalität im achtzehnten Jahrhundert als staatsskeptische Macht auf den Plan, die sich bei ihren Interventionen auf ein umfassendes, statistisch informiertes Bevölkerungswissen stützt und einerseits die Freiheiten gewähren lässt, andererseits aber Sicherheitsdispositive einrichtet, die die Einhaltung der Grenzen statistisch zulässiger Freiheiten gewährleisten.25 3. WO MACHT IST, IST AUCH FREIHEIT Der Durchgang durch die Arbeiten Foucaults erweckt den Eindruck, dass die Macht immer dort anzutreffen ist, wo auch die Freiheit vorkommt. Dabei mag es um recht heterogene Formen und Ebenen der Freiheit, sowie um vielfältige Arenen der Auseinandersetzungen zwischen Freiheit und Macht gehen. So kann man in der Einleitung zu Binswangers „Traum und Existenz“ zusehen, wie pathologische Strukturen entstehen, wenn die Entfaltung der ontologischen Freiheit durch die Machteffekte anderer Kräfte erschwert oder unterbrochen wird. In „Wahnsinn und Gesellschaft“ kann man verfolgen, wie die Freiheit des Wahnsinns nacheinander die Ordnungsmacht der Internierung und die Besserungsmacht des Asyls auf den Plan ruft. In „Die Ordnung der Dinge“ wird dargestellt, wie die Macht der Repräsentation von der Freiheit eines fiktionalen Gegendiskurses in die Schranken gewiesen wird. In „Überwachen und Strafen“ kann man erkennen, wie die chaotischen Freiheiten der Körper innerhalb und außerhalb des Gefängnisses durch korrigierende Eingriffe und panoptikale Räumlichkeiten ausgerichtet werden. In den Vorlesungen über die Regierungskunst (1977–1979) wird gezeigt, wie die gouvernementale Macht Toleranzräume für die Freiheit im liberalen Verständnis einrichtet. Wo Freiheit ist, ist auch die Macht. Bei den mittleren Arbeiten Foucaults hat man allerdings den Eindruck, dass die Analytik der Freiheit von der Analytik der Macht aufgesogen und damit fast unsichtbar gemacht wird. Dafür bricht das Problem der Freiheit in seinen letzten Arbeiten umso deutlicher ins Offene. In den Äußerungen und Stellungnahmen dieser Spätphase bestimmt Foucault die Freiheit geradezu als die Voraussetzung von Machtausübung: „Sklaverei ist keine Machtbeziehung, wenn der Mensch in Eisen geschlagen ist (dann handelt es sich um ein Verhältnis physischen Zwangs); sie ist es nur dann, wenn er sich bewegen und
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Foucault 1976. Siehe Foucault 1977/1978, Foucault 1978/1979, Mazumdar 2012.
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letztlich auch entfliehen kann. Macht und Freiheit schließen einander also nicht aus (Wo Macht ist, kann es keine Freiheit geben). Ihr Verhältnis ist weitaus komplexer. In diesem Verhältnis ist Freiheit die Voraussetzung für Macht …“26
Es geht also im Allgemeinen darum, die gängige Vorstellung – Wo Macht ist, kann es keine Freiheit geben – umzukehren in die These: Wo Macht ist, ist auch Freiheit. Im Besonderen aber gilt es, die Freiheit als die Voraussetzung einer Ethik zu bestimmen, die in der europäischen Antike als eine Kunst der Transformation seiner selbst, sowie der damit assoziierten Haltungen, Verhalten und Verhältnisse bestand. Eine solche Ethik lässt sich „als eine asketische Praxis bezeichnen, wenn man Askese in einem sehr allgemeinen Sinne fasst, also nicht im Sinne einer Moral des Verzichts, sondern in dem einer Einwirkung des Subjekts auf sich selbst, durch die man versucht, sich selbst zu bearbeiten, sich selbst zu transformieren und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang zu gewinnen.“27
Der Begriff der Askese wird also dem Problemkontext angepasst. Die asketischen Praktiken der Griechen sind, anders als bei der Analyse des Gefängnisses als „totaler und asketischer Institution“, nicht als der Einsatz einer Disziplinarmacht zur Effizienzsteigerung von Körpern und Umkodierung von Bewegungen zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um den Einsatz von Freiheitskräften im Augenblick ihrer Reflexion: um freie Handlungen also, die sich im Vollzug einer Ethik der Selbstsorge auf den Handelnden selbst zurück biegen und diesen verändern, ohne sich einem Telos der Gefügigkeit oder der Nützlichkeit unterzuordnen. Deshalb ist hier die Freiheit als die Bedingung einer Ethik zu bestimmen, die ihrerseits als eine reflektierte Form der Freiheit ausgeübt wird.28 Es versteht sich, dass der Einsatz solcher Selbsttechniken die Trennlinie zwischen Innen- und Außenwelt durchlässig werden lässt: Die asketischen Transformationseffekte greifen im gleichen Maße nach innen wie nach außen und erfassen nicht nur das Verhältnis zu sich selbst, sondern nicht minder auch das Verhältnis zu den anderen. Umfassende Veränderungen dieser Art lassen sich auf die spezifischen Macheffekte zurückführen, die vom ethisch Handelnden selbst ausgehen und die Freiheit einer lebenskünstlerischen Stilisierung der eigenen Existenz voraussetzen. Wo die Macht der Selbsttransformation zur Entfaltung kommt, ist bereits die Freiheit der Zuwendung zu sich selbst im Spiel. Doch setzten die asketischen Praktiken neben der Freiheit der Selbstsorge ein Zweites voraus, wenn sie gelingen sollen: die periodisch wiederholte Frage „Wer bin ich gerade?“ Die Antwort auf diese Frage soll nicht nur wahrhaftig sein, sondern auch von einem anderen formuliert werden, sei dies ein Seelenleiter, ein Freund oder – im politischen Kontext – der Ratgeber eines Fürsten. Die zweite Bedingung des Gelingens asketischer Praktiken ist also der wahrsprechende Akt eines anderen, der einem die Wahrheit ins Gesicht sagt. Diese Art der Rede ist
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Foucault 1982, S. 287. Hervorh. v. Verf. Foucault 1984a, S. 876. „Die Freiheit ist die ontologische Bedingung der Ethik. Aber die Ethik ist die reflektierte Form, die die Freiheit annimmt.“ Ibid., S. 879.
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direkt und schroff, sie wird durch keine pädagogischen Umformulierungen schmackhaft gemacht und durch keine wissenschaftliche Neutralität abgemildert. Allein von ihrem Gegenstand und ihrem Modus her eignet ihr das Vermögen, den Angesprochenen zu überrumpeln. Diese Art der Rede, die in der antiken Welt verbreitet und in ihrer Eigenart bekannt war, hat Foucault in seinen letzten Arbeiten unter dem Titel parrhesia analysiert. Die parrhesiastische Rede ist die freimütige, von einer intensiven Freiheitshaltung durchdrungene Rede, deren Quelle der Freiheitsspielraum einer machtartigen Situation ist und deren Kraft der eigentümlichen Gewalt einer ausgesprochenen Wahrheit entspringt. Eine solche Rede lässt deshalb die erlernbaren Taktiken der Rhetorik weit hinter sich und besitzt das Potential, ein Machtverhältnis grundlegend zu verändern. Die parrhesiastische Freiheit besteht darin, nichts zurückzuhalten, rückhaltlos alles zu sagen: all das, was den Empfänger solcher Rede in seinem Wesen ausmacht.29 Unerlässlich für ihre Ausübung ist deshalb der Mut, der auch der philosophischen Rede einen parrhesiastischen Modus verleiht und sie darin von der wissenschaftlichen Rede unterscheidet. Denn: „Der Parrhesiast offenbart seinem Gesprächspartner nicht, was der Fall ist. Er enthüllt ihm oder hilft ihm zu erkennen, was er selbst ist.“30
Das hat zwei wesentliche Konsequenzen. Erstens, dass die parrhesiastische Rede die Wahrheit ihres Empfängers sichtbar macht und ihn dadurch in eine Art Selbsttransformationskrise stürzt, die sich jederzeit in Gewalt entladen kann. Denn das Aussprechen der Wahrheit soll dem Angesprochenen zur Überprüfung und Transformation seines Selbstverhältnisses verhelfen. Zweitens aber hat die parrhesiastische Rede Konsequenzen für die physische Existenz des Parrhesiasten selbst. Denn: Wenn sein Gegenüber ein Tyrann ist, der kein Interesse an einer Selbsttransformation hat, dann kann die freimütige Rede den Parrhesiasten Kopf und Kragen kosten. Als Platon dem Tyrannen Dionysios gegenübertritt und von seiner parrhesiastischen Freiheit Gebrauch macht, antwortet dieser mit einem Mordversuch.31 „Es handelt sich also um die Wahrheit mit dem Risiko der Gewalterfahrung.“32 Dieses Risiko ist aber nur deshalb gegeben, weil sich der Parrhesiast auf unmissverständliche Weise mit seiner Rede identifiziert: „Der Parrhesiast gibt seine Meinung kund, er sagt, was er denkt, er unterzeichnet gewissermaßen selbst die Wahrheit, die er ausspricht, er bindet sich an diese Wahrheit und verpflichtet sich folglich auf sie und durch sie.“33
Mit der Freiheit verbindet sich also ein spezifischer Mut. Aus dem Mut geht der Akt der parrhesiastischen Rede hervor, die wiederum ihr eigenes Fundament – die Beziehung zwischen dem Parrhesiasten und seinem Gegenüber – zu erschüttern
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Foucault 1983/1984, S. 24. Ibid., S. 37. Foucault 1982/1983, S. 81. Foucault 1983/1984, S. 27. Ibid., S. 26.
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und die körperliche Existenz des Sprechenden zu gefährden vermag. Damit birgt die parrhesiastische Freiheit das Potential einer doppelten Überschreitung in sich: erstens, dass die Grenze des Erlaubten verletzt wird, zweitens aber, dass damit auch die Grenze zwischen der Ordnung des Diskurses und der Ordnung der Körper überschritten wird, sofern eine bloße Rede, eine bloße Zusammenreihung aus Wörtern, tödliche Konsequenzen für einen Körper haben kann. Die eigentümliche Kraft der parrhesiastischen Rede besteht also darin, dass der Parrhesiast sein Leben riskiert, dass der Vollzug seiner eigenen Selbsttransformation zur Auslöschung seines Lebens führen kann. In seiner Binswanger-Einleitung hat Foucault die Freiheit auf der Ebene der menschlichen Existenz dargestellt. In „Die Ordnung der Dinge“ hat er die Freiheit auf der Ebene der Seinsweise der Wörter freigelegt. In seiner Analyse der parrhesiastischen Freiheit treten diese beiden Ebenen auf eine bestimmte Weise in Verbindung. Darin, dass die parrhesiastische Rede die Existenz des Parrhesiasten gefährdet, tritt eine dramatische Verbindungslinie zwischen der Ebene des Diskurses und der Ebene der Existenz des Sprechenden in Erscheinung. Das geschieht im Vollzug der parrhesiastischen Freiheit. 4. DIE PLURALITÄT DER FREIHEITEN Das ontologische Drama, das Foucaults Werk Szene für Szene vor unseren Augen aufrollt, lässt zuweilen den Eindruck entstehen, dass Freiheit und Macht zwei getrennte und gegnerische Instanzen sind, die sich auf der Bühne der Geschichte begegnen, und dass dabei mal die Macht, mal die Freiheit die Oberhand behält. Doch modifiziert Foucault ein derart einseitiges Bild, indem er die agonistische Gegenseitigkeit von Freiheit und Macht betont, sowie, darüber hinaus, ihre Untrennbarkeit: „Machbeziehung und Widerspenstigkeit der Freiheit lassen sich … nicht voneinander trennen. […] Den Kern der Machtbeziehung, der sie immer wieder ‚provoziert‘, bildet die Relativität des Wollens und die Intransitivität der Freiheit. Statt von einem wesenhaften ‚Antagonismus‘ sollten wir hier besser von einem ‚Agonismus‘ sprechen – einem Verhältnis, das durch gegenseitiges Antreiben und Kampf geprägt ist und weniger durch einen Gegensatz, in dem beide Seiten einander blockieren, als durch ein permanentes Provozieren.“34
Gerade den Ausdrücken „Relativität des Wollens“ und „Intransitivität der Freiheit“ kann man entnehmen, dass Freiheit und Macht keine getrennten Instanzen, sondern zwei inhärente und konkurrierende Tendenzen jeder einzelnen Kraft oder Handlung sind. Denn das Wollen ist stets mit der Freiheit seiner tendenziellen Erfüllung assoziiert. Sobald aber ein Wollen auf ein anderes Wollen trifft und davon relativiert wird, wird die Freiheit des Wollens zwar nicht ausgelöscht, aber als Tendenz modifiziert. Darin offenbart sich sowohl die „Intransitivität“ der Freiheit als auch der Machteffekt, der darin besteht, dass eine Handlung durch eine
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andere, ein Wollen durch ein anderes verändert wird. In diesem Sinne erscheinen Begriffspaare wie Wahnsinn und Vernunft, Krankheit und Gesundheit, Abweichung und Norm, die Lüste und die Selbstsorge als die Namen wetteifernder Tendenzen, die nicht nur jedem Individuum, sondern jeder einzelnen Kraft bzw. Handlung eingebaut sind.35 Demnach könnte man die Freiheit als die zur Erfüllung drängende Tendenz jeder einzelnen Handlung konzipieren. Sobald aber eine Freiheit auf eine andere stößt oder reflexiv umgebrochen wird, ergeben sich Machteffekte, das heißt: tendenzielle Veränderungen von Richtung, Intensität und Gegenstand einer Handlung durch eine andere. Im Falle der asketischen Praktiken handelt es sich um Machteffekte, die aus dem reflexiven Umbruch einzelner Handlungen hervorgehen. In anderen Worten setzen Machteffekte eine Pluralität der Freiheiten36 voraus, da sie nur dann auftreten können, wenn Freiheiten aufeinander stoßen oder sich asketisch verdoppeln, indem sie ‚sich auf sich selbst zurückwenden‘. So erscheint die Machtausübung als „ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten … in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können.“37
Die Pluralität der Freiheiten ist also in eine Pluralität freier Handlungen eingebettet. Solche Pluralitäten sind dynamische Konstellationen, die jederzeit von jeder einzelnen Handlung verändert werden können und werden. Dabei kann auch der Fall eintreten, dass von zwei Handlungen die eine die andere bremst. Das entspräche dem Bild eines repressiven Machteffekts, der zwar vorkommt, aber weder als die einzige noch als die essentielle Form der Machtausübung. Denn es kann ebenso der Fall eintreten, dass von zwei Handlungen die eine die andere verstärkt, was ihre Richtung, ihre Intensität oder ihren Gegenstand angeht. So kann etwa das
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Hielte man sich an Heideggers Postulat, die ontologischen Bereiche des Vorhandenen und des Daseins auseinander zu halten, so müsste man hier anstelle von Kraft den Ausdruck Handlung (aktion) bevorzugen. Damit würde man allerdings die prinzipielle Unterscheidung zwischen den Natur- und Menschenwissenschaften auf einer terminologischen Ebene reproduzieren, die Foucault in Die Ordnung der Dinge bekanntlich probematisiert hat. Aus diesem Grunde können die Ausdrücke Kraft und Handlung – bedingt durch die archäo-genealogisch motivierte Nichtanerkennung solcher Unterscheidung – abwechselnd und unterschiedslos in Foucaults Diskurs Eingang finden, ebenso wie die Termini Mikrophysik oder Analytik der Macht. Allerdings hat der Ausdruck Handlung gewisse didaktische Vorteile, wenn es darum geht, eine nominalistische und dezentrale Machtauffassung zu betonen. Aus diesem Grund bevorzuge ich im Folgenden den Terminus Handlung. Mit diesem Ausdruck fasse ich die zwei allgemeinen Bedingungen der Machtausübung zusammen, die Foucault unter den Titeln „Relativität des Wollens“ und „Intransitivität der Freiheit“ aufzählt. Siehe Zitat oben. (Anm. 34). Foucault 1982, S. 286.
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kundige Zuhören eines Psychoanalytikers die bereits vorhandene Tendenz des Klienten, über die Sexualität zu sprechen, steigern. Jeder Schritt der Entfaltung der Freiheit einer freien Handlung bewirkt Veränderungen in einer Konstellation aus Freiheiten. Jede Veränderung einer Konstellation der Freiheiten freier Handlungen ist aber Ausdruck einer Machtausübung. In diesem Sinne kann man behaupten, dass jeder Schritt der Entfaltung der Freiheit Machteffekte zeitigt. Deshalb kennzeichnet Foucault die Machtausübung als ein „auf Handeln gerichtetes Handeln.“38 Das hat zur Konsequenz, dass die Machtausübung nicht als das einsame Privileg der Mächtigen anzusehen ist, was einer verbreiteten Auffassung entspricht. Vielmehr geht sie von jeder einzelnen Handlung aus, sofern sie auf eine andere Handlung trifft. Von daher versteht es sich, das die Machtausübung nur funktionieren kann, sofern die prinzipielle Freiheitsdimension jeder einzelnen Handlung gegeben ist, das heißt: sofern jede einzelne Handlung in einer Pluralität der Handlungen als Handlung fortwirkt und fortwirken kann. Deshalb betont Foucault, dass in der Freiheit die Voraussetzung der Machtausübung gegeben ist: Wo Macht ist, ist auch Freiheit. Denn, sollte mal die Dynamik einer Konstellation freier Handlungen dazu führen, dass eine einzige Handlung frei bleibt und alle anderen auf einen Nullzustand der Freiheit reduziert sind, dann ergeben sich daraus zwei eng verknüpfte Konsequenzen: (1) Im Nullzustand der Freiheit ist eine ‚Handlung‘ keine mehr; (2) wenn es nur noch eine einzige Handlung gibt, dann gibt es auch keine Machtausübung mehr. Denn ohne eine Pluralität der Freiheiten, der ‚freien‘ Handlungen, der Handlungen als solcher, gäbe es keine Möglichkeit der Machtausübung. Einen solchen Extremzustand möglicher Macht- und Freiheitskonstellationen, in dem eine einzige Handlung das Freiheitsmonopol besitzt und alle anderen Handlungen aufhören, Handlungen zu sein, nennt Foucault Herrschaft (domination), die kategorial von der Macht abzusetzen ist. Denn die Macht besteht in dynamischen Beziehungen, die Herrschaft dagegen in einem starren Zustand: „Die Analysen, die ich durchzuführen versuche, zielen im Wesentlichen auf Machtbeziehungen (relations de pouvoir). Darunter verstehe ich etwas anderes als Herrschaftszustände (états de domination). Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Bewegung zu verhindern – durch den Einsatz von Instrumenten, die sowohl ökonomischer, politischer oder militärischer Natur sein mögen –, dann steht man vor etwas, das man als einen Herrschaftszustand (état de domination) bezeichnen kann.“39
Im Zustand der Herrschaft gibt es keinen Raum mehr für Strategien der Veränderung. Da bedarf es erst mal des Gewaltakts der Befreiung, um wieder Raum zu schaffen für die komplexeren Spiele der Macht und der Freiheit, genauer, für die Machteffekte, die von Praktiken der Freiheit bedingt sind:
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Ibid. Foucault 1984a, S. 877 f. (Übers. mod.)
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Pravu Mazumdar „Gewiss existieren in einem solchen Zustand die Praktiken der Freiheit nicht oder nur einseitig oder sind äußerst eingeschränkt und begrenzt. Deshalb … [ist] die Befreiung manchmal die politische oder historische Bedingung für eine Praxis der Freiheit […] Die Befreiung eröffnet ein Feld für neue Machtbeziehungen, die es durch Praktiken der Freiheit zu kontrollieren gilt.“40
Dass die Machtausübung die Freiheit voraussetzt, beinhaltet allerdings, dass die ‚Macht‘ keine Substanz und die Genealogie keine Metaphysik der Macht sein kann. Vielmehr manifestiert sich die Macht als die Effekte aufeinander treffender Handlungen: als die sich aus dem Zusammenspiel der Handlungen ergebenden Möglichkeiten der Veränderung von Handlungen. Wirken nun zwei Handlungen aufeinander, um sich gegenseitig zu verändern, so geht es, wie gesagt, nicht immer um frontale Zusammenstöße oder Antagonismen, in deren Vollzug eine der beiden Handlungen abgebremst und tendenziell in ihrer Möglichkeit ausgelöscht wird. Das wäre der Sonderfall reaktiver Kräfteverhältnisse, die in Nietzsches „Genealogie der Moral“ erläutert werden.41 Eher handelt es sich um ein Spiel und Agon ‚vornehmer‘ oder aktiver, das heißt, freier Kräfte, die einander zu reizen, zu übertreffen, zu übersteigen und zu überschreiten suchen, während sich ihre Verhältnisse und damit auch ihre Freiheitsspielräume stets und auf unabsehbare Weise verschieben. Aus den Gesamtkonstellationen der Handlungen, die auf andere Handlungen treffen, ergeben sich Einschränkungen, Ausrichtungen und strategische Dispositionen im Allgemeinen, die als konstitutive Tendenzen der einzelnen Handlungen erscheinen und von Foucault Dispositive genannt werden. Zusammenfassend kann man also festhalten, dass Foucaults Arbeiten eine doppelte Analytik enthalten: eine Analytik der Macht und eine Analytik der Freiheit. Das ergibt sich daher, dass Macht und Freiheit zusammen eine den einzelnen Kräften eingebaute Doppeltendenz darstellen, die erst unter der Bedingung einer Pluralität der Freiheitskräfte in unterscheidbare Akzente auseinander tritt. Mal überwiegt die Tendenz der ‚Selbstentfaltung‘ einer Freiheitskraft. Das tritt dann als Praxis der Freiheit in Erscheinung. Mal überwiegt die Tendenz, auf andere Kräfte und Freiheiten verändernd einzuwirken. Das tritt dann als Machtausübung in Erscheinung. In diesem Sinne ist in den verschiedenen Arbeiten Foucaults eine unterschiedliche Gewichtung beider Analytiken zu verzeichnen. In der BinswangerEinleitung steht eine Ontologie der Freiheit im Vordergrund. Die Macht meldet sich lediglich in dysfunktionalen Situationen, wenn die Freiheit auf ihren ontologischen Bahnen ins Stocken kommt. In „Wahnsinn und Gesellschaft“ ist der Wahnsinn mit seiner Freiheit nicht etwa nur das passive Objekt und Gegenstück einer Vernunft, die ihn zu beherrschen sucht. Vielmehr entsteht die Machtsituation durch den pluralisierenden Akt der Grenzziehung, die erst den Wahnsinn und die Vernunft als Zwillingskräfte, die einander provozieren und vorantreiben, in
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Ibid. S. 878. „Erste Abhandlung: ‚Gut und Böse‘, ‚Gut und Schlecht‘“, in: Nietzsche 1887.
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Erscheinung treten lässt. Immer wieder bricht der Wahnsinn als ungelöstes Problem aus, immer wieder entwickelt die Vernunft Strategien der Abgrenzung oder auch der Heilung. In „Die Ordnung der Dinge“ halten sich die Freiheit der Kritik – Kritik der Ähnlichkeit bei Descartes, Kritik der Repräsentation bei Kant – und die Macht der jeweiligen Episteme die Waage.42 In „Archäologie des Wissens“ steht die Freiheit der Aussageereignisse im Vordergrund: Ihre serielle Einbindung in formationelle Einheiten kann die Freiheit ihres Ereignischarakters nicht auslöschen. So erscheint die diskursive Formation als ein Ausdruck diskursiver Macht, während die traditionellen Einheiten wie Autor, Wissenschaft, Disziplin eher an diskursive Herrschaftsformen denken lassen, sofern sie den Ereignischarakter einzelner Aussagen aufzuheben trachten. In „Überwachen und Strafen“ drängt die Analytik der Macht derart in den Vordergrund, dass der Eindruck einer panpolitischen Herrschaftswelt ohne die Möglichkeit und die Freiheit des Widerstands entstehen kann, so dass Foucault noch nachträglich betonen muss, dass es Macht ohne die Freiheit des Widerstands nicht gibt: „Denn wenn sich im Kern der Machtbeziehungen und gleichsam als deren ständige Existenzbedingung eine gewisse ‚Widerspenstigkeit‘ und störrische Freiheit findet, gibt es keine Machtbeziehung ohne Widerstand, ohne Ausweg oder Flucht ohne möglichen Umschwung.“43
Die Notwendigkeit des Widerstands ist an eine irreduzible Pluralität der Freiheit gebunden, die, wie wir gesehen haben, als die Voraussetzung von Machtausübung zu bestimmen ist. Anders formuliert: Die Notwendigkeit des Widerstands – die Tatsache, dass es Macht ohne Widerstand nicht geben kann – geht daraus hervor, dass die Freiheit als ein ontologisches ‚Prinzip‘ der Machtausübung funktioniert. 5. KRITIK UND PROBLEMATISIERUNG Der Widerstand offenbart sich aber nicht nur in explizit politischen Handlungen, sondern bereits in den elementarsten Regungen der Kritik. In einem 1978 vor der Société française de philosophie gehaltenen Vortrag definierte Foucault die Kritik als die Kunst, „nicht dermaßen regiert zu werden“44: „nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren … von de-
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Unter Episteme ist eine Disposition oder Tendenz des Denkens zu verstehen, die für ein bestimmtes Wissensgebiet und eine bestimmte Wissensepoche spezifisch ist. In „Die Ordnung der Dinge“ wird gezeigt, wie Wissenskrisen in die Prozesse der Konstitution neuer Epistemen eingehen. Die Kritik an einem Wissenssystem – genauer: die Freiheit der Kritik – ist konstitutiv für die epistemische Macht des bevorstehenden neuen Wissenssystems. Konkret heißt das etwa, dass die Kritik an der Ähnlichkeit zum konstitutiven Moment der neuen Wissensfigur der Repräsentation wird, wie Foucault dies anhand einer Lektüre der „Regulae“ von Descartes zeigt. Siehe Foucault 1966, S. 82–91. Siehe auch „Das Medium des Vergleichs in den Regulae von Descartes“ in: Mazumdar 2008, Kap. 4. Foucault 1982, S. 292. Foucault 1978, S. 12. Hervorh. v. Verf.
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nen da“45. Kritik in diesem Sinne ist nicht nur eine realisierte oder realisierbare Kunst der Anfechtung bestehender Machtverhältnisse, sondern eine Haltung, die mit der explosionsartigen Vermehrung der Techniken und Formen der Regierung menschlichen Verhaltens im späten 15. Jahrhundert aufkommt. Sie erscheint als eine den Regierungskünsten zuzuordnende Zwillingskraft, die der Situation der gouvernementalen Machtausübung eingebaut ist und aus der gleichen prinzipiellen Freiheit hervorgeht, die auch von dieser Art der Machtausübung vorausgesetzt wird. Dieses regierungskritische Ethos erreicht ein augenfälliges Maß einmal in der Bewegung der Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts und das andere Mal, zwei Jahrhunderte später, im Diskurs der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Im Sinne einer solchen Haltung bringt Kant die Aufklärung mit dem Mut in Verbindung, der darin besteht, dass man sich seines eigenen Verstandes bedient: ohne fremde Leitung und ohne von außen regiert zu werden.46 Und wenn Kritik im kantischen Sinne als das Verfahren erscheint, die Grenzen des eigenen Erkenntnisvermögens zu erkennen, dann geht es weiterhin um Aufklärung. Denn: Indem man, gestützt durch transzendentalphilosophisches Wissen, sich an die Grenzen der eigenen Erkenntnis hält, befolgt man die grenzgebenden Regeln nicht nur, weil man gehorcht, sondern vor allem aus Einsicht. Damit kommt es in diesem Kritikverständnis zu einer spezifisch kantischen Verbindung aus Gehorsam und Autonomie. Deshalb erklärt Foucault die kantische Kritik zu einem „Prolegomenon zu jeder gegenwärtigen und künftigen Aufklärung“.47 Kritik und Aufklärung sind Freiheitskräfte, die sich nicht nur im politischen Widerstand, sondern im gleichen Maße auch in der theoretischen Kritik realisieren lassen. Das Entscheidende daran ist, dass es bei einer so verstandenen Kritik nicht um einen frontalen Gegensatz und eine gegenseitige Blockade gehen kann, im Stil etwa der konträren Behauptung: „‚… wir wollen rein gar nicht regiert werden!‘“48, sondern um ein agonales Verhältnis zwischen der Regierungsmacht und dem kritischen Widerstand, der die Machtverhältnisse problematisiert und herausfordert und im Prinzip nur sagt: „Nicht, dass wir gar keine Grenzen einhalten wollen. Vielmehr wollen wir nur die einhalten, die wir auch selbst einsehen! Und sollten diese Grenzen genau diejenigen sein, die von einer aufgeklärten Instanz festgelegt wurden, dann umso besser!“ Der Agonismus der Kräfte ist ein Motiv, das bei Foucault regelmäßig und bereits in den sechziger Jahren vorkommt, etwa in „Vorrede zur Überschreitung“, wo er die Figur der nicht positiven Affirmation als Chiffre der Überschreitung einführt.49 Dabei bezieht er sich auf eine kleine vorkritische Schrift Kants aus dem
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Ibid., S. 11 f. Kant 1783, S. 51. Foucault 1978, S. 18. Ibid., S. 11. Foucault 1963, S. 38. Ich beziehe mich hier bewusst nicht auf die neuere Übersetzung in Foucaults „Schriften“ [Foucault 1963a], sondern ausschließlich auf die ältere von Walter Seitter, in der Latinismen wie „Affirmation“, „Definition“, „Kontestation“ – um die wichtigs-
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Jahr 1763, in der zwischen zwei Arten der „Opposition“ unterschieden wird.50 Es gibt, sagt Kant, zum einen die Entgegensetzung zwischen zwei Urteilen: der Bejahung und der Verneinung eines Prädikats, die beide nicht gleichzeitig zutreffen können und einander aus einem logischen Grund (Widerspruchssatz) ausschließen müssen. Kant nennt diese Opposition die logische Repugnanz, wobei er den Ausdruck Repugnanz („Abstoßung“) bewusst wählt, sofern der darin angesprochene Vorgang in einer ganzen Variationsbreite der Wissenschaften – von der Logik bis zur Physik – vorkommt, was in dieser kleinen Abhandlung auch anhand zahlreicher konkreter Beispiele nachgewiesen wird. Zum anderen aber gibt es die Entgegensetzung zwischen zwei Kräften, die sich ebenfalls gegenseitig ausschließen müssen, aber aus dem realen oder physischen Grund, dass ihr gleichzeitiges und unmodifiziertes Sein am gleichen Ort unmöglich ist. Kant nennt diese Opposition die Realrepugnanz51, in der die einzelne Kraft – für sich genommen und in Bezug auf ihr eigenes Sein – etwas Positives darstellt, zugleich aber auch die Negation, besser, die Affirmation des Nichtseins der anderen Kraft sein muss. Eine solche ontologische Hybridität der Beziehung rivalisierender Kräfte charakterisiert Foucault mit Hilfe der Figur der nicht positiven Affirmation.52 Darin liegt eine leibhaftige oder physische Negation vor, die weder als abstrakte Verneinung auf der Ebene der Prädikation zu verstehen ist, noch als eine Einschränkung anhand des Vergleichs mit einem transzendenten Ideal, sondern nur durch das Auftauchen einer zweiten, realen Kraft mit einer eigenen Richtung und Freiheit zustande
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ten zu nennen – nicht als „Bejahung“, „Bestimmung“ oder „Bestreitung“ eingedeutscht werden. Das hat den Vorteil der Wahrung einer theoretisch vertrauten und wieder erkennbaren terminologischen Kohärenz, so wie dies auch im französischen Original gegeben und gemeint ist. „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“, Kant 1763, S. 783. Ibid., S. 784. Kant erläutert den Unterschied der Oppositionen auch anhand zweier unterschiedlicher Begriffe des Nichts: des nihil negativum, das der logischen Repugnanz entspricht, und des nihil privatum, das der Realrepugnanz entspricht. Der Unterschied der zwei Negationsarten geht auf eine grundlegendere Unterscheidung zwischen zwei Arten begrifflicher Verknüpfung zurück. Einerseits gibt es die logische Verknüpfung zweier Begriffe, von denen der eine im anderen enthalten ist. Diese Verknüpfungsart entspricht der logischen Repugnanz. Andererseits gibt es die reale Verknüpfung zweier Begriffe, von denen keiner im anderen enthalten ist, die also einander vollständig heterogen sind. Diese Verknüpfungsart entspricht der Realrepugnanz. In diesem vorkritischen Gegensatz der Verknüpfungsarten erkennt man leicht die Herkunft der späteren, kritischen Unterscheidung Kants zwischen den analytischen und synthetischen Urteilen. Das heißt: Die physische Negation, die für Foucaults Machtauffassung maßgeblich ist, ist konstitutiv für die kritische Revolution, die Kant achtzehn Jahre nach dieser kleinen Abhandlung einleitet. Foucault greift also auf die vorkritische Unterscheidung Kants zurück, um daraus andere philosophische Konsequenzen zu ziehen als die von Kant gezogenen kritisch-anthropologischen, die für das anthropologische Denken seit Kant maßgeblich sind. Zur Vertiefung dieses Zusammenhangs siehe Mazumdar 2008, Kap. 15. Die methodologische Bedeutung der Figur der nichtpositiven Affirmation in Foucaults archäo-genealogischen Forschungen habe ich andernorts ausführlich beschrieben. Siehe ibid., Kap.’s 14 und 15.
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kommt. Die nicht positive Affirmation setzt also Vielheit und Reibung, letztlich eine Pluralität der Kräfte voraus – ebenso wie die Machtausübung, die, wie wir gesehen haben, auf einer Pluralität der Freiheiten beruht. Der Agonismus der Kräfte kann auch als ein Verhältnis der gegenseitigen Problematisierung bestimmt werden, wenn man die Etymologie des Ausdrucks ‚Problem‘ berücksichtigt, die auf das griechische pro ballein, ‚jemandem etwas in den Weg werfen‘, zurückgeht. So offenbart sich die Problematisierung als ein Agon der Kräfte: als das Auftreten einer zweiten Kraft, einer unvorhergesehenen Querkraft, die herausfordernd – oder ‚problematisierend’ – wirkt und tendenziell vom geraden Weg abbringt. Dafür findet man ein einfaches Modell in der rudimentären Genealogie des mittelalterlichen Königsstaats, die Foucault 1973 im Rahmen eines brasilianischen Vortrags vorgelegt hat.53 Darin gibt er zu bedenken, dass der feudale Rechtsstreit, der seit dem Zusammenbruch des karolingischen Großreichs im 10. Jahrhundert fast ausschließlich vom germanischen Recht geprägt war, den Charakter einer Kraftprobe zwischen zwei Individuen hatte: zwischen demjenigen, der jemandem Schaden zugefügt, und demjenigen, der dadurch Schaden genommen hatte. Die Probe fand ohne den Eingriff eines Dritten und auch ohne einen Urteilsspruch statt. Allein das Aufeinandertreffen der Kräfte sollte über den Ausgang entscheiden. An dieser elementaren Situation der Kraftprobe kann man in aller Deutlichkeit die Komplexitäten von Macht und Freiheit, sowie den Prozess der Problematisierung – verstanden als Hindernis, das einem in den Weg geworfen wird – ablesen, die die späteren macht- und freiheitsanalytischen Untersuchungen Foucaults prägen. Das Problem als solches etabliert sich erst am Ende des Vorgangs der Problematisierung: als die Verdüsterung und tendenzielle Verabschiedung einer Selbstverständlichkeit, mit der man lange problemlos gelebt hat. Das geschieht, indem die Alleinherrschaft einer Kraft, einer Institution, einer Evidenz oder – wie in den ethischen Freiheitspraktiken – des eigenen gewohnheitsmäßigen Tuns allmählich fragwürdig wird.54 Es wäre sicher nicht überzogen zu behaupten, dass der archäo-genealogische Blick Foucaults sich in erster Linie auf die Unaufhaltsamkeit historischer Problematisierungsprozesse richtet, die Begriffe, Institutionen, Systeme aushöhlen und ihre wesentliche Kontingenz offenbaren. Prozesse dieser Art sind konstitutiv für die plötzlichen Wendungen und Diskontinuitäten der Geschichte, letztlich für die eigentümliche Dramatik genealogischer Geschehnisse, sowie für den kollektiven Eifer bei der Bewältigung von Gefahren.
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Siehe Foucault 1973/1973a. Auch der junge Nietzsche sieht – in Anlehnung an Jacob Burckhardt – die Zurückweisung der „Alleinherrschaft“ als notwendige Voraussetzung des Agons im frühen Griechentum an, da es „in einer natürlichen Ordnung der Dinge … immer mehrere Genies giebt, die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes halten. Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt als Schutzmittel gegen das Genie – ein zweites Genie.“ Siehe „Homers Wettkampf“ in: Nietzsche 1873, S. 789.
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Das Entscheidende dabei ist, dass Gefahren niemals überhistorischen und objektiven Wesens sind. Vielmehr werden sie mit Individuen oder Praktiken in Verbindung gebracht, die ehemals für unbedenklich gehalten wurden, mit denen man eine ganze Weile gut gelebt hat und die nun, mit einem Mal, fremd und bedenklich geworden sind. So kann man in Foucaults großen Erzählungen zusehen, wie das moderne Asyl aus einer Problematisierung der Internierung hervorgeht55; wie die methodologischen Optionen von Descartes im Ausgang von einer Problematisierung der Ähnlichkeit56 oder die modernen Vollzugs- und Besserungsanstalten aus einer Problematisierung der peinlichen Strafe entstehen57; wie sich die asketischen Praktiken der Griechen im Ausgang von der Problematisierung Lust bringender Praktiken ergeben, die auch Empfehlungen für einen angemessenen Gebrauch der Lüste generiert.58 Auch wenn die Ausdrücke Problem und Problematisierung immer wieder bei Foucault vorkommen, erlangen sie erst in seinen letzten Stellungnahmen so etwas wie einen terminologischen Rang. So betont er in einem seiner letzten Interviews nicht nur die Freiheit als konstitutives Moment einer Praxis des Andersdenkens, sondern im gleichen Maße auch das der Freiheit innewohnende Problematisierungspotential. Daraus ergibt sich, dass eine Geschichte des Denkens nichts anderes sein kann als eine Geschichte der Problematisierungen: „Es schien mir ein Element zu geben, das von sich aus geeignet war, die Geschichte des Denkens zu charakterisieren: das, was man die Probleme oder genauer die Problematisierungen nennen könnte. […] Das Denken ist die Freiheit gegenüber dem, was man tut, die Bewegung, durch die man sich davon loslöst; man konstituiert es als Objekt und man reflektiert es als Problem. Die Behauptung, die Untersuchung des Denkens sei die Analyse einer Freiheit, besagt nicht, dass man es mit einem formalen System zu tun hat, das nur einen Bezug auf sich selbst hätte. In Wirklichkeit muss, damit ein Handlungsbereich und ein Verhalten ins Feld des Denkens eintritt, eine gewisse Anzahl von Faktoren ihn oder es unsicher gemacht, ihm seine Vertrautheit genommen oder in dessen Umfeld eine gewisse Anzahl von Schwierigkeiten hervorgerufen haben. […] Die Arbeit einer Geschichte des Denkens bestünde indes darin, an der Wurzel dieser verschiedenartigen Lösungen [der Schwierigkeiten] die allgemeine Form einer Problematisierung wiederzufinden, die sie möglich gemacht hat …“59
Die Analytik der Freiheit kann somit die Form einer Geschichte des Denkens annehmen, die im Wesentlichen eine Geschichte der Problematisierungen und des Andersdenkens ist. Umgekehrt aber zeitigt eine solche Historiographie ihrerseits Reflexe des Andersdenkens gegenüber dem eigenen methodologischen Umfeld und offenbart somit die Züge einer Praxis des Andersdenkens. Auf einer allgemeineren Ebene charakterisiert Foucault in der Einleitung zu „Der Gebrauch der Lüste“ die Geschichte der Wahrheit als eine Geschichte der Problematisierungen und als eine historische Ontologie, in der sich das Sein im
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Foucault 1961. Foucault 1966. Foucault 1975. Foucault 1984. Foucault 1984b, S. 732 f. Hervorh. v. Verf.
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Zuge des Andersdenkens als eine alternative Denkbarkeit gibt. Bei einer solchen Geschichtsschreibung will man also nicht „die Verhaltensweisen … analysieren und nicht die Ideen, nicht die Gesellschaften und nicht ihre ‚Ideologien‘, sondern die Problematisierungen, in denen das Sein sich gibt as eines, das gedacht werden kann und muss, sowie die Praktiken, von denen aus sie sich bilden. Die archäologische Dimension der Analyse bezieht sich auf die Formen der Problematisierung selbst; ihre genealogische Dimension bezieht sich auf die Formierung der Problematisierungen ausgehend von den Praktiken und deren Veränderungen.“60
Solche Problematisierungsprozesse entspringen der prinzipiell gegebenen Freiheit in Machtbeziehungen, die man als ein freiheitliches Außen konzipieren kann: als die Quelle von Tendenzen, die Evidenzen fragwürdig werden lassen und Systeme zum Kippen bringen. Ein solches Außen, aus dem die epistemischen Brüche hervorgehen, offenbart sich in der fiktionalen Freiheit61 der modernen Literatur: als Voraussetzung dafür, dass die Sprache der Fiktion die Repräsentation problematisiert, indem sie ihre gegendiskursive Macht entfaltet und als ein „Denken des Außen“ in Erscheinung tritt.62 Ebenfalls manifestiert sich das Außen in der späteren Analytik der Macht, in der Foucault ein Verfahren sieht, das in methodischen Schritten in ein Außen gelangen lässt: ein Außen der Institutionen, der Funktionen, der wissenschaftlichen Objekte wie Wahnsinn, Delinquenz, Sexualität oder des Staates, damit die Technologien der Macht, die zur Konstitution dieser Elemente führen, sichtbar werden.63 Somit ergibt die Reflexion über das Verhältnis zwischen Freiheit und Macht bei Foucault eine kleine Begriffsreihe: Kritik – Agonismus der Kräfte – nicht positive Affirmation – Problematisierung – Außen. Bevor ich diesen Abschnitt abschließe, möchte ich die innere ‚Logik‘ dieser Begriffsreihe zusammenfassen. Wir haben gesehen, dass Problematisierungen im Rahmen einer Geschichte der Wahrheit als kritische Prozesse einsetzen, in deren Verlauf sich Evidenzen verdüstern und die ‚prinzipielle‘ Kontingenz der Macht- und Wissensformen zutage tritt. Wir
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Foucault 1984, S. 19. In einem unmittelbar nach „Die Ordnung der Dinge“ veröffentlichten Text über Jules Verne hat Foucault ein Modell der Fiktion vorgelegt, das auf die etymologische Herkunft von „Fiktion“ im lateinischen „fingere“ (= „formen“/„gestalten“) anspielt und darauf aufmerksam macht, dass der Diskurs auf einer zweistöckigen Architektur beruht. Denn es gibt einerseits die Ebene der Dinge, von denen die Rede ist. Das ist die Ebene der Fabel. Andererseits gibt es die Ebene der Weisen des Erzählens, die die vielfältigen Beziehungen des Erzählenden zum Erzählten beinhaltet. Das ist die Ebene der Fiktion. Die Praxis der Fiktion besteht also im Einrichten einer fiktionalen Ordnung aus den Elementen der Fabel. Siehe Foucault 1966b. Später geht dieses Fiktionsmodell – nachdem es eine wesentlich komplexere Form angenommen hat – ins Diskurskonzept der „Archäologie des Wissens“ ein. Siehe Mazumdar 2008, S. 555. Die Distanz und die Freiheit der Literatur wird daran deutlich, dass sie sich immer mehr vom Diskurs der Repräsentationen unterscheidet und sich in einen radikalen Zustand der ‚Intransitivität‘ oder Gegenstandslosigkeit einschließt. Foucault 1966, S. 365. Siehe auch Foucault 1966a. Foucault 1977/1978, S. 176 ff., siehe auch Mazumdar 2010.
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haben auch gesehen, dass der Agonismus der Freiheitskräfte in der physischen Negation oder der nicht positiven Affirmation der einen durch die anderen besteht. Diese Art der hybriden Negation lässt sich auch als ein Verhältnis der gegenseitigen Problematisierung beschreiben. Damit erscheint eine Kraft, die auf eine andere Kraft trifft, je nach Perspektive als Freiheit oder als Machtausübung. Man kann innerhalb einer Pluralität von Kräften jede einzelne Kraft in Bezug auf die anderen als eine Problematisierung der Macht oder als eine Problematisierung der Freiheit ansehen. Ebenfalls kann man eine Kraft im Augenblick ihrer reflexiven Rückwendung nicht nur als eine asketische Machtausübung auf sich selbst auffassen, sondern mit gleichem Recht auch als eine Problematisierung der Macht bzw. der Freiheit der Lüste. Im Allgemeinen sind Problematisierungen Seinsweisen von Kräften. Von einer Perspektive aus erscheint also die Freiheit als eine Problematisierung der Macht: als Kritik an der Macht der Internierung, der Normalisierung, der biopolitischen Regulierung. Von einer anderen Perspektive aus erscheinen die von Foucault inventarisierten Machttypen als Problematisierungen der mit ihnen korrelierenden Freiheiten. So ist die Souveränitätsmacht im Sinne Machiavellis an die Sicherheit eines Territoriums gebunden und als die Problematisierung der Veränderung territorialer Grenzen anzusehen.64 Die Disziplinarmacht erscheint als die Problematisierung von Devianz unter dem Einsatz einer Norm. Die Regierungsmacht befasst sich mit der Lenkung von Bevölkerungen und problematisiert die Überschreitung von Mittelwerten, indem sie mit einem Minimum an autoritärer Intervention Bevölkerungsphänomene wie Preise, Sterblichkeitsziffern, Geburts-, Krankheits- oder Kriminalitätsraten innerhalb solcher Werte hält.65 Die drei Machttypen erscheinen somit als Problematisierungen von drei Freiheitstypen: der Freiheit des Gesetzesbruchs und der Verschiebung territorialer Grenzen; der Freiheit der Abweichung von einer Normalität; der grenzenlosen Freiheit der Schwankungen statistischer Werte. Damit kann das Problem der Freiheit in beiden Bedeutungen des Genitivs verstanden werden. In Bezug auf die Macht ist die Freiheit entweder das Problem selbst. Dann erscheint sie als ein Problem für die Ausübung von Macht. Oder sie ist die problematisierende Instanz selbst, für die die Macht einen Gegenstand der Problematisierung darstellt. In diesem Sinne ist das Problematisierungsverhältnis zwischen Freiheit und Macht umkehrbar: Entweder erscheint die Freiheit als eine Problematisierung der Macht oder die Macht als eine Problematisierung der Freiheit.
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„ … das Problem der Souveränität war: Wie etwas nicht in Bewegung geraten lassen, oder wie kann ich vorankommen, ohne dass es in Bewegung gerät? Wie das Territorium markieren, wie es befestigen, wie es schützen oder vergrößern? … alles in allem ist gerade dies das Problem Machiavellis.“ Foucault 1977/1978, S. 100. Siehe Mazumdar 2012.
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6. EINFÜHRUNG IN DEN BAND 1. Das Bild der Freiheit bei Foucault beruht zum einen auf einer Physik der Kräfte, die Menschen, Dinge, Architekturen, Diskurse umfasst, und zum anderen auf einer hybriden Ontologie, die den Grundunterschied zwischen Vorhandenheit und Existenz außer Acht lässt. Deshalb kann Foucaults Genealogie zugleich als eine Ontologie der Gegenwart und eine Mikro- oder Makrophysik der Macht gelten. Walter Seitter, dessen Beitrag im dritten Teil dieses Bandes zu lesen ist, hat einen solchen Ansatz unter dem Titel Physik des Daseins fortgeführt.66 Sofern aber Foucaults Denken sich niemals in theoretischer Allgemeinheit und Abstraktion vollzieht, sondern stets im Element eines ‚diskursanalytischen Empirismus‘, tritt bei ihm die Freiheit nie als eine monolithische Wesenheit zutage, sondern als eine offene Serie von Freiheitstypen. Diese melden sich als ‚Prinzipien‘ der Veränderbarkeit von so unterschiedlichen Dingen wie Normen, Subjektivierungstypen, Diskursen, Gesetzen, Haltungen, Gender, deren wesentliche Kontingenz an den historischen Praktiken des Andersdenkens und -seins lesbar wird. Darin zeigt sich ein Korrelationsverhältnis zwischen den Freiheitstypen und den Praktiken der Problematisierung,67 so dass man in Foucaults archäogenealogischen Unternehmungen, in denen es ja um die Form und die Formierung der Problematisierungspraktiken geht,68 insgesamt die Konturen einer Analytik der Freiheit erkennen kann. 2. Auch wenn die folgenden Beiträge sehr verschieden sind, was ihre Perspektiven und Befunde angeht, kann man die drei Teile des Bandes als die Schrittfolge einer einzigen Reflexionsfigur ansehen. Im ersten Teil geht es darum, die Ebene sichtbar zu machen, auf der das Problem der Freiheit bei Foucault überhaupt erst auftaucht. Darin soll auch der Unterschied zu den herkömmlichen philosophischen Freiheitsauffassungen deutlich werden. Im zweiten Teil geht es um die teils historischen, teils gegenwärtigen, teils aber auch möglichen künftigen Sonderformen, in denen die Freiheit auf die Macht antwortet. Im dritten Teil geht es um die Pra-
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Seitter 1997. Siehe auch Seitter 2002. In der eher spärlichen Literatur zu Foucaults Freiheitsdenken wird die Freiheit nur selten von der Problematisierung her gedacht. Siehe etwa Taylor 1984, Bove 1990, Dumm 1996, Ivison 1997, Rose 1999, Oksala 2005, Viriasova 2006, Prozorov 2007, Gehring 2012. Eine Ausnahme bildet der bereits erwähnte Aufsatz von Gilson über Foucault und Deleuze. Gilson 2014. Siehe Foucault 1984, S. 19.
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xis der Freiheit als gelebte Haltung und experimentelle Lebensform, in der Grenzen erforscht und Strategien ihrer Verschiebung erprobt werden können. Die zwei ersten Beiträge des erstens Teils stellen also das Problem der Freiheit bei Foucault auf einer allgemeinen und grundsätzlichen Ebene vor. So erörtert Alex Demirović, der eine Reihe wichtiger Arbeiten zur kritischen Gesellschaftstheorie vorgelegt hat,69 die Konsequenzen einer Blickverschiebung von der Ebene einer vorgegebenen Freiheit des Subjekts auf die einer Politik der Subjektivierung. Auf der ersten und von der philosophischen Tradition her vertrauten Ebene tritt unter dem Strich nicht viel mehr als die liberale Freiheit besitzindividualistischer Subjekte in den Blick. Diese Auffassung der Freiheit funktioniert bekanntlich hervorragend als Legitimierungsgrundlage für den ausbeuterischen Tausch zwischen den Eigentümern von Produktionsmitteln und denjenigen der Arbeitskraft. Demgegenüber zeigt sich auf der Ebene der Subjektivierungsmacht im Sinne Foucaults eine Freiheit, die jenseits der liberalen Freiheit zu verorten ist und sich als Widerstand gegen die Macht der subjektivierenden Unterwerfung artikuliert. Fast nebenbei demonstriert Demirović, wie fruchtbar eine Marxlektüre sein kann, wenn man Foucaults Macht und Freiheit im Auge behält. Auf andere Weise befasst sich der zweite Beitrag von Arne Klawitter mit dem Problem einer Freiheit jenseits der liberalen Freiheit. Es handelt sich hier um die Freiheit eines radikalen Außen, das sich in der literarischen Moderne als Ort und Ansatz einer fiktionalen Kritik offenbart. Klawitter, ein seltener Kenner der frühen Literaturontologie Foucaults70, zieht eine gerade Linie zwischen Foucaults Literaturanalysen der sechziger Jahre und den späteren Arbeiten zu Macht und Ethik. Damit macht er deutlich, dass der Diskurs ein machtartiges Geschehen ist und das sprachontologische Außen Quelle eines machtkritischen Widerstands gegen die Figur der Repräsentation, die den wissenschaftlichen Alltag bis heute maßgeblich bestimmt. Darin ist aber auch enthalten, dass alle diese Typen von Kritik – Kritik an der Regierungsmacht, die kritisch-asketische Umarbeitung seiner selbst, die moderne Literatur, verstanden als ein Sprechen und ein Denken des Außen – lauter Praktiken des Umgangs mit Grenzen und der Überschreitung von Grenzen darstellen und damit insgesamt eine „kritische Ontologie unserer selbst“. Und sofern Denken, mit Deleuze gesprochen, nichts anderes sein kann als der Einbruch eines Außen, erscheinen die kritischen Widerstandspraktiken allesamt als Ausdruck einer Leidenschaft fürs Außen, sofern sie einen Raum eröffnen, in dem Denken wieder möglich wird.
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Siehe u. a. Demirović 1997, 2007. Siehe Klawitter 2003. Klawitter ist auch Mitübersetzer einer neuerlichen Ausgabe von Foucaults Texten über Wahnsinn und Literatur und hat im Nachwort dazu einen hervorragenden Einstieg in Foucaults Literaturontologie vorgelegt. Siehe Foucault 2014.
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3. Im zweiten Teil des Bandes geht es um verschiedene unterscheidbare Freiheitstypen in ihren Korrelationen mit der Macht. Im ersten der vier Beiträge geht Felix Heidenreich71 von Axel Honneths Unterscheidung zwischen einer negativen, einer reflexiven und einer sozialen Freiheit aus. Mit dieser Unterscheidung versucht Honneth bekanntlich Isaiah Berlins Zweiteilung in einen positiven und einen negativen Freiheitstyp kritisch zu erweitern. Heidenreich verwendet Honneths erweiterte Unterteilung der Freiheit als Kontrastfolie zur Präzisierung der asketischen und parrhesiastischen Freiheitsarten beim späten Foucault, die er in der Nähe der sozialen Freiheit Honneths verortet, sofern in ihnen die Einseitigkeiten der ersten zwei Freiheitsarten überwunden werden. Im zweiten Beitrag befasst sich Gerhard Unterthurner72 mit dem Doppelproblem von Freiheit und Macht am doppelten Leitfaden der disziplinierenden und regulierenden Normierung. Entscheidend dabei ist Unterthurners Unterscheidung zwischen Disziplinierung und Normalisierung. Denn es gibt einerseits eine „Norm der Disziplin“, die von einer politischen Anatomie der Körper realisiert wird, andererseits aber auch eine „Norm der Regulierung“, die ein flexibleres Normenverständnis und eine flexibilisierte Normalisierung anzeigt. Beiden Normen, die in einer Normalisierungsgesellschaft eng verknüpft sind, entspricht eine Freiheit, die Unterthurner als die Freiheit der Abweichung herausstellt. Foucault hat bekanntlich im Vorlesungszyklus „In Verteidigung der Gesellschaft“ die Notwendigkeit eines neuen Rechts hervorgehoben, das weder auf die Souveränitäts- noch auf die Disziplinarmacht bezogen ist.73 Im dritten Beitrag des zweiten Teils versucht der Rechtswissenschaftler Yu-Lin Chiang74 die Eigentümlichkeiten dieses neuen Rechts im Kontext liberaler Gouvernementalität herauszuarbeiten. Den Schlüssel zur Bewältigung dieser Aufgabe findet er im Spätwerk Foucaults. Denn: Aufgrund seines Ortes jenseits der Souveränitäts- und Disziplinarmacht, muss das neue Recht zunächst als ein Fall des subjektiven Rechts angegangen werden. Damit aber zeigt sich, dass dieses Recht nichts anderes ist als das Recht der Regierten auf die Ausübung parrhesiastischer Kritik. Tatsächlich enthält ein solches Rechtsverständnis die Spuren eines neuartigen Menschenrechts, das sich allerdings erst auf der Grundlage eines neuen Freiheitsverständnisses erschließen lässt. Die neue Freiheit ist aber mehr als die des Widerstands gegen zuviel Staat und zuviel Lenkung. Darüber hinaus ist sie die gemeinsame Grundlage der Macht der Regierenden und des kritischen Widerstands der Regierten. Chiang betont, wie das Verfahren einer „Umschreibung“ der Freiheit bei Foucault das Bild dieses neuartigen Rechts auftauchen lässt und formuliert dabei die alles ent71 72
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Siehe Heidenreich 2005, 2010, 2011. In seiner Studie über Foucaults Erfahrungsbegriff hat sich Unterthurner eingehend mit dem Motiv der Grenzerfahrung als ‚Bindeglied‘ zwischen Foucaults Litaraturontologie und der Geschichte des Wahnsinns auseinandergesetzt. Siehe Unterthurner 2007. Siehe Foucault 1975/1976, S. 50. Siehe Chiang 2003.
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scheidende Frage: Welche sind die Bedingungen der Möglichkeit parrhesiastischer Kritik in modernen Systemen? Als Voraussetzung einer funktionierenden Parrhesiastik in modernen Gesellschaften identifiziert er die gelingende „Doppeldisziplinierung des Verfassungsstaats“. Im vierten und letzten Beitrag von Teil II formuliert Christoph Hubig, einer der bedeutendsten Technikphilosophen im deutschsprachigen Raum75, eine eigene Handlungstheorie im Ausgang von den Begriffen Netz und Struktur. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist Foucaults Feststellung, dass die neuen Machtverfahren nicht mit dem Recht, sondern mit der Technik arbeiten, genauer: mit den technischen Verfahren des Hervorbringens, Wachsenlassens und Ordnens der Kräfte. In seinen Ausführungen unterzieht Hubig die moderne Macht einer modalphilosophischen Analyse und entwickelt den Gedanken, dass die technischen Verfahren dieser Macht grundlegende Relationengefüge ins Spiel bringen, die in zwei Kategorien einzuteilen sind: (a) Strukturen der Ermöglichung, die als technische Dispositive funktionieren und subversive Prozesse der „Wiederauffüllung“ oder Uminterpretation zulassen; (b) Netze, die mögliche Relationen vorstellen und anhand diverser Aktualisierungsverfahren Strukturen und Dispositive generieren. Auf der Ebene der Strukturen gibt es allerdings keinen Spielraum für radikale Veränderungen. Nur aufgrund von Netznutzung kommt es – auf anonyme und ungewollte Weise – zur Abnutzung und Zerstörung der Strukturen, weshalb Hubig – in Anlehnung an Karen Barad und Joseph Rouse – solche Prozesse als Intraaktionen kennzeichnet. Damit lassen sich drei Ebenen der Macht bei Foucault unterscheiden. Es gibt erstens die Macht als Möglichkeit der Wirkung, etwa die Regierungsmacht der Verhaltenslenkung, die der Freiheit der Anerkennung oder Widersetzung gegenüber solcher Macht entspricht. Zweitens gibt es die Macht der technischen Dispositive, die als Strukturen der Ermöglichung funktionieren und die Freiheit ihrer Umfunktionierung oder Wiederauffüllung ermöglichen. Drittens gibt es die Macht der Netze, die mit der Freiheit der Verweigerung von Netznutzung korreliert. Diese Freiheitsformen, die in direktem Bezug zu den Ebenen der Macht stehen, bewertet Hubig im Rahmen einer nüchternen Bilanz als die Grundtendenz zu „einer bloß noch residualen negativen Freiheit“. 4. In Teil III des Bandes geht es um Freiheitsspielräume, in denen Haltungen generiert und Formen des Widerstands oder des experimentellen Umgangs mit Grenzen erprobt werden können. So behandelt Walter Seitter76 das Problem der Frei75
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Hubig hat eine Reihe maßgeblicher Studien zu Themen aus den Bereichen der Handlungstheorie und Technikphilosophie vorgelegt. Siehe etwa das dreibändige Werk „Die Kunst des Möglichen“. Hubig 2006, 2007, 2015. Neben der Arbeit an seinen eigenen philosophischen Entwürfen hat Walter Seitter mehrere Werke aus dem Oeuvre Foucaults herausgegeben und ins Deutsche übertragen, etwa Binswanger 1930a, Foucault 1977, Foucault 1978, Foucault 1978a. Seine Übersetzungen, die
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heit nicht in erster Linie als Titel eines Gegenstands diskursanalytischer Neugier, sondern als Dimension der eigenen diskursiven und nichtdiskursiven Haltung Foucaults, die zwischen Liberalität und Libertinage schwankt. Die Bewegungslinie dieser Haltung verfolgt Seitter zuerst anhand eines biographischen Aufrisses und dann in einem Durchlauf durch die Werkgeschichte, der durchgängig von der Frage nach der Haltung des Schreibenden bestimmt ist. So kommt er zum Befund, dass Foucaults Freiheitlichkeit keine einheitliche und unambivalente Haltung darstellt. Diese besteht vielmehr einerseits in einer affirmativen Aufnahme liberaler Denkhaltungen und Strategien, sowohl in diskursiver als auch in nichtdiskursiver Hinsicht. Andererseits aber implizieren Foucaults letzte Problematisierungsübungen eine Bejahung der antiken parrhesia, in der sich das Subjekt einem Wahrheitsregime unterordnet, um die asketische Arbeit an sich selbst in Gang zu bringen. Zwischen dem liberalen Interesse an den Möglichkeiten einer daseinsästhetischen Praxis der Selbstregierung und der illiberalen, heroischen Praxis der unerschrockenen Wahrheitsbekundung ist also Foucaults eigene Freiheitlichkeit zu verorten, in der laut Seitter beide Momente nebeneinander bestehen. Im zweiten Beitrag des dritten Teils bestimmt Zara Pfeiffer, Philosophin und politische Aktivistin77, die Freiheit des Widerstands als die Freiheit der Umbildung von Kategorien. Die Macht der Kategorien beruht stets auf einer Politik der Kategorisierung, die den Ort der Einzelnen innerhalb einer Ordnung festlegt. Eine Möglichkeit des Widerstands kann deshalb allein darin bestehen, dass man in einer Art von Gedankenexperiment von der Nichtexistenz einer Kategorie ausgeht. Indem aber eine Kategorie wie die des Geschlechts derart in Klammern gesetzt wird, treten die Techniken ihrer unablässigen Konstitution in den Blick und bieten sich der Möglichkeit ihrer Veränderung. In diesem Sinne wird Widerstand erst in der Dysfunktionalität solcher Techniken offenbar: als eine Freiheitspraxis des Scheiterns, die sich in der Verschiebung kategorialer Grenzen artikuliert. Das geht allerdings nur, sofern Kategorisierungen nie perfekt funktionieren und wir nie vollständig subjektiviert werden können. Dass eine solche Grundreibung zwischen uns und den Kategorien bestehen bleibt, erscheint als ein irreduzibles Potential des Werdens und damit als die Möglichkeit der spezifischen Freiheitspraxis des Scheiterns. Scheitern wir also an den Kategorien, so scheitern sie an uns. Für den besonderen Fall der Kategorisierung des Geschlechts, die zu den maßgeblichen Formen moderner Subjektivierungspolitik zählt, ist das Scheitern keineswegs als ein reaktiver und negativer Akt einzustufen, sondern als die produktive Tätigkeit einer alternativen – eben queeren – Subjektivierung. Darin steckt die Haltung, nicht derart subjektiviert werden zu wollen.
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durch eine seltene Verbindung aus terminologischer Präzision und poetischer Kraft auffallen, haben die Foucaultrezeption im deutschsprachigen Raum maßgeblich geprägt. Neben ihren wissenschaftlichen Tätigkeiten in den Bereichen Genderpädagogik und Queer Studies an den Universitäten München und Linz, hat Zara Pfeiffer große öffentliche Events wie das feministische Kulturfestival Ladyfest (2010) oder das Ausstellungscluster Decolonize München (Winter 2013/14) zum Problem kolonialgeschichtlicher City-Mappings mitorganisiert bzw. -kuratiert. Siehe http://www.mapping.postkolonial.net/.
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Der letzte Aufsatz des Bandes wirft anhand einer Parallellektüre von Foucault und Deleuze einen Doppelblick auf das Problem der Freiheit. Dabei werden viele der im Band vorgekommenen Motive erneut aufgegriffen und zu einem Doppelbild konsolidiert, das gleichsam im Zwischenraum zwischen den Denkansätzen von Foucault und Deleuze auftaucht. Die Schwierigkeit einer solchen Aufgabe, die nur selten in Angriff genommen wird78, besteht darin, dass das Verhältnis beider Autoren – gerade im Hinblick auf das Problem der Freiheit – ein kaum zu durchdringendes Gemisch aus Affinitäten und Divergenzen darstellt. Dass aber eine solche Vorgehensweise doch noch angemessen erscheint, geht nicht zuletzt auf die Tatsache zurück, dass die Denkwege von Foucault und Deleuze in einer Art perspektivischer Freundschaft zueinander stehen. So geht es in dem Beitrag auch darum, die ethische Idee der Freundschaft in das methodologische Format zweier philosophischer Parallelbahnen umzusetzen und die daran geknüpften Freiheitsentwürfe aneinander abzulesen. Diesem schwierigen, nahezu unmöglichen Unterfangen widmet sich Wilhelm Miklenitsch79, indem er den Freiheitsgedanken weder als Begriff noch als Erfahrung darstellt, sondern als das aktive Moment einer experimentellen Haltung, das sowohl philosophisch-diskursive als auch lebenspraktische Handlungsräume eröffnet. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Doppellektüre nicht nur Verwandtschaften, sondern auch Unterschiede sichtbar macht, so dass die Parallelität beider Denkbahnen als Wiederholung und Differenz zum Ausdruck kommt. Wiederholung etwa des beiden Autoren gemeinsamen nietzscheanischen Antiplatonismus, der jegliche metaphysische Reduktion der Freiheit des Werdens durch das Wahre und das Gute in Frage stellt. Differenz in der konkreten Ausübung des Antiplatonismus. Denn: Während es Deleuze um eine „neue Experimental-Metaphysik der Ereignisse und Zeichen“ geht, hält sich Foucault „stärker an das nietzscheanische Forschungsprogramm eines ‚historischen Philosophierens‘“. Um aber dieser Aufgabe gerecht zu werden, bedarf es des feinsinnigsten Sichtens des gewaltigen Doppelmaterials. Daraus hat sich ein umfangreicher Essay ergeben, der anhand seiner elaborierten Anmerkungen und bibliographischen Hinweise nicht nur ein souveränes Geleit durch das unübersichtliche Gelände dieser philosophischen Doppelwelt bietet, sondern auch die Denkbewegung dieses Bandes zu einem vorläufigen Abschluss bringt.
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Der eingangs erwähnte Aufsatz von Gilson macht nur einen ersten Schritt in diese Richtung. [Gilson 2014.] Der Beitrag von Miklenitsch vollendet den Ansatz gewissermaßen, anhand einer gewaltigen Bestandsaufnahme beider Werkwelten. Der Hintergrund dieses Beitrags ist eine mehrjährige kinophilosophische Forschung, bei der Miklenitsch unter Einsatz der Denkfiguren von Deleuze und Merleau-Ponty eine ausgedehnte Reflexion u. a. über die Filme von David Lynch entfaltet.
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LITERATUR Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. v. Eugen Rolfes. Hg. v. Günther Bien. Hamburg 1985 Binswanger, Ludwig, 1930: Le Rêve et l’Existence. Übers. v. J. Verdeaux. Paris 1954 Binswanger, Ludwig, 1930a: Traum und Existenz. Einleitung von Michel Foucault. Übersetzung u. Nachwort v. Walter Seitter. Bern, Berlin 1992 Bove, Paul A., 1990: Power and Freedom: Opposition and the Humanities. In: The Humanities as Social Technology, no. 53. October1990. S. 78–92 Chiang, Yu-Lin, 2003: Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an Michel Foucault. Berlin Demirović, Alex, 1997: Demokratie und Herrschaft. Aspekte kritischer Gesellschaftstheorie. Münster Demirović, Alex, 2007: Demokratie in der Wirtschaft. Positionen – Probleme – Perspektiven. Münster Dumm, Thomas L., 1996: Michel Foucault and the politics of freedom. Thousand Oaks, CA Foucault, Michel, 1954: Einleitung. In: Michel Foucault: Schriften, Erster Band, Frankfurt am Main 2001, Nr. 1 Foucault, Michel, 1954a: Maladie mentale et personnalité. Paris 1954 Foucault, Michel, 1961: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 1969 Foucault, Michel, 1963: Vorrede zur Überschreitung. In: Foucault 1978a Foucault, Michel, 1963a: Vorrede zur Überschreitung. In: Michel Foucault, Schriften. Erster Band, Frankfurt/ M. 2001, Nr. 13 Foucault, Michel, 1966: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 1971 Foucault, Michel, 1966a: Das Denken des Außen. In: Michel Foucault, Schriften. Erster Band, Frankfurt/ M. 2001, Nr. 38 Foucault, Michel, 1966b: Die Fabel hinter der Fabel. In: Michel Foucault, Schriften. Erster Band, Frankfurt/ M. 2001, Nr. 36 Foucault, Michel, 1969: Archäologie des Wissens. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 1981 Foucault, Michel, 1970: Die Ordnung des Diskurses. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1991 Foucault, Michel, 1973: Die Wahrheit und die juristischen Formen. Aus dem Französischen v. Michael Bischoff. Mit einem Nachwort v. Martin Saar. Frankfurt a.M. 2002 Foucault, Michel, 1973a: Die Wahrheit und die juristischen Formen. In: Michel Foucault, Schriften. Zweiter Band. Frankfurt/ M. 2002, Nr. 139 Foucault, Michel, 1975: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1976 Foucault, Michel, 1976: Der Wille zum Wissen. Übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1977 Foucault, Michel, 1975/1976: In Verteidigung der Gesellschaft. Übers. v. Michaela Ott. Frankfurt a.M. 1999 Foucault, Michel, 1977/1978: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Übers. v. Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2004 Foucault, Michel, 1977: Das Leben der infamen Menschen. Herausgegeben und übersetzt v. Walter Seitter. Berlin 2001 Foucault, Michel, 1978: Was ist Kritik? Übers. v. Walter Seitter. Berlin 1992 Foucault, Michel, 1978a: Von der Subversion des Wissens. Herausgegeben und übersetzt v. Walter Seitter. Frankfurt a.M., Berlin, Wien Foucault, Michel, 1978/1979: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Übers. v. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2004 Foucault, Michel, 1982: Subjekt und Macht. In: Michel Foucault, Schriften. Vierter Band. Frankfurt a.M. 2005, Nr. 306
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TEIL I FREIHEIT UND AUSSEN
FÜR EINE FREIHEIT JENSEITS DER FREIHEIT Alex Demirović
Das Selbstverständnis der modernen, bürgerlichen Gesellschaft ist seit dem 17. Jahrhundert durch die vernunftrechtlichen Normen der Freiheit und Gleichheit bestimmt. Alle Individuen gelten als frei und gleich, alle Individuen können aufgrund ihres Vernunftvermögens einsehen, dass sie frei und gleich sind. Kant wollte den Nachweis erbringen, dass diese Normen die empirische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft antreiben. Als regulative Ideen waren sie gleichzeitig das der Gesellschaft äußerliche Maß wie der innere Antrieb ihres Fortschritts. Die bürgerliche Gesellschaft galt Kant empirisch als antagonistisch, es herrschten der Kampf aller gegen alle, die Gewalt, der Krieg, die Folter. Demgegenüber sollten die Normen die Gesellschaft immer von neuem anreizen, sich dabei nicht zu bescheiden, sondern weiter fortzuschreiten – nicht irgendwohin, sondern dorthin, wo Individuen frei und gleich sein würden, wo die Menschen sich als ein einiges und friedlich miteinander verbundenes Geschlecht erfahren würden. Der Abstand zwischen der empirischen Wirklichkeit und der ideellen Sphäre der Vernunftnormen würde dadurch logisch betrachtet nicht geringer, aber das menschliche Leben wäre besser, es käme diesen regulativen Ideen näher. Diese blieben aufgrund ihrer universellen Geltung weiterhin die kritische und kontrollierende Instanz aller zukünftigen Entwicklung. Mit solchen Vorstellungen waren viele Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft nicht einverstanden. Theoretisch fand diese Kritik in der kritischen Gesellschaftstheorie seit Marx ihren Ausdruck. Freiheit und Gleichheit sollten in der empirischen Welt verwirklicht werden. Das Individuum sollte frei sein, die Gattung sollte als konkrete, historische Menschheit die Bedingungen ihres Handelns bestimmen können. Aber was kann das bedeuten: ein freies Individuum, eine Assoziation freier Individuen, wie Marx sie sich vorstellte? Ist das psychologische Modell, das im Begriff des Individuums, eines letzten Ungeteilten, enthalten ist, angemessen? Besitzt es eine solche Substanz, ein solches Inneres, in dem Vernunft und Freiheit herrschen, die bislang nur noch nicht zu Geltung kamen? Michel Foucault hat mit seinen Untersuchungen das emanzipatorische Selbstverständnis vielfach befragt. Dies tat er nicht, weil er weniger Emanzipation, weil er sich den gegebenen Bedingungen einfügen wollte, sondern weil ihn der Umschlag der emanzipatorischen Bestrebungen in immer neue Formen der Macht und der Herrschaft beunruhigte; weil auch diejenigen, die – mit Bezug auf Marx – für einen Umsturz aller Herrschaftsverhältnisse eintraten, doch die Institutionen des Tribunals und der Inquisition, des psychiatrischen Gutachtens und der Klinik, der pädagogischen, fabrikmäßigen und militärischen Einübung von Disziplin, die Un-
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terscheidungen des körperlich Normalen und des Abweichenden in Anspruch nahmen. Die Bestrebungen, zu verändern, waren noch zu harmlos, so dass sich die Mächte durch emanzipatorische Bewegungen hindurch erhalten und auf schreckliche Weise erneuern konnten. So stellt sich die Frage, ob Freiheit und das freie Individuum handlungsverpflichtende moralische Normen und Orientierungen der Emanzipation sein können. Solche Fragen zu stellen, auf diese Weise darüber nachzudenken, ist, Foucault ist sich dessen sehr bewusst, keineswegs unproblematisch, ja, sie können auch ihrerseits auf gefährliche Weise ins Antiemanzipatorische umschlagen, da die Gegner immer darauf lauern, die Enttäuschung oder den Zynismus gegenüber dem Projekt der Befreiung und damit die innere und äußere Distanz zu diesem zu stärken. Es gibt allerdings keinen Zweifel: Foucault hat in seinen Arbeiten vielfach an die kritische Gesellschaftstheorie von Marx angeschlossen. Er hat einige Probleme, die sich bei Marx nur angedeutet finden, in der Forschung der marxistischen Tradition aber gar nicht weiter aufgegriffen und verfolgt wurden, vertieft und die Problematik verschoben. Dabei hat er einen ‚linken‘ Alltagsverstand vielfältig herausgefordert, gerade weil er die Perspektive radikaler Veränderung noch erweitert hat. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass Foucault im Kontext der an Marx anschließenden Theoriebildung auf weiterführende Weise auch dessen Kritik an der bürgerlichen Freiheit aufgegriffen und fortentwickelt hat. Zunächst sollen in einem ersten Abschnitt einige Aspekte der Marxschen und marxistischen Kritik am liberalen Verständnis von Freiheit dargestellt werden. Im zweiten und ausführlicheren Abschnitt soll erläutert werden, in welcher Weise Foucault sich über die Notwendigkeit zu einer Orientierung an der Norm der Freiheit hinwegsetzt und die diskursive Praxis der Freiheit selbst zu einem Gegenstand der Untersuchung erhebt. 1. FREIHEIT UND SICHERHEIT ALS IDEOLOGEME DES KAPITALISTISCHEN BESITZINDIVIDUALISMUS Im ersten Band des „Kapital“ analysiert Marx, dass die kapitalistische Produktionsweise und Gesellschaft nicht verstanden werden kann, wenn eine Analyse der Entstehung des gesellschaftlichen Reichtums sich auf die Zirkulationssphäre beschränkt. Aus dem Austausch von Waren ist nicht zu erklären, woher ein gesellschaftliches Mehrprodukt resultieren kann. Geld und Waren gibt es historisch schon sehr lange. Daraus kann nicht die Besonderheit der modernen, kapitalistischen Produktion erklärt werden. Es stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Bedingungen vorhanden sein oder geschaffen werden müssen, damit die Mehrzahl der Produkte die Form einer Ware annehmen. Dies geschieht erst, wenn sie überwiegend nicht mehr für die Subsistenz des Produzenten verwendet, sondern für den Markt erzeugt werden. Ebenso stellt sich das Problem, was erforderlich ist, damit Geld als Zirkulationsmittel, als Schatz oder Weltgeld die Gestalt auch von Kapital annimmt. Die historischen Entstehungsbedingungen des modernen Kapitalverhältnisses sind also mit den historischen Formen von Geld und Ware nicht gegeben. Das Kapital entsteht nur dort, wo Besitzer von Produktions- und
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Lebensmitteln freie Arbeiter als Verkäufer ihrer Arbeitskraft – also „physische und geistige Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren“1 – auf dem Markt vorfinden, weil sie von ihrem Besitzer, „der Person, deren Arbeitskraft sie ist“ und als freier Eigentümer darüber verfügen kann, als Ware verkauft wird. Zwischen dem freien Eigentümer, der sein Arbeitsvermögen verkauft, und dem Kapitaleigentümer wird ein Vertrag vereinbart darüber, letzterem den Gebrauch und Konsum jener Arbeitskraft für eine gewisse Zeit zu überlassen. Der Verkäufer des Arbeitsvermögens gibt also seine Freiheit nicht auf. „Zur Verwandlung von Geld in Kapital muß der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.“2
Warum der doppelt freie Arbeiter dem Geldbesitzer in der Zirkulationssphäre überhaupt gegenübertritt und seine Arbeitskraft zum Verkauf anbietet, muß letzteren nicht interessieren. Deswegen kann den Akteuren in dieser „geräuschvollen und allen Augen zugänglichen Sphäre“ das Geheimnis der kapitalistischen Mehrwertbildung entgehen. In diesem Zusammenhang formuliert nun Marx die bekannten ironischen Sätze zu den menschenrechtlichen Normen: „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustauschs, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. … Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun.“3
In kapitalistischen Verhältnissen ist der Warentausch mit einer konstitutiven Idealisierung verbunden: er benötigt die Unterstellung, dass die Vertragspartner frei sind, also hinsichtlich eines Vertrags auch anders handeln könnten, und dass beide mit einem autonomen Willen begabt sind und aus freiem Entschluss zu dieser Vereinbarung gelangen. Nur wenn Freiheit und Gleichheit zu einem allgemeinen Volksvorurteil geworden sind, kann der Warentausch gelingen. Mit seiner ironischen Bemerkung stellt Marx einen Bezug auf seinen frühen Text „Zur Judenfrage“ her, in dem er sich mit der Menschenrechtserklärung von 1791 und insbesondere mit ihrem zweiten Artikel auseinandersetzt, wonach die natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen Gleichheit, Freiheit, Sicherheit und Eigentum seien. Marx kritisiert am Begriff der Freiheit, dass sie allein eine negative Freiheit sei: das Recht, alles zu tun, was den Rechten der anderen nicht schadet. Die Grenze, in der das eigene Tun unschädlich ist, wird durch das Gesetz gezogen. So basiert das Menschenrecht der Freiheit nicht auf der Verbindung der Menschen, sondern auf der Absonderung. Diese individuelle Freiheit 1 2 3
Marx 1867, S. 181. Marx 1867, S. 183. Marx 1867, S. 189 f. Herv. v. A. D.
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gelangt zur Anwendung im Menschenrecht, über sein Privateigentum frei zu verfügen. Menschen finden in den anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern die Schranke ihrer Freiheit. Mit der Freiheit ist die Sicherheit aufs engste verbunden, die Sicherheit, die Polizei, sei der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaften, weil die Gesellschaft – nach den Überlegungen der Vertragstheoretiker, auf die Marx ohne weiteres hinweisen könnte – ja nur geschaffen wird, um den einzelnen Mitgliedern die Erhaltung der Person, ihrer Rechte und ihres Eigentums zu gewährleisten. Marx beschreibt es als ein Rätsel, dass eine Gesellschaft, die sich revolutionär und enthusiastisch von allen feudalen Schranken und Partikularismen befreit, ihr Selbstverständnis darin findet, neue Grenzen zu errichten und ein politisches Gemeinwesen zu schaffen, das zum bloßen Mittel für die Erhaltung dieser „sogenannten Menschenrechte“ herabgesetzt wird. Die Sphäre des Gemeinwesens, der Allgemeinheit, wird der Sphäre der Partikularität untergeordnet. Marx erklärt dieses Rätsel durch den eigenartigen Charakter der bürgerlichen Revolution, die auf der einen Seite den politischen Staat konstituiert, in dem alle politischen Aspekte der Gesellschaft versammelt werden, und der anderen Seite die bürgerliche Gesellschaft, die sich von der Politik eanzipiert, also von jedem Anspruch auf einen allgemeinen Inhalt. Auf der einen Seite also der Citoyen, auf der anderen Seite der egoistische Mensch, der Bourgeois, der als der natürliche und unpolitische Mensch erscheint. Seine Freiheit wurde als zügellose Freiheit anerkannt. „Der Mensch wurde nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Egoismus befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums.“4 Marx betont hier den Zusammenhang von Sicherheit und Freiheit und die Unterordnung letzterer unter erstere. Kritisch wird von ihm auch festgehalten, dass Freiheit nur als negative Freiheit, als Freiheit der Abgrenzung, Isolierung und Individualisierung verstanden wird. Die Freiheit wird als Freiheit von Individuen verstanden, von denen unterstellt wird, dass sie als Menschen mit bestimmten allgemeinen Rechten ausgestattet sind. Diese Rechte werden als notwendige Funktion einer Produktionsweise bestimmt, in der die für die Erhaltung aller notwendige gesellschaftliche Arbeit von Individuen erbracht wird, die im Rahmen der vorgefundenen Arbeitsteilung für sich, individualisiert und privat an der Herstellung ihrer Waren arbeiten (Güter, Arbeitsvermögen) und sie dann auf den Markt bringen. Erst dort erfahren sie, vermittelt durch die Nachfrage und den Kaufvorgang, ob ihre Arbeitsleistung wirklich einen gesellschaftlichen Nutzen hat. Für viele Menschen bedeutet die Freiheit aufgrund ihrer Lebensverhältnisse deswegen konkret nicht sehr viel. Denn sie verfügen über keine Subsistenzmittel, die es ihnen erlauben würde, frei zu wählen, ob sie ihre Arbeitskraft am Markt verkaufen, welche konkreten Arbeiten sie ausüben und zu welchen Bedingungen sie dies tun. Die Individuen finden die Bedingungen, unter denen sie ihr Arbeitsvermögen für den Arbeitsmarkt formieren, vor, niemand könnte allein mit seinen oder ihren elementaren körperlichen Fähigkeiten in einer halbwegs entfalteten
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Marx 1844, S. 369.
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Arbeitsteilung ihre Subsistenz sichern. Die Freiheit zu wählen, ist also sehr eingeschränkt. Mit der einmal vollzogenen Formierung des Arbeitsvermögens werden für das weitere Leben die Möglichkeiten der freien Wahl sehr eingeschränkt, die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird unter kapitalistischen Bedingungen zu einem das Leben der Individuen bestimmenden Schicksal. Die Art und Weise, wie das abstrakt vorhandene Arbeitsvermögen dann konkret konsumiert und zu einer spezifischen Leistungsabgabe gebracht wird, ist ein Recht desjenigen, der dieses Arbeitsvermögen auf dem Markt erwirbt: also Arbeitsbeginn und -ende, Erholungszeiten, Rhythmus der Arbeitsvollzüge, Intensität der Arbeit usw. Jenes Recht kann nur insofern eingeschränkt werden, wie diejenigen, denen die Arbeitskraft gehört, ihre negativen Freiheitsrechte nutzen und darum kämpfen, dass dieses Arbeitsvermögen nicht übermäßig vernutzt wird und sie als Personen Schaden nehmen würden. Ihrerseits werden die Kapitaleigentümer ihre negativen Freiheitsrechte nutzen und Kapital, also den zuvor angehäuften gesellschaftlichen Reichtum unter ihrer privaten Verfügungsgewalt, der Gesellschaft entziehen und möglicherweise an andere Orte verlagern. Aufgrund dieser Konstellation bestanden in der marxistischen Diskussion lange Zeit große Vorbehalte gegenüber dem liberalen Freiheitsbegriff, die in der Form der Ideologiekritik vorgebracht wurden: zwar verspreche die bürgerliche Gesellschaft Freiheit, aber viele Menschen könnten sie gar nicht in Anspruch nehmen, weil sie nicht über die Mittel verfügen, die dafür die notwendige Voraussetzung bilden. Allerdings bleibt das Verhältnis zur Freiheit widersprüchlich, weil sie auch im negativen Sinn bestimmte Schutzrechte gewährt. Zudem impliziert die Garantie eines Menschenrechts der Freiheit auch die Möglichkeit, politische Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen. In der Norm der Freiheit soll demnach ein emanzipatorischer Überschuss enthalten sein, der auf noch nicht erfüllte Möglichkeiten der Emanzipation aller Individuen hinweist und auf den Akteure in der bürgerlichen Gesellschaft seit deren Konstitution in den großen Revolutionen im 18. Jahrhundert immer wieder zurückgreifen. Auch im Fall der politischen Freiheitsrechte ist die Freiheit eingeschränkt. Denn es ist nicht möglich, in größerem Umfang Alternativen zur bestehenden Gesellschaft frei auszuprobieren, auch wenn es in einem gewissen Umfang möglich ist, die eigene Meinung zu äußern, wissenschaftlich frei zu forschen oder sich gewerkschaftlich und politisch zu organisieren und am Parteienwettbewerb mitzuwirken. In all diesen Fällen wird ebenfalls schnell deutlich, wie sehr die Freiheit von der Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Produktionsmittel (Bücher, Computer, Labore, Zeit) und daraus abgeleiteter gesellschaftlicher Macht abhängt. Freiheit als bloß negative und liberale Freiheit hat eine reale Bedeutung insofern, als die Rechte der Individuen vor dem Eingriff durch andere und insbesondere staatliche Macht geschützt wird. Die kritische Theorie verkennt das nicht, allerdings durchläuft ihrer Analyse zufolge die negative Freiheit einen historischen Funktionswechsel. Negative Freiheiten wie Unabhängigkeit des Denkens oder das Recht auf politische Opposition verlieren ihren grundlegenden Status, wenn es einer Gesellschaft gelingt, die Individuen innerhalb des Status quo zu versorgen: „Unter den Bedingungen eines steigenden Lebensstandards erscheint die Nicht-
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übereinstimmung mit dem System als solchem als gesellschaftlich sinnlos.“5 Marcuse gibt der negativen Freiheit eine neue Bedeutung. Da das Individuum gezwungen ist, sich auf dem Markt als freies ökonomisches Subjekt zu bewähren, wäre die Freiheit von einer solchen Art von Freiheit eine große Errungenschaft der Zivilisation: ökonomische Freiheit wäre Freiheit von der Wirtschaft, also Freiheit vom täglichen Kampf ums Dasein; politische Freiheit wäre die Befreiung des Individuums von der Politik. Dies käme der Ermöglichung der Kontrolle und Gestaltung der gesellschaftlichen Prozesse und der freien Wahl von gesellschaftlichen Institutionen oder Lebensverhältnissen, also einer transzendierenden Art von Freiheit selbst gleich. Freiheit ist ein Möglichkeitsraum, der nicht nur eine bestimmte Zahl von konkreten Freiheiten verspricht, auch nicht allgemein die Freiheit von diesem oder jenem Zwang. Der Begriff der Freiheit umfasst auch alle Freiheit, die noch nicht erlangt ist.6 Eine solche Überlegung leitet auch schon über zu einem positiven Begriff von Freiheit, nämlich die Freiheit, die gesellschaftlichen Verhältnisse derart zu gestalten, dass die Bedingungen der Freiheit selbst vergrößert werden. Schon Marx wollte sich nicht bei einer Konzeption der negativen Freiheit bescheiden, sondern hat für ein positives Verständnis von Freiheit plädiert, also für eine Freiheit der Gestaltung. Marx’ Werk wird oft als rousseauistisch gedeutet: demzufolge werden das Allgemein- und das Partikularinteresse der Individuen identisch, das Allgemeine hat Vorrang, die individualisierende Wirkung der Freiheitsnorm kritisiert und kollektiv Freiheit bevorzugt. Allerdings spricht Marx vom zukünftigen Gemeinwesen als einem „Verein freier Menschen“7. Schon im „Kommunistischen Manifest“ wird der individuellen Freiheit enorme Bedeutung zugesprochen. „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“8
Marx und Engels stellen nicht nur das Moment des Individuums als das Subjekt der Freiheit heraus. Es wird zudem ein positiver Begriff von Freiheit nahegelegt. Denn die Freiheit des einen wird sich positiv durch die Freiheit der anderen immer noch weiter steigern lassen. Freiheit wird also nicht gewonnen durch Abgrenzung von anderen, sondern gesteigert durch den Bezug der Freiheit, die das Individuum genießt, auf den Genuss der Freiheit der anderen. Die Freiheit geht also in ein Positivsummenspiel über. Freiheit bedarf der günstigen, entgegenkommenden Bedingungen, um praktiziert werden zu können, und wird sie praktiziert, entsteht daraus jeweils immer noch mehr Freiheit für die Einzelnen.
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Marcuse 1967, S. 22, vgl. auch S. 69. Vgl. Marcuse 1967, S. 226. Marx 1867, S. 92. Marx, Engels 1848, S. 482.
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2. FREIHEIT ALS UNTERWERFUNG UND VERWALTUNGSTECHNIK In der politischen Theorie wird über den Begriff der Freiheit gestritten, sein Emanzipationspotential ausgelotet, aber auch nachgewiesen, wie die Berufung auf ihn die Akteure begrenzt. Auch stellt sich die Frage, wo ein Begriff von Freiheit einige begünstigt und die Freiheit anderer einschränkt. Von solchen Diskussionen unterscheidet sich der Ansatz von Michel Foucault grundlegend. Offenkundig interessieren ihn die normativen Aspekte des Freiheitsbegriffs nur wenig. Vielmehr interessiert ihn die politische Rationalität, die sich mit dem Begriff der Freiheit verbindet; er widmet seine Aufmerksamkeit jenen Machttechnologien, die sich auf die Freiheit berufen, die sich auf die Freiheit der Individuen stützen oder die die Freiheit als eine Taktik der Macht selbst verwenden. Foucault ist also so skeptisch gegenüber der Freiheit wie all jene, die die negative Freiheitskonzeption – die Freiheit Wovon? – kritisieren, und ebenso wie all jene, die die positive Freiheit – die Freiheit Wozu? – problematisieren, weil sie möglicherweise umschlägt in autoritäre Vorschriften, wie Menschen zu leben haben. Doch Foucault geht darüber hinaus und folgt Hinweisen von Marx auf den Zusammenhang von Freiheit und Bentham, Sicherheit und Individualisierung. Er fragt nach der Art der konkreten Funktionsweise der Freiheit und der mit ihr verbundenen Annahmen, also insbesondere nach dem Individuum als dem Ausgangs- und dem Zielpunkt der Freiheit. Ausgangspunkt, weil unterstellt wird, dass in ihm schon Freiheit enthalten sei, die jedoch durch Konventionen, durch äußere Einschränkungen materiellen Mangels oder direkte Zwänge blockiert werde; Zielpunkt, weil erwartet wird, dass dem Individuum die Möglichkeiten gegeben werden müssen, die in ihm liegenden Potenziale der Freiheit und Autonomie frei zu entfalten. Foucault rührt an eine tief sitzende Selbstverständlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Was wäre, wenn alle diese Begriffe wie Freiheit, Individuum oder Subjekt selbst nicht nur Ergebnis einer bestimmten Form von Herrschaft, sondern Freiheit, Befreiung, Emanzipation intern mit Diskursen, Wissen und Praktiken verbunden wären, die selbst noch zur Steigerung von Macht beitrügen, also zu einem Machtdispositiv gehörten, das die Individuen anreizt, subjektiviert und sich selbst als autonome, ihre Freiheit begehrenden und anstrebende Subjekte erfahren läßt. Das, was da frei sein will, das gibt es Foucaults Ansicht zufolge schon, die Seele, das Gewissen, das Subjekt, die Autonomie. Sie sind keine Illusion oder Ideologie, aber auch nicht das, was sie selbst in der Philosophie, im Recht oder der Moral vorgeben zu sein. Es gibt sie, aber nur als Bezugspunkt, als Einsatzpunkt, als Korrelate von Technologien der Macht. Sie werden durch Macht und Wissen ständig von neuem hervorgebracht. „Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den
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Alex Demirović Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.“9
Foucault ist also radikaler, weil er eine vorgängige Form von Macht in den Blick nimmt. Die Unterwerfung findet bereits dort statt, wo das Individuum und das Subjekt, sein Innenraum, seine „Seele“, seine Identität, und der dazu gehörende Wunsch nach Befreiung konstituiert werden. Die Befreiung und die Freiheit gehören selbst einem Dispositiv der Erzeugung und Erhaltung von Macht und Unterwerfung an. Foucault entfaltet diese Überlegung nachdrücklich in „Der Wille zum Wissen“. In diesem ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ entfaltet er die Paradoxie seiner Kritik an der Freiheit durch eine Analyse der Repressionshypothese. Dieser Hypothese zufolge soll Repression die grundlegende Art und Weise gewesen sein, wie Macht, Wissen und Sexualität miteinander verbunden wurden. Die Sexualität läßt sich aus diesem Blickwinkel als eine Geschichte der zunehmenden Unterdrückung lesen. Dies führt umgekehrt dazu, dass der Sex als eine Sache der Freiheit und der Zukunft erscheint. Wer über den Sex spricht, kann in den Genuss einer Überschreitung gelangen, er oder sie antizipiert ein Stück zukünftige Freiheit. Das Beharren auf der Unterdrückung des Sexes erlaubt, die Freiheit, die Revolution auf der einen Seite und das Glück, die Lust und den schöneren Körper auf der anderen Seite in ein dauerhaftes Verhältnis zu bringen: „Den Mächten widersprechen, die Wahrheit sagen und den Genuß versprechen; Aufklärung, Befreiung und vervielfachte Wollüste aneinanderbinden … – ohne Zweifel liegen hier die Gründe für die Beharrlichkeit, mit der wir vom Sex in Begriffen der Unterdrückung sprechen, und vielleicht erklärt es auch den Marktwert, den nicht allein das besitzt, was sich vom Sex sagen läßt, sondern schon die einfache Tatsache, daß man bereitwillig denen Gehör schenkt, die seine Wirkungen erheben wollen.“10
Das Sprechen über den Sex verschafft eine Art kulturellen Mehrwert. Dies kann bis zur Sexualisierung und zur Pornographisierung reichen, die die Gesellschaft im Namen einer Befreiung des Unterdrückten ökonomisch, medial, symbolisch durchdringen. Foucault ist sich der provokativen Konsequenzen seiner Überlegung sehr bewusst. Er räumt ein, dass sie nur ein unfruchtbares Paradox bleibt: denn es käme nur heraus, dass der Sex eben nicht unterdrückt wäre; er hätte sich dann mit einer diskursiven Ökonomie angelegt, die ein Interesse an der Repressionsbehauptung hat. Im Verhältnis zu dieser Art der Ideologiekritik verschiebt Foucault nun die Perspektive und lenkt den Blick auf die diskursive Behauptung von der Unterdrückung des Sexes selbst: „weshalb sagen wir mit solcher Leidenschaft, mit solchem Groll gegen unsere jüngste Vergangenheit, gegen unsere Gegenwart und gegen uns selbst, daß wir unterdrückt werden?“11 Foucault stellt diese Frage nicht, um eine ‚linke‘ Gesellschaftskritik zu diskreditieren. Im Gegenteil radikalisiert er sie selbst sowie den Umfang ihres Gegenstandsbereichs und erwei-
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Foucault 1976, S. 42. Foucault 1977, S. 16. Foucault 1977, S. 18.
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tert damit den Horizont der Emanzipation. Er fragt nämlich nicht moralphilosophisch nach ‚unserem‘ normativen Verständnis der Freiheit, er fragt auch nicht danach, ob das Bürgertum in seiner mehrhundertjährigen Geschichte diesen Normen in der konkreten Wirklichkeit widerspricht, diese Normen einseitig versteht, ihren Anspruch reduziert oder sie vielleicht sogar hat fallen lassen. Wir können aus heutiger Sicht sagen, dass dies mit Blick auf den Sex nicht der Fall ist. Der Pornographiekonsum findet offen und weit verbreitet statt. Homosexualität ist eine öffentlich weitgehend akzeptierte sexuelle Praxis, homosexuelle und lesbische Partner_innenschaften sind anerkannt. Als sich der Profifußballer Thomas Hitzlsperger im Januar 2014 öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte, konnte der Sprecher der deutschen Bundesregierung auf der Bundespressekonferenz verlauten lassen, dass die deutsche Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht habe. Auch die Bundesregierung macht sich also durchaus eine Art Repressionshypothese zu eigen und beobachtet einen Fortschritt auf der Achse der Freiheit. Indem Foucault die Aufmerksamkeit auf die leidenschaftliche Forderung nach der Befreiung des Sexes und der Rede über ihn lenkt, verschiebt er die Fragestellung. Sie ist nun nicht mehr ideologiekritisch. Foucault kann vielmehr zeigen, dass es im 18. und 19. Jahrhundert zu einer regelrechten Explosion der Diskurse über die Sexualität kam. Aber damit geschieht weit mehr. Der Sex wird in die diskursive Existenz hineingetrieben, aus der Sexualität wird ein permanenter Diskurs gemacht, die Sexualität der Individuen wird beobachtet, extrahiert, angereizt, verdichtet, angeordnet, klassifiziert und institutionalisiert. Aber diese Ausdrucksweise unterstellt, es gäbe den Sex. Foucault argumentiert jedoch weiter gehend, dass die vielfältigen Elemente der Sexualität nun sorgfältig angelegt und zum Wachsen gebracht werden. Die Macht, die ausfragt, überwacht, belauert, durchwühlt, betastet, vollzieht sich „durch Vermehrung spezifischer Sexualitäten“.12 Die polymorphen Verhaltensweisen werden isoliert, intensiviert und in den Körpern als identifizierbare und klassifizierbare Lüste und periphere Sexualitäten fixiert. Für den Begriff der Freiheit sind diese Überlegungen zur produktiven Wirkung der Macht, die den sexuellen Körper und die in ihm fixierten Begehrenspraktiken erzeugt, folgenreich. Denn es ist der Diskurs des Subjekts, das sich seine Sexualität eingesteht und die Befreiung von dieser Lust oder die Befreiung dieser Lust begehrt, der den Prozeß in Gang setzt, in dem die Sexualität fixiert wird. Es ist die Praxis des Sprechens über die Sexualität, die als Geheimnis gilt, das erhellt werden muß. Dieses Sprechen kann als ein Akt der Befreiung erscheinen. Doch gleichzeitig bindet es das sprechende Individuum immer mehr daran, das Subjekt dieser Sexualität zu sein. Das Subjekt erzeugt sich im und durch das Sprechen selbst als ein Subjekt, das ein Geheimnis hat, das es lüftet, das sich befreit, indem es dieses Geheimnis seiner Sexualität offen legt; ein Geheimnis, das allerdings erst durch die diskursive Praxis selbst und in dem Maße geschaffen
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Foucault 1977, S. 63.
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wird, wie darüber in befreiender Absicht gesprochen wird. Das Subjekt konstituiert sich also durch eine diskursive und Wissenspraxis als das Subjekt einer spezifischen Sexualität, über die es die Wahrheit sagt, die drängt, an den Tag zu treten. Es scheint so zu sein, als ob die Macht zum Schweigen zwinge und das Geständnis befreie, als ob die Wahrheit nicht zur Ordnung der Macht gehöre, sondern in einem ursprünglichen Verhältnis zur Freiheit stehe. „Man muß sich schon eine reichlich verdrehte Vorstellung von der Macht machen, um glauben zu können, daß von Freiheit alle jene Stimmen reden, die seit so langer Zeit das ungeheuerliche Gebot unserer Zivilisation wiederkäuen, sagen zu müssen, was man ist, was man getan hat, wessen man sich erinnert und was man vergessen hat, was man verbirgt und was sich verbirgt, woran man nicht denkt und was man nicht zu denken denkt. Ein ungeheures Werk, zu dem das Abendland Generationen gebeugt hat, während andere Formen von Arbeit die Akkumulation des Kapitals bewerkstelligten: die Subjektivierung der Menschen, das heißt ihre Konstituierung als Untertanen/Subjekte.“13
Foucault dreht also die Spirale jener Paradoxie noch ein wenig weiter, die Kafka in „Vor dem Gesetz“ konstruiert. Nachdem der Mann vom Lande, dieser Erzählung zufolge, so lange vor dem Tor des Gesetzes gewartet hatte und mit seinem Leben eigentlich schon vor dem Ende stand, fragte er den Türhüter, warum außer ihm selbst niemand sonst Einlaß begehrt hatte. Der Türhüter brüllte ihn an, dass an diesem Tor niemand sonst Einlaß erhalten konnte. Denn dieser Eingang sei nur für ihn, den Fragenden, bestimmt gewesen. Er gehe jetzt und schließe den Eingang. Die Freiheit führt den Mann vom Lande vor die Tür des Gesetzes. Dieses ist ein Versprechen, doch ein Versprechen nur für ihn. Es handelt sich um die Geschichte eines vertanen Lebens, um ein Versprechen, das eine Situation konstituiert, die niemals eine befriedigende Auflösung erfahren wird: denn es wird keinen Richtspruch und keine Gerechtigkeit geben. Aus dem Blickwinkel der Überlegung Foucaults betrachtet geschieht aber noch etwas Weiteres. Das Individuum wird durch den Diskurs des Rechts und sein Begehren nach Gerechtigkeit als der Mann vom Lande und als jahrelang Wartender, als ein ratloses und verzweifeltes, Gerechtigkeit suchendes Individuum überhaupt erst konstituiert, der Türhüter als ein jahrelanger Wächter, der am Ende die Fassung verliert und brüllt. Warum brüllt er? Kommt ihm jetzt erst, konfrontiert mit der Frage, die Einsicht, dass er viele Jahre seines Lebens diesen Eingang zum Gesetz bewacht hat, der niemals zum Gerichtsspruch führen würde? Wußte er dies immer schon? Das Leben der beiden ist verloren: es wird als verlorenes Leben durch diese gleichsam leere, zentrumslose Konstellation selbst formiert und enteignet: sie werden beide als Unterworfene konstituiert, die ausharren und die beide an das glauben, was sie tun. Etwas allgemeiner verstanden, kann gesagt werden, dass gerade die Bemühung, durch einen Diskurs zu Wissen und Einsicht zu gelangen, die Freiheit geltend zu machen und die Wahrheit zu sagen, ein besonderes Verhältnis zwischen dem Subjekt, seinem Wissen und seiner Identität auf der einen Seite, und dem Objekt, der Sexualität, auf der anderen Seite konstituiert. Denn es ist gerade der
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Foucault 1977, S. 78.
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Wunsch nach diesem Diskurs, nach diesem Wissen, nach dieser Freiheit, der den Prozeß in Gang setzt, jenes Geheimnis zu konstituieren, von dem sich das Subjekt durch seine Rede befreien will. Je mehr es spricht, um sich selbst kennen zu lernen, um sich seiner selbst zu vergewissern und über sich zu verfügen, umso mehr konstituiert es sich als Subjekt, wird also selbst in seiner Freiheit ein Ziel- und Einsatzpunkt der Macht. Das Subjekt umstellt sich durch seine diskursive Praxis mit einer Vielzahl von Spiegeln, durch die es als dieses Subjekt seine Anerkennung erfährt und konstituiert wird. Sich hermeneutisch selbst erschließend und befreiend als Subjekt konstituierend und erzeugend, wird das Individuum enteignet. Foucault entfaltet ein Argument, das an Marx anschließt. Demnach ist die Freiheit bereits im kapitalistischen Warenverkehr real wirksam. Bei Marx ist die Freiheit der einzelnen Privatrechtssubjekte notwendig, damit es zum Austausch von Kapitaleigentümern und Eigentümern des lebendigen Arbeitsvermögens kommt. Freiheit ist ein spezifisches Ideologem, das erforderlich ist, wenn die moderne Form der Ausbeutung, nämlich eine gewaltfreie Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts durch die wenigen Eigentümer der Produktionsmittel gelingen soll. Freiheit ist demnach keine noch zu verwirklichende Norm, sie trägt zur Konstitution von Herrschaft bei. Foucault erweitert nun diese Perspektive von Marx. Das Subjekt wird nicht allein als Privatrechtssubjekt konstituiert, das in der ihm eigenen Freiheit des immerzu sich erneuernden Vertragsabschlusses auf immer höherer Stufenleiter von den akkumulierten Produktionsmitteln der Kapitaleigentümern abhängig wird. Foucaults Analyse des durch den Diskurs und das Dispositiv der Sexualität konstituierten Subjekts macht deutlich, dass die Freiheit mit der spezifischen Konstitution des Subjekts als ein Korrelat der Macht einhergeht. Das Subjekt wird als dezentriertes in einer Vielzahl von Praktiken der Macht konstituiert; das Individuum ist nicht mehr das Ungeteilte und Unteilbare, sondern wird in diesen Konstitutionspraktiken zum imaginären Fluchtpunkt der Machteinwirkungen. Es lässt sich aber aus diesem Grund auch nicht ohne weiteres durch das Dividuum ersetzen, da dies die Machtform des Subjekts zu wenig ernst nimmt und nahelegt, dass mit einer subjektiven Willensäußerung noch die multiple Individualität gelebt werden kann. Diesen Gedanken entfaltet Foucault in seinen weiteren Machtstudien. In der 1978 gehaltenen Vorlesung „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“ unterscheidet er zwischen drei Arten der Macht und damit einhergehenden Formen des Normalen. Der juridischen Macht des Souveräns, die auf rechtsförmiger Gewalt und Verbot beruht, entspricht die Annahme einer Norm, die das Handeln der Individuen begrenzt und Fehlverhalten gesetzesförmig sanktioniert. Der Souverän kann mit seiner Macht aber die Individuen nicht positiv lenken. Dies leistet die Disziplinarmacht. Sie wirkt mittels einer politischen Anatomie der Körper normalisierend und normierend auf das Verhalten, die Gewohnheiten der Individuen ein. Diese werden in Schule und Fabrik, Gefängnis und Kaserne eingeübt: Körperhaltung, Zeitrhythmen, Effizienz der Bewegungen. Die Disziplinarmacht stellt Normen auf, ein optimales Modell, das sie mittels einer Mikrophysik der Körper und des Verhaltens durchsetzt. Nach diesem Maßstab beobachtet und sanktioniert sie Abweichungen und definiert das Anormale. Eine dritte Form der Macht, die Gou-
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vernementalität, stützt sich auf das Sicherheitsdispositiv, das ein spezifisches Normalitätsmuster beinhaltet. Die Sicherheit rechnet – anders als die Souveränität und Disziplin – mit der Abweichung. Sie bewegt sich im Medium der Realität. Das, was als normal gilt, wird als statistische Häufung bestimmt, es werden Normalitätsklassen gebildet, die mit einem Erwartungskalkül verbunden sind. Auf diese Weise können Abweichungen als Streuungen antizipiert und als wahrscheinliche Risiken berechnet werden. Die Risiken weisen eine bestimmte Verteilung auf, bestimmte Personengruppen, Regionen oder Stadtteile sind häufiger betroffen, Abweichungen fallen stärker oder schwächer aus. So können Normalitätskurven und Differentialnormalitäten gebildet werden: Mortalität, Geburten, Selbstmorde, Einbrüche, rechtsextreme Anschläge. Das Sicherheitsdispositiv wirkt darauf ein, dass sich Abweichungen nicht zu sehr von den Normalverteilungen entfernen. „Die Norm ist ein Spiel im Inneren der Differential-Normalitäten. Das Normale kommt als erstes, und die Norm leitet sich daraus ab, oder die Norm setzt sich ausgehend von dieser Untersuchung der Normalitäten fest und spielt ihre operative Rolle.“14
Dieses Spiel ist ein Spiel der Macht, denn es geht darum, die Masse der Ereignisse sich ereignen zu lassen, sie aber gleichzeitig lenken, sie kontrollieren zu können, um einen völlig neuen Gegenstand der Regulierung in den Blick zu nehmen: die Ökonomie und die Gesellschaft. Es handelt sich um eine andere Machtökonomie. Sie zielt nicht auf das einzelne Individuum, ihr Einsatz ist vielmehr das Gesetz der großen Zahl, das große statistische Aggregat der Bevölkerung mit ihren vielfältigen Variablen. Die Bevölkerung ist eine Gegebenheit, sie folgt nicht dem Willen des Souveräns, der auf den Willen der Individuen einwirkt. Diese dritte Technik der Macht, die Gouvernementalität, operiert nicht auf der Grundlage von Normen, sondern im Medium der Wirklichkeit und setzt verschiedene Normalitätsklassen und -kurven wechselseitig in Gang, weil auf diese Weise das ereignishafte Moment der ständigen Abweichungen besser zu beherrschen ist als durch die rigiden Normalitätserwartungen des Gesetzes oder der Disziplin. Freiheit wird zu einem Operator auf dieser Ebene der Normalisierung der Gesellschaft. Individuen und soziale Gruppen müssen frei handeln können, damit es überhaupt zu Streuung, Abweichung, Differentialnormalitäten kommt, die Gegenstand der Beobachtung, statistischer Berechnung, des Risikokalküls und der intervenierenden Maßnahmen werden können. „In Wirklichkeit muß diese Freiheit, zugleich Ideologie und Technik der Regierung, muß diese Freiheit im Inneren der Mutationen und Transformationen der Machttechnologien verstanden werden. Und auf eine präzisere und bestimmtere Weise ist die Freiheit nur das Korrelat der Einsetzung von Sicherheitsdispositiven.“15
Es handele sich um eine Macht, die sich als Steuerung begreife, die sich nur durch die Freiheit und auf die Freiheit eines jeden stützend vollziehen könne. Die Si-
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Vgl. Foucault 2004, S. 97 f.; vgl. ausführlicher Demirović 2008. Foucault 2004, S. 78.
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cherheit bietet einen Korridor für die Ausübung von Freiheit; die Freiheit wird auf diese Weise statistisch berechenbar und hat eine Eintrittswahrscheinlichkeit, überschreitet sie bestimmte, als normal geltende Grenzwerte, werden Interventionen notwendig. Foucault hält also daran fest: Freiheit ist ein Moment von Macht, von Unterwerfung. Sie ist es, insofern das Individuum als Subjekt konstituiert wird, das sich selbst zum Autor des eigenen Selbst gestaltet und durch eine hermeneutische Praxis der Ausdeutung seiner selbst seine Sexualität und damit seine Identität gewinnt. Freiheit des Individuums ist ein Operator und taktischer Einsatz von Macht auch auf der Ebene der Steuerung der ‚Gesellschaft‘ als ganzer, sie ist ein Korrelat der Sicherheit. Es wurde Foucault vorgeworfen, dass er mit dem Verzicht auf den normativen Bezug auf Freiheit schwerlich noch kritisch sein kann. Denn seine Kritik sei eine so fundamentale Kritik der Vernunftnormen, dass er eigentlich auf keinen Maßstab mehr für eine vernünftige Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse zurückgreifen kann, dass seine eigene Argumentation aporetisch oder affirmativ wird. Aber machen sich diejenigen, die Foucault wegen seines mangelnden Bezugs auf Freiheit kritisieren, immer ausreichend klar, dass sie sich aus seiner Sicht selbst noch in eine lange Geschichte der Machtausübung einschreiben? Denn was könnte das Begehren nach der Freiheit bedeuten, wenn doch Freiheit nur zur Erzeugung jener Verhältnisse beiträgt, unter denen die Individuen auf die eine oder andere Weise unterworfen, ausgeschlossen, formiert, kontrolliert, verwaltet und regiert werden? Wenn Freiheit also selbst affirmativ ist? Offensichtlich bedarf es Foucault zufolge keiner normativen Maßstäbe. Er reagiert wiederum mit mehreren Verschiebungen auf das moralphilosophische Problem. Eine erste Verschiebung. Foucault entschärft die Aporie, indem er die These vertritt, dass es kein absolutes Außen der Macht gebe. Die Macht ist allgegenwärtig, überall, sie ist der Gesamteffekt einer komplexen strategischen Situation. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Denn Macht ist relational, die Machtverhältnisse existieren nur kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten.16 Macht könne nur über ‚freie Subjekte‘ ausgeübt werden. „Macht und Freiheit schließen einander also nicht aus … Ihr Verhältnis ist weitaus komplexer. In diesem Verhältnis ist Freiheit die Voraussetzung für Macht.“17 Die Ausübung der Macht benötigt also das Moment von Freiheit, wenn Menschen nicht einfach durch Gewalt beherrscht werden sollen, sondern wenn Macht das Feld ihrer Handlungsmöglichkeiten bestimmt und die Selbstführungspraktiken der Subjekte führt. So verstanden ist die Freiheit ein Moment der Praxis der Macht. Allerdings ist sie auch nicht einfach funktional. Denn Macht und Freiheit stellen eine Relation dar: den Kern der Machtbeziehung bilden die Relativität des Wollens und die Intransivität der Freiheit.18 Von und durch die Macht wird etwas Unverfügbares konstituiert. Dies be-
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Vgl. Foucault 1977, S. 116 f. Foucault 1982, S. 287. Vgl. Foucault 1982, S. 287.
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deutet auch, dass die Freiheit in einer spezifischen taktischen Konstellation ein Machtverhältnis ändern und vielleicht umkehren kann. Das hängt jedoch nicht am normativen Gehalt der Freiheit und einer letzten rationalen Begründung ab. Denn selbst rationale Argumente sind ja in die Machtrelationen einbezogen und stellen ihrerseits ein Machtverhältnis dar. Wer solche letzten Begründungen sucht, sucht nach Sicherheit und will zwanglosen Zwang ausüben; im besseren Fall ist er oder sie naiv, im schlimmeren Fall praktiziert er oder sie selbst eine Form von Macht. Eine zweite Verschiebung. Wenn es kein absolutes Außen der Macht gibt, dann ist dies dennoch kein Plädoyer dafür, passiv die jeweilige Machtkonstellation hinzunehmen. Im Gegenteil wendet sich diese Überlegung gegen solche politischen Haltungen, denen zufolge alles von der Revolution, also von einem Jenseits dieser Gegenwart jetzt und dieser Macht hier zu erwarten wäre. Es geht innerhalb der Macht um die Transformation der Machtrelationen in andere Machtrelationen. Auch wenn, Foucault zufolge, die gleichgeschlechtliche Sexualität als periphere Sexualität innerhalb des Sexualitätsdispositiv als Ergebnis von Machtausübung konstituiert und fixiert wurde, so stellt es doch einen erheblichen Unterschied für die Einzelnen dar, ob sie mit medizinischen, psychiatrischen oder polizeilichen Mitteln beobachtet, verfolgt, pathologisiert, gefoltert, traumatisiert und eingesperrt werden oder ob sie das gesellschaftliche Recht haben, ihre sexuelle Orientierung so zu leben wie dies für Heterosexuelle selbstverständlich ist. Es kann zu „Verhaltensrevolten“ kommen, also zu Widerständen gegen eine bestimmte Verhaltensführung.19 Insbesondere mit der Entfaltung der Gouvernementalität, die sich ja auf das Sicherheitsdispositiv und die durch es regulierte Freiheit stützt, bilde sich eine moralische und politische Haltung heraus, „welche ich nenne: die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“.20 Bescheidet sich Foucault also im Namen der Ubiquität der Macht und lokaler Freiheiten bei einzelnen Reformen? Eine dritte Verschiebung. Foucault legt nahe, dass er nicht sagen wolle, der Regierungsintensivierung der Gouvernementalität hätte sich seit dem 16. Jahrhundert direkt die konträre Behauptung entgegengestellt, die da lauten würde: wir wollen nicht regiert und wir wollen rein gar nicht regiert werden!21 Foucault sagt an dieser Stelle aber auch nicht, dass er eine solche Forderung ablehnen würde. Immer wieder wird insinuiert, dass Foucault wohl deswegen der Ansicht ist, dass eine historische Überwindung der von ihm analysierten Mächte nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen sei, weil es kein absolutes Außen der Macht gebe. In der Tat ist es nicht wenig, wenn es gelingt, die Praktiken der Macht derart zu transformieren, dass Individuen, nicht auf diese Weise, nicht um diesen Preis regiert werden. Doch Foucault beklagt ausdrücklich, dass die Macht der Regierung, der Führung von Individuen, das, was Foucault die pastorale Macht nennt, die gemeinsam mit den Sicherheitsdispositiven die gouvernementale Macht ausmacht und die sich
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Vgl. Foucault 2004, S. 282 f. Foucault 1978, S. 12. Foucault 1978, S. 11.
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über mehr als eintausend Jahre hinweg so gut wie unangefochten im Umfeld der christlichen Kirche entwickeln konnte und maßgeblich zur Herausbildung des modernen Staates geführt hat, noch so wenig kritisiert und angegriffen worden sei. „Alles in allem würde ich sagen, daß die politische Macht feudalen Typs zweifellos Revolutionen kannte, oder jedenfalls stieß sie sich an einer Serie von Vorgängen, die sie kurzerhand, von einigen Spuren abgesehen, aus der Geschichte des Abendlandes räumten und verjagten. Es gab antifeudale Revolutionen, doch es gab niemals eine antipastorale Revolution. Das Pastorat kannte den Vorgang einer tiefgehenden Revolution noch nicht, die es definitiv in den Ruhestand der Geschichte geschickt hätte.“22
Es gibt keinen Zweifel, dass Foucault jene politische Rationalität grundsätzlich in Frage stellen will, die in allen diesen verschiedenen Machtverhältnissen und insbesondere im Staat, „eine der fürchterlichsten menschlichen Regierungsformen“, praktisch vollzogen wird. „Die politische Rationalität hat sich im Laufe der Geschichte der abendländischen Gesellschaften entwickelt und eingerichtet. … Die Individualisierung und die Totalisierung sind dabei unvermeidliche Effekte. Die Befreiung kann nicht nur durch einen Angriff auf den einen oder den anderen dieser Effekte erreicht werden, sondern durch einen Angriff auf die eigentlichen Wurzeln der politischen Rationalität.“23
Eine vierte Verschiebung. Man muß nicht den anarchistischen Traum einer machtlosen Welt träumen. Doch Foucault stellt jene politische Rationalität im Namen der Befreiung grundlegend in Frage, die die wesentlichen Formen der Macht, das Macht/Wissen und die Dispositive der Macht, seit einigen Jahrhunderten bestimmt. Es wäre eine konkrete Form von Freiheit: nicht ausgeschlossen, nicht diszipliniert, nicht regiert, also nicht individualisiert und totalisiert zu werden. Das wäre folgenreich und läßt sich in den klassischen Begriffen solcher Normen wie Freiheit und Gleichheit gar nicht denken und nicht anstreben. Foucault sieht solche radikalen Kämpfe längst am Werk, die all das bekämpfen, was uns zu dem macht, was wir sind. „Es handelt sich um Kämpfe, die den Status des Individuums in Frage stellen. Einerseits treten sie für das Recht auf Anderssein ein und betonen alles, was die Individualität des Individuums ausmacht. Andererseits wenden sie sich gegen alles, was das Individuum zu isolieren und von den anderen abzuschneiden vermag, was die Gemeinschaft spaltet, was den Einzelnen zwingt, sich in sich selbst zurückzuziehen, und was ihn an seine eigene Identität bindet. … Und schließlich geht es in allen gegenwärtigen Kämpfen um die Frage: Wer sind wir? Sie wenden sich gegen jene Abstraktionen und jene Gewalt, die der ökonomische und ideologische Staat ausübt, ohne zu wissen, wer wir als Individuum sind, wie auch gegen die wissenschaftliche oder administrative Inquisition, die unsere Identität festlegt.“24
Unsere Subjektivität, unsere Individualität, unsere Freiheit – all dies ist Ergebnis einer jahrhundertelangen Einwirkung von Macht auf uns: Gewalt, Disziplin, Füh-
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Foucault 2004, S. 220 f. Foucault 1981, S. 198. Foucault 1982, S. 274.
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rung. Es findet sich in dieser Macht immer auch das Moment von Dissens, von Freiheit und Revolte, aber diese Machtrelation hat uns zu diesen disziplinierten, gehorsamen, sexualisierten, gewaltbereiten, arbeitsamen Subjekten gemacht, die all dies noch als Ergebnis ihrer Freiheit selbst begreifen können und müssen. Diesen Horizont will Foucault überschreiten, indem er das Subjekt in Frage stellt und zu seiner Zerstörung beiträgt. Er möchte, darin schließt er ausdrücklich an Marx an, allem ein „Ende setzen, das dieser Erzeugung des Menschen durch den Menschen eine feste Erzeugungsregel, ein wesentliches Ziel vorgeben will“.25 Deswegen kann die Freiheit auch nur als Freiheit von einer Freiheit verstanden werden, die uns auf das festlegt, was immer schon als Freiheit verstanden wurde und was wir alle auf Anhieb verstehen, weil wir im Horizont einer politischen Rationalität leben, die die Menschen seit Jahrhunderten verwaltet und uns als ‚Subjekte‘ konstituiert, die hermeneutisch von sich selbst das Selbstverständnis als freie Individuen gewinnen, um sich auf diese Weise zu unterwerfen. Die Denkbewegung Foucaults ist elliptisch: sie bewegt sich weg von Individuum und Freiheit, sie untergräbt die Evidenzen und Grundlagen dieser Begriffe, doch derart aus dem Kontext verschoben, kehren sie zurück und bekommen eine neue Bedeutung: eine Freiheit jenseits der Freiheit. Denn es geht Foucault um die freien Individuen jenseits der Regierung und Sicherheit, jenseits der Individualisierung und Totalisierung. Er deutet einen neuen kategorischen Imperativ an, der offensichtlich dem von Kant entgegensteht. „Wir haben etwas zu schaffen, das noch nicht existiert und von dem wir nicht wissen können, was es sein wird.“26
25 26
Foucault 1980, S. 93. Foucault 1980, S. 92 f.
Für eine Freiheit jenseits der Freiheit
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LITERATUR Demirović, Alex, 2008: Liberale Freiheit und das Sicherheitsdispositiv. Der Beitrag von Michel Foucault. In: Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.): Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluß an Foucault, Bielefeld Foucault, Michel, 1976: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main Foucault, Michel, 1977: Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main Foucault, Michel, 1978: Was ist Kritik?, Berlin Foucault, Michel, 1980: Gespräch mit Ducio Trombadori. In: Michel Foucault: Schriften, Vierter Band, Frankfurt am Main 2005 Foucault, Michel, 1981: ‚Omnes et singulatim‘: zu einer Kritik der politischen Vernunft. In: Michel Foucault: Schriften, Vierter Band, Frankfurt am Main 2005 Foucault, Michel, 1982: Subjekt und Macht. In: Michel Foucault: Schriften, Vierter Band, Frankfurt am Main 2005 Foucault, Michel, 2004: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt am Main Marcuse, Herbert, 1967: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. In: Herbert Marcuse: Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1989 Marx, Karl, 1844: Zur Judenfrage. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1972 Marx, Karl, 1867: Das Kapital, Bd. 1. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1972 Marx, Karl, Engels, Friedrich, 1848: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx-EngelsWerke, Bd. 4, Berlin 1972
FREIHEIT DES AUSSEN Arne Klawitter
Es ist nicht leicht zu sagen, was genau für jemanden, dem der Ruf nacheilt, gleichzeitig ein Anarchist und ein Neokonservativer zu sein,1 ‚Freiheit‘ bedeutet. In einem Gespräch mit Studenten, das den bezeichnenden Titel „Jenseits von Gut und Böse“ trägt, kritisiert Foucault die für das westliche Demokratieverständnis grundlegende Idee der Freiheit des Individuums als eine Erfindung des Humanismus, die einzig das Ziel verfolge, den Menschen einzureden, dass sie durchaus souverän sein können, selbst wenn sie keine Macht haben, und mehr noch: dass, wenn sie auf Macht verzichten, sie desto souveräner sein würden. Einzig und allein der Humanismus habe all diese „unterworfenen Souveräne“ hervorgebracht, mit denen es wir heute immer noch zu tun haben: „die Seele (die über den Leib herrscht, aber Gott unterworfen ist); das Bewusstsein (das souverän urteilt, aber dem Diktat der Wahrheit unterworfen ist); das Individuum (das als Träger seiner Rechte gilt, aber den Naturgesetzen und den Regeln der Gesellschaft unterworfen ist), die fundamentale Freiheit (die innerlich souverän ist, aber nach außen in ihr Schicksal einwilligt).“2
Zweifellos problematisch ist in dieser Argumentation der Begriff des Schicksals, doch muss man dabei bedenken, dass es sich um ein Interview handelt und Foucault in einer theoretischen Abhandlung sicherlich eher Termini wie „Gesellschaftsstruktur“ oder „soziale Ordnung“ verwendet hätte. Das Fazit, das er dann zieht, lautet dahingehend, dass der Humanismus „all das [ist], wodurch man im Westen den Wunsch nach Macht versperrt hat – all das, was den Menschen dort verbietet, Macht zu wollen, und die Möglichkeit ausschließt, nach der Macht zu greifen.“3
Freiheit, so lässt sich daraus schließen, ist keineswegs eine Errungenschaft, sondern im Gegenteil der Preis, den wir für die Demokratie zahlen, ohne dass wir uns völlig darüber im Klaren sind. Es sind gewöhnlich die Freiheit und die Demo-
1
2 3
Auf dem Rückendeckel der deutschen Ausgabe des 2. Bandes von Dits et Ecrits ist folgendes Zitat Foucaults zu lesen: „Ich möchte, dass meine Bücher Skalpelle, Molotowcocktails oder Minengürtel sind und dass sie nach Gebrauch wie ein Feuerwerk zu Asche zerfallen“. Foucault 2002. Für die Etikettierung Foucaults als Neokonservativer ist vor allem Manfred Franks Buch Was ist Neostrukturalismus? (Frank 1983) verantwortlich, das in Deutschland für gut ein Jahrzehnt die Rezeption des französischen Poststrukturalismus blockierte. Foucault 2002, S. 277. Ibid.
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kratie, in deren Namen ‚der Westen‘ den Feldzug gegen seine äußeren Feinde antritt, gegen die ‚undemokratischen‘ Großmächte (wie China) oder auch Kleinmächte (wie den Iran oder Nordkorea), eben gegen die mit einem Schlagwort unzulässig versimplifizierte „Achse des Bösen“ (Axis of Evil). Foucaults Verständnis von Freiheit widerspricht konsequent dem einer uns überlassenen ‚freien‘ Wahl, wie sie zum Beispiel von den Liberalisten proklamiert wird – ganz im Sinne des ökonomischen Prinzips, für ein bereits vorhandenes Angebot nun auch die entsprechende Nachfrage zu schaffen –, und damit auch dem der ‚demokratischen‘ Wahl, die das Gesellschaftssystem ja keineswegs in Frage stellt, sondern lediglich turnusmäßig eine begrenzte Zahl von Berufspolitikern und Bürokraten austauscht. Die Freiheit gehört für Foucault schon deshalb nicht dem Individuum, weil es keine Wahlfreiheit gibt, die eine wirklich freie Wahl zuließe. Freiheit resultiert für ihn nicht aus einer in sich abgeschlossenen, autonomen und sicheren Innerlichkeit, die in völliger Souveränität für sich entscheiden kann, sondern kommt im Gegenteil ‚von Außen‘. Die Aufklärung hatte den Menschen die Idee von einer Freiheit vermittelt, die durch Einschränkung bedingt ist. „Die leichte Taube“, heißt es in Kants Kritik der reinen Vernunft, „indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, dass es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde.“4 Dort jedoch würde sie ohne diesen Widerstand überhaupt nicht fliegen können, weil es gerade jener Widerstand ist, der sie überhaupt erst fliegen lässt. Folglich kann also das, was wir als Hindernis empfinden, zugleich auch die unabdingbare conditio sine qua non für das sein, was uns zu tun möglich ist. Der Bemerkung Foucaults, dass die Aufklärung, „welche die Freiheiten entdeckt hat, […] auch die Disziplinen erfunden [habe]“5 und mit ihnen die Disziplinierung, begegnet Blanchot mit dem Einwand, dass Dressur und Disziplinierung schon lange vorher bekannt gewesen seien. Er stimmt aber mit Foucault darin überein, dass sich die Disziplinierungsmaschinen gerade in den vermeintlichen Freiheiten verstecken und sich dort nicht nur mehren, sondern zudem immer raffinierter und feinmaschiger werden, was dazu führt, dass wir aus dieser im Versprechen der Freiheit überaus effektiv wirkenden Unterwerfung „den ruhmvollen Schluß [ziehen], Subjekte zu sein“6. Damit habe Foucault das Paradox, das dem aufklärerischen Freiheitsgedanken zugrunde liegt, aufgedeckt: dass eben die Unterwerfung uns als freie Subjekte konstituiert, „fähig, die diversesten Erscheinungsformen einer lügnerischen Macht in Wissen umzuwandeln in genau dem Maße, wie wir ihre Transzendenz vergessen müssen und das Gesetz vom göttlichen Ursprung ersetzen durch ein System von Regeln und durch vernünftige Verfah-
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Kant 1968, S. 51. Foucault 1977, S. 285. Blanchot 1987, S. 38.
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rensweisen. Und sobald wir ihrer müde sind, erscheinen sie uns wie das Ergebnis einer zwar menschlichen, aber doch monströsen Bürokratie“7.
Diese subjektkonstituierende Unterwerfung (l’assujettissement au sujet) zu denken, ist, in sich gesehen, wiederum eine Art von Freiheit im Denken Foucaults, im Sinne einer Ungebundenheit nämlich, eines Sich-Losreißens von der epistemischen Ordnung, die uns nur innerhalb bestimmter Grenzen denken lässt. François Ewald spricht in diesem Zusammenhang von einem „vagabundierenden Denken“ (une pensée sans aveu), das zugleich sowohl ein nicht geständiges als auch ein geständnisloses Denken ist8 und nicht aus der Innerlichkeit eines moralischen Bewusstseins kommt. Woher und woraus aber resultiert diese Freiheit im Denken Foucaults? Was macht ihn so ‚frei‘, die Freiheit dermaßen frei zu denken? Dergleichen Fragen gilt es im Folgenden nachzugehen und sie, was hoffentlich möglich sein wird, dann auch zufriedenstellend zu beantworten. 1. DENKEN (AN) DER GRENZE Den Einstieg in die Frage nach der Freiheit im Denken Foucaults bilden hier seine Überlegungen zur Literatur, die sich genuin von den üblichen Herangehensweisen an dieses Thema unterscheiden. Dies hat von Anfang an zu zahlreichen Fehldeutungen geführt, insbesondere hinsichtlich der Annahme, dass seine Sprachontologie auf eine Selbstbegründung der Literatur hinauslaufe und sich somit eine Theorie der Literatur zum Ziel gesetzt habe, obwohl die Sprachontologie für Foucault letzten Endes nichts anderes war als ein heuristisches Unterfangen. Demnach wäre also primär nach den Möglichkeiten zu fragen, die sich ergeben, wenn man nicht wie im Strukturalismus nach den Möglichkeitsbedingungen des Sinns fragt, sondern dessen Unterbrechungen positiv auffasst und besonders Zeichenfigurationen in den Blick nimmt, die zeigen, dass sie nicht zeigen. Es geht dabei eben nicht um eine Begründung der Literatur im Sein der Sprache, wie verschiedentlich behauptet worden ist (vgl. Geisenhanslüke 2008, 155), sondern vielmehr um die Herausstellung der Grenzen jener diskursiven Ordnung, in der wir Literatur als signifikative Praxis produzieren und rezipieren. Foucaults Vorstellung von Freiheit ist eng mit einem Denken der Grenze und mit einem Diskurs verbunden, der sich aus solchen Zeichenfigurationen, die zeigen, dass sie nicht zeigen, ergibt und der einen Grenzraum eröffnet, der einerseits in Bezug auf die Innerlichkeit des Subjekts und dessen epistemische Ordnung ein Außen darstellt, andererseits dann aber doch einen Diskurs konstituiert, der ein geregeltes Sprechen ist, das eine Reflexion der Grenze ermöglicht. Im Kontext dieser Überlegungen hat Foucault schließlich in Auseinandersetzung mit dem literarischen und theoretischen Werk
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Foucault 1977, S. 285. Ewald 1978, S. 8.
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Georges Batailles den ebenso prägnanten wie folgenreichen Begriff der Überschreitung entwickelt. Überschreitung zeigt sich bei Bataille vor allem in Hinblick auf Sexualität und Erotik und erhält in diesem Kontext eine ganz besondere Bedeutung. Foucault glaubt nicht daran, dass durch Freud und dessen Theorie die Sexualität ‚befreit‘ worden sei, und ebenso wenig habe sie mit ihm, Reich oder Marcuse zu einer ‚naturgegebenen Wahrheit‘ zurückgefunden. Stattdessen wurde sie mehr und mehr an die Peripherie unseres Bewusstseins gedrängt, „denn letztlich diktiert sie die für unser Bewusstsein allein mögliche Lesart unseres Unbewussten; Grenze des Gesetzes, denn sie tritt als der einzige absolut universelle Inhalt des Verbotes in Erscheinung; Grenze unserer Sprache“9.
In der Erotik wiederum sieht Foucault genauso wie Bataille eine Erfahrung von Sexualität, „die die Überwindung der Grenze mit dem Tod Gottes in sich verbindet“10 und die insbesondere in Batailles Erzählung „Die Geschichte des Auges“, die 1928 geschrieben und damals als Privatdruck in einer kleinen Auflage von insgesamt nur 134 Exemplaren publiziert wurde, zum Ausdruck kommt. Der Text selbst, den Susan Sontag einmal als „Kammermusik der pornographischen Literatur“11 bezeichnet hat, erzählt in subtiler Weise von verschiedenen sexuellen Obsessionen des Erzählers und seiner Freundin Simone, in denen Urin, Sperma, Eier und Augen eine wesentliche Rolle spielen. Simones ekstatischer Taumel erreicht schließlich in einer spanischen Stierkampfarena seinen Höhepunkt, wo das Auge des Torero vom Horn eines Stieres ausgestochen wird, während Simone im gleichen Moment den Hoden eines getöteten Bullen in ihre Vagina einführt. Während Roland Barthes in strukturalistischer Manie versucht, unterhalb der referentiellen Oberfläche, die den Text pornographisch erscheinen lässt, eine regelnde Struktur aufzuspüren, durch die die Normübertretung auf der Darstellungsebene des Textes organisiert wird, liest Foucault die Erzählung jenseits einer Theorie der Bedeutung und erkennt in ihr eine „nicht-dialektische Sprache der Grenze, die sich erst in der Überschreitung dessen, der spricht, entfaltet“12. Im Zuge seiner Lektüre konfrontiert er zwei Sichtweisen miteinander: In der ersten fungiert das Auge gleichzeitig als Spiegel und Lampe, indem es als Spiegel das Licht auffängt und es in ein Bild der Welt transformiert, das die Welt erhellt und so das Auge zu einer Lampe werden lässt. Auf der reflexiven Ebene hingegen erhält das Auge dadurch sein Sehvermögen, dass es sich selbst beim Sehen zusieht, d.h. dass ein hinter ihm liegendes, reflektierendes Auge vorausgesetzt wird, das wiederum ein sehendes Auge voraussetzt, bis schließlich die reine Transparenz des Blicks erreicht wird und es seinen Ursprung in der Setzung eines transzendentalen Subjekts findet. In dieser sich fortsetzenden Bewegung der Verinnerlichung begründet sich die Souveränität des (sehenden) Bewusstseins. In Batailles Erzählung hinge-
9 10 11 12
Foucault 2001, S. 320. Ibid., S. 324. Sontag 1995, S. 75. Foucault 2001, S. 334.
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gen erkennt Foucault eine umgekehrte Bewegung, sofern „der Blick die vom Augapfel gebildete Grenze durchbricht“ und das Auge in seinem „augenblicklichen Sein“13 konstituiert. In dieser zweiten, der Reflexionsphilosophie entgegen gesetzten Sichtweise wird das Auge nicht mehr als das Organ des Sehens konzeptualisiert, sondern wird als das in der Ekstase verdrehte Auge zum Medium des Blicks: Es erscheint als eine „weiße, über die Nacht verschlossene Kugel“, die „den Kreis einer Grenze zieht, die allein der Einbruch des Blickes durchbricht“14. Das ist nur vorstellbar, wenn extreme Gewalt im Spiel ist, denn das sich erblickende Auge kann nichts anderes als ein verdrehtes, wenn nicht sogar ein aus seiner Höhle herausgerissenes Auge sein: „In diesem Abstand von Gewalt und Entrissenheit wird das Auge absolut gesehen, außerhalb jeglichen Blicks“15, genauer gesagt: außerhalb jeglichen Sehens. Der Blick ist für Foucault im Gegensatz zum Sehen selbst schon eine Überschreitung, die das Auge in einem „leuchtende[n] Rinnsal“16 mit sich reißt, das sich über die Welt ergießt und sich in Batailles Erzählung auf verschiedene Weise äußert: als Erguss von Tränen, Blut, Milch oder Sperma. Sobald das Auge aus seiner Höhle herausgerissen wird, bleibt mit ihm lediglich „die kleine weiße, blutgeäderte Kugel“ zurück, deren „kugelförmige Masse jeden Blick ausgelöscht hat“17. Es sieht nicht mehr und während es seine blinde, weiße Gegenseite zeigt, wendet sich seine Pupille der „zentralen Dunkelheit“18 zu, in der es als sehendes Auge eingebettet war. Es lässt den Ort seines Ursprungs sichtbar werden, und zwar als eine nächtliche Leere. Dieses Szenario veranschaulicht für Foucault das philosophierende Subjekt der Moderne, das „aus sich selbst herausgeworfen worden“19 und dessen Souveränität grundlegend erschüttert worden ist. 2. ÜBERSCHREITUNG UND GRENZE JENSEITS DER DIALEKTIK Foucaults Überlegungen zur Literatur sind ein Beispiel für ein Denken an der Grenze des Diskurses, welches dadurch ermöglicht wird, dass er ein Außen des Diskurses postuliert, dem ein Denken an oder sogar auf der Grenze folgt. Sein Aufsatz „Vorrede zur Überschreitung“, der 1963 in der ursprünglich von Bataille begründeten Zeitschrift Critique erschienen war und gleichzeitig als Nachruf auf den ein Jahr zuvor verstorbenen Denker angesehen werden kann, ist in dieser Hinsicht von zentraler Bedeutung, vor allem, weil er, über die Lektüre von Batailles „Geschichte des Auges“ hinausgehend, einen philosophischen Raum der Leere
13 14 15 16 17 18 19
Ibid., S. 335. Ibid., S. 334. Ibid., S. 335. Ibid. Ibid. Ibid., S. 336. Ibid., S. 335.
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eröffnet und eine Verbindung zwischen der Inszenierung des verdrehten Auges und der Erfahrung der Überschreitung herstellt, die einen engen Zusammenhang zwischen der Endlichkeit (dem Tod Gottes) und dem Sein (der Indikation des Seins der Sprache als Grenze des Sagbaren) offenbar werden lässt. Der Diskurs einer völlig neuen Auffassung von Sexualität, der Ende des 18. Jahrhunderts mit de Sade begonnen hatte und nun von Bataille weitergeführt wird, grenzt unsere Innerlichkeit nicht mehr von einem Außen ab, sondern setzt uns selbst als Grenze. In Verbindung mit einer permanenten Profanierung des ‚Heiligen‘ hat dieser Diskurs den Menschen in eine ‚Nacht‘ gerissen. In einer Welt jedoch, in der Gott tot ist und dem Heiligen jeder positive Wert entzogen wird, ist jegliche Profanierung inhaltslos geworden, leer und auf sich selbst zurückbezogen. Der Begriff der Überschreitung ist bei Bataille mit drei Perspektiven verbunden: einer ‚inneren Erfahrung‘ der grenzenlosen Grenze, einer auf sich selbst gerichteten Profanierung, die zur leeren Geste wird, und einer Sprache der Überschreitung, jener „nicht-dialektische[n] Sprache der Grenze“20, die sich in der Gleichzeitigkeit sowohl einer philosophischen Sprache, die die Subjektphilosophie überschreitet, als auch einer literarischen Sprache permanenter Profanierung und erotischer Exzessivität äußert. Batailles Spiel mit unablässigen Grenzziehungen und Überschreitungen bewegt sich außerhalb jeder Dialektik, weil es nichts einander gegenüberstellt; es bejaht das begrenzte Sein, ohne das Unbegrenzte zu negieren, und umgekehrt bejaht es das Unbegrenzte, ohne die Begrenzung zu verneinen. Batailles Vorstellung einer die Grenze bezeichnenden Sprache öffnet sich auf diese Weise einem Erfahrungsraum, der in der Begrifflichkeit der Subjektphilosophie nicht zur Sprache gebracht werden kann. Der Versuch, diese Erfahrung zu denken, führt zur Auflösung der Subjektphilosophie, zur Entmächtigung des autonomen Subjekts und fordert die Ausformung einer neuen diskursiven Sprache, die Foucault zunächst als ‚felsig‘ beschreibt, da sie eine gewisse Dinghaftigkeit besitze, dann als brüchig, weil ihre Zerklüftungen nicht durch den dialektischen Widerspruch geglättet würden, und schließlich als zirkulär, da sie sich in ihrer leeren Selbstbezüglichkeit auf ihre Grenzen zurückziehe. Für Foucault beginnt sich an diesem Punkt ein diskursiver Raum zu öffnen, in dem sich die Problematik des Seins der Sprache mit den Figuren der Überschreitung verbindet, die jene ontologische Leere anzeigen, welche der Tod Gottes an den Grenzen des abendländischen Denkens hinterlassen hat. Mit den Kategorien der Verausgabung, des Exzesses, der Grenze und Überschreitung hatte Bataille seinerseits Möglichkeiten gefunden, die Grenze nicht nur der Subjektphilosophie, sondern auch der epistemischen Ordnung des modernen Denkens zu thematisieren. Für Foucault verschiebt sich damit seit Mitte der 1960er Jahre der analytische Blick, und er konzentriert sich nunmehr auf die Wissensformationen und ihre historischen Grenzen.
20
Ibid., S. 334.
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3. DIE DISKONTINUITÄT DER EPISTEME In jener frühen Phase Foucaults, d.h. in der Zeit vor der Publikation der Ordnung der Dinge (also vor 1966), war vor allem der Gedanke eines nicht-signifikativen Seins der Sprache die Basis für die Entwicklung seiner Freiheit im Denken, denn er ermöglichte es ihm, einen Abstand zur etablierten hermeneutischen und strukturalistischen Vorgehensweise zu gewinnen, um dann von diesem ‚nach Außen verlagerten‘ Standpunkt aus die Bedingungen und Grenzen des Diskurses über Literatur zu hinterfragen. Jenes postulierte Sein der Sprache bildete jedoch keineswegs den Ansatzpunkt für eine Theorie der Literatur, sondern war vielmehr ein Hilfsmittel, um eine Position der Abgrenzung von jeglicher Theorie der Bedeutung zu finden. Auch in Foucaults wissensarchäologischen Untersuchungen ist dieser Gedanke eines nicht-signifikativen Seins der Sprache ein wichtiges Grundelement, woraus sich auch die besondere Rolle der Literatur erklärt, die diese in der Wissensarchäologie einnimmt – dabei allerdings nicht als ein absoluter Ausdruck einer sinnverdichteten Sprache, sondern gewissermaßen als eine Gegenkraft zur Dynastie des Sinns und als ein sehr wohl geregeltes Sprechen, das am Rand, an der Bruchlinie der Episteme unterwegs ist. „In der modernen Zeit ist die Literatur das, was das signifikative Funktionieren der Sprache kompensiert (und nicht bestärkt).“21 Diese sowohl dem hermeneutischen als auch dem strukturalistischen Blick konträre Sichtweise eröffnete eine bislang eher ungeahnte Beziehung zwischen der Literatur und der Sprache in ihrem nicht-signifikativen Sein: Durch die Literatur, sofern sie eine Kompensierung der Signifikation erlaubt – und darin wäre dann ihre epistemische Funktion zu sehen –, „glänzt das Sein der Sprache erneut an den Grenzen der abendländischen Kultur und in ihrem Herzen, denn es ist seit dem sechzehnten Jahrhundert das, was ihr am fremdesten ist.“22 Dem modernen Denken stellt sich damit die Herausforderung, Literatur nicht mehr ausgehend von einer Theorie der Bedeutung aus zu betrachten, d.h. weder von der Seite des Bezeichneten her, wie die Hermeneutik es tut, noch von der Seite des Bezeichnenden und der die sprachliche Bedeutung konstituierenden Strukturen her. „Im einen wie in dem anderen Fall sucht man sie außerhalb des Ortes, an dem sie für unsere Kultur seit anderthalb Jahrhunderten [mittlerweile müsste man sagen: seit zwei Jahrhunderten; A.K.] nicht aufgehört hat, zu entstehen und Eindrücke zu hinterlassen. […] Seit dem neunzehnten Jahrhundert stellt die Literatur die Sprache in ihrem Sein wieder ins Licht, aber nicht so wie noch die Sprache am Ende der Renaissance erschien. Denn jetzt gibt es nicht mehr jenes ursprüngliche Sprechen, das absolut anfänglich war und wodurch die unendliche Bewegung des Diskurses begründet und begrenzt wurde.“23
21 22 23
Foucault 1974, S. 77. Ibid. Ibid.
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Dass die Literatur seit Mallarmé zu einer Art „Gegendiskurs“24 geworden ist, bedeutet nicht, dass sie an sich subversiv wäre oder dass sie frei äußern könnte, was sonst nicht erlaubt wäre. Dahinter steht vielmehr die Vorstellung, dass die Literatur in der Wissensarchäologie gleichsam den Rahmen des Denkens seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts sichtbar mache, was sich allein schon daran verdeutlichen lässt, dass die in der Ordnung der Dinge untersuchten Empirieerfahrungen (Arbeit, Leben und Sprache) in den Überlegungen zur Literatur bereits als Grenzfiguren bzw. Negationen vorgeprägt sind: statt der nützlichen Arbeit die Lust an der Überschreitung und verbunden damit die Exzesse des Begehrens; an Stelle des wachsenden Lebens dessen Endlichkeit und der Tod; und statt einer sinnverdichteten und selbstbezüglichen Rede das nicht-signifikative Sein der Sprache. Man könnte sagen, dass Foucault in seinen wissensarchäologischen Untersuchungen mit der Literatur die Grenzen des Diskurses, die das jeweils Sagbare vom Unsagbaren einer historischen Epoche trennen, in die epistemologische Betrachtung hineinholt. Entlang der Bruchlinien, die damit offenbar werden, entfaltet er sein Denken und gleichermaßen sein politisch-ethisches Handeln, wenn es z.B. um die Mikroanalyse der Macht, die Gefängnisreformen oder die Praktiken des Selbst geht. 4. HERRSCHAFT UND DISZIPLIN Eine vorgegebene ‚Natur‘ des Menschen, der gemäß er leben und handeln sollte, ist dem Denken Foucaults vollkommen fremd. Maßgeblich ist für ihn, dass sich der Mensch jeweils neu bestimmen und als Subjekt konstituieren muss. Eben weil es keine ursprünglich freie Existenz gibt, kann der Mensch auch nicht vom gegenwärtigen Zustand, den er dann als repressiv und von der Natur entfremdet wahrnehmen würde, befreit werden. Es bleibt ihm aber die Gewissheit, dass es grundsätzlich möglich ist, die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie die Subjektivierungstechnologien zu verändern und sie in Hinblick auf eigene Vorstellungen zu modifizieren. Die humanistischen Wesensbestimmungen des Menschen entlarvt Foucault als ‚Erfindungen‘ einer bestimmten Herrschaftspraxis, die darauf hinausläuft, das Subjekt gleichzeitig als Souverän und als Unterworfenes zu konstituieren, um es zum Objekt von Normalisierungs- und Disziplinierungstechniken zu machen. Es gibt in der abendländischen Kultur keine Machtausübung ohne eine gewisse „Ökonomie der Wahrheitsdiskurse“25, die innerhalb des Kräftegefüges von Machtmechanismen, Rechtsregeln und Wahrheitswirkungen funktioniert. Macht wird insbesondere über die Produktion von Wahrheit ausgeübt; jede Gesellschaftsordnung, jede Epoche ist geprägt durch ein bestimmtes Verhältnis von Macht, Recht und Wahrheit. Im Gegensatz zur traditionellen Frage, wie die Philosophie als privilegierter Wahrheitsdiskurs das Recht
24 25
Ibid., S. 76. Foucault 1999, S. 32.
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der Macht begrenzt, sucht Foucault eine Antwort darauf, welche Rechtsregeln dergleichen Machtrelationen ins Werk setzen, um Wahrheitsdiskurse zu produzieren: „Welcher Machttyp ist in der Lage, Wahrheitsdiskurse zu produzieren, denen in einer Gesellschaft wie der unsrigen derart mächtige Wirkungen verliehen werden?“26 Das Recht wird von Foucault nicht mehr ausgehend von der Souveränität, d.h. als Beziehung zwischen der legitimen Souveränität und der gesetzmäßigen Verpflichtung zum Gehorsam gedacht, sondern ausgehend von den vielfältigen Machtverhältnissen und Unterwerfungsprozessen, die innerhalb des sozialen Gefüges wirksam sind.27 Statt die Analyse der Macht auf das Recht der Souveränität, die Staatsapparate und die damit verbundenen Ideologien auszurichten, konzentriert sich Foucault auf die Mikromechanik der Machtwirkungen, d.h. auf ihre Ausschlussmechanismen und Überwachungsapparate, auf die Prozeduren der Subordination und die Verbindungen und Anwendungen lokaler Systeme bei dieser Unterwerfung, um dann schließlich auf die konkreten Instrumente der Herausbildung und Akkumulation von Wissen und auf die strategischen Wissensdispositive näher einzugehen. Dabei gelte es, „[d]ie materielle Instanz der Unterwerfung in ihrer subjektkonstituierenden Funktion zu erfassen“28. Das Individuum ist für Foucault kein „Gegenüber der Macht“, sondern „eine ihrer ersten Wirkungen“, was zur Folge hat, „daß Körper, Gesten, Diskurse, Wünsche als Individuen identifiziert und konstituiert werden“29. Seine Kritik an der Aufklärung richtet sich vor allem darauf, dass diese zwar die Freiheiten entdeckt, zugleich mit ihnen aber auch die Disziplinen erfunden habe.30 Durch die Rationalisierung von Zeit und Raum (Terminkalender, Zeiteinteilungen, Regelung von Bewegungsabläufen, Parzellierungen, Hierarchisierungen), eine „Mikro-Justiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen), der Tätigkeit (Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, Faulheit), des Körpers (‚falsche‘ Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit) und der Sexualität (Unanständigkeit, Schamlosigkeit)“31, die eng an ein System korrigierender, ‚kleinerer‘ Bestrafungen gekoppelt ist, sowie durch den Einsatz normierender Sanktionen und von einem Ensemble von Prüfungen, die mittels ihrer Dokumentationstechniken aus jedem Individuum einen ‚Fall‘ machen, werden die Disziplinen „immer mehr zu Techniken, welche nutzbringende Individuen fabrizieren“32. Ist erst einmal das Gefüge der Disziplinargesellschaft deutlich geworden, so Foucault, dann erweisen sich Aufklärung, Humanismus und die modernen Wissenschaften als Bestandteil eines umfassenden Dispositivs der Normalisierung und Disziplinierung.
26 27 28 29 30 31 32
Ibid. Vgl. Foucault 1983, S. 113–124. Foucault 1999, S. 37. Ibid., S. 39. Foucault 1977, S. 285. Ibid., S. 230. Ibid., S. 271.
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Foucaults Konzeption von Kräfteverhältnissen und Machtwirkungen widerspricht zum einen der vor allem unter Linken verbreiteten Ansicht, dass es unter den Verdeckungen und Manipulationen durch die Herrschaftsverhältnisse dennoch ein an und für sich freies Subjekt gäbe, das es von den Zwängen der Macht zu befreien gilt (eine Auffassung, die Foucault als „Repressionshypothese“ bezeichnet33). Zum anderen widerspricht sie der herkömmlichen Vorstellung von Machtausübung als Unterdrückung und Gewalt, die auf das Schema von Herr und Knecht zurückgreift und in ihm verbleibt. Unterdrückung ist für Foucault nichts anderes als die permanente Herstellung eines fortwährenden Kräfteverhältnisses im Inneren eines Pseudofriedens, der, wiederum als ‚Politik‘ im eigentlichen Sinne verstanden, nichts anderes ist, „als ein mit anderen Mitteln fortgesetzter Krieg“. Politik wäre aus dieser Sicht also die „Sanktionierung und Erhaltung des Ungleichgewichts der Kräfte, wie es sich im Krieg manifestiert“34. Macht konzentriert sich für Foucault nicht in den Händen einzelner Individuen bzw. einer Gruppe von Menschen oder einer herrschenden Klasse; sein Blick richtet sich vielmehr auf die in, zwischen und auf Individuen wirkenden Mechanismen und Prozesse, d.h. auf die produktiven Effekte. Dabei ist das Individuum aber „nicht als eine Art elementaren Kern, primitives Atom, vielfältige und träge Materie [zu] begreifen, auf die die Macht angewendet wird, gegen welche sie sich richtet und die die Individuen unterwerfen und brechen würde. […] Das Individuum ist ein Machteffekt und gleichzeitig, in genau dem Maße, wie es eine ihrer Wirkungen ist, verbindendes Element: Die Macht geht dank des Individuums, welches von ihr konstituiert wurde, durch.“35
Wo aber ist dann die Freiheit zu suchen und zu situieren? Gewiss nicht in den Subjekten, sondern vielmehr im Widerspiel der wirkenden Kräfteverhältnisse: Sie erscheint in der unmöglichen Wahrscheinlichkeit dessen, was zwischen den Kräfteverhältnissen oder auch durch sie entsteht. Freiheit wäre demnach nicht einfach diejenige Kraft, welche die wirkenden Kräfteverhältnisse entbindet, sie transparent macht und erhellt, sondern, konsequent gedacht, vor allem dasjenige Movens, welches sie in der Leere des Unvorstellbaren auflöst und zerstreut. In Foucaults Analytik der Machtmechanismen ist die Macht omnipräsent und das Denken der Freiheit scheint, solange man damit eine Souveränität des Subjekts verbindet, in eine Sackgasse zu führen. Die Macht ist unhintergehbar: Einen Ort, an dem keine Macht ausgeübt würde, gibt es nicht. Bedeutet das aber nicht, dass das Subjekt damit der Macht völlig unterworfen ist, ohne auch nur ein winziges Quantum an Freiheit zu besitzen? Obwohl die Macht überall und allgegenwärtig ist, heißt es bei Foucault dennoch einschränkend, dass sie nur über „freie Subjekte“ ausgeübt werden könne, „insofern sie ‚frei‘ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- und Handlungs-
33 34 35
Vgl. Foucault 1983, S. 25 ff. Foucault 1999, S. 26. Ibid., S. 39.
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möglichkeiten verfügen“36. In demselben Text über das Subjekt und die Macht bemerkt Foucault, dass Macht und Freiheit einander nicht ausschließen (wenn man z.B. sagt, wo Macht sei, könne es keine Freiheit geben) und dass ihr Verhältnis weitaus komplexer sei: „In diesem Verhältnis ist Freiheit die Voraussetzung für Macht (als Vorbedingung, insofern Freiheit vorhanden sein muss, damit Macht ausgeübt werden kann, und auch als dauerhafte Bedingung, denn wenn die Freiheit sich der über sie ausgeübten Macht entzöge, verschwände im selben Zuge die Macht und müsste bei reinem Zwang oder schlichter Gewalt Zuflucht suchen). Aber zugleich muss die Freiheit sich einer Machtausübung widersetzen, die letztlich danach trachtet, vollständig über sie zu bestimmen.“37
Die Ausübung von Macht funktioniert gerade deshalb, weil die Subjekte frei sind: frei, sich zu entscheiden, und frei zu handeln. Gleichzeitig birgt die Freiheit auch ein Potential von Möglichkeiten, das durch die Macht beschränkt wird, wenn sie sich durch ihre geballte und permanente Ausübung kanalisiert und institutionalisiert. Statt von einem Antagonismus, wie er gewöhnlich zwischen Macht und Freiheit postuliert wird, spricht Foucault daher von einem Agonismus: „Einem Verhältnis, das durch gegenseitiges Antreiben und Kampf geprägt ist und weniger durch einen Gegensatz, in dem beide Seiten einander blockieren, als durch ein permanentes Provozieren“38
Der Kern dieser Beziehung, der die Macht immer wieder provoziert und unterminiert, wird seiner Ansicht nach durch „die Relativität des Wollens und die Intransitivität der Freiheit“39 gebildet. 5. DIE FREIHEIT IN IHRER ETHISCHEN DIMENSION Es gibt somit also sehr wohl den Gedanken der Freiheit in der Foucaultschen Machtanalytik, die immer wieder gerade mit Blick darauf kritisiert worden ist, dass sie dem Subjekt keinen Ausweg aus der Macht biete. Gerade weil der Mensch ein politisches Wesen ist, kann er sich nicht den Auseinandersetzungen und Machtkämpfen der Politik entziehen, die Foucault eben nicht mehr als ein Modell von „Herrschaft und Unterdrückung“ versteht, sondern die er vielmehr im Sinne von „Kampf und Unterwerfung“ ausdeutet. Dabei ist die Analytik der Macht mit ihren politischen Implikationen nur die eine Seite der Foucaultschen Problemstellung, denn für ihn ist Freiheit auch und vor allem eine ethische Haltung, was sich in seinen Überlegungen zur Regierungsmacht zeigt, der zwei Dimensionen innewohnen: eine ethische, verbunden mit der Selbstführung (conduite), und eine politische, verbunden mit der Frage 36 37 38 39
Foucault 2005, S. 287. Ibid. Ibid., S. 287–288. Ibid., S. 287.
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nach der Führung anderer40 (gouvernement im engeren Sinne).41 Der Begriff der Führung ist eng mit der Art und Weise verknüpft, wie man sich „in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld“ verhält, und Machtausübung bedeutet in diesem Fall, „Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen.“42 Das Subjekt und seine Beziehung zum Wissen, also zum diskursiven Regime der Wahrheit, wird nicht mehr ausschließlich aus der Perspektive von Zwangspraktiken betrachtet (wie noch in Überwachen und Strafen), sondern in einen Bezug zur Praxis der Selbstformierung des Subjekts gestellt. Die Freiheit, so heißt es bei Foucault, „ist die ontologische Bedingung der Ethik“, während die Ethik „die reflektierte Form [ist], die die Freiheit annimmt.“43 Ethik ist demnach als die reflektierte Praxis der Freiheit zu verstehen, was beispielsweise heißen würde, dass, wenn man in der Sexualität sein Begehren ‚befreit‘, es darauf ankommt, „zu wissen, wie man sich zu anderen in den Beziehungen der Lust ethisch zu verhalten hat“44, und dass man auf der Grundlage dieses Wissens sein eigenes Sein formiert und sein Handeln danach ausrichtet. Während sich in der griechisch-römischen Antike die individuelle Freiheit als „Sorge um sich selbst“ (epimeleia heautou) reflektierte, bedarf es heute einer kritischen Reflexion der Gegenwart: Was ist dieses Jetzt, in dem wir leben, in dem wir der eine oder der andere sind? Seit seiner ersten umfassenden Studie über den Wahnsinn (dt. Wahnsinn und Gesellschaft) hat Foucault nie aufgehört zu zeigen, dass die Seinsweisen des Menschen unter bestimmten Bedingungen entstanden und verändert worden sind, was bedeutet, dass sie nicht notwendig oder die einzig möglichen sind und dass eine grundlegende ontologische Offenheit jeder Seinsweise vorangeht. Auch in seinen ethischen Schriften postuliert Foucault eine solche Offenheit, die das Individuum mit Selbstentwürfen ausfüllen kann, gesetzt, dass es sich die ‚Freiheit‘ dazu nimmt und sich den gesellschaftlichen Konventionen und Autoritäten verweigert. Doch dazu bedarf es einer kritischen Reflexion
40 41
42 43 44
Vgl. Foucault 2005, S. 286. Mit dem Begriff der Gouvernementalität zielt Foucault „auf die Gesamtheit der Praktiken […], mit denen man die Strategien konstituieren, definieren, organisieren und instrumentalisieren kann, die die Einzelnen in ihrer Freiheit wechselseitig verfolgen können. Die Individuen, die versuchen, die Freiheit der anderen zu kontrollieren, zu bestimmen und zu begrenzen, sind selber frei, und sie verfügen über bestimmte Instrumente, um die anderen regieren zu können. All dies beruht also auf der Freiheit, auf der Beziehung des selbst auf sich selbst und auf der Beziehung zu anderen. Folglich kann man das Subjekt, wenn man bei der Machtanalyse nicht von Freiheit, von den Strategien und der Gouvernementalität ausgeht, sondern von der Institution und der Politik, nur als Rechtssubjekt ins Auge fassen. Man hätte ein Subjekt, das mit Rechten ausgestattet wäre oder nicht, und das durch die Institutionen der politischen Gesellschaft Rechte erhalten oder verloren hätte: Man wird so auf eine juridische Konzeption des Subjekts zurückverwiesen. Umgekehrt gestattet, so glaube ich, der Begriff der Gouvernementalität, die Freiheit des Subjekts und die Beziehung zu anderen geltend zu machen, was doch gerade den Gegenstandsbereich der Ethik konstituiert.“ (Foucault 2005, S. 901.) Ibid. Foucault 2005, S. 879. Ibid.
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und eines permanenten Kampfes, denn die ‚Macht‘ ist unablässig bestrebt, ihrerseits die ontologische Offenheit zu besetzen. Deshalb ist es für Foucault eher unmaßgeblich herauszufinden, wer oder was wir sind, sondern vielmehr wichtig, „abzulehnen, was wir sind“: „Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein könnten, wenn wir uns dem doppelten politischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt.“45
Dies ist als Aufforderung zu verstehen, nach „neuen Formen von Subjektivität“ zu suchen, um auf diesem Wege neue Handlungsräume zu eröffnen, und „die Art von Individualität zurück[zu]weisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt.“46 Aus dem Denken der Aufklärung übernimmt Foucault einerseits die Haltung der kritischen Reflexion, d.h. den Gebrauch der eigenen, mündig gewordenen Vernunft; er kritisiert sie aber andererseits dahingehend, dass sie einen Dogmatismus unterworfener Souveränitäten etabliert habe, um so aus dem Menschen ein Rechtssubjekt zu machen, das aufgrund einer gesetzlichen Verbindlichkeit dem Staatsapparat unterworfen ist. Die Kritik an der Aufklärung führt Foucault nicht in eine Dialektik von Emanzipation und Unterwerfung, sondern erfordert vielmehr etwas, was er eine kritische Ontologie der Gegenwart und unserer selbst nennt47. Die kritische Funktion der Philosophie leitet Foucault vom sokratischen Imperativ ab, dem gemäß man sich mit sich selbst befassen solle, was letztlich nichts anderes bedeutet als: „‚Gründe deine Freiheit auf die Meisterung deiner selbst.‘“48 Die „Sorge um sich selbst“ und der Freiraum, den wir dieser Selbstsorge geben, definieren die Freiheit, die der Mensch hat und die er für sich in Anspruch nehmen kann. 6. DAS PHILOSOPHISCHE ETHOS ALS GRENZHALTUNG In seinen Überlegungen zu Kants Was ist Aufklärung? bestimmt Foucault die Haltung der Aufklärung als eine „Grenzhaltung“, bei der es aber nicht um eine Verweigerungshaltung gehe, sondern vielmehr um die Lösung des Problems, wie man der Dialektik des Drinnen und Draußen entkommen und sich permanent an deren Grenzen aufhalten könne: „Die Kritik ist gerade die Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie.“49 Doch während Kant die Frage nach den Grenzen gestellt
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Foucault 2005, S. 280. Ibid. Vgl. Foucault 2005, S. 700, 703. Foucault 2005, S. 902. Foucault 2005, S. 702. An anderer Stelle („Diskussion vom 20. Mai 1978“) betont Foucault, dass die Kritik ein praktisches Instrument des Eingriffs sein müsse: „Die Kritik hat nicht die Prämisse eines Denkens zu sein, das abschließend erklärt: Und das gilt es jetzt zu tun. Sie muss ein Instrument sein für diejenigen, die kämpfen, Widerstand leisten und das, was ist, nicht mehr wollen. Sie muss in Prozessen des Konflikts, der Konfrontation, des Widerstands-
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hatte, „auf deren Überschreitung die Erkenntnis verzichten muss“ (Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? Was ist der Mensch?), formuliert Foucault die kritische Frage der Gegenwart als eine „positive“: „Welcher Anteil an dem als universal, notwendig und obligatorisch Gegebenen ist singulär, kontingent und willkürlichen Zwängen geschuldet? Es geht alles in allem darum, die in der Form notwendiger Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in der Form möglicher Überschreitung umzuwandeln.“50 Das Ethos der Aufklärung war von der Maxime bestimmt, dass es sich nicht um die Sorge des Individuums um sich selbst handelt, sondern um etwas, das gemeinschaftlich und öffentlich von Individuen praktiziert wird: „Die Aufklärung ist […] nicht nur der Prozess, durch den die Individuen sich ihrer persönlichen Denkfreiheit versicherten. Es gibt Aufklärung, sobald allgemeiner Gebrauch, freier Gebrauch und öffentlicher Gebrauch der Vernunft zur Deckung kommen.“51
Daraus folgt dann auch, dass Kritik, wie Foucault sie begreift, nicht mehr als eine Suche nach formalen Strukturen mit universellem Wert zu verstehen ist, sondern als eine „historische Untersuchung, welche die Ereignisse durchläuft, die uns dazu veranlasst haben, uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen, zu konstituieren und zu erkennen. In diesem Sinne ist diese Kritik nicht transzendental und hat nicht zum Ziel, eine Metaphysik möglich zu machen: Sie ist genealogisch in ihrer Finalität und archäologisch in ihrer Methode. Archäologisch – und nicht transzendental – in dem Sinne, dass sie nicht versuchen wird, die allgemeinen Strukturen jeder Erkenntnis oder jeder möglichen moralischen Handlung herauszulösen, sondern die Diskurse zu behandeln, die das, was wir denken, sagen und tun, als gleichermaßen historische Ereignisse zum Ausdruck bringen. Und diese Kritik wird in diesem Sinne genealogisch sein, als sie nicht aus der Form dessen, was wir sind, ableiten wird, was uns zu tun oder zu erkennen unmöglich ist; sie wird vielmehr aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit herauslösen, nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.“52
Gleichzeitig bedeutet eine solche kritische Ontologie unserer selbst für Foucault eine „Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit [eine] Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind.“53 Was sich in dieser Erprobung dem kritisch reflektierenden Subjekt eröffnet, ist das Außen als Diskontinuität des Gegenwärtigen und Möglichkeitsraum des Zukünftigen. „So ist das Außen stets die Öffnung einer Zukunft, mit der nichts endet, da nichts begonnen hat, sondern in der alles sich wandelt […].“54. Eben dieses Außen ist, wie schon Deleuze angemerkt hat, ein stets wiederkehrendes Thema bei Foucault, abzielend darauf, dass das Denken nicht in der „angeborenen Ausübung eines Vermögens“ bestehe, sondern dem reflektierenden Subjekt wi-
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versuchs gebraucht werden. Sie darf nicht das Gesetz des Gesetzes sein. Sie ist keine Etappe in einer Programmierung. Sie ist eine Herausforderung für das, was ist.“ (Foucault 2005, 41) Ibid., S. 702. Ibid., S. 692. Ibid., S. 702 f. Ibid., S. 703 f. Deleuze 1992, S. 125.
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derfahren müsse. Denken werde nicht von einer Innerlichkeit hervorgebracht, sondern ereigne sich „im Einbruch eines Außen“55. Worin äußert sich für Foucault also nun konkret die Freiheit des Menschen? Freiheit heißt letztlich nicht, eine ungehinderte Wahl zwischen möglichst vielen ‚Alternativen‘ zu haben oder einen bestimmten Platz in einer scheinbar offenen Ordnung einzunehmen; ebenso wenig meint Freiheit die Universalität, die ein Denken oder Handeln ermöglicht. Freiheit mit Foucault zu denken, verlangt, von der Möglichkeit des Universellen zu einer allgemeinen und durch das Außen bedingten Kontingenz und Diskontinuität überzugehen. Denn in der Freiheit, wie Foucault sie verstanden und praktiziert hat, drückt sich, um mit Blanchot zu sprechen, eine unbeugsame „Leidenschaft für das [A]ußen“56 aus. LITERATUR Blanchot, Maurice, 1969: L’entretien infini. Paris. Blanchot, Maurice, 1987: Michel Foucault vorgestellt von Maurice Blanchot. Tübingen. Deleuze, Gilles, 1992: Foucault. Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 1974: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 1977: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. Ewald, François, 1978: Foucault – Ein vagabundierendes Denken. In: Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 7–20. Foucault, Michel, 1983: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 1999: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 2001: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band I: 1954–1969. Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 2002: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band II: 1970–1975. Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 2005: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band IV: 1980–1988. Frankfurt a.M. Frank, Manfred, 1983: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a.M. Geisenhanslüke, Achim, 2008: Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Michel Foucault. Heidelberg. Kant, Immanuel, 1968: Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in zehn Bänden. Band III. Hg. von Weischedel, Wilhelm. Darmstadt. Sontag, Susan, 1995: Kunst und Anti-Kunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt a.M.
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Deleuze 1992, S. 121. Blanchot 1969, S. 64.
TEIL II FREIHEIT UND MACHT
DIE PROBLEMATISIERUNG VON FREIHEIT BEI FOUCAULT UND HONNETH Felix Heidenreich
„Wie kann man Freiheit praktizieren?“1
1. EINLEITUNG In der Debatte um Foucaults späte Vorlesungen nimmt die Frage nach seiner Theorie der Freiheit eine Sonderstellung ein. Über kaum einen Aspekt seines Werkes dürfte ein größerer Dissens herrschen als bezüglich seiner Äußerungen über Freiheit. Zwei Positionen lassen sich idealtypisch gegenüberstellen. Eine erste Lesart deutet Foucaults Analyse als eine Art Beobachtung zweiter Ordnung: Nicht Freiheit interessiert ihn, sondern ‚Freiheit‘, also der diskursive Gebrauch des Wortes, die Genese von Theorien und Praktiken der Freiheit. Da Macht in einer Art Massenkonstanz nie abnehmen kann, sondern nur durch diskursive Verschiebungen transformiert wird, lassen sich keine faktischen Freiheitsverluste oder Gewinne verbuchen, sondern nur verschiedene Gouvernementalitäten beschreiben, die sich durch Prozesse der Internalisierung oder aber krisenhafte Übergänge auszeichnen. Eine irgendwie affirmative Theorie von Freiheit, eine Konzeption tatsächlicher Freiheit im Kontrast zu bloß vermeintlicher Freiheit kann es demnach bei Foucault aus systematischen Gründen nicht geben. Im Gegenteil: Die Gouvernementalität des Liberalismus wäre dann nur eine verdeckte, die Internalisierung von Imperativen praktizierende Form von Regierungskunst. Wenn Foucaults Begriff der Macht eine differenzlos große Extension hat, alles irgendwie vermachtet ist, muss sein Begriff von Freiheit leer bleiben. Eine zweite Lesart deutet hingegen Foucaults Beschäftigung mit den Theoretikern des Neoliberalismus nicht etwa als distanzierte Faszination eines „fröhlichen Positivisten“, der sich gleichsam mit der Begeisterung eines Insektenforschers über die besonders ausgefallenen Ansätze von Friedrich August von Hayek oder Gary S. Becker beugt, sondern als Ausdruck einer Affirmation der liberalen Meistererzählung. Die Beschäftigung mit dem angelsächsischen und deutschen Neoliberalismus wäre aus dieser Perspektive nicht etwa als eine dekonstruktive Lektüre der Mythen einer neuen Gouvernementalität, sondern vielmehr als Foucaults Ausweg aus einem französischen Republikanismus zu deuten, der den
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Staat und dessen pädagogische Institutionen hypostasiert und dadurch jener Disziplinargesellschaft Gestalt gibt, die für den jungen Foucault persönlich wie wissenschaftlich eine prägende Rolle spielte. Foucaults späte Vorlesungen wären demnach nicht etwa als bloße Kritik am Liberalismus, sondern als ein Bekenntnis zu dessen Errungenschaften zu verstehen, als spätes Ankommen in einer Gesellschaft, die nicht nur ökonomisch, sondern auch ästhetisch und sexuell auf Pluralismus statt Disziplinierung setzt. Für beide Lesarten lassen sich in der Foucault-Literatur zahlreiche Beispiele anführen.2 Die erste wird vor allem von jenen vertreten, die Foucaults AnalyseRahmen kritisch auf die Phänomene der Gegenwart anwenden. Hierzu gehören, so scheint mir, paradigmatisch Ulrich Bröckling, Susanne Krassmann und Thomas Lemke3 oder Martin Saar.4 Die zweite Lesart scheint weniger Vertreter aufzuweisen: Neben Phillip Sarasin5 geht wohl Geoffroy de Lagasnerie am weitesten, wenn er Foucault als genuin liberalen Denker präsentiert, dessen „Lektion“ in Frankreich endlich zur Kenntnis genommen werden sollte, wo eine große Skepsis gegenüber allen liberalen Ansätzen die politische Kultur dominiert und jede Reformfähigkeit erstickt.6 Beide Lesarten scheinen gute Argumente vorbringen zu können. Einerseits: Ist der vermachtende Charakter einer liberalen Mobilisierung der Subjekte zur nutzenmaximierenden Selbstausbeutung nicht klar in Foucaults Vorlesungen benannt? Ist der Markt als „Ort der Wahrheit“ nicht als Mechanismus einer neuen Regierungskunst gezeichnet, ja sind Foucaults wohlgemerkt zu Beginn der 1980er Jahre formulierten Vorlesungen in ihrer Analyse nicht geradezu prophetisch angesichts einer unter den Imperativen der Freiheit leidenden Bevölkerung, deren Burn-Out-Erkankungen aus einer sich beständig steigernden Selbstausbeutung resultieren? Und andererseits: Sind die Vorzüge einer liberalen Gouvernementalität im Vergleich zur Disziplinargesellschaft nicht dermaßen augen2
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Jeder versuch einer maßstabsgetreuen Abbildung des beständig wachsenden Kontinents der Sekundärliteratur zu Foucault muss allerdings scheitern. Die Hinweise haben daher nur den Status von Beispielen. Bröckling / Krassmann / Lemke 2000. Vgl. Saar 2007. Saar betont: „Entscheidend ist dieses klare und für Foucault offensichtlich unspektakuläre Eingeständnis, dass die Begrifflichkeit zur Beschreibung von Machtverhältnissen Platz für den Begriff der Freiheit haben muss, weil sonst die Idee einer Wirkung von Macht (als Führung) im Subjekt keinen Sinn hätte.“ (Saar 2007, 38). „Freiheit“ wäre dann a priori notwendiges Element eines Sprachspiels, das Macht zu beschreiben versucht. Dies würde sowohl für eine Beobachtung erster wie zweiter Ordnung gelten. Sarasin deutet die Vorlesungen als ein „Bekenntnis zu einer Gouvernementalität, die unter dem Titel ‚Liberalismus‘ idealiter die staatliche Intervention in das Leben der Individuen auf das Niveau der allgemeinen Spielregeln zurückfährt und maximale Diversität erlaubt.“ (Sarasin 2007, 479; Hervorhebung im Original). Zwei Einwände scheinen hier auf der Hand zu liegen: Erstens wären staatliche Interventionen, so sie denn demokratisch legitimiert sind, für Foucault womöglich weniger problematisch als die volatil-intransparenten Imperative des Marktes. Gerade die „Staatsphobie“ mancher Liberalismus-Varianten stellt für Foucault bekanntlich ein Problem dar. Zweitens scheint sich Foucault in seiner Analyse des Liberalismus ja gerade auf die Wechselwirkungen zwischen Spielregeln und Spielzügen abzustellen. Lagasnerie 2012.
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fällig, dass ihre Attraktivität auch Foucault präsent, ja bei seinen Aufenthalten in Kalifornien in jedweder Hinsicht anschaulich gewesen sein muss? Sollen wir Foucault tatsächlich für einen Gnostiker halten, für den jede neue Gouvernementalität nur tiefer in die Weltnacht führen konnte? Zeugen Foucaults Vorlesungen über den Neoliberalismus nicht von einer Faszination für eine Regierungskunst, die durch Freiheit regiert? Diese schematische Gegenüberstellung lässt sich auch so deuten, dass die erste Lesart davon ausgeht, dass Foucault den Begriff der Freiheit nur als zu beobachtendes Element in Diskursen deutet, also in einer Art Beobachtung zweiter Ordnung versteht, ohne ihn jedoch selbst operativ zu verwenden. Da diese Beobachtung zweiter Ordnung nicht immer durch Anführungszeichen oder sprachliche Markierung eindeutig benannt ist, entsteht die optische Täuschung, Foucault selbst sei der Ansicht, der Liberalismus fördere die Freiheit. Dem könnte die zweite Lesart entgegenhalten, dass es zahlreiche Äußerungen Foucaults gibt, die belegen, dass er den Begriff Freiheit durchaus auch affirmativ verwendet. So definiert er beispielsweise in einem Interview vom Oktober 1982 seine Aufgabe folgendermaßen: „Ich habe mir vorgenommen – dieser Ausdruck ist gewiss allzu pathetisch –, den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind, als sie meinen“7. Bei aller distanzierenden Ironie („allzu pathetisch“) gäbe es demnach durchaus einen operativen Gebrauch des Prädikats „frei“ in Beobachtungen erster Ordnung bei Foucault.8 Um die Antinomie der Interpretationen aufzulösen, möchte ich im Folgenden einen systematischen Zugriff wählen, der das bisher meist verwendete Verfahren einer Einordnung der Freiheitsproblematik in sein Gesamtwerk oder der Rekonstruktion von „Freiheitsszenen“ in diesem Werk ergänzt.9 Dazu werde ich zunächst – im Anschluss an Axel Honneth – drei Begriffe von Freiheit unterscheiden, wobei auf eine Rekonstruktion der Auseinandersetzung Honneths mit Foucaults Werk bewusst verzichtet wird.10 Im Folgenden soll im Abschnitt 1. die Differenzierung zwischen negativer, reflexiver und sozialer Freiheit ein präziseres Verständnis von Foucaults Perspektive ermöglichen. Im Abschnitt 2 formuliere ich die These, dass, Foucault eine Alternative zu den vermachtenden Systemen negativer oder reflexiver Freiheit rekonstruiert, wo er unter dem Titel parrhesia Praxen angstfreier, ungeschützter Kommunikation unter Freunden oder zwischen Beratern und Herrschern beschreibt. Abschließend will ich im Abschnitt 4 versuchen zu verdeutlichen, was eine solche systematische Rekonstruktion für Foucaults Analyse des Neoliberalismus bedeuten könnte. Die Verknüpfung von sozialer Freiheit und Politik erweist sich dabei als fehlendes Element in Foucaults Perspektive. 7 8 9
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Foucault 2005, S. 960. Zu anderen einschlägigen Stellen, die diese Lesart bestätigen, komme ich weiter unten. Petra Gehring hat eine solche Rekonstruktion von Freiheitsszenen bei Foucault geleistet (Gehring 2012) und dabei die Vielschichtigkeit des Begriffs herausgearbeitet; stark werkimmanent und wenig systematisch verfahren Dumm 1996 und Oksala 2005. Vgl. hierzu Honneth 1985.
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2. DREI FORMEN VON FREIHEIT Axel Honneth unterscheidet in seiner Monographie „Das Recht der Freiheit“ unter Rückgriff auf eine Unterscheidung von Isaiah Berlin drei Typen von Freiheit.11 Erstens rekonstruiert Honneth das Ideal einer negativen Freiheit, einer Freiheit von: von Beschränkungen, Willkür, Bevormundung – wie es in den Gründungstexten des europäischen Liberalismus vorherrscht. Dieser Typus von Freiheit impliziert als Ideal das Modell eines ungebundenen und souveränen Subjekts. Ihr Modell ist der „freie“ Unternehmer, der ungehindert durch Handelsbeschränkungen wie ein Robinson Crusoe die eigene technisch-ökonomische Welt aus dem Nichts schöpft. Eine postheroische Schwundstufe dieses Ideals ist immer noch im Model des homo oeconomicus impliziert. Auch dieser ist souverän, insofern ihm die eigenen Präferenzen transparent und die Mittel zu ihrer Erreichung in seiner Kontrolle liegen. Der politiktheoretische Ausdruck dieses Freiheitsverständnisses ist in jenen Vertragskonstruktionen zu sehen, für die – von Locke über Mill bis zu Nozick – bestimmend bleibt, „den Subjekten einen geschützten Spielraum für egozentrische, von Verantwortungsdruck entlastete Handlungen zu sichern“12. Unter „reflexiver“ Freiheit versteht Honneth zweitens einen Prozess der Problematisierung vermeintlich gegebener oder authentischer Präferenzen. Rousseaus Gegenüberstellung von authentischem (vorsozialem) Selbst und entfremdetem Bürger bildet hierfür ein prägendes Modell. Freiheit bedeutet hier nicht mehr nur tun zu können, was man will (in bestimmten Grenzen), sondern durchschauen zu können, was man wirklich will. Die Selbstprüfungspraktiken, Therapeutisierungen und Selbstfindungsindustrien bedienen dieses Bedürfnis. Anders als im Falle der negativen Freiheit lassen sich hier keine politischen Theorien oder Ideologien direkt zuordnen: Politische Romantik im weitesten Sinne kann sehr verschiedene Formen annehmen. Tendenziell ist damit zu rechnen, dass dieses Freiheitsverständnis ein Plädoyer für ein starkes Bildungssystem (Hilfe bei der Selbstfindung) und eine Konzeption kollektiver Selbstbestimmung implizieren dürfte. Ein dritter Typus von Freiheit wird von Honneth als „soziale Freiheit“ bezeichnet. Darunter versteht er ein sich selbst korrigierendes Interaktionsgeflecht, in der Freiheitserfahrungen durch gegenseitige Anerkennung ermöglicht werden. Frei in diesem anspruchsvollen Sinne ist ein Subjekt genau dann, „wenn es im Rahmen institutioneller Praktiken auf ein Gegenüber trifft, mit dem es ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung deswegen verbindet, weil es in dessen Zielen eine Bedingung der Verwirklichung seiner eigenen Ziele erblicken kann.“13
Naheliegende Veranschaulichungen sind in gemeinsamem Musizieren, im Mannschaftssport oder in anderen Interaktionsformen zu finden. Grundsätzlich gilt hier, dass die Freiheit des einen Individuums nur dadurch und insofern möglich ist, dass deren Ausübung zugleich die Freiheit anderer ermöglicht und begünstigt. 11 12 13
Honneth 2011. Ibid., S. 47. Honneth 2011, S. 86.
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Honneths ausführlich rekonstruierte Beispiele sind die „Sphären sozialer Freiheit“, also Freundschaft, Liebe, Familie, Wirtschaft und Staat. Damit wird zugleich Hegels Begriff der Sittlichkeit rehabilitiert. Nach Honneth zeichnen sich die ersten beiden Typen von Freiheitserfahrung dadurch aus, dass sie zu „Pathologien“ gesteigert werden können. Ein übersteigertes Insistieren auf negativer Freiheit bringt soziopathische Egoisten hervor, die der Empathie nicht mehr fähig sind. Ein übertriebenes Suchen nach dem authentischen Selbst wiederum lässt die Gesellschaft wie bei einem gnostischen Dualismus als böses (weil entfremdendes) Anderes erscheinen, das im Zweifelsfall mit Gewalt verändert werden darf.14 Einzig die soziale Freiheit, so Honneth, trägt durch die dialogisch-offene Struktur das Potenzial einer beständigen Selbstkorrektur in sich. Pathologische Formen sozialer Freiheit kann es daher nach Honneth nicht geben. Aus der mit Hegel argumentierenden Sicht Honneths ergibt sich zudem die Möglichkeit einer Bestimmung der Wechselverhältnisse zwischen den Freiheitsformen. Es ist spontan einleuchtend, dass die individuellen Abwehrrechte der negativen Freiheit die Bedingung der Möglichkeit für die folgenden Freiheitsformen darstellen. Auch die soziale Freiheit ist nur möglich, wo die Individuen sich frei an dieser beteiligen können; die liberalen Abwehrrechte dienen beispielsweise als Bedingung der Möglichkeit republikanischer Beteiligungsrechte. Und auch in der Familie kann soziale Freiheit nur erfahren werden, wenn den Individuen zugleich negative Freiheiten – im Extremfall beispielsweise die Möglichkeit, die eigene Familie oder ethische Gemeinschaft zu verlassen – erhalten bleiben. Die soziale Freiheit fungiert zudem als eine Art Korrekturinstanz zur Heilung pathologischer Verkürzungen negativer oder reflexiver Freiheit. Rücksichtslosigkeit oder die Verstiegenheit einer Selbstsuche können in sozialen Anerkennungsverhältnissen zumindest relativiert werden, weil die dabei notwendige wechselseitige Perspektivenübernahme einer pathologischen Übersteigerung dieser Freiheitsformen immer schon entgegenarbeitet. Aus Honneths hegelianischer Sicht ist es daher notwendig, dass sich die Begriffe negativer und reflexiver Freiheit zur sozialen Freiheit fortentwickeln. Während das Recht das Ideal negativer Freiheiten durch Schutzrechte des Einzelnen sichert, stellt das Ideal kollektiver Selbstregierung im Gefolge Rousseaus den Versuch dar, dem Ideal der Authentizität auf gesellschaftlicher Ebene Gestalt zu geben. Erst Sittlichkeit als eine Art synthetisierende Interaktionsform hebt diese in ihrer Abstraktion widersprüchlichen Freiheitsbegriffe auf und gibt sozialer Freiheit eine bleibende Struktur. Zumindest für Hegel (weniger emphatisch bei Honneth) bildet daher das Recht als objektiver Geist einen entscheidenden Ausdruck gelebter Sittlichkeit. Die spekulative Dimension dieser Perspektive und die möglichen Einwände gegen eine solche normative Rekonstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit brau-
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Vgl. hierzu Honneths Analysen der moralisch-authentischen Begründung des Terrorismus bei den Mitgliedern der RAF: Honneth 2011, S. 215 ff.
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chen an dieser Stelle nicht zu interessieren.15 Bedeutsam ist vielmehr, dass Honneths Begriff sozialer Freiheit eine Perspektive erlaubt, die Freiheit keineswegs als Abwesenheit von Zwang (negative Freiheit) oder bloße Selbstbestimmung (reflexive Freiheit) konzipiert. Freiheit und Macht sind hier nicht als sich ausschließende Elemente gedacht; vielmehr ist die Einordnung (nicht Unterordnung) in Strukturen sozialer Freiheit die Bedingung der Möglichkeit sozialer Freiheit: Freundschaften, Familien, Kooperationen, Korporationen, Demokratien sind immer auch Sphären der Macht – aber dies schließt keineswegs aus, dass sie gleichzeitig Sphären sozialer Freiheit sein können. 3. FOUCAULTS THEORIE DER FREIHEIT Die vorgeschlagene systematische Unterscheidung der drei Modelle der Freiheit lässt nun plastisch hervortreten, welche Perspektive Foucaults Problematisierung der Freiheit einnimmt: Foucault dekonstruiert nämlich die Idealisierungen negativer oder reflexiver Freiheit, beschreibt ihre Genese und akzentuiert – in Honneths Terminologie – deren „pathologische“ Formen. 3.1. Foucaults Kritik negativer Freiheit: Ideologie der Befreiung Zusammen mit Heidegger rückt Foucault zunächst die Vorstellung der negativen Freiheit in ein kritisches Licht. Während Heidegger seit Sein und Zeit (1927) und noch polemischer nach der „Kehre“ das moderne, „freie“, d.h. souveräne Subjekt als ein seinsvergessenes, die Welt bloß vergegenständlichendes Kernelement modernen Machtgeschehens kritisiert, zielt Foucault vor allem auf die sozialen Entstehungsbedingungen dieser Vorstellungsweise. Die Idee der Souveränität ist demnach nicht nur ein (auto-)suggestives Bild von Machteliten, sondern selbst Skript einer Gouvernementalität, das Subjekte einer bestimmten Art hervorbringt. Foucaults Machtanalyse stellt in diesem Sinne nichts anderes dar als ein Instrument zur Dekonstruktion der modernen Inszenierung eines souveränen und in diesem Sinne negativ-freien Subjekts. Daher kann Foucaults Analyse des Liberalismus und Neoliberalismus auch als direkte Fortsetzung der früheren Arbeiten verstanden werden. Freiheit als negative Freiheit von Beschränkungen verstehen zu wollen, greift zweifellos zu kurz: Die Lehre vom ungebundenen homo oeconomicus tradiert nämlich Elemente jener frühmodernen Souveränitätstheorien, die Foucault vor allem in den frühen Arbeiten bereits thematisierte: Die „freie“, „souveräne“ Entscheidung des Käufers oder Verkäufers muss auf „freien“ Märkten erfolgen. Die Abwesenheit von Zwang ist aber an sich noch keine Freiheit. Negative Freiheit kann „Herrschaft“ verhindern, aber sie lässt Machtbeziehungen nicht
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Eine ausführliche und sehr kritische Auseinandersetzung liefert bspw. Ladwig 2012.
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verschwinden. Im Gegenteil: Das Subjekt dieser negativen Freiheit ist selbst als Resultat von Machtbeziehungen zu verstehen, die zum Ausagieren negativer Freiheit auffordern. Die Formen der juridischen Gouvernementalität wie auch des Ordoliberalismus operieren mit der Voraussetzung des souveränen Subjekts, ja sie affirmieren und propagieren dieses. Foucaults Kritik an einem Diskurs und einer Praxis negativer Freiheit bezieht sich entsprechend auf den Neoliberalismus. Dieser mag von Herrschaft befreien, aber er kann keinesfalls das formulierte Versprechen von Freiheit als Ungebundenheit halten. Denn sobald der Markt zum „Ort der Wahrheit“ wird, erhalten seine Urteile über Produkte und Menschen den Status einer unberechenbaren Macht. Die Interpretation, wonach Foucault den Neoliberalismus in den späten Vorlesungen affirmativ als Praxis der Freiheit deute16, scheinen daher fragwürdig. Ganz im Gegenteil: Friedrich Hayek und Gary S. Becker werden hier als besonders interessante Fälle einer Pathologie negativer Freiheit dargestellt und keineswegs als Gesprächspartner behandelt, deren Konzeptionen normativ wünschbar wären. An ihnen kann Foucault vorführen, wie die ideologische Übersteigerung negativer Freiheit als bloßer Ungebundenheit zur völligen Unfreiheit kippt, nämlich zur bedingungslosen Unterwerfung unter die Gesetze des Marktes in allen sozialen Sphären, selbst der Familie. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es bei Foucault keinen operativen Gebrauch eines positiv konnotierten Begriffs von Freiheit gäbe. Allerdings findet sich dieser Gebrauch nicht primär in der Analyse des Liberalismus. 3.2. Foucaults Kritik reflexiver Freiheit: Das sich prüfende Subjekt Foucaults kritische Perspektive kommt auch dort zur Anwendung, wo es um Praktiken der Selbstprüfung geht, die reflexive Freiheit in Machtbeziehungen zum Einsatz bringen. Die Reflexion über den authentischen Willen wird beispielsweise dort zu einem Element der Unfreiheit, wo sie in die Machtbeziehung zwischen Beichtendem und Beichtvater eingebaut ist. Foucaults Analysen der Pastoralmacht, der Buß- und Beichtpraxis können also verstanden werden als ein zweites Beispiel dafür, wie vermeintliche Freiheit in Unfreiheit umkippt. Die Suche nach dem authentischen Selbst ist unter diesen Bedingungen gerade keine freie, sondern eine erzwungene Suche. Auch hier gilt: Das über den authentischen Willen reflektierende Subjekt ist selbst Resultat der Machtbeziehungen, in denen es zur Reflexion aufgefordert wird. Schematisierend könnte man sagen, dass die Praxis reflexiver Freiheit von Foucault insofern als Form der Machtausübung rekonstruiert wird, wo es sich um entweder platonische oder christliche „Spiele der Wahrheit“ handelt. In beiden Varianten findet die Selbstprüfung gerade weder angstfrei noch spielerisch statt,
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sondern im Rahmen eines wohldefinierten und hierarchischen Gefüges aus Machtbeziehungen. Die „Hermeneutik des Subjekts“ ist eine Praxis der Unfreiheit, so lange sie in das Korsett hierarchischer Beziehungen eingebunden ist. Im Falle einer christlichen Praxis der Askese und Selbstauslegung geht es nämlich letztlich um „Selbstverzicht“, so Foucault.17 Im hellenistischen Ideal freundschaftlicher Selbstauslegung hingegen geht die reflexive Freiheit in soziale Freiheit über. Hier wird das Selbst als zu erreichendes Ziel gesetzt18 In der Tat dominiert in Foucaults Rekonstruktion dieses dritten Modells eine wohlwollend interessierte Tonlage. 3.3. Foucaults Andeutungen zur Praxis sozialer Freiheit: Parrhesia Der Schritt von Foucaults Zurückweisung zumindest eines unreflektierten Gebrauchs der Idee negativer Freiheit und einer erzwungenen Ausübung reflexiver Freiheit hin zu einer wohlwollenden Rekonstruktion der sozialen Freiheit vollzieht sich in der Analyse ganz bestimmter Varianten von Praktiken der Selbstsorge. Jene Stellen in den Analysen der „Hermeneutik des Selbst“, die eine positive Konnotation von Praktiken der Selbstsorge beinhalten, können demnach als Praxis sozialer Freiheit verstanden werden. Dies betrifft die Praxis des Wahr-Sprechens (parrhesia) und die hellenistische Praxis der Freundschaft. Die von Foucault unter dem Titel „hellenistische“ Selbstsorge rekonstruierte Praxis, zielt, in Abgrenzung zur platonischen und zur christlichen Selbstsorge, nicht auf bloße Selbsterkenntnis oder gar Selbstverzicht, sondern auf eine Zurüstung des Subjekts. Die philosophische Selbstpraxis versetzt das Subjekt in die Lage, sich die Dinge „zu eigen zu machen“19). Die Praxis des Wahr-Sprechens (parrhesia) als Übung des angstfreien Sprechens beinhaltet nun verschiedene Elemente, die allesamt nur als soziale Praktiken möglich sind: das aufmerksame Zuhören, das Lesen, das Schreiben. Bernhard Waldenfels betont völlig zu Recht, dass all diese Praktiken nur als Praktiken verständlich sind, die sich auf einen Anderen beziehen.20 Während Waldenfels aus dieser Beobachtung eine verdeckte Nähe zu Lévinas’ Konzeption einer aus der Erfahrung eines passiv erlebten Anspruchs sich konstituierenden Subjektivität andeutet, liegt aus meiner Sicht vor allem die Nähe zu der bei Hegel und Honneth zu findenden Konzeption einer sozialen Freiheit im spielerisch-offenen Hin-und-Her sozialer Freiheit auf der Hand: Es gibt, wie die zweite Lesart betont, eine affirmierende Beschreibung von sozialer Freiheit bei Foucault – aber nicht bezogen auf den modernen Liberalismus und Neoliberalismus, sondern bezogen auf die parrhesia.
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Foucault 2004c, S. 405. Foucault 2004c, S. 322 ff. Foucault 2004c, 406. Waldenfels 2012, S. 77 ff.
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Die Praxis eines ungeschützten Sich-Offenbarens in der Freundschaft deckt sich in der Beschreibung mit der Rekonstruktion eines Freundschaftsideals der Moderne. „In einem anderen bei sich selbst zu sein bedeutet daher in der Freundschaft, das eigene Wollen in all seiner Unschärfe und Vorläufigkeit der anderen Person ungezwungen und ohne Angst anvertrauen zu können.“21 Diese Charakterisierung des modernen Ideals der Freundschaft durch Honneth kongruiert mit der Beschreibung der „hellenistischen Selbstsorge“ durch Foucault. Die Differenz zwischen ihnen reduziert sich auf die historische Verortung; während Honneth davon ausgeht, dass erst die funktionale Ausdifferenzierung der Moderne das Ideal der Freundschaft von antiken Mustern der Patronage emanzipiert,22 rekonstruiert Foucault bereits für die Spätantike eine Praxis sozialer Freiheit, die eine ungezwungene Selbstprüfung in Freundschaftsbeziehungen institutionalisiert und die es in der Gegenwart – vermittelt beispielsweise über Freundschaftsbeziehungen in homosexuellen Subkulturen – neu zu entdecken gilt. Diese zunächst schematisierende Deutung lässt sich an einem der wenigen Texte Foucaults nachzeichnen, in dem explizit und ausführlich von Freiheit die Rede ist, nämlich im Interview „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“ vom Januar 1984.23 Hier unterscheidet Foucault zwischen „Befreiung“ einerseits und der Praxis von Freiheit andererseits, wobei „Befreiung“ das Erkämpfen von negativer Freiheit bezeichnet, die „Praxis der Freiheit“ als „soziale Freiheit“ gelesen werden kann. Bloße „Befreiung“ ist, so Foucault, noch keine Freiheit, sondern nur dessen Voraussetzung: „Die Befreiung eröffnet ein Feld für neue Machtbeziehungen, die es durch Praktiken der Freiheit zu kontrollieren gilt.“24 An dieser Formulierung lässt sich erkennen, wie die Problematisierung von Freiheit durch Foucault erfolgt: Freiheit als bloße Befreiung bleibt im Vokabular Honneths „negative Freiheit“ und als solche unzureichend. „Freiheit als soziale Praxis“ hingegen ist gerade nicht durch die Abwesenheit von Macht gekennzeichnet, sondern eine Form, Machtbeziehungen zu regeln, in einem offenen Spiel zu halten, zu reflektieren, in einem furchtlosen Wahr-Sprechen in Frage zu stellen und auszuhandeln. Die antike parrhesia ist jedoch nur in Ausnahmefällen öffentlich und politisch; erst als Sokrates zur Apologie gezwungen wird, wird die genuin politische Dimension seiner Fragen kenntlich. Als Haltung und Praxis ist die „hellenistische Selbstsorge“ jedoch eher ethisch, auf die Zirkel von Freunden beschränkt, eher zufällig auf Marktplätzen sich abspielend, beim privaten Symposium am rechten Ort. In Foucaults Terminologie nimmt folglich der Begriff „Ethik“ jene Stelle ein, die in Honneths Analyse durch „Sittlichkeit“ oder „soziale Freiheit“ besetzt wird. Wo Foucault formuliert: „Die Freiheit ist die ontologische Bedingung der Ethik. Aber die Ethik ist die reflektierte Form, die die Freiheit einnimmt“25, lässt sich mit 21 22 23 24 25
Honneth 2011, S. 249. Ibid., S. 241. Foucault 2005, S. 875-902. Ibid., S. 878. Foucault 2005, S. 879.
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Honneth sagen: negative Freiheit (rechtlich garantierte Freiheiten) und reflexive Freiheit (philosophische Reflexion über Autonomie) sind die Bedingung der Möglichkeit sozialer Freiheit als Sittlichkeit. Was Foucault „Ethik“ nennt, ist beispielsweise als Freundschaft eine Form von Sittlichkeit. Der Begriff der „sozialen Freiheit“ ist jedoch weiter; er beantwortet die Frage „Wie kann man Freiheit praktizieren?“26 nicht nur mit dem Verweis auf „Ethik“, sondern beinhaltet als mögliche Antworten neben den privaten Beziehungen auch die Sphäre von Ökonomie und Politik. Honneth kann anders als Foucault in seiner normativen Rekonstruktion auch in diesen Sphären Ideale sozialer Freiheit auffinden und daher Demokratie als Sittlichkeit denken. 4. AUSBLICK: DAS SPIEL POLITISCHER FREIHEIT Versuchen wir noch einmal abschließend zu rekapitulieren, wie sich Foucaults Problematisierung der Freiheit deuten lässt. Seine kritische Sicht auf eine Semantik der Freiheit (konkret am Beispiel von „Befreiung“) erweist sich unter der Voraussetzung der vorgenommenen Unterscheidung als eine Kritik an negativer und reflexiver Freiheit. Seine Genealogie der Souveränität lässt sich jetzt verstehen als Dekonstruktion des liberal-juridischen Mythos der negativen Freiheit: Schrankenlos und ex nihilo handeln noch nicht einmal Götter oder Könige – und auch nicht die nutzenmaximierenden Akteure des homo oeconomicus-Modells. Die reflexive Freiheit einer Suche nach authentischen Präferenzen rückt in Foucaults Werk zudem in den Fokus, wo unter dem Titel der pastoralen Gouvernementalität die Selbstprüfung der Subjekte zu einer in der Beichtpraxis aufgenötigten Reflexion wird. Das Ideal reflexiver Freiheit bringt dann gerade Unfreiheit hervor, insofern es das Machtverhältnis ins Subjekt hineinträgt und die Gewissensprüfung als internalisierte Imperativstruktur konstituiert. Und soziale Freiheit? Sie scheint in Foucaults Werk nur dort vorzukommen, wo er unter dem Titel des „Wahr-Sprechens“ antike Freundschaftsbeziehungen und die seltenen Fälle eines Wahr-Sprechens auch im Angesicht des Tyrannen rekonstruiert, die explizit angst- und schamfrei sind. Wenn es bei Foucault eine affirmativ präsentierte Konzeption von „Freiheit als Praxis“ gibt, dann bezieht sich diese auf „Ethik“ im Sinne einer in freundschaftlichen Beziehungen erfolgende Selbsterziehung, die das Subjekt zu stärken und zum Wahr-Sprechen zu ermutigen sucht. Das ungelöste Problem in Foucaults Theorie der Freiheit besteht dann darin, dass er soziale Freiheit nur in ethischen Praktiken zu verorten versteht – nicht in politischen. Das Wahr-Sprechen im Angesicht des Tyrannen, für das der sokratische Opfertod paradigmatisch steht, ist hier nur als risikoreicher Ausnahmefall denkbar. In gewisser Weise springt dabei eine für Freundschaftsbeziehungen entwi-
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Ibid.
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ckelte Kommunikationsform ereignishaft in die Sphäre des Politischen über. Aber eine genuin politische Theorie des Wahr-Sprechens finden wir bei Foucault nicht. Foucault scheint diese Aporie selbst gesehen zu haben. Im oben genannten Interview von 1984 wird Foucault zum Schluss nach den Folgen seiner Analysen für die politische Theorie gefragt. Er antwortet: „Ich muss gestehen, dass ich in dieser Richtung noch nicht weit vorangekommen bin …“27. Dass das Subjekt im politischen Denken der Neuzeit vor allem als Rechtssubjekt gedacht werde, erscheine ihm problematisch. Letztlich aber wolle er sich nicht zu Themen äußern, die er „überhaupt nicht“ untersucht habe.28 Aus einer mit Hegel und Honneth argumentierenden Perspektive könnte man diese Ratlosigkeit so verstehen, dass Foucault die republikanische Tradition des politischen Denkens, die den Bürger gerade nicht als bloßen Träger von Abwehrrechten betrachtet, nicht fruchtbar macht. Die Idee einer kollektiven Selbstbestimmung, die angstfrei und offen verhandelt wird, wäre genau jene Ausweitung des Ideals der Freundschaft auf die Sphäre der Politik, die wir mit Hegel und Honneth als Sittlichkeit bezeichnen würden und die sich mit solchen Semantiken wie „Brüderlichkeit“ ein genuin ethisches Vokabular auf die Politik überträgt. Aus einer republikanischen Kritik an der liberalen Verkürzung des Freiheitsbegriffs auf negative Freiheit lässt sich ein Ideal von kollektiver Selbstregierung gewinnen, das nicht nur ethisch, sondern genuin politisch ist, ja die immer vorhandene politische Dimension der sozialen Freiheit explizit macht. Die Kritik an der „Staatsphobie“, die nach Foucault die extreme Linke wie die anarcholiberalen Denker gleichermaßen auszeichnet, eröffnete die Möglichkeit, auch den Staat als einen Ort von „Freiheit als sozialer Praxis“ zu denken. Dass Foucault jedoch den Schritt zu einer Politik der Freundschaft nie explizit gegangen ist, könnte dazu beigetragen haben, dass seine Analysen so kontrovers rezipiert wurden.29
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Ibid., S. 893. Ibid. Umgekehrt lässt sich an den von Foucault thematisierten Beispielen eines Wahr-Sprechens gegenüber dem Tyrannen womöglich verdeutlichen, dass soziale Freiheit als Praxis mit existenziellen Risiken verknüpft ist – eine Dimension, die in Honneths Darstellung womöglich zu wenig thematisiert wird.
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NORMALISIERUNGSMACHT UND FREIHEIT NACH FOUCAULT Gerhard Unterthurner
„Jede Gesellschaft schafft eine Reihe von Gegensatzsystemen – gut und böse, erlaubt und verboten, schicklich und unschicklich, kriminell und nichtkriminell. All diese für Gesellschaften konstitutiven Gegensätze reduzieren sich heute in Europa auf den einfachen Gegensatz zwischen ‚normal‘ und ‚pathologisch‘.“1
Das Thema der Normalität und der Normalisierung verweist allein schon in der Philosophie auf diverse Thematisierungsfelder. Man kann z. B. fragen, inwiefern einzelne Philosophien von einem bestimmten ‚normalen‘ Subjekt ausgehen, dieses zur transzendentalen Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung machen und diese Normalität dann kritisch befragen.2 Man kann analysieren, inwiefern Philosophien mehr vom Normalen oder mehr vom Anormalen ausgehen und den Primat des Normalen befragen.3 Man kann unter Normalisierung eine konstitutive Strukturierung der Erfahrung und der Welt verstehen, womit sie in die Nähe von Gewohnheit, Alltag und Habitualisierung kommt – und analog wäre dann Subjektsein ohne Normalisierung nicht denkbar.4 Bei all diesen Themen kann man die Analysen Michel Foucaults zum Thema der Normalität einbringen bzw. sind es auch teilweise seine Fragen. Im Folgenden wird es jedoch um das Thema der Normalisierung gehen, wie es von Foucault in Texten der 1970er-Jahre ausformuliert wurde, in denen sich auch die Theoreme der Normalisierungsmacht und der Normalisierungsgesellschaft finden. Hier wird Normalität historisch verstanden: Normalität gibt es erst seit ca. 200 Jahren. Mit Normalität meint Foucault daher nicht ein ahistorisches Spießbürgertum oder eine ahistorische Form von Alltäglichkeit. Es ist aber auch nicht einfach ein Zustand der Entfremdung gemeint, den man an einem wahren Selbst, einem unentfremdeten Zustand, messen könnte. Denn:
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Foucault 1967, S. 773. So verweisen Krause/Rölli darauf, dass in vielen Philosophien, wenn es um das Wesen des Menschen geht, oft aus einer empirischen Normalität eine transzendentale Norm gemacht wurde (Krause/Rölli 2010, S. 61). Waldenfels 2001, S. 146 ff. Waldenfels 1998, S. 9 ff.; Waldenfels 1987, S. 71 ff.; Butler 2001, S. 25 ff.; Butler 2003, S. 63 ff.; Menke 2003a; Menke 2003b; Menke 2013, S. 150 ff.
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Gerhard Unterthurner „Foucaults dominantes Interesse bei seinen Untersuchungen zum Komplex ‚norme/normal/normalisation‘ ist […] das Interesse an historisch spezifischen Typen von Subjektivierung. […] Und offensichtlich erblickte er im Diskurskomplex ‚normalisation‘ einen wesentlichen Faktor der Produktion moderner Subjekte.“5
Freiheit kommt in diesen Texten entweder negativ vor (als Kritik an bestimmten Befreiungsmythen, an einer Logik der Geschichte, die diese als Fortschritt der Freiheit liest, oder als Kritik an einem selbstmächtigen, sich selbst frei dünkenden Subjekts) oder eher implizit, denn lange Zeit, so Petra Gehring, ist dieses Thema eher implizit am Werk und hat Foucault erst später seinen Fokus expliziter auf das Thema Freiheit gelegt.6 Normalität war jedoch nicht erst ein Thema der 1970er Jahre. Schon Foucaults Maladie mentale et personnalité (1954) – ein Text, der 1962 sehr überarbeitet als Maladie mentale et psychologie (1962, dt. Psychologie und Geisteskrankheit) noch einmal aufgelegt wurde – handelt von der Normalität/Anormalität, der Struktur und den Bedingungen des Pathologischen und der adäquaten Methode in der Psychopathologie.7 Hier findet sich auch für den Bereich der Psychopathologie eine Kritik an einem am Lebendigen orientierten Normalitätsbegriff, der die Normalität als Normativität des Lebens fasst (das Leben, das sich seine eigenen Normen schafft), womit Kurt Goldstein und auch Georges Canguilhem gemeint sind, obwohl Canguilhem immer ein zentraler Referenzpunkt für das Thema der Normalität bei Foucault sein wird.8 In dieser Schrift ging Foucault noch von einem Wesen der Persönlichkeit aus, die aber von externen und sozialen Bedingungen ihre Determination erfährt und entfremdet werden kann, und er arbeitete noch auf eine wahre und wissenschaftliche Psychologie hin.9 Dies wird erst mit der Histoire de la folie (1961, dt. Wahnsinn und Gesellschaft) fragwürdig, in der die Frage nach der Normalität zu einer radikal historischen wird, insofern Foucault nun die Psychologie und den „homo psychologicus“ und damit auch den „normalen Menschen“ zu einem Ausdruck einer bestimmten historischen Erfahrung macht. Dabei spielt der Gegensatz von normal/anormal eine wichtige Rolle, obwohl die Termini nicht oft vorkommen. Die
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Link 1998, S. 260. Gehring 2012, S. 16 f. Mit „später“ sind Texte der 1980er Jahre gemeint, wo Foucault einige Differenzierungen zum Verhältnis von Freiheit und Macht, aber auch Herrschaft und Gewalt einführt und auch seinen Fokus stärker auf Praktiken und Spielräume von Freiheit innerhalb von Machtbeziehungen legt (vgl. z. B. Foucault 1982; vgl. Saar 2007a, S. 277 ff.; Patton 1998). Foucault 1954; Foucault 1962. Siehe dazu Gondek 2008; Macheray 1986; Rolf 1999, S. 225– 274. Foucault 1954, S. 3–17; Foucault 1962, 11–27. Siehe dazu Rolf 1999, S. 252 ff. Nach Link, der sich auf die späteren Arbeiten von Foucault bezieht, wird sich Foucault immer von diesem am Biologischen orientierten und normativen Normalitätsbegriff abgrenzen und Normalität strikt historisch verstehen (Link 2008, S. 244 ff.; Link 2006, S. 120). Zum genaueren Verhältnis von Foucault und Canguilhem siehe Muhle 2008. Foucault 1954, S. 1 f., 110. Vgl. Macheray 1986, S. 760; Visker 1991, S. 17–41.
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entscheidende Stelle – die Historisierung von normal/anormal kommt hier auch schon in Bezug auf die moderne Sexualität vor10 – ist diese: „Die Psychopathologie des neunzehnten Jahrhunderts und vielleicht auch noch unsere glaubt, in Beziehung zu einem homo natura zu stehen und an ihm ihr Maß zu finden oder es mit einem normalen Menschen zu tun zu haben, der vor jeder Erfahrung mit Wahnsinn [maladie = Krankheit, Anm. G. U.] gegeben ist. Tatsächlich ist dieser normale Mensch eine Schöpfung […]“11,
der sich einer Struktur der Internierung und einer bestimmten historischen Erkenntnis verdankt, sodass der „Geisteskranke“ und der normale Mensch historische Formen von Subjektivität sind. Daher hat schon einer der ersten Leser Foucaults, Georges Canguilhem, angemerkt, dass mit der Histoire de la folie ein Beitrag zu einer „Sozialpsychologie des Anormalen“12 geleistet wurde und dass Foucault gezeigt hat, „dass das, was die angeblich wissenschaftliche Psychologie im 19. Jahrhundert als Wahrheit zu begründen suchte – die Eingrenzung des ‚Normalen‘ –, nur die diskursive Absegnung von Praktiken zur rechtlichen Entmündigung eines Individuums ist.“13
Dieser normale oder psychologische Mensch zusammen mit der Disziplin der Psychologie und der Institution Psychiatrie ist für Foucault das Produkt einer bestimmten Vernunftgeschichte, wo die Vernunft den Wahnsinn ausschließt und ihn zum Schweigen bringt. Während oft Pinels Befreiung der „Irren“ aus ihren Verliesen als humanitärer Befreiungsakt und als Beginn einer humanen Psychiatrie, also als ein Fortschritt der Freiheit, betrachtet wurde, richtet sich Foucaults Ansatz gegen diese Fortschrittsgeschichte und diese Befreiungsmythen. Er zeigt dabei, wie die sogenannte Befreiung des „Irren“, befreit von den Ketten, ihn durch die psychiatrischen Klassifikationen und die Internierung in eine tiefere Verdinglichung und Entfremdung hineingetrieben haben.14 Foucaults Absage an die Wissenschaft der Psychiatrie ist hier radikal. Die sogenannten wissenschaftlichen Wahrheiten der im 19. Jahrhunderten entstehenden Psychiatrie – und deren Praktiken – verdanken sich einem Moralsadismus. Und die Psyche und der „Geisteskranke“, der „entfremdeter Wahnsinn“ ist, sind selbst ein historisches Produkt: „Die psychologisierende Innerlichkeit ist von der Äußerlichkeit des skandalisierenden Bewußtseins gebildet worden.“15 Wahre Freiheit – zumindest ist das eine 10 11 12 13 14
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Foucault 1961c, S. 103. Diese Stelle findet sich nicht in der gekürzten deutschen Übersetzung. Foucault 1961a, 126. Canguilhem 1960, S. 48. Canguilhem 1991, S. 62. Foucault untersucht v. a. ab dem Kapitel „Der Gebrauch der Freiheit“, wie Freiheit für die „Geisteskranken“ funktioniert: wie die sogenannte Befreiung, aber Einordnung in eine Welt der Moral und der Wissenschaft zu einer „Objektivierung des Begriffs ihrer Freiheit“ (Foucault 1961a, S. 542), d. h. Entfremdung, führt, wie aber auch Freiheit konzeptionell gefasst wird, da „der Wahnsinn etwas geworden [ist], das wesentlich die menschliche Seele, ihr Schuldgefühl und ihre Freiheit betrifft“ (Foucault 1962, S. 112). Foucault 1961a, S. 468; Foucault 1962, S. 116.
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Schicht des Textes – würde in der Aufhebung dieser Psychologisierung und Entfremdung bestehen, damit der Mensch – und hier steht Foucault noch in einer bestimmten Diskursgeschichte des Tragischen, die das Tragische gegen die abendländische Vernunft ins Spiel bringt – „frei sein könnte für die große tragische Begegnung mit dem Wahnsinn“, die Foucault bei Autoren und Künstlern wie Nietzsche, Artaud, Nerval oder Hölderlin angezeigt findet.16 Diese radikale Erfahrung des Wahnsinns, für die diese Autoren und Künstler Pate stehen, ist eine Schicht des Textes und ein Fluchtpunkt des foucaultschen Denkens in den 1960er Jahren. Denn die vom Wahnsinns aus konzipierte Grenzerfahrung wird als eine radikale Erfahrung der Überschreitung am Paradigma der modernen Literatur und bestimmten Autoren wie z. B. Bataille und Blanchot konzipiert. Wenn man hier von Freiheit sprechen will, dann ist sie emphatisch am Werk, aber es ist eine Freiheit, die es mit einer radikalen Auflösung eines souveränen und selbstmächtigen Subjekts zu tun hat.17 Dass die Unterscheidung normal und anormal bzw. pathologisch und das Thema Norm für die Humanwissenschaften zentral ist, wird auch in Die Geburt der Klinik (1963) und der Ordnung der Dinge (1966) betont, seine gesellschaftstheoretische Schärfe bekommt dieses Thema jedoch in den Texten der 1970er Jahre durch die Zuwendung zum Thema der Macht.18 Eingebettet ist es in seine Analysen, wie der Körper in modernen Macht-Wissen-Komplexen geformt wird und dadurch das moderne Subjekt entsteht, sowie seinen Versuch, Macht nicht mehr primär negativ zu denken als Verbot oder Unterdrückung/Repression, sondern produktiv als dasjenige, was in Verbindung mit bestimmten Wissensweisen allererst bestimmte Subjekte und Objekte hervorbringt. Machtverhältnisse wirken nicht auf ein fertiges Subjekt und Objekt ein, sondern sind an der Konstitution beider mitbeteiligt, da „das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht-WissenKomplexe und ihrer historischen Transformationen bilden“.19 Dass der Körper so
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Foucault 1962, S. 115 f.; Foucault 1961a, S. 550 f.; Foucault 1961b, S. 45 ff. Foucaults Rede von Entfremdung (aliénation) – er spricht auch von einer „archéologie dʼune aliénation“ (Foucault 1961c, S. 94) – legt, wie Visker und andere hinweisen, teilweise einen ursprünglichen Wahnsinn, der entfremdet wird, nahe, was Foucault die Vorwürfe einer Ursprungsphilosophie eingebracht hat (siehe Derrida 1964, S. 67; Visker 1991, S. 35 f.; Dreyfus/Rabinow 1987, S. 35 f.; vgl. Gelhard 2000, S. 62, der von einer Halbherzigkeit und mit Foucault von einem „verschleppten Hegelianismus“ in Bezug auf die Rede von Fremdheit und Entfremdung in der Geschichte des Wahnsinns spricht). Foucault hat später selbst an der Histoire de la folie kritisiert, dass er noch einen „lebendigen […] Wahnsinn“ (Foucault 1977d, S. 197) unterstellte, der durch die Macht der Psychiatrie unterdrückt und entfremdet wurde – Unterdrückung/Repression und Entfremdung sind für ihn später nicht mehr geeignete Begriffe für die Analyse von Machtbeziehungen bzw. von Geschichte. Dass die Kunst ein subversives Außen zu den Ordnungen bilden könnte, wird jedoch von Foucault später verabschiedet (siehe Geisenhanslüke 2008, S. 87 ff.; Gehring 2012, S. 25). Foucault 1963, S. 52 f.; Foucault 1966, S. 428 ff. Foucault 1975a, S. 39. Mit diesem produktiven Machtbegriff kann man Foucault in einer Tradition verorten, die von Aristoteles über Spinoza bis hin zu Nietzsche reicht und den
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eine zentrale Rolle für Foucaults Machtanalysen erhalten hat, wurde dabei schon prominent in seinem Text „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (1971) thematisiert. Dort spricht Foucault davon, „dass der Leib von der Geschichte geprägt ist“. Der Leib ist für ihn eine „Oberfläche der Einschreibung der Ereignisse (surface d’inscription des événements) [Übers. G. U.].“20 Begriffe wie „Einschreibung“ (inscription) und später „Besetzung“ (investissement), der auch auf die Psychoanalyse verweist, werden von Foucault verwendet, um dieses Verhältnis von Geschichte und Körper bzw. später Macht-Wissen und Körper zu bestimmen (neben Begriffen wie Produktion oder Effekt, wenn Foucault z. B. von der Seele als Effekt spricht). Der Körper ist dasjenige, in das sich eine Ordnung „einschreibt“, das von einem bestimmten Wissen-Macht-Komplex „besetzt“ wird.21 Foucault, der darauf hinweist, wie viel sein Denken Robert Castels Psychoanalyse und gesellschaftliche Macht (1973) und Deleuze/Guattaris AntiÖdipus (1972) verdankt, steht, wie ja auch das von Deleuze, in der Tradition Nietzsches.22 So hat der Anti-Ödipus mit Nietzsche von der Grausamkeit der Kultur gesprochen, „die an den Körpern sich vollzieht, sich in sie einschreibt und sie bearbeitet“, und dass das Primäre der Kulturalisation die Einschreibung ist, die gleichzeitig eine „Besetzung der Organe“ ist bzw. die „unbewussten Besetzungen des gesellschaftlichen Feldes durch den Wunsch“.23 Wobei angemerkt sei, dass die Körper bei Foucault auch für den „Ort der Zersetzung des Ich“24 stehen, für einen Überschuss über die jeweiligen Machtverhältnisse, ohne eine Art Naturbasis zu sein. Körper sind Unruheherde, obwohl Foucault nur historische Körperordnungen beschreibt.25
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Machtbegriff von seiner neuzeitlichen Verengung auf Herrschaft befreit (siehe Saar 2007a, S. 234 ff.; vgl. Röttgers 1990, S. 50 ff.). Foucault 1971, S. 174. Im Deutschen steht: „eine Fläche, auf dem die Ereignisse sich einprägen“. Siehe z. B. zur Besetzung Foucault 1975a, 37, 40. Einschreibung verwendet Foucault ab und zu im engeren Sinne, wenn er sie für die Einschreibung der Martern auf den Körper des Verurteilten für Souveränitätsgesellschaften verwendet und davon die Körperpolitik der Disziplinen abhebt (Foucault 1974, S. 762). Foucault 1975a, S. 35. Vgl. Foucault 1972b, S. 390. Vgl. Saar 2007a; Lichtblau 1999, S. 191 ff. Deleuze/Guattari 1972, S. 180 ff., 184, 213, 241. Foucault 1971, S. 174. Gehring 2004, S. 100, 104; Gehring 2008, S. 184. Einige Interpreten sehen Foucault beim Status des Körpers hin- und herschwanken zwischen einem Konstruktivismus und einer Metaphysik, da er anscheinend einen Körper unabhängig von Ordnungen ansetzt (siehe Fraser 1994). So hat auch Judith Butler das Modell der Einschreibung bei Foucault kritisiert, da es ihr zufolge einen vorkulturellen Leib nahelege, der zu problematisieren sei (siehe Butler 1990, S. 190 ff.). Dagegen soll hier betont werden, dass man das Einschreibemodell auch anders verstehen kann: Nur weil es ein Worin der Einschreibung und ein Woraus der Ordnung gibt, muss das nicht als naive Ursprungsphilosophie angesetzt werden, als ob Foucault einen natürlichen Körper ansetzen würde – das Woraus und Worin wäre wie bei Waldenfels dasjenige, was über die Ordnung als Überschuss hinausgeht, und keine Naturbasis (vgl. Waldenfels 1987, S. 173 ff.).
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Ausgangspunkt ist daher in Foucaults „Genealogie […] der modernen ‚Seele‘“, dass der Körper einerseits immer in einem Feld der Machtverhältnisse steht, die ihn besetzen, und dass andererseits die jeweilige „politische Besetzung des Körpers“ durch die Macht eine jeweilige Subjektivität und Seele hervorbringt: „Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie.“26 Und mit der Disziplinarmacht bzw. Normalisierungsmacht ist die der „modernen Seele“ korrelative Macht genannt. Mit dem Modell – dass die Seele ein Produkt gewisser Affektionen bzw. Besetzungen des Körpers ist – wird, so Röttgers, eine klassische Topologie, die die Seele mit einer eigentlichen Tiefe bzw. einem Innen und den Körper mit einer uneigentlichen Oberfläche bzw. einem Außen verbunden hat, umgedreht bzw. aufgelöst. Diese „Depotenzierung des Seelenbegriffs“, wie es Röttgers nennt, ist daher als radikaler Versuch zu lesen, die „Destruktion des Subjekts als Pseudo-Souverän“27 nicht nur erkenntnistheoretisch durchzuführen wie in Foucaults wissensgeschichtlichen Untersuchungen, sondern auch praktisch durch die In-Beziehung-Setzung von Wissensordnungen mit Machtverhältnis-sen.28 In Überwachen und Strafen und Texten im Umfeld beschreibt Foucault den für moderne Gesellschaften korrelativen Machttypus – die Disziplinarmacht (pouvoir disciplinaire) bzw. Normalisierungsmacht (pouvoir de normalisation, pouvoir normalisateur), denen eine Disziplinargesellschaft (société disciplinaire) bzw. später Normalisierungsgesellschaft (société de normalisation) entspricht.29 Diesen Machttypus setzt er gegen einen älteren ab, den der Souveränitätsmacht. Letztere steht erstens für bestimmte historische Gesellschaften (Feudalgesellschaften) und zweitens für ein bestimmtes Denken der Macht, das er auch die „juridische Machtkonzeption“ nennt, das Macht vor allem vom Verbot, als Eigentum (eines Souveräns, einer Klasse) und lokalisiert in einem Zentrum denkt.30 Die Souveränitätsmacht ist dabei für Foucault eine idealtypische Schablone, von der er die anderen Machttypen abgrenzt, und deswegen ist sie auch am wenigsten differenziert bzw. ist überhaupt das Juridische unterbestimmt bei Foucault, weil es, so Gehring zu stark vom Strafrecht und dem Verbot gedacht wird.31 Souveränitätsgesellschaften sind dabei stark hierarchische Gesellschaften mit einem Zentrum der Macht (der Souverän), der das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen besitzt. Souveräne Macht vollzieht sich von oben nach unten, über repressive Techniken der Kontrolle von Territorien und in der Form des Rechts bzw. der 26 27 28 29 30
31
Foucault 1975a, S. 41 f. Foucault 1972a, S. 114 f. Röttgers 1997, S. 151–174. Röttgers zeigt das bei Freud, Nietzsche, Merleau-Ponty, Foucault, Deleuze und Lyotard. Zur Subjektkritik vgl. Ricken 1999, S. 159–171; Meyer-Drawe 2011. Foucault 1975a; S. 229, 237, 269, 279, 393, 397; Foucault 1973/74, S. 76 ff.; Foucault 1974/75, S. 46; Foucault 1975/76, S. 55, 299, 303. Siehe z. B. Foucault 1973a, S. 114 ff.; Foucault 1976a, S. 101 ff. Wegen der Orientierung am Verbot und dem Neinsagen ist es für Foucault eine negative Machtkonzeption, von der er seine eigene strategische Machtkonzeption abhebt, indem er die Macht als ein produktives und anonymes Verhältnis von Kräften denkt (vgl. Foucault 1976a, S. 113 ff.). Vgl. Lemke 1997, S. 98 ff.; Deleuze 1986, S. 39 ff., 99 ff. Gehring 2000; vgl. Ricken 2006, S. 83.
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gesetzlichen Scheidung von erlaubt und verboten entlang der Grenzziehung von Untertanen (sujet) und Feinden.32 Die „Subjekt-Funktion“ ist jedoch, so Foucault in Die Macht der Psychiatrie (1973/74), in Feudalgesellschaften nicht fest an der „somatischen Singularität“ festgemacht.33 Man ist nicht immer ein Subjekt, d. h. das Gegenüber einer Souveränitätsbeziehung als Unterworfener. Mit dem Begriff der Subjekt-Funktion wird deutlich, dass es Foucault nicht um einen empirischen Menschen geht, sondern um Subjekttypen, die man mehr oder weniger inkorporieren kann.34 Normalisierung nun gehört in Überwachen und Strafen in das große Kapitel über die Disziplinen. Disziplinen stehen für eine „politische Besetzung [investissement] des Körpers“,35 sie sind diejenigen „Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung [assujetissement] ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich machen“.36 In Institutionen wie Armee, Fabrik, Krankenhaus, Schule, Gefängnis wird ein disziplinierter Körper produziert, der dabei unerlässlich ist für den Kapitalismus: „Die Disziplin fabriziert […] unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper. Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen). Mit einem Wort: sie spaltet die Macht des Körpers; sie macht daraus einerseits eine ‚Fähigkeit‘, eine ‚Tauglichkeit‘, die sie zu steigern sucht; und andererseits polt sie die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung um. Wenn die ökonomische Ausbeutung die Arbeitskraft vom Produkt trennt, so können wir sagen, daß der Disziplinarzwang eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung im Körper miteinander verbindet.“37
Der Körper und seine Kräfte – das ist Foucaults minimale Anzeige dafür, was da geformt wird und was sich formt, auch wenn er in Überwachen und Strafen einseitig nur das Geformtsein betont.38 Untergründig steht Foucault, so Friedrich Balke (mit Deleuze), hier Spinoza (und Nietzsche) nahe, der den Körper von der 32 33 34
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Foucault 1976a, S. 161 ff.; Foucault 1974/75, S. 37 ff.; Foucault 1975a, S. 63 ff. Foucault 1973/74, S. 74. Zum Begriff der Subjektfunktion siehe Rieger-Ladich 2004, S. 203. f. Da Souveränitätsmacht ein Machttypus ist, steht sie bei Foucault aber nicht nur für historisch vergangene Zeiten, sondern, in der Form des verbietenden Vaters oder des zum Schweigenden bringenden Zensors, auch für bestimmte zwischenmenschliche Relationen (Foucault 1976a, S. 105; vgl. Foucault 1973/74, S. 122 ff.). Foucault 1975a, S. 37. Foucault 1975a, S. 175. Foucault 1975a, S. 177. Zu Disziplin und Kapitalismus siehe Foucault 1975a, S. 279 ff.; Foucault 1974, S. 759 ff; Foucault 1981b, S. 243. Vgl. Brieler 1998, S. 316 ff.; Lemke 1997, S. 73 ff. Die Disziplinen sind eine Verbindung mit dem Kapitalismus eingegangen, sie können aber nicht daraus abgeleitet werden. Siehe Lemke 1997, S. 112 ff.; Bröckling 2010, 416. Für manche ist es das Problem, ob das Selbstverhältnis, wie Foucault durch Produktionsmetaphern nahelegt, einseitig von der Macht produziert wird oder für eine irreduzible Dimension steht, die von Machtverhältnissen besetzt wird (siehe Ricken 1999, S. 167). Vgl. die Selbstkritik von Foucault 1981a, S. 210; Deleuze 1986, S. 142.
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Macht, zu affizieren und affiziert zu werden, bestimmt hat: Foucault beschreibe daher „hinreichend sensible Körper-Materien, die geeignet sind, im Zusammenspiel mit einer affizierenden Macht zu funktionieren und die dabei ganz ‚unwahrscheinliche‘ Transformationen erleiden“.39 Wenn man einen impliziten und rudimentären Freiheitsbegriff in Überwachen und Strafen hineinlesen will, dann wäre hier ein Ansatzpunkt, Freiheit von der Macht des Körpers, seinen Kräften und seiner Affizierbarkeit zu denken. So verweist Menke darauf, dass Foucault in einer Tradition steht, die Subjektivität vom Bezug zu Kräften her denkt, womit einerseits eine cartesianische Tradition, die Subjektivität mit Selbstbewusstsein gleichsetzt, verabschiedet wird, denn das primäre Selbstverhältnis ist kein Wissen, sondern eine Praxis, und andererseits Freiheit vom Handeln-Können als Macht her gedacht wird, auch wenn Foucault das hier nicht explizit ausführt.40 Foucault beschreibt nun minutiös, wie diese disziplinierten Körper produziert werden: Durch die Einschließungsmilieus wie Kaserne, Fabrik, Internat/Schule, d. h. durch bestimmte Raumordnungen und die Verteilung von Individuen an bestimmten Plätzen, durch bestimmte Zeiteinteilungen – es geht um die „Herstellung einer vollständig nutzbaren Zeit“41 –, durch Übungen und Dressuren etc. entsteht eine „erschöpfende Vereinnahmung des Körpers, der Gesten, der Zeit, des Verhaltens des Individuums.“42 Nicht mehr ist die Subjekt-Funktion ab und zu mit der somatischen Singularität verbunden, sondern nun heftet sie sich an den Körper, vereinnahmt ihn, und dabei geht es um die Verwandlung der Lebenszeit in Arbeitszeit und die Verwandlung des Körpers in Arbeitskraft.43 Die Disziplinarmacht steht dafür, dass die Körper vollständig in diese Machtverhältnisse integriert und nicht einfach nur ein bestimmter Ertrag oder eine bestimmte Zeit ihnen entzogen werden wie in Feudalgesellschaften, sondern das ganze Leben in Beschlag genommen wird: „eine allgemeine Disziplinierung des Daseins“.44
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Balke 2004, S. 139, 133. Vgl. Patton 1998. Zum Spinoza-Bezug, auch was die Norm anbelangt, siehe Macheray 1991. Die Betonung auf die Affizierung liegt auch Deleuzes Interpretation zugrunde (Deleuze 1986). Menke 2003b, S. 286 ff. Foucault 1975a, S. 193. Foucault 1973/74, S. 77. Foucault 1975a, S. 37; Foucault 1974, S. 114, 117; Foucault 1973/74, S. 90; Foucault 1973a, S. 117. Foucault 1974, S. 116; vgl. Foucault 1973/74, S. 77. Deutlich zeigt sich das auch an der neuen Bedeutung des Begriffs der Gewohnheit, wie Foucault in „Die Macht und die Norm“ ausführt. Während im 18. Jahrhundert der Begriff der Gewohnheit eine kritische Funktion hatte, anhand derer eine Institution, Gesetze oder Autoritäten hinterfragt wurden, wird im 19. Jahrhundert Gewohnheit – als Komplement des Vertrags, der die Besitzenden vereint – dasjenige, „wodurch die Individuen an den Produktionsapparat gebunden werden“ (Foucault 1973a, S. 120), und zwar die Besitzlosen. Gamm zeigt, dass Foucault und Hegel mit dem Begriff der Gewohnheit eine bestimmte Konstitution von Subjektivität, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, der eine positiv als Fortschritt und der andere negativ als Gewalt, beschreiben und wie im Begriff der Gewohnheit „eine ganze Maschinerie von Gewalt wirkt und zur Sichtbarkeit gelangt“ (Gamm 1981, S. 169).
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Während für Foucault in „Die Strafgesellschaft“ (1973) die Normalisierung zur „Physiologie der Macht“ gehört und von der „Optik“ (Überwachung) und „Mechanik“ (Nutzung der Kräfte, Disziplin) unterschieden wird, gehört sie in Überwachen und Strafen als normierende Sanktion (sanction normalisatrice) neben der hierarchisierenden Überwachung (surveillance hierarchique), und der Prüfung (examen) zu den Mitteln der Abrichtung (dressement).45 Bei der normierenden Sanktion geht es darum, dass die überwachende und strafende Vernunft der Disziplinierung eines Richtmaßes bedarf, das für eine „Sub-Justiz“ steht, indem sie eine „Mikro-Justiz“ der Zeit (gegen Verspätungen etc.), der Tätigkeit (Unaufmerksamkeit, Faulheit etc.), des Körpers (falsche Körperhaltungen etc.) und der Sexualität (Unanständigkeit etc.) ausbildet. Beispiele sind hier vor allem Schule und Militär. Es ist eine Ordnung, die gleichzeitig künstlich, da gesetzt, und natürlich ist, da sie auf natürlichen Regelmäßigkeiten beruht, und mit diesen Richtmaßen tritt neben etablierten ordnungsgenerierenden Unterscheidungen wie dem Gesetz oder der Tradition nun die „Macht der Norm“ hinzu.46 Gesetz und Norm stehen daher als ein Gegensatzpaar immer wieder für die Differenz von Souveränitätsmacht und Disziplinarmacht (und später Biomacht). Mit Norm ist bei Foucault keine juridische Norm gemeint, die bei ihm für die Differenz erlaubt/verboten steht, sondern im Anschluss an Canguilhem z. B. allgemeine Gesundheitsnormen, Normen in Bezug auf die Industrie und deren Produkte (mit der Einführung einer standardisierten Erziehung und den Normalschulen) – Normen, die auch aus den entstehenden Humanwissenschaften kommen.47 Was tut nun die Macht der Norm? „Im System der Disziplinarmacht zielt die Kunst der Bestrafung nicht auf Sühne und auch nicht auf die Unterdrückung eines Vergehens ab. Sie führt vielmehr fünf verschiedene Operationen durch: sie bezieht die einzelnen Taten, Leistungen und Verhaltensweisen auf eine Gesamtheit, die sowohl Vergleichsfeld wie auch Differenzierungsraum und zu befolgende Regel ist. Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei sich diese als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Näherungswert darstellen kann. Die Fähigkeiten, das Niveau, die ‚Natur‘ der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser ‚wertenden‘ Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität. Als Unterschied zu allen übrigen Unterschieden wird schließlich die äußere Grenze gegenüber dem Anormalen gezogen […]. Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend [normalise].“48
Die Normalisierung ist also homogenisierend und individualisierend zugleich, sie schafft ein Vergleichsfeld, in der die einzelnen Individuen um einen bestimmten Wert herum gruppiert werden (wie z. B. in der Schule mit dem Notensystem) mit 45 46 47 48
Foucault 1973b, 584; Foucault 1975a, S. 229–238. Zur Physiologie vgl. Krause 2007, S. 60 f. Foucault 1975a, S. 231, 237. Vgl. Foucault 1975/76, S. 54; Foucault 1976a, S. 171. Foucault 1975a, S. 237; Foucault 1974/75, S. 71 f. Canguilhem 1972, S. 161 ff; siehe dazu Link 2008, S. 242 ff.; Muhle 2008, S. 172 f. Foucault 1975a, S. 236.
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der äußersten Grenze der Anormalität. Die Übersetzung des einen Worts „normaliser“ mit „normend, normierend, normalisierend“ hat dabei Jürgen Link als symptomatisch bezeichnet, weil das französische nicht mit dem deutschen Wort deckungsgleich ist und sich hier eine Mehrdeutigkeit zeigt. Im Französischen heißt „normaliser“ vor allem auch Normung und Standardisierung, insofern passen auch Foucaults Bezugnahmen mit Canguilhem auf die Industrie und die Gesundheit. In den Übersetzungen wird aber zumeist „Normalisierung“ bzw. ab und zu „Normierung“ verwendet.49 Es wäre aber adäquater für Link in Bezug auf Überwachen und Strafen von normender Sanktion oder von standardisierender Sanktion und überhaupt von Normungsgesellschaft statt von Normalisierungsgesellschaft zu sprechen, da nämlich Foucault hier stark von der Normung her denkt, von der Herstellung von „Maschinen-Individuen“, „maschinekompatibler Körper“:50 „Normende industrialistische Subjektivierung parallel zu industriellen Normung der Objekte“,51 was viel für sich hat, weil Foucault besonders an Armee, Fabrik und Schule orientiert ist und an präetablierten fixen Normen, was dem von Link thematisierten „Protonormalismus“ entspricht mit rigiden und fixen Grenzen zwischen normal und anormal.52 Zudem stellt Link infrage, ob für die Mitte des 18. Jahrhunderts, wie es Foucault nahelegt, schon die Kategorie „anormal“ verwendet werden kann und der Durchschnitt hier wirklich eine solche Rolle spielt (der statistische Durchschnitt spielt eine wichtige Rolle im Normalismus nach Link, aber noch nicht im 18. Jahrhundert; auch die Kategorie „anormal“ wäre adäquater erst für das 19. Jahrhundert zu verwenden), eine Kritik, die auch schon Ewald formuliert hat, der die Kategorie des Durchschnitts auf das 19. Jahrhundert datiert.53 Diese Kritik an der historischen Datierung von „anormal“ und
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So wird z. B. in der Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) „société de normalisation“ mit „Normalisierungsgesellschaft“, in den Schriften, die die gleiche Vorlesung beinhalten, mit „Normierungsgesellschaft“ übersetzt (Foucault 1975/76, S. 55; Foucault 1976c, S. 248). Auch in Überwachen und Strafen wird zumeist mit „Normalisierung“ übersetzt, ab und zu jedoch auch mit „Normierung“ (Normalisierung: Foucault 1975a, S. 237, 393, 395; Normierung: Foucault 1975a, S. 397). Foucault 1975a, S. 311; Link 2008, S. 243. Link 1998, S. 259; Link 2006, S. 119; Link 2008, S. 242. Link unterscheidet in seiner Normalismus-Theorie im Anschluss an Foucault zwischen einem Protonormalismus und einem flexiblen Normalismus. Während der Protonormalismus mit starren Grenzen zwischen normal und anormal arbeitet, hat der flexible Normalismus flexible Normen. Damit ist der Bereich der Anormalität immer mehr hinausgeschoben: Die Grenze zwischen normal und anormal wird flüssiger, das Anormale wird immer mehr integriert im Sinne von graduellen Abweichungen. Der flexible Normalismus arbeitet mit einem flexiblen, an Durchschnitten orientierten Normalen und setzt eine flexible Selbstadjustierung und Innenlenkung voraus. Der Protonormalismus arbeitet mit engen und rigiden Grenzen von Normalität und setzt Dressur und Außenlenkung voraus. Link betont dabei vor allem die zentrale Wichtigkeit von Verdatung und Statistik für den Normalismus (siehe Link 2006, S. 51 ff.; Link 1998). Link 2006, S. 118 ff.; Ewald 1993, S. 192 ff.; vgl. Krause 2007, S. 58; Brieler 1998, S. 415 f. Gegen Links Betonung des Statistischen und des Durchschnitts, aber auch seine Datierung wendet sich teilweise Krause 2007 und Hagner 2007, S. 187, 183.
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„Durchschnitt“ hat viel für sich, man muss jedoch dazusagen, dass es hier um die Beispiele in diesen Kapiteln geht und nicht um das gesamte Buch, das ja im letzten Teil zum Gefängnis auch auf das 19. Jahrhundert eingeht. Jedenfalls entsteht mit Normalisierung ein Vergesellschaftungsstypus, der „an die Stelle der Male, die Standeszugehörigkeiten sichtbar machten […] ein System von Normalitätsgraden“ treten lässt, „welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken“.54 Dies lässt sich, so Balke u. a. auch als Antwort verstehen auf das Problem des Ordnungsschwunds moderner Gesellschaften, d. h. der zunehmenden Erfahrung der Kontingenz von Ordnungen und eines neuen Möglichkeitsbewusstseins, sodass Ordnungen, die auf feststehenden Arten und Gattungen beruhen (wie ständische Rangordnungen), zunehmend brüchig werden.55 „Die Erfahrung von Kontingenz wird mit möglichkeitsreduzierender Normalisierung beantwortet“, Normalisierung ist sozusagen „die Schattenseite von Möglichkeitsbewußtsein – und damit von Freiheit […],56 wie es Sabine Hark formuliert. Wobei nochmals angemerkt sei, dass bei Foucault die Normalisierung mit der Dynamik des entstehenden Kapitalismus zusammengedacht wird. Für die Differenzierung des Normalisierungsbegriffs ist nun vor allem wichtig, dass Foucault die Machttypen mit zwei bestimmten Modellen zusammendenkt, mit dem Modell der Lepra und dem Modell der Pest, die für zwei verschiedene Modi von Ein- und Ausschluss stehen. Das Modell der Lepra steht für eine Praxis der „massiven und zweiteilenden Grenzziehung […]. Der Leprakranke wird verworfen, ausgeschlossen, verbannt: ausgesetzt, draußen lässt man ihn in einer Masse verkommen, die zu differenzieren sich nicht lohnt“.57 Hier liegt also eine rigide Grenzziehung vor: Der Leprakranke wird ausgeschlossen und verbannt wie im Mittelalter, oder der Ausschluss ist gleichzeitig ein undifferenzierter Einschluss, d. h. eine Internierung, wie sie Foucault in der Geschichte des Wahnsinns beschrieben hat, wo ab dem 17. Jahrhundert verschiedenste Gruppen wie Bettler und Wahnsinnige eingesperrt wurden. Jedoch ist es ein Einschluss, bei dem noch nicht ‚behandelt‘ und Wissen generiert wird. Beim Modell der Pest nun, das für die Disziplinartechniken zentral wird, wird die zweiteilende Grenzziehung durch vielfältige Trennungen abgelöst. Beim Kampf gegen die Pest werden die Leute eingeschlossen, jedem wird sein Platz zugeteilt, die Stadt wird gerastert und dokumentiert, d. h. es wird Wissen generiert. Insofern ist eine produktive Macht am Werk, die nicht einfach verbannt, sondern einschließt und wissenserzeugend verfährt, alles, um die Gefahr der Ansteckung zu bannen: „Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor den ‚Ansteckungen‘, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben.“58 54 55 56 57 58
Foucault 1975a, S. 237. Vgl. Balke 2002, S. 130 f.; Muhle 2008, S. 172 f. Balke 2002, S. 130 f.; Makropoulos 1997, S. 40 ff.; Hark 1999. Hark 1999, S. 66, 68. Foucault 1975a, S. 254 f. Vgl. Foucault 1974/75, S. 63 ff. Foucault 1975a, S. 254.
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Gegen diese Unordnung, dieses Fliehen, diese Ansteckung, diesen vielfältigen Austausch innerhalb einer Masse bzw. einer „gefährlichen Menge [multitudes confuses]“, ist die Disziplin gerichtet, sie ist „festsetzend; sie bringt Bewegung zum Stillstand“, sie verwandelt die Menge (multitude) in eine „geordnete Vielheit [multiplicité ordonné]“.59 Nach Sarasin ist das eines der wiederkehrenden Motive in Foucaults Werk: wie Ordnungen gegen Unordnung, d. h. gegen Ansteckung, Infektion etc. durchgesetzt werden.60 Das Modell der Pest ist daher einer der Ursprünge der Disziplinarmacht. Geschichtlich gesehen, auch wenn das Modell der Pest zunehmend dominanter wird, überlagern sich die beiden Modelle der Pest und Lepra, denn das Eigentümliche des 19. Jahrhunderts besteht darin, auf den Raum der Ausschließung die Disziplin anzuwenden. Man „‚verpestet‘ die Aussätzigen, indem man auf die Ausgeschlossenen die Taktik der individualisierenden Disziplinen anwendet“, andererseits verewigt die „hartnäckige Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Anormalen […] die zweiteilende Stigmatisierung und die Aussetzung des Aussätzigen“, womit das Lepra-Modell wieder zum Tragen kommt.61 Das psychiatrische Asyl, die Strafanstalt etc. funktionieren daher als Institutionen der Zweiteilung und Disziplinierung zugleich. Insofern handelt es sich hier um einen Einschluss, der auch ein Ausschluss ist. In Überwachen und Strafen macht also die Normalisierungsmacht einerseits einen Teil der Disziplinarmacht aus: Sie gehört mit der Überwachung und den Dressuren zu den Disziplinen, und auch im letzten Teil des Buches gehört sie neben der Isolierung und der Abrichtung zur „Heilung“ und „Besserung“, wird also stärker der medizinische Aspekt betont.62 Andererseits schließt das Buch mit der Aussicht auf weitere Untersuchungen zur „Normierungsmacht [pouvoir de normalisation]“, womit eine Gleichsetzung von Disziplinar- und Normalisierungsmacht angedeutet ist.63 Von der Rhetorik her ist die Disziplinarmacht eine große Maschine, ein „Räderwerk“ mit sich selbst überwachenden, gefügigen Körpern, angepasst an den kapitalistischen Produktionsprozess, ausgerichtet an der Teilung normal/anormal. Foucault will damit die „Kehrseite“ der Aufklärung bzw. der Demokratie thematisieren: „Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden.“64 Die Disziplinen bilden das Untergeschoß und die Basis der formellen und rechtlichen Freiheiten, das Disziplinarsubjekt liegt dem Rechtssubjekt zugrunde. Vertragstheorien übersehen für ihn, dass die Vergesellschaftung viel materieller über die Disziplinierung der Körper läuft als
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Foucault 1975a, S. 190, 258, 281. Vgl. Foucault 1973/74, S. 116. Sarasin 2005b, S. 92, 99; zum Modell der Pest vgl. Rölli 2005; zum Thema der Ansteckung und der Immunisierung vgl. Lorey 2011. Foucault 1975a, S. 256. Vgl. dazu Castel 1976, S. 106 ff.; Link 2006, S. 124 f. Foucault 1975a, S. 318. Foucault 1975a, S. 397. Foucault 1975a, S. 285. Zu den Disziplinen als „Kehrseite der Demokratie“ siehe auch Foucault1975b, S. 890. Vgl. Brieler 1998, S. 328 f., Sarasin 2005a, S. 142 ff.
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über den Konsens von Willen und einen Gesellschaftsvertrag.65 Wieder richtet sich Foucault gegen Befreiungsmythen, Geschichten der fortschreitenden Humanität und zeigt dem aufklärerischen Subjekt seine Abhängigkeit von Praktiken, die es konstituieren. Für manche Leser machte nun Foucaults Buch den Eindruck eines orwellschen Universums, in dem es scheinbar keine Freiheit und keinen Widerstand gibt.66 Der Eindruck entsteht natürlich durch Foucaults Rhetorik, aber auch durch die Großsubjekte Diziplinargesellschaft. Aber auch wenn man dafür Anhaltspunkte im Text hat, darf nicht übersehen werden, dass es um eine spezifische historische Machtform und Subjektivität geht, die jedoch immer mehr hegemonial wird. Es sind „immer jeweils historisch konkrete Systeme und Machtverhältnisse, denen Widerstand geleistet werden kann und denen der Anspruch auf Differenz geltend zu machen ist“, wie Lichtblau anmerkt.67 Und widerständische Praktiken werden durchaus beschrieben, Spuren der Aufruhr, der Abweichung, auch wenn es mehr Figuren der „erlöschenden Dissidenz“ sind und die Schilderung einen „fatalistisch-bitteren Zug“ zeigt, so Gehring, und dennoch zeigen sich „Freiheiten […] [als, G. U.] Spielräume eines mobilisierbaren Selbstbehauptungswillens“.68 Zudem ist ja gerade die Genealogie als eine Radikalisierung des Kontingenzgedankens gegen jegliche Form von Notwendigkeit gerichtet. Damit ist natürlich nicht bestritten, dass es auch Probleme mit Überwachen und Strafen gibt (wie z. B. die einseitige Fassung von Subjektivität als Dressur). Was Foucault dagegensetzt, sind – neben seiner Parteinahme für die Ausgeschlossenen und gegen das Schweigen im Text der Geschichte – Figuren der Entidentifizierung, der Anonymisierung, wenn er von Entnormalisierung, Entsubjektivierung oder Entunterwerfung (desassujetisse-ment) und Zerstörung des Subjekts spricht.69 Gleichzeitig mit der Abfassung von Überwachen und Strafen bzw. kurz danach hat Foucault sich in den Vorlesungen Die Macht der Psychiatrie (1973/74) und Die Anormalen (1974/75) mit der Psychiatrie beschäftigt. Hier wird mehr als in Überwachen und Strafen der medizinische und psychologisierende Aspekt der Normalisierung betont und vor allem in Die Anormalen eine „Genealogie des anormalen Individuums“ angegangen, denn die Normen der Normalität sind für Foucault vor allem solche eines „klinischen Wissens“ bzw. eines „medizinischen Denkens“.70 Dies ist für Link ein zentraler Gesichtspunkt des Protonormalismus:
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Foucault 1975a, S. 285, 291, 167; Foucault 1975c, S. 933, wo er vom „großen Phantasma“ der „Vorstellung eines aus der Universalität der Willen gebildeten sozialen Körpers“ spricht. Vgl. Lemke 1997, S. 76–78; zur Problematik der Unterbestimmung des Willens und Konsenses bei Foucault: Lemke 1997, S. 110 ff. Siehe dazu Brieler 1998, S. 337 ff.; Sarasin 2005a, S. 144 f. Lichtblau 1999, S. 284. Gehring 2012, S. 17, 21. Siehe z. B. Foucault 1972a, S. 114; Foucault 1973/74, S. 92. Foucault 1974/75, S. 82; Foucault 1975/76, S. 54; Foucault 1977c, S. 484. Vgl. Lemke 1997, S. 78.
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Gerhard Unterthurner „Solange die protonormalistische Strategie mit ihrer Suche nach dem ‚natürlichen‘ Normalen dominiert, so lange bleiben die biologischen und insbesondere die humanbiologischen (medizinischen und medizinisch-psychiatrischen) Diskurse paradigmatisch.“71
Was schon in Überwachen und Strafen ausgeführt wurde – die Einführung des Biographischen, die den Kriminellen unabhängig von der Tat schafft, die Verwischung der Grenzen vom Diskurs des Richters und des Psychiaters, die zur Konstitution des „gefährlichen Individuums“ führt72 – wird in Die Anormalen in Bezug auf die Psychiatrie vertieft. Die Normalisierungsmacht ist dabei eine spezifische Verflechtung des Gerichtlichen und Medizinischen, dargestellt am gerichtsmedizinischen Gutachen, das nicht mehr das Rechtssubjekt als Gegenstand hat oder nur über eine Tat urteilt, sondern darüber, ob das Individuum „gefährlich“, anormal ist. Für die Genealogie der Anormalen sind es drei Figuren, die zentral werden: das Menschenmonster, das zu korrigierende Individuum und der Onanist. Foucault zeigt, wie der Anormale des 19. Jahrhunderts der Nachkomme dieser drei Figuren ist, wobei zuerst das Monster zentral war und dann zunehmend der Onanist ins Zentrum rückte, der über die kindliche Sexualität den Machtzugriff auf jeden Einzelnen ermöglichte. Das Monster ist dabei das historisch älteste Element und ist „das große Modell aller kleinen Abweichungen. Es ist das Prinzip der Erkennbarkeit aller […] Formen der Anomalie.“73 Hervorgehoben sei hier die Bedeutung der „monströsen Natur des Verbrechers“, die Foucault anhand berühmter Verbrechen analysiert. Er zeigt, wie Fälle von „grundlosen“ Verbrechen dazu geführt haben, dass Wahnsinn, Verbrechen und Monströsität im Zuge einer Pathologisierung einen engen Konnex eingegangen sind und die Psychiatrie sich konstituieren konnte als Gestalt einer „öffentlichen Hygiene“, die die Gesellschaft vor „gefährlichen Individuen“ schützen sollte.74 Der Wahnsinn wurde als Krankheit und Gefahr codiert und der Verbrecher als mit einer monströsen und krankhaften Natur behaftet. Das war auf der epistemologischen Ebene – Foucault zeichnet auch die Entwicklung des Verhältnisses der Psychiatrie zur Administration, der Familie und der Politik nach – ermöglicht unter anderem durch die „Erfindung“ des Begriffs „instinct“, wodurch von der Psychiatrie zuerst grundlose Verbrechen verständlich gemacht werden konnten, insofern sie auf eine „morbide Dynamik der Instinkte“ [Übers. geändert, G. U.] bezogen wurden, und dann „der Übergang vom großen Monster zum kleinen Perversen“, vom Monster zum Anormalen vollzogen werden konnte.75 Denn durch den Instinkt kann die Psychi-
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Link 2006, S. 231. Foucault 1975a, S. 324 f. Vgl. Foucault 1978. Foucault 1974/75, S. 78. Zur Wichtigkeit des Monsters für Normalitätsdiskurse vgl. Hagner 2007. Foucault 1974/75, S. 155; siehe auch Foucault 1978a. Foucault 1974/75, S. 174, 173, 214. Im Französischen steht „instinct“, die deutsche Übersetzung verwendet „Trieb“; mit Muhle sei hier mit Instinkt übersetzt, da der freudsche Trieb doch davon abgesetzt werden muss (Muhle 2008, S. 209) bzw. Freud auch mit biologischen Fassungen des Triebs auf gewisse Weise bricht. Foucault ordnet zwar auch Freud beim Zu-
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atrie nun „alle kleinen Unregelmäßigkeiten des Verhaltens“ pathologisieren und als anormal bestimmen: „Vom Begriff des Instinkts aus wird sich rund um das einstmalige Problem des Wahnsinns die gesamte Problematik des Anormalen, des Anormalen auf der Ebene der elementarsten und alltäglichsten Verhaltensweisen organisieren.“76
Und weiter war es nur durch den Instinkt erst möglich, dass sich die Psychiatrie über ihre Verbindung mit der Neurologie und einer Somatisierung in die Evolutionspathologie mit der Theorie der Degeneration als dem „Hauptstück der Medizinisierung des Anormalen“ einschreiben konnte.77 Für das Thema der Normalität wichtig ist nun, dass Foucault hier zwei Normen sich vermischen sieht: „die Norm als Verhaltensmaßregel und als funktionale Regelhaftigkeit; die Norm, die sich der Regellosigkeit und der Unordnung widersetzt, und die Norm, die sich dem Pathologischen und Morbiden widersetzt.“78
Die Regellosigkeit und die Störung der Ordnung (soziale, administrative oder familiäre) vermischt sich mit dem Pathologischen: „Alles, was nach Unordnung, Undiszipliniertheit, Rastlosigkeit, Unbelehrbarkeit, Widerspenstigkeit, Mangel an Anteilnahme usw. aussieht, wird nun mehr bei Bedarf psychiatrisiert.“79
Damit verbindet die Psychiatrie die Störungen der sozialen Ordnung mit dem Pathologischen. Da das Problem der Anormalität für Foucault mit der Sexualität durchsetzt ist – einer der Vorfahren des Anormalen ist ja der Onanist –, widmet sich Foucault ab der Hälfte der Vorlesung diesem Thema. Hier findet sich nicht nur eine Thematisierung der Beichte, was dann in Der Wille zum Wissen (1976) für das Thema des Geständnisses zentral werden wird, sondern auch die Analyse der Entdeckung der Kindheit für und durch die Psychiatrie, die es dieser ermöglichte, sich über Konzepte der Entwicklung, der Degeneration und Vererbung in die Sexualität und Reproduktion der Gattung einzumischen. Sie wird damit nicht nur zur „Wissenschaft vom wissenschaftlichen Schutz der Gesellschaft“, sondern auch zur „Wissenschaft vom biologischen Schutz der Gattung“.80 Ein neuer Rassismus entsteht, ein Rassismus gegen die Anormalen, was zur Eugenik führte: Der Nationalsozia-
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griff auf den „instinct“ ein (Foucault 1974/75, S. 176), den Todestrieb von Freud grenzt er jedoch ab vom „instinct de mort“ (Foucault 1974/75, S. 189). Er hält diesem zugute, dass er mit der ganzen Theorie der Degeneration und Entartung bricht, auf die der von Foucault thematisierte „instinct“ hinausläuft (siehe Foucault 1976a, S. 143). Foucault 1974/75, S. 174. [Übers. geändert, G. U.] Vgl. Foucault 1976a, S. 127. „Seit dem 19. Jahrhundert sind wir alle psychiatrisierbar geworden“ (Foucault 1977a, S. 359 f.), wie Foucault an anderer Stelle sagt. Foucault 1974/75; S. 174–177, 416 ff. Vgl. zur Degeneration Castel 1976, S. 290 ff. Foucault 1974/75, S. 213. Vgl. Krause 2007, S. 68 f.; Muhle 2008, S. 212 f. Foucault 1974/75, S. 212. Foucault 1974/75, S. 417.
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lismus verband diesen Rassismus mit dem ethnischen Rassismus.81 Die Analyse der Psychiatrie führt also zum Gesellschaftskörper und damit zur Überschreitung des Blickwinkels der Disziplinarmacht, der vor allem auf die Dressur des Einzelkörpers gerichtet ist. Der Blick auf den Körper als Maschine wird ergänzt durch den Blick auf den lebendigen (Gattungs-)Körper.82 Die Normalisierung als Disziplinierung hat also ihre Grenzen, wenn sie es mit den Anormalen zu tun hat, die zudem als Gefahr für den Gesellschaftskörper auftauchen. Aber nicht nur von dort her zeigen sich Grenzen. Foucault beschreibt schon in Die Anormalen eine neue Machttechnik, wenn er sich dem Thema der Sexualität zuwendet. Mit einem impliziten Verweis auf Überwachen und Strafen kann er sagen, dass im 16./17. Jahrhundert, als in den Armeen, Schulen und Werkstätten eine neue politische Anatomie des Körpers auftaucht, womit er die Disziplinen meint, gleichzeitig mit den in den Seminaren und Kollegien praktizierten Bußtechniken der Gewissensbehandlung „eine Besetzung [investissement] des Körpers“ auftaucht, „die keine Investition [investissement] in einen nützlichen Körper ist und keine, die etwa auf der Ebene seiner Fähigkeiten sich abspielte, sondern eine auf der Ebene des Begehrens [désir] und des Anstands.“83
Neben der disziplinären Besetzung des Körpers auf der Ebene der Fähigkeiten gibt es nun eine Besetzung auf der Ebene des Begehrens, und dies ist keine Dressur oder Abrichtung mehr, sondern wird von Foucault mit der später so wichtigen Terminologie des Regierens, Lenkens (gouverner), des Leitens (direction) angegangen, sozusagen weichere Machttechniken, die wie im Fall der Beichte auch auf ein verführendes, reizendes Frage-Antwort-Spiel verweist.84 Die Macht wird
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Foucault 1974/75, S. 416 ff.; vgl. Castel 1976, S. 53. Vgl. Muhle 2008, S. 213 ff. Foucault 1974/75, S. 258. Zum „gouverner“ siehe z. B. Foucault 1974/75, S. 282, 300 (wo Foucault vom „regieren [gouverner]“ des Fleisches spricht und von den „Technologien zur Lenkung der Seelen [gouvernement des âmes]“) und auch schon allgemeiner Foucault 1974/75, S. 70 (wo er schon von der Regierung der Kinder, Verrückten etc. gesprochen hat). Das Thema des Leitens (direction), des Verwaltens (gerer) war jedoch schon ein Jahr zuvor in Die Macht der Psychiatrie (1973/74) als wichtiges Thema aufgetaucht (Foucault 1973/74, S. 250 ff.). Später kommt noch das Wortfeld „conduire“, „conduite“, „conduction“ hinzu, was man als „führen“, „Führung“, „Verhalten“, „Leitung“ übersetzt hat (siehe Foucault 1977/78, S. 280 f.). Das Führen und Regieren, zuerst für die Seelenführung und das Regieren von Menschen verwendet, wird später auch genereller verstanden. Sennelart verweist in seiner „Situierung“ der Gouvernementalitäts-Vorlesungen darauf, dass Gouvernementalität zuerst in der Vorlesung von 1977/78 für das im 18. Jahrhundert installierte Machtsystem verwendet wird, das sich mit der politischen Ökonomie auf die Bevölkerung richtet, dass aber in der Vorlesung vom darauffolgenden Jahr Regieren auch allgemeiner als Art und Weise der Verhaltensführung und die Gouvernementalität als „Analyseraster für Machtverhältnisse“ überhaupt verwendet wird (Sennelart 2004, S. 564 f., mit Verweis auf Foucault 1977/78, S. 161, und Foucault 1978/79, S. 261). Der spätere Foucault spricht z. B. auch in „Subjekt und Macht“ allgemeiner von Regieren und Führen und sieht im Führen und Regieren „das Spezifische an den Machtbezie-
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hier schon, wie es dann in Der Wille zum Wissen thematisiert wird, zur Verführerin, zur „Sirene“, Lust und Macht gehen ein Wechselspiel ein.85 Die Seelenführung oder -lenkung bzw. das Geständnis hat als Korrelat einen neuen Körper, der einer von Lüsten ist und den Foucault bis hin zur Konstitution der „Sexualität“ im 19. Jahrhundert beleuchtet: Diese ist das „Produkt des Einwirkens eines Machttyps auf die Körper und ihre Lüste“.86 Daher ist Sexualität für Foucault nichts, was es zu befreien gälte oder das unterdrückt wäre, wie es für Foucault ein bestimmter Freudo-Marxismus nahelegt. Das heißt, auf der Ebene der Machttechniken (Beichte, Geständnis), der Besetzung des Körpers und dem „Gegenstand“ der Macht, der Gattung, ist der Rahmen der Disziplinarmacht überschritten. Damit wird auch Foucaults bisherige Typologie der Macht revidiert und die Konzeption der Biomacht eingeführt. Daher konnte Foucault bezüglich der Normalisierung in In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) sagen, dass sich in Überwachen und Strafen eine erste „unzureichende Interpretation der Idee der Normalisierungsgesellschaft“ findet, denn die „Normalisierungsgesellschaft“ ist „nicht eine verallgemeinerte Disziplinargesellschaft“.87 In seiner Konzeption der Biomacht in Der Wille zum Wissen unterscheidet Foucault nun zwischen dem Pol der Disziplinen, die sich auf den Körper des Einzelnen richten – d. h. auf den Körper als Maschine –, und dem Pol der Biopolitik der Bevölkerung, d. h. der Regulierung des Bevölkerungskörpers mittels Hygiene, Geburtenkontrolle, Gesundheitspolitik etc. Die Sexualität ist dabei die Schnittstelle, weil sie den Körper des Einzelnen mit dem Gattungskörper verbindet.88 Biomacht ist also nicht einfach ein anderer Machttypus, sondern integriert vielmehr die Disziplinen. Mit der Biomacht thematisiert Foucault einen Machttypus, der das Leben zum Gegenstand hat – den Körper des Einzelnen und das Leben der Bevölkerung: Hier geht es nicht um Unterdrückung, sondern um die Steigerung des Lebens. Diese Macht operiert nicht mehr mit der Drohung durch den Tod, sondern mit der Verantwortung für das Leben. Es geht hier nicht mehr darum, „auf dem Feld der Souveränität den Tod auszuspielen, sondern das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren […]. Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet.“89
Auch hier wieder wird die Norm dem Gesetz gegenübergestellt. Die „Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Macht-
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hungen“ sich ausdrücken und nicht mehr nur einen bestimmten historischen Machttypus (Foucault 1982, S. 286 f; vgl. Foucault 1984a, S. 782; Foucault 1981/82, S. 314, wo er von der Gouvernementalität „als ein strategisches Feld von Machtverhältnissen in einem allgemeinen […] Sinn“ spricht; vgl. Deleuze 1986, S. 107). Foucault 1976a, S. 60 f. Vgl. Visker 1991, S. 99 f. Foucault 1976a, S. 64. Foucault 1975/76, S. 299, 298. Foucault 1976a, S. 166, 174; Foucault 1975/76, S. 294 ff. Zur Unterscheidung von Biopolitik und Biomacht siehe Gehring 2006, S. 14. Foucault 1976a, S. 171 f.
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technologie“, und diese Macht wird ab und zu Normalisierungsmacht genannt. Hier wiederum ist es die Medizin bzw. „die Gesamtheit aus Medizin und Hygiene“, der eine herausragende Bedeutung innerhalb der Biomacht zugesprochen wird.90 Denn „der Körper der Gesellschaft“ muss auf „gleichsam ärztliche Weise“ geschützt werden.91 Das Konzept der Normalisierung hat nun auch auf der Ebene der Machttypen den Rahmen des Disziplinären überschritten, und insofern wird auch das Normverständnis adaptiert und erweitert, denn: „Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden.“92 Dabei wirkt die Norm der Regulierung, nicht über eine individuelle Dressur, sondern über Homöostasten, über Kontrollen des Lebens, die „auf die Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren“ zielen.93 Mit dieser neuen Norm der Regulierung nähert sich Foucault, so Link, einem flexibleren Normverständnis und einer flexiblen Normalisierung. Norm wird nicht mehr so statisch wie in Überwachen und Strafen gedacht und die Normalisierung nicht mehr nur als Normung im Sinne einer Dressur.94 Was setzt Foucault dieser Normalisierung entgegen? Auch der Wille zum Wissen ist eine radikale Absage an gewisse Befreiungsmythen: Foucault kritisiert die Vorstellung, dass es nur darum gehe, eine tabuisierte und unterdrückte Sexualität zum Sprechen zu bringen und damit „Freiheit“ zu erlangen. Denn die Sexualität ist selbst ein historisches Produkt und das Sprechen darüber einem Geständniszwang und einer Normalisierung zuzuordnen, die moderne Subjekte prägt.95 Foucault selbst belässt es bei Andeutungen und hält sich im Negativen: Was dagegen gesetzt, aber nur genannt wird, ist eine „andere Ökonomie der Körper und Lüste“, die nicht normalisierend ist.96 Es gibt für ihn immer Widerstand, weil Macht immer Gegenmächte hervorruft. Denn Macht kann nie total sein und ist selbst produktiv, während Freiheit nur als Widerstand vorkommt, als „Freiheit der Abweichung“, wie es Gehring formuliert.97 Was Foucault jedoch problematisiert, ist eine Art Transgressionsdenken, das er bei Bataille oder de Sade ortet und was er selbst lange Zeit vertreten hat, das an der Überschreitung des Verbotenen, Tabuierten orientiert ist und an einem subversiven und emphatischen Außen zu den
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Foucault 1976a, S. 172; Foucault 1975/76, S. 303, 298. Foucault 1975c, S. 933. Foucault 1975/76, S. 299. Vgl. Muhle 2008, S. 241 f. Zur Differenzierung von Machttypen und Machttechniken siehe Gehring 2011, S. 178: Juridische Macht, Disziplinen, Pastoralmacht oder Biomacht wären Machttypen, sie sind „ein epochales Phänomen und gleichzeitig ein abstraktes Analyseschema“. Machttechniken stehen für die konkretere Ebene wie z. B. die Biopolitik. Foucault 1975/76, S. 294, 298 f. Link 2008, S. 245; Link 1998, S. 261 f. So meint Foucault auch später, dass eine „Gesellschaft ohne Disziplin“ sich abzeichnet (Foucault 1978b, S. 673). Foucault 1976a, S. 67 ff. Foucault 1976a, S. 190. Foucault 1976a, S. 116 ff.; Gehring 2006, S. 225; Gehring 2004, S. 129. Vgl. Brieler 1998, S. 419.
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Ordnungen.98 Diese Form der Grenzüberschreitung und der dazugehörigen Freiheit ist für ihn nicht mehr zeitgemäß in Bezug auf die subtilen Machtverhältnisse, die immer mehr jedes Außen und Anormale integrieren. Die Differenzierung zwischen der Norm der Disziplinierung und der Norm der Regulierung führt nun zu einer Begriffsdifferenzierung in Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1977/78). Diese Vorlesung, die zusammen mit Die Geburt der Biopolitik (1978/79) unter dem Obertitel Gouvernementalität rezipiert wird, versucht die Frage des Gattungskörpers, d. h. der Bevölkerung, auf ein politisches Wissen zu beziehen, das Foucault als Regieren und Gouvernementalität bezeichnet.99 Bevor der Begriff der Gouvernementalität ausgeweitet wird, bezieht er sich hier auf den spezifischen Rationalitätstypus einer „gouvernementalen Verwaltung [gestion gouvernementale]“ in der „Lenkung der Bevölkerung“, d. h., es geht um die Frage, wie man „über die staatliche Verwaltung das Verhalten der Menschen dirigiert“.100 Diese Frage wird in diesen beiden Vorlesungen auch auf den Liberalismus und den Neoliberalismus bezogen. Foucault nimmt ein auch von Castel aufgeworfenes Problem in Angriff, der den Liberalismus und den Staat daraufhin befragt hat, welcher Typus von politischer Macht bzw. Verwaltung (gestion) in den Strategien der Psychiater wiedererkennbar wird.101 Analog dazu fragt Foucault nach dem Typus der politischen Macht, der der Verwaltung des Lebens entspricht, auch wenn er nicht mehr in diesen Vorlesungen zum Thema der Biomacht kommt. Für das Thema der Normalisierung ist nun wichtig, dass Foucault Souveränität, Disziplin und Sicherheit unterscheidet (wobei Sicherheit sich auf die Regulierung der Bevölkerung bezieht).102 Diese bilden einen Dreischritt, auch wenn diese drei Machtformen nicht einfach eine historische Abfolge bilden, sondern sich überlappen, wobei es jeweils Dominanten gibt.103 Dabei kommt ein neues Infektionsmodell hinzu: das Modell der Pocken. Dieses Modell muss vom Modell der Lepra (Modell des Ausschlusses) und dem der Pest (des Einschlusses bzw. der Quarantäne) unterschieden werden.104 Im Modell der Pocken wird die Gesamtheit der Bevölkerung ohne Bruch zwischen Kranken und Nichtkranken erfasst – es wird niemand einfachhin ein- oder ausgeschlossen –, um mittels Statistik Wahrscheinlichkeiten festzustellen und zu kontrollieren, Kostenkalküle zu erstellen, indem Risiko- und Gefährlichkeitsverteilungen und Morbiditätsraten erhoben 98 99
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Foucault 1976a, S. 179. Siehe auch die Kritik in Foucault 1976b, S. 102, an Vorstellungen vom Wahnsinn und Verbrechen als radikalem Außen. Hier wird auch die Frage des Staates behandelt, ein Thema, das Foucault zuvor unterbelichtet gelassen hatte (siehe Lemke 1997, S. 151 ff.; Saar 2007b; Ludwig 2011, S. 86–151; Gehring 2011, S. 178 ff.). Foucault 1977/78, S. 161, 520; Foucault 1978/79, S. 441. Castel 1976, S. 42 ff., 202, 209. Vgl. zum Folgenden Muhle 2008, S. 241 ff.; Demirović 2008, S. 236 ff.; Lemke 1997, S. 183 ff. Foucault 1977/78, S. 22. Foucault 1977/78, S. 24 ff., 90 ff. Zum Pockenmodell vgl. Sarasin 2005b, S. 100 ff.; Lorey 2011, S. 271 ff.
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werden, und demgemäß z. B. die Impfpraxis anzuleiten. Gefährlichkeit und Risiko werden zu leitenden Begriffen, und die Angst bezieht sich nicht mehr auf große apokalyptische Bedrohungen, sondern auf alltäglichere Gefahren, die Foucault in den Kampagnen um Hygiene, aber auch in der Angst vor der „Entartung“ ausmacht.105 Sicherheitsmechanismen antworten dabei auf die „Realität“, indem ein Normalfeld konstruiert wird, das sich von dem der Disziplinen unterscheidet und Foucault zur Begriffsdifferenzierung veranlasst. Bei der „disziplinarischen Normalisierung [normalisation disciplinaire]“106 handelt es sich nun um die Ausrichtung an einer vorgegebenen Norm, die Norm ist grundlegend, aus ihr ergibt, sich, was normal ist und was anormal ist. Daher handelt es sich „eher um eine Normation [normation] […] als um eine Normalisierung“.107 Normalisierung möchte Foucault nun nur mehr für die Sicherheitstechnologie verwenden. Hier dreht sich das Verhältnis zwischen Norm und Normalem um. Das im Sinne von bestimmten statistisch gefundenen/konstruierten Kurven, d. h. „empirisch“ gewonnenen Normalitätsraten wie z. B. eine durchschnittliche Morbiditätsrate, und ein als „optimal angesehener Mittelwert“ werden leitend und definieren „die Grenzen des Akzeptablen“.108 Die Anpassung an dieses statistische Normale und Durchschnittliche wird nun als Normalisierung verstanden, und die Aufgabe besteht darin, das Anormale zurechtzustutzen, um es auf die normale Kurve herunterzubiegen bzw. die ungünstigsten Normalitätskurven auf die günstigsten zurückzuführen. Hier ist im Gegensatz zum präskriptiven Charakter der Disziplinarnorm jedoch nicht einfach eine Deskription am Werk. Denn die Norm der Normalisierung ist dynamisierend, worauf Muhle hinweist, da „die anormalen Phänomene reduziert und die normalen gefördert werden“.109 Zudem ist, so Link, schon die Konstruktion eines Normalfeldes ein Ausschluss: Auch auf Kurven muss eine Zäsur, die Anormalitätsgrenze, gesetzt werden, womit qualitative Kriterien ins Spiel kommen.110 Foucault unterscheidet nun also das Gesetz der disziplinären Norm bzw. der Normation/Normierung einerseits und der Normalisierung im engeren Sinn andererseits. Letztere wird auf statistische Durchschnitte bezogen. Mit diesen Unterscheidungen ergeben sich Parallelen zu den späteren Analysen des „Durchschnittsmenschen“ und der Norm als Durchschnitt bei Ewald wie auch zum flexiblen Normalismus von Jürgen Link, da für beide die Orientierung an statistischen Durchschnitten ein Hauptcharakteristikum der Normalisierung ist.111 Diese Form der Normalisierung ist bezogen auf das Thema Sicherheit und Freiheit im Liberalismus, sofern dieser die den Sicherheitstechnologien entsprechende politische Rationalität ist. Foucault führt hier eine originelle Analyse
105 Foucault 1977/78, S. 95 f.; Foucault 1978/79, S. 102. Vgl. Foucault 1973/74, S. 158 f. Foucault 1978a. 106 Foucault 1977/78, S. 89. 107 Foucault 1977/78, S. 90. 108 Foucault 1977/78, S. 20; vgl. Foucault 1978/79, S. 90 ff. 109 Muhle 2008, S. 245. 110 Link 2006, S. 117, 360 f. 111 Ewald 1991, S. 182 ff.; Link 2006.
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durch, so Demirović, die zeigt, dass Freiheit und Sicherheit keinen Gegensatz bilden und die Sicherheitstechnologien eine gewisse Freiheit verwalten und einsetzen:112 „Die Freiheit ist nur das Korrelat der Einsetzung von Sicherheitsdispositiven.“113 Die Macht arbeitet hier nicht primär ausgrenzend oder verbietend, sondern lässt die Dinge in einem gewissen begrenzten Rahmen geschehen. Eine primär ökonomische Freiheit, die „Zirkulationsfreiheit“, d. h. die Zirkulation von Bewegung, Leuten und Dingen, soll gewahrt werden. Wie es Castel in seiner Arbeit – das Foucault als „das augenscheinlich grundlegende, unverzichtbare, um jeden Preis zu lesende Werk“114 charakterisiert – sagt: Neben die ‚freie‘ Zirkulation der Güter tritt im Liberalismus eine ‚freie‘ Zirkulation der Menschen, eine Freiheit innerhalb eines rationalen Kontrollnetzes.115 Der Liberalismus als „Manager der Freiheit“ braucht also gewisse Freiheiten, er muss die „Freiheit des Marktes, Freiheit des Verkäufers und des Käufers, freie Ausübung des Eigentumsrechts […]“116 garantieren bzw. einsetzen und umgekehrt gewisse Sicherheiten einrichten, damit die Freiheiten im Zaum gehalten werden. Die „gewaltige Ausweitung von Verfahren der Kontrolle, der Beschränkung, des Zwangs“ sind das „Gegenstück und Gegengewicht der Freiheiten“.117 Freiheit und Sicherheit bedürfen einander und in Bezug auf die Normalisierung kann man mit Demirović sagen: „Die Freiheiten müssen angereizt werden, aber doch in einer Weise, dass sie innerhalb eines Korridors von Normalverteilungen bleiben – dazu dient eine Politik der Sicherheit […].“118
Und das betrifft das liberale Vertragssubjekt und jene, die aus den Grenzen des Akzeptablen herausfallen. Letztere wie z. B. Wahnsinnige oder Kriminelle gelten als gefährlich und werden Objekte disziplinärer Einschließungen oder rassistischer Maßnahmen.119 Freiheit als „Ideologie und Technik der Regierung“ ist also kein normativer Begriff, vielmehr zeigt Foucault einfach, welche Form von Freiheit eingesetzt wird – es ist also kein affirmativer Bezug auf den Liberalismus am Werk.120
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Foucault 1977/78, S. 77 ff.; Foucault 1978/79, S. 97 ff.; Demirović 2008, S. 248. Foucault 1977/78, S. 78. Foucault 1977/78, S. 175. Vgl. Foucault 1977a. Castel 1976, S. 41 f. Foucault 1978/79, S. 97. Foucault 1978/79, S. 102. Demirović 2008, S. 248. Castel nennt z. B. die Figuren des Verbrechers, des Kindes, des Bettlers, des Proletariers und des Wahnsinnigen in Bezug auf das 19. Jahrhundert (Castel 1976, S. 42 ff., 86). Ludwig verweist mit Lorey und Sarasin darauf, dass das Subjekt des 19. Jahrhunderts, das zum Eigentümer über seinen Körper wird und sich an der Normalität ausrichtet, und darüber hinaus vor allem ein männliches und weißes ist (Ludwig 2011, S. 114 ff.). Krasmann/Opitz verweisen auf mehrere Grenzziehungen von Sicherheitsmechanismen, auch in Bezug auf gegenwärtige Gesellschaften (Krasmann/Opitz 2006, S. 133 ff.). 120 Foucault 1977/78, S. 78. Vgl. Sarasin 2005b, S. 103, Muhle 2008, S. 272, Demirović 2008, S. 243. Demirović und Muhle wenden sich gegen affirmative Lektüren, als ob hier der „Aus-
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Foucaults Analysen bleiben zumeist auf die Vergangenheit beschränkt. Was das Thema der Normalität im 20. Jahrhundert anbelangt, haben Autoren parallel und nach Foucault weitergearbeitet. So hat z. B. Castel ein flexibleres Normalitätsverständnis, wie es bei Foucault in den Gouvernementalitäts-vorlesungen thematisiert wurde, vor allem in Bezug auf die Psychiatrie ausbuchstabiert. Dabei zeigt er, dass die strikte Grenze zwischen normal und anormal im 20. Jahrhundert immer mehr zu einer durchlässigen Unterscheidung wird, da sich die Anormalität in ein Feld verschiedener gradueller Behinderungen und Störungen verwandelt, das auch mit weicheren Interventionsformen behandelt bzw. präventiv verwaltet wird. Umgekehrt wird die Normalität zu einem therapiebedürftigen Feld, sodass der Einzelne permanent an sich arbeiten, sich selbst mittels psychologischer Techniken managen muss („die Therapie für Normale“) und das ganze Alltagsleben psychiatrisiert wird.121 Die „postdisziplinäre Ordnung“, wie es Castel nennt und die Deleuze als „Kontrollgesellschaft“ bezeichnet, verlagert sich dabei von der Verwaltung von einzelnen gefährlichen Individuen zur Verwaltung von Risikogruppen, sodass die Interventionsformen immer indirekter werden.122 Castel ist pessimistisch, da für ihn in dieser postdisziplinären Ordnung des Liberalismus viel von dem verlorengehen könnte, „was wir – man möge uns die altmodische Wendung verzeihen – die Freiheit nennen wollen“.123 Link ist hier dagegen nüchterner: Er hat in seiner Normalismus-Theorie herausgearbeitet, wie diese von ihm als flexibler Normalismus bezeichnete Entwicklung sich im 20. Jahrhundert in vielen Feldern durchgesetzt hat – als Strategie, mit der das Anormale zunehmend integriert bzw. zu einem graduellen Unterschied wird, auch wenn sie sich gerade in den letzten Jahren mit rigiden Grenzziehungen, der Einrichtung von rechtsfreien Räumen und der disziplinären Einschließungen auf neue Weise verbunden hat.124 Aber der flexible Normalismus ist im Vergleich zum Protonormalismus als das kleinere Übel vorzuziehen, auch wenn Normalismen „Prokrustesbetten“ sind.125
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gangspunkt für die normative Begründung der Freiheit“ (Demirović 2008, S. 243) späterer Texte gefunden werden kann. Castel 1976, S. 18, 22 ff., 308 ff.; Castel 1981/2011, S. 163 ff.; Castel/Castel/Lovell 1979, S. 299 ff.; Castel 1973, S. 187. Vgl. Foucault 1977a. Siehe zusammenfassend Link 2006, S. 135–143, 400–407. Castel 1983; Deleuze 1990. Interessant ist, dass Castel schon in Psychoanalyse und gesellschaftliche Macht (1973), auf das Foucault immer wieder verweist (auch in Überwachen und Strafen), weichere Machttechniken und die „große Aufschließung“ analysiert hat, also das Unwichtigerwerden der Einschließungsmilieus (Castel 1973, S. 184–212; im Deutschen wird dies als die „große Öffnung der Institution“ übersetzt, womit jedoch der Bezug zu Foucaults „großer Einschließung“ aus der Geschichte des Wahnsinns verlorengeht – siehe Link 2006, S. 141). Auch in Deleuzes Kontrollgesellschaften werden die Einschließungsmilieus immer unwichtiger. Für Link ist der Begriff Kontrollgesellschaft nicht so tauglich, um Gegenwartsgesellschaften zu analysieren (Link 2005; Link 2008, S. 246). Castel/Castel/Lovell 1979, S. 345. Siehe zur unmittelbaren Gegenwart auch Castel 1981/2011, S. 7–13. Vgl. Balke 2002; Link 2002; Krasmann/Opitz 2007. Link 2006, S. 361, 400–407; Link 2002, S. 287.
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Was kann man nun der Normalisierung entgegensetzen? Autoren wie Menke, Butler oder Waldenfels haben ein allgemeineres Normalisierungskonzept. Waldenfels setzt als Korrektur zu einem Normalismus, der den Primat des Normalen bedeutet, auf das Fremde, das sich mit dem Anormalen kreuzt – es macht aber für ihn keinen Sinn, gegen Normalisierung zu sein, da diese eine Konstituens von Erfahrung ist.126 Ähnlich ist es für Menke, für den Normalisierung/Disziplinierung die Abrichtung auf soziale Regeln bedeutet.127 Die Disziplinierung ist die Voraussetzung, um ein Subjekt entstehen zu lassen, das etwas vermag, d. h. die praktische Freiheit. Aus Kräften, die über das Subjekt hinausgehen, entsteht erst ein Subjekt. Dies mündet jedoch in einem Paradox, da Disziplinierung qua Normalisierung und praktische Freiheit sich bedingen und widersprechen. Aus diesem Paradox führt für Menke die ästhetische Freiheit als Spiel der Einbildungskraft: Diese darf nicht fetischisiert werden, ästhetische und praktische Freiheit setzen einander voraus und bekämpfen einander, aber die ästhetische Freiheit steht für die „Befreiung von der Normalität und Gewohnheit der sozialen Praxis“.128 Auch für Butler bedeutet Subjektivierung, Normen unterworfen zu werden, die erst ein anerkennungswürdiges Subjekt schaffen, auch wenn es diese Normen und deren Ausschlüsse zu befragen und verändern gilt.129 All diese Ansätze können sich dabei auf Foucault berufen.130 Wenn unter Normalisierung jedoch nicht Normen in einem allgemeinen Sinn gemeint sind (wie bei Menke oder Butler), sondern bestimmte Normen (wie hier und bei Link), so kann man auch die Frage nach einem Jenseits der Normalisierung in einem historischen Sinn stellen. Link z. B. spricht von „Polyeurhythmie“ und „Transnormalismus“ und schließt an Gedanken von Goldstein und Canguilhem von einer „individuellen Norm“ an, um auf Alternativen zur gegenwärtigen Kopplung von Normalismus und Kapitalismus zu verweisen.131 Oben wurde gesagt, dass bei Foucault lange Zeit eher implizit von Freiheit gesprochen wurde. Dennoch, so Gehring: „Nimmt man Foucaults durchgehendes Interesse am Drama der Abweichung und des Ausschlusses sowie vor allem am Skandal des Schweigens ernst, so ist von Freiheit auch dort die Rede, wo das
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Waldenfels 1998, S. 7 ff.; Waldenfels 2001, S. 131–158. Menke 2003b, S. 296 ff.; Menke 2013, S. 151 ff. Menke 2013, S. 157. Butler 2001, S. 25 ff.; Butler 2003, S. 63 ff. Von der Theorie der flexiblen Normalisierung her könnte man fragen, ob Butler nicht zu stark an der Disziplinierung und einer harten Grenze von normal und anormal orientiert ist, sodass das Anormale der Bereich ist, von wo Subversion erhofft wird. Die Frage, die sich stellt, ist, ob in Zeiten der flexiblen Normalisierung dies noch so ist. 130 Hier wäre auch auf die Versuche zu verweisen, die aus dem Anomalen (auch Waldenfels verwendet diesen Begriff) oder der Ansteckung – oben wurde ja darauf verwiesen, dass z. B. die Disziplinen/Normalisierung gegen die Ansteckung und die ungeordnete Menge gerichtet sind – Denkmotive für eine kritische (politische) Theorie gewinnen (siehe Deleuze/Guattari 1980, S. 329 ff.; Lorey 2011, S. 14 ff., 281 ff.). 131 Link 2013, S. 113, 210, 238 ff.; vgl. Demirović 2008, S. 249.
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Wort Freiheit nicht fällt.“132 Expliziter wird das Thema jedoch erst später, was hier nur mehr angedeutet sei. Den Widerstand, der bei Foucault immer schon im Machtbegriff impliziert ist, hat er in Texten der 1980er-Jahre als Freiheit gefasst, da Macht als Einwirken auf das Handeln anderer immer schon einen Spielraum von Möglichkeiten voraussetzt – Macht als Können und Freiheit als ein Spielraum von Möglichkeiten gehören zusammen.133 Dies sind natürlich sehr formale und allgemeine Bestimmungen, für Martin Saar ist es „ein relativ rudimentärer Sinn von Freiheit als Möglichkeit“ bzw. ein „unbestimmt-negativer Sinn von Freiheit“, was Foucaults historischem Philosophieren entspricht, der ‚nur‘ bestimmte historische Ordnungen (Subjekttypen etc.) analysiert, um sie zu delegitimieren.134 Die antiken Selbsttechniken und die „Praktiken der Freiheit“ als Konstitution eines Selbst, das auch gewisse Freiheitsspielräume beinhaltet, die er in den 1980er Jahren untersucht, können jedoch indirekt auf das Thema der Normalisierung bezogen werden: Sie bilden einen historischen Kontrastpunkt zu den normalisierenden Selbsttechniken der Gegenwart als die Form von Subjektivität, „die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt“ und die es zurückzuweisen gilt, auch wenn es für Foucault kein Zurück zu den Griechen gibt und keine Übertragung in die Gegenwart.135 Canguilhem kann daher Foucaults späte Texte, auch wenn das Thema der Normalisierung explizit kaum vorkommt, so charakterisieren: „Der Normalisierung zugewandt und gegen sie gerichtet.“136 Dieser Text entstand im Rahmen des vom Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojekts „Topographien des Körpers“ (P 25977-G22).
132 Gehring 2012, S. 30. 133 Foucault 1982; Foucault 1984b. Vgl. Saar 2007a, S. 277 ff.; Ricken 2006, S. 45 ff., 75 ff.; Patton 1998. 134 Saar 2007a, S. 280, 285. Vgl. Gehring 2012, S. 27. 135 Foucault 1982, S. 280. So betont er z. B., dass gewisse antike Ethiken nicht normalisierend sind oder wendet er sich gegen einen Kult des Selbst, der in Psychologie und Humanwissenschaften sein Heil sucht (Foucault 1983, S. 462 f., 487; vgl. auch Menke 2003b). 136 Canguilhem 1991, S. 66. Vgl. dazu Dreyfus/Rabinow 1987, S. 299 ff. Analog analysiert Gelhard Selbstprüfungsverfahren bei Kant und Hegel (auch mit Foucault) als Alternative zu und Kritik an den psychologisierenden und normalisierenden Kompetenzdiskursen der Gegenwart (Gelhard 2011).
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DIE UMSCHREIBUNG DER FREIHEIT BEI FOUCAULT: AUF DER SUCHE NACH EINEM NEUEN RECHT Yu-Lin Chiang
1. MACHTKRITIK UND SUCHE NACH EINEM NEUEN RECHT Seitdem Foucault die Positivität und Produktivität der Macht von der Technologie her analysiert hat, ist er auch davon überzeugt, dass die Menschen sich in den Maschen der Macht verfangen haben, in denen asymmetrische Machtbeziehungen vorherrschten. Dennoch sind diese asymmetrischen Machtbeziehungen für Foucault nicht ein für allemal gegeben. Sie sind vielmehr Teil von strategischen Spielen und können durch bestimmte Kampfstrategien geändert werden. Unter Berücksichtigung dieser strategischen Machtspiele beschäftigt sich Foucault in seiner Machtanalytik daher nicht allein mit der Frage, unter welchen wirtschaftlich-politischen Bedingungen und mittels welcher Macht- oder Regierungstechniken die asymmetrischen Machtbeziehungen zustande gekommen sind, sondern auch damit, wie man neue Machtbeziehungen schaffen kann, um nicht mehr wie bisher regiert werden zu müssen.1 Während es sich bei der ersten Frage um das Verhältnis zwischen „ratio und Macht“ handelt, das heißt um das Verhältnis zwischen dem Vorgang spezifischer Rationalisierung in Bereichen wie Wahnsinn, Krankheit, Armenfürsorge, Verbrechen, Sexualität und der entsprechenden Machtsteigerung, geht es bei der zweiten Frage um die Machtkritik.2 Erst durch diese Machtkritik und den entsprechenden Kampf und Widerstand vervollständigt sich die Machtanalytik Foucaults. Die Machtkritik ist also nicht nur das Endziel der Machtanalytik, sondern auch ihr Ausgangspunkt. Um die Übergriffe der Macht zu bekämpfen, hat Foucault eine Gegenstrategie der anarchistischen Anthropologie entwickelt.3 Statt der Präsentation eines regulativen politischen Programms, unter dessen Anleitung bestimmte Institutionen abgeschafft, modifiziert oder eingeführt werden müssen, strebt diese anarchistische Anthropologie nach einem ständigen Kampf, der die bestehenden asymmetrischen Machtverhältnisse unablässig provoziert und die von ihnen bestimmten Grenzen immer in Frage stellt.4 „Wo es Macht gibt“, sagt Foucault, „gibt es Widerstand.“5 1 2 3 4 5
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Für Foucault ist der Widerstand keine „Negativform“, „die letzten Endes immer nur die passive und unterlegene Seite sein wird“. In den Machtbeziehungen ist er vielmehr „die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber“. Nur dank einer Vielfalt von Widerstandspunkten könnten die Machtbeziehungen existieren, für die sie die Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren spielen. Nur wegen der „mobilen und transitorischen Widerstandspunkte“, die überall im Machtnetz präsent sind, werden sich verschiebende Spaltungen und Umgestaltungen in eine Gesellschaft eingeführt, Einheiten zerbrochen und Umgruppierungen hervorgerufen, durch die die strategischen Machtpositionen des Individuums neu arrangiert werden können.6 Trotz dieses anarchistischen Kampfes hat Foucault eine ungewöhnliche Konzeption der Suche nach einem neuen Recht präsentiert. In seinen 1976 unter dem Titel Il faut défendre la société am Collège de France gehaltenen Vorlesungen findet sich diese rätselhafte Konzeption. In der Vorlesung vom 14. Januar sagt Foucault: „Im Kampf gegen die Disziplinen oder vielmehr gegen die Disziplinarmacht, auf der Suche nach einer nicht-disziplinarischen Macht, sollte man sich besser nicht an das alte Recht der Souveränität wenden; eher an ein neues Recht, das anti-disziplinarisch, aber zugleich vom Prinzip der Souveränität befreit wäre.“7
Warum kommt Foucault auf die Idee der Suche nach einem neuen Recht? Will er damit sagen, dass die ständige Provokation nicht mehr ausreicht, um gegen die Disziplinarmacht zu kämpfen, und dass man deswegen eines anderen Rechts bedarf, um diesen Kampf fortsetzen zu können? In derselben Vorlesung, in der diese Idee der Suche nach einem neuen Recht auftaucht, erklärt Foucault außerdem seinen Gebrauch des Begriffs des Rechts. Er misst diesem eine sehr weite Bedeutung zu, nämlich: „[W]enn ich Recht sage, denke ich nicht nur an das Gesetz, sondern an die Gesamtheit der Apparate, Institutionen und Verordnungen, die das Recht zur Anwendung bringen.“8
Wenn man dieses sehr weite Verständnis des Rechts zusammen mit der Suche nach einem neuen Recht betrachtet, was ist dann daraus zu schließen? Spiegelt diese Konzeption der Suche nach einem neuen Recht den Bedarf an einem regulativen politischen Programm wider, das eine andere Art von rechtlichen Apparaten, Institutionen und Gesetzgebungen anbieten könnte, damit sich die bestehenden Wechselwirkungen von Macht, Wahrheit und Recht in den neuen Rechtsdispositiven zersetzen? Ein neues Recht als solches – in dieser objektiv-institutionellen Art und Weise – kann in Foucaults anarchistischer Politik eigentlich nicht akzeptiert werden. Denn der politische Kampf ist für Foucault Selbstzweck. Was nach dieser anarchistischen Politik konkret zu tun ist, ist nicht der Aufbau eines alternativen institutionellen politischen Projekts, sondern der ständige Kampf und Wi-
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Foucault 1998, S. 117 f. Foucault 1999, S. 50. Foucault 1999, S. 35.
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derstand. Wenn die Suche nach einem neuen Recht auf kein politisches Projekt gerichtet ist, dem zufolge eine neue objektive Rechtsordnung programmiert werden sollte, nach welcher neuen Art von Recht, das weder dem Prinzip der Souveränität noch der Disziplin unterworfen ist, sucht Foucault dann eigentlich? Kann man diese Suche nach einem neuen Recht von der Suche nach einer Art subjektiven Rechts her analysieren? Falls ja, wie sollte diese neue Art subjektiven Rechts weiter gedacht werden? In welchem Zusammenhang steht sie mit der anarchistischen Politik Foucaults? Meint sie bereits die Revision seiner anarchistischen Politik? Erst nachdem das Forschungsinteresse Foucaults sich auf die Themen der Gouvernementalität und der Ethik (der Praxis der Freiheit) verschoben hat, werden diese rätselhaften Fragen eine nach der anderen entschlüsselt. Die Suche nach einem neuen Recht sollte mit einer neuen Art subjektiven Rechts beginnen. Diese neue Art subjektiven Rechts ist nämlich das, was später von Foucault als das Recht des Regierten bezeichnet und in den Augen mancher Kommentatoren als eine neue Art von Menschenrecht interpretiert wird.9 2. PRAXIS DER FREIHEIT UND EINE ANDERE ART DER MENSCHENRECHTE Während Foucault sich zur makrophysikalischen Dimension der Machtsteigerungen durch die Gouvernementalisierung des Staates hin wendet und versucht, die Machtverhältnisse vom Regieren her, verstanden als Führen der Führungen, erneut zu betrachten, richtet er seine Aufmerksamkeit zugleich auf die Praxis der Freiheit. Er möchte darauf hinweisen, dass Macht und Freiheit sich nicht in einem Ausschließungsverhältnis (wo immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit) gegenüber stehen. Vielmehr ständen Freiheit und Macht immer in einem sehr viel komplexeren Verhältnis, in dem die Freiheit sich nicht nur als die Existenzbedingung der Macht, sondern auch als die Quelle aller Kämpfe gegen die Macht präsentiert.10 Durch diese kritische Praxis der Freiheit lässt sich die Forschungsarbeit Foucaults schließlich nicht nur an das Thema der Aufklärung anschließen, sondern auch weiter als die historisch-kritische Ontologie des Selbst definieren. In seiner Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ bezeichnet Kant die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Die Ursache dieser Unmündigkeit liegt nach Kant nicht „am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes“, seine eigene Freiheit und Vernunft ohne die Anweisung irgendeiner Autorität zu gebrauchen.11 Während Kant die Kritik als Handbuch des legitimen Gebrauchs der Freiheit und Vernunft betrachtet und sich nur dafür interessiert, welche Grenzen für den Gebrauch
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Vgl. Taureck 1997, S. 119 f.; Osborne 1999, S. 53. Vgl. Foucault 1987, S. 256. Kant 1991, S. 53.
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der Freiheit und Vernunft nicht überschritten werden dürfen, sucht Foucault nach einem anderen Ethos der Kritik, indem er fragt, wie die Überschreitung der bestehenden Grenzen überhaupt möglich ist, damit wir nicht länger dabei bleiben, was wir sind, tun oder denken. Genau in diesem anderen Ethos der Kritik konstituiert sich „eine Ontologie unserer selbst“.12 Mittels dieser Ontologie und der entsprechenden Selbsttechniken lernt man nicht nur, wie man den rechten Gebrauch seiner Freiheit reflektieren und praktizieren kann, sondern auch, wie man sich als freies Wesen mit der Ästhetik seiner Existenz innerhalb der asymmetrischen Machtverhältnisse beschäftigen kann.13 Angesichts der sich immer mehr verbreitenden Machtsteigerungen glaubt Foucault nicht mehr allein an den anarchistischen Kampf, sondern darüber hinaus an die Freiheit der Menschen, die sich einen effektiveren Widerstand gegen jenen verbreiteten Typ von Macht leisten könnten.14 Aufgrund der Freiheit und der dadurch zustande gebrachten neuen Form der Subjektivität seien die Menschen nun in der Lage, andere Lebensweisen zu bestimmen und zu entwickeln.15 Genau deshalb hat sich Foucault zuletzt von seiner anarchistischen Anthropologie verabschiedet und begonnen, die Suche nach einer neuen Subjektivität durchzuführen.16 Bei diesem Kampf für eine neue Subjektivität ist zwar von keinem regulativen politischen Programm die Rede, unter dessen Anleitung bestimmte Institutionen und Gesetze neu organisiert werden sollten, aber doch von einer ethischpolitischen Arbeit, durch die der Einzelne eine relative Autonomie gegenüber den sozialen und politischen Verhältnissen gewinnen sollte.17 Diese ethisch-politische Arbeit, die ständig auf die Suche nach einer neuen Subjektivität und einer alternativen Lebensweise gerichtet ist und darum als nichts anderes als die Praxis der Freiheit angesehen wird, ist für Foucault die einzige effektive Garantie für die Freiheit selbst. Über seinen festen Glauben an die Freiheit hat sich Foucault in einem Interview geäußert: „[T]here may, in fact, always be, a number of projects whose aim is to modify some constraints, to loosen, or even to break them, but none of these projects can, simply by its nature, assure that people will have liberty automatically: that it will be established by the project itself. The liberty of men is never assured by the institutions and laws that are intended to guarantee them. This is why almost all of these laws and institutions are quite capable of being turned around.”
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Foucault 1984a, S. 11; vgl. auch Foucault 1990, S. 40 f., 48 f. Foucault 1993a, S. 12-15; Foucault 1990, S. 48-53. Vgl. Foucault 1993b, S, 21; Bernauer/Mahon 1994, S. 599. Die homosexuelle Lebensweise, die in der abendländischen Gesellschaft lange sittlich und rechtlich herabgewürdigt wurde, ist eine der möglichen Lebensweisen, die Foucault zu bestimmen und zu entwickeln versucht. Vgl. Foucault 1984b, S. 89, 109 f.; Foucault 1987, S. 250. Vgl. Fink-Eitel 2002, S. 125; Marti 1999, S. 131. Vgl. Fink-Eitel 2002, S. 125; Bernauer/Mahon 1994, S. 599; Detel 1998, S. 13; Patton 1995, S. 358; Dumm 1996, S. 137, 141-144.
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“[O]nce again, I think that it can never be inherent in the structure of things to guarantee the exercise of freedom. The guarantee of freedom is freedom.”18
Eingedenk dieses festen Glaubens an die Freiheit werden die Menschenrechte, die nach Foucault keine transzendentale Substanz darstellen und in ihrer Praxis schon mit dem Macht-Wissen-Komplex verbunden worden sind, in der letzten Phase der Machtanalytik Foucaults wieder thematisiert. Anstatt über die Frage zu diskutieren, kraft welcher Machtmechanismen bestimmte Formen der Wahrheit und Ethik zum Muster der Menschenrechte erklärt werden, geht es Foucault nun darum, ob es mehr mögliche Freiheiten und weitere zukünftige Erfindungen in Form der Menschenrechte geben könnte, denen zufolge die Menschen nicht mehr regiert würden und eine ihnen eigene Lebensweise entfalten könnten. Foucault ist der Meinung, dass wir die Menschenrechte nicht unbedingt fallen lassen müssen.19 Trotz ihrer Verflechtung mit den bestehenden Mechanismen von Macht und Wissen seien die Menschenrechte nun auch in der Praxis der Freiheit, und zwar im Kampf für eine neue Subjektivität, strategisch positiv einsetzbar. Diesmal werden die Menschenrechte nicht mehr als die allgemeinen Rechte angesehen, die angeblich alle Einzelnen einfach kraft ihres Status als Menschen besitzen würden. Vielmehr gelten sie als die Rechte des Regierten, die den Menschen allein wegen ihres in den asymmetrischen Machtverhältnissen auferlegten Status des Regierten zukommen.20 Dank dieses Status des Regierten sind wir alle nach Foucault sowohl solidarisch als auch berechtigt, uns gegen die Macht der Regierenden zu erheben, welche vor allem durch diejenigen ausgelöst werden, die sich als die Regierenden unter dem Deckmantel des Glücks der Gesellschaft das Recht anmaßen, „das Unglück der Menschen als Gewinn oder Verlust zu rechnen, das ihre Entscheidungen hervorruft oder das ihre Nachlässigkeiten erlaubt“.21 3. SPIEL DER PARRHESIA UND RECHT DES REGIERTEN Das, womit der Regierte gegen die Macht der Regierenden kämpfen kann, ist die Tätigkeit der sogenannten parrhesia, die nach Foucault schon seit der Antike eine entscheidende Rolle in der westlichen kritischen Tradition gespielt hat.22 Das Wort parrhesia, das aus dem Griechischen stammt, wird im Englischen gewöhnlich mit free speech und im Deutschen mit Freimütigkeit oder Aufrichtigkeit über-
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Lotringer 1996, S. 339 f.; vgl. Foucault 1993b, S. 21. Foucault 1993b, S. 22. Vgl. Osborne 1999, S. 53. Vgl. Taureck 1997, S. 120; Osborne 1999, S. 53. Unter Berücksichtigung der Solidarisierbarkeit, der zufolge alle Regierten sich verbinden können, wird das Recht der Regierten von Foucault auf die internationale Ebene gebracht und einer internationalen Staatsbürgerschaft unterstellt, „die ihre Rechte und Pflichten hat und dazu verpflichtet [ist], sich gegen jeden Machtmissbrauch zu erheben, gleichgültig wer der Urheber [ist] oder wer die Opfer sind“. Zitiert von Taureck 1997, S. 120. Foucault 1984b, S. 139.
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setzt.23 Foucault zufolge bezeichnet das Wort parrhesia einerseits ein Spiel von Wahrheit, in dem manchen Leuten die Freiheit zukommt, die Wahrheit zu sprechen, und andererseits ein Spiel von Risiko, in dem der Sprecher wegen seiner Wahrheitsäußerung, die von den Regierenden immer als Kritik betrachtet wird, eine gewisse Gefahr der Bestrafung oder gar des Todes eingehen muss.24 Zusammenfassend lässt sich sagen, „dass parrhesia eine Art von verbaler Tätigkeit ist, bei der der Sprecher dank seiner Freimütigkeit eine spezielle Beziehung zur Wahrheit hat, durch die Gefahr eine spezielle Beziehung zu seinem eigenen Leben, und durch die Kritik (Selbstkritik oder Kritik anderer Menschen) eine spezielle Beziehung zu sich selber oder zu anderen Menschen, und durch die Freiheit und die Pflicht eine spezielle Beziehung zum moralischen Gesetz.“25
Durch die genealogische Erforschung der Praxis der parrhesia seit der Antike möchte Foucault die Antwort darauf finden, wie die kritische Haltung im Westen entstanden ist, welche Problematisierungsphasen sie bisher durchlaufen hat, wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse) in der Praxis der Kritik zum Problem wurden.26 Auf diese Weise hat Foucault die kritische Tradition der abendländischen Gesellschaften mit seiner Machtanalytik (inklusive seiner Praxis der Freiheit) geschickt in Zusammenhang gebracht, und genau in diesem Zusammenhang hat er auch seine Konzeption des Rechts des Regierten erarbeitet. Demzufolge ist das Recht des Regierten nichts anderes als das Recht der parrhesia. Konkret bedeutet dies folgendes: In seinem negativen Sinne gilt das Recht des Regierten als die Berechtigung, Anfragen an die Regierung zu stellen – „im Namen des Wissens und der Erfahrung, die er als Staatsbürger besitzt“. Damit kann der Regierte fragen, „was der andere macht, fragen nach dem Sinn seines Handelns und nach den Entscheidungen, die dieser gefällt hat“. Dies ist für Foucault „das gute Recht, Fragen nach der Wahrheit zu stellen“.27 In seinem positiven Sinne ist das Recht des Regierten zugleich das Recht der Redefreiheit und der Kritik, die es gestatten alles auszusprechen, was in den bestehenden Macht- und Regierungsverhältnissen wirklich passiert und unerträglich ist. Dieses durch die parrhesia entstehende Recht des Regierten, das einerseits mit dem Verlangen nach Wahrheit, der Redefreiheit und der Kritik verbunden ist und andererseits dem Regierten nach einer neuen Subjektivität und einer anderen Lebensweise streben hilft, ist gleichermaßen die Fortsetzung und die Umschreibung des anarchistischen Kampfs des frühen Foucault. Als Foucault sich Anfang der 1970er Jahre mit dem GIP (Arbeitskreis zur Information über die Gefängnisse) beschäftigte, hat er in seinem Kampf gegen das sich immer dichter zusammenziehende Netz polizeilicher Überwachung schon eine bestimmte Form von
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Foucault 1996b, S. 9; vgl. auch Eribon 1993, S. 477. Vgl. Foucault 1996b, S. 10-18. Foucault 1996b, S. 19. Foucault 1996b, S. 178. Foucault 1984b, S. 139.
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parrhesia verlangt, obwohl diese ihm damals noch gar nicht bekannt war.28 In seinem ersten Heft, das im Mai 1971 mit dem auffallenden Titel Intolérable erschien, hat der GIP seine Motive und Ziele folgendermaßen geschildert: „Nur wenige Informationen dringen aus den Gefängnissen; sie sind eines der am besten versteckten Gebiete unseres Sozialsystems; sie ähneln einer Blackbox unseres Lebens. Wir haben das Recht auf Wissen, und wir wollen wissen. […] Wir wollen wissen, was das Gefängnis ist: wer dort hineinkommt, wie und warum man dorthin kommt, was dort geschieht, wie die Gefangenen und auch wie die Aufseher leben, wie die Baulichkeiten beschaffen sind, wie es um das Essen, die Hygiene, die internen Regelungen, die ärztliche Versorgung und die Werkstätten bestellt ist, wie man dort wieder herauskommt und was es heißt, nach der Entlassung aus dem Gefängnis in unserer Gesellschaft zu leben.“29 „Es handelt sich nicht um eine soziologische Untersuchung. Vielmehr sollen Menschen zu Wort kommen, die Erfahrung mit dem Gefängnis haben. […] Unsere Untersuchung soll nicht unser Wissen vermehren, sondern unsere Intoleranz stärken und zu einer aktiven Intoleranz machen. Werden wir intolerant gegenüber den Gefängnissen, der Justiz, dem Krankenhaussystem, der psychiatrischen Praxis, dem Militärdienst usw.“30
In der Transformation des Rechts auf Bescheidwissen zum Recht des Regierten, dem zugleich die Praxis der Freiheit und der parrhesia zugrunde liegen, hat Foucault endlich die von ihm 1976 angekündigte Arbeit der Suche nach einem neuen Recht abgeschlossen. Mittels dieses neuen Rechts als das Recht des Regierten sollte nicht nur ein effektiverer Widerstand gegen einen verbreiteten Typ von Macht eingeführt werden. Auf die Basis dieses neuen Rechts des Regierten werden zugleich der von Foucault später kundgetane Kampf für eine neue Subjektivität und der Versuch einer anderen Lebensweise gestellt. Alles bisher Gesagte zu den späteren Arbeiten Foucaults, von der Praxis der Freiheit über die neue Art von Menschenrechten, das Recht des Regierten bis zur parrhesia, weisen darauf hin, dass Foucault in der letzten Phase seiner Arbeit nicht mehr bei seiner anarchistischen Anthropologie bleibt, sondern sich schon einer „postmodernen Utopie der Lebenskunst“ zuwendet, besser, einer „Vision der Vielfältigkeit und Pluralität, die die ‚Ein-Heils-Imaginationen‘ der Moderne ablöst“.31 Gleichwohl ist es keine einfache Aufgabe, diese postmoderne Idee der Lebenskunst für alle Regierten allein mittels des Rechts des Regierten und ohne weitere institutionelle Unterstützung zu leben. Es ist ja nicht leicht, die Wahrheit zu sagen und von der Regierung die Wahrheit zu verlangen, insbesondere dann nicht, wenn man sich in einem tyrannischen oder totalitären Regime befindet. In einem solchen Extremfall ist der Gebrauch der parrhesia oder des Rechts des Regierten
Zum Beispiel hat sich Foucault im Zuge der Affäre Jaubert auf Artikel 15 berufen, der in der Menschenrechtserklärung von 1789 niedergelegt ist, um Rechenschaft über die Wahrheit von der Polizei zu verlangen. Artikel 15 lautet: „Die Gesellschaft hat das Recht, von jedem Inhaber eines öffentlichen Amtes Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen.“ Vgl. Defert/Ewald 2002, S. 242, 246, 523. 29 Defert/Ewald 2002, S. 212 f.; vgl. auch Eribon 1993, S. 318 f. 30 Defert/Ewald 2002, S. 213 f. 31 Schroer 1996, S. 136, 160. 28
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immer gleichbedeutend mit einem Spiel auf Leben und Tod. Die Praxis der parrhesia, wie Foucault sie uns gezeigt hat, ist deswegen immer mit Mut verbunden. In diesem Sinne kommt der Gebrauch der parrhesia allein demjenigen zu, der den Mut hat, das Risiko des Spiels der parrhesia einzugehen.32 Wenn der Gebrauch des Rechts des Regierten aber nur auf dem ethischen Mut des einzelnen basiert und nicht durch eine institutionelle Mindestbedingung unterstützt wird, ist der Kampf gegen die Machtmechanismen dann noch so effektiv fortzusetzen, wie sich Foucault das gedacht hat? Wird das Recht des Regierten am Ende nicht zu einer leeren Idee, die nichts anderes als ein schöner moralischer Appell ist? Aufgrund dieser praktischen Schwierigkeiten stellt sich die Frage, ob man dem Recht des Regierten mit Hilfe der Unterstützung durch eine institutionelle Mindestbedingung eine andere objektiv-rechtliche Geltung verleihen kann, damit der Gebrauch dieses Rechts nicht willkürlich durch die Regierung mit irgendeinem Verwaltungs- und Strafmittel ausgeschlossen werden kann. Nur wenn die Regierung überhaupt an das Recht des Regierten als das objektive Recht gebunden ist, besteht die Chance, dass das Recht des Regierten von einem moralischen Appell zu einem wirklichen Recht wird.33 Diejenige institutionelle Mindestbedingung, durch die erst die objektiv-rechtliche Geltung des Rechts des Regierten garantiert werden kann, ist das, was ich den Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates nennen möchte. Durch die Berufung auf diesen Doppeldisziplinierungsmechanismus wird die Diskussion über die positive Rolle des Verfassungsstaates im Kampf gegen die Übergriffe der Macht wieder angeregt. 4. DOPPELDISZIPLINIERUNGSMECHANISMUS DES VERFASSUNGSSTAATES Nach Foucault richtet sich die Dizsiplinierung vor allem auf den Körper. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Disziplin oder die Dizsiplinierung bereits zu einer Art gemeinsamer Sprache und Kommunikation zwischen allen Arten von Apparaten und Institutionen geworden ist, die einer effektiven Form der Kontrolle dringend bedürfen. Ein gutes Beispiel dafür wäre die Disziplinierung der Staatsmacht, die durch den Verfassungsstaat in Gang gesetzt wird. Die Disziplinierung der Staatsmacht beginnt mit dem Aufbau einer auf die Transparenz der Staatsmacht abzielenden optischen Disziplinararchitektur, in der jede Einzelheit staatlichen Handelns ihren fest zugewiesenen Platz erhält und daher gezwungen ist, sich den hierarchischen und überkreuzten Überwachungen zu unterwerfen. In dieser optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates wird die Transparenz der Staatsmacht zunächst durch den Prozess der Verrechtli32 33
Vgl. Foucualt 1996b, S. 14 f. Im Unterschied zum bloß moralischen Appell im Hinblick auf ein wirkliches Recht, geht der Verfassungsstaat, wie es Martin Kriele geschildert hat, auf die Einsicht, „[…] dass menschenrechtliche Forderungen in der Wirklichkeit nichts erreichen können ohne eine institutionelle Mindestbedingung: die Gewaltenteilung“. Kriele 1986, S. 45.
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chung geschaffen. Demnach werden die Vielzahl und Vielfalt der staatlichen Instanzen sowohl horizontal nach ihrer Funktionalität – im Sinne der Gewaltenteilung – als auch vertikal nach dem Grad ihrer Konkretisierung zu verschiedenartigen Rechtsnormen umgeschrieben und klassifiziert. Daraus ergeben sich unterschiedlichen Staatsorganen zugeordnete Rechtsnormen wie zum Beispiel die Gesetze für die Legislative, die Verordnungen, Satzungen und Verwaltungsakte für die Exkutive und die Urteile für die Judikative. Diese Rechtsnormen werden im Verfassungsstaat in einer an die Verfassung gebundenen Über- und Unterordnung vom Generellen zum Individuellen bzw. vom Abstrakten zum Konkreten anhand hierarchisierender und rangordnender Verhältnisse weiter eingestuft. Dies führt schließlich zur Entstehung einer räumlich-hierarchischen Rangfolge der Rechtsnormen, welche sich von der höchstrangigen Verfassung über generelle Gesetze und Rechtsverordnungen bis hin zu einzelnen Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen entfaltet. Die räumlich-hierarchische Rangfolge der Rechtsnormen ist das, was Hans Kelsen als den „Stufenbau der Rechtsordnung“ bezeichnet hat. Es liegt auf der Hand, dass diese Konzeption des Stufenbaus der Rechtsordnung bei Kelsen durchweg raumorientiert ist. Er selbst meint dazu folgendes: „Die Beziehung zwischen der die Erzeugung einer anderen Norm regelnden und der bestimmungsgemäß erzeugten Norm kann in dem räumlichen Bild der Über- und Unterordnung dargestellt werden. Die die Erzeugung regelnde ist die höhere, die bestimmungsgemäß erzeugte ist die niedere Norm. Die Rechtsordnung ist nicht ein System von gleichgeordneten, nebeneinanderstehenden Rechtsnormen, sondern ein Stufenbau verschiedener Schichten von Rechtsnormen.“34
Bei Kelsen wird dieser räumlich-hierarchische Stufenbau der Rechtsordnung vor allem als Erklärung für die Frage nach dem Geltungsgrund einer Rechtsnorm angesehen.35 Demnach wird der Geltungsgrund einer niederrangigen Rechtsnorm durch eine höherrangige Rechtsnorm gewährleistet. Damit ist einerseits gemeint, dass niederrangige Rechtsnormen ihren Entstehungsgrund in höherrangigen Rechtsnormen finden können. Umgekehrt haben höherrangige Rechtsnormen auch die Kraft, auf Bestand und Inhalt niederrangiger Rechtsnormen einzuwirken und diese gegebenenfalls aufzuheben.36 Aus dem Blickwinkel der Machttechnologie der Disziplin lässt sich dieser räumlich-hierarchische Stufenbau der Rechtsordnung auch als eine optische Disziplinararchitektur betrachten, in der die Staatsmacht dank des Prozesses der Verrechtlichung und der entsprechenden rangbedingten Einstufung zu einem zu beobachtenden Gegenstand der hierarchischen Überwachung wird. Mit Unterstützung dieser optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates wird ein lü-
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Kelsen 2000, S. 228. Kelsen 2000, S. 196. Daraus ergeben sich nach Dirk Heckmann zwei Aspekte der Hierarchie, nämlich der Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit (Hierarchie als Delegation) und der Stufenbau nach der derogatorischen Kraft (Hierarchie als Derogation). Heckmann 1997, S. 145 f.
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ckenloses Überwachungsnetz hergestellt, in dem jeder einzelne Strang der Staatsmacht verfolgt und hierarchisch kontrolliert wird. Im Stufenbau der Rechtsordnung wird jeder Einsatz der Staatsmacht zunächst nach der Funktionalität und dem Grad der Konkretisierung anhand von Rechtsnormen unterschiedlicher Ränge umschrieben und dann hierarchisch überwacht. Der Verstoß einer niederrangigen Rechtsnorm gegen eine höherrangige Rechtsnorm wird eine Sanktion nach sich ziehen, das heißt: Rechtsnormen, die gegen ein höherrangiges Recht verstoßen, sollen nicht gelten. Die Sanktion der Nichtigkeit für eine rechtswidrige Rechtsnorm – im Sinne des Verstoßes gegen eine höherrangige Rechtsnorm – ist sozusagen die korrigierende und normierende Strafe für den unrechtmäßigen Einsatz der Staatsmacht, damit die Vielfalt möglicher Einsätze der Staatsmacht und die ihnen entsprechenden Rechtsnormen im Stufenbau der Rechtsordnung auf den Geltungsbefehl der Verfassung zurückzugeführt werden können. Demzufolge werden nicht nur Rechtsstaatsprinzipien wie zum Beispiel der Vorrang der Verfassung oder das Postulat der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (inklusive des Vorrangs und Vorbehaltes des Gesetzes), sondern auch die besonders auf den Wert der Grundrechte ausgerichtete Einheit und Homogenität der Rechtsordnung zur Sprache gebracht. Ob eine niederrangige Rechtsnorm sich innerhalb des durch eine höherrangige Rechtsnorm ermächtigten Gestaltungsraums gestaltet und darum die formelle und materielle Rechtmäßigkeit erhält, wird in der optischen Disziplinarstruktur des Verfassungsstaates vor allem durch bestimmte gerichtliche Prüfungsverfahren insbesondere durch die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit und durch ein entsprechendes Rechtsmittelsystem wie zum Beispiel Berufung, Revision und Beschwerde nachgeprüft. Die gerichtliche Prüfung bildet also die Schlüsseltechnik zur Konstitution eines Objektivierungsmechanismus, durch den die Staatsmacht sowohl in ein Feld der Überwachung als auch in ein Netz der Registrierung hinein gezwungen wird. Hinsichtlich der in den Prüfungsverfahren vorgeführten Einzelheiten der Staatsmacht wird nicht nur im Einzelfall nachgeprüft, ob sie dem durch eine höherrangige Rechtsnorm ermächtigten Gestaltungsraum entsprechen. Die anschließenden Prüfungsergebnisse äußern sich schließlich auch in Form des Urteils, in dem alle in den Prüfungsverfahren dargelegten Argumentationen fixiert und dokumentiert werden. Durch diese sich im Einzelfall konstituierende Dokumentierung der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der Staatsmacht wird ein lückenlos überwachendes Speichersystem ermöglicht, in dem alles aufgezeichnet wird, was der Staat tun bzw. nicht tun darf. Die Gesamtheit der Staatstätigkeit, die stets die Möglichkeit enthält, auf das Handeln anderer einzuwirken, reduziert sich jedoch nicht auf eine Art substanzieller Universalie des Staates. Sie erwächst aus dem Zusammenwirken von Akten und Entscheidungen bestimmter Personen, denen die Amtsautorität und Vollmacht verliehen wurde, im Namen der staatlichen Allgemeinheit zu handeln.37
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Vgl. Isensee 2002, S. 248; Kriele 1994, S. 22 f.; Böckenförde 1991, S. 219.
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Wenn die gerichtliche Prüfung die rechtlichen Grenzen für den Einsatz der Staatsmacht aufrechterhält und die Ergebnisse dessen, was der Staat – oder genauer gesagt, der Amtsverwalter (etwa als Abgeordneter, Kanzler, Minister, Polizist, Richter oder Gerichtsvollzieher) – rechtlich tun bzw. nicht tun darf, im kontinuierlich überwachenden Speichersystem registriert, dann wird zugleich ein Ethos des Amtes eingerichtet, dem zufolge jeder Träger von Staatsgewalt bei seiner Wahrnehmung staatlicher Aufgaben statt der bei den Menschen sonst dominanten Herrschaft von Privatinteressen ausschließlich der Herrschaft des Rechts folgen soll, die immer den uneigennützigen Dienst für die Sache der Allgemeinheit fordert. Dies, was man nach Josef Isensee schließlich auf „das Ethos des Gemeinwohls“ und auf die Inschrift des „Obliti privatorum/curate publica“ (Frei übersetzt nach Isensee: „Lasst Eure Privatinteressen draußen zurück, verdeckt sie mit dem Schleier des Nichtwissens, sorgt ausschließlich für das öffentliche Wohl!“) zurückführen kann38, gilt als eine andere disziplinierende Forderung, die im Verfahren der Disziplinierung der Staatsmacht auf jeden amtlichen Träger von Staatsgewalt bezogen ist und ihm eine Reihe dienstlicher Pflichten zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben auferlegt. Neben der Disziplinierung der amtlichen Träger von Staatsgewalt gibt es einen anderen Machteffekt, der ebenfalls vom Verfassungsstaat ausgeht. Es handelt sich um die Disziplinierung der Staatsbürger. Die Rechtsgesellschaft, die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hat, bemüht sich stets um die Herstellung eines dem Industriekapitalismus entsprechenden bürgertugendhaften Disziplinarindividuums. Nach Foucault fordern die neuen Bürgertugenden, die allen Klassen der Gesellschaften durch den zwingenden Rechtsdiskurs auferlegt werden sollten, zunächst eine Reihe von ökonomischen Disziplinen wie die Rechtschaffenheit, die Genauigkeit, die Sparsamkeit, die Arbeitsgehorsamkeit, den absoluten Respekt des Eigentums und dann eine an die Stelle der Gewohnheitsrechte tretende und wesentlich am Strafrechtssystem ausgerichtete „Grundgesetzlichkeit“39, welche meiner Meinung nach durch rechtliche Disziplinen wie Rechtskonformität und Rechtstreue weiter abzuklären ist.40 Während die Rechtskonformität bloß eine zumindest äußerliche Übereinstimmung des Verhaltens mit den gegebenen Rechtspflichten fordert, stellt die Rechtstreue im Gegenteil die innere Bereitschaft zur Rechtskonformität dar. Man entscheidet, sich rechtskonform zu verhalten, vielleicht, weil man damit Profit erzielen kann oder glücklicher leben will, oder einfacher, weil man Angst vor Bestrafung hat. Folglich stellt die Rechtskonformität nur eine negative Rechtsbürgertugend dar, die durch den äußerlichen Rechtszwang gefordert werden kann. Im Vergleich dazu wird die Rechtstreue eher als eine positive Rechtsbürgertugend angesehen, weil sie zugleich den aus der Pflicht entstehenden Bewegungsgrund für ein rechtskonformes Handeln verlangt. Eigent-
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Isensee 2002, S. 248 f. Vgl. Foucault 1996a, S. 73. Zur Rechtskonformität und Rechtstreue siehe etwa Höffe 1999, S. 196 f.
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lich steht die Rechtstreue im engen Zusammenhang mit der Anerkennung des Rechts. Wenn man keine Zweifel an der Geltung oder der Legitimität des Rechts hat, ist man eher bereit, sich rechtskonform zu verhalten.41 Deshalb gilt die Rechtstreue als nichts anderes als die ideale Bürgertugend, die der normalisierende Rechtsdiskurs von der Allgemeinheit mit aller Kraft fordern möchte. In diesem Sinne ist die in der heutigen Strafrechtslehre erwähnte positive Generalprävention die rechtliche Disziplinartechnik, welche imstande ist, diese Rechtstreue ins Volksbewusstsein einzupflanzen.42 Eigentlich wird die Disziplinierung der Staasbürger durch die Disziplinierung der Staatsmacht garantiert und unterstützt, die sich, wie bereits erwähnt, innerhalb einer optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates vollzieht und mit Hilfe der drei Rechtstechniken in Gang gesetzt, nämlich der hierarchischen Überwachung des Rechtsstufenbaus, der normierenden Sanktion der Nichtigkeit und der gerichtlichen Prüfung, insbesondere der Verfassungsgerichtsbarkeit. Es bedarf doch der Disziplinierung des Staatsbürgers, damit sich das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft reibungslos entwickeln kann. Zu diesem Disziplinierungsprozess gehört also eine Reihe rechtlicher Bürgertugenden: nicht nur die Rechtskonformität, sondern auch die Rechts- und Verfassungsstaatstreue und vor allem der Verzicht auf Gewalt und revolutionäre Umtriebe, die heute nicht mehr als legitime Mittel zum Kampf gegen die Ungerechtigkeit angesehen werden. Je mehr wir über Verfassungsstaat, Rechtsstaat, Menschenrechtsgarantie, Verfassungsgerichtbarkeit, usw. sprechen und diskutieren, desto mehr verfangen wir uns in den engen Maschen der Macht und werden darum durch die Machtarchitektur des Verfassungsstaats diszipliniert. 5. SCHLUSS Bis zu einem gewissen Grad impliziert der Verfassungsstaat doch eine institutionelle Mindestbedingung, um mit deren Hilfe mehr Freiheit zu garantieren und damit verfassungswidrige Gesetze und die anschließende Disziplinierung des Staatsbürgers zu bekämpfen. Trotzdem mag es sein: Es gibt eine Art strategischer List der Disziplinarmacht, die darin beseht, dass sie sich des Verfassungsstaats und des dahinter stehenden ganzen Rechtsverfahrens der Disziplinierung der Staatsmacht bedient, um die umgekehrte Disziplinierung des Staatsbürgers zu fördern. Während sich der Verfassungsstaat allmählich zum Doppeldisziplinierungsmechanismus entwickelt hat, war er seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unerwartet in eine Legitimationskrise geraten. Statt der Wohlfahrt und des Glückes, welche er jedem einzelnen mit Hilfe seines laisser-faire-Minimalregierungsprogramms versprochen hatte, war er mit wachsenden sozialen Problemen kon-
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Vgl. Höffe 1999, S. 197. Vgl. Roxin 1997, S. 80.
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frontiert, die eine aktive soziale Politik dringend erforderlich machten. Seither beschränkt sich die Aufgabe des Verfassungsstaates nicht mehr negativ auf die Überwachung der Staatsmacht. Zusätzlich muss er eine Reihe positiver Regulierungs-, Ausgleichs-, und Verteilungsmechanismen etablieren, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen Rechnung tragen, damit soziale Spannungen und Ungleichheit relativiert werden. Aus der späteren Machtanalytik Foucaults, nämlich der Konzeption der Gouvernementalität, lässt sich ersehen, dass das ganze Rechtssystem des Verfassungsstaates, das ursprünglich zur Überwachung der Staatsmacht eingerichtet wurde, darunter fällt, was Foucault als Sicherheitsdispositive bezeichnet. Alle im Rahmen einer Gouvernementalisierung des Staates gegebenen möglichen Zwecksetzungen des Regierens und der dazu passenden Sicherheitsdispositive kann man in den Begriff des Gemeinwohls einbeziehen. Wie wird das Gemeinwesen regiert, durch wen, bis zu welchem Punkt und durch welche Methoden? Dies gehört nicht nur zur alten Problematik des Regierens, die sich nach Foucault ab dem 16. Jahrhundert in der abendländischen Gesellschaft durchsetzte43, sondern auch zu einer neuen Problematik des Gemeinwohlmanagements. Angesichts seiner immer vielfältiger und umfangreicher gewordenen „responsiveness“ hat sich das gesamte Gemeinwohlmanagement zu einem umfassenden Netz der Macht zum Leben entwickelt, wobei die thematische Spannweite vom Lebens-, Eigentums- und Freiheitsschutz über die Daseinsvorsorge und Umverteilung bis zu heute neu erscheinenden Themen wie Umweltschutz, Embryonenforschung, Terrorismusbekämpfung, Europäischer Integration und Globalisierung reicht. Die heutige Krise des Sozial- bzw. Wohlfahrtstaates, über die schon seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts immer wieder gesprochen worden ist, zeigt sich nicht nur in der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte im allgemeinen und der Sozialversicherungshaushalte im besonderen, sondern auch in der Gefahr des Selbständigkeitsverlustes: Zum einem ist die Lebensführung des einzelnen immer mehr von der weitläufigen sozialen Daseinsvorsorge abhängig, und zum anderen wird ihm zugleich eine neue gesellschaftliche Disziplinierung und Normalisierung auferlegt, die diesmal im Namen der Solidarität und der sozialen Sicherheit vorgenommen wird.44 Daraus ergeben sich immer die Problematisierung der Freiheit in den Machtverhältnissen, die wiederum die Foucaultsche Suche nach einer neuen Subjektivität nach sich zieht.
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Foucault 2000, S. 41 f. Vgl. Foucault 1990, S. 51; Rose 1996, S. 48 ff.
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TYPEN DER MACHT UND SPIELRÄUME DER FREIHEIT Christoph Hubig
1. PROBLEMLAGE Michel Foucault versteht sich als Machtanalytiker. Er untersucht Machtverhältnisse, Machtbeziehungen, Techniken und Taktiken der Macht (also schematisierte Verfahren, bestimmte Effekte zu zeitigen) sowie Technologien der Macht (also Regeln, auf denen diese Verfahren beruhen). Seine „interpretative Analytik“1 richtet sich explizit gegen eine Substanzialisierung des Machtkonzepts im Sinne eines Allgemeinbegriffs/Universale: „Ich gebrauche das Wort Macht kaum, und wenn ich es zuweilen tue, dann um den Ausdruck abzukürzen, den ich stets gebrauche: die Machtbeziehungen.“2 In gleicher Vehemenz wendet er sich gegen eine Substanzialisierung von „Subjekt“ („es ist keine Substanz“).3 sowie von Freiheit als irgendwie substanzieller Verfasstheit. Gleichwohl tauchen diese Termini ständig in nominalisierter Form auf, im Wesentlichen im Rahmen von Genitiv-Konstruktionen wie „Dispositive der Macht“, „Praktiken der Macht“, „Praktiken der Freiheit“, „Konstitutionen des Subjekts“ etc. Wer sich nun in philosophischer Absicht mit Foucaults Analysen und Interpretationen der Manifestationen von Macht auseinandersetzt, ist leicht dazu verführt, die analytischen Befunde doch wieder zu einer Theorie zu synthetisieren. Eine solche Theoriebildung unterläge jedoch – so Foucaults Einwand – den Regeln des jeweiligen „Wahrheitsspiels“ (hier: des „anthropologischen“ mit seiner Subjekt-Objekt-Spaltung), in denen sich Macht als Macht des Diskurses bzw. der diskursiven Formation ausdrückt, unter der festgelegt wird, was als Aussageereignis zulässig ist. Macht würde dann zur Instanz ihrer eigenen Theorie. Und dies würde sich fortschreiben in jegliche Theorie von Freiheit als korrelierendem Konzept (was wir ja z. Zt. unter der Diskursmacht der Naturwissenschaften an der naturalistischreduktionistischen Konzeptualisierung von Freiheit als von trügerischem Bewusstsein einer Entscheidung begleiteter Reaktion erfahren). Gleichwohl muss eine sinnvolle Rede unter den Titelwörtern wie „Macht“, „Freiheit“, „Subjekt“ möglich sein – sie könnte wohl so verstanden werden, dass hier „Inbegriffe“ (im Husserl’schen Sinne) angeführt werden, bei denen kategorial inhomogene Entitäten „unter einem gemeinsamen Interesse“ zusammengeführt
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Dreyfus, Rabinow 1987, S. 295. Foucault 2005, S. 889. Foucault 2005, S. 888; 2005a, S. 907.
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Christoph Hubig
werden.4 Unter einem solchen Interesse (bei Husserl z. B. an den Operationen des Zählens und des Umgangs mit quantitativen Größen anstelle eines Philosophierens über das Wesen der Zahl als Universale) eröffnen sich für Foucault analog spezifische Suchräume nach technologischen, technischen und taktischen Regeln eines Operierens, dem, wie er immer wieder betont, sein Interesse gilt: Prozessen, „das Feld möglichen Handelns der anderen zu strukturieren“.5 Solche Prozesse manifestieren sich in vielerlei Spielarten (der Ausgrenzung, der Überwachung, der Normierung, der Regelung etc.), deren Wirkungen und deren Dynamik Foucault freilegen will. Wenn sich also unsere Frage auf Typen der Macht und – korrelierend – Spielräume der Freiheit richtet, kann es nicht um sortale Unterscheidungen zwischen Arten oder Spezifizierungen eines allgemeinen Konzepts gehen, sondern allenfalls um Unterscheidungen an entsprechend freigelegten Prozessen und Operationen. Entsprechendes meint wohl auch Foucault, wenn er – wie häufig in seinen zahlreichen Interviews vorfindlich – von seinen Gesprächspartnern zu eher improvisierten theoretischen Äußerungen verführt wird und dann von Macht als einem „immanenten“ oder „inhärenten Prinzip“ spricht. Der aus seinem Ansatz resultierende antitheoretische Impetus (weil sonst zirkelhaft die Diskursmacht ihre Theorie selbst beglaubigen würde) soll uns aber nicht davon abhalten, Foucaults Unterscheidungen an Manifestationen der Macht weiter zu verfolgen: als Dispositiven, Strukturen, Netzen mit entsprechenden Praktiken und Strategien innerhalb, unter- und/oder oberhalb ihrer (mit Blick auf seine Rede vom „Gesamtdispositiv“)6 und den dabei gegebenen Spielräumen des Widerstands, (produktiver) Subversion, Sorge um sich bzw. „Technologien“ des Selbst. Freilich sehen wir uns dabei sogleich mit einem weiteren Problem konfrontiert, das aus der ersteren Konstellation resultiert und sich auch in die Sekundärliteratur fortschreibt: Entsprechend seiner Fokussierung auf Machtbeziehungen analysiert Foucault Relationengefüge i. w. S., die eine hohe Dynamik aufweisen. Diese Dynamik betrifft nicht nur die Verfasstheit der Relata, die sich im Zuge ihrer Relationierungen in Machtbeziehungen positiv oder negativ entwickeln, Eigenschaften hinzugewinnen oder verlieren, sondern auch ihre Positionen selbst verändern (vertauschen, an anderen Stellen des Relationengefüges „auftauchen“, sich entziehen oder eine völlig neue Position als Relatum in anderen Relationen gewinnen). In der Regel spricht Foucault hier von einer Dynamik von „Netzen“, und er folgt mit der Belegung durch dieses Titelwort wohl der Intuition, dass damit die Dynamik des Geschehens am besten einzufangen wäre. Entsprechend charakterisiert er Dispositive als vorübergehend stabile Mechanismen7 und weist explizit das Titelwort „Struktur“ als ungeeignet ab.8 Allenfalls zur Charakterisierung von Herrschaftsverhältnissen, die er sorgsam von Machtverhältnissen unterscheidet, als Bezeichnung ferner für institutionelle Verfestigungen oder „Mechanis4 5 6 7 8
Husserl 1970, S. 23; 74. Foucault 1987, S. 257. Foucault 1983, S. 116. Foucault 1987, S. 260, s. auch Foucault 1976, S. 112; vergl. hierzu Hubig 2000. Foucault 1983, S. 114.
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men“ lässt er eine Bezeichnung als „Struktur“ zu.9 Gleichwohl ist an vielen Stellen, wo Machtverhältnisse thematisiert werden, von Strukturen die Rede, was auch dadurch verstärkt wird, dass von „Schemata“ oder „Funktionen“ gesprochen wird. Eine Strukturdynamik innerhalb oder jenseits der Netzdynamik scheint für ihn prima facie nicht annehmbar zu sein, weil wohl Strukturen oder Schemata für ihn (irgendwie) etwas Festes verkörpern. Dass diese Problemlage bislang nicht hinreichend erhellt wurde, zeigt auch ein Blick in die Sekundärliteratur: So schließt sich z. B. Wolfgang Detel durchaus einer Favorisierung von „Netz“ und „Netzwerk“ (in seiner Formulierung) an, weil sich „eher … aus theoretischer Perspektive sagen (ließe), dass sich Netzwerke dieser Art immer wieder neu auf kontingente Weise herstellen oder transformieren (dass diese Netzwerke sich herstellen oder transformieren, soll heißen, dass ihre Formierung und Transformation eine – meist nicht intendierte – kumulierte Folge konkreter Machtrelationen und historischer Formen praktizierter Sprache sind)“;10
er verweist aber darauf, dass Foucault die Kräfteverhältnisse oder Machtrelationen „unter dem Gesichtspunkt ihrer spezifischen historischen Formen oder Strukturen analysiert“,11 dass er möglichst präzise beschreiben will, „welche Formen oder Strukturen bestimmte Machtrelationen in bestimmten historischen Situationen annehmen“,12 sowie, dass „Machtformen, ihre Dynamik, ihre globalen Strategien und deren Verschiebungen … intelligible strukturelle Muster (repräsentieren)“,13 auch wenn ihre Entstehung und Entwicklung aus kontingenten Transformationen bestehen, „die sich nur narrativ beschreiben lassen“.14 Dabei hatte doch Foucault explizit betont, dass ein Machtanalytiker „Nominalist sein muss“, denn Macht ist „nicht eine Institution, nicht eine Struktur, nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger“, sondern ein „Name“ für eine „komplexe strategische Situation“ aus „vielfältigen Kräfteverhältnissen“, die innerhalb verschiedener sozialer Gruppen „sich in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt erzeugt“ – also ein Netz.15 Wie zu zeigen sein wird, muss sich beides freilich keineswegs ausschließen: Angesichts der Praktiken (auch dieser Terminus wird notorisch vieldeutig gebraucht) lässt sich zeigen, dass eine Dynamik von Dispositiven, Strukturen und/oder Netzen unterschieden werden kann, wobei die jeweiligen Spielräume von Freiheit unterschiedlich situiert sind. Diese Unterschiedlichkeit ist darin begründet, dass die Form, „in der sich das Subjekt auf aktive Weise, durch Praktiken des Selbst, konstituiert, … dann nichts desto weniger nicht etwas sind, (sic!) was das Subjekt selbst erfindet. Es sind Schema-
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Foucault 2005, S. 877 f.; 900. Detel 2006, S. 36. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd., S. 32. Ebd. Foucault 1983, S. 114; 2005d, S. 931.
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Christoph Hubig ta, die es in seiner Kultur vorfindet und die ihm gegeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufgezwungen sind.“16
Wir setzen also bei diesen Schemata an, um dann nach einer kurzen Untersuchung des Konzepts der „Praktiken“ Unterschiede einer Netzdynamik und einer Strukturdynamik zu verdeutlichen und schließlich eine m. E. aussichtsreiche Modellierung aus der amerikanischen Foucault-Rezeption (Joseph Rouse, Karen Barad) geltend zu machen. Allerdings resultiert daraus der Befund, dass in dem Maße, in dem eine Netzdynamik über die Strukturdynamik Oberhand gewinnt – eine Entwicklung, die Foucault nicht mehr hatte verfolgen können – der Spielraum von Praktiken der Freiheit zunehmend auf eine bloß noch residuale negative Freiheit eingeschränkt wird. 2. MACHTBEZIEHUNGEN ALS NETZE, STRUKTUREN, DISPOSITIVE „Im politischen Denken und in der politischen Analyse ist der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt. Daher rührt die Bedeutung, die man in der Theorie der Macht immer noch dem Problem des Rechts und der Gewalt beimisst, dem Problem des Gesetzes und der Gesetzwidrigkeit, des Willens und der Freiheit und vor allem dem Problem des Staates und der Souveränität …“17
Diese „Souveränitätsmacht“, an der sich das Denken der Macht immer noch orientiert, ist freilich abgelöst von „neuen Machtverfahren“, „die nicht mit dem Recht, sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit dem Gesetz, sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe, sondern mit der Kontrolle, und die sich auf Ebenen und in Formen vollziehen, die über den Staat und seine Apparate hinausgehen.“18
Wir werden sehen, dass Foucault „Technik“ hier keineswegs metaphorisch meint. Die Souveränitätsmacht in ihrer juridischen Repräsentation, die (wie noch Max Webers Analyse von Macht im Unterschied zu Herrschaft zeigt) arbeitet mit der Sanktion: „sterben zu machen und leben zu lassen“.19 Sie lässt sich als intentionalistisches Wirkungsmodell begreifen, welches ein Modalgefälle von der Macht über die Herrschaft zur Gewalt darstellt. Dem Inhaber der Macht obliegt der Zugriff auf Personen und Güter in Durchsetzung seines Willens, der, um mit Max Weber20 zu sprechen, als Macht die „Chance“ (als Möglichkeit der Gratifikation) ist, sich gegen widerstrebende Willen durchzusetzen, „gleich worauf diese Chance beruht“. Ein solches noch „amorphes“ Machtkonzept aktualisiert sich in der Herrschaft als „Chance auf Gehorsam“. Während sich einer solchen Macht, gleich ob sie angeeignet wurde oder durch Machtübertragung zustande gekommen ist, nur derjenige widersetzen kann, der den Tod nicht fürchtet oder über die Mittel ver-
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Foucault 2005, S. 889. Foucault 1983, S. 110 Ibid., S. 110 f. Ibid., S. 162. Weber 1972, S. 28; vergl. Freyer 1965, S. 299.
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fügt, sich aus dem Zugriffsbereich der Macht zu entfernen, ist der Freiheitsspielraum im Bereich der Herrschaft spezifischer: Wem die Sanktionen, mit denen der Befehl bewährt ist, gleichgültig sind oder wer die Gratifikation der Herrschaft nicht begehrt, ist nicht beherrschbar. Hier ist offensichtlich die power over der power to vorgängig. Als auf Dauer gestelltes Veranlassungspotential (unter Vermeidung von Gewalt, welche von einem Scheitern dieser Macht zeugen würde) sichert sie die Fortsetzbarkeit des Handelns bzw. die Möglichkeit des Gelingens der Handlungen des Machtträgers. Dieser erscheint sozusagen als Techniker im Großen, der sich seine Welt gestaltet und auf den Gehorsam der Übermächtigten rechnen kann, sofern sie Sanktionen fürchten oder an den Vorteilen der Macht partizipieren, Erfolgsprämien und Belohnungen des Machtvollzugs einstreichen können. Doch zeigt Foucaults Genealogie der Macht, dass neben der Souveränitätsmacht ein Machttyp bestehen kann, der vollkommen anders funktioniert. „Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen wurde abgelöst von einer Macht, Leben zu machen …“.21 Die „tiefgreifende Transformation“, die das Abendland seit dem klassischen Zeitalter erlebt habe, bestehe darin, dass die „Abschöpfung“ nicht mehr die Hauptform der Macht zu sein tendiere, „sondern nur noch ein Element unter anderen Elementen, die an der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte arbeiten: diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten.“22
Die power to ist der power over vorgängig, diese durch jene bedingt und entsprechend ableitbar. Überwachung und Kontrolle, normierende Sanktion und Prüfung dienen dazu, die Kräfte geordnet zu verteilen („Tableau“), die Aktionen regelhaft zu codieren („Manöver“), sie zu entwickeln („Übung“/„Lernen“) und zu einem Gesamtkörper zu bilden („Taktik“).23 Disziplinarmacht als Kontrolle in diesem Sinne wird jedoch für Foucault zunehmend ergänzt und ersetzt durch die Macht der Gouvernementalität. Während der Typ der Kontrolle im Felde der Disziplinarmacht letztlich der Technik der Steuerung verhaftet ist, können wir hier von einer Technik der Regelung sprechen. Sie reguliert und koordiniert die Aktionen in Freiräumen, innerhalb derer sie sich optimal zu entfalten haben. Zu welchem Ziel? Die Rede vom „Ziel“ scheint angemessen, sofern sich „Strategien der Macht“ rekonstruieren lassen; freilich kann nicht mehr von einer Autorschaft eines Subjektes für die erfolgreiche Umsetzung dieser Strategien zu einer „siegreichen Lösung“ gesprochen werden.24 Die Möglichkeitsbedingungen der Macht liegen nicht mehr „in der ursprünglichen Existenz eines Mittelpunkts, nicht in einer Sonne der Souveränität“, sondern in Kraftverhältnissen, die „unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind“. Beständigkeit, Wiederholung, Träg-
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Foucault 1983, S. 165. Ebd., S. 163. Foucault 1976, S. 211. Foucault 1987, S. 259.
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heit und Selbsterzeugung sei nur „der Gesamteffekt all dieser Beweglichkeiten, die Verkettung …“, die mit dem „Namen“ Macht belegt wird. Zu allen anderen Verhältnissen verhalte sich diese Macht „immanent“. Als quasi „intentionale und nichtsubjektive“ sollen die großen anonymen Strategien die „geschwätzigen Taktiken“ derer koordinieren, die als regierende Kaste, als Gruppen, die Staatsapparate kontrollieren und die wichtigsten ökonomischen Entscheidungen treffen, nicht aber „das gesamte Macht- und damit Funktionsnetz einer Gesellschaft in der Hand“ haben.25 Das Netz der Machtbeziehungen bilde ein dichtes Gewebe, welches die Apparate und Institutionen durchzieht, ohne an sie gebunden zu sein. Unter dem Titelwort „Netz“ (in eins mit der Rede von sich verstärkenden oder abschwächenden „Relationen“ und „Knoten“) wird also ein Geschehen erfasst, welches sich freilich durchaus in Strukturen, Institutionen und Dispositiven verfestigen kann. Die Art der Verfestigung ist freilich unterschiedlich: Dispositive (wie diejenigen der Inhaftierung, der Kontrolle des Wahnsinnes, der École militaire, das Gender-Dispositiv oder die Episteme) stehen unter der „Matrix“ eines „strategischen Imperativs“, der eine „urgence“ beheben will. Es handelt sich um eine funktionale Verfestigung, die real-, intellektual- und sozialtechnische Elemente unter einem funktionalen Erfordernis relationiert. Freilich können diese Elemente ihre Position verändern und vertauschen, so dass Macht subversiv umgewendet werden kann (s. u.). Eine strukturelle Verfestigung hingegen ist anderer Art: So spricht Foucault explizit davon, dass Herrschaftseffekte auftreten können, „die mit Strukturen der Wahrheit oder mit wahrheitslastigen Institutionen verknüpft sind“,26 ferner davon, dass „die Psychiatrie mit Machtstrukturen verbunden ist“, die Mathematik mit ihrem „Wahrheitsspiel“ als einer „Gesamtheit von Regeln zur Herstellung der Wahrheit“ mit „Institutionen der Macht verbunden“ sei27 oder von der Struktur der Ehe.28 Strukturen allgemein sind kontextrelativ notwendige Verbindungen von Möglichkeitsräumen; es sind Ordnungen und Ordnungssysteme, die variablen Größen eines Ausgangsbereichs entsprechende Größen eines Zielbereichs zuordnen. Sie lassen sich in der ‚Wenn-Dann‘-Form beschreiben und als Funktionen darstellen. Eine solche ihrerseits als nicht anders sein könnend erachtete Relationierung von Möglichkeitsräumen (Variablen) als Input- und Outputbereichen ordnet jeder ‚Instantiierung‘ als Ersetzung der Variable durch eine wirkliche individuelle Entität als Zustand, Ereignis oder Handlung einen entsprechenden Effekt als Ergebnis zu. Strukturen können als normierende Regeln oder als modellierte Gesetzmäßigkeiten realer Zusammenhänge auftreten, wobei sie im allgemeinsten Sinne Prozesse des Wandels, des Transports oder der Speicherung von Stoffen/Ressourcen, Energien und Informationen normieren, repräsentieren oder in der Realisierung bedingen. Freiheitsspielräume eines Agierens unter Strukturen bestehen zum einen in
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Foucault 1983, S. 114-116. Foucault 2005, S. 895. Ebd., S. 896. Ebd., S. 891.
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der Ausfüllung der entsprechenden Möglichkeitsräume durch Instantiierung bzw. Individualisierung der Variablen, z. B. durch Aktionen. Strukturen bedürfen der Aktualisierung, damit wirkliche Effekte gezeitigt werden. Für eine solche Aktualisierung müssen sie als Bedingung ihrerseits real gegeben sein (z. B. als technische Infrastrukturen), entsprechend intellektual konzeptualisiert sein (für die Handlungsplanung), und es müssen für ihre Aktualisierung entsprechend stabile normative Schemata vorliegen, was die zu erwartenden Lasten/Sanktionen oder Gratifikationen betrifft. Wir haben also ein Modalgefälle zwischen Netzen und Strukturen sowie zwischen Strukturen und Aktionen. An dieser Stelle ist aber bereits darauf hinzuweisen, dass jede Aktualisierung einer Struktur (oder eines „Schemas“ oder eines „Mechanismus“, wie sich Foucault ausdrückt)29 mehr Eigenschaften aufweist, als die von den notwendigerweise abstrakt-einseitigen Wenn-Dann-Verknüpfungen der Struktur umgriffenen. Wenn sich Gleichförmigkeiten der nicht erfassten Eigenschaften im Zuge der Aktualisierungen herausbilden, etablieren sich entsprechend neue, die bisherige Strukturierung überschreitende Strukturen, es entstehen dann neue Strategien (als Verknüpfungsschemata der Möglichkeitsbereiche). Auf diese Strukturdynamik werden wir näher eingehen, nachdem die sich herausbildenden Muster der Aktionen als „Praktiken“ näher beleuchtet worden sind. Eine jeweils spezifische funktionale Verbindung von normativen Schemata, ihren diskursiven Repräsentationen und realtechnischen Infrastrukturen bezeichnet Foucault bekanntlich als „Dispositiv“. Beispiele wie die école militaire, die Kontrolle des Wahnsinns, Modi der Inhaftierung, Episteme in den verschiedenen Disziplinen oder Geschlecht, aber auch die Arbeitersiedlungen (als Zusammenführung der Taktiken der Kapitaleigner, der an sozialer Kontrolle interessierten Kirchen, der Familien, die ihrerseits wieder zur Reproduktion funktionalisierbar wurden, begleitet vom Diskurs der Philanthropie und der Moralisierung der Arbeiterklasse, der Taktiken der Arbeitervereine u. v. a. mehr) machen ersichtlich, wie jeweils die Konstellation individueller Aktionen in eine „anonyme“ Strategie mit entsprechender „siegreicher Lösung mündete“.30 Wie aber gerade das Sicherheitsdispositiv der Inhaftierung, das Dispositiv des Geschlechts oder das Dispositiv einer Pathologisierung sexuell abweichenden Verhaltens zeigen, wurden hier Möglichkeitsräume der Herausbildung neuer Strukturen geschaffen wie derjenigen einer Entstehung des kriminellen Milieus, der Emanzipation oder der Relativierung bzw. Abweisung einer Zuschreibung von Delinquenz. Dies ist hier nicht nachzuzeichnen oder zu referieren; vielmehr zielt die Erwähnung darauf, unterschiedliche Modi einer jeweiligen Dynamik von Netzen, Strukturen und Disposi-
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Foucault 2005, S. 889; Foucault 1976, S. 114. Gilles Deleuze hat vorgeschlagen, den Begriff „Schema“, wie ihn Foucault für die Beschreibung des Panoptikums als „Sehmaschine“ und „Machtverstärker“ im Kontext der Disziplinar- und Normalisierungsmacht explizit einsetzte (Foucault 1976, S. 267), als (Kraft-)Diagramm einer abstrakten Maschine zu fassen (Deleuze 1986, S. 69-71; 116; 118; 169). Freilich scheint mir Foucault den Schemabegriff auch weiter und den Diagrammbegriff auch in anderer Spezifikation zu verwenden. Foucault 1978, S. 132; hierzu Hubig 2000.
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tiven und unterschiedliche Modi eines wie auch immer freien Sich-In-BezugSetzens von Subjekten innerhalb und zu Netzen, Strukturen, Dispositiven vorläufig anzudeuten. Zur Klärung dieser Binnenverhältnisse ist jedoch zunächst genauer auf die Konzeptualisierung von „Praktiken“ einzugehen. 3. PRAKTIKEN (DER FREIHEIT) Mit „Praktiken“ belegt Foucault sowohl das Prozessieren innerhalb der Machtverhältnisse aus Strukturen und Dispositive, als auch die Artikulation von Widerständigkeit an Knotenbildungen in den Netzen31 der Aktionen unter Strukturen und Herrschaftsverhältnissen einerseits und Dispositiven (als „Subversion“ s. u.) andererseits. Praktiken sind nicht die individuellen Aktionen (operativer) Subjekte, die ja nicht als Subjekte von Strategien auftreten können. Es handelt sich eher um so etwas wie realisierte „Handlungsmuster“, in denen sich (transitorische) Machtbeziehungen manifestieren. Die Soziologie der Praktiken hat den Ball aufgenommen, tut sich aber schwer mit dieser Herausforderung. Andreas Reckwitz spricht (in selbstmissverstandener ‚Übereinstimmung‘ mit Theodore R. Schatzki)32 vom Subjekt als „sozial-kultureller Form“, „kontingente(m) Produkt symbolischer Ordnungen, welche … modellieren, was ein Subjekt ist“.33 Diese symbolischen Ordnungen, deren „Codes“ mit ihren „Leitdifferenzen“ sich in den sozialen Praktiken fänden, betrieben ein „doing subjects“.34 Die Welt des Sozialen bestehe aus solchen Netzwerken von sozialen Praktiken als „geregeltem Verhalten“, „dem analog gebaut, was Wittgenstein als „Sprachspiele“ umschreibt“.35 Das „Subjekt“ dürfe nicht als Träger von „Reflexionsfähigkeit“, „Wahl und Entscheidung“, „gerichtetem Begehren“ gefasst werden; von seiner Form her erscheine es vielmehr als „Dispositionsbündel“, das „im Vollzug hochspezifischer kultureller Praktiken produziert und reproduziert“ wird.36 Diese Dispositionen seien „Teil der Praktiken“ und „hängen von ihnen ab“, sowohl was die Innenorientierung als auch die Außenorientierung der Subjekte betreffe; so sei die „Innerlichkeit des bürgerlichen Subjekts ein Korrelat der Techniken der moralischen Selbstbefragung“.37 Dieser Versuch einer Rekonstruktion, der sich, was seine Schlüsselbegriffe betrifft, auf Foucault stützt und diese mit Hilfe einiger Termini aus der Systemtheorie von Niklas Luhmann zu erläutern sucht, erweist sich bei genauerer Analyse als Darstellung eines Modalgefälles: Symbolische Ordnungen (also Ordnungen in einer entsprechenden Repräsentationsform) manifestieren sich in Praktiken, die Subjekte als „Dispositionenbündel“ zeitigen, also Subjekte, die ihrerseits über ihre
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Foucault 1983, S. 116 f. Schatzki 1996. Reckwitz 2006, S. 34 f. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39 f. Ebd., S. 40 f.
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Möglichkeit des Handelns charakterisiert werden, welche sich dann in konkreten Aktionen verwirklichen. Die Aktualisierungen einer jeweilig vorangehenden Ermöglichungsinstanz schreiben deren Verfasstheit fort, indem sie jene festigt/affirmiert/reproduziert, modifiziert oder möglicherweise destruiert. Der offene Punkt bzw. die nicht beantwortete Frage liegt darin, wer oder was die Aktualisierung auslöst. Denn Möglichkeiten bedürfen zu ihrer Aktualisierung bestimmter Ausgangsbedingungen, die Foucault als „Milieu“ bezeichnet,38 was im Deutschen entsprechend als „Medium“ zu fassen wäre (so bedarf die Disposition der Wasserlöslichkeit, gegeben durch ein spezifisches Kristallgitter, eines entsprechenden Lösungsmediums, damit der Lösungsprozess stattfindet.) Die Frage steht also weiter im Raum, wie sowohl die Dispositionen der Subjektivität produziert (als solche verwirklicht) werden, wie aus diesen Dispositionen (als bloßen Möglichkeiten) Akte der Verwirklichung werden, die ihrerseits Akte der Reproduktion (der Praktiken) sein sollen: wie also das Modalgefälle Ordnungen-Praktiken-Dispositionen (Subjekte) – Reproduktion der Praktiken in Aktionen überbrückt wird. Theodore R. Schatzki nun, der in diesem Zusammenhang viel zitiert wird, sucht seine Zuflucht im Konzept von Basishandlungen, wie sie Arthur C. Danto als nicht hintergehbare Basisinstanzen der Verwirklichungsleistung gefasst hat:39 Solcherlei Basishandlungen seien nicht „als vom Individuum verursacht“ zu erachten, sondern stehen unmittelbar und elementar in eins mit einem evidenten Wissen des Handelnden über sie. Freilich setzt Danto hierbei bereits definitorisch das Konzept eines indivéduellen handelnden Subjekts voraus und Schatzki kann daran anschließen, indem er seinerseits nun Praktiken als organisierte Handlungen bestimmt, allerdings als „open, temporally unfolding nexus of actions“.40 Damit lässt sich aber seine Version der Praktiken-Theorie nicht mehr im Mainstream der Praktiken-Forschung verorten, weil eine intentionale Belegung der zunächst nicht kausal vom Subjekt explizit verursachten Basisaktionen durch eben dieses Subjekt das Konzept eines intentionalen Subjekts der Praktiken voraussetzt, das nicht allererst durch solche Praktiken konstituiert werden kann. Dass Praktiken die Form der Subjektivität „konstituieren“, vermerkt aber eben Foucault. Letztlich lässt sich dieses Dilemma m. E. nur dahingehend auflösen, dass sich Subjektivität als Bedingung einer Praxis der Freiheit nur im „Abarbeiten“ (1) an einer seitens der Institutionen vorgegebenen Form (2) in Erfahrung der Widerständigkeit und „Hemmung“ (3) als Erfahrung der Differenz zwischen Vorgabe und Handlungsergebnis selbst konstituiert. Diese Dialektik, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinem Paradigma der „Herrschaft und Knechtschaft“ entwickelt und über die verschiedenen Stufen der Empörung und Zerrissenheit angesichts des Verhältnisses der Individualität zum „objektiven Geist“ reflektiert,41 scheint mir die Antwort auf das bei Foucault nicht thematisierte Problem
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Foucault 2004, S. 29 ff.; S. 40 ff., vergl. 1976, S. 266. Danto 1979, Kap. 2. Schatzki 2002, S. 72. Siehe hierzu Hubig 2013.
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sowie auf die thematisierten, aber nicht gelösten Probleme einer PraktikenSoziologie erbringen zu können. 4. STRUKTURDYNAMIK UND NETZDYNAMIK – INTRAAKTIONEN UND INTERAKTIONEN Foucault verabschiedet mit dem „strategischen Subjekt“ keineswegs einen Akteur, der als individuelles intentionales Subjekt tätig wird; dies freilich nur im operativen, nicht im strategischen Sinne: Er fasst ihn als Adressat einer „urgence“, die diesen Akteur subversiv werden lässt. Diese „urgence“ als Problemdruck wird erst Element einer Handlung, wenn die das Subjekt „von außen“ konstituierende Macht die Möglichkeiten der Individuierung eröffnet und verschließt, insofern also Möglichkeiten der Individuierung „anstiftet“: als eine Handlungsmacht, die dem Akteur selbst solchermaßen zugewachsen ist und von diesem selbst auf sich selbst angewendet wird, im Sinne etwa des Begriffs der „Einfaltung“ bei Gilles Deleuze. Paradigmatisches Beispiel ist die unter der Disziplinarmacht in den Gefängnissen stattfindende Entstehung disziplinierter krimineller Milieus. Ob sich jedoch – wie bereits erwähnt – das Handlungsergebnis als „siegreiche Lösung“ in Gestalt eines vorübergehend „stabilen Mechanismus“ in der Geschichte zu etablieren vermag, sei qua Praktiken nicht zu erzwingen, sondern nur ex post zu registrieren. Der Frage, wie solche Stabilitäten entstehen bzw. verwirklicht werden, hat sich Joseph Rouse gewidmet und dabei Überlegungen vorgelegt, die jene Leerstelle der Praktiken-Soziologie ausfüllen. Er nimmt dabei den von Karen Barad geprägten Neologismus „Intra-Aktion“ auf.42 Intra-Aktion steht für Relationen, deren Relata durch diese Relation erzeugt werden. Die Relationen sind hierbei als Aktivitätsmuster zu fassen; es sind die „Praktiken“. Wir finden sie organisiert in Netzen (im buchstäblichen Sinne). Ungeachtet jeglicher Konzeptualisierung oder Normierung sind Netze wirkliche Relationierungen von Relata, die durch die Qualität der Relation konstituiert sind. Die Relata sind zunächst bloße Dinge (also nicht irgendwie identifizierte Sachen), deren spezifische Relationierung den Transport, den Wandel und die Speicherung von Stoffen, Energien und Informationen bestimmt. (Sie entsprechen wohl den „Aktanten“ in der Akteur-NetzwerkTheorie von Bruno Latour.43) Die Dynamik von Netzen hängt von der Frequentierung der qualitativen Verbindungen ab, die zu Verstärkungs- oder Abschwächungseffekten führt und die „Knoten“ dabei ebenfalls stärkt oder schwächt. Zugleich hängt sie aber auch und gerade von der hieraus resultierenden Verfasstheit der Knoten ab, in denen sich qua Verstärkung Macht konzentriert und zugleich ausbreitet – eine Aktivität, die Verbindungen vorgibt oder sich ihnen entzieht. Der Konzentrationseffekt führt dazu, dass die Aktualisierungen von Machtbeziehun-
42 43
Barad 2007, S. 33; zu Barad und Rouse ausführlicher Vogelmann 2011. Latour 2006.
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gen über diesen Knoten laufen bzw. ihn adressieren müssen, wenn sie effektiv (andere Knoten erreichen) und effizient (mit vertretbarem Aufwand) sein sollen. Die Ausbreitung von Macht liegt darin, dass die strukturierenden Vorgaben Chancen und Risiken der Aktualisierung bestimmen, also das Gelingen konformitätswilliger und das Scheitern konkurrierender Anstrengungen zur Ermächtigung (z. B. zur Erzielung von Öffentlichkeitswirksamkeit, dem Sich-Entziehen vor Kontrolle, dem Aufbau alternativer Netze). Unter der Bedingung, in welcher Hinsicht (stofflich, energetisch und/oder informatorisch) etwas vernetzt ist, entstehen mit Blick auf die Abhängigkeit von endlichen Ressourcen jeder Art (auch der Zeit) Pfadabhängigkeiten oder Trägheiten oder Innovationen oder neue Vernetzungen. Wir haben es hier mit wirklichen, sich verstärkenden oder abschwächenden Prozessen zu tun, nicht mit der Aktualisierung in Modalgefällen wie im Felde der Strukturdynamik (s. u.). Dass sich in Netzen stabile Elemente herausbilden können, hat Bruno Latour selbstkritisch gegen seine frühere Strukturaversion eingewandt und suchte diesem Effekt unter neuen Metaphern gerecht zu werden („Koordinationsmodus“, „Fluid“).44 Barad und Rouse können nun zeigen, wie im Zuge der Netzaktivitäten bzw. des Wirkungstransfers zwischen Dingen sich diese als Ding-Sachen oder SubjektSachen, als dingartig wirkende Subjekte oder als subjektförmig agierende Dinge je nach Handlungsverteilung herausbilden: Unter der Voraussetzung, dass IntraAktionen/Praktiken in ihren individuellen Ausfüllungen der Relata stabil und wiederholbar – sozusagen „ansteuerbar“ – werden, können diese Relata Kandidaten anderer Intra-Aktionen werden und Inferenzbeziehungen als Substituierbarkeitsbeziehungen zu anderen Praktiken aufweisen. Rouse verdeutlicht dies am Beispiel „Wasser“ als stabilem Element in Praktiken des Schwimmens, des Kochens, der Elektrolyse etc.45 Unter einer solchen Voraussetzung können Interaktionen zwischen unterschiedlichen Intraaktionen stattfinden. Solche Interaktionen regulieren dann die Intraaktionen, indem den Relata (in unserem Beispiel in dem Wasser) intraaktionsübergreifende „Eigenschaften“ zuschreibbar werden (unser Konzept von „Wasser“). Auf diese Weise entsteht ein Konstrukt „Wirklichkeit“ mit seinen „Kräften“ (hier: „Wasser“ mit den Potenzialen als Ware (Bewirtschaftung), Ressource (Kollektivgut), Trägermedium mit unterschiedlichen Nutzenoptionen etc.). An dieser Stelle nun kann allererst – da nicht vorgängig ein Subjekt-Konzept vorausgesetzt ist – eine Differenzierung und zwar in Subjekte und Objekte als Relata stattfinden: Denn wenn nun solche Elemente (Relata) von Praktiken inferenziell verkettet und stabil substituierbar erscheinen, lässt sich beobachten, dass manche innerhalb der unterschiedlichen Interaktionen die Aktivität zur Selbstformung – praktische Reflexivität – aufweisen. In einem solchen Fall sind sie als Subjekte zu erachten, die, wie die Objekte, insgesamt erst durch die Interaktion von Praktiken hervorgebracht und epistemisch zugänglich werden. (So kann ein Relatum in unserem einfachen Beispiel als Produzent von Wasser be-
44 45
Latour 2006, S. 543. Rouse 2002, S. 314 ff.
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stimmter Qualität, als bilanzierende Ökologie, als Energietechniker (Wasserkraft), als Machtpolitiker (Entzug des Wassers, Krieg um Wasser) oder als Wasserkünstler auftreten und dabei die anhängenden Interaktionen adressieren.) Ein solcher Subjektbegriff ist weiter, als dass er nur menschliche Subjekte/Individuen erfassen würde. (Er korrespondiert dem hegelschen Konzept des Lebens). Die Aktualisierungsmuster der Praktiken als Intraaktionen und die hierauf aufruhenden Interaktionen bestimmen die Qualität der Knoten und die Stabilität der Relationen. Im Zuge der Netzdynamik werden mithin in anderer Weise Strukturen gebildet oder destruiert als im Bereich der Strukturdynamik oder der Dynamik der Dispositive im engeren Sinne: Nicht mehr qua Subversion, sondern – unter Verlust der Möglichkeit der Subversion – qua anonymer Effekte der Netznutzung. Die damit einhergehende Re-Individualisierung als Vereinzelung, wie sie in den gegenwärtigen Hochtechnologien erscheint, gibt Anlass zu einer ernüchternden Bilanz: gegenüber der Macht als (1) möglicher Wirkung in Dispositiven, (2) Struktur der Ermöglichung als Institution und Herrschaft und (3) Netzen zeigen sich Spielräume der Freiheit ganz unterschiedlicher Art. Innerhalb der Dispositive ist Subversion möglich durch Initiierung alternativer Praktiken qua Selbstformung von Subjekten, die die Mittel des Dispositivs nutzen, um sie gegen das Dispositiv auszuspielen (z. B. das Sicherheitsdispositiv zur Sicherung der eigenen kriminellen Aktivitäten wirksam werden zu lassen) – als „strategische Wiederauffüllung.46 Innerhalb der Strukturen können Handlungen durch ihr Surplus an Eigenschaften, die in den Strukturen nicht vorgesehen und erfasst werden, Muster bilden, die ihrerseits Strukturcharakter gewinnen gemäß der Dialektik von Regel und Regelbefolgung; keine juridische Generalklausel, keine Ausgrenzungs- oder Konzentrationspraxis kann alle Eigenschaften der unter ihr befassten individuellen Elemente „managen“ und kontrollieren im Sinne von Steuern.47 Innerhalb der Netze kann sich Freiheit in der Umgewichtung und Umpositionierung der Knoten und ihrer Qualität manifestieren, wobei diese Freiheit nicht die eines originären Subjektes ist, sondern sich in Abhängigkeit von Wechselspiel der Aktionen innerhalb der Machtverhältnisse als gemeinsamer Effekt der Zeitigung neuer Macht etabliert. Das setzt aber die Zurechenbarkeit und Zuweisbarkeit der Prozesse an Subjekte voraus (wie etwa im Konzept kommunikativer Macht bei Hannah Arendt). In den hochtechnisierten Netzen mit ihrem anonymen Prozessieren jedoch bleibt als Artikulation von Freiheit nur noch die bloße Verweigerung von Netznutzung als Praktik. Es bleibt dann nur noch eine bloß residuale negative Freiheit, deren Praktizierung erkauft wird mit dem Austritt aus Systemen, die inzwischen zur Bewältigung des Lebens in vielen Bereichen unverzichtbar geworden sind. Die Macht solcher Netze liegt jenseits eines Leben-Machens oder SterbenMachens, also jenseits der Machttypisierungen, wie sie Foucault vorgenommen hat. Eine Verweigerung der Netznutzung bringt für den Widerständler ein „Zuwenig zum Leben“ und ein „Zuviel zum Sterben“. Die von Michel Foucault prokla-
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Foucault 1978, S. 121. Siehe auch Foucault 2005f, S. 961.
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mierte „Sorge um sich“ als zielführende „Technologie des Selbst“, die er unter Rekurs auf antike Ideale „guter“ Machtverhältnisse entwirft, muss sich daraufhin befragen lassen, ob diese antike Reminiszenz in der gegenwärtigen „Superstruktur“ von Wirtschaft, Technik und Wissenschaft (Arnold Gehlen)48 noch ihren Ort haben kann. Denn auf den ersten Blick scheint nun ein solcher Befund – was abschließend zu diskutieren ist – mit Foucaults Ausführungen um die Praxis der Freiheit nicht vereinbar. Dort stellt er zunächst klar, dass eine „Praxis der Befreiung nicht ausreicht, um die Praktiken der Freiheit zu definieren“; eine Definition der Praktiken der Freiheit mache ein „ethisches Problem“ aus.49 Befreiung sei notwendig, aber nicht hinreichend: Sie ist erforderlich angesichts von Herrschaftsbeziehungen, die „jede Umkehrung der Bewegung“ im Rahmen von Machtbeziehungen verhindern. Davon befreit, könne eine „Sorge um sich“ ihren Ort finden, eine Sorge, die er in Orientierung am antiken Vorbild entwirft. Sie bedeutet zunächst negativ, nicht Sklave seiner Selbst oder Sklave Anderer zu sein,50 positiv: auf das Wohl der Anderen zu zielen, indem der Raum der Macht „gut“ verwaltet wird. Eine solche gute Verwaltung sei als „Konversion“ der Macht zu betrachten, als eine „Art und Weise, sie zu kontrollieren und zu begrenzen“.51 Eine solchermaßen verstandene Macht über sich selbst und über die Anderen artikuliere sich in Praktiken der Freiheit, in denen sich das Subjekt auf aktive Weise, durch Praktiken des Selbst, konstituiere.52 Dies scheint nun genau dem obigen Befund zu widersprechen. Interessant ist aber, zu beobachten, dass Foucault die Etablierung solcher Praktiken hier nun weniger mit Blick auf die Machtbeziehungen in Netzen diskutiert, sondern fast unmerklich umschwenkt zu Beispielen solcher Etablierung von Praktiken des Selbst, die diese im Rahmen von Schemata und Strukturen verortet: Schemata, die in einer Kultur vorfindlich, vorgegeben und aufgezwungen seien, in der traditionellen Struktur der Ehe, in Absetzung von „Strukturen der Wahrheit“ oder „wahrheitslastigen Institutionen“,53 sofern diese nicht als Herrschaftssysteme auftreten, die alles kontrollieren und keinerlei Raum für Freiheit lassen, sondern als mobile, reversible und instabile Machtbeziehungen. Dann könne das Wahrheitsspiel anders gespielt werden, „indem man aufzeigt, dass es andere vernünftige Möglichkeiten gibt“,54 was eben auch für die „Machtstrukturen“ der Psychiatrie zutrifft. Die „strategischen Spiele zwischen Freiheiten“ (man denke an das Beispiel Schach) weisen eben durchaus eine Struktur auf, die von Herrschaftszuständen zu unterscheiden ist. Damit hätten wir hier den vorgängigen Befund eingeholt, dass die Etablierung von Freiheit unter Strukturen möglich, ja gerade
48 49 50 51 52 53 54
Gehlen 1957, S. 11. Foucault 2005, S. 877. Ebd., S. 882 f. Ebd., S. 884. Ebd., 888. Siehe Anm. 27. Ebd., S. 895.
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durch Strukturen bedingt ist. Gouvernementalität nun impliziere explizit den Selbstbezug auf sich und den Anderen und ziele auf die „Gesamtheit der Praktiken …, mit denen man die Strategien konstituieren, definieren, organisieren und instrumentalisieren kann, die die einzelnen in ihrer Freiheit wechselseitig verfolgen können.“55
Solcherlei beruhe also auf der Freiheit als einer Beziehung des Selbst auf sich selbst und auf der Beziehung zu Anderen. Wenn nun das Subjekt durch Praktiken der Freiheit „konstituiert wird“,56 andererseits die Regierungen im Rahmen der Gouvernementalität diese Prozesse zu regulieren suchen, dann bedeutet die Bezugnahme des Subjekts auf diese Regulierungen die Herausforderung an die Regierenden, deren Wahrheit über „Zielvorhaben und die generellen Entscheidungen über ihre Taktik“ zu „verlangen“, und zwar durch freies Sprechen, „parrhesia im Namen des Wissens und der Erfahrung“ der Regierten.57 Auch dies ist nur möglich, wenn Machtbeziehungen in Gestalt expliziter Strukturen ersichtlich werden, nicht jedoch angesichts einer anonymen Netzdynamik. Nur in ersterer Konstellation können „neue Lebensformen, Beziehungen“ als „Faktoren“ einer „Stabilisierung“ geschaffen werden, wobei wir dabei wohl nicht, so Foucault, „unsere eigene Kultur“ erschaffen, sondern „eine Kultur erschaffen“.58 Genau dies wäre die Herausbildung neuer Schemata im Handeln unter vorfindlichen Strukturen. Es geht also um die Umgestaltung von Situationen qua „Widerstand“ als „Element dieses strategischen Verhältnisses …, worin die Macht besteht“.59 Gerade deshalb wendet sich Foucault, ohne sich explizit auf Latour zu beziehen, dagegen, Macht als ein sich im Gesellschaftskörper ausbreitendes „Fluidum“ zu erachten.60 Solcherlei freilich würde für jene anonyme Netzdynamik durchaus eine treffliche Metapher abgeben. Stattdessen hebt er hervor, dass jenseits einer Globalität, die die Strategien der Macht in toto zu regulieren sucht, die Individuen „einander einsetzen“, bzw. „indem ich diesem Wort einen sehr weiten Sinn gebe, einander … ‚regieren‘ (gouverner). Die Eltern regieren die Kinder, die Mätresse regiert ihren Liebhaber, der Lehrer regiert, usw. Man regiert einander in einer Konversation mittels einer ganzen Reihe von Taktiken.“61
Genau diese „Art von Beziehungen“ sei die Voraussetzung dazu, dass es „bestimmte weitere Arten großer politischer Strukturierungen (sic!) geben“ kann.62 Damit wären wir – wie ich meine – deutlich im Bereich der Strukturdynamik. Wenn andernorts von der Welt als „Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte
55 56 57 58 59 60 61 62
Ebd., S. 901. [Hervorh. v. CH.] Ebd., S. 892. Foucault 2005a, S. 907. Foucault 2005b, S. 911. Ebd., S. 916 f. Vergl. Anm. 43; Foucault 2005c, S. 919. Ebd., S. 929 f. Ebd., S. 930.
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verbinden“ die Rede ist,63 und dies mit einer Kritik am Strukturalismus verbunden wird, der die Beziehungen der Elemente nur über die Dimension der Zeit modelliere, wo es doch um Relationen der Lage im Raum gehe,64 wird der Theoriehintergrund wieder verschwommen: Denn das Regieren im Rahmen von Machtbeziehungen ist ja doch wohl ein zeitlicher Prozess, der eben innerhalb von Strukturen neue Strukturen hervorbringt in nicht abschließbar transitorischer Form (einschließlich der Form des Subjekts)65 – ein Prozess, der entweder durch die allgemeine Rede von Netzen nicht präzise und konkret konstruierbar ist oder, wenn Netze von Strukturen zu unterscheiden sind, einen gewissen „Optimismus“ bezüglich der Möglichkeit von Praktiken der Freiheit als Sorge um sich und andere angesichts der Netzdynamik nicht mehr vertretbar erscheinen lässt. Wenn für Foucault gilt: „Alle meine Untersuchungen richten sich gegen den Gedanken universeller Notwendigkeiten im menschlichen Dasein. Sie helfen entdecken, wie willkürlich Institutionen sind, welche Freiheit wir immer noch haben und wieviel Wandel immer noch möglich ist.“66
Dann gilt dies, wie ich meine, für eine Strukturdynamik, die die „Willkürlichkeit“ von Strukturen und Institutionen als solche vorführt, indem sie sie kontakariert, subversiv umwendet, widerständig blockiert und im Rahmen der Praktiken alternative Strukturen schafft. Hintergründig allerdings wirkt das „Netz“, indem die Macht stets „präsent ist“ und sich in ihrer Dynamik als Dynamik in toto dem „gouverneur“ entzieht. LITERATUR Barad, Karen, 2007: Meeting the Universe Halfway. Durham NC. Deleuze, Gilles, 1986: Foucault. Frankfurt a.M. Detel, Wolfgang, 22006: Foucault und die klassische Antike (Macht, Moral, Wissen). Frankfurt a.M. Dreyfus, Hubert L. (Hrsg.), 1987: Michel Foucault (Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik). Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 1976: Mikrophysik der Macht. Berlin. Foucault, Michel, 1976: Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 1978: Dispositive der Macht. Berlin. Foucault, Michel, 1982/2009: Die Regierung des Selbst und der anderen. Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 1983: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 1987: Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert L. / Rabinow, Paul (Hrsg.), Michel Foucault (Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik). Frankfurt a.M. Foucault, Michel, 2004: Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt a.M.
63 64 65 66
Foucault 2005d, S. 931. Ebd., S. 932 f. Foucault 2005a, S. 906. Foucault 2005f, S. 961.
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TEIL III FREIHEIT UND ETHOS
IST FOUCAULT EIN LIBERALER? Walter Seitter
Die Frage wird im Präsens formuliert und soll in dem auch beantwortet werden. Denn das Subjekt des Satzes ist nicht bloss das Individuum, das 1984 gestorben ist – obwohl so gut wie alle Elemente zur Stellung und zur Beantwortung der Frage von ihm selbst bis zum Jahr 1984 geliefert worden sind. Doch diese Elemente liegen bis heute vor – in seinen Büchern und in seinen anderen Äußerungen. Insofern existiert Foucault bis heute und bis morgen und übermorgen. Einerseits liegt er vor und damit fest. Aber er wirkt ja auch weiter, er wird auch nach seinem Tod einmal so gesehen und einmal so, von den einen so, von den anderen anders. Auch diese Weiterwirkungen und Weiterwandlungen sollen zumindest ansatzweise in das ‚Subjekt‘ der Fragestellung einbezogen werden. Andererseits kann diese Frage nicht von vornherein den ‚gesamten‘ Foucault umfassen. Das Prädikatsnomen ‚Liberaler‘ stammt aus der Sprache der Politik. Man könnte sagen: der Parteipolitik oder aber einer etwas weiter gefassten Dimension des Politischen: der staatsbürgerlichen Einstellung, der Wirtschaftspolitik oder der Ethik, der Verhaltenseinstellung, der Option für diese oder jene Daseinsweise (womit immer noch eine elementarpolitische Option gemeint ist). Insofern ist das Subjekt der Titelfrage bzw. das Objekt meiner Ausführungen der ‚Politiker‘ Foucault (wohlgemerkt kein professioneller Politiker sondern der homo politicus). Allerdings möchten meine Ausführungen nicht einfach das politische Meinungsprofil Foucaults feststellen. Sie wollen nicht davon absehen, dass Foucault professioneller Philosoph war (auch wenn er mit dieser Zuschreibung nicht immer ganz einverstanden schien). Jedenfalls Hochschullehrer, Buchautor, Intellektueller, in gewissem Sinn auch Historiker (allerdings ein philosophischer). Die Frage, ob er als Liberaler zu bezeichnen ist oder nicht, und wenn ja, in welchem Sinn, rückt ihn gewissermaßen neben Jürgen Habermas oder Jean-Paul Sartre, zu denen ähnliche Fragen gestellt werden könnten; oder aber neben John Locke oder Michel Montaigne (von denen der erste ja als ein Gründungsautor des Liberalismus gilt). Zunächst aber möchte ich die Frage aufwerfen, wie sich beim jungen Michel Foucault das Verhältnis zur Politik und speziell zur Problematik der Freiheit gebildet, entwickelt haben dürfte. Die Minimaldefinition von Liberalismus als politischer Einstellung, der die Freiheit als hohes Gut gilt, sei zunächst vorausgesetzt. Dabei beschränke ich mich auf die wenigen Informationen, die der FoucaultBiographie von Didier Eribon entnommen werden können. Die allererste Information verschränkt Unfreiheit und Freiheit auf engstem Raum. Sein Vater hieß Paul Foucault. Der Sohn wurde Paul-Michel Foucault genannt,
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nannte sich aber bald Michel Foucault. Gegenüber seiner Familie gab er an, nicht die Initialen des französischen (Links-)Politikers Pierre Mendes France (1907– 1982) tragen zu wollen; gegenüber seinen Freunden erklärte er, nicht den Vornamen des Vaters tragen zu wollen.1 Von seiner Mutter übernahm er den Leitspruch „Hauptsache ist, man regiert sich selber.“ – den er Anfang der Achtzigerjahre in der antiken Philosophie wiederfinden sollte.2 Man könnte sagen: Motto für einen aktiven Liberalen, Libertären? In seinen Erinnerungen aus den Dreißigerjahren überwiegen solche politischer Art: so die Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers durch putschende Nationalsozialisten, da habe ihn der Schrecken des Todes getroffen.3 Die Schuljahre in einer kirchlichen Anstalt flößten ihm nur Antipathie gegen die Religion ein.4 In Paris einige Studienerfolge sowie Misserfolge im Fach Philosophie, aber auch gravierende ‚persönliche‘ Probleme (bis hin zu Selbstmordversuchen, vielleicht aufgrund seiner Situation als Homosexueller). Begibt sich in psychiatrische Behandlung – wendet die Handlungsstruktur aber derart, dass er zusätzlich Psychopathologie studiert und sogar als Kliniker praktiziert. Er freundet sich mit seinem Lehrer Louis Althusser an, der ihn berät – aber auch in die Kommunistische Partei hineinzieht (1950), die brav stalinistisch orientiert war.5 Offensichtlich sah er in dieser Partei eine radikale Alternative zu den Milieus seiner Kindheit und Jugend, die ihm unerträglich waren. Drei Jahre später trat er aus der Partei aus – entweder weil ihm deren Einstellung zur Homosexualität nicht gefallen konnte, oder wegen ihrer Unterwürfigkeit gegenüber der Sowjetunion (sei es in Sachen Freiheit, sei es in Sachen Wissenschaft).6 In den späten Fünfzigern musste er – in Warschau – das kommunistische System noch einmal am eigenen Leib erfahren.7 Es sind die ‚beruflichen‘ Erfolge, die den jungen Philosophen, den brillanten Lehrer und Schreiber, tragen und heben: Ausübung gelingender Freiheit. Seine Themen findet er aber eher auf der anderen Seite des Daseins: Traum, Psychologie, Geisteskrankheit, Wahnsinn, Einsperrung. Deskriptives und empathisches Interesse für Freiheitsbeschränkungen, auch wenn diese nicht die Form brutaler Gewalt annehmen: ‚Modernisierung‘ der Repressionssysteme. Diese Linie seiner Gegenstandswahl für viele seiner Bücher sollte für lange Zeit bestimmend sein – bis in die späten Siebzigerjahre. Die Wahl seiner Themen wie auch die Art ihrer Behandlung – eine Kombination aus historischer Analyse mit fundamentalontologischer Differenzierung von Aufscheinen und Verschwinden – erschließt elementarpolitische Schichten in der Konstituierung des Abendlandes: zunächst ohne ausdrückliches Hervorkehren des
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Siehe Eribon 1989, S. 20 f. Siehe Eribon 1989, S. 21. Siehe Eribon 1989, S. 27. Siehe Eribon 1989, S. 28. Siehe Eribon 1989, S. 42 ff. Siehe Eribon 1989, S. 76 f.; siehe Foucault 1994, III, S. 140; siehe Foucault 1994, IV, S. 36. Siehe Eribon 1989, S. 111 f.
Ist Foucault ein Liberaler?
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Politischen.8 Vor allem versagt er sich jedes politische Freiheitspathos – liberales wie auch linkes. Eher kokettiert er mit der Unfreiheit, in welche anonyme Strukturen der Sprache, der kulturellen Organisation, der Wissenschaft, der Technik alle Menschen eintauchen – auch diejenigen, denen dabei kein Leid geschieht. Doch auch hinter diesen ‚positiven‘ Analysen steckt eine Art von Befreiungsanspruch oder -angebot, wie Foucault 1966 in einem berühmt gewordenen Gespräch ausgeführt hat: „Man denkt innerhalb eines anonymen und zwingenden Gedankensystems, nämlich dem einer Epoche und einer Sprache. Dieses Denken und diese Sprache haben ihre eigenen Transformationsgesetze. Die Aufgabe der heutigen Philosophie und aller theoretischen Disziplinen, die ich Ihnen aufgezählt habe, besteht darin, dieses Denken vor dem Denken, dieses System vor jeglichem System wieder zutage zu fördern. Aus ihm taucht unser ‚freies‘ Denken empor und leuchtet für einen Augenblick auf … Wenn der Durchschnittsbürger heute den Eindruck einer barbarischen Kultur hat, voller Chiffren und Siglen, so ist dieser Eindruck nur auf eine Tatsache zurückzuführen. Unser Erziehungssystem stammt aus dem 19. Jahrhundert, und man sieht, wie in ihm immer noch eine äußerst schale Psychologie, ein höchst veralteter Humanismus, die Kategorien des guten Geschmacks und des menschlichen Herzens vorherrschen. Es ist weder die Schuld des Ereignisses noch des Durchschnittsbürgers, wenn er das Gefühl hat, nichts mehr zu begreifen; die Schuld liegt bei der Organisation des Schulwesens … Der Versuch, der gegenwärtig von einigen unserer Generation unternommen wird, besteht daher nicht darin, sich für den Menschen gegen die Wissenschaft und gegen die Technik einzusetzen, sondern deutlich zu zeigen, dass unser Denken, unser Leben, unsere Seinsweise bis hin zu unserem alltäglichsten Verhalten Teil des gleichen Organisationsschemas sind und also von den gleichen Kategorien abhängen wie die wissenschaftliche und technische Welt …“9
Mit solchen Erklärungen resümiert Foucault die theoretische Positionierung der Ordnung der Dinge, deutet aber auch eine gewisse politische Nützlichkeit seiner Analysen an. In seinen Schriften zu Sade, zu Bataille, zu Nietzsche kommt hingegen eher ein libertäres oder gar libertines Freiheitsverständnis zum Vorschein, das man ‚anarchistisch‘ oder ‚elementarpolitisch‘, in gewissem Sinn aber auch ‚unpolitisch‘ nennen kann. Von Sartre wie auch von der Kommunistischen Partei wird er des offenen Verrats an den Ideen der Linken bezichtigt. Nicht dies stört ihn, wohl aber die Behauptung, mit seinen „Strukturen“ erledige er die „Geschichte“.10 Eine ausdrückliche ‚Politisierung‘ Foucaults bahnt sich 1968 an, da er sowohl in Tunis wie in Paris zwischen studentische Unruhen und polizeiliche Aktionen gerät. Er liest kommunistische Theoretiker wie Leo Trotzky und Rosa Luxemburg. Um seine bisherigen Werke von Mißverständnissen zu befreien bzw. um sie in eine neue Stoßrichtung zu lenken, verfasst er die Archäologie des Wissens – eine sehr formalistische Programmatik, in die aber nun auch Begriffe wie „Strategie“, „Macht“, „Kampf“ eingehen.11 Am 2. Dezember 1970 Antrittsvorlesung im Collège de France: Die Ordnung des Diskurses. Foucault nimmt in dieser Stunde seines persönlichen Redetrium-
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Siehe Seitter 1990. Foucault 1994, I, S. 515 ff. Siehe Eribon 1989, S. 192 ff. Siehe Seitter 1996, S. 94–112.
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phes die abendländische Zivilisation beim Wort, bei ihrem Anspruch von Logophilie: Liebe zum Wort – und erklärt, die von ihr entwickelten logophoben Verhinderungs-, Einschränkungs- und Reglementierungsmechanismen in Sachen Wortergreifung zum Thema seiner Vorlesungen zu machen; darunter auch die Reglementierung, die die Erlaubnis zum Reden ans Gebot der Wahrheit bindet. Er möchte diese Mechanismen aufdecken – natürlich mit dem Hintergedanken an die Möglichkeiten von Konterattacken. Die zweite Untersuchungsrichtung, die ‚positive‘, soll die Bedingungen der Momente des Auftauchens, des Glückens von Wortergreifungen und Wortwirkungen erkunden, mögen sie auch selten sein. Damit findet Foucault auch ein Register für seine Literaturbegeisterungen: Hölderlin, Flaubert, Brisset, Roussel, Bataille, Char, Klossowski … und nicht nur für diese. So hat er das zentrale Thema seines Wirkens definiert, das er in der Folge sicherlich noch mehrfach abwandeln und anreichern wird. Die Voraussetzung dieser Themenstellung würde man antikisch megalopsychia, magnanimitas oder Großmütigkeit nennen, modern aber Liberalismus oder Liberalität in einem ethischen Sinn. Es handelt sich um den Willen, jedenfalls um den Wunsch, keineswegs aber um die Illusion in die Richtung, dass Wortergreifungen gelingen mögen. *** 1971 setzt sich Foucaults Politisierung fort – aber nun auf dem mikropolitischen Gebiet, das seine Schriften seit 1954 erschlossen haben. Gleichzeitig mit seinen ersten Vorlesungen am Collège de France (über Wahrheitsregime in der griechischen Antike) Gründung des Groupe d’information sur les prisons, der sich für die Rechte der Gefängnisinsassen engagiert, zusammen mit solchen agiert. Außerdem Einsatz für Militante, die von der Polizei ins Visier genommen werden und sich als „Maoisten“ ausgeben. Foucault distanziert sich vom Mao-Kult; andererseits macht er Probleme der Psychiatrie und der Justiz zum Thema der nächsten Vorlesungsreihe, was dann zum Buch Überwachen und Strafen führen wird.12 Parallel zu immer neuen, teilweise turbulenten politischen Engagements lässt Foucault verschiedene theoretische Arbeiten zu Themen wie Strafjustiz, psychiatrische Gutachtertätigkeit, „Pastoral“ als Form der Menschenlenkung, Denken des Krieges, Sexualitäts- und Bevölkerungspolitik aufeinander folgen, welche sich zu einer Geschichte und zu einer Problematisierung der Machtformen im Abendland seit der frühen Neuzeit zusammenschrauben. Am Anfang dieser Chronologie steht die Konstituierung des Staates: aus dem mittelalterlichen „Justizstaat“, der sich aus diversen religiösen und moralischen Motiven hergeleitetet hat, wird ein Verwaltungsstaat, der sich seine eigene „Staatsräson“ zurechtlegt, wonach die Sorge für eine Bevölkerung innerhalb eines Territoriums nur mit der Selbsterhaltung des Staates gewährleistet ist. Dafür setzt er einerseits die von alters her überlieferten Machtmittel der Souveränität ein, andererseits versucht er, mit „polizeywissen-
12
Siehe Eribon 1989, S. 237 ff.
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schaftlichen“ Methoden die Bevölkerung und den Reichtum zu mehren: die „politische Ökonomie“ wird daraus hervorgehen. Allerdings musste sich dieser Staat in seiner Konstituierungsphase mit wiedererstehenden vor- und gegenstaatlichen Kräften auseinandersetzen, von denen Foucault zwei namhaft macht: die Adeligen, die ihre persönliche Grundherrschafts- und Kriegsmacht und somit die „Freiheiten“ überhaupt durch jeden Staat bedroht sehen und ihn durch einen Krieg der Rassen subvertieren wollen, und die religiösen Schwärmer, die den kleinen Leuten Hoffnung auf ein ganz anderes Reich, auf ein Reich Gottes mit vollkommener Gerechtigkeit machen. 13 Im Lauf des 18. Jahrhunderts sieht Foucault den Übergang vom Souveränitätsstaat zum Disziplinarstaat, in dem sich die Macht zunehmend verfeinert sowie positiviert. Im 19. Jahrhundert dann der Übergang zum Kontroll- und Normalisierungsssystem, das mehr und mehr Wissenschaften – die Humanwissenschaften – einsetzt, um sowohl die Bevölkerung wie das Individuum für die Macht empfänglich und durchlässig zu machen. Den konträren Gegensatz zum Souveränitätsstaat nennt Foucault auch „Biopolitik“ – da die Macht nicht mehr „symbolisch“ als ein Gegenüber zu Gesellschaft und Individuen auftritt, sondern eher technologisch, ja symbiotisch, in die Leben der Lebenden eindringt. Zur Analyse des mehrstufigen Transformationsprozesses der politischen Infrastruktur hat Foucault den Begriff „Gouvernementalität“ eingeführt, der einem antikischen Sprachgebrauch zufolge unterschiedliche Lenkungskonstellationen bezeichnen kann. In univoker Verwendung steht er für Regierungsmacht wie für Regierungsdenken und dann lässt sich das Ergebnis des skizzierten Prozesses so resümieren, dass seit dem Anbruch der Moderne in Europa mehr regiert wird als je zuvor, aber eben auch raffinierter als je zuvor. Innerhalb der sich konstituierenden modernen Gouvernementalität formieren sich zwei zu unterscheidende Gegenbewegungen. Eine davon deklariert und betätigt sich offiziell und kriegerisch als große Alternative und nennt sich „Revolution“. Obwohl die meisten Arbeiten Foucaults von Wahnsinn und Gesellschaft bis hin zu Der Wille zum Wissen in der Französischen Revolution ihre wichtigsten Umschlagpunkt haben, spielt der Begriff der Revolution keine Hauptrolle in seiner Genealogie der politischen Technologien. Aufgrund seiner Nähe zu Phänomenen des religionsartigen Enthusiasmus wird er jedoch an anderer Stelle wichtig werden. Anders steht es mit der zweiten politischen Gegenbewegung, nämlich dem Liberalismus, der selber eine Regierungsmethode ist: „Der Liberalismus ist
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Siehe Foucault 1986, S. 10 ff. 36 ff. Der gegen den Absolutismus gerichtete aristokratische Kriegs-Diskurs beruft sich auf die Völkerwanderung, in der die germanischen Stämme die griechisch-römischen Errungenschaften des Gemeinwohls und der res publica durch eine „allgemeine Privatisierung“ zu ersetzen suchten; so Michel Rouche: Das Private dringt in Staat und Gesellschaft ein, in: Rouche 1989, S. 397 ff. Der griechische Philosoph Christos Giannaras sieht daher in der Völkerwanderung den Ursprung des modernen westlichen Individualismus; Giannaras 2012. Und was die biblisch inspirierten Rebellen der frühen Neuzeit betrifft, so hat Foucault selber in Tunesien und im Iran ähnlich motivierte politische Bewegungen erlebt.
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offensichtlich nicht eine Ideologie und nicht ein Ideal. Er ist eine Regierungsform und eine sehr komplexe Regierungs‚rationalität‘“.14 Sorgte sich die Polizeiwissenschaft darum, dass „zu wenig regiert“ wird, so sorgt sich der Liberalismus darum, dass „zu viel regiert“ wird – also ist er in quantitativer Hinsicht eine paradoxe oder subtraktive Regierungskunst: eben eine „ökonomische“ Regierungskunst. Beinahe eine „Gegen-Regierungs-RegierungsKunst“, die auch der „radikal-liberalen“ Intention Foucaults entgegenkommt, welche er „Kritik“ nennt: eine persönliche „Kunst“ (im antikischen Sinn und hier mit „Tugend“ konvergierend) – nämlich die „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“.15 Im folgenden greife ich auf Thomas Lemke zurück, der die Formierung des Liberalismus als Regierungskunst im 18. Jahrhundert (nach Foucault) resümiert hat: „Das Charakteristikum dieser Regierungskunst ist die ‚Freiheit‘ der Individuen. Das Individuum und seine Freiheit bezeichnet jedoch weniger den Ausgangspunkt dieser Regierungspraktiken als das Prinzip einer Gouvernementalität, die darauf abzielt, das als ihren Effekt zu produzieren, was sie als existierend beschreibt … Die Eigenart des Liberalismus besteht darin, dass die Individuen zugleich das Objekt der Regierungspraktiken und ihr notwendiger (freiwilliger) Partner oder ‚Komplize‘ sind. Für die liberale Regierung ist das Prinzip der Rationalisierung der Regierungstätigkeit an die Rationalität des freien Handelns der regierten Individuen gekoppelt. Das bedeutet, dass das rationale Handeln der Regierung mit dem natürlichen, interessenmotivierten Handeln freier, auf dem Markt tauschender Individuen übereinstimmen muss, weil es die (ökonomische) Rationalität dieser Individuen ist, die es dem Markt ermöglicht, seiner Natur gemäß zu funktionieren …“16
Nach dem ersten Weltkrieg begannen einige deutsche Theoretiker, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Marktwirtschaft gegen die ökonomischen und politischen Krisen zum Einsatz gebracht werden könnte. Diesem Komplex hat sich Foucault in seiner Vorlesung vom 24. Januar 1979 zugewandt, indem er von jener Bewegung sprach, deren Vertreter – allesamt Gegner des Nationalsozialismus – sich „Neoliberale“ oder „Ordoliberale“ nannten und nach dem Krieg in Westdeutschland dank dem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der die „Soziale Marktwirtschaft“ eingeführt hat, politisch einflussreich wurden. „Wenn der Kapitalismus eine ökonomisch-institutionelle Gesamtheit ist, dann muß man in dieses Ensemble eingreifen können und zwar dergestalt, dass man in ein und demselben Prozess den Kapitalismus verändert und einen neuen Kapitalismus ‚erfindet‘ … Die Ordoliberalen ersetzen die Konzeption der Wirtschaft als einen Bereich autonomer Regeln und Gesetze durch den Begriff der ‚Wirtschaftsordnung‘ als Gegenstand sozialer Interventionen und politischer Regulation … so dienen die theoretischen Anstrengungen der Ordoliberalen dem Ziel, nach der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus zu zeigen, daß sich die Irrationalitäten und Dysfunktionalitäten der kapitalistischen Gesellschaft durch politisch-insitutionelle ‚Erfindungen‘ überwinden lassen, da diese Probleme nicht notwendiger, sondern historischkontingenter Natur sind. Deshalb nehmen die Ordoliberalen einen Perspektivenwechsel vor,
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Foucault 1994 IV, S. 36. Foucault 1992, S. 12; dazu Butler 2002, S. 249–265. Lemke 1997, S. 172.
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bei dem an die Stelle einer naturalistischen eine institutionalistische Konzeption der Ökonomie tritt … Verkürzt gesagt wollen die Ordoliberalen demonstrieren, dass es nicht einen Kapitalismus mit seiner Logik, seinen Sackgassen und Widersprüchen gibt, sondern eine ökonomisch-institutionelle Gesamtheit, die historisch offen und politisch veränderbar ist.“17
Foucault ging ausführlich auf die entscheidenden auch theoretischen Weichenstellungen ein, die unter der Federführung von Ludwig Erhard vorgenommen worden sind: Befreiung der Wirtschaft von staatlichen Zwängen und andererseits Aufbau eines Staates im Gegenzug zum nationalsozialistischen Verfall des Staates – denn im Nationalsozialismus war der Staat zu einem bloßen Mittel der FührerVolksgemeinschaft herabgesunken, er war gewissermaßen privatisiert worden.18 Trotzdem seien die Nationalsozialisten mit ihrer Quasi-Verstaatlichungs-Politik einem zunehmenden Staats-Bedürfnis nachgekommen, dem das Staatsmodell des 19. Jahrhunderts nicht mehr genügt hätte. Sie hätten auf die Problemlage auch mit einer Polemik reagiert, die sich gegen den Staat wie gegen die Massengesellschaft, gegen die Bürokratie und gegen die Entwurzelung richtete – durchaus in Vorwegnahme von Kritiken, wie sie nach dem Krieg wieder laut wurden (und nicht nur in Deutschland). Die Ordoliberalen hätten dagegen den Vorschlag gemacht, nicht mehr wie die Liberalen des 19. Jahrhunderts den Staat an den Rand zu drängen, um dem Markt seine Freiheit zu lassen, sondern sozusagen aus dem staatlichen Nichts, aus dem Modell eines rechtlich geregelten Marktes einen rechtlich verfassten Staat zu konstruieren.19 Das Ergebnis fasst Foucault in der Formel zusammen, Deutschland (damals noch Westdeutschland) sei ein radikal ökonomischer Staat.20 Die dritte Version von Liberalismus, die Foucault im Frühjahr 1979 analysiert hat, ist die Ökonomische Theorie der Chicagoer Schule, vertreten hauptsächlich durch Gary Becker. In diesem annähernd zeitgenössischen österreichischamerikanischen „Neoliberalismus“ wird der Begriff der „Ökonomie“ derart ausgeweitet, dass sowohl ökonomische wie auch andere Sachverhalte einer neuartigen politologischen Analyse unterzogen werden können. So wird der Arbeiter zu einem Unternehmer erklärt, der seine Fähigkeiten als sein „Kapital“ derartig investiert, wie es ihm günstig scheint. Oder aber der Verbrecher, der mit seiner Tat eine bestimmte Investitionsentscheidung – mit bestimmten Risiken – getroffen hat.
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Lemke 1997, S. 244 f. Siehe Foucault 2004, S. 82, 115 f. Siehe Foucault 2004, S. 116 ff. Siehe Foucault 2004, S. 87. Im übrigen war ich bei der Vorlesung vom 31. Januar anwesend und ich erinnere mich daran, nachher mit einem philosophischen Kollegen aus Deutschland darüber gesprochen zu haben, der sich nicht genug darüber wundern konnte, dass jemand, der als „Linker“ galt, über Ludwig Erhard ohne einen Hauch von Polemik sprechen konnte. Neuerdings greifen Theoretiker auf jene Vorlesungen Foucaults zurück, um dem heutigen Deutschland eine Führungsrolle in Europa zuzuweisen, so Angelo Bolaffi: Cuuore tedesco. Il modello Germania, l’Italia e la crisi europea (Rom 2013).
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In dem verallgemeinerten Ökonomie-Begriff der Neoliberalen sieht Foucault ein politiktheoretisches Instrumentarium zur Kritik an herkömmlichen Gesellschaftsformen (ob man sie als „konservativ“ oder als „sozialistisch“ bezeichnet) und zum Entwurf von Regierungstechnologien, welche Menschenpluralitäten nicht in die Form einer ‚Gesellschaft‘ hineinzwingen: „Die ökonomische Welt … ist von Natur aus nicht-totalisierbar. Sie besteht ursprünglich und definitiv aus Gesichtspunkten, deren Vielfalt nicht zu reduzieren ist, da diese Vielfalt letzten Endes spontan in ihre Konvergenz mündet. Die Ökonomie ist eine atheistische Disziplin; die Ökonomie ist eine Disziplin ohne Gott; die Ökonomie ist eine Disziplin ohne Totalität; die Ökonomie ist eine Disziplin, welche nicht nur die Nutzlosigkeit sondern die Unmöglichkeit eines souveränen Gesichtspunktes, eines souveränen Standpunktes über der Totalität des zu regierenden Staates aufweist.“21
Foucault geht also sehr weit in seiner Identifizierung mit den neoliberalen Theorien – wohlgemerkt nicht zu wirtschaftspolitischen sondern zu politiktheoretischen Zwecken. Insofern kann er sehr wohl als ‚Liberaler‘ gelten.22 Und es bleibt die Frage, ob es weitere Anhaltspunkte, also Aussagenkomplexe gibt, welche eine solche Annahme dementieren oder bestätigen oder vertiefen. *** Die beiden Komplexe, mit deren Erörterung der Frage nachgegangen werden soll, sind die „Sexualität“ und die „Selbstregierung“. Im biographischen Aufriss wurde schon angedeutet, was ohnehin bekannt ist: dass Foucault mit seiner homosexuellen Orientierung bzw. mit deren gesellschaftlicher Ächtung schon von früh an Schwierigkeiten hatte. Allerdings hat er sie wie überhaupt den Bereich der Sexualität zunächst wenig thematisiert. In den Sechzigerjahren taucht sie am ehesten dort auf, wo er in einer recht französischen Tradition mit der Libertinage kokettiert – wo er sich also mit Sade, mit Bataille beschäftigt. In der Ordnung des Diskurses erwähnt er die Tabuisierung der Sexualität als Grund für eine Diskurs-Ausschließung. Damit reiht er sich in die liberale allerdings auch schon triviale Repressionshypothese ein, derzufolge die Sexualität und sogar das Sprechen von ihr speziell in der bürgerlichen Gesellschaft tabuisiert sei, womit eine bestimmte Sexualmoral alternativlos durchgesetzt werde. Eben diese Repressionshypothese, er nennt sie auch die „Hypothese Reichs“, wird von Foucault in seinem ersten diesem Thema gewidmeten Buch Der Wille zum Wissen als solche dingfest gemacht und kritisiert. Erstens mit dem empirischen Argument, dass gerade die Beschwörung dieser Unterdrückungsbehauptung und ihre unentwegte Wiederholung seit dem frühen 20. Jahrhundert mit der freudschen Psychoanalyse, welche ja sehr wohl von 21 22
Foucault 2004, S. 286. Die politische Stoßrichtung von Foucaults Liberalismus-Rezeption betont Lagasnerie 2012. Es sei noch darauf hingewiesen, dass Foucault gegenüber dem Liberalismus klargemacht hat, dass es sich dabei keineswegs um eine monolithische Bewegung handelte. Zu einer ausführlichen Historisierung liberalen Denkens siehe jetzt Stedman Jones 2012.
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Sexualität spricht (was man ihr gerade vorgeworfen hat) Hand in Hand geht, wie auch neuerdings mit der marxo-freudianischen Redeweise, welche die Unterdrückung der Sexualität lautstark behauptet und sich ihr ebenso lautstark widersetzt. Immerhin waren diese beiden Diskursströme zunächst einmal minoritär, das heißt der Repressionshypothese entsprachen tatsächlich niederdrückende und tabuisierende Verhaltensweisen und Verhältnisse. Doch das Aufbegehren gegen die Niederdrückung der Sexualrede hat sich auch deswegen so erfolgreich und lustvoll durchsetzen können, weil es durch ältere und ‚positive‘ Rede-Imperative vorbereitet und grundgelegt war: kirchliche Gebote zum Bekennen in der Beichte, polizeywissenschaftliche Traktate über Heiratsalter, Geburtenrate, Empfängnisverhütung, pädagogische Maßnahmen zur Schonung und Reifung der kindlichen Sexualität, medizinische Programme zur öffentlichen Gesundheitsfürsorge und schließlich die psychologische Erfindung einer Sexualität als Schlüssel zur Seele des Individuums, zu seinem Heil und zu seiner innersten Wahrheit. Im Gegenzug und gleichzeitig zur Tabuisierung der sexuellen Lüste habe es seit dem 17. Jahrhundert institutionelle „Anreizungen“ zum Reden über die Gefahren, aber auch über die bevölkerungspolitische Funktion der Sexualität gegeben. Die Einheit der beiden gegenläufigen Tendenzen scheint Foucault dort direkt zu berühren, wo er von der Latenz der Wahrheit der Sexualität spricht, welche seit dem 19. Jahrhundert die Psychologie als anthropologische Hermeneutik installiert hat: Niederdrücken, Verheimlichen der Sexualität, um sie als wirkmächtiges Geheimnis wieder aufdecken zu können.23 Zweifellos gehört auch diese pausenlos wissenschaftlich produzierte und eruierte Sexualität mitsamt ihren Anhängseln wie Entwicklungspsychologie, heute müsste man auch die Genderforschung dazunehmen, zu den Instrumentarien der Normalisierungsgesellschaft, die uns auch noch mit den Aussichten auf immer wieder mögliche „Befreiung“ lockt. Gegen dieses Zwangssystem der Sexualität hat Foucault seinerzeit nur theoretisches Erstaunen und vages Wünschen formulieren können: „Und träumen müssen wir davon, daß man vielleicht eines Tages, in einer anderen Ökonomie der Körper und der Lüste, nicht mehr recht verstehen wird, wie es den Hinterhältigkeiten der Sexualität und der ihr Dispositiv stützenden Macht gelingen konnte, uns dieser kargen Alleinherrschaft des Sexes zu unterwerfen; wie es ihnen gelingen konnte, uns an die endlose Aufgabe zu binden, sein Geheimnis zu zwingen und diesem Schatten die wahrsten Geständnisse abzuringen.“24
Wieder zeigt sich hier ein Foucault in dem empfindlichsten Punkt seines Wesens, der ihn sozusagen charakterlich zum Liberalen prädestiniert: das ist seine Empfindlichkeit gegenüber auch nicht-brutalen Freiheitseinschränkungen – nicht nur an ihm selber sondern auch an anderen. Nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Geschichte der Sexualität beginnt mit der Arbeit am zweiten Band der bereits geplanten Serie. Wider Erwarten gerät er damit in die Antike, zu den Kirchenvä-
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Siehe Foucault 1977, S. 85 ff. Foucault 1977, S. 190.
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tern und von denen zu den heidnischen Philosophen. Er sagt die geplanten Folgebände ab, weil er nicht bloß niederschreiben will, was er schon im Kopf hat. Und vielleicht auch wohl, weil er auf dieser Piste nicht finden zu können hoffte, was ihm als Wunsch vorschwebte: eine „andere Ökonomie der Körper und der Lüste“. Allerdings wird er die Ergebnisse seiner neuen Forschung erst Jahre später vorlegen können. In den späten Siebzigerjahren setzt er andererseits die Arbeit an der Genealogie der abendländischen Rationalitätsform (in der Politik) fort, die ihn zur liberalen Regierungskunst führen wird. Gleichzeitig sucht und findet er andere Formen der Rationalität (als die abendländischen) in Japan und im Iran. Die iranische Revolution konfrontiert ihn mit einer Dimension, auf die er 1968 in Tunis gestoßen war und die er 1976 auch bei den englischen antimonarchischen Rebellen, den religiös motivierten, der frühen Neuzeit ausfindig gemacht hat. 1976 nennt er sie „die lyrische Begeisterung und die Religiosität, die lange Zeit das revolutionäre Projekt begleiteten“.25 Über die Studentenrebellion in Tunis 1968 sagt Foucault (im Jahr 1978): „Was kann in der heutigen Welt bei einem Individuum die Lust, die Neigung, die Fähigkeit und die Möglichkeit zu einem unbedingten Opfer wecken? Ohne daß man darin den geringsten Ehrgeiz oder den geringsten Wunsch nach Macht und Gewinn vermuten könnte? Das war es, was ich in Tunesien gesehen habe, den Beweis für die Notwendigkeit eines Mythos, einer Spiritualität, die Unerträglichkeit bestimmter Situationen, die Kapitalismus, Kolonialismus und Neokolonialismus hervorrufen.“26
Das „Unerträgliche“ ist Foucaults Spezialbegriff für den „Feind“ (in der Politik). Mit „Opfer“, „Mythos“, „Spiritualität“ bezeichnet er eine Konstellation oder eine Kondition, in der das Individuum sich an eine objektive Instanz gebunden sieht und in eine traditionelle Gemeinschaft (mit derselben Bindung) eingebettet. Ein Zustand, der alles eher als ‚liberal‘ genannt werden kann. Foucault fühlt sich von ihm angezogen, gleichzeitig ist er ihm eher fremd. Ich nenne ihn den ‚religionsartigen‘ Zustand – für Foucault ist er der ‚andere Zustand‘. 1978 hört er, dass sich im Iran eine politische Revolution anbahnt, in der die Massen mit religiöser Inbrunst und mit konkreten politischen Forderungen auftreten. Foucault reist sofort in den Iran, trifft mehrere höherrangige Persönlichkeiten, die der Revolutionsbewegung nahestehen. Er schreibt mehrere Artikel für italienische und französische Zeitschriften, in denen er sich ausführlich mit den iranischen Vorgängen und Erwartungen auseinandersetzt, und kommt zum Schluss, im Iran sei etwas wirksam, was „wir (im Abendland) seit der Renaissance und den großen Krisen des Christentums vergessen hätten: eine politische Spiritualität.“27 Und Foucault ergänzt: „… eine vom Atem einer Religion durchdrungene Bewegung, die weniger vom Jenseits spricht als von der Verwandlung dieser Welt.“28 Die Iraner hätten die
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Foucault 1977, S. 17. Foucault 1996, S. 93. Foucault 1994, III, S. 694. Foucault 1994, III, S. 716.
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islamische Religion als revolutionäre Kraft erlebt und das heißt als eine „spirituelle Erfahrung“, in der sie ihre „gesamte Existenz erneuerten“; und da Foucault weiß, dass der Ausdruck „spirituell“ aus der abendländischen Tradition stammt, greift er zur Klärung der Etymologie des Wortes paradoxerweise zu einem Autor, von dem der berühmte Satz stammt, die Religion sei das Opium des Volkes; doch im Satz davor heiße es bei Marx, die Religion sei der Geist einer geistlosen Welt.29 *** Das Religionsartige, das Foucault „Spiritualität“ nennt, steht zweifellos in starkem Gegensatz zu dem, was man „Liberalismus“ oder „Liberalität“ nennt und was wohl doch als die Hauptorientierung, jedenfalls als die offizielle, des „Westens“ gelten kann. Und in stärkstem Gegensatz zu Foucaults extrem-liberaler Empfindlichkeit und Empfindsamkeit. Wieso aber übt diese Spiritualität dann immer wieder so eine Faszination auf ihn aus? Einfach nur aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit? Oder aufgrund ihrer geopolitischen Exotik? Das wären denn doch rein romantische, ja ästhetizistische Motive – die weder theoretisch noch ethisch sehr ernst zu nehmen wären. Nein, es gibt in Foucaults Denken, und zwar von Anfang an, ein Motiv, das in diese Richtung weist und es ist hier auch schon erwähnt worden. Aber bis in die späten Siebzigerjahre ist es nur sporadisch aufgetaucht, dann wieder zurückgedrängt, ja verworfen worden. Allerdings folgt Foucault zunächst einmal seiner liberalen Linie, die durch den Wunsch, ja durch den Imperativ Selbstbestimmung! definiert ist. Im Bereich der Sexualität, den Foucault 1976 mit einer speziellen Linie der Genealogie der Moderne aufgerissen hatte, hieß Selbstbestimmung für ihn: Selbsterklärung der bzw. für Homosexualität. Doch dazu scheint er sich erst entschlossen zu haben, als er die Genealogie ‚archäologisch‘ in die Antike zurückwarf und dort die bekannte Akzeptierung homosexuellen Lebens vorfand. Seinen ersten Beitrag in der neu gegründeten Zeitschrift Le Gai Pied widmete er aber einem anderen Thema, mit dem er den Imperativ der Selbstbestimmung auf die Spitze treiben konnte: sterben muss man sowieso, daher kommt es darauf an, im „wie“ möglichst viel Selbstbestimmung unterzubringen: also Selbsttötung mit sorgfältiger Vorbereitung, mit Phantasie, ganz nach Wunsch.30 Andere Beiträge in dieser Richtung: 1980 Seminar über den Liberalismus, Planung eines Seminars über den Nihilismus des späten 19. Jahrhunderts.31 Mit zwei Rechtsanwälten formuliert er sein Verständnis von politischer Militanz: sich verteidigen – ohne das „Selbst“ der Selbstverteidigung – heißt: nicht aufgrund von Gesetzen oder von Rechten vertei-
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Siehe Foucault 1994, III, S. 749. Siehe Foucault 1985, S. 55 ff.; dazu Seitter 2004, S. 155 ff. Siehe Foucault 1994, I, S. 54; zum Nihilismus siehe Foucaults Bemerkung in Foucault 2008, S. 7 f.
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dige ich mich, „sondern weil ich mich verteidige, existieren meine Rechte und respektiert mich das Gesetz“ … und ich muss nicht das Spiel der Machtinstanzen spielen.32 Also eine „aktivische“, soweit es geht souveräne Rechtspolitik. Die archäologische Tieferlegung der Genealogie der Moderne – zu den Kirchenvätern und dann zu den klassischen antiken Philosophen – hat zunächst nicht die Thematik der Sexualität sondern die der Regierungskunst betroffen: Regierungskunst wird von der Staatsführung analogisch ausgeweitet – bzw. eingeengt – auf Lenkung einer Gemeinde, eines Hauses und auf Selbststeuerung des Individuums. Der Begriff savoir-pouvoir wird umgewandelt, indem Macht durch Regierung und Wissen durch Wahrheit ersetzt wird. Regierungskunst und Wahrheitsmanifestation können in unterschiedlichsten Verhältnissen zueinander stehen.33 Für „Wahrheitsmanifestation“ setzt Foucault dann „Wahrheitsregime“ ein, weil sich die Manifestation nicht logisch aus der Wahrheit ergibt, sondern weil da ein Moment der Verneigung, der Unterordnung eintreten muss, damit die Bindung an die Wahrheit zustandekommt; selbst wenn man von „Wahrheitsspiel“ spricht, so ist dieses Spiel eine Leistung und nicht nichts.34 1982 untersucht Foucault die sokratische Empfehlung, jeder möge sich um sich kümmern, als Voraussetzung für eine gute Lebens-, also Selbstführung. Und obwohl nach Foucault die „Sorge um sich“ von der „Selbsterkenntnis“ zu unterscheiden, ja ihr überzuordnen sei, gehöre zu den sie tragenden Aktivitäten auch die Aufrechterhaltung von Beziehungen zu anderen, das sind andere Menschen, das sind andere Dinge der Welt, und das ist die Dimension der Wahrheit über andere und über eine(n) selber.35 Dimension der Wahrheit, die nur unter der Voraussetzung zu erreichen ist, dass das Subjekt an sich selber arbeitet, an sich selber Transformationen vornimmt, ja dass es einen Preis dafür zahlt, um an die Wahrheit heranzukommen. Foucault spricht von Modifikationen an der Existenz, er scheut vor dem Wort „Konversion“ nicht zurück, das wir doch hauptsächlich von einem formellen Eintritt in eine Religionsgemeinschaft kennen.36 Und er gibt dieser ganzen Erfahrung und Tätigkeit – wenn auch nur unter Vorbehalt – den Namen „Spiritualität“, den wir wiederum aus dem Bereich religiöser oder quasireligiöser Tätigkeiten oder Angebote kennen.37 Die andere Bezeichnung, die er direkt aus den antiken philosophischen Quellen übernimmt, nämlich „Askese“, wurde zwar in der europäischen Neuzeit zumeist als religiös motivierter Genussverzicht verstanden, er lässt sich aber leicht auf die antike Bedeutung ‚sportlichen‘
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Siehe Foucault 1994, I, S. 54. Siehe Foucault 2012, S. 15 ff. Siehe Foucault 2012, S. 91 ff. Siehe Foucault 2012, S. 442 ff. Selbst in der Archäologie des Wissens, die sich doch vom Pathos der Wahrheit ganz fern hält, bedarf es laut Foucault „einer Konversion des Blicks und der Haltung“, um das diffizilen Objekt namens „Aussage“ ins Auge fassen zu können. Foucault 1969a, S. 145. Allerdings hat sich dieser Begriff in den letzten Jahrzehnten so inflationär ausgedehnt, dass man ihn nicht mehr eindeutig auf Religiöses beziehen muss.
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Übens zurückführen.38 Zu dieser Wahrheitserfahrung gehört eine starke Rückwirkung der Wahrheit aufs Subjekt im Sinne von Erleuchtung, Erfüllung oder Krönung und Wiedergutmachung für die Arbeit, ja das Opfer, das vom Subjekt erbracht worden ist: im Sinne einer „Rettung“ des Subjekts.39 Von „Spiritualität“ hatte Foucault früher in Zusammenhang mit tunesischen und iranischen politischen Ereignissen gesprochen, jetzt tut er es in Bezug auf eine bestimmte antike Wahrheitspolitik. Ich würde dafür die Bezeichnung „religionsartig“ einführen – ohne aus dem einen oder anderen nun eine ganze Religion machen zu wollen. Aber ein wesentlicher Aspekt von Religiosität liegt da vor: nämlich eine objektive Instanz, die als Macht und als Norm anerkannt, gesucht, vielleicht geliebt wird. Und der „zuliebe“ (wenn auch gleichzeitig sich selber zuliebe) man Arbeit, Mühsal auf sich nimmt. Man könnte also von einer ‚sektoralen‘ Religionsartigkeit sprechen (in der es nicht um Gott sondern ‚nur‘ um die Wahrheit geht). 40 Ein wichtiger Aspekt von Religion fehlt allerdings in dem bisher Gesagten: die soziale Dimension, die Einbettung in eine gleichgesinnte Gemeinschaft. Immerhin insistiert Foucault doch auf einem Zug dieser sozialen Dimension: „Man kann die Sorge um sich nicht praktizieren ohne Umweg über den Meister, es gibt keine Sorge um sich ohne die Präsenz eines Lehrers. Die Position des Lehrers wird dadurch definiert, daß er sich um die Sorge kümmert, welche der von ihm Geführte für sich selber aufbringt … Der Meister ist derjenige, der sich um die Sorge sorgt, die das Subjekt für sich selber aufbringt … Indem er den Knaben auf interesselose Weise liebt, ist er das Prinzip und das Modell der Sorge, die der Knabe als Subjekt für sich selber zu leisten hat.“41
Der Lehrer steht neben der Wahrheit als andersartige normative Instanz und ergänzt damit diese Konstellation zu einer Wahrheitspolitik „spiritueller“ Art, deren Religionscharakter indessen zurücktritt, wenn das Subjekt als junger Mensch gedacht wird, dem die Lernpflicht ohnehin zuzumuten ist. Dennoch widerspricht die Position der Wahrheit als fordernde Instanz wie auch die Position des Lehrers als empirische Präsenz und vor allem die Mühe, die dem Subjekt abverlangt wird und für die sogar der atavistische Begriff „Opfer“ eingeführt wird – all dieses widerspricht doch einigermaßen den „liberalen“ Postulaten bzw. Empfindlichkeiten, die wir bei Foucault ausgemacht haben.42 Nur ein Zug an diesem Modell entspricht ihnen, jedenfalls im Prinzip: dass es dem Subjekt dabei um es selber geht, um
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Siehe Foucault 2001, S. 12 ff. Siehe Foucault 2001, S. 20. Die Rettung oder Heilung, von der da die Rede ist und die eine gewisse Analogie zu den Möglichkeiten der Medizin aufweist, wurde von allen antiken Philosophenschulen in Aussicht gestellt; siehe S. 94 ff, 117. Ob sich Foucaults Denken insgesamt auf das Phänomen der Religion beziehen lässt, untersucht Carrette, 2000. Dabei stützt er sich mehr auf eine Verbindung von Sexualität und Negativer Theologie als auf die Dimension der Wahrheit. Foucault 2001, S. 58, 379 ff. Schon 1971 zitiert Foucault Nietzsche mit dem Gedanken, wie die Religionen einst die Opferung des menschlichen Leibes gefordert hätten, so rufe das Wissen heute uns dazu auf, dass wir das Erkenntnissubjekt opfern. Siehe Foucault 1974: 108.
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seine Existenz, um deren qualitative Steigerung. „Lebenskunst“ und „Ästhetik der Existenz“ sind die Begriffe, mit denen Foucault diese Ziele der Sorge um sich umschreibt. Die ausdrückliche, ja emphatische Unterordnung unter die Wahrheitsinstanz als eine äußere, die Anerkennung der Wahrheit als keine nur menschengemachte Größe, als kein bloßes Mittel eines Willens zur Macht – dieses Motiv tritt nicht zum ersten Mal 1982 auf den Denkweg Foucaults. Zwanzig Jahre zuvor hatte er, im Vorwort zu Gesellschaft und Wahnsinn, im „klassischen Zeitalter“ (um 1700) mit seiner Aus- bzw. Einschließung des Wahnsinns einen großen Umbruch ausfindig gemacht, der doch die Form einer bewegungslosen Figur annahm: „die einfache Trennung zwischen Tag und Dunkelheit, zwischen Schatten und Licht, zwischen Traum und Wachsein, zwischen der Wahrheit der Sonne und den mitternächtlichen Kräften … Dieser Figur kam es auch zu, den Menschen in ein mächtiges Vergessen zu bringen. Diese große Trennung lernte er zu beherrschen und auf sein eigenes Niveau zu reduzieren. Er lernte in ihr Tag und Nacht herzustellen, die Sonne der Wahrheit dem schwachen Licht seiner Wahrheit unterzuordnen. […] [So] war es dem Menschen möglich, schließlich jene Beziehung von sich selbst zu sich selbst herzustellen, die man ‚Psychologie‘ nennt … damit der Mensch behaupten konnte, seine Wahrheit zu besitzen und sie in der Erkenntnis zu entschlüsseln.“43
Und resümierend: „… der Mensch habe sein Verhältnis zur Wahrheit ersetzt, indem er diese in das grundlegende Postulat entfremdete: er selbst sei die Wahrheit der Wahrheit.“44 In der Renaissance herrschte also noch das antike, das kosmologische Außenverhältnis zwischen dem Menschen und der Wahrheit, das dann durch Aneignung ersetzt, d. h. destruiert worden ist. Was Foucault hier der „Psychologie“ vorhält, das hat er Ende der Sechzigerjahre und bis zum Ende der Siebzigerjahre mit anderen deutlich wahrheitsneutralen Begriffen wie „Diskursstrategien“, „MachtWissen“ komparatistisch durchgespielt – Namen für die menschliche Wahrheitsaneignung, die zwar möglich, in gewissem Sinn notwendig ist, und gegen die sich jene Instanz der Wahrheit doch sträubt, weshalb immer neue geschaffen werden.45 Mit der liberalen Regierungskunst hat Foucault das Abendland auf seinen konsequentesten, daher auch seinen engsten Begriff gebracht. Die Einführung der „Spiritualität“ als Unterordnung unter die Wahrheit erscheint demgegenüber jedenfalls auf den ersten Blick dysfunktional, monströs – wie eine eher peinliche „Konversion“. „Sonne der Wahrheit“ in der Sprache von 1961, 1982 Wahrheit als „göttliches Element“ oder als Ensemble hilfreicher Sentenzen, von dem man sich wie von einem Piloten führen lässt.46 Hat Foucault selber diesen Widerspruch zwischen dem modernen Ideal der menschlichen Autonomie (bzw. dem antiken Ideal der Autarkie) und dem wie ich
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Foucault 1969, S. 15. Foucault 1968: 131. Zu Foucaults unterschiedlichen Fassungen des Wahrheitsproblems siehe Seitter, 2001: 153– 169. Siehe Foucault 2001: 68 f., 308 ff.
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sage doch eher religionsartigen Ideal der Bindung an Wahrheit empfunden? Hat er ihn stehen lassen oder aufgelöst? Er hat ihn einerseits stehen lassen, indem er in der Arbeit der „Spiritualität“ die Rollen des Schülers und des Lehrers unterschieden hat. Dem Schüler wird die zunächst ganz und gar „illiberale“ Position der mühsamen Einübung in die Unterwerfung unter die Wahrheit mittels des Gehorsams gegenüber dem Meister zugemutet. Der Lehrer hingegen, der diesen Prozess bereits durchgemacht haben muss, wird in der „Spiritualität“ schon eine andere Ebene erreicht haben, auf der es zwar immer noch um die Unterwerfung unter die Wahrheit geht,, aber sie wird sich bei ihm schon zu einem Habitus verfestigt haben, der nicht bloß eine Gewöhnung an die Unterwerfung ist, sondern eine Tugend, die zu aktivem Handeln motiviert. Diese Aktivität erzeugt eine Passiv-Aktiv-Balance, die wiederum bloße Heteronomie vermeiden lässt. Den Übergang zu diesem Stadium nennt Foucault das Werden zum „aktive(n) Subjekt wahrer Diskurse“.47 Der erreichte Zustand aber ist die parrhesia, lateinisch libertas.48 Deutsch die Freimütigkeit, die Freiredigkeit. Wörtlich übersetzt heißt parrhesia All-Redung. Und diese wahrheitsneutrale theoretische Formulierung könnte man als Grundbegriff für Foucaults Analysen im Zeitraum von 1966 bis 1980 einsetzen. Mit der Übernahme der antiken Begriffe „Spiritualität“ und „Parrhesia“ widerruft Foucault die Wahrheitsneutralisierung jener Analysen. Dennoch gehört zum Begriff der „Parrhesia“ nicht nur die Unterwerfung unter die Wahrheit sondern auch eine bestimmte Herrenposition. Foucault übernimmt sozusagen von Lacan den Begriff „discours du maître“ für den Meister, für den Lehrer in der Spiritualitätsübung, für den Parrhesiasten.49 Dessen Freiheit oder „‚Herr’lichkeit ist allerdings nicht diejenige, die in der Antike den Sophisten und dann den Rhetorikern unterstellt worden ist. Der Rhetoriker kennt zwar die Wahrheit aber er behält sich vor, damit umzugehen, wie es seinem Interesse entspricht: er steht nicht in einem „fundamentalen Pakt“ mit der Wahrheit.50 Heißt der Parrhesiast lateinisch einfach „liber“ oder „liberalis“, so könnte auf den Rhetoriker die Qualifizierung „libertär“ oder „libertin“ im abendländischen Sinn eher zutreffen (falls diese Begriffe nicht doch eher für die „extremistischen“ Versionen des Parrhesisasten passen).51 Allerdings hat „libertinus“ im Lateinischen eine präzise soziale Bedeutung. Nämlich freigelassen – und diese Bedeutung hat wiederum einen Bezug zu der sozialen Stellung, die der Parrhesiast in
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Foucault 2001: 398. Siehe Foucault 2001: 348 ff. Siehe Foucault 2001: 348. Zu den „vier Diskursen“ bei Lacan, die ihrerseits auch von Foucaults Archäologie des Wissens angeregt worden sind, siehe Seitter, 2013: 125 ff. Jenen vier Diskursen setzt Foucault dann vier Typen des Wahrsprechers entgegen: den Propheten, den Weisen, den Techniker (oder Spezialisten) und den Parrhesiasten; aus denen wiederum leitet er mittelalterliche Figuren wie die Universität und den Prediger ab; siehe Foucault, 2009: S. 25 ff., 63 ff. Siehe Foucault 2001: S. 349, 365 f. Siehe Fußnote 53.
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Walter Seitter
der Spätantike häufig hatte. Der Lehrer war nicht mehr der alte Weise, der auf eigene Initiative junge Leute ansprach, sondern ein „Angestellter“: wenn schon nicht ein Sklave, so ein bezahlter Fachmann, der sich mit einem sozial höher gestellten Individuum „psychagogisch“, also seelenführend beschäftigte. In dieser Position musste er sich die parrhesiastische Leistung gegen die Möglichkeit, gegen die Versuchung der Schmeichelei selber erarbeiten. Und auf diese Weise, über die Parrhesie als ethische Leistung, konnte er eine ganz bestimmte Herrenposition erringen – auch gegenüber einer sozial (und ökonomisch) besser gestellten Person. 52 Nachdem Foucault in der Vorlesung 1982 von der Einführung der „spirituellen“ Wahrheitspolitik direkt zur Wiederentdeckung der „parrhesiastischen“ Wahrsprechung übergegangen war, hat er die Vorlesungen der Jahre 1983 und 1984 – es waren seine letzten – so gut wie ausschließlich der Parrhesie gewidmet. So gut wie ausschließlich, aber mit der Ausbreitung eines riesigen Feldes unterschiedlicher antiker Tatsachen. Und mit einer zweifachen theoretischen Zuspitzung: Selbstregierung, Selbstlenkung, Selbststeuerung einerseits, Mut zur Wahrheit andererseits. Die erste Zuspitzung formuliert in etwa das antike Pendant zur modernliberalen Selbstbestimmung. Die zweite Zuspitzung impliziert deutlich die Unterwerfung unter die Wahrheit und damit tendenziell einen Gegenpol zum modernen Liberalismus; aber sie transformiert diese Unterwerfung, überhöht sie zu einer mehr oder weniger heroischen, jedenfalls riskanten Leistung, vor allem wenn sie im Bereich der Politik ausgeübt wird.53 Im Sinn eines derartigen Heroismus könnte Foucault ein Liberaler genannt werden, ebenso wie aufgrund seiner Affinität zum neoliberalen Regierungsdenken. Allerdings ein ‚unreiner‘, ein durch Wahrheitsbindung verunreinigter Liberaler. LITERATUR Butler, Judith, 2002: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50, S. 249–265. Carrette, Jeremy, 2000: Foucault and Religion. Spiritual Corporality and Political Spirituality.London, New York. Eribon, Didier, 1989: Michel Foucault (1926–1984). Paris. Foucault, Michel, 1968: Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt. Foucault, Michel, 1969: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt.
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Siehe Foucault 2001: S. 363 f., 389 f. Gelegentliche Exkurse ins Mittelalter, in die Neuzeit, in die Moderne zeigen, dass es Foucault keineswegs nur um Darstellungen antiker Denkformen geht, sondern um historischsystematische Vorschläge für die Gegenwart. So auch der umfangreiche von den antiken Kynikern ausgehende und Autoren wie Arnold Gehlen und Peter Sloterdijk nennende Exkurs zu den revolutionären sowie zu den künstlerischen Wahrheitsbezeugungen; siehe Foucault, 2009: S. 164 ff.
Ist Foucault ein Liberaler?
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Foucault, Michel, 1969a: L’archéologie du savoir. Paris Foucault, Michel, 1974: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens. München, S. 83–109. Foucault, Michel, 1977: Sexualität und Wahrheit, I: Der Wille zum Wissen. Frankfurt. Foucault, Michel, 1985: Von der Freundschaft als Lebensweise. Im Gespräch. Berlin. Foucault, Michel, 1986: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Berlin. Foucault, Michel, 1992: Was ist Kritik? Berlin. Foucault, Michel, 1994: Dis et écrits. 1954–1988. Paris. Foucault, Michel, 1996: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori. Frankfurt. Foucault, Michel, 2001: L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France. 1981–1982. Paris. Foucault, Michel, 2004: Naissance de la biopolitique. Cours au Collège de France. 1978–1979. Paris. Foucault, Michel, 2008: Le gouvernement de soi et des autres. Cours au Collège de France. 1982– 1983. Paris. Foucault, Michel, 2009: Le courage de la verité. Le gouvernement de soi et des autres. II. Cours au Collège de France. 1984. Paris. Giannaras, Christos, 2012: O chamenos politismos tou „dimosiou simferontos“. In: To Vima, 16. Dezember 2012. Lagasnerie, Geoffory de, 2012: La dernière leçon de Michel Foucault. Sur le néolibéralisme, la théorie et la politique. Paris. Lemke, Thomas, 1997: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Berlin und Hamburg. Rouche, Michel, 1989: Abendländisches Frühmittelalter. In: Paul Veyne (Hrsg.): Geschichte des privaten Lebens I: Vom Römischen Imperium zum Byzantinischen Reich. Frankfurt, S. 389– 512. Seitter, Walter, 1990: Ein Denken im Forschen. Zum Unternehmen einer Analytik bei Michel Foucault. In: Philosophisches Jahrbuch, 87, S. 340–363. Seitter, Walter, 1996: Zur Gegenwart anderer Wissen. In: Michel Foucault und Walter Seitter: Das Spektrum der Genealogie. Bodenheim, S. 184–112. Seitter, Walter, 2001: Politik der Wahrheit. In: Marcus S. Kleiner (Hrsg.): Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt, S. 153–169. Seitter, Walter, 2004: Kriegskunst. Friedenskunst. Eine Problematik in Foucaults Geschichtskunst. In: Peter Gente (Hrsg.), 2008: Foucault und die Künste, Frankfurt, S. 148–161. Seitter, Walter, 2013: Philosophie, Antiphilosophie, Lacan. In: Ivo Gurschler u. a. (Hrsg.): Lacan 4D. Zu den vier Diskursen in Lacans Seminar XVII, Wien-Berlin, S. 125–135. Stedman Jones, David, 2012: Masters of the Universe. Hayek, Friedman and the Birth of Neoliberal Politics. Princeton.
QUEERE SUBJEKTIVIERUNGEN? SCHEITERN ALS PRAXIS DER FREIHEIT Zara S. Pfeiffer
„Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist. […] Es war eine philosophische Übung: es ging darum zu wissen, in welchem Maße die Arbeit, seine eigene Geschichte zu denken, das Denken von dem lösen kann, was es im Stillen denkt, und inwieweit sie es ihm ermöglichen kann, anders zu denken.“1
Nicht so kategorisiert werden. Nicht auf diese Weise subjektiviert werden. In dem Vortrag „Was ist Kritik“ vom 27. Mai 1978 stellt Michel Foucault der Kunst des Regierens eine kritische Haltung gegenüber, die er als „Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“2 definiert, „als Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.“3 Was aber bedeutet das? Welche Machtmechanismen verbergen sich hinter einer Kunst des Regierens, welche sozialen Praxen beinhaltet eine kritische Haltung, die sich den Regierungstechniken zu widersetzen versucht? Michel Foucault nähert sich diesen Fragen über drei historische Anhaltspunkte, die das Verhältnis von Macht, Wahrheit und Subjekt in den Blick nehmen: Eine kritische Haltung beinhaltet demnach erstens: die Weigerung das Lehramt der Kirche und der Heiligen Schrift unhinterfragt anzuerkennen; zweitens: dem blinden Gehorsam gegenüber dem Gesetz universale Rechte entgegenzustellen; und schließlich drittens: das Wahrsprechen einer Autorität nicht ohne weiteres zu akzeptieren, sondern den Wahrheitsgehalt einer Aussage im Verhältnis zu sich selbst zu prüfen und die Autorität des Dogmatismus in Frage zu stellen.4 Das Verhältnis von Machtmechanismen, Wahrheitsproduktion und Subjektivierungs-
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Foucault 1989, S. 15 f. Foucault 1992, S. 12. Ebd. Vgl. ebd., S. 13 f.
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prozessen ist dabei gleichermaßen für eine Intensivierung der Regierungstätigkeit5 als auch für die gegenläufige Bewegung der Kritik wesentlich. In seinem Vortrag sagt Foucault hierzu: „Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“6
Entunterwerfung ist aber nicht nur die Funktion von Kritik, sondern gleichermaßen Haltung und Praxis. Im Fokus des folgenden Textes stehen die Machtwirkungen und Wahrheitseffekte von Subjektivierungsprozessen in Hinblick auf die Frage nach dem Geschlecht sowie die Frage, ob und wie diese unterlaufen werden können. Oder anders formuliert: Gibt es Subjektivierungen, die sich als Entunterwerfungen beschreiben lassen oder ist das Zusammentreffen von Subjektivierung und Entunterwerfung letztendlich ein unmögliches Unterfangen? Was bedeutet das in Hinblick auf die Frage nach dem Geschlecht? Liegt in dieser potentiellen Unmöglichkeit – in dem notwendigen Scheitern von Subjektivierungsprozessen – ein kritisches Potential? Kann Scheitern als Praxis der Freiheit queere Subjektivierungen ermöglichen? Queer als die Haltung, nicht so kategorisiert zu werden und Subjektivierung als Mechanismus, der durch die Zuweisung in gesellschaftlich verstehbare Kategorien, Handlungsfähigkeit ermöglicht, sind dabei zunächst sich widersprechende Konzepte, die jedoch über den Mechanismus des Scheiterns miteinander in Beziehung stehen. Das Scheitern an den (Geschlechts-)Kategorien ist – wie im Folgenden mit Michel Foucault und Judith Butler gezeigt werden soll – ein konsitutiver Teil von Subjektivierung. Das heißt die Zuweisung in Kategorien als Bedingung für Handlungsfähigkeit kann nur über das Scheitern an ebendiesen Kategorien gelingen. Das Scheitern an den Kategorien ist damit ebenso Bedingung für Handlungsfähigkeit wie das Unterwerfenwerden unter dieselben Kategorien. Aus diesem Grund ist Subjektivierung, wie Judith Butler in Anschluss an Michael Foucault ausgeführt hat, nie ein einmalig erfolgreiches Konzept, sondern muss als Prozess immer wieder von neuem durchlaufen werden.7 Das Scheitern ist dabei der Motor, der diesen Prozess gleichermaßen am Laufen hält und vorantreibt. Hier verbirgt sich das Moment der Freiheit über die sich letztlich eine Handlungsfähigkeit nicht nur jenseits, sondern auch in in Hinblick auf die Kategorien ergeben kann. Eine Freiheit, die nicht eine vermeintliche Befreiung von den Kategorien vorgibt, sondern eine Praxis der Freiheit im Sinne Foucaults, die sich in der Haltung des nicht so kategorisiert werdens ausdrückt. 5
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Unter Regierung versteht Foucault „[…] die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung.“ Foucault 2005e, S. 116. Foucault 1992, S. 15. Vgl. Butler, 1997, S. 21 ff.
Queere Subjektivierungen? Scheitern als Praxis der Freiheit
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1. IM KREBSGANG Am Ausgangspunkt dieses Textes steht die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht im Denken Michel Foucaults. Wie lässt sich Geschlecht mit Foucault oder sogar über ihn hinaus denken? Inwiefern lassen sich die Subjektivierungsprozesse in Bezug setzen zu der Frage nach dem Geschlecht? Was überhaupt ist gemeint, wenn von Geschlecht die Rede ist? Welche Machtmechanismen werden dabei aufgerufen und welche Wahrheitsproduktion angeschoben? Die Herausforderung einer solchen Fragestellung ist zunächst eine methodologische: Wie, über welche Zugänge oder Werkzeuge ist es möglich, sich der Kategorie Geschlecht zu nähern ohne damit Geschlecht als Universalie festzuschreiben? Sich dieser Kategorie mit Foucault zu nähern, würde bedeuten, eben nicht von Geschlecht als Universalie auszugehen, sondern im Gegenteil ein Mittel oder Werkzeug zu finden, sich der Kategorie auf einem seitlichen Umweg zu nähern. Während einer Vorlesung am 31. Januar 1979 am Collège de France beschreibt Michel Foucault sein methodisches Vorgehen mit folgender Metapher: „[…] denn, wie Sie wissen, bin ich wie ein Krebs, ich bewege mich seitwärts […].“8 Da er davon ausgeht, dass „keine Methode um ihrer selbst willen eingesetzt werden darf“9, entwickelt er seine Analyseinstrumente immer in Bezug auf die zu untersuchenden Objekte oder Kategorien.10 Dieses Vorgehen bedeutet jedoch nicht, dass Foucault die Objekte oder Kategorien selbst zum Ausgangspunkt seiner Analyse macht. Im Gegenteil: Foucault verwendet den methodischen Kunstgriff, Begriffe wie den Wahnsinn, die Delinquenz oder den Staat zu untersuchen, indem er von deren Nicht-Existenz ausgeht. Er sagt: „Die Methode bestand darin, zu sagen: Angenommen, der Wahnsinn existiert nicht. Was ist dann die Geschichte, die man anhand dieser verschiedenen Ereignisse, dieser verschiedenen Praktiken schreiben kann, die sich anscheinend um diese unterstellte Sache, den Wahnsinn, gruppieren? Ich möchte hier also genau das Gegenteil des Historizismus tun. Also nicht die Universalien befragen, indem ich als kritische Methode die Geschichte verwende, sondern von der Entscheidung der Nichtexistenz der Universalien ausgehen, um die Frage zu stellen, was für eine Geschichte man schreiben könnte.“11
Auf diese Weise gelingt es ihm, nicht die Universalien selbst in den Blick zu nehmen, sondern die Bedingungen und Praktiken ins Zentrum der Analyse zu rücken, welche die Universalien als solche hervorgebracht haben – er nähert sich ihnen seitwärts. Diese Vorgehensweise ist ein konstitutives Teil der Foucault-
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Foucault 2006a, S. 116. Foucault 2006b, S. 179. „Ich taste mich voran und fabriziere nach besten Kräften Instrumente, die Objekte sichtbar machen sollen. Ein wenig sind diese Objekte durch die guten oder schlechten Instrumente bestimmt, die ich da fabriziere. Und sie sind falsch, wenn meine Instrumente falsch sind … Ich versuche, meine Instrumente über die Objekte zu korrigieren, die ich damit zu entdecken glaube, und dann zeigt das korrigierte Instrument, dass die von mir definierten Objekte nicht ganz so sind, wie ich gedacht hatte.“ Foucault 2003b, S. 521 f. Foucault 2006a, S. 16.
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schen Genealogie12, die – quasi als Anti-Wissenschaft, so Foucault13 – den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften in Frage stellt, indem sie auf Wissensarten zurückgreift, mit denen „die zentralisierenden Machtwirkungen, die mit der Institution und dem Funktionieren eines wissenschaftlichen Diskurses verbunden sind,“14 beleuchtet werden können. Der Foucaultschen Genealogie geht es nicht darum, die Wahrheit, das Wesen oder den Kern der Dinge zu entdecken, sondern darum, aufzudecken, dass es eine solche Wahrheit nicht gibt, dass die Dinge kein Wesen und keinen Kern besitzen, sondern aus ihnen fremden Stücken zusammengesetzt werden. Sie sucht nicht nach einer sinnstiftenden Begründung als Bedingung unserer Existenz, indem sie versucht, den Ursprung und die Einheit unserer Identität nachzuzeichnen. Vielmehr versucht sie, die Kontingenz und die Zufälligkeit des Gegenwärtigen aufzuzeigen: „[…] es heißt entdecken, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls.“15 Statt einen kontinuierlichen Bogen zwischen einem vorgestellten Ursprung und der Gegenwart zu spannen, zerbricht die Genealogie die von der Geschichtsschreibung konstruierte kontinuierliche Entwicklung unserer Existenz. Sie löst die Einheit unserer Identität auf und verweist auf die Brüche und Diskontinuitäten unserer Herkunft und Entstehung. Indem die genealogische Vorgehensweise ein konstituierendes Subjekt verwirft und statt dessen das Subjekt selbst als konstituiert beschreibt, macht sie nicht nur deutlich, dass wir nicht zwangsläufig das sein müssen, was wir gegenwärtig sind. Die Genealogie „[…] wird vielmehr aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit herauslösen, nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.“16 Bezugs- und Ausgangspunkt einer genealogischen Untersuchung ist damit immer die Gegenwart. „Genealogie heißt, dass ich die Analyse von einer gegenwärtigen Frage aus betreibe“17 – schreibt Foucault. Indem sie das Fundament des gegenwärtig allgemein anerkannten Wissens untergräbt, ist die Foucaultsche Genealogie somit immer auch eine Möglichkeit, die gegenwärtige Realität zu hinterfragen, zu kritisieren und zu verändern. In dem Gespräch mit Rux Martin vom Oktober 1982 sagt Foucault hierzu Folgendes: „Ich möchte zeigen, dass viele Dinge, die Teil unserer Landschaft sind – und für universell gehalten werden –, das Ergebnis ganz bestimmter geschichtlicher Veränderungen sind. Alle meine Untersuchungen richten sich gegen den Gedanken universeller Notwendigkeiten im
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In seinem Aufsatz „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ entwickelt Foucault 1971 – in Anlehnung an Nietzsches „Genealogie der Moral“ – erstmals eine systematische Darstellung der genealogischen Methode. Vgl. Foucault 2002. Vgl. Foucault, 1978b, S. 62. Ebd., S. 63. Ebd., S. 172. Foucault 2005f, S. 702 f. Foucault, 2005c, S. 831.
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menschlichen Dasein. Sie helfen entdecken, wie willkürlich Institutionen sind, welche Freiheit wir immer noch haben und wie viel Wandel immer noch möglich ist.“18
Was bedeutet eine solche Vorgehensweise nun in Bezug auf eine Analyse des Geschlechts? Angenommen, die Kategorie Geschlecht existiert nicht: Welche Praktiken, welche Bedingungen haben dazu geführt und führen noch heute dazu, dass wir davon ausgehen, dass es eine bestimmte, kulturell normierte Vorstellung davon gibt, was Geschlecht zu sein hat, welche Ausprägungen es annehmen kann, welche Anpassungen vorgenommen werden, welche Abweichungen toleriert und welche Ausschlüsse vollzogen werden? Es geht also bei der methodischen Annahme von der Nicht-Existenz von Geschlecht nicht darum, das Phänomen Geschlecht selbst in Frage zu stellen oder es als bloßes Trugbild abzutun. Es geht stattdessen darum, den universellen Charakter zurückzuweisen, der die Kategorie Geschlecht als etwas Feststehendes, Überhistorisches und notwendig Unveränderliches festschreibt. 2. „BRAUCHEN WIR WIRKLICH EIN WAHRES GESCHLECHT?“19 „Eine Sexualität hat man seit dem 18. Jahrhundert, seit dem 19. ein Geschlecht. – Vorher hatte man zweifellos ein Fleisch.“20 In dem Text „Das wahre Geschlecht“ beschäftigt sich Foucault vor dem Hintergrund des Lebens der Hermaphrodit/in Herculine Barbin mit der Frage, wie sich im Laufe der Jahrhunderte der rechtliche und medizinische Umgang mit geschlechtlich vieldeutigen Körpern verändert hat. Obwohl Hermaphroditen auch während der Antike und im Mittelalter spezifischen rechtlichen Regelungen unterlagen, setzte sich die Vorstellung eines einem Körper eindeutig zuzuordnenden wahren Geschlechts erst im Laufe des 18. Jahrhunderts durch.21 „Von nun an hatte jeder nur ein einziges Geschlecht. Jeder besaß ein eigentliches, tief verwurzeltes, bestimmtes und bestimmendes Geschlecht. Die möglicherweise auftretenden Elemente des jeweils anderen Geschlechts konnten nur nebensächlich, oberflächlich oder sogar bloße Täuschung sein.“22 Eine wesentliche Folge dieser veränderten Perspektive war, dass die individuelle Entscheidung über das eigene Geschlecht abgelöst wurde durch die Suche von Experten nach dem wahren, von der Natur bestimmten Geschlecht eines Körpers. Zu-
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Foucault 2005h, S. 961. Mit dieser Frage beginnt Foucault seinen Text „Das wahre Geschlecht“. Foucault 2005b, S. 143. Der kurze Text „Das wahre Geschlecht“ erschien als Einleitung zu der Veröffentlichung, der kurz vor ihrem Suizid 1869 verfassten Lebenserinnerungen der Hermaphrodit/in Herculine Barbin. Geboren 1838 war diese unter dem Namen Alexina als Mädchen unter Mädchen in einem Nonneninternat aufgewachsen. Als ihre körperliche „Anomalie“ entdeckt wurde, wurde sie zur Klärung ihres „wahren Geschlechts“ isoliert, begutachtet und 1860 schließlich zum Mann erklärt. Foucault 1978a, S. 145. Vgl. Foucault 2005b, S. 144 f. Ebd., S. 144.
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gleich wurde es zu einer gesellschaftlichen, moralischen und stets zu kontrollierenden Pflicht des Individuums, dieses von Experten gefundene Geschlecht auch sozial zu leben. Im Zuge des 19. und 20. Jahrhunderts öffnete sich diese rigide Vorstellung eines einzig möglichen wahren Geschlechts allmählich, so Foucault. Die „diffuse Vorstellung, dass zwischen Geschlecht und Wahrheit ein komplexes, dunkles, aber wesenhaftes Verhältnis besteht“23 hielt sich jedoch hartnäckig in der Psychiatrie, der Psychoanalyse und der Psychologie ebenso wie in der öffentlichen Meinung.24 „Außerdem glaubt man, dass man in der Geschlechtlichkeit nach den geheimsten und tiefsten Wahrheiten des Individuums suchen müsse, dass man dort am ehesten entdecken könne, was ein Mensch ist und was ihn bestimmt. Und während man jahrhundertelang meinte, alles Geschlechtliche aus Gründen der Scham verbergen zu müssen, wissen wir heute, dass gerade das Geschlecht die geheimsten Bereiche des Individuums verbirgt: die Struktur seiner Träume, die Wurzeln seines Ich, die Formen seiner Beziehung zur Realität. Am Grunde der Geschlechtlichkeit liegt die Wahrheit. Am Kreuzungspunkt dieser Vorstellungen – wonach wir uns über unser Geschlecht nicht täuschen dürfen und unser Geschlecht das Allerwahrste in uns enthüllt – entfaltet die Psychoanalyse ihre kulturelle Wirkung. Sie verspricht uns unser wahres Geschlecht und zugleich die ganze Wahrheit über uns selbst, die insgeheim darin ruht.“25
Was aber ist das für eine Wahrheit, die sich am Grunde des Geschlechts verbergen soll? Warum scheinen wir ein wahres Geschlecht zu brauchen? „Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht?“26 3. KATEGORIEN DIE SICH WIE TROLLE GEBÄRDEN Auf der Suche nach dem wahren Geschlecht scheint die etwas merkwürdige Aufzählung, die Foucault an den Anfang seiner „Ordnung der Dinge“ stellt, zunächst wenig hilfreich. Aus einem Text des argentinischen Schriftstelle Jorge Luis Borges27 zitiert er „[…] ‚eine gewisse chinesische Enzyklopädie‘ in der es heißt, daß ‚die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Trolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen‘.“28
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Ebd., S. 145. Vgl. ebd. Ebd., S. 146. Ebd., S. 143. Borges 1966, Die analytische Sprache John Wilkins’, in: ders.: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966, 212, zitiert nach: Foucault 1974, S. 17. Ebd.
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Was hat nun diese Aufzählung mit der Frage nach dem wahren Geschlecht zu tun? Die vermeintliche Absurdität der Zusammenstellung versetzt in Unruhe und erzeugt, so Foucault, ein Lachen, das „alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt“29. Die vertraute Form der Aufzählung kollidiert hier mit einer in der Ordnung westlichen Denkens chaotisch anmutenden Form der Kategorisierung, welche eine solche Unterteilung ad absurdum zu führen scheint. Das Lachen über die angenommene Unmöglichkeit dieser Zusammenstellung verweist auf die Grenzen des eigenen Denkens. „Beim Erstaunen über diese Taxionomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.“30 Foucault verweist aber nicht nur auf die Grenze unseres Denkens, er weist über sie hinaus. Indem er die Unmöglichkeit, bestimmte Dinge zu denken benennt, ruft er die Beschränktheit unseres Denkens ins Bewusstsein und macht damit die Grenze des eigenen Denkens sichtbar, was immer auch die Möglichkeit beinhaltet, diese Grenze zu überschreiten.31 Denn auf der Grenze des Denkens kann die angenommene Universalität des eigenen Denkens in Frage gestellt werden: Warum erscheint uns die Ordnung der Dinge so und nicht anders? Wie merkwürdig ist das Denken innerhalb der eigenen Grenzen? Wie kommt es, dass die Kategorien Mann und Frau so unumstößlich wirken? Warum versetzt uns der Versuch, die Vielfalt der Körper in eine binäre Geschlechterordnung einzuteilen, nicht in Unruhe? Welche Machtbeziehungen und welche Wahrheitseffekte haben dazu beigetragen, das wahre Geschlecht als natürliche Gegebenheit einer zweigeschlechtlichen Ordnung festzuschreiben? Michel Foucault beschreibt die Wirkung dieser Form von Machtbeziehungen in ihrer Verflechtung zur Wahrheit und mit ihrer Wirkung auf das Subjekt folgendermaßen: „Diese Form von Macht wird unmittelbar im Alltagsleben spürbar, welches das Individuum im Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muß und das andere in ihm anerkennen müssen. Es ist eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht. Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemanden unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht.“32
Wenn sich aber am Grunde des wahren Geschlechts, welches vorgibt die Wahrheit unseres Selbst in sich zu tragen, nicht mehr und nicht weniger verbirgt als von Machtbeziehungen und Wahrheitseffekten durchzogene Subjektivierungspra-
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Ebd. Ebd. „Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Eine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent; umgekehrt wäre eine Überschreitung, die nur eine scheinbare oder schattenhafte Grenze durchbrechen würde, nichtig.“ Foucault 2001, S. 325. Foucault 2005g, S. 275, hier zitiert in der Übersetzung von: Foucault, Michel 1987, S. 246 f.
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xen, welche Möglichkeiten des Widerstands gibt es dann? Michel Foucault sieht in seiner Analyse drei verschiedene Typen von Kämpfen.33 Erstens Kämpfe gegen ethische, soziale und religiöse Herrschaft, zweitens Kämpfe gegen Ausbeutung und drittens Kämpfe „gegen all das, was das Individuum an sich selber fesselt und dadurch anderen unterwirft“34. Diese dritte Form des Kampfes berührt das Subjekt in seinem innersten Mechanismus, den Kern unserer Existenz, das was uns zu dem macht, was wir sind. Die zentrale Frage dieser Auseinandersetzung lautet: Ist es möglich an der Grenze unseres Denkens, die Art und Weise wie wir kategorisieren und kategorisiert werden zurückzuweisen? Welche Form könnte diese Zurückweisung annehmen, welche Praxen würde sie beinhalten? 4. NICHT SO SUBJEKTIVIERT WERDEN! „Es ist keine Substanz. Es ist eine Form, und diese Form ist weder vor allem noch durchgängig mit sich selbst identisch.“35 Um die Frage beantworten zu können, ob und wie es möglich sein könnte, bestimmte Formen der Subjektivierung zurückzuweisen, ist es zunächst notwendig, dem Subjekt selbst auf die Spur zu kommen. Dies ist insofern eine Herausforderung, da das Subjekt nach der Analyse Foucaults eine Form ist und keine Substanz. Er sagt: „Ich musste eine bestimmte Theorie a priori des Subjekts zurückweisen, um diese Analyse der Beziehungen zwischen der Konstitution des Subjekts oder verschiedenen Formen des Subjekts und den Spielen der Wahrheit, den Praktiken der Macht usw. vornehmen zu können.“36
Das Subjekt konstituiert sich also „durch eine Reihe von Praktiken, die in Spielen der Wahrheit, Praktiken der Macht usw. bestehen“37. Was aber sind diese Praktiken der Macht und Spiele der Wahrheit? Wie äußern sie sich? Der zentrale Bezugspunkt der Foucaultschen Annäherung an das Subjekt, ist der Prozess der Subjektivierung, den Louis Althusser in seinem Text „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ als Anrufung oder Interpellation mit einer fiktiven Szene beschreibt. „Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: ‚He, Sie da!‘ Wenn wir einmal annehmen, daß die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wen-
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Ebd. Ebd. Foucault 2005a, S. 888. Ebd. Ebd.
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dung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, daß der Anruf ‚genau‘ ihm galt und daß es ‚gerade es war, das angerufen wurde‘ (und niemand anderes).“38
Diese Schlüsselszene der Anrufung, in welcher der Polizist dem Passanten sein „He, Sie da!“ zuruft, woraufhin dieser sich umwendet und sich in der Umwendung als Subjekt konstituiert, verweist auf den Doppelcharakter von Subjektivierungsprozessen. Der Ruf des Polizisten steht für die Ideologie, welche die „Individuen in Subjekte ‚transformiert‘“, die Umwendung symbolisiert das Anerkennen des Passanten mit diesem Ruf gemeint zu sein und vollzieht die Transformation. Die Anrufung kann ohne die Umwendung nicht gelingen. Das Subjekt konstikonstituiert sich also gleichermaßen „durch Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit“39, so Foucault. Diese Analyse des Subjekts als ein unterworfener Unterwerfer und ein unterwerfendes Unterworfenes40 macht deutlich, dass Subjektivierung nicht jenseits gesellschaftlicher Machtverhältnisse gedacht werden kann. Das Subjekt und die Macht sind unwiderruflich miteinander verbunden. Diese Beziehung ist jedoch keinesfalls eindimensional, starr oder kausal. Sie entfaltet sich vor dem Hintergrund der Foucaultschen Machtanalyse, welche Macht als komplexes System von Kräfteverhältnissen beschreibt, die in einem strategischen Verhältnis zueinander stehen und sich permanent verändern, indem sie verschwinden, sich neu herausbilden und sich den konkreten Bedingungen einer gegebenen Situation immer wieder neu anpassen, um ihre Wirkung zu erzielen.41 „Dass die Macht Bestand hat, dass man sie annimmt, wird ganz einfach dadurch bewirkt, dass sie nicht bloß wie eine Macht lastet, die Nein sagt, sondern dass sie in Wirklichkeit die Dinge durchläuft und hervorbringt, Lust verursacht, Wissen formt und einen Diskurs produziert; man muss sie als ein produktives Netz ansehen, das weit stärker durch den ganzen Gesellschaftskörper hindurchgeht als eine negative Instanz, die die Funktion hat zu unterdrücken.“42
Eine Macht die sich nicht darauf beschränkt zu verbieten, sondern als vielfältige Machtbeziehungen darauf abzielt etwas hervorzubringen, ist, so Foucault, „[…] definiert durch eine Form von Handeln, die nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt.“43 An dieser Stelle kommt das Subjekt als Figur des Handelns ins Spiel, in der sich die Machtverhältnisse kreuzen und verdichten. In Anlehnung an Foucaults Analyse beschreibt Judith Butler das Subjekt als Modell für Handlungsfähigkeit und Intelligibilität44, wobei die Intelligibilität auf den Prozess des Unterworfenwerdens verweist, während die Handlungsfähigkeit sich in den Praktiken der Freiheit konstituiert. Dies bedeutet aber auch, dass die Praktiken der Freiheit wesentlicher Bestandteil von Intelligibilität sind und
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Althusser 1977, S. 142 f. Foucault 2005d, S. 906. Vgl. Reckwitz 2006, S. 9. Vgl. Foucault 1983, S. 113 Foucault, 2003a, S. 197. Foucault 2005g, S. 285. Butler 2005, S. 63.
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dass Handlungsfähigkeit durch den Prozess des Unterworfenwerdens entsteht. Und schließlich bedeutet es, dass die Praktiken der Freiheit nicht ohne den Prozess der Unterwerfung gedacht werden können: Nicht so subjektiviert werden. „Das Hauptziel besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen was wir sind. Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein könnten, wenn wir uns dem doppelten politischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt. […] Wir müssen nach neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt.“45
Ist es also möglich die Struktur zurückzuweisen, durch die und in der wir subjektiviert werden? Ist es möglich die Kategorien (weiblich/männlich; wahnsinnig/normal; delinquent/gesetztestreu; etc.) abzulehnen oder zu unterlaufen, mit denen und durch die wir als mit uns selbst identische Subjekte hervorgebracht und anerkannt werden? Ist es möglich die Kategorie Geschlecht anders zu denken, als wir sie heute denken? Aus einer genealogischen Perspektive, müsste die Antwort lauten: auf jeden Fall. Die Substanz hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert, wie Foucault am Beispiel des Phänomens des Hermaphroditismus gezeigt hat.46 Das Subjekt aber ist keine Substanz – es ist eine Form. 5. SCHEITERN ALS PRAXIS DER FREIHEIT „Kritik beginnt mit der Voraussetzung der Regierungsintensivierung und mit dem Scheitern der Totalisierung des Subjekts, das erkannt und unterworfen werden sollte.“47
In dem Text „Was ist Kritik“ befasst sich Judith Butler mit dem eingangs zitierten gleichnamigen Vortrag Foucaults, in dem dieser fragt: „‚Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?‘“48 Was aber bedeutet in diesem Kontext regiert werden? Es bedeutet, wie Butler sehr treffend beschreibt, „[dass] unserer Existenz eine Form aufgezwungen wird, […] dass uns die Bedingungen vorgeschrieben werden, unter welchen Existenz möglich oder nicht möglich ist.“49
Die Möglichkeit der Kritik verbirgt sich gleichermaßen an den Grenzen dieser Bedingungen der Existenz wie im Modus ihrer Einschreibung. Denn Freiheit und Macht stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander, das sich ständig neu ausbalanciert. Foucault schreibt:
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Foucault 2005g, S. 280. Vgl. Foucault 2005b und Gehring 2008, S. 290. Butler 2001b. Foucault 1992, S. 11 f. Butler 2001b.
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„Wenn man Machtausübung […] als ‚Regierung‘ von Menschen durch andere Menschen im weitesten Sinne des Wortes beschreibt, dann schließt man darin ein wichtiges Element ein, nämlich die Freiheit. Macht kann nur über ‚freie Subjekte’ ausgeübt werden, insofern sie ‚frei‘ sind – und damit seien hier individuelle und kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen. Wo die Bedingungen des Handelns vollständig determiniert sind, kann es keine Machtbeziehungen geben.“50
Macht und Freiheit bedingen einander gegenseitig. Wenn aber Freiheit eine notwendige Bedingung für das Funktionieren von Regierungstätigkeit ist, dann stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie sich Freiheit als kritische und widerständige Praxis denken lässt. Denn die Freiheit selbst wird in einer solchen Analyse zum Modus einer Individualisierung und Totalisierung der Machtbeziehungen und der Regierungstätigkeit. Foucaults Antwort auf diese Frage ist eindeutig. Freiheit ist gleichermaßen Teil der Machtbeziehungen und Teil des Widerstands innerhalb dieser Machtbeziehungen. Er schreibt: „Das heißt, dass es in Machtbeziehungen notwendigerweise Möglichkeiten des Widerstands gibt, denn wenn es keine Möglichkeit des Widerstands – gewaltsamer Widerstand, Flucht, List, Strategien, die die Situation umkehren – gäbe, dann gäbe es überhaupt keine Machtbeziehungen. Vor diesem allgemeinen Hintergrund weigere ich mich, die Frage zu beantworten, die man mir manchmal stellt: ‚Aber wenn die Macht überall ist, dann gibt es keinen Widerstand.‘ Ich antworte: Wenn es Machtbeziehungen gibt, die das gesamte soziale Feld durchziehen, dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt.“51
Die Freiheit bedingt demnach nicht nur die Machtbeziehungen, sondern sie widersetzt sich ihnen auch, während sie sich gleichzeitig den Machtbeziehungen nie vollständig entziehen kann. Dieser scheinbar paradoxe Doppelcharakter der Freiheit verdichtet sich im handelnden Subjekt. Die Bewegung der Entunterwerfung sucht deshalb nicht eine Verweigerung der Subjektivierung, sondern eine andere Form der Haltung: Nicht nicht subjektiviert werden, sondern nicht so subjektiviert werden. Der Schlüssel dieses Nicht-so-Subjektivert-Werdens liegt im Moment des Scheiterns. Scheitern als notwendiger Bestandteil jedes Subjektivierungsprozesses ist die strukturelle Möglichkeit die Art und Weise wie wir subjektiviert werden zu verschieben und zu unterlaufen. Eine einmal gelungene Anrufung ist keine Garantie für zukünftige Anrufungen. Der Prozess der Anrufung und Umwendung ist im höchsten Maße instabil. Die Konstituierung des Subjekts gelingt immer nur vorläufig, vorübergehend und unvollständig.52 Judith Butler schreibt hierzu:
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Foucault 2005g, S. 287. Foucault 2005a, S. 890. „Die Unmöglichkeit eines völligen Wiedererkennens, d.h. die Unmöglichkeit, den Namen,von dem jemandes soziale Identität inauguriert und mobilisiert wird, jemals ganz auszufüllen, impliziert überdies die Instabilität und Unvollständigkeit der Subjektbildung.“ Butler 1997, S. 310.
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„In diesem Sinn funktioniert die Interpellation oder Anrufung, indem sie scheitert, d.h. sie setzt ihr Subjekt als einen Handelnden genau in dem Maße ein, in dem sie daran scheitert, ein solches Subjekt erschöpfend in der Zeit zu bestimmen.“53
Aus diesem Grund ist Subjektivierung darauf angewiesen permanent wiederholt zu werden. In dieser Wiederholung reproduzieren sich auf der einen Seite gesellschaftliche Machtverhältnisse, auf der anderen Seite beinhaltet die Wiederholung die Möglichkeit diese Machtverhältnisse zu verschieben, widerständig zu handeln und die Kategorien, durch und in die wir unterworfen werden, zu verändern. Wir scheitern also an den Kategorien – und die Kategorien scheitern an uns. Die Bewegung des Nicht-so-Subjektiviert-Werdens bedeutet dabei, die Freiheit, die sich durch das Scheitern ergibt, herauszufordern und zu gestalten. Die Praxis der Freiheit liegt dabei nicht darin, Subjektivierung zu verweigern, sondern den Prozess der Subjektivierung selbst als Mechanismus für Veränderung zu nutzen. 6. IM REICH DER SCHIMÄREN „Die geschlechtliche Unregelmäßigkeit wird mehr oder weniger dem Reich der Schimären zugeordnet.“54 Die Verschiebungen der Kategorien Frau/Mann stehen im Verdacht, ein ursprüngliches, wahres Geschlecht zu verbergen. Denn das Geschlecht erzählt – in einer allgemeinen und nach wie vor weit verbreiteten Vorstellung – die Wahrheit über das Selbst. Die Körper, die sich einer geschlechtlichen Normierung entziehen, sind damit die Schimären einer zweigeschlechtlichen Ordnung. Ihre Existenz ist gleichermaßen Bedingung wie Grenze dieser Ordnung. Denn die binäre Geschlechterordnung selbst ist ein Hirngespinst, wenngleich ein überhaus wirkmächtiges. Das normierte Geschlecht ist ein zentraler, wenn nicht der zentrale Bezugspunkt der Machtwirkungen einer Regierungstätigkeit. In „Der Wille zum Wissen“ beschreibt Foucault den Sex [sexe – das Geschlecht]55 als „Scharnier zwischen den beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens.“56 Er schreibt: „Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert.“57 Und weiter: „Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung. Er dient als Matrix der Disziplinen und als Prinzip der Regulierungen. […] Zwischen den
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Butler 2001a, S. 183. Foucault 2005b, S. 145. Petra Gehring weist in ihrem Text darauf hin, dass die Foucaultsche Analyse der Sexualität in „Der Wille zum Wissen“ (Foucault 1983) auch in Hinblick auf das Geschlecht gelesen werden kann. Die ausschließliche Übersetzung von sexe mit Sexualität wird der Doppelbedeutung des Wortes nicht gerecht. Neben Sexualität kann das französische Wort sexe auch mit Geschlecht übersetzt werden. Vgl. Gehring 2008, S. 291. Foucault 1983, S. 173. Foucault 1983, S. 166.
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beiden Polen dieser Technologie staffelt sich eine ganze Serie verschiedener Taktiken, die in wechselnder Proportion das Ziel der Körperdisziplin mit dem der Bevölkerungsregulierung kombinieren.“58
Auf der individuellen Ebene geht es darum, die Fähigkeiten des Körpers zu steigern, seine Kräfte nutzbar zu machen und ihn mit Hilfe von Institutionen wie Schule, Internat, Kaserne und Fabrik in die Ökonomie einzugliedern. Auf kollektiver Ebene geht es darum, die Bevölkerung mit Hilfe von Demographie zu erfassen und Fortpflanzung, Lebensdauer, öffentliche Gesundheit und Wanderungsbewegungen mittels Geburten-, Gesundheits- und Siedlungspolitik zu regulieren.59 Die geschlechtliche Differenzierung und Normierung ist dabei ein wenn nicht sogar der wesentliche Angriffspunkt sowohl in Hinblick auf die Kontrolle der individuellen Körper als auch in Bezug auf die Regulierung von Bevölkerungen. Vor diesem Hintergrund sind Queere Subjektivierungen, also Subjektivierungen, die Geschlechts-Kategorien verschieben, per se verdächtig, da sie sich dem Regierungshandeln zu widersetzen versuchen. Queere Subjektivierungen stehen damit für eine kritische Haltung im Sinne Foucaults, welche sich weigert, Wissen, Gesetz und Wahrheit unhinterfragt anzuerkennen.60 In dieser Zurückweisung verbirgt sich die Freiheit, sich eben nicht so regieren zu lassen. LITERATUR Althusser, Louis, 1977: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg. Butler, Judith, 1997: Körper von Gewicht. Die Diskursiven Grenzen des Geschlechts, Franfurt am Main. Butler, Judith, 2001a: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main. Butler, Judith, 2001b: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: eipcp – European Institute for Progressive Cultural Policies (Hrsg.): Transversal 08/2006. Kritik, http://eipcp.net/transversal/0806/butler/de [16.11.2013]. Butler, Judith, 2005: Gewalt, Trauer, Politik. In: Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main, S. 36–68. Foucault, Michel, 1974: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main. Foucault, Michel, 1978a: Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Departement de Psychoanalyse der Universität Paris/Vincennes. In: Michel Foucault: Dispositive der Macht, Berlin, S. 118–175. Foucault, Michel, 1978b: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht. Vorlesung vom 7. Januar 1976. In: Michel Foucault: Dispositive der Macht, Berlin, S. 55–74. Foucault, Michel, 1983: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Erster Band, Frankfurt am Main.
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Foucault 1983, S. 174. Vgl. Foucault 1983, S. 166 f. Vgl. Foucault 1992, S. 13 f.
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Foucault, Michel, 1987: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow (Hrsg.): Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel Foucault. Frankfurt am Main, S. 241–261. Foucault, Michel, 1989: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. Zweiter Band, Frankfurt am Main. Foucault, Michel, 1992: Was ist Kritik?, Berlin. Foucault, Michel, 2001: Vorrede zur Überschreitung. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I. 1954–1969, Frankfurt am Main, S. 320–342. Foucault, Michel, 2002: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band II. 1970–1975, Frankfurt am Main, S. 166–191. Foucault, Michel, 2003a: Gespräch mit Michel Foucault. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III. 1976–1979, Frankfurt am Main, 186–213. Foucault, Michel, 2003b: Macht und Wissen. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III. 1976–1979, Frankfurt am Main, S. 515–534. Foucault, Michel, 2005a: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980–1988, Frankfurt am Main, S. 875–902. Foucault, Michel, 2005b: Das wahre Geschlecht. In: In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980–1988, Frankfurt am Main, S. 142–152. Foucault, Michel, 2005c: Die Sorge um die Wahrheit. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980–1988, Frankfurt am Main, S. 823–836. Foucault, Michel, 2005d: Eine Ästhetik der Existenz. Gespräch mit A. Fontana. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980–1988, Frankfurt am Main, S. 902–909. Foucault, Michel, 2005e: Gespräch mit Ducio Trombadori. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980–1988, Frankfurt am Main, S. 51–119. Foucault, Michel, 2005f: Was ist Aufklärung. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980–1988, Frankfurt am Main, S. 687–707. Foucault, Michel, 2005g: Subjekt und Macht. In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980–1988, Frankfurt am Main, S. 269–294. Foucault, Michel, 2005h: Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982). In: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. 1980–1988, Frankfurt am Main, S. 959–966. Foucault, Michel, 2006a: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalitat II. Vorlesung am College de France. 1978–1979, Frankfurt am Main. Foucault, Michel, 2006b: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität. I. Vorlesung am College de France. 1978–1979, Frankfurt am Main. Gehring, Petra, 2008: Sexe/Geschlecht. In: Clemens Kammler / Rolf Parr / Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, S. 291– 293. Reckwitz, Andreas, 2006: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Göttingen.
ANONYMITÄT, ANOMALITÄT. FOUCAULT UND DELEUZE – PARALLELE PHILOSOPHIEN DER FREIHEIT Wilhelm Miklenitsch
Hans Matthäus Bachmayer (1940–2013) In memoriam
1. EIN GEWISSER ZORN In den Jahren 1971/72 sind Michel Foucault und Gilles Deleuze, damals in Frankreich bereits die beiden berühmtesten Philosophen der auf Sartre und MerleauPonty folgenden Generation, in dem von Foucault und Daniel Defert gegündeten Groupe d’information sur les prisons (abgekürzt: G.I.P.), der Informations-Gruppe über die Gefängnisse, politisch aktiv: ein zweiter Full Time Job, randvoll ausgefüllt nicht nur von Pressekonferenzen, Petitionsübergaben im Justizministerium und Demonstrationen vor den Gefängnistoren, sondern vor allem durch das mühselige Klein-Klein der Basisarbeit mit Häftlingsangehörigen und Ex-Gefangenen, nicht zuletzt auch (dabei entstehen die bekannten Fotos von Foucault mit Megaphon und neben Sartre) auf seiten der von Rassisten attackierten und durch die zum Teil selber araberfeindliche französische Polizei nur unzureichend geschützten algerisch-marokkanischen Einwanderer im Pariser Norden. Liest man vier Jahrzehnte danach nochmals die entsprechenden Texte Foucaults und Deleuzes, die alle um die Verteidigung demokratischer Freiheits- und Bürgerrechte und die Anreizung zusätzlicher Freiheitsspielräume kreisen, so fällt einem – trotz großer philosophisch-politischer Gemeinsamkeiten – eine leichte Divergenz auf. Bei Deleuze gibt es ein spezielles Interesse an der Kraft mancher Gefangener, trotz der Ausweglosigkeit ihrer Situation, der viele durch Drogen zu entkommen versuchen, an einem elementaren Wunsch nach Leben und Freiheit festzuhalten, der auch nicht vor der Selbsttötung zurückschreckt, wenn jede andere Fluchtmöglichkeit abgeschnitten scheint1. Foucault dagegen interessiert sich mehr für die alltäglichen Schikanen, denen die Häftlinge im Gefängnis, einem vom Rechtssystem zum Zweck strafrechtlichen Freiheitsentzugs eingerichteten und doch faktisch 1
Siehe Deleuze; Defert 1973, S 356, über die Briefe eines Gefangenen, der sich in der Haft getötet hatte: „Mandrax, gleich werde ich delirieren … FREEDOM, schickt mir Bücher, die Anti-Psychiatrie, den Heiligen Genet von Sartre … Diese Briefe sprechen von allen möglichen Wünschen, zu entfliehen und zu leben. Nicht von einer unmöglichen Flucht. Aber den Fallen der Polizei zu entfliehen, die ihn ins Gefängnis gebracht haben“.
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zum Teil rechtsfreien Raum, ausgesetzt sind, und umgekehrt dafür, wie sie inmitten dieses minutiös organisierten, mit physischer Gewalt wie mit Tranquilizern arbeitenden Zwangssystems immer noch die Kraft zu einem aktiven Widerstand finden, der oft nichts anderes einsetzen kann als den eigenen Körper2. Natürlich läßt sich diese Divergenz ‚psychologisch erklären‘, indem man den als KriegerPhilosoph und Samurai charakterisierten Foucault, dessen Mut und Kaltblütigkeit bei direkter Konfrontation mit der Polizei von allen Beteiligten bezeugt wird, mit der „rebellischen Sanftheit“3 des kämpferischen Nomaden Deleuze kontrastiert, der übrigens öfter als Foucault verhaftet wurde, weil er, seit 1969 mit nur noch einem Lungenflügel lebend, zum Davonrennen außerstande war. Fast ebenso beliebt ist eine Typisierung, die zwischen den politischeren Köpfen (Sartre, Foucault) und den kontemplativeren Temperamenten (Merleau-Ponty, Deleuze) zu unterscheiden weiß, eine Ansicht, die schon durch Deleuzes ebenso enthusiastische wie ausdauernde Teilnahme am G.I.P. glatt widerlegt wird. Oder man greift auf die Beobachtung Paul Rabinows zurück4, dass Foucaults Vision der Gesellschaft architektonisch und statisch sei, die Deleuzes dagegen beweglicher und fließender – was richtig ist, aber eine bloße Feststellung bleibt, die auch nichts erklärt. Um die Gründe für diese Divergenz wirklich offenzulegen, wird hier darum das Verhältnis von Foucaults machtanalytischem Konzept Dispositiv zu Deleuzes praxeologischem Konzept Verkopplung (agencement) als ‚Einstieg‘ verwendet (3. Kapitel), der allerdings nur dann weiterführt, wenn ihm bestimmte, vor allem in Foucaults und Deleuzes Schriften der 1960er Jahre entfaltete philosophischgrundlagentheoretische Dimensionen vor- (2.) und nachgeschaltet (5.) werden, die so entscheidend sind, dass ohne ihre Explizitmachung auch die bei aller Affinität ebenso manifesten Differenzen zwischen Foucaults und Deleuzes Konzeptionen der Politik und Ethik sowie der freien souveränen Aktivität eines nichtsubstantialistischen Subjekts (3. und 4.) letztlich unverständlich bleiben müssen. Denn eines wollte ich strikt vermeiden: eine Studie, die in eine der heute mit Foucault und Deleuze arbeitenden Wissenschafts-Parzellen (Historische Anthropologie, Biopolitikforschung, Ethik-als-Lebenskunst-Gewerbe usw.) ‚eingepaßt‘ gewesen wäre. Wobei ich natürlich weiß, dass genau diese Parzellierung die Norm ist, der die deutsche Foucault- und Deleuze-Diskussion (in Frankreich, England und den USA ist das anders) bis heute weitgehend gehorcht. Angesichts der
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Siehe Foucault 1975b, S. 891: „Der Zwang interessiert mich: Wie lastet er auf dem Bewußtsein und wie schreibt er sich in die Körper ein; wie versetzt er die Leute in Empörung und wie machen sie ihm einen Strich durch die Rech-nung?“. Zur initialen Programmatik des G.I.P. siehe Foucault 1971c; zur rückblickenden Einschätzung Foucault 1979e sowie die Dokumentation von Philippe Artières; Laurent Quero; Michelle Zancarini-Fournel, (Hg.): Le Groupe d’information sur les prisons. Archives d’une lutte 1970-1972, Paris 2003. Maurice Merleau-Ponty: Éloge de la philosophie [1953]. Paris 1989, S. 38, über Deleuzes Lehrer Bergson. Eine der G.I.P.-Aktivistinnen war übrigens Marianne Merleau-Ponty, die Tochter des Philosophen. Paul Rabinow im Gespräch mit Deleuze 1986a, S. 87, bzw. Deleuze 1986b, S. 267.
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unübersehbaren Saturierungs- und Verödungseffekte besagter Parzellierung halte ich es allerdings gerade unter zeitdiagnostisch-politischem Aspekt (6.) für dringend geboten, ein philosophischeres Verfahren zu praktizieren, das den unschätzbaren Verstärkereffekt einer Überkreuzung von Foucault mit Deleuze so einsetzt, dass es alle Einzelparzellen zu durchqueren und sie zugleich auf eine Fluchtlinie fortzureißen vermag, die ins Freie und Unbekannte führt. 2. VERSTREUUNG, UNGLEICHWERDEN: SPRACHFORM UND SEINSEXZESS Einen ersten Einblick in den Unterschied von Foucaults und Deleuzes Freiheitsdenken bietet natürlich ihr gemeinsamer Nietzscheanismus – beide sind ja als Herausgeber der Neuausgabe von Nietzsches Werken, die während des von Deleuze organisierten Nietzsche-Kongresses in Royaumont (Juli 1964) eingefädelt wurde und wo auch Foucault über „Nietzsche, Freud, Marx“ sprach, erstmals gemeinsam vor der französischen Öffentlichkeit in Erscheinung getreten5. Wie Deleuze seit seinem Nietzsche-Buch von 1962, das die 15 Jahre währende Freundschaft zwischen ihnen einleitete, und Foucault besonders in seiner ersten Collège de France-Vorlesung 1970/71 ausführen, bildet Nietzsches Angriff auf die durch Platon begründete westliche Metaphysik, die das Sein des Wahren und Guten als Grund und Ursprung (griechisch: arche) für das Werden der Erscheinungen denkt und so eine im Kern religiöse Grundposition mit logisch-argumentativen Mitteln verallgemeinert, den entscheidenden Hebel, um die Kritik der Moral von Gut/Böse in eine politische Kritik an den gegenwärtigen Typen gesellschaftlicher Machtorganisation zu übersetzen. Dementsprechend bestimmt Foucaults Nietzsche-Essay von 1971 das Gegenunternehmen einer Genealogie, die statt von der Höhe des Ideenhimmels herab aus der Maulwurfsperspektive des Historikers auf das Weltspiel der Erscheinungen blickt und den vergleichbaren Impulsen von Marxismus und Psychoanalyse darin überlegen ist, dass sie die angefochtenen Grundmodelle nicht insgeheim reproduziert. Denn seit Platon wird das Verhältnis von Urbild und Abbild in einem die Trugbilder ausscheidenden Modell der Wahrheit fixiert, entspricht der als Abbild der Ewigkeit bestimmten Zeit ein Modell der Erinnerung, inthronisiert die als göttlicher Funke im Menschen gedachte unsterbliche Seele ein Modell der Freiheit, und stützt sich schließlich die durch Gesetze begründete kollektive Freiheitsordnung des Staates auf ein juridisch-politisches
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Zum Kongreß in Royaumont siehe Foucault 1967a und Deleuze 1967b. Für die Präsentation der Colli/Montinari-Ausgabe von Nietzsches Werk siehe Foucault/Deleuze 1966 und 1967 sowie Foucault 1967b. Zu Foucaults Nietzsche-Auffassung siehe vor allem Foucault 1971b und die Vorlesungen Foucault 1971, 1971a und 1974b. Über Deleuzes Nietzscheanismus informiert vor allem Deleuze 1962 und 1965; von seinen zahlreichen anderen Äußerungen zu Nietzsche nenne ich hier nur Deleuze 1963b, 1972 und 1983a. Und zur Situation von Foucaults und Deleuzes Nietzsche-Rezeption siehe die Ausführungen bei Foucault 1980b, S. 60–63, und Foucault 1983d, S. 538–541.
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Modell der Gerechtigkeit6. Im Gegenzug nimmt die Genealogie die platonische Figur des Selben auf und kehrt sie gegen dieses selbst, indem sie untersucht, wie aus Anderem ein Selbes werden kann, d.h. vor allem: wie Sinn und Vernunft aus Nicht-Sinn und Chaos entstehen können7. Aus der Kritik des ‚Ursprungsdenkens‘ folgt aber weder bei Foucault noch gar bei Deleuze die simple Abschaffung der Philosophie zugunsten einer „antiphilosophischen Anthropologie“8, was nur glauben (machen) kann, wer in schönster platonischer Manier ‚die‘ Philosophie mit dem Idealismus gleichsetzt. Vielmehr impliziert diese Kritik die Transformation der Philosophie in eine antiplatonische „Experimental-Philosophie“9, deren Zurückweisung des platonischen Doppelschemas von Wesen/Erscheinung und Zeit/Ewigkeit ebenso in Foucaults offensivem frühen Statement verdichtet ist, er sei „Materialist“, denn er „leugne die Realität“10, wie in Deleuzes rückblickendem Resümee, er habe stets die Natur des Ereignisses gesucht, denn er „glaube nicht an die Dinge“11. Dementsprechend besteht das Verfahren einer genealogischen Kritik darin, zwar im Anschluß an Kant die Konstitution der Phänomene durch
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An Platon orientierte Philosophen könnten hier einwenden, daß dies ein dürftiges Abziehbild sei, das dem platonischen Denken nicht gerecht wird. Absolut richtig! Aber mehr als eine grobe Skizze dessen zu geben, was den Nietzscheanern Foucault und Deleuze als Ansatzfläche für ihre Gegenunternehmen gedient hat, wird mit diesem Satz und allen weiteren Einsprengseln zu Platon und dem ‚Platonismus‘ auch nicht beansprucht. Siehe Foucaults programmatischen Satz im Buch über Raymond Roussel: „Im konfusen Spiel von Existenz und Geschichte entdecken wir ganz einfach das allgemeine Gesetz des SPIELS DER ZEICHEN, in dem sich unsere vernünftige Geschichte abspielt“: Foucault 1963a, S.190 f. In einer genealogischen Sichtweise geht es also darum, aus dem Umstand, daß es immer weniger Wörter als Dinge gibt und jedes Wort mehrere Bedeutungen hat, eine ganze dionysische Maschinerie der Bedeutungsstiftung zu explizieren, in der Sinn und Nichtsinn ‚kopräsent‘ sind. Diesen Aspekt betont auch Deleuze in seiner Rezension des Roussel-Buchs; siehe Deleuze 1963a, S. 108. Philipp Sarasin: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie. Frankfurt 2009, S. 165. Bei einem Historiker wie Sarasin, der es in seinem (lesenswerten) Buch fertigbringt, die Analysen von Deleuzes Differenz und Wiederholung zum philosophischen Stellenwert Darwins und des Neo-Darwinismus nicht einmal zu erwähnen, offensichtlich, weil er nicht weiß, daß sie existieren, darf man freilich in Fragen einer neuartigen differenztheoretischen ‚Logik der Philosophie‘ keine allzu hohen Ansprüche stellen. Analysen zu Foucault/Deleuze im Denkraum dieser Logik sind noch sehr spärlich gesät. Siehe immerhin Giorgio Agamben: „Die absolute Immanenz“ [1996]. In: Ders.: Die Macht des Denkens. Frankfurt 2013, S. 428-461; Peter Hallward: „The Limits of Individuation, or How to Distinguish Deleuze from Foucault“. In: Angelaki 5/2 (August 2000), S. 93-112; sowie Daniel Defert: „Situierung der Vorlesungen“ [2011]. In: Foucault 1971, S. 330-360, dort S. 341-349. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente (Frühjahr – Sommer 1888). In: Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden [= KSA]. München 1988. Bd. 13, S. 492. Foucaults Ausspruch von 1964 lautet im Original: „Je suis materialiste, puisque je nie la réalité …“: Foucault 1964a, S. 380 bzw. Foucault 1964b, S. 501 (Übers. mod.). Deleuze 1988b, S. 232. Zu Deleuzes Ereignisphilosophie siehe Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Wunderland. Zeit – als Ereignisphilosophie, München 2003. Wilhelm Miklenitsch: „Das Ereignis des Virtuellen. Dimensionen der Philosophie von Gilles Deleuze“. In: Philosophische Rundschau, Bd. 52, H. 3 (2005), S. 234-265.
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operative Funktionen zu erforschen, aber nicht länger allgemein-notwendige Möglichkeitsbedingungen jeglicher Erfahrung zu deduzieren, sondern in einer „radikalen Transformation des Kantianismus“12 Existenzbedingungen der wirklichen Erfahrung freizulegen. Nun läßt sich nicht bestreiten, dass die der Genealogie innewohnende Heterooder Polylogik eines ‚Spiels der Welt‘ bei Deleuze die Konturen einer neuen Experimental-Metaphysik der Ereignisse und Zeichen annimmt, während sie bei Foucault stärker an das nietzscheanische Forschungsprogramm eines „historischen Philosophierens“ angelehnt bleibt13. Dennoch geht es im Anschluß an Nietzsche beide Male darum, eine komplexere „Logik und Unlogik der Knoten“ der historischen Emergenz von ‚Dingen‘ als notwendig-zufälliger Effekte der Wiederholung eines stets zu sich selbst verschobenen ‚unwuchtigen Ganzen‘ zu denken und zugleich in praktischer Wiederholung zu vollziehen14. Damit ist ein Forschungsfeld bestimmt, das an die Stelle der platonischen Wesensfrage ‚Was ist?‘ die Ereignisfragen Wer? Wann? Wo? Wie? Wie viele? setzt15. Genealogisch denken heißt somit für Foucault wie für Deleuze, dass es nicht um die Identität von an sich existierenden Dingen geht, die im Innenraum des Denkens gespiegelt und in adäquaten Sätzen vergegenwärtigt (repräsentiert) werden könnten und müßten, sondern um das unterirdische Brodeln von ‚Entstehungsherden‘ in der vulkanischen Tiefe reiner Kräftedifferenzen, deren organisierende Wiederholung an der Erdoberfläche das Ereignis unterschiedlicher Konfigurationen oder ‚Gesichter‘ der Welt auftauchen läßt, die der Repräsentation homogener Dinge/Objekte als Projektionsfläche dienen. Maßgeblich für diesen Perspektiven-
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Deleuze 1962, S. 59. Sowohl in Foucaults „historischem Nominalismus“ wie in Deleuzes „transzendentalem Empi-rismus“ erfolgt eine Neukonzeption des Transzendentalen, das nicht mehr von einer subjektiven anthropomorphen Repräsentation (Foucaults Mensch-Form des Wissens als Subjekt-Objekt) abgezogen oder ‚abgepaust‘ (Deleuze) ist, sondern transsubjektive und transhumane Bedingungen: Diskurse, Dispositive, Verkopplungen usw., impliziert Zur Überkreuzung speziell von Foucaults Die Ordnung der Dinge und Deleuzes Differenz und Wiederholung im Zeichen eines ‚objektiven Transzendentalen‘ (Michel Serres) siehe Anne Sauvagnargues: Deleuze. L’empirisme transcendental, Paris 2009. Judith Revel: Foucault. Une pensée du discontinu. Paris 2010. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I. In: KSA, Bd. 2, S. 25. Die Formel von der „Logik und Unlogik der Knoten“ folgt bei Nietzsche unmittelbar auf die Einführung der „Experimental-Philosophie“ (siehe Fußnote 9). In seiner ersten Rezension von Deleuzes Differenz und Wiederholung hat Foucault dieses Buch ausdrücklich als gedankliches und affektives Freiwerden von der das westliche Denken „von Platon bis Heidegger“ inklusive beherrschenden „Figur des Selben“ gefeiert: „Damit werden wir frei, zu denken und zu lieben, was untergründig seit Nietzsche in unserer Welt grollt: nichtunterworfene Unterschiede und Wiederholungen ohne Ursprung …“: Foucault 1969a, S. 979. Wie dieses Freiwerdens politisch umgesetzt werden kann, ist dann das Thema eines bekannten Gesprächs geworden: siehe Foucault/Deleuze 1972c. Dementsprechend entwirft Deleuze eine „Methode der Dramatisierung“, abgeleitet von Nietzsches Vorschlag, das griechische Wort Drama nicht mit Handlung, sondern mit Ereignis zu übersetzen, und komplementär dazu Foucault eine Methode des „Zum-Ereignis-Machens“ (événementialisation); siehe Deleuze 1967a; Foucault 1980a, S. 29-32.
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wechsel ist eine gemeinsame Grundposition – das beweist sowohl ein Satz in Foucaults Bataille-Essay Vorrede zur Überschreitung (1963), der die Abwesenheit des Ursprungs beleuchtet, als auch eine ebenso programmatische Sentenz in Deleuzes Differenz und Wiederholung (1968), die als Zweitversion von Foucaults Satz gelesen werden kann: „Der Tod Gottes gibt uns nicht einer begrenzten und tatsächlichen Welt zurück, sondern einer Welt, die sich in der Erfahrung der Grenze auflöst, die sich in dem sie überschreitenden Exzeß aufbaut und zerstört [se fait et se défait]“16. „Die Wiederholung ist das informelle Sein aller Differenzen, die informelle Macht des Untergrunds [der ‚Differenz an sich‘; W.M.], die jedes Ding in jene extreme ‚Form‘ bringt, in der seine Repräsentation zerfällt [se défait]“17.
Nun kann man aus der zugleich winzigen und entscheidenden Nuance, dass Foucault bei seinem Programmsatz ein doppeltes Konstrukt aus Aufbau und Zerfall benötigt, während Deleuze mit einem einfachen „se défait“ auskommt, die Nähe und Distanz von Foucaults und Deleuzes philosophischen Grundpositionen in präziser Begriffsanalyse systematisch explizieren – auch wenn diese Möglichkeit noch nie bemerkt wurde, geschweige denn, dass daraus Konsequenzen gezogen worden wären. Allerdings würde uns das mit einem Schlag zu den das Begriffspaar des Unbegrenzten und der Grenze (peras und apeiron) umkreisenden altgriechischen Anfängen des westlichen Denkens im 7. Jahrhundert vor unserer Zeit zurückschleudern und zugleich an die vorderste Grenzlinie unserer philosophischen Gegenwart katapultieren – also in jene differenz- und ereignisphilosophische Grundlagentheorie (eine radikal verzeitlichte und dynamisierte Transformation der traditionellen ‚Ersten Philosophie‘), für die auch und gerade aus Foucaults Sicht Deleuzes Differenz und Wiederholung das in den letzten hundert Jahren neben Heideggers Sein und Zeit machtvollste Beispiel bildet18. Aber auch ohne geistiges Freeclimbing in diesen sauerstoffarmen Achttausenderregionen läßt sich die Divergenz verdeutlichen, die zwischen den Konzeptionen von Denken und Sein, Sprache und Wirklichkeit bei Foucault und Deleuze besteht und ihr gesamtes Denken prägt.
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Foucault 1963c, S. 236, bzw. Foucault 1963d, S. 323 (Übers. mod.). Deleuze 1968, S. 80 bzw. Deleuze 1968a, S. 85. (Übers. mod.). Selbstverständlich steht Deleuzes wie Foucaults Programmsatz in direkter Idealkonkurrenz zu Derridas zwischen 1962 und 1968 (in Abgrenzung von Foucault und Deleuze) entfaltetem, aber noch phänomenologisch und insgeheim theologisch codiertem ‚Nicht-Begriff‘ der différance. Es ist gar nicht nötig, hierfür den vielzitierten Satz aus dem ersten Absatz von Foucaults großem Deleuze-Essay „Theatrum philosophicum“ zu bemühen: „… eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein“ (… un jour, peut-être, le siècle sera deleuzien): Foucault 1970b, S. 76, bzw. 1970c, S . 94. Noch 1978, also ein Jahr nach der zwischen ihnen eingetretenen ‚Entfremdung‘, konnte Foucault in einem Gespräch in Japan sagen: „Sie sprechen von Deleuze, der für mich sicher sehr wichtig ist. Ich halte ihn für den größten gegenwärtigen französischen Philosophen“: Foucault 1978c, S. 740. Dort bietet Foucault eine Erklärung des Satzes von 1970 an, die aber nicht die ‚ganze Wahrheit‘ sein muß. Zur Wahrnehmung dieses Satzes durch den damit Geehrten siehe Deleuze 1990, S.128 f.
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Einen direkten Zugang dazu eröffnen die Essays über das literarischphilosophische Werk von Pierre Klossowski, die Foucault und Deleuze Mitte der 1960er Jahre veröffentlichten19. Foucaults Klossowski-Essay fokussiert den Problemkomplex Sprache/Wirklichkeit auf den „Raum des Doppels“20 oder der Trugbilder, in dem eine radikal nichtplatonische ‚Erfahrung der Grenze‘ möglich wird; denn in diesem Raum erscheinen nicht bloß Zeichen und Dinge, sondern die lebenden Menschen als Doppelgänger ihrer selbst, das heißt als ganz aus Sprachoberflächen bestehende Trugbilder oder Sprachfächer: „alles an ihnen bricht auseinander und zerspringt, bietet sich einen Augenblick an und zieht sich sofort wieder zurück“21. Die Sprache selber wird zu einer nach außen gerichteten Überlagerung anonymer Stimmen ohne jede Innerlichkeit, d.h. der Raum des Doppelten fungiert nicht als Grenze zwischen Innen- und Außenwelt, sondern als eine innere Grenze der Sprache bzw. als Doublierung von Sprache und Schweigen auf jener gemeinsamen Grenzoberfläche zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren, die Foucault den Diskurs (le discours) nennen und als Existenzfunktion der Zeichen präzisieren wird. Für Foucault ist Sprache nicht eine transparente Form des Geistes und seines Blicks auf die Dinge, auch nicht – wie noch bei Derrida – im Sinne eines Mediums für Botschaften von einem Sender zu einem Empfänger, vielmehr muß sie als das Informelle nichtsprachlicher Kräfte begriffen werden, die kraft der frei flottierenden „Verstreuung“ (dispersion) von Sprecherpositionen und Objektbezügen im Sprachkörper selbst wirksam werden22. Auch Deleuzes Klossowski-Essay23 bestimmt die innere Grenze der Sprache nicht als Form, sondern als ein Informelles, das die gemeinsame Grenzoberfläche von Sprache und Schweigen bildet24. Aber obwohl Deleuze zustimmend auf Foucaults Essay Bezug
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Damals war Klossowski für beide der wichtigste Mentor zu Nietzsche und Antiplatonismus, nachdem er zuvor 30 Jahre lang ein enger Freund und Weggefährte Georges Batailles gewesen war. Klossowski, der auch als Übersetzer an der Nietzsche-Ausgabe tätig wurde, hat sein Nietzsche-Buch (1969) Deleuze und seinen Roman Le Baphomet (1965) Foucault gewidmet; umgekehrt gibt es Briefe Foucaults an Klossowski (siehe Foucault 1969b und 1970d), die von tiefer Bewunderung und Dankbarkeit zeugen. Foucault 1964, S. 449. Foucaults Hommage thematisiert vor allem den erstmals 1956 erschienenen mythologischen Essay von Pierre Klossowski: Das Bad der Diana. Reinbek 1970. Foucault 1964, S. 442. Zur „Verstreuung“ siehe Foucault 1963d, S. 332 f. Und zur Existenzfunktion der Zeichen: Foucault 1969, S. 163-165. Grundlegend zu Foucaults Sprachontologie bis 1969 Pravu Mazumdar: Der archäologische Zirkel. Bielefeld 2008. Siehe Deleuze 1965a, S. 52. Deleuzes Essay thematisiert vor allem den historischtheologischen Roman von Klossowski: Der Baphomet. Reinbek 1968, nach Deleuze ein zweiter Zarathustra. Siehe auch Deleuze 1969a. Diesseits des westlichen Denk-Gegensatzes der Form und des Formlosen angesiedelt, kennzeichnet das Informelle den nicht aufgehenden Rest des Realen, der als Seinsexzeß in der Erfahrung insistiert und das Gegebene im virtuellen Modus des Ereignisses von sich selbst abhebt. Siehe dazu Deleuze 1969, S. 141, mit Bezug auf Nietzsche: „Merkwürdiger Diskurs, der die Philosophie erneuern sollte und der den Sinn endlich nicht als Prädikat, nicht als Eigenschaft, sondern als Ereignis behandelt“. Auf dieser stoizistischen Linie hat sich Deleuzes Er-
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nimmt, ist die Verstreuung der Sprache als Diskurs für Deleuze nur ein Aspekt am Problemkomplex Sprache/Reales. Bei Deleuze liegt das Schwergewicht auf einem zusätzlichen Aspekt, der wechselseitigen Überschreitung von Sprache und Fleisch in einer Bewegung, die „immer die eines Falls, einer Kaskade, eines Aushauchens, einer Neigung“25 ist, worin das in sich Ungleiche ständig wechselnder Intensitäten sich ereignishaft verewigt, indem es die Körper in einer potentialisierenden ‚Entregelung aller Sinne‘ (Rimbaud) über die Schwelle ihrer äußersten Intensivierung trägt und zugleich das kategorial gefesselte Denken in eine aktivaggressive Macht verwandelt, die ‚genital‘ (Artaud) im Denkakt selbst erzeugt wird. Letzlich wird das Informelle der Sprache von Deleuze als Ausdruck von Intensitäten bestimmt, die im Modus des Sturzes ihre höchste Macht des „Ungleichwerdens“ (disparation) gewinnen26. Daher finden Sprache und Schweigen sich bei Deleuze im berühmten „Geschrei des Seins“ überkreuzt, das Nietzsches Grundintuition von ‚Welt‘ als eines in sich selber flutenden Ungeheuers von Kraftwellen und Kräftedifferenzen – „ein und derselbe Ozean für alle Tropfen“27 – konzeptuell zum Ausdruck bringt. Bei Foucault dagegen überkreuzen sich Sprache und Schweigen im ebenso berühmten anonymen „Gemurmel einer Sprache, die von allein (tout seul) spricht, ohne sprechendes Subjekt und ohne Gesprächspartner“28. In der Folge wird das „Archiv“ oder der neutrale Raum des Sagbaren in Kontakt mit dem Sichtbaren zu dem Begriff, von dem her Foucault seine Analyse des Auftauchens einer heterogenen Mannigfaltigkeit von ausgesagten Dingen schließlich als „Archäologie“ formalisiert hat29, ausgehend von einem „Materialismus des Unkörperlichen“30, der versucht, die ereignishafte Existenz und Wirk-
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eignisdenken in einer singulären Überkreuzung von Maurice Blanchot mit Gilbert Simondon (siehe Fußnote 52) entfaltet. Deleuze 1965a, S. 59. Der Bezug auf Foucaults Essay findet sich ebd., S. 43. Zum Sturz oder Fall als Modus der Intensitäten siehe Deleuze 1968a, S. 297, sowie Deleuze 1981a, S. 52 f. Zur Disparation siehe Deleuze 1968, S. 298; zum physikalischen Hintergrund dieses Begriffs: Deleuze 1985, S. 234. Deleuze 1968a, S. 377: dort „Gebrüll des Seins“. Zu Recht steht dieses Motiv im Zentrum der Studie von Deleuzes großem Gegenspieler Alain Badiou (1997. Dt.: Deleuze. „Das Geschrei des Seins“. Zürich 2003), der freilich eine Technik der reduktiven Halbwahrnehmung praktiziert und so Deleuzes Grundposition letztlich doch verfehlt. Foucault 1961, S. VI, bzw. 1961a, S. 12. Der Überkreuzung von Sprache und Schweigen entspricht für Foucault wie für Deleuze eine experimentelle Erfahrungsbewegung, welche die Grenzen des kategoriengestützten regelgeleiteten Denkens durchbricht. Dieser Zug verleiht den gewagtesten Texten Foucaults und Deleuzes auch ihre bis heute wirksame Ansteckungskraft einer ungebändigt-präzisen Freiheit des Denkens: „etwas von Außer-sich-Sein in der Abstraktion, von Wahnwitz bis in die Gelehrsamkeit hinein“ (Denis Hollier). Siehe Foucault 1969, S. 183-190: „Das historische Apriori und das Archiv“. Für eine stärker psychoanalytische Version des Archiv-Begriffs siehe Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Berlin 1997. Foucault 1970/71, S. 40. Es gibt nur einen Text Foucaults, der noch deleuzianischer ist, sein mit Deleuzes Logik des Sinns förmlich vollgesogener und doch ganz eigenständiger Essay über die Sprachverfahren von Jean-Pierre Brisset; siehe Foucault 1970a. Umgekehrt hat Deleuze gleichzeitig einen „Schizologie“ betitelten Text über die Sprachverfahren von Louis Wolfson verfaßt, der mit Foucaults Brisset-Studie in Resonanz steht: siehe Deleuze 1970b.
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samkeit der Sprechereignisse kenntlich zu machen31. Möglich wird dies kraft einer befreienden „Wendung des Blicks und der Haltung“ 32, d.h. durch den Eintritt in die vorobjektive Dimension eines reinen ‚Es gibt‘ von Welt und Sprache, dessen Vollzug Foucault schon 195433 als Bewegung der Freiheit analysiert hat. 3. DISPOSITIVE, VERKOPPLUNGEN: MACHTTECHNOLOGIEN DES LEBENS Foucaults genealogische Geschichtsschreibung, welche die Formierung von historisch scharf begrenzten Denksystemen oder Rationalitätstypen des ‚Erfahrungslebewesens‘ Mensch analysiert, setzt also deshalb an Orten der Andersheit oder „Heterotopien“34 wie dem psychiatrischen Asyl, dem medizinischen Klinikum, dem Kerkersystem oder auch der Praxis des Psychotherapeuten an, weil diesen ‚ortlosen Orten‘ eine Kraft der ethnologischen Infragestellung ‚abendländischer‘ Wirklichkeitsdefinitionen eignet, die daher rührt, dass sie gleichsam die Kettfäden bilden, an denen man – der frühe Foucault sprach noch, ein Lieblingsbild des späten Merleau-Ponty benutzend, vom Umstülpen eines Handschuhs – nur hartnäckig genug ziehen muß, um die Kehrseite oder das Knüpfmuster eines ganzen historisch scharf begrenzten Erfahrungs-, Sprech- und Handlungsfeldes freizulegen35. 31
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Daß der Diskurs mehr und anderes sei als ein flüchtiger Hauch, durchzieht leitmotivisch Foucaults Texte der Sixties, bis hin zu der koketten Äußerung in einem 1968 geführten, aber erst 2011 veröffentlichten Gespräch, daß sein Vorhaben das eines „Priesters“ sei, der versuche, das „was ganz unmittelbar gegenwärtig und zugleich unsichtbar“ ist, zum Vorschein zu bringen und ihm „seine Dichte und seine Stärke wiederzugeben“: Foucault 1968, S. 68. Es handelt sich um eine antiphänomenologische Radikalisierung der Phänomenologie: während diese darauf ausgeht, die unsichtbare Kehrseite des Gegebenen sichtbar zu machen (siehe Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Reinbek 1961, S. 36), zielt Foucaults Unternehmen mit Blanchot darauf ab, nicht „das Unsichtbare sichtbar zu machen, sondern zu zeigen wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren ist“: Foucault 1966b, S. 678. Von daher der Status der „Aussage“, die „nicht sichtbar und nicht verborgen“ ist: Foucault 1969, S. 158. Zu dieser ‚conversion‘ siehe Foucault 1969, S. 161; zur damit einhergehenden Erschütterung siehe Wilhelm Miklenitsch: „La pensée de l’épicentration“, In: Critique. „Numéro spéciale: Michel Foucault: du monde entier“. XLII/, Nr. 471-472 (aout/septembre). Paris 1986, S. 816825. Siehe dazu Foucault 1954a, S. 151. Zur Geste des Archäologen als Paradigma einer jeden in genuiner Freiheit vollzogenen menschlichen Aktion siehe auch Giorgio Agamben: Signatura rerum. Frankfurt 2009, S. 128-135. Siehe Foucault 1966, S. 20, aber vor allem Foucault 1966e, bes. S. 14 und 19. Und zu den drei genealogischen Achsen (Erkenntnisbildung, Verhaltensnormierung, Selbstformung) siehe z.B. Foucault 1983c, S.474 f. und 1983a, S. 15-18. Zur Bestimmung der Archäologie als Ethnologie unserer Kultur bzw. „Ethno-Epistemologie“ siehe Foucault 1967, S. 776, bzw. Foucault 1974c, S. 831. In seinem zweiten Text über Klossowski zu dessen Übersetzung von Vergils Aeneis charakterisiert Foucault Klossowskis Verfahren, als „vertikale Übersetzung“, die keine Ähnlichkeit zwischen vergangener und heutiger Sprache herstellt, sondern im Gegenteil daran arbeitet, aus der Distanz ihrer größten Differenz heraus ein „Negativ des Werkes“ zu schaffen, das „die leere und erstmals unzweifel-
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Zu diesem Zweck vollzieht Foucaults „Ethno-Epistemologie“ (durchaus in Radikalisierung der Phänomenologie) eine archäologische Reduktion des Sinns und der Vernunft, „die von der Wahrheit zum Tod und vom Tod zur Wahrheit verläuft“36, d.h. diese ‚Einklammerung‘ der vermeintlichen Denk-Freiheit des sprechenden Bewußtseins-Subjekts legt über die individuellen Sprechereignisse die weiße Decke des Diskurses und macht dadurch gegen die idealistische Vorstellung vom Menschen als dem souverän über seine Rede verfügenden Tier (Aristoteles’ zoon logon echon) die Anonymität der Materie im Innersten des Geistes kenntlich: „anstelle des Einen unsterblichen Logos sterbliche, aber auch todbringende Sprachen“37. Da diskursive Regeln ohne nichtdiskursive Ausübung in der Luft hängen und die Einübung dieser Regelwerke auf eine ganze politische Anatomie der Körper verweist, mußte Foucaults erste Reduktion zwangsläufig ab 1972/73 eine weitere, ‚machtanalytische‘ Reduktion nach sich ziehen38, welche die Universalien der traditionellen politischen Analyse (Staat, Gesetze, Institutionen der Herrschaft etc.) ‚einklammert‘, um die Dynamik der „Machtverhältnisse“ oder kämpfender Kräftedifferenzen erscheinen zu lassen. Denn ein Machtverhältnis bewerkstelligt die Bearbeitung und Umlenkung ungebundener Energieverausgabungen, was wiederum eine wichtige Bedingung für die Regularität der Sprechereignisse in einem „epistemologischen Feld“ ist, das darüber entscheidet, welche Äußerungen innerhalb seines Geltungsbereichs eine Chance haben, überhaupt wahr oder falsch sein zu können39. Wobei Foucault schon in seiner Vorlesung von 1970/71 die soziopolitischen Steuerungseffekte der durch Wissen gestützten Wahrheitsanspüche zum Brennpunkt seiner Forschungen erklärt hat40. In
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hafte Spur seiner wirklichen Anwesenheit“ übermittelt: Foucault 1964d, S. 555, 557. Man kann in dieser deutlichen (indirekten) Selbstbeschreibung eine antihermeneutische Zuspitzung des „seitlichen Universellen“ sehen, das Merleau-Ponty in seinem Aufsatz über die Ethnologie akzentuiert hatte; siehe Merleau-Ponty: Zeichen. Hamburg 2007, S. 171. Foucault 1968, S. 45. Deleuze 1970, S. 71. Zum klinischen Wahrnehmungs- und Lektürezug der Archäologie im Anschluß an Bichats ‚Mortalismus‘ siehe Foucault 1963, besonders S. 121-161 (Kap. VII und VIII). Und zur klinischen Lektüre als ‚symptomatologischer‘ Grundkomponente von Foucaults Diskursanalyse siehe Deleuze 1970, S. 70 f. In den 2013 in Frankreich veröffentlichten Vorlesungen über La société punitive (Die Strafgesellschaft; siehe Foucault 1973); zu diesem Denkprozeß siehe Stéphane Legrand: Les normes chez Foucault. Paris 2007, S. 76 ff. Wobei Foucaults Forschungen zum Macht-Wissen wie Deleuzes Forschungen zu den kollektiven Wunschbesetzungen darin übereinstimmen, daß sie mit marxistischen und freudianischen Konzepten von Ideologie und Repression brechen. Siehe Foucault 1977c, S. 395 f., wo das „epistemologische Feld“ oder die „Episteme“ (siehe Foucault 1966) der Sixties als „strategisches Dispositiv“ neudefiniert wird, welches es gestattet, zwar „nicht das Wahre vom Falschen, aber das wissenschaftlich Nicht-Qualifizierbare vom Qualifizierbaren zu trennen“. Siehe Foucault 1971, S. 114, unter Anführung einer entsprechenden Passage aus einem Buch seines wichtigsten Lehrers und väterlichen Mentors, des Mythenforschers Georges Dumézil, zum römischen Denken – wiederholt in Foucault 1981, S. 17. Wie gerade Foucaults erste Collège de France-Vorlesung von 1970-71 beweist, ist seine „Geschichte der Wahrheit“ aber
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Fortentwicklung dieser Perspektive wird dann das „Dispositiv“ eingeführt, von Foucault 1977 als Netzwerk zwischen heterogenen Elementen sprachlicher und nichtsprachlicher Art definiert, das als bewegliches strategisches Spiel eines Machtverhältnisses abläuft, welches indes nicht auf einer allgemeinen Zweiteilung in Herrschende und Beherrschte (Individuen, Gruppen oder Klassen) beruht, sondern als blinder Maulwurf, der prinzipiell ‚von unten kommt‘, Formen des Sagbaren und des Sichtbaren aneinanderfügt und so bestimmte Wissensarten hervorbringt wie auch durch diese gestützt, d.h. subtiler und wirkungsvoller gemacht wird41. Exemplarisch für ein derartiges Netzwerk von Macht-Wissen ist natürlich das in Der Wille zum Wissen analysierte Sexualitätsdispositiv, welches die Duellsituation zwischen dem Nervenarzt und der Hysterica weit überragt, sofern diese von Charcot ritualisierte Schauvorführung in ein Netz eingelassen ist, das die Diskurse über den Sex als taktische Elemente (Wechselwirkung von Macht und Wissen) im Feld der Kräfteverhältnisse wie auch als vielseitig einsetzbare Durchgangs- und Stützpunkte unterschiedlichster Machtstrategien (Aspekt der politischen Integration) zum Einsatz bringt42. Das Sexualitätsdispositiv und mittelbar jedes Dispositiv ist also ein strategisches Feld, dessen Kräfteverhältnisse die Funktion erfüllen, eine allgemein verbindliche und doch zugleich in sich differenzierte Verhaltensnorm mit vielfältigen Verzweigungen und Effekten zu instituieren.
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auch durch einen anderen französischen Historiker angeregt worden ; siehe Marcel Detienne: Les Maîtres de vérité dans la Grèce archaïque. Paris 1967 Dazu ausführlich Foucault 1977c, S. 392-395, ebenso Deleuze 1989c und Giorgio Agamben: Was ist ein Dispo-sitiv?. Zürich 2008, S. 7-9 und S. 15-17. Dispositif, ist ein in den französischen Spezialidiomen von Armee, Polizei und Verwaltung seit langem gebräuchlicher Terminus technicus. Zudem läßt sich anführen, daß Heideggers Bestimmung der Technik als Gestell wie Foucaults dispositif Übertragungen des lateinischen Worts dispositio darstellen, „das seinerseits das griechische Wort ‚oikonomia‘ übersetzt“: Agamben: Herrschaft und Herrlichkeit (Homo sacer II.2). Frankfurt 2010, S. 301. Aber bei Foucault funktioniert das Konzept Dispositiv stärker im Rahmen einer Nietzsche mit Canguilhem verbindenden Theorie vitaler Kräftedifferenzen im Element des Macht-Wissens. Siehe Foucault 1976, S. 123-125. Mit dem Effekt, daß das auf Heirat, Verwandtschaft und die Weitergabe von Namen und Eigentum geeichte vormoderne „Allianzdispositiv“ (ebd., S. 128 ff.) zwar nicht einfach von der ‚Sexualität‘ abgelöst wurde, aber mit dem modernen System der scientia sexualis eine Art historischen Platztausch vollzog. Es handelt sich um eine Drehung, in der die Einsetzung eines Sprechrituals über den Sex mit Machteffekten über die vitalen Funktionen sexualisierter Individuen verknüpft wird, die als solche in das nicht mehr rechtlich, sondern neurologisch codierte Allianzgebilde der Familie integriebar werden. Deshalb konnte Foucault seine historische Analyse des Sexualitätsdispositivs auch als „Archäologie der Psychoanalyse“ (ebd., S. 156) kennzeichnen und der deleuzianischen Perpektive, daß Freuds Ödipus-Theorem keine befreiende Wahrheit über die menschliche Natur, sondern eine Unterwerfung des Begehrens unter den bourgeoisen Familialismus ausdrückt, ohne Vorbehalt zustimmen (siehe Foucault 1974b, S. 686 f.), ja trotz klarer Divergenzen in ihrer jeweiligen Einschätzung des Begehrens (siehe Foucault 1976, S. 186 f.) den Anti-Ödipus als „die radikalste Kritik der Psychoanalyse, die je geschrieben wurde“, durchaus würdigen; siehe Foucault 1975c, S.963, 966.
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Ein tieferes Verständnis der Divergenz zwischen Foucault und Deleuze ergibt sich, wenn man die Verfaßtheit dieser besonderen ‚Kraft der Normen‘ innerhalb des jeweiligen Denkrahmens analysiert. Foucault denkt den Prozeß der Normbildung und -durchsetzung in direkter Fortsetzung der Forschungen des Wissenschaftshistorikers und Medizinphilosophen Georges Canguilhem, der bereits den Zusammenhang zwischen den Wissenschaften vom Leben und der Normativität des Lebendigen in der historischen Herausbildung der medizinischen Konzeption des ‚Normalen‘ und dessen ‚pathologischer Störungen‘ untersucht und dabei einerseits den nicht etwa natürlichen oder ‚wisssenschaftlich objektiven‘, sondern zutiefst polemischen Charakter der Norm als Element von Machtansprüchen gegenüber einem feindlichen Unbestimmten betont, andererseits aber auch schon Spielräume einer nichtmoralischen Bestimmung von Gesundheit als beweglicher, mit autonomen Lebensnormen auf vitale Umweltanforderungen antwortender Selbstregulation ausgelotet hatte43. Die Aufnahme dieser Perspektiven Canguilhems und ihre Übertragung in den Rahmen von Georges Batailles „historischer Heterologie“ kollektiver „Grenzerfahrungen“ der westlichen Kultur44 ergibt Foucaults „Ethno-Epistemologie“, die zwanzig Jahre lang, von der Geschichte des Wahnsinns (1955-58 verfaßt und bei Canguilhem eingereicht) bis zu Der Wille zum Wissen, hauptsächlich den modernen Prozeß analysierte, in dem „die Vernunft aufgehört hat, für den Menschen eine Ethik zu sein, um stattdessen eine Natur zu werden“45. Foucaults Forschungen zu den Erfahrungsherden von Wahnsinn, Krankheit, Verbrechen und Sexualität umkreisen also allesamt den ereignishaften Bruch um 1800, von dem an in der westlichen Kultur der Moral-Binarismus gut/böse erst in das medizinische Doppel gesund/krank und ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch den spezifisch ‚mythologischen‘ Diskurs der Humanwissenschaften in das Begriffspaar normal/anormal übersetzt worden ist46. Dieser For43
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Das grundlegende Werk von Georges Canguilhem (1904-1995), der als ausgebildeter Philosoph begann, ehe er ein Medizinstudium aufnahm und parallel zu seiner geheimen Tätigkeit als Feldarzt der Résistance abschloß, ist seine medizinische Dissertation von 1943, die erstmals 1950 (mit dieser Ausgabe haben natürlich auch Foucault und Deleuze zunächst gearbeitet) und in erweiterter Fassung 1966 erschien: Das Normale und das Pathologische. München 1974 Kaum weniger grundlegend, speziell für die Methodik der Wissenschaftsgeschichte, ist seine Untersuchung von 1955: Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. München 2008. Zur Gesundheit als vitaler selbstregulativer Normativität siehe schließlich Canguilhem: Écrits sur la médecine. Paris 2002. Siehe dazu Wilhelm Miklenitsch:„‚Die Arbeit der Macht an den Leben’. Opferökonomie und Opferpolitiken – Bataille, Adorno, Foucault“. In: Peter Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“. Frankfurt 1987, S. 229-251. Foucault 1962, S. 131. Siehe auch die explizite Bezugnahme auf Canguilhems Das Normale und das Pathologische (München 1974, S. 163), wonach die Norm kein Erkenntnisraster, sondern das Element der Begründung/Legitimierung eines gleichwohl nichtnotwendigen Machtanspruchs sei, bei Foucault 1975a, S. 72.. Selbstverständlich hat Foucault in Canguilhem einen nietzscheanischen Wissenschaftshistoriker gesehen: siehe dazu Foucault 1983d, S. 528 f., ebenso schon Foucault 1965. Sowie besonders auch Foucault 1978b und 1985. Zur Konstellation siehe auch Pierre Macherey: La force des normes. De Canguilhem à Foucault. Paris 2008.
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schungsarbeit liegt eine spezifische Logik zugrunde: demnach funktioniert der Prozeß der Normativierung, in welchem den menschlichen Leben bestimmte Normschablonen auferlegt und entsprechende Verhaltenszwänge angereizt werden, nur dann als zu einer subjektkonstituierenden Unterwerfung (assujettissement) führende Normalisierung, wenn die im Netz eines Dispositivs zirkuliernden Diskurse durch einen grundlegenden Bezug auf die Kategorie des Anormalen bestimmt sind47. Mit einem von Foucault geschätzten Philosophen könnte man diese Logik der Normalisierung das Kierkegaard-Paradigma nennen, sofern Kierkegaard der erste moderne Denker war, der den Machtanspruch des Allgemeinen von der anormalen Ausnahme und deren Überschreitung der ideal-universellen Regel her gedacht hat48. Letztlich bestünde Foucaults Genie also auch darin, diese Umkehrung in eine „Logik der Strategie“49 gebracht zu haben, die die Gleichursprünglichkeit von Machtanspruch und Widerstandsfreiheit denkt. Nun steht es keineswegs so, dass Deleuze sich diesem Denkrahmen historischer Analyse prinzipiell entzogen hätte, um mit Bergson einem metaphysischen Vitalismus zu frönen, der beanspruchen würde, in den positiven Strömen des Begehrens ein außerhistorisches pièce de résistance außerhalb aller konkreten Institutionenbildung gefunden zu haben50. Auch Deleuze denkt auf diesem Feld mit Canguilhem, dessen direkter Schüler er sogar schon lange vor Foucault war51. Aller-
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Dazu empfehlenswert Legrand 2007 (Fußnote 38), S. 235 ff. Zum „assujettissement“ als politischer Grundoperation des ‚abendländischen Humanismus‘ siehe Foucault 1971e, S. 276 f., mit direktem Bezug auf das römische Recht, „diesem Stützpfeiler unserer Zivilisation, der Individualität bereits als unterworfene Souveränität definiert“. Siehe Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. In: Die Krankheit zum Tode (und andere Schriften). München 2005, S. 434-436. Diese Problemkonstellation hätte in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts letztlich zwei ‚Pulverspuren‘ erzeugt: eine rechte, die von Carl Schmitt ausgeht, der die Kierkegaard-Passage in seiner Politischen Theologie von 1922 zitiert, und eine linke, die von Canguilhem zu Foucault und Deleuze (inklusive Agamben) führt. Foucault 1979, S. 70. In dieser reichlich klischeehaften Sicht erschöpft sich der Versuch einer vergleichenden theoretischen Analyse von Foucaults und Deleuzes Vitalismus bei Maria Muhle: „Zweierlei Vitalismus. Überschreitung – Normativität – Differenz“. In: Friedrich Balke/Marc Rölli (Hg.): Philosophie und Nicht-Philosophie. Gilles Deleuze – aktuelle Diskussionen. Bielefeld 2011, S. 71-96. Ohne hier in die Details gehen zu können: bei ihrem weitgehend aus zweiter Hand verfertigten Deleuze-Porträt verläßt Muhle, die mit einer passablen Untersuchung zum Lebensbegriff bei Foucault und Canguilhem debütierte – die thematisch deckungsgleiche Studie von Legrand (siehe Fußnote 38) hat freilich deutlich mehr Tiefgang –, sich ein wenig (zu) sehr auf Alain Badiou und Jacques Rancière, zwei berufsmäßige Deleuze-Kritiker. Natürlich spricht nichts dagegen, daß eine ambitionierte Nachwuchswissenschaft-lerin anhand von Deleuze einen Teil ihrer weiteren Laufbahn als ‚Ausbildung vor dem Publikum‘ absolviert. Eines muß aber trotzdem klargestellt werden: Die wirkliche Erfassung und Realisierung des Zwischen der Vitalismen von Foucault und Deleuze steht nicht nur Maria Muhle und ihren beiden ‚Fürsprechern‘ Friedrich Balke und Marc Rölli (ebd., S. 20), sondern letztlich der gesamten deutschsprachigen Foucault- und Deleuze-Rezeption erst noch bevor. Seit 1945; siehe dazu Francois Dosse: Gilles Deleuze et Félix Guattari. Biographie croisée. Paris 2007, S. 121. Deleuzes im Kern bereits 1947 verfaßte Monographie über David Hume
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dings tut Deleuze dies im Rahmen der Theorien eines anderen produktiven Canguilhem-Schülers, des Technik- und Biophilosophen Gilbert Simondon, dessen Werk für Foucault nie die geringste Rolle gespielt hat, während es für das deleuzianische Denken von kaum zu überschätzender Bedeutung geworden ist52. Sehr vereinfacht gesagt entwirft Simondon eine frühe Theorie der „Selbstorganisation“ des Lebendigen, das sich dem traditionellen Schema der Formung einer Materie durch ein zweckbestimmtes Gesetz entzieht, aber als zugleich kontinuierliches und differenziertes Feld „präindividueller Singularitäten“ erfaßt werden kann, deren hochverdichtete „potentielle Energien“ über Prozesse der Rückkoppelung die Emergenz individuierter Formen und vorbewußt-vitaler Selbstbezüglichkeiten (‚Freiheit‘) ermöglichen, dabei aber die über Schwellen verbundenen unterschiedlichen Seinsregionen im offenen Feld universellen Ungleichwerdens ineinander schwingen lassen. In diesem Horizont nimmt Deleuze den Gedanken Canguilhems auf, dass ‚anormal‘ und ‚anomal‘ deutlich unterschiedliche Bedeutungen haben: während ‚anormal‘ immer als Abweichung gegenüber einem vorausgesetzten Gesetz gilt, leitet sich ‚anomal‘ gerade nicht vom Gesetz (nomos) ab, sondern von omalos, dem griechischen Wort für das Gerade oder Ebene53. Das Anomale kennzeichnet also nicht einen abweichenden Zustand von einer Norm, sondern genau die Randbewegung aktiven Fliehens oder Abdriftens, die im Anti-Ödipus noch frenetisch als absolute Entgrenzung gefeiert wird, die Deleuze (und Guattari) aber ab dem Kafka (1975) und besonders in den Tausend Plateaus auf vorsichtigere und variantenreichere Weise untersuchen. Grundlegend für die dort entfaltete allgemeine Pragmatik nomadischer Werdensprozesse ist ein Begriff, der in genauer Parallele zu Foucaults Dispositiv steht, aber auch in charakteristischer Weise davon unterschieden ist, der erstmals im Kafka-Buch eingeführte Begriff des Agencement oder der Verkopplung54.
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(siehe Deleuze 1953) wurde von Hyppolite und Canguilhem betreut. Auch ein Sammelband über „Instinkte und Institutionen“ (siehe Deleuze 1955) erschien in einer von Canguilhem gegründeten Reihe. Das grundlegende Werk von Gilbert Simondon (1924-1989), der wie Foucault als Psychologieprofessor begann, ehe er die Leitung des von ihm gegründeten „Labors für allgemeine Psychologie und Technologie“ an einer Pariser Universität übernahm, ist eine parallel zur Studie über „Die Existenzweise technischer Objekte“ (1958. Dt.: Zürich 2012) bei Canguilhem eingereichte große Untersuchung, deren erste Hälfte: L’individu et sa génese physicobiologique. Paris 1964, von Deleuze sofort als neuartige Konzeption des Transzendentalen begrüßt wurde: siehe Deleuze 1966a und 1969, S. 134-136 (die zweite Hälfte erschien 1989, die vollständige Fassung erst 2005). Für Deleuze ist Simondon eine Inspirationsquelle geblieben, und selbst Konzepte wie das filmische „Kristallbild“ (siehe Deleuze 1985, S. 95 ff.) oder die „Kontrollgesellschaft“ (siehe Deleuze 1990b) sind im Kern – „Ich lese, um zu stehlen“, war einer von Deleuzes Wahlsprüchen – die ‚Umsetzung‘ von Analysen aus Simondons Buch von 1964. Siehe Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, S. 86 f., und Deleuze/Guattari 1980, S. 332. Bei Maria Muhle glänzt diese entscheidende Bezugnahme Deleuzes auf Canguilhem bezeichnenderweise durch reine Abwesenheit. Zu Deleuzes in den beiden Bänden von Kapitalismus und Schizophrenie entfalteter Praxeologie oder „Pragmatik“ siehe als ersten Überblick Wilhelm Miklenitsch: „G. Deleuze / F. Guattari: Capitalisme et schizophrénie. I: L’Anti-Oedipe. II: Mille Plateaux. In: Kindlers Neues
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Denn Verkopplungen sind zwar entlang einer ersten Achse ebenfalls Netzwerke zwischen heterogenen sprachlichen und nichtsprachlichen Elementen, zwischen physischen Inhaltsformen und semiotischen Ausdrucksformen, Körperregimen und Zeichenregimen. Ein erster Unterschied zu Foucaults Dispositiven ist indes, dass die Heterogenität von Verkopplungen allein symbiotisch oder sympathetisch über die Umlenkung von Strömen des Begehrens bzw. Wunsches (désir) in intensiven Regionen verknüpft wird, wobei Inhalts- und Ausdrucksschichten in einem Prozeß unbewußter Besetzungen des sozialen Feldes („Wunschproduktion“) zusammengeschaltet werden, in dem Spinozas Modell einer immanenten Kausalität der Substanz im modalen Universum der Dinge und Lebewesen mit der vom frühen Marx vorgedachten produktiven Einheit von Natur und Industrie verdichtet sind. Das deleuzianische Begehren ist daher alles andere als eine ‚unverdorbene‘ erste Natur, so wenig wie der „Schizo“ eine Deckfigur des ‚guten Wilden‘, und dementsprechend verdankt Deleuze seinen gesellschaftstheoretischen Grundbegriff der Ströme auch nicht Bergsons kosmischem Lebensstrom der Materie, sondern der Ökonomietheorie von J. M. Keynes55. Den Bewegungen der Wunschströme entsprechend, die die Körper und Zeichen antreiben, fixieren oder fortspülen, bestimmt sich eine Verkopplung aber zusätzlich durch einen zentripetalen Bezug auf Territorium und Erde wie durch zentrifugale Bezüge auf Fluchtlinien der Entgrenzung („Deterritorialisierung“), die jedes Agencement durchqueren. Dabei bilden beide Bewegungen keinen Antagonismus, sondern ein Ineinander, bei dem Deleuze allerdings einen Vorrang de jure der Entgrenzung ansetzt, in dem der Grundaspekt der Ereignisvirtualität, dass es immer einen Sinn-Anteil der Erfahrung gibt, der nicht in seiner Aktualisierung aufgeht, schizoanalytisch konkretisiert ist. Nun gibt es auch bei dem Historiker Foucault explizite Bezüge auf Raum, Geographie und Territorium, und dementsprechend nimmt schon die Archäologie des Wissens das „Außen“ einer „allgemeinen Theorie der Produktionen“ in Anspruch, das dann als vom schöpferischen „Irrtum“ des Lebens angetriebene Produktion von Wahrheiten und Subjektivierungen deutlichere Konturen
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Literatur-Lexikon. Bd. 4. München 1989, S. 510–512. Neuausgabe: Stuttgart 2009. Bd. 4, S. 477–478. Im komplexen Begriffsgeflecht dieser Pragmatik, die hier unmöglich als Ganzes dargestellt werden kann, funktioniert auch das Agencement als eine die „Wunschmaschine“ des Anti-Ödipus ablösende Konzeption: siehe Deleuze Guattari 1975, S. 112–122. Zur Präzisierung dieses Begriffs als semiotisch-physischer Mannigfaltigkeit siehe Deleuze/Parnet 1977, S. 76–80, und besonders Deleuze/Guattari 1980, S. 105–152. Das steht in der Tat nicht im Anti-Ödipus, das sagt Deleuze dafür aber explizit in seiner dieses Buch vorbereitenden zweijährigen Vorlesung Logique du désir (Logik des Begehrens) von 1970–1971, siehe Deleuze 1970–71 (Vorlesung vom 14. Dezember 1971): „Man findet in Keynes’ Allgemeiner Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes [von 1936] die erste große Theorie der Ströme“. Fünf Jahre nach dem Anti-Ödipus hat Deleuze dann unter Bezug auf Foucaults Überlegungen zur Verschiebung des Machttyps vom Rechtsgesetz zur biopolitischen Norm (siehe Foucault 1976, S. 171–173) die Verbindung von Geld- und Stromtheorie explizit im Zeichen von Keynes vollzogen: „‚Das‘ Soziale aber entsteht mit einem Flottierungssystem, in dem Normen das Gesetz, Regulations- und Korrekturmechanismen den Standard ersetzen“: Deleuze 1977, S. 116.
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annimmt56. Aber Deleuzes Wunschproduktion impliziert ein anderes Außen, die unendliche Bewegung einer diesseits der Unterscheidung Natürlich/Künstlich gedachten Natur, die als „Mechanosphäre“ oder als biokosmischer „organloser Körper“ alle bloß ‚mechanischen‘ Bezüge zur ereignishaften Intuition erhebt, indem sie zwischen den Körper-Organismen und den geformten Zeichensequenzen „ein anorganisches, ein keimförmiges, ein intensives Leben“ fließen läßt: „Expressivität in Bewegung“57. Wenn es also zwischen Foucault und Deleuze in der Tat einen großen Unterschied der Methode und sogar des Ziels gibt, dann letztlich deshalb, weil die Differenzierung der Differenz oder der Prozeß der absoluten Grenze einer Gesellschaft im Rahmen von Foucaults Logik der Strategie als Vervielfältigung statischer Grenzlinien bestimmt wird, während er im Rahmen von Deleuzes Logik des Begehrens als Verteilung dynamischer Schwellen gedacht werden kann und muß58. Selbstverständlich ergibt sich aus der deleuzianischen Differenz auch eine andere Logik der Norm: demnach funktioniert die Normativierung immer dann als Normalisierung, wenn die im Netz einer Verkopplung von deren Rand her kommenden Bewegungen des Anomalen nicht mehr zwischen
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Zum Leben als schöpferischem Irrtum siehe Foucault 1978b bzw. 1985. Zum Außen der Produktionen siehe Foucault 1969, S. 295 und 300. Zum Raum des Außen Foucault 1967c; zum Verhältnis von Geschichte und Geographie siehe Foucault 1976b; und zum Territorium natürlich Foucault 1978. Deleuze/Guattari 1980, S. 708. Und zum anorganischen Leben ebd., S. 691. „Expressivität in Bewegung“ ist die Definition dessen, was Deleuze ein „Diagramm“ nennt und als „abstrakte Maschine“ bestimmt, die die „konkreten Maschinen“ der territorialen Agencements „für das Molekulare, das Kosmische“ öffnet und „Arten des Werdens“ konstituiert (ebd., S. 706). Bezeichnend ist deshalb, daß Philipp Sarasin bei seinem Versuch (siehe Fußnote 8), über den Diagramm-Begriff auf ‚originelle‘, wenngleich anfechtbare Weise eine ‚Deszendenz‘ von Darwins evolutionsbiologischer zu Foucaults archäo-genealogischer Version einer ‚Ökologie‘ der Lebensprozesse bzw. Diskurse zu konstruieren, zwar auf Deleuzes FoucaultMonographie Bezug nimmt, aber die Chance vergibt, mit Deleuzes Darlegungen zum Diagramm in Tausend Plateaus, die Sarasin nicht zu kennen scheint, der gesuchten Naturkulturwissenschaft jenseits allen Ursprungsdenkens die ‚naturphilosophische‘ DifferenzGrundierung zu geben. Zur Divergenz mit Foucault in Methode und Ziel siehe Deleuze 1990, S. 124. Es ist unmöglich, hier mehr als diese Andeutung einer Begriffsanalyse besagter Divergenz zu geben. Jedenfalls hat man dabei deutlich anders vorzugehen als Oliver Marchart, der Deleuzes Gesellschaftstheorie in Reduktion auf einen 1967 geschriebenen Text zum Strukturalismus (siehe Deleuze 1973) von Lévi-Strauss herleitet und auf eine „serielle Soziologie“ verkürzt (Deleuzes erklärter Bruch mit dem Seriellen ab Anti-Ödipus ist Marchart leider ebenso entgangen wie die komplementäre Radikalkritik an Lévi-Strauss in Tausend Plateaus), wogegen er Foucaults Gesellschaftsbegriff ebenso vereinfachend mit Max Weber parallelisiert; siehe Marchart: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft. Berlin 2013, S. 93-128 und 231-262. Um aber wenigstens meine Andeutung zu konkretisieren, hier noch eine prägnante Definition Benjamins, die Deleuzes Konzeption beweglicher Schwellen als eines für Verwandlungen offenen „Lebens der Ströme“ sehr nahe kommt: „Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ‚schwellen‘“; siehe Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. 2 Bde. Frankfurt 1983, Bd. 1, S. 618.
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den Normschablonen und der anormalen Regelwidrigkeit als ein ‚eingeschlossenes Drittes‘ zirkulieren können, so dass die Schichten und Formen nicht mehr auf das nichtorganische Leben der Kräfte oder Ströme durchgegeben sind. Deleuzes Genie bestünde somit auch darin, in ständiger Hinsicht auf dieses „Außen“ des Anomalen eine „Logik des Begehrens“ eingesetzt zu haben, die auf das Primat der Fluchtbewegungen vor den seßhaften Territorialbildungen bzw. „Segmentarisierungen“ fokussiert ist: „Jedes Animal hat sein Anomal“59. Man könnte hier vom Kafka-Paradigma sprechen, in dem es um das Kräftespiel der Begehrensströme geht, d.h. um eine Vervielfältigung von Seinsmächten, die in sich verzweigenden Machtorganisationen von Handlung und Ausdruck institutionelle Gestalt annehmen60. Vor diesem Hintergrund läßt sich Deleuzes Konzeption von Freiheit als präzise Übersetzung seiner Fokussierung auf das Anomale in eine Philosophie des Politischen bestimmen, deren Schlüsselbegriff das „Minoritäre“ bildet. Dieses Minderheitliche ist ganz sicher nicht im Sinne der blinden ‚Identifikation‘ mit randständigen Milieus und Multikultiromantik zu begreifen61, so wenig wie das Majoritäre im Sinne statistischer Überzahl, vielmehr bildet letzteres eine im Kern platonische Universalie, die ein Rechts- und Herrschaftsverhältnis voraus- und einsetzt, welches sich (der White Anglo-Saxon Protestant/WASP in den USA) als ideale Norm allen anderen Menschen auferlegt: „Aber an diesem Punkt kehrt sich alles um. Denn die Mehrheit ist, sofern sie im Standardmaß analytisch einbegriffen ist, immer Niemand-Odysseus, während die Minderheit das Werden eines jeden darstellt, sein potentielles Werden, sofern er vom Modell abweicht: Ein Quentchen Schönheit, ein Auswuchs oder eine Lücke können genügen: sie sind Pfropfreiser des Werdens. […] Deshalb müssen wir das Mehrheitliche als homogenes und konstantes System, die Minderheiten als Sub-systeme und das Minderheitliche als potentielles, erschaffenes und schöpferisches Werden unterscheiden. Das Problem kann nie darin bestehen, die Mehrheit zu erlangen, selbst wenn man dabei eine neue Konstante einführen sollte. […] Das Werden ist immer minderheitlich.“62
Darum fungiert bei Deleuze auch nicht die Normalisierung, sondern die „Segmentarität“ als Zielscheibe der praktischen Kritik, bildet nicht der Widerstand, sondern das aktive Fliehen den Grundmodus des politischen Engagements, und ist nicht die Lust, sondern das Begehren der vitale Antrieb und Einsatz der „dividuel-
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Deleuze/Guattari 1980, S. 332, mit Bezug auf die mathematische Konzeption des Randes bei René Thom. Siehe dazu Deleuze/Guattari 1975. Obwohl Deleuzes Kafkaismus hier ausgespart bleiben muß, sei zumindest an den Satz des Affen erinnert: „Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft“. Siehe den 1994 veröffentlichten Kommentar-Brief von Deleuze 1977a an Foucault über Der Wille zum Wissen, wo gegen alle Außenseiterromantik klargestellt wird, daß die Fluchtlinien der Verkopplungen „objektive Linien“ bilden, „die eine Gesellschaft durchziehen“: Deleuze 1977a, S. 124. Und noch Anfang der 1990er Jahre hat Deleuze anläßlich der damaligen Kopftuchdebatte ein klares Votum für die demokratisch-laizistische Tradition der strikten Trennung von Kirche und Staat abgegeben; siehe Deleuze 1993c. Deleuze 1978, S. 27 f.
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len“, gegen das assujettissement gerichteten Werdensprozesse. Dabei orientiert Deleuzes ‚Praxeologie‘ sich an der Perspektive Artauds, dem Menschen im Bruch mit dem ‚Gottesgericht‘ von Seele und Organismus kraft der anorganischen UnForm eines „organlosen Körpers“ seine „wirkliche und unvergängliche Freiheit“63 zu erstatten. Freiheit ist für Deleuze wesentlich Intensitätssteigerung, die in Verkopplungen stattfinden muß, weil die menschlichen Affekttiere darin auf ein reales Werden durchgegeben werden, das keine Privilegierten kennt, aber eine vitale Grundwelle hat: aus deleuzianischer Sicht benötigt z.B. auch die Emanzipation der Frauen, über ihre unabdingbare rechtlich-soziale Gleichstellung hinaus, den Eintritt in ein „Frau-Werden“, das keinesfalls irgendeine natürliche/biologische Bestimmung des ‚Humanums‘ impliziert, sondern in dem Maße die ‚molekulare‘ Grundbedingung jeden Werdens bildet, wie es eine Zusammensetzung der selbstidentischen Mensch-Form mit nicht-menschlichen Affekten und Rhythmen oberund unterhalb des Menschen realisiert64. Demgegenüber herrscht bei Foucault zunächst eine Fokussierung auf die moderne Biopolitik vor, die als Kombination aus Mikromächten der Disziplinierung der Körper mit einer politischen Technologie der Individuen abläuft, welche als transformierte kirchliche „Pastoralmacht“ der Seelen alle und jeden im Visier hat65. Zwar diagnostiziert auch Foucault wie Deleuze die Gefahr der uns durchdringenden Faschismen „bis hin zu den winzig kleinen Formen, die die bittere Tyrannei unserer alltäglichen Leben ausmachen“66 –: natürlich nicht zuletzt im Blick auf die negative Utopie der ‚ethnischen Reinheit‘, die mit den schrecklichsten Techniken ‚ethnischer Säuberung‘ verwirklicht wird und moderne Gesellschaften – man denke an Bosnien 1992 bis 1995 – bis heute als ihr Schatten begleitet67. An-
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Antonin Artaud: ‚Schluß mit dem Gottesgericht“ [1947/48]. In: Artaud: Letzte Schriften zum Theater, München 1993, S. 29. Aber sicher spielt auch der Bergsonismus (siehe dazu Deleuze 1966) in Deleuzes Auffassung des „organlosen Körpers“ eine gewisse Rolle. Das „anorganische Leben“ kann außerdem als Gegenmodell zur Konzeption organischen Lebens aufgefaßt werden, die Kant entworfen hat, umso mehr, als diese Konzeption direkt an die Kritik der „Möglichkeit einer lebenden Materie“ gebunden ist; Kant: Kritik der Urteilskraft (B 327/28). Zum Frau-Werden siehe Deleuze/Guattari 1980, S. 375–380. Komplementär resümiert Foucault das singuläre Leben hinter dem ‚Fall Barbin‘: „Sie war weder eine Frau, die Frauen liebte, noch ein Mann, der sich unter Frauen verbarg. Alexina war das identitätslose Subjekt eines großen Verlangens nach den Frauen. Und diesen Frauen war sie ein Anziehungspunkt ihrer Weiblichkeit und für ihre Weiblichkeit …“: Foucault 1980c, S. 149. In Parallele dazu hat Deleuze das Frau-Werden (auch der Frauen) als Grundbedingung jeglichen Werdens angesehen: „es gibt kein Mann-Werden, weil der Mann die molare Entität par excellence ist, während die Arten des Werdens molekular sind“: Deleuze/Guattari 1980, S. 398. Zur Pastoralmacht siehe Foucault 1978, S. 185–269, und 1981b. Zu Macht/Widerstand siehe Foucault 1976, S. 116–118. Foucault 1977, S. 180. Daß Foucault den Anti-Ödipus durchaus geschätzt hat, beweist auch ein kaum bekanntes Gespräch, das er mit den beiden Verfassern 1972 über die Wirksamkeit politischer Technologien im Ineinander von Urbanisierung und Normalisierung führte; siehe Foucault/Deleuze/Guattari 1973. Siehe dazu die exemplarische Analyse von Foucault 1976, S. 159–190; aber ergänzend ebenso Foucault 1976a, S. 276 ff, sowie zur Parallelität von faschistischem/nazistischem „Staats-
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dererseits ist in Foucaults Dokumentationen zu den ‚Fällen‘ Pierre Rivière und Herculine Barbin68 schon die Perspektive latent wirksam, dass die Machtdispositive nicht nur Zwangssysteme, sondern Problematisierungsstrategien einer letztlich unverfügbaren Freiheit sind, weshalb auch das moderne Sexualitätsdispositiv nie imstande war noch ist, das gesamte Feld der Körper und Lüste zu besetzen. Von daher konnte Foucault schließlich 1978–79 in seinen grundlegenden Analysen des liberalen „Sicherheitsdispositivs“ als einer die Freiheiten in Regie nehmenden Regierungstechnik und der ihm korrelierenden Biopolitik des Neoliberalismus als Verallgemeinerung der ökonomischen Unternehmensform eine positivere Perspektive der Antinormalisierung entfalten69. Dieser liegt eine explizit nicht-liberale Bestimmung von Freiheit zugrunde, die zu der von Deleuze 1978 gegebenen Definition des Minoritären in strikt komplementärer Differenz steht: man dürfe sich die Freiheit nicht als eine universell-ideale Konstante vorstellen, „die über die Zeit hinweg eine fortschreitende Vervollkommnung oder quantitative Variationen oder mehr oder weniger schwerwiegende Beschneidungen oder mehr oder weniger starke Verdunkelungen aufwiese. Es handelt sich nicht um eine Universalie, die sich mit der Zeit und der Geographie besondern würde. Die Freiheit ist keine weiße Oberfläche, die hie und da und von Zeit zu Zeit mit mehr oder weniger zahlreichen schwarzen Feldern bedeckt ist. Die Freiheit ist niemals etwas anderes – aber das ist schon viel – als ein aktuelles Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, ein Verhältnis, bei dem das Maß des ‚zu wenig‘ an bestehender Freiheit durch das ‚noch mehr‘ an geforderter Freiheit bestimmt wird“70.
Auf dieser Linie ist es Foucault ab 1980 definitiv möglich geworden, Auge in Auge mit dem Machtdispositiv der Normalisierung die explizit politische Komponente einer nichtunterwerfenden „Subjektivierung“ als Widerstands- und Verwandlungslinie ins Auge zu fassen. Obwohl weit davon entfernt, die Beziehung zu sich als ersten und letzten Punkt oder neualten Ursprung des Widerstands gegen die politische Macht anzusehen71, hat er doch auf dieser Linie die Mittel ge-
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rassismus“ und kommunistischem/stalinistischem „Sozial-Rassismus“ ebd., S. 95–98 und 294-305. Zum Rassismus aber auch Deleuze/Guattari 1980, S. 244 f. Siehe Foucault 1973a und Foucault 1978a. Entscheidendes ‚Scharnier‘ ist hier natürlich Foucaults Essay „Das Leben der infamen Menschen“ (1977) über die Lettres de cachetInternierten (siehe Foucault 1982a) des ancien régime: Demnach wäre die Macht das Schicksal dieser namenlosen Leben gewesen, sofern „ihre Freiheit, ihr Unglück und häufig ihr Tod“ allein die konflikthafte „Form des Verhältnisses zur Macht“ annahm: Foucault 1977b, S. 314, 316. Zur Analyse des „Sicherheitsdispositivs“siehe Foucault 1978, S. 70–79. Zur Analyse des ökonomisch-politischen Liberalismus nach 1945 in seiner deutschen (Freiburger Ordoliberalismus der ‚sozialen Marktwirtschaft‘) und besonders seiner marktradikalen amerikanischen Version (wirtschaftswissenschaftlicher Neoliberalismus der Chicago School) siehe die ebenso grundlegenden Analysen in Foucault 1979, bes. S. 117–212 und S. 300–361. Foucault 1979, S. 96 f. (Übs. leicht mod.). Die daraus folgende Bestimmung praktischer Kritik hatte Foucault schon zuvor als „Haltung“ und „Denkungsart“ bestimmt, „nicht dermaßen regiert zu werden“:siehe Foucault 1978d, S. 12. Siehe dazu Foucault 1982, S. 313. Im Januar 1984 eben darauf angesprochen, hat Foucault noch einmal klipp und klar erklärt, daß die Sorge um sich mitnichten der einzige Widerstandspunkt sei: Foucault 1984g, S. 901.
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funden, seine allgemeine Bestimmung der Machtverhältnisse als strategischer Felder aus beweglichen und umkehrbaren Formen der Lenkung des Verhaltens der einen durch die anderen neu zu entwickeln72. 4. MUT DER WAHRHEIT, SCHÖPFUNGSAKT: ETHIKEN DER SELBSTÜBERSCHREITUNG In Anspielung auf das Lehrbuchmodell von ‚parlamentarischer Bühne‘ und ‚Staatsbürgerpublikum‘ hat Foucault mit Blick auf das moderne Transparenzsystem des Panoptismus, das wenigen die Übersicht über viele erlaubt, schon in Überwachen und Strafen der modernen liberalen Demokratie die Diagnose gestellt: „Wir sind weit weniger Griechen, als wir glauben“73. Damit wird die Ablösung des antiken Demokratiemodells aus Polis-Gemeinschaft und öffentlichem Leben, das vielen den Anblick weniger verschaffen konnte, durch das moderne Modell, das die Beziehung zwischen Privatindividuen und Staatsapparat regelt, einer Infragestellung unterzogen, welche die Zusammenschaltung zwischen den Mikromächten der Disziplinen und den Makromächten liberaler Regierungstechniken als technologischen Untergrund der modernen Funktionsweise von Politik freilegt. Aber diese Blickwendung zieht bei Foucault keinerlei antidemokratische Wendung nach sich – das unterscheidet ihn radikal von Carl Schmitt. Stattdessen hat Foucault spätestens74 seit 1981 die altgriechische ‚Erfindung‘ der Freiheit kraft spezifischer ethisch-politischer Technologien der Lenkung seiner selbst und der anderen zum Brennpunkt seiner Forschungen gemacht, geleitet von der Grundüberlegung, dass er die Problematik der Genealogie des begehrenden Menschen nur bewältigen könne, wenn es gelingen würde, die Selbstüberschreitung in der sexuellen Aktivität und die Selbstaffizierung der vitalen Kraft im Machtver72
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Vom „Macht-Wissen“ der Dispositive (1972–1976) über die biopolitischen Praktiken der „Gouvernementalität“ (1978–79) hat dieser Weg schließlich 1980 zum „Wahrheitsregime“ geführt, das ein Gemenge von Wissensformen, Machtverhältnissen und Subjektivierungsweisen bestimmt, welches Typen von Relationen bildet, worin Prozeduren der Wahrheitserzeugung mit Subjekten verbunden werden, die Vollziehende, Zeugen oder Objekte dieser Prozeduren sind: siehe Foucault 1980, S. 92–98. Foucault 1975, S. 279. siehe dazu die Rezension von Deleuze 1975, bes. S. 114–118, wo die Immanenz des panoptischen Machttyps als von ihrer spezifischen Verwendung ablösbare politische Technologie bestimmt wird, die durch die Anonymität ihres Funktionierens (Beliebigkeit des Beobachters und der zu reguliernden Menschengruppe) in Zusammenschaltung mit äußerster Individualisierung ihrer Eingriffe (Ausforschung und Ausnutzung der kleinsten Details) die potenzierte Effizienz einer „abstrakten Maschine“ der subjektkonstituierenden Unterwerfung gewinnt. Startpunkt von Foucaults direktem Rückgang in die Antike ist die im Mai 2014 erschienene Collège de France-Vorlesung von 1981 über Subjectivité et vérité, die Teile des Materials von Der Gebrauch der Lüste wie von Die Sorge um sich bereitstellt, aber auch jeweils von Augustinus aus (siehe Foucault 1981e, S. 159–170, 292 f.) einige Vorblicke in Les aveux de la chair (Die Geständnisse des Fleisches) erlaubt, dem als Typoskript abgeschlossenen, jedoch bis heute unveröffentlichten vierten und letzten Band von Sexualität und Wahrheit.
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hältnis zu anderen zusammenzubringen75. Dabei bewegt sich Foucaults Freiheitsdenken bis zuletzt im Horizont der Erforschung von politischen Technologien – das beweist vor allem folgende markante Passage eines am 20. Oktober 1980 im kalifornischen Berkeley gehaltenen Vortrags: „For Heidegger, it was through an increasing obsession with ‚technae‘ as the only way to arrive at an understanding of objects, that the West lost touch with being. Let’s turn the question around and ask which techniques and practices form the western concept of the subject, giving it its characteristic split of truth and error, freedom and constraint. I think that it is here where we will find the real possibility of constructing a history of what we have done and, at the same time, a political dimension. By this expression ‚political dimension‘ I mean an analysis that relates to what we are willing to accept in our world, to refuse, and to change, both in ourselves and in our circumstances“76.
Foucaults Strategie angesichts der ‚Frage nach der Technik‘ war also bis zuletzt nicht die ‚Rückkehr der Moral‘ oder eine Besinnung auf das „Geviert“ der sich selbstoffenbarenden Dinge, auch nicht der ‚Vorschein‘ von Utopien77 nichtinstrumentellen Naturumgangs oder der Verständigungsprozesse im Naturschutzreservat der Lebenswelt78, sondern den Dispositiven der subjektkonstituierenden Unterwerfung zugewandt und zugleich gegen sie gekehrt, die Lancierung gegenläufiger Experimental-Bewegungen in den gegenwärtigen Wahrheitsregimen selbst. Das ist der operative Grundzug einer Subjektivierung im Sinne Foucaults, die nichts mit Moral zu tun hat, deren Maschinerie stets im Bund mit Macht und Wissen das Geschäft von Normalisierung und Personalisierung betreibt, sondern eine Ethik der Existenz ins Spiel bringt, welche das die Lebensweisen eines Menschen lenkende Denken reguliert, flankiert von einer Ästhetik der Existenz, wel-
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Siehe Foucault 1983c S. 462 f. und 479 f.; siehe dazu auch Deleuze 1985b, S. 246 f. Insofern läßt sich Foucaults Schlüsseltext „Das Leben der infamen Menschen“ in der Tat als eine Art Negativ betrachten, in dem das durch den Bann der Macht als „Singularität einer Abwesenheit“ kenntlich gemachte Dasein vitale Konturen einer ethischen Lebensform durchscheinen läßt; so Giorgio Agamben: Profanierungen. Frankfurt 2005, S. 57–69, besonders S. 68 f. Foucault 1980d, S. 6 (Hervorhebung von mir; W.M.); Französische Fassung: 2013, S. 37. Man kann in dieser Fokussierung auf Technologien durchaus eine Spur von Foucaults frühen Lektüren der einschlägigen Analysen Husserls und Heideggers sehen: siehe dazu Foucault 1982, S. 592–594. Zur Unterscheidung zwischen Utopien und Erfahrungen/Experimenten (das ist der im Deutschen nicht gegebene Doppelsinn des lateinischen experientia wie des französischen expérience) siehe Foucault 1971e, S. 286-288, sowie in direkter Kritik an der Kritischen Theorie: Deleuze/Guattari 1991, S. 116–118 und 128 f. So in Jürgen Habermas Kommunikationstheorie der Gesellschaft. Leider enthält Habermas’ Auseinandersetzung mit Nietzsche und Foucault zwar Bezüge (Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt 1985, S. 148, 151) auf Deleuzes Nietzsche und die Philosophie, nicht aber auf Deleuzes theoretisches ‚Hauptwerk‘ Differenz und Wiederholung. Was deshalb zu bedauern ist, weil sich dieser grundlegenden Untersuchung entnehmen läßt, daß nicht nur die in Frankfurt so beliebten Gegensatzpaare Genesis/Struktur, Strukturen/Subjekte (in neuerer Version: Räume/Orte) und Genesis/Geltung unhaltbar sind, sondern daß vor allem die Entgegensetzung von Subjektphilosophie und Intersubjektivitätstheorie als zwei ganz unterschiedlichen ‚Paradigmen‘ ins Reich der Fiktion gehört.
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che die Gesten des Körpers im öffentlichen Raum zu einem Habitus formiert79. Im Unterschied zur Tradition lautet Foucaults Frage deshalb, wie aus dem aleatorischen Unendlichen tausender uns durchdringender Ereignisse kraft eines Bündels von Technologien der übenden Selbstsorge, das Foucault summarisch ‚Asketik‘ nennt, ein endliches Wesen entstehen kann, das sein eigenes Leben zum Stoff eines vollendeten Werks macht. Und wie um allen vorhersehbaren Fehleinschätzungen80 von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat Foucault 1982 in direktem Bezug auf sein initiales archäo-genealogisches Analysemodell die späten Forschungen zur antiken Kultur des Selbstbezugs explizit unter den Oberbegriff einer „Ethnologie der Asketik“81 gestellt, um klarzumachen, dass sein spezielles ‚Antikenprojekt‘ den Einstieg in eine zentrifugale Sogbewegung impliziert, die einem ebenso wie die vorhergehenden Studien zu Wahnsinn, Krankheit, Verbrechen und Sexualität, nur anders, den Boden unter den Füßen wegzieht. Im Fokus dieser Ethnologie tritt hervor, dass die Verklammerung von Freiheit (eleutheria) und Selbstbemeisterung (enkrateia), die im altgriecschen Denken generell eine große Rolle spielte, nicht bloß die innere Souveränität der sich im vertrauten Freundeskreis genießenden und bereichernden Existenz sichert, sondern den sich selbst Regierenden direkt mit den agonalen Prozessen im politischen Handlungsfeld und den darin praktizierten Techniken der Regierung anderer Menschen verbindet82. Foucault mußte also nur seine Ethno-Historie der institutionellen Machtwirkungen von Wahrheitsereignissen auf das Feld der politischen Regierungstechniken übertragen, um ein zusätzliches theoretisch-praktisches Motiv zu gewinnen, für das es bei Deleuze kein direktes Gegenstück gibt und auch nicht geben kann: das Motiv einer speziellen ereignishaften Sprechaktivität, die den Griechen als rückhaltloses Aussprechen der ganzen Wahrheit oder als parrhesia geläufig war. Latent wirksam seit den Tagen des G.I.P und erstmals 1977 in berühmten Überlegungen zur politischen Funktion des „spezifischen Intellektuellen“ vorskizziert, bringen Foucaults ab 1982 einsetzende Forschungen
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Siehe dazu Foucault 1984b und 1984c, sowie Luther H. Martin u.a. (Hg.): Technologien des Selbst. Frankfurt 1993. Dementsprechend hat Foucault gegen Husserl und Heidegger eingewendet, daß beide zwar „alle unsere Erkenntnisse und ihre Grundlagen“ infragestellen, aber unverändert an einem „Bezug auf das Ursprüngliche“ des europäischen Menschentums oder des eigentlichen Daseins bzw. der Wahrheit des Seins festhalten, während Nietzsches Kraft gerade darin bestehe, eine Kritik der Erkenntnis, Moral und Metaphysik ohne Rückgriff auf ‚Ursprünge‘ zu vollziehen; siehe Foucault 1972, S. 464 f. Foucault 1982, S. 507. In der Collége de France-Vorlesung von 1981 hat Foucault dementsprechend unter Bezug auf die klassische Unterscheidung zwischen bios und zoe, biologischem Leben und soziokultureller Lebensform, prägnant formuliert: „Der bios ist die griechische Subjektivität“ (Foucault 1981e, S. 255), die Subjektivierung eines Selbstbezugs ohne Selbst, so wie umgekehrt die frühchristliche (augustinische) Subjektivität die selbstreflexive Überformung oder kohärente Verformung des griechischen bios bildet. Zur juristisch codierten Konzeption von Freiheit in der stoisch-römischen Kultur des Selbst siehe Foucault 1984c, S. 90, zur gegenläufigen politisch-agonalen Regulationsfunktion von Freiheit in der klassisch-griechischen Periode siehe demgegenüber Foucault 1984b, S. 106 f.
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zur Parrhesia83 praktisch alle Phasen seines Denkwegs, vom Binswanger-Essay 1954 bis zur Vermessung der Konstellationen zwischen Subjekt und Wahrheit ab 1980, in eine gedrängte vitale Gedanken-/Bewegungsfigur: Es läßt sich sagen, „daß parrhesia eine Art von verbaler Tätigkeit ist, bei der der Sprecher dank seiner Freimütigkeit eine spezielle Beziehung zur Wahrheit hat, durch die Gefahr eine spezielle Beziehung zu seinem eigenen Leben, und durch Kritik (Selbstkritik oder Kritik anderer Menschen) eine spezielle Beziehung zu sich selber oder zu anderen Menschen, und durch die Freiheit und die Pflicht eine spezielle Beziehung zum moralischen Gesetz. Oder genauer gesagt, parrhesia ist eine verbale Tätigkeit, bei der der Sprecher seine persönliche Beziehung zur Wahrheit ausdrückt und sein Leben aufs Spiel setzt, weil er das Wahrsprechen als eine Pflicht erkennt, um anderen Menschen (so wie sich selber) zu helfen oder sie zu verbessern“84.
Ohne hier in die Details85 gehen zu können, ist der Parrhesiast also jemand, der die anonymen Regeln des Diskurses so anwendet, dass er kraft dieses Vollzugs aus der Anonymität heraustritt, weil sein freimütiges Wahr-Sprechen, sofern es den Bruch einer Freundschaft oder den Zorn eines Tyrannen in Kauf nimmt, das Risiko des sozialen oder physischen Todes eingeht und damit nicht bloß die ‚Botschaft‘ des Gesagten, sondern das eigene Leben betrifft. Darum erscheint die Parrhesia im antiken Griechenland auch zunächst als Begriff der politischen Praxis und der Problematisierung der athenischen Demokratie86, ehe sie im philosophischen Diskurs seit Sokrates und Platon auf die ethische Sorge um sich und die Hervorbringung freier Moralsubjekte bezogen wurde: erst in dieser Umpolung fungiert die Parrhesia als Ethik des Wahr-Sprechens in der Dimension des Sagbaren (der res dictae und res gestae der Römer) und als Ästhetik der WahrheitsKundgabe in der exponierten Sichtbarkeit eines tätigen Lebens (res gestae) selbst. Entscheidend bei diesem Bezug von Subjekt und Wahrheit ist für Foucault die Übereinstimmung zwischen der subjektiven Aufrichtigkeit des Sprechenden und
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Wie schon die aus pan (alles) und rhema (das Gesagte) abgeleitete Struktur dieses Wortes anzeigt, bezeichnet parrhesia im Griechischen die Haltung eines Menschen, der vor den anderen Menschen frei heraus alles sagt, was er denkt; darin kommt also eine reflexive Beziehung des Sprechenden zum Ausdruck, die den Römern so exemplarisch für einen freien Menschen erschien, daß sie parrhesia einfach mit libertas, dem lateinischen Wort für Freiheit überhaupt, übersetzten: siehe Foucault 1982, S. 447. Foucaults Analyse dieser antiken Sprechaktivität beginnt schon in Hermeneutik des Subjekts, ebd. S. 447 ff., und setzt sich dann fort in Foucault 1983(a), 1983b und 1984(a). – Zum „spezifischen Intellektuellen“, der nicht als Repräsentant universeller Wahrheiten und Normen (von Voltaire bis Sartre) auftritt, sondern als Sprecher und Verteiler eines spezifischen Gegenwissens, siehe Foucault 1977a, S. 205-212. Foucault 1983b, S. 19. Siehe dazu Frédéric Gros, (Hg.): Foucault. Le courage de la vérité. Paris 2012.; sowie Petra Gehring / Andreas Gelhard (Hg.): Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich 2012. Wobei der französische Band Foucaults Denkdynamik näherkommt als der phänomenologisch orientierte deutsche Versuch. Siehe Foucault 1983a, bes. S. 142 f. und 222-236. Foucaults Fazit: „Keine wahre Rede ohne Demokratie, aber die wahre Rede führt Unterschiede in die Demokratie ein. Keine Demokratie ohne wahre Rede, aber die Demokratie bedroht die Existenz der wahren Rede“; ebd. S. 236.
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der rigorosen ‚Objektivität‘ des durch sein Sprechen transportierten Wissensanspruchs; deshalb nennt er dieses Die-Wahrheit-Haben, das in expressiver Selbstbezüglichkeit durch die moralische Qualität des Parrhesiasten gestützt wird, ausdrücklich Le courage de la vérité, also nicht ‚Mut zur Wahrheit‘, sondern: Der Mut der Wahrheit87. Dieses ‚Haben‘ impliziert gleichwohl weder ‚totalitäre Allmachtsphantasien‘ noch den Leichtsinn mutwilliger Provokateure, vielmehr unterliegt es wie jedes Sprechen präzisen Regeln, die in diesem Fall Regeln der individuellen Integrität, eines politischen Rechtsanspruchs und der Erfüllung einer moralischen Aufgabe sind: Mut der Wahrheit ist hier eins mit dem ereignishaften Vollzug eines Wahrheitsspiels, das in einer extrem singularisierenden Subjektivierung eine ‚Dramatik‘ ethisch-politischer Freiheit zum Ausdruck bringt88. Allerdings überwiegt bei Sokrates/Platon eine Verinnerlichung, welche die Sorge um sich auf eine Sorge um die Seele festlegt und verengt89. Demgegenüber plädiert Foucault mit Nietzsche und den Kynikern für eine antiplatonische ‚Umkehrung‘: die vordringliche Funktion der Parrhesia besteht darin, das Außen im exponierten Vollzug öffentlichen Wahrsprechens in ein damit koextensives Innen umzufalten90. Der ‚kommandierende Affekt‘ oder die moralische Aufgabe des modernen, zum spezifischen Intellektuellen-Dissidenten mutierten Parrhesiasten bestimmt diesen also zu einem heterodoxen, die mehrheitsfähigen Meinungen unterlaufenden Wahr-Sprechen, das die heute dominierenden Machtverhältnisse attackiert, 87
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Siehe Foucault 1984. Hätte Foucault vom ‚Mut zur Wahrheit‘ gesprochen, dann müßte es heißen: Le courage de vérité, also ohne ein ‚la‘ dazwischen, wie in der aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (KSA, Bd. 5, S. 41) übernommenen Formulierung, die den Titel der ersten Collège de France-Vorlesung 1970–71 und des ersten Bandes (1976) von Sexualität und Wahrheit bildet: La volonté de savoir, was im Deutschen in der Tat Der Wille zum Wissen lauten muß. Aber Le courage de la vérité kann in präziser Übersetzung nur mit Der Mut der Wahrheit übertragen werden, jede andere Fassung ist für jeden, der Französisch kann, ebenso eindeutig und indiskutabel falsch, wie die Addition 2+2=5 für jeden, der die Grundrechenarten beherrscht, falsch ist. Schon 1966 hat Foucault in direktem Bezug auf Sokrates diesen singularisierenden Grundzug der philosophischen Dynamik betont; siehe Foucault 1966c, S. 712 f. Als prägnante Wiederaufnahme dieses Motivs siehe Foucault 1984g, S. 891. Siehe dazu, in Kritik am Platonismus des tschechischen Phänomenologen Jan Patocka, Foucault 1984a, S. 171 f. Ohne Zweifel berührt der späte Foucault hier nicht nur die Thematik der Zwiefalt oder Falte bei Heidegger und Merleau-Ponty (siehe dazu Deleuze 1986, S. 152–159), sondern trifft sich speziell im Feld des parrhesiastischen Wahr-Sagens auch mit dem späten Lacan, der seit seiner im Zeichen der Wahrheit stehenden Wendung vom Symbolischen zum Realen ab 1966 auf seine Weise das Feld einer Ontologie des Akts erkundet hat. Foucault, der Lacan stets als „Befreier der Psychoanalyse“ (siehe Foucault 1981d) von allen Formen idealistischer und existentialistischer Subjekttheorie gewürdigt hat, war sich dieser Überkreuzung zwar klar, hat sie aber nicht eigens thematisiert: 1982 auf sein Verhältnis zu Heidegger und Lacan angesprochen (siehe Foucault 1982: S. 238–240), stellt er seine späten Forschungen noch in die Nähe Heideggers. Gleichwohl läßt sich anhand der als Existenztechnik zu begreifenden Verschiebung vom Symptom zum „Sinthome“ (siehe Jacques Lacan: Autres Écrits. Paris 2001, S. 565–570) zeigen, daß 1983/84 faktisch eine stärkere Nähe Foucaults zu Lacan entstanden ist. Aber das würde hier zu weit führen.
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indem es die sie verkleidenden Wissenswände infragestellt und durchbricht – aber nicht in einer großen Explosion, wie es der dionysische Furor Batailles wollte, sondern in einer verstreuten Sequenz lokaler Perforierungen, deren Löcher nicht mehr zu schließen sind91. Dementsprechend konnte Foucault gleich zu Beginn seiner Vorlesung von 1978 die Philosophie als „Politik der Wahrheit“ definieren, nicht der Erkenntnis-Wahrheit im Sinn einer ‚Analytik‘ allgemein-notwendiger Kriterien gültigen Wissens, sondern im Sinn der ‚kritischen Tradition‘ einer Ereignis-Wahrheit, die für unverrückbar geltende Gewißheiten aufbricht, in einem „Zerstörungsakt, durch den man – wie in [Genets] Die Wände – selbst stirbt und auf die andere Seite des Todes zu gelangen vermag“92. In diesem Licht tritt aber beim späten Deleuze ein Konzept hervor, das mit Foucaults parrhesiastischem Akt in deutlicher Resonanz steht, das Konzept des „Schöpfungsakts“. Deleuze reproduziert damit keineswegs eine romantische Genieästhetik, sondern begreift diese ‚Schöpfung‘ als Effekt einer asketischen Entsubjektivierung, in der nicht Körper und Bewußtsein, sondern subjektlose Schatten oder Doubles die eigentlichen Akteure werden: „denn ein Schatten kann nicht narzißtisch sein“93. Dieser Schöpfungsakt steht im Zeichen einer „postromantischen Wende“, d.h. er betreibt keine Formung von Materie, sondern läßt kosmische und molekulare Kräfte verschmelzen im Ausgang von einer Fluchtlinie, die jedes menschliche Individuum spaltet und die es objektiv durchquerenden Mannigfaltigkeiten kraft exzentrischer Intensitätszustände ‚aufgehen‘ läßt94. Für Deleuze gibt es somit keinen Schöpfungsakt ohne die Grenzerfahrung einer fast unlebbaren Deformation, welche die in Umlauf befindlichen offiziellen ‚Gewißheiten‘ zerreißt. Wissenschaft, Kunst, Philosophie und auch bestimmte Spielarten von Politik sind gleichermaßen schöpferisch, sofern sie in Fühlungnahme mit einer Grenz- oder Stromlinie geraten, die sie verbindet – oder wie Deleuze 1987 sagte: „Nicht daß Grund bestände, über das Schöpferische zu sprechen – die Schöpfung ist eher etwas sehr Einsames –, doch im Namen meiner Schöpfung kann ich jemandem etwas zu sagen haben. Würde ich all jene Disziplinen, die sich durch ihre schöpferische Tätigkeit auszeichnen, aneinanderreihen, dann würde ich sagen, daß es eine ihnen gemeinsame Grenze gibt.
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Ein Furor, der auch Foucaults Schriften bis 1970 und besonders seine frühen Aufsätze zur Literatur prägte, von dem er sich aber später in erklärter Absage an Bataille gelöst hat: siehe Foucault 1976, S. 179. Komplementär dazu siehe Deleuzes schneidende Bataille-Kritik: Deleuze/Parnet 1977, S. 55. Foucault 1982b, S. 268. Zur Bestimmung genealogischer Forschung – in klarer Abgrenzung zu Ökonomie, Soziologie und Geschichte – als „Philosophie“ im Sinne einer „Politik der Wahrheit“ siehe Foucault 1978, S. 15. Der von Foucault 1982 angesprochene „Zerstörungsakt“ („géste qui detruit“) verweist natürlich auf einen Grundgedanken Nietzsches, die Einheit von Erschaffen und Zerstören; siehe dazu Deleuze 1962, S. 189. Deleuze 1985a, S. 195. Siehe Deleuze/Guattari 1972, S. 29: „Um den Kreis herum, aus dessen Zentrum das Ich desertiert ist, breitet sich das Subjekt aus“. Entsprechend hat Deleuze mit Blick auf das japanische Origami die Falte zum kleinsten Element der Materie erklärt: siehe Deleuze 1988, S. 16. Zur postromantischen Wende siehe Deleuze/Guattari 1980, S. 467–471.
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Und die[se] Grenze […] ist der Zeit-Raum. Wenn alle Disziplinen miteinander kommunizieren, dann auf der Ebene dessen, was sich niemals für sich selbst herausschält, sondern was gleichsam in jeder schöpferischen Disziplin steckt, nämlich die Konstituierung der ZeitRäume“95.
Von daher erscheint ein weiteres deleuzianisches Konzept, das in strenger Symmetrie zu Foucaults Wahrheitspolitik funktioniert, das Konzept der „Kriegsmaschine“. Diese steht bei Deleuze mitnichten für das wilde Außen einer ‚anarchistischen Anthropologie‘96, sondern bezeichnet eine konkrete Verkopplung unter anderen, deren Besonderheit darin liegt, auf ihren eigenen Fluchtlinien konstruiert zu sein97. Dementsprechend zielt eine – künstlerische, wissenschaftliche, politische – Kriegsmaschine durchaus nicht auf Kriegführung (das signalisiert ihre Übernahme durch einen Staatsapparat), sie läßt aber auch nicht WahrheitsEreignisse als Widerstandspunkte in der Sprache zirkulieren, vielmehr arbeitet sie daran, eine „Macht des Falschen“98 freizusetzen, welche in der Schaffung neuer 95
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Deleuze 1989b, S. 300. Lesern, die mit Deleuzes Denken unvertraut sind, wird sich die Frage nach dem Status von „Zeit-Räumen“ stellen. Handelt es sich um historische Intervalle bzw. Zwischenreiche? Oder sind sie als schizoanalytische Antwort auf die Raumzeitkontinua der Physiker zu begreifen? Da ich mich hüten werde, in die Untiefen eines Vergleichs von Deleuzes nietzscheanischer Chaotologie mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie zu geraten, hier eine rein propädeutische Auskunft: „Zeit-Räume“ berühren sich mit beiden genannten Aspekten, entfalten sich aber als virtuell-reale Bewegungsvektoren freier nomadischer Mannigfaltigkeiten in einer dazwischenliegenden Dimension. Entscheidend für das Verständnis dieses bisher kaum untersuchten Konzepts ist Deleuzes spezifischer, seine Sonderstellung im Feld des französischen Differenzdenkens begründender „Naturalismus“, der freilich gar nichts mit szientistischen Reduktionismen zu tun hat, sehr viel dagegen mit dem „Bewegungs-Denken“ – siehe dazu Miklenitsch, 2005 (Fußnote 11), S. 261–265 – speziell von Spinoza und Lukrez. Diese Formel, die der amerikanische Ethnologe und Occupy-Initiator David Graeber in seiner Arbeit aufs Neue lanciert, ist von Pierre Clastres (1934–1977) geprägt worden, der im AntiÖdipus eine Bestätigung seiner eigenen ethnologischen Grundthese (siehe Clastres: Staatsfeinde. Frankfurt 1976) sah, daß nicht der Tausch das soziale Band stifte, sondern daß umgekehrt die wilden Stammesverbände den Krieg als Motor einer jede Staatsbildung verhindernden Form ‚sozialer Synthesis‘ einsetzen würden. Deleuze hat dieser These allerdings widersprochen (siehe Deleuze/Guattari 1980, S. 489–494, 595-596), und man kann wetten, daß er es auch bei Graeber getan hätte. Die Grundthesen, die Graeber mit Blick auf die Finanzkrise von 2008 präsentiert hat (Schulden. Stuttgart 2012), sind übrigens in den zwei Bänden von Kapitalismus und Schizophrenie schon entfaltet: Graebers Geschichte der Schulden ist im Kern also ein (gelungenes) Updating, das auch von Nietzsches Moralgenealogie ausgeht, aber die Bahn vom Äquivalenzprinzip des Rechts zur Gnade des Schuldenerlasses, bei Nietzsche als „Jenseits des Rechts“ (KSA, Bd. 5, S. 309) anvisiert, wie schon Clastres in eine Perspektive rückt, die zu ignorieren versucht, „daß es immer einen ziemlich perfekten und vollständig ausgebildeten Staat gegeben hat“: Deleuze/Guattari: 1980, S. 493. Zur Bestimmung der „Kriegsmaschine“ siehe Deleuze/Parnet 1977, S. 152–155; Deleuze/Guattari 1980, S. 481–585. Deleuzes grundlegendes Konzept der „Macht“ bzw. „Mächte des Falschen“, das er von den Büchern zu Nietzsche und Proust (siehe Deleuze 1962, S. 104–113; 1964/70, S. 70–77) an über Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns bis zu Das Zeit-Bild und Die Falte in immer neuen Variationen entfaltet hat, entwirft ein das halluzinatorische Moment jeder Sin-
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„Zeit-Räume“ zum Tragen kommt. Deren verbindendes Element wiederum ist der „glatte Raum“, der darin „nomadisch“ und nicht „territorialisierend“ wirkt, dass er eine Vervielfachung der Konnexionen zwischen den bestehenden Verkopplungen eines soziopolitischen Feldes ermöglicht99. Ein Schöpfer ist also jemand, der sich in eine abstrakte Linie verwandeln kann, radikal identitäts- und ichlos, aber in einem permanenten Werden inmitten der Dinge100. Alles in allem sind Foucault und Deleuze gleichermaßen einer antiplatonischkritischen Konzeption praktischer Vernunft verpflichtet, sofern beide formal mit Kant von der Position ausgehen, dass wir es sind, die als Befehlende das Gesetz geben101. Aber obwohl Kants Moraltheorie den platonischen Vorrang des Guten vor den Gesetzen umdreht, indem sie das singuläre Gesetz als ein „Faktum der Vernunft“ denkt, das die zwingende Unterworfenheit unter eine allgemeine praktische Gesetzgebung mit der Selbstgesetzgebung des freien Willens konvergieren läßt102, bleibt deren Universalismus für Foucault und Deleuze unzureichend. Denn Kants Bewußtsein der Moralität ersetzt bloß die pastorale Entmündigung durch eine individualisierende Form des Gemeinsinns, die Gewissensinstanz. Kants Konstruktion einer übersinnlichen Natur, der wir als gehorchende Untertanen (Personalität) und gesetzgebende Mandatare (intelligibler Charakter) zugleich angehören, installiert somit, genealogisch betrachtet, nur eine subtilere Maschinerie der Unterwerfung, die im Effekt die Normalisierung fixer Identitäten voranneswahrnehmung betonendes Konzept von Wahrheit im Rahmen eines Perspektivismus, der keine Abspiegelung des Tatsächlichen, wohl aber asymptotische Annäherungen an das Reale erlaubt. 99 Siehe dazu Deleuze 1978a, S.124 f., und 1988a, S. 21 f., sowie generell Deleuze 1981, 1993a und 1993b. 100 Dementsprechend konnte Deleuze die entfesselte Kraft einer Wiederholung, die nur das Ungleiche wiederbringt, in Anlehnung an Leibniz als „Eigenheit der freien Tätigkeit“ bestimmen: Deleuze/Guattari 1980, S. 690. Nicht zufällig trifft Deleuze sich hier mit Marx, der die konkrete Freiheit in angespannten Formen attraktiver Arbeit wie dem Komponieren verwirklicht sah. Siehe Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1974, S. 505, in Kritik an Adam Smiths Bestimmung der „Nichtarbeit als ‚Freiheit‘, und ‚Glück‘“ (ebd.). Zur Freiheit als „entstehender Bewegung“ nach Leibniz/Bergson siehe auch Deleuze 1988, S. 114–125. 101 Siehe Deleuze 1963, S. 42. Freilich beschränkt sich Kants Kopernikanische Wende darauf, uns als „Gesetzgeber der Natur“ (ebd.) zu inthronisieren, ohne uns zu Gesetzgebern der Kultur zu machen; stattdessen stellt Kants Konzeption praktischer Vernunft „unsere Versklavungen und unsere Unterwürfigkeiten wie Überlegenheiten dar“ und reduziert sich letztlich auf eine „aufpolierte … Theologie protestantischen Geschmacks“: Deleuze 1962, S. 102. Demgegenüber lanciert Nietzsche eine „außermoralische“ Kritik der Endlichkeit, deren Leitfrage Foucault parallel zu Deleuze schon früh im Zeichen der Freiheit formuliert hatte: „Ist es nicht möglich, eine Kritik der Endlichkeit zu konzipieren, die befreiend ebenso in Beziehung auf den Menschen wie in Beziehung auf das Unendliche wäre und die zeigte, daß die Endlichkeit nicht Frist ist, sondern diese Kurve und dieser Knoten der Zeit, wo das Ende Anfang ist?“: Foucault 1960, S. 117 (Hervorhebung von mir; W.M.). 102 Zu dem mit der Idee der Freiheit gesetzten Bewußtsein des moralischen Grundgesetzes (Kategorischer Imperativ) als „Faktum der Vernunft“ siehe Kant: Kritik der praktischen Vernunft (A 55–56). Und zum Status des Moralgesetzes als einer unsere „urbildliche“ Natur garantierenden Kausalität aus Freiheit ebd. (A 72–A 77).
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treibt, weil sie auf einem Regelwerk aus Mikromächten aufruht, welche das zwingende Gesetz in die Leben einsenken103 und die ‚Person‘ als neues „Gefängnis des Körpers“104 konstituieren. Im Kontrast dazu weisen Foucaults und Deleuzes vitalistische Praxeologien einen starken Bezug auf Spinoza auf, offensichtlich bei Deleuze, aber verborgener auch bei Foucault105 – nicht zuletzt gilt dies für die Maxime, dass der politische Antrieb eines freiheitlichen Gemeinwesens nicht die Angst vor Strafe oder die Hoffnung auf Belohnung sein könne, sondern allein „die Liebe zur Freiheit“106. Dementsprechend verkörpert sich Freiheit für Foucault und Deleuze nicht in der moralischen ‚Persönlichkeit‘, vielmehr kommt sie im Unwillkürlichen eines vitalen Rhythmus zum Ausdruck: „Was ich an Ihnen gern habe, ist dieser Schritt eines freien Menschen, dieser Schritt, der zur Freiheit der anderen führt“107. Dieser Vitalismus impliziert keineswegs ein Leben im ‚dionysischen‘ Dauerexzeß, sondern die Einübung in Praktiken der Askese, die bereit machen für das Ereignis vitaler Steigerungsbewegungen108. Doch in einer dem Informellen verschriebenen transklassischen art de vivre ist das ‚persönliche Leben‘ nichts Persönliches, es ist eingetaucht in die unpersönliche Macht der Ströme, die uns zugleich überragt und leben läßt, so dass man, um sich im Spannungsgefälle des Eigenen und des Ungeheuren ‚halten‘ zu können, „jenen in höchstem Maße fließenden, vibrierenden Teil erobern“ oder aber dem Bezug darauf öffnen muß, indem man versucht, „die Psychologie zu töten und aus sich heraus wie auch gemeinsam mit anderen Individualitäten, Wesen, Beziehungen, Qualitäten hervor103 Unter genealogischem Aspekt wird die Wahrheit von Kants Imperativ für Foucault und Deleuze von Sade wie von Masoch/Kafka ausgedrückt. Von Sade, weil der zwingende Imperativ der Moral und das Gesetz schrankenlosen Genießens, dem die Libertins ihr Begehren und das aller anderen unterwerfen, sich als zwei Seiten derselben Medaille erweisen. Und von Masoch/Kafka, weil dieses Gesetz ein Phantasma der Selbstermächtigung eines gepeitschten Tiers bleibt, „erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn“ (Kafka). Zur Umpolung des Phantasmas in ein „Lebensprogramm“ bei Masoch siehe dagegen Deleuze 1967, sowie François Zourabichvili: „Kant avec Masoch“. In: Multitudes, 2006/2, S. 87–100. 104 Foucault 1975, S. 42. Natürlich bezieht Foucault sich dabei auf die Gleichsetzung von Körper und Grab in Platons Gorgias (493a) und Phaidros (250c). 105 Nach Auskunft von Daniel Defert lag Spinozas Ethik noch im Juni 1984 auf dem Nachttisch von Foucaults Kranken-/Sterbezimmer in der Salpêtrière; zitiert nach Dosse 2007 (siehe Fußnote 51), S. 381. Zur Gleichursprünglichkeit von Glück und Tugend (virtus) siehe Spinoza: Ethica Ordine Geometrico Demonstrata. Die Ethik mit geometrischer Methode begründet. In: Spinoza: Opera-Werke. Lateinisch und Deutsch. Darmstadt 1989. Bd. II, S. 554/55 (Buch V, 42); zur Nichtexistenz des Gut/Böse-Binarismus für freie Menschen ebd., S. 478/79 (IV, 68). 106 Spinoza: Politischer Traktat. Tractatus politicus. Lateinisch-Deutsch. Hamburg 1994. S. 214/15. 107 Foucault 1963b, S. 48, bzw. Schriften I, S. 317: das dialogische „Ihnen“ in diesem Satz bezieht sich auf den Schriftsteller und Kunstsammler Rolf Italiaander (1913–1991), mit dem Foucault seit seinem Hamburger Jahr (1959–60) befreundet war. Da diese von Foucault auf Deutsch verfaßte Würdigung – Foucault konnte gut Deutsch, auch wenn er es im direkten Gespräch vorzog, auf Französisch zu antworten – in den Schriften bloß als Rückübersetzung aus dem Französischen vorliegt, zitiere ich hier nach dem Erstdruck. 108 Zur vitalen Funktion der Askese siehe Foucault 1981c, S. 202, sowie Deleuze/Parnet 1977, S. 108.
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zubringen, die keinen Namen haben. Wenn man das nicht schafft, lohnt dieses Leben nicht gelebt zu werden.“109 Foucaults und Deleuzes ExperimentalPhilosophien sind parallele Versuche110, den ‚verfemten Teil‘ oder das in allen bisherigen Gesellschaften ‚Unmögliche‘ als praktisch-vitalistische Figur wechselseitiger Freiheit zu realisieren: das Namenlose der ‚absoluten Grenze‘, eingefaltet in aparallele oder anomale Leben, deren Flugbahn den Abwehr-Schirm universellideeller Kohärenz durchstoßen hat. 5. DER BLITZ DER FREIHEIT: VITALE GRENZBEWEGUNGEN Sogar ohne differenzphilosophisches Freeclimbing sind wir jetzt soweit, die Wurzel des Unterschieds zwischen den praktischen Vitalismen bei Foucault und Deleuze präzise bestimmen zu können: alle dargestellten Einzeldivergenzen, so meine These, müssen als Facetten einer je unterschiedlichen, radikal nichtpsychologischen ‚Selbsterfahrung‘ von Freiheit begriffen werden. Dabei verweisen die konträren Positionen Foucaults und Deleuzes letztlich auf einfache Grundperspektiven, man muß nur darauf kommen. Bei Foucault wird die menschliche Existenz als Verhältnis zu sich aufgefaßt, und dieses Selbst, das natürlich keinen Wesenskern, sondern eine ‚autokonstitutive Relation‘ kennzeichnet, bildet den singulären Verdichtungspunkt, an dem das Außen der Kräfteverhältnisse in ein damit koextensives Innen eingestülpt oder umgefaltet wird, das nur in der einen ethisch-erotischen Dimension der Selbstregierung mit der politischen Dynamik verbunden ist. Foucault, der seit den frühen 1950er Jahren zeitlebens ein passionierter Leser Kierkegaards war, denkt nach dessen berühmter Formel das
109 Foucault 1982d, S. 309 (Hervorhebung von mir, W. M.); das vorhergehende Zitat bei Deleuze 1978a, S. 124. Letztlich läßt diese transklassische art de vivre also genau jenen Grundeinsatz konkrete ‚etho-poetische‘ Gestalt gewinnen, der schon Foucaults Geschichte des Wahnsinns (1961) mit Deleuzes (und Guattaris) Anti-Ödipus (1972) verbindet: die Entpathologisierung des Wahnsinns in Tateinheit mit der Entfamilialisierung des Intersubjektiven, beides zugunsten einer Vervielfältigung möglicher sozialer Relationen im kollektiven Feld. Zur Verbindungslinie als solcher siehe Foucault 1964c, S. 540, sowie den Bezug darauf bei Deleuze/Guattari 1972, S. 415. 110 Selbstverständlich sind damit keineswegs alle Aspekte einer antiplatonischen ExperimentalPhilosophie dargestellt. Eine Dimension bleibt hier ganz ausgespart, Foucaults Konzept einer Diagnostik, das er auf den von Paul Veyne notierten schönen Satz brachte, die Geschichte diene „nicht dazu, die Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen, sondern dazu, die Gegenwart zu töten“. Ein Satz, der die genealogische Kritik an Platons ‚Erinnerung‘ zu einer antihermeutischen ‚Kritik der historischen Vernunft‘ ausweitet und auch darin mit Deleuze konvergiert. Denn Deleuze hat in engem Kontakt zum Kino (siehe Deleuze 1983 und 1985) sein neues Bild eines Denkens entfaltet, das im Zeichen einer anderen Zeitbestimmung als Platons ‚Abbild der Ewigkeit‘ zur „Kino-Philosophie“ (Deleuze 1976, S. 61) wird – und das ist jedenfalls etwas völlig anderes als Cineastik, Filmwissenschaft oder selbst ‚philosophische Filmtheorie‘! Aber ein Eingehen auf diese Problematik würde den vorliegenden Rahmen sprengen.
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Selbst als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält111. Aber anders als Kierkegaard hat Foucault diese formale Verhältnisbestimmung nicht auf ein ethisches Leben eingeschränkt, das die Auflösung der durch ihre Wahl bestimmten Person als ein dämonisches Legion-Werden fürchtet und bannt112, vielmehr denkt er die existenzphilosophische Gleichung von Selbst und Freiheit mit Nietzsches Formel „Jeder ist sich selbst der Fernste“ als ein durch den Fluß der Zeit gespaltenes und in eine Mannigfaltigkeit von Larven verstreutes Subjekt: das „Zerspringen des Gesichts des Menschen im Lachen und die Wiederkehr der Masken“113 erzwingen ein Phantom-Subjekt, das hervorgebracht werden muß und das man zum Glück nie erreicht. Nun denkt Deleuze das ‚Selbst‘ ebenfalls als das gespaltene „Cogito für ein aufgelöstes Ich“114, aber vor einem deutlich anderen Hintergrund. Wie aus einem initialen Text von 1946 klar hervorgeht, erfährt Deleuze das Selbst von Anfang an nicht als Selbstverhältnis, sondern erfaßt die denkende Selbstaffizierung als „einfache Lebensbewußtheit“ und bestimmt komplementär dazu die sexuelle Erfahrung als Bewegung eines gleichzeitigen Innerlich- und Äußerlichwerdens, die das Modell für eine „lebendige Kunst der Medizin“ abgibt115. Diese Grundperspektive hat Deleuze dann gegen Freud mit Jung starkgemacht, um die entsprechende Konzeption des Begehrens immer neu zu facettieren, von den vitalen Potentialen der Perversion über die als nicht-psychiatrischer Prozß von
111 Siehe Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. München 2005, S. 31: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält“. Foucaults Kierkegaard-Lektüre hat 1951 begonnen; so Defert: Zeittafel. In: Foucault: Schriften I, S. 21. Zu Foucaults möglicher Rezeption von Kierkegaards „Wiederholung“ siehe Philippe Chevallier: Michel Foucault et le christianisme. Lyon 2011, S. 331 f., 343. Den für Foucault entscheidenden Anteil von Nietzsches nichtchristlicher Wiederholung läßt Chevallier indes unterbelichtet. 112 Siehe Kierkegaard: Entweder-Oder. München 1975, S. 708. 113 Foucault 1966, S. 460 (Übersetzung modifiziert). Die Formel „Jeder ist sich selbst der Fernste“ steht gleich am Beginn von Nietzsches Zur Genealogie der Moral (siehe KSA, Bd. 5, S. 248), in einer Engführung von gelebter Selbstgegenwart und ursprünglicher Verspätung (ebd., S. 247), die später bei Freud, Lacan und Derrida konzeptualisiert werden wird. 114 Deleuze 1968a, S. 86; ebenso Deleuze 1966b, S. 136. 115 Deleuze 1946, S. 146 f.; siehe auch S. 151, 153 und 155. Es ließe sich zeigen, daß dieser Text bis in „Die Immanenz: ein Leben …“ (siehe Deleuze 1995) fortwirkt. Der durch die romantische Naturphilosophie wie durch östliche Strömungen geprägte Venezianer Giovanni Malfatti de Montereggio (1775–1859) hatte sich in Wien als Arzt niedergelassen, so daß sein von Deleuze ein Jahrhundert später 1946 eingeleitetes Buch zuerst auf Deutsch erschien: Studien über Anarchie und Hierarchie des Wissens, mit besonderer Beziehung auf die Medicin, Leipzig 1845. Aber natürlich war Malfatti keineswegs Deleuzes einzige ‚Quelle‘ in Sachen Subjektdenken: was speziell die Philosophen angeht, ist hier neben einem schon 1946 manifesten und auch später nie verschwundenen Interesse an den Denk-/Lebensformen der „indischen Kultur“ (S. 141) vor allem Spinoza zu nennen, der 1946 implizit (S. 143) wie explizit (S. 151 f.) hineinspielt, außerdem mindestens noch Maine de Biran, Bergson, Sartre und Simondon.
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Durchbruch/Zusammenbruch bestimmte Schizophrenie bis hin zu verhalteneren Formen des Anderswerdens im Spätwerk116. Letztlich also bleibt Foucaults praktischer Vitalismus der Selbstregierung und Parrhesia auf die menschliche Existenz bezogen117. Deleuze dagegen hat die Begriffe Dasein und Existenz niemals benutzt und das Selbst schließlich mit Joyce als Squid118 bestimmt. Diese terminologische Differenz bestätigt Foucaults späte Einschätzung, dass es Deleuze stets um das Begehren als Prozeß des Unbewußten gegangen sei, ihm selber dagegen um die Analyse historischer Konstellationen aus Formen des Wahr-Sagens und Reflexivitätsformen119. Dennoch impliziert die ethische Praktik der Freiheit für beide die Schaffung neuer, intensiverer Lebensmöglichkeiten, was selbstverständlich einen bejahenden Bezug zum Tod einschließt, und dementsprechend hat auch Foucault den stoischen Topos vom Freitod als letzter Besiegelung eines freien Lebens zum integralen Bestandteil der ethischen Selbstregierung erhoben120. Umgekehrt impliziert das Zufallende des Todes eine die immanenten Steigerungsmöglichkeiten des Lebens bejahende und in diesem Sinn affirmative Ethik, welche die unkörperliche Insistenz des Ereignisses im Gegensatz zu Heidegger als Einbruch einer Differenz denkt, die das Dasein auch noch aus der ‚Bleibe‘ seiner Offenständigkeit herausreißt121. Zentrifugales
116 Zu diesen Formen, die im Stottern, Verstummen, Verlöschen zum Ausdruck finden, siehe Deleuze 1992, 1993 und 1995; zum schizoiden Prozeß des Durchbruchs siehe neben dem Anti-Ödipus auch Deleuze 1975a, S. 26–29. Zur Perversion siehe Deleuze 1967c; und zur Parteinahme für Jung und gegen Freud siehe schon Deleuze 1961, S. 30, Fn. 16. 117 Sicher ist darin Foucaults Bezug auf Heideggers Freiheitsbegriff wirksam, insbesondere auf „Vom Wesen des Grundes“. Aber Foucault war kein Heideggerianer, und selbst die späte Wechselbestimmung von Freiheit und Ethik (siehe Foucault 1984g, S. 879) ist nicht auf Heidegger reduzierbar – auch deshalb, weil Heideggers Grundsatz „Die Freiheit ist der Grund des Grundes“ (Heidegger: Wegmarken. Frankfurt 1978, S. 171) für Foucault seit 1960 nicht mehr verbindlich war. Hier kommt natürlich das Thema ‚Nietzsche contra Heidegger‘ ins Spiel, das Foucault im letzten Interview vor seinem Tod (siehe Foucault 1984f, S. 868) angesprochen hat. Aber das ist ein Kapitel für sich! 118 Siehe Deleuze 1989a, S. 106, im Anschluß an Joyces „squidself“ in Finnegans Wake, dem Deleuze in den Sixties schon den „Chaosmos“ entnimmt und 1980 in Tausend Plateaus das „Dividuelle“ folgen läßt. Squid steht im Englischen für die Spezies der „Kopffüßler“, also Quallen, Mollusken und andere nautische ‚Grenzflächenwesen‘. 119 Siehe Foucault 1983d, S. 540. 120 Siehe dazu Foucault 1979b und 1982d S. 310. Komplementär dazu hat Deleuze den Freitod als Versuch einer Überkreuzung unvereinbarerer Zeitlichkeiten analysiert, durch die ein Leben sich im Zeichen der ewigen Wiederkunft selbst ein Schicksal gibt: „Darum läßt sich das Schicksal so schwer mit dem Determinismus vereinbaren, so leicht aber mit der Freiheit: Freiheit heißt, die Ebene wählen“ (Deleuze 1968a, S. 115 f.). Zur Freiheit gehört für Foucault und Deleuze wesentlich die Freiheit, sich selbst den Tod zu geben, ein Vorrecht, das die platonische Tradition dem Menschen als Anmaßung gegenüber dem Gesetz verboten hatte, das aber im Gegenzug seit der Stoa eingefordert wurde. Übrigens hat nicht nur Deleuze den Freitod gewählt; einiges spricht dafür, daß auch Foucault, nach einer Andeutung Paul Veynes, „so gestorben ist, wie er sich das immer gewünscht hat“. 121 Zur Ereignisethik der Freiheit im Zeichen des Außen siehe Deleuze 1969, S. 186–192, ebenso Foucault 1971a, S. 273 f.
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Antriebsmoment dafür ist denn auch nicht der „weltgebende Blitz“, der für ein ‚wesentliches Denken‘ das Ereignis der ontologischen Differenz „aufleuchten läßt“122, sondern ein ganz anderer Blitz, der als „dunkler Vorstrom“ dem sichtbaren Strahl vorhergeht, so dass „von einer ständig nomadisierenden, anarchischen Differenz ein Blitzen [fulguration] auf das stets überschüssige und ständig verschobene Zeichen der Wiederkehr übergesprungen ist“123, das als konstitutiv Handelndes agiert: die Geburt der Freiheit nicht im alles überwölbenden Lichtdom des Offenen, sondern im blitzedurchzuckten Orkan-Auge des reinen Außen. Durch das Außen, das als Riß der Zeit den Menschen spaltet und nicht beseitigt werden kann, weil es das Ende des Menschen und zugleich die höchste Macht des Denkens bezeichnet124, wird ein Leben gezwungen, seine geistig-sinnlichen Kapazitäten in eine ‚unwillkürliche‘ Grenzbewegung zu treiben, deren ‚Ursache‘ nicht mehr das auf seine ‚Eigentlichkeit‘ fixierte Selbst ist, sondern ein im Zeichen des Unwillkürlichen agierendes „Subjektil“ (Artaud) oder Ereignis-Subjekt. In dieser Grenzbewegung zündet der andere Blitz, welcher Singularitäten oder energetische Verdichtungspunkte kraft anonymer/anomalen Gesten der Affirmation in Akten des Denkens (Überflug, Trance) wie der Körper (Lachen, Tanz) überspringen läßt. Auf diese Weise tritt ein in sich mannigfaltiges Larven-Subjekt in Erscheinung, das die (sokratische oder augustinische) Innerlichkeit ‚des‘ Subjekts ebenso sprengt wie den ‚eigenen Ort‘ des Daseins, aber zugleich ein dem Außen der Kräfte koextensives Innen ausformt – ein Innen, das indes nicht einfach da ist,
122 Nach der prägnanten Formulierung eines der führenden deutschen Post-Neo-Heideggerianer von heute; Peter Sloterdijk: Nicht gerettet. Frankfurt 2001, S. 151. Dieses Motiv hat eine lange Geschichte, von Heraklits „Das Steuer des Alls aber führt der Blitz“ (Fragment B 64; mit Friedrich Kittler kybernetisch modernisiert: „Das Ganze steuert der Blitz“), bis zu René Char, wobei die entscheidenden modernen ‚Etappen‘ natürlich durch das in Die Ordnung der Dinge (siehe Foucault 1966, S. 402) genannte Dreigestirn Hölderlin, Nietzsche und Heidegger markiert sind. 123 Foucault 1970b, S. 98, bzw. 1970c, S. 122 (Übers. mod.). Die deutsche Übersetzung von „fulguration“ mit „Licht“ in den Schriften macht leider völlig unkenntlich, daß Foucault sich mit diesem Satz in präziser Verdichtung exakt auf das physikalisch grundierte deleuzianische Blitz-Theorem des „dunklen Vorboten/Vorstroms“, der die Differenzen allein über die Differenz differenziert (siehe Deleuze 1968a, S. 157–159), bezogen hat – und zwar in einer für jeden Leser von Differenz und Wiederholung, dessen Rezension Foucaults Essay schließlich ist, erkennbaren Weise. Indem Foucault seinen Satz mit den Worten fortsetzt: „ein Blitzen … übergesprungen ist, das den Namen Deleuze tragen wird“, würdigt er also Deleuzes Philosophie als essentielles Freiheitsdenken – in Übereinstimmung mit Deleuze, der im Rückblick auf seine frühe Sartre-Lektüre geschrieben hatte: dabei „erfuhr man in langen Nächten die Identität von Denken und Freiheit“: Deleuze 1964a, S. 116. Umgekehrt hat Didier Eribon zu Recht den René Char-Satz „L’Éclair me dure“ als Freiheits-Motto seiner Foucault-Biographie gewählt, einen Satz, der ebensowenig das Licht evoziert, sondern besagt: „Der Blitz dauert für mich“. 124 So Deleuze in seiner Rezension von Foucaults Die Ordnung der Dinge, siehe Deleuze 1966b, S. 136.
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sondern für Foucault wie für Deleuze konsolidiert, in Konsistenz gebracht und ‚bewohnbar‘ gemacht werden muß125. Dementsprechend sind die Akte des Wahrsprechens wie die Schöpfungsakte der Freiheit durchaus in einer allgemeinen Ökonomie der Seins-Exzesse situiert, doch erfolgreich vollzogen werden können sie nur in der Form einer Pragmatik des beherrschten Exzesses (Foucault) oder des kontrollierten Delirierens (Deleuze). Gerade der parrhesiastische Mut der Wahrheit ist zwar essentiell vitale Gewalt, aber transformiert126 zu einem Vermögen, das die Perspektiven und Spielräume vervielfältigt, indem es als Motor einer experimentalphilosophischen Seismographie der Affekte und Kräfte fungiert, die der denkend-passionellen Bewegung der Freiheit Raum gibt. Foucaults Selbstverhältnis wie Deleuzes Lebensbewußtheit sind dementsprechend an eine radikale Depersonalisierung gebunden, die untrennbar ist von einer extrem singularisierenden „Individuation im Akt“127. Beide Bewegungen zusammen ergeben den Wirbel einer anonymen Grenz- oder anomalen Randbewegung, in dem der Vitalismus von Foucault und Deleuze exzelliert. Insofern sondiert die Flugbahn reiner Singularitäten, deren „blitzartige Existenzen“ Foucault 1977 als ebensoviele „Lebensgedichte“128 cha-
125 Daß die Ethik wesentlich ein Denken des Ethos als Ort/Bleibe und Haltung impliziert, ist beim späten Foucault offensichtlich. Aber auch Deleuzes „Nomadologie“ impliziert keineswegs eine schrankenlose ‚Entgrenzung‘, sondern behält die Frage der Wohnstatt eines sich schützenden Lebens im Auge: „Wir wollen doch nichts anderes als ein wenig Ordnung, um uns vor dem Chaos zu schützen“; Deleuze/Guattari 1991, S. 238. Dieser erste Satz des Kapitels „Vom Chaos zum Gehirn“ ist keinesfalls ironisch oder gar zynisch zu nehmen, sondern bildet die ‚Zweitversion‘ eines Satzes in den Tausend Plateaus: „Wie wichtig ist es doch, wenn das Chaos droht, ein transportables und pneumatisches Territorium zu umreißen“; Deleuze/Guattari 1980, S. 436. Zu den in unterschiedlichen (kollektiven, affektiven, zerebralen) ‚Bewohnbarmachungen‘ ausgedrückten vitalen „Logiken“ und deren politischen Einsätzen siehe jetzt David Lapoujade: Deleuze. Les mouvements aberrants. Paris 2014. 126 Siehe Deleuze 1990a, S. 148: „[Foucault] hatte eine extreme Gewalt, die gemeistert, beherrscht und zu Mut geworden war. Er bebte vor Gewalt bei manchen Demonstrationen. Er nahm das Unerträgliche wahr. Vielleicht war das etwas, das er mit Genet gemeinsam hatte“. Wie präzise diese Einschätzung ist, beweist ein 1972 geführtes Gespräch worin Foucault, der damals in engem Austausch mit Jean Genet stand, das „tiefe politische Gespür“ dieses Mannes betonte, das selbst den geringsten seiner Alltagsgesten „eine tiefe Gerechtigkeit“ verleihen würde: so Foucault 1973a, S. 515. Vermutlich auch ein Grund, weshalb Foucault, der älter geworden seine ‚Abkunft‘ aus der Phänomenologie anerkannte, in den Sixties einen regelrechten Krieg gegen diese Bewegung geführt hat. Denn Phänomenologen sind, von raren Ausnahmen (z.B. Michel Henry) abgesehen, strukturell ‚wertkonservative‘ moderne NeoPlatoniker, die eine „revolutionäre und absolut beständige Entscheidung“, wie Foucault sie an Genet beeindruckt hat, fürchten und hassen. Was nichts daran ändert, daß ein KriegerPhilosoph zwar Zorn (der thymos der Griechen) empfinden kann, aber nicht Haß: „Wer Haß fühlt, kann nicht wirklich frei sein“ – der Satz eines Wahrheitspolitikers und Spinozaners. Er könnte von Foucault oder Deleuze sein. Gesagt hat ihn Nelson Mandela. 127 Deleuze 1996, S. 185, im letzten Satz seines letzten, Fragment gebliebenen Textes überhaupt. 128 Foucault 1977b, S. 313. Nicht zufällig steht „Das Leben der infamen Menschen“, Foucaults machtvollster und freiheitsemphatischster Text überhaupt, ganz im Zeichen des Blitzes: vom kurzen „Aufblitzen“ (ebd., S. 316) dieser Leben in einem Dunkel, aus dessen Unauffälligkeit
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rakterisiert hatte, einen Distanzraum der Freiheit, der ein gewisses Maß an Fremdheit (‚Außenaspekt‘) und Einsamkeit (‚Innenaspekt‘) einschließt, aber zugleich auch jene elementare Solidarität freier Akteure eröffnet, die schon Spinoza auf die Formel gebracht hatte: „Nur freie Menschen sind einander sehr dankbar“129. Die Vorsilbe An-, die die Anonymität des Unbenennbaren mit der Anomalität des Unlebbaren zusammenschließt, bekräftigt somit die zwar auch schon von Blanchot (und Levinas) gesehene, aber erst durch Foucault und Deleuze auf ein ‚starkes Denken‘ gebrachte Flugbahn, die jeder radikalen Form vitaler Freiheit ihr grundlos-abgründiges und in diesem Sinn anarchisches Moment verleiht. 6. DIE NICHTNOTWENDIGKEIT DER MACHT: EINE POLITIK UNSERER SELBST Es ist noch nicht bemerkt worden, dass unter dem Aspekt eines singulären Lebens als radikaler Freiheit in der Welt eine gerade Linie existiert, die von Foucaults frühem Binswanger-Essay direkt zum letzten (nicht mehr gesprochenen, aber schriftlich erhaltenen) Abschnitt der letzten Collège de France-Vorlesung dreißig Jahre später führt. Im Essay von 1954 unterscheidet Foucault zwischen dem Tod als geträumter Existenzerfüllung und – gegen Freuds Jenseits des Lustprinzips – dem Tod als Element einer durch „Widerspruch und Kampf“ geprägten antagonistischen Dynamik, in welcher „sich in der Welt und gegen die Welt die Freiheit als Schicksal zugleich vollendet und verneint“130. In seiner Vorlesung vom 28. März 1984 erläutert Foucault aufs Neue die Spezifität dieser Dynamik, indem er im Kontrast zu Sokrates/Platon den antiken Kynismus resümiert, der das eigene Leben (bios) als Kraftprobe begriff und als vitalen Ausdruck einer gelebten philososie nur der vernichtende „Blitzstrahl der Macht“ (S. 318) hervorgeholt hat, bis zu den „blitzartige(n) Erkenntnisse(n)“ (S. 329), die sie uns im Heute verschaffen, einem Wahrheitsmodus folgend, den Foucault schon früher als Ereignistypus der „blitzartigen Wahrheit“ oder „BlitzWahrheit“ (vérité-foudre) bestimmt hatte: siehe Foucault 1974, S. 342. Es wäre lohnend, Foucaults Überlegungen auf den neuesten Stand zu bringen, gestützt auf den neben Thomas Pynchon größten Schriftsteller-Diagnostiker der neuesten Entwicklungen westlicher Gesellschaften, der in einer zehn Wochen vor 9/11 im New Yorker World Trade Center spielenden genialen Story die finanzkapitalistische „Bewirtschaftung der Bedeutungslosigkeit“ via Reality-TV mit einem exakt phantasierten medientechnischen Machtdispositiv der Versprachlichung/Verbildlichung intensivster Momente menschlichen Leidens verbunden hat; siehe David Foster Wallace: „TV der Leiden – The Suffering-Channel“. In: Ders.: Vergessenheit. Storys. Köln 2008, S. 157, 166–169. 129 Spinoza: Ethica (Fußnote 103), S. 482/83 (Buch IV, Lehrsatz 71; Übers. mod.). Was die entsprechende Immanenzeben des Außen für die Selbsterfahrung impliziert, hat Deleuze auf die Formel gebracht: „die Fremdheit als Bestimmung des Umherirrens anstelle der Entfremdung“ (Deleuze 1970a, S. 229. Übers. mod.). Was eine Chance ist: siehe Foucault 1963b, S. 49: „Schließlich können sich nur einsame Menschen eines Tages treffen“ (Schriften I, S. 319). 130 Foucault 1954, S. 72: „la mort […] est cette contradiction où la liberté, dans le monde, et contre le monde, s’accomplit et se nie en même temps comme destin“. Auch Foucault 1954a, S. 143 (Hervorhebung von mir, W.M.).
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phischen Gegenkultur zum Einsatz brachte, d.h als „Kampf in dieser Welt gegen die Welt“131. Die Verbindung zwischen beiden Formulierungen läßt deutlich werden, dass Foucault die (seine) Freiheit nie anders denn als aktive ethischpolitische Andersheit begriffen und praktiziert hat. Allein diese Andersheit darf nicht als in sich ruhendes Sein einer Ich- oder Gegen-Identität mißverstanden werden, sie muß prozessual ‚realisiert‘ werden, als Werden oder Verwandlung, worin es nicht um ein Aufbrechen oder Ankommen geht, sondern im Gegenteil um ein nur dem Anschein nach paradoxes ‚dauerhaftes Unterwegssein‘ im Zeichen der Frage: Was passiert dazwischen? Wie es Deleuze ausdrückt: Es geht um eine „komplexe Einheit: ein Schritt für das Leben und ein Schritt für das Denken“132. Von da aus kann man direkt zu den Schlußzeilen der letzten Vorlesung am Collège de France übergehen, welche die antike Verbindung aus Sorge um sich und Mut der Wahrheit, die dann im Heil der Seele auf dem Weg in eine andere Welt (Platonismus) und im Modell des eigenen Lebens als innerweltlicher Kraftprobe (Kynismus) auseinandertrat, so resümieren: „Aber was ich zum Abschluß hervorheben möchte, ist folgendes: Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Position [position] der Andersheit; die Wahrheit ist nie das Selbe [le même]; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt und des anderen Lebens geben.“133
Dieses gleichsam testamentarische Statement nimmt die Bestimmung der Archäologie als einer im Zeichen nicht der Identität, sondern der Differenz operierenden Diagnostik134 auf, stellt sie aber jetzt in das neu sondierte Feld der als Mannigfaltigkeit von Formen der Parrhesia begriffenen abendländischen Philosophie. Dementsprechend bestimmt Foucault in Le courage de la vérité den Kynismus als Eklektizismus, der die Grundmotive der sokratisch-platonischen und stoischen Philosophie über das wahre, rechte, naturgemäße und wahrsprechende Leben aufnimmt, aber um daraus ebensoviele Hebel einer radikalen theoriepraktischen Umkehrung der etablierten Muster zu machen, zugespitzt in der „Grenzhaltung“ eines philosophe en guerre und dem dazugehörigen Ideal eines die anderen Men-
131 Foucault 1984, S. 310: „le combat dans ce monde contre le monde“. (Hervorhebung v. mir, W. M.) Auch in Foucault 1984a, S. 438 (Übers. mod.) Die winzige Verschiebung von le (1954) zu ce (1984) erklärt sich daraus, daß letzteres in Abgrenzung zur übersinnlichen „anderen Welt“ (topos hyperouranios) Platons (siehe Phaidros, 247b–c) formuliert ist. 132 Deleuze 1965, S. 20. Dieser Grundzug einer identitätslosen Subjektivierung wird von der neubürgerlichen (neokonformistischen?) Polemik gegen die „Konformisten des Andersseins“ (Norbert Bolz) im Ansatz verfehlt. 133 Foucault 1984, S. 311, bzw. 1984a, S. 438 (Übers. mod.). Foucault denkt zwar die Einsetzung der Wahrheit in Verbindung mit einem Selbstverhältnis, aber sicher nicht als ‚Setzung‘ kraft einer ‚Tathandlung‘ im Sinne Fichtes. 134 Siehe Foucault 1969, S. 189: „Die so verstandene Diagnose erreicht nicht die Feststellung unserer Identität durch das Spiel der Differenzierungen. Sie stellt fest, das wir Differenzen sind, daß unsere Vernuft die Differenz der Diskurse, unsere Geschichte die Differenz der Zeiten, unser Ich die Differenz der Masken ist“ (Übers. mod.)
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schen aufrüttelnden philosophischen Aktivismus: „Man exponiert sein Leben nicht durch seine Reden, sondern durch dieses Leben selbst“. 135 Wesentlich zum Verständnis dieser Umkehrung ist die Formel des Diogenes „Präge den Wert der Münze um“, denn in Foucaults Lesart stellt sie die entscheidende Verbindung zwischen Geld (nomisma) und Gesetz (nomos) her, bestimmt also das exponierte Leben als den Skandal einer ethisch bestimmten Lebensweise, die geltende Regeln, Konventionen und Gesetze bricht. 136 Für Foucault ist der Kynismus eine denkend-vitale Bewegung, die der sokratisch-platonischen Konzeption von ‚Philosophie als sinnerfüllter Lebensform‘ in Übereinstimmung mit dem Gesetz eine Fratze schneidet und zur Kenntlichkeit entstellt, so dass diese vitale Infragestellung den Widerhall und zugleich die Grenzüberschreitung der idealistischen, d.h. platonisch-christlichen Version des wahren Lebens bildet. 137
135 Foucault 1984a, S. 305. Zum Kynismus ebd., Vorlesungen vom 29.2., 7., 14., 21. und 28.3. 1984. Und zum Konzept der „Grenzhaltung“ siehe Foucault 1984d, S. 702. Foucaults Parallelisierung der antiken Kyniker mit den politischen Aktivisten des 19. und 20. Jahrhunderts war keine späte Volte. Schon seine erste ausschließlich der Antike gewidmete Vorlesung von 1981 kommt im Rahmen der Frage nach dem Verständnis der Wendung to kunizein (kynisch leben) bei den Kynikern und auch bei Epikur zu der Gleichsetzung: „derjenige, der kynisch lebt, das heißt der aktivistische Philosoph (le militant philosophe)“; Foucault 1981e, S. 117 (Vorlesung vom 4. Februar 1981). 136 Siehe Foucault 1984a, S. 316. Zum Motiv „Ändere den Wert der Münze!“ ebd., S. 297 f., 312–319. Aber schon Klossowski hatte die Maxime formuliert: „Mit der klassischen Moralregel brechen, die den Menschen von Gewohnheiten abhängig macht, welche er ein für allemal in Hinblick auf die Realisierung eines menschlichen Niveaus angenommen hat“; Pierre Klossowski: Nietzsche und der Circulus vitiosus Deus. München 1986, S. 22. 137 Siehe Foucault 1984a, S. 298, 317, 369. Im Horizont der kynischen „Gegenverhalten“ muß auch die Faszination für Sado-Maso-Praktiken situiert werden, die der späte Foucault in den schwulen Subkulturen von New York und San Francisco ausgelebt hat. Denn für Foucault erschöpft der SM sich nicht darin, „die Benutzung eines strategischen Verhältnisses als Quelle von … physischer Lust“ zu sein (Foucault 1984i, S. 919), sondern ist neuartig darin, daß er strategische Beziehungen lanciert, die nicht ein gesellschaftliches Verhältnis vor dem Sex betreffen, sondern in einem sexuellen Kontext die „Körper implizieren“ (ebd., S. 920): postsexuelle Agonalität als Lustquelle und zugleich als Expression und Vorformung des ‚Stoffs‘ (causa materialis) der ethischen Praktik der Freiheit. Foucaults SM-Praktik ist darum neuerdings zu Recht auch philosophisch thematisiert worden – von Agamben im Abschlußband Der Gebrauch der Körper seiner Homo sacer-Reihe: siehe Giorgio Agamben: L’uso dei corpi. Vicenza 2014, S. 133–148 („Intermezzo I“); auch S. 56-64 („L’uso e la cura“). Kurz gesagt lautet Agambens Einschätzung, daß Foucault als Philosoph nie wirklich aus Schloß Silling, dem hermetischen Schauplatz von Sades Die 120 Tage von Sodom, herausgefunden habe, bis zuletzt blind für ein aller Strategie und Agonalität vorausliegendes Moment des „Unregierbaren“ („Ingovernabile“; ebd., S. 148) in jeder beliebigen menschlichen Singularität. Womit zumindest bewiesen ist, daß der Spinozaner und Levinas-Schüler Agamben Deleuzes Immanenzethik ‚eines Lebens‘, die „statt die Seele zu retten, sie lehren [will] ihr Leben zu leben“ (Deleuze/Parnet 1977, S. 69), näher steht als Foucaults Wahrheitsethik. Indes spricht einiges dafür, daß Foucaults von Agamben nur flüchtig (2014, S. 141 f.) gestreifte Analyse des Kynismus von 1984 selber ein Moment des ‚Unregierbaren‘ einführt, weshalb anfechtbar bleibt, daß Foucault an der ethischen Grundaufgabe gescheitert sei, die Agamben (ebd., S. 7, 123, 129) mit Hölderlins bekanntem Satz im Brief an Böhlendorff vom 4.12.1801 illustriert,
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Wie tief die ‚geheime Komplizenschaft‘ zwischen Foucault und Deleuze gerade in dieser entscheidenden Frage geht, beweist Foucaults Vorlesung von 1980 Du gouvernement des vivants (Von der Regierung der Lebenden), in der die traditionelle, platonisch codierte Konzeption von Philosophie als einer ‚Archeologie‘, welche den Logos als ‚machthabenden Ursprung‘ einer in sich legitimen politischen Ordnungsmacht denkt, in einer Passage zurückgewiesen wird, die mit programmatischen Sätzen Deleuzes kommuniziert, welche dieser ebenfalls 1980 der traditionellen wie der modernen Verklammerung von Idealismus und politischer Philosophie gewidmet hat: „Es gibt keine intrinsische Legitimität der Macht. Und von dieser Position ausgehend besteht das Vorgehen darin, sich zu fragen, was sich in dem Moment vom Subjekt und den Erkenntnisbeziehungen ablöst, in dem keine Macht von Rechts wegen oder aus Notwendigkeit begründet ist, da ja keine Macht sich jemals auf etwas anderes als die Kontingenz und Zerbrechlichkeit einer Geschichte stützt (se repose), so daß der Gesellschaftsvertrag ein Täuschungsmanöver (un bluff) und die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts (société civile) ein Kindermärchen ist, und es keinerlei unmittelbar einsichtiges universelles Recht gibt, das jederzeit und überall als Stütze gleich welcher Macht dienen könnte. […] Es handelt sich um eine theoretisch-praktische Haltung, welche die Nichtnotwendigkeit jeglicher Macht betrifft, und um diese theoretisch-praktische Position über die Nichtnotwendigkeit der Macht als Intelligibilitätsprinzip des Wissens selbst trennscharf zu machen […], werde ich sagen, daß ich Ihnen etwas vorschlage, daß am ehesten eine Art Anarchäologie (anarchéologie) sein würde.“138 „Der Staat verleiht dem Denken eine Form von Interiorität, und das Denken verleiht dieser Interiorität eine Form von Universalität. […] In der sogenannten modernen Philosophie und im sogenannten modernen oder rationalen Staat dreht sich alles um den Gesetzgeber und den Staatsbürger. Der Staat muß den Unterschied zwischen Gesetzgeber und Untertan unter formalen Bedingungen realisieren, die es dem Denken seinerseits ermöglichen, ihre Identität zu denken. […] Seit die Philosophie sich die Rolle der Grundlegung zugewiesen hat, hat sie die etablierten Mächte gesegnet und ihre Lehre von den Vermögen in die Organe der Staatsmacht kopiert. Der Gemeinsinn, die Einheit aller Vermögen als Zentrum des Cogito, ist der Konsens des verabsolutierten Staates. […] In gewisser Weise könnte man sagen, daß all dies keine Bedeutung hat, und daß das Denken immer nur eine lachhafte Bedeutung gehabt hat. Aber es verlangt nur eins: daß man es nicht ernst nimmt, denn dann kann es umso leichter für uns denken […] Je weniger die Menschen das Denken ernst nehmen, desto mehr denken sie in Übereinstimmung mit dem, was der Staat will“.139
Vor diesem Hintergrund läßt sich auch Nähe und Distanz von Deleuzes und Foucaults Engagement im G.I.P. besser begreifen. Denn obwohl weit entfernt von
wonach „der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist“. Aber da Agambens FoucaultKritik sich innerhalb des kühnen Programms einer „Archäologie der Ontologie“ (ebd., Teil II) von Platon bis Heidegger und selbst Foucault inklusive entfaltet, müßten hier im Gegenzug Agambens Anverwandlungen Foucaults und Deleuzes in Homo sacer I–IV.2 untersucht und zudem die Formationsphasen des Denkens von Foucault (1945/46–1969) und Agamben (1964-1990) miteinander verglichen werden. Für eine Fußnote eine etwas unhandliche Aufgabe. 138 Foucault 1980, S. 76 f. (eigene Übersetzung). 139 Deleuze/Guattari 1980, S. 516–518.
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allem ‚Anarchismus‘140 allein durch eine genuine Liebe zur Freiheit bewegt, die ausdrücklich weder am platonischen Ideal der Gerechtigkeit noch am christlichen Gebot der Nächstenliebe orientiert war141, herrschen hier deutlich unterschiedliche Perspektiven. Deleuzes Kriegsmaschine zielt auf die Schaffung neuer anderer Lebensmöglichkeiten, weshalb er rückschauend Foucaults Gefängnis-Initiative und die Malerei Bacons praktisch mit denselben Worten beschreiben konnte, als Versuche einer Befreiung des ins Gefängnis gesperrten Lebens der Ströme142. Foucault dagegen hat diesem Engagement von Anfang an einen anderer Richtungssinn gegeben: „Glauben Sie, man könnte Philosophie und deren Moralkodex in derselben Weise unterrichten, wenn das Strafsystem zusammenbräche?“143. Für
140 Der Vorwurf des ‚Anarchismus‘ gegenüber Foucault und Deleuze ist bloß zum Lachen, und Foucault hat auch darüber gelacht – in seinem einzigen, auf Englisch geführten direkten Gespräch mit Habermas, das im Beisein Paul Veynes und Daniel Deferts am 7. März 1983 in einem Pariser Restaurant stattfand. Wie Veyne berichtet, war Foucault bei diesem Gespräch durch die bloße Präsenz seines berühmten deutschen Kollegen genervt, hielt sich aber eisern unter Kontrolle, bevor er den auf Nietzsche-Kritik eingestellten Redefluß des Deutschen plötzlich doch unterbrach, indem er ihm mit seinem legendären Haifischgrinsen direkt ins Gesicht sagte: „Das liegt ja vielleicht daran, daß ich ein Anarchist bin?!“; zitiert bei Didier Eribon: Michel Foucault et ses contemporains. Paris 1994, S. 292. Und wie Deleuze, der Foucault besser gekannt hat als Habermas, einmal bemerkte: „selbst Foucaults Lachen war eine Aussage“: Deleuze 1990, S. 140. Die in Deutschland selbstverständlich bis heute nicht durchgedrungen ist. 141 Das platonische Modell der Gerechtigkeit hat Foucault im Gespräch mit Noam Chomsky (November 1971) unter ausdrücklicher Berufung auf Spinozas Konzeption der Macht (Potentia) abgelehnt; siehe Foucault 1974a, S. 625. Zur Differenz zwischen Macht als Vermögen (potentia) und Macht als Herrschaft (potestas) siehe Deleuze 1968b, S. 75–86. 142 Siehe Deleuze 1986, S. 129 und Deleuze 1981a, S. 32. Aus Deleuzes Sicht wäre der G.I.P. eine die Klischees zerstörende Politik-Ästhetik gewesen, die auf der Leinwand des sozialen Feldes eine „frenetische Variationslinie“ (Deleuze/Guattari 1980, S. 691) zur Entfesselung neuer Sicht- und Sagbarkeiten gezogen hätte. Aus Foucaults Sicht dagegen war der G.I.P. eindeutig als Politik-Alethurgik angelegt. So berichtet Foucault 1979 von einer Episode, die sich zwei Jahre zuvor bei Unruhen und Revolten der Insassen mehrerer französischer Gefängnisse ereignet habe: „In zweien dieser Gefängnisse lasen Gefangene mein Buch [Überwachen und Strafen]. Sie riefen einander den Text von einer Zelle zur anderen zu. Ich weiß, es ist anmaßend, aber das ist ein Beweis für Wahrheit – für eine greifbare politische Wahrheit“: Foucault 1979d, S. 1005. Das bleibt auch dann gültig, wenn man weiß, daß sich alles in allem kaum etwas geändert hat, so daß ein französischer Häftling die aktuelle Situation im Sommer 2013 mit den Worten resümieren konnte: das Gefängnis ist ein Staat im Staate, wo die Gewalt regiert und wo durch das Zusammensperren von Schwerverbrechern mit Bagatelltätern aus letzteren erst professionelle Kriminelle ‚gemacht‘ werden. 143 Foucault 1971e, S. 283. Mit Sicherheit ist auch Foucaults Anfang der 1970er Jahre wirksame Option für den Maoismus unter diesem Aspekt einer nicht mehr am humanistischen Subjekt orientierten Neuorganisation der Wissens- und Handlungssysteme zu sehen, das beweisen seine entsprechenden Bemerkungen in einem vom niederländischen Fernsehen im Frühjahr 1971 gedrehten und Jahrzehnte lang verschollenen 16-minütigen Filmporträt Foucaults, das seit 2014 unter dem Titel „The Lost Interview“ auf YouTube zu sehen ist. Später hat Foucault die chinesische Kulturrevolution indes als desaströse Ausweitung des Lagersystems in den gesamten Gesellschaftskörper hinein analysiert (siehe Foucault 1976c, S. 96). Dennoch un-
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Foucault war der G.I.P also ein Aufstand unterworfener Wissensarten, der eine Streuung von Individuationen im Zeichen einer Wahrheitsethik der freien Existenz nach sich ziehen würde144. Aber trotz dieser Divergenz sind Foucault und Deleuze zwei grundlegende Prämissen gemeinsam. Erstens gibt es für beide keine Machtorganisation, die ein für allemal als universelle, in sich legitime und problemlos akzeptierbare Ordnungsmacht schlechthin abgesegnet werden könnte, vielmehr bildet jedes strategische Feld oder jede nomadische Konsistenzebene einen offenen Spielraum anderer möglicher Kräfteverhältnisse. Und zweitens ist es unmöglich, gleich welche Lebensform als universelle, in sich natürliche und unhintergehbare Norm des Menschseins schlechthin zu bestimmen: in den Fugen und Rissen der fixierten Normierungen und Normalisierungen gibt es immer unausgeschöpfte und unauslotbare Zwischenräume, die eine Kraft zur Erfindung anderer neuartiger Lebensnormen anreizen werden145. Diese nicht-humanistische Perspektive impliziert ganz sicher nicht die Abschaffung jeglicher Sanktionen auch bei Kapitalverbrechen (Mord, Vergewaltigung usw.) oder gar den Verzicht auf Rechtsformen und intersubjektiv verbindliche Regelungen schlechthin146. Sie stellt allerdings das „Problem der Regulationen“147 anders, indem sie es nicht durch Moralgesetz und Gut/Böse autoritär-
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terscheidet ihn vom ‚Antitotalitarismus‘ der sogenannten Nouveaux Philosophes, die ja durchwegs ins fernsehjournalistische Fach abgewanderte Foucault-Schüler waren, daß Foucault nie versucht hat, aus der konstituierenden Funktion der Lager im ‚realen Sozialismus‘ eine liberalhumanistische Intellektuellenreligion für den Mediengebrauch zu destillieren. Zur stoischen Konstitution seiner selbst als „ethisches Wahrheitssubjekt“ siehe Foucault 1982, S. 560. Genau das ist der Grundgedanke der apokalyptisch klingenden Formel vom „Tod des Menschen“ beim Foucault der Sixties. Zur Klarstellung des Gedankens siehe Foucault 1980b, S. 93 f. Darum ist ‚Kraft‘ für Foucault und Deleuze mitnichten ein bloß ästhetischer Begriff (so Christoph Menke: Kraft. Frankfurt 2008), sondern essentiell der nicht-anthropologische Grundbegriff eines praktischen Vitalismus: das gilt für „die Kraft zu fliehen“, die Foucault an der Malerei und Fotografie preist (siehe Foucault 1973b und 1982c), ebenso wie für die „positive Kraft des Vergessens“, die Deleuze gegen den freudodomarxistischen Kult des Gedächtnisses als Gegenkraft stark gemacht hat, die „unempfänglich“ bleibt für den Einwand der vorauseilenden Resignation eines ‚realistischen Menschenbilds‘: „Das hat es immer gegeben, also wird es das immer geben“: Deleuze 1973a, S. 401-403. Was durchaus nicht ‚Todesverdrängung‘ impliziert, wie dies ‚philosophisch’ getarnte Endlichkeitstheologen heute glauben (machen) möchten, sondern eine ‚asketisch‘ gesteigerte Vitalität, die den Tod wie Bacon als Kraft sichtbar macht, aber um ihn „vom Standpunkt des Lebens aus“ zu beurteilen, „statt umgekehrt, wie wir es gerne hätten“: Deleuze 1981a, S. 42. Siehe dazu Foucault 1982e, S. 385, wo er zwischen „sexueller Wahlfreiheit“ und der „Freiheit des sexuellen Akts“, die keinesfalls – als Beispiel nennt er ausdrücklich „die Vergewaltigung“ – unbegrenzt sein sollte, klar unterscheidet, um mit der Maxime zu schließen: „Ich glaube nicht, daß wir eine Art absolute Freiheit, vollkommene Handlungsfreiheit im sexuellen Bereich zu unserem Ziel machen sollten.“ Georges Canguilhem: Écrits sur la médecine. Paris 2002, Kap. IV. Das Recht bei Foucault (um von Deleuze hier ganz zu schweigen) ist ein Kapitel für sich. Jedenfalls war sich Foucault darüber klar, mit all seinen Forschungen immer wieder die Rechtsproblematik zu „kreuzen“;siehe dazu Foucault 1981a, S. 246.
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priesterlich überhöht, was immer noch auf die ‚bevölkerungspädagogische‘ Produktion von ‚berechenbarem‘ Wohlverhalten als erster Bürgerpflicht hinausläuft, vielmehr situiert sie dieses Problem neu. Anders als ein verbreitetes Gerücht wissen will, ist ‚die Macht‘ für Foucault oder Deleuze dabei nicht das „radikal Böse“ Kants (das war vielmehr die Position des protestantischen Moralisten Sartre), stattdessen hat Foucault bis zuletzt immer wieder klargestellt, dass Machtverhältnisse funktionale Verhältnisse oder „strategische Spiele“ bilden, die in jeder denkbaren Gesellschaft wirksam sind und die, statt einfach nur ein Zwangssystem zur Unterdrückung der Freiheit zu sein, im Guten wie im Schlechten deren aktive Problematisierung betreiben148. Während in vormodernen Gesellschaften alle Machtspiele durchgeregelt und damit gelaufen sind, ist es das Kennzeichen moderner Gesellschaften, eine große Streuung offener Machtspiele zuzulassen, mit der entsprechenden Spirale von Anziehung und Abstoßung, Freiheitsstreben und Freiheitseindämmung: „Je freier die Menschen in ihren Beziehungen zueinander sind, desto größer ist ihr Verlangen (envie), das Verhalten des jeweils anderen zu bestimmen. Je offener das Spiel ist, desto verlockender und faszinierender ist es“149. Es handelt sich um eine Offenheit, die unterhalb der (notwendigen) Rechtsinstitutionen und (hilfreichen) Responsivitätsgeflechte durch anonyme bzw. anomale Ausgriffe ins Außen von Kräften entsteht, welche in kollektive Subjektivierungsweisen oder Werdensprozesse umgefaltet werden, so dass im sozialen Feld ein ‚Noch mehr‘ an Freiheit oder ein „Recht auf Begehren“ zum Ereignis werden kann150. Die „Gesetze der Nachahmung“ (Tarde), kraft derer ein Minimum an demokratischen Verhaltensweisen eingeübt wird, sind zwar unverächtlich, aber nur notwendige und nicht hinreichende Bedingungen einer radikal offenen Gesellschaft –: hier müssen im Zeichen des Anti-Juridismus die „Gesetze der Gastfreundschaft“ (Klossowski) hinzukommen, die nicht von Subjekten, sondern nur 148 Siehe Foucault 1982e, S. 391: „Die wichtige Frage ist meines Erachtens nicht, ob eine von Beschränkungen freie Kultur möglich oder gar wünschenswert ist, sondern, ob das System von Zwängen, innerhalb dessen eine Gesellschaft funktioniert, den Individuen die Freiheit läßt, dieses System umzugestalten. Es wird immer Zwänge geben, die für bestimmte Mitglieder der Gesellschaft unerträglich sind. Der Nekrophile findet es unerträglich, daß ihm der Zugang zu den Gräbern untersagt ist. Doch ein System von Zwängen wird erst dann wirklich unerträglich, wenn die Individuen, die diesem System unterworfen sind, nicht die Mittel haben, es zu verändern“. Das ist keineswegs eine Perspektive, die erst der späte Foucault in der Hinwendung zur Ethik erlangt hätte, sondern eine Grundposition: „[E]s ist durchaus seit langem bekannt, daß der Mensch nicht mit der Freiheit beginnt, sondern mit der Grenze und der Linie des Unübertretbaren“: Foucault 1964c, S. 544. 149 Foucault 1984g, S. 902 (Übers. leicht mod.). 150 Zum Konzept „Recht auf Begehren“ siehe Deleuze/Parnet 1977, S. 158. Vielfach wird Foucaults politisches Handeln nach dem G.I.P. weitgehend auf seine Reportertätigkeit während der iranischen Revolution 1978/79 verengt, während seine Engagements in FrancoSpanien (1975), im Polen des Generals Jaruszelski (ab 1981) und für die vietnamesischen Boat People (ab 1978) kaum vorkommen – denn die lassen sich nicht so gut für die Rituale ideologiekritischer Rechthaberei ausschlachten. Aber auch an Foucaults Iran-Statements ist nichts Ehrenrühriges; siehe dazu Janet Avery/Kevin B. Anderson: Foucault and the Iranian Revolution. Chicago 2005.
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von Singularitäten vollzogen werden können: „Singulär plural“ sein151. Analysen im Begriffsrahmen von Staat, Gesetzen, Institutionen können dem prinzipiell nicht gerecht werden, denn sie bleiben auf das vereinheitlichende Konstrukt eines Rechtssubjekts fixiert, dessen ranghöchste ‚Eigenschaft‘, die Freiheit, mit Vorliebe dann angesprochen wird, wenn jemand strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden soll152. Demgegenüber begünstigt eine Analyse in Begriffen von Gouvernementalitäten und Subjektivierungen bzw. von Ereignistypen, Fluchtlinien und Verkopplungen die vitale Freiheit aller an einem offenen Machtspiel Beteiligten153. Foucaults im Kern neokynische Wahrheitspolitik bildet somit ein machtvolles Gegengewicht zum intellektuellen Neo-Biedermeier von heute und dessen restaurativer Sekuritätsdenkerei: „Dieser Aktivismus geht also darauf aus [prétend], die Welt zu verändern, anstatt seinen Anhängern bloß die Mittel zu liefern, ein glückliches Leben zu erreichen“154. Während bei den ‚Meinungsführern‘ von heute der
151 So der schöne Titel eines Buchs von Jean-Luc Nancy (1996. Dt.: Zürich 2005). AntiJuridismus heißt aber mitnichten Abschaffung aller Gesetze und rechtlichen Regulationen: „Die Regeln zur Begrenzung der Macht können gar nicht streng genug, die universellen Prinzipien, die ihr die Gelegenheit nehmen, deren sie sich bemächtigt, nicht strikt genug sein. Der Macht gilt es stets unüberschreitbare Gesetze und uneingeschränkte Rechte entgegenzusetzen“: Foucault 1979c, S. 991. Anti-Juridismus heißt vielmehr, Kants großartige Formel von „der Kritik, der sich alles unterwerfen muß“ (KrV, A XII), so mit einer Neuorientierung im Denken zu verbinden, daß die ‚moraldogmatische‘ Verklammerung von Recht, Moralgesetz und Staatsform aufgebrochen und die Leitfrage Quid iuris? zum Motor einer neuen Verbindung zwischen Recht, Sinnlichkeit und Lebensform umgepolt wird. Das ist bei Foucault wie Deleuze die Grundoperation einer kritischen Philosophie, die als praktischer Vitalismus konkrete Gestalt gewinnt. 152 Das war schon die äußerste kantkritische Pointe des Freiheits-Kapitels von Adornos Negative Dialektik (1966). 153 Was man von Adornos offiziellen ‚Nachfolgern‘ nicht unbedingt behaupten kann. Schon richtig: emanzipatorische Politik erfordert auch ein Ensemble von Praktiken der Freiheit, zu dem rechtsförmige Freiheitsinstitutionen gehören; siehe dazu Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Frankfurt 1992, sowie Axel Honneth: Das Recht der Freiheit. Berlin 2011. Aber obwohl unzweifelhaft emanzipatorisch, bleibt diese Denkweise doch einer Grundhaltung verhaftet, für die jede Form radikaler Freiheit nur Ausdruck dessen sein kann, was der Dialektiker und Rechtsphilosoph schlechthin auf den Titel „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels“ gebracht hat; siehe Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt 1970, S. 275–283. 154 Foucault 1984, S. 262, bzw. 1984a, S. 371. Von daher fällt ein Schlaglicht auf die Strategie der ‚postmodernen‘ Ethikhändler und Lebenshilfe-Seelsorger von heute, die fast immer unter Berufung auf Foucault, gelegentlich auch auf Deleuze, einen sehr deutschen philhellenischen Neoklassizismus (der wievielte seit 1785?) lancieren, dessen ‚ästhetisches Denken‘ leider bloß den üblichen apolitischen Bildungshumanismus recycelt. Diese ‚postmodernen‘ Lebenskunstphilosophen sind alles andere als Philosophen, schon gar nicht der Freiheit, vielmehr handelt es sich um propagandistische Zutreiber und Geschäftemacher der neoliberalen „Unternehmensgesellschaft“ (Foucault 1979, S. 290), deren „objektive Verlogenheit“ (Adorno) sich an zwei Ausdruckszügen, welche schon große deutsche Aufklärer des 18. Jahrhunderts an den platonisierenden Berufsethikern ihrer Zeit registriert haben, sofort erkennen lassen:
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Grundsatz gilt, dass man nicht die Gesellschaft, sondern nur sich selber ändern könne155, hat Foucault der Auffassung, dass es sinnlos sei, sich politisch zu erheben, bis zuletzt eine Absage erteilt und den Kynismus als ethischen Universalismus bestimmt, der das sokratisch-platonische Thema des anderen Lebens in ein Leben transponiert, „dessen Andersheit zur Veränderung der Welt führen soll. Ein anderes Leben für eine andere Welt“156. Darin klingt sicher Marx’ Appell nach, die Welt zu verändern, aber ebenso Rimbauds Parole, „das Leben zu ändern“, auf die Foucault sich schon 1966 ausdrücklich bezogen hat157. Dem entspricht, dass Foucault 1983 gegen den Zeitgeist die ‚Wiederkehr von Marx‘ vorhersagte158.
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dem „vornehmen Ton“ (Kant) und den unabdingbar dazugehörigen „geblähten Nasenlöchern“ (Lichtenberg). Siehe Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt 2009, S. 241. Sloterdijks Ausführungen zu Foucault (ebd., S. 234–255) erkennen zwar die initiale Funktion des Binswanger-Essays von 1954, stellen diesen Manifest-Text aber in einen deutlich verengten Rahmen. Denn obwohl Sloterdijk Foucaults Ethik zutreffend als diszipliniertasketisches Exerzitium einer lebendigen Intelligenz bestimmt, „die reiner Muskel, reine Initiative geworden“ ist (S. 245), unterläuft ihm im Banne Heideggers der neoklassizistische Fehler, die „vertikale Achse“ (Foucault 1954a, S. 155) der (Traum-)Erfahrung allein als Aufwärtsbewegung (Petrarcas Aufstieg zum Mont Ventoux, bei Sloterdijk Mount Improbable) zu schätzen und den ‚Abstieg‘ – immer noch einem psychotherapeutischen Normalitätsideal gelingenden Lebens ‚verfallen‘ – zu pathologisieren (S. 243), wogegen die Vertikale bei Foucault (und Deleuze) eine Doppelbewegung von unten nach oben und umgekehrt impliziert. Was Foucault von Sloterdijks verengter ‚Umkehr‘ (metanoia bzw. conversio) gehalten hätte, läßt sich somit leicht erraten, z.B. mit Foucault 1982, S. 263 (Vorlesung vom 10. 2. 1982): „Sie wissen ja, daß es jetzt zu unserer täglichen Erfahrung – ich meine, in der vielleicht ein wenig langweiligen Erfahrung unserer unmittelbaren Zeitgenossen – gehört, sich nur noch zum Verzicht auf die Revolution zu bekehren. Die großen Bekehrten unserer Tage sind diejenigen, die nicht mehr an die Revolution glauben. Nun gut. Hier gäbe es eine Geschichte zu schreiben“. Foucault 1984a, S. 374. Und zur Verteidigung politischer Widerstandsfreiheit siehe Foucault 1979a. „Inutile de se soulever?“. In der deutschen Fassung (Foucault 1979c) hat sich das Fragezeichen aparterweise in Luft aufgelöst. Arthur Rimbaud: Une saison en enfer. Bruxelles 1873, S. 23 („changer la vie“). Der Bezug darauf bei Foucault 1966d, S. 717, wo er André Bretons Schreiben rühmt, weil es darin nicht vorrangig um Geschichte/Politik gehe, „sondern um die absolute Macht, das Leben zu (ver)ändern“. Die Überkreuzung Nietzsche/Rimbaud durchzieht seit 1964 zwanzig Jahre lang Deleuzes Schriften, bis hin zum Schluß der Foucault-Monographie von 1986. Siehe Foucault 1983d, S. 555: „… die Wiederholung ist stets möglich, die Wiederholung nebst Anwendung, Umgestaltung. Gott weiß, wie sehr Nietzsche 1945 als endgültig disqualifiziert erscheinen konnte … Es ist sicher, daß Marx, selbst wenn man annimmt, daß Marx jetzt verschwinden wird, eines Tages wieder auftauchen wird. Was ich wünsche, […] ist nicht so sehr das Rückgängigmachen der Verfälschung, die Wiederherstellung eines echten Marx, sondern mit Sicherheit die Entlastung, die Befreiung von Marx im Verhältnis zur Partei, die ihn über so lange Zeit eingeschlossen, befördert und hochgehalten hat“. Daß es indes bis heute Leute gibt, die nichts lieber täten, als eine im Zeichen der Althusser-Schule ‚dekonstruktiv‘ aufpolierte Neo-Kommunistologie ‚hegemonial‘ zu machen, beweist exemplarisch Jan Rehmann: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. Hamburg 2004. Angesichts dieser halb pastorenhaften, halb politkommissarischen ‚Überprüfung‘, die Foucault, der die Frage der ‚philologischen Korrektheit‘ seines machtanalytischen
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Mehr noch entspricht dem aber, was Foucault 1984 über den leitenden Gegenwartsbezug seines ‚griechisch-lateinischen Ausflugs‘ klarstellte: letztlich gehe es dabei um das fortwirkende Problem des Lebens als Skandal der Wahrheit in einem an den Rändern der sozialistisch-syndikalistischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kommenden aktivistischen Lebensstil, und komplementär dazu um dessen antiplatonische Transformation in den radikalen künstlerischen Bewegungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts159. Darum konnte Foucault die geduldige theoretisch-praktische Maulwurfsarbeit „entlang unseren Grenzen“ schließlich als ‚Königsweg‘ präsentieren, welcher „der Ungeduld der Freiheit Gestalt gibt“, während er die Verbindung der kritischen Arbeit mit dem „Glauben an die Aufklärung“ in Klammern setzte160 –: ein Zeichen dafür, dass seine Anarchäologie – ohne den Marx-Strom je verleugnet zu haben – stärker aus dem RimbaudStrom gespeist wird. Soviel müßte inzwischen deutlich geworden sein: Wenn die ExperimentalPhilosophien Foucaults und Deleuzes überhaupt etwas begrifflich Bestimmbares sind, dann sind sie kritische Philosophien der Freiheit. Im Blick auf Foucault müßte zudem deutlich geworden sein, dass seine hartnäckige Suche nach einem „radikal philosophischen Denken“, welches ins Jenseits des modernen ‚Humanismus‘ vorzudringen vermag, trotz aller krisenhaften Brüche ebenso wie bei Deleuze einer systematischen Grundbewegung folgt161. Denn im Horizont der skizNietzsche-Gebrauchs nicht hoch veranschlagte, ebenso amüsiert hätte wie ein Text des Althusser-Schülers Balibar (siehe Foucault 1973a, S. 506 f.), während Deleuze anders geantwortet hätte (nach Lyotards Zeugnis pflegte Deleuze Bücher, die er für gedankenarm, moraldogmatisch oder sonstwie entbehrlich hielt, eigenhändig dem offenen Kaminfeuer zu übergeben) – angesichts dieser stur ‚linientreuen‘ Pseudo-Dekonstruktion optiere ich für eine dekonstruktive Marx-Lektüre; siehe Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Frankfurt 1995, besonders S. 138–145. Foucaults Plädoyer trifft sich ebenso mit Deleuze, zu dessen vier letzten Buchprojekten (ab 1990; alle unvollendet) vor allem eines gehörte: La grandeur de Marx (Die Größe von Marx). 159 Siehe Foucault 1984a, S. 247 f. In Foucaults historischer Skizze von Manet bis Francis Bacon und von Baudelaire und Flaubert bis zu Samuel Beckett und William Burroughs. 160 Foucault 1984d, S. 707. 161 Zum „radikal philosophischen Denken“ siehe Foucault 1966, S. 411 f. Bezogen auf Deleuze ist die These einer offenen Systematik nicht allzu überraschend. Aber eine systematische Grundbewegung bei Foucault?! Speziell im Wirkungsfeld Friedrich Kittlers, der große Verdienste um die Verbreitung von Foucault, Deleuze und anderen französischen Differenzdenkern in Deutschland, aber aufgrund seiner Hörigkeit gegenüber Heidegger auch große Blindheiten aufzuweisen hat(te), ist die exakt gegenteilige Auffassung kanonisch, daß Foucault ‚vergleichbar mit Walter Benjamin‘ der Prototyp eines fragmentarischen, okkasionell vorgehenden, historisch fokussierten und programmatisch antisystematischen Denkens gewesen sei. Aber mit derlei Ansichten, die in der deutschen medien- und kulturwissenschaftlichen Gelehrtenrepublik seit etwa 1990 geradezu als Staatsgrundgesetz fungieren, beweisen die zehntausend Fabulous Kittler Boys & Girls (ob professoralisiert oder nicht) nur eines: daß sie von den philosophischen Tiefendimensionen des Benjaminschen Denkens sogar noch weniger Ahnung haben als von denen Foucaults (oder Deleuzes). Als ganz äußerliches Indiz für meine (hier nicht auszuführende) These siehe Foucault 1982f , S. 966, wo er ausdrücklich die Wörter „klassisch“ und „systematisch“ für seinen ‚Denkweg‘ in Anspruch nimmt.
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zierten Marx/Rimbaud-Überkreuzung müßte zu guter Letzt sogar im heutigen Deutschland, wo seit längerem eine „antiphilosophische Grundhaltung“ vorherrscht162, allmählich begreiflich werden, dass die von Foucault seit Herbst 1980 propagierte radikal kritische Philosophie neuen Typs, die nicht mehr Möglichkeitsbedingungen und Grenzen des Erkennens und Handelns festlegt, sondern die stattdessen die Existenzbedingungen und Virtualitätspotenzen unserer eigenen Transformation sondiert und somit als „kritische Ontologie unserer selbst“ zwingend mit einer „Politik unserer selbst“ verkoppelt ist, eine wie auch immer potentialisierte Umsetzung des Foucaultschen Programmsatzes von 1963 bildet, der „Tod Gottes [gebe] uns nicht einer begrenzten und tatsächlichen Welt zurück, sondern einer Welt, die sich in der Erfahrung der Grenze auflöst …“163. Wenig erstaunlich deshalb, dass das letzte Fest, das Foucault in seiner Pariser Wohnung geben konnte, Anfang April 1984 für niemand anderen als William Burroughs stattfand, den Verfasser von Naked Lunch und The Electronic Revolution, den Foucault und Deleuze als Diagnostiker der heraufziehenden Kontrollgesellschaft wie als vitalistischen Experimentator hochgeschätzt haben164. Auch diese Anek-
162 So Agamben: „Kontrolliert wie nie“ (Gespräch). In: DER SPIEGEL. Heft 9 (25. Februar 2006), S. 169: „Wenn man als Italiener mit Interesse an Philosophie aus Italien nach Deutschland kommt, ist man geneigt, ein Land der Philosophen zu erwarten – und ist dann doch überrascht, dass es hier heute eine antiphilosophische Grundhaltung gibt“. Diese Haltung, die selbst von innovativeren Leuten wie Mirjam Schaub oder Philipp Sarasin bloß variiert wird, ist der Hauptgrund, weshalb die ‚deutsche Foucault-‘ und ‚Deleuze-Forschung‘ der letzten 20, 25 Jahre bei jedem von ‚unabhängigen internationalen Spitzenkräften‘ durchgeführten transatlantischen ‚Ranking‘ unweigerlich auf dem letzten Platz landen würde. Zu den Ursachen dieser Grundhaltung wäre vieles zu sagen. Zu viel für hier. 163 Siehe oben, Fußnote 16. Zur Politik unserer selbst siehe Foucault 1980e S. 91; zur kritischen Ontologie unserer selbst: siehe Foucault 1984d S. 706 f.; und zur radikal kritischen Philosophie der Existenzbedingungen und Unbestimmtheitspotentiale siehe Foucault 1980d, S. 6 bzw.: 2013, S. 37. 164 Zur Burroughs-Fete bei Foucault, einem Faktum, das speziell die neoklassizistischen Ethikverkäufer im heutigen Deutschland entweder nicht einmal ignorieren oder aber eisern totschweigen, weil es so gar nicht in ihr eigenes ‚Geschäftsmodell‘ paßt, siehe Defert: Zeittafel. In: Foucault: Schriften 1, S. 103. Obwohl auch die beide verbindenden Drogenerfahrungen – Foucault in einem Brief 1975: „Drogen: ein Bruch mit dieser Physik der Macht, der Arbeit, des Konsums, der Lokalisierung“ (ebd., S. 73) – und das besonders Naked Lunch durchziehende Motiv der Kontrolle Foucaults Interesse geweckt haben werden, dürfte seine Sympathie für Burroughs letztlich in ihrem – von den ‚zeitgemäßen‘ Ethikverkäufern als ‚anthropologische Überforderung‘ des ‚Zeitalters der Extreme‘ diffamierten – radikalen Moralismus gründen. Das macht ein 2013 veröffentlichtes Interview deutlich, das Foucault am 3. 11. 1980 gegeben hat. Darin weist Foucault den verbreiteten Argwohn, daß sein Denken auf einen jede Moral ablehnenden Nihilismus hinauslaufe, weit von sich, distanziert sich allerdings ebenso entschieden von der bei Nicht-Philosophen verbreiteten und von den Ethikverkäufern bedienten Erwartung ‚konkreter Handlungsorientierungen‘ nach dem Muster: „Macht so und nicht anders Liebe! Habt Kinder! Geht einer Arbeit nach“ usw. (Foucault 1980f, S. 154), um stattdessen drei Grundoptionen seiner intellektuellen Moral zu geben: „Zurückweisung, Wißbegierde, Erfindungskraft“ (ebd., S. 144 und 154), eingesetzt als Bewegungsvektoren eines nicht-präskriptiven ‚Moralismus‘.
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dote bezeugt das kritische Movens von Foucaults Philosophie, das er im Mai 1984 ein letztes Mal bekräftigt hat: „Das Denken ist die Freiheit gegenüber dem, was man tut, die Bewegung, durch die man sich davon loslöst; man konstituiert es als Objekt und reflektiert es als Problem“165. Denken als „Problematisierung“, wie Foucault zuletzt sagte, bzw. als Realisierung einer „Problem-Idee“, wie zuvor schon Deleuze166 gesagt hatte –: auch das könnte ein Stachel sein, dem bioplitischen Dispositiv von heute aufs Neue theoretisch-praktisch zu Leibe zu rücken. Um dem Denken die Bresche dafür zu schlagen, bedarf es aber dringend einer neuen „Moral der Unbequemlichkeit“167, die eine durch nichts und niemanden einzuschüchternde Infragestellung der heute etablierten Evidenzen und Universalitäten vorantreibt –: nicht in der verstiegenen Manier eines hyperkritischen Deliriums permanenter Anzweifelung von allem, wohl aber als konzertierte Aktion aus problematisierender Kritik und thematisch scharf fokussiertem ‚Möglichkeitssinn‘. Als ‚Probierstein‘ dafür kann eine Aussage dienen, die Foucault Anfang November 1980 in New Hampshire gemacht hat: „Ich bin ein Moralist insofern, als ich glaube, daß eine der Aufgaben, eine der Sinnoptionen menschlicher Existenz, in der die Freiheit des Menschen besteht, darin liegt, niemals irgendetwas als definitiv, unantastbar, evident, unbeweglich zu akzeptieren. Nichts an Realem darf uns ein endgültiges und unmenschliches Gesetz machen“168. Im Blitzen dieser Sätze, die zum Blitz von Deleuzes Appell „Schluß mit dem Gericht“ überspringen, wird deutlich, dass es im vergangenen Jahrhundert neben Burroughs oder Genet noch etliche ‚Moralisten‘ gegeben hat, die mit Foucaults und Deleuzes parallelen Philosophien der Freiheit konvergieren und an die auch heute, aujourd’hui surtout, ‚angeschlossen‘ werden kann und muß: Charles Péguy ebenso wie René Char, Maurice Blanchot ebenso wie Antonin Artaud, und einige mehr. Aber das wäre ein Fächer anderer Analysen. 165 Foucault 1984e, S. 732. 166 Zur deleuzianischen Konzeption der Problem-Idee siehe Deleuze 1968, Teil IV, in Umwandlung bestimmter Gedanken von Platon, Leibniz und besonders Kant. Es ist hier nicht möglich, den Nachweis zu führen, daß Foucault genau diese Konzeption aufgenommen und zur „Problematisierung“ umgeformt hat. Jedenfalls würde so die philosophische Divergenz zwischen Foucault und Deleuze nochmals deutlich werden, bis hin zu Deleuzes spätem Statement, das als konträres Gegenstück zu Foucaults Satz vom Mai 1984 gelten kann: „Man denkt nämlich nicht, ohne zugleich etwas anderes zu werden, etwas, das nicht denkt, ein Tier, eine Pflanze, ein Molekül, ein Partikel, die zum Denken zurückkehren und es von neuem in Gang setzen“: Deleuze/Guattari 1991, S. 50. Als einen ersten Versuch der Sondierung dieses Problemfelds siehe jetzt Errinn C. Gilson: „Ethics and the Ontology of Freedom: Problematization and Responsiveness in Foucault and Deleuze“. In: Foucault Studies, Nr. 17: Special Issue on Foucault and Deleuze (April 2014), S. 76–98. 167 Siehe Foucaul 1979f; dort (S. 983) in Bezug auf das Motiv der Frage besonders beim späten Merleau-Ponty. 168 Foucault 1980f, S. 143 (Eigene Übersetzung. Hervorhebung von mir: W.M.). Hegelianer und andere professionelle Verantwortungsethiker ‚wissen‘ natürlich (siehe Fußnote 153) sofort, wie diese Sätze ‚einzuordnen‘ sind; schwerer fällt diesen Kreisen – von Realisierung gar nicht zu reden – zu begreifen, daß Foucaults Aussage nichts anderes ist und vollzieht als eine radikale nietzscheanische Transformation der Kantischen Lehre von der Autonomie.
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LITERATUR Foucault und Deleuze werden nach den aktuellen deutschen Standardausgaben zitiert, wobei die Jahreszahl in eckigen Klammern die Erstveröffentlichung bzw. ‚Erstperformanz‘ angibt, die Zahl danach das Datum der zitierten Ausgabe. Wo es unerläßlich war, den originalen Wortlaut zu belegen, wird auch die französische Edition genannt. Um die Bibliographie in Grenzen zu halten, ist die gesamte sonstige Literatur an Ort und Stelle in den Fußnoten angegeben. Deleuze, Gilles, 2003 (Texte 1): Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles, 2005 (Texte 2): Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975– 1995. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles, [1946] 2007, „Mathèse, Science et Philosophie“. In: Jean Malfatti de Montereggio: Études sur la mathèse, ou anarchie et hiérarchie de la science, avec une application spéciale de la médecine. Paris: Editions Griffon d’Or, 1946, S.IX–XXIV. Englische Fassung: „Mathesis, Science and Philosophy“. In: Mackay, Robin (Hrsg.), 2007: Collapse, Nr. III. Falmouth: Urbanomic Press, S. 141–155. Deleuze, Gilles, [1953] 1997: David Hume [Empirisme et subjectivité]. Hamburg: Junius. Deleuze, Gilles, [1955] 2003: „Instinkte und Institutionen“. In: Texte 1, S. 24–27. Deleuze, Gilles, [1961] 2006: „De Sacher-Masoch au masochisme“. In: Multitudes, 2006/2, Nr.2, S. 19–30. Deleuze, Gilles, [1962] 1985: Nietzsche und die Philosophie. Frankfurt a.M.: Syndikat. Deleuze, Gilles, [1963] 1990: Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen, Berlin: Merve. Deleuze, Gilles, [1963a] 2003: „Raymond Roussel oder der horror vacui“. In: Texte 1, S. 107–110. Deleuze, Gilles, [1963b] 2000: „Das Geheimnis der Ariadne nach Nietzsche“. In: Deleuze [1993] 2000, S. 136–144. Deleuze, Gilles, [1964/70] 1978: Proust und die Zeichen, Frankfurt a. M-Berlin: Ullstein. Deleuze, Gilles, [1964a] 2003: „‚Er war mein Lehrmeister‘“[Über Sartre]. In: Texte 1, S. 115–119. Deleuze, Gilles, [1965] 1979: Nietzsche. Ein Lesebuch. Berlin: Merve. Deleuze, Gilles, [1965a] 1979: „Pierre Klossowski oder Die Sprache des Körpers“. In: Sprachen des Körpers. Marginalien zum Werk von Pierre Klossowski. Berlin: Merve, S. 39–66. Deleuze, Gilles, [1966] 1989: Bergson zur Einführung [Le bergsonisme], Hamburg: Junius. Deleuze, Gilles, [1966a]: „Gilbert Simondon, das Individuum und seine physikobiologische Genese“. In: Texte 1, S. 127–132. Deleuze, Gilles, [1966b]: „Der Mensch, eine zweifelhafte Existenz“. In: Texte 1, S. 133–138. Deleuze, Gilles, [1967] 1980: „Sacher-Masoch und der Masochismus“. In: Sacher-Masoch, Leopold von, 1980: Venus im Pelz. Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1980, S. 163–281. Deleuze, Gilles, [1967a] 2003: „Die Methode der Dramatisierung“. In: Texte 1, S. 139–170. Deleuze, Gilles, [1967b] 2003: „Schlußfolgerungen über den Willen zur Macht und die ewige Wiederkunft“. In: Texte 1, S. 171–185. Deleuze, Gilles, [1967c] 1993: „Michel Tournier und die Welt ohne anderen“ [Une théorie d’autrui]. In: Deleuze: Logik des Sinns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 364–385. Deleuze, Gilles, [1968] 1985: Différence et répétition. Paris: Presses Universitaires de France. Deleuze, Gilles, [1968a] 1992: Differenz und Wiederholung. München: Wilhelm Fink Deleuze, Gilles, [1968b] 1993: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München: Fink. Deleuze, Gilles, [1969] 1993: Logik des Sinns. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles, [1969a] 1993: „Klossowski oder Die Körper-Sprache“. In: Ebd., S. 341–364. Deleuze, Gilles, [1970] 1977: „Ein neuer Archivar“. In: Foucault, Michel / Deleuze, Gilles: Der Faden ist gerissen. Berlin: Merve 1977, S. 59–85. Erweiterte Fassung in: Deleuze: Foucault. Frankfurt a.M. 1986, S. 9–36.
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Foucault, Michel, [1974] 2005: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973–1974. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1974a] 2002: „Über die Natur des Menschen: Gerechtigkeit versus Macht“ (Gespräch mit N. Chomsky, November 1971). In: Schriften II, S. 586–637. Foucault, Michel, [1974b] 2002: „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ [Vorträge und Diskussionen in Rio de Janeiro, 21.–25. Mai 1973]. In: Schriften II, S. 669–792. Foucault, Michel, [1974c] 2002: „Die psychiatrische Macht“. In: Schriften II, S. 829–843. Foucault, Michel, [1975] 1976: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1975a] 2003: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France 1974–1975, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1975b] 2002: „Auf dem Präsentierteller“ (Gespräch mit J.-L. Ezine). In: Schriften II, S. 888–895. Foucault, Michel, [1975c] 2002: „Irrenanstalten. Sexualität. Gefängnisse“ (Gespräch). In:Schriften II, S. 955–970. Foucault, Michel, [1976] 1977: Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen.. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1976a] 1999: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975–1976. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1976b]: „Fragen an Michel Foucault zur Geographie“. In: Schriften III, S. 38– 54. Foucault, Michel, [1976c] 2003: „Michel Foucault: Verbrechen und Strafen in der UdSSR und anderswo …“ (Gespräch mit K.S. Karol). In: Schriften III, S. 83–98. Foucault, Michel, [1977] 2003: „Vorwort“ (Vorwort zu Deleuze, G. / Guattari, F, Anti-Oedipus: Capitalism and Schizophrenia, New York 1977)“. In: Schriften III, S. 176–180. Foucault, Michel, [1977a] 2003: „Gespräch mit Michel Foucault“ (Gespräch mit A. Fontana und P. Pasquino, Juni 1976). In: Schriften III, S.186–213. Foucault, Michel, [1977b] 2003: „Das Leben der infamen Menschen“. In: Schriften III, S. 309– 332. Foucault, Michel, [1977c] 2003: „Das Spiel des Michel Foucault (Gespräch)“. In: Schriften III, S. 391–429. Foucault, Michel, [1978] 2004: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1978a] 1998: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1978b] 2003: „Vorwort von Michel Foucault (Vorwort zu Canguilhem, Georges, On the Normal and the Pathological. Boston 1978)“. In: Schriften III, S. 551–567. Foucault, Michel, [1978c] 2003: „Die Bühne der Philosophie“ (Gespräch in Japan).In: Schriften III, S. 718–747. Foucault, Michel, [1978d] 1992: Was ist Kritik? [Vortrag, 1978], Berlin: Merve. Foucault, Michel, [1979] 2004: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979. Frankfurt a. M: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1979a] 1994: „Inutile de se soulever?“. In: Écrits III, S. 790–794. Foucault, Michel, [1979b] 2003: „Ein so schlichtes Vergnügen“. In: Schriften III, S. 970–973. Foucault, Michel, [1979c] 2003: „Nutzlos, sich zu erheben[?]“. In: Schriften III, S. 987–992. Foucault, Michel, [1979d] 2003: „Foucault untersucht die Staatsräson“ (Gespräch). In: Schriften III, S. 999–1005. Foucault, Michel, [1979e] 2003: „Kämpfe um das Gefängnis“ (Gespräch). In: Schriften III, S. 1005–1019. Foucault, Michel, [1979f] 2003: „Für eine Moral der Unbequemlichkeit“. In: Schriften III, S. 978– 984.
Anonymität, Anomalität. Foucault und Deleuze – Parallele Philosophien der Freiheit
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Foucault, Michel, [1980] 2012: Du gouvernement des vivants. Cours au Collège de France (1979– 1980). Paris: Seuil / Gallimard. [Dt.: Die Regierung der Lebenden. Vorlesungen am Collège de France (1979–80). Berlin: Suhrkamp, 2014] Foucault, Michel, [1980a] 2005: „Diskussion vom 20. Mai 1978“. In: Schriften IV, S. 25–43. Foucault, Michel, [1980b] 2005: „Gespräch mit Duc[c]io Trombadori“ [Ende 1978]. In: Schriften IV, S. 51–119. Foucault, Michel, [1980c] 2005: „Das wahre Geschlecht“. In: Schriften IV, S. 142–152. Foucault, Michel, [1980d] 2013: “Howison Lecture – Truth and Subjectivity – October, 20, 1980“ [Vortrag in Berkeley/California]. 20 nummerierte Seiten, Typoskript. Französische Fassung: „Subjectivité et vérité“. In: Foucault: L’origine de l’herméneutique de soi. Conférences prononcés à Dartmouth College, 1980. Paris: Vrin, 2013, S. 31–51. Foucault, Michel, [1980e] 2013; „Christianity and Confession“ (Vortrag am Dartmouth College: Hanover/New Hampshire, 24. November 1980). Französische Fassung: „Christianité et aveu“. In: Ebd., S. 65–93. Foucault, Michel, [1980f] 2013: „Interview de Michel Foucault“ (3.11.1980). In: Ebd., S. 143– 155. Foucault, Michel, [1981] 2012: Mal faire, dire vrai. Fonction de l’aveu en justice. Cours de Louvain, 1981. Louvain-Chicago: Presses Univérsitaires de Louvain / The University of Chicago Press. Foucault, Michel, [1981a] 2012: „Entretien de Michel Foucault avec André Berten, 7 Mai 1981“. In: Ebd., S. 235–246. Foucault, Michel, [1981b] 2005: „‚Omnes et singulatim‘: zu einer Kritik der politischen Vernunft“. In: Schriften IV, S. 165–198. Foucault, Michel, [1981c] 2005: „Freundschaft als Lebensform“ (Gespräch, 1981). In: Schriften IV, S. 200–206 Foucault, Michel, [1981d] 2005: „Lacan, der ‚Befreier‘ der Psychoanalyse“. In: Schriften IV, S. 248–249. Foucault, Michel, [1981e] 2014: Subjectivité et vérité. Cours au Collège de France (1980–1981). Paris: Gallimard-Seuil. Foucault, Michel, [1982] 2004: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France 1981–1982. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [Hg. 1982a. Mit Arlette Farge] 1989: Familiäre Konflikte. Die „Lettres de cachet“. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1982b] 2005: „Pierre Boulez, der durchstoßene Schirm“. In: Schriften IV, S. 265–269. Foucault, Michel, [1982c] 2005: „Denken, Fühlen“. In: Schriften IV, S. 294–302. Foucault, Michel, [1982d] 2005: „Gespräch mit Werner Schroeter“ (3.12.1981). In: Schriften IV, S. 303–309. Foucault, Michel, [1982e] 2005: „Sexuelle Wahl, sexueller Akt“ (Gespräch).. In: Schriften IV, S. 382–402. Foucault, Michel, [1982f] 2005: „Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982)“. In: Schriften IV, S. 959–966. Foucault, Michel, [1983] 2008: Le gouvernement de soi et des autres. Cours au Collège de France (1982–1983). Paris: Seuil / Gallimard. Foucault, Michel, [1983a] 2009: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesungen am Collège de France 1982–1983. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1983b] 1996: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. 6 Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität Berkeley/Kalifornien. Berlin: Merve. Foucault, Michel, [1983c] 2005: Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit“ (Gespräch mit H. Dreyfus und P. Rabinow, April 1983). In: Schriften IV, S. 461–498.
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Wilhelm Miklenitsch
Foucault, Michel, [1983d] 2005: „Strukturalismus und Poststrukturalismus“ (Gespräch). In: Schriften IV, S. 521–555. Foucault, Michel, [1984] 2009: Le courage de la vérité. Le gouvernement de soi et des autres II. Cours au Collège de France (1983–1984). Paris: Seuil / Gallimard. Foucault, Michel, [1984a] 2010: Der Mut zur [?!] Wahrheit. Vorlesungen am Collège de France 1983–1984. Berlin: Suhrkamp Foucault, Michel, [1984b] 1986: Sexualität und Wahrheit 2. Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1984c] 1986: Sexualität und Wahheit 3. Die Sorge um sich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel, [1984d] 2005: „Was ist Aufklärung?“. In: Schriften IV, S. 687–707. Foucault, Michel, [1984e] 2005: „Polemik, Politik und Problematisierungen“ (Gespräch mit P. Rabinow, Mai 1984). In: Schriften IV, S. 724–734. Foucault, Michel, [1984f] 2005: „Die Rückkehr der Moral“ (Gespräch, 29. Mai 1984). In: Schriften IV, S. 859–873. Foucault, Michel, [1984g] 2005: „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“. In: Schriften IV, S. 875–902. Foucault, Michel, [1984h]: „Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität“. In: Schriften IV, S. 909–924. Foucault, Michel, [1985] 2005: „Das Leben: die Erfahrung und die Wissenschaft“. In: Schriften IV, S. 943–959. Foucault, Michel / Deleuze, Gilles, [1966] 2001: „Michel Foucault und Gilles Deleuze möchten Nietzsche sein wahres Gesicht zurückgeben“ (Gespräch mit C.Jannoud). In: Schriften 1, S. 708–712. Foucault, Michel / Deleuze, Gilles, [1967] 2001: „Allgemeine Einführung“ [zur frz. Ausgabe von Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft und Nachgelassene Fragmente (1881–1882)]. In: Schriften 1, S. 723–726. Foucault, Michel / Deleuze, Gilles, [1972] 2002: „Die Intellektuellen und die Macht“ (Gespräch, 4. März 1972). In: Schriften 2, S. 382–393. Auch in: Deleuze: Texte 1, S. 301–312. Foucault, Michel / Deleuze, Gilles / Guattari, Félix, [1973] 2002: „Durch energische Interventionen aus unserem euphorischen Aufenthalt in der Geschichte herausgerissen, nehmen wir mühsam ‚logische Kategorien‘ in Angriff“ (Gespräch, September 1972). In: Schriften II, S. 563–568.
AUTOREN CHIANG, YU-LIN studierte Jura in Heidelberg, z. Zt. Professor am College of Law, National Chengchi University (NCCU), außerdem Vice Dean & CEO of Executive LLM Program, College of Law, NCCU. Arbeitsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, Rechtsikonologie, Cultural Studies of Law. Publikationen (Auswahl): Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluss an Michel Foucault (2003); A Dialogue Between Shimpei Gotoh and Michel Foucault: A Reflection on the Politics of Police in Taiwan Under the Early Japanese Colonial Rule (2010); The Fabrication of Law-Abiding Citizens: Legal Iconologist Reflections on Legal Education in Post-WWII Elementary and Secondary Schools (2012); Culture and Enlightenment: Desires of Life Under the Japanese Colonial Rule (2014). DEMIROVIĆ, ALEX studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik an der Universität Frankfurt am Main, Promotion 1979 bei Alfred Schmidt zu marxistischer Ästhetik, Habilitation 1992; apl. Prof. Dr. am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main, hat an zahlreichen Hochschulen gelehrt, z.Zt. Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Publikationen (Auswahl): Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, (1999); Nicos Poulantzas. Aktualität und Probleme materialistischer Staatstheorie (2007); Demokratie in der Wirtschaft (2007); Aktive Intoleranz. Studien zur Macht- und Staatstheorie Michel Foucaults (2015) (i. Ersch.). HEIDENREICH, FELIX studierte Philosophie und Politikwissenschaften in Heidelberg, Paris und Berlin; promovierte 2005 bei Rüdiger in Heidelberg mit einer Dissertation über Hans Blumenberg; z. Zt. wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart; vertrat im Wintersemester 2014/15 die Professur für Politische Theorie und empirische Demokratieforschung an der Universität Stuttgart. Arbeitsschwerpunkte: Politische Theorie, Kulturphilosophie, Wirtschaftsethik, Kulturpolitik. Publikationen zu Foucault (Auswahl): Technologien der Macht: Zu Michel Foucaults Staatsverständnis (Hg., 2011); „Une archéologie de l’‚archéologie‘: A propos de la parenté rhétorique entre Husserl et Foucault“, in: Etudes philosophiques, 2013/3, S. 359–368.
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Autoren
HUBIG, CHRISTOPH studierte Philosophie, Soziologie, Germanistik und Musikwissenschaft in Saarbrücken und Berlin (Technische Universität). Promotion und Habilitation in Philosophie; seit 2010 Professor am Lehrstuhl für Philosophie der wissenschaftlich-technischen Kultur an der Technischen Universität Darmstadt; davor Tätigkeiten als Professor für Praktische Philosophie an der Technischen Universität Berlin, Karlsruhe, Universität Leipzig und Professor für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der Universität Stuttgart; Honorarprofessur an der Dalian University of Technology (VR China); 2009 Verleihung der Ehrenmedaille des VDI. Publikationen (Auswahl): Technik- und Wissenschaftsethik (2. Aufl. 1995), Technologische Kultur (1997); Mittel (2000); Die Kunst des Möglichen Bd. 1: Technikphilosophie als Reflexion der Medialität (2006); Bd. 2: Ethik der Technik als provisorische Moral (2007); Bd. 3: Macht der Technik (2015). KLAWITTER, ARNE studierte in Rostock, Glasgow, Berkeley und Nantes Germanistik, Anglistik/Amerikanistik/Romanistik und Philosophie und promovierte 2001 mit einer Arbeit über Foucaults Literaturontologie; 2012 Habilitation an der Universität Münster zur ästhetischen Resonanz fremder Schriftzeichen; 2008– 2013 außerordentlicher Professor an der Universität Kyoto, seit April 2013 Professor für neuere deutsche Literatur an der Waseda Universität, Tokyo; Publikationen (Auswahl): Die „fiebernde Bibliothek“. Foucaults Sprachontologie (2003); Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen, zus. mit Michael Ostheimer (2008); Ästhetische Resonanz (2015); Aufsätze in Handbüchern und Fachzeitschriften zu Foucault und zur Literaturtheorie sowie zur deutschen und französischen Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. MAZUMDAR, PRAVU studierte Philosophie in München und Stuttgart und promovierte über die Diskurstheorie Michel Foucaults am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart; lebt in München als Wissenschaftler und Autor und hat zahlreiche Aufsätze und Bücher, insbesondere zu Michel Foucault, verfasst, sowie mehrerer Bände der von Peter Sloterdijk herausgegebenen Reihe „Philosophie Jetzt!“ (dtv) redaktionell betreut. – Arbeitsschwerpunkte: Theorien der Moderne, Geschichte des Denkens, Kunstinterpretationen. – Publikationen (Auswahl): Foucault, Philosophie Jetzt! 18 (Hg., 2001); Die Macht des Glücks (2003); Der archäologische Zirkel (2008); Das Niemandsland der Kulturen (2011).
Autoren
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MIKLENITSCH, WILHELM ist wissenschaftlicher Autor und Übersetzer; seit einem Beitrag für die Foucault-Sondernummer von „Critique“ (1986) zahlreiche Veröffentlichungen zur französischen und deutschen Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Differenzphilosophische Grundlagenforschung, entsprechende Ästhetik-, Bildund Filmtheorie, Philosophie des Ethischen und Politischen, Postcolonial Studies, Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnostik. Der abgedruckte Text ist ein verdichteter Auszug aus einem unveröffentlichten Manuskript eines philosophischzeitdiagnostischen Buchs zum Freiheitsproblem bei Foucault und Deleuze. In Vorbereitung: filmphilosophisches Buch zu Problem-Ideen und Zeit-Räumen bei Deleuze und Merleau-Ponty. PFEIFFER, ZARA S. ist Politikwissenschaftlerin, Autorin und Kuratorin zu den Schwerpunkten Gender und Queer Studies, postkoloniale Theorie, Nationalsozialismus und Erinnerungspolitik; 2009–2012 lehrbeauftragt am Institut für Soziologie der LMU München; seit 2010 am Institut für Medientheorie der Kunstuniversität Linz; seit 2013 Referentin am Max-Mannheimer-Studienzentrum Dachau und Mitarbeiterin am Pädagogischen Institut der LH München. Projekte/Publikationen (Auswahl): Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945 (Hg., 2011), ThemenGeschichtsPfad. Geschichte der Frauenbewegung in München (2012); DECOLONIZE MÜNCHEN: Spuren Blicke Stören (Ausstellung 2013/14); mapping.postkolonial.net (2013/14), Orte Erinnern. NS-Dokumentationszentrum München (App, 2015). SEITTER, WALTER lebt in Wien; hat in Aachen und in Wien Politikwissenschaft, Philosophie und Medientheorie gelehrt; übersetzte zahlreiche Werke von Michel Foucault ins Deutsche; Mitherausgeber von Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft. Publikationen (Auswahl): Poetik lesen 1 (2010, 2014); Re-aktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik (2012); Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, mit einem Vorwort des Autors zur Neuausgabe 2012 und einem Essay von Friedrich Balke: „Tychonta, Zustöße. Walter Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft“ (2012); Wörter, Bilder, Körper. Zu Pierre Klossowskis La monnaie vivante (2014) UNTERTHURNER, GERHARD ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Wien und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wissenschaft und Kunst, Wien. Publikationen (Auswahl): Foucaults Archäologie und Kritik der Erfahrung. Wahnsinn – Literatur – Phänomenologie (2007); Wahn. Philosophische, psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Perspektiven (hg. gem. mit Ulrike Kadi, 2012); Monstrosity in Literature, Psychoanalysis, and Philosophy (hg. gem. mit Erik M. Vogt, 2012).
s ta at s d i s k u r s e Herausgegeben von Rüdiger Voigt. Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Norbert Campagna, Paula Diehl, Michael Hirsch, Manuel Knoll, Marcus Llanque, Samuel Salzborn, Birgit Sauer, Peter Schröder.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 1865–2581
Andreas Herberg-Rothe / Jan Willem Honig / Daniel Moran (Hg.) Clausewitz The State and War 2011. 163 S., kt. ISBN 978-3-515-09912-7 Frauke Höntzsch (Hg.) John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff 2011. 219 S., kt. ISBN 978-3-515-09923-3 Jochen Kleinschmidt / Falko Schmid / Bernhard Schreyer / Ralf Walkenhaus (Hg.) Der terrorisierte Staat Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt 2012. 242 S., kt. ISBN 978-3-515-10117-2 Matthias Lemke (Hg.) Die gerechte Stadt Politische Gestaltbarkeit verdichteter Räume 2012. 208 S., kt. ISBN 978-3-515-10148-6 Stefan Krammer / Wolfgang Straub / Sabine Zelger (Hg.) Tropen des Staates Literatur – Film – Staatstheorie 1918–1938 2012. 208 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10170-7 Tobias Bevc / Matthias Oppermann (Hg.) Der souveräne Nationalstaat Das politische Denken Raymond Arons 2012. 228 S., kt. ISBN 978-3-515-10179-0 Gisela Riescher / Beate Rosenzweig (Hg.) Partizipation und Staatlichkeit Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse 2012. 267 S. mit 1 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10281-0 Rüdiger Voigt Alternativlose Politik?
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Zukunft des Staates – Zukunft der Demokratie 2013. 247 S., kt. ISBN 978-3-515-10326-8 Pedro Hermílio Villas Bôas Castelo Branco Die unvollendete Säkularisierung Politik und Recht im Denken Carl Schmitts 2013. 267 S., kt. ISBN 978-3-515-10342-8 Bernd Belina (Hg.) Staat und Raum 2013. 188 S., kt. ISBN 978-3-515-10346-6 Beatrice Brunhöber (Hg.) Strafrecht im Präventionsstaat 2014. 171 S., kt. ISBN 978-3-515-10751-8 Christoph Lundgreen (Hg.) Staatlichkeit in Rom? Diskurse und Praxis (in) der römischen Republik 2014. 276 S. mit 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10710-5 Manuel Knoll, Michael Spieker, Michael Walzer (Hg.) Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit Ein kooperativer Kommentar 2015. 240 S., kt. ISBN 978-3-515-10916-1 Oliver Flügel-Martinsen / Franziska Martinsen (Hg.) Demokratietheorie und Staatskritik aus Frankreich Neuere Diskurse und Perspektiven 2015. 240 S., kt. ISBN 978-3-515-10993-2 Torben B. F. Stich Somalia zwischen Staatsaufbau und Staatszerfall 2015. 171 S., kt. ISBN 978-3-515-11186-7
Michel Foucault gilt weithin als ein Denker der Macht. Doch ist das ein recht einseitiges Etikett, das der Breite seines philosophischen Horizonts nicht gerecht wird und die eigentliche Stoßkraft seiner diskursiven Interventionen verkennt. Demgegenüber wollen Foucaults Studien die Machtverhältnisse stets als Spiele der Freiheit erkennbar machen, die für die reale Praxis der Machtausübung konstitutiv sind. Somit sind Freiheit und Macht untrennbar miteinander verflochtene Erscheinungsweisen sozialer Kräfte. Die Macht funktioniert als eine Problematisie-
rung der Freiheit, die ihrerseits die wichtigste Voraussetzung der Machtausübung darstellt. Die Autor/innen dieses Bandes, die so unterschiedlichen Forschungsgebieten wie etwa Rechtswissenschaft, GenderStudies, Technikphilosophie angehören, befassen sich mit Foucaults Analytik der Macht unter der Voraussetzung einer verborgenen Genealogie der Freiheit. Daraus ergibt sich ein vielfältiges Bild der Korrelationen zwischen Macht und Freiheit in den diversen historischen Feldern epistemischer und politischer Praktiken.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11229-1
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7835 1 5 1 1 2291