Lehrjahre der Demokratie: Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich 3515090312, 9783515090315

Ein allgemeines Männerwahlrecht im Land der Kaiser, Junker und Generäle? Margaret Lavinia Anderson führt in die 'Üb

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German Pages 562 [568] Year 2009

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Danksagung
Danksagung (Originalausgabe)
Anmerkung zur Lektüre
Verzeichnis der Abkürzungen
Teil 1: Der Rahmen
Kapitel 1: Einführung
Kapitel 2: Die Morphologie der Wahlverstöße: Internationale Vergleiche
Kapitel 3: Offene Geheimnisse
Teil 2: Kraftfelder
Kapitel 4: Schwarze Magie I: Die erste Politisierungswelle
Kapitel 5: Schwarze Magie II: Fest im Glauben stehen
Kapitel 6: Brotherren I: Die Junker
Kapitel 7: Brotherren II: Meister und Industrielle
Teil 3: Grade der Freiheit
Kapitel 8: Die Entmachtung der Autoritäten
Kapitel 9: Die Einhaltung der Spielregeln
Kapitel 10: Zugehörigkeit
Kapitel 11: Organisation
Kapitel 12: Schlussfolgerungen
Abbildungsverzeichnis
Literatur
Personenregister
Ortsregister
Sachregister
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Lehrjahre der Demokratie: Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich
 3515090312, 9783515090315

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Margaret Lavinia Anderson Lehrjahre der Demokratie

BEITRÄGE ZUR KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE

Herausgegeben von Bernd Sösemann Band 22

Margaret Lavinia Anderson

Lehrjahre der Demokratie Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich

Aus dem Englischen von Sibylle Hirschfeld

Franz Steiner Verlag 2009

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Practicing Democracy: Elections and Political Culture in Imperial Germany © 2000 by Princeton University Press.

Die Übersetzung und Drucklegung förderte Ehrhardt Bödecker, Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09031-5 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © der deutschen Ausgabe 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Einbandgestaltung: deblik, Berlin Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

For Jim Il miglior fabbro

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Danksagung Danksagung der Originalausgabe Anmerkungen zur Lektüre Verzeichnis der Abkürzungen

11 19 21 23 25

Der Rahmen

29

Kapitel 1:

Einführung Demokratie und Reichstagswahl War das Wahlrecht von Bedeutung? Die Quellen für diese Untersuchung Zum Aufbau dieses Buchs

31 32 37 42 44

Kapitel 2:

Die Morphologie der Wahlverstöße: Internationale Vergleiche Das Ausmaß der Verstöße Unterschiedliche Formen der Wahlverstöße Reichstagsverfahren und Beschwerdekultur

52 53 56 62

Kapitel 3:

Offene Geheimnisse Die Aufseher der Demokratie Der »Schleier des Wahlgeheimnisses« Private Wahl, öffentliches Leben Schlussfolgerung: Die korrekte Wahl

66 68 77 91 96

Teil 1:

Teil 2: Kapitel 4:

Kraftfelder

101

Schwarze Magie I: Die erste Politisierungswelle

103

8

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 5:

Kapitel 6:

Klerus und Wahlen vor 1871 Der deutsche Nationalismus und der klerikale Nimbus Die Erfindung des Volkes Die Gesetzgeber reagieren: 1871–1876 Die Jesuitenfurcht und die Mobilmachung des Klerus Zäsur

106 112 118 126 132 140

Schwarze Magie II: Fest im Glauben stehen »Kaplanokratie« Autorität und Widerspruch Solidarität: Das Milieu, katholische Frauen und »Stimmzettelkatholiken« Nach 1900: Das Gespenst der klerikalen Wahlbeeinflussung geht wieder um Schlussfolgerungen: Klerikaler Einfluss und Demokratie

145 147 157 165 176 194

Brotherren I: Die Junker Die Herren der Menschheit »Zustimmendes Wählen« und Vergleiche mit Großbritannien Die Junker und der Staat Wie mächtig der Junker? Konkurrenz durch Sozialdemokraten, Antisemiten und den Bauernverband Im Osten nichts Neues

199 204 216 222

Brotherren II: Meister und Industrielle Die Stimme ihres Herrn Die Allgegenwart des Drucks der Arbeitgeber Im Reich der Schlotbarone Alfred Krupp und die Bilanzen Internationale Perspektiven Das Strafgesetzbuch ändern? Die Rinteln-Anträge von 1886

252 252 260 268 275 281 289

Grade der Freiheit

297

Kapitel 8:

Die Entmachtung der Autoritäten Die geheime Wahl und der Kampf um die Macht des Reichstags Die Wahlrechtsreformen von 1903 Die Geographie des Dissens Ökonomische Rationalität ist keine Einbahnstraße Die Versicherung des Wählers

299 301 310 321 327 331

Kapitel 9:

Die Einhaltung der Spielregeln Die Spielregeln

340 342

Kapitel 7:

Teil 3:

230 247

Inhaltsverzeichnis

Der Sieg über das Sozialistengesetz Die Macht der »Wahlzeit« Die Regeln der öffentlichen Rede

9

350 353 360

Kapitel 10: Zugehörigkeit Konformität Gemeinschaft verpflichtet Ausstoß Boykott Die Unterminierung der Regeln: Wahlkreisschiebung von unten Wer ist mein Nachbar? Die imaginierte Gemeinschaft und die Forderung nach dem Verhältniswahlrecht

373 373 379 384 388 400

Kapitel 11: Organisation Stimmzettel, Diäten und Freifahrten Maschinenarbeit Die Erziehung der Wähler Das große Geld, die Partei und der Neo-Korporativismus Die Berufspolitiker

418 419 431 438 451 469

Kapitel 12: Schlussfolgerungen Schwache Regierung, starker Staat: die Paradoxien der Amtsmacht Hierarchie, Gemeinschaft und Wettbewerb Die Lehrlinge der Demokratie Gewöhnung Vermächtnisse

478 479 496 501 509 513

Abbildungsverzeichnis Literatur Personenregister Ortsregister Sachregister

407

523 525 549 555 559

Vorwort

Demokratisierung und Partizipation im Deutschen Kaiserreich Eine Amerikanerin in Deutschland Offensichtlich ist das Englische doch noch nicht zur neuen Lingua franca geworden. Anderenfalls wäre nicht zu verstehen, weshalb die im kleinen internationalen Kreis der Fachkenner umgehend beachtete und überaus positiv aufgenommene Studie der Amerikanerin Margaret Lavinia Anderson »Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany« (Princeton University Press 2000) in den deutschen Geschichts- und Kultur-, Politik- und Sozialwissenschaften nicht umfassend rezipiert wurde. Die an der University of California in Berkeley lehrende Wissenschaftlerin war im Erscheinungsjahr mit ihrer Biographie des Zentrumspolitikers Ludwig Windthorst (Oxford 1981; dt.: Düsseldorf 1988) und mit weiteren Arbeiten zur amerikanischen und deutschen Geschichte längst international bekannt. Im letzten Jahrzehnt vor der Veröffentlichung hatten rund zwanzig Monographien und Sammelbände zum Kaiserreich Beachtung gefunden. Es sind die Bücher von Karl Rohe und Thomas Nipperdey aus dem Jahr 1992, 1994 waren es Thomas Kühne, 1995 Simone Lässig (u. a.), Dieter Langewiesche / Lothar Gall und Hans-Ulrich Wehler (Gesellschaftsgeschichte III), 1996 James Retallack, Roger Chickering und Christoph Nonn, 1997 Jonathan Sperber und Brett Fairbairn, 1999 Hans-Peter Ullmann sowie 2000 Lothar Gall. Trotz dieser Fülle genügte das gezeichnete Gesamtbild qualitativ offensichtlich nicht. Denn der Politikwissenschaftler Patrick Horst urteilte 2001 in einer Rezension (Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 456), die »ungemein facettenreiche und lebendige Wahlkampfkultur […sei] immer noch unzu-

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Vorwort

reichend erforscht«, und begrüßte Margaret Andersons Buch ähnlich wie Andrew G. Bonnell (Australian Journal of Politics and History 48 [2002], S. 135) als das umfassendste, perspektivenreichste und urteilsreifste Bild über die Wahlkampfkultur im Deutschen Kaiserreich.

Worum handelt es sich? Im Mittelpunkt der detailreichen Untersuchungen von Margaret Anderson stehen mehrere große Themen und Fragen, die sich direkt auf die Wahlpraxis beziehen. Das egalitäre und individualistische Wahlrecht des Norddeutschen Bundes von 1867 hatte sich vier Jahre später von Bismarck trotz konservativer und nationalliberaler Bedenken in die Verfassung des Deutschen Reich unverändert einfügen lassen. In welchem Umfang und Sinn, mit welcher Intensität und Wirkung hat, so fragt die Autorin, die Einrichtung dieses Wahlrechts die demokratische politische Kultur im Kaiserreich geprägt? Haben wir es alle drei Jahre im Reich und zwischendurch bei den Landeswahlen lediglich mit politisch bedeutungsarmen Ritualen zu tun? Margaret Anderson holte sich konzeptionelle Anregungen von den Politologen Dankwart Rustows und Adam Przeworski. Danach seien demokratisches Denken und die daraus resultierenden Verhaltensweisen Elemente eines vielschichtigen politischen Lern- und – wie man präzisierend hinzufügen sollte – öffentlichen Kommunikationsprozesses. Die von Margaret Anderson umsichtig und breit dokumentierte Praxis des Wählens beruht auf einer überzeugenden Interpretation großer Quellenbestände aus allen Regionen und politischen Gruppierungen. Zu den Medien zählen die zeitgenössische Pamphletistik, Tageszeitungen und Zeitschriften, stenographische Berichte des Reichstags und im hohen Umfang die Debatten über die Resultate der vom Reichstag 1876 eingesetzten Wahlprüfungskommissionen. Von ihnen sagt Margaret Anderson – und ihre Worte lassen die Begeisterung einer Wissenschaftlerin ahnen, die ihre Leser an den Entdeckungen auch emotional teilhaben lassen möchte –, sie seien die beste Quelle für das tatsächliche Empfinden der Wähler. Aus diesen Quellen ließen sich die Einstellung des Reichstags, der Parteien und Gruppierungen, der Vereine und Gesellschaften im Wandel der Jahrzehnte ebenso erkennen wie die Methoden der Werbung im jeweiligen Wählerklientel sowie die Organisation, Publizität und Wirkungsmächtigkeit der Wahlkämpfe. Die Dokumente seien nicht leicht zu interpretieren, denn sie widersetzten »sich einer thematischen Ordnung, während gleichzeitig ihre Konkretheit uns zu einem Gefühl von Gewissheit verleitet, das Historikern selten gewährt wird. Dieser Versuchung habe ich mich zu widerstehen bemüht«, denn auch derartige lebensnahe und suggestive Dokumente seien stark interessengeleitet und auf eine bestimmte Weise »tendenziös«. Höchste quellenkritische Ansprüche müssten an sie gestellt werden. Ihre Argumente und Erkenntnisse trägt sie anschaulich und auf hohem Niveau vor. Die klare und detaillierte Gliederung, die Strukturierung der Darlegungen durch Leitfragen und eine Fülle prägnant dargebotener Beispiele erleich-

Vorwort

13

tern das Verständnis. Den Oppositionsparteien, insbesondere den Sozialdemokraten, gelang es demnach trotz der offenkundig autoritären gesellschaftlichen Strukturen des Kaiserreichs und trotz wiederholter Versuche amtlicher oder privater Wahlbeeinflussungen bereits früh und dann im Verlauf der Jahrzehnte immer entschiedener, politisch erfolgreich zu agieren. Die gut belegte Begründung von Margaret Anderson lautet: Die Wahlen und öffentlichen Veranstaltungen trugen zu einem intensiven Lernerfolg auf politischem Feld bei (»educational experience«). Die häufige Erfahrung des Wahlkampfes und Wahlakts habe die Akzeptanz der Demokratie gestärkt. Immerhin fand in Bayern durchschnittlich alle zwei Jahre eine Reichs- oder Landswahl statt, in Preußen sogar alle 21 Monate. Eine Wahlbeteiligung von über 80 % war nicht selten. Die Parteien und politischen Gruppierungen setzten sich mit ihren Gegnern zumeist ernsthaft inhaltlich auseinander. Abweichende Positionen wurden grundsätzlich akzeptiert. In der Regel führte man offene Debatten und nutzte kreativ ein breites Aktionsspektrum für die Propagierung von Ideen und Programmen. Dazu zählten die parlamentarischen Debatten und Petitionen, die persönliche Attacke im Plenum und Demonstrationen auf der Straße, öffentliche Reden und Broschüren, Flugblätter und Plakate. Die im europäischen Maßstab hohe Wahlbeteiligung beweist, dass sich die Deutschen in der Epoche fortschreitender Verstädterung und Anonymisierung des öffentlichen Lebens engagiert und gut informiert am politischen Leben beteiligt und mit dem System weitgehend identifiziert haben. Im Gegensatz zu den von der Autorin herausgearbeiteten Erkenntnissen stehen die von etlichen Historikern und Politologen vertretenen Auffassungen, nach denen das demokratische Potential des Kaiserreichs gering gewesen sei. Mitunter habe sie bei der Lektüre jener Bücher, bekennt Margaret Anderson, den ihr paradox erscheinenden Eindruck gewonnen, das allgemeine Wahlrecht dürfe nicht zu den Triumphen gezählt werden, sondern vielmehr zu den Hindernissen auf Deutschlands Weg zur Demokratie. Margaret Anderson hat sich auf die Erörterung jener Phänomene konzentriert, die politische Mentalitäten und die Alltagskultur im deutschen Verfassungsstaat geprägt haben, ohne sich bei aller Detailfülle in einer mikrohistorischen Unübersichtlichkeit zu verlieren. Sie geht ausführlich darauf ein, wo und mit welchen Konsequenzen das Wahlrecht der Bürger eingeschränkt wurde – ohne zu übersehen, dass der Staat selbst keinen Einfluss nahm oder die Wahlen manipulierte. Sie beschreibt eine nationale politische Kultur, indem sie die offiziellen Beschwerden in den Mittelpunkt stellt, ohne außer Acht zu lassen, dass in den Akten der Wahlprüfungskommissionen Sachverhalte häufig um des Effekts willen dramatisiert worden sind. Im westlichen Ausland fanden Tumulte und Krawalle in wesentlich größerer Zahl statt; dabei zeigte sich auch eine geringere Sensibilität gegenüber Wahlverstößen und Delikten wie Bestechung oder Betrug. Die Kenntnisse und das Verständnis der parlamentarisch-demokratischen Prinzipien waren in Großbritannien oder Frankreich keineswegs größer als im Deutschen Reich. Wie sehr dem Wahlrecht eine »Erziehungsfunktion« in der deutschen Gesellschaft zukam, zeigen die Rezeption der Dreyfus-Affäre und der Rückgang des Antisemitismus in Deutschland nach der Jahrhundertwende.

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Vorwort

Wie urteilen die Fachkollegen? Die meisten der renommierten Rezensenten sind wie Roger Chickering, Georgetown University, von ihren Ergebnissen hoch angetan. Er weist in seiner Besprechung (American Historical Review 106, Nr.3 [Juni 2001], S. 1070 f.) zu Recht darauf hin, dass die akribische Untersuchung die Hoffnung all derer zunichte macht, die glaubten, die Debatte über die »Modernität« des deutschen Kaiserreichs sei abgeschlossen. Margaret Anderson präsentiere nicht nur eine ausreichende Fülle neuer Anregungen und Gesichtspunkte im Einzelnen, sondern sei auch originell, wenn es um die Interpretation von bereits Bekanntem gehe. Auf diese Weise ergänze ihr Buch – »a powerfull, challenging piece of scholarship« (S. 1070) – Jonathan Sperbers Analysen der Reichstagswahlen (»The Kaiser’s voters. Electors and Elections in Imperial Germany«, Cambridge 1997). Ihre Arbeit stelle ein wichtiges Gegenstück zur Studie von Thomas Kühne über die Rechte des Wählers dar (»Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen, 1867–1914«, Düsseldorf 1994). Margaret Anderson habe eine Fülle von Quellen (»breathtaking arsenal of sources«) ausgewertet und diese in ansprechender und lesbarer Form präsentiert. Chickering ist sich deshalb sicher, dass das Werk zu einer inhaltlichen Präzisierung und schließlich zur kritischen Revision der Verallgemeinerungen führen werde, die zur Ausübung des Wahlrechts im deutschen Kaiserreich häufig vertreten worden seien. Außerdem stärke der systematisch angelegte und konsequent durchgehaltene Vergleich des deutschen Wahlsystems mit dem anderer Staaten wie Frankreich, England und den USA die Argumente, die gegen die Annahme einer andersartigen Entwicklung in Deutschland angeführt würden. In jüngster Zeit hat Hartwin Spenkuch (»Vergleichsweise besonders? Politisches System und Strukturen Preußens als Kern des ›deutschen Sonderwegs‹«, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2,[2003], S. 262–293) die inzwischen von der internationalen Forschung als überholt ad acta gelegte Ansicht vom einem deutschen Sonderweg in modifizierter Form wiederbelebt. Auf den vier Ebenen Verfassung und Verwaltung, Monarch und Adel, Parteien und politische Kultur, Militär und Politik erkennt er besondere Entwicklungszüge der Geschichte Preußens. Doch neigt er dabei dazu, die Schwäche bürgerlicher Schichten, die Beharrungskräfte in der Verwaltung, den Initiativenmangel in den Führungsschichten und die Stärke vorindustrieller Gruppierungen überzubetonen. Margaret Andersons Werk besticht durch ein hohes Differenzierungspotential und eine selbstkritische Grundeinstellung, die eine Gewähr gegen Blickverengungen und Schematismus bei der Darstellung der preußisch-deutschen Geschichte bietet (»revolts formidably against the mystification of Germany’s ›special path‹«). In welchem Umfang ihre Erkenntnisse zur Klärung grundsätzlicher Fragen beitragen, zeigt sich, wenn man wie Ewald Frie nach der »Modernität« des Kaiserreichs fragt. Der Tübinger Historiker weist in seiner Einführung (»Das Deutsche Kaiserreich. Kontroversen um die Geschichte«,

Vorwort

15

Darmstadt 2004) unter anderem darauf hin, dass die Entwicklungen in den westeuropäischen Staaten keineswegs so »demokratisch« verlaufen seien, wie Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler und Jürgen Kocka meinen annehmen zu können. Er verweist auf die Streitschriften von David Blackbourn, Geoff Eley, Richard J. Evans, Robert G. Moeller und James J. Sheehan über die »Mythen deutscher Geschichtsschreibung« (Frankfurt am Main 1980) mit ihren verklärenden Annahmen über nicht-deutsche Verhältnisse. In Anlehnung an John Breuilly (»Labour and Liberalism in Nineteenth-Century Europe. Essays in Comparative History«, Manchester 1992) diagnostiziert er für Preußen einen unvollständigen Modernisierungsprozess (»Reaktionsbereitschaft« und »bürokratische Reformverweigerung«).

Was bleibt festzuhalten? Obwohl Gerhard A. Ritter (»Die Reichstagswahlen und die Wurzeln der Demokratie im Kaiserreich«, in: Historische Zeitschrift 275 [2002], S. 385–404) ebenso wie zuvor schon Brett Fairbairn in der Zeitschrift »German History« Margaret Andersons Buch als das beste über die Reichstagswahlen und die politische Kultur vor 1918 gepriesen haben (»The book is exemplary for how history ought to be written«), besteht bis heute ein Rezeptionsdefizit. Gerhard A. Ritter hebt hervor, wie unerlässlich für diese Thematik und Konzeption entsprechende Kenntnisse zur Geschichte Europas und seiner Wahldemokratien im industriellen Zeitalter sind, wenn eine Analyse überzeugen soll. Die Hauptverdienste von Margaret Anderson bestünden in der Entmystifizierung des Wahlrechts durch den europäischen Vergleich, in dem Nachweis demokratischer Verhaltensweisen im Kaiserreich und damit in der Offenlegung der sehr vitalen Ursprünge von Demokratie. Die Autorin kläre nicht allein darüber auf, in welchem Umfang die Reichsverfassung und Wahlordnung die Mitwirkungsrechte der Wähler garantiert habe, sondern könne auch zeigen, in welchem Ausmaß staatliche Verwaltungen, die Kirchen, industrielle Arbeitgeber oder auch Gruppenzwänge die Freiheit eingeengt hätten. Der Reichstag sei kein Feigenblatt gewesen. Es sei es den Verbänden nicht gelungen, die Parteien zu kontrollieren. Die finanzielle Absicherung (Diäten) habe die Positionen der Abgeordneten und ihrer Wähler ebenso gestärkt wie die Sicherung der Vertraulichkeit, Freiheit und Unabhängigkeit (Wahlkabine, Briefkuvert für die Stimmabgabe) sowie die »Juridifizierung politischer Konflikte«. Unter diesen Bedingungen konnte die Sozialdemokratie trotz der schweren und gut zwölfjährigen Behinderungen durch das Sozialistengesetz ihre Abgeordnetenzahl verdreifachen und bereits 1890, also schon lange vor der umfassenden Reform des Wahlverfahrens im Jahre 1903, zur stärksten Partei aufsteigen. Im Kaiserreich ist Deutschland demokratischer geworden. Das Deutsche Reich hat sich in der Ausnahmesituation des Weltkrieges nicht mehr zu einem parlamentarischen Staatswesen weiterentwickeln können, obwohl der Reichstag mit seinem auf Parlamentarisierung drängenden »Interfraktionellen Aus-

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Vorwort

schuss« und die Oktoberreformen unter dem Reichskanzler Max von Baden bewusst an die Erfahrungen eines demokratischen Handelns angeknüpften. Die Deutschen haben ihre eigene Legalität an westeuropäischen Maßstäben gemessen und bewertet. Nicht die Ansicht über einen »Sonderweg« lässt sich also aus den Entwicklungen im deutschen Kaiserreich gewinnen, sondern vielmehr die Einsicht, dass es einen breiten und bereits vor 1914 kräftig entwickelten Wachstumsprozess demokratischen Denkens und parlamentarischen Handelns gegeben habe. Er wurde durch die militärischen und politischen, sozialen und moralischen Verheerungen in den Kriegsjahren nach 1914 erheblich gestört. Da sie für zahlreiche der folgenden Retardierungen und Depravierungen vorrangig verantwortlich zu machen sind, sollte umso stärker auf die Entwicklungsprozesse von Demokratisierung und Parlamentarisierung im Kaiserreich hingewiesen werden, deren Fortsetzung dieser Krieg blockierte (Ian D. Armour, in: The English Historical Review 116 [Nov. 2001], S. 1293 f.). Die Entwicklung im deutschen Kaiserreich repräsentiert folglich keine historische Anomalie; die Referenzwerte sind vielmehr europäisch (Joachim Scholtyseck, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 [2003], S. 523 f.).

Die deutsche Veröffentlichung Mit diesem Buch wird der wiederholt und nachdrücklich geäußerte Wunsch nach einer Übersetzung der Studie von Margret Anderson ins Deutsche erfüllt. Die finanzielle Förderung der Arbeiten durch Ehrhardt Bödecker, Berlin/Wustrau, ließ diese schwierige Aufgabe gelingen. Das Geleistete spricht zwar für sich, doch möchte ich die präzise und umsichtige Übersetzung von Sibylle Hirschfeld besonders hervorheben. Der Übersetzerin ist es in beeindruckender Weise gelungen, die sorgfältige Differenziertheit des Textes mit seinen besonderen Nuancierungen bei den Fachtermini im Deutschen adäquat wiederzugeben. Sämtliche von Frau Margaret Anderson ins Amerikanische übertragenen deutschen Zitate wurden nicht rückübersetzt, sondern als Originalzitate aufgenommen. Einige kleinere Versehen konnten dabei korrigiert werden. Die Erfahrung lehrt, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass eine Übersetzung so aufwändig vorgenommen und von einem Verlagslektorat professionell betreut wird. Hierfür danke ich in freundschaftlicher Verbundenheit dem Mäzen ebenso herzlich wie dem mir in nahezu zwei Jahrzehnten gemeinsamen Interesses an den »Beiträgen zur Kommunikationsgeschichte« zum verlässlichen Ratgeber gewordenen Verleger, Herrn Dr. Thomas Schaber. Für uns war das Buch, das »nach den Wurzeln der Demokratie in Deutschland« fragt (Ritter, l.c., S. 385) »in all events, a major achievement. It will require a rethinking of many easy generalizations (Chickering, l.c., S. 1071). Der Autorin und ihre bahnbrechende Studie (»pathbreaking work«, Helmut Walser Smith) über das »Maß der Freiheit« und die Partizipation in der deutschen Gesellschaft, ist zu wünschen, dass sie nunmehr eine stärkere öffentliche Aufmerksamkeit und die ihr angemessene Resonanz finden werde. Der demokratische Neubeginn

Vorwort

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nach der nationalsozialistischen Diktatur entstand nicht bar jeglicher Kontinuität in einer »Stunde Null«. Er gründete sich auch nicht ausschließlich auf die Freiheiten des Wählens in der Weimarer Reichsverfassung und denen in den westalliierten Besatzungszonen. 1949 konnte der freie Teil Deutschlands auf noch ältere demokratische Gepflogenheiten zurückblicken. Neben den wenigen Monaten in der Revolution von 1848/49 waren dies fast ein halbes Jahrhundert Wahlfreiheit und die praktizierte Demokratie im Kaiserreich. Bernd Sösemann, Rom im April 2009

Danksagung

Zusätzlich zu all den Kollegen, deren Hilfe für die amerikanische Ausgabe so wichtig war, möchte ich noch denen danken, die die deutsche Übersetzung ermöglicht haben: Professor Bernd Sösemann, der dem Franz Steiner Verlag als erster die Übersetzung vorschlug; Frau Regine Sühring, Bibliothekarin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, die für mich auch die schwierigsten Quellenangaben der deutschen Zitate fand, Professor Gerhard A. Ritter und James Retallack, die mir viele Errata der amerikanischen Ausgabe zukommen ließen; Professor Andrej Makovits und Professor Thomas Kühne, die mir Zusammenhänge und Vorgänge übersetzten, die sich nur schwer von einer Kultur auf eine andere übertragen lassen; Albert Wu und Daniela Blei für ihre wissenschaftlichen Recherchen; Hans Magnus Enzensberger für seinen Titelvorschlag der deutschen Ausgabe von Practicing Democracy; Dr. Dagmar Deuring und Susanne Henkel für ihre aufmerksame Lektüre der Übersetzung und vor allem natürlich meiner Übersetzerin Sibylle Hirschfeld, deren Sorgfalt auch die Überprüfung jeder einzelnen Fußnote beinhaltete und die dieses Buch vor vielen Fehlern bewahrte.

Danksagung (Originalausgabe)

Dieses Buch verdankt zahlreichen Menschen über eine lange Zeit hinweg derart viel, dass die Freude, ihnen allen zu danken, ein wenig durch die Sorge getrübt wird, dass ich jemanden vergessen haben könnte. Mein Dank gilt zuallererst dem National Endowment for the Humanities für ein Sommerstipendium sowie die weitere finanzielle Förderung während eines vollen akademischen Jahres, dem Swarthmore College und der University of California zu Berkeley für ihre Unterstützung meiner Forschungen; ferner Stephen Lehman, der jetzt an der Bibliothek der University of Pennsylvania arbeitet, den Mitarbeitern der Staatsbibliotheken in Berlin und München, Gesine Bottomley vom Wissenschaftskolleg und Eleanore Liedtke von der Bibliothek der Theologisch-Pädagogischen Akademie in Berlin, Gotthard Klein, dem Direktor des Diözesanarchivs Berlin, und insbesondere den Archivaren des Bundesarchivs an ihren früheren Standorten in Potsdam und Merseburg, die mir gestatteten, ihre Sammlungen selbst dann noch zu benutzen, als sie bereits damit beschäftigt waren, diese für den Umzug vorzubereiten; Dr. Andreas Daum vom Deutschen Historischen Institut in Washington, der diese Akten erneut für mich aufspürte, nachdem sie an den neuen Sitz des Bundesarchivs in Lichterfelde und an das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz verbracht worden waren, sowie den Mitarbeitern dieser Einrichtungen, die mir halfen, die neuen Signaturen herauszufinden. Ich danke dem Dietz-Verlag in Berlin für die Erlaubnis, die Karten der Abbildungen 5 und 6 abzudrucken, und dem Institute of Latin American Studies an der University of London, meinen Aufsatz „Clerical Election Influence and Communal Solidarity. Catholic Political Culture in the German Empire, 1871–

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Dank (Originalausgabe)

1914, in: Elections Before Democracy. The History of Elections in Europe and Latin America“, London 1996, hrsg. von Eduardo Posada-Carbó, teilweise erneut abzudrucken. Besonderen Dank schulde ich Jonathan Sperber, der mir die Fahnenabzüge seines eigenen Buches über Wahlen zusandte, Helmut Walser Smith, der mir großzügig seine Kopien des Materials aus dem Generallandesarchiv in Karlsruhe und dem Landesarchiv in Koblenz zur Nutzung anbot, und Dr. Josef Hamacher in Haselünne, bei dem ich Tee und Zuspruch bekam, und der mir seine umfangreiche Dokumentensammlung aus dem Niedersächsischen Staatsarchiv Osnabrück, Kopien von Windhorst-Briefen, die sich jetzt in Privatbesitz befinden, sowie Kopien seiner eigenen Forschungen zur Verfügung stellte. Für bibliographische Hinweise und sonstige Hilfe danke ich Benjamin Lazier, Michael Printy, Daniel K. Rolde, Julia Schneeringer und Jonathan Sheehan. Gerhard A. Ritter äußerte deutliche Kritik an einer früheren Konzeption dieses Buchs. Hans- Ulrich Wehler bemühte sich, mich auf dem Laufenden zu halten, indem er mir neuere Arbeiten aus der Bundesrepublik zusandte. Kenneth D. Barkin, Henry A. Turner und Vernon Lidtke lasen das gesamte Manuskript und gaben wichtige Anregungen. All die Jahre über, in denen ich an diesem Buch schrieb, haben Josef und Ruth Becker mich mit ihrer Freundschaft und mit unablässiger Unterstützung begleitet. Schließlich bin ich vier Menschen zu ganz besonderem Dank verpflichtet: Lisa Fetheringill Swartout und Chad Bryant in Berkeley, deren Intelligenz und Spürsinn scheinbar aussichtslose Probleme lösten und dieses Buch davor bewahrten, ein weiteres Jahrzehnt zu beanspruchen, Marcus Kreuzer von der Villanova University, der mehrere Kapitel gründlich durchforstete, und dessen brieflichen Lektionen ich das wenige verdanke, was ich von der Politikwissenschaft verstehe, sowie meinem Mann James J. Sheehan von der Stanford University, der sich viele Male einen Weg durch das Dickicht meiner Forschungen bahnte und dabei stets den roten Faden fand.

Anmerkung zur Lektüre

»Liberal« mit kleinem »l« bezeichnet sowohl die politische Überzeugung, als auch liberale Parteien im Allgemeinen sowie einzelne Kandidaten, für die eine genaue Parteizugehörigkeit unmöglich festzustellen ist. »Liberale«, groß geschrieben, steht als Kurzform für die Nationalliberalen resp. die Nationalliberale Partei (1867–1918). »Linksliberale« bezieht sich auf die folgenden Parteien, einzeln oder kollektiv: die Süddeutsche Volkspartei (1848–1910); die Deutsche Fortschrittspartei (1861–1884), die Secession der Nationalliberalen – später in Liberale Vereinigung umbenannt (1880–1884), die Deutsche Freisinnige Partei ( auch Freisinnige oder Freisinn genannt, die im März 1884 aus einer Union der Deutschen Fortschrittspartei und der Liberalen Vereinigung hervorging und bis 1893 bestand), die Freisinnige Volkspartei (die Anhänger Eugen Richters: 1893–1910), die Freisinnige Vereinigung (1893–1910), sowie die Fortschrittliche Volkspartei (1910–1919). »Konservative« groß geschrieben bezieht sich auf die Deutsch-Konservative Partei (1876–1918); klein geschrieben schließt es die Reichspartei ein, die hier bei ihrem gebräuchlicheren preußischen Namen, die freikonservative Partei (1866–1918), genannt wird, oder steht für die politische Überzeugung im Allgemeinen. »Antisemiten«/»antisemitisch« bezieht sich, falls nichts anderes vermerkt ist, auf die verschiedenen antisemitischen Parteien. »Sozialisten«/»sozialistisch« und »Sozialdemokraten«/»sozialdemokratisch« benutze ich austauschbar, aber SPD nur nach 1891, als dies zum offiziellen Parteinamen wurde.

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Anmerkung zur Lektüre

Um einer Verwechslung mit ihrer Position im politischen Spektrum vorzubeugen, nenne ich die Zentrumspartei (ab 1870) bei ihrem damaligen Namen: »Zentrum«. »Provinz Sachsen« und »Provinz Hessen« bezeichnen preußische Provinzen im Gegensatz zum Königreich Sachsen und dem Großherzogtum Hessen, die eigene Bundesstaaten waren. »Hessen« bezieht sich auf beide Gebiete Hessens. Um Platz zu sparen, enthalten Titel in den Fußnoten, die auch in der Bibliographie erscheinen, nur das erste Nomen.

Verzeichnis der Abkürzungen

Im Plural und in sämtlichen Deklinationsformen bleiben die Abkürzungen unverändert. AA AnlDR APSR BAB-L BAK BAT BB BdL BK Bl. BR BrZ BT CEH CV DA Dep. DFP DGZ DN DNJ DS DZJ EL

Auswärtiges Amt Anlageband des Deutschen Reichstags American Political Science Review Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde Bundesarchiv Koblenz Bistumsarchiv Trier Bauernbund Bund der Landwirte Bonifacius-Kalender Blatt Bundesrat Breslauer Zeitung Berliner Tageblatt Central European History Centralverband deutscher Industrieller Deutsches Adelsblatt Depositum Deutsche Fortschrittspartei Deutsche Gemeindezeitung Dresdner Nachrichten Das Neue Jahrhundert Drucksache Das Zwanzigste Jahrhundert Elsaß-Lothringen

26

Verzeichnis der Abkürzungen

Els. F Frhr. FK FrankZ FrVP FrZ FtVp GA Geh. RR GG GLA GSR GStA PK GW HA HJ HVZ HZ HZtg IM JIH K KölnZ KrZ KVb KVZ LBIY LHAK LL LP LR LRA LT LV MdI MK ND NDB NL OBM OP

Elsaß-Partei vor März 1884: Fortschrittspartei, März 1884–Juni 1893: Freisinn oder Freisinnige Partei Freiherr Freie Konservative (Reichspartei) Frankfurter Zeitung Freisinnige Volkspartei Freisinnige Zeitung Fortschrittliche Volkspartei Görlitzer Anzeiger Geheimer Regierungsrat Geschichte und Gesellschaft Generalarchiv Karlsruhe German Studies Review Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Bismarck: Die gesammelten Werke Hauptabteilung Historical Journal Hagener Volkszeitung Historische Zeitschrift Hallische Zeitung Innenminister Journal of Interdisciplinary History Konservative, Konservative Partei, Deutschkonservative Partei Kölnische Zeitung Kreuz-Zeitung Katholischer Volksbote Kölnische Volkszeitung Leo Baeck Institute Yearbook Landeshauptarchiv Koblenz Linksliberale (als Oberbegriff gebraucht) Legislaturperiode Landrat Landratsamt (Preußischer) Landtag Liberale Vereinigung Innenministerium Märkisches Kirchenblatt Nationaldemokraten (radikale polnische Nationalisten) Norddeutscher Bund nationalliberal, Nationalliberale Oberbürgermeister Oberpräsident

Verzeichnis der Abkürzungen

ORR o.S. o.T. P PVB RdI RefP Reg.-Bez. Rep. RJA RKA RP RR RT SaaleZ SAO SBDR SBHA SBNDR SchlZ S-H SD SM SS SSdI SVZ TLS US NA VossZ VP VS W WPK Z Ztg

Oberregierungsrat ohne Seitenangabe ohne Titel Polenpartei Preußisches Verwaltungsblatt Reichsamt des Innern Reformpartei (antisemitisch) Regierungsbezirk Repositur Reichsjustizamt Reichskanzleramt Regierungspräsident Regierungsrat Reichstag Saale-Zeitung Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück Stenographische Berichte des deutschen Reichstages Stenographische Berichte des Hauses der Abgeordneten Stenographische Berichte des Norddeutschen Reichstags Schlesische Zeitung Schleswig-Holstein Sozialdemokrat(en), sozialdemokratisch, bis 1891: Sozialist(en), sozialistisch Staatsministerium, vor einem Namen: Staatsminister Staatssekretär Staatssekretär des Innern Schlesische Volkszeitung The Times Literary Supplement US National Archives, Washington D.C. Vossische Zeitung Volkspartei Victorian Studies Welfenpartei Wahlprüfungskommission Zentrum Zeitung

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Teil 1: Der Rahmen

Kapitel 1: Einführung

Many of the current theories about democracy seem to imply that to promote democracy you must first foster democrats. … Instead, we should allow for the possibility that circumstances may force, trick, lure, or cajole non-democrats into democratic behavior and that their beliefs may adjust in due course by some process of rationalization or adaptation.* Dankwart Rustow, 1970

Im Jahr 1882 erhielt der Bundesrat des Deutschen Reiches den Brief eines sechzigjährigen Lehrers, der darum bat, das allgemeine Wahlrecht abzuschaffen. Franz Pieczonka aus Mikorzyn in Posen erinnerte darin an die Zeit vor 1848, als seine bäuerlichen Nachbarn nichts von Parlamenten wussten, nicht von religiösen und ethnischen Differenzen beeinflusst wurden und daher in Frieden mit ihren Mitmenschen lebten. Die Einführung parlamentarischer Institutionen habe diese Ruhe völlig zerstört. Verfeindete Parteien rührten nun gegenseitigen Hass in der ländlichen Bevölkerung auf, und wenn der Krieg der Worte, der jetzt ein Teil jeder Wahl war, jemals in einen Krieg von Blut und Eisen übergehen sollte – dann gnade uns Gott! Pieczonka bat den »Hohen Bundesrath«, es nicht als Anmaßung anzusehen, dass er eine Änderung des deutschen Wahlrechts vorschlug. Statt des allgemeinen Wahlrechts sollte der Bundesrat lieber eine Lotterie einführen. Die Auswahl der Abgeordneten wäre nicht weniger demokratisch, beharrte Pieczonka – vielleicht erinnerte er sich an das Argument des Aristoteles –, da Lotterien und Wahlen vergleichbar seien: »Bei Lotterien spielen ja auch allerhand Stände und Menschen; sie gewinnen oder verlieren; aber« – und darum ging es ihm – »sie befehden und hassen sich gegenseitig nicht!«1 *

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Viele der gegenwärtigen Theorien über die Demokratie lassen darauf schließen, dass man, um die Demokratie zu fördern, zuerst Demokraten heranziehen muss. … Stattdessen sollten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Umstände Nicht-Demokraten zu demokratischem Verhalten zwingen, täuschen, verlocken oder drängen, und dass ihre Ansichten sich mit der Zeit durch einen Prozess der Rationalisierung oder Anpassung angleichen können. 8. Jan. 1882, BAB-L R1501/14693, Bl. 110.

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Teil 1: Der Rahmen

Der Rat des Schulmeisters von 1882 – kurz nachdem die nationalen Wahlen der Regierung eine katastrophale Niederlage bereitet hatten – war nur einer der vielen unerbetenen Briefe, die über die Jahre hinweg auf den Schreibtischen deutscher Staatsmänner landeten. Verzweifelt, unterwürfig, naiv und geistreich – wieder und wieder variierten sie die gleichen Themen: wie man polarisierenden Wettbewerb mit Gemeinschaft vereinbaren könne, Freiheit mit Autorität, Repräsentation der Vielen mit einer Stimme für die Wenigen – kurz, wie man das bewältigen könne, was der Politikwissenschaftler Dankwart Rustow »den Übergang zur Demokratie« nennt. Die Anfänge dieses Prozesses – in dem die Deutschen für ein Debüt übten, das noch nicht angekündigt worden war – sind das Thema dieses Buches.

Demokratie und Reichstagswahl Die Demokratie und ihre Gefahren waren das Thema des 19. Jahrhunderts. Spätestens seit den 1830er Jahren sorgte es für Agitation, Spekulation und Debatten. Alexis de Tocquevilles zweibändige Studie La Démocratie en Amérique von 1835 und 1840, Frankreichs Februarrevolution von 1848 und Großbritanniens Reformgesetze (Reform Bills) von 1832 und 1867 sind alle auf ihre Weise Meilensteine für dieses Anliegen. Sogar radikale Denker wie John Stuart Mill hegten schwerwiegende Bedenken wegen der »extremen Untauglichkeit der arbeitenden Klassen … für jegliche Staatsform, die beträchtliche Ansprüche an ihren Intellekt oder ihre Tugend stellen würde«, und in Großbritannien waren Erweiterungen des Wahlrechts nur nach massenhaften Protesten, Kabinettsumstellungen und politischen Krisen zustande gekommen, die sich insgesamt über zwei Jahre hingezogen hatten. Obwohl »mehr als ein Mitglied« des Kabinetts von Benjamin Disraeli 1867 »… einen grässlichen Sonntag mit Rechnen verbrachte«, wie der Historiker Asa Briggs es ausdrückte, »um genaue Kalkulationen anzustellen über die Bedeutung der Regierungsvorschläge« für die zukünftige Zusammensetzung des Unterhauses, wurde das Zweite Reformgesetz von seinen Gegnern als »Revolution« verunglimpft, und sogar sein Mitinitiator Lord Derby konzedierte, dass es ein »Sprung ins Ungewisse« sei.2 Wie anders sah es im Norddeutschen Bund aus! Kein Volksaufruhr ging Bismarcks weitaus gewagterem Schritt zum allgemeinen Männerwahlrecht im gleichen Jahr voraus, und seine möglichen Auswirkungen entzündeten keine ausgedehnte öffentliche Debatte. Der Kontrast sollte uns nicht überraschen. Stets hatte das Parlament die Bühne des britischen nationalen Dramas abgegeben. Wer dabei mitspielen durfte und wer nicht, war eine Frage von größter Tragweite. Aber in den Jahren, in denen der Chartismus Demokratie in England zu einem geläufigen Begriff werden ließ, wusste die deutsche Landbevöl2

Briggs: People, S. 272, zitiert John Stuart Mill: Representative Government, 1861, S. 247. Lord Cranborn (»revolution«) und Lord Derby sind zitiert in Robert Blake: Disraeli, New York 1967, S. 474 f. Im Gegensatz dazu: Cowling: 1867, der jede Verbindung zwischen der Reform und einer »Revolution« zurückweist.

Kapitel 1: Einführung

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kerung »nichts von Parlament« – wie Schulmeister Pieczonka, der Befürworter der Lotterie, anmerkte. Öffentliche Angelegenheiten waren zwischen Zünften, Städten und den Ständen einer Vielzahl von Provinzen und Staaten aufgeteilt. Vor 1848 hatte es landesweite beratende Versammlungen nur in Baden, Bayern, Hessen, Sachsen und Württemberg gegeben. Andernorts in Deutschland fehlten selbst diese bescheidenen Gremien. Das Jahr 1848 hatte tatsächlich einen Einschnitt bedeutet: national mit dem ruhmreichen demokratischen Parlament in Frankfurt, örtlich, indem sich die Stände selbst in mehr oder weniger öffentliche Legislaturen reformierten, und indem andernorts neue Parlamente entstanden. Aber der Ruhm war von kurzer Dauer geblieben. Die Frankfurter Versammlung mit ihrem demokratischen Wahlrecht löste sich 1849 auf, und obwohl die staatlichen Gesetzgebungsorgane Bestand hatten, wurden diese im folgenden Jahrzehnt von den wieder erstarkten Monarchien entmachtet. In den 1860er Jahren, während militärische und politische Erdbeben Europa erschütterten, gab es andere, dringendere Anwärter auf die öffentliche Wahrnehmung. Aus allen diesen Gründen blieb die Reaktion seltsam neutral, als die preußische Regierung 1867 dem sich konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bunds einen Verfassungsartikel vorlegte, der das allgemeine Männerwahlrecht festschrieb. Nur drei Abgeordnete außerhalb der Verfassungskommission unterstützten ihn ausdrücklich, und lediglich zwei machten sich die Mühe, sich ihm geradeheraus entgegenzustellen.3 Die Menschen erwarteten keine großen Veränderungen. Schließlich war Bismarck der Befürworter des Artikels. Aber was hatte der deutsche Kanzler im Sinn? Wir werden im letzten Kapitel zu dieser Frage zurückkehren. Im Moment genügt es, dass seine schlechten Erfahrungen mit Wahlen während des preußischen Verfassungskonflikts bei Bismarck keine Zuneigung für ein vermögensabhängiges Wahlrecht hinterlassen hatten. Überzeugt davon, dass moderne Prinzipien in der öffentlichen Meinung zunehmend populärer würden, jedoch zuversichtlich, dass die Massen immer noch durch »monarchische Bedürfnisse und Instinkte« bewegt würden, nahm Bismarck an, dass das einfache Männerwahlrecht sich in der Tat als für das »konservative Princip« vorteilhafter erweisen würde als jedes Wahlrecht, das die Wohlhabenden bevorzugte.4 Die erfreulichen Resultate seiner ersten Bewährungsprobe bei den Wahlen von 1867 schienen zu zeigen, dass das Wagnis sich gelohnt hatte. Es brauchte einen pommerschen Adligen, Alexander von Below – mit einem aus einer sechshundertjährigen Familientradition als Junker geschärften Sinn dafür, was konservativ sei und was nicht – den Fehler in Bismarcks Spekulation auf den Punkt zu bringen:»Unmöglich, dass wir vor jeder Wahl eine Schlacht von Königgrätz schlagen.«5

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Below: Wahlrecht, S. 2 ff.; G. Meyer: Wahlrecht, S. 239 f.; Hamerow: Origins, S. 105 ff. Bis. an SM, 23. Mai 1866, BAB-L R43/685, Bl. 13 f., 16v; diese Zeilen wurden zitiert von Finanzminister Bodelschwingh in seinem Widerspruch: ebd., Bl. 18; Preußens Antrag zur Reform des Bundes in: Dokumente, hrsg. v. E.-R. Huber, Bd. 2, S. 192. Below: Wahlrecht, S. 60.

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Teil 1: Der Rahmen

Ein direktes, gleiches und – für »jeden Deutschen«, der das Alter von 25 Jahren erreicht hatte – allgemeines Stimmrecht: dies war das revolutionäre Wahlrecht der Frankfurter Versammlung, das Bismarck in seinem Kampf gegen Österreich um die Vorherrschaft in Mitteleuropa an Preußens Fahne geheftet und anschließend in die Wahlgesetze des Norddeutschen Bundes sowie des Deutschen Reichs geschrieben hatte.6 Mit dieser demokratischen Breite war das Wahlrecht praktisch ein Novum in Europa. Obwohl »jeder Deutsche«, wie diese Worte damals verstanden wurden, Frauen nicht einschloss, kann Deutschlands demokratische Frühreife dennoch an den Zeitpunkten gemessen werden, zu denen andere europäische Staaten ein ähnlich breites Wahlrecht einführten: Spanien 1890, Norwegen 1906, Österreich und Finnland 1907, Schweden 1909, Italien 1912, Dänemark 1915, Island 1916, die Niederlande 1918.7 Nur Griechenland konnte seit 1844 und Frankreich (nach vorhergehenden Fehlschlägen) seit 1852 ein ähnlich umfassendes Wahlrecht wie Deutschland vorweisen.8 Die Vereinigten Staaten, denen üblicherweise nachgesagt wird, sie hätten die Schwelle zur Demokratie bereits in den 1830er Jahren überschritten, schlossen Menschen afrikanischer Abstammung in der Praxis selbst dann noch aus, als der Bürgerkrieg die Sklaverei längst abgeschafft hatte. Zwar gewährte der Fünfzehnte Verfassungszusatz, der nur ein Jahr vor Bismarcks Männerwahlrecht und Disraelis Second Reform Bill in Kraft trat, freigelassenen Sklaven das Stimmrecht. Aber bis zum Jahr 1903 hatten bereits die elf südlichen Staaten, wo die meisten Afroamerikaner lebten, ihnen praktisch das Wahlrecht wieder entzogen. Die Anzahl der Ausgeschlossenen war nicht gering. In sechs dieser Staaten war mehr als die Hälfte der Bevölkerung betroffen, nur in einem waren es weniger als 20 Prozent. Der Ausschluss hatte Bestand, bis die »Vorwahl nur für Weiße« (white primary) 1944 für unzulässig erklärt und 1965 das allgemeine Wahlrechtgesetz (Voting Rights Act) verabschiedet wurde.9 Bemerkenswert ist allerdings, dass die Maßnahmen, die eingeführt worden waren, um schwarze Amerikaner von den Wahlen auszuschließen, mit voller Absicht dazu dienten, einen großen 6

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Bismarcks Memo an das Preußische Ministerium, 23. Mai 1866, BAB-L R43/685, Bl. 13–16v. Hintergrund: Pollmann: Parlamentarismus, S. 73. Die Rolle des Wahlrechts im »nationalen« Projekt hebt hervor: Andreas Biefang: Modernität wider Willen. Bemerkungen zur Entstehung des demokratischen Wahlrechts des Kaiserreichs, in: Gestaltungskraft des Politischen, hrsg. v. Wolfram Pyta und Ludwig Richter, Berlin 1998, S. 239 ff. Das finnische Wahlrecht von 1906 sowie das dänische und das norwegische von 1909 schlossen Frauen ein, aber Dänemark und Norwegen machten noch Grundbesitz zur Voraussetzung: International Guide to Election Statistics, hrsg. v. S. Rokkan und J. Meyriat, Den Haag 1969, Bd. I. Przeworski u. Sprague: Stones, S. 36, nennen 1849 als Datum für Dänemarks Wahlrecht für Männer. E.-R. Huber: Verfassungsgeschichte, 1963, Bd. 3, S. 862 Anm. 8 nennt andere Daten für das Frauenwahlrecht. Frankreich: Charnay: Le Suffrage, S. 83 ff. Die Schweiz, deren Stimmrecht je nach Kanton variierte, bildet nur eine teilweise Ausnahme. Dass der Ausschluss von Frauen nicht automatisch durch die Grammatik des Wahlgesetzes vorgegeben war (»jeder Deutsche«), wird aus der Verwendung derselben Formulierung in Artikel 41 der Verfassung der Weimarer Republik deutlich: Schuster: Verfassungen, S. 179. Die preußische Gemeindeordnung von 1808, die unverheiratete Frauen zu Bürgern erklärte, hatte es als notwendig erachtet, »Bürger weiblichen Geschlechts« ausdrücklich von Wahlen auszuschließen. Abgedruckt in: Vogel u. a.: Wahlen, S. 318. Kousser: Shaping. Weniger pessimistisch: Pomper: Elections, S. 213 ff. Die Zahlen der afroamerikanischen Bevölkerung wurden ermittelt aus: Statistics of the Population of the United States Embracing the Tables of Race, Nationality, Sex, Selected Ages, and Occupations, Washington, D.C. 1900, S. 40 f.

Kapitel 1: Einführung

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Teil der armen Weißen ebenfalls außen vor zu lassen. Morgan Kousser schätzt, dass im Süden der Anteil der weißen Männer ohne Wahlrecht zwischen fast 25 Prozent in Virginia und fast 60 Prozent in Louisiana ausmachte. Im Norden, unterstreicht er, war auch eine große Zahl von Einwanderern ausgeschlossen.10 Großbritannien, dessen Kampf um Demokratie lange als sein Hauptthema des 19. Jahrhunderts gegolten hatte, erfuhr ebenfalls 1867 eine größere Ausweitung des Wahlrechts.11 Dieses Zweite Reformgesetz (Second Reform Bill) verdoppelte zwar die Zahl der Wahlberechtigten, war aber weit davon entfernt, den größten Teil der erwachsenen männlichen Bevölkerung innerhalb des Gebiets zu umfassen, das William Gladstone »den Gültigkeitsbereich der Verfassung« nannte.12 1884 dehnte das dritte und letzte der großen Reformgesetze des 19. Jahrhunderts das Wahlrecht noch weiter aus, und die Kommentatoren begannen, Großbritannien als Demokratie zu bezeichnen – sogar als »die demokratischste der europäischen Nationen«.13 Doch trotz der fortgesetzten Bemühungen der Liberalen, die britischen Wahlrechte auszuweiten – von denen es sieben gab, die nicht kodifiziert und nebeneinander gültig waren –, konnte selbst noch 1911 nur ein geschätzter Anteil von 59 Prozent aller männlichen Erwachsenen wählen. Pluralwahlrechte, die wiederholt vom House of Lords, dessen Mitgliedschaft erblich war, geschützt wurden, gewährten darüber hinaus 200.000 bis 600.000 wohlhabenden Männern bis zu dreißig (einige Kommentatoren behaupteten achtzig!) Extrastimmen. Noch 1910 wurden 78 Sitze der Konservativen der Tatsache zugeschrieben, dass einige Wähler mehr als eine Stimme abgeben konnten.14 Ein derart egalitäres Wahlrecht wie das deutsche wurde erst gegen Ende des Jahres 1918 eingeführt. Und selbst dieses war weniger demokratisch, denn es schloss nicht nur bis 1928 unverheiratete Frauen unter dreißig Jahren aus, die in Deutschland seit 1918 wählen durften, sondern eine Abgabe mehrerer Stimmen, nun allerdings begrenzt auf maximal zwei pro Kopf, war bis 1949 zulässig. Das Gleichheitsprinzip des nationalen Wahlrechts des Deutschen Reiches stand nicht nur im Gegensatz zu den Beschränkungen anderer Nationen, sondern zugleich auch in scharfem Kontrast zu den verschiedenen Regelungen zur Wahl der Abgeordneten für die Organe seiner Mitgliedstaaten. Bei den preußischen Landtagswahlen beispielsweise wurde das Steueraufkommen in jedem Bezirk gedrittelt und die Wähler nach ihrem Steuersatz in drei Klassen ein10 11

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Kousser: Shaping, bes. Kap. 2 und 3; Louisiana, S. 49, 60 f., 70 f.; Virginia S. 71. Diese Darstellung wurde für die Jahrzehnte zwischen 1832 und 1867 bereits 1953 fundamental in Frage gestellt durch Gash: Politics, und noch radikaler, in der Art von Habermas und Foucault, durch Vernon, der behauptet, dass »die englische Politik in dieser Zeit fortlaufend weniger demokratisch wurde …« Doch selbst er beschreibt die Debatte über den Diskurs über »öffentlichen Konstitutionalismus« als das wichtigste Narrativ des 19. Jahrhunderts in England: Politics, S. 9 f. (Zitate), 38 f., 107, 160, 320, 328 f., 338. Briggs: People, S. 226. Wegen der Voraussetzung von Grundbesitz oder Kapital ist die Zahl der in Frage kommenden Wähler nach dem Zweiten Reformgesetz (Second Reform Bill) unmöglich mit Sicherheit festzustellen. Seymour: Reform, S. 2 ff., 523 f.; Hermet u. a.: Elections, S. xii; O’Leary: Elimination, S. 2. Edward Porritt: Barriers Against Democracy in the British Electoral System, in: Political Science Quarterly 26/1, März 1911, S. 1 ff.; bes. 8; Blewett: Franchise, S. 31, 44 ff.

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Teil 1: Der Rahmen

geteilt, welche jeweils ein Drittel der Gesamtsteuern aufbrachten. Hier wurde strikt auf das Bibelwort geachtet, dass die Letzten die Ersten sein werden. Die Masse der kleinen Steuerzahler in der III. Klasse kam sprichwörtlich unter den Argusaugen der ersten beiden zur Wahl, dann folgten die lockeren Reihen der II. Klasse; und schließlich, »in splendid isolation«, die wenigen Reichen der I. Klasse. Innerhalb jeder Klasse wurde diese Ordnung umgekehrt. Der am höchsten Besteuerte wurde aufgerufen, seine Wahl zu verkünden, und die übrigen folgten nacheinander, jeder nach seinem Rang als Steuerzahler, bis dem geringsten der Wahlbrüder Rechnung getragen worden war. So waren die Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung des Preußischen Staates ein genaues Abbild der sozialen Hierarchie innerhalb jedes Bezirks. Und dies war nur die erste Stufe eines zweistufigen Prozesses, der anschließend verlangte, dass die Gewählten aus jeder Klasse die Abgeordneten ihres jeweiligen Bezirks wählten. Dieses System bestand bis zum Fall der Monarchie 1918. Kein Wunder, dass so viele Preußen sich diesem besonderen Ritual der Abstimmung entzogen. Der Wahlkodex für den Reichstag jedoch stellte jeden männlichen Erwachsenen, der kein verurteilter Straftäter, nicht bankrott, Soldat oder Seemann im aktiven Dienst war, nicht unter Amtsvormundschaft stand oder der öffentlichen Fürsorge zur Last fiel, auf eine Stufe mit dem blaublütigsten Baron und dem mächtigsten Fabrikbesitzer im Land.15 Die Reichstagswahl ignorierte nicht nur jegliche Hierarchie, sondern wirkte auch radikal individualisierend. Obwohl Verfassungsexperten darauf bestanden, »das Wahlrecht sei kein in die Willkür des Einzelnen gestelltes subjektives Recht, sondern ein ihm von der Gesamtheit anvertrautes, verantwortliches öffentliches Amt«, bedeuteten direkte Wahlen mit geheimer Stimmabgabe, dass die politische Entscheidung einer Person in der Tat ihre Privatsache war.16 Dies war eine revolutionäre Auffassung. Das Gemeinwohl den Entscheidungen von Individuen zu überlassen, Staatsangelegenheiten in den Privatbereich zu verschieben, stellte implizit die Werte auf den Kopf, die die Deutschen gewohnt waren, der öffentlichen und der Privatsphäre zuzuordnen. Es kehrte auch die Zielrichtung des legitimen politischen Einflusses um. Öffentliche Stimmabgabe, die in vielen Ländern wie auch bei den meisten Landtagswahlen in Deutschland die Regel war, bedeutete, dass der Wahlakt eine öffentliche Verantwortung mit sich brachte, für die jeder Wähler von den anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft zur Rechenschaft gezogen werden konnte bzw. sollte.17 Geheimhaltung, andererseits, ließ zumindest auf potentielle Interessenunterschiede zwischen einem Menschen und seinen Nachbarn schließen. Was geschah, als dieses egalitäre, 15

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Obwohl in der Verfassung von 1871 die Gleichheit nicht beim Namen genannt wurde, wurde sie doch durch die Zuteilung von einem Abgeordneten pro 100.000 Einwohner hergestellt. Merkt: Einteilung, Spalte 59; Naumann: Ungleiches Wahlrecht, S. 580 ff. Den Ausschluss des Militärs erklärt Tzschoppe: Geschichte, S. 47 f., 52. Französische Soldaten waren bis 1944/45 ausgeschlossen. Huber; Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 864. Der öffentliche Aspekt des Wahlrechts wurde von so unterschiedlichen Theoretikern wie Laband, Jellinek und Hatschek behandelt. Hatschek: Kommentar, S.184 f. Bismarcks Ansicht dargestellt von Johannes Penzler: Fürst Bismarck nach seiner Entlassung. Leben und Politik des Fürsten seit seinem Scheiden aus dem Amte auf Grund aller authentischen Kundgebungen, 4 Bde., Leipzig 1897, Bd. 4, S. 344; ähnlich Gash: Politics, S. 21, und Vernon: Politics, S. 138.

Kapitel 1: Einführung

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individualistische Wahlrecht unvermittelt in einer Welt eingeführt wurde, deren Wertvorstellungen und Strukturen noch immer sowohl hierarchisch als auch gemeinschaftlich waren? Dies ist die Frage, der die vorliegende Studie nachgehen wird.

War das Wahlrecht von Bedeutung? Die Historiker haben die revolutionäre Bedeutung von Bismarcks Wahlrecht nicht so ernst genommen wie der Schulmeister Pieczonka oder der Junker Below. Das Stimmrecht für die Massen wird schließlich mit Demokratie assoziiert, und Demokratie ist ein Wort, auf das man in Beschreibungen des Deutschen Kaiserreichs selten stößt. In den vergangenen fünfzig Jahren haben Lehrer »Keine Erfahrung mit Demokratie« an die Tafel geschrieben, gleich unter »Versailles«, »Inflation«, »Depression« und »Artikel 48«, wenn sie die Gründe für den Untergang der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland 1933 auflisteten. Deutschland war vor dem Ersten Weltkrieg ganz sicher keine Demokratie. Aber kann es stimmen, dass die Deutschen aus dem Kaiserreich »ohne Erfahrung« mit demokratischen Gepflogenheiten hervorgingen?18 Von 1871 bis 1893 fanden nationale Wahlen alle drei Jahre statt. Nur die skandinavischen Staaten wählten ebenfalls derart häufig, in Großbritannien waren sieben Jahre die gesetzlich festgelegte Norm.19 Im Gegensatz zu Großbritannien, wo noch 1910 annähernd 25 Prozent aller Unterhaussitze ohne Gegenkandidaten vergeben wurden, blieben 1871 im Reichstag nur acht Sitze unangefochten, danach praktisch überhaupt keine mehr. Schon 1893 stritten in der Regel vier Kandidaten um einen Sitz.20 Selbst wenn die soziale bzw. ethnische Zusammensetzung der Be18

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William Carrs populäres Lehrbuch: A History of Germany, London, 4. Aufl. 1991, das die schlimmsten Klischees vermeidet, charakterisiert dennoch Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs als »Autokratie« (S. 81). Carr schließt seine Besprechung des Kaiserreichs (S. 45) mit einem Zitat Max Webers von 1917: »Bismarck … hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung … eine Nation, daran gewöhnt, unter der Firma der ›monarchischen Regierung‹ fatalistisch über sich ergehen zu lassen, was man über sie beschloß, ohne Kritik an der politischen Qualifikation derjenigen, welche sich nun auf BISMARCKS leergelassenen Sessel niederließen …« Weber: Parlament, S. 307. Siehe Winkler über Deutschlands »Sonderweg«: »… kann kein Zweifel mehr daran bestehen, daß die Abweichung Deutschlands von dem säkularen und normativen Prozeß der Demokratisierung mit den Grund zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelegt hat.« Bürgerliche Emanzipation und nationale Einigung. Zur Entstehung des Nationalliberalismus in Preußen, in: Helmut Böhme: Probleme der Reichsgründungszeit 1848–1879, Berlin 1968, S. 226–242, 237. Ders.: Abweichung, 1998. Bamberger: Sitzungsperiode, 1871, S. 162; R. v. Benningsen (NL) SBDR 1. Febr. 1888, S. 668. 1888 stimmte eine regierungsfreundliche Mehrheit dafür, die Legislaturperiode auf fünf Jahre auszudehnen, aber außerplanmäßige Reichstagsauflösungen sorgten dafür, dass diese Regelung erst 1893 in Kraft trat. Fenske: Wahlrecht, S. 108 ff. Zwischen 1884 und 1914 blieben 1/4 bis 1/3 der Unterhaussitze oft unangefochten. Gwyn: Democracy, S. 29–31; Hermet u. a.: Elections, S. viii. Die Berechnungen für 1871 sind meine eigenen. Ich sage, dass es »praktisch« nach 1871 keine unumstrittenen Bezirke mehr gab, weil die Siege von W. Wehrenpfennig in den 1870er Jahren, von L. Windthorst 1884 und 1890 sowie von Graf J. v. Mirbach 1887, obwohl ungleichgewichtig, nicht einstimmig waren. Mirbach beispielsweise bekam mehr als 10.000 Stimmen im Reg.-Bez. Gumbinnen, Wahlbezirk 7, während 69 Stimmen an den Kaiser gingen, 31 an einen ungenannten LL, und 69 an andere. Es mag ein paar ähnliche Fälle geben, von denen mir nichts bekannt ist. Andererseits blieben im Preußischen Landtag rund 40 Prozent aller Sitze unangefochten. Kühne: »Elezioni«, S. 68.

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Teil 1: Der Rahmen

völkerung in einem Bezirk einen Sieg ausschloss – etwa für die Kandidaten des katholischen Zentrums in evangelischen Bezirken, für evangelische Kandidaten in katholischen Bezirken, für polnische Kandidaten in deutschen Bezirken und für sozialdemokratische Kandidaten in vielen, ganz unterschiedlichen Bezirken – pflegte die jeweilige Minderheitspartei mit zunehmender Tendenz zumindest mit einem Kandidaten Flagge zu zeigen, der die Stimmenzahl des Siegers somit niedrig halten konnte. Die Aussichtslosigkeit seiner Bewerbung bedeutete nicht, dass dieser »Zählkandidat« seine Wahlkandidatur nur als nominellen Akt betrachtete.21 Das politische Klima wurde immer wieder durch die Wahlkämpfe für die Landtage angeheizt, die zwischen den Reichstagswahlen stattfanden und die trotz ihrer Einschränkungen im Wahlrecht viele der Themen und einen großen Teil der Erregung der Reichstagskampagnen widerspiegelten. Und viermal – 1878, 1887, 1893 und 1907 – wurden die durch die Länge der Legislaturperioden bestimmten regulären Rhythmen unterbrochen, weil die Regierungen, unzufrieden mit einem Reichstag, der ihre Gesetzgebung vereitelte, ihr jeweiliges Anliegen dem Volk zur Abstimmung vorlegten. Kurz: ein in Bayern lebender Deutscher erlebte seit 1870 alle zwei Jahre eine Reichstags- oder Landtagswahl, ein Preuße alle einundzwanzig Monate und ein Sachse sogar alle fünfzehn Monate.22 Zugegeben, es waren unzweifelhaft manche Leute unbeeindruckt von einer Übung, die, wie egalitär sie auch sein mochte, das Alltagsleben nur kurz unterbrechen konnte. Aber einige Städte und sogar Regionen wurden derartig politisiert, dass ihre Geschichtsschreiber unabhängig voneinander konstatierten, diese hätten sich selbst außerhalb von Wahljahren in einem »permanenten Wahlkampf« befunden.23 Ist das von Belang? Skepsis bezüglich der Bedeutung dieser Wahlen hegen nicht nur jene, die in einer teleologischen Interpretation befangen sind, die in das Jahr 1933 mündet. Die Grenzen des Einflusses des Reichstags, besonders in der Außenpolitik, die großen Machtbereiche, die den – weniger demokratischen – Mitgliedstaaten vorbehalten waren, die Vorrechte der Krone, der Armee und der Bürokratie, die traditionelle deutsche Ehrerbietung Autoritäten gegenüber – dies alles ist jedem Studenten vergleichender Politikforschung bekannt. Unter diesen Voraussetzungen haben sowohl die liberalen Zeitgenossen als auch spätere Historiker seit jeher gezögert, dem Wahlrecht zu große Bedeutung zuzumessen, dessen »bonapartistischen« Zweck sie offensichtlich durchschauten. Für andere beinhaltete das Wahlrecht nur die Entwicklung hin zu einem »politischen Massenmarkt«. Dieser Ausdruck wurde zu einer Zeit geprägt, als die 21

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Feldmarschall Helmut v. Moltke hielt es daher für nötig, seine Weigerung, sich gegen den unschlagbaren Windthorst vom Z aufstellen zu lassen, mit seiner Loyalität gegenüber Memel-Heydekrug zu begründen. Zeitungsausschnitt, Lingen, wahrscheinlich Lingen’sches Wochenblatt: Aus der Provinz, 30. Jan. 1887. SAO Dep. 62b. Errechnet aus Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 140, 155, 172. Zu den Übertragungseffekten zwischen den Wahlen auf unterschiedlichen Ebenen Suval: Politics, 28 f., 237 f., 240; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 225 ff., 230. Steil, Wahlen, S. 109 f.; R. Kaiser: Strömungen, S. 292; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 547; Sperber: Voters, S. 167.

Kapitel 1: Einführung

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beiden Begriffe »Masse« und »Markt« abfälliger klangen, als dies heute der Fall ist.24 Die politischen Parteien in Deutschland, so erfahren wir, hätten ihren Erfolg häufig »Demagogie« verdankt – was definitiv nicht das gleiche wie Demokratie ist.25 Renommierte Wissenschaftler vertraten die These von Deutschlands trauriger »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« – industrieller Frühreife gekoppelt mit »verspäteter« politischer Entwicklung. Der Niedergang des deutschen Liberalismus, der mit dem Niedergang der liberalen Parteien gleichgesetzt wird, und sogar die fortgesetzte Stärke autoritärer Institutionen sind währenddessen mit einer verfrühten Einführung des allgemeinen Wahlrechts erklärt worden.26 Mitunter bekommt man den Eindruck, als sei das allgemeine Männerwahlrecht nur eines von vielen Hindernissen auf dem Weg zur Demokratie in Deutschland gewesen.27 Häufiger noch anzutreffen ist die Überzeugung, dass das Wahlrecht weithin belanglos war, weil der Reichstag nur das Feigenblatt des Absolutismus war, wie Wilhelm Liebknecht es bekanntlich ausgedrückt hat.28 Historiker, die das glauben, sind verständlicherweise weniger an dem Feigenblatt interessiert als an dem, was sie darunter vermuten. Meiner Ansicht nach ist die Reduzierung des Reichstags auf »parlamentarische Zusätze« irreführend.29 Als Gesetzgebungsorgan war der Reichstag einflussreich. Er konnte jederzeit Gesetzesvorlagen der Regierung zu Fall bringen, und das tat er auch. Und entgegen einer Mär, die immer noch im Umlauf ist,30 konnte er tatsächlich Gesetze initiieren, wie ein Blick auf Artikel 23 der Verfassung und die Geschichte der nationalen Gesetzgebung vom Jesuitengesetz 1872 bis zur Lex Bassermann-Erzberger 1913 leicht erkennen lässt.31 Es stimmt allerdings, dass die Legislative weder die Regierung wählte noch sie absetzen konnte. Sie besaß keine organische Verbindung zur Exekutive, deren Funktion es war, der Krone zu dienen. Diese Aufgabe war von Natur aus inkompatibel mit einem Sitz und einer Stimme im Parlament, dessen Aufgabe es war, das Volk zu vertreten – obwohl Minister jederzeit im Reichstag sprechen durften und dies auch taten. Das deutsche System basierte wie das amerikanische auf einer Gewaltenteilung oder, wie die Deutschen es nannten, 24

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Geprägt durch Rosenberg: Depression, S. 137. Der Begriff reflektierte ein Misstrauen der Demokratie gegenüber, das – verständlicherweise – unter Rosenbergs Zeitgenossen weit verbreitet war. Inzwischen ist er Bestandteil der deutschen Historiographie. Steinbach beruft sich auf den Begriff, während er gleichzeitig die Bedeutung von Wahlen gegen Kritiker wie Claus Offe verteidigt: Zähmung, Bd. 1, S. 55 f. Blackbourn: Class, S. 12, 60, 119, 140, 153, 157, 181, 196, 211, 226, 229 f., 236 ff.; ders.: The Politics of Demagogy in Imperial Germany, in ders.: Populists and Patricians. Essays in Modern German History, London 1987, S. 217 ff. White: Party, S. 201 ff.; W. J. Mommsen: Herrschaftskompromiß, S 214. Z. B. Molt nennt »negative Einflüsse« und »reaktionäre Züge« in: Reichstag, S. 330; ähnlich Eckart Kehr: Zur Genesis des Königlich Preußischen Reserveoffiziers, in ders.: Primat, S. 53 ff. Ausnahme: Suval: Politics, S. 10. SBNDR 17. Okt. 1867, S. 452. Berghahn: Germany, S. 25 f., und Wehler: Kaiserreich, 96, zitieren zustimmend die von Liebknecht stammende Charakterisierung des politischen Systems als »eine fürstliche Versicherungsanstalt gegen die Demokratie«. SBNDR, 9. Dez. 1870, S. 154. Der Satz stammt von W. J. Mommsen, der unentschieden ist, doch das deutsche System mit dem russischen Zarenreich vergleicht: Herrschaftskompromiß, S. 214. Z. B. Berghahn: Germany, S. 21; Sperber: Voters, S. 2. Schuster: Verfassungen, 1992, S. 145. Solche Gesetzesvorlagen wurden Initiativanträge genannt.

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auf einem »Dualismus«. Im Gegensatz zu ihrem amerikanischen Pendant jedoch war Deutschlands Exekutive nicht gewählt. Und wenn der exekutive Teil sich völlig frei von einer institutionellen Verbindung zum Wahlvolk bewegt, wie können Wahlen jene Bereitschaft erzwingen, auf den öffentlichen Willen zu reagieren, die eine repräsentative Regierung anstrebt? Der Geringschätzung des deutschen Wahlsystems liegt vielfach die Annahme zugrunde, dass wirkliche Demokratie auf unabhängigen Parlamenten beruht, die die Wünsche gewählter Mehrheiten in Politik umsetzen. Aber diese Annahme basiert auf dem sogenannten Westminster-Modell, das unter den Industriegesellschaften in seiner reinen Form nur in Neuseeland bestand – das es selbst im November 1993 änderte.32 In Wirklichkeit hat eine Vielzahl ganz gewöhnlicher institutioneller Vereinbarungen genau so effektiv wie der preußische »Kryptoabsolutismus« bewirkt, dass gewählten Mehrheiten die Ausübung unverfälschter Souveränität verwehrt wurde. Diese schließt geschriebene Verfassungen ein, die die Hände der Mehrheit binden, auf Lebenszeit ernannte – nicht gewählte – Oberste Gerichte, die diese Mehrheiten wiederum überstimmen, den Föderalismus, in dem Mehrheitsbeschlüsse des einen Gremiums die Mehrheitsbeschlüsse eines anderen ungültig machen, und Vielparteiensysteme, die Kompromisse erfordern, die nie eine Mehrheit in einem Referendum gewinnen können – um nur einige dieser Vereinbarungen zu nennen. Da Wahlen keine unzweideutigen Wahlmöglichkeiten politischer Entscheidungsoptionen bieten, können selbst Wähler auf der gewinnenden Seite sich selten der politischen »Ergebnisse« sicher sein, die sie sich wünschen. Andere Historiker sind vielleicht ebenso erstaunt wie ich zu lesen, »dass es tatsächlich eine lebhafte Debatte unter Politikwissenschaftlern darüber gibt, ob Wahlen in Demokratien einen wirklichen Unterschied für die Substanz der öffentlichen Politik machen«.33 In diese Debatte werde ich mich nicht einmischen; ich stelle nur fest, dass den Wahlen im deutschen Kaiserreich offenbar keine besondere Unechtheit unterstellt werden kann. Wer jedoch aufgrund der Abwesenheit einer parlamentarischen Regierung bezweifelt, dass die deutschen Wahlen etwas mit Macht zu tun hatten, sollte sich fragen, warum die Parteien und besonders die Regierung so viel Energie darauf verwendeten, sie zu gewinnen. Warum gingen in den zehn Jahren vor dem Krieg Sozialdemokraten in Berlin auf die Straße, um das gleiche Wahlrecht wie beim Reichstag für Preußens Landtag zu fordern – dessen Mehrheit schließlich ebenfalls die Befugnis fehlte, die Exekutive zu wählen? Wir könnten also fragen, was, selbst bei allerengster Interpretation, allgemeine Wahlen bewirken. Nicht die geringste Funktion einer Wahl ist es, das 32

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Robert W. Jackman: Elections and the Democratic Class Struggle, in: World Politics 29, Okt. 1986, S. 123 ff., bes. 132 f. und 145; allgemeiner Kaltefleiter und Nißen: Wahlforschung; Lijphart: Democracies, S. 1 ff.; Nohlen: Wahlrecht. Eine großartige Zusammenfassung dessen, was genau Wahlen in Demokratien bewirken und was nicht, in Harrop u. Miller: Elections, S. 244 ff., Zitat auf S. 252; und dessen, was sie in nicht-demokratischen Systemen bewirken, in Guy Hermet: State-Controlled Elections. A Framework, in: Elections Without Choice, hrsg. v. Hermet u. a., New York 1978, S. 1 ff., bes. S. 13 ff. »Kryptoabsolutismus«: Eckart Kehr: Das soziale System der Reaktion in Preußen unter dem Ministerium Puttkammer, in ders.: Primat, S. 64 ff., 70.

Kapitel 1: Einführung

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politische System zu legitimieren, das die Wahl selbst möglich macht. Wahlen bewirken dies teilweise durch das mit ihnen assoziierte Beiwerk: die Reden, die Versammlungen, die Flugblätter, die öffentliche Aufmerksamkeit überhaupt: Rituale, deren Aufwand an Zeit, Geld und Pomp mit dem von mittelalterlichen Krönungszeremonien verglichen worden ist. Wahlen legitimieren das System ferner, indem sie die aktive Teilnahme einer politisch aktiven Nation fordern. In diesem Wissen unternehmen Regierungen gewaltige Anstrengungen, um hohe Wahlbeteiligungen zu erreichen. Bei starker Beteiligung helfen selbst Wahlen, die von den Machthabern verloren werden, das Verfahren, die politische Gemeinschaft oder die Grenzen des Staates zu legitimieren. So hatte der massive katholische Boykott des Referendums von 1983 in Nordirland über den Verbleib im Vereinigten Königreich eine mindestens ebenso große Bedeutung wie die 99 Prozent Jastimmen der übrigen Wähler.34 Umgekehrt bestärkten die deutschen Katholiken, die in Scharen zu den Wahlurnen strömten, um Bismarcks Regierung während des Kulturkampfes der 1870er Jahre einen Korb zu geben, die Verfassung, die er Deutschland gegeben hatte. Es begann ihre eigene Integration in ein Reich, dessen Grenzen sie durch den Ausschluss Österreichs zu einer permanenten Minderheit gemacht hatten. Später verliehen Sozialdemokraten gerade durch das massenweise Abgeben ihrer oppositionellen Stimmen bei jeder Wahl dem Reichstag jene Legitimität, die sie angeblich selbst anzweifelten. Dieses Phänomen ist Historikern unter dem Stichwort »negative Integration« wohlbekannt.35 Aber die List der Geschichte wirkt in mehr als einer Richtung. Während die Reichstagswahlen zweifellos die Institutionen des Reiches legitimierten – gänzlich entgegengesetzt zu der Absicht von Millionen von Wählern, die mit ihrem Stimmzettel nicht Zustimmung, sondern Widerspruch ausdrückten – diese selben Wahlen legitimierten auch die Opposition. Denn es ist, wie wir in Kapitel 9 sehen werden, das einzigartige Verdienst wettbewerbsorientierter Wahlen, dass sie in den Mechanismus, der den Staat legitimiert, gleichzeitig die Botschaft einbauen, dass auch Opposition legitim ist, dass es »bei jedem politischen Thema mehr als eine Meinung gibt«. Auf diese Weise tragen Wahlen dazu bei, ein pluralistisches Gemeinwesen zu unterstützen und zu erhalten.36 Aber diese ironische Liste unbeabsichtigter Konsequenzen ist natürlich nicht die gesamte Summe dessen, was allgemeine Wahlen bewirken. Mindestens genauso wichtig wie die Existenz von Legitimierungsritualen ist für ein Gemeinwesen die Form, die diese Rituale annehmen. Krönungen sind Rituale, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft auf spektakuläre und transzendente Weise verkörpern. In traditionellen Kulturen – beispielsweise in England vor dem Zweiten Reformgesetz (Second Reform Bill), gingen Wahlen oft in ähnlich akklamativer Weise vonstatten, als Feier der Gemeinschaft, die repräsentiert werden sollte. Als die deutschen Dörfer 1848 ihre Honoratioren ohne die Not34 35

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Harrop u. Miller: Elections, S. 259. Günther Roth: The Social Democrats in Imperial Germany. A Study in Working Class Isolation and National Integration, Totowa, N. J. 1963; hierzu Adam Przeworski: Social Democracy as a Historical Phenomenon, in ders.: Capitalism and Social Democracy, Cambridge 1985, S. 17. Harrop u. Miller: Elections, S. 261.

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Teil 1: Der Rahmen

wendigkeit einer Wahlkampagne zur Entsendung nach Frankfurt wählten, war annähernd das Gleiche zu beobachten. Aber Wahlrituale hören genau in dem Moment auf, Krönungen zu ähneln, in dem sie »demokratisch« werden, das heißt nicht nur dem »Volke« zugänglich, sondern dem Wettbewerb unterworfen. Dann machen Wahlen die Spaltungen innerhalb des Gemeinwesens sichtbar, sie thematisieren – und verstärken sie. Genau dies bereitete unserem Schulmeister Franz Pieczonka so große Sorgen. Wahlkämpfe sind, um die denkwürdige Formulierung von William James »auszuleihen«, das »moralische Äquivalent« des Bürgerkriegs. Sie drücken die unvermeidbaren Abneigungen innerhalb einer Gesellschaft aus, während sie den ersten Schritt tun, diese in gewaltlose Pfade zu leiten. Dazu brauchen Wahlen sich auf nichts anderes außer sich selbst zu beziehen; das heißt, sie können wenigstens teilweise Spielcharakter haben. Aber sie sind ein Nullsummenspiel. Es geht um Gewinnen oder Verlieren, das heißt um Macht. Wenn wir über die Bedeutung von Wahlen für die Beteiligten nachdenken, muss uns das immer im Blickfeld bleiben.

Die Quellen für diese Untersuchung »Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen.« Niemand ist sich der Wahrheit dieses Wortes von Hermann Heimpel bewusster als ich. Es gibt praktisch keine Arbeit über irgendeinen Aspekt des Kaiserreichs, die nichts zu unserem Verständnis des Übergangs zur Demokratie in Deutschland beitragen könnte, und ein Leben wäre nicht genug, ihnen allen ausreichend gerecht zu werden. Diese Studie kann aber auf einem reichen Fundus an Wissen und Gelehrsamkeit aufbauen: auf der Geschichte von Parteien und Interessengruppen; auf Längsschnittanalysen – in Städten, Bezirken, Regionen sowie in der Presseberichterstattung; auf Fallstudien bestimmter Kampagnen; auf Untersuchungen über soziale und wirtschaftliche Variablen, die das Wahlverhalten beeinflussten. Dennoch glaube ich, dass meine Arbeit sich von der meiner Kolleginnen und Kollegen in mehrerlei Hinsicht unterscheidet. Zunächst hat, statistische Studien ausgenommen, nur ein relativ kleiner Teil der Wahlforschung versucht, das gesamte politische Spektrum abzudecken oder das gesamte Deutsche Kaiserreich, zeitlich und geographisch, einzubeziehen.37 Darüber hinaus ist mir keine andere Studie dieses Umfangs bekannt, die ihr Thema derart bewusst in der Welt der zeitgenössischen »franchise regimes« (gewählten Regierungen) ansiedelt.38 Aus diesem Grunde hoffe ich, dass meine 37

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Zwei herausragende Ausnahmen sind die Arbeiten von Rohe: Wahlen, die sogar einen größeren Zeitraum als meine umfasst, und Sperber: Voters, der die Untersuchung der Folgen ökologischer Regressionen mit gründlicher Literaturkenntnis verbindet. Nach der englischen Originalfassung dieses Buchs erschien Robert Arsenschek: Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich. Zur parlamentarischen Wahlprüfung und politischen Realität der Reichstagswahlen 1871–1914, Düsseldorf 2003. Eine ausgezeichnete Arbeit, von der ich gerne annehmen möchte, dass sie meiner am meisten ähnelt, ist Kühne: Dreiklassenwahlrecht. Aber obwohl sie voller Einblicke in die nationale Politik ist, behandelt sie das wesentlich andersartige preußische Wahlrecht und konzentriert sich auf die wilhelminische Periode. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Bendikat: Wahlkämpfe, der vergleichende Geschichte systematischer

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Ausführungen Politikwissenschaftler, historisch forschende Soziologen und Rechtswissenschaftler ebenso interessieren werden wie jene Historiker, deren Fachgebiet außerhalb Deutschlands liegt. Vergleichende Geschichte wird niemals so häufig betrieben, wie unsere Kollegen in den Sozialwissenschaften es gerne hätten – nicht zuletzt, weil Historiker selten fähig sind, alle Variablen zu isolieren, die nötig sind, um die Eindeutigkeit zu schaffen, die wir doch alle anstreben.39 Ich kann nicht behaupten, eine vergleichende Historikerin im engeren Sinne zu sein, aber ich erkenne eine starke familiäre Ähnlichkeit unter den Zielen, Handlungen und politischen Institutionen dessen, was wir als »den Westen« bezeichnen. Die Tatsache, dass gewöhnliche Historiker nicht systematisch sein können, sollte uns nicht davon abhalten, diesen Familienähnlichkeiten gegenüber genauso wachsam zu sein, wie es die von uns Untersuchten selbst waren.40 Ich hoffe, dass sich der Leser im Verlauf dieser Studie immer wieder dieser Parallelen bewusst wird – und auch der Unterschiede.41 Des Weiteren wertet meine Arbeit eine Sorte von historischen Quellen aus, die bei der Wahlforschung häufig übersehen wird. Dies sind die Wahlprüfungen: Petitionen, die Unregelmäßigkeiten bei Wahlen anklagten, Zeugenaussagen, die daraufhin aufgenommen wurden, und die Entscheidungen der mit ihrer Klärung beauftragten Reichstagskomitees.42 Sie fügen dem durch Regierungsakten, Presseartikel, Memoiren sowie die Kommentare von Rechtswissenschaftlern gezeichneten Bild (zu denen die Briefe und Postkarten von Wählern wie Pieczonka die notwendige plebejische Zutat bilden) eine wichtige Dimension hinzu. Und sie haben sich als besonders nützlich für die ersten beiden Jahrzehnte des Kaiserreichs erwiesen, für das andere Quellen weniger ergiebig sind. Die Zeugnisse zu diesen Wahlprüfungen sind diffus, unzusammenhängend, vermischt mit der ganzen Rätselhaftigkeit des Lebens selbst. Sie widersetzen sich einer thematischen Ordnung, während gleichzeitig ihre Konkretheit uns zu einem Ge-

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als ich betreibt, aber sich auf fünf Jahre beschränkt. Suval: Politics, vergleicht ebenfalls, aber berührt die Ära Bismarck kaum und konzentriert sich auf nur drei der 397 deutschen Wahlbezirke. »The bridge between historical observations and general theory is the substitution of variables for proper names of social systems in the course of comparative research. [Die Brücke zwischen historischen Beobachtungen und Theorie im Allgemeinen ist die Ersetzung von Variablen für die Eigennamen sozialer Systeme im Zuge vergleichender Forschung].« A. Przeworski und H. Teune: The Logic of Comparative Social Inquiry, New York 1970, S. 17–30; S. 25 zitiert in Bartolini u. Mair: Identity, S. 129 Anm. 1. Z. B. der britische »Report on the Practice Prevailing in Certain European Countries in Contests for Election to Representative Legislative Assemblies … von 1881, im Weiteren zitiert als Granville Survey Nr. 1. Der Report wurde anschließend mindestens zwei Jahre weitergeführt und ans AA geschickt; Gordon, AA an Bötticher, 16. Aug, 17. Sept. 1881, 30. Mai 1882, BAB-L R1501/14451; Bl. 44-–9; 61–63, 99–109v. Es ist mir klar, dass mein Pragmatismus im Bezug auf ein vergleichendes Vorgehen Rigoristen wie Stanley Lieberson nicht zufriedenstellen können: Small N’s and big Conclusions. An Examination of the Reasoning in Comparative Studies Based on a Small Number of Cases, in: Social Forces 70/2, Dez. 1991, S. 307–320. Bemerkenswerte Ausnahmen bei der Vernachlässigung von Wahlprüfungen sind Pollmann: Parlamentarismus; Fairbairn: Authority vs. Democracy, und ders.: Democracy; sowie Kühne: Dreiklassenwahlrecht, dessen Beobachtungen für die LT-Wahlen in Preußen zum großen Teil wohl auch für die RT-Wahlen im gesamten Kaiserreich zutreffen. Suvals Behandlung der Untersuchungen war flüchtig, da er davon ausging, dass die Wahlen nicht nur ehrlich, sondern auch frei gewesen seien: Politics, S. 4, 11, 40–42, 51, 244. Unregelmäßigkeiten werden weniger leicht in Arbeiten übersehen, die die Wahlen in bestimmten Gegenden analysieren. Eine der besten ist H. Hiery: Reichstagswahlen, die Freiheit und Zwang problematisiert.

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Teil 1: Der Rahmen

fühl von Gewissheit verleitet, das Historikern selten gewährt wird. Dieser Versuchung habe ich mich zu widerstehen bemüht. Denn auch die Bescheidenen sind parteiisch, und selbst wenn sie es nicht sind, müssen wir bedenken, dass ihr Zeugnis oft unter Umständen abgerungen wurde, die angetan waren, den Unaufrichtigen zu belohnen und den Ehrlichen zu strafen.43 Doch trotz all ihrer Unzulänglichkeiten sind die Wahlprüfungen unsere beste Quelle dafür, wie Wahlen tatsächlich erlebt wurden. Sie sind die Säure, die solche unscheinbaren Figuren – Bauern und Bierbrauer, Bergwerksarbeiter und Bürgermeister, Polizisten und Priester – herauslösen kann, die sonst im Wahlgeschehen unsichtbar bleiben. Die Praktiken dieser Männer waren oft nicht weniger autoritär, wie wir sehen werden, als die Meinungen von Franz Pieczonka und Alexander von Below. Sie führen uns die demokratischen Wahlen mit einem menschlichen Gesicht vor – Warzen eingeschlossen.

Zum Aufbau dieses Buchs Vor mehreren Jahrzehnten begann der Politikwissenschaftler Dankwart Rustow, unzufrieden mit der Konzentration seiner Disziplin darauf, was Demokratien am Leben erhält, unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie traditionelle oder autoritäre Gesellschaften den Übergang zur Demokratie überhaupt erst bewerkstelligen. Sein einflussreicher Essay bewirkte einen bedeutenden Richtungswandel, weg von der funktionalistischen Analyse ökonomischer und sozialer Strukturen, dahin, Geschichte – und Kontingenz – wieder mit ins Bild zu rücken. Obwohl es von Anhängern als »Theorie« beschrieben wurde, war das, was Rustow seinen Kollegen anbot, keine Formel, die Vorhersagen ermöglichte, sondern der bloße Umriss einer Erzählung, ein loses Handlungsschema, bestechend in seiner Einfachheit, das unsere eigene Geschichte bemerkenswert gut beschreibt.44 Es benötigt als Ausgangspunkt weder ein egalitäres Sozialgefüge noch demokratische Haltungen (Toleranz, Höflichkeit, Übereinkommen über Verfahrensweisen, einen Grundlagenkonsens), da eine bürgerliche Kultur, wie er fand, eine Folge, nicht der Grund der Demokratie sei. Rustows Erzählung bestand aus vier Teilen: einer Voraussetzung sowie drei »Phasen«. (1) Die Voraussetzung ist ein Staat, dessen Grenzen die Mehrheit des Volkes akzeptiert. (2) Der Motor, der ein Land auf einem Weg antreibt, der zur Demokratie führen kann, ist eine »heiße Familienfehde«: ein sich hinziehender, unentschiedener Konflikt zwischen zwei oder mehr unbeugsamen Mächten, von denen keine fähig ist, die andere zu schlagen. Der Streitpunkt ist für alle Beteiligten von »tiefgreifender Be43

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Bei einigen Gelegenheiten ermutigte die Kultur der Wahlproteste zu falschen Zeugenaussagen: 3 Danzig, AnlDR (1982/83, 5/II, Bd. 5) DS 80: 338–349. Während normale Bürger für gewöhnlich unter Eid aussagten, empfand der Reichstag es oft als beleidigend, einen Eid von einem angeklagten Beamten zu verlangen. 14 Württ. (Ulm) AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 113: S. 422, 2 Sachsen-Weimar, AnlDR (1893/94, 9/II, Bd. 2) DS 165: S. 910. »Erzählung« (»narrative«) ist mein Begriff. Rustow nennt es ein »dynamisches« oder »Entwicklungsmodell« und nennt »Phasen«. Fish nennt es eine »pfad- abhängige« Theorie: Crisis, Zitat: S. 145; siehe auch 141 ff., 159.

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deutung«. Es ist kein Hindernis, dass mindestens eine, vielleicht beide Parteien nicht demokratisch gesinnt sind (wenn sie es wären, gäbe es keinen Anreiz, Verfahren zur Konfliktlösung zu entwickeln) oder dass der Kampf in eine Sackgasse gerät. Es sind die Intensität und die Dauer des Konflikts oder der Konflikte, die die taktischen Kompromisse fördern, das Schachern, die widerwillig tolerierten verfahrensrechtlichen Notbehelfe, die zur Ausübung der Demokratie so überaus wichtig sind.45 (3) An einem Punkt jedoch – und hier kommt die Kontingenz ins Spiel – müssen die politischen Führer sich bewusst dafür entscheiden, unterschiedliche Meinungen zu akzeptieren und »einige wichtige Aspekte demokratischer Verfahren zu institutionalisieren«. Dabei ist es gleichgültig, ob sie das in Bausch und Bogen tun – wie dies 1907 in Schweden geschah – oder auf Raten – wie in Großbritannien im Laufe von Jahrhunderten. Es macht auch nichts aus, dass das Ringen weitergeht, auch nachdem solche Entscheidungen getroffen sind. In Demokratien regulieren Verfahren den Kampf, aber sie beenden ihn nicht. (4) Schließlich ist da die äußerst wichtige »Habituation« (Gewöhnung) an den offenen politischen Konflikt, der die schweren Entscheidungen der Führung den Anhängern, wenn auch nur widerwillig, genießbar macht. Leute, die viel lieber ohne Abstriche gewonnen hätten, bekommen Übung darin, mit unwillkommenen Kompromissen zu leben. Und der Wettbewerb belohnt jene, die die Verfahren unterstützen, die Wettbewerb ermöglichen – dadurch wird eine »Darwinsche Auslese zugunsten überzeugter Demokraten« geschaffen, wie Rustow es nennt.46 Die Rustowsche Erzählung, auf die ich nach Beendigung dieses Manuskripts stieß, hilft, die deutsche Geschichte einzuordnen. Sie stellt einige jener Merkmale, die uns dazu verleitet haben, die Ära des Kaiserreichs für spätere Demokraten bestenfalls als irrelevant und schlechtestenfalls als schwere Bürde abzutun, auf den Kopf: die Tatsache, dass das deutsche Wahlrecht innerhalb des Rahmens eines polizeilich gut ausgerüsteten Staates seinen Ursprung hatte; die Existenz hartnäckiger Kultur- und Klassenkämpfe; die, nach Ansicht einiger, »chronische Krise« in den 1890ern; nach anderer Interpretation die »Pattsituation« des Kaiserreichs danach. Diese Merkmale werden, nota bene, nicht zu Beweisen, dass das Kaiserreich eine Demokratie war. Es war keine. Aber anstatt als Straßensperren angesehen zu werden, können sie als Wegweiser erkannt werden, die eine – jederzeit umkehrbare – Reise markieren. In der folgenden Arbeit werde ich gelegentlich auf die Rustowsche Erzählung zurückverweisen, da ihre zentrale Botschaft – dass die Menschen Demokratie nur durch Übung lernen – meine eigene ist. Rustow eröffnete seine Argumentation mit den Worten: »Die Geschichte … ist ein viel zu wichtiges Feld, um sie allein den Historikern zu überlassen.«47 Diese Meinung teile ich entschieden, würde aber hinzufügen: und die Politik ist zu wichtig, um sie ausschließlich den Politikwissenschaftlern zu überlassen. In den letzten Jahren tendiert die theoretische Literatur zur Demokratisierung 45 46 47

Rustow: Transitions, Zitate S. 342, 355. Ebd., S. 358. Zu Problemen der Zustimmung, die demokratische Wahlen nicht lösen, siehe R. Rose: »Choice«, 1978, S. 196 ff. Rustow: Transitions, S. 347.

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dazu, sich aufzuspalten in, vereinfacht ausgedrückt, das, was man den »neuen Institutionalismus« nennt, und Ansätze, die den Blick auf Kultur, Mentalität und Erfahrung lenken.48 Bei letzteren verschiebt sich die Kausalität, zumindest implizit, von der Gesellschaft zur Politik, und die Institutionen sind wenig mehr als die Arena, in der die Politik sich abspielt. Für Institutionalisten dagegen sind die Spielregeln aktiv Handelnde bei der Erreichung politischer Resultate, besonders wenn, wie Befürworter vor Kurzem betont haben, die Regeln für die Handelnden Anreize bieten, diese einzuhalten.49 Die folgende Studie kann zu der institutionalistisch-kulturalistischen Debatte nicht nur beitragen, indem sie, wie Clifford Geertz es formuliert hat, »dem sozialwissenschaftlichen Geist materielles Futter gibt«50, sondern auch indem sie beide Komponenten, Institutionen und Kultur, in der Zeit ansiedelt und ihre Interaktionen genauer aufzeigt. Meine Studie umfasst drei Teile. Teil 1, »Der Rahmen« (Kapitel 1–3) umreißt die gesetzlichen, internationalen und lokalen Zusammenhänge, innerhalb derer die deutschen Wahlen stattfanden. Teil 2, »Kraftfelder« (Kapitel 4–7), analysiert die Zwänge, die die Entscheidung der Wähler beeinflussten. Teil 3, »Das Maß der Freiheit« (Kapitel 8–11) untersucht die Weisen, in denen diese lokalen Machtstrukturen durch andere Kräfte, auch die von unten, durchbrochen werden. Allgemein ausgedrückt, befassen sich die Teile 1 und 2 mit dem Alten und Teil 3 mit dem Neuen; aber die sichtbarste Neuerung in der deutschen Politik, die Mobilisierung, erscheint erst in Kapitel 4, während die Analyse der ostelbischen ländlichen Gebiete in Kapitel 6 ein Bild der Autorität zeichnet, das von Zeichen der Solidarität ungetrübt war und so lang andauerte wie das Kaiserreich selbst. Innerhalb dieser weit gefassten Überschriften ist jedes Kapitel nach Sachgebieten unterteilt, und mit wenigen Ausnahmen umfasst jedes die gesamte Chronologie des Kaiserreichs. Kapitel 4 und 5, die den katholischen Klerus behandeln, führen uns in die tatsächlich erste »heiße Familienfehde« des Kaiserreichs ein: den »Kulturkampf«. Hier sehen wir die komplexen Verbindungen zwischen den Befürchtungen, die dem Wahlrecht galten, der Gesetzgebung in der Zeit des Kulturkampfs, sowie der Massenmobilisierung. Wir untersuchen auch den keineswegs demokratischen Klerus sowie die wechselseitige Beziehung zwischen 48

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Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, diesen Theoriekuchen aufzuteilen, und einige würden »kulturell« gegen »sozial« austauschen, da der Begriff umfassender ist. Der stimulierende Essay von March u. Olsen: Institutionalism, S. 738, 741 z. B. entwickelt recht komplexe Kategorien und benennt »Kultur« in ihnen allen. Klarer, weil es die Variablen in Konfliktstrukturen und Institutionen aufteilt: Kaltefleiter und Nißen: Wahlforschung, S 27–29. Die deutsche Politikwissenschaft, die früher institutionalistische Komponenten betonte, hat vor Kurzem die Kultur entdeckt. Siehe Kühne: Wahlrecht – Wahlverhalten – Wahlkultur, ein beeindruckender Überblick über die historische und sozialwissenschaftliche Literatur, die (S. 482) diesen »Paradigmenwechsel« konstatiert. R. D. Putnam hat in seiner Auseinandersetzung mit dem »Sozialkapital« dem Kulturargument von Tocqueville erneut ein Denkmal gesetzt. Putnam: Making, und Bowling, S. 65–78. Hier wie auch an anderer Stelle schulde ich einiges den vielen Gesprächen mit M. Kreuzer, dessen Arbeit: Institutions diese Ideen gründlicher und im Detail beschreibt und der mich in Rustow und in Przeworskis einflussreiches Werk: Democracy mit seiner spieltheoretischen Perspektive einführte. C. Geertz: Thick Description. Toward an Interpretative Theory of Culture, in: the Interpretation of Cultures, New York 1973, S. 3 ff., bes. S. 23.

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Darstellungen der Priester und jenen des aufgrund des neuen Gesetzes wahlberechtigten »Volkes«. Kapitel 6 und 7, über die Arbeitgeber, betrachtet zuerst die sich – real oder eingebildet – wandelnde Macht der Junker und anschließend andere Gruppen von Arbeitgebern. Indem wir die außerordentlichen Mühen beleuchten, die Arbeitgeber in Stadt und Land sich machten, um die Stimmen ihrer Abhängigen unter ihre Kontrolle zu bringen, unabhängig von allen Folgen für das nationale Ergebnis, begreifen wir ihr Verständnis vom Wahlrecht als einer Bedrohung für ihre früher unumschränkte Autorität. Wir können auch erkennen, warum die Möglichkeit des Wählens von den Untergebenen mit solchem Nachdruck ergriffen wurde, als ob der bloße Akt der Stimmabgabe selbst schon eine Emanzipation bedeutete. Aber die Emanzipation – das Überwinden der Unterwürfigkeit und die Entwicklung von Dissens – ist nicht die ganze Geschichte, sonst wäre die Einübung der Demokratie nur eine optimistische Version einer der beliebteren Sonderwegs-Teleologien. Obwohl mein Schwerpunkt bei der Darstellung von Wahlen natürlich in den Wahlkreisen liegt und ich nicht vorgebe, die komplizierte Frage des Regierungssystems behandeln zu wollen, kann keine angemessene Darstellung sich entwickelnder demokratischer Verfahrensweisen ohne einen Blick auf die Strategien und Reaktionen der Machthaber auf nationaler Ebene auskommen. Daher bewegen wir uns in Kapitel 8 kurz weg von den Wahlbezirken hinein in das Herz Berlins, wo Rustows »bewusste Entscheidung« stattfand. Diese Entscheidung wurde zum einen durch den zehn Jahre dauernden Kampf der Abgeordneten um die Sicherstellung des Wahlgeheimnisses verkörpert, zum anderen durch die widerwillige Zusammenarbeit der Regierung mit ihnen im Jahr 1903. Die vom Reichstag erzwungene Wende der Regierung in dieser Frage deutet an, dass sich eine Machtverschiebung zwischen der Exekutive und der Legislative anbahnte. Sie deutet auch an, dass sich die Funktion von Wahlen ausweitete: von der Emanzipation zur Schlichtung. Beide Entwicklungen setzen allerdings voraus, dass bereits genügend Freiheit in den Wahlkreisen vorhanden war, um die lautstarken Mehrheiten im Reichstag überhaupt erst zu schaffen. In den folgenden Kapiteln versuche ich zu lokalisieren, worin genau diese Freiheit bestand. Sie lag in den strukturellen Bedingungen des späten Kaiserreichs, die im übrigen Teil des 8. Kapitels besprochen werden, besonders in den ökonomischen Möglichkeiten und einer zunehmenden materiellen Sicherheit. Diese boten die nötigen, aber keineswegs ausreichenden Bedingungen für den Dissens der Wähler. Ein Aspekt der Freiheit lag auch, wie wir in den Kapiteln 9 und 10 sehen werden, in den gemeinsamen kulturellen Normen – besonders einem eingefleischten Legalismus, auf den sich die Oppositionellen wiederholt beriefen. Hinzu kamen jene überaus traditionellen Waffen der Gemeinschaft wie beispielsweise Ächtung und Boykott, auf die sich die modernen Parteien verlassen konnten. Im Kapitel 11 sind wir endgültig in der »modernen« Welt angekommen und betrachten die Macht der Organisation und des Geldes in den politischen Kampagnen. Die Notwendigkeit der Finanzierung erwies sich als wichtiger Ansporn zur Entwicklung der Parteien, aber sie gab – genau wie heute – Anlass zu der Frage, wer oder was eigentlich die Macht erringt, wenn

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eine Wählerschaft so groß wird, dass nur diejenigen sie erreichen können, die über enorme Ressourcen verfügen. Der Staat, dessen Selbstsicherheit und Legitimität sowohl Garant für den öffentlichen Frieden waren, von dem wettbewerbsorientierte Wahlen immer abhängig sind, als auch in Deutschland das Haupthindernis für die Entwicklung zu einem vollen parlamentarischen System, erscheint in allen diesen Kapiteln im Hintergrund. Bei allen Formen der Unregelmäßigkeit bei Wahlen war der zeitgenössische Konsens der Verurteilung am breitesten bei der Wahlpropaganda durch die Beamten des Staates.51 Die Möglichkeiten und Grenzen des staatlichen Einflusses werden systematisch jedoch nur als Teil meiner Schlussfolgerungen behandelt (Kapitel 12). Dass eine längere Behandlung dieses Themas unterlassen wurde, mag ein Manko sein – nicht zuletzt deshalb, weil es fälschlicherweise den Eindruck erweckt, dass die einzig wichtigen Veränderungen jene von unten gewesen seien und dass die Umformung des Unterbaus wichtigen Veränderungen in dem mächtigen Überbau des Staats vorbeugte. Aber andere haben sich dieses Themas angenommen, und da dieses Buch bereits umfangreich genug ist, wird der Leser sicherlich mit den Worten einverstanden sein, die Dale van Kley in einem anderen Zusammenhang geschrieben hat: Genug ist genug. Dieses Buch versucht nicht, die Muster von Wahlsiegen und Niederlagen aufzuspüren und zu erklären, wer für wen stimmte und warum. Zu diesen Fragen haben wir bereits eine beträchtliche Literatur, von der ein großer Teil die Statistiken betrifft.52 Mein Ziel ist es stattdessen, zu untersuchen, wie die Deutschen ihr neues Wahlrecht empfanden, und zu verstehen, was die Einübung demokratischer Wahlverfahren in dem halben Jahrhundert bedeutete, das Deutschlands erster parlamentarischer Regierung vorausging.53 Der Diskurs wird sich langsam entwickeln. Eines meiner Ziele bei der Erzählung so vieler Geschichten ist es nicht nur, die Alltagserfahrung des Wahlverfahrens (Rustows »Gewöhnung«) zu vermitteln, sondern auch den Leser davon zu überzeugen, dass hier Haltungen und Verhaltensweisen zu finden waren, die Regionen, Jahrzehnte und politische Parteien umspannten: Reaktionsweisen, die wir zu Recht nicht nur preußisch oder sächsisch oder bayerisch, sondern deutsch nennen können. Gleichzeitig wird es deutlich werden, dass die Vergleichsgruppe für die Deutschen – und nicht nur für jene Verfassungsjuristen, Bürokraten und Reichstagsabgeordneten, die sich am meisten mit Politik befassen – ihre europäischen Nachbarn waren. Weit davon entfernt anzunehmen, 51 52

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Ein Konsens, der in Deutschland heute weiter besteht: Olschewski: Wahlprüfungen; Heyl: Wahlfreiheit. Z. B. M. Wölk: Volksschulabsolvent; Neugebauer-Wölk: Wählergenerationen in Preussen zwischen Kaiserreich und Republik. Versuch zu einem Kontinuitätsproblem des protestantischen Preussen in seinen Kernprovinzen, Berlin 1987; H. Nöcker: Wählerentscheidung unter Demokratischem und Klassenwahlrecht. Eine vergleichende Statistik der Reichstags- und Landtagswahlergebnisse in Preussen 1903 nebst Angaben der Wirtschafts- und Sozialstruktur nach Vergleichsgebieten, Berlin 1987; ders.: Der Preussische Reichstagswähler in Kaiserreich und Republik. Analyse – Interpretation – Dokumentation. Ein historischstatistischer Beitrag zum Kontinuitätsproblem eines epochemübergreifenden Wählerverhaltens, Berlin 1987; J. Schmädeke: Wählerbewegung; J. R. Winkler: Sozialstruktur; Sperber: Voters. »Elections before Democracy« in anderen Ländern: Posada-Carbó: Elections.

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dass sie eine historische Anomalie bildeten, einen Ausnahmefall, maßen die Deutschen ihre eigene Legalität an den Entwicklungen außerhalb ihrer eigenen Grenzen; sie beurteilten die Normen und Praktiken ihrer Landsleute stets auch mit einem Blick auf »Anstand und Achtung für die Meinungen des menschlichen Geschlechts« (Thomas Jefferson).54

−−− Ich habe es vermieden, Demokratie zu definieren, denn ich finde, dass zumindest hier Nietzsche recht hatte: »alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.«55 Das Problem ist nicht nur die Vielfalt der Bezugspunkte von Demokratie: soziale Klassen und Sozialstrukturen, Verfassungen und Verfahren, Haltungen und Normen. Das Problem ist auch, dass die Demokratie, mit ihren außerordentlich normativen Halbschatten, zu einer Kategorie gehört, die der Philosoph W. B. Gallie einmal als »essentially contested concepts« bezeichnete, also Konzepte, deren Definition und Gebrauch immer Disputen unterworfen sein werden, die sowohl echt und aufrichtig als auch grundsätzlich unauflösbar sind.56 Kein Zeitgenosse hätte das Kaiserreich als Demokratie beschrieben, aber die Menschen konnten einige seiner Verfahren und Haltungen als demokratisch bezeichnen – und taten es auch, und viele ihrer Politiker wurden – für gewöhnlich abschätzig – Demokraten genannt.57 Im Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts bedeutete »demokratisch« häufig nur plebejisch, und »Demokratie« galt als Wahlrecht für den Pöbel. Gibt es Verbindungen zwischen dem Wahlrecht fürs gemeine Volk und unserer eigenen, modernen Demokratie? Obwohl der gesamte Tenor dieses Werks darauf hinweist, dass es sie gibt, ist mir klar, dass »modern« ein genauso trügerisches Konzept ist wie »Demokratie« selbst. E. L. Jones hat die Historiker der Industriellen Revolution vor ihrer Neigung zu einer »milden Form von Anachronismus« gewarnt, in der die moderne Wirtschaft das zu Erklärende darstellt, aber die Erklärung – z. B. Kanäle und Baumwolle – für gewöhnlich um 1907 herum an eine implizite Grenze stößt, statt uns zu Elektronik, Plastik und

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Z. B. war Windthorst beim Studium englischer Wahlberichte dankbar, dass »hier die Überzeugungsmittel Englands noch nicht gelten«: SBDR 28. März 1871, S. 26. Bunsen machte Frankreichs Aufstellung offizieller Kandidaten für das Schicksal des Zweiten Empires verantwortlich: SBDR 29. März 1871, S. 43. Die deutsche Regierung war an fremden Wahlverfahren und -gebräuchen interessiert: Bericht des Deutschen Gesandten über die belgische Debatte zum allgemeinen Wahlrecht, 6. Juli 1883, in: Akten Belgien, und Bericht des AA vom 24. Aug. 1883 über die britischen Parlamentsprotokolle in: Akten England: BAB-L R1501/14451, Bl. 186 f. Thomas Jefferson: Declaration of Independence, 1776. Deutscher Text: Im Congreß, den 4. July, 1776. Eine Erklärung durch die Repräsentanten der Vereinigten Staaten von America. Philadelphia 1776. Quelle: Wikipedia. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, München 1988, Bd. 5, S. 317. W. B. Gallie: Essentially Contested Concepts, in: Proceedings of the Aristotelian Society, New Series, 56, 1955–1956, S. 167 ff., bes. 171 f.; zur Demokratie: S. 183 ff. Der Titel von Fairbairn: Democracy in the Undemocratic State, drückt dieses Dilemma glänzend aus.

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Teil 1: Der Rahmen

den Hypermärkten von heute zu führen.58 Die umgekehrte Warnung sollte für Politikhistoriker gelten. Wir müssen uns ständig vor Augen halten, dass die moderne Demokratie, mit der die Verfahren des Kaiserreichs verglichen werden könnten, nicht die des späten 20., sondern die des späten 19. Jahrhunderts ist. Und jene Demokratie ähnelt der Demokratie meines heutigen Amerika mit ihren schwachen Parteien, niedrigen Wahlbeteiligungen, unabhängigen Beratern und Millionärskandidaten nicht mehr als der damals »moderne« Fabrikschlot dem Computerchip. In der vorliegenden Studie finden wir einiges, was uns an unsere eigene Art von Demokratie erinnert: schmutzige Tricks, sicher, und das Verlangen nach einer Politik, oder zumindest einem öffentlichen Leben, über den Konflikt hinaus. Aber wir werden auch einiges finden, das ganz anders ist: schnelle Mobilisierung und Massenbeteiligung – wenn auch ungleich in der Bevölkerung verteilt – oder starke Parteien mit beträchtlicher Vitalität der Basis, aber mit erstaunlich austauschbaren Kandidaten.59 Obwohl es in dem Bild Vorboten der späteren Schwächen der Weimarer Republik gibt, enthält es relativ wenige Anzeichen für die Gewalt, den Radikalismus und die charismatischen Führungsformen, die zu Beginn der 1930er Jahre die parlamentarische Demokratie in Deutschland zum Erliegen bringen sollten. Insgesamt werden wir beobachten, wie die Deutschen innerhalb kurzer Zeit eine zergliederte, autoritäre und auf die Gemeinde zentrierte Kultur, die vorgab, Parteilichkeit jeglicher Art zu verabscheuen, in eine auf die Nation und Mitbestimmung ausgerichtete öffentliche Kultur umwandelten, in der Parteiloyalitäten Erwartungen bündelten und einen großen Teil des öffentlichen Lebens strukturierten. Wir werden sehen, wie sie Institutionen wie den »Diskussionsredner« schufen, die den Konflikt im politischen Alltag sowohl stimulierten als auch kanalisierten. Wir werden sehen, wie eine »legalistische Kultur«, wie ein Autor es beschrieb,60 die Früchte wirklich wettbewerbsorientierter Wahlen trug – die manche für die Wurzel, andere für den entscheidenden Zug der Demokratie halten.61 Gegen Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts bemerkte ein amerikanischer Radikaler: »Ich bin immer dafür gewesen, dass die Arbeiter an den Stimmkasten gehen sollen und sei es auch nur zur Übung, wie sie es in Deutschland machen …«62 Der Mann meinte natürlich die erste von mehreren Bedeutungen von »Übung«: die wiederholte Ausübung einer Tätigkeit zu ihrer Perfektionierung.63 Demokratie üben bedeutet, genau wie Klavierspielen 58 59 60

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E. L. Jones: Growth Recurring. Economic Change in World History, Oxford und New York 1988, S. 180. In den 1880er Jahren gehörte ein größerer Prozentsatz der Düsseldorfer Wählerschaft einer politischen Partei an als in den 1980ern. Schloßmacher: Düsseldorf, S. 235. T. Poguntke: Parties in a Legalistic Culture. The Case of Germany, in: How Parties Organize. Adaptation and Change in Party Organizations in Western Democracies, hrsg. v. R. S. Katz und P. Mair, London 1994, S.185 ff. Im Gegensatz dazu Hall: Means. Nohlen: Wahlrecht, S. 18. Dr. Ernst Schmidt, Vorsitzender des Anarchists’ Defence Committee nach den Haymarket-Unruhen. Zitiert aus: Der Sozialdemokrat, Nr. 29, 15. Juli 1886, S. 2, in Sun: Martyrdom, S. 59. Webster’s Ninth New Collegiate Dictionary, 1985.

Kapitel 1: Einführung

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üben, unvermeidbares, wiederholtes Scheitern. Ungleich jenen, die am Klavier üben, haben jedoch Anfänger der Demokratie keine Lehrer, die ihnen bereits vorhandenes Wissen übermitteln könnten, kein fertig geschriebenes Stück, das sie spielen könnten. Die Demokratie ist keine einzelne Melodie, sondern eine Mischung aus möglichen Konventionen und Regeln. Der Bericht darüber, wie die Deutschen die Demokratie einübten, wird einigen Lesern als »whiggish« (schönfärberisch) erscheinen und anderen als haarsträubend, da wir an das Narrativ der Geschichte Mitteleuropas gewöhnt sind, das mit autoritärem Gebaren und Zwang beginnt und nicht in der Demokratie gipfelt, sondern zu Diktatur und Zusammenbruch führt. Und was ist mit Cäsarismus, Bonapartismus, Manipulation, Demagogie, der Untertanenmentalität und all jenen anderen Kräften, die immer wieder als Krankheiten im deutschen Staatskörper beschworen werden? In den folgenden Kapiteln werden wir sicher einen Blick auf die üblichen Verdächtigen erhaschen, wenn wir sie auch nicht einfangen. Aber von Anbeginn an müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass solche Phänomene selbst nicht die Negierung der Demokratie bedeuten, sondern dass sie zu ihren vielen möglichen Kindern gehören – die, wenn auch unerwünscht, dennoch ihre leiblichen Kinder sind. Wie der Liberalismus und der Sozialismus besitzt die Demokratie in der Praxis mehr als genug Facetten; Facetten, die ihre Verfechter als bloße Ausnahmen »in der Praxis« abtun mögen, die ihren zeitgenössischen Kritikern aber immer bewusst waren.

−−− Entgegen dem, was wir unseren Kindern sagen, macht Übung nicht den Meister. Die Demokratie kennt keine Virtuosen. Ich stimme zu, dass das deutsche Kaiserreich – genau wie England, Amerika und Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg – keine volle Demokratie genoss, wenn es auch hier wie in den anderen Ländern unterschiedliche und interessante Gründe dafür gab. Aber wenn wir die Demokratie nicht für allzu vieles verantwortlich machen, können wir erkennen, dass Bismarcks demokratisches Wahlrecht, mag seine Geburt auch so unwahrscheinlich gewesen sein wie die der Minerva aus dem Kopf des Jupiter, die Demokratisierung nicht ausschloss, sondern sie erst ermutigte. Die Praxis der Demokratie konnte sich, wie jede Fertigkeit, nur durch Übung verbessern.

Kapitel 2 : Die Morphologie der Wahlverstöße: Internationale Vergleiche

Das Nebensächliche, so viel ist richtig, gilt als nichts, wenn es bloß nebensächlich ist, wenn nichts darin steckt. Steckt aber was darin, dann ist es Hauptsache, denn es gibt einem dann immer das eigentliche Menschliche. Theodor Fontane

Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass es Wahlen vermögen, sowohl die Regierung als auch ihre Opposition zu legitimieren, ist das Vertrauen der Teilnehmer in das, was die Amerikaner »purity« und die Franzosen »sincérité« nennen: echter Wettbewerb und ehrliche Auszählung. Die Gesetze selbst sind keine Garanten für die Ehrlichkeit, die Sicherheit und besonders die Freiheit einer Wahl. Die beiden ersten dieser Eigenschaften trafen auf Deutschland zu, wie wir noch an anderer Stelle in diesem Kapitel sehen werden. Sie waren erfreuliche Vermächtnisse, die dem sich entwickelnden Verfassungsstaat aus seiner bürokratisch-absolutistischen Vergangenheit geblieben waren. Die dritte, die Möglichkeit frei zu wählen, wurde im Laufe eines halben Jahrhunderts hart erkämpft. Dieser Kampf um freie Wahlen – in dem die Prinzipien der Autonomie für das Individuum und der Freiheit für oppositionelle Gruppen genauso in Konflikt geraten wie sich gegenseitig verstärken konnten – ist die Metaebene unserer Geschichte. In diesem Kapitel werden wir »Unregelmäßigkeiten« bei Wahlen aus der Vogelperspektive betrachten, aber auch die Maßnahmen, die Zeitgenossen ergriffen, um damit fertig zu werden. Eine derartige Perspektive und die Vergleiche, die sie uns zu machen erlaubt, können uns viel über die Voraussetzungen sagen, die dem politischen Leben in Deutschland zugrunde lagen.

Kapitel 2: Die Morphologie der Wahlverstöße: Internationale Vergleiche

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Das Ausmaß der Verstöße Die Annahme, dass es bei Wahlen ehrlich zugeht, ist eine Berufsvoraussetzung für Historiker, die allgemeine Aussagen über Wählerentscheidungen aus Statistiken über Wahlausgänge treffen müssen.1 Daher mögen der Umfang der deutschen Wahlanfechtungen und das Ausmaß überraschen, in dem diese die Gesetzgeber beschäftigten. Während der ersten 57 Sitzungen seiner ersten Legislaturperiode befasste sich der Reichstag mit nicht weniger als 58 Beschwerden.2 Bereits 1876 war der Prozess der Beurteilung der Anfechtungen für die parlamentarischen Komitees zu einer solchen Bürde geworden, dass man eine ständige Wahlprüfungskommission einrichtete, die sich eigens damit befassen sollte. Aber die Fälle wurden immer zahlreicher und selbst dieses Gremium, das nahezu vollzeitig arbeitete, fand es unmöglich, alle unbearbeiteten Beschwerden zu einem Abschluss zu bringen. Als die fünfte Legislaturperiode im Dezember 1884 bereits zu Ende ging und es an der Zeit war, Neuwahlen auszurufen, war über zwanzig Sitze der Wahl von 1881 immer noch nicht entschieden.3 Ein Bericht in den angesehenen Annalen des Deutschen Reichs zeigte, dass bei der Wahl von 1887 mehr als 60 Prozent der 397 Wahlkreise des Reiches Anlass zu einer offiziellen Beschwerde gegeben hatten.4 Jede Region, ländliche wie städtische, war hiervon betroffen. Ausnahmen bildeten nur die Oberpfalz sowie Münster und dessen Umgebung – Anomalien, die nicht so sehr auf Wahlfreiheit hindeuten wie auf das Fehlen eines echten Wettbewerbs in diesen erzkatholischen politischen Landschaften.5 Viele ernsthaft angefochtene Siege entgingen der Annullierung aus Gründen, die mit der Berechtigung der Beschwerde wenig zu tun hatten. Anfechtungen, die nach dem dafür vorgesehenen Stichtag eingingen oder andere formale Fehler enthielten, wurden abgewiesen. Abgeordnete, deren Wahl angefochten war, blieben zunächst stimmberechtigte Mitglieder des Parlaments, bis sie formell abgesetzt wurden. Und es war bei Vorteilnehmern einer angeklagten Wahlfälschung durchaus üblich, auf das Hinauszögern der Entscheidung hin zu arbeiten – oder die entscheidende Stimme selbst abzugeben. Sehr häufig sahen sich die Gesetzgeber außerstande, genaue Zahlen für die 1

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Ein Argument, das großartig vertreten wird in: Argersinger: Perspectives, S. 670 f. Der bloße Terminus »unfreie Wahl« ist ein Oxymoron, wie Dieter Nohlen bemerkt hat. Zitiert in Heyl: Wahlfreiheit, S. 15. Siehe auch Olschewski: Wahlprüfung, S. 28. Meine Zählung. »Eingaben« und »Beschwerden« werden hier als gemeinsame Kategorie behandelt und beide Begriffe werden austauschbar mit »Protest« oder »Anfechtung« benutzt, obwohl Beschwerde, der eigentliche Fachausdruck, im Gegensatz zur »Anfechtung« nicht notwendigerweise zur Ungültigmachung einer Wahl führen muss – auch wenn die Beschwerde begründet ist. H. Marquardsen (NL) SBDR 10. Dez. 1884, S. 266. Etwas niedrigere Zahlen bei Leser: Untersuchungen, S. 57. Prengel: Beiträge, S. 4, 20. In Prengels Daten gibt es einige Unstimmigkeiten, wie auch zwischen seinen Daten und meinen eigenen Zählungen, aber sie betreffen Details und beeinträchtigen nicht das Gesamtbild. Meine Zählungen. Sie unterscheiden sich von Prengels für 1874 und 1877 um zwei Anfechtungen – aber jeweils mit umgekehrtem Ergebnis.

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Teil 1: Der Rahmen

durch Missbrauch gewonnenen Stimmen festzustellen – ein fatales Dilemma für einen Reichstag, der mit gelegentlichen Ausnahmen bei der Bestimmung der Gültigkeit von Wahlergebnissen eher einen mathematischen als einen ganzheitlichen Ansatz vertrat. Wenn nach Abzug der ungültigen Stimmen die Mehrheit noch gesichert war, wurde die Wahl bestätigt, ohne Rücksicht darauf, wie ungeheuerlich das Verhalten des Siegers oder seiner Anhänger gewesen war. Aus allen diesen Gründen stand die Zahl der für ungültig erklärten Wahlen in keinem Verhältnis zur Zahl der für berechtigt befundenen Anfechtungen. Von den 108 Wahlergebnissen zwischen 1881 und 1887, die beanstandet wurden – also deren Gültigkeit von einer Untersuchung abhängig gemacht wurde – wurden schließlich nur 28 für ungültig erklärt. Das entsprach etwa acht Prozent aller Anfechtungen. Aber die Annalen schätzten, dass ungefähr 42 Prozent für ungültig erklärt worden wären, wenn nicht der Prozess sich derart lange hingezogen hätte, dass entweder der Tod eines Wahlsiegers, sein vorzeitiger Rücktritt oder das Ende der Legislaturperiode dazwischengekommen wäre.6 Diese Zahlen hätten noch schlimmer ausgesehen, wenn die Annalen die Wahl vom Februar 1890 mit einbezogen hätten. Einer der angefochtenen Siege war der des jungen Landrats Theobald von Bethmann Hollweg, des zukünftigen deutschen Reichskanzlers, des letzten in Friedenszeiten, dessen Abgeordnetenkarriere auf diese Weise bereits nach vier Monaten beendet wurde.7 Da in keinem Land der gewählten Legislative Beschwerden über die korrekte Durchführung der Wahlen erspart blieben, ist es wichtig, diese Zahlen im Zusammenhang zu sehen. 1881 erreichten den Reichstag 56 Eingaben, 1884 waren es 81, 1887 weniger, 1890 dann 73. Im Gegensatz dazu betrug die Zahl der Petitionen, die nach jeder Kongresswahl in den Vereinigten Staaten während der letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eingereicht wurden, durchschnittlich 13.8 Tatsächlich wurden nur 452 der rund 16.000 Bewerbungen um Sitze im House of Representatives während der ersten 128 Jahre seiner Existenz nachträglich angefochten. Dies waren nur 25 Beschwerden mehr, als der Reichstag in seinen ersten 16 Jahren erhielt.9 In Großbritannien wurden in den sechs Unterhauswahlen, die dem Großen Reformgesetz (Reform Bill) von 1832 folgten, weniger als zehn Prozent aller Siege angefochten und weniger als fünf Prozent formal untersucht – und dies in 6

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Die 28 für ungültig erklärten Wahlergebnisse enthielten eine unbestimmte Anzahl, bei denen die Wahlmanipulation derart offensichtlich war, dass der Zwischenschritt der Beanstandung wegfiel. Prengel: Beiträge, S. 19 f. Obwohl Prengel das Jahr 1890 in seinem Titel einschließt, betreffen seine Berechnungen nur die ersten sieben Legislaturperioden. Wollstein: Bethmann Hollweg, S. 23. 1890 entgingen nur Elsass-Lothringen, Oberbayern, Berlin und der Regierungsbezirk Oppeln Beschwerden – aber Oppeln war bereits nicht mehr ernsthaft umkämpft. Meine Zahlen, die bei zwei Wahlen leicht von Prengels abweichen, welche teilweise unstimmig sind: Beiträge, S. 7 f., 55, 57, 62 ff. Die US-Zahlen stammen auch von mir und basieren auf C. H. Rowell: Digest. 1910 hatte der US-Kongress 398 Wahlbezirke, Deutschland 397. Meine Zählung, basierend auf Prengel: Beiträge, bes. S. 6, einschließlich Hauptwahlen, Stichwahlen und Ersatzwahlen, außer Nachwahlen, für die keine Statistiken zu bekommen waren. US-Anfechtungen: Allen und Allen: Fraud, S. 178. Die Anzahl der US-Delegierten hat sich natürlich mit der Zeit erhöht. Nur vier Mal in zwei Jahrhunderten ist eine US-Senatswahl aufgehoben worden. Garber und Frank: Elections, Bd. 1, S. 13.

Kapitel 2: Die Morphologie der Wahlverstöße: Internationale Vergleiche

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einer Zeit, die weithin als Goldenes Zeitalter der Korruption galt. Da nicht alle 657 Sitze des Unterhauses bei jeder Wahl zum Unterhaus wirklich umkämpft waren, spiegeln diese Zahlen wohl kaum die britische Neigung zu Wahlverstößen wider. Dennoch ist der Kontrast zum Reichstag bemerkenswert, bei dem die Wahlanfechtungen während seiner ersten sieben Legislaturperioden nie unter zwölf Prozent fielen und manchmal mehr als 20 Prozent erreichten. Darüber hinaus nahmen die Vorwürfe gegen britische Wahlen ab – von 33 Petitionen 1880, die zu zwölf Annullierungen führten, hin zu einer einzigen Annullierung 1895 –, während die deutschen Zahlen sich erhöhten.10 1898 zog die Wahlprüfungskommission Bilanz. Ihr ausführlicher Bericht, der auch separat als Broschüre veröffentlicht wurde, deutete an, dass drei Jahrzehnte nach Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts Wahlverstöße immer noch häufig vorkamen. Zwischen 1893 und 1898 wurde jedes dreißigste Reichstagswahlergebnis für ungültig erklärt.11 Wie über das Wetter redete jeder über Wahlverstöße, aber niemand tat etwas dagegen. Zumindest nicht bis zu den Reformen von 1903. Dennoch galt die Reichstagswahl von 1912 – die letzte des Kaiserreichs – als die schlimmste in der Geschichte.12 Die Vergabe von mehr als 20 Prozent der Parlamentssitze wurde angefochten, obwohl die Sozialdemokratische Partei, die mit Abstand energischste Klägerin, ihre Anhänger anwies, nur jene Sitze anzufechten, die sie selbst zu gewinnen hoffen konnten, falls die Wahl wiederholt würde. Zwölf Siege wurden sofort für ungültig erklärt und 1914, nach zweijähriger Untersuchung, war das Schicksal von 28 Siegern, einschließlich solcher liberaler politischer Stars wie Ernst Bassermann und Friedrich Naumann, immer noch unentschieden.13 Auf der Suche nach Trends oder sogar dem wahren Ausmaß der Unregelmäßigkeiten leidet der Wahlforscher unter dem gleichen Handikap wie der Historiker, der das Sexualverhalten, die öffentliche Unruhe oder die Kriminalität erforscht: Da die Existenz des zu quantifizierenden Gegenstandes eine Sache der Definition ist – ungleich beispielsweise einer Geburt, einem Landkauf oder einem Fußballtor, schwanken die Zahlen.14 Darüber hinaus kann man nie Veränderungen im Geschehen von Veränderungen in der Aufmerksamkeit der Berichterstattung unterscheiden. Dennoch produzieren diese Untersuchungen mehr als Statistiken über den Wahlalltag. Zusammen betrachtet, beleuchten sie mindestens drei wichtige Züge der öffentlichen Politik im Kaiserreich. Erstens 10

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Zahlen errechnet aus: Seymour: Reform, S. 189 f.; siehe auch 191 ff., 395; und Gash: Politics, S. 133. Seymour, S. 387, nimmt an, dass nach den Reformen von 1868 und 1883 die Untersuchungen ehrlicher durchgeführt wurden. Hierzu Hanham: Elections, S. 263; J. R. Howe: Corruption in British Elections in the Early Twentieth Century, in: Midland History V, 1979–1980, S. 63 ff. Fairbairn: Authority, S. 816. Bertram: Wahlen, S. 129–138. Unbetitelter Artikel, VossZ, 13. Mai 1914; unbetitelter Artikel, Staatsbürger Ztg 112, 14. Mai 1918, BAB-L R1501/14653/1, o. S.; Reichstagsschluß und Wahl-Prüfungen, in: Berliner Neueste Nachrichten, 23. Mai 1914. Instruktionen an die SPD, vertraulicher Bericht des Polizeipräsidenten v. Jagow ans MdI, Berlin, 7. Febr. 1912, BAB-L R1501/14645, Bl. 203. Vgl. Seymour: Reform, S. 189f., 193, mit Gash, Politics, S. 133. Deutsche Zahlen meine Zählung, Prengels und Lesers Zahlen unterscheiden sich teilweise.

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Teil 1: Der Rahmen

zeigen uns die Verhaltensweisen, gegen die die Deutschen protestierten – und diejenigen, gegen die sie sich nicht wehrten –, wo der Wahlschuh drückte: welches Verhalten als selbstverständlich hingenommen wurde und welches Zorn erregte. Zweitens zeigen die Vorkehrungen des Reichs mit Protesten umzugehen die allgemeine Wertschätzung der öffentlichen Sektoren. Diese stand zwar in scharfem Kontrast zu angelsächsischen Einstellungen, deren Vorstellungen von Privatangelegenheiten sich bis ins politische Leben auswirkten, kam aber den Oppositionsparteien zugute. Drittens weisen die Anzahl, die Intensität und die Kontinuität der deutschen Wahlproteste darauf hin, dass der Protest unabhängig davon, ob der betreffende Sitz gewonnen oder verloren wurde, eine wichtige Funktion innerhalb des Wahlsystems erfüllte. Sie waren erste Zeichen eines Legalismus – jenes pedantischen Beachtens von Regeln, das charakteristisch für die Zeit war, und zugleich einer der schärfsten Waffen der abhängigen Wähler. Die weiteren Kapitel werden sich ausführlicher mit diesen Themen befassen. Aber dies ist eine gute Gelegenheit, sie jeweils in einen internationalen Zusammenhang zu platzieren.

Unterschiedliche Formen der Wahlverstöße Obwohl die gesetzlichen Definitionen von Wahlverstößen in den verschiedenen Ländern nahezu gleich waren, unterschieden sich die Reaktionen der Öffentlichkeit erheblich. Die geringe Anzahl der Wahlannullierungen in den Vereinigten Staaten beispielsweise dürfte weniger eine größere Ehrlichkeit, als eine größere Toleranz gegenüber der Korruption spiegeln.15 Entrüstung andererseits kann eine Messlatte des Bruchs zwischen kulturellen Normen und politischen Gepflogenheiten sein. Um die Bedeutung der Beschwerden über Wahlverstöße in Deutschland zu verstehen, müssen wir nicht nur deren Häufigkeit untersuchen, sondern auch, worüber sich die Deutschen beschwerten und worüber nicht. Jedes Land bekommt die Wahlverstösse, die es verdient – oder verlangt. Der britische Wähler scheint seine Stimme traditionell im selben Licht gesehen zu haben wie der örtliche Geschäftsinhaber einer Ladenkette heute sein FranchiseRecht: als Lizenz, etwas zu verkaufen. Anthony Trollope hat wohl kaum übertrieben, als er den Abscheu eines Wählers über einen Kandidaten beschrieb, der eine saubere Wahl versprach: »Bei der Vorstellung von einer sauberen Wahl in Percycross wurde es ihm richtig übel. … Es lag für ihn etwas absolut Gemeines und Unehrenhaftes in der Vorstellung, ein Mann würde als Repräsentant einer Gemeinde im Parlament auftreten, ohne die üblichen Gebühren zu bezahlen.«16 Bestechung, der am häufigsten angezeigte, gesetzlich am stärksten bekämpfte und für den größten Teil der Wahlkosten verantwortliche Straftatbestand, war 15

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Argersinger: Perspectives, S. 682 f. Siehe beispielsweise die vielen Unregelmäßigkeiten und das Fehlen einheitlicher Verfahrensweisen bei den US-Präsidentenwahlen 2000. Obwohl diese Verstöße damals als nationaler Skandal galten, ist seitdem nichts unternommen worden, um eine einheitliche Verfahrensweise zu schaffen. Trollope zitiert in Briggs: People, S. 104. Hierzu Seymour: Reform, S. 167 Anm. 4.

Kapitel 2: Die Morphologie der Wahlverstöße: Internationale Vergleiche

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derartig tief in der britischen Wahlkultur verwurzelt, dass sie, mit den Worten eines Kandidaten, gleichsam als »Teil des verfassungsmäßigen Systems« gelten konnte. »Einen ausgeben« konnte bedeuten, einen offenen Zapfhahn bis zu sechs Wochen vor der Wahl zu finanzieren. Der Corrupt and Illegal Practices Act (Gesetz gegen Korruption und illegale Praxis) von 1883 war dementsprechend sozusgen ein Anti-Aufwand-Gesetz.17 Deutschland bot ein ganz anderes Bild. Auch hier kamen natürlich bei jeder Wahl vereinzelte Beispiele von Bestechung vor. Tagelöhner in der ostelbischen Herrschaft Pnuwno erhielten einen halben Scheffel getrocknete Erbsen, wenn sie konservativ wählten. Wähler im rheinischen Dorf Rodenkirchen, die »loyale« Wahlzettel annahmen, bekamen eine Wurst aus einem großen Korb an der Tür des Wahllokals.18 Ein Schluck Schnaps zu Beginn der Wahl und wesentlich größere Mengen an Freibier an deren Ende waren übliche, wenn auch nicht immer als respektabel angesehene Begleiterscheinungen deutscher Wahlen. Dennoch sind mir nur drei Wahlen in der gesamten Zeit des Kaiserreichs bekannt, in denen Korruption in der Form von Bestechung oder »Spendieren« auch nur gerüchteweise den Wahlausgang beeinflusst haben soll – und in zweien davon erscheinen die Hinweise unglaubwürdig, da die verlierende Partei sich nicht einmal die Mühe machte, eine Beschwerde einzureichen.19 Trotz des Vorkommens von kleinen Belohnungen ist deutlich, dass die deutschen Wähler selbst von Parteien, die eine Wahl anfechten wollten, nicht als käuflich angesehen wurden, noch wechselte genug Geld den Besitzer, um den Reichstagsabgeordneten – anders als ihren britischen Kollegen – die Möglichkeit zur Manipulation zu geben. Bestechung spielte einfach keine Rolle bei dem, was die Deutschen an ihrer Politik auszusetzen hatten.20 Noch auffälliger als das Fehlen ernsthafter Bestechung in Deutschland war das Nichtvorhandensein von Gewalt, wie sie die italienischen, spanischen, griechischen, irischen und amerikanischen Wahlkampagnen der damaligen Zeit prägte.21 Nur eine Handvoll Deutscher verlor jemals ihr Leben bei Wahlen. 1871 17

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Zitat aus Seymour: Reform, S. 409, 445; ähnlich: Gwyn: Democracy, bes. S. 64 ff., 83 ff.; Fredmann: Ballot, S. 3. Die Franzosen betrachteten England als das klassische Land der Wahlbestechung. Der französische code pénal kommentierte in seiner Begründung des Artikels 113: »Wir überlassen den Engländern das skandalöse Privileg, mit Geld und vermittels Spesen um die Stimmen ihrer Mitbürger zu werben; die französische Ehre verschmäht solche Mittel. (laissons aux Anglais le scandaleux privilège der briguer les souffrages de leurs concitoyens à prix d`argent et a force de dépenses; l’honneur français repousse un tel moyen!)« Zitiert in Freudenthal: Wahlbestechungen, S. 37. Reg.-Bez. Marienwerder, Wahlbezirk 5 (Schwetz), AnlDR (1877, 3/I, Bd. III) DS 106, S. 351; Nieper SBDR 12. März 1878, S. 481; Reg-Bez. Köln, Wahlbezirk 2,1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 36 ff. Die Ausnahme war Reg-Bez. Königsberg, Wahlbezirk 1, 1907, wo angeblich 50–60.000 Mark in einer NL-Kampagne ausgegeben wurden: AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 16) DS 445: S. 2465 ff.; ebd., Bd. 21, DS 825, S. 4926 ff. Die anderen beiden Fälle wurden in einer RT-Debatte erwähnt: Reg.-Bez. Gumbinnen, Wahlbezirk 7, wo ein reicher Bankier 1881 zwischen 50.000 und 100.000 Mark ausgegeben haben soll, um Frhr. Mirbach (K) zugunsten eines LL zu verdrängen; außerdem die Kampagne von Königsberg 1887, wo derselbe Mäzen angeblich ähnliche Summen für einen Kartell-Kandidaten ausgegeben haben soll. Mirbach, Dr. Meyer (Halle), Dr. Hegel SBDR 6. März 1888, S. 1307, 1709. Freudenthal: Wahlbestechungen, gibt keine Informationen über die Häufigkeit der Bestechung und keinen Hinweis darauf, dass sie eine Rolle spielte. Ein größerer Etatposten während der griechischen Wahlen waren die Kosten für die Soldaten, die für Ordnung sorgen mussten: Further Reports on the Practice Prevailing in Certain European Countries in Contests for Election to Representative Legislative Assemblies … (1882). BAB-L R1501/14451, Bl. 102.

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Teil 1: Der Rahmen

erlitt ein Wähler in Hörde einen Herzinfarkt, als die Polizei eine Menge zurückdrängte, die einen fliehenden Parteigänger verfolgte. Zwei Männer wurden auf dem Höhepunkt des Kulturkampfs im Odenwald in einer Wirtshausschlägerei wegen des Versäumnisses eines evangelischen Bürgermeisters, sechs Katholiken auf die Wahllisten zu setzen, getötet. Im März 1891 warf eine Menschenmenge in Hanau Steine bei einer Kundgebung, die von dem antisemitischen Agitator Otto Böckel veranstaltet wurde – diese Aktion wurde jedoch schnell durch die preußische Armee niedergeschlagen.22 Es mag einige weitere solcher Fälle gegeben haben. Aber im Gegensatz zu ihren italienischen und spanischen Pendants waren die Opfer durch aufgebrachte Wähler zu Tode gekommen, nicht durch den Staat. Solche Vorkommnisse waren kaum mit den Wahlen in Philadelphia zu vergleichen, wo in einigen Stadtteilen, nach den Worten eines US-Marschalls von 1881, »kaum eine Wahl vergeht, ohne dass jemand getötet wird«, oder in Cincinnati, wo eine Wahl als ruhig angesehen wurde, wenn nur acht Leute ihr Leben verloren. Selbst der kritischste Journalist in Deutschland wäre nie auf den Gedanken gekommen, festzustellen, wie es eine Zeitung im mittleren Westen der USA 1884 tat, fast überall im Lande sei die Stimmabgabe »eine beschwerliche Aufgabe, begleitet von Gefahr für Leib und Leben«.23 Man könnte auf die Idee kommen, diese Art von Gewalt sei nur das Äquivalent des 19. Jahrhunderts für die Ausschreitungen bei unseren heutigen Fußballspielen gewesen, bei denen Anhänger einer Mannschaft auf die einer anderen losgehen; diese haben in der Regel keinerlei politischen Hintergrund und natürlich auch keine politischen Auswirkungen. Aber in einigen amerikanischen Gemeinden trat Gewalt damals derart gehäuft, systematisch und einseitig auf, dass der Wettstreit, um den es bei einer Wahl geht, daran zugrunde ging. 1869 war in Louisiana Gewalt die Regel; dort wurden mehr als 200 schwarze Mitbürger in einem einzigen Wahlbezirk ermordet, in einem anderen nicht weniger als 2.000 Republikaner getötet oder verletzt. Noch 1894 herrschte zur Wahlzeit ein »Terrorregime«.24 Schließlich war es die Gewalt oder deren Androhung, die den amerikanischen Süden bis 1965 unter der Herrschaft einer einzigen Partei hielt. Das deutsche Kaiserreich hingegen hatte eine starke Polizei. Und obwohl die Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, dass die Deutschen sehr wohl zu kollektiver Gewalt fähig sind, waren die Deutschen im Kaiserreich, verglichen mit Italien, Spanien, Irland und den Vereinigten Staaten, eine außergewöhnlich gesetzestreue Gesellschaft. Kommen wir zur Frage des Wahlbetrugs. In Irland war die Abgabe mehrerer Stimmen »ein wesentlicher Bestandteil des … Wahlvorgangs«.25 In Philadelphia machte vor der Reform des Registrierungsgesetzes im Jahr 1906 der

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In den 1930er Jahren gerieten Schlägereien in New York derart außer Kontrolle, dass in den Wahllokalen Polizei eingesetzt werden musste. 1991 kosteten ähnliche Einsätze die Stadt fast eine Million Dollar: Police at the Polls, Leitartikel, New York Times, Nov. 1991. In Deutschland waren Gewalt oder Gewaltandrohungen »sehr selten«: Gurwitsch: Schutz, S. 47. GA Nr. 17, 21. Jan. 1871, S. 97; Nr. 33, 8. Febr. 1874, S. 186; Levy: Downfall, S. 68. Argersinger: Perspectives, S. 684. Rowell: Digest, S. 232 f., 241 f., 246, 519, 526 ff. Hoppen: Elections, S. 6, siehe auch S. 218.

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Witz die Runde, dass alle Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung (1776) immer noch ihre Stimmen abgaben. In den New Yorker Wahlen von 1910 entsprach die Anzahl der gefälschten – und der verhinderten – Stimmen ungefähr der Zahl der gültigen. Pittsburgh, Chicago, Louisville und San Francisco waren ebenfalls verrufen.26 Noch 1984 wurden bei einer Kongresswahl in Indiana fast 50.000 ungültige Stimmen abgegeben, 21 Prozent der Gesamtzahl.27 Im Gegensatz dazu waren bekannt gewordene Fälle von Wahlbetrug in Deutschland mit dem bloßen bürokratischen Auge kaum zu erkennen. Jede Wahl hatte ihre übereifrigen Wahlvorsteher, die einen oder zwei Extrastimmzettel in die Wahlurne schmuggelten, oder ihren nicht wahlberechtigten Wähler, der sich als jemand anderes auszugeben versuchte. Ich fand 36 Anschuldigungen solchen Fehlverhaltens nach der ersten Wahl von 1871. Aber selbst wenn diese alle zutrafen, waren insgesamt nur 1.301 von fast vier Millionen abgegebenen Stimmen betroffen. Jede Beschuldigung wurde von dem entsprechenden Land untersucht und angeklagt, falls die Beweise ausreichten. Die Strafe konnte bis zu zwei Monate Gefängnis betragen.28 1902, im ersten Jahr, in dem sich die Statistiker des Kaiserreichs die Mühe machten, Wahlfälschung getrennt von den – relativ wenigen – Fällen von Bestechung und physischem Zwang zu registrieren, gab es vier Verurteilungen wegen Wahlbetrugs. Nach den allgemeinen Wahlen von 1903 stieg die Anzahl der Verurteilungen auf 54, aber selbst 1912, nach einer Wahl, in der erheblich mehr als zwölf Millionen Männer ihre Stimme abgaben, waren die Zahlen nicht wesentlich höher als die niedrigen von 1871: lediglich 43 Anklagen wegen Betrugs und nachfolgende 33 Verurteilungen.29 Wenn Wähler Angst haben, den Aufklärern gegenüber zu offenbaren, wie sie gestimmt haben, ist Wahlbetrug kleinen Ausmaßes schwer zu beweisen. Die genannten Zahlen müssen die Häufigkeit keineswegs widerspiegeln. Aber generell kann eine derart kleine Anzahl von Fälschungen im Wahlvorgang wie auch beim Ergebnis der Wahlen nur eine unbedeutende Rolle gespielt haben. Der Historiker, der nach kultureller Bedeutung sucht, wird sie hier 26

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Harris: Registration, S. 6, 350 ff.; ders.: Election, Bd.1, S. 315 ff.; Seymour u. Frary: World, Bd. 1 S. 261; Argersinger: Perspectives, S. 669 ff., bes. S. 672, 677 f.; Philip E. Converse: Change in the American Electorate, in: The Human Meaning of Social Change, hrsg. V. A. Campbell und P. E. Converse, New York 1972, S. 263 ff.; ders.: Comment on Burnham’s Theory and Voting Research, APSR 68, Sept. 1974, S. 1024 ff.; Ethington: City, S. 76, 120, 133, 140, 150 f., 167. Converse schätzte das Ausmaß gefälschter Stimmen in den USA zeitweilig auf 30–70 Prozent. Dem widersprechen Allen u. Allen: Fraud, S. 169, die auch die Behauptung von Harris bezweifeln, dass 1906 134.000 Namen illegal aus den Wählerlisten Philadelphias gestrichen worden seien; William E. Gienapp: Politics Seem to Enter into Everything. Political Culture in the North, 1840–1860, in: Essays on American Antebellum Politics, 1840–1860, hrsg. v. S. E. Maizlish und J. J. Kushma, Arlington/Texas 1982, S. 14 ff., bes. S. 23 ff. Garber u. Frank: Elections, Bd. 1, S. 14 ff. Königliches Landgericht Dresden, 16. April 1912, BAB-L R1501/14461, Bl. 108 f. Bayerns mildeste Strafen reichten von fünf bis zu acht Tagen. BAB-L R1501/14461, Bl. 102 ff. Wahlfälschung, entsprechend § 108 des Strafgesetzbuchs, erscheint von 1902 bis 1912 in: Statistik des Deutschen Reichs, Bde. 155, 162–163, 169–170, 176–177, 185, 193, 228–229, 237, 247, 257, 267. Diese Statistiken nennen zu geringe Zahlen Nicht-Wahlberechtigter (Ausländer, Armenhilfeempfänger, Bankrotteure, geistig Behinderte), die wählten, wie eine gründliche Untersuchung der WPK-Berichte zeigt. Eine Zusammenfassung der Antworten aller Bundesstaaten auf eine Anfrage der Reichsregierung zur Wahlfälschung 1912: BAB-L R1501/14461, Bl. 114 ff., 197 ff.

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nicht finden. Wahlfälschung im großen Stil, wie sie in den neuen Demokratien, von den damaligen amerikanischen Städten bis zu den heutigen Entwicklungsländern, so häufig vorkommt, war im deutschen Kaiserreich unbekannt.30 Diese drei Straftaten – Bestechung, physische Gewalt und die Fälschung der Ergebnisse – sind die klassischen Formen des Wahlverstoßes. Sie wurden im französischen Strafregister in Gesetzesparagraphen verboten, die später von den deutschen Nachahmern übernommen wurden. Und diese drei Straftaten sind die von deutschen Verfassungsexperten im Zusammenhang mit freien Wahlen am häufigsten diskutierten Vergehen.31 Aber Bestechung, Gewalt und Fälschung waren keine zentralen Merkmale der deutschen Wahlauseinandersetzungen, was darauf hindeutet, dass sie ihren Niederschlag als Vergehen nicht nur im Strafgesetzbuch, sondern auch in bürokratischen Verhaltensweisen sowie im öffentlichen Sittenkodex fanden. Ihr Nichtvorhandensein geht wahrscheinlich auf Traditionen zurück, die lange zuvor bereits vom Staat gefördert und erzwungen wurden; solche Normen und Sitten legten die Grundlage dafür, dass freie und wettbewerbsorientierte Wahlen eine echte Chance erhielten. Auffällig ist jedoch, dass im Strafgesetzbuch des Kaiserreichs ausgerechnet jene Übertretung fehlte, die stets erneut in den deutschen Wahlbeschwerden auftauchte. Dies war der Tatbestand der Beeinflussung: die Einflussnahme auf Personen oder Gruppen während des Wahlverfahrens in einer Weise, die die Stimmabgabe der Bürger änderte.32 Die Häufigkeit dieser Anklage – die oft der wahre Hintergrund von Protesten gegen viele weniger schwerwiegende, scheinbar technische Verstöße war – wie auch die Seltenheit aller anderen, sagt uns einiges über das im Kaiserreich herrschende Wertesystem und dessen politische Kultur. Die »Beeinflussung« des Wählers war das, worum es bei den deutschen Beschwerden gegen freie Wahlen überhaupt ging. Dies jedoch war eben die Essenz von Wahlen – wie Zeitgenossen sehr schnell feststellten. Genau diese Einflussnahme, die einige Deutsche für Korruption hielten, war für andere wiederum das zentrale Thema des Dramas, das sie selbst aufführten. »Die Wahlfreiheit besteht in der Wahlbeeinflussung«, verkündete der altehrwürdige Konservative Ludwig von Gerlach. Paul Laband, ein führender Verfassungsgelehrter, betrachtete die Beeinflussung von Wahlen als »unantastbares Menschenrecht«. Friedrich von Behr, ein Abgeordneter der Freien Konservativen für Greifswald, beharrte: »… aber ich denke, so viel sollten wir es doch schon verstanden haben, dass die 30

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In der Mindener Ztg. vom 29. Juni 1903 wurden Gerüchte kolportiert, zitiert in Hahne: Reichstagswahl, S. 130. Aber das Fehlen einer Wahlbeschwerde in dieser prozesssüchtigen Kultur spricht entschieden dagegen. Freudenthal: Wahlbestechungen, Heft 1, z. B. erwähnt nur diese drei; Drenkmann: Wahlvergehen, S. 168 ff. Zur französischen Situation der »Contrainte (faits de pression)«, »Inclinée (corruption)« und »Trompée (manoeuvres frauduleuses proprement dites)«, siehe Charnay: Le Suffrage, S. 205–334, und ders.: Les scrutins. Mohl: Keine andere Beschwerde wurde öfter geäußert. Erörterungen, S. 528 ff., bes. 571; fast vierzig Jahre später wurde Wahlbeeinflussung zum Hauptproblem des Wahlvorgangs erklärt durch Mayer: Bekämpfung, S. 21; während Gurwitsch: Schutz, S. 48, sie genauer als Einschüchterung durch Arbeitgeber definierte. Druck seitens der Regierung scheint die häufigste Beschwerde bei den französischen Wahlen gewesen zu sein. Charnay: Les scrutins, bes. S. 101.

Kapitel 2: Die Morphologie der Wahlverstöße: Internationale Vergleiche

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ganze Signatur dieses Gesetzes ist: strenge dich an, übe deinen Einfluß so gut du irgend kannst« – damit der Wähler den Reichstag in deinem Sinne wähle. Die Voraussetzung einer geheimen Wahl sei schließlich, fügte ein anderer hinzu, ein Wähler, der mündig genug sei zu entscheiden, ob er sich durch diese Bemühungen beeinflussen lassen wolle oder nicht.33 Allerdings konnte man es den Wählern nicht übel nehmen, wenn sie wiederum die Solidität der beiden Voraussetzungen von beiden Herren in Frage stellten – die geheime Wahl und den mündigen Wähler. Von Rechts wegen war die Stimmabgabe bei Reichstagswahlen, anders als die meisten Landtagswahlen in Deutschland, in der Tat geheim. Aber wie wir in Kapitel 3 sehen werden, war in vielen Bezirken diese Geheimhaltung bestenfalls nominell gegeben. Zweifel waren auch bezüglich der tatsächlichen »Mündigkeit« des Wählers angebracht. In Chicago sagte ein Sprichwort, dass die Friedhöfe wählten. In Deutschland war es der lebendige Wähler, der wegen seines Kadavergehorsams seinem Vorgesetzten gegenüber mit einer Leiche verglichen wurde. Wenn die Kräfte in einer Gesellschaft sehr ungleich verteilt sind, wie es in Deutschland der Fall war, kann »Beeinflussung« ein Euphemismus für Zwang sein, »Mündigkeit« für eine Autonomie, die alle anderen Beziehungen des Wählers ignorierte. Dennoch – und das macht die Geschichte von den ständigen massenhaften Beschwerden wegen Wahlverstoßes so rätselhaft – zeichnen die Ergebnisse der deutschen Wahlen keineswegs ein Bild von den Wählern im Würgegriff der Mächtigen. Der Anteil der Sitze, die den Parteien gehörten, die aktiv von der Regierung unterstützt wurden, lag anfangs (1871) bei 56,5 Prozent – ein mageres Ergebnis, wenn man bedenkt, dass der Tag vor dem Wahltag bestimmt war von Glockengeläut, Hymnengesängen und Fackelzügen, die allesamt den gerade errungenen Frieden nach dem äußerst erfolgreichen Krieg feierten, den Deutschlands Regierende gegen Frankreich geführt hatten.34 Als dann Wahl auf Wahl folgte, wurde es zunehmend schwieriger, Bismarcks fundamentale Fehlinterpretation der Dynamik zu ignorieren, die er selbst in das politische System eingebaut hatte. Die Zahl der Mandate, die an solche Parteien gingen, die der Regierung angenehm waren, schrumpfte beinahe von Mal zu Mal und sank in der letzten Wahl vor dem Ersten Weltkrieg auf klägliche 25 Prozent – eine bemerkenswerte Zahl angesichts all dessen, was man über die Effektivität autoritärer Institutionen in Deutschland gelesen hat.35 An ihren Ergebnissen gemes33

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Gerlach zitiert in: Wahlurnen, VossZ 3. April 1913, BAB-L R1501/14476; Paul Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4 Bde. Tübingen und Leipzig 1901, Bd 1, S. 310 f., und bes. Anm. 7; F. K. v. Behr (FK) und v. Lenthe (W): SBDR 17. Apr. 1871, S. 240. Die GA und die HZtg vom 3. bis 5. März 1871 waren voll von Berichten über die Friedensfeiern. Hatte Bismarck den Austausch der Friedensvereinbarungen am 2. März und die Wahl bewusst zusammengelegt? Diese Zahlen sind nur grobe Anhaltspunkte, da die Macht der Regierung nicht mit der »Macht« auf der Bezirksebene übereinstimmen musste. Dagegen Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 878, der die Abgeordneten der Opposition 1881 auf nur 57,2 Prozent und 1912 auf 61,1 Prozent beziffert. Ich schließe die Abgeordneten des Z und die LL als Opositionelle ein, denn obwohl sie gelegentlich ad hoc für die Vorschläge der Regierung stimmten, setzte sich die Regierung nie für ihre Wahl ein. Dass eine Regierung manchmal auf die Unterstützung des Z und die Anhänger Eugen Richters zählen konnte, war nicht ein Zeichen ihres »Erfolgs« bei der Manipulation von Wahlen, sondern ihrer Bewegung in genau die Rich-

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Teil 1: Der Rahmen

sen, waren Wahlverstöße, zumindest seitens der konservativen Kräfte, eklatante Reinfälle. In den Kapiteln 8 bis 12 werde ich darauf zu sprechen kommen, warum nicht immer der Schnelle das Rennen und der Starke die Schlacht gewann. Wenden wir uns hier der Frage zu, warum die Beschwerden über Wahlverstöße nicht abnahmen, wenn Einschüchterung und Druck, zumindest auf nationaler Ebene, nicht den gewünschten Effekt zeigten. Denn diese Frage führt uns zu unserem zweiten Punkt – und damit zum Kern der vielschichtigen Beziehung zwischen Theorie und Praxis der Reichstagswahlen.

Reichstagsverfahren und Beschwerdekultur Noch in keinem Land ist die Demokratisierung das zwangsläufige Ergebnis der Ausweitungen des Wahlrechts gewesen. Wie Charles Seymour, damals noch ein junger Politikwissenschaftler (und später Präsident der Universität Yale) in seiner bahnbrechenden Studie von 1915 bemerkte, hängt die Demokratie immer von einer Anzahl scheinbar unbedeutender Maßnahmen ab.36 Anscheinend nebensächliche Bestimmungen, die dem Historiker oft verborgen bleiben, können von zentraler Bedeutung dafür sein, wie die Zeitgenossen das empfanden, was sie taten. Nirgends ist die Bedeutung des scheinbar Nebensächlichen klarer ersichtlich als in den Verfahrensweisen zur Gültigkeitserklärung von Wahlen. Wenn man sie von einem genügend abstrakten Standpunkt aus betrachtet, so waren diese Verfahren in der gesamten westlichen Welt die gleichen. Die Gremien von Volksvertretern bestanden überall auf ihrem eigenen Recht, über die Legitimität ihrer Mitglieder zu entscheiden: das Unterhaus seit 1586, der amerikanische Kongress seit seiner Gründung 1788, das französische Parlament seit unmittelbar nach der Revolution. Dasselbe Vorrecht war in den Verfassungen von Baden (1818), Württemberg (1819), Hessen (1820) sowie der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung (1849) – um nur einige der ersten deutschen Beispiele zu nennen – festgeschrieben worden.37 Artikel 27 der Reichsverfassung verlieh dem Reichstag ein ähnliches und damit alleiniges Vorrecht.38 Doch wenn wir über diese groben morphologischen Ähnlichkeiten hinausblicken, sehen wir Unterschiede in den Verfahrensweisen, die dafür sorgten, dass die Bedeutung einer Wahlanfechtung sich erheblich unterschied.

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tung, die Bismarck durch die Einführung allgemeiner Wahlen zu verhindern gesucht hatte – die parlamentarische Basis für die Macht der Regierung. Seymour: Reform, S. 3 ff., 523 f. Hierzu Nohlen: Wahlrecht, S. 115. H. Zoepfl: Grundsätze, Bd. 2, S. 331, Anm. 2; Leser: Untersuchungen, S. 13. Ein ähnliches Vorrecht bestand bereits im Ständestaat des alten Deutschen Reichs, siehe Olschewski: Wahlprüfung, S. 56 ff. Dieses behielt er, bis die Weimarer Verfassung ein Gericht zur Untersuchung von Wahlbeschwerden einsetzte, das aus Abgeordneten und Mitgliedern des Reichverwaltungsgerichts bestand: das Wahlprüfungsgericht. In der BRD hat der Bundestag ein Vorrecht bei der Wahlprüfung, aber Mitglieder des Bundestags, der Bundesrat, die Bundesregierung oder ein Quorum von mindestens 101 wahlberechtigten Bürgern können an das Bundesverfassungsgericht appellieren. Schuster: Verfassungen, S. 175; Olschewski: Wahlprüfung, S. 17, 23 und Anm. 28.

Kapitel 2: Die Morphologie der Wahlverstöße: Internationale Vergleiche

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In Großbritannien beispielsweise wurden Wahlanfechtungen als privater Konflikt behandelt. 1842 schlug Lord John Russell vor, ein vom Staat bezahltes Gremium von Wahlbeauftragten einzurichten. Aber Sir Robert Peel erhob den Einwand: »Wir müssen uns vorsehen, dass wir nicht der Öffentlichkeit die Untersuchung von Privatangelegenheiten aufbürden, die nicht von öffentlichem Interesse sind.« Ob die Ehrlichkeit von Wahlen im privaten oder öffentlichen Interesse lag, machte bereits einen Unterschied. Britische Kläger mussten mitsamt ihren Zeugen nach London reisen, um ihren Fall vorzutragen, was die Gerechtigkeit zu einer schmerzhaft teuren Angelegenheit machte. Der Ire Daniel O’Connell schätzte, dass er zwischen 1.000 und 1.500 Pfund Sterling ausgeben musste, um seinen Sitz gegen Beschwerdeführer zu verteidigen – aber sein Herausforderer habe fünfmal so viel ausgegeben. 1860 betrugen die durchschnittlichen Kosten für die Anfechtung einer Wahl geschätzte 2.500 Pfund. Selbst nachdem das Wahlpetitionsgesetz von 1868 die Untersuchung von Wahlen vom Unterhaus auf ein Tribunal von Berufsrichtern übertragen und so eine lokale Zeugenaussage ermöglicht hatte, waren die Kosten geradezu Schwindel erregend. Obwohl die Zeugen nicht mehr zu reisen brauchten, taten es die Richter, und Großbritanniens spezielle Zunft von »Wahlanwälten« kam untereinander überein, nicht für weniger als 200 Pfund pro Fall und 50 Guineas pro Tag zur Verfügung zu stehen. Zudem verlangte das Parlament jetzt von jedem, der eine Wahlpetition einreichen wollte, eine Kaution von 1.000 Pfund; eine absichtlich hoch angesetzte Summe, die leichtfertige Proteste verhindern sollte. Zu dieser Zeit waren 1.000 Pfund der Gegenwert von ungefähr 20.000 Reichsmark, eine ungeheuere Summe. Aber die Rechnung konnte im Laufe einer Untersuchung fünfmal so hoch werden.39 Derartige Kosten – für eine Wahlanfechtung und deren Verteidigung – waren nicht die geringsten der Gründe, warum Wahlanfechtungen in England selten blieben – und warum das britische Unterhaus ein Club von sehr reichen Gentlemen blieb.40 Die Briten waren nicht die einzige Nation, die das Schicksal eines öffentlichen Gutes – die faire Wahl – in Privathände legte. Selbst noch 1978, als der Verlierer einer Wahl zum Senat in Virginia nur 27.000 Dollar von dem 80.000 Dollar-Schuldschein für eine Nachzählung aufbringen konnte, war er gezwungen, die Wahl für verloren anzuerkennen, obwohl die Stimmenmehrheit des Gewinners nur 0,3 Prozent betragen hatte.41 Ganz anders im deutschen Kaiserreich. Hier definierten die Juristen des Kaisers Wahlen als eine öffentliche Aufgabe, und der Bürger wurde während des Wahlakts zu einem gleichsam »staatlichen Funktionär«. Hieraus folgte, dass die 39

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Gash, Politics, S. 133 f.; Zitat siehe Gwyn: Democracy, S. 83 ff.; ebenso Leser: Untersuchungen, S. 100, 109 und Seymour: Reform, S. 416, 452 f. Bis zur ersten Wahl nach der Reform von 1883 waren jedoch die Gesamtausgaben für die Wahlen um drei Viertel gekürzt worden. O’Leary: Elimination, S. 229, 231. Die Umtauschrate vor dem Ersten Weltkrieg war 20 Mark zu 1 Pfund Sterling. Alan S. Milward und Samuel B. Saul: The Development of the Economies of Continental Europe, 1850–1914, London 1977, S. 16. Ich danke Jan de Vries für diese Information. Selbst nach 1868 »mussten die Wahlrichter quasi-kriminelle Vorgänge, an denen der Wahlkreis insbesondere, aber auch die breite Öffentlichkeit interessiert waren, als Privatklage des Beschwerdeführers gegen den Beschuldigten behandeln«. O’Leary: Elimination, bes. S. 47. Garber u. Frank: Elections, Bd. 1, S. 47 f.

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Rechtmäßigkeit von Wahlen eine Staatsangelegenheit war und nicht die Privatsache des verlierenden Bewerbers.42 Die Kosten einer Untersuchung – Porto, Reisekosten und besonders entgangene Löhne und andere Zeugengelder, wurden von dem Land getragen, in dem die Wahl stattfand. Nach der Jahrhundertwende, als die Ausgaben sich häuften, versuchten die Landesregierungen erfolglos, die finanzielle Bürde auf das Reich abzuwälzen. Aber zu keiner Zeit erwogen der Reichstag oder die Landesregierungen die angloamerikanische Lösung, Kläger dadurch abzuschrecken, dass sie eine Kaution hinterlegen oder einen Schuldschein unterschreiben mussten.43 Darüber hinaus hatte jeder Deutsche die Möglichkeit zur Wahlanfechtung. Das heißt, er oder sie konnte innerhalb von zehn Tagen nach der Verkündung der Wahlergebnisse eine Beschwerde einreichen und einer Anhörung im Reichstag sicher sein. 1892, nach jahrelangen Kontroversen, beschränkte die Mehrheit im Reichstag diese großzügige Regelung auf Bürger, die in dem umstrittenen Bezirk das Wahlrecht besaßen; aber diese Änderung machte keinen nennenswerten Unterschied bei der Anzahl der Anfechtungen.44 Wenn das Parlament das Vorrecht besitzt, Wahlen für ungültig zu erklären, wird immer die Möglichkeit bestehen, dass die Mehrheit dieses Vorrecht missbraucht, um das zu erreichen, was ihr im Wahlkampf nicht gelungen ist. Das war in Frankreich 1877/78 der Fall, als die Republikaner im Abgeordnetenhaus innerhalb eines Jahres 102 Wahlen verwarfen und damit die Rechte praktisch aus der Politik ausschlossen.45 Obwohl Deutschlands Wahlprüfungskommission zu keiner Zeit gegen Parteilichkeit immun war, stellte ihre Zusammensetzung aus Mitgliedern vieler Parteien sicher, dass Ungültigkeitserklärungen immer die Ausnahme bildeten. Die Bedeutung des Petitionsprozesses lag nicht in der Anzahl der für ungültig erklärten Wahlen – 78 in der gesamten Zeit des Kaiserreichs –, sondern in der gesamten Beschwerdekultur, die durch die Unkompliziertheit des Prozederes einer Anfechtung ermutigt wurde, und in dem Rampenlicht, das es auf angeklagte Missetäter richtete. Die Petitionen, Zeugenaussagen und Begleitdebatten erregten eine enorme Aufmerksamkeit. Die Protokolle der Krefelder Wahl von 1871 erlebten eine solche Nachfrage, dass ein liberaler Abgeordneter behauptete, er hätte einen ganzen Tag damit verbracht, ihnen nachzujagen. Die Protokolle der Danziger Wahl von 1881 waren für die Regierung derart peinlich, dass jemand sie offensichtlich klammheimlich aus dem Bürogebäude 42 43

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Z. B. Gurwitsch: Schutz, S. 3 f., 20. Gurwitsch stützte seine Ansichten auf G. Jellinek: System der subjektiven öffentlichen Rechte, Tübingen 1905, S. 139, 147, 159 ff., 186ff. Bayerisches SM an das RdI, 24. Okt. 1910, BAB-L R1501/14645, Bl. 88; Preussischer Justizminister an BH, 19. Juli 1910. Vor der Beantwortung schickte BH ein Rundschreiben mit der Bitte um Stellungnahme an die Landesregierungen. BAB-L R1501/14645, Bl. 123–127v. Köller: Ungiltigkeit, S. 25 Anm. 3. Leser: Untersuchungen, S. 69 ff. Frauen fochten gelegentlich Wahlen an, aber selten als Einzelpersonen. Windthorst hatte 1874 gegen Versuche Einspruch erhoben, die Proteste auf Bürger des jeweiligen Wahlbezirks zu beschränken: »Jeder im Volke hat ein Interesse, dass hier im Hause nur richtig gewählte Leute stimmen …« Leser: Wahlprüfungsrecht, S. 69 ff., zu Windthorst und dem Abweichen des Reichstags von diesem Prinzip 1892. Charnay: Les scrutin, S. 117 ff. Charnay nennt nicht die Zahl der Sitze in der Kammer, aber ich habe 531 gezählt. Zwischen 1906 und 1939, d. h. nach der Trennung von Kirche und Staat, gab es nur 22 Aberkennungen. Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 13 f., 19 f.; im Gegensatz zu Deutschland: S. 132.

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des Reichstags entfernte. Die Untersuchungen erlaubten es den Deutschen, sich ständig an dem zu messen, was sie als einem modernen Europäer angemessenes Verhalten empfanden – und daraus zu schließen, dass sie versagten.46 Und sogar als die Abgeordneten gegenüber Anschuldigungen wegen Wahlverstoßes bereits abgestumpft waren, blieb das Interesse der Öffentlichkeit stark.47 Wir werden die Anwendung des Beschwerdemechanismus zur Schaffung von Raum für politische Parteien in Kapitel 9 behandeln. Im Moment genügt es festzuhalten, dass die Wahlprüfung zumindest den Bürgern ein Forum dafür bot, diejenigen zu kritisieren, die ihnen übergeordnet waren. Selbst wenn die angezweifelten Stimmen zu wenige waren, um den Ausgang einer Wahl zu beeinflussen, konnte das Ergebnis einer Untersuchung zumindest eine Rüge, eine formale Zurechtweisung sein, die vom Reichstag befohlen und vom Kanzler einem Beamten erteilt wurde, der über das Erlaubte hinausgegangen war.48 Wichtiger jedoch als die süße psychische Genugtuung, der Obrigkeit eins auf die Finger zu geben, war die Funktion der Wahlprüfung als Motor der öffentlichen Meinung und der Mobilmachung der Bürger zugunsten neuer Gesetzgebung – wie die Debatten über die Wahlbeeinflussung des katholischen Klerus zeigen würden. Der Bericht der Sozialdemokraten von 1893 über ihre Parteiarbeit widmete vierzig Seiten den Entscheidungen der Wahlkommission. Zehn davon gaben genaue Anweisungen dazu, wie man eine Wahlbeschwerde einlegt. Den Schluss bildeten die Adresse des Reichstags und die Empfehlung, eine Kopie jeder Beschwerde an die SPD-Delegation zu senden. Die Wahlprüfung wurde somit als ein Instrument zu politischer Bildung angesehen; ein Mittel, theoretische Demokratie in die Praxis umzusetzen. Letztendlich können wir einem jungen Examenskandidaten der Rechtswissenschaft von 1908 zustimmen, der bei der Betrachtung der Aufzeichnungen von vierzig Jahren den Schluss zog: »Die Anzahl der Wahlanfechtungen und Wahleinsprachen hängt von dem Gerechtigkeitssinn derer ab, die solche erheben.«49 Er hätte hinzufügen können: und dem Maß der Bedeutung, das die deutsche Bevölkerung dem Reichstag als Organ ihrer eigenen Vertretung beimisst. Hier lag der Schlüssel zu der enormen Zahl der Wahlanfechtungen. Daher verwundert es nicht, dass immer weiter Petitionen eingingen. 46

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Wehrenpfennig SBDR 22. Apr. 1871, S. 322; Dohrn (NL) SBDR 16. Juni 1882, S. 541 ff.; Ewald (W) SBDR 10. April 1874, S. 708; Bunsen (NL) über [Wahlkreis] 12 Hannover (Göttingen) SBDR 29. März 1871, S. 41. Warum sonst sollte Theodor Wacker 1890 ein kleines Buch über die Gültigkeitsentscheidungen einer Legislaturperiode veröffentlicht haben? Wacker: Rechte. Die Verwaltung legte großen Wert darauf, dass der Reichstag selbst keinen Beamten zensieren, sondern nur die Tatsachen dem Kanzler mitteilen und ihn bitten konnte, die Angelegenheit der betroffenen Landesregierung vorzulegen und, falls nötig, zu rügen. Aber die Vehemenz, mit der die Blaustifte des RdI diese Bestimmung auf Zeitungsartikeln unterstrichen, die die Gültigkeitsverfahren erklärten, zeigt, dass diese Unterscheidung keineswegs der Öffentlichkeit oder auch nur dem Reichstag offensichtlich war. Anders als der Reichstag beanspruchte der Preußische Landtag, gemäß Artikel 82 der Verfassung, die preußischen Untersuchungsgremien anzuweisen, statt über den Ministerpräsidenten zu gehen. Das Wahl-Prüfungsrecht des Reichstags, in: Berliner Börsenzeitung 17. Sept. 1903, Zeitungsausschnitt mit Unterstreichungen und Anmerkungen in BAB-L R1501/14702, Bl. 63. Thätigkeit; Leser: Untersuchungen, S. 57.

Kapitel 3 : Offene Geheimnisse

Ein Arbeiter, der diesmal zum ersten Male seinem Wahlrecht als deutscher Reichsbürger genügt hatte, wurde, nach Hause zurückgekehrt, von seiner jungen Frau gefragt, wem er denn seine Stimme gegeben habe. »Das weiß ich nicht« – antwortete der Gefragte halb treuherzig, halb vorwurfsvoll – »ich habe den Wahlzettel, den man mir in die Hand gab, unbesehen abgegeben; es ist ja doch geheime Wahl.« Geschichte, die in Görlitz die Runde machte, 1874 Parochialitäten sind keine herrschaftsfreie Idylle. Karl Rohe, 1981

Als Vincenz Speckbacker am Wahlmorgen im Jahr 1871 mit dem Stimmzettel in der Hand am Schulhaus in Sachrang eintraf und es verlassen vorfand, beklagte er sich bitterlich, dass er den ganzen Tag verloren hätte, um zu den Wahlen zu kommen, und nicht hatte wählen können. Der Lehrer Johannes Eberle, der mit seinen 24 Jahren bereits eine wichtige Persönlichkeit im Dorf war, hatte nämlich das Schulgebäude abgeschlossen und sich ins Wirtshaus zurückgezogen, wo seine Kollegen vom Wahlvorstand bereits tagten. Erst wenn eine genügende Anzahl von Wählern im Wirtshaus versammelt war – oder, wie manche Leute behaupteten, nur wenn es Eberle gefiel –, brachte er sie truppweise zum Schulhaus, damit sie ihre Stimmzettel in die Urne stecken konnten. Obwohl das Gesetz vorsah, dass mindestens drei Mitglieder des Wahlvorstandes zu jeder Zeit an den Wahlurnen anwesend sein sollten, bemühte sich keiner der Kollegen des Lehrers hinüber. Im Gegensatz zum Gütler Speckbacker und einigen anderen jedoch schienen die meisten dieser oberbayerischen Dörfler damit einverstanden zu sein, den Wahltag im Wirtshaus zu verbringen, ohne Rücksicht darauf, ob oder wann sie wählen durften. Die Atmosphäre heizte sich auf, während der energische Eberle die Kundschaft bearbeitete, um sie dazu zu bringen, seinen eigenen Kandidaten

Kapitel 3: Offene Geheimnisse

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zu unterstützen, den Posthalter Pachmayr – einen Nationalliberalen. Der Lehrer nutzte seine kurzen Ausflüge ins Schulhaus, um die Wahlurne zu durchsuchen. Er zählte laufend mit und teilte das Ergebnis von Zeit zu Zeit allen interessierten Zuhörern mit. Die Menge, die für Pachmayr gestimmt hatte, nutzte die frühe Führung ihres Kandidaten, um Druck auf die anderen auszuüben, sich ihr anzuschließen. Wann immer ein neuer Wähler die Schwelle überquerte, rief die Wirtin, Elisabeth Neumayer ihm zu: »Wählt nur den Pachmayr, Obermeier hat bis jetzt nur zwölf Stimmen.« Der junge Eberle legte seine Befugnisse im Wahlvorstand sehr weit aus. Dies geht aus seinem Umgang mit zwei beurlaubten Soldaten hervor, Georg Passinger und Johannes Angerer. Beide waren an dem Morgen von den Wahlen ausgeschlossen worden, der erste, weil er noch nicht volljährig war, der zweite, weil er nicht auf der Wahlliste stand. Die zwei äußerten ihre Unzufriedenheit im Laufe des Tages immer wieder durch laute Beschwerden, wobei sie heftig dem Alkohol zusprachen. Zu ihnen gesellte sich Benno Oberhorner, ein Gütler, dessen Name auch auf der Liste fehlte. »Ich begab mich dann in das Gasthaus und hielt mich darüber auf, dass ich zur Wahl nicht zugelassen wurde«, berichtete er. Später am Nachmittag sprach Lehrer Eberle die Soldaten an, gab ihnen Stimmzettel für den Liberalen und ließ sie wissen, da mehrere Wähler nicht gekommen seien, könnten sie an ihrer Stelle wählen. Als Oberhorner zur Toilette ging, traf er auf einen Grenzpolizisten, der ihm einen Stimmzettel gab, auf dem ebenfalls der Name des liberalen Kandidaten eingetragen war. Der Grenzpolizist schlug vor, es noch einmal zu versuchen – dieses Mal werde er sicher vorgelassen. So begaben sich die drei zur Wahlurne, und tatsächlich wurden ihre Stimmzettel widerspruchslos angenommen. Als er später dazu befragt wurde, gab der Wahlvorsteher von Sachrang, Bürgermeister Anton Daxer, ein Bauer mittleren Alters, die Verstöße zu. Außer dass er Unbefugte hatte wählen lassen, war er so dumm gewesen, eine Reihe von absolut wahlberechtigten Bürgern abzuweisen, weil er »immer der Ansicht« gewesen sei, dass nur Hausbesitzer wählen dürften. »Ich sehe ein, dass ich bei dieser Wahl Fehler gemacht habe und der Lehrer zu viel gelten ließ«, schloss er reuevoll. »Ich glaubte eben, dass der Lehrer die Sache besser verstehe als ich.«1 Daxer war nicht der einzige Dorfbürgermeister, der sich durch seine Unsicherheit hinsichtlich Formalitäten und Verfahrensfragen praktisch in die Hände des Lehrers begab.

−−− Das folgende Kapitel wird die Wahlen, die als Wahlvorstände bestimmten Männer sowie die Bedeutung der Festlegung eines Wahllokals genauer unter die Lupe nehmen. Wenn, wie einige Zeitgenossen glaubten, das Denken in Hierarchien 1

Oberbayern 7, AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 38, S. 88, 90 ff. Dr. Buhl SBDR 4. Apr. 1871, S. 186. § 85 des Strafregisters über Wahlfälschung schloss keine Stimmen ein, die angeblich stellvertretend abgegeben wurden. Drenkmann: Wahlvergehen, S. 175.

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Teil 1: Der Rahmen

zur zweiten Natur jedes Deutschen geworden war, dann könnte das Denken an die Gemeinschaft seine erste gewesen sein. Und während wir das Schicksal der Bewegung zur Wahrung der Privatsphäre beim Wahlakt nachzeichnen, werden wir die vielschichtigen Beziehungen zwischen öffentlicher Politik und privaten Wahlmöglichkeiten erkunden.

Die Aufseher der Demokratie Freie Wahlen hängen von der Lösung eines massiven Personalproblems ab. Im Jahr 1871 wurden in Deutschland rund 50.000 einzelne Wahlvorstände benötigt, um den Wahlvorgang zu überwachen: die Wahlberechtigung der erscheinenden Wähler anhand der Liste wahlberechtigter Bürger zu verifizieren, die Stimmen auszuzählen, die Ehrlichkeit des Vorgangs zu garantieren. Wer sollten diese Männer sein? Genau dieser Punkt hatte die Gemüter am meisten erregt, als das allgemeine Wahlrecht im verfassungsgebenden norddeutschen Reichstag diskutiert wurde. Dessen Mitglieder lehnten den Vorschlag der Regierung ab, dass in jedem Wahlgremium Beamte sitzen sollten. Die Integrität der Wahl des Volks verlangte, so waren sie überzeugt, dass das Volk selbst seine Wahlen verwalte.2 Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden. Für die Auswahl des Vorsitzenden jedes Wahlvorstandes und seines Stellvertreters sollten die »zuständigen Behörden« in jedem der Staaten des Reichs verantwortlich sein. Normalerweise waren dies der Magistrat oder Bürgermeister in den Städten, in ländlichen Gebieten der Landrat oder sein nicht-preußisches Pendant: der Hauptvertreter der Regierung in den Landkreisen und die Schaltstelle zwischen dem Land und der örtlichen Verwaltung. Das Recht, einen Vorsitzenden zu ernennen, war von großer Bedeutung, wie die über solche Entscheidungen entstehenden Konflikte deutlich werden ließen.3 Der Landrat selbst ernannte einen Protokollführer und drei bis sechs Beisitzer. Die einzige gesetzlich festgelegte Qualifikation für einen Sitz im Wahlvorstand war jedoch, dass der Mann kein unmittelbarer Staatsbeamter war.4 Die Einfachheit dieser Bestimmung trog infolge der Komplexität des deutschen Beamtentums. Regierungspräsidenten, Landräte und ihre unmittelbaren Untergebenen – Regierungsräte, Polizisten und Steuereintreiber – waren allesamt offensichtlich Beamte und somit ausgeschlossen. Aber traf das auch auf Förster, Postbedienstete und Krankenhausverwalter zu? Wie stand es mit dem

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Prof. R. Siegfried an G. Bendix, 15. Juni 1908, BAB-L R1501/14474, Bl. 167 f.; siehe auch R. Gneist (NL) SBDR 26. April 1871, S. 411. 1908 schätzte das RdI die benötigte Anzahl für Preußen auf 60–80.000 Personen. Hatschek: Kommentar, S. 170 f. BAB-L R1501/14451, Bl. 133–145v, 149–149v, 154–157, 170–179, 184–184v; Fenske: Landrat, S. 445 f. § 9 des Wahlgesetzes von 1869, § 10 des Wahlreglements von 1870. Im Weiteren werden diese beiden Dokumente gemeinsam als Wahlordnung bezeichnet. Bei den Wahlen mussten zu jeder Zeit mindestens drei Mitglieder des Wahlvorstandes anwesend sein, und der Vorsteher und der Protokollführer durften nicht gleichzeitig fehlen.

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Kommandanten der Freiwilligen Feuerwehr?5 Und waren auch Männer unmittelbare Staatsbeamte, denen zusätzlich zu ihrem Hauptberuf das Führen des örtlichen Standesregisters anvertraut worden war?6 Da das Deutsche Reich ein Staatenbund war, fiel die Antwort von Staat zu Staat unterschiedlich aus. Über jeden Beruf musste separat entschieden werden, was für gewöhnlich nur dann geschah, wenn eine Wahl angefochten wurde. Der Status der drei Personen, die am häufigsten als Wahlvorstandsmitglieder zur Verfügung standen – der Lehrer, der Pfarrer und besonders der Dorfvorsteher – war in hohem Maße unklar.7 Anders als ihre Pendants in den Städten verdankten die Bürgermeister auf dem Land ihr Amt nicht einer Wahl, sondern der Ernennung durch den Oberpräsidenten, und obwohl sie formal gesehen örtliche, das heißt nicht Staatsbeamte waren, standen sie unter der Befehlsgewalt des Staates.8 Es ging natürlich nicht wirklich um ihre formale Position innerhalb des Verwaltungsapparats des Staates. Es ging um Abhängigkeiten. Aber wir werden sehen, dass Abhängigkeit und Unabhängigkeit sich in Berlin, wo der Reichstag die Zusammensetzung der Gremien debattierte, als wesentlich eindeutigere Kategorien darstellten, als dies in den Wahllokalen überall im Land der Fall war. Die preußische Regierung hatte, als sie sich für Beamte als Wahlaufseher aussprach, vorhergesagt, dass ohne diese die Suche nach qualifiziertem Personal ländliche Bezirke in »einige Verlegenheit« bringen werde.9 Etliche Kritiker mutmaßten, dass die Regierung selbst dafür sorge, dass diese Prophezeiung sich erfüllte. In Angerburg-Lötzen, ungefähr zwanzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt, behaupteten örtliche Mitglieder der Fortschrittspartei, dass ihr Landrat absichtlich »notorisch bekannte Trunkenbolde« ausgewählt habe, die »sich auf öffentlicher Landstrasse im Schmutze herumwälzen«, um als Vorsitzende der Wahlaufsicht zu fungieren. Ihre Einschätzung, dass der Landrat von Angerburg politisch zuverlässige Beisitzer suchte, mag zutreffend gewesen sein, aber ähnliche Schwierigkeiten ergaben sich häufig für Bezirke, deren Wahlvorstände einer anderen politischen Überzeugung waren.10 Beschwerden aus allen politischen Parteien über den Bildungsgrad der Aufseher waren fester Bestandteil der Wahlanfechtungen. Welche Qualitäten diese oder jede Person auch haben mochte, so fehlten 5

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H. v. Friesen (K) SBDR 10. Jan. 1889, S. 371. Die unterschiedlichen Definitionen eines »unmittelbaren Staatsamts« sind in einer Ratgeber-Broschüre für die Konservative Partei aufgelistet, die anonym von dem Abgeordneten E. M v. Köller, dem Landrat von Kamin, herausgegeben wurde. Ungiltigkeit, S. 29 f. Ebenso: Reichstags-Wahlgesetz, S. 71 ff. Ja, entschied die Mehrheit der WPK, unter erheblichen Kontroversen: Marienwerder 3, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd.6) DS 273, S. 1176 ff. Postbedienstete: (1890/91, 8/I, Bd. 3) DS 258, S. 1913; jedoch dazu Hatschek: Kommentar, S. 179. Proteste gegen die Zusammensetzung der Gremien, die diesen oder jenen Beruf nennen, sind zu zahlreich, um einzeln aufgeführt zu werden. 1897 zeichnete sich einige Klarheit ab. Köller: Ungiltigkeit, S. 29 Anm. 1. Noch 1912 saßen evangelische Pfarrer in Wahlvorständen, obwohl dies, gemäß dem gegenwärtigen Reichstag, nicht rechtens war. Wahlkreis 4 Potsdam, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1435: S. 2945. Inzwischen gab es keine Einwände mehr gegen Bürgermeister in den Wahlvorständen. K. Müller: Strömungen, S. 223 f.; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 64. Hatschek: Kommentar, S. 170 f. Protest Gumbinnen 5. Richter SBDR 27. April 1871, S. 432 ff. Oppeln 4; AnlDR (1871, 1/I, Bd.3) DS 63, S. 140 f.

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doch den Brauern und Wirten, den Förstern und Bauern, die normalerweise die ländlichen Wahlvorstände bildeten, die Erfahrung, die Übung und die Neigung, die nötig waren, um die Feinheiten der Wahlordnung zu beherrschen. Das Unterlassen der Vereidigungszeremonie war nur das geringste Zeichen ihrer Nonchalance. Einige Vorsteher ernannten Beisitzer, die noch nicht volljährig waren. Andere übertrugen die Verantwortung für längere Zeitabschnitte auf ihre Freunde. Es schien keinen Zweck zu haben, den nachlässigen Umgang mit den Wahlbestimmungen zu bestrafen, weil deren strikte Einhaltung bedeutet hätte, dass man fast jede Wahl für ungültig hätte erklären müssen. Es schien auch hoffnungslos, diese Zustände beheben zu wollen, denn die Abgeordneten waren überzeugt, dass durch neue Bestimmungen, selbst wenn sie radikal vereinfacht sein sollten, nur »noch größere Verwirrung eintreten« würde.11 Das Führen eines Duplikats der Wählerliste, die Verfahren zum Zählen und Aufheben der Stimmzettel und eine ganze Reihe weiterer Formalitäten, die man ausgeklügelt hatte, um genaue und ehrliche Ergebnisse zu erhalten, waren dem Reichstag kaum eine Diskussion wert, wenn eine Wahl angefochten wurde, da deren Missachtung »fast ausnahmslos bei jeder Wahl« vorkam. Im Krieg zwischen der Detailgenauigkeit der Bestimmungen und der Naivität – manchmal auch der Unaufrichtigkeit – der Menschen, die sie anwendeten, kamen die Bestimmungen jedes Mal schlecht weg.12 Wesentlich ernster als die Wahlvergehen, die aus den Schwächen der Aufseher entstanden, waren jedoch solche, die aus ihren Stärken erwuchsen. Trotz all der Beschwerden über die Ungebildeten und Ungehobelten war das Gros der deutschen Wahlvorstände, in den Städten wie auf dem Land, keineswegs der Abschaum der Gesellschaft, sondern bestand aus Respektspersonen. In den größeren Städten, wo die Stadtväter die Wahlvorsteher bestimmten, waren diese überwiegend Männer, die bereits ein hohes Amt innerhalb der Stadt bekleideten. Und ihre Helfer hoben sich durch Reichtum und Bildung hervor. Häufig waren sie Fabrikbesitzer, Bauunternehmer oder Gymnasiallehrer von einiger Reputation. Auf dem Lande saßen in den Wahlvorständen zusammen mit Dorfvorstehern und Wirten oft Gutsbesitzer oder deren Verwalter. Aber in jeder Gemeinde, ob groß oder klein, städtisch oder ländlich, waren diese die einflussreichen Männer: solche, die Beschäftigung zu bieten, Kredite zu verlängern, Land zu bearbeiten, Gefälligkeiten zu erweisen hatten – Männer, denen sich ihre Nachbarn natürlich fügten.13 Und das Hauptmerkmal eines bedeutenden Mannes war seine Angewohnheit zu befehlen, seine raubeinige Autorität. Im Gegensatz zu den Kompetenzen, die dem unmittelbaren Staatsbeamten übertragen worden waren, war diese weder legitimiert noch durch irgendein Amt oder Regelwerk begrenzt. So schnauzte der Wahlvorsteher eines Bezirks bei Northeim, ein Brauereibesitzer, Bürger an, die seinem Sohn einen Stimmzettel für ihren Kandidaten geben wollten: »Na, det geht em nischt an, hier hebbe ick 11 12 13

Beide Zitate: AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 64, S. 265 f. Becker SBDR 27. März 1871, S. 20; Haerle 13. März 1879, S. 387; Hermes 6. März 1888, S. 1317. Ähnlich in England: Seymour: Reform, S. 362; Hanham: Elections, S. 399 f.; Vernon: Politics, S. 101 f. GA Nr. 4, 6. Jan. 1871, S. 26. »Respektspersonen« siehe Kulemann: Erinnerungen, S. 25.

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welche für mick; da, Junge, den gebe ick Die, in meiner Gemeinde hebbe ick tu befehlen.«14 Arroganz war nicht dem Patriarchen vorbehalten, der seinen Sohn anwies. Obwohl die Wahllokale von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends geöffnet sein sollten (und nach 1903 bis sieben Uhr abends), öffneten einige Wahllokale erst im Laufe des Nachmittags. Schließlich sei es das Fest der heiligen Kunegunde, argumentierte der Wahlvorsteher von Höfen; die Leute in seinem Bezirk würden den Morgen damit zubringen, nach Bamberg zu reisen, um die Messe zu besuchen.15 Gelegentlich war die Erklärung weniger harmlos, wie zum Beispiel, als Wahlvorsteher von Petzinger, Gutsbesitzer in Alt-Gurren und ein Fortschrittlicher, die Wahl bis vier Uhr nachmittags verschob und so sicherstellte, dass die konservativ gesinnte bäuerliche Bevölkerung, deren jährliche Landwirtschaftsmesse am nächsten Morgen in einem benachbarten Regierungsbezirk begann, das Dorf vor der Öffnung des Wahllokals verlassen musste.16 Einige Wahlvorsteher vergaßen – oder versäumten es –, überhaupt eine Wahl abzuhalten.17 Es gab zahllose Beschwerden, dass Aufseher sich weigerten, nicht genehme Stimmzettel anzunehmen und zwar mit Ausreden, deren Vielfalt nur durch ihre eigene Phantasie begrenzt war. Manchmal war die Begründung, der Stimmzettel sei beschmutzt. Bei anderen Gelegenheiten wurde der Wähler nach seinem Namen oder seinem Alter gefragt, und wenn die Antwort nicht genau mit den Angaben auf der Wählerliste übereinstimmte, wurde er wieder weggeschickt.18 Die Wähler kannten zwar häufig ihr genaues Alter nicht, ihren Namen aber sehr wohl, daher waren diese Vorkommnisse für gewöhnlich von Auseinandersetzungen begleitet. Ein Beispiel dafür spielte sich im kleinen Endrejen in Ostpreußen ab, als der Lehrer Jesset, ein Konservativer, seinen siebzigjährigen Schwiegervater abwies, der ein aktiver Fortschrittlicher war.19 Einige Wahlvorsteher teilten ihrem Dorf einfach mit, dass sie nur Stimmzettel für einen bestimmten 14

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Hannover 11, SBDR 28. März 1871, S. 26. Ähnliche Zustände herrschten in den USA bis ins 20. Jahrhundert, wo ein Bericht für die Brookings Institution die örtlichen Wahlrichter als »ihr eigenes Gesetz« beschrieb. Harris: Administration, S. 8. Oberfranken 5, AnlDR (1871, 1/I, Bd. 3) DS 27, S. 82. Französische Ähnlichkeiten bis zum Ersten Weltkrieg: Seymour u. Frary: World, Bd. 1, S. 374, 378. Gumbinnen 5, AnlDR (1881, 5/II, Bd. 6) DS 283, S. 1040. Manchmal bewirkte auch eine zu lange Öffnung eines Wahllokals eine Manipulation. Einspruch v. C. R. Meister u. a., Parchim, 9. März 1887, BAB-L R1501/14662, Bl. 26; Sachsen-Weimar 2, AnlDR (1893/94, 9/II, Bd. 2) DS 165, S. 910. Marienwerder 8: Haerle SBDR 13. März 1879, S. 387. In Rotenberg versäumte es ein liberaler Wahlvorsteher, einen ganzen Wahlbezirk – der bekannt für seine Sympathien für die Welfenpartei war – vom Datum der Wahl zu unterrichten, was diese ungefähr 300 Stimmen kostete. Hannover 17, AnlDR (1882/83, Bd. 6) DS 242, S. 926. Hierzu Pastor Schöbel aus Quosnitz in Breslau 5, SBDR 29. März 1871, S. 46. Beschmutzte Stimmzettel: Hannover 11, SBDR 28. März 1871,S. 25 f.; Trier 6, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 323, S. 1325; Arnsberg 5, AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 181, S. 902; absichtliches Missverständnis von Namen auf Wählerlisten: Beschwerde des liberalen Wahlkomitees Erfurt 1, 12. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 12 ff. Stimmzettelaustausch: Breslau 2, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1432, S. 2931, 2934. Protest des Kaufmanns Louis Rohrmoser und Genossen in Tilsit, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 103 S. 606 f. Einem Polen wurde gesagt, er solle um fünf Uhr wiederkommen; der deutschsprachige Wahlvorsteher »wolle sich unterdessen überzeugen, ob der Chudzloski wirklich 42 Jahr alt sei«. Bromberg 2, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 105, S. 633. Rickert SBDR 10. Jan. 1889, S. 358. Beschwerde von C. R. Meister u. a., ebd.

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Kandidaten annehmen würden.20 Andere zogen es vor, bis zum Auszählen der Stimmen zu warten, um dann ihren Ermessensspielraum auszunutzen. Und das geschah nicht nur im ländlichen Raum. 1878 schrieb ein ängstlicher sozialdemokratischer Wähler, um irgendwelchen Einwänden zuvorzukommen, Wilhelm Hasenclevers Namen mit einem Stift neben dessen gedruckten Namen (denn wie konnte man schon wissen, ob der Stimmzettel sonst als ungenügend ausgefüllt angesehen würde?). Sein Berliner Wahlvorstand, allesamt Fortschrittliche, sortierte den Stimmzettel aus. Die Begründung? Die Wahlordnung besage ausdrücklich, dass ein Stimmzettel nicht mehr als einen Namen enthalten dürfe. Mit konservativen Stimmzetteln gingen die Berliner Wahlvorstände keineswegs nachsichtiger um. Ein Anhänger des Hofpfarrers Adolf Stoecker hatte dummerweise »Ich wähle den« vor Stoeckers Namen geschrieben – raus flog der Stimmzettel.21 Die Wählerlisten boten selbstherrlichen Wahlvorstehern eine weitere Gelegenheit zur Manipulation. Obwohl das Gesetz es vorschrieb, dass die Listen der wahlberechtigten Wahlbürger in jedem Wahlbezirk acht Tage lang »zu Jedermanns Einsicht offen« liegen sollten, wurde diese Bestimmung vielerorts schlicht ignoriert. Noch 1887 sagte der zuständige Wahlvorsteher Wählern in Thorn-Kulm, die einen Blick darauf werfen wollten, »dass er sich die Listen nicht durchschnüffeln lassen werde«. Da die kleinste Abweichung des Wählernamens von dem auf der Liste einen Vorwand zum Ausschluss bedeuten konnte, hatte solche Selbstherrlichkeit praktische Konsequenzen, besonders für die polnischen Wähler, die in der Regel davon ausgehen konnten, dass ihre Namen falsch geschrieben waren.22 Andererseits passierte es auch, dass Mitglieder des Wahlvorstands am Wahltag noch weitere Namen zur Liste der Wahlberechtigten hinzufügten. In Tilsit, nahe der russischen Grenze, schrieb ein Wahlvorsteher die Namen von fast sechzig Wählern auf die Liste, die der Bürgermeister zuvor als unmündig oder nach Aberkennung ihrer bürgerlichen Ehrenrechte wegen krimineller Verurteilungen abgewiesen hatte. Als seine Kollegen Einwände erhoben, behauptete er einfach, »dass er dazu das Recht habe«.23 Im Besitz der Listen zu sein, bedeutete zugleich, die Wahlbeteiligung zu beherrschen. 1877 in Freiburg im Breisgau und 1881 in ganz Berlin machten sich die Wahlvorsteher ihr Wissen zunutze, wer gewählt hatte und wer nicht, um von Boten die – ihnen genehmen – Wahlabstinenzler holen zu lassen. Und überall 20 21

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Hannover 2, AnlDR (1884, 6/1, Bd. 5) DS 148, S. 538; Breslau 10, SBDR 11. Jan. 1889, S. 382. AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 94, S. 666 f. Ein Wahlvorstand in Wernigerode sortierte eine Stimme für LR Meyer mit der Begründung aus, dass der Vorname fehle – obwohl Meyer dort als LR wohlbekannt war. Magdeburg 8, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 91, S. 335. Zitat: von Donimirski, Gutsbesitzer auf Lysomice, und E. C. Zerniewicz, Bauunternehmer in Podgorz, Marienwerder 4, 12. März 1887, BAB-L R1501/14665, Bl. 82 ff.; v. Koscielski SBDR 7. März 1888, S. 1358 und AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 153, S. 661 ff. Namen: BAB-L R1501/14461, Bl. 165 f.; Arnsberg 5, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1081; Hannover 3: H. Ramme [Kamme?] an Forst- und Gutsinspektor R. Clauditz, Lingen, 20. Feb. 1890, SAO Dep. 62b, S. 2379; Sachsen 23, 1869, Bromberg 3, 1881: Leser: Untersuchungen, S. 19 ff. Noch 1912 wurden Arbeiter in Sacrau gewarnt, dass jeder, der die Wahllisten einsehe, schriftlich angeben müsse, für wen er stimmen wolle. Breslau 3, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1433, S. 2939. Protest des Kaufmanns L. Rohrmoser u. a., Gumbinnen 1, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 103, S. 600 ff.

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in den kleinen Städten und Dörfern kam es vor, dass der Wahlvorsteher in regelmäßigen Abständen außerhalb des Wahllokals erschien, eine Liste der fehlenden Wähler verlas und den Gemeindediener mit seiner Amtsmütze und den Stimmzetteln jener politischen Partei, deren Anhänger der Wahlvorsteher war, wegschickte, um die Stimmen einzuholen – ob die Wähler nun kommen wollten oder nicht. Historiker, die sich mit Wahlstatistiken befassen, sollten das im Blick behalten, bevor sie zu viele Schlüsse aus Veränderungen im Wahlverhalten ziehen. Da die Wahlen manchmal durch eine Handvoll Stimmen entschieden wurden (1877 in Freiburg und 1912 im 1. Berliner Bezirk je neun), konnten solche Interventionen den Ausschlag geben.24 Genauso ungeniert gingen die Wahlvorstände häufig mit den Stimmzetteln um, sobald die Wahllokale schlossen. Statt diese öffentlich auszuzählen und zu registrieren, wie das Gesetz es verlangte, schloss mancher Wahlvorsteher die Urne, in der sie aufbewahrt wurden, in seinen Schreibtisch ein oder nahm sie mit nach Hause.25 Je nach Örtlichkeit und Umständen wurden die Wahlvorstände als Verkörperung des Staates angesehen oder auch nicht, aber immer verkörperten sie die örtliche Obrigkeit. Außer in den größten Städten wurde die Autorität dieser lokalen Obrigkeiten selten angezweifelt geschweige denn bedroht. Die kontinuierliche, unangefochtene Natur dieser Obrigkeitsstrukturen lässt sich im Fortleben dessen erkennen, was wir als stellvertretend abgegebene Stimmen bezeichnen würden. Ein Meister mochte für seine Gesellen wählen, ein Priester für seine Gemeindemitglieder, ein Vater für seinen Sohn, ein Bruder für den anderen. Außer in den seltenen Fällen, in denen Frauen und Kinder die Stimmzettel ihrer Männer und Väter abgaben, war das stellvertretende Wählen fast immer eine Spiegelung – und Bestätigung – der sozialen Hierarchie.26 Es war jedoch auch die Bestätigung der Macht der Lokalgrößen an der Spitze dieser Hierarchie. Als Wahlvorsteher trafen sie die Entscheidung, ob die Bestimmung, die das 24

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Z. B. Berlin 1 und 2, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 44, S. 117 ff.; Protest des Max Graf v. Kageneck u. a., Baden 5 (Freiburg), AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 191, S. 538 ff. und AnlDR (1878, 3/II, Bd. 3) DS 124, S. 973 ff. (Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 252, zu Baden 5, täuschen sich offensichtlich); W. Schmalz, Schreiner, Protest Kassel 8, 1890, BAB-L R1501/14668, Bl. 211 ff.; Frankfurt a. O. 7, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 5) DS 162, S. 548; Potsdam 6, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 248, S. 1105 f.; Bromberg 2, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 105, S. 633; Sachsen 20, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 247, S. 1103; Sachsen 16 (Leipzig Land), 1887: Rickert SBDR 10. Jan. 1889, S. 358. Ähnliche Beispiele: Hessen 5, AnlDR (1887/88, 7/2, Bd. 4) DS 155, S. 673 ff., und aus den preußischen Landtagswahlen: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 118. Skepsis bezüglich der bei Schleppers getroffenen Unterscheidung bei Suval: Politics, S. 4, 36, 244. Wiesbaden 5, AnlDR (1877, 3/1, Bd. 3) DS 34, S. 222; Gumbinnen 1, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 103, S. 604, 607; Bromberg 2, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 105, S. 630 f., 633. AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 38, S. 90. Brüder: Baden 5, Klügmann SBDR 6. April 1878, S. 780; Väter: Kassel 1, AnlDR (1881/82, 5/2, Bd. 5) DS 184, S. 624; Söhne: Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3428; Ehefrauen, Kinder: Oppeln 4, AnlDR (1876, 2/III, Bd. 3) DS 111, S. 813; Baden 5, SBDR 6. April 1878, S. 780; Kassel 3, AnlDR (1881/82, 5/II, Bd. 5) DS 161, S. 545 f.; Sachsen 3, AnlDR (1881, 5/II, Bd. 5) DS 174, S. 611; Danzig 2, AnlDR (1905/06, 11/I, Bd. 3) DS 412, S. 2407; Königsberg 1, AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 16) DS 445, S. 2465 (Katherina Narraisch legte Beschwerde beim Reichstag ein, weil sie abgewiesen wurde!); Waldeck, AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 20) DS 736, S. 4627, und Köller: Ungiltigkeit, S. 32; Pastoren: Oppeln 4, AnlDR (1871 1/II, Bd. 2) DS 63, S. 140; Bürgermeister: BAB-L R1501/14705, Bl. 18–28. Andere Stellvertreter: Minden 1, AnlDR (1878, 3/II, Bd. 3) DS 99, S. 835 f.; Hannover 9, AnlDR (1890/91,, 8/I, Bd. 1) DS 95, S. 641.

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stellvertretende Wählen verbot, durchgesetzt oder aber geflissentlich übersehen wurde.27 Sie konnten aber auch die Bestimmung erst einmal ignorieren, um sie dann später durchzusetzen. Örtliche Arbeitgeber, die mit einer ganzen Handvoll Stimmzettel für ihre Arbeiter oder ihre Nachbarn eintrafen, konnten erleben, dass diese angenommen oder abgelehnt wurden, je nachdem, wie viele Leute bereits gewählt hatten. Falls am Ende des Tages die Liste der Wähler nicht mit der Anzahl der Stimmzettel übereinstimmte, mochte es geschehen, dass diese selben Stimmzettel – oder andere, die höher auf dem Stapel lagen, wieder herausgezogen wurden.28 Zweifellos spiegelten mitunter stellvertretend abgegebene Stimmen die echte Wahlentscheidung des abwesenden Wählers wider.29 Oft jedoch drückte ein Mann, der einen anderen seinen Stimmzettel abgeben ließ, dieselbe Haltung gegenüber der Wahl aus, die wir in Sachrang beobachten können, wo die Soldaten Passinger und Angerer sowie der Gütler Benno Oberhorner auf ihrem Recht zu wählen bestanden, es ihnen aber egal war, welchen Stimmzettel sie einwarfen.30 Selbst heute noch, so berichten uns Politikwissenschaftler, »erkennen Beobachter des Entscheidungsprozesses regelmäßig Züge, die schwer mit einer ergebnisorientierten Auffassung von einer gemeinsamen Auswahl in Einklang zu bringen sind. … Potentielle Teilnehmer scheinen genauso sehr am Recht zur Teilnahme interessiert zu sein wie am Akt der Teilnahme.«31 In den frühen Jahren des Kaiserreichs war das Wählen noch kein Akt der Auswahl, sondern eine Erklärung: »Ich bin nicht wie andere Männer, ich entscheide selber.« Für solche Bürger war das Wählen ein Ritual der Dazugehörigkeit, eine Bestätigung, dass sie »ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft und bei deren Entscheidungen anwesend« seien. Solche Haltungen erklären die Unbekümmertheit, mit der Wähler, die einen ganzen Tag geopfert hatten, um zu den Wahlurnen zu kommen, dennoch einverstanden waren, einen Stimmzettel mit der Stimme eines anderen einzuwerfen, und die Bereitschaft anderer, die nicht kommen konnten, einen Stimmzettel – irgendeinen – durch andere für sie einwerfen zu lassen. Solche stellvertretend abgegebenen Stimmen, die den Wählerwillen in unterschiedlichem Grade wiedergaben, waren nur so lange von den Wählern zu tolerieren, wie das Parlament selbst noch nicht als Entscheidungsgremium angesehen wurde, also bevor es den Parteien gelungen war, die Gesellschaft und deren Repräsentation als antagonistisch zu definieren und damit den Reichstag zum Punktezähler der verschiedenen deutschen Gruppenidentitäten zu machen. Sobald das geschah – und zwar an einigen Orten sehr früh, wie wir im nächsten Kapitel sehen wer27

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Oberfranken 5, AnDR (1871, 1/II, Bd. 3) DS 27, S. 82. Die stellvertretende Stimmabgabe war nicht auszurotten: Danzig 2, Waldeck (Zitat oben), Sachsen-Meiningen, AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 19) DS 625 S. 4233–4234; viele Fälle in Breslau 2, AnlDR 1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1432, S. 2925, 2929, 2931 f. MdI Mecklenburg-Schwerin an Gutsherrschaft zu Kleefeld, 18. Juni 1891, BAB-L R1501/14662, Bl. 50; Minden 1, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 187, S. 522. Z. B. Oberbayern 7, AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 38, S. 90. Ähnlich 1903 in Dillingen: BAB-L R1501/14705, Bl. 18–28; Breslau 9, Wahlprotest v. Feb. 1887, BAB-L R1501/14665, Bl. 71–75, und auch SBDR 6. März 1888, S. 1817; T. Müller: Geschichte, S. 198. March u. Olsen: Institutionalism, S. 741.

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den –, war der Wahlakt nicht mehr ein Ritual der Dazugehörigkeit, sondern der Differenzierung. In den städtischen Bezirken geschah die stellvertretende Stimmabgabe natürlich von Anfang an weniger naiv. Als Polizeibeamte in Freiburg im Breisgau 1877 die Häuser kranker Wahlberechtigter aufsuchten und versprachen, deren Stimmzettel zu den Urnen zu bringen, versuchten sie ganz offensichtlich, die Wahl zu beeinflussen. In Freiburg mögen die Wahlvorstände bei diesem Manöver nicht beteiligt gewesen sein, aber der Bewegungsunfähige, der, wie widerstrebend auch immer, seinen Stimmzettel dem Polizisten anvertraute, muss das Einverständnis des Wahlvorstands angenommen haben.32 Den Vogel schoss eine Wahl in Altona ab, einem bevölkerungsreichen Vorort von Hamburg, wo Arbeiter, die am Wahllokal eintrafen, vom gesellschaftlich höherrangigen Wahlvorstand zu hören bekamen: »Für Sie ist schon gewählt.«33 Wo die Grenzen eines Wahlbezirks nicht mit denen der Gemeinde übereinstimmten und man nicht mehr auf Unterwürfigkeit zählen konnte, füllte manchmal eine dreiste Demonstration der Macht die Lücke. Die Auswahl eines Wahlbüros konnte die Macht eines Wahlvorstehers untermauern, wie wir bei der Wahl von Sachrang zu Anfang dieses Kapitels sehen konnten. Obwohl Johannes Eberle als Protokollführer offiziell dem Wahlvorsteher unterstellt war, betrachtete der junge Lehrer die Schule als »sein Haus« und handelte dementsprechend. An Respekt von Seiten der Landbevölkerung gewöhnt, über deren Kindern er den Rohrstock schwang und die auf seine Hilfe beim Ausfüllen von Formularen sowie bei Rechtsangelegenheiten angewiesen war, genoss der Lehrer beträchtliche Achtung am Ort. Es erstaunt nicht, dass im Falle eines Streites zwischen Pfarrer und Lehrer ernsthafte Einwände gegen die Wahl »seines« Schulhauses als Wahllokal erhoben wurden. Im benachbarten Riedering brach darüber zwischen einem altgedienten Pastor und einem neuangestellten Schullehrer fast ein Aufruhr los.34 Aber Pfarrer waren nicht die Einzigen, die einen unfairen Vorteil darin sahen, wenn das Schulgebäude als Wahllokal benutzt wurde. Als im Jahr 1878 Wähler in Stumbragirren, einem Dorf in der Nähe der Fortschrittlichen-Hochburg Tilsit, mit Stimmzetteln für den Kandidaten der Fortschrittspartei im Schulhaus ankamen, waren sie in hohem Maße beunruhigt, als ihr Lehrer, der konservative Vorsitzende ihres Wahlvorstandes, ostentativ eine Steuerklassenliste herauszog – ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass ihr Wahlverhalten sich auf ihr Schulgeld auswirken könnte. Hatte der Lehrer Einfluss auf ihre steuerliche Einordnung? Nicht er, sondern sein Landrat, der die Schulinspektoren ernannte und als leidenschaftlicher Vertreter der konservativen Sache bekannt war.35 Da sie eine »parteiische Steuerschraube« fürch32

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Baden 5, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 191, S. 538, 540 und (1878,3/II, Bd. 3) DS 124, S. 973 ff. Ein ähnlicher Fall ereignete sich in Merseburg 2, als der Gemeindediener liberale Stimmzettel einsammelte und die Wähler dabei glauben machte, sie würden diese »offiziell« abgeben, während er sie tatsächlich vernichtete. SBDR 5. Febr. 1885, S. 1101. Schleswig-Holstein 8, AnlDR (1871, 1/I, Bd. 3) DS 28, S. 84. Oberbayern 7, AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 38, S. 85 ff., bes. 96. Hierzu Lehrer Schwanbeck, Mecklenburg 4 (1879, 4/II, Bd. 5) DS 166, S. 1351. Zu den »tüchtigen und zuverlässigen Landräthen« von Tilsit und Niederung: Wahlaussichten für die Pro-

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teten, verließen einige Wähler fluchtartig das »Schullehrerwahllokal«. »Um den Lehrer Kummetat nicht zu erzürnen«, folgten andere ihm in seine Privaträume, wo ein Austausch der Stimmzettel stattfand. Am Ende des Tages war der Fußboden des Schulhauses voll mit verstreuten Stimmzetteln für die Fortschrittspartei. Die Wahl wurde angefochten. »Wünschenswert wäre es, daß die Wahllokale aus der Schule, wo nur Zwang herrscht, verschwinden und jeder Deutsche ohne solchen zur Urne schreiten könnte«, protestierte ein zorniger Wähler. Sein Vorschlag? Die Wohnung des Ortsvorstehers.36 Allen Parteien war der territoriale Vorteil bewusst, wie erhitzte Zuständigkeitsdebatten darüber zeigten, wer das Wahllokal aussuchen durfte.37 Aber wie schon bei der Auswahl der Wahlvorstände waren die Alternativen begrenzt. In ländlichen Gebieten standen oft das Geschäft, die Fabrik oder das Wohnhaus eines bedeutenden Bürgers zur Auswahl – Lokalitäten, die Verwirrung zwischen persönlicher und öffentlicher Autorität stiften konnten.38 Sogar in einer Stadt von respektabler Größe mit 50.000 Einwohnern wurden nicht nur Schulen, Krankenhäuser und Rathäuser benutzt, sondern auch Hotels und Restaurants. Selbst in München, das mit mehreren hunderttausend Einwohnern bereits um 1870 eine Metropole war, wurden Beschwerden laut, dass die Wahlen fast ausschließlich in Bierkellern abgehalten wurden. Der Reichstag machte sich über die Münchner lustig – aber aus praktischen Gründen wurde sowohl in Norddeutschland als auch in Süddeutschland häufig das Wirtshaus ausgewählt.39 Zweckmäßigkeit war das Argument, das der Wahlvorsteher von Veen, ein Wirt, den Wählern gab, als sie entdeckten, dass er die Wahl in sein Wirtshaus verlegt hatte. Als er dazu befragt wurde, räumte er ein, dass er »aus eigener Machtvollkommenheit« die Wahl habe in seinem Hause vornehmen lassen. »Schon bei früheren Wahlen hatte ich ebenso verfahren und zwar aus dem doppelten Grunde, daß die Schulkinder nicht den ganzen Tag herumlaufen sollten, und daß der Wahlvorstand sich bequemer Getränke und Nahrungsmittel verschaffen könne; niemals ist mir ein Monitum über die eigenmächtige Verlegung des Wahllokals gemacht worden.« Als sowohl privater Raum (für seinen Besitzer) wie auch kommerzieller (für die Kundschaft) und öffentlicher Ort (für Vereine und andere Bürgergruppen, die Veranstaltungsräume mieteten) trug das Gasthaus als Wahllokal zum Verschwimmen der Grenzen bei. Es war nicht ungewöhnlich, dass der Wahlvorstand sich zum Kartenspielen in die Wirtsstube nebenan begab

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vinz Ostpreußen. GStA PK I. HA, Rep. 89/210, Bl. 211. RP Koblenz und IM Puttkammer 1881 zur Verbindung zwischen Landräten, Schulinspektoren und der Rolle, die Lehrer bei Wahlen spielten, Wie Bismark, 1/5, S. 10, 12 f. Rolle der Landräte bei Steuern, P.-C. Witt: Landrat. Gumbinnen 1, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 103, S. 607 f. Drei Jahre lange Aufregung in Tilsit: BAB-L R1501/14451, Bl. 133–145v, 149–149v, 154–157, 170–179, 184–184v; und AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 293, S. 1082 ff. Oppeln 4, AnlDR (1876, 2/IV, Bd. 3) DS 111, S. 811, 817 ff.; Fabriken: Torgelow (Stettin 2), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 200, S. 715; Breslau 3, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 220, S. 942 ff. Noch 1912 wurden Wahlen in den Privathäusern von Wahlvorstehern durchgeführt, mit vorhersehbarem Missbrauch. Breslau 2, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1432, S. 2932. München, SBDR 24. März 1871, S. 13; Freiburg a. O., SBDR 17. April 1871, S. 245; Görlitz: GA Nr. 4, 6. Jan. 1871, S. 26; Werne (Arnsberg 5) 1884, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 320, S. 1771; Chemnitz, SBDR 10. Febr. 1888, S. 826 f.

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oder sich eine Weile im Schankraum aufhielt, »um sich etwas zu erwärmen«.40 Die Wähler taten das Gleiche. Indem er die Wahl in sein eigenes Etablissement verlegte, hatte der Wirt als Wahlvorsteher seinen eigenen Vorteil stets im Blick. Aber die Vorteile mochten auch politischer, nicht nur kommerzieller Natur sein. Die polnischen Wähler beklagten sich zu Recht, dass sie in »deutschen« Restaurants voller deutscher Kunden und Wahlkämpfer wählen mussten.41 Da die Geselligkeit im Wirtshaus sich nach ethnischen, religiösen, Klassen- und – mit der Zeit auch zunehmend – nach politischen Orientierungen aufspaltete, war ein »öffentliches« Lokal oft weniger öffentlich im herkömmlichen Sinne als ein kommerziell betriebenes Klubhaus für eine politische Partei. Es war unvermeidlich, dass die Nähe derart vieler Wahlurnen zu Schankräumen das »Ausgeben« begünstigte, was oft durch die Wahlvorstände selbst geschah. Das Ausgeben sah häufig sehr nach Bestechung aus – wie es in Bronow geschah, wo der Wahlvorsteher mehrere Tage vor der Wahl ankündigte, dass die Wähler Stimmzettel für das Zentrum gegen jene für den (Freien Konservativen) Herzog von Ujest eintauschen könnten. Anschließend würden sie dann einen Gutschein bekommen, der ihnen erlauben würde, sich im Werte von eineinhalb Silbergroschen zu erfrischen. Des Vergehens bezichtigt, Stimmen zu kaufen, behauptete der Wahlvorsteher, er versuche nur, etwas gegen die niedrige Wahlbeteiligung des Bezirks zu unternehmen – ein Argument, das man auch häufig nach britischen Wahlen hören konnte. Aber anders als in Großbritannien waren solche Gefälligkeiten – tatsächlich ja Kleinigkeiten – die Geschenke von Privatleuten und fast nie Teil der Wahlkampagne einer Partei und noch weniger eines Kandidaten. Wenn auch der Reichstag die Geschichte eines Wahlvorstehers über die niedrige Wahlbeteiligung nicht akzeptieren mochte, so wurde doch jeder, der auch nur andeutete, dass das Ausgeben die Stimmen der Eingeladenen beeinflusst habe, mit der Allzweckausrede der gewinnenden Partei abgetan: »Außerdem haben wir ja geheime Wahl!«42

Der »Schleier des Wahlgeheimnisses« Dass die Wahl geheim und die Geheimhaltung »die entscheidende Garantie für die Wahlfreiheit« im Kaiserreich war, sind Prämissen, die von mehreren herausragenden Werken zur gesamtdeutschen Politikgeschichte vertreten werden.43 40

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Düsseldorf 7, AnlDR (1872, 1/II, Bd. 2) DS 10, S. 16 ff.; SBDR 31. März 1871, S. 77 ff. Weiteres Kartenspiel: AnlDR (1890/91, 8/I, Bd. 3) DS 246, S. 1873. Andere Fälle der Verlegung von Wahllokalen: Baden 5, SBDR 6. April 1878, S. 780; Hessen 8, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 16) DS 350, S. 292. Marienwerder 3, AnlDR (1898/1900, 10/I, Bd. 4) DS 507, S. 2661 f. Politische Eigenmächtigkeit eines Wirts: Weber W. Stephan u. a., Wahlprotest gegen Breslau 11, 10. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 69–76. Behr SBDR 17. April 1871, S. 240. V. Lenthe (W) und zur Wahl in Boronow in Oppeln 4: S. Albrecht (NL), ebd., 29. März und 5. April 1871, S. 44 und S. 182. »Ausgeben«: Baden 5 (Freiburg), AnlDR 1877, 3/ I, Bd. 3) DS 191, S. 538 ff. und AnlDR (1877, 3/II, Bd. 3) DS 124, S. 973 ff.; Gumbinnen 1, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 103, S. 604, 607 f. Z. B. Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 863 (Zitat); Suval: Politics, S. 4, 48, 50; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 129. Lokale Studien sprechen eine andere Sprache.

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Die Verletzung der Geheimhaltung wurde von den zeitgenössischen Anhängern aller politischen Parteien allerdings vorausgesetzt. Es sei allgemein bekannt, bemerkte der Liberale Joseph Völk 1871, dass es in den meisten Bezirken keine geheime Wahl gebe. Drei Jahre später prangerte der Staatsrechtler Robert von Mohl die gängigen Praktiken als »Spott auf das vom Gesetze verlangte Geheimnis« an. Der Sozialdemokrat Wilhelm Hasselmann war derselben Meinung: dass »für den armen Mann kein geheimes Wahlrecht existiert«.44 Bis 1912 wurden Jahr für Jahr Verletzungen der Geheimhaltung als Anfechtungsgründe genannt und bewiesen.45 Das Problem begann bereits mit den Stimmzetteln. Die Regierungen hatten ursprünglich beabsichtigt, offizielle Stimmzettel zu verteilen, und aus Anlass der ersten Wahl zum Norddeutschen Reichstag 1867 waren die Behörden in den mecklenburgischen Großherzogtümern, in Sachsen-Coburg, Sachsen-Altenburg und den beiden Fürstentümern Reuß so weit gekommen, Stimmzettel drucken zu lassen. Aber die preußischen Bürokraten fürchteten, dass die Wähler aus Frustration über die langen Warteschlangen, die beim Austeilen entständen, ohne zu wählen nach Hause gehen würden – keine schöne Aussicht für einen Kanzler, der auf die konservativen Neigungen der Massen spekulierte. Oder sie könnten außer Rand und Band geraten – eine Möglichkeit, die keine deutsche Regierung als strenger Wächter über die öffentliche Ordnung in Betracht ziehen mochte. Letzten Endes wurde festgelegt, dass jeder Wähler selbst dafür verantwortlich sein sollte, seinen eigenen Stimmzettel mitzubringen.46 In der Praxis wurden die Stimmzettel von den Parteien gestellt. Besonders in ländlichen Bezirken und Kleinstädten waren die Kontaktmänner einer nationalen Partei mit großer Wahrscheinlichkeit genau diejenigen Honoratioren, die die Regierungen dafür brauchten, das Ehrenamt des Wahlvorstandes zu übernehmen.47 Da die politische Neutralität (genauso wenig wie in den Vereinigten Staaten) nicht zu den Voraussetzungen für das Amt gehörte, war es nicht ungewöhnlich, dass ein Wahlvorsteher Stimmzettel für seinen Wunschkandidaten vor und sogar während der Wahl verteilte. Obwohl die Verteilung innerhalb des Wahllokals verboten war, waren selbst bei äußerster Sorgfalt des Wahlvorstandes (und viele Wahlvorstände ließen wenig Sorgfalt walten) 44

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Völk SBDR 1. Mai 1871, S. 515; Mohl: Erörterungen, S. 596; Hasselmann SBDR 11. April 1874, S. 717 f. Die Geheimhaltung war kein Teil des Wahlreglements der beiden mecklenburgischen Großherzogtümer, der kleinen Herzogtümer Sachsen-Coburg-Gotha und Sachsen-Altenburg sowie des Großherzogtums Sachsen-Weimar. Pollmann: Parlamentarismus, S. 92 Anm. 133. Justizrat Dr. Joh. Junck, Leipzig, an Geheimrat Jungheim, 21. Sept. 1912, BAB-L R101/3346, Bl. 297– 298v. 1907: Hannover 17, Kassel 5, Erfurt 3, Waldeck-Pyrmont, Frankfurt 2, alle in AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 20), DS 702, S. 4471 f., 4477 ff.; DS 705, S. 4489 ff.; DS 706, S. 4500 ff.; DS 736, S. 4631; DS 765, S. 4665. 1912: Hessen 8, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 16) DS 350, S. 291 f.; Merseburg 5, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 840, S. 1138; Breslau 2 und Königsberg 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1432, S. 2928 f., 2931, 2934; und DS 1401, S. 2900 f.; Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1568, S. 3396, 3398, 3402, 3418; Breslau 8, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1638, S. 3571 f.; MecklenburgSchwerin 1: Stadthagen (SD), SBDR 21. Mai 1912, S. 2212. Ebenso Leser: Untersuchungen, S. 93 Anm. 2. Pollmann: Parlamentarismus, S. 87, 87 Anm. 108, 88 Anm. 114 f. Zu den Schwierigkeiten, Männer ohne Bezahlung zu rekrutieren: BAB-L 1501/14461; Bl. 220.

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die Grenzen derart fließend, dass die Einschränkung leicht zu umgehen war. So schickte ein Wahlvorsteher in Krassow Wähler, die mit leeren Händen erschienen, in die Küche zu seiner Frau, um sich dort Stimmzettel abzuholen.48 Die Verteilung der Stimmzettel war ein Teil jener ununterbrochenen Kontrolle, die die Wahlvorstände auszuüben sich absolut berechtigt fühlten. An einigen Orten waren die Stimmzettel auf der Außenseite gekennzeichnet, und der Wahlvorsteher notierte gewissenhaft, wenn auch illegal, wie jeder Mann gewählt hatte.49 An anderen war der Wahltisch mit zwei Urnen ausgestattet, einer für jeden Kandidaten.50 Oft wurden Stimmzettel vor der Urne ausgelegt, und der Wähler wurde gefragt, welchen er wolle. Auf mecklenburgischen Gütern, in der Industriestadt Chemnitz und auf Dörfern im ganzen Lande öffneten einige Wahlvorsteher einfach die Stimmzettel und schauten hinein.51 Viele jener Wahlvorsteher, die sich zu wissen berechtigt sahen, wie ein Mann wählte, empfanden sicherlich dieselbe Berechtigung, die Wahl zu beeinflussen. Die Geschichten von Vorstehern, die den Stimmzettel öffneten, ihn laut vorlasen und dann ein Mitglied des Wahlvorstands dem Wähler einen anderen geben ließen, sind zahllos.52 »Die Zettel können wir nicht brauchen«, erklärte 1874 der Vorsitzende in Conzell, Niederbayern, jenen Wählern, die nationalliberale Stimmzettel abgeben wollten, mit einer Geste in Richtung des Geistlichen, der sich im hinteren Teil des Raums aufhielt, »geht hinüber zum Herrn Pfarrer und holt euch andere.« In Rothenburg-Hoyerswerda, Niederschlesien, nahm ein Wahlvorsteher dem Gärtnerssohn Grusche den Stimmzettel mit den Worten ab: »Weis’ einmal, der ist nicht richtig.« und reichte ihm einen konservativen. Fast eineinhalb Jahrzehnte später fielen fast dieselben Worte in Groß Munzel, Hannover.53 Wer konnte diesen Austausch Betrug nennen, solange keine Täuschungsabsicht vorlag?54 Einige Wähler wehrten sich, riefen »Das ist eine Gemeinheit!« und zerrissen ihre Stimmzettel in dem Bemühen, sie festzuhalten. 48 49

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Oppeln 7, SBDR 5. April 1871, S. 181. In den USA führte das Prinzip von zwei konkurrierenden Parteien zur Ernennung von Wahlrichtern durch die Parteien selbst. Harris: Administration, S. 8. Braunschweig 2, SBDR 7. Jan. 1875, S. 873; Marienwerder 5, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 106, S. 351, und SBDR 12. März 1878, S. 481; Kassel 1, AnlDR (1881, 5/II, Bd. 5) DS 184, S. 623; Potsdam 5, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 243, S. 1013 ff. Stettin 2, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 200, S. 715; Elsass-Lothringen 6, AnDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 267, S. 1140 ff.; Breslau 8, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1638, S. 3572. Gut Dargelütz (Mecklenburg-Schwerin 3): BAB-L R1501/14662, Bl. 26 und SBDR 10. Febr. 1888, S. 820; 6. März 1888, S. 1298; Köslin 3, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 242, S. 1091; Sachsen 13, AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 212, S. 905; Sachsen 16 (Chemnitz), SBDR 10. Febr. 1888, S. 824, 825, 826; Anhalt 1, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 135, S. 511; Hannover 17, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 242, S. 927; Breslau 3, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 300, S. 1095; Lübeck, AnlDR (1893/94, 9/II, Bd. 2) DS 131, S. 789 f.; Frankfurt 10, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 195, S. 884 ff.; Breslau 2, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 220, S. 942 ff. und DS 336, S. 1371 ff.; Merseburg 4, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 242, S. 1004 ff.; Marienwerder 3, AnlDR (1898/1900, 10/I, Bd. 4) DS 507, S. 2663. Breslau 5, SBDR 29. März 1871, S. 46; Oberbayern 7, SBDR 5. April 1871, S. 186 und AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2), DS 38, S. 91 ff.; Königsberg 4 und Breslau 2 in AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 333, S. 1361 ff. und DS 336, S. 1371 ff. Niederbayern 2, SBDR 11. April 1874, S. 716; Liegnitz 10, AnlDR (1874, 2/I, Bd. 3) DS 61, S. 238; Groß Munzel: F. Sievers, Kleinhändler (SD), Protest Hannover 9, 12. März 1887, Bab-L R 1501/14664, Bl. 77– 87. Drenkmann: Wahlvergehen, S. 175.

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Aber gerade die Weigerung dieses oder jenes Landarbeiters, sich einschüchtern zu lassen, wurde dann von der Partei des Gewinners als Argument benutzt, dass die Einschüchterung keine Wirkung gehabt haben konnte.55 Die Stimmzettel zu öffnen oder sie sogar bei den Wahlurnen auszuteilen war häufig nicht einmal nötig, um zu erkennen, was ein Mann gewählt hatte. Obwohl die Bestimmungen weiße Papierblätter ohne Kennzeichen vorschrieben, die so gefaltet waren, dass der Name des Kandidaten verdeckt war, bemühten sich die Regierungen nicht um eine Standardisierung.56 Jeder Stimmzettel wurde bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig angesehen. In der Praxis stellte man die Durchsetzung selbst dieser minimalen Bestimmungen in das Ermessen derjenigen, die die Stimmzettel austeilten, und der Wahlvorsteher, die sie für ungültig erklären konnten. Das Ergebnis war ein großes Gerangel, da jeder, der die Stimmen jener Personen überwachen wollte, die ihm verpflichtet waren, einfach sicherstellte, dass unverwechselbare Stimmzettel verteilt wurden.57 Der Landrat von Gumbinnen kündigte bei einer konservativen Wahlveranstaltung an, dass die Stimmzettel ihres Kandidaten, da diese auf dickes graues Papier gedruckt und kleiner als die anderen waren, leicht auszumachen sein würden. Er verhielt sich nur deswegen ungewöhnlich, weil er die Dinge beim Namen nannte. Als Farben kamen unter anderem Zitronengelb, Violett, Rot und Ultramarinblau vor. Zwei Mitglieder der Protestpartei in Elsass-Lothringen verzierten ihre Stimmzettel mit kleinen Bildern von Schwalben – die westwärts flogen.58 Eine offensichtliche Lösung des Dilemmas bestand für einen abhängigen Wähler darin, den von seinen Respektspersonen gewünschten Stimmzettel anzunehmen, den gedruckten Namen durchzustreichen und seine eigene Wahl einzutragen.59 Aber die Wahlvorstände erklärten diese Stimmzettel gerne für ungültig, und die Haltung des Reichstags hierzu hing lange von seiner jeweiligen Zusammensetzung ab.60 Verlässlichere Listen waren also vonnöten. Wahlhelfer des Zentrums in Bochum verbrachten die Nacht vor der Wahl von 1881 damit, die Ränder ihrer Stimmzettel abzuschneiden, um sie den winzigen Quadraten

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SBDR 29. März 1871, S. 46; Sachsen 22, AnlDR (1882–1883, 5/II, Bd. 5) DS 193, S. 689. § 10 des Reichstags-Wahlgesetzes; § 15, Absatz 3 des Reglements im Reichstags-Wahlrecht (1903) S. 11. Es wurde kein Verstoß darin gesehen, dass jede Partei ihre Stimmzettel unterschiedlich von den anderen produzierte. Thätigkeit, S. 161 f.; Köller: Ungiltigkeit, S. 36. W. Löwe (F) SBDR 21. Jan. 1875, S. 1181. Z. B. Oberbayern 7, AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 38, S. 94; Arnsberg 1, Düsseldorf 6, Magdeburg 2, Arnsberg 6 (Dortmund): AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 188, S. 870 ff.; DS 301, S. 1255 f.; DS 335, S. 1369 ff.; DS 354, S. 1489, 1494. LR: Gumbinnen 5 (wo Beamte wegen früherer Wahlvergehen immer noch im Gefängnis saßen), AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 80, S. 197; Richter SBDR 27. April 1871, S. 432; Farben: Mecklenburg-Strelitz, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 32, S. 98 f.; A. Traeger (FVp) SBDR 11. Febr. 1888, S. 844; Trier 6, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 323, S. 1325; Hiery: Reichstagswahlen, S. 417. Ähnlich in den USA: Fredman: Ballot, S. 21; Harris: Administration, S. 151 f. 70 LL in Arnsberg 6, SBDR 13. Febr. 1886, S. 1061; 160 SD in Chemnitz, SBDR 10. Febr. 1888, S. 824. 96 Z- und 8 SD-Wähler in Trier 6, AnlDR (1891, 8/I, Bd. 3) DS 346, S. 2211, 2216. W. Schmalz, Schreiner, Kassel 8, 1890, BAB-L R1501/14668, S. 211 ff.; Aachen 2, 1878, Lepper: Strömungen, Bd. 2, S. 533; Lib. Protest in Erfurt 1, 12. März 1887, BAB-L R1501/14464, Bl. 12–29; Hessen 8, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 16) DS 350, S. 282, 290. Toleranz des Reichtstags: Frankfurt 9, SBDR 19. Febr. 1888, S. 830, und Wacker: Rechte, S. 10 f., 13.

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anzupassen, die die Minenbesitzer verteilten.61 Im gleichen Jahr verschickten Münchener Sozialdemokraten große Mengen an Stimmzetteln an Adressen von Arbeitern mit der folgenden Warnung, die mit der höflichen Anrede »Euer Wohlgeboren!« begann: Am Wahllokale dürfen Sie auf eine Empfangnahme beiliegenden Stimmzettels nicht rechnen! Sollten Ihre Verhältnisse Sie zwingen einen Stimmzettel abzugeben, der genau das Gepräge einer anderen Partei an sich zu tragen hat, ohne daß die betreffende Partei mit Ihren Absichten übereinstimmt, so wollen Sie in irgend einer größeren Papierhandlung sich einen Bogen des zutreffenden Papiers verschaffen und das Format des Ihnen aufgezwungenen Zettels herausschneiden. Auf diesen Zettel schreiben Sie selbst oder Jemand von Ihren Angehörigen unseren Kandidaten mit leserlicher Schrift. Sodann legen Sie diesen Stimmzettel genau zusammen nach dem von Ihnen beabsichtigten Muster und legen ihn ohne weitere Gefahr in die Urne.62

Ein Gang zum Schreibwarenladen reichte nicht immer aus. In einem ländlichen Bezirk waren die Liberalen in einer beinahe ausweglosen Lage, als die Konservativen zwei Tage vor der Wahl Stimmzettel aus ergrautem und vergilbtem Büttenpapier ausgaben, wie man es normalerweise wohl nur in Archiven finden konnte. Ihr Kandidat war erst gerettet, als ein liberaler Fabrikbesitzer sich eilends nach Berlin aufmachte und jedes Antiquariat der Stadt durchsuchte, bis er identisches Papier für die Stimmzettel seiner eigenen Partei fand.63 Jene, die die von ihnen abhängigen Wähler überwachen wollten, waren also gezwungen, ihre Stimmzettel immer komplizierter zu gestalten (1903 gaben die Konservativen bereits Stimmzettel in Form von Strohhalmen, Pyramiden und sogar Schleifen heraus). Von Seiten derjenigen, die ihre Wahl vertuschen wollten, wurde dies mit ständig größerem Erfindungsreichtum beantwortet.64 Als das Wahllokal in Haspe an der Ruhr schloss und der Wahlvorstand (der ausnahmslos aus Nationalliberalen bestand) die Urne ausschüttete, waren die Mitglieder hocherfreut, den erwarteten Haufen dreieckiger Stimmzettel herausfallen zu sehen. Der Schock kam, als sie die Namen auf der Innenseite verlasen: nicht der Indigohändler Ernst von Eynern aus Barmen wurde genannt, sondern der radikale Journalist Eugen Richter. Solch eine Wendung in letzter Minute herbeizuführen war der Traum jeder Partei. Aber als die Besitzer einer Kokerei in Linden entdeckten, dass Wähler auf ihren Dreiecken den nationalliberalen Kandidaten durchgestrichen und den Zentrumskandidaten eingetragen hatten, be-

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AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1079; J. Bachem, SBHA 3. März 1882, S. 627. Ähnliche Versuche von Sozialisten: Hasselmann SBDR 11. April 1874, S. 718. Arbeiter in Breslau 11 wagten es nicht, den Willen der Vorgesetzten zu unterlaufen: AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 104, S. 354 f. AnlDR (1884, 5/IV, Bd. 4) DS 123, S. 987. Hierzu Steinwärders S1 AP: Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 119 Anm. 26. F. H. Schröter (LV) SBDR 9. Dez. 1881, S. 292. Breslau 11, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 104, S. 354; Köslin 1: FrankZ Nr. 60, 1. März 1903, BAB-L R1501/14456, Bl. 3. LL Lösungen: SBDR 13.Mai 1887: 591 ff., bes. 592 f.

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Teil 1: Der Rahmen

riefen sie sich auf die Manipulierung der Stimmzettel.65 Umsichtige Parteifunktionäre lernten es, bis zuletzt mit der Herstellung ihrer Stimmzettel zu warten, um sicherzugehen, dass sie zur leichten Überwachung genügend auffällig seien – oder, im Gegenteil, ähnlich genug, um der Überwachung zu entgehen. Im Jahr 1887 war die Sicherheitsstufe in Saarbrücken so hoch, dass der Vorsitzende des Wahlkomitees der Kartellparteien seine Kollegen erst 48 Stunden vor der Wahl davon informierte, wo die Stimmzettel abgeholt werden konnten. »Erst am Wahltage« sollten diese durch »Vertrauensmänner daselbst an die Wähler verausgabt werden, damit Form und Papier unbekannt bleiben und von anderer Seite nicht mehr nachgemacht werden können.«66 Noch größere Vorsorge traf der »Generalstabsplan«, der von einigen liberalen Gruppen mit einer ganzen Serie auffälliger Stimmzettel getroffen wurde, die einander im Laufe eines Wahltags folgen sollten.67 Die Wähler gewöhnten sich daran, mit schmutzigen Tricks zu rechnen. Keiner davon kam häufiger vor als das Verteilen von Stimmzetteln, die für einen Kandidaten zu sein schienen, aber – wegen eines anderen Vornamens oder eines anderen »Irrtums« (wie z. B. Adolf statt Adolph) – in Wirklichkeit jemand anderes nannten. Die Wähler warfen diese Stimmzettel in gutem Glauben ein, nur wurden sie für ungültig erklärt oder einem anderen, nicht existierenden Kandidaten gutgeschrieben.68 Obwohl Schlauheit normalerweise die Waffe der Schwachen war, ging der Preis für Durchtriebenheit an die Freien Konservativen in Eisleben, die die Furcht der Wähler vor eben einem solchen Trick benutzten, um die Wahlen zu überwachen. Flugblätter, die am Wahllokal ausgehängt waren, mahnten die Wähler, ihre Stimmzettel genau anzuschauen, denn einige, die den Namen des Freien Konservativen Dr. Otto Arendt trügen, seien gefälscht und würden für ungültig erklärt. Wozu das Ganze? Diejenigen Wähler, die ihre Stimmzettel nicht zur Überprüfung herauszogen, hatten offensichtlich ihre Wahl nicht für Arendt getroffen.69 Ein ständig wiederholter Einwand gegen die »geheime« Wahl des Reichstags war, dass sie zur Heuchelei auffordere. Was die Reichstagswahl in ihrem halbgeheimen Zustand aber am meisten förderte, war die Erfindungsgabe.

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Traeger SBDR 11. Febr. 1888, S. 844; Arnsberg 5, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1078 ff. Rickert SBDR 15. Jan. 1890, S. 1014. Protest über Schwarzberg-Sondershausen, 27. Dez. 1881, BAB-L R101/3342; Bl. 309–312. Saarbrücken bei Nachwahl 1902: Bellot: Hundert Jahre, S. 210. J. Lenzmann SBDR 13. Febr. 1886, S. 1061. Nationalliberale gaben in Krefeld Stimmzettel für den bekannten August Reichensperger (Z) aus, während sein Bruder Peter kandidierte. SBDR 22. April 1871, S. 318. In Essen, hieß es, hätten Gegner des Forcade de Biaix fünfzig Wähler mit Stimmzetteln für »Fromage de Brie« hereingelegt: GA 30, 5. Febr. 1874, S. 173. NL Beschuldigungen gegen SD: Sachsen 13, AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 212, S. 907; Adolf statt Adolph: 1869 Sachsen 23, 1881 Bromberg 3. Leser: Untersuchungen, S. 19 ff. Gurwitsch: Schutz, S. 42 ff. Solche Handlungen waren in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal illegal. Granville Survey Nr. 1, BAB-L R1501/14451, Bl. 56–59. Siehe aber Charney: Les scrutins, S. 101. Merseburg 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 19) DS 840, S. 1136 ff., bes. 1137. Das Anbringen von Plakaten am Wahllokal war auf jeden Fall illegal.

Kapitel 3: Offene Geheimnisse

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Ab und zu versuchte ein ehrlicher Wahlagent, seine Mitbewerber dazu zu bringen, alle Stimmzettel zu vereinheitlichen. Solch ein Vertrag wurde in den achtziger Jahren in Elberfeld und später auch in Bochum und Mülheim zur Zufriedenheit aller ausgearbeitet. Der Staatsrechtler Georg Meyer behauptete, ähnliche Übereinkünfte verhandelt zu haben, die jahrelang in Kraft waren.70 Als an der Saar Kaplan Georg Dasbach Baron Karl von Stumm aufforderte, gemeinsam mit ihm standardisierte Stimmzettel auszugeben, lehnte Stumm das jedoch rundheraus ab. Häufiger kam es vor, dass die Partei mit der größten wirtschaftlichen Macht am Ort sich einverstanden erklärte und dann die andere hinterging – beispielsweise, indem sie Stimmzettel mit fehlenden Ecken produzierte, und, als das eilig imitiert wurde, diese fünfeckig in Form von Bischofsmützen faltete.71 Bei der vagen Vorschrift, dass weißes, nicht gekennzeichnetes Papier verwendet werden musste, war die Zulässigkeit dieser Variationen immer strittig. Und die ausgeklügelten Listen, die Wahlvorsteher sich gelegentlich ausdachten, um jeden Stimmzettel mit dessen Wähler zu verbinden, waren eindeutig illegal.72 Aber selbst wenn der Buchstabe des Gesetzes strikt befolgt wurde, konnte die Privatsphäre des Wählers verletzt werden. Anders als in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und England verlangte die Wahlordnung in Deutschland, dass der Wahlvorsteher, nicht der Wähler selbst, den Stimmzettel in die Urne warf. Diese Vorsichtsmaßnahme ging auf die Furcht der Regierung zurück, dass ein Bürger mit zusätzlichen Stimmzetteln im Ärmel erscheinen könnte, und auch auf ihre Angst vor Tumult für den Fall, dass ungezügelte Elemente der Wahlurne nahe genug kommen sollten, um Stimmzettel zu entnehmen.73 Sobald er ihn in den Händen hielt, hatte der Wahlvorsteher eine große Bandbreite an Entscheidungsmöglichkeiten, ob der Stimmzettel den Vorschriften entsprach. Bei geübten Vorstehern entwickelte sich eine Kunstfertigkeit, herauszufinden, wie ein Mann gewählt hatte. Er konnte mit dem Daumennagel einen scharfen Knick in die Ecke eines Stimmzettels machen.74 Er konnte einen Stimmzettel gegen das Licht halten, so dass der Name durch das Papier gelesen werden konnte.75 Sollte ein solcherart behandelter Stimmzettel für ungültig erklärt werden, weil seine Geheimhaltung verletzt worden war? Das zuzulassen, würde den unschuldigen 70 71

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Meyer: Wahlrecht, S. 565. Meyer war 1881–1890 der NL Abgeordnete für Jena. Mülheim: K. Müller: Strömungen, S. 369. Arnsberg 5 (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 320, S. 1771; Anhalt 1 (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 135, S. 509 f. (WPK: »als reine Privatangelegenheit anzusehen«); Übereinkünfte in Elberfeld und Bochum: G. Stötzel (Z) und E. Klein (NL) SBDR 11. Febr. 1888, S. 840, 845. Bitte an Abgeordnete aller Parteien, eine Erklärung zu unterzeichnen, die alle örtlichen Wahlkomitees verpflichtete, ähnliche Übereinkünfte zu treffen: Rickert SBDR 15. Jan. 1890, S. 1014. Stumm siehe Bellot: Hundert Jahre, S. 184. Potsdam 9 (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 74, S. 247 f. Siegfried: Wahlurne, S. 754. Rickert SBDR 14. Jan. 1890, S. 1013; Delors (Els) SBDR 21. April 1903, S. 8925 f. Hessen 2, 1867; Sachsen 22 und Oppeln 4, 1871; Liegnitz 10, AnlDR (1874, 2/I, Bd. 3) DS 61, S. 238; Marienwerder 5, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 106, S. 351; Gumbinnen 5, AnlDR (1881, 5/II, Bd. 6) DS 283, S. 1038 ff.; Köslin 3 und Potsdam 6, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 242, S. 1091 und DS 248, S. 1105; Merseburg 2, SBDR 5. Febr. 1885, S. 1101; Liberaler Einspruch Erfurt 1, 12. März 1887, BABL R1501/14664, Bl. 12 ff.; Frankfurt 10, Arnsberg 5, Königsberg 4, Breslau 2, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 195, S. 884 ff.; DS 318, S. 1319 ff.; DS 333, S. 1361 ff.; DS 336, S. 1371 ff. Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3442.

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Teil 1: Der Rahmen

Bürger seiner Stimme berauben, nur um einen Wahlvorsteher zu bestrafen, der seine Kompetenz überschritten hatte. Es wäre eine nachdrückliche Bekundung, dass die Geheimhaltung die Verantwortung – ja sogar die Pflicht – des Bürgers sei, und nicht eine Beschränkung der Staatsmacht. Auf einem Stimmzettel zu beharren, auf dem der Name des Kandidaten unter allen erdenklichen Umständen unerkannt blieb, sei, so sagten einige, ein Ding der Unmöglichkeit. Aber effektive Sicherheitsmaßnahmen zur Geheimhaltung zu ersinnen lag keineswegs außerhalb des Denkvermögens der Menschen des 19. Jahrhunderts. Ein einheitlicher, offiziell gedruckter Stimmzettel, der im Wahllokal ausgegeben und geheim ausgefüllt wurde, war bereits 1856 in Kanada eingeführt worden. Er hatte sich rasch in den Antipoden verbreitet, wo er als »Australischer Stimmzettel« seinen bleibenden Namen erhielt, erschien 1888 in Louisville, Kentucky und wurde innerhalb weniger Jahre in den gesamten Vereinigten Staaten eingeführt: Staaten, die sonst kaum einen starken Drang zu kultureller Vereinheitlichung verspürten. In Portugal und Belgien war der Australische Stimmzettel bereits 1881 verbindlich geworden. Belgien hatte zudem strenge Strafen für die Verletzung der Geheimhaltung eingeführt und eine einheitliche Wahlurne entwickelt – mit doppelten Schlössern und Schlüsseln.76 Einem derartigen Fortschritt hielten besonders Frankreich und Deutschland lange stand.77 Die Toleranz gegenüber einer solchen Vielfalt im deutschen Kaiserreich musste sich auf einen breiten, wenn auch stillschweigenden politischen Konsens stützen. Die preußische Regierung, die detaillierte Berichte von jedem ihrer Landräte über die Wahlaussichten verlangte, ließ in all den Jahren nicht erkennen, dass ihr Verlangen nach größtmöglicher Information über die Wahlgewohnheiten der Untertanen seiner Majestät nachließ – wenn auch ihre Repräsentanten bald lernten, etwas weniger offen darüber zu reden als jener Landrat in Gumbinnen.78 Der Fortschrittliche Wilhelm Löwe gab aber zu, dass »wohl keine Partei ganz frei von der Schuld zu sprechen« sei, dass sie »bei irgend einer Gelegenheit einmal versucht hat, eine Kontrolle über die Stimmabgabe zu

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Harris: Administration, S. 18, 152 ff. Kousser hat jedoch die Einführung des Australischen Stimmzettels in den Vereinigten Staaten plausibel als einen Versuch beschrieben, das Wahlrecht einzuschränken, indem es Analphabeten (den Armen im Allgemeinen, insbesondere Afroamerikanern und Immigranten) die Wahl unmöglich machte: Shaping, Kap. 2, und: Suffrage, S. 1249. Zum europäischen Festland: Granville Survey Nr. 1, BAB-L R1501/14451, Bl. 52, 57; Siegfried, »Wahl«, Meyers Konversationslexikon 19 (1898/99), BAB-L R101/3344, Bl. 258. Lefèvre-Pontalis: Élections, S. vii, 17 ff.; Seymour und Frary: World, Bd. 1. S. 379 f. R. Siegfried an die Regierung: 11. Nov. 1893, BAB-L R101/3344, Bl. 15 f. »Wahlaussichten für die Provinz …« wie auch Manteuffels Bericht über AL an Wilhelm I., 30. Okt. 1881: GStA PK I. HA, Rep. 89/210, Bl. 202–247; »Tätigkeit der Geistlichen und Beamten bei der Reichstagswahlbewegung (Geheim)«, RR v. Horn an OP in Koblenz, 24. Febr. 1907: LHAK 408/8806 (im Weiteren: Horn-Bericht); allgemeiner H. v. Gerlach: Erlebnisse, S. 43 f. Persönlicher Bericht an den Kaiser: GstA PK I. HA, Rep. 89/211, Bl. 30–38v, 75–80v, 143–145v, 167b–167c, 182–186; GStA PK I. HA, Rep. 89/210, ohne Seitenangabe.

Kapitel 3: Offene Geheimnisse

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haben«. Sogar Sozialdemokraten hatten ein Interesse daran, »den Schleier des Wahlgeheimnisses«, wie es hieß, zu lichten.79

−−− Dennoch war der stillschweigende Konsens, der sicherstellte, dass der Schleier des Geheimnisses durchscheinend blieb, unsicher. Klaffende Löcher waren leichter in den Wahlbezirken zu übersehen als auf dem Parkett des Reichstags zu verteidigen. Bereits 1869 stellte der Nationalliberale Anton Ludwig Sombart den Antrag, offizielle Umschläge für die Stimmzettel einzuführen. Obwohl eine Anzahl Fortschrittlicher und solch prominente liberale Kollegen wie Rudolf von Bennigsen ihn unterstützten, wurde der Antrag abgelehnt. 1875 reichte Joseph Völk, ein liberaler Augsburger Rechtsanwalt, eine Neufassung von Sombarts Antrag ein. Diesmal spielten die Nationalliberalen auf Zeit; sie zogen es vor, eine Empfehlung der Wahlprüfungskommission abzuwarten, die gerade erst ins Leben gerufen worden war.80 Als die Sozialdemokraten mit ähnlichen Anträgen in den Jahren 1877–1878 folgten, fanden sie, dass die Gewohnheit von sieben – und in Norddeutschland elf – Jahren inzwischen eine starke Vorliebe für den Status Quo herausgebildet hatte.81 In der Tat hob der Württembergische Landtag, der offizielle Wahlumschläge zum Schutz der Privatsphäre seiner Bürger bei seinen Landtagswahlen seit 1868 vorgeschrieben hatte, 1883 diese Verordnung auf.82 Obwohl Sozialdemokraten, Linksliberale und Zentrumsabgeordnete weiterhin Anträge zum Schutz der Stimmzettel stellten, forderte der Reichstag erst 1894 einen offiziellen Wahlumschlag – mehr als ein Vierteljahrhundert nach der ersten Einführung der Idee.83 Aber wie jede Gesetzesänderung benötigte dies die Zustimmung des von Preußen dominierten Bundesrats, eines Gremiums, das im Allgemeinen ein bekanntes Übel einem unbekannten vorzog. Als die Niederländische Regierung bei ihrer Suche nach Alternativen zu ihrem eigenen Wahlgesetz beim Reichsamt des Innern anfragte, ob Deutschlands Verfügung, dass jeder 79

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Löwe SBDR 21. Jan. 1875: S. 1181. Anklagen gegen Sachsen 8, AnlDR (1871, 1/I, Bd. 3) DS 30, S. 87. Aber siehe Oberbayern 1 (München I), 13. Juni 1881, AnlDR (1882/83, 5/IV, Bd. 4) DS 123, S. 981 ff., bes. 984. »Schleier des Wahlgeheimnisses«: Gerstner (F) SBDR 5. April 1871, S. 172; und J. Knorr: Statistik der Wahlen zum ersten deutschen Reichstag, Spalte 341. Pollmann: Parlamentarismus, S. 326 Anm. 88. Kircher, Parisius, Gneist SBDR 21. Jan. 1875, S. 1174, 1178 f. Sombert schätzte die Kosten 1869 auf 3.000 Thaler, Parisius 1876 auf zwischen 5.000 und 10.000 Thaler. Zu Völks Antrag: W. Frankenburger (F) SBDR 10. April 1878, S. 871. Die WPK empfahl Umschläge: AnlDR (1876, 2/IV, Bd. 3) DS 111, S. 816. Rickert SBDR 15. Jan. 1890, S. 1013. Antrag Blos und Most, AnlDR (1878, 3/II, Bd. 3) DS 66, S. 550; Blos SBDR 10. April 1878, S. 870. Gegen F. Dernberg (NL) SBDR 10. April 1878, S. 872. BAB-L R1501/14456, Bl. 125. Aufhebung: BAB-L R1501/14453, Bl. 250; G. Struckmann (NL) SBDR 15. Jan. 1890, S. 1016 f. Hatschek: Kommentar, S. 324 ff. Praktisch die gleichen Anträge, eingereicht von Rickert (F) und Gröber (Z), neu gedruckt als »Anträge Rickert, bzw. Antrag Gröber und Gen.«, in: Reichstags-Wahlrecht, S. 32 ff. Schließlich gab eine Resolution des WPK dem Antrag seine endgültige Form, in welcher er Sitzung für Sitzung, 1894, 1896 und 1899 mit großer Mehrheit und nur mit den Gegenstimmen der K angenommen wurde. Die Geschichte des Antrags in einem geheimen Memorandum, das die Annahme empfiehlt: Graf A. Posadowsky, 25. Nov. 1902, BAB-L R1501/14455, Bl. 127–131.

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Teil 1: Der Rahmen

Wähler seinen eigenen Stimmzettel mitbrächte, irgendwelche Schwierigkeiten bei der Administration der Wahlen verursachte, antwortete Vizekanzler Karl von Bötticher mit einem selbstgefälligen Nein. Es habe zahlreiche Beschwerden über die Verletzung der Geheimhaltung gegeben, gab er zu, aber die überwältigende Mehrheit sei durch die Untersuchung widerlegt worden. Er räumte ein, dass dem Reichstag ein Antrag unterbreitet worden sei, Umschläge einzuführen, aber er sehe keinen Grund für die Länderregierungen, darauf einzugehen. Nachdem jetzt der Reichstag entschieden habe, dass ein Stimmzettel auch dann gültig sei, wenn der Name darauf durchgestrichen und ein neuer eingetragen worden sei, sei alles Nötige zur Unabhängigkeit des Wählers veranlasst worden.84 Erst 1903, wie wir in Kapitel 8 sehen werden, war der Bundesrat bereit, eine Version von Sombarts Umschlag zu unterstützen, in Verbindung mit einer Art Zelle oder Alkoven, worin man wählen konnte. Die Rechte, der die Stimmen zum Abschmettern dieser Verordnung fehlten, versuchte die Maßnahme dadurch zu Fall zu bringen, dass sie sie lächerlich machte. Sie verglich die Wahlkabine mit einer »Angstkammer«, einer »Dunkelkammer«, einem »Beichtstuhl« und am häufigsten und mit der größten Wirkung mit einer Toilette. Das »Klosett-Gesetz« gab Anlass zu neckischen Wortspielen und Spekulationen darüber, was wohl geschehe, wenn ein Wähler sich entschlösse, den ganzen Tag dort zu verbringen. Wie würde es aussehen, wenn beispielsweise der Kanzler am Wahllokal ankäme und man ihm sagen müsste: »Eure Exzellenz muß noch warten; der geheime Ort ist noch besetzt!« Ein Sozialdemokrat reagierte sarkastisch mit der Frage: der »Isolierraum, … oder, wie es die Herren mit dem berühmten Geschmack genannt haben, Klosettraum«, »ist denn das ein so anziehender Raum, der so viele Vergnügungen bietet, dass jemand auf den Gedanken kommen könnte, … den ganzen Tag darin zuzubringen …? Oder haben denn in den Provinzen, wo man derartiges in Aussicht stellt, die Leute so andere Sitten?« Die Idee wurde vielfach von der Presse aufgegriffen und fand sich bald in zahlreichen vorhersehbaren Variationen in den Witzblättern wieder.85 Abbildungen Selbst ohne die Assoziationen mit der Fäkalsprache, die professionelle Satiriker und konservative Polemiker benutzten, fand die Wahlkabine wenig Anklang bei den konservativeren unter den Liberalen. Georg Meyer, ein Jurist mit unvergleichlicher Kenntnis des Wahlrechts der verschiedenen Kontinente, der 84 85

Marschall von Bieberstein an Bötticher, 14. Okt. 1891; Bötticher an Marschall, 14. Nov. 1891, BAB-L R1501/14454, Bl. 108–115. Der Begriff »Örtchen« war ein Euphemismus für Toilette – was natürlich bereits selbst ein Euphemismus ist. Himburg SBDR 21. April 1903, S. 8911; Blos, ebd., S. 8912. Geck bedauerte es, dass von den Konservativen »›euphemistisch‹ der Name Klosettraum hier in die Debatte gezogen worden« sei. Ebd., S. 8923. Der Versuch des Reichstagspräsidenten zu erklären, dass das Wort »Klosett-Gesetz« eine Übersetzung des australischen Begriffs sei und daher keine Form des Spotts, rief nur noch größeres Gelächter hervor. Ebd., S. 8923; Deutsches Reich. Die Wahlfälschungen, in: Vorwärts, 22. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 158. Bülow, der sich von einer Maßnahme der Regierung distanzierte, gewöhnte sich an – vielleicht um die Rechte zu beschwichtigen –, das Rickert-Gesetz als »Klosett-Gesetz« zu bezeichnen und die Wahlkabine als »Klosett«. BT Nr. 134, 14. März 1903. BAB-L R1501/14456, Bl. 38¸ »Die gestrige Rede des Reichskanzlers«, KrZ, 21. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 156. »Angstkammer«: Müller (FK) SBDR 15. Jan. 1890, S. 1022; »Dunkelkammer«: KrZ zitiert in Vorwärts, s. o.; Spott: Rickert, ebd., S. 1012, 1015. »Beichtstuhl«: Geck SBDR 21. April 1903, S. 8921.

Kapitel 3: Offene Geheimnisse

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Abb. 1: Die mißverstandene Wahlkabine O. Gulbransson, Die mißverstandene Wahlkabine, Simplicissimus XVI 2/40 (1. Jan. 1912): S. 705.

1. »Seppenbauer, jetzt trinkst a Maß aufs Zentrum!« – »Vo mir aus!«

2. »Und allaweil beim Zentrum, gel, Seppenbauer? Derffst scho no a Maß trink’n.«

3. »Für Thron und Altar, verstehst Seppenbauer? Trinkst halt no a Maß!«

4. »Und net auslass`n, Seppenbauer, und jetzt gehst mit!«

5. »Also, da gehst jetzt nei, Seppenbauer, und schö’ neischmeiß’n …«

6. »--Ja--was--ist--denn--das--?«

Bedeutung: Der Bauer versteht zwar die Wahl nicht, weiß aber seinem Pastor einen Strich durch die Rechnung zu machen. Die Assoziation zwischen Wahlkabinen und »stillen Örtchen« bot eine Gelegenheit zu tendenziösem Spott, dem wenige widerstehen konnten.

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Teil 1: Der Rahmen

sehr wohl wusste, in welche Richtung die Debatte in seinem eigenen Land ging, meldete sich ebenfalls zu Wort: »Dieser Wähler aber, der […] eines undurchsichtigen Wahlumschlages und eines Isolierraumes bedarf, ist doch nahezu eine komische Figur, die ganze Einrichtung fast eine Ironie auf unser modernes öffentliches Leben.«86 Die Einführung des Wahlumschlags 1903 wurde selbst von seinen Anhängern nicht als zufriedenstellend empfunden. Obwohl sie an einigen Orten eindeutig zu freieren Wahlen beitrug, klagten andere Wähler darüber, wie wir in Kapitel 8 sehen werden, dass die platzraubenden Umschläge bei der Verwendung kleiner Wahlurnen die Reihenfolge des Einwurfs so gut dokumentierten, dass es geradezu ein Kinderspiel war, den Überblick darüber zu behalten, wer für wen gestimmt hatte. Fachleute für europäische Wahlverfahren behaupteten sogar, dass der Wahlumschlag die Chancen der Geheimhaltung verschlechtert hätte.87 Was gebraucht wurde, das stand jetzt fest, war ein standardisierter Behälter, der automatisch die Stimmzettel beim Öffnen mischen würde. Akademiker, Erfinder und Geschäftsleute mit Profithoffnungen aus ganz Europa begannen, um die Entwicklung einer perfekten Wahlurne zu wetteifern.88 Die Reichsregierung weigerte sich jedoch standhaft, irgendeine dieser Erfindungen einzuführen. Erst 1913, nach der letzten Wahl des Kaiserreichs und im gleichen Jahr, in dem Frankreich endlich den Wahlumschlag und die Wahlkabine einführte, verlangte das Kanzleramt schließlich, dass die Wahlurne minimalen Anforderungen genügen müsse.89 In der Zwischenzeit waren die Verletzungen der Geheimhaltung weitergegangen – allgemein eingestanden und nur teilweise verringert.

−−− Die Existenz winziger Wahlbezirke hatte schon immer sehr dazu beigetragen, dass Wähler an der Möglichkeit der Geheimhaltung resignierten. Obwohl die Norm für Wahlkreise 1869 auf 100.000 Bewohner festgesetzt wurde, forderte die Wahlordnung, dass jede Gemeinde normalerweise ihren eigenen Wahlbezirk bilden sollte, mit einer Höchstgrenze von 3.500 Seelen. Beschränkungen nach unten gab es nicht. Wenn dünn besiedelte Gegenden diesen Vorschriften folgten, sahen die Ergebnisse manchmal so aus wie in Dörnfeld, das zu Schwarzburg86

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Obwohl diese Worte vor der Wahlkabinen-Debatte von 1903 geschrieben wurden (Meyer starb bereits 1900), hatte Meyer eine Dekade der Polemik zu diesem Thema verfolgt und war von der Unwiderstehlichkeit der Sicherheitsmaßnahmen überzeugt, die sich »einer ungemeinen Popularität« erfreuten. Wahlrecht, S. 563. Vorhergesagt: Hodenberg (W), SBDR 21. April 1903, S. 8921. Siegfried: Wahlurne, S. 735; Leser: Untersuchungen, S. 92. BAB-L R1501/14474, Bl. 107, 164, 167 f., 200 f., 206, 214 ff., 263 ff., 268, 272, 321 ff., 330, 335, 338, 342; BAB-L R1501/14696, Bl. 40 f.; »Ein lobenswerter Landrat«: Die Hilfe 13/3 (20. Jan. 1907) S. 33. Bereits 1890 hatte man der Reichsregierung einen Vorschlag für eine Wahlmaschine unterbreitet: BAB-L R1501/14693, Bl. 216 f. C. v. Schorlemer, Landwirtschaftsminister, an Delbrück, 26. Dez. 1912, BAB-L R1501/14476, ohne Seitenangabe; Die Wahlurnen. Staatssekretär Delbrück und Minister von Dallwitz, VossZ, 3. April 1913; Reichswahlurnen, KrZ, 3. April 1913, BAB-L R1501/14476. Meinungen, dass die Wahl von 1912 die schlimmste gewesen sei: Bertram: Wahlen, S. 129 ff.

Kapitel 3: Offene Geheimnisse

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Abb. 2: Die Isolierzelle. O. Gulbransson: Die Isolierzelle, Simplicissimus VIII (o. D. 1903–1904): Extra-Nummer: Reichstagswahl, S. 10.

»Ein Wahlzettel, ein Wahlzettel!« (Der Mann hält einen Stimmzettel für einen Zentrumskandidaten.)

»Sooooo!« Bedeutung: Ein Zentrumswahlzettel lässt sich gut als Toilettenpapier benutzen.

Rudolstadt gehörte und 1871 vier Wähler umfasste: den Domänenpächter, zwei Knechte und einen Tagelöhner – zu wenige, um selbst einen Wahlvorstand zu bilden.90 Außer in Städten mit über 20.000 Einwohnern hatten fast die Hälfte der deutschen Wahlbezirke 1874 nicht mehr als hundert Wähler. In Bezirken mit nur einer Handvoll Wählern oder wo der Gutsbesitzer der Wahlvorsteher war oder die Wahl einstimmig, konnte kein Umschlag die Geheimhaltung garantieren. In solchen Gemeinden, so war bekannt, »weiß doch jeder Wahlvorsteher beziehungsweise die Wahlkommission ganz genau, wie jeder einzelne Wähler 90

SBDR 24. Mai 1871, S. 913. Ähnlich in Marienwerder 4, SBDR 28. März 1871, S. 29; Mecklenburg 3, SBDR 6. März 1888, S. 1310.

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seine Stimme abgegeben hat, und wenn er es nicht weiß, kann er es leicht erfahren«.91 Die Kleinstbezirke wurden nicht abgeschafft. Im Gegenteil, Robert von Puttkamer, der preußische Innenminister während des größten Teils der achtziger Jahre, ermutigte die Zersplitterung ländlicher Bezirke in noch kleinere Einheiten. In den Neunzigern, als Vizekanzler Bötticher Beschwerden über mangelnde Geheimhaltung mit der Erklärung abwehrte, dass so etwas nur in kleinen Wahlbezirken vorkomme, implizierte er, dass dies Ausnahmen seien.92 Aber noch 1905 hatten mehr als 57.000 Dörfer im ganzen Land weniger als 500 Einwohner, wobei auch die Frauen und Kinder mitgezählt waren.93 Eine in Heinrich Rickerts Antrag enthaltene Vorkehrung sah eine Mindestgröße für die Bevölkerung eines Bezirks vor – ursprünglich 400, schließlich wurde dies auf 125 zusammengestrichen. Aber selbst das war der Reichsregierung zu viel, die, als sie schließlich 1903 den Umschlägen und Wahlkabinen zustimmte, die bescheidene Forderung von Rickerts Antrag auf eine Minimalgröße der Wahlbezirke ostentativ ignorierte.94 So blieb es in vielen Bezirken für einflussreiche Leute relativ leicht, das Wahlverhalten zu überwachen – wenn auch nicht das aller deutschen Bürger, so doch das ihrer eigenen Untergebenen – was sie auch taten. Man kann sich gut die Gefühle vorstellen, mit denen ein Postbote, Polizist oder Zugschaffner in Trier 2 seine Zeitung am Tage nach der tumulthaften »Hottentotten-Wahl« von 1907 aufschlug und erfuhr, dass das Zentrum in seinem Bezirk die Wahl einstimmig gewonnen hatte. Solch ein Postbote wusste (und wusste, dass sein Vorgesetzter dies wusste), dass er, entweder durch Wahlenthaltung oder Gegenstimme, seine »Wahlpflicht« verletzt hatte. Einstimmigkeit, oder selbst eine geringere Stimmenzahl für die Regierung als die Anzahl der Staatsbediensteten in seinem Bezirk, ließen es nicht zu, sich zu verbergen.95 Wo die Bevölkerungsdichte gering und die Verkehrsmöglichkeiten schlecht waren, hätte die Vorschrift, dass Wahlbezirke mehrere Gemeinden umfassen mussten (eine Lösung, die in der Wahlordnung von 1870 ins Auge gefasst worden war), zu derart weit voneinander entfernt liegenden Wahllokalen geführt, dass vielen Wählern die Möglichkeit versagt geblieben wäre, überhaupt ihr Wahlrecht auszuüben.96 Aber die praktischen Schwierigkeiten erzählen nicht die ganze Geschichte. Bereits 1878 wurde vorgeschlagen, dass der Anonymität nachgeholfen werden könnte, ohne die Bequemlichkeit der Wähler zu beinträchtigen, indem man einfach die Stimmzettel mehrerer Bezirke an einem zen91 92

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Frankenburger SBDR 10. April 1878, S. 872; Pollmann: Parlamentarismus, S. 91. Puttkammer an die RP in Kreisordnungsprovinzen und den Hohenzollernschen Ländern, 7. Sept. 1884, BAB-L R1501/14642, Bl. 9; »Wie Bismark« 1/5, S. 9; Bötticher an Marschall, 14. Nov. 1891, BAB-L R1501/14454, Bl. 108 ff. Ermittelt aus: Statistisches Jahrbuch (1908) S. 6. BAB-L R1501/14456, Bl. 127v. § 6 des Gesetzesantrags betreffend Abänderung des Wahlgesetzes … (Rickert-Gröber-Antrag) in: Reichstags-Wahlrecht, S. 32; §7 des Wahlreglements, überarbeitet in der Bekanntmachung des Kanzlers vom 28. Apr. 1903 im Reichstags-Wahlgesetz, S. 12. Die Regierung versprach, das Problem administrativ anzugehen. Horn-Bericht, 24. Febr. 1907, LHAK 408/8806; Briefträger: »Wie Bismarck« 1/5, S. 14. Die Wahlmänner der Preußischen Landtagsabgeordneten reisten manchmal hundert Kilometer, um zu den Wahlen zu kommen. »Wahl-Eifer«, Preußisches Wochenblatt 5, 5. Jan. 1856, S. 363 ff.

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tralen Ort zählte.97 In Großbritannien trat eine solche Verordnung bereits 1872 in Kraft – und sie besteht bis heute, lange nachdem keine Notwendigkeit dazu mehr besteht. Aber in Deutschland wurden keine entsprechenden Maßnahmen ergriffen. Noch 1912 hatten beispielsweise in Mecklenburg-Schwerin 75 Wahlbezirke 25 oder weniger Wahlberechtigte.98

Private Wahl, öffentliches Leben Letzten Endes waren es natürlich nicht die Größe der Wahlbezirke oder die Schwächen der Stimmzettel, die für die Leichtigkeit verantwortlich waren, mit der die Bürger des Kaiserreichs einander bei der Wahl beobachten konnten. Wie der Spott, der die Einführung der Wahlkabine begleitete, spiegelte die Schwäche der deutschen Geheimhaltungsvorkehrungen die ambivalente Haltung vieler Deutscher gegenüber der Geheimhaltung selbst, die diese Vorkehrungen garantieren sollten. Die geheime Wahl stand in einem Spannungsverhältnis zu der öffentlichen Natur der Wahl, einer weiteren Prämisse der Wahlfreiheit und einer Freiheit, die – zumindest in den Augen der Gesetzgeber – psychologisch übergeordnet war. Der Wortlaut des Reichstagswahlgesetzes von 1869 stellte eindeutig fest: »Die Wahlhandlung, sowie die Ermittelung des Wahlergebnisses, sind öffentlich.« Die Privatheit des Wahlaktes, andererseits, obwohl in § 20 der Verfassung ausdrücklich garantiert, blieb im Reichstagswahlgesetz nur indirekt erwähnt mit seiner Vorschrift, dass die Stimmzettel gefaltet sein sollten und keine weitere Kennzeichnung enthalten durften. Der Reichstag brauchte ein Vierteljahrhundert, bis er es für nötig befand, einen Zusatz zu verabschieden, der eindeutig festsetzte: »Die Wahl ist geheim.«99 Bezeichnenderweise untersagte der Paragraph, der eine äußere Kennzeichnung des Stimmzettels verbot, dem Wähler auch, ihn zu unterschrieben. Bei der Inkraftsetzung dieser Maßnahme wandten sich die Abgeordneten mit voller Absicht gegen eine Praxis, die im bayerischen Wahlgesetz festgelegt war und solche Unterschriften ausdrücklich verlangte.100 Unterschriebene Stimmzettel, so wussten sie, die die Stimme des Wählers den Wahlvorständen bekannt machte, ohne sie den Mitbürgern zu verraten, lieferte die Wähler wesentlich effektiver in die 97

Frankenburger SBDR 10. April 1878, S. 872. Die Weimarer Republik verbot es, die Wahlergebnisse auf Bezirksebene zu verkünden. Dennoch berichtete ein Amerikaner, der eine Studie über die Auswirkungen des Weimarer Wahlgesetzes machte – eine Studie, die geradezu ein Loblied auf die deutsche Bürokratie wegen ihrer Ehrlichkeit und Effizienz ist – dass die Vorkehrungen zur Geheimhaltung unzureichend waren. Diesen sonst übergenauen Bürgern, räumte er ein, schien das nichts auszumachen. Pollock: Administration, S. 33. 98 Gwyn: Democracy, S. 91 f.; Siegfried: Wahlurne, S. 758 Anm. 1; Stadthagen (SD), SBDR 21. Mai 1912, S. 2212; und in Potsdam 4, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1435, S. 2944. 99 § 9 Reichstagswahlgesetz, S. 5, ebenso Dokumente, hrsg. v. Huber, Bd. 2, S. 243 ff.; Verfassung des NDB, S. 231; § 11a des Rickert-Gröber-Antrags, in: Reichstags-Wahlrecht, S. 32 ff. 100 Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 152. Bayern änderte sein Gesetz erst 1881. Einige Wähler unterschrieben ihre Stimmzettel jedoch, um sie vor Wahlvorständen zu schützen, denen sie misstrauten: Gumbinnen 6, AnlDR (1875, 2/III, Bd. 4) DS 82, S. 838.

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Hände derer, die ihnen vorgesetzt waren, als eine mündliche Stimmabgabe es jemals gekonnt hätte.101 Seine Wahl geheim zu halten, richtete sich jedoch häufig gegen Impulse der Ehrerbietung, die man nicht ablegen konnte. Zeitungen hielten es für nötig, ihre Leser zu informieren: »Absolut unzulässig ist es, wenn außer dem Namen des Kandidaten etwa derjenige des Abstimmenden darauf stände.« 1881 beauftragte Carl Geissler, ein Maschinenbauer in der Oberlausitz, einen Schreiber damit, Bismarck persönlich mit großer Geste anzukündigen, dass er vorhabe, dessen Sohn Wilhelm zu wählen – ein sinnloses Unterfangen, da Bill Bismarck nicht zur Wahl aufgestellt war.102 Auf dem Lande hielten Wähler immer noch ihrem Wahlvorsteher ungefaltete Stimmzettel vor und fragten, ob diese richtig ausgefüllt seien. Liberale Juristen argumentierten, »daß das Wahlgeheimnis kein subjektives Recht des einzelnen ist«, und schließlich erklärte der Reichstag jeden Stimmzettel für ungültig, der nicht gefaltet war. Aber nicht einmal alle Abgeordneten stimmten dieser strengen Regel zu. Selbst 1912 noch unterschrieben einige Wähler ihre Stimmzettel.103 Eine Ambivalenz bezüglich der geheimen Wahl hatte bereits den allerersten Diskussionen über politische Teilnahme zugrunde gelegen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Vor 1872 war der öffentliche britische Widerstand gegen George Grotes jährliche Änderungsvorschläge zugunsten einer geheimen Wahl ausführlich durch die Presse gegangen. Lord John Russel hatte erklärt, dass »die gesamte moderne Parlamentsgeschichte … ein ununterbrochener und erfolgreicher Kampf um Offenheit sei«. Der junge William E. Gladstone war so weit gegangen, die geheime Wahl für den Fall der römischen Republik verantwortlich zu machen.104 Dem deutschen Gesetzgeber und den politisch interessierten Bürgern waren diese Argumente im Großen und Ganzen vertraut, und als die Verfassungskommission der Frankfurter Nationalversammlung sich1849 mit überwältigender Mehrheit für die mündliche Wahl ausgesprochen hatte, hatte sie die britische Theorie und Praxis zur Begründung ihrer Entscheidung zitiert.105 Praktische Argumente hatten in den 1840er Jahren in dieselbe Richtung gewiesen. Zu einer Zeit, als die politischen Parteien noch nicht begonnen hatten, die Wählerschaft zu strukturieren, schien eine geheime Wahl zwei Gefahren zu bergen. Die erste war, dass die Bürger in ihrer gegenseitigen 101 Die Verfassungskommission der Frankfurter Versammlung hatte ihre Vorschrift einer mündlichen Stimmabgabe in denselben Paragraphen geschrieben, in dem sie Staats- oder örtlichen Beamten untersagte, in Wahlvorständen zu sitzen, und zwar mit der gleichen Begründung: Mündliche Stimmabgaben böten eine Garantie dafür, dass Wahlergebnisse nicht von Regierungsbeamten manipuliert werden könnten, sondern dass sie im Gegenteil die »öffentliche« Meinung wiedergäben. 102 Geissler an das deutsche Kanzleramt, 26. Okt. 1881, BAB-L R1501/14693, Bl. 88. GA Nr. 46, 23. Febr. 1871,S. 380; GA Nr. 51, 1. März 1871, S. 423; hierzu »Auf zur Wahl!«, KV 28. Juli 1878. 103 Z. B. Königsberg 5 (DS 401, S. 2896) und Breslau 2 (DS 1432, S. 2929), beide in AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22); Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3397 f.; Beifügen der eigenen Adressen: Potsdam 4, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1435, S. 2945. Zitat: Hatschek: Kommentar, S. 188 f.; hierzu auch Kirchner SBDR 21. Jan. 1875, S. 1174. 104 Unter den herausragenden Gestalten in England scheint nur Disraeli anfangs die geheime Wahl unterstützt zu haben. Seymour: Reform, S. 209, 214, 431. 105 Hatschek: Kommentar, S. 180. Rohe jedoch betont die lange Tradition der geheimen Wahl, die sowohl in der preußischen Städteordnung vom Nov. 1808 als auch im Wahlreglement für die LT-Wahlen vorgeschrieben waren. Rohe: Wahlen, S. 35.

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Isolation ihre Stimmen auf derart viele Kandidaten verteilen würden, dass der Gewinner, dessen Stimmenzahl winzig und dessen Vorsprung zufällig wäre, jeder Legitimation beraubt wäre. Die zweite Gefahr folgte ganz natürlich aus dem Versuch, die erste zu vermeiden – oder sie, wie es einige sahen, auszunutzen. Manche Männer, so fürchtete man, würden sicher hinter den Kulissen intrigieren, um ihre Stimmen zusammenzufassen. Dieses Arrangement würde, solange andere bei der Fragmentierung der Meinung »blind« wählten, automatisch zu einer Privilegierung der »besonderen Interessen« eines solchen Komplotts gegenüber dem kollektiven Interesse des Bezirks führen. Wichtiger als die Furcht vor Fraktionsbildung oder den verdeckten Manipulationen von Staatsbeamten jedoch war ein Verständnis der res publica, des öffentlichen Lebens, das unvereinbar mit jeder Art der Geheimhaltung war. Wie neuere Historiker betonen, hatte sich das Konzept einer deutschen Nation in Verbindung mit dem Begriff einer »Öffentlichkeit« und einer »öffentlichen Sphäre« entwickelt. In einem Land, in dem bis vor kurzem die politische Macht bei einer Vielzahl von Fürstenhöfen lag und private und öffentliche Sphären politisch schwer zu unterscheiden waren, blieben diese Konzepte mit großen Emotionen befrachtet. 1848 hatte die Frankfurter Verfassungskommission befunden: »Eben bei und in der öffentlichen Abstimmung wird sich die vorherrschende Ansicht eines Distrikts am besten aussprechen können.« Die Wortwahl war wichtig. Es war die Meinung des Wahlkreises, nicht des Einzelnen, die nach Ansicht der Kommission gehört werden sollte: Die öffentliche Meinung – statt privater Meinungen – bildete das Fundament einer echten nationalen Vertretung, als deren Krone der Reichstag angesehen wurde. »Soll das Leben der Nation einen selbständigen und kräftigen Charakter erlangen, so müssen alle Akte von politischer Bedeutung dem Winde der öffentlichen Meinung ausgesetzt sein. Eben diese bieten gegen ungehörige Einflüsse von der einen oder anderen Seite ein Gegengewicht …« Der Argumentation der Kommission lag der Glaube zugrunde, dass die öffentliche Wahl eine bedeutende pädagogische Funktion habe. Warum sonst vertrat die Kommission die Ansicht, dass »der wichtigste Punkt von allen … die Öffentlichkeit der Wahlhandlung« sei? »Nur hierin liegt eine Garantie, dass jenes Wahlverfahren seinen rechten Zweck erreicht: … eine Gewöhnung der Nation an ein wahres öffentliches Leben.«106 Solche Argumente für eine mündliche Stimmabgabe waren am plausibelsten, wo der Wähler als Vertreter der Interessen der Nicht-Wahlberechtigten gesehen wurde, wie es in Großbritannien der Fall war. Mit dem allgemeinen Wahlrecht jedoch konnte jeder Bürger sich selbst vertreten. Vielleicht war dies der Grund dafür, dass 1849 das Plenum der Frankfurter Versammlung die Argumentation der Verfassungskommission zurückwies und in einem revolutionären Schritt die geheime Wahl einführte. Als 1866 die preußische Regierung das Wahlrecht der Frankfurter Nationalversammlung aufgriff, hatte sie daher die Wahl zwischen zwei Frankfurter Vorbildern: dem der Kommission und dem des Plenums. Da sie nicht sicher war, welches dieser Modelle sich am ehesten zu ihren Gunsten 106 Zitiert in Hatschek: Kommentar, S. 167 f., 181; Meyer pflichtet bei: Wahlrecht, S. 562.

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auswirken würde, verordnete der Entwurf der Regierung die geheime Durchführung der Wahl nur indirekt.107 Als erster machte Peter Reichensperger, ein führender Sprecher der Katholiken, anschließend der Nationalliberale Hugo Fries Verbesserungsvorschläge zur Verfassung, die eine geheime Wahl verlangten.108 Dennoch wurde von Reichenspergers zukünftigem Kollegen im Zentrum, dem Hannoveraner Katholiken Ludwig Windthorst, nachdrücklich eine grundsätzliche Kritik am Stimmzettel geübt. Windthorst berief sich auf die geheiligte Tradition des englischen Vorbilds und die Argumente von John Stuart Mill zugunsten einer offenen Wahl.109 Schließlich waren sich weder die Konservativen noch die Regierung sicher genug, wem die Geheimhaltung nützen würde, um diese abzulehnen, während die Mehrheit den Antrag zwar nicht unterstützte, aber ihm schließlich ihre schwache Zustimmung erteilte. Die Unsicherheit der Konservativen, was für sie von Vorteil wäre, wurde nie ganz zerstreut. In den sechziger Jahren hatten Hans von Kleist-Retzow und Karl Strosser zugunsten einer geheimen Wahl argumentiert, da sie – mit einigem Recht – überzeugt waren, dass die Siege der Fortschrittspartei im Preußischen Landtag ökonomischem Druck auf die Wähler durch liberale Arbeitgeber geschuldet waren. Ihre Argumente fanden sich auch in späteren Jahrzehnten wieder. In den späten achtziger Jahren schrieb ein Wähler mit eindeutig christlichsozialen (Stoeckerschen) Ansichten an den Kanzler mit der dringenden Bitte um die Einführung der geheimen Wahl bei den preußischen Landtagswahlen als der einzigen Möglichkeit, die arme Arbeiterschaft vor Repressalien durch Sozialdemokraten, Fortschrittliche und katholische Priester zu schützen. Noch später unterstützte eine Reihe Konservativer eine ähnliche Forderung für die sächsischen Wahlen.110 Andererseits berichteten 1888 Zeitungen von Gerüchten, dass die Regierung plane, die Vorschrift der geheimen Stimmabgabe bei den Reichstagswahlen zu kassieren. In der Tat hatte diese bereits Professor Paul Laband, einen führenden Verfassungsrechtler, um seine Meinung gebeten, ob solch eine Änderung ohne die Zustimmung des Reichstags möglich sei. Der Aufschrei seitens des Zentrums und der Linksliberalen war allerdings derart laut, dass Sprecher des »Kartells« – der Pro-Regierungsparteien – und dann der Regierung selber gezwungen waren, solch eine Absicht zu leugnen.111 Zum Schutz des Wählers erwies sich die »geheime« Wahl nichtsdestoweniger als unzulänglich, bildete sie auch eine starke Barriere dagegen, dass eine 107 Von Roons Memorandum an das SM vom 27. Mai 1866 schlug vorsichtig geheime Wahlen als eine Möglichkeit vor, konservative Landtagsmehrheiten zu schaffen. BAB-L R43/685, Bl. 21 ff. Pollmann: Parlamentarismus, S. 75 f. und 77 Anm. 53. 108 Fries: SBNDR 1867, S. 414; hierzu Hatschek: Kommentar, S. 182, und Pollmann: Parlamentarismus, S. 84 Anm. 95, S. 85, S. 188 Anm. 204, S. 225, S. 225 Anm. 139 und 142. 109 SBDR 18. April 1871, S. 328. Windthorst änderte bald seine Meinung. 110 Anonymes Memorandum an Bismarck, 5. Jan. 1885, BAB-L R43/685, Bl. 185–188v; Sächsisches SM Memorandum zum Wahlgesetz, 31. Dez. 1903, zitiert in [H.] D[elbrück]: Preußische Wahlreform, S. 191; Below: Wahlrecht, S. 155 f., 156 Anm. 129, 167; Pollmann: Parlamentarismus, S. 85 Anm. 96, S. 171 Anm. 110. Liberale Desillusion bezüglich offener Stimmabgabe bei LT-Wahlen: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 115. 111 Windthorst, Bamberger, Bötticher (Reg.), Bennigsen, O. H. v. Helldorf-Bedra (K) SBDR 1. Febr., 3. Febr. 1888, S. 657, 661, 663, 666, 693 f., 696, 698; Meyer (Jena, NL), Windthorst 9. Febr. 1888, S. 784, 798.

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Wahl als ungültig erklärt werden konnte, weil eine Autoritätsperson – ein Wahlvorsteher, Arbeitgeber, Beamter oder eine Lokalgröße – im Verdacht stand, sich zwischen die Wahlurne und den Volkswillen gestellt zu haben. Es war leicht zu erkennen, dass ein Wähler, der zwischen rivalisierenden Kräften im Dorf gefangen war, vor der Wahl Zusagen machen und dann angesichts einschüchternder Fragen von seinen Vorgesetzten, den geistlichen wie auch weltlichen, später Behauptungen aufstellen konnte, die kaum mit dem Ergebnis des Bezirks in Einklang zu bringen waren. Solche Diskrepanzen machten es der verlierenden Partei leicht, von Betrug zu sprechen, aber die einzige Möglichkeit, die Beschuldigung zu beweisen, wäre gewesen, den Wähler unter Eid zu befragen, was den Verletzlichen »allerdings in eine sehr eigenthümliche Lage« gebracht hätte. Der Reichstag weigerte sich daher im Allgemeinen, Anschuldigungen hinsichtlich der Abnahme und des Austauschs von Stimmzetteln zu untersuchen, mit der Begründung, dass Untersuchungen, die sich auf Befragungen stützten, dazu führen würden, »den Schleier des Wahlgeheimnisses zu lichten«.112 Die Sorge eines Abgeordneten um den Schleier des Geheimnisses hing natürlich in starkem Maße davon ab, wessen Ochse hinter jenem Schleier geschlachtet wurde. Da Fälschungsvorwürfe selten mehr als eine Handvoll Stimmen betrafen, hatte die Unwilligkeit des Reichstags, den Schleier durch Befragungen nach der Wahl zu lüften, wahrscheinlich kaum Konsequenzen für den Erfolg oder Misserfolg einer Wahlanfechtung. Tatsächlich wichtig war die Existenz des Schleiers bei der Verteidigung von Wahlsiegen gegen Vorwürfe, dass Stimmen durch Druck verschiedener Art erpresst worden seien, also durch sogenannte »Beeinflussung«. Welche Drohungen auch immer bewiesen wurden, die mutmaßliche Geheimhaltung unterbrach die Verbindung zwischen einer äußeren Macht und dem Gewissen des Wählers. »Außerdem haben wir ja geheime Wahl!« war, wie wir gesehen haben, die perfekte Abwehr fast jeden Angriffs.113 Die Macht des Stimmzettels wurde nicht nur von Anhängern der Regierung beschworen – Konservativen, Freien Konservativen und Nationalliberalen –, sondern auch von Anhängern der Welfenpartei und des Zentrums sowie Fortschrittlichen. »Es muß … vermuthet werden«, beharrte der sächsische Landbesitzer C. G. Riedel, ein Fortschrittlicher, »daß die geheime Stimmabgabe den Wähler vor jeder Beeinträchtigung seiner Wahlfreiheit schützt. Mit einem Worte, das System der geheimen Abstimmung steht im Widerspruch mit der Annahme einer wirklich effektuirten [sic!] Wahlbeeinflussung.«114 112 Zitat: Albrecht SBDR 5. April 1871, S. 183; Gerstner SBDR 5. April 1871, S. 172. Lange Zeit hatten die Gerichte keine derartigen Bedenken. Seydel: Commentar, S. 194 f. Aber die Reichstagskommission zum neuen Strafrecht stellte 1910 fest: »Kein Zeuge darf über Tatsachen befragt werden, die darauf schließen lassen, für wen er bei einer auf Gesetz beruhenden geheimen Wahl gestimmt hat.« W. Dreyer: Beweisaufnahmen in Reichstags-Wahlprüfungssachen durch preußische Amtsgerichte, in: Juristische Wochenschrift 41/12 (1912) S. 623 ff. Siehe jedoch: Delbrück an SS in RJA, 10. März 1910. BAB-L R1501/14459, Bl. 345. 113 Kanngiesser SBDR 27. April 1871, S. 428; AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 106, S. 271 f. Zitat: Behr SBDR 17. April 1871, S. 240. 114 Riedel zitiert durch v. Lenthe SBDR 17. April 1871, S. 241, und 29. April 1871, S. 44. Ähnliche Positionen: K. Wilmanns (K) SBDR 17. April 1871, S. 245; Windthorst 18. April 1871, S. 328.

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Kurz vor dem Fazit der ersten statistischen Erfassung einer Reichstagswahl gab Julius Knorr eine bescheidene Einschränkung dieser nüchternen neuen Wissenschaft bekannt: »Zwischen dem ersten Element unserer Statistik, der Wählerliste, und dem letzten Ausläufer des ganzen Vorgangs, nämlich dem Anschluss des Gewählten an eine bestimmte Fraction, breitet sich der Schleier der geheimen Wahl aus, ein Mysterium, das kein menschliches Auge … ergründen soll.«115 Jedem, der die Herausforderungen erkannte, die diese Wahlen mit sich brachten, scheint Knorrs Bescheidenheit seltsam unangebracht. Das einzige Mysterium am »Schleier des Geheimnisses« war, wie er das eine Mal durchsichtig sein konnte, ein anderes Mal undurchsichtig. Er war derart durchsichtig, dass er den vielen Tausend deutschen Gemeinden und den Autoritätspersonen an ihrer Spitze erlaubte, die sozialen Kräfte zu ordnen, die ihre Stärke waren. Nominell »undurchsichtig« aber verschleierte er eben diese sozialen Kräfte, vor der Zensur der Öffentlichkeit. Und lange Zeit, so darf man vermuten, zogen sowohl die Regierung als auch die Abgeordneten vor, es dabei zu belassen.

Schlussfolgerung: Die korrekte Wahl Nach außen hin unterlief Deutschlands neues Wahlrecht die traditionelle Ordnung des Alltagslebens. In einer hierarchisch aufgebauten Welt machte das Wahlrecht die Menschen einen Tag lang gleich. In die subtile Wechselwirkung von lokaler Macht und Gepflogenheiten fügte das Wahlrecht ein universales, festgeschriebenes Gesetz ein, dessen Wortlaut in jedem Wahllokal im Lande ausgehängt werden musste. In die Gemeinde der Von-Angesicht-zu-AngesichtBeziehungen, wo die Grenzen fließend waren und die meisten Geheimnisse offen lagen, führte es einen privaten Willensakt ein: die Wahlentscheidung. Diese revolutionären Neuerungen – die Verkündung der Gleichheit, die Annahme der Unabhängigkeit – schienen die Demokratie auf dem Papier einzuführen. Sie weckten eine Reihe von Erwartungen nicht nur hinsichtlich des Wählens, sondern auch über die korrekte Wahl. Und dennoch standen diese schriftlich garantierten Sicherheitsmaßnahmen, wie wir bereits gesehen haben und auch noch in den weiteren Kapiteln sehen werden, anderen, gewohnheitsmäßigen Erwartungen über das entgegen, was eine korrekte Wahl bedeutete. Diese außerordentlichen Vorschriften in die Gewohnheiten und Voraussetzungen ihres Alltagslebens einzufügen war für die Deutschen der Beginn einer Übung in einer neuen Politik, einer Politik in einer demokratischen Tonart. Die Liberalen in allen Parteien hatten sich über ihren Erfolg gefreut, als »unmittelbare Staatsbeamte« aus den Wahlvorständen ausgeschlossen wurden, und die Historiker sind sich heute darüber einig, dass dieser Sieg »eine gewisse Lockerung der nahtlosen Autoritätsverhältnisse … erreichte«.116 Einige der frühen Resultate der neuen Verfahren lassen erkennen, dass bereits 1867, zumindest 115 Knorr: Statistik, Spalte 341. 116 Pollmann: Parlamentarismus, S. 326.

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an einigen Orten, Raum für abweichende Meinungen geschaffen worden war. Sogar der Bruder des Königs selbst, Prinz Albrecht, der sich im ländlichsten aller Wahlkreise Ostpreußens aufstellen ließ, wo der Name Hohenzollern viel hätte bedeuten sollen, erreichte 1867 nur eine Mehrheit von 55 Prozent; vier Jahre später verdrängte ihn ein Kandidat der Fortschrittlichen. Bismarcks Kandidatur im ländlichen Jerichow (Provinz Sachsen) stieß auf die Opposition von mehr als einem Drittel der Wahlberechtigten. Bismarck machte sein Schicksal nie mehr von der Zustimmung der Wähler abhängig.117 Man sollte sich allerdings davor hüten, eine glanzlose Wahl für die Regierung und ihre Verbündeten als Triumph des kleinen Mannes anzusehen. Wenn man nur den Argumenten Glauben schenkte, die im Reichstag für Furore sorgten, so müsste man annehmen, dass es der Staat selbst war, der das Recht des Bürgers auf freie Wahl am stärksten bedrohte. Die meisten Abgeordneten wussten es besser. In den kommenden Kapiteln werden wir die Bedrohungen durch andere Autoritäten untersuchen: die des Pfarrers, des Landbesitzers, der Vorgesetzten jeder Art. Aber selbst diese Potentaten hatten nicht immer das letzte Wort. Das wählende Individuum im Deutschland des 19. Jahrhunderts bewegte sich innerhalb eines Geflechts von Zwängen, die oftmals sowohl der Gemeinde als auch dem König, der Bürokratie, der Wirtschaft und selbst der Kirche geschuldet waren. Und innerhalb dieses Gemeinwesens konnte es sein, dass die Verbannung der Beamten aus dem Wahlvorstand den einzigen Schutz des Bürgers beseitigte. Sogar die lokale Autoritätsperson, die mehr anzubieten und mehr zu verweigern hatte als der sogenannte »unmittelbare Staatsbeamte«, beherrschte für gewöhnlich die Gemeinde, indem sie ein Teil davon war. Es war die Gemeinde selbst, durch ihre selbsternannten Sprecher, die häufig den wahren Einfluss ausübte. Als die Wirtin Elisabeth Neumayer im kleinen Sachrang rief: »Wählt nur den Pachmayr, Obermeier hat bis jetzt nur zwölf Stimmen«, appellierte sie an das Bedürfnis der Dorfbewohner, sich auf die Seite der Gewinner zu stellen – also auf die Seite der anderen Dörfler. In Riedering, wie Sachrang ein Dorf in Oberbayern, unterstützte die öffentliche Meinung Obermeier anstatt Pachmayr. Als der Holzhändler Martin Peer ohne zu wählen aus dem Klassenzimmer in Riedering floh, nachdem jemand laut gerufen hatte: »Da kommt schon wieder ein Pachmayr daher«, und seine Pro-Obermeier-Kumpel über ihn hergefallen waren, beugte er sich der Macht der Dorfgemeinschaft, nicht dem Obrigkeitsstaat.118 Dass die größere Bedrohung der Unabhängigkeit eines Wählers nicht vom Staat, sondern vom Erwartungsdruck der Gemeinde ausging, lässt sich auch anhand der Häufigkeit einstimmiger Wahlergebnisse in Städten und Dörfern vermuten – einer Praxis, die aus Traditionen der Beifallskundgebungen erwachsen war. Diese reichten bis ins Mittelalter zurück, als es bei einer Wahl nicht darum ging, zwischen verschiedenen Bewerbern auszuwählen, sondern mit ihr der kollektive Wille einer Gemeinschaft symbolisiert werden und so 117 Bis zum Ende seiner Kanzlerschaft. Statistik Jerichow in Philipps: Reichstags-Wahlen, S. 60. 118 Oberbayern 7, AnlDR (1871, 1/III, Bd. 2) DS 38, S. 97 ff.

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Teil 1: Der Rahmen

eine Unterschriftenliste vor der Obrigkeit legitimiert werden sollte. Da Statistiken auf Bezirksebene nur per Zufall überliefert sind, beschränkt sich unsere Information auf das, was in lokalen Studien und Wahlanfechtungen auftaucht. Dennoch spricht für sich, dass acht Städte in der Grafschaft Montjoie, am westlichen Rande des Rheinlandes, 1871 einstimmige Wahlergebnisse erzielten. Im Großherzogtum Hessen wurden einstimmige Wahlergebnisse, jedenfalls in religiös homogenen Kleinstädten, nicht als bemerkenswert empfunden. Achtzig Städte allein im Wahlkreis Bensheim-Erbach wählten 1874 einstimmig, 77 im Jahr 1877 und 88 im Jahr 1878. 1881 taten 59 der 104 Dörfer und Kleinstädte vom Wahlkreis Meppen-Lingen im Emsland das Gleiche. Dasselbe geschah drei Jahre später in siebzig dörflichen Gemeinden in einem Kösliner Bezirk in Ostpommern.119 Noch 1903 füllte ein Wahlvorstand in Westpreußen unbekümmert sein Formular aus, ohne die 88 Wahlumschläge zu öffnen, und schrieb alle Stimmen dem polnischen Kandidaten gut – weil ihr Wahlbezirk immer die Polenpartei wählte.120 Ähnliche Erwartungen der Gemeinde zeigen sich in den zahlreichen Beschwerden über »Wahlkreisgeometrie«, die Wahlkreiseinteilung im Interesse bestimmter Gruppen. Solche Vorwürfe entsprachen ungefähr den Vorwürfen, die in Amerika gegen das »Gerrymandering« erhoben wurden. Oberflächlich gesehen bezogen sie sich auf den gleichen Vorgang: den Gebrauch der Regierungsgewalt (in den Vereinigten Staaten: die Macht der Amtsinhaber), um die Grenzen der Wahlkreise so zu ziehen, dass diese bestimmte Wahlergebnisse erzielten und andere verhindert wurden. Die Unterschiede sind allerdings genauso vielsagend wie die Gemeinsamkeiten. Beim Gerrymandering signalisierte die seltsame Form des Bezirks den Versuch, gewisse Gegner (die durch eine gemeinsame demographische Eigenschaft gekennzeichnet waren, wie z. B. Religion, Rasse, Beruf, Einkommen) zu marginalisieren – oder, wie dies in Deutschland genannt wurde, zu majorisieren, indem man die Grenze des Wahlkreises mitten durch sie hindurch zog. So konnte eine Gruppe von beträchtlicher Stärke, wenn ihre Stimmen gemeinsam gezählt wurden, diese zwischen zwei oder mehr Wahlkreisen aufgesplittert finden. Der »Trick« des Gerrymandering entstand aus einer einfachen Rechnung: Aufteilung einer Gruppe und Subtraktion des Teils vom Ganzen. In Deutschland jedoch, wo der Begriff »Wahlkreisgeometrie« sich ebenfalls auf die eigennützige Ziehung von Grenzen bezog, war ihr Ziel häufig nicht der Wahlkreis, sondern der Wahlbezirk. Unter diesen Umständen war der »Trick« nicht das rechnerische Marginalisieren einer Wählergruppe innerhalb der Wahlkreise wie in den USA, da der Gewinner des Wahlkreises sowieso 119 Grafschaft Montjoie (Aachen 1): Lepper: Strömungen, Bd. 1, S. 296; Hessen: White: Party, S. 31 f.; sogar bis in die neunziger Jahre: Thomas Klein: Die Hessen als Reichstagswähler. Tabellenwerk zur politischen Landesgeschichte 1867–1933. Bd. 1: Provinz Hessen-Nassau und Waldeck-Pyrmont 1867–1918, Marburg 1989; Meppen-Lingen: Lingensches Wochenblatt, 2. Nov. 1881, SAO Dep. 62b; 3 Köslin, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 242, S. 1090 ff. Ausgezeichnet zu Beifallskundgebungen: Marcus Kreuzer: Democratization and Party Development. Elections, Political Organization and Democratic Consolidation in Interwar France and Germany (Dissertation, Columbia University, 1995) Kap. 1. 120 Als die Mitglieder des Wahlvorstandes dann eine Stimme für den Antisemiten bemerkten und diese änderten, um ihre Spuren zu verwischen, gingen sie ins Gefängnis. BAB-L R1501/14703, Bl. 258 ff.

Kapitel 3: Offene Geheimnisse

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aus der Summe aller Wahlbezirke ermittelt wurde, sondern durch kalkulierte Grenzziehungen der Wahlbezirke. Die Aufsplittung von bestimmten Gruppen in mehrere Wahlbezirke zwang jene, die innerhalb eines einzigen Wahlbezirks die Mehrheit gebildet hätten (z. B. Katholiken, Polen, Metallarbeiter), ihre Stimmzettel unter den Augen einer anderen Gemeinde einzuwerfen.121 Mit der Durchführung dieser Maßnahme gestanden die Grenzzieher ein, dass eine wirksame Gewalt weniger durch Befehlen als durch Beobachten ausgeübt wurde. Dass die Betroffenen sich regelmäßig beschwerten, ist ein Hinweis darauf, warum der Reichstag so lange brauchte, bis er wirklich geheime Wahlen forderte. Alle Gemeinden sowie die Parteien und Kräfte, die mit ihnen verknüpft waren, wollten die Macht behalten, selbst über den Wahlakt zu wachen.122 Diese Erwartungen zu ändern erforderte ebenso viel vom Reichstag wie von den Wählern. Es verlangte in erster Linie Veränderungen der traditionellen Vorstellungen von der Gemeinschaft und damit der eigenen Identität.123 Einzelne Personen, ob aus ungewöhnlicher Integrität oder bloßem Eigensinn, ergriffen die Chance dieser Erneuerung. Aber bevor die meisten Wähler dem Zug der lokalen Kräfte entgehen konnten, war es nötig, ein alternatives Kraftfeld von außen einzuführen. Die Regeln der Demokratie, wie sie schwarz auf weiß im Wahlgesetz von 1869 und dem Wahlreglement von 1870 geschrieben standen, erwiesen sich als von beträchtlicher Bedeutung, indem sie solch ein Kraftfeld erlaubten, wie wir in Kapitel 9 sehen werden. Schließlich bestand die Lösung für das Problem des Drucks der Gemeinschaft nicht in mehr Individualismus, sondern in mehr Organisation. Und ironischerweise erwies sich als einer der größten Motoren für die Veränderung der besondere deutsche Stimmzettel. Nicht der ideale und rein fiktive geheime Stimmzettel, aus den bereits genannten Gründen, sondern der wirkliche, privat gedruckte und verteilte – genau der Mechanismus, der fast unausweichlich die Wahl des Bürgers den Augen der Öffentlichkeit preisgab. Denn die Verteilung von Stimmzetteln in Deutschland lag außerhalb der finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten der schwer arbeitenden Bevölkerung auf dem Land. Außenseiter mussten in die Bresche springen. Hierin ähnelte der Stimmzettel der komplizierten Wähler-Registrierungsvorschrift, die 1832 in Großbritannien 121 Domirski (P) SBDR 10. April 1874, S. 710; Der Kocherbote (Gaildorf, Württemberg) Nr. 93, 6. Aug. 1878, BAB-L R1501/14693, Bl. 62; Hannoverscher Kourier, 4. Okt. 1881 in BAB-L R1501/14451, Bl. 64; Marienwerder 5, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 1) DS 166, S. 806 f. Zum Gerrymandering amerikanischen Stils: Memoranden der Minister f. Landwirtschaft u. Finanzen, 28. Okt. 1867, wie auch Bismarcks, 23. Dez. 1864, BAB-L R43/685, Bl. 2–12v. 122 Hinweise auf die Ursprünge des Begriffs »Wahlkreisgeometrie« bei den bayerischen Wahlen von 1869, bei denen der IM, der die Bezirke aufteilte, selbst der liberale Kandidat (und Sieger gegen das Z) in einem Wahlkreis war, der zu fast 70 Prozent aus Katholiken bestand. SBDR 18. April 1871, S. 257 ff. HZtg, 2. Beilage zu Nr. 92, 20. April 1871; [J. E. Jörg:] Das deutsche Reich von der Schattenseite im Reichstag, S. 763 ff., 852 ff. Protest wegen Wahlbezirksgrenzen: Gumbinnen 6, AnlDR (1875, 2/III, Bd. 4) DS 82, S. 839; Marienwerder 7, AnlDR (1890/92, 8/I, Bd. 4) DS 481, S. 2776 ff.; Schloßmacher: Düsseldorf, S. 53, 70. Die Tatsache, dass man in der Gemeinde wählte, wurde zu dem Argument benutzt, dass die Leute die vorgeschriebene Benutzung einer Wahlkabine irritierend finden würden. Struckmann (NL) SBDR 15. Jan. 1890, S. 1017. 123 Diese Formulierung ist [im englischen Original] natürlich dem Titel von Benedict Andersons Buch geschuldet: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.

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Teil 1: Der Rahmen

eingeführt worden war – einer Vorschrift, die »unerwartet den größten Anreiz für die Organisation der Wählerschaft zu Parteizwecken darstellte«.124 Obwohl die private Verteilung von Stimmzetteln in Deutschland ihren Ursprung in dem Wunsch der Regierung nach Effizienz hatte, zog sie unausweichlich die regionale und nationale Partei, ihre Verbände und Vertreter ins Dorf. Da darüber hinaus die Freiheit, Stimmzettel zu verteilen, durch strenge rechtliche Vorschriften geschützt war, die bei den traditionelleren Vorbildern der Rede, der Presse und der Versammlung unbekannt waren, gaben diese Stimmzettel – zu groß, zu klein, zu gelb, grau, violett oder durchscheinend, mit all den Schwächen, die Zufall oder List mit sich bringen konnten – Außenseitern die Möglichkeiten, sich regional zu organisieren und vor Ort Wahlkampf zu betreiben. Diese Möglichkeiten sind kaum vorstellbar für den Fall, dass die Versorgung mit Stimmzetteln in den Händen der Regierung geblieben wäre. Die politische Partei konnte nicht für die Geheimhaltung sorgen, die der Stimmzettel vermissen ließ. Aber wie wir in Kapitel 8 und 9 sehen werden, sorgte sie für einen neuen, nationalen und in diesem Sinne künstlichen Ort der Identifikation und Unterstützung, der nicht notwendigerweise mit der »natürlichen« Gemeinde zu Hause übereinstimmte. Solche Risse im Geflecht des Gemeinwesens schufen noch nicht automatisch Raum für das Individuum. Aber der Wettbewerb zwischen den nationalen und lokalen Gemeinwesen setzte einen Prozess in Gang, der Autorität und Legitimität veränderte. Er führte bald zu Wahlen, die zwar häufig alles andere als »frei« waren, aber dennoch als Wettbewerb bezeichnet werden können. Und solche Wahlkämpfe werden heute zu Recht als eines der entscheidenden Merkmale der Demokratie angesehen.125 Um dem Paradox ein weiteres hinzuzufügen, wurde diese neue Entwicklung, die Entstehung eines nationalen Systems von Volksparteien, durch die traditionellste Macht in Gang gesetzt, die es überhaupt gab. Diese war nach eigener Definition weder politisch noch national und ganz sicher nicht demokratisch, sondern lokal und international, geistig und hierarchisch: nämlich der katholische Klerus – dem wir uns jetzt zuwenden werden.

124 Großbritannien: Gash: politics, S. xiii, 117 f.; Hanham: Elections, S. 399–404; Seymour: Reform, S. 104 sowie 122, 126 f., 132. 125 Nohlen: Wahlrecht, S. 18, zitiert Verba u. a.: Participation, S. 4. (Ich konnte die Zeile, die Nohlen zitiert hat, weder auf S. 4 noch anderswo in Verba u. a. finden, aber sie stimmt mit ihren Ansichten überein. [Anmerkung der Verfasserin]) Ähnlich: Huntington: Meaning, S. 16.

Teil 2: Kraftfelder

Kapitel 4: Schwarze Magie I: Die erste Politisierungswelle

Clericalism proved a great initiator to democratic politics and the opportunities for mass control intrinsic to democratic politics made the fortune of clericalism.* P. M. Jones, on 19th-century France (1985)

Am Vorabend der Wahl von 1871 rief Hans Heinrich XI., Fürst von Pleß, seine Gendarmerie, seine Grubenvorarbeiter, einige hundert Forstbeamte und seine Landespolizei auf Schloss Pleß zusammen und befahl ihnen, auf die Wiederwahl seines Nachbarn, des Herzogs von Ratibor, hinzuarbeiten. Mit einer Mischung aus Versprechungen (Chausseen, einer Eisenbahnverbindung, Zuschüssen zum Witwenfonds) und Drohungen (einem Verbot des Holzsammelns, einer Polizeistrafe von fünf Thalern, dem allgemeinen Missfallen der fürstlichen Verwaltung) bearbeiteten die Angestellten des Fürsten den Wahlkreis. Die Polizisten ritten mit Trommelschlag durch die Weiler und riefen: »Morgen ist Reichstagswahl. Wählt den Herzog von Ratibor, denn er ist ein guter Katholik!«1 Der Fürst war ein Großindustrieller, der größte Landbesitzer in Schlesien (mit fast 99.000 Morgen Land allein im Fürstentum Pleß) und der viertreichste Mann in Preußen, nach Krupp, Rothschild und Graf Henckel von Donnersmarck.2 *

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»Der Klerikalismus erwies sich als ein Initiator für die demokratische Politik, und die Gelegenheit zur Kontrolle der Massen, die zum Wesen der demokratischen Politik gehört, bildete die Grundlage des Geschickes des Klerikalismus.« P. M. Jones über Frankreich im 19. Jahrhundert AnlDR (1871, 1/II Bd. 2) DS 69, S. 169; Zitat: T. Schröder-Lippstadt (Z) SBDR 22. Nov. 1871, S. 434; GA Nr. 74, 28. März 1871, S. 626. Im Jahr 1902: R. Martin: Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preussen, Berlin 1910, Bd. 2, S. 26 ff. Später jedoch führte Martin Pleß an zweiter Stelle nach Krupp. Martin: Machthaber, S. 226.

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Teil 2: Kraftfelder

Das Objekt seiner Bemühungen, der Abgeordnete des Wahlkreises Pleß-Rybnik, war Viktor Moritz Karl Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey, ein Mitglied des preußischen Herrenhauses, General der Kavallerie und, als Standesherr einer der ältesten Familien in Deutschland, den deutschen Königen gesellschaftlich durchaus ebenbürtig. Bismarck war dem Herzog, dem älteren Bruder des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst – des ehemaligen Ministerpräsidenten von Bayern und späteren Reichskanzlers – zu Dank verpflichtet. Dieser hatte1866 geholfen, die Freie Konservative Union (auch Reichspartei genannt) zu gründen, eine Partei, deren Ziel es war, Preußens umstrittenem Herrscher die Unterstützung durch den Adel zu verschaffen. Die Besitztümer des Herzogs umfassten über 82.000 Morgen, darunter fünfzig Dörfer im Kreis Rybnik.3 Gemeinsam besaßen der Fürst und der Herzog den größten Teil des Wahlkreises. Schlesiens Magnaten waren es gewohnt, Wahlen zu diktieren.4 Und dennoch war 1871 der Gewinner in diesem entlegenen Teil des Reichs nicht der Herzog von Ratibor, sondern ein unbekannter katholischer Geistlicher namens Müller, der für das Zentrum kandidierte. Ein klarer Beweis dafür, dass etwas in PleßRybnik faul war, war die Tatsache, dass Eduard Müller ein Mann war, »dessen Verdienste«, wie Eduard Lasker es ausdrückte, »außerordentlich groß sein mögen, nur weiß die Welt wenig davon und noch weniger der Wahlkreis, in dem er gewählt worden ist«. Kaplan Müller, wohnhaft in Berlin, war nicht einmal in dem Wahlkreis erschienen.5 Pleß-Rybnik hatte eine weitere Besonderheit, die neues politisches Wachstum besonders erschwerte. 1871 war es der bevölkerungsreichste Wahlkreis in Deutschland. Obwohl die im Reichswahlgesetz von 1869 festgelegte Norm von 100.000 Einwohnern pro Wahlkreis bereits in einer Anzahl großstädtischer Bezirke überschritten worden war, besaß nur Pleß-Rybnik eine Bevölkerung, die die Norm um mehr als 50.000 überschritt.6 Aber – und auch dies ist auffallend – Pleß-Rybnik war durch und durch ländlich. Von den fünf Städten des Bezirks besaß die größte, Nikolai, 5.775 Einwohner. Es gab wenige Straßen und die Kommunikation war schwierig. Einige seiner Siedlungen waren so winzig und abgelegen, dass sogar die Kartographen aus Moltkes Generalstab, die sich in der Geographie des Reichs auskannten, sie übersehen hatten. Es überrascht nicht, dass sie in der Zuordnung der Wahlbezirke vergessen wurden.7 3

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Zum Herzog: Rust: Reichskanzler; Jaeger: Unternehmer, S. 17 Anm. 30; Hirth (Hrsg.): Parlaments-Almanach (1877) S. 214; Haunfelder u. Pollmann: Reichstag, S. 452; Joseph Partsch: Schlesien. Eine Landeskunde für das deutsche Volk, Breslau 1911, S. 8. Siehe auch P. Weber: Polen, S. 22; Alfons Perlick: Oberschlesische Berg- und Hüttenleute, Kitzingen/ Main 1953, S. 55 ff.; Schröder-Lippstadt SBDR 22. Nov. 1871, S. 433; Mazura: Entwicklung, S. 54, 59 ff., 61 Anm. 4. Lasker erwähnte zweimal, dass der Amtsinhaber aus »seinem« Bezirk verdrängt worden sei. SBDR 5. April 1871, S. 174. Bismarck wiederholte die Redewendung: SBHA 30. Jan. 1872. O. v. Bismarck: Werke (1929) Bd. 11, S. 227. Reichensperger nannte Müller einen »Kaplan«, obwohl sein wahrer Titel »Missionsvikar« lautete. Beide Begriffe geben an, dass Müller nie so weit fortgeschritten war, dass man ihm eine Pfarrgemeinde anvertraut hätte. 156.416. Statistiken zur Bezirksgröße in Knorr: Statistik, Spalten 316–318. Zu Nikolai in Phillips: Reichstagswahlen. S. 52. AnlDR (1871, 1/II Bd. 2) DS 69, S. 168.

Kapitel 4: Schwarze Magie I: Die erste Politisierungswelle

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Eine Infrastruktur, wie beispielsweise eine umfangreiche Presse, Gesellenvereine, womöglich spontane Parteiorganisationen, auf die sich eine Wahlkampagne hätte stützen können, gab es einfach nicht.8 Bei großer Einwohnerzahl dünn besiedelt – wie konnte die Nachricht über einen Neuankömmling in diese Festungen eindringen? Wie konnte dieser Bezirk »bearbeitet« werden, außer durch einen Kandidaten wie den Herzog, den die Wähler bereits durch ein langes Miteinander in der Gegend kannten? Wer sollte seine Stimmzettel austeilen? Und wie konnten die Wähler dazu überredet werden, gegen den Kandidaten der Leute zu stimmen, von denen sie in hohem Maße abhängig waren? Wie, wenn nicht durch die Macht der katholischen Geistlichkeit, die auf eine unbedarfte Bevölkerung einwirkte? Dass die Wahl von Pleß-Rybnik nicht zufällig zustande gekommen war, zeigte ein ebenso erstaunlicher Sieg im westlichen Teil Deutschlands, in der rheinischen Stadt Krefeld. Dort enthob August Reichensperger, ein Außenseiter, der ebenfalls für das katholische Zentrum kandidierte, einen anderen wohlhabenden Einheimischen seines Amtes: Ludwig Friedrich Seyffardt, einen Sprecher der Wirtschaftselite in einem Industriegebiet, dessen vorherrschende Stimmung, an den früheren Wahlen gemessen, überwältigend liberal war. Wie die in Pleß-Rybnik unterlegenen Freien Konservativen signalisierte die Niederlage der Liberalen in Krefeld mehr als eine Veränderung im Wählerverhalten. Seyffardt gehörte dem kleinen Kreis evangelischer Familien an, die die Industrie und die örtliche Politik im katholischen Krefeld ein Jahrhundert lang beherrscht hatten. Unterstützt durch städtische und staatliche Privilegien, das preußische Wahlrecht, schamlose Verschiebung der Wahlbezirksgrenzen und ein Maß an Schikanen, das die Stadt, wie Julius Bachem es ausdrückte, zum »klassischen Ort des nationalliberalen Wahldrucks« werden ließ, dauerte die Vorherrschaft dieser Sippschaft noch ein weiteres Jahrzehnt an. Aber bei den Reichstagswahlen hatte sie, dank des neuen Wahlrechts, ihr Ende erreicht.9 Die Debatten über diese zwei Wahlkreisverluste wurden im ganzen Land auf den Titelseiten der Zeitungen wiedergegeben und kamen im Laufe des folgenden Jahres mit schöner Regelmäßigkeit im Reichstag zur Sprache. Allerdings waren sie nur die auffälligsten Beispiele von Wahlsiegen, die – weit mehr als die routinemäßigen Verletzungen des Wahlgeheimnisses und der Wahlfreiheit, die wir im letzten Kapitel betrachtet haben – die Alarmglocken hinsichtlich der Möglichkeit freier Wahlen in Deutschland schrillen ließen. Obwohl innerhalb der neuen deutschen Reichsgrenzen die Katholiken in der Minderheit waren, war der Einfluss des Klerus in den Augen großer Teile der Öffentlichkeit 1871 die Sünde gegen die freie Wahl. Die Zahl der Beschwerden gegen katholische 8

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Mazura: Entwicklung, S. 61. Siehe auch S. 56, 58, 67, 83, 87. Die Abonnentenzahlen der polnischsprachigen Zeitung Katolik wurden 1871 mit 1.200 und im Oktober 1870 mit 2.180 beziffert. Ebd., S. 81 Anm. 6; Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 27. In der gesamten Provinz gab es fünf Gesellenvereine, wenn auch Trzeciakowski »kurz« nach 1867 ein Kasino in Pleß festgestellt hat. Statistik: Dr. (Jakob) Marx: GeneralStatistik der katholischen Vereine Deutschlands, Trier 1871, S. 26 ff. Seyffardt: Erinnerungen, S. 50 ff.; Bachem zitiert in Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 98, Wahlkreisverschiebung S. 97 ff.; Croon: Stadtvertretungen in Krefeld und Bochum, S. 289 ff.

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Geistliche überstieg diejenige gegen Arbeitgeber im Verhältnis zehn zu eins und war sogar fast im Verhältnis fünf zu drei höher als die der Anschuldigungen gegen Regierungsbeamte, die traditionell bei Wahlprotesten die üblichen Schurken darstellten. Diese Anschuldigungen stellten die Legitimität nicht dieser oder jener Wahl, sondern der zweitgrößten Partei Deutschlands in Frage. So leitete Julius Knorr, den wir im letzten Kapitel als den Statistiker der ersten gesamtdeutschen Wahlen kennengelernt haben, seine Analyse mit der folgenden Einschränkung ein: Jene 437.790 Stimmen, welchen die Fraktion des ›Centrums‹ im Reichstage ihre Existenz verdankt, sind in Wahrheit vogelfrei in der Werthschätzung aller Ehrlichen; … weiß doch kein Mensch, wie viele Furchtsame sich enthalten haben, ihr Deutsches Herz zu bekennen, da man sie schreckte mit scheinheiligem Zorn: ›Ihr werdet doch nicht gegen Euren Herrn und Heiland stimmen!‹10

Menschen mit liberalen Ansichten hätten hoffen können, dass der Schritt, dem Volk eine Stimme zu verleihen, eine fundamentale Kritik an der Autorität dieser hierarchischsten aller Kirchen ermutigt hätte. Im Laufe der Diskussion über die in Frage gestellten Siege veränderten sich jedoch rasch die Themen: von einer Kritik an den katholischen Geistlichen zu einem Unbehagen darüber, dass solchen Leuten das Wahlrecht gegeben worden war, und schließlich zur Skepsis hinsichtlich des demokratischen Wahlrechts an sich. Obwohl am Ende nur drei Zentrumsmandate für ungültig erklärt wurden, spielten diese Kontroversen über »klerikale Einflüsse« eine wichtige Rolle in Deutschlands sich anbahnendem Kulturkampf, einem Kampf, der die Deutschen politisch aufspalten und die deutschen Ansichten über die Demokratie bis zum Ende des Kaiserreichs nachhaltig prägen würde.

Klerus und Wahlen vor 1871 Wer war der Lehrmeister der Gesellschaft, der Erzieher ihrer Kinder, der Garant ihrer ehelichen Verbindungen, der Wächter und Interpret ihrer Werte? Diese und ähnliche Fragen lieferten den Anlass zu den bittersten und langlebigsten Konflikten, die die politische Debatte von Mitteleuropa bis nach Nord- und Südamerika bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bestimmten. Damals unzureichend unter der Rubrik »Kirchenpolitik« zusammengefasst, ist dieses Gewirr von Themen uns heute als »Kulturpolitik« bekannt. Die Verschiebung der politischen Debatte im Laufe des 19. Jahrhunderts aus den Kanzlerämtern in die Wahlkreise verstärkte solche Dispute, anstatt sie beizulegen. Selbst wo religiöse Themen selber im Wahlkampf keine direkte oder wichtige Rolle spielten, lieferte die Religion häufig die Sprache, mit der andere Antagonismen artikuliert wurden, 10

Knorr: Statistik, Spalte 290. Tatsächlich betrug die Stimmenzahl des Z über 724.000. Zahlen und Prozentsätze von Wahlprotesten gegen klerikalen Einfluss wurden von mir selbst berechnet.

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und die Symbole, die die kulturelle Identität definierten. Das war nicht nur in Deutschland so. Selbst in derart entfernten Gegenden wie Illinois, Indiana und Iowa, wo Kirche und Staat formal getrennt waren, »war die Religion die fundamentale Quelle des politischen Konflikts … [Sie] bestimmte die Themen und die Rhetorik der Politik und spielte die entscheidende Rolle bei der Festlegung der parteilichen Ausrichtung der Wähler.« In Frankreich war es eine Binsenweisheit, dass die politischen Verwerfungslinien den konfessionellen Zugehörigkeiten folgten. »Wenn man zur Messe ging, konnte man kein wirklicher Republikaner sein. Wenn man Republikaner war, bekämpfte man die Priester, die Nonnen und den Aberglauben.«11 Ein Historiker ging so weit, im Zusammenhang mit den Wahlen in England festzustellen: »Die Religion war selbst eine Art von Politik.« Ein anderer Historiker behauptet das Gleiche mit denselben Worten über die irischen Wahlen.12 Die Politik, die Macht verteilt, und die Religion, die in den Gemeinden Sinn stiftend wirkt, kamen unweigerlich zusammen, als die Erweiterungen des Wahlrechts den Gemeinden Zugang zur Macht verschafften und damit die Möglichkeit, ihre eigenen Werte gegen die der anderen zu verteidigen. Ebenso unvermeidlich spielte der Klerus, als lautstarkes Verbindungsglied zwischen der Welt der Werte und der Welt der Macht, eine prominente Rolle. Auch wenn dies von vielen Zeitgenossen als Zeichen von Rückständigkeit angesehen wurde, trat also der Gemeindepfarrer genau zu dem Zeitpunkt als politische Kraft in Erscheinung, als, wie ein österreichischer Liberaler mit Erstaunen feststellte, die Politik begann, sich »in freieren Bahnen« zu bewegen.13 Das Phänomen stellt sich über die nationalen und konfessionellen Grenzen hinweg bemerkenswert ähnlich dar. Während der viktorianischen Wahlen »war kein anderer Berufsstand derart parteiisch, derart militant, derart unverrückbar wie die Pfarrer der Dissidentengemeinden«.14 Die Anklagen wegen »grober klerikaler Einschüchterung, Kadavergehorsams der Bevölkerung von Analphabeten gegenüber den Geistlichen, in ihren Gemeinden Wahlkampf betreibender Geistlicher … oder solcher, die sich als Ausführende in den Wahlkabinen betätigten«, die 1892 von der Zeitung United Ireland erhoben wurden, hätten genauso gut 1869 vom Generalstaatsanwalt in Besançon oder auf der Höhe des Kulturkampfs von der Norddeutschen Allgemeinen kommen können.15 In der Tat scheint die Geistlichkeit außerhalb Deutschlands noch unverfrorener vorgegangen zu sein. Der Bischof von Meath selbst stellte 1892 den Namen eines Michael Davitt auf die Nominierungsliste, drängte seine Kongregation, mit Stöcken bewaffnet zu Davitts Wahlkampfveranstaltungen zu kommen, 11 12 13 14 15

Zitate: Jensen: Winning, S. 58 f. (hierzu auch S. viii, xii, 57); E. Weber: Peasants, S. 359. Ähnliche Verwerfungslinien in Kolumbien: Posada-Carbó: Limits, bes. S. 269 ff., und Deas: Role. Gash: Politics, S. 175; Hoppen: Elections, S. 37. Ähnlich George Kitson Clark: The Making of Victorian England, London 1962, S. 162. Dagegen Vernon: Politics, S. 178 ff. Pachmann: Clerikal-Vertretung, S. 106 ff. Vincent: Pollbooks, S. 18; Gash: Politics, S.176; Hanham: Elections, S. 15. Zitiert in Woods: Election, S. 306; Besançon: Charnay: L’église, S. 295. Eine (erstaunliche) Ausnahme scheint Österreich zu bilden, wo Boyer eine aktive Rolle des Klerus erst nach der Jahrhundertwende erkennt. Boyer: Culture, S. 300, 302 f., 310 ff., 328.

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und ließ in allen Messen seiner Diözese einen Hirtenbrief verlesen, der eine göttliche Rache für »den im Sterben liegenden politischen Anhänger Parnells« vorhersagte.16 In Wales drohten baptistische Prediger nicht nur mit dem Ausschluss bzw. der Verweigerung des Abendmahls, sondern schienen auch Gewalt und Brandstiftung gegen jeden »Judas« zu ermutigen, der die Torys wählte. In Frankreich zeigte der Klerus ebenso wenig Neigung, Rücksicht zu nehmen. In der Bretagne hielt ein Kandidat Wahlkampfveranstaltungen in Kirchen ab und erteilte seinen versammelten Anhängern den Segen. Wie in Irland, so griffen auch hier die Geistlichen gelegentlich zu kriminellen Methoden. Noch 1928 wurden Seminaristen in Les-Basses-Pyrénées zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie mehr als eine Stimme abgegeben hatten.17 Diese schamlosen Traditionen des französischen Klerus mögen der Tatsache zugrunde liegen, dass die ungeheuerlichsten von Geistlichen im Deutschen Reich betriebenen Wahlkämpfe in der ehemaligen französischen Provinz Elsass-Lothringen, dem »klassischen Land der Wahlmacherei«, stattfanden.18 Obwohl während des Kulturkampfes ein erzürnter Geistlicher in Württemberg bei einer Wahlversammlung einen Revolver zog und in die Menge schoss, wurde der deutschen Geistlichkeit selten vorgeworfen, das Gesetz gebrochen zu haben.19 Aber obwohl die klerikale Parteinahme einen gemäßigteren Weg einschlug, war der Aufruhr hierzulande größer und hatte langandauernde Konsequenzen – für die Gesetzgebung, für die Wahlbeteiligung und Wahlgruppierung und letztendlich für die Demokratie. Warum war der Aufschrei in Deutschland größer? Nur in Deutschland erlebten die Menschen gleichzeitig zwei revolutionäre, aber nicht notwendigerweise zusammenpassende neue Definitonen der politischen Nation: den Zusammenbruch der Vielstaaterei zugunsten eines zwar reduzierten, aber »vereinten« Nationalstaats sowie die Ausdehnung der Teilnahme am politischen Leben durch das allgemeine Wahlrecht für Männer. In den Augen der Nationalisten war die Kirche wie eine böse Fee bei der Taufe des neugeborenen Nationalstaats – der ersten Wahl – aufgetaucht, um ihn mit dem Fluch einer fortgesetzten Teilung zu belegen. So schrieben sie dem Klerus das zu, was das unvermeidliche Ergebnis der durch Wahlen bestimmten Politik war. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden wir uns damit näher befassen.

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Irische Priester beteiligten sich auch an allen häufigsten weltlichen Wahldelikten: Einladungen zum Trinken, Bestechung, Aufruf zum Aufstand, Anstiftung zur mehrfachen Stimmabgabe. Woods: Election, S. 300; Whyte: Influence, S. 245, 247, 306; Hoppen: Elections, S. 245 f., 245 Anm. 5. Der Einfluss des Klerus führte zu sechs für ungültig erklärten Wahlen zwischen 1852 und 1881. Cragoe: Conscience, S. 154, 162, 164; Charnay: L’église, S. 269, 272, 295; ders.: Les scrutins, S. 82, 84, 89, 92, 92 Anm. 63, 94 f., 97 f. Zitat: Delsor SBDR 21. April 1903, S. 8925 f.; hierzu auch Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 125. Hiery: Reichstagswahlen, S. 320, 420 f. Wo das geschah, folgte die Strafverfolgung – und die Veröffentlichung – auf dem Fuß: GA Nr. 164, 16. Juli 1871, S. 1476. Revolver: GA Nr. 12, 15. Jan. 1874, S. 68.

Kapitel 4: Schwarze Magie I: Die erste Politisierungswelle

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Die politische Betätigung der Geistlichkeit nahm in Deutschland, wie auch in der übrigen westlichen Welt, mit der Ausweitung oder Beschränkung des Wahlrechts zu oder ab. Bereits das annus mirabilis 1848 sah die Geistlichkeit in die Politik des deutschen Nationalstaats eintreten. Oft waren Geistliche die Einzigen im Dorf, die von irgendeinem der Kandidaten gehört hatten, und zwar evangelische wie auch katholische. Diese wurden häufig dann als Wahlmänner in die Wahlkollegien geschickt, und eine Reihe von ihnen, darunter drei katholische Bischöfe, saßen als Abgeordnete in der Frankfurter Nationalversammlung. Sowohl der Präsident als auch der Vizepräsident der revolutionären Zweiten Kammer von Baden waren Geistliche.20 Aber 1849 wurde die Frankfurter Versammlung wieder aufgelöst, in den deutschen Ländern wurden erneut Wahlrechtsbeschränkungen eingeführt, und die Beteiligung der Geistlichen sank mit der Anzahl der Wahlberechtigten.21 Obwohl die politischen Aktivitäten der katholischen wie auch der evangelischen Geistlichkeit von Gemeinde zu Gemeinde variierten, kam von diesen bei den Wahlen nur eine von einer Reihe mehr oder weniger offizieller Empfehlungen zugunsten desjenigen, den die Regierung zu unterstützen beschlossen hatte. Wähler mit unabhängigen Ansichten – keine Seltenheit, seitdem restriktive Wahlordnungen erneut wohlhabende Männer bevorzugten – ignorierten sie.22 Bei den katholischen Bischöfen stellte sich die politische Richtung, die sie während der Wirren der Revolution anzugeben sich bemächtigt gefühlt hatten, jetzt eher als die Ausnahme denn als die Regel heraus.23 Selbst wenn gewählte Regierungen die Pläne der katholischen Kirche durchkreuzten, war deren Reaktion nicht die Unterstützung bestimmter Kandidaten, sondern, wie beim evangelischen Oberkirchenrat der Protestanten, die Versendung harmloser pastoraler Rundschreiben (von deren Veröffentlichung sie Abstand nahmen), in denen sie die Gläubigen ermahnten, auf jeden Fall an den Wahlen teilzunehmen und für gottgefällige Ergebnisse zu beten. Wenn diese Verkündigungen etwas Rituelles an sich hatten, lag das daran, dass die Exzellenzen sich äußerst bewusst waren, dass sie in einem Staatenbündnis mit zwei 20

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Rosenbaum: Beruf, S. 63. Konrad Repgen: Klerus und Politik 1848. Die Kölner Geistlichen im Politischen Leben des Revolutionsjahres – als Beitrag zu einer »Parteigeschichte von Unten« in: Aus Geschichte und Landeskunde. Forschungen und Darstellungen, Franz Steinbach zum 65. Geburtstag gewidmet, hrsg. v. F. Petri und K. Repgen, Bonn 1960, S. 133 ff.; ders.: Märzbewegung und Maiwahlen des Revolutionsjahres 1848, Bonn 1960; Sperber: Radicals, S. 177; Bachem: Vorgeschichte, Bd. 2, S. 260, 265; Graf: Beeinflussungsversuche, S. 196, 198. In Trier vertrat der Klerus keine einheitliche Position: Hansjürgen Schierbaum: Die politischen Wahlen in den Eifel- und Moselkreisen des Regierungsbezirks Trier 1849–1867, Düsseldorf 1960, S. 21, 25, 44. Thränhardt: Wahlen, S. 46 Anm. 34, sieht 1848–1849 keinen großen politischen Unterschied zwischen den Konfessionen in Bayern, wenn auch die Katholiken demokratischer waren. Mein Bericht fasst die regionalen Varianten des klerikalen Verhaltens von 1849 bis 1869 zusammen: J. Becker: Staat, S. 134 f., 134 Anm. 18, H. W. Smith: Nationalism, S. 107; Bellot: Hundert Jahre, S. 32, 37, 78; Weinandy: Wahlen, S. 110 f., 110 Anm. 1, 128, 146, 150 f., 280; Röttges: Wahlen, S. 131, 159, 187, 235, 284, 319; Schmidt: Wahlen, S. 73, 77, 82, 87, 101, 120, 175; Mazura: Entwicklung, S. 28 f.; Neubach: Geistliche, S. 252 ff.; Bachem: Vorgeschichte, Bd. 2, S. 103. J. N. Sepp an J. E. Jörg, 20. April 1863, in Jörg: Briefwechsel, S. 224 f. Selbst nach 1852, als eine speziell katholische Partei (das erste »Centrum«) sich in Preußen etablierte. Kalyvas: Rise, S. 174 ff., der vier Nationen betrachtet, behauptet, dass die Hierarchie der Gründung einer katholischen Partei sehr im Wege stand. Zur Hierarchie: Graf: Beeinflussungsversuche, S. 70–175, bes. 158, S. 260 ff., 292 ff.; Schmidt: Wahlen, S. 181, 183.

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großen Konfessionen lebten, in Ländern, in denen liberale Ansichten und konservative Bürokraten geradezu allergisch auf Übergriffe seitens der Kirche reagierten, und unter Regierungen, die eifersüchtig über ihre eigene Souveränität wachten, gleichzeitig begierig die aktive Hilfe der Kirche in Anspruch nahmen und dabei doch besorgt waren über jede klerikale Aktivität, die religiöse Leidenschaften entfachen konnte. Die Geistlichkeit, besonders der katholische Klerus, stand unter ständiger Beobachtung – und die Bischöfe wussten dies. Die Umsicht der deutschen katholischen Kirchenoberen während der zwei Jahrzehnte vor 1871 stand in auffälligem Kontrast zu der Streitsucht des Heiligen Stuhls. Die existenzielle Bedrohung des Vatikanstaates durch den italienischen Liberalismus hatte Pius IX. zu einer Flucht nach vorn veranlasst, indem er seine politische Souveränität in Mittelitalien damit verteidigte, dass er eine Rolle der Kirche im öffentlichen Leben aller Staaten beanspruchte. Die Sammlung der von Papst Pius IX. in verschiedenen Äußerungen geächteten Irrtümer, welche die Forderungen der Liberalen nach der Trennung von Kirche und Staat verurteilte, war das auffälligste Zeichen der defensiven Siegesstimmung, die sich in den Kreisen des Vatikans ausbreitete.24 Aber das dreiste Trompetengeschmetter der politischen Theorie, die von den Ultramontanen kamen und von Protestanten und Liberalen mit Abscheu und Entsetzen aufgenommen wurden, fanden bei den deutschen Katholiken wenig Anklang. Obwohl einige Heißsporne in der katholischen Presse ihre Priester aufriefen, aktiv an den Wahlen teilzunehmen, war eine der wichtigsten Entwicklungen der 1860er Jahre das Ausmaß, in dem der bloße Gedanke an eine politische Rolle der Kirche in Diskussionen mit dem Klerus selbst problematisiert wurde.25 1863 trat ein führender Kirchenhistoriker, Freiherr Franz Josef Hergenröther von Würzburg, mit einem ausführlichen und ausgewogenen Resumé der internationalen Lage in die Debatte ein. In seiner Schlussfolgerung zitierte er Autoritäten von dem liberalen Kirchenrechtler Johann Friedrich Ritter von Schulte bis zu dem konservativen Publizisten Georg Phillips – deutsche Katholiken, die in der Unfehlbarkeitsfrage gegensätzliche Standpunkte vertraten und dies auch bald in politischen Fragen tun sollten. Hergenröther stellt dort einen breiten Konsens innerhalb der Mitte des deutschen katholischen Schrifttums fest, sowohl beim Klerus als auch bei Laien, Liberalen und Ultramontanen: »Es gibt … heutzutage keine eigentlich katholische Politik, sondern nur eine Politik einzelner Katholiken.«26 24

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Obwohl die in der Sammlung am meisten betonten Irrtümer religiöse Gleichgültigkeit, das Abweichen vom rechten Glauben, die Oberherrschaft des Staates über die Kirche und die staatliche Kontrolle der Erziehung waren, konzentrierte sich das Interesse der Öffentlichkeit sofort auf Irrtum Nr. 15: »Jedem Menschen steht es frei, eine Religion anzunehmen und zu bekennen, die er im Lichte der Vernunft als die wahre Religion erachtet«, und Irrtum Nr. 55: »Die Kirche ist vom Staat und der Staat von der Kirche zu trennen.« Dogmatic Canons and Decrees, New York 1912. In der österreichischen Presse: Pachmann: Clerikal-Vertretung, S. 106 ff., wurde bald in der Tagespresse nachgedruckt; Georg Clericus: Die Theilnahme des Klerus an der Gemeinde- und Volksvertretung, in: Archiv für Katholisches Kirchenrecht, mit besonderer Rücksicht auf Österreich und Deutschland, 10 (N. F. 14) Mainz 1863, S. 75 ff. Heißsporne: Graf: Beeinflussungsversuche, S. 183. Hergenröther: »Ueber die Betheiligung des Klerus an politischen Fragen, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 15 (N. F. Bd. 9) S. 67 ff. Der Artikel wurde erstmals 1863 im Bamberger Pastoralblatt nachgedruckt. Diese Lesart der katholischen politischen Theorie war der klerikalen Praxis in anderen westlichen

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Der Minimalismus in der Theorie wurde in der Praxis zu einer Passivität, als 1866 der deutsch-deutsche Bruderkrieg und Österreichs baldige Niederlage jene Kirchenmänner, die sich 1848 entscheidend eingesetzt hatten, angesichts dieser ganz anderen Revolution lähmten. Bei den folgenden Wahlen geboten einige Bischöfe ihren Geistlichen, sich aus der Politik herauszuhalten; andere redeten drum herum; wieder andere unternahmen gar nichts.27 In Preußen verringerte sich die kleine Anzahl der Geistlichen, die seit den späten 1850er Jahren im Landtag gesessen hatten, 1866–1867 auf zwei.28 Die katholische Fraktion, die seit 1852 bestanden hatte, löste sich auf. Diese Situation kehrte sich jedoch innerhalb eines Jahrzehnts um. Die politische Zurückhaltung der Hierarchie, die unkoordinierten, größtenteils individuellen Eingriffe des niederen Klerus, der sich herausbildende Konsens, dass es »keine eigentliche katholische Politik, sondern nur eine Politik einzelner Katholiken« gebe, wurden allesamt in ihr Gegenteil verkehrt: das gemeinsame Verständnis vom ländlichen Pastorat bis zur Bischofsresidenz, dass die Sicherheit der Kirche von den Ergebnissen der Wahlen abhängig sei und dass nur derjenige, der eine bestimmte Partei mit Worten und Taten unterstützte, ein »wahrer Katholik« sei. Das Tabu des offenen Wahlkampfes fiel. »Die Priester begannen, die Politik als untrennbar von der geistlichen Ordnung anzusehen, die sie erhalten wollten«, wie Helmut Walser Smith bemerkte. Die Wahlen wurden zu einem Teil des religiösen Lebens.29 Anders als die meisten Mentalitätsveränderungen kann man diese mit einem genauen Datum belegen. Der Wandel begann in Süddeutschland mit den demokratischen Wahlen zum Zollparlament von 1868 und dehnte sich während der Landtags- und Reichstagswahlen von 1870 bis 1871 bis nach Preußen aus. 1874 war der Prozess abgeschlossen. Das neue Politikverständnis sollte in seinen Grundzügen bis zum Ende demokratischer Wahlen im März 1933 fortbestehen.30 In vielen Teilen Deutschlands lebte es nach 1945 wieder auf. Das Resultat war ein Phänomen, das insbesondere seinen Gegnern als »politischer Katholizismus« bekannt war.

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Ländern weit voraus. Der Vatikan übernahm sie erst 1888 in der Enzyklika Libertas. Graf: Beeinflussungsversuche, S. 103. Die evangelische Geistlichkeit befasste sich ebenfalls mit dieser Frage. Ob und wie weit sich der Geistliche bei den bevorstehenden Wahlen zu beteiligen habe? Ein Synodal-Vortrag: in: Evangelische Kirchenzeitung 68 (1861) Spalten 897–906; Die Kirche und die Wahlaufrufe, in: Deutsche Evangelische Kirchenzeitung 2 (1888) S. 425 f. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen wie auch zwischen den preußischen Landtagswahlen 1866 und den beiden Reichstagswahlen 1867 machen eine Zusammenfassung schwierig, weisen aber auf Verwirrung hin: Eduard Müller: Darf der Seelsorger Politik treiben? MK Nr. 3 und 4., 16. und 23. Jan. 1869, S. 17 ff.; Pollmann: Parlamentarismus, S. 105 Anm. 64; Mazura: Entwicklung, S. 52 ff.; Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 32; Weinandy: Wahlen, S. 253; Möllers: Strömungen, S. 68 f., 83; Klaus Müller: Das Rheinland als Gegenstand der historischen Wahlsoziologie, in: Annalen des historischen Vereins des Niederrhein 167 (1965) S. 124 ff., 136; J. Becker: Staat, S. 210; Sperber: Catholicism, S. 169 f. Rosenbaum: Beruf, S. 29, 63. Smith: Nationalism, S. 108. Meine These der Umkehrung in der politischen Grundhaltung des Klerus leugnet nicht, dass ein Wandel der katholischen Sensibilität auf eine eher orthodoxe und »klerikale« Ausrichtung hin bereits seit einiger Zeit im Gange war. Siehe Sperber: Catholicism.

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Der deutsche Nationalismus und der klerikale Nimbus Im Gegensatz zu dem, was die Kritiker behaupteten, war der Sinneswandel der Kirche nicht eine Konsequenz des Sieges der Anhänger der Unfehlbarkeit des Papstes beim Ersten Vatikanischen Konzil 1870, sondern der folgenreichen Umverteilung der Macht in Europa innerhalb des vergangenen Jahrzehnts: vor allem im Gefolge der Kriege, die zur Niederlage zweier großer Reiche geführt hatten, des Sturzes des tausendjährigen Vatikanstaats und der Erklärung Pius XI., er sei ein »Gefangener des Vatikan«. Für die Deutschen wurde das »wunderbare Gefühl, dabei zu sein, wenn die Weltgeschichte um die Ecke biegt«, von dem Untergang des alten Staatenbundes und der Geburt eines von Preußen dominierten Nationalstaats gekrönt.31 Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen entstand ein zunehmend anti-katholischer Diskurs, der heimliche Doppelgänger eines durch den Erfolg an Lautstärke und Popularität gewinnenden Nationalismus. Nicht zuletzt, weil der Anteil der katholischen Bevölkerung über Nacht von einem ungefähren Gleichgewicht mit dem evangelischen Anteil innerhalb des alten Deutschen Bundes in Bismarcks neuem Reich zu einer Minderheit von 36 Prozent geschrumpft war, wurde dieses von den glühendsten Anhängern zu einem »evangelischen Kaisertum« ausgerufen. Der Begriff stand in absichtlichem Gegensatz zu seinem angeblichen Vorgänger und Spiegelbild, dem »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation«, das katholisch statt evangelisch, geteilt statt vereinigt war und dessen nationale Größe absichtsvoll vom Papst unterstützten Teilungen geopfert wurde. Seine visuelle Verkörperung fand dieser Kontrast in dem Gemälde Wiedererstehung des Deutschen Reichs von Hermann Wislicenus.32 In der Nationalgeschichte, die jetzt als Deutschlands »kollektives Gedächtnis« propagiert wurde, korrigierte Preußens Sieg in der Schlacht von Königgrätz das unbefriedigende Ergebnis des Dreißigjährigen Krieg, diesmal mit einer Niederlage der »katholischen« und einem Sieg der »deutschen« Seite. In derselben Legende wurde die Römische Kirche als Schurke dargestellt, als Urheber von Jahrhunderten der Schwäche, und die Autonomie, die die preußische Krone in ihrer Verfassung beiden Kirchen erst 1850 garantiert hatte, wirkte jetzt wie ein gefährliches Zugeständnis an einen ewigen Feind.33 In dieser Atmosphäre konnten Vorschläge, die in einem anderen Zusammenhang als lediglich säkularisie31

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Th. Mommsen 1866, zitiert in Sheehan: Zukünftige Vergangenheit. Das deutsche Geschichtsbild in den neunziger Jahren, in: Das Historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, hrsg. v. Gottfried Korff und Martin Roth, Frankfurt a. M. 1990, S. 277 ff. Wiedererstehung des Deutschen Reichs, 1880–82, abgedruckt in Gross: Jesus, S. 48 f., Abb. 49c. Z. B. die Erwähnung von »Erinnerungen unseres Volkes« in einer Petition gegen die Jesuiten, die von 4.900 Breslauer Bürgern unterzeichnet war, veröffentlicht in: Sechster Bericht der Kommission für Petitionen, betreffend die Petitionen für und wider ein allgemeines Verbot des Jesuitenordens in Deutschland, AnlDR (1872, 1/III, Bd. 3) DS 64, S. 261 ff. (im Weiteren: Sechster Bericht). Die Reichstagsdebatten, die am 15. Mai sowie am 14. und 19. Juni folgten, wurden wörtlich für die Liberalen und die meisten Konservativen abgedruckt, aber für die katholischen Abgeordneten nur als kurze Zusammenfassungen in: Die Jesuiten-Petitionen im Reichstag, und: Das Verbot des Jesuitenordens, Annalen des Deutschen Reichs (1872), Spalten 1121–1170 und 1172–1234.

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rend angesehen werden konnten – die Reform des Eherechts, die Übertragung der Schulaufsicht von der Kirche auf den Staat, selbst die Regeln für den Klerus –, nunmehr als »national« bezeichnet werden. Dadurch wurde der Schatten der Illoyalität auf alle geworfen, die sich ihnen widersetzten. Inmitten dieses nationalistischen Aufwallens vergrößerte das neue demokratische Wahlrecht die Verletzlichkeit der Kirche, während es zugleich ein Gegenmittel parat hielt: die öffentliche politische Handlung. Gegen Ende des Jahres 1870 begannen prominente katholische Laien, die alte Zentrumspartei, die untergegangene Verfechterin des preußischen Katholizismus, auf nationaler Ebene wiederzubeleben. Die Bischöfe betrieben Wahlkampf. Und in vielen katholischen Wahlkreisen in Deutschland zitierten die Gemeindepfarrer – für gewöhnlich mit einem wachsamen Auge auf die Wahlordnung – aus den Säkularisierungsvorschlägen, die in der Presse verkündet wurden. So lenkten sie die Aufmerksamkeit der Gläubigen auf die neue Partei und erinnerten ihre Gemeinden zugleich daran, wer sie waren. Als die Stimmen 1871 ausgezählt wurden, hatten das Zentrum und seine partikularistischen Mitstreiter es geschafft, fast ein Drittel der katholischen Wähler für sich zu gewinnen.34 Doch sollte man diese Ergebnisse nicht überbewerten. Selbst angesichts der Tatsache, dass die Wahlbeteiligung der Katholiken die der evangelischen Christen überstieg (62 gegenüber 43 Prozent), bedeutete ein Drittel der katholischen Stimmen für die Klerikalen immer noch, dass zwei Drittel der Katholiken nicht das Zentrum gewählt hatten, worauf die politischen Gegner gleich hinwiesen. Außerdem waren dem Zentrum nur 56 der katholischen Mitglieder des Reichstags treu ergeben.35 Aber eben dieses Fehlen einer überwältigenden Unterstützung der Katholiken für das Zentrum gab der Empörung jener ihrer konfessionellen Brüder Recht, die noch auf den Bänken anderer Parteien saßen: Wie konnten es die Zentrumsanhänger wagen, den Begriff »katholisch« für sich allein zu beanspruchen? Wenn die Vorstellung von Parteien einigen Kreisen noch suspekt war, war die Vorstellung von einer Partei, die eine Kirche war, ein Skandal. Die liberale Augsburger Allgemeine Zeitung schrieb, das Zentrum sei »ein giftiger Schwamm in unseren Eingeweiden, der Tag und Nacht seine zerstörerische Arbeit fortsetzt«.36 Der liberale Görlitzer Anzeiger befürchtete »französische Zustände«, falls sich der politische Katholizismus durchsetzen würde; die 34

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Sperber: Voters, S. 35; ders.: Catholicism, S. 255 Anm. 3. In Düsseldorf wurde 1871 die Wahlkampagne ausschließlich mit pro- und antikatholischen Slogans geführt. Schloßmacher: Düsseldorf, S. 200 f. Zur klerikalen Unterstützung für Z-Kandidaten siehe u. a.: Bellot: Hundert Jahre, S. 126. In Posen drängte Bischof Ledochowski die Katholiken, die Kolo Polskie zu wählen. Blanke: Poland, S. 26. In einigen Bezirken jedoch unterstützten die Geistlichen weiterhin die Konservativen. L. Müller: Kampf, S. 196. Claggett u. a.: Leadership, S. 654, behauptet, dass ungefähr ein Zehntel aller Protestanten 1871 für das Zentrum gestimmt hätten, obwohl es später keine Protestanten mehr unterstützten. HZtg 3. Beilage zu Nr. 92, 20. April 1871; GA Nr. 92, 20. April 1871. Wahlbeteiligung: Sperber: Voters, S. 163. Zitiert in Ludwig Ficker und Otto Hellinghaus: Der Kulturkampf in Münster, Münster 1928, S. 48 f. Empörung von Nicht-Z-Katholiken über das Z: (Jörg): Das deutsche Reich, Bd. I, S. 763 ff.; Bd. II, S. 852 ff.; bes. Bd. I, S. 769; Lasker und v. Schauß (letzterer ein kath. NL) SBDR 5. April 1871, S. 175, 180; L. Fischer, der kath. Bürgermeister von Augsburg (Liberale Reichspartei) und Bischof von Ketteler, beide zitiert in Ketteler: Centrums-Fraktion, in Werke, Bd. 4, S. 48 Anm. 11.

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Ultramontanen könnten einerseits mit Feudalen, andererseits mit Kommunisten Koalitionen eingehen. »So würde das allgemeine Wahlrecht nicht zu einem Mittel der Erweiterung der Freiheit, sondern sehr bald zu einem Mittel der Unterdrückung aller Freiheit zu Gunsten einer von Priestern geleiteten SchreiberWirtschaft werden. … Siehe wiederum Frankreich.«37 In diesem Kommentar finden sich viele Elemente des zeitgenössischen liberalen Bildes von der Kirche: ihre Fremdheit, ihre Nähe sowohl zu Rückständigkeit als auch zu Radikalismus und, unter ihrer Schirmherrschaft, die Affinität zwischen dem Wahlrecht für die Massen und der Bedrohung der freien Wahlen. Wir müssen im Auge behalten, dass es der Einfluss der katholischen Geistlichkeit war, der in den Wahlen von 1871 zur Debatte stand. Die Parteilichkeit evangelischer Geistlicher wurde natürlich ebenso deutlich verzeichnet. Auch sie sprachen bei Wahlveranstaltungen und hielten sogar Wahlpredigten.38 Auch sie verteilten Propagandamaterial für diesen oder jenen Kandidaten – für gewöhnlich, aber nicht ausschließlich, Konservative. Manchmal schickten sie Handzettel oder sogar Stimmzettel mit den Kindern vom Konfirmationsunterricht nach Hause. Auch sie konnte man dabei beobachten, wie sie sich bei den Wahllokalen aufhielten, ihren Gemeindemitgliedern Stimmzettel andienten und gelegentlich sogar verlangten, dass sie die von diesen mitgebrachten gegen die von ihnen selbst angebotenen Stimmzettel austauschten.39 Und manchmal machten sie sich eines Verhaltens schuldig, von dem man hinsichtlich ihrer katholischen Kollegen nur selten hörte: Sie luden Arbeiter zu einer Runde ein oder bestachen sie; auch nutzten sie ihre Position im Wahlvorstand, um die Wahlen über die offizielle Schließung der Wahllokale hinaus offen zu halten, bis diejenigen, die sie bestochen hatten, endlich auftauchten.40 Solches Verhalten war natürlich auch jenen Leuten zuwider, die die katholischen Geistlichen kritisierten. Die Zentrumsabgeordneten hingegen legten Wert darauf, niemals die politischen Aktivitäten eines evangelischen Pfarrers zu beanstanden, wenn sie auch sicherstellten, dass diese nie unbemerkt blieben.41 Aber – und hier liegt der Hase im Pfeffer – die Kritiker der evangelischen Geistlichkeit beschwerten sich über deren Verhalten, selten über deren Einfluss. Obwohl dann und wann ein Sozialdemokrat bemerkte, dass die Verletzung der Wahlfreiheit die gleiche sei, unabhängig von 37 38

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GA Nr. 48, 25. Febr. 1871, S. 391. R. Schraps (Sächsische VP) über Sachsen: SBDR 17. April 1871, S. 246; Windthorst über Thüringen: SBDR 22. April 1871, S. 328. Ebenso Hannover 17, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 104, S. 625; Sachsen 3, AnlDR (1882, 5/II, Bd. 5) DS 174, S. 611, 613; Arnsberg 5, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1081 f.; Anhalt 1, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 135, S. 510; Möllers: Strömungen, S. 89; Bertram: Wahlen, S.195 f. Hannover 5, AnlDR (1879, 4/II, Bd. 6) DS 228, S. 1520 ff.; Danzig 3, AnlDR (1882/82, 5/2 Bd.5) DS 80, S. 338 ff.; Merseburg 1, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 44, S. 169 ff., bes. S. 171, und DS 160, S. 542; Ungültigkeit der Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung (1902) S. 277. Mecklenburg 3, BAB-L R1501/14462, Bl. 25v; Freudenthal: Wahlbestechungen, S.49 Anm. 4; Gröber (Z) SBDR 26. Febr. 1908, S. 3424; Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3420. Ein katholischer Dekan wurde auch beschuldigt, Wähler bestochen zu haben. Posen 6, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 491, S. 546. Z. B. argumentierte Windthorst: SBDR 22. April 1871, S. 328, dass dieselben Standards an beide Konfessionen angelegt werden sollten, und nicht, dass die Aktivitäten der evangelischen Geistlichkeit illegitim seien.

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der Konfession, wurde die Beeinflussung durch die evangelische Geistlichkeit nie als Problem betrachtet, und nur einmal, 1877, wurde die Wahl eines Abgeordneten unter anderem wegen Wahlvergehens seitens lutherischer Pastoren für ungültig erklärt.42 Der Einfluss der katholischen Geistlichkeit war jedoch eines der großen Themen in der Diskussion über die deutsche Demokratie.

−−− Von heute aus tun wir uns schwer, die entsetzte Faszination zu begreifen, mit der die Liberalen im 19. Jahrhundert die katholische Kirche betrachteten.43 In einer Ära des wachsenden Nationalismus war sie international; in einer Welt, in der traditionelle Hierarchien in Frage gestellt wurden, war sie hierarchisch; in einer Zeit, als die Gebildeten der Meinung waren, dass die Wahrheit das Monopol der Wissenschaft sei, und die Kultivierten leugneten, dass es sie überhaupt gebe, bestand sie auf der Unfehlbarkeit: Die Abartigkeit, mit der die Kirche der modernen Welt ihren Rücken zukehrte, vergrößerte nur die Verwunderung über ihr fortgesetztes Überleben. Wie konnte das sein?44 Sicher nutzte sie die Leichtgläubigkeit der Unwissenden aus. Die Kraft der Sakramente und abergläubische Magie sahen sich in den Augen der weltlich gesinnten Deutschen – und vielleicht auch vieler religiös gesinnter – gar nicht so unähnlich.45 Volkskundler berichteten, dass in Zeiten der Not sogar evangelische Christen zu ihrem Pfarrer gingen, damit er ihnen mit Gebeten half, eine Krankheit zu heilen, eine Kuh wiederzufinden oder einen Geist zu bannen.46 Natürlich wollte kein katholischer Wähler jemanden erzürnen, der Wein in Blut verwandeln konnte. Kaplan Müller, der unerwartete Sieger in Pleß-Rybnik, kommentierte trocken, dass der Glaube seiner skeptischen Zeit an die Allmacht des Klerus »eine neue Art von Aberglauben« sei.47 Der Priester besaß eine Aura. Dank des Zölibats hatte er immer, wie Ernest Gellner es ausdrückte, zu einer »kastrierten Elite« gehört, die sich absichtlich von der Gesellschaft, die sie anführte, unterschied. Rasiert und mit Tonsur zu einer Zeit, in der die Gesichtsbehaarung ein Zeichen von männlicher Korrektheit war und der Vollbart ein Zeichen von »Freiheit« oder sogar »demokratischer Gesinnung«, musste ein Priester geschlechtslos, reaktionär, sogar »französisch«

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Minden 1, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 187, S. 515–526, und SBDR 2. April 1878, S. 677–682. SD Kritik an evangelischen Geistlichen: Severing: Lebensweg, Bd. 1, S. 27. Charakteristisch: Bamberger: Sitzungsperiode, S. 167. Die beste Erklärung, jedoch für die evangelische Geistlichkeit, liefert: Cragoe: Conscience. Blackbourn: Marpingen; Anderson: Piety and Politics. Recent Work on German Catholicism, in: Journal of Modern History, Dez. 1991, S. 681 ff., bes. 695 ff. Adolf Wüttke: Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart, Berlin, 2. Aufl. 1869, S. 139 f.; Richard Andree: Katholische Überbleibsel beim evangelischen Volke, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 21 (1911) S. 113 ff.; Karl Olbrich: Der katholische Geistliche im Volksglauben, in: Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 30, Breslau 1929, S. 90 ff., 130. Für diese Hinweise danke ich Millie Zinck. MK Nr. 18, 6. Mai 1871, S. 142. Siehe den sonst vernünftigen F. Naumann: Zentrum, S. 114 f.

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erscheinen.48 Selbst dann noch, als der evangelische Pfarrer von den weltlichen Angehörigen des städtischen Bürgertums immer weniger zu unterscheiden war, trug sein katholischer Kollege weiterhin seine lange Soutane. Dieser französische Ausdruck wurde, wie das Kleidungsstück selbst, in Westirland wie im Rheinland verwendet. Die Soutane kennzeichnete ihren Träger als uniformierten Soldaten einer disziplinierten, kosmopolitischen Armee. Heinrich von Sybel informierte seine Studenten: »Es handelt sich um eine militärisch organisierte Corporation, die in Deutschland mehr als 30.000 auf strengen Gehorsam vereidigte Agenten, und unter mannichfaltigen [sic!] Formen Geldmittel im Betrage von vielen Millionen besitzt.«49 Das militärische Image verdankte die Kirche sehr viel mehr dem Ruf der Jesuiten – der »Compagnie Jesu«, geistlichen Soldaten, die unter militärischer Disziplin lebten und einem römischen »General« Gehorsam geschworen hatten – als der alltäglichen Realität der nicht ordensgebundenen Geistlichen, seien diese nun Seelsorger oder Abgeordnete. In der Vorstellung der Nationalisten jedoch war es der Jesuit – militant, klerikal, papistisch – und nicht der Gemeindepfarrer, der die Kirche verkörperte. Der Jesuit war »eine Macht, vor der Cardinäle und Bischöfe zittern«. Er war es, glaubten die Nationalisten, der in Wirklichkeit die Diözesen regierte und die Priesterseminare leitete. Er war die »agitatorische und organisatorische Seele dieses neuen Kirchenregiments«.50 Von den mehr als 17.000 Priestern in Deutschland waren jedoch nur 211 Jesuiten.51 Die meisten Katholiken hatten noch nie einen Jesuiten gesehen. Aber um 1870 waren andere Darstellungen von Kirchenmännern – als Gemeindehirte, als Ordensbruder, als Mönch – weitgehend verschwunden. Es war sogar von »jesuitischen Bischöfen« die Rede.52 Selbst die Abgeordneten des Zentrums, von denen die meisten Laien und Familienväter waren, wurden in Karikaturen mit dem breitkrempigen schwarzen Hut der Jesuiten dargestellt.53 Am mysteriösen und mächtigen Bild des Jesuiten hing ein ganzes Spinnennetz negativer Assoziationen, die vorsorg48

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Ernest Gellner: Nations and Nationalism, Ithaca 1983, S. 14 ff. Dazu auch Prof. Thalhofers Artikel für das Augsburger Pastoralblatt (1863), die im selben Jahr nachgedruckt wurden als: Über den Bart der Geistlichen. Archiv für katholisches Kirchenrecht 10/4 (N. F., Bd. 14) 1863, S. 85 ff.; Joh. Werner: Bart der Geistlichen, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1909, Bd. 1, Spalten 922–924. Siehe die Porträts in: Reichstag, hrsg. v. Haunfelder u. Pollmann, wo nach 1826 geborene glatt rasierte Laien praktisch nicht vorkommen. Sybel: Politik, S. 450. Modische Entwicklungen: Christoph Weber: Aufklärung und Orthodoxie am Mittelrhein 1820–1850, München 1973, S. 184; Blessing: Staat und Kirche, S. 39, 133. »Endlich kam es darauf an, das gesamte System unter die Leitung der Societas Jesu zu bringen«: Gneist SBDR 19. Juni 1972, in: Verbot, Spalten 1220–1222. J. v. Lütz machte die Gleichsetzung von Klerus und Jesuiten deutlich: bemerkt von H. v. Mallinckrodt (Z), SBDR 28. Nov. 1871, nachgedruckt in: Parlamentarische Denkwürdigkeiten. Eine Beleuchtung wichtiger Zeitfragen durch Aussprache der Centrumsredner im Preußischen Abgeordnetenhaus und Deutschen Reichstage von Hubert Schumacher, Essen 1877, S. 114; Sybel: Politik, S. 450. Jesuiten-Petitionen, Spalten 1158, 1165; Anonym: Jesuitenpetitionen in: Grenzboten 49/4 (1890), 393 ff., 398. Gesamtzahl der Priester: meine Schätzung, mit Hilfe von: Königliches Statistisches Bureau: Jahrbuch für die amtliche Statistik des Preußischen Staates, Berlin 1883, Bd. V, S. 336 f. Blaschke: Kolonialisierung, bringt Statistiken für die Jahrhundertwende. Zur Reichstagswahl. GA Nr. 4, 6. Jan. 1874, S. 21. Beispiele in: Wespen, Berliner Figaro und Ulk, nachgedruckt in: Eduard Hüsgen: Ludwig Windthorst, Köln 1907, S. 407, 412, 421; in: Zentrums-Album, S. 132, 144, 157, 272.

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lich auf den gesamten Klerus ausgedehnt wurden.54 Dies war eine folgenreiche Sicht, wie wir bald sehen werden. Und die Realität? Zwei der am besten dokumentierten Wahlen von 1871, die eine in Riedering in Oberbayern und die andere in Oberhaid in Oberfranken, erlauben uns, einen genauen Blick auf »la République au village« (Maurice Agulhon) zu werfen. Der beinahe identische Ablauf des Vorganges in jenen Bezirken, die mehr als 160 Kilometer voneinander entfernt lagen, deutet auf ein Muster hin, das in der deutschen Provinz wahrscheinlich sehr häufig vorkam. In beiden Orten trafen die Empfehlungen alter Pastoren, die vor den Wahllokalen standen, auf den ausdrücklichen Widerspruch des Lehrers beziehungsweise des Bürgermeisters. Jedes Mal bestanden die Pastoren später darauf, »im Konversationston« ihren Kandidaten erwähnt zu haben und dass sie gewünscht hatten, nicht einseitig, sondern gemeinsam mit anderen Lokalgrößen und vorzugsweise unterstützend gehandelt hätten. In beiden hatten der Lehrer bzw. der Bürgermeister, die gerade Stimmzettel der Liberalen austeilten, versucht, den Priester mundtot zu machen, indem sie auf der »Vorschrift des Wahlgesetzes und des Reglements« bestanden. Jedes Mal gipfelte die Auseinandersetzung in einer tumultartigen Verteidigung des Priesters durch die Wähler. Die folgende Abrechnung konnte als Volksentscheid zugunsten des klerikalen Einflusses gewertet werden. War dies abergläubischer Zauber oder möglicherweise »Sozialkontrolle«? Der Pfarrer hatte die Aufsicht über die Schulen – aber das hatte den Lehrer in Riedering nicht davon abgehalten, sich mit ihm anzulegen. Der Priester konnte Ehen schließen und verweigern und hatte bei Beerdigungen ein entscheidendes Wort mitzureden, er konnte die Respektabilität eines Bürgers untergraben – aber ein Bürgermeister hatte wirtschaftliche Vor- oder Nachteile zu vergeben. Die Existenz von Minderheitenstimmen in diesen religiös homogenen Bezirken, wo der Stimmzettel sicher keine Anonymität garantierte, zeigt, dass es für einen Katholiken immer noch denkbar war, der Empfehlung seines Priesters zu widerstehen.55 Zweifellos war dieser häufig genug ein Autokrat im Westentaschenformat. Aber jene Wählerprozessionen von der Kommunionbank zur Wahlurne, von denen die Deutschen 1871 und auch später so oft hörten, fanden meistens wohl nicht im Marschschritt, sondern schlendernd statt, und »der Herr« (wie man ihn in Ortschaften ohne seine eigene aristokratische Familie nannte) erinnerte zumeist eher an einen Hütehund als an einen Feldmarschall. Einen großen Teil seines Erfolgs verdankte der Priester der einfachen Tatsache, dass es ihm wichtig war, wer die Wahl gewann, und seinen Schäfchen nicht.56

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Beschuldigungen der Jesuitenmoral: der Zweck heiligt die Mittel bei Ultramontanen: MK Nr. 13, 13. März 1872, S. 103; zitiert: Schloßmacher: Düsseldorf, S. 198; in Romanen: Hirschmann: Kulturkampf, S. 222 Anm. 285. Dennoch wurden beide Wahlen für ungültig erklärt. Katholischer Unwillen gegen die unsicheren Kriterien des Reichstags bei Wahlprüfungen: [Jörg:] Das Deutsche Reich, Bd. I, S. 769 ff. Riedering (Oberbayern 7) in: AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 38, S. 90 ff.; Oberhaid (Oberfranken 5) in: AnlDR (1871; 1/I, Bd. 3) DS 27, S. 80 ff.; SBDR 17. April 1871, S. 228 ff. Details: Anderson: Voter, S. 1448 ff. »Herr«: Blessing: Staat, S. 96; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 143, 148; Graf: Beeinflussungsversuche, S. 183.

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Die Erfindung des Volkes Die Macht des Priesters, die Schwäche des Volkes: diese Gleichung war international verbereitet.57 Die unvermeidliche Konsequenz der Furcht vor dem Priester war ein Misstrauen gegenüber der Demokratie.58 Aber auch das Gegenteil traf zu. Mit anderen Worten: die Furcht vor dem Klerus war eine politisch akzeptable Ausdrucksweise für grundsätzlichere Zweifel gegenüber dem Volk, dem Deutschlands Regierende so leichtsinnig das Wahlrecht verliehen hatten. Wenige Sprecher der gebildeten Elite drückten ihre Ansicht so unverblümt aus wie Heinrich von Treitschke, der 1871 das allgemeine Wahlrecht »eine unschätzbare Waffe der Jesuiten« nannte, »das den Mächten der Gewohnheit und der Dummheit ein so unbilliges Übergewicht einräumt«. Aber neben den Protesten gegen Wahlwerbung seitens der Geistlichen gab es 1871 auch Beschwerden über die Kompetenz der Wähler: In Gleiwitz entschuldigte sich ein Beamter des Landratsamts, der glaubwürdig beschuldigt wurde, katholischen Wählern wirtschaftliche Nachteile angedroht zu haben, falls sie nicht den Kandidaten der Freien Konservativen unterstützten, mit Hinweisen auf die Wahlkampagnen des Klerus sowie, im gleichen Atemzug, auf das Analphabetentum der Landbevölkerung.59 In einem anderen Teil Deutschlands, während einer Debatte über den Sieg des Zentrums in Bamberg, einem zu 83 Prozent katholischen Wahlkreis, hielt der Liberale Wilhelm Wehrenpfennig eine ausführliche Rede über die Qualitäten der dortigen Bevölkerung: Meine Herren, irgend ein geistvoller Mann hat einmal gesagt, die verständigen Leute in Deutschland seien sehr verständig, aber die Dummheit in Deutschland sei auch sehr dumm. Ich will keine Anwendung machen von diesem Satze auf irgend einen bestimmten Wahlkreis; (Heiterkeit) aber im Allgemeinen, meine Herren, werden auch Sie mir zugeben, daß es eine Dummheit ist, die sehr dumm ist, wenn irgend ein Mensch annimmt, ob er stimme für diesen oder jenen Kandidaten, das könne ihn in den Himmel oder in die Hölle bringen. Aber … so ist es leider Thatsache, daß es Tausende und Hunderttausende giebt, die so glauben; und wenn nun auf einem solchen Boden ein Geistlicher auftritt, der diese Unwissenheit missbraucht …, wie das ja durch so viele Wahlproteste durchgeht, … so sage ich, … Wollen wir es nicht dahin bringen, daß für ein Drittel von

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Anderson: Limits, S. 647 ff. In Italien wurde der Werbung für eine Ausweitung des Wahlrechts jahrzehntelang (bis 1912) mit dem Argument begegnet, dass dies das Schicksal des Landes in die Hände des Klerus legen würde. Das Wahlrecht für Frauen wurde, obwohl es bereits 1904 vorgeschlagen worden war, wahrscheinlich mit demselben Argument abgelehnt, das es in Frankreich bis 1946 verhinderte: dass die Frauen wie ihre Priester wählen würden. Seymour u. Frary: World, Bd. 2, S. 89. Kreissekretär Fock in Oppeln 4, AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 63, S. 142. Treitschke: Winfried Becker: Liberale Kulturkampf-Positionen und politischer Katholizismus, in: Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches, hrsg. v. O. Pflanze, München 1983, S. 69.

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Deutschland die Freiheit der Wahl aufhört, dann müssen wir uns gegen diese Principien stemmen … 60

Ihr niedriges Bildungsniveau konnte man den Menschen selbst nicht vorwerfen. Professor von Sybel, ein anderer Nationalliberaler, erklärte später in Bonn seinen Studenten, warum es nötig sei, etwas gegen die katholische Kirche zu unternehmen. Dazu verwies er auf die Leistungen der katholischen Gymnasien, seitdem die preußische Verfassung von 1850 der Kirche Autonomie in deren eigenen Angelegenheiten gegeben hatte: Ich konnte es 1874 mit amtlicher Sicherheit, nach zwölfjähriger Erfahrung aussprechen, daß von den dorther uns gelieferten Studenten ein Viertel nicht grammatisch richtiges Deutsch schreiben, und vielleicht drei Viertel einen leichten griechischen oder lateinischen Schriftsteller nicht ohne Mühe lesen konnten. Sagt man zu viel, wenn man die Meinung ausspricht, daß wir zwar noch nicht in spanischen Zuständen leben, aber daß das klerikale System Alles gethan hat, um uns auf solche Wege zu bringen? 61

Die Professoren waren nicht die Einzigen, die davon überzeugt waren, dass das allgemeine Wahlrecht die katholische Kirche für Jahrhunderte erfolgreicher Verdummung belohnte. Eine Wahlproklamation der Freien Konservativen sagte rundheraus über die ultramontane Partei: »Ihr Grundsatz ist … Verdummung des Volkes …«62 Liberale in Konstanz bemerkten, dass »es nicht gerade Bildung und Wohlstand ist, wodurch sich die Römlinge des 19. Jahrhunderts am Bodensee auszeichnen«. In Düsseldorf beteuerte ein Protest gegen einen Zentrumssieg, »daß die stupid Aussehenden fast durchweg clerikal wählten«. Dementsprechend beanspruchten jene, die gegenüber dem Zentrum verloren, für sich, wie es die Liberalen im Wahlkampf in Köln formulierten, den größten Teil »der gebildeten und vaterlandsliebenden Bevölkerung«.63 In den Augen seiner Kritiker benutzte der Klerus eine ganze Anzahl von Techniken, um die Leichtgläubigen zu manipulieren – darunter Instrumente, die ihm bereits im Mittelalter gute Dienste erwiesen hatten. Ein Wahlprotest in Krefeld, der 1871 behauptete, dass der Erzbischof von Köln, der »ein Anathema 60 61

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SBDR 17. April 1871, S. 237; Protest verlesen 5. April 1871, S. 190. Ähnlich: GA Nr. 28, 3. Febr. 1874; MK Nr. 16, 22. April 1871, S. 115; Lepper: Strömungen, Bd. 1, S. 305, 327; Möllers: Strömungen, S. 218. Sybel: Politik, S. 439; Kaiser: Strömungen, S. 298 f. Die Gleichsetzung von evangelischem Christentum mit Bildung sowie Katholizismus mit (undeutscher) Ignoranz war unter Liberalen seit den 1850er Jahren verbreitet gewesen. D. Langewiesche: Liberalismus, S. 68 f. MK Nr. 13, 30. März 1872, S. 103. Hierzu: Gegenwart, zitiert in BK (1883) S. 25; Blackbourn: Marpingen, S. 282 ff., 291. Gert Zang: Die Bedeutung der Auseinandersetzung um die Stiftungsverwaltung in Konstanz (1830–1870) für die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung der lokalen Gesellschaft. Ein Beitrag zur Analyse der materiellen Hintergründe des Kulturkampfes, in: Die Provinzialisierung einer Region. Zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in der Provinz, hrsg. v. Zang, Frankfurt a. M. 1978, S. 307 ff.; Schloßmacher: Düsseldorf, S. 204 ff.; Kölner Liberale: C. H. Kanngiesser SBDR 22. April 1871, S. 320; Bock, S. 117. Zum Verlust der LT-Sitze der NL in Krefeld: »Sie mussten sich mit dem Gedanken trösten, dass gegen geistige Rückständigkeit nicht anzukommen ist.« Seyffardt: Erinnerungen, S. 422.

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heraufbeschwört über alle diejenigen, die nicht blindlings für seine Kandidaten einzutreten geneigt sind«, hatte einen Schatten auf die Wahlen im Rheinland geworfen. Später räumte man ein, dass die recht moderaten Anweisungen des Erzbischofs an seine Untergebenen, die Bedeutung der Wahlen zu betonen und sich keines Verhaltens schuldig zu machen, das der Würde eines Priesters nicht anstand, nicht genau das Gleiche seien wie ein »Anathema«.64 Aber die Details der Kirchenkunde interessierten weder die liberalen Abgeordneten noch, so waren diese sich sicher, den Wähler. Die Tatsache, dass die Äußerung des Erzbischofs in einigen Zeitungen veröffentlicht wurde, wo der Wähler den Unterschied zu einem »Anathema« sehen konnte, zählte nicht, denn »Zeitungen werden in der Regel von dem Volke nicht gelesen, zumal wenn … der größte Teil der Bevölkerung aus Katholiken, aber auch zugleich aus armen Webern besteht …«. Es waren keineswegs die angeblich angewandten Mittel der mittelalterlichen Kirche, die für Unruhe sorgten, sondern die modernen Wahlkampfmethoden. Empfehlungen waren die frühste Form des Wahlkampfes in Deutschland gewesen; sie gehörten immer noch einer Welt an, in der politische Impulse von angesehenen Männern gegeben wurden. Diese Empfehlungen erschienen meistens als kurze, wohlformulierte Annoncen in der lokalen Presse, mit vielleicht einem Dutzend Unterschriften, und empfahlen ihren »Freunden« einen Kandidaten; vor 1871 – und in manchen Regionen auch später noch – waren sie häufig das einzige Anzeichen dafür, dass eine Wahlkampagne stattfand. Aber zwei einfallsreiche Priester hatten den gesamten Charakter der Wahlempfehlung von Grund auf verändert, indem sie in Krefeld von Tür zu Tür gingen und viertausend Unterschriften für den Zentrumskandidaten sammelten – was praktisch einem Drittel der Wählerschaft entsprach! Niemand konnte davon ausgehen, dass viertausend Männer Lokalgrößen waren, Honoratioren, deren Name in einem Inserat ihre Mitbürger überzeugen würde. Wenn aber der persönliche Einfluss dieser Wähler gleich Null war, was für einen Zweck konnte es haben, ihre Namen zu sammeln? Um die Unterschriftgeber rechtlich zu verpflichten, für den Zentrumskandidaten zu stimmen – so lautete das Argument – und so die Wahl bereits Wochen vor ihrem eigentlichen Datum zu entscheiden, und unter Bedingungen, in denen die Geheimhaltung, die der Stimmzettel garantieren sollte, nicht gegeben war. Wenn diese heimtückische Taktik Schule machte, so würden die wichtigsten Prinzipien des Wahlgesetzes zu einer »Chimäre«. Als die Zentrumsabgeordneten nachweisen konnten, dass die Krefelder keine Verpflichtung zum Wählen eingegangen waren, sondern die Mitgliedsliste des örtlichen Zentrums-Wahlkomitees unterschrieben hatten, begegnete man ihnen mit Sarkasmus. Die Wahlkomitees waren traditionell den besten und klügsten Leuten der Stadt vorbehalten. Man musste sich nur die Handschriften auf diesen Empfehlungen anschauen, »deren Zügen man leicht ansieht, daß mindestens die Schreiber nicht gewohnt sind, als Mitglieder von Wahlkomités sich zu geriren«.65 64 65

Reyscher SBDR 18. April 1871, S. 269. R. v. Keudell, Kanngiesser und Bock SBDR 22. April 1871, S. 319 f., 327; Reyscher SBDR 18. April 1871,

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Die Verlierer in Krefeld, die von sich selbst als »Freunden der Menschheit« sprachen, hatten schnell die verändernde Kraft der Unterschriftenkampagne erkannt.66 Aber indem sie sich auf die rechtliche Verpflichtung, die angeblich mit den Unterschriften eingegangen wurde, konzentrierten, missverstanden sie die Wirkungsweise dieser Aktion. Nicht als Notare, sondern als Stimmenwerber hatten die beiden Geistlichen die Wahl in Krefeld entschieden. Die Katholiken waren nicht deswegen »eingefangen« worden, weil man sie überredet hatte, ein Dokument zu unterzeichnen, das sie für rechtlich bindend hielten, sondern weil sie um ihre Unterstützung gebeten worden waren. Die geschäftigen Priester hatten das einfachste Gebot einer politischen Kampagne entdeckt: Bittet, so wird euch gegeben! Die Gabe einer Unterschrift war gering, sogar geringer als die »katholische Miete«, die Daniel O’Connell von den irischen Bauern in der Kampagne für die katholische Emanzipation in den 1820er Jahren verlangt hatte. Aber indem die Unterschrift den Zuschauer zu einem Handelnden machte, diente sie dem gleichen Zweck. Sie schuf eine Beziehung, im Fall von Krefeld zwischen dem katholischen Wähler und dem Zentrumskandidaten, und machte letzteren zu »seinem« Kandidaten. Bis jetzt hatte die Konvention der Wahlen die Wähler (in der Gestalt von Honoratioren, für gewöhnlich unter Namen wie »Vertrauensleute liberaler Wähler«) in die Rolle von Bittstellern gezwungen, die ihren Kandidaten darum bitten mussten, das Opfer eines öffentlichen Amts auf sich zu nehmen. Das demokratische Wahlrecht hatte diese Beziehung umgekehrt. Die katholischen Geistlichen waren keine Zauberer; sie erkannten nur früh, wohin der Hase nun laufen würde. Ihr Erfolg in den frühen 1870ern trägt viel zur Bestätigung der »organisatorischen Hypothese« von Giovanni Sartori bei, der behauptet, dass politische Identitäten nicht die automatische Reflexion struktureller (sozialer, konfessioneller, ethnischer) Aufspaltungen seien, sondern dass die Aufspaltungen selbst, sofern sie politisch relevant werden, Produkte des politischen Systems sind – und besonders solch aufmerksamer Organisatoren, die zufällig als erste auf der Szene erscheinen.67 Die Generalmobilmachung des Klerus – sowie des vollen Potentials der Organisiertheit der Katholiken – wurde erst nach der öffentlichen Kontroverse über das Jesuitengesetz von 1872 erreicht. Aber indem sie ihre Wut wegen dieser »gestohlenen« Wahlen artikulierten, versäumten es die Mitglieder der Reichstagsmehrheit, die Falle zu sehen, die sie damit für sich selbst errichtet hatten. Jeder Angriff auf den Klerus wurde, entweder direkt oder indirekt, zum Angriff auf den katholischen Wähler – also auf einen Mann, der zumindest potentiell ein eigener Wähler wäre. Das Zentrum verlor keine Zeit, den Fehler politisch

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S. 270. Die Wahlbeteiligung in Krefeld betrug 80 Prozent. Dazu auch Röttges: Wahlen, S. 63 f. Kritik an der »Qualität« der Unterschriften war gang und gäbe. Möllers: Strömungen, S. 210. Es ist eine verbreitete Annahme derer, die wahltechnische Korrektheit fordern, dass es in Tyrannei endet, wenn Wähler bezüglich ihrer Stimmen Zusicherungen machen oder Versprechen bekommen. Dazu Seymour: Reform, S. 434. Bock SBDR 22. April 1871, S. 317, 318. G. Sartori: Sociology, S. 65 ff. Meine Zusammenfassung berücksichtigt nicht die Feinheiten der Argumente Sartoris.

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auszunutzen. Windthorst wies ausdrücklich noch einmal auf das abfällige Grinsen über die Handschriften auf der Krefelder Mitgliederliste des Zentrums hin: »Wenn der Herr Abgeordnete dann glaubt, es seien einige Unterschriften da, die nicht perfekt geschrieben seien, so mach ich ihn darauf aufmerksam, daß bei längerer Anwesenheit in der Mitte des Volkes und namentlich einer ländlichen Bevölkerung er finden wird, dass viele und sehr tüchtige Leute, die wohl wissen, was sie wollen, und die Energie genug haben, ihren Willen zum Ausdruck zu bringen, doch nicht in der Lage sind, eine Kanzleihand zu schreiben. (Heiterkeit.)« Indem er mit einem liberalen Wahlaufruf wedelte, der wahrscheinlich für die Litfasssäulen der Stadt bestimmt war, fügte der Zentrumsvorsitzende sarkastisch hinzu, diese 116 Unterschriften seien dem Handschriftentest entkommen, denn sie seien »gedruckt vorhanden, und gedruckt ist doch noch immer mehr als geschrieben. (Heiterkeit.)«. Im Namen aller rheinischen Katholiken vergewisserte sich die Kölner Parteiorganisation des Zentrums, dass jedem klar war, wovon die Beschuldigung der Kritiker zeugte: von einem »auffallenden, ganz unmotivirten Angriff auf das allgemeine Stimmrecht«.68 Diese Themen – gerissener Priester, unkultiviertes Gemeindemitglied – waren außerordentlich langlebig. Als die Wähler in Mainz 1874 dem Kapitularvikar Christoph Moufang zum Sieg verhalfen, reagierten die Verlierer, indem sie einen Trauerflor über die Statuen von Gutenberg und Schiller in der Stadt zogen – »eine richtige und bezeichnende Demonstration«, kommentierte eine Zeitung, gegen den Sieg »über den aufgeklärten und intelligenten Teil der Bevölkerung«.69 Noch 1903 klangen liberale Wahlkommentare gelegentlich so, als ob Jan Huss, Giordano Bruno und Galileo zur Debatte standen, und nicht die Flotte oder das Zollgesetz, über die die Wähler zu entscheiden hatten. Selbst die Sozialdemokraten urteilten bei ihrer Parteiversammlung im selben Jahr über den Wahlslogan des Zentrums: »Das Wort ›dem Volke muß die Religion erhalten bleiben‹, heißt richtiger: Dem Volke muß die Dummheit erhalten bleiben.«70 Das Bild des dummen Zentrumswählers wurde bei Karikaturisten zunehmend beliebt. In Vaterfreuden zeichnete J. B. Engl einen dicken Bürger, der seinen Sohn, einen offensichtlichen Dummkopf, der kaum aufrecht stehen kann, seinem Pastor mit den Worten vorstellt: Seh’n S’ Hochwürden, dös is a neuer Wähler für unser’ Partei.«71 Bittgang von Eduard Thöny zeigt eine gewundene Prozession von Bauern, die als Bittgänger auf Krücken anscheinend auf ihrem Weg zu einer Wallfahrtskirche sind. Sie rufen nicht Gott an, sondern »O du heilige Partei«, 68 69

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Zitiert von Kanngiesser SBDR 22. April 1871, S. 320. Windthorst, ebd., S. 328 f., und, über ähnliche Vorwürfe bezüglich der Wahlen in Rosenheim und Mörs-Rees: SBDR 5. April 1871, S. 189 f. Deutsches Reich: GA Nr. 26, 31. Jan. 1874, S. 144. Die liberale KölnZ prangerte das Zentrum an, das »allem, was deutsche Denker, Forscher, Erfinder, Dichter, Künstler ersonnen und erträumt haben, fremd und kalt gegenübersteht«. Gelange es an die Macht, »so scheidet Deutschland aus dem edlen Kreise der wetteifernden Kulturvölker aus und sinkt auf die Stufe der romanischen Völker herab«. Zitiert in Bachem: Vorgeschichte, Bd. 6, S. 189. Zitat: Bachem: Vorgeschichte, Bd. 6, S. 187, 188 f. Siehe dazu: Siegesallee des katholischen Fortschritts, eine Karikatur, die Statuen von Huss, Giordano Bruno und etlichen anderen zeigt, die auf brennenden Scheiterhaufen angebunden sind. Zentrums-Alben, S. 213. Vaterfreuden, SimplicissimusVIII/11 (o. D., 1903–1904) S. 86.

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Abb. 3: Das Stimmvieh O. Gulbransson: »Das Stimmvieh«, Simplicissimus, Extra-Nummer: Reichstagswahl VIII (o. D., 1903–1904): S. 8.

Jeder gute Seelenhirt Weiß, wie es im Jenseits wird, Und er weist dem Oekonom Seinen Weg zum Himmelsdom.

Eingefädelt Stück für Stück Wird ein jeder Katholik, Und damit kein Schäflein fehlt, Wird die Herde abgezählt.

Durch die Urne zieht man sie Nach Bedarf, als Stimmenvieh.

Alle gingen auf den Leim; »Kinder, jetzt geht wieder heim!«

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und flehen: »O du Hort der Beschränkten … O du Hafen der Geistesarmen …«72 In anderen Darstellungen wird der Wähler als Kind und Marionette mit den Eigenschaften eines Schafs gezeigt. Die Dynamik wirkte allerdings in beiden Richtungen. Indem sie ihre Wahlen gegen die Vorwürfe des klerikalen Einflusses in Schutz nahmen, fanden sich die Zentrumsabgeordneten zu einer Verteidigung des einfachen Wählers und seines Wahlrechts gedrängt, auf die sie durch ihre bisherige politische Laufbahn nur wenig vorbereitet waren. Diese Männer – Rechtsanwälte und Richter, Adlige und Priester – waren sozial kaum von den Honoratioren zu unterscheiden, die an der Spitze anderer nicht-sozialistischer Parteien standen, außer dass sie natürlich entschiedene Katholiken waren. Sie waren keine Demokraten im heutigen Sinn, und es ist auch nicht meine Absicht zu behaupten, dass ihrem Hochhalten des Banners des allgemeinen Wahlrechts ein egalitärer Idealismus zugrunde gelegen habe.73Aber Pragmatismus herrschte keineswegs nur in der Zentrumspartei. Edmund Morgan hat zu Recht festgestellt: »Wir nehmen zu leicht an, dass die Souveränität des Volkes das Produkt von Forderungen des Volkes war, ein Aufstand der Vielen gegen die Wenigen. Das war sie nicht. Es ging darum, dass einige der Wenigen die Vielen gegen den Rest der Wenigen zu Hilfe holten.«74 Zuerst beschränkte sich die Fürsprache des Zentrums darauf, den Verstand des einfachen Mannes gegen seine gebildeten Verächter zu verteidigen. Binnen Kurzem jedoch brachte sie die Logik ihres Konflikts mit den liberalen Parteien dazu, »das Volk zu erfinden« (um Morgans Ausdruck zu borgen), ein Volk, dessen einfache Tugenden die Werte der liberalen Karikatur in ihr Gegenteil verkehrten, eines, dessen Verdienste es für die Verantwortung des Wahlrechts qualifizierten – und natürlich seine Stimme legitimierten.75 Die Vorteile der demokratischen Repräsentation für die Zentrumspartei zeigten sich nicht nur in rhetorischer Hinsicht. Die Katholiken standen nicht nur bildungsmäßig in der Regel den Protestanten und Juden nach, worauf hinzuweisen ihre Gegner nicht müde wurden, auch ökonomisch ging es ihnen bei Weitem schlechter. Dieses Manko bedeutete, dass selbst in Gegenden, wo Zentrumsanhänger zahlenmäßig die überwältigende Mehrheit bildeten, die unterschiedlichen Besitztumsanforderungen, die mit den Länder- und Gemeindewahlrechten verbunden waren, ihre Stimmkraft bei diesen Wahlen neutralisierte. Die Ungleichheit war besonders auffällig im Rheinland, wo wirtschaftliche und 72 73 74

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Bittgang, Simplicissimus XV/11 (13. Juni 1911) S. 174. Ich muss mich schlecht ausgedrückt haben, wenn Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 398 Anm. 10, glaubt, ich wäre je anderer Meinung gewesen. Inventing, S. 169. Was Morgan eine »Fiktion« nennt, bezeichnet D. C. Moore als einen Sorelischen Mythos. Politics, S. 420. In Deutschland wurden solche Fiktionen nur über die eigene Partei geschaffen (und wahrscheinlich auch geglaubt), was sie etwas weniger harmlos macht. Gegenüberstellung des ehrlichen Mannes und seiner gebildeten Verächter: Essener Volkszeitung (Z), 1870, S. 256, zitiert in Möllers: Strömungen, S. 173. Kaplan E. Müllers Hinweis auf »vox populi, vox Dei«: Rust: Reichskanzler, S. 616–620; Pastor Adolf Wehrle, der »auf breitester demokratischer Bahn einherschritt«, stellte den Willen des Volkes über den des Fürsten, wie Polizeispitzel behaupteten. Amtsvorstand Konstanz an MdI, 20. Juni1893. GLA 236/14901. Wehrles eigene Meinung zum Wahlkampf: Erinnerungen eines Reichstagskandidaten für das Centrum aus dem Drang- Zwang-Qual-Wahl-Jahre 1887, Konstanz, o. D. [1887].

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religiöse Aufspaltungen dazu tendierten, sich gegenseitig zu verstärken. Bei den Essener Landtagswahlen von 1870 beispielsweise überstimmten die liberal wählenden ersten beiden Klassen, die acht Prozent der Wahlberechtigten bildeten, die dritte Klasse, die das Zentrum gewählt hatte und 92 Prozent der Wähler repräsentierte. Wenn das Reichstagswahlrecht auf lokaler und Länderebene eingeführt worden wäre, hätte das Zentrum Friedrich Seyffardt und seine liberalen Kollegen nicht nur aus dem nationalen Parlament vertreiben können, sondern auch aus den Landtagen und Rathäusern, die, vielfach bis zum Ende des Kaiserreichs, ihre Bastionen blieben. In Trier erkannte das Zentrum seinen Vorteil innerhalb kürzester Zeit; nur zwei Jahre nach der ersten Wahl forderte es das Reichstagswahlrecht auch für den Preußischen Landtag. Bei derselben Wahl ließen die rheinischen Liberalen die gleiche Forderung wieder fallen.76 1873 verfolgte das Zentrum den Plan weiter mit einem Gesetzesantrag im Preußischen Landtag, das Dreiklassenwahlrecht durch das allgemeine Wahlrecht für Männer zu ersetzen. Dies war der erste derartige Angriff auf diese mächtige Bastion der Privilegien, und er kam zu einer günstigen Zeit: Die Landtagssitze der beiden konservativen Parteien machten nur 65 von 433 aus. Windthorst, der inoffizielle Führer des Zentrums, hatte mit einigem innerparteilichen Widerstand gegen den Reformantrag zu kämpfen, allerdings hauptsächlich durch einen Hospitanten der Fraktion, den Altkonservativen Ludwig von Gerlach. Aber er war von den Vorteilen der Initiative überzeugt. »Der Antrag auf das allgemeine Wahlrecht«, erklärte Windthorst Edmund Jörg, »ist [ein Wort unleserlich], aber ich halte ihn für richtig und er muß überall, in Bayern, Württemberg, Baden wiederholt werden. Auch für Österreich und Italien halte ich ihn angezeigt.«77 Die liberale Mehrheit ging, sehr verlegen, einfach zur Tagesordnung über. Zwischen 1876 und 1878 reagierten Edmund Jörg und August Schels auf Windthorsts Vorschlag, indem sie Anträge und Interpellationen im Bayerischen Landtag mit dem Ziel stellten, in den Bayerischen Landtagswahlen die direkte Stimmabgabe einzuführen.78 In Preußen war 1876 die Forderung, das Reichstagswahlrecht bei den Landtagswahlen einzuführen, Teil des Programms des gesamtregionalen Wahlkampfkomitees des Zentrums geworden, das für die Rheinprovinz gegründet worden war.79 Jegliche Chance auf Erfolg, falls es sie jemals gab, verflog rasch. Im selben Jahr begannen die Konservativen, ihre alte Stärke wiederzugewinnen; 1879 bereits hatten die beiden konservativen Parteien 161 Sitze im Preußischen Landtag inne; und als ihre Zahl weiter anstieg und die 76 77 78

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Essen: Möllers: Strömungen, S. 175. Trierer Erklärung: Steil: Wahlen, S. 129, 158. LW an EJ, 2. Dez. 1873, in Jörg: Briefwechsel, S. 403. Bereits 1871 hatten W. und Ketteler Einwände gegen das Dreiklassenwahlrecht erhoben. SBDR 2. Nov. 1871, S. 103; Anderson: Windthorst, S. 186 ff. In den 1880er und besonders den 1890er Jahren jedoch, als der Nachteil für ihre eigene Partei offensichtlich wurde, verloren die Konservativen innerhalb des bayerischen Zentrums, die bis 1899 dort vorgeherrscht hatten, jegliche Begeisterung für die Einführung direkter Wahlen und schmetterten gemeinsam mit den Liberalen ähnliche sozialdemokratische Anträge ab, die von der Zentrumslinken unterstützt wurden, Möckl: Prinzregentenzeit, S. 496 ff., 514 ff. SBHA 26. Nov. 1873, S. 94 ff. In Baden hatte die katholische VP bereits 1869 einen Antrag gestellt, den Abgeordneten Reise- und Tagesspesen zu gewähren; das Z am 10. Dez. 1873. J. Becker: Staat, S. 231, 262 ff.

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der Liberalen sank, wurde die Erfüllung der Forderung des Zentrums nach dem Reichstagswahlrecht für die preußischen Landtagswahlen fraglich.80 Aber die Partei wandte ihre Aufmerksamkeit auch dem preußischen Gemeindewahlrecht zu. Nach höhnischen Bemerkungen, der mangelnde Erfolg des Zentrums bei den Gemeindewahlen habe bewiesen, dass das viel gerühmte »Volk«, das zu repräsentieren es vorgab, nur »ein paar adlige Herren, … und dann die Bauern, Handwerker und Tagelöhner« seien, befürwortete die Partei ein Gesetz, das das vom Besitz abhängige Gemeindewahlrecht durch ein demokratisches Wahlrecht ersetzen und so beweisen sollte, dass genau die derart verachtete Wählerschaft »das Volk« sei. Als die Reform gemeinsam mit einem ähnlichen Vorschlag der Fortschrittlichen abgeschmettert wurde, bemühte sich das Zentrum, das Gemeindewahlrecht auf verschiedenen anderen Wegen zu erweitern, indem es sogar einen Antrag unterstützte, finanziell unabhängigen Geschäftsfrauen das Wahlrecht zu gewähren.81

Die Gesetzgeber reagieren: 1871–1876 Dieselbe Logik, die den Klerus mit dem Volk verband und die Parteispitze des Zentrums zur »Erfindung des Volkes« und einer verfrühten Verteidigung des Reichstagswahlrechts getrieben hatte, ließ Zweifel am demokratischen Wahlrecht unter den Kritikern der Kirche laut werden. Die ersten Gegenargumente, die schließlich zu einem Gesamtangriff auf das Reichstagswahlrecht werden sollten, wurden in den frühen 1870er Jahren laut, zugunsten eines Antrags, dem katholischen Klerus das Stimmrecht zu entziehen. Kein Feind der Kirche ging davon aus, dass ein Abzug der Stimmen der Priester die Stärke des politischen Katholizismus signifikant schwächen würde. Auch ein Verbot, Sitze im Parlament einzunehmen, das ebenfalls vorgeschlagen wurde, würde ihrem Einfluss kein Ende setzen.82 Aber das Wahlreglement garantierte jedem Wähler eine Reihe bürgerlicher Privilegien, die über die einfache Stimmabgabe hinausgingen: insbesondere das Recht, Wahlveranstaltungen zu besuchen und Wahlvereinen beizutreten. Als die Antiklerikalen merkten, dass sie auch der evangelischen Geistlichkeit das Wahlrecht entziehen müssten, um sich nicht dem Vorwurf religiöser Diskriminierung auszusetzen, ließen sie die Forderung fallen. Letztendlich, so räumte der liberale Verfassungsrechtler Robert von Mohl ein, der die 80

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Nach 1903 wurde die Leidenschaft des Z für die Reform zu Recht als platonisch bezeichnet. Erst im Januar 1907 stellte es einen neuen Initiativantrag, das Dreiklassenwahlrecht durch das RT-Wahlrecht zu ersetzen. Heitzer: Volksverein, S. 126 ff.; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 420 ff.; Gerlach: Geschichte, S. 188 ff. NL Hohn zitiert in Rust: Reichskanzler, S. 656. Virnich: Fraction, S. 90 ff.; Frauenwahlrecht: 96 f. Da zahlreiche rheinische Städte ihre erforderliche Steuerquote von 6 auf 18 Mark heraufgesetzt hatten, stellte J. Bachem 1886 den Antrag, die Mindeststeuer, die zur Teilnahme an den Gemeindewahlen berechtigte, generell auf 6 Mark festzusetzen, was die Gemeinderäte verändert hätte. Er wurde von den NL abgelehnt. SBHA 6. Mai 1886, S. 1940. Bismarcks ursprünglicher Entwurf hatte den Klerus gemeinsam mit anderen Beamten aus dem Parlament ausgeschlossen. Lachner: Grundzüge, S. 37.

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Entziehung des Wahlrechts befürwortet hatte, sei wohl die einzige Möglichkeit zur Verhinderung des klerikalen Einflusses, das gesamte Wahlsystem des Reichs durch ein Wahlrecht zu ersetzen, das geeignet sei, grundsätzlich »schädliche einzelne Klassen der Bevölkerung fern zu halten«. Das Stimmrecht sollte nur für Männer mit erwiesener Kompetenz in öffentlichen Angelegenheiten gelten.83 So begann der Rückzug der Liberalen von ihrer zögerlichen Akzeptanz des allgemeinen Männerwahlrechts. Heinrich von Treitschke, der 1869 dazu geraten hatte, das Reichstagswahlrecht auf die preußischen Landtagswahlen auszudehnen, war nur der erste und auffälligste Abtrünnige. Unauffälliger folgten ihm Friedrich Kapp, Heinrich von Gagern, John Prince Smith, Rudolf Haym und Robert von Mohl – allesamt Liberale.84 Der Klerus, der die schwindende Begeisterung der Nationalliberalen für das Reichstagswahlrecht für seine Wahlkampagnen zu nutzen wusste, begann sich jetzt zum Wächter der Demokratie zu stilisieren. So predigte Kaplan Schlechter in Bochum während der Wahlkampagne von 1893: Räuber, Diebe, Einbrecher – wenn die kommen dann hütet man sich. Die nationalliberale Partei hat die Absicht, das allgemeine Wahlrecht aufzuheben und dafür das Klassenwahlrecht einzuführen. Deshalb sage ich nochmals: hütet Euch vor Räubern, Dieben, Einbrechern! Wenn also der Einbrecher kommt, dann schießt man ihn nieder, greift ihn und bringt ihn zur Polizei … 85

Nur wenige Liberale hatten allerdings den Wunsch, die Schelte auf sich zu nehmen, dass sie die Partei seien, die die Rechte des Volkes beschnitt. Wesentlich geschickter war es, die Position der Partei im Dunkeln zu lassen und der Regierung die Drecksarbeit zu überlassen.86 In der Zwischenzeit konnte dasselbe Ziel durch die Macht des Reichstags erreicht werden, Wahlen für ungültig zu erklären. Ein Potential zur Eindämmung der klerikalen Flut gab es wirklich, wie ein Blick über die Grenze zeigt. Denn innerhalb desselben Jahrzehnts benutzte Frankreichs republikanische Mehrheit ganz bewusst die Macht des Parlaments, Wahlen zu annullieren, als politisches Mittel. Die spektakulärste Intervention geschah 1877, als es die Wahlen von mehr als 130 klerikalen oder monarchistischen Abgeordneten anfocht und 77 davon kassierte. Ein zeitgenössischer Politikwissenschaftler hielt die Ungültigkeitserklärungen von 1885 für einen »veritablen parlamentarischen Coup d’Etat«. Das Resultat dieser Annullierung von Wahlen im großen Stil war für die Wahlkreise, die ihrer Abgeordneten beraubt wurden, äußerst demoralisierend. In den 1890er Jahren war ihr »Klerikalismus« dann verschwunden und die Wählerstimmen in den Zielgebieten waren durch83

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Mohl: Erörterungen, S. 528–663. 1876 rief auch die Wahlkommission des Bayerischen Landtags nach der Entziehung des Wahlrechts für den Klerus und, als dies keine Mehrheit zu finden schien, für die Geistlichen aller Konfessionen. Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 183, und Lachner: Grundzüge, S. 36, differieren über das Maß der Unterstützung, die der Antrag fand. Sheehan: Liberalismus, S. 155 f. Lokale Kritik am Reichstagswahlrecht: Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 498 Anm. 47. Arnsberg 5, AnlDR (1894/94, 9/III, Bd. 2) DS 318, S. 1322 f. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 400; Gagel: Wahlrechtsfrage, S. 73 ff.

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weg republikanisch – obwohl die Ansichten der Wahlberechtigten sich kaum geändert hatten. Ein Historiker des Massif Central erklärt die Veränderung der politischen Landschaft folgendermaßen: »Welchen Sinn hatte es, dem Pfarrer zu den Wahlen zu folgen, wenn der anschließende Sieg des konservativen Kandidaten mit großer Wahrscheinlichkeit unter dem geringsten Vorwand annulliert wurde?«87 In Deutschland wurden »geringste Vorwände« von den Skrupeln des Reichstags abgeschmettert. Der Fall von Pleß-Rybnik, wo die Mehrheit »sich mehr durch die ethischen, als durch die arithmetischen Gründe hat bestimmen lassen« und wo man bereit war, die Stimmen von Tausenden von Wählern zu ignorieren, weil drei Pastoren in der Kirche über die Wahl gesprochen hatten, blieb eine Ausnahme. Stramme Antiklerikale argumentierten, dass selbst eine einzige parteiische Predigt »den ganzen Wahlkreis durchdringen« konnte und dass die einzige Möglichkeit, dem Klerus beizubringen, sich aus der Politik herauszuhalten, darin bestünde, dass der Reichstag von seinem »Hausrecht« Gebrauch machte, dessen politische Aktionen kontraproduktiv zu gestalten. Aber diese Argumente überzeugten immer weniger Abgeordnete.88 Ein konservativer Abgeordneter warnte, dass solch eine breite Definition einer »verderbten Stimme« jede Wahl dem Wohlwollen desjenigen ausliefern würde, der sie zu annullieren wünschte. Plötzlich erschienen vor den Augen der Abgeordneten Visionen von heimtückischen Priestern, die von ihren Kanzeln herab die Wahl der ungeliebten Liberalen empfahlen, um den Reichstag zu zwingen, deren Siege für ungültig zu erklären.89 Wichtiger noch war die wachsende Erkenntnis – die auf jenen Pedanten in Verfahrensfragen, Eduard Lasker, zurückging –, dass das deutsche Parlament Präzedenzfälle schuf, mit denen es eine lange Zeit würde leben müssen.90 Schließlich schien die einzige intellektuell vertretbare Vorgehensweise zu sein, dass man bestimmte Stimmen von einem bestimmten Wahlbezirk abzog, in dem ein Wahlvergehen stattgefunden hatte.91 Ein solches Bestehen auf »arith87

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Zitat: Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 13, und Jones: Politics, S. 300, 303. Charnay behauptet, dass, während klerikale Beeinflussung hart bestraft wurde, ganzheitliche Bewertungen nie stattfanden. L’église, S. 265 ff., 295 f. Bamberger: Sitzungsperiode, S. 165. Holistische Bewertungen: Kanngiesser: »durchdringen«, »Hausrecht«, und Lasker SBDR 22. April 1871, S. 320, 326; »ethisch statt arithmetisch«: Winter SBDR 22. Nov. 1871, S. 430. Wehrenpfennig und Duncker schlugen vor, den Abzug auf eine Weise zu manipulieren, die einfachere Annullierungen zuließ: ebd.., S. 322, 325. Kardorff und Duncker: SBDR 5. April 1871, S. 173; arithmetische Annullierungen: HZtg Nr. 92, 3. Beilage, 20. April 1871; Kritik an unfairen Prüfungspraktiken: MK Nr. 18, 6. Mai 1871, S. 141 f.; [Jörg:] Das deutsche Reich, Bd. II, S. 767 ff. Warnung: M. v. Blanckenburg (K), ebd. 22. April 1871, S. 324. Noch 1912 wurde eine ähnliche Warnung vor ganzheitlichen Bewertungen vom WPK gebraucht, um seine Vorgehensweise zu rechtfertigen: Mecklenburg-Schwerin 1, (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 478, S. 512. Die Gefahr war keine Chimäre: 1904 wurden zwei SD Siege annulliert, weil staatliche Einflussnahme zugunsten eines anderen Kandidaten dazu führte, dass die gesamte Wahl für ungültig erklärt wurde. A. Stadthagen (SD) SBDR 9. Dez. 1912, S. 2690. Hier irrte Lasker. Im Bezug auf Wahlbestätigungen war das Gremium völlig unabhängig. Kein Gericht konnte seine Entscheidungen rückgängig machen, und es war nicht an Präzedenzfälle gebunden. Schels (Z) SBDR 17. April 1871, S. 234. Die spontane Unterstützung für holistische Beurteilungen verschwand nie gänzlich. Die SD und das Z forderten ganzheitliche Kriterien in Bergbauregionen, wo eine systematische Einschüchterung durch Arbeitgeber stattfand: Trier 6, AnlDR (1884, 5/IV, Bd. 4) DS 103, S. 793 ff., bes. 798; SD in Wahlkreisen, wo ihre Wahlveranstaltungen geschlossen worden waren: Hessen 1, AnlDR (1884/85, 6/1, Bd. 5) DS 124,

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metischen« anstelle ethischer Kriterien machte jedoch den Annullierungsmechanismus ungeeignet dafür, den klerikalen Einfluss in genau jenen Bezirken zu bekämpfen, wo er am wahrscheinlichsten im Spiel war: Orten mit gewaltigen Stimmenvorsprüngen für das Zentrum, wie Münster, Essen, Koblenz und Trier. Nach Ansicht der Abgeordneten war der Preis für solche Selbstverleugnung sehr hoch; aber wir können heute sehen, dass er half, die langfristige Glaubwürdigkeit eines Parlaments zu erhalten, dessen Spaltungen wesentlich komplizierter waren als jene seines französischen Pendants. Als Alternative zum Annullierungsmechanismus erwies sich jedoch eine Gesetzgebung, die direkt gegen den Klerus gerichtet war. Bereits im Dezember 1871 hatten die Gegner des Zentrums das Strafgesetzbuch durch den sogenannten Kanzelparagraphen erweitert, der politische Reden über staatliche Angelegenheiten in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise, die im Zusammenhang von Gottesdiensten gehalten wurden, mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestrafte.92 In nichts waren die deutschen Liberalen so europäisch wie in ihrer Anstrengung, die politischen Aktivitäten der katholischen Geistlichen unter Kontrolle zu halten. Jederzeit bemüht, sich auf die Gepflogenheiten der zivilisierten Welt zu berufen, wiesen die Gesetzgeber im Reichstag darauf hin, dass Belgien, Spanien, Portugal und Italien ähnliche Bestimmungen erlassen hatten – wenn sie auch zugaben, dass solche Maßnahmen in Großbritannien und Nordamerika unbekannt waren. Das Vorbild für den Kanzelparagraphen war in der Tat in Frankreichs code pénal zu finden. Es wurden auch Präzedenzfälle aus der Gesetzgebung einzelner deutscher Länder herangezogen, beginnend mit 1813. Zum Nachteil für diese Argumentationsweise hatte Preußen sich inzwischen in die entgegengesetzte – angloamerikanische – Richtung bewegt und 1851 alle Hinweise auf den Missbrauch der Religion aus seinem Strafgesetz getilgt. Da es das preußische Gesetz war, das die Grundlage des norddeutschen Bundes und des Kaiserreichs bildete, fanden sich die Initiatoren des Kanzelparagraphen durch ihr Abweichen von dem freieren preußischen Modell in einiger Verlegenheit. Obwohl einige von ihnen behaupteten, dass die Feststellung der päpstlichen Unfehlbarkeit (1870) die rechtliche Situation verändert habe, erklärte dieses Argument jedoch kaum, warum Beschränkungen der klerikalen Redefreiheit, die im Januar 1871 noch nicht nötig erschienen waren, als Bayern

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S. 477 f. LL sahen auch Muster: Rickert SBDR 6. März 1888, S. 1298, 1303; Traeger 10. Jan. 1889, S. 369. Mitglieder der Polenpartei bestanden darauf, dass das erwiesene Fehlverhalten von Wahlvorständen in einigen Wahlbezirken den gesamten Wahlkreis »verdorben« habe: V. Koscielski, Marienwerder 4, SBDR 7. März 1888, S. 1358; Rickert stimmte zu: S. 1360. Als der Kreisschulinspektor die 171 ihm unterstellten Lehrer ansprach und anschrieb, forderte sogar das Zentrum, der Reichstag solle nicht auf »mathematischen Beweisen« bestehen, wie viele von ihnen sich hätten überreden lassen. A. Gröber SBDR 14. Jan. 1890, S. 995. P. Reichensperger und A. Schels (Z) hatten Kritiker herausgefordert, ein solches Gesetz zu erlassen: SBDR 5. April 1871, S. 173 und 17. April 1871, S. 234. Forderung nach einem Kanzelparagraphen: Duncker und Kardorff SBDR 5. April 1871, S. 173; Behr und Fischer, 17. April, S. 240 ff.; Reischer, 18. April S. 270; Günther, 22. April, S. 318 ff.; GA Nr. 97, 26. April 1871, S. 383; Spott im katholischen MK Nr. 16, 22. April 1871, S. 128. Strafverfolgung nach dem Schweizer Modell wurde vorgeschlagen im GA Nr. 164, 16. Juli 1871, S. 1475; Nr. 173, 27. Juli 1871, S. 1552. Zum Kanzelparagraphen: J. Becker: Staat, S. 72 ff.; Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 701.

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in die Jurisdiktion des Strafgesetzes trat, nur elf Monate später derart dringend sein sollten. Die Gesetzgeber versuchten sich in der Quadratur des Kreises der Redefreiheit für Bürger und des Redeverbots für Priester durch die Verankerung des Kanzelparagraphen in einer Unterscheidung zwischen der persönlichen und der seelsorgerischen Aktivität der Geistlichen. Für einen Sturm im Wasserglas sorgte das Argument, der Priester sei ein öffentlicher Amtsträger. Aber da nur wenige der deutschen Länder die katholischen Geistlichen als Beamte ansahen, erwies sich diese Kategorie für die nationale Gesetzgebung als unbrauchbar.93 Schließlich wandte man sich dem Kirchengebäude zu. Da es unter dem besonderen Schutz des Staates stand, brauchte der Staat besondere Aufsichtsrechte über das, was in dem Gebäude stattfand. Die Abgeordneten untermauerten dieses Argument mit einer Doktrin, die wir »gleiche Zeit« nennen können. Bei einer Wahlveranstaltung, wo man ihr widersprechen konnte, sollte die Rede eines Geistlichen keiner speziellen Beschränkung unterliegen. Aber innerhalb der Kirchenmauern, wo der Priester zwei Meter über dem Widerspruch predigte, hätten die Zuhörer ein Recht darauf, vor Worten geschützt zu werden, denen sie nicht ohne die (angebliche) Gefahr einer Verhaftung wegen Hausfriedensbruchs widersprechen durften.94 Wenn wir in Kapitel 9 die Wahlversammlungkultur betrachten, werden wir sehen, wie dieses Konzept der freien Rede – das nur bestand, wenn das Recht zur Widerrede ebenfalls geschützt war – sich in der Praxis auswirkte. An dieser Stelle genügt es zu sagen, dass die formale Unterscheidung zwischen einem privaten oder öffentlichen Raum, wo Redefreiheit bestand, und einem besonders geschützten – und damit für die freie Rede gesperrten – Gotteshaus wenige zufriedenstellte, auch wenn sie oft heraufbeschworen wurde. Lasker jedenfalls fühlte sich bemüßigt, zusätzliche Gründe für die Beschneidung der Bürgerrechte eines Priesters anzuführen. Nicht nur der Ort, sondern auch der Zustand des Zuhörers rechtfertige die Einschränkung. Das deutsche Volk wisse wohl, »dass der Mensch in dem Zustande der religiösen Andacht allerdings sehr vielen Eindrücken weit mehr zugänglich ist als etwa in der Bierschänke«. Aber kein Argument konnte die Tatsache verschleiern, dass es letzten Endes weder der Ort noch der Zuhörer war, um die es ging, sondern die Identität des Redners.95 Wer konnte glauben (wie die Liberalen dies vorgaben), dass der Priester, bloß weil er außerhalb seiner Kirche stand anstatt vor dem Altar, nur als Mitbürger 93

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Die Grundsätze des Reichstags des Norddeutschen Bundes und des deutschen Reichstags hinsichtlich der amtlichen Wahlbeeinflussungen (im Folgenden: Poschinger-Bericht), 11. Febr. 1879, BAB-L R1501/14450, Bl. 158; Elble: Kanzelparagraph, E. R. Bierling: Sind Beamte des evangelischen Kirchenregiments in Preußen als Staatsbeamte anzusehen?, Archiv für Öffentliches Recht, Bd. 7 (1892) S. 212 ff. Heraufbeschworen in Düsseldorf 7, 1871, AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 10, S. 16 ff., und von MüllerMeiningen, der behauptete, dass Kritiker Gefängnisstrafen nach § 166 und § 167 des Strafgesetzbuchs riskierten. Debatte über Posen 6, SBDR 21. Mai 1912, S. 2218. Lasker SBDR 5. April 1871, S. 175. Die Zeitgenossen sprachen ohne Umschweife über die Funktion des Kanzelparagraphen bei den Wahlen: Ein Galgen für Geistliche, MK Nr. 48, 2. Dez. 1871; Mohl: Erörterungen; S. 571 ff.; Friedrich: Wahlrecht, S. 11; Cohn: Schutz, S. 578 ff.; Elble: Kanzelparagraph, S. 9 ff., 39.

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sprach, in der Tat als ein einfacher, fehlbarer Mensch? Das bartlose Gesicht, die schwarze Kleidung, äußere sichtbare Zeichen einer übernatürlichen Berufung, die den Geistlichen überallhin begleiteten, negierten den Unterschied zwischen Privat- und Amtsperson, um den sich ein großer Teil der Debatte über legitime Wahlwerbung drehte. Trotz aller Anstrengungen, das Gegenteil zu erreichen, schlüpften die Beschränkungen des Kanzelparagraphen im Bezug auf die klerikale Rede – die 1876 auf die Schrift ausgeweitet wurden – durch die legalen Maschen, die die Abgeordneten zu knüpfen versuchten. Der Kanzelparagraph enthüllte seine wahre Identität als ein Stück Ausnahme-Gesetzgebung, indem er nicht eine Handlung, sondern eine Person als außerhalb des gesetzlichen Schutzes definierte. Die Absicht, die Wahlaktivitäten des Klerus zu kontrollieren, stand nicht allein hinter dem Kanzelparagraphen, sondern auch hinter dem preußischen Schulaufsichtsgesetz vom Frühjahr 1872, das der Geistlichkeit die Schulaufsicht entzog – in der Praxis war allerdings nur der katholische Klerus betroffen. Obwohl dies allgemein als Schritt auf dem langen Weg zu einer modernen Gesellschaft angesehen wird, ist das Gesetz zu Recht »vordringlich als bildungspolitisches Korrektiv zum allgemeinen Wahlrecht« beschrieben worden. Sein unmittelbares Ziel jedoch waren nicht zukünftige Generationen von Kindern, sondern die gegenwärtige Generation von Priestern, die nicht ohne Grund häufig im Verdacht stand, Lehrer als Wahlkämpfer zu benutzen. Diese politische Verbindung war es, die das entscheidende Argument für jene Abgeordneten lieferte, die sonst nur wenig Interesse an der Modernisierung der Volksschulerziehung gezeigt hätten.96 Der Wille zur Bekämpfung des klerikalen Einflusses war auch einer der Impulse für das Kirchenstrafengesetz vom 13. Mai 1873 und ähnliche Gesetzgebung in Baden, Hessen und Sachsen, die es verbot, eine öffentliche Exkommunikation auszusprechen oder Kirchenstrafen anzudrohen, um das Wahlverhalten einer Person zu beeinflussen.97 Man kann keine dieser Maßnahmen von dem breit angelegten Angriff der Liberalen auf die katholische Kirche trennen, der bald jeden Punkt betreffen sollte, an dem das katholische religiöse Leben den Staat tangierte: einem Angriff, den seine Befürworter als epochalen »Kulturkampf« propagierten.98 Aber 96

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Zitat: Wölk: Volksschulabsolvent, S. 159. SBHA: Bethusy-Huc (FK) 9. Feb. 1872, S. 712; dazu auch Hanjery 1. Mai 1871, S. 511; Bunsen 22. Nov. 1871, S. 441; Winter 22. Nov. 1871; S. 429. Anderson: Kulturkampf, S. 102 ff.; Anderson und Barkin: Mythos, S. 452 ff. Lachner: Grundzüge, S. 15, 47 Anm. 1; Campe: Wahlbeeinflussung, S. 6 ff. Die beiden Hubers beschreiben den Kanzelparagraphen von 1871 anachronistisch als eine Antwort auf den Kulturkampf, dessen Gesetze noch nicht vorbereitet wurden. E.-R. und W. Huber: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, 2 Bde., Berlin 1976, Bd. 2, S. 528; Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 701. Dennoch bemerkte das belgische Echo du Parlament noch bevor die Regierung eine Gesetzgebung einleitete, dass der »Kampf gegen den Ultramontanismus« in Deutschland »mit der bekannten preußischen Energie« geführt werde. GA Nr. 176, 30. Juli 1871, S. 1575. Laut dem Großherzog von Baden waren es die Wahlen, die Bismarcks Entscheidung anspornten, in den antiklerikalen Schlachtruf einzustimmen: J. Becker: Staat, S. 305 Anm. 17. Neuere Forschung zum Kulturkampf: Ross: Failure. Michael B. Gross: The War Against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany, AnnArbor 2004, und Manuel Borutta: Liberaler Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kul-

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die Kulturkriege selbst, soviel sie auch dem Aufeinanderprallen von radikalem Antiklerikalismus und papistischem Triumphalismus verdankten – einem Aufeinanderprallen, das von internationalem Ausmaß war – können nicht von der Atmosphäre aufgeregter Ungewissheit losgelöst werden, die die Einführung demokratischer Wahlen in Deutschland begleitete. Was das angeht, so war der Kulturkampf vor allem ein politischer, kein kultureller Kampf. In den Augen der Liberalen, Nationalisten und selbst vieler Konservativer wurde die Macht der Kirche am sichtbarsten und somit am bedrohlichsten während der Wahlen. Und weil der Erfolg im Kulturkampf, wie sie glaubten, von der Gesetzgebung und damit von parlamentarischen Mehrheiten abhing, war es kein Wunder, dass die Wahlen zu einer Arena für die »Kulturpolitik« wurden, mit anderen Worten, für die Schaffung von Identität. Was die Antiklerikalen nicht vorhersahen war, dass, sobald die Identität anstatt dieser oder jener Politik die entscheidende Rolle bei den Wahlen spielte, der Klerus alle Trümpfe in der Hand hielt.

Die Jesuitenfurcht und die Mobilmachung des Klerus Das Zusammentreffen der kulturellen Befürchtungen der Nationalisten mit ihren Wahlängsten erreichte seinen Höhepunkt mit der Hysterie hinsichtlich der Jesuiten. Feindselige Gefühle gegen den Orden hatten sich ein Jahrzehnt lang aufgestaut, gefördert durch Berichte über dessen Bemühungen zugunsten der Unfehlbarkeitspartei im Vatikan und das Aufkommen einer »evangelischen« Lesart, die Deutschlands nationale Vergangenheit betraf. Denn wenn 1866 eine Wiederholung des Dreißigjährigen Krieges darstellte, dann musste man die Gesellschaft Jesu als Verkörperung der Gegenreformation, die sich damals behauptet hatte, jetzt davonjagen. Überall gab es Bekundungen des Hasses gegen den Orden. Eine liberale Augsburger Zeitung behauptete, entdeckt zu haben, dass das Sterbealter der gekrönten Häupter in Europa seit der Gründung des Jesuitenordens drastisch gesunken sei. Eine katholische Zeitung kommentierte lakonisch: »Für die Geschichte der Medicin ist das jedenfalls merkwürdig und ein Beweis für den Fortschritt der deutschen Wissenschaft.«99 Trivialromane beschrieben die Verderbtheit des Ordens und buchten Verschwörungen, Kriege und sogar Papstmord auf das Konto der Jesuiten. Karikaturen von Jesuiten, die auffallend von dem sonst üblichen realistischen Stil abwichen, erschienen in den Arbeiten akademischer Maler.100 Der fuchsgesichtige Pater Filuzius des Saturkämpfe (Dissertation, FU Berlin, 2004) wurden nach dem Abschluss der englischen Originalausgabe dieses Buchs veröffentlicht. 99 MK Nr. 50, 16. Dez. 1871, S. 397. Feindseligkeit den Jesuiten gegenüber wurde in der nicht-katholischen Presse vorausgesetzt. Dazu: Der deutsche Episcopat und das Concil, Die Post, Berlin, Nr. 487, 23. Sept. 1869, S. 1; Deutsches Reich in GA Nr. 148, 28. Juni 1871, S. 1335; Nr. 172, 26. Juli 1871, S. 1546, und Nr. 226, 27. Sept. 1871, S. 2013. 100 Sogar der GA beurteilte kritisch »das Fratzenhafte« und die »fast karrikirte [sic] Darstellung« in Gustav Spangenbergs Gründung des Jesuitenordens in Rom 1540. In der Kunstausstellung II, in: GA Nr. 179, 3. Aug. 1871, S. 1604. Gross: Jesus, S. 56 f. Gross’ Standpunkt ist der der Liberalen des 19. Jahrhunderts. Negative Assoziationen beschränkten sich nicht auf das deutsche Kaiserreich. Die zweite Bedeutung für

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tirikers Wilhelm Busch wurde ein Bestseller. Auch bei eindeutiger politischen Karikaturisten war der Jesuit ein beliebtes Thema. Er war die Schlange im Garten Eden.101 Er war die Termite im Baum Germania, die Bismarck »vollständig auszurotten« aufgerufen wurde. Eine Karikatur im Kladderadatsch zeigte den Schwefelatem dieser Herren mit harten Gesichtern, der selbst den Teufel veranlasste, sich die Nase zuzuhalten.102 Es überrascht nicht, dass drastische Bilder drastische Maßnahmen nahelegten. Seit dem Herbst 1871 erreichten Petitionen den Reichstag, die verlangten, das Land von der »Gesellschaft Jesu« zu befreien, die den deutschen Katholizismus »infiziert« habe. Obwohl diese zuerst spontan geschrieben wurden, hatten bis zum Frühjahr 1872 die Nationalliberalen im Protestantenverein diffuse Ängste in eine gut organisierte Kampagne verwandelt.103 Von einem Ende Deutschlands zum anderen wurden in den evangelischen Gebieten Massenveranstaltungen mit Sammlungen von Unterschriften für Petitionen zur Ausweisung des Jesuitenordens abgehalten. Diese Petitionen gehörten nicht zu den edleren Bekundungen der Volksmeinung. Nahezu fünftausend Breslauer Bürger behaupteten: »Der Jesuit muß, er mag wollen oder nicht, unpatriotisch, inhuman, rücksichtslos, gewissenlos handeln; das bringt seine Ordenspflicht mit sich.« Sie hatten die Befürchtung, dass der Jesuit das Vaterland »mit seinem Netze mehr und mehr überzieht« und dabei sei, und hier wechselten sie die Metapher, »die innersten Grundlagen des deutschen Volksthums zu unterwühlen«. Der Vorwurf von Antragstellern in zehn rheinischen Städten, dass die Jesuiten sogar die Existenz des Reichs untergrüben, hallte in den Stimmen von mehr als eintausend Magdeburger Bürgern wider, in einer apokalyptischen Sprache, die bald für den völkischen Nationalismus typisch werden sollte. Die Brandenburger Bittsteller waren am blutrünstigsten – einer von ihnen rief die Regierung auf, das Gesetz gegen Wölfe anzuwenden, um dieses Ungeziefer zu bekämpfen. (Das Metaphernfeld von Infektion sollte bald auch im Zusammenhang mit den sozialen Einrichtungen der Kirche herangezogen werden, die mit »Rebläusen, Koloradokäfern und anderen Reichsfeinden« verglichen wurden.) Jeder zivilisierte Staat, so insistierten Bittsteller aus Brandenburg und Leipzig, hatte zu irgendeiner Zeit die Jesuiten ausgewiesen – diesen Punkt hielt man für einen ausreichenden Beweis für die Objektivität der Vorwürfe.104

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»Jesuit« in Webster’s Ninth New Collegiate Dictionary ist »jemand, der zu Intrigen und Doppeldeutigkeiten neigt«. Harald Just: Wilhelm Busch und die Katholiken: Kulturkampf-Stimmung im Bismarckreich, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 25 (1974) S. 65 ff.; Romane: Hirschmann: Kulturkampf, S. 140 ff. Der neue Sündenfall, 1870/71, Karikatur in Zentrums-Album, S. 3. Termite: Radikal, nicht palliativ, (1872), in: Wilhelm Scholz: Bismarck Album des Kladderadatsch, 1840– 1890, Berlin 1893, S. 69; schwefelige Jesuiten: Petition an den Reichstag, 1872, in Kladderadatsch, Zentrums-Album, 1912, S. 19. Die Metapher »infiziert« erscheint in Petitionen aus Köln, Marburg, Mülheim, Uerdingen, Boppard, Schleiden und Witten bei Bochum, nachgedruckt in »6th Report«, S. 262. Die Rolle des Protestantenvereins: Bachem: Vorgeschichte. Bd. 3, S. 252 f. Breslauer Petition in: Sechster Bericht, S. 261; rheinische Petitionen: ebd., S. 262, 263; jeder zivilisierte Staat: Petitionen von Breslau und Leipzig, ebd., S. 262; Wolfsgesetz: Karl Schlez von Brandenburg, zitiert

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Dieses waren Bilder und Argumente, die, mutatis mutandis, in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts grauenhaft geläufig werden sollten. Aber im Gegensatz zu den Juden war die katholische Minderheit zahlenmäßig nicht unbedeutend. Von Zentrumsabgeordneten aufgeschreckt, versammelten sich Katholiken aus jeder Ecke Deutschlands in den Städten – Osnabrück und Bremen im Norden; Essen, Duisburg, Krefeld, Barmen, Düsseldorf, Köln und Koblenz im Westen, Mainz, Freiburg, Würzburg, Eichstätt, München und Freiburg im Süden; Erfurt und Dresden in der Mitte und Breslau, Lissa, Schrimm und Braunsberg im Osten –, um Redner laut vorlesen zu hören, was ihre Landsleute über die Jesuiten, über ihre Pastoren und über sie selbst sagten. Und diejenigen, die sich selbst so beschrieben hörten, reagierten mit Entrüstung. Arbeiter- und Gesellenvereine, adlige Männer und Frauen, Pastoren und Domkapitel, Bruderschaften, Chöre, Burschenschaften und besonders die Dörfer und Pfarrgemeinden kamen dem Orden zu Hilfe und reichten im Herbst und Winter 1871/72 mehr als zehnmal so viele Petitionen ein wie jene, die sie angriffen.105 Die Liste der etlichen tausend Gruppen, die zur Unterstützung geeilt waren, umfasste mehr als acht sehr klein gedruckte, zweispaltige Seiten. Ihre Anstrengungen wurden verstärkt durch eine gleichzeitig laufende Kampagne gegen das neue Schulaufsichtsgesetz, die sich an den Preußischen Landtag richtete. Diese erbrachte mehr als neunzehntausend Petitionen mit über 326.000 Unterschriften; sie war die lebhafteste Petitionskampagne in Mitteleuropa seit 1848.106 Noch mehr als die Wahlen im Jahr zuvor brachten diese Petitionskampagnen die einfachen Wähler – katholische wie auch evangelische Christen – in einen direkten Kontakt mit ihren gewählten Vertretern und verstärkten so ihr Gefühl, mit dem Gesetzgebungsprozess verbunden zu sein. Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass im März 1871 zwei Drittel der katholischen Wähler nicht das Zentrum gewählt hatten. Einige der Wahlkreise – wie Sachrang, Riedering und Oberhaid in Bayern, hatten zwar für das Zentrum gestimmt, allerdings aus Gründen, die man kaum politisch oder sogar religiös nennen kann. Nicht einmal die katholische Presse hatte die Wähler einstimmig bei der ersten Wahl zum Handeln aufgerufen. Eduard Müllers kampflustiges Märkisches Kirchenblatt, das sich nie scheute, politische Themen aufzugreifen, hatte die Neugründung einer katholischen Partei im Dezember 1870 kaum erwähnt, die Wahlproklamation des Zentrums auf eine der hinteren Seiten verbannt und im Übrigen die Existenz der ersten allgemeinen Wahl ignoriert.107 Aber bereits in: Vierzehnter Bericht der Kommission für Petitionen, AnlDR (1872, 1/III, Bd. 3) DS 141, S. 608 ff. Rebläuse etc.: ein liberaler Akademiker zitiert in J. H. Kissling, Geschichte, Bd. 3, S. 58, und in Blackbourn: Progress, S. 149. Die apokalyptische Sprache beschränkte sich nicht auf die evangelische Seite. Der GA war voller Zitate aus dem Vaterland, München, die zusätzlich zu ihrer bösartigen und extremen Ausdrucksweise Prophezeiungen von Kriegen zwischen dem Norden und dem Süden zu reflektieren scheinen. GA Nr. 33, 8. Febr. 1874, S. 186. 105 Sechster Bericht, S. 263. Nicht jeder Priester verteidigte die Jesuiten, aber jene, die dies nicht ausdrücklich taten, wie zum Beispiel Kaplan Moser, der Leiter des Essener Christlichen Arbeitervereins, verloren fast augenblicklich ihren politischen Einfluss. Möllers: Strömungen, S. 194. 106 Marjorie Lamberti: State, Society and the Elementary School in Imperial Germany, New York und Oxford 1989, bes. S. 43 f. 107 Norddeutschland, MK Nr. 3, 21. Jan. 1871, S. 23 f.

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wenige Wochen später, als die ersten Presseberichte über angefochtene Zentrumssiege erschienen, begann sich die Stimmung zu verändern. Die sich gegenseitig aufschaukelnde Dynamik von Kampagnen und Gegenkampagnen, Petitionen und Gegenpetitionen im Winter 1871/72 war sowohl für katholische als auch evangelische Christen die erste wirklich gesamtdeutsche Erfahrung mit der Politik der Massen seit 1848/49. Dies war eine Mobilmachung. Doch anders als 1848 machten sie gegeneinander mobil. Die Gegner des Zentrums wurden durch diese starken Reaktionen zwar erschüttert, aber nicht abgeschreckt. Gerade die Tatsache, dass hunderttausende Katholiken sich unter einer »einheitlichen Leitung« organisiert hatten, bewies schließlich die Allgegenwart der Macht der Jesuiten. Die katholische Meinung wurde als höchst artifiziell abgetan, die schiere Anzahl der Petitionen spreche gegen sie, da »sogar die Steine … gesprochen« hätten.108 Eine Prüfung der Ursprungsorte der Petitionen erhärtet zunehmend den Verdacht der Liberalen, dass der Klerus benötigt wurde, um die Steine zum Reden zu bringen. Die Verteilung der Absender auf der Landkarte stimmte bei Weitem nicht mit der der katholischen Bevölkerung in Deutschland überein. Außer in Schlesien waren die Katholiken östlich der Elbe nur nominell vertreten: Mit hoher Wahrscheinlichkeit war dies ein Resultat nicht nur der dünnen Besiedlung und aller Folgen, die diese für die politische Organisation mit sich brachte, sondern auch der relativen Seltenheit von Priestern im Osten. Aus den bayerischen Großstädten, wo sich eine gründliche Planung bezahlt machte, trafen die Petitionen massenweise ein, aber aus den mittelgroßen und Kleinstädten gab es bemerkenswert wenige. Die bayerische Provinz, wo ein Pastor an einem Nachmittag in einem Weiler viele Unterschriften sammeln konnte und wo wenige andere Honoratioren ihm in die Quere kamen, war andererseits stark überrepräsentiert.109 Für Westfalen, das ebenfalls mit Priestern wohl versorgt war, galt das Gleiche. In der Tat schickte der 1. Wahlbezirk von Münster dreimal so viele Petitionen wie das gesamte Großherzogtum Baden, eine Region mit mehr als der neunfachen Anzahl an Katholiken, aber mit einem ausgesprochenen Priestermangel.110 Die Petitionskampagne war also dort stark, wo der Klerus stark war: ein weiteres Argument für Sartoris »Organisationshypothese«. Da die Geistlichen generell als Jesuiten dargestellt wurden, kann ihre erste Reaktion als Selbstschutz betrachtet werden. Aber als sie einmal mobilisiert waren, richtete sich ihr Augenmerk auf den Reichstag. Die geographische Verteilung der klerikalen Macht mag selbst ein Abbild eines anderen, tatsächlich etwas rätselhaften Faktors sein, den wir mangels 108 Zitate: Gneist: Verbot, Spalte 1223; Wagener: Jesuiten-Petitionen, Spalte 1147. 109 Die überwältigende Mehrheit der bayerischen »Städte« (d. h. Orten mit über 2.000 Einwohnern) war nicht vertreten und die weitaus größte Zahl der Petitionen, in die Hunderte gehend, kam aus Orten unter 5.000, besonders aus solchen unter 1.000 Einwohnern. Zum zahlenmäßigen Verhältnis von Priestern und Bevölkerung siehe Anderson: Limits, S. 647 ff., bes. 651 ff.; Blaschke: Kolonialisierung, S. 107. 110 Meine Rechnung. Zum badischen Klerus, der weniger Autonomie besaß als seine preußischen Kollegen: Barbara Richter: Der Priestermangel in der Erzdiözese Freiburg um 1850. Ursachen und Lösungsversuche durch Pastoralvertretung aus der Diözese Rottenburg, Freiburger Diözesan-Archiv 108 (1988) S. 429 ff.; I. Götz v. Olenhusen: Ultramontanisierung, 1991, S. 64 ff.

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eines besseren Namens Tradition nennen müssen. Denn zusätzlich zur bayerischen Provinz scheinen zwei Regionen mit ungewöhnlicher Intensität an der Petitionskampagne teilgenommen zu haben. Die hessischen Territorien um die Stadt Mainz waren die eine. Die zweite, die über mehrere politische und Verwaltungsgrenzen reichte, war eine Kette aneinandergrenzender Wahlkreise, die entlang der deutschen Westgrenze lagen: im Norden beginnend mit dem südwestlichen Zipfel Oldenburgs, durch das westfälische Emsland, das vor 1866 zu Hannover gehörte, weiter durch die Regentschaft Münster, von Kleve-Jülich an durch das westlichste Rheinland und schließlich bis zum Moseltal. Dies war die Pfaffengasse, Deutschlands schwarzer Streifen, der früheren Kirchenstaaten entsprach, die bis 1803 entlang der westlichen Grenze des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation bestanden hatten. Diese in der Petitionskampagne prominente Kette von Wahlkreisen würde später die wahren Bollwerke des politischen Katholizismus bilden, Bollwerke, deren Überbleibsel bis in die Bundesrepublik Konrad Adenauers und Helmut Kohls Bestand haben würden.111 Nur eine katholische Region schickte überhaupt keine Petitionen: das sogenannte Reichsland, die annektierten Provinzen Elsass und Lothringen. Demographisch waren diese Gebiete durch genau jene Indikatoren charakterisiert, die sonst für eine hohe Beteiligung sprachen. Sie waren gut mit Priestern versorgt, ihre Bevölkerungsdichte gehörte zu den höchsten in Deutschland, was die Kommunikation erleichterte, außerdem war dort die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Dörfern mit unter zweitausend Einwohnern konzentriert, also genau, wo die Pastoren am leichtesten ihren Willen durchsetzen konnten. Falls die Petitionsbewegung nur die Interessen des Klerus widergespiegelt hätte, so hätte diese Gegend gut vertreten sein müssen. Aber das Fehlen von Stimmen aus dem Reichsland deutet auf die zweite wichtige Voraussetzung der Petitionskampagne hin: die Existenz einer Person, die die Petitionen in Berlin entgegennehmen konnte. Denn die Initiative für die Petitionen scheint nicht aus der Provinz gekommen zu sein, sondern von der parlamentarischen Delegation des Zentrums. Der Grund war vielleicht, dass diesen Männern, die Sitze im Petitionsausschuss hatten, tagtäglich die gefährliche Dynamik der Anti-Jesuiten-Kampagne vor Augen stand. Elsass-Lothringen, wo bis 1874 nicht gewählt wurde, war im Reichstag nicht vertreten. Und ohne die Führung durch politisch interessierte Abgeordnete blieb der Klerus stumm, der sich einer einheitlichen politischen Organisation noch eine weitere Generation lang widersetzen sollte.112 Der sichtbare Beweis, dass der Klerus Steine sprechen lassen konnte, verstärkte das Krisengefühl der Antiklerikalen. Die Liberalen waren überzeugt: »Der Kampf ist da, er ist uns aufgezwungen …« Das Deutsche Reich befand sich »dem Jesuitenorden und der jetzt in Rom herrschenden Partei gegenüber im 111 Die Verbindung zwischen den Hochburgen katholischer Wahlstimmen und den alten Kirchenstaaten wird von Henke gezogen in: Hochburgen, S. 348 ff. 1907 notierte RR v. Horn, dass der Teil der Regentschaft Trier, der einst zum Kurfürstentum Trier gehört hatte, immer noch völlig unter dem Einfluss des Klerus stehe. Horn-Bericht, LHAK 403/8806. 112 Die individualistische, lokal gesinnte Haltung der Geistlichen in Elsass-Lothringen hielt auch noch an, als die Region 1919 wieder Frankreich angeschlossen wurde. Hiery: Reichstagswahlen, S. 92 ff.

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Kriegszustand« und es handelte sich darum, »die allerdringendste, brennendste und nächste Gefahr von dem Deutschen Reiche abzuwenden«. Die Situation war »im eigentlichen Sinne ein Nothstand«. Vertreibung war die einzig mögliche Antwort. Die Sammlung der von Papst Pius … geächteten Irrtümer von 1864, die jemand im Reichstag zu verteilen sich die Mühe machte, lieferte den Beweis, mit dem alle Zweifel an den Maßnahmen der Gesetzgebung oder der Politik behoben werden konnten. Und jene, die Einspruch gegen das Verbot ganzer Kategorien von Menschen erhoben, wurden mit beruhigenden Referenzen an den deutschen Nationalcharakter getröstet. Gneist gab nach zwanzig Jahren der Anwesenheit von Jesuiten in Deutschland zu: »Nachdem diese 20 Jahre um sind, kann ein gewissenhafter Gesetzgeber nicht sagen: in 24 Stunden nach Publication des Gesetzes ist es strafbar, Jesuit zu sein … Wir geben solche Gesetze nicht, eben weil wir Deutsche sind, weil wir eine der seltenen Nationen sind, die wirklich Achtung und Ehrfurcht vor gewissenhafter Ueberzeugung haben, und namentlich weil der evangelische Staat uns in dieser Achtung erzogen hat.«113 Drei Tage später jedoch erließ der Reichstag solch ein Gesetz, mit Professor Gneist an der Spitze. Es sei Zeit für den gesunden deutschen Volksgeist, »diese Schlange« von sich zu werfen, verkündete er jetzt, denn man könne sich nicht mehr darauf verlassen, dass »Selbsthilfe« in Form der Presse und politischer Vereinigungen imstande sei, die Jesuiten aus der Politik zu vertreiben. Das war eine Aufgabe, die nur der Staat selbst erfüllen konnte. Bei der Handvoll Nationalliberaler, die davor zurückschreckten, das erste Ausnahmegesetz des Deutschen Kaiserreichs zu unterstützen, ist es sicher von Bedeutung, dass Eduard Lasker und Ludwig Bamberger unter diesen prominent hervorragten: beide waren Juden.114 Die Hysterie über die Jesuiten beschränkte sich selbstverständlich nicht auf Deutschland. Auch in Frankreich wurde der Orden wenige Jahre später verboten; die helle Aufregung umfasste alle klassischen Elemente einer Verschwörungstheorie.115 Aber in Deutschland, wo die Zahl der Jesuiten nicht einmal ein Zwölftel derjenigen der französischen Jesuiten ausmachte, war der Bezug der Phobie zu irgendeiner Art von Realität geringer, während ihre Verbindungen zu den Gründungsmythen der nationalen Identität beträchtlich stärker waren. Denn genau wie Königgrätz in den Augen vieler Nationalisten den Ausgang des Dreißigjährigen Krieges militärisch rückgängig gemacht hatte, sollte das Jesuitengesetz ihn kulturell umkehren. Die Gewaltausprägung der Anti-JesuitenRhetorik war das Produkt einer instabilen Mischung aus Euphorie und Hysterie, beschleunigt durch die nationale Vereinigung, die Erregung über das allgemeine 113 Zitate, der Reihe nach: F. Meyer (Thorn): Verbot, Spalte 1191; Wagener: Verbot, Spalten1178 und 1180; Hohenlohe-Schillingsfürst: Jesuiten-Petitionen, Spalte 1158; Gneist: Verbot: Spalte 1196. Ausgezeichnet zu Liberalen im Kulturkampf: Langewiesche: Liberalismus, S. 180 ff. 114 Wie der Historiker des Zentrums, Karl Bachem, am Ende der Weimarer Republik pointiert betonte: Vorgeschichte, Bd. 3, S. 254. Zitiert: Gneist in: Verbot, Spalte 1225. Blackbourn nennt irrtümlich Bennigsen statt Bamberger: Marpingen, S. 29 Anm. 88. 115 Geoffrey Cubitt: The Jesuit myth: conspiracy theory and politics in nineteenth-century France, Oxford und New York 1993; Ralph Gibson: A Social History of French Catholicism 1789–1914, London und New York, 1989, S. 109, 111.

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Wahlrecht sowie die Aussicht auf den endgültigen und entscheidenden Sieg in dem, was man jetzt als den Kampf um die nationale Seele ansah. Der evangelische Rückschlag hatte begonnen.116 Wir haben gesehen, dass die Debatte über die Anti-Jesuiten-Gesetzgebung Deutschlands erste Mobilmachung war – und zwar in erster Linie eine der katholischen Geistlichkeit. Aber da es nur sehr wenige Jesuiten gab, hatten die Gesetze keine erkennbare Auswirkung auf die Wahlsiege des Zentrums. Die anderen legislativen Hilfsmittel erwiesen sich ebenfalls als unwirksam, um eine Einmischung der Priester in die Politik zu unterbinden. Durch das Verbot der Großen (d. h. öffentlichen) Exkommunikation suchten die verschiedenen Kirchenstrafengesetze den Klerus daran zu hindern, Menschen, die gegen das Zentrum gestimmt hatten, der sozialen Ächtung preiszugeben. Auf Dorfebene jedoch blieb die Exkommunikation stets öffentlich, da jeder sehen konnte, wer sonntags an der Kommunionbank fehlte; und die Ächtung wurde, wie jeder Ortsansässige wusste, von der Dorfgemeinschaft ausgesprochen, nicht durch den Priester.117 Das preußische Schulaufsichtsgesetz erwies sich ebenfalls als ungeeignet. Obwohl die Schulaufsicht den meisten katholischen Pfarrern nach 1872 entzogen worden war, betätigten sich an vielen Orten die Volksschullehrer weiterhin als die politischen Adjutanten des Pastors; Schulkindern wurden auch jetzt noch die Zentrumsstimmzettel mit nach Hause gegeben und sie wurden beauftragt, die Wahlaufrufe der Zentrumsgegner zu zerreißen.118 Die »ewige Rivalität«, wie Theodor Fontane sie beschrieb – »Jeder Schulmeister schulmeistert an seinem Pastor herum und jeder Pastor pastort über seinen Schulmeister« – war aus den katholischen Dörfern fast völlig verschwunden. Sie verstummte nicht nur aufgrund der lang anhaltenden Beziehungen, die früher durch das Verhältnis von Vorgesetztem und Untergebenem entstanden waren, sondern auch durch die jetzt von einer mobil gemachten Gemeinde erzwungene Solidarität.119 Wo der Lehrer anderer Überzeugung war, konnte er es für gewöhnlich nach 1872 genauso wenig mit dem Pfarrer aufnehmen wie vorher.120 Die Situation änderte sich mehrere Jahrzehnte lang nicht.121 116 Der »Krieg« wurde als ultimativer Test der neuen Nation angesehen: »Dies Deutsche Volk, dies Volk voll Glauben, voll Treue, voll Zucht und Sittlichkeit, das heute in den Kampf zieht gegen die Jesuiten, dies Volk, wie es Paris bezwungen hat, wird auch die Jesuiten und den Vatikan überwinden.« Dove (NL) in: Verbot, Spalte 1215. Aufschlussreich zum Jahre späteren Widerstand gegen die Rückkehr der Jesuiten: Smith: Nationalism, S. 104 f., 122 ff. Es brauchte drei Jahre des realen Krieges, der 1917 in seine letzte Phase eintrat, bis die evangelischen Christen sich stark genug fühlten, mit Jesuiten zu leben. 117 Rust: Reichskanzler, S. 61. 118 Horn-Bericht, LHAK 403/8806, S. 13; Arnsberg 2, AnlDR (1907/9, 12/I, Bd. 19) DS 636, S. 4305; Hiery: Reichstagswahlen, S. 418; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 38. 119 Theodor Fontane: Stechlin, München, o. D. [1898], S. 57. Zu den »frères ennemis« in Frankreich siehe Weber: Peasants, S. 362 f. Es gab natürlich viele Ausnahmen: Kammer: Kulturkampfpriester, S. 102 f., und Schloßmacher: Düsseldorf, S. 151, berichten über Lehrer, die Priester den Behörden meldeten. Und im konfessionell gemischten Bezirk Gummersbach-Waldbröl waren Lehrer die Hauptwahlkämpfer (LT) für W. Hollenberg (NL), der selbst evangelische Pastor in Waldbröl und Kreisschulinspektor war – eine berufliche Stellung, die Lehrer zu Wahlzeiten beträchtlich behindern konnte. Müller: Strömungen, S. 174 f., 215 ff., 235. 120 Poschinger-Bericht, BAB-L R1501/14450, Bl. 185–185v. 121 Unterschiede in Württemberg nach der Jahrhundertwende: Blackbourn: Class, S. 128, 137.

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Was den Kanzelparagraphen betrifft, so bemühte sich der Staat anfangs sehr um dessen Einhaltung, indem er ausführliche Berichte von den Bürgermeistern darüber verlangte, wie sie ihre Aufsicht organisierten. Polizeibeamte und andere »geeignete Persönlichkeiten« wurden »in unauffälliger Weise« zur Überwachung in den Kirchen abgestellt. Aber nicht immer unauffällig genug. Der Oberbürgermeister von Düsseldorf berichtete, dass »die Geistlichkeit im Allgemeinen sehr vorsichtig« sei, um nicht Anlass zur Strafverfolgung zu geben. Selbst 1871 war den Priestern der Unterschied zwischen politischen Aktivitäten im Zuge ihrer Amtsausübung, die ihrer Ansicht nach als illegitim einzustufen waren, und der freien Meinungsäußerung, zu der sie dasselbe Recht wie jeder andere hatten, vage bewusst gewesen. Der Kanzelparagraph verstärkte solche Vorsicht. Jetzt konnte es passieren, dass ein Priester seine Predigt abbrach, wenn er den Eindruck gewann, dass man ihn ausspionierte.122 Und die Polizei traf auf eine Mauer feindseliger Zeugen. Die Gemeindemitglieder sagten, sie hätten während der gesamten Predigt geschlafen oder sie hätten sie nicht verstanden. Ein Dorfbewohner im Kreis Bitburg antwortete auf die Frage, warum er sich nicht mehr daran erinnern konnte, was der Pastor gesagt hatte: »Ich will Euch etwas sagen, Herr Richter, mancher großer Herr geht in Trier aus der Dompredigt und weiß nicht mehr, was der Herr gepredigt hat, dann kann man es einem dummen Bauern nicht übel nehmen, wenn er nach einem halben Jahre nichts mehr von der Predigt weiß.«123 Gleichzeitig benutzte der Klerus die potentielle Anwesenheit von Denunzianten zur Propaganda. Hier ein Kaplan von der Saar im Jahre 1912: Ich habe vor einigen Tagen eine anonyme Zuschrift erhalten, in der ich ersucht werde, am heutigen Tage als dem letzten Sonntag vor der Wahl keine Wahlrede hier zu halten, weil ein Herr in der Kirche sei, der aufpassen und kontrollieren werde. Diesem Herrn bemerke ich, daß ich 1. keine Wahlreden in der Kirche halte, weil sie hier nicht hingehören, 2. daß ich die Kanzel zu solchen Dingen nicht mißbrauche, und 3. (zu der Gemeinde gewendet), wißt Ihr ja längst, was Ihr zu tun habt! 124

Tatsächlich erwies sich der Kanzelparagraph als derart wirkungslos, dass bereits 1874 Robert von Mohl vorschlug, ihn zu verschärfen und auf andere Gebiete der Wahlaktivitäten von Priestern auszudehnen. Inzwischen aber war der Kulturkampf in vollem Gange, mit genügend Gesetzen zur Ausbildung und Ernennung des Klerus, um die katholische Geistlichkeit auch ohne die Hilfe des Kanzelparagraphen ständig in der Furcht vor einer Verhaftung zu halten. Von Mohls Vorschlag war jetzt keine Rede mehr. Zwar waren Verurteilungen wegen des Paragraphen selten, doch als die Kommission, die das Gesetz 1906 überprüfte, 122 Z. B. Oppeln 7, AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 69, S. 150 f. Zitat nach: Schloßmacher, Düsseldorf, S. 150 f. Die einzige Region, in der der Kanzelparagraph mit Nachdruck durchgesetzt worden zu sein scheint, selbst in den 1870er Jahren, war Hohenzollern. Rösch: Kulturkampf, S. 1–128. 123 Zitiert in Kammer: Kulturkampfpriester, S. 110. 124 KölnZ Nr. 38, 12. Jan. 1912, in Anlage 17 über Trier 5, AnlDR (1912/14, 12/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3605.

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daher vorschlug, den Paragraphen fallen zu lassen, zeigte sich, dass dessen symbolische Bedeutung für die Liberalen zu groß war. So blieb der Kanzelparagraph bis 1953 bestehen.125

Zäsur »Die Religion ist in Gefahr!« Der Wahlslogan, der den Zentrumskritikern 1870/71 so lächerlich erschien, wurde in den Augen katholischer Wähler durch die antiklerikale Gesetzgebung bestätigt, mit der der Reichstag auf die ersten Siege des Zentrums reagierte. Und die Kontroversen darüber, ob man diese angeblich beschmutzten Mandate aufheben sollte, erhöhten das Gefühl der Bedrohung auf beiden Seiten. Die Wiederholung der für ungültig erklärten Wahl von Pleß-Rybnik war ein Vorzeichen dessen, was noch zu erwarten war.126 Während es fraglich ist, ob Missionsvikar Müller seinen ersten Wahlerfolg der klerikalen Intervention verdankte (27 der dreißig katholischen Pastoren in dem Wahlkreis hatten den Herzog von Ratibor unterstützt), ging der Neuwahl, die im Frühjahr 1872 stattfand, eine völlig andere Kampagne voraus. In dieser früher öden Provinz hielten Parteiorganisationen Einzug, Wahlveranstaltungen wurden abgehalten, Zeitungen veröffentlichten Appelle und der Klerus bekannte sich – teilweise auf Drängen von Mitbrüdern genauso wie von Gemeindemitgliedern – mit ganzer Macht zum Zentrum.127 Die Intensität der nationalen Debatte erhöhte die Einsätze vor Ort, die Wähler begannen, ihre Wahlmöglichkeiten »politisch« zu betrachten, das heißt, weniger in Hinblick auf den eigenen Vorteil und mehr im Sinne einer Gruppenidentität. Und als das symbolische Gewicht der Wahl wuchs, hörte diese auf, eine Wahl zwischen rivalisierenden Honoratioren zu sein, sondern wurde organisatorisch und ideologisch zur Entscheidung zwischen zwei politischen Parteien. Die katholische Mobilmachung beschränkte sich nicht auf Wahlkreise, wo frühere Zentrumswahlen annulliert worden waren. In Düsseldorf berichtete ein Regierungsbeamter im Dezember 1872, dass kaum eine Woche vergehe, ohne dass eine Massenversammlung zur Verteidigung katholischer Interessen einberu125 Zwischen 1894 und 1905 wurden nur vier Priester verurteilt. Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 701. Mohl: Erörterungen, S. 577 f. 126 Karl Wrazidlo, Pastor von Lendzin (Wählerschaft: 387), der sich plötzlich als Star gefeiert sah, weil er Müllers Triumph »beeinflusst« hatte, verlas seiner Gemeinde den Reichstagsbericht, in dem er so »böswillig« verleumdet wurde, und sammelte Unterschriften, um seinen guten Ruf wiederherzustellen. Wrazidlo war es nicht entgangen, dass der Berichterstatter des anklagenden Unterkomitees derselbe R. Gneist war, der 1869 den Antrag im Landtag gestellt hatte, die katholischen Klöster zu schließen. Gneist SBDR 24. Mai 1871, S. 913. AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 69, S. 165 f. 127 Kampagne von 1871: SBDR 18. April 1871, S. 252 ff.; 22. Nov. 1871, S. 428 ff.; Oppeln 7, AnlDR (1871, 1/I, Bd. 2) DS 69, S. 161 ff.; Müller: Organ der Aktionspartei, BK (1883) S. 82 f. Oppeln 7 war nicht der einzige schlesische Bezirk, in dem ein Teil des Klerus weiterhin K- und FK-Kandidaten unterstützt hatte. Müller: Kampf, S. 196. Einblicke in die Wahlwiederholung von 1872 ebd., S. 174 f., 175 Anm. 4, 249 f.; Rust: Reichskanzler, S. 616 ff.; Mazura: Entwicklung, S. 79, 90; Bismarck, SBHA, 31. Jan., 9. Febr. und 10. Febr. 1872, S. 565 f., 700 f., 722; MK Nr. 6, 19. Febr. 1872, S. 46 und MK Nr. 13, 30. März 1872, S. 103.

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fen werde.128 Düsseldorf war zwar nicht typisch, aber auch nicht einzigartig. Bei den Reichstagswahlen von 1874 stieg die katholische Wahlbeteiligung sprunghaft an. In den Wahlkreisen, wo Katholiken in der Überzahl, aber keine überwältigende Mehrheit waren, lag die Wahlbeteiligung im Durchschnitt bei 78,7 Prozent. Aber eine starke Konkurrenz war nicht die einzige Erklärung für eine hohe Wahlbeteiligung. Selbst in Wahlkreisen, in denen die katholische Mehrheit so groß war, dass ein Zentrumssieg leicht vorhersehbar war, lag die Beteiligung bei durchschnittlich 70 Prozent – Zahlen, die das Kaiserreich als Ganzes nicht vor 1903 erreichen sollte. Der Anteil aller Wahlberechtigten, die ihre Stimme für Zentrumskandidaten abgaben, erhöhte sich im Vergleich zu 1871 um 80 Prozent; ein Anstieg, der »dem großen Sprung vorwärts gleichkommt, den die Sozialdemokraten zwischen 1887 und 1890 verzeichneten«, wie Jonathan Sperber feststellte. Mehr als 77 Prozent der katholischen Wähler stimmten 1874 für das Zentrum, ein Anstieg von 61 Prozent gegenüber 1871.129 Das Resultat war eine tektonische Verschiebung in der politischen Landschaft des Kaiserreichs.130 Bereits 1830 war das politische Leben in Deutschland in zwei Lager aufgeteilt worden: Eines davon verteidigte die Regierung gegen deren Kritiker; grob gesagt: Rechts gegen Links. Bei den Wahlen zum Preußischen Landtag im Spätherbst 1870 hatte diese Konstellation sich aufzulösen begonnen. 1874, bei der zweiten nationalen Wahl, hatte das politische Spektrum sich umgruppiert, um Platz für eine dritte Gruppe zu machen: das Zentrum, zu dem sich die regional aufgestellten Protestparteien gesellten: die Bayerischen Patrioten, die Polenpartei und die »Klerikalen« in Elsass-Lothringen, alle katholisch und für gewöhnlich begleitet von der evangelischen Welfenpartei und der Dänenpartei. Alle diese Parteien, – »die Verlierer«, wie Sperber sie nannte, »in den Kriegen der nationalen Einigung« – vertraten Wahlkreise, die es vorzogen, mit den anderen Minderheiten ohne Rücksicht auf Ethnizität oder Religion zusammenzuarbeiten, anstatt mit den liberalen oder konservativen »Gewinnern«.131 Wenn andererseits irgendeiner dieser Außenseiter eine Chance hatte, einen Wahlkreis zu erobern, vereinigten sich die sogenannten »nationalen 128 Sperber: Catholicism, S. 210. 129 Sperber: Voters, S. 80. (An früherer Stelle hatte Sperber für 1874 angegeben, dass sogar 97 Prozent aller Katholiken in ausgewählten nordwestlichen Wahlkreisen Zentrum gewählt hätten. Catholicism, S. 256) In entsprechenden evangelischen Bezirken, d. h. wo die evangelischen Christen in der Mehrheit waren, aber weniger als 75 Prozent der Bevölkerung ausmachten, lag die durchschnittliche Wahlbeteiligung bei 50,3 Prozent. Meine Rechnung, erarbeitet aus Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 99 f. Ein direkter Vergleich der katholischen Wahlbeteiligung von 56,8 Prozent 1871 mit 70,7 Prozent 1874 könnte bei dem Anstieg der Wahlkreise von 87 auf 97 (wegen des Zugangs von 15 in Elsass-Lothringen 1874) irreführend sein. 130 Vgl. hierzu M. Rainer Lepsius, der behauptet, dass das Wählen im Kaiserreich ein mehr oder weniger automatischer Ausdruck von vier sozial-moralischen Milieus gewesen sei, die mit Ausnahme der Sozialdemokraten bereits vor 1871 (und vor der Industrialisierung) bestanden hätten. Lepsius: Parteisystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, hrsg. v. W. Abel u. a., Stuttgart 1966, S. 371 ff. Ich habe dieses Argument in: Windthorst, S. 192 ff., kritisiert, ebenso Thränhardt: Wahlen, S. 100; Kühne: Wahlrecht – Wahlverhalten – Wahlkultur, S. 508 ff.; Sperber: Voters, S. 3 f., 282 ff., und Rohe: Wahlen, bes. Kap. 2 und S. 81 ff. 131 Sperber: Voters, bes. S. 188.

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Parteien«, die Linke wie die Rechte, zu einer »Sammlungspolitik«.132 Tiefer als die Aufspaltung zwischen den drei Gruppen war die sehr viel grundsätzlichere Aufspaltung in zwei politische Nationen, deren Wähler von ihren Gegnern gegenseitig verachtet wurden. Die zeitgenössische Polemik stellte die Gegner der »nationalen« Parteien als »Reichsfeinde« dar. Die moderne Politikwissenschaft ordnet sie als »Peripherien« im Gegensatz zu »Zentren« ein. Die einfachste Unterscheidung – trotz all der Ausnahmen, die man für einzelne Individuen, Orte oder Wahlen machen könnte – ist die in Protestanten und Katholiken, Zuordnungen, die eigentlich weniger mit der Konfession als mit der politischen Identität zu tun haben.133 Obwohl sie auf bereits bestehenden kulturellen Unterschieden beruhten, waren diese Verwerfungslinien in ihrer Tiefe und ihrem Ausmaß wirklich neu. Wie Karl Rohe gezeigt hat, definierten sie trotz der bekannten Bezeichnungen liberal, konservativ und selbst Zentrum ein neues Parteiensystem.134 Das katholische Lager war nicht nur der Ausdruck höherer Wahlbeteiligungen einer früher nicht mobilisierten plebejischen Wählerschaft, obwohl das in Preußen ein wichtiger Aspekt war. (Der Anteil katholischer Wahlberechtigter in Preußen, die das Zentrum unterstützten, verdoppelte sich zwischen 1871 und 1874 von 23 auf 45 Prozent der katholischen Stimmen, während der Anteil, der liberale Parteien wählte, gleichbleibend bei elf Prozent lag.) Aber die Wahl des Zentrums bedeutete für einige eine echte Neuorientierung. 1874 war der früher konservative katholische Adel von Schlesien und Westfalen bereits zum »klerikalen« Lager übergelaufen.135 Katholische Industrielle, die zuerst die Freien Konservativen oder die Nationalliberalen unterstützt hatten, begannen nun auch zum Zentrum überzugehen, während das Bürgertum des Rheinlandes, das früher einmal ein Reservoir liberal-fortschrittlicher Wähler gewesen war, sich anschickte, das Gleiche zu tun, wenn auch der Prozess in einigen Städten erst nach der Jahrhundertwende abgeschlossen war.136 Außerhalb Preußens ging die Unter132 Möllers: Strömungen, S. 171; Anderson u. Barkin: »Mythos«, S. 489 f. Die ausführlichste und komplexeste Analyse der Zäsur im Parteiensystem ist Rohe: Wahlen. Kritisch gegenüber Rohes resultierender DreiLager-Analyse, da sie der anhaltenden Spaltung in Links und Rechts im evangelischen Osten nicht gerecht wird: Kühne: Wahlrecht – Wahlverhalten – Wahlkultur, S. 521 f. Wenig überzeugend finde ich, dass Kühne die »Hottentotten-Wahl«, in der sich die LL mit den Konservativen in einem einzigen »nationalen Lager« zusammentaten, als Ausnahme abtut. Denn Rohes Argument scheint vielleicht nicht geeignet, jeden politischen Alltag zu erklären, aber doch die starke Wirkung der »nationalen« Karte, wenn sie wie 1907 in ökonomischen und Verfassungsfragen als Trumpf ausgespielt wurde. 133 Neue konfessionelle Definitionen, die auf diesem Modell der Spaltung aufbauten, ersetzten die alten. So widersprach 1907 ein Priester im Wahlkampf der Behauptung der Regierung, »das Zentrum besetze die höchsten Stellen, da der Oberpräsident zwar katholisch sei, aber ›leider Gottes’ national«. Horn-Bericht, Kreis Bernkastel, LHAK 403/8806, S. 6. 134 Viele frühere Debatten ersetzt Rohe: Wahlen, bes. S. 63, 65, 71 f. In einigen Wahlkreisen, wie z. B. in Olpe-Meschede-Arnsberg in einer Nachwahl, in Baden, wo die Kulturkämpfe schon in den 1860er Jahren begonnen hatten, und in Bayern, wo die Zollparlamentswahlen die Frage nach der nationalen Identität aufgeworfen hatten, war diese neue Bipolarität bereits 1867 sichtbar gewesen. Zur kulturellen Kluft hinter der politischen Spaltung: Sperber: Catholicism, und H. W. Smith: Nationalism. 135 Rust: Reichskanzler, S. 621 f. Zahlen: Sperber: Voters, S. 168. 136 Einige blieben natürlich bei der liberalen Bürgertum. Zu Köln siehe Thomas Mergel: Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794–1914, Göttingen 1994; zu Frankfurt siehe Ralf Roth: Katholisches Bürgertum in Frankfurt am Main 1800–1914. Zwischen Emanzipation und Kultur-

Kapitel 4: Schwarze Magie I: Die erste Politisierungswelle

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stützung der Katholiken für die liberalen Parteien stark zurück, da das Ferment der Reichstagswahlkampagnen konfessionelle Treue auf nationaler Ebene einforderte, selbst dort, wo die örtliche Situation keinerlei Kulturkampfantagonismen widerspiegelte – wie der glücklose Wahlkampfmanager eines erfolglosen reichstreuen Kandidaten in Württemberg 1878 klagte. Obwohl der Prozess dort länger dauerte und weniger gründlich ablief, zeigte in Baden und Hessen das Wahlverhalten dieselbe Spaltung der Gesellschaft.137 Sobald die Umorientierung stattgefunden hatte, war die neue Konstellation außerordentlich beständig. Das Jahr 1874 zeigte ein Erfolgsniveau, das das Zentrum nie mehr unterschritt – und nachfolgende Wahlen brachten ihm gelegentlich bis zu 15 zusätzliche Mandate. Dank der regionalen Konzentration der katholischen Bevölkerung blieben der katholischen Partei von den 91 Wahlkreisen, die sie 1874 gewann, 73 auf Dauer erhalten. 73 sichere Sitze in einem Reichstag von insgesamt 397 waren ein enormer Vorteil; es gab nur 31 andere, und die waren unter verschiedenen Parteien aufgeteilt, von denen die Polenpartei, die für gewöhnlich mit dem Zentrum stimmte, den Löwenanteil erhielt: nämlich 13. Obwohl die Wahlbeteiligung der Katholiken auch sank, als der Kulturkampf seinem Ende entgegenging, schwanden die Anteile der Katholiken, die für die »nationalen« Parteien stimmten, noch rascher. Infolge der starken katholischen Präsenz in einigen Industriegebieten trug die Neuorientierung von 1870 bis 1874 entscheidend dazu bei, das Aufkommen eines dritten Lagers, der Sozialdemokratie, um fast zwei Jahrzehnte zu verzögern. Schätzungen ergaben, dass zwischen 1874 und 1881 97 bis 99 Prozent aller Katholiken, die ihre Stimme abgaben, das Zentrum wählten. Die mit der Identität verknüpfte Politik hielt nicht nur die katholischen, sondern auch die evangelischen Christen vom Sozialismus fern. Allein auf der Basis der Konfession eines Arbeiters wussten die Eisenbahnbeamten in Bochum, welchen ihrer Angestellten sie gefahrlos am Wahltag Passierscheine ausstellen konnten: Bei protestantischen Arbeitern konnte man darauf zählen, dass sie nationalliberal wählten.138 So verzeichnete die sozialistische Bewegung, nachdem sie zwischen 1867 und 1870 bemerkenswerte Fortschritte gemacht hatte, an der Ruhr angesichts der Neuorientierung einen Zusammenbruch. Das evangelische Duiskampf, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 46 (1994) S. 207 ff., und ders.: Stadt; zu Frankfurt siehe Langewiesche: Liberalismus, S. 356 Anm. 90. Rohe deutet vorsichtig und gegen Sperber an, dass das Z und nicht die NL der Erbe der liberalen Tradition des Rheinlandes gewesen sei: Wahlen, S. 82 f. Außerhalb Preußens: Sperber: Voters, S. 168 f. Manchmal wurde diese Neuorientierung erst mit dem Generationenwechsel vollzogen. Müller zeigt, dass die Gewinne des Z von den Liberalen im Rheinland noch lange fortgesetzt wurden, nachdem der Kulturkampf abgeklungen war, was das Bild einer Zäsur verstärkt, die eine ganze Generation zu ihrer Vollendung brauchte. Strömungen, S. 180, 221, 395. 137 Oberamtspfleger Haaf an Herbert Bismarck, Gaildorf, 6. August 1878, BAB-L R1501/14693; Bl. 58–61. Während Blackbourn: Class, die Konfessionalisierung der württembergischen Landespolitik erst gemeinsam mit den wirtschaftlichen Veränderungen der 1890er Jahre datiert, siedelt Schulte: Struktur, S. 75, 130 f., diese im Kulturkampf an, bemerkt aber, dass sie wegen des Versäumnisses des Zentrums, bei jeder Wahl Kandidaten aufzustellen, nicht vor 1907 abgeschlossen war. Schofer: Erinnerungen, S. 61. Zu Bayern: Thränhardt: Wahlen, S. 63. 138 WPK über Arnsberg 5, SBDR 20. April 1885, S. 1771. Sichere Sitze: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 243; Z-Stimme, Wahlbeteiligung und »nationale« Stimmen: Sperber: Catholicism, S. 254 – 255 Anm. 5 und S. 265, Tabelle 6.2; Sperber: Voters, S. 188.

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burg und das katholische Essen wurden nun typische Beispiele für den Konflikt zwischen dem »nationalen« (für gewöhnlich liberalen) Lager auf der einen und dem katholischen Lager auf der anderen Seite. »Um es zuzuspitzen«, schreibt Karl Rohe über die sozialistische Bewegung: »Bevor sie zu einem Opfer des Sozialistengesetzes werden konnte, war sie bereits zum Opfer des politischen Katholizismus und der durch dessen Aufstieg bewirkten Zweilagerbildung im Ruhrgebiet geworden.«139 Selbst in den neunziger Jahren, nachdem die Sozialdemokratie begonnen hatte, einige liberale Wähler nach rechts zu drängen und einen beträchtlichen Teil der übrigen für sich selbst zu gewinnen, blieb die Konfession als Kennzeichen politischer Zugehörigkeiten in Deutschland erhalten. Noch lange nachdem es die Umwälzungen der Industrialisierung überlebt hatte, blieb dieses Kennzeichen auch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs bestehen. Die Krisen der Hyperinflation zu Beginn der 1920er Jahre und die Wirtschaftskrise der 1930er konnten ihm nichts anhaben. Selbst noch 1994 blieb es das wichtigste Kriterium zur Prognose des Wahlverhaltens in der Bundesrepublik.140

139 Rohe: Wahlen, S. 87 f.; ders.: Alignments, S. 107 ff., 110 f.; ders.: Konfession, S. 109 ff.; ders.: Katholiken, Protestanten und Sozialdemokraten im Ruhrgebiet vor 1914. Voraussetzungen und Grundlagen ›konfessionellen‹ und ›klassenbewußten‹ Wählens in einer Industrieregion, in seinem: Vom Revier zum Ruhrgebiet. Wahlen. Parteien. Politische Kultur, Essen 1986, S. 43 ff.; Möllers: Strömungen, S. 90 f., 187, 231 ff.; J. D. Hunley: The working classes, religion and social democracy in the Düsseldorf area, 1867–78, in: Societas 4/2, Frühjahr 1974, S. 131 ff.; Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 464 ff., bes. 471 f., 554 f., 557 f., 565, 576. 140 Rohe: Elections, S. vii; hierzu auch seine »Introduction«, S. 3; Jürgen W. Falter: The Social Bases of Political Cleavages in the Weimar Republic, 1919–1933, in: Elections, Mass Politics, and Social Change in Modern Germany. New Perspectives, hrsg. v. L. E. Jones und J. N. Retallack, Cambridge/UK und Washington/D.C., 1992, S. 371 ff.; ders.: Hitlers Wähler, S. 350. Dies soll nicht die Tatsache leugnen, dass an einigen Orten, z. B. in Dortmund seit 1893, Klassen- und ethnisch-nationale Identitäten das konfessionelle Kennzeichen schwächten. Graf: Entwicklung, S. 27.

Kapitel 5: Schwarze Magie II: Fest im Glauben stehen

Unsere Herzen sind echt schwarz, und nie werden sie weiß, denn sie sind waschecht. Mayener Volkszeitung (katholisch), 1887

Politikwissenschaftler behandeln das »Einfrieren« des Parteiensystems nach einer ersten oder besonders wichtigen Wahl, als ob dies selbstverständlich sei. Aber sie haben bisher kaum zu klären versucht, warum Wähler ihre Wahlmöglichkeiten nur einmal nutzen konnten und dann nie wieder. Die Behauptung, dass Wahlkreise, die früher bereits umworben und gewonnen wurden, für spätere Bewerber nicht mehr »zu haben« sind, verlangt nach Erklärungen. Das Argument, dass Parteizugehörigkeit vom Vater zum Sohn übergeht und dass jede einzelne Wahl ein Gesamtergebnis früherer Wahlen ist, ergibt nur den Umriss einer möglichen Antwort.1 Gewiss bietet der Besitz eines Sitzes für eine Partei genau wie für Individuen Wettbewerbsvorteile, die helfen, im Amt zu bleiben. Aber diese Vorteile können in Deutschland in den 1870er und 1880er Jahren 1

»Einfrieren«: Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan: Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments: An Introduction, in: dies.: Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments. CrossNational Perspectives, New York 1967, S. 1 ff., bes. 3, 50, 54; Rokkan: Concept, S. 563 ff. Der anerkannte Status dieses Konzepts unter Politikwissenschaftlern wird u. a. demonstriert durch Sartori: Sociology, S. 90; Verba u. a.: Participation, S. 13; Kalyvas: Rise, S. 115, und impliziert von: Fish: Democracy, S. 79. Analoge Betonung einer prägenden »wichtigen Erfahrung«: Shefter: Party, S. 403 ff. Überprüfung der »Einfrier-Hypothese«: Bartolini u. Mair: Identity. Ergebnis früherer Wahlen: B. B. Berelson, P. M. Lazerfeld, W. N. McPhee: Voting, Chicago 1954, S. 315. Übertragung in der Familie: Pomper: Elections, S. 71. Zur »Parteiidentifikations-Theorie«: W. Phillips Shively: Party Identification, Party Choice, and Voting Stability. The Weimar Case, APSR 64/4 (Dez. 1972) S. 1203 ff. Rohe schafft es, den Gedanken an einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem ein gesamtes Parteiensystem entsteht, mit der Anerkennung der Tatsache zu verbinden, dass die Kontinuität von Strukturen der Abspaltung nicht automatisch entsteht, sondern kontinuierlich gepflegt werden muss. Wahlen, bes. S. 10, 13, 30.

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nicht überwältigend gewesen sein, da die Parteiorganisationen sich noch in einem rudimentären Stadium befanden und man für Wahlkämpfe noch relativ wenig Geld ausgeben musste.2 Eine Hauptursache dafür, dass die politische Landkarte 1871–1874 »einfror« geht auf den Kulturkampf zurück und auf das Wirken jener Kulturkämpfer, die nicht nur versuchten, die Wahlkampfaktivitäten der Priester einzudämmen, sondern auch anstrebten, die nachfolgende Generation des Klerus »national« zu machen. Dies sollte durch die sogenannten Maigesetze (1873) geschehen, die die Ausbildung und Ernennung der Geistlichen regelten, und außerdem durch Disziplinarmaßnahmen, die deren Fügsamkeit erzwingen sollten. Nicht nur von ihren Gegnern wurde wahrgenommen, dass diese Bemühungen auf nichts weniger als die zwangsweise Assimilierung der katholischen Kirche und ihrer Anhänger an die Werte und Normen der evangelischen Mehrheit des Reichs hinausliefen. Und da jede kulturelle Auseinandersetzung, wie die Protagonisten des Kulturkampfes wussten, letztlich ein Kampf um Identität ist, führte der Wunsch nach Selbstachtung die Katholiken – alte wie junge, männliche und weibliche, Geistliche und Laien, bedeutende und unbedeutende – dazu, an ihren Priestern festzuhalten und diesen Gesetzen zu trotzen. Eskalation und Widerstand wurden gleichsam rituell immer wieder in den Wahlkämpfen durchgespielt, während das Wählen selbst, besonders für Katholiken, zu einem großen Teil des Kampfes wurde. Nachdem das demokratische Wahlrecht zunächst manche Ängste ausgelöst hatte, die geradewegs zu den Kulturkampf-Gesetzen führten, stellte es jetzt sicher, dass die Grenzen der kulturellen Fronten ständig überwacht wurden und dass die Wahlkämpfe die Feindseligkeiten des Gründungsjahrzehnts des Reiches für die Zukunft festschreiben würden. Durch die Schaffung einer »universellen Symbolsprache« reduzierte der Wahlakt eine verwirrende Vielfalt von Themen »zu einer einzigen Wahl – Rot gegen Weiß, Links gegen Rechts«, wie es Jacques Juillard mit Bezug auf Frankreich ausgedrückt hat. Die in unserem Fall wirksame Aufteilung war Links und Rechts – gegen Schwarz.3 Aber wie kamen die Leute dazu, diese neue Sprache anzunehmen? Katholiken dazu zu bringen, auf die kulturelle Bedrohung und ihre verletzte Würde mit diszipliniertem Wählen zu reagieren, erforderte schließlich eine massive Übersetzungsarbeit. Diese war das Werk der »Kaplanokratie«.

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Die »Neuorientierungsterminologie« entstand aus Diskussionen über V. O. Keys Theorie über richtungsweisende Wahlen. Jerome M. Clubb, William H. Flanigan und Nancy H. Zingale: Partisan Realignment. Voters, Parties, and Government in American History, Beverly Hills, 1980; Richard L. McCormick: The Realignment Synthesis in American History, in: JIH 13 (Sommer 1982) S. 8 ff.; Allan J. Lichtman: The end of realignment theory? Toward a new research program for American political history, in: Historical Methods 15/4 (Herbst 1982) S. 170 ff. Jacques Juillard: Political History in the 1980s: Reflections on its Present and Future, in: JIH 12 (1981) S. 29 ff.

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»Kaplanokratie« Wo immer die Kulturkampf-Gesetze durchgesetzt wurden, wurden Katholiken jeglicher Couleur in eine Gegenposition zum Staat gebracht. Nicht nur Bischöfe und Pfarrer, sondern auch katholische Bürgermeister, Landräte und Polizeikommissare, die mit den Anforderungen der neuen Gesetzgebung nicht Schritt halten konnten, verloren ihre Posten. Laien gingen genauso wie der Klerus ins Gefängnis, abgeholt von Wagen, die sie sarkastisch »Kulturkarren« nannten.4 Das gemeinsame Märtyrertum schuf Solidarität, aber mit widersprüchlichen Konsequenzen für die Autoritätsstrukturen der deutschen Katholiken. Einerseits stiegen die moralische Statur und die Popularität des verfolgten Klerus in nie gekannte Höhen. Andererseits entfernte die Verfolgung die Geistlichen immer mehr von ihren traditionellen Machtpositionen. Während mehr und mehr unbeugsame Bischöfe und Priester aufgespürt, ins Gefängnis geschafft oder ins Exil getrieben wurden, verschob sich die Initiative zum Widerstand gegen den Kulturkampf von den Bischofssitzen und Pfarrhäusern auf gewählte Protagonisten: die politische Partei. Es konnte passieren, dass Tausende die Straßen zu Ehren eines zum Märtyrer erklärten Priesters säumten – ein Schauspiel, das sowohl die Verehrten als auch die Verehrer mit größtmöglichem Effekt aufführten. Ein Reichstagsabgeordneter konnte angesichts eines Bischofs im Gefängnis derart bewegt sein, dass er unfreiwillig auf die Knie fiel – was er, wie August Reichensperger vom Zentrum schwor, noch nie vor einem Menschen getan hatte. Aber symbolische Selbsterniedrigungen konnten kaum die Tatsache verbergen, dass sich innerhalb der katholischen Gemeinschaft ein Führungswechsel vollzog. Eine der fundamentalen Konsequenzen des Kulturkampfes war, dass die politischen Entscheidungen der katholischen Partei mehr Gewicht bekamen als die der Prälaten und dass sich die Laien daran gewöhnten, in Richtungsfragen ihren Parteiführern zu folgen. Aber – und dies machte die Beantwortung der Frage, ob das Zentrum eine »klerikale« Partei sei oder nicht, für Zeitgenossen, aber auch für Historiker unmöglich – der Autoritätstransfer auf die Partei verschaffte jenen Klerikern, die weder im Exil noch im Untergrund waren, einen enormen Anreiz, sich in dieser Partei auf jede mögliche Weise zu engagieren. Was sie auch taten.5 Dies führte zur »Kaplanokratie«. Hier scheint Deutschland einzigartig zu sein. Obwohl die Vermengung religiöser und politischer Themen bei den Wahlen im Zuge der Entwicklung westlicher demokratischer Institutionen überall eine wichtige Rolle spielte, was dem Klerus automatisch eine Führungsrolle verschaffte, zeigte sich nirgendwo sonst in Europa oder in Amerika der klerikale Einfluss derart verbreitet, anhaltend, koordiniert und effektiv wie in den katholischen Gegenden Deutsch4 5

Kammer: Kulturkampfpriester, S. 38, 45, 49, 76, 89, 94, 118, 122 f.; Sperber: Catholicism, S. 229 ff.; Säuberungen: Anderson u. Barkin: Mythos, S. 464ff; Ross: Enforcing, S. 456 ff. Reichensperger in: Ditscheid: Matthias Eberhard, S. 100, 104ff; Anderson: Kulturkampf, S. 109 ff.

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lands.6 Obwohl nur wenige Priester im Reichstag prominent hervortraten – der Kanoniker Christoph Moufang sowie der Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteler waren Ausnahmen –, waren nicht weniger als 91 der 483 Zentrumsabgeordneten während der Ära des Kaiserreichs Kleriker.7 In den östlichen Provinzen Schlesien, Westpreußen und Posen hätten das Zentrum und die Polenpartei Schwierigkeiten gehabt, genügend Kandidaten zu finden, wenn sie ihre Priester nicht hätten aufstellen dürfen.8 Geeignete Kandidaten waren in Elsass-Lothringen noch knapper, wo der Wunsch zum Boykott der deutschen Wahlen derart stark war, dass Kanonikus Moufang den Bischof von Straßburg bitten musste, die Initiative zu ergreifen. Das Resultat war, dass 1874 von den zehn elsässischen Abgeordneten katholischen Glaubens sieben Priester, unter ihnen zwei Bischöfe, waren.9 Das wahre politische Gewicht der Geistlichen lag jedoch außerhalb des Parlaments, in der ziehharmonikaförmigen organisatorischen Infrastruktur, über die sie kraft ihres Amtes verfügten. Etliche, die einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt waren, wurden zu politischen Vertrauensmännern, die Informationen und Ratschläge fast täglich zwischen der parlamentarischen Partei in Berlin und ausgewählten Mitgliedern der Hierarchie weitergaben, darunter auch einigen im Vatikan.10 Andere wurden zu Organisatoren – solcher halbpolitischer Vereine wie Genossenschaften, Gewerkschaften, Rechtshilfegesellschaften und des Volksvereins für das Katholische Deutschland. Letzterer war ein Vielzweckverband mit dem Ziel der Erwachsenenbildung; inoffiziell war er eine wichtige Hilfsorganisation des Zentrums und besonders seines linken Flügels. Bis 1913 wiesen bereits fast 70 Prozent aller Pfarrgemeinden in der Erzdiözese Freiburg eine Niederlassung des Volksvereins auf, die sich jeweils entweder weitgehend oder völlig unter klerikaler Führung befand.11 Einige Priester waren auch Journalisten. Nicht nur größere Publikationen des Zentrums, sondern die gesamte Sonntagspresse und die meisten örtlichen Käseblätter in katholischen Gegenden wurden in der Freizeit irgendeines überarbeiteten Priesters verfasst, herausgegeben und verwaltet. Und tatkräftige Persönlichkeiten wie der Badener Pfarrer 6

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In Irland verteilte der Klerus seine Anstrengungen auf konkurrierende Parteien,und war nur dann effektiv, wenn es starken Laien (O’Connell, Parnell) gelang, ihn einzubinden. Hoppen: Priests, S. 117 ff. Brillant zu der Frage, warum im katholischen Teil Europas allein der französische Klerus nicht seine eigene Partei organisierte: Kalyvas: Rise, S. 114 ff. R. Morsey: Der politische Katholizismus 1890–1933, in: Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803–1963, hrsg. v. A. Rauscher, München und Wien 1981, Bd.1, S. 110 ff., 119. Ich identifiziere 14 Priester unter den Z-Abgeordneten der ersten Legislaturperiode des Reichstags, einige davon in Nachwahlen gewählt. Selbst 1906 waren 20 Prozent der RT-Fraktion (außer P und Els) Kleriker, und 1912 noch 11 Prozent. Suval: Politics, S. 69 f. Ähnlich im Landtag in Bayern und Baden: Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 12. Neubach: Geistliche, S. 251 ff., 265, 276. Josef Götten: Christoph Moufang. Theologe und Politiker. 1817–1890. Eine biographische Darstellung, Mainz, 1969, S. 194; Graf: Beeinflussungsversuche, S. 195; Hiery: Reichstagswahlen, S. 139 ff. Wie aus den Aufzeichnungen von Alexander Reuß und Bischof Michael Korum hervorgeht. BAT 105/1490–1660 und BAT 108/817. Lepper: Cronenberg, S. 57–148, und ders. (Hrsg.): Katholizismus. Zum Volksverein, der 1914 bereits 805.000 Mitglieder hatte: Heitzer: Volksverein, bes. S. 124 ff., 148 ff., 161; und Klein: Volksverein, S. 37 ff. Götz von Olenhusen: Ultramontanisierung, S. 59.

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Theodor Wacker und der Trierer Kaplan Georg Friedrich Dasbach schafften es, in einer Person die Ämter des Volkstribuns, des Arbeiterführers, des Journalisten, des Verlagsunternehmers und des regionalen Parteibosses zu vereinen.12 Priester bildeten die Verbindungsglieder zwischen den verschiedenen Ebenen der Wahlangelegenheiten. Bereits bei den Wahlen von 1871 waren die Diakonate der Diözese Trier, von denen jede zwischen neun und 22 Gemeinden umfasste, de facto zu Parteiabteilungen geworden, die aus Bezirken (die Bezeichnung innerhalb der Kirche war »Definitionen«) mit jeweils mehreren Pfarrgemeinden bestanden. Das Trierer Diözesanblatt Eucharius veröffentlichte einen detaillierten Plan, der zeigte, wie Verbandsvorsitzende und Bezirkskapitäne (allesamt Priester!) die gewünschten Wahlergebnisse erzielen konnten.13 In Gegenden, wo es zu einer formalen Organisation erst später kam oder wo Laien die Initiative ergriffen, waren Geistliche immer noch unverzichtbare Vermittler des politischen Prozesses, und dies nicht nur während der Wahlkampagne selbst. In Baden galt: »Für den normalen katholischen Staatsbürger auf dem Lande war und blieb eben der Herr Pfarrer der Repräsentant der Zentrumspartei. Und der Pfarrer fühlte sich auch als solcher. An ihn gingen die Anfragen und Aufträge der Bezirks- und Zentralleitung der Partei; an ihn die Flugblätter und die Wahlzeitungen zur weiteren Verteilung, an ihn die Geldforderungen für diese und noch viele andere Dinge der Agitation.«14 Die Priester waren auch automatisch Mitglieder (man sprach von »geborenen Mitgliedern«) der Wahlkreis-Berufungskomitees, wo sie fast immer die größte der verschiedenen Gruppen bildeten. Als solche wirkten sie als Puffer zwischen Gruppierungen mit unterschiedlichen ökonomischen Interessen. Da ihr eigenes Ziel vor allem darin bestand, Wahlen zu gewinnen, ging es ihnen hauptsächlich darum, die Interessengruppen zu Kompromissen zu veranlassen.15 Selbst in Wahlkreisen, wo die Parlamentsdelegation des Zentrums die entscheidende Rolle bei der Kandidatenauswahl spielte, pflegte sich die Berliner Führung zuerst mit den Gemeindepfarrern zu beraten. Sofern aus der demographischen Zusammensetzung eines Wahlkreises deutlich wurde, dass für das Zentrum keine Aussichten bestanden, musste die Frage beantwortet werden, ob man dennoch einen eigenen Kandi12

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Ebenso Adolf Franz, Herausgeber der SVZ, und Paul Majunke, der das Berliner Blatt Germania herausgab und dessen Presseagentur Korrespondenz für Zentrumsblätter die gesamte katholische Lokalpresse mit Geschichten versorgte. Als die Zeitung Zwiastun Górnoslaski im Januar 1868 in Piekary gegründet wurde, war ihr Herausgeber ein Kleriker (»mit geringen Polnischkenntnissen«), ihre Redaktion umfasste drei Priester und einen Suffraganbischof und 300 ihrer 500 Abonnenten waren Priester. Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 26. Gut zur Dominanz des Klerus in der katholischen Literatur: Blaschke: Kolonialisierung, S. 118 ff. Steil: Wahlen, S. 97 f. Heinrich Köhler: Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1878–1949, hrsg. v. Josef Becker, Stuttgart 1964, S. 155, zitiert in: Zangerl: Courting, S. 227 f. K. Müller: Zentrumspartei, S. 850; K. Müller: Strömungen, S. 84 (Zitat), 353, 358, 361, 363, 371; für LTWahlen: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 104, 384. 1898 stammten von den siebzig Unterschriften auf der Wahlproklamation von Josef Lingens für Siegburg 44 von Priestern. Der Protest der Kraus-Gesellschaft: »Memorandum an die hochwürdigsten Herren Bischöfe Deutschlands über die Parteiagitation des Klerus«, DZJ Nr. 11, 17. März 1907. Ausnahmen u. a. das Z in Essen, das von Laien dominiert war und viele Jahre lang von dem Textilfabrikanten Mathias Wiese geleitet wurde – obwohl sein großer Rivale ein Kaplan war, Johannes Laaf, der die christlich-soziale Bewegung führte. Möllers: Strömungen. S. 263.

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daten aufstellen sollte – einen Zählkandidaten, dessen Stimmenzahl wenigstens die Stärke der Partei anzeigen würde – oder ob man doch besser eine andere Partei unterstützen sollte. Sicherlich konnte eine Entscheidung über derartige Fragen nicht den Laien vor Ort überlassen werden. Da diese dem Druck der Regierung eher nachgeben und auch Versprechungen der Regierung gegenüber aufgeschlossener sein würden als der Klerus, wären sie imstande, unsaubere Kompromisse einzugehen und so die militante Loyalität der Wähler aufs Spiel zu setzen, auf der doch die langfristige Macht der Partei letztlich beruhte.16 Es war unvermeidbar, dass diese Hochwürden, besonders dort, wo es wenige Honoratioren unter den Laien gab, Einfluss nicht nur durch ihre soziale Stellung und das Priesteramt ausübten, sondern auch, indem sie spezifisch politische Macht anhäuften, einschließlich einer Art Ämterpatronage. Ihre Entscheidung, Wahlkandidaten zu unterstützen, konnte einen Trottel zu einer bedeutenden Persönlichkeit machen – eine Verwandlung, die großartig humorvoll, aber nicht völlig unzutreffend, im »Briefwexsel« des unsterblichen Josef Filser von Ludwig Thoma beschrieben wird. Dieser fiktive Bauer muss unversehens erster Klasse nach München ins »Barlamend« fahren, um »zu Regiren«.17 Für lokale Ämter war die Unterstützung der Geistlichkeit sogar noch wichtiger als für das nationale und die Länderparlamente. Katholische Bürgermeister und Ratsherren, die ex officio als Mitglieder der örtlichen Wahlkomitees des Zentrums fungierten, fanden heraus, dass sie sich mit ihren klerikalen Gönnern gut stellen mussten, wenn sie ihre Positionen und die damit verbundenen Annehmlichkeiten behalten wollten. Wie ein katholischer Adliger einem Standesgenossen, dessen Hoffnungen auf eine Reichstagskandidatur durch das Wahlkomitee des Würzburger Zentrums zunichte gemacht worden, resigniert erklärte: die örtlichen katholischen Amtsträger seien nur durch den Klerus soweit gekommen. Die Verweigerung der kirchlichen Unterstützung bedeute ihren Absturz.18 Machte all dies das Zentrum zu einer »klerikalen« Partei? In politischen Fragen von nationaler Tragweite, sogar solchen, die die Konfessionen betrafen, nahmen diese Männer ihre Marschordnung von der Führung einer demokratisch gewählten Partei entgegen – ein bemerkenswertes Phänomen in einer religiösen Kultur, die in ihren Lehrbüchern den Klerus als »die Kirche« bezeichnete, und die Laien nur als »in der Kirche«.19 In der Politik der Länder sprechen die Quellen allerdings keine so klare Sprache. In den deutsch sprechenden Teilen Preußens und vielleicht sogar in Württemberg und Hessen blieben die politischen

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Windthorst an unbenannten Priester, 25. und 29. Okt. 1876; 5. und 9. Okt 1879; Priester an W., 30. Aug. 1882; W. v. Schorlemer-Vehr an Ziner, 13. Aug. 1889: BAK Kleine Erwerbung Nr. 596; Kaplan Kurtz an Baron Fechenbach, 28. Feb. 1882, BAK Nachlaß Fechenbach. Die schwierigen Verhandlungen eines Landrats im Oberwesterwald mit dem Pastor über katholische Unterstützung: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 232 f. Ludwig Thoma: Briefwechsel eines Bayerischen Landtagsabgeordneten (Filserbriefe), 2 Bde., München 1909–1912. Die Entscheidungsmacht des Klerus, wenn die örtliche Partei gespalten war: Monshausen: Wahlen, S. 329. Von Schauensee an von Fechenbach, 18. Okt. 1884, BAK Nachlaß Fechenbach. Anders in Frankreich: Charnay: L’église, S. 297.

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Entscheidungen größtenteils in der Hand von Laien. In Bayern jedoch war seit den neunziger Jahren, in Baden von Anfang an die Parteiführung klerikal. Aber der Priester behielt auch dort eine Schlüsselposition, wo die Entscheidungen von anderen getroffen wurden, selbst an Orten wie Marburg, wo die Katholiken einen relativ kleinen Anteil der Bevölkerung ausmachten, so dass ein Zentrumssieg undenkbar war. Der linksliberale Journalist Hellmut von Gerlach berichtete, wie er 1903 in Marburg die Unterstützung des Zentrums in einer Stichwahl gegen einen Konservativen suchte. Richard Müller, der Zentrumsabgeordnete für das nahe gelegene Fulda, der innerhalb seiner Partei links stand, brachte aus Gefälligkeit zu Gerlach die nötige Resolution durch. »Er bat mich jedoch, keine Versammlungen in den katholischen Dörfern abzuhalten, sondern nur die Pfarrer zu besuchen.« Gerlach erzählte diese Geschichte, um die Macht der Geistlichen zu illustrieren. Ebenso aufschlussreich ist aber, wie die aus Laien bestehende Führung des Zentrums den Klerus als Lautsprecher ihrer eigenen politischen Entscheidungen benutzte und damit Gerlach jeden unabhängigen Zugang zu ihrem Wahlkreis verwehrte. Da das deutsche Wahlsystem für einen Sieg die absolute Mehrheit erforderlich machte, blieb der strategische Wert dieser mehrere Tausende umfassenden katholischen Wählerschaft – weniger als 13 Prozent der Wahlberechtigten von Marburg – von großer Bedeutung, solange der Klerus und die Laienpolitiker zusammenarbeiteten, um Außenseiter daran zu hindern, diese Wähler in Versuchung zu führen.20 Die Rolle des Priesters nahm sich natürlich in den wirtschaftlich schwachen Weilern der Eifel ganz anders aus als in Metropolen wie Köln; sie war im Süden anders als im Norden, in konfessionell oder ethnisch homogenen Wahlkreisen anders als in solchen mit gemischter Bevölkerung. Aber in den Augen eines gewöhnlichen Kleinstadt-Katholiken war der Priester die Zentrumspartei. Deutschlands strenge Versammlungsgesetze verschafften dem Geistlichen einen Platz im Rampenlicht. Jedes öffentliche Treffen musste im Voraus von der Polizei genehmigt werden und der Veranstalter musste in der Gemeinde leben, in der die Versammlung abgehalten werden sollte. In jenen kleinen Städten und Dörfern, wo die Zentrumsanhänger wirtschaftlich von den Arbeitgebern abhängig waren, die Konservative oder Liberale sein konnten, war der Pastor häufig der einzige Anhänger des Zentrums, der es wagen konnte, seinen Namen als Veranstalter einzutragen.21 Daher waren Wahlkundgebungen von ihm abhängig. Wenn sich andererseits ein Priester der Bitte verweigerte, als Veranstalter einer Wahlkampfversammlung aufzutreten, entlarvte er sich selbst vor seinen Mitbrüdern und seiner Pfarrgemeinde als Verräter. Nicht nur war der Pastor oder sein Hilfspfarrer der unverzichtbare Vorsitzende der Wahlveranstaltung (und die Wähler konnten ihre Eintrittskarten im Rektorat abholen), sondern häufig war er selbst oder sein Vikar der Hauptsprecher. Solche Veranstaltungen wurden oft an Sonntagnachmittagen abgehalten und für eine Lokalzeitung 20 21

Gerlach: Rechts, S. 173 f. Schulte: Struktur, S. 120 ff., unterstützt meine Annahme. Veranstalter von Wahlveranstaltungen sämtlicher Oppositionsparteien wurden eingeschüchtert: hierzu f. Protest über Sachsen 20, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 247, S. 1102 f.

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war es nichts Ungewöhnliches, dreißig oder mehr Dörfer aufzuzählen, in denen Zentrumsveranstaltungen abgehalten werden sollten, und zwar mit dem Zusatz: »Beginn vormittags gleich nach dem Hauptgottesdienst. Lokal wird im Ort bekannt gegeben.«22 Es war kaum verwunderlich, wenn ein Priester, noch ganz in der Hochstimmung eines langen Wahlkampfnachmittags seine Abendpredigt mit den Worten begann: »Meine Herren!«23 Die Grenze zwischen politischen und seelsorgerischen Pflichten verschwamm, wenn ein Priester sich für die katholische Presse einsetzte. Das geläufige Bild des argusäugigen Pfarrers, der streng darüber wachte, dass auch ja keiner der Haushalte in seiner Pfarrgemeinde »schlechte« Presse abonnierte (und der das Leben derjenigen, die dies taten, schwer machte), war am Ende des Kaiserreichs genauso verbreitet wie zu Anfang und beruhte zweifellos auf Tatsachen. Gemeinsam mit den zahllosen kleinen Einmischungen in das Leben ihrer Gemeindemitglieder, zu denen sich die Geistlichen berechtigt fühlten, wurde der Versuch, den politischen Informationsfluss zu kontrollieren, als selbstverständlicher Teil ihrer traditionellen Verantwortung für deren moralische Gesundheit angesehen.24 Aber als der Kulturkampf sogar moralische Fragen zu politischen werden ließ, wurde die Beziehung des Klerus zur Presse »modernisiert«. Bedürftige Herausgeber drängten Gemeindepfarrer nicht nur, Spenden für ihre Zeitungen zu sammeln, sondern auch ihr eigenes Geld in die katholische Presse zu investieren – was jeder sechste Geistliche in Würzburg dann auch tat. Wo das finanzielle Überleben einer Zeitung derart eindeutig von der Zustimmung des Klerus abhing, war die Unabhängigkeit ihres Herausgebers natürlich begrenzt. »… von dem Momente an, wo er eigene Politik treibt, ist seine Stellung unhaltbar«, bemerkte ein Zeitgenosse. Obwohl sie streng genommen ein privates Unternehmen darstellte, war die katholische Zentrumspresse auch, wie der Herausgeber des Fränkischen Volksblattes dies behauptete, eine »Diözesaneinrichtung«. Tatsächlich war sie ein Handelsorgan für eine professionelle klerikale Lobby.25 Die Kölnische Volkszeitung, die von der Familie Bachem herausgegeben wurde, blieb eine Ausnahme. Eine der wichtigsten politischen Aufgaben des Pastors war Abonnenten für die katholische Presse zu werben. Die Modernisierung der Infrastruktur der Kommunikationsmittel, weit entfernt davon, die religiöse Identifikation zu 22

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Saarbrücker Volkszeitung Nr. 288, 16. Dez. 1911, und KölnZ Nr. 38, 12. Jan. 1912: Trier 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3604f; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 146; K. Müller: Strömungen, S. 196. Religion und Politik, in DNJ 3/47 (1911) S. 556 ff. H. W. Smith: Nationalism, S. 80 ff. Von Schauensee an Fechenbach, 18. Okt. 1884, BAK Nachlass Fechenbach; Zangerl: Courting, S. 223, 226; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 145. Dass einige dieser Blätter von der Diözese finanziert wurden, garantierte nicht die Zustimmung des Bischofs. SVZ 16. Okt. 1888, 21. Okt. 1888; Gossler an Bismarck, 22. Okt. 1888. US NA/AA/LT. Der Aufruf der Fuldaer Bischofskonferenz 1874, in jeder Diözese Komitees zur inhaltlichen Überwachung der katholischen Presse zu gründen, erregte den kaum verhohlenen Widerwillen der (in vielen Fällen geistlichen) Herausgeber, die empfindlich darauf bedacht waren, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Reiber: Tagespresse, S. 120 ff.; Ditscheid: Matthias Eberhard, S. 24. Umfassend: Michael Schmolke: Die schlechte Presse. Katholiken und Publizistik zwischen »Katholik« und »Publik«, Münster 1971.

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schwächen – wie es für Frankreich behauptet worden ist –, belebte diese. Bereits im September 1871 (sechs Monate nach der ersten Reichstagswahl) eröffnete die Donau-Zeitung ihre Abonnentenwerbung mit dem Slogan: »Nicht lutherisch werden, katholisch bleiben«.26 Jedes Vierteljahr, wenn die Abonnements erneuert werden mussten, predigten die Pastoren über die Notwendigkeit, in jedem Heim ein katholisches Blatt zu halten, und verkündeten, dies sei »nichts anderes als der Taufschein des Katholiken des 20. Jahrhunderts« und »die Eintrittskarte ins Himmelreich«.27 Ihre Bemühungen wurden in massiver Weise durch die Schleudern und Pfeile der nicht-kirchlichen Presse unterstützt, die die Katholiken täglich mit Schmähungen bedachte.28 1871 waren 15 Millionen Katholiken mit 126 Zeitungen versorgt worden. Innerhalb des folgenden Jahrzehnts verdoppelte sich die Anzahl der katholischen Blätter,29 und bald schon überflügelte die katholische Presse ihre Rivalen an Dichte und Verbreitung. Der unbarmherzige Druck, die Auflagenzahlen zu vergrößern, führte schließlich zu einem Wettbewerb der katholischen Lokal- und Sonntagspresse mit den Regionalblättern des Zentrums, der die Abonnements der letzteren auszutrocknen bedrohte. Dieses Problem bewegte Pastor Theodor Wacker dazu, direkt vor Badens heiß umkämpften Landtagswahlen 1905 seinen berühmt-berüchtigten »Wahlukas« an alle katholischen Pfarrhäuser in Baden zu versenden. Nachdem er genaue Anweisungen gegeben hatte, welche Maßnahmen zur Abonnentenwerbung für das Blatt »ihrer Partei« er von den badischen Kollegen erwarte – von speziellen Versammlungen bis zur Werbung von Tür zu Tür bei jedem Nachzügler –, verlangte er auch, »an der angemessenen Anregung es nicht fehlen zu lassen« bei jenen Getreuen in jeder Gemeinde, die dazu bereit wären, zwei Zeitungen zu abonnieren, »falls sie von der richtigen Seite dazu angeregt würden«.30 Es bedarf wenig Phantasie, um sich vorzustellen, wie die Freiheit des Wählers durch diese aggressive Verkaufstaktik kompromittiert werden konnte. Wenn ein Abonnement der Parteizeitung zu einer vom Gemeindepfarrer verliehenen »Auszeichnung« für religiöses Engagement wurde, die man an sechs Tagen der Woche vorweisen konnte, spielten die Schutzvorkehrungen der »geheimen« Wahl kaum noch eine Rolle – besonders dort, wo deren Geheimnisse so offen lagen wie im größten Teil Deutschlands. 26 27 28

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GA Nr. 221, 21. Sept. 1871, S. 1969. MK Nr. 2, 9. Jan. 1869, S. 11, empfahl, dass Katholiken die »politische« Presse insgesamt meiden sollten. Zitiert in: Bodewig, Wahlbeeinflussungen, S. 62 f. Jörg: Das Deutsche Reich, Bd. II, S. 767; Kissling: Geschichte, Bd. 2, S. 299; Graf: Beeinflussungsversuche, S. 184; Josef Lange: Die Stellung der überregionalen katholischen deutschen Tagespresse zum Kulturkampf in Preußen (1871–1878). Dissertation, Regensburg 1974, S. 35. H[einrich] Keiter: Handbuch der katholischen Presse, Essen-Ruhr, 3. Aufl. 1908. Nur in Württemberg, Baden und besonders Elsass-Lothringen, wo die legalen Hürden ungewöhnlich hoch waren, gab es eine katholische Presse nur in geringem Umfang: Hiery: Reichstagswahlen, S. 139, 143; Reiber: Tagespresse, S. 4, 135 ff., 139. In Berlin ging die Verbreitung allerdings nach dem Kulturkampf zurück: Jürgen Michael Schulz: Katholische Kirchenpresse in Berlin, in: Kaspar Elm und Hans-Dietrich Loock: Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Berlin und New York 1990, S. 427 ff. Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 70 ff.; Der katholische Geistliche auf der politischen Arena, in: DNJ 1/8 (1909) S. 90 ff.; Zangerl: Courting, S. 226.

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Die wichtigste Aufgabe der Geistlichen war die Sicherstellung der Verteilung der Zentrumsstimmzettel in ihren Gemeinden. Die Partei war in jedem Fall in hohem Grade auf sie angewiesen, wenn es auch örtliche Unterschiede gab. Eine Liste, die in den achtziger Jahren für Bentheim-Meppen-Lingen aufgestellt wurde, einen der »schwärzesten« Wahlbezirke in Deutschland, zeigt, dass mehr als 67 Prozent der für die Stimmzettelverteilung verantwortlichen Vertrauensmänner Priester waren. Selbst in Baden, am anderen Ende der Solidaritätsskala der Katholiken mit dem Zentrum, zeigte eine vom Großherzog in den frühen 1890ern in Auftrag gegebene Untersuchung, dass in den gut 800 Pfarrgemeinden des Landes 160 Pastoren entgegen den Wünschen der badischen Regierung für das Zentrum tätig waren. Wenn möglich, ließen die Priester die Stimmzettel durch ihre Kommunionklassen verteilen; und falls es nötig wurde, stellten sie sich selbst an die Tür des Wahllokals.31 Pastor Gother aus Eschenbach holte die Bauern um vier Uhr morgens am Wahltag aus ihren Betten, um ihnen die Zentrumsstimmzettel zu geben, bevor sie zur Arbeit aufbrachen. In Liptingen ging Pastor Schäfer hinaus auf die Felder, presste einen Stimmzettel in die Hand eines säumigen Bauern und bewachte dessen Pferd mit dem Pflug, während der Bauer zum Wählen ging.32 In einem Brief an die Kölnische Volkszeitung gab ein anderer Landpfarrer seinen Klerikerbrüdern einen praktischen Hinweis: »Aus meinem kleinen Ort sind ungefähr zwanzig Wähler seit längerer Zeit in der Industriegegend. Ihre Adresse habe ich durch Nachfrage leicht erhalten. Ich werde jedem eine Aufforderung zuschicken, doch ja in der Stichwahl für das Zentrum zu stimmen.« Diese Art von Kontaktpflege könnte man, so schlug er vor, »allgemein und systematisch« betreiben. Noch 1912 wurde der folgende handschriftliche Brief an Wähler in Posen geschickt: Lieber Herr N. N., Ich erlaube mir, Sie an die große Pflicht, die Sie als Katholik am nächsten Montag zu erfüllen haben, zu erinnern. Mit freundlichem Gruß Ihr ergebener Dekan Klamt 33

»Pflicht« meinte, wenn es in Erinnerungsschreiben wie diesem oder in Sonntagspredigten benutzt wurde, den Wahlgang, beziehungsweise »nach seinem Gewissen zu wählen« – eine Formulierung, die bei der Geistlichkeit wegen ihres Hinweises auf die Freiheit des Wählers beliebt war, während sie ihn gleichzeitig daran erinnerte, was »das Gewissen« von jedem guten Katholiken verlangte. 1907 mahnte sogar der Papst die Katholiken, dass »jeder nach seinem Gewissen 31

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Vertrauensmänner, Okt. 1884, SAO Dep. 62b; Hombach: Reichstags- und Landtagswahlen, S. 201; H. W. Smith: Nationalism, S. 52 ff.; Hiery: Reichstagswahlen, S. 418. Für irische Verhältnisse war das nicht ungewöhnlich: Hoppen: Elections, S. 247 f. Amtsvorstand Staufen an MdI, Baden, 1. Juli 1893, GLA 236/14901; 4/a; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 89, 109. EL 10, SBDR 16. Nov. 1906, S. 3691 ff.; Details: Hiery, Reichstagswahlen, S. 420 f. Posen 6, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 491, S. 548; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 142 f.

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zu wählen habe«. Zu einer Zeit, als man Politik, mit den Worten Gladstones, als »Moral groß geschrieben« betrachtete, konnten diese Hinweise auf das Gewissen nur eine Bedeutung haben – und falls dies jemandem entgehen sollte, warnte der Klerus gleichzeitig, dass »die Wahlentscheidung im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott zu treffen sei«.34 Ähnliche Erinnerungen an die Bürgerpflichten der Wähler, unterzeichnet mit dem Namen des Pfarrers und des Kirchenvorstandes, erschienen auf Flugblättern.35 Wenn man auch angesichts der vielen tausend Kanzeln und mehreren tausend Sonntagen nicht ganz sicher sein kann, so scheint es doch, dass der Begriff »Todsünde« (der einer Wahlkommission zum Verhängnis hätte werden können) selten ausdrücklich im Zusammenhang mit Wahlenthaltung genannt wurde. Bayern und Schlesien in den 1870ern und mehrmals zu unterschiedlichen Zeiten auch der Regierungsbezirk Trier bildeten hier Ausnahmen. Theologische Begriffe – mit ihren implizierten religiösen Strafen – wurden von den Laien auf der nationalen Führungsebene des Zentrums stets als peinlich empfunden, zumal die meisten der klerikalen Gesellschaft, in der sie sich zwangsläufig befanden, recht zwiespältig gegenüberstanden. Und der Klerus selbst war für gewöhnlich bereit, innerhalb eines weit gesteckten Rahmens jene Euphemismen zu benutzen, die die guten Sitten erforderten. Auch die Bischöfe bemühten sich, anders als ihre französischen Kollegen, das Wort »Sünde« im Zusammenhang mit Wahlen zu vermeiden, und zogen es stattdessen vor, die »Wahlpflicht« zu betonen. Aber das Gewicht dieser Pflicht wurde 1919 klar, als die Wahl zum ersten Mal auf einen Sonntag fiel: Der Erzbischof von Köln erklärte, dass die Wahlpflicht Vorrang habe vor der Pflicht, den Sabbat zu heiligen.36 Weil sie jedem sichtbar war und es sich im Prinzip um eine besondere – wenn auch seltsame – Art von Parteiorganisation handelte, konnte die Arbeit der Kaplanokratie, wie Zeitgenossen dies nannten, nicht automatisch zur Ungültigkeit einer Wahl führen.37 »Wahlbeeinflussung« musste, um ein Delikt zu sein, eine Einschränkung der Wahlfreiheit bedeuten, und zwar nicht dadurch, dass der Klerus politische Aufgaben erfüllte, sondern durch den direkten oder indirekten Missbrauch des geistlichen Amtes zur Ausübung politischen Drucks. Aber Druck war schwer zu beweisen. Es wurde von der Kirche selbst als schlechter Stil erachtet, wenn ein Priester von der Kanzel irgendwelche Namen nannte, sei es zum Lob oder zum Tadel – und das galt nicht nur für die Namen von Anwärtern 34

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Die päpstliche Mahnung von 1907, dass jeder nach seinem Gewissen wählen solle, bezog sich auf die spanischen Wahlen, wurde aber von Pastor Roth seiner Gemeinde im Kreis Prüm am 20. Januar 1907 verlesen. Horn-Bericht, LHAK 403/8806. Siehe auch Ketteler, Mainzer Journal 1871, Nr. 49, S. 1, wie zitiert in Graf: Beeinflussung, S. 172. Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 141. Anklage, dass ein Priester eine Stimme gegen das Zentrum als »Todsünde« und Wahlenthaltung als »schwere Sünde«, ja sogar »eine 3–fache Sünde« bezeichnete: Trier 6, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 323, S. 1329; »Gottesdienst?« KZ Nr. 27, 9. Jan. 1912, Anlage 7, Trier 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3605. Graf: Beeinflussungsversuche, S. 166 (Wahlpflicht), 172 f. (keine Erwähnung von Sünde), 183 (Todsünde); ähnliche Fälle: S. 172 f., in den 1920ern (pro BVP), den 1930ern (gegen NSDAP), den 1940ern und 1960ern (gegen KPD und SPD). Charnay: Les Scrutins, S. 73 Anm. 21. Aber hierzu Blackbourn: Class, S. 169; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 160. «Kaplanokratie«: J. Most (SD) SBDR 10. April 1878, S. 875; M. Weber: Parlament, S. 309, 313.

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auf ein öffentliches Amt.38 Das soll nicht bedeuten, dass dies nie passierte.39 Aber obwohl die Aufforderungen zum Wählen für gewöhnlich in vorsichtigen, allgemein gehaltenen Worten erfolgten, wurde das Fehlen einer ausdrücklichen Empfehlung dadurch abgemildert, dass diese Aufforderungen wiederholt in der zentrumseigenen Presse zitiert wurden. Die Prüderie, mit der der Klerus seine eigene Parteilichkeit mit der universalen und individualistischen Sprache des Gewissens zu bemänteln versuchte, ein bestenfalls dünnes Gewebe, hatte zum Ziel, die Vorwürfe zu entkräftigen, man habe Politik mit Religion verquickt.40 Die Gebete in der Messe vor den Wahlen der 1870er Jahre um einen guten Ausgang der Wahl wurden in den Achtzigern durch den Brauch abgelöst, das sogenannte »Allgemeine Gebet« am Ende der Messe »für eine wichtige Angelegenheit« zu verrichten und zum Rosenkranzbeten aufzufordern, damit »der bevorstehende hochwichtige Tag günstig ausfallen möge«, sowie die Messe am Wahltag mit der speziellen Widmung »für einen Gott wohlgefälligen Ausgang der Wahl« zu feiern. Nonnen wurden deutlicher, indem sie ihren Schulkindern befahlen, Vaterunser für einen Sieg des Zentrums zu beten, und während der Messe vor dem Hochaltar Stimmzettel austeilten.41 Die Ausuferung ihrer politischen Aufgaben bedeutete eine drastische Veränderung des Selbstbildes der Kleriker. Die Zeiten waren vorüber, in denen ein Priester sich frei fühlen konnte zu argumentieren, wie dies Professor Hergenröther in den 1860er Jahren getan hatte, dass es so etwas wie eine »katholische Politik« nicht gebe. Die Kapelle, die dankbare Freunde Pfarrer Theodor Wacker 1894 für seinen Pfarrhausgarten in Zähringen stifteten, war symptomatisch für die Veränderung. Die Kapelle war durch einen Vorhang geteilt. Auf der einen Seite des Vorhangs war die Chornische mit einem Bild der Unbefleckten Empfängnis. Die andere Seite, wo er Zeitung lesen und seine Artikel und Broschüren schreiben sowie mit Parteifreunden konferieren konnte, »diente dem Politiker zum Arbeitsraum in [sic] heißen Sommertagen«, wie es ein loyaler Adjutant unbefangen ausdrückte.42 Die Rolle des Klerus bei Wahlen und in der Politik des Zentrums wurde im Lauf der Zeit keineswegs unwichtiger. Im Gegenteil, als mit dem Abflauen des Kulturkampfes in den neunziger Jahren der kommunale Druck zur Konformität nachließ und der katholische Adel sich auch den konservativen Parteien zuwendete, wuchs das relative Gewicht der Geistlichkeit innerhalb des Zentrums. Die Landflucht in die Großstädte erschöpfte die Laienkader des Zentrums in 38

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Ketteler: Die Centrums-Fraktion. Regierungsbeauftragte berichteten, dass fast der gesamte Klerus im Kreis Prüm die Wahlkampagne von 1907 »mit allen Mitteln« einschließlich der Kanzel bestritt, aber »mehr oder weniger vorsichtig«. Horn-Bericht, LHAK 403/8806, S. 3. Hierzu jedoch Monshausen: Wahlen, S. 343. Hombach: Reichstags- und Landtagswahlen, S. 210; Kelly (Hrsg): Worker, S. 177; Trier 6, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 323, S. 1329. Z. B. »Katholischer Wähler«, in: Katholischer Volksbote Nr. 29, 21. Juli 1878. Solche Redensarten waren Hindernisse bei der Strafverfolgung: Campe: Wahlbeeinflussung, S. 36. SM Turban an Großherzog Friedrich, 31. März 1887, GLA 60/494, S. 2. Gebete: Steil: Wahlen, S. 121. Nonnen: Oppeln 4, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 798, S. 1096; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 149. Schofer: Erinnerungen, S. 72.

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den kleineren Städten und auf dem Lande, die seine Wählerbasis bildeten. Dies machte die Partei vor allem in Süddeutschland noch abhängiger von ihrem Netzwerk schwarz gewandeter Organisatoren. In Bayern bekam der Klerus ein Gewicht bei den Wahlen wie im Parlament, das in den 1860er Jahren kaum vorstellbar gewesen war. In Hessen erreichte der geistliche Stand den Höhepunkt seines Einflusses auf die Partei in der Zeit der Weimarer Republik – als das Zentrum selbst weniger auf die Treue der katholischen Bevölkerung zählen konnte.43 Dies galt selbst an Orten, wo aus ethnischen und ökonomischen Gründen die katholischen Stimmen geteilt waren, wie in Oberschlesien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als die polnischen nationaldemokratischen Herausforderer dort endlich 1907 dem Zentrum fünf Sitze abrangen, waren drei der Sieger aus der neuen Partei Priester.44 Die Schmähungen der Zentrumsgegner – die Karikaturen des Simplicissimus, die Soutanen zeigten, die wie Fledermäuse flatterten oder wie Mäuse wimmelten, Beschreibungen von Klerusgegnern wie: »die Maden krochen bei lebendigem Leibe heraus« –, die Grobheit dieser Äußerungen sollte uns nicht irreführen. Zumindest hatten die Kritiker Recht mit ihrer Beurteilung: vor Ort waren diese schwarz gekleideten Figuren die Zentrumspartei.45

Autorität und Widerspruch Die Effizienz dieses klerikalen Netzwerks stellte sicher, dass die militärischen Charakterisierungen der 1870er Jahre dem Zentrum noch lange nach der Vertreibung der Jesuiten aus Deutschland anhängen sollten. In den Augen seiner Gegner waren Pfarrhäuser, Diakonate und Bischofssitze »geradezu Kommandanturen« des Zentrums. Geistliche Orden waren »Hilfstruppen«. Der Volksverein für das Katholische Deutschland, der 1890 gegründet und überwiegend von Priestern geleitet wurde, war »die schwere Kavallerie der Zentrums zu Zeiten der Wahlkämpfe«, die selbst in Jahren ohne Wahlen »unter Waffen und im Drill … zur Rüstung … auf die kommenden Wahlkampagnen« stehe.46 Theodor Wacker, der junge Priester, der die Badener Partei in den 1880er Jahren 43

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Zu Bayern: Thränhardt: Wahlen, S. 81 f., 87; Hessen: H. G. Ruppel und B. Groß, Hrsg., Hessische Abgeordnete 1820–1933. Biographische Nachweise für die Landstände des Großherzogtums Hessen …, Darmstadt1980. Dem Hessischen Landtag gehörten bis nach dem Ersten Weltkrieg keine Priester an. Aber wenn man auch die Bedeutung von Ketteler bis 1877 und Moufang bis 1890 in Zentrumsangelegenheiten anerkennt, so sollte der Zusammensetzung der hessischen Fraktion aus Laien kein allzu großer Stellenwert beigemessen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkte Domkapitular G. Lenhart, Vorsitzender des Zentrums im Hessischen Landtag während der Weimarer Republik, in seinen Memoiren: »Ich kann mir eine neuzeitliche Zentrumsfraktion ohne geistlichen Beirat nicht denken.« Graf nimmt an, dass der eigentliche Höhepunkt der Macht der »Zentrumsprälaten« erst nach dem Ersten Weltkrieg kam. Graf: Beeinflussungsversuche, S. 197. J. Becker. Ende; S. 353 ff., 361 f., erklärt, warum. Schwidetzki: Wahlbewegung, S. 78 f. »Maden«: T. Held (NL), 1907. Später berichtigte er seine Bemerkungen dahingehend, dass sich die Welfen »als evangelische Männer in Zentrum und unter der katholischen Geistlichkeit so wohl gefühlt hätten wie die Made im Speck«. Zitiert in Erzberger: Bilder, S. 21, 24, 26. »Mäuse«: Der deutsche Michel, Simplicissimus VIII/1, (o. D., 1903–1904), Titelseite; Der Schwarzseher, ebd., XI/2, Nr. 27, 1. Okt. 1906, Titelseite. Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 9, 13, 69.

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wiederbelebt hatte, wurde als ihr »oberster Kriegsherr« und »Generalwahlmarschall« bezeichnet, der seine Kampagnen mit »Kommandogewalt« führe und einen »Wahlukas« an Mitbrüder erließe, die seine »Unterfeldherren« seien. Der jährlich im September abgehaltene Katholikentag wurde zum »Herbstmanöver«, während die katholischen Wähler zur Armee erklärt wurden. Ein Reporter an der Saar verglich das »Regiment schwarzer Schlafhaus- und Quartierleute«, das gegen ein Wahllokal anstürmte, sogar mit »Tartaren«.47 Dergestalt sahen ihre Gegner, die immer noch den Übergang von Honoratiorenkomitees zu einer Politik für die Massen zu bewältigen suchten, die gewaltige Wahlmaschine, die das Zentrum war. Ermutigte der Klerikalismus eine autoritäre politische Kultur? Die eigene Lehrmeinung der Kirche über die Strukturen legitimer Macht, die in jedem zeitgenössischen Seminarhandbuch oder Theologielexikon zu finden ist, scheint diesen Schluss zuzulassen. So streng war der päpstliche Hierarchiebegriff, dass der bloße Gedanke, legitime Vorschläge könnten von unten, also von der klerikalen Basis selbst kommen, vom Papst als Ausdruck »toller Denkwillkür« verdammt wurde.48 1906 bestätigte eine päpstliche Enzyklika, »Die Mehrheit hat kein anderes Recht, als sich führen zu lassen und als folgsame Herde ihren Hirten zu folgen.«49 Eine solche Sprache war schwer mit der Mündigkeit zu vereinbaren, die alle deutschen Parteien übereinstimmend als unentbehrlich für das Wahlvolk erachteten. Wenn man sich allerdings von den Lexika und Hirtenbriefen weg- und zur Praxis hinwendet, besonders zur Wahlpraxis, dann taucht die »tolle Denkwillkür«, dass jene an der Basis ein legitimes Mitspracherecht in der klerikalen Politik hätten, immer wieder auf. Die Priester selbst zeigten sich mehr als willig, die Befehlskette zu unterbrechen, wenn die Anweisungen von oben die Loyalitäten gegenüber ihrer Partei verletzten. Der ausdrückliche Wunsch des Papstes selbst wurde im Jahr 1887 massiv missachtet. Um Bismarck entgegenzukommen, befahl Leo III. dem Zentrum, die Militärgesetzgebung der Regierung zu unterstützen, die ein Budget für die Dauer von sieben Jahren (Septennat) notwendig machte. Als das Zentrum, das stets jährliche Budgets gefordert hatte, zweimal seine Unterstützung verweigerte, ließ Leo seine Anweisungen an den Klerus zu Bismarck durchsickern und erlaubte dem Kanzler, diese zu Wahlzwecken zu veröffentlichen. Dieser offene Konflikt zwischen Papst und Zentrum verur47 48

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»Eine Tartarennachricht«, Saar-Post Nr. 15, 19. Jan. 1912, Anlage 19, über Trier 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3606. Graf: Beeinflussungsversuche, S. 157 f.; Christoph Weber: Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus, in: Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, hrsg. v. W. Loth, Stuttgart 1991, S. 20 ff. 1906 erregte der Erzbischof von Fulda Aufsehen mit einem Hirtenbrief, der behauptete, dass Gott dem Priester »sogar Gewalt über sich selbst (d. h. über Gott) gegeben habe«. Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 43. Vehementer nos (1906). Noch 1960 versicherte der Osservatore Romano: Es »… muss jeder Katholik auf jedem Gebiete seines Lebens sein privates und öffentliches Verhalten den Gesetzen, Weisungen und Instruktionen der Hierarchie anpassen«. Erst 1966 beteuerte die Kirche in Deutschland durch die nordrhein-westfälischen Bischöfe, dass niemand mehr für sich selbst allein kirchliche Autorität in weltlichen Angelegenheiten beanspruchen dürfe. Dies muss eine Art katholisches Pendant zum Godesberger Programm der SPD sein. Zitate in Graf: Beeinflussungsversuche, S. 159, 161 f., 271.

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sachte einen enormen Skandal. Doch der Klerus, angeführt von den Bischöfen von Köln, Osnabrück und Trier, entschied sich für die Partei. Und jene wenigen Prälaten, die sich aus eigenen politischen Gründen auf die Seite Roms stellten, erlebten, dass ihre Anordnungen von ihren Gemeindepfarrern ignoriert wurden – trotz deren Forderungen nach »kindlich-treuem Anschlusse an die so wohlmeinende Intention des Hl. Vaters«.50 Von einem Zwischenrufer bei einer Wahlveranstaltung im Münstertal gefragt, was er tun würde, falls sein Bischof, Johann Baptist Orbin, seinem Klerus dieselben Wahlinstruktionen wie der bismarcktreue Bischof Klein gäbe, antwortete Pastor Bauer diesem: »Dann stimme ich auch dagegen!« Sein Vikar erregte sich derart bei diesem Thema, dass die Polizei drohte, die Kundgebung aufzulösen. In der gesamten Erzdiözese Freiburg, sogar in Bezirken, wo ein Zentrumsgetreuer keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte, zeigte der niedere Klerus seine Entschlossenheit, indem er wiederholt die Demokraten oder die Freisinnigen statt der Nationalliberalen unterstützte, die der Papst mutmasslich bevorzugte. Hierzu äußerte sich Pastor Dieterle in Dogern, »dass der Papst in weltlichen Dingen ebenso Sünder sei, wie die Menschen«. Pastor Eble in Minseln hatte für einen Zwischenrufer nur Sarkasmus übrig, der ihm die Anordnungen Leos XIII., das Septennat zu unterstützen, entgegenhielt: »Jetzt auf einmal ist der Papst unfehlbar!« In Achern wurde über Pastor Bronner berichtet, er habe erklärt, »ihm sei der jetzige Papst durchaus nicht so lieb wie den ›Herren‹ und dergleichen«. Privater – aber anscheinend nicht privat genug, denn er wurde anschließend wegen Verstoßes gegen § 166 des Strafgesetzbuches verhaftet, der öffentliche Beleidigungen der Institutionen und Bräuche der Kirche unter Strafe stellte – sinnierte Vikar Vögtle in einer öffentlichen Wirtschaft in Ballrichten: »Der Papst ist eine alte Großmutter. Alte Großmütter haben viele Wünsche, die nicht in Erfüllung gehen – das kann ich aus dem Katechismus nachweisen.«51 Eine weitere Missachtung päpstlicher Wünsche ereignete sich noch einmal 1893; auch diesmal ging es um eine Militärvorlage. Dieses waren nur die spektakulärsten Fälle, bei denen Wahlpolitik die kirchliche Hierarchie unterlief. In weniger wichtigen Angelegenheiten passierte das immer wieder.52 Regierungsbeamte waren schockiert, zu erfahren, dass bei einer Stichwahl zwischen einem Konservativen und einem Sozialdemokraten der Gemeindepfarrer den Konservativen, sein Vikar aber den Sozialdemokraten gewählt hatte. Im Kreis Bitburg, wo Kaplan Georg Friedrich Dasbach von den Bauern und Arbeitern als Held verehrt wurde, verkündete ein Pastor 1907: »… und wenn der Bischof selbst käme und sich gegen Dasbach aufstellte, so würde er keine einzige Stimme erhalten«. 53 Es ist erwähnenswert, dass Max Weber, als er sich über den poli50

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Zitate: Graf: Beeinflussungsversuche, S. 157 f., 272. Anderson: Windthorst, S. 335 ff. enthält einen Bericht über die berüchtigte »Septennatswahl« von 1887. Schließlich enthielt sich das Zentrum bezüglich des Gesetzes der Stimme. SM Turban Bericht an Großherzog Friedrich, 31. März 1887, GLA 60/494. Der Bericht nennt vierzig Priester beim Namen – ein Beweis des Eifers der Gendarmerie von Baden. Z. B. Müller: Strömungen, S. 309 f. Ebenso war es in der Weimarer Republik für das Z undenkbar, politische Anordnungen vom Episkopat oder dem Vatikan entgegenzunehmen: J. Becker: Ende, S. 358. Amtsvorstand Ettlingen an MdI, 25. Juni 1893, GLA 236/14901, 9/a; Zitat aus Horn-Bericht, LHAK 403/

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tischen Katholizismus äußerte, nicht von der Hierarchie sprach, sondern von der »Kaplanokratie«. Der Begriff ist bezeichnend. Er wurde niemals auf Irland oder Frankreich angewandt. Auch hier war die deutsche Erfahrung einzigartig.54

−−− Aber die Tatsache, dass unter dem Druck der Wahlen Kapläne sich ihren Pfarrern widersetzen, Pfarrer ihre Bischöfe ignorieren und Bischöfe die Partei dem Papst vorziehen konnten, beweist noch nicht, dass am Ende der Befehlkette dieselbe Freiheit existierte, sich gegen die kirchliche Hierarchie zu stellen. Wenn Pastor Thönes selbstsichere Bemerkung in einem Wirtshaus in Rosenberg, »der Papst habe in politischen Dingen nichts dreinzureden, der Bauer höre doch zuerst auf den Pfarrer und dann auf den Papst«, die Zweifel an der politischen Autorität der Hierarchie nährt, sollte uns dies nicht dazu verleiten, falsche Schlüsse hinsichtlich der Unabhängigkeit des Wählers zu ziehen.55 Hier sind die Beweise keineswegs eindeutig. Nicht jeder Katholik mochte einen Priester, der sich in die Politik einmischte, und besonders Bürgermeister, selbst in kleinsten Dörfern, konnten sich unter Umständen stark genug fühlen, ihm zu trotzen – besonders, wenn sie meinten, dass sie auf der Seite des Staates standen.56 Aber die Einwände gegen die klerikalen Wahlkämpfe blieben zumeist stumm – wie im Fall eines ländlichen Wählers, der mit einem Kommentar am Ende seines (liberalen) Stimmzettels gegen die allzu politischen Predigten seines Pastors protestierte, die offenbar wirklich sehr weit gingen: Gambetta. Rochefort. Raspail. Der Papst. Garibaldi u. der Pfarrer von Büchelberg. Von denen sechs taugt Einer so viel wie der Andere. 57

In Deutschland finden wir wenige Fälle, die mit Irland vergleichbar wären, wo dem offensichtlichen Wahlkampf des Klerus mit ebenso offensichtlicher Missachtung begegnet wurde. In Irland zertrümmerte der Pöbel bei Wahlkämpfen Pfarrhausfenster und griff Priester tätlich an, mit den Worten: »Kümmert euch

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8806, S. 4v. Obwohl auch in Irland der Gemeindepfarrer ein unverzichtbares organisatorisches Netzwerk bot. Whyte: Influence, S. 249 ff. Thöne zitiert in SM Turban an Großherzog Friedrich, 31. März 1887, GLA 60/494. Oberfranken 5, AnlDR (1871, 1/I, Bd. 1) DS 27, S. 80 ff.; SBDR 17. April 1871, S. 228 ff.; hierzu Anderson: Voter, S. 1451 f. GA Nr. 62, 14. März 1871, S. 521. Henri, Marquis de Rochefort (1830–1913) war ein radikaler französischer Dramatiker, Journalist und Kommunarde. François Vincent Raspail (1794–1878) war ein französischer Wissenschaftler, Revolutionär und Polemiker gegen die Jesuiten.

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um eure eigenen Angelegenheiten«, »Keine Priester in der Politik!«, und – bezeichnenderweise – »Hurra für Bismarck!« Manche verließen demonstrativ die Kirche. Oder sie standen in ihren Bänken auf, um den Ratschlägen zur Wahl zu trotzen, die vom Altar aus erteilt wurden. Als der 75-jährige Bischof von Meath Parnells Anhänger während einer Predigt in seiner Kathedrale angriff, rief ein Zuhörer ihm zu: »Sie sind ein Lügner!«58 Solche spontanen Ausbrüche finden wir in Deutschland kaum. Es war bekannt, dass einige katholische Wähler ihre Privatsphäre gegen die Aufdringlichkeiten klerikaler Wahlkämpfer, die von Tür zu Tür gingen, verteidigten, wie zum Beispiel jener Trierer Geschäftsmann, der den jungen Kaplan Dasbach gewaltsam aus seinem Haus entfernte. Aber solche Fälle waren gerade deswegen legendär, weil sie überraschten.59 Der katholische Widerspruch gegen unverschämte Bitten des Klerus, wenn er überhaupt geleistet wurde, blieb stumm, und wenn nicht stumm, dann war er kollektiv und gut organisiert. Ein unbeliebter Pfarrer, der in Liptingen 1906 eine Einmannkampagne geführt hatte, um die lange Tradition des Dorfes, nationalliberal zu wählen, zu beenden, kämpfte gegen eine derartige Mauer des Widerstandes an, dass er anscheinend einem Nervenzusammenbruch nahe kam und während einer Predigt die Kontrolle über sich verlor. Als er dann noch einer Frau, deren Mann die liberale Zeitung verteilte, die Kommunion verweigerte, ging das Dorf auf die Barrikaden. Eine Gruppe von 150 katholischen Männern, beinahe die gesamte wahlberechtigte Bevölkerung von Liptingen, unterschrieb eine Erklärung, in der sie die Absicht äußerte, Pastor Schäfers »Vergewaltigungen« aus dem Weg gehen zu wollen, indem man die Kirche nicht mehr betreten werde, »so lange dieser Herr Gottesdienst hält«. Andernfalls werde man »einen andersgläubigen Pfarrer kommen lassen« – das heißt, einen Altkatholiken. Aber Baden, wo dieser Protest geschah, war bekannt für die Zähigkeit, mit der dort die Tradition gewisser katholischer Bevölkerungsteile, liberal zu wählen, den Avancen des vom Klerus unterstützten Zentrums trotzte.60 Und selbst in Baden habe ich keinen Widerstand durch Gemeindemitglieder innerhalb einer Kirche gegen politische Äußerungen von Priestern entdecken können: keine geschüttelten Fäuste, keine empörten Rufe, kein entrüstetes Verlassen der Kirche.61 Außerhalb Badens müssen wir bei Katholiken lange

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Zitiert in Hoppen: Elections, S. 240 ff.; Woods: Election, S. 300 f.; Whyte: Influence, S. 247 ff. Whyte behauptet, genau wie Connor Cruise O’Brien: Parnell and his Party, Oxford 1957, S. 43, dass die Geistlichen in Irland mehr von den Wählern unter Druck gesetzt wurden als die Wähler von den Priestern. Aber siehe ebd. S. 27 Anm. 3, 129, 215 ff. Der katholische Geistliche auf der politischen Arena, S. 93. Umgekehrt bestraften Katholiken unbeliebte Geistliche, indem sie gegen das Zentrum stimmten. Amtsvorstand Bonndorf an das MdI, 30. Juni 1893, GLA 236/14901; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 89. Zu Badens Enklaven von Altkatholiken und der Ablehnung des Zentrums: Oded Heilbronner: Die Besonderheit des katholischen Bürgertums im ländlichen Süddeutschland, Blätter für deutsche Landesgeschichte 131 (1995) S. 225 ff. Ebenso Monshausen: Wahlen, S. 341. Es sei denn, man zählte das Verlassen des Kirchengebäudes aus Protest gegen die Äußerungen des Domvikars Dr. Beck in Trier gegen das Zentrum – ein Verhalten, das einem Staatsbediensteten die Kündigung einbrachte. Rust: Reichskanzler, S. 719 f.

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nach eindeutigen Anzeichen des Zorns gegen Wahlkämpfe des Klerus suchen, zumindest vor dem 20. Jahrhundert.62 Hatte dieses Stillschweigen den Grund, dass geweihte Orte einen besonderen Rechtsschutz genossen, wie es die liberale Begründung für den Kanzelparagraphen andeutete? Vielleicht. Ein besonderer Rechtsschutz scheint allerdings bei der allgemeinen Haltung zum Hausfriedensbruch kaum nötig gewesen zu sein. Das Recht, in seinen eigenen vier Wänden unbehelligt zu bleiben, wurde sogar in Wirtshäusern und Versammlungssälen von der Öffentlichkeit (meistens) respektiert und bei den wenigen Gelegenheiten, wenn es Ärger gab, vom Staat unnachgiebig durchgesetzt. Nehmen wir den Fall eines Lehrers in Meßkirch, der den Eindruck hatte, in einer Predigt gegen den Liberalismus persönlich angegriffen worden zu sein. Anstatt lauthals zu protestieren, schrieb er einfach an den Staatsanwalt.63 Könnte die Bereitschaft von Andersdenkenden innerhalb der Gemeinden, politisch Anstoß erregende Geistliche den Autoritäten zu melden, ein Zeichen dafür sein, dass die Verrechtlichung von Konflikten, die Winfried Schulze für das 18. Jahrhundert ausgemacht hat, sich in Deutschland bis ins Kaiserreich fortsetzte? Neuere Forschungen zum Klerus in Baden deuten darauf hin, dass dies gut möglich sein könnte.64 Aber letztendlich können wir nicht einfach die Möglichkeit ignorieren, dass angesichts von Pfarrern, die sich wie Wahlkampfleiter aufführten, das Stillschweigen der deutschen Gemeinden, das in krassem Gegensatz zu den aufmüpfigen Iren stand, auch Zustimmung bedeutete – wenn auch eine nicht individuelle, sondern gemeinschaftliche Zustimmung. Denn ebenso wichtig wie die sozialen, priesterlichen und organisatorischen Vorteile des Klerus war die 62

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Die Nichterwähnung von Zwischenrufen in Bodewig: Wahlbeeinflussungen, und Elble: Kanzelparagraph, die ansonsten keine Möglichkeit ungenutzt lassen, Beweise gegen den Klerus zu finden, scheint bezeichnend. Smith fand, dass zwischen 1870 und 1914 – ohne Konfessionsangaben – in ganz Baden und Württemberg nur acht Fälle von Zwischenrufen oder anderen Unterbrechungen berichtet wurde. Nationalism, S. 101. Derart stark war an einigen Orten die Identifizierung mit dem Zentrum, dass der Pfarrer selbst, falls er einen anderen Kandidaten unterstützte, auf das irritierte Missfallen seiner Gemeinde stieß. Graf: Beeinflussungsversuche, S. 189 f. Liberale Zeitungen veröffentlichten Briefe, die sich über die Predigten des betreffenden Geistlichen beschwerten, allerdings waren diese anonym. Gottesdienst? in: KZ Nr. 27, 9. Jan. 1912, in Anlage 7, Trier 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3605. Amtsvorstand Meßkirch an das Badische MdI, 17. Juli 1893, GLA 236/14901, 1/h; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 89. Ein ähnlicher Fall in Elsass-Lothringen: Momentbild aus der Zentrumsagitation, in: DNJ 2/2 (1910) S. 21. Irland: Whyte: Influence, S. 247. In Deutschland finden wir nur sehr vereinzelte Hinweise auf offenen Widerstand gegen politisch agierende Priester. Z. B. GA Nr. 6, 8. Jan. 1874, S. 33. Zu den Mühen des FK Priesters Franz Künzer siehe Leonhard Müller: Zur Geschichte der Freikonservativen und Reichspartei, in: Schlesische Freikonservative »Partei-Korrespondenz« (1914) 1 Nr. 1 (28. Feb) bis 17 (31. Mai) und Nr. 19 (30. Juni) bis 21 (31. Juli). Götz von Olenhusen: Ultramontanisierung, bes. S. 60–63. Schulzes Verrechtlichungskonzept wurde am vollständigsten in seinem Vortrag »Peasant Resistance and Politicization in Eighteenth-Century-Germany« vor der American Historical Association im Dezember 1987 erläutert. Siehe auch ders.: Der Ungehorsam des Gemeinen Mannes. Ziele und Formen des Widerstands in der Deutschen Geschichte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Trierer Beiträge. Aus Forschung und Lehre an der Universität Trier 19, (Feb. 1988) S. 3 ff. William W. Hagen hat ebenfalls auf die Inanspruchnahme der Gerichte durch Bauern und Landarbeiter des 18. Jahrhunderts hingewiesen in: The Junkers’ Faithless Servants. Peasant Insubordination and the Breakdown of Serfdom in Brandenburg-Prussia, 1763–1811, in: The German Peasantry. Conflict and Community in Rural Society from the Eighteenth Century to the Present, hrsg. v. R. J. Evans und W. R. Lee, London 1985, S. 71 ff.

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Fähigkeit des Priesters, die Gemeinschaft glaubhafter darzustellen als die anderen Honoratioren – die Bürgermeister, Lehrer, Landräte und Arbeitgeber, die seine Hauptkonkurrenten waren.65 Eine Predigt, die zum Ziel hatte, einen Sieg des Zentrums herbeizuführen, begann mit den Worten: »Ihr seid eine bedeutende katholische Gemeinde, und es wird Euch Niemand verargen, wenn Ihr als solche einem katholischen Manne Eure Stimmen geben würdet.« Die Wähler sahen sich anscheinend als »katholische Männer«, die ihre Angelegenheiten auf »katholische Weise« regelten.66 Julius Knorr, den wir bereits oben gehört haben, hatte zweifellos Recht mit der Annahme, dass diese Identität sie davon abhielt, »ihr Deutsches Herz zu bekennen«. »Katholisch« bedeutete hier nicht nur ein Glaubensbekenntnis, sondern auch die Mitgliedschaft in einer Gemeinde, und zwar eine, deren Forderungen zwingender waren als jene der Gemeinschaft der »Deutschen«, wie sie von den Liberalen, den Konservativen oder der Regierung definiert wurde. Wahlaufrufe appellierten an die Loyalität mindestens im gleichen Maße, wie sie an die Frömmigkeit appellierten. Im Gebet- und Belehrungsbuch für die katholische Männerwelt wurde gewarnt, wer »nur liberale Zeitungen liest und nur immer bei den Beamten ›gut Kind‹ sein will«, der zeige mit diesen Sünden seinen Mangel an Solidarität und werde »am Wahltage ein Wackelmann und ein Verräter sein«.67 Ein Pfarrer im Saarland reagierte auf die Nachricht, dass vier Bergleute in seiner Gemeinde sich von der Zechengesellschaft zum Verteilen nationalliberaler Stimmzettel hatten erpressen lassen, indem er die Fahnen des Grubenarbeitervereins aus der Kirche entfernen ließ. Aber er lud die Missetäter ein, in sein Büro zu kommen und sich zu entschuldigen, »dann wolle er in ihrem Namen die Pfarrgemeinde um Verzeihung bitten«. Beachtenswert ist es, dass er annahm, dass nicht nur Gott, sondern auch die Gemeinde sich beleidigt fühlte. Dies war wirkliche Macht – aber eine wesentlich andere als diejenige, die durch liberale Drohbilder dunkler Beichtstühle und ewiger Verdammnis heraufbeschworen wurde.68 Der Klerus verhielt sich so, weil er für gewöhnlich mit Unterstützung rechnen konnte.69 Wie diskret auch immer der Priester sich verhalten mochte, so hatten doch sein Buchhalter, sein Glöckner, sein Gemeinderat und sein Totengräber – von denen jeder einzelne oder auch alle gemeinsam im Wahlgremium sitzen konnten – keine Bedenken, einem Andersdenkenden klarzumachen, dass er, falls er weiterhin auf liberalen (oder konservativen oder sozialdemokra65 66 67 68 69

Ketteler: Zentrumsfraktion, S. 110, kommentierte sarkastisch die Bereitschaft der Berliner Abgeordneten, zu definieren, wem Pleß-Rybnik gehörte. Ähnlich: F. Müller in MK Nr. 6, 19. Febr. 1872, S. 46. Zitate: Oppeln 7, AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 69, S. 164; »katholische Weise«: Württembergische Petition, zitiert in: Smith: Nationalism. S. 48. Dr. Anton Keller, Pfarrer in Gottenheim bei Freiburg: Das Gebet- und Belehrungsbuch für die Katholische Männerwelt, Kevelaer 1902, zitiert in Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 92. Ein anderer Pfarrer jedoch drohte angeblich, dass jene Stimmzettel eines Tages in ihren Händen brennen würden! Trier 6, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 323, S. 1329. Als ein Aachener Arbeiter den Präsidenten seiner Bruderschaft, einen Geistlichen, wegen einer Rede für das Zentrum kritisierte, wartete er, bis er von Mitgliedern seiner eigenen abtrünnigen Christlich Sozialen Partei umgeben war. Lepper (Hrsg.): Katholizismus, S. 215; ähnlich S. 224.

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tischen) Pfaden wandele, kein »katholischer Mann« mehr sei. Als ein Wähler in einem Dorf an der Mosel gegen das Zentrum wetterte, war es zwangsläufig, dass der Parteianhänger am Nachbartisch zu ihm hinüberrief: »Ja, du hast auch schon keinen Glauben mehr!«70 Es war genau dieses Element echter »horizontaler« Verstärkung und dessen weitere Verbreitung in größeren Netzwerken von Assoziationen und Meinungen, die über die Grenzen der Gemeinde hinaus reichten, woran der grundsätzliche und charakteristische Unterschied zwischen den Wählermassen des klerikal geführten Zentrums und den oberflächlich gesehen scheinbar ähnlichen Truppen notleidender und zugleich gieriger Wähler in den vertikal strukturierten Klientelgruppen auf der iberischen Halbinsel, in Lateinamerika und in Afrika deutlich wird.71 Beide Systeme benötigen ein demokratisches Wahlrecht und bei beiden fällt die Wahlentscheidung irgendwo zwischen Zwang und Zustimmung. Aber im klassischen Klientelwesen basiert die politische Verbindung auf individualistischem und fest umschriebenem gegenseitigem Austausch eindeutig materieller Art, während beim Zentrum die Wähler in ein nationales System meinungsabhängiger Politik eingebunden wurden. Es verwundert kaum, dass die Generation katholischer Liberaler, die vor 1840 geboren war, keine neuen Anhänger fand. Evangelische Liberale an Rhein und Mosel beklagten, dass, wenn sie auch Katholiken trafen, die mit ihren Ansichten übereinstimmten, diese sich weigerten zu kandidieren, weil sie fürchteten, dass ihre Nachbarn über sie sagen würden: »er hat keine Religion«, und dass die gesamte Bevölkerung sie meiden würde. In einem Land, in dem religiöse Homogenität die Regel war – und noch 1907 war die Bevölkerung in 122 von 397 Reichstagswahlkreisen zu über 95 Prozent konfessionell homogen –, konnte die Gesellschaft abweichendes Verhalten hart bestrafen.72 Wenn Katholiken Katholiken mit Argusaugen beobachteten, waren die Schrecken des Beichtstuhls, die eine derart prominente Rolle in der liberalen Polemik spielten, kaum vonnöten.

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Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 141, 143. Vereine hatten die Macht der »Exkommunikation«, indem sie einfach behaupteten, »er sei gar kein Katholik mehr«. GA Nr. 188, 13. Aug. 1871, S. 1682. Der Zentrums-Wahlaufruf von 1878 für Württemberg 13 nahm an, dass »alle« Zentrumswähler seien und dass die einzige Schwierigkeit darin bestehen werde, die Faulen an die Urne zu bringen. »Wählet! Wählet! Wählet! alle Moritz Mohl«. BAB-L R1501/14693, Bl. 65. Eine ausgezeichnete Analyse des Klientelwesens in Rouquié: Controls, S. 19 ff., bes. 22–27. Aufschlüsselungen nach Generationen zeigen, dass zwischen 1867 und 1917 von den 569 NL-Abgeordneten im Reichstag nur 51 katholisch waren, und von diesen waren 36 vor 1840 geboren und hatten ihre Karriere vor den großen Rekonfessionalisierung begonnen. Die wenigen Bezirke, in denen Katholiken noch als Liberale gewählt werden konnten, waren München, Bonn und Düsseldorf, isolierte Flecken in Hessen und der Oberpfalz, Baden südlich von Freiburg sowie entlang der Schweizer Grenze. Von den 122 konfessionell homogenen Wahlkreisen jedoch waren 96 evangelisch. Smith: Nationalism, S. 34 f., 96.

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Solidarität: Das Milieu, katholische Frauen und »Stimmzettelkatholiken« Der Druck zur Konformität, der auf dem Dorf spontan entstand, wurde in den städtischen Gebieten in einem ausgedehnten Netzwerk von Vereinen künstlich erzeugt. Dieses gab jedem Priester, der politisch ein Wort mitreden wollte, einen unschätzbaren Vorteil über Honoratioren anderer politischer Ausrichtung. Marianische Kongregationen, Rosenkranz- und Corpus-Christi-Bruderschaften, Gebetsgemeinschaften, Herz-Mariä- und Ludwigsmissionsgesellschaften: das katholische Vereinsleben umfasste besonders in Nordwestdeutschland noch größere Teile der Bevölkerung als die Wählerschaft, da es nicht nur Männer aller Schichten und Berufe einbezog, sondern auch Frauen. Und den Vorsitz über jeden dieser Vereine führte ein Priester, der den jeweiligen Sprecher auswählte und das Programm bestimmte. In den frühen 1870er Jahren zählte die Polizei 139 katholische Vereine allein in der Kölner Gegend; Trier hatte noch mehr und im Regierungsbezirk Düsseldorf erreichte ihre Zahl 389. Im westfälischen Teil der Diözese Paderborn gehörten 46 Prozent der katholischen Bevölkerung aller Altersgruppen mindestens einem solchen katholischen Verein an, und in manchen Gegenden sogar zwei Drittel. In der Geschichtsschreibung wird ein solches Netz aus religiösen Bräuchen, Fest- und Fastentagen, Vereinen und schließlich auch noch Geschäfts- und politischen Beziehungen »Milieu« genannt, mit nur geringen Konnotationen. Seine damaligen Befürworter nannten es gern das »katholische Deutschland« – eine Gegenwelt, die nur eine Teilmenge aus einer bestimmten geographisch definierten Region sein mochte, mit ihren ortsübergreifenden Verbindungen aber auch das Gebiet der ganzen Nation umfassen konnte. So entging der Katholizismus in Deutschland der Gleichsetzung mit einer einzelnen gesellschaftlichen Klasse, die die katholische Politik in Frankreich und Spanien derartig behinderte.73 Dieser katholische »Vereinskosmos«, wie der Historiker Josef Mooser das Phänomen nannte, bildete eine sichere Sphäre, die nach 1866 umso willkommener war, nachdem die Vertreter einer »nationalen« Kultur sich immer mehr berechtigt fühlten, von Katholiken als Eindringlingen in ihrem eigenen Land zu reden. Über den verschrobenen Habitus, jeden Aspekt des täglichen Lebens mit »katholischen« Begriffen zu belegen, bis hin zu dem Punkt, wo Käufer ermutigt wurden, »katholischen Kaffee« und »katholisches Bier« zu wählen, konnte man sich leicht lustig machen. Die Antwort des Milieus darauf war: »Ja wohl – katholisches Bier müssen wir suchen, zumal jetzt, wo erneute Verhetzung … uns 73

Siehe Franz Borkenaus scharfe Gegenüberstellung von Deutschlands »sozialem« und dem sehr »unsozialen« spanischen Katholizismus in: Spanish Cockpit, London 1937, S. 9 f. Das Konzept »Milieu«, das eine umfangreiche Literatur angeregt hat, ist derart umstritten und spezialisiert, dass es fast unbrauchbar geworden ist, es sei denn, man besteht auf einer minimalistischen, umgangssprachlichen Bedeutung. Nur in diesem Sinne werde ich es hier gebrauchen.

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kaum gestattet, irgendwo in öffentlichem Lokale ein Glas Bier zu trinken, ohne dass der Katholikenhaß uns hineinsp[uckt]!«74 Das Muster dieses feinmaschigen Gitters erschien religiös, wenn man es von diesem Blickwinkel aus betrachtete, aber mit nur einem geringen Perspektivenwechsel konnte das Muster sich als sozial, oder, mit einer weiteren halben Drehung, als politisch darstellen. Vor der Gründung des Kaiserreichs waren die Knoten in diesem vielmaschigen Netz die gemeinsame Teilnahme an den Sakramenten gewesen. Nach 1871 wurden diese Knoten enger geknüpft durch Rituale der Solidarität – besonders, wenn es die Freilassung eines Priesters aus dem Gefängnis zu feiern galt – sowie Rituale der Opposition durch Wahlen. Solidarität bedeutete keine Gleichheit. »Das katholische Deutschland« war nur an der Kommunionbank egalitär – und an der Wahlurne.75 Seine Komponenten waren hierarchisch geordnet und festgelegt; dem Klerus und den Laien, Männern und Frauen und jedem erdenklichen Stand kamen bestimmte Aufgaben zu.76 Es gab keine wahllose Vermengung, denn jeder sollte auf seinen Stand stolz sein. Der Adel beteiligte sich an den Massendemonstrationen zu Ehren seiner verfolgten Bischöfe, aber er marschierte in getrennten Delegationen unter seinen eigenen Bannern, und er unterstützte die katholische Sache durch seine eigenen Organisationen, beispielsweise den Malteserorden.77 Der Akademiker schrieb als Mitglied der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft (gegründet 1876) für das »katholische Deutschland« und konnte sich zugleich im Glanz des Bildungsbürgertums sonnen. Arbeiter und Handwerksgesellen gingen Freizeitbeschäftigungen nach, die den Gepflogenheiten ihres Berufsstandes entsprachen, und konnten unter gewissen Umständen sogar zu gesellschaftlichem Radikalismus ermutigt werden, während sie gleichzeitig unter der Obhut ihrer schwarz gekleideten Hirten blieben. Die Teilnahme von Frauen, sowohl verheirateter als auch unverheirateter, an dieser katholischen Öffentlichkeit bedeutete, dass auch ihnen im Laufe der Zeit eine politische Rolle zugesprochen werden musste – eine Tatsache, die sie in die Politik des Zentrums einband, lange bevor 74

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E. Müller: Dann laß ich fünf Fuß tiefer graben, BK (1833) S. 3. Zum Milieu: Smith: Nationalism, bes. S. 79 ff.; Mooser: Vereinswesen, S. 452, 455; dessen Entstehung: Sperber: Catholicism, S. 39–98. Obwohl es bereits lange vor dem Kulturkampf, vor 1871, bestand, wie Rohe feststellt, war das Milieu keineswegs immer politisch relevant. Rohe: Wahlen, S. 54. Der Werdegang von Eduard Cronenberg aus Aachen zeigt, dass die Beziehungen zwischen dem konservativen und dem radikalen Flügel des Klerus, wie auch zwischen den radikalen katholischen Wählern und der bürgerlichen Zentrumsführung denkbar schlecht sein konnte. Ihre Weigerung, Cronenberg für den Reichstag zu nominieren, führte schließlich zu einer Spaltung der Aachener Katholiken Da Cronenberg schließlich zwei Jahre wegen Homosexualität und finanziellen Fehlverhaltens im Gefängnis verbrachte – wobei der letztere Vorwurf sicher berechtigt war –, konnte man sich vorstellen, dass Misstrauen seiner Gegner auf persönlicher Bekanntschaft beruhte, ein Wissen, das zwangsläufig der Historikerin entgeht. Sie ist darauf angewiesen, ihre Schlüsse größtenteils aus Cronenbergs veröffentlichten Programmen zu ziehen, die wahrhaft progressiv sind sowie aus seinen Reden und Briefen, die zweifelhaft erscheinen. Hierzu Lepper: Cronenberg, bes. S. 62 ff., und ders. (Hrsg.): Katholizismus. Ausgezeichnet zu sozialen Konflikten innerhalb des politischen Katholizismus: Loth: Katholiken; ders.: Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs, GG 17 (1991) S. 279 ff., und Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 341 ff. Christian Stamm: Dr. Conrad Martin Bischof von Paderborn. Ein biographischer Versuch, Paderborn 1892, S. 369; Rust: Reichskanzler, S. 621 f., 826.

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sie das Stimmrecht erhielten, und die den Weg für ihre massive Unterstützung des Zentrums 1919 und darüber hinaus ebnete, als Frauen schließlich wählen durften.78 Die Führung des Klerus ermutigte diese unterschiedlichen Selbstbilder. Aber gleichzeitig mit der Differenzierung legte die katholische Kultur, und damit auch die dazugehörige politische Kultur, einen ebenso großen Wert auf Solidarität, auf eine gegenseitige Abhängigkeit, die nicht nur die lebenden, sondern auch die Toten umfasste.79 Die Wahlvereine des Zentrums trugen nicht Namen wie »Freiheit« und erst recht nicht »Gleichheit«, stattdessen schmückten sie sich mit Namen wie »Concordia« und »Harmonia«. Die Macht dieser Sprache der Solidarität, die Unterschiede beibehielt, jedoch latente (und auch weniger latente) soziale Antagonismen überdeckte, war nicht von der Theologie, der universell gültigen Heilsbotschaft abhängig. Noch verlangte sie die Reaktivierung der mittelalterlichen korporativen Ideologie, obwohl über den Bräuchen und der Sprache der Katholiken im späten 19. Jahrhundert immer noch ein korporativer Dunst schwebte, besonders wenn sie, wie Pater Franz Hitze und Freiherr Karl von Löwenstein, ein theoretisches wie auch praktisches Interesse an der »sozialen Frage« entwickelten.80 Stattdessen bezog die solidarische Sicht ihre Vitalität aus dem demokratischen Wahlrecht, das in der Atmosphäre des Kulturkampfes und organisatorisch interpretiert von der Kaplanokratie, alle Katholiken als Katholiken am Wahltag zusammenbrachte, in ihrer eigenen Art gemeinsamer politischer Kommunion. Der Katholische Volksbote des Emslands druckte die Aufforderung: »Und Ihr mit Gespann versehenen Landwirte gleichet aus an diesem Tage den Unterschied des Standes, laßt in geeigneten Fällen anspannen und fahret die Alten und Schwachen zur Wahlurne; der Weg wird sich lohnen.«81 Solche Solidarität erzwang hohe Wahlbeteiligungen, die oft von jedem glaubhaften Wettbewerb unabhängig waren. 1903 stimmten im oberbayerischen Dorf Hollenbach 172 seiner 175 wahlberechtigten Bürger für das Zentrum. Von den übrigen drei war einer bettlägerig. In Ingolstadt durften nicht einmal Hundertjährige zu Hause bleiben. In Lautenburg, einer Kleinstadt im westpreußischen Kreis Strasburg, wurden die Polen von Dekan Klatt daran erinnert, dass der Zweck der Stichwahlen bereits erläutert worden sei. Es sei klargemacht worden, dass alle – Blinde und Lahme, Krüppel und Greise – zu erscheinen hätten. Bei der letzten Wahl hätten 42 Polen gefehlt. In einigen Teilen des »katholischen Deutschland« erreichte die Unterstützung für das Zentrum Ausmaße, die die Teilnahme an der Osterkommunion noch übertrafen. Aber noch bemerkenswerter war die Parteidisziplin, die der Führung des Zentrums erlaubte, bei Stichwahlen ganze Wahlkreise einstimmig an Parteien auszuliefern, welche das Zen78 79

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In einigen Bezirken kamen dann bis zu 70 Prozent der Stimmen für das Z von Frauen. Bachem: Vorgeschichte, Bd. 8, S. 271. Diesen Punkt hat McLeod: Frömmigkeit, S. 152 brillant dargelegt. Diese unterschiedlichen Selbstbilder führten allerdings nach der Jahrhundertwende zu kontraproduktiver Rivalität zwischen dem Katholischen Frauenbund und dem Volksverein. Heitzer: Volksverein, S. 35 f., und Klein: Volksverein, S. 94 f. Zu Hitzes Forderung nach einem Parlament, in dem alle Berufe vertreten sein sollten: Blackbourn: Class, S. 126 und 127 Anm. 31; der größte Teil des Z gegen Korporatismus: Anderson: Windthorst S. 320 ff. »Katholischer Wähler«: Katholischer Volksbote Nr. 29, 21. Juli 1878.

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trum bei der Hauptwahl scharf angegriffen hatten – im Tauschhandel für das Versprechen, andernorts ähnliche Hilfe zu leisten.82 Es war diese Disziplin, die im Jahr 1912 zumindest teilweise für die Abnahme der Stimmenzahl des Zentrums verantwortlich war, als die Zentrumsführung einige ihrer Wähler bei der ersten Abstimmung konservativen Kandidaten »schenkte«.83

−−− Da sich die Katholiken als Gemeinschaft angegriffen fühlten, wurde von den Frauen, als Mitgliedern dieser Gemeinschaft, erwartet, dass sie ebenfalls zur Verteidigung antraten. Frauen und Mädchen waren im Widerstand gegen den Kulturkampf aktiv, indem sie bei Demonstrationen die Vorplätze von Kathedralen bevölkerten, Unterschriften auf Solidaritätsadressen sammelten, Sitzstreiks veranstalteten und bei einigen Gelegenheiten sogar das Einschreiten der Armee nötig machten – als sie die Schule im oberschlesischen Laura Hütte bewachten, um den durch »unautorisierte« Geistliche abgehaltenen Religionsunterricht zu schützen, und als sie die Schule im nahe gelegenen Königshütte stürmten, um ihre Kinder aus dem Unterricht zu holen, der von einem Vertreter der Altkatholiken erteilt wurde. Einige schrieben Zeitungsartikel, bezahlten Bußgelder, gingen sogar ins Gefängnis.84 Missionsvikar Eduard Müller reagierte in seinem Märkischen Kirchenblatt auf den Kanzelparagraphen, indem er jede Gemeinde aufrief, einen »Rechts-Schutz-Verein« zu gründen, um die Geistlichkeit vor falschen Vorwürfen zu schützen. Jedes Mal wenn ihr Pastor in der Öffentlichkeit als Amtsperson sprach, sollten drei verlässliche Mitglieder seiner Gemeinde, »männlich oder weiblich«, als Zeugen seiner Rede zugegen sein. Müller gefiel es auch, negative Kommentare zur Kandidatur seines Rivalen in Pleß-Rybnik, des Freien Konservativen und Herzogs von Ratibor, als Meinungen von Frauen 82

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Fairbairn: Democracy, S. 185; Smith: Nationalism, S. 92 f.; Suval: Politics, S. 116, Zitat: 207, 224. Auf nationaler Ebene sank allerdings die katholische Wahlbeteiligung nach dem Kulturkampf, und wurde, als die SPD ihre Wählerschaft mobilisierte, von der evangelischen Wahlbeteiligung übertroffen. Der verbreitete Eindruck, zuerst bei Schauff: Wahlverhalten, dass die Unterstützung für das Z nach 1900 zurückging, ist von Zangerl: Courting, S. 229 ff., 238, und Sperber in seiner Besprechung von Blackbourn: Class, in: New German Critique, 26, [Frühling/Sommer 1982], S. 206 ff., und in: Voters, S. 82, als statistische Illusion bestritten worden. Die Kontrolle des Zentrums über die katholischen Stimmen erlaubte ihm, als »Spenderpartei« den Ausgang von Wahlen sogar in Wahlkreisen zu bestimmen, in denen es nicht antrat, und diese Spenden geschahen in besonderem Maße 1912. Wenn man jedoch 1907 statt 1912 als Vergleichsmaßstab heranzieht, dann muss das Bild (wie in Langewiesche: Liberalismus, S. 133), dass bei einer Bevölkerungszunahme der Wählerzuwachs des Z (nur 38 Prozent zwischen 1874 und 1912) eine Abnahme darstellte, berichtigt werden. Zwischen 1874, dem »besten« Jahr für das Zentrum, was den Stimmenanteil betrifft, und 1907 wuchs die Bevölkerungzahl um 48 Prozent, aber die Anzahl der Stimmen für das Zentrum um 51 Prozent. (Extrapoliert aus Hohorst u. a.: Arbeitsbuch, Bd. 2, S. 27 f.) Lokale Beispiele: Thomas Mergel: Christlicher Konservatismus in der Provinz: politischer Katholizismus in Ostwestfalen 1887–1912, in: Unter Pickelhaube und Zylinder. Das östliche Westfalen im Zeitalter des Wilhelmismus 1881bis 1914, hrsg. v. Joachim Meynert u. a., Bielefeld 1991, S. 283 ff., bes. 287 ff., 296; B. Liebert: Wahlen, S. 163 (zu 1887), 176 f. (zu 1890); Schulte: Struktur, S. 120 ff. Ditscheid: Matthias Eberhard, S. 94; Kammer: Kulturkampfpriester, S. 45, 121, 143; Rust: Reichskanzler, S. 684; zusammen mit einigen der aufmüpfigen Mütter wurde Emilia Miarka, die Ehefrau des Karol Miarka, für einen Artikel festgenommen, den sie in der SVZ nach dessen Verhaftung veröffentlicht hatte: Trzeciakowski Kulturkampf, S. 93, 148. Ähnlich im Kreis Pleß: Franzke: Industriearbeiter, S. 117.

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zu veröffentlichen. Nahezu im selben Maß wie der kräftige Bauer wurde »die katholische Frau« zu einer nützlichen politischen Fiktion; beiden wurden Kommentare in den Mund gelegt, wann immer ein Autor oder Sprecher des Zentrums die Stimme des gesunden Menschenverstands oder die Volksmeinung zu äußern wünschte.85 Es war ein unsichtbarer Schritt von der Verteidigung der eigenen Kultur zur Wahlkampftätigkeit. Frauen übernahmen die Initiative bei der Organisation von Zentrumssprechern für ihre Stadt, wann immer Wahlen anstanden.86 Sie selbst durften von Gesetz wegen an vielen solcher Ereignisse nicht teilnehmen und waren generell von ausgesprochen politischen Vereinen oder Versammlungen ausgeschlossen. Ihre bloße Gegenwart gab, wie auch liberale und sozialdemokratische Frauen erleben mussten, der örtlichen Polizei einen willkommenen Vorwand, die Versammlung zu schließen oder sogar die Organisation aufzulösen. Aber »Vortragsabende« zu solch offensichtlich politischen Themen wie der Schulfrage zogen in den katholischen Städten weibliche Hörerschaften an, die in die Hunderte gingen. In den 1870er Jahren lassen sich in Düsseldorf Hinweise auf die Teilnahme von Frauen bei politischen Versammlungen finden und das Zentrum begann dort 1884, gelegentlich und vermutlich vorsichtig, Frauen zu seinen Treffen einzuladen.87 1908 gewährte das Gesetz betreffend das Vereinswesen Frauen endlich das Recht, im ganzen Reich an politischen Versammlungen teilzunehmen – das Zentrum war eine der diese Reform unterstützenden Parteien gewesen.88 Das Ergebnis war ein Ausbruch weiblicher Wahlaktivitäten. 1912 klagte das Berliner Tageblatt, das sich um die liberalen Wahlaussichten in Krefeld große Sorgen machte: »Für die häusliche Agitation sind die Frauen mobil gemacht worden. Allein am 9. Januar hält hier die Zentrumspartei drei Frauenversammlungen ab.«89 Nach ihrem Antrag von 1876, Geschäftsfrauen bei Gemeinderatswahlen das Wahlrecht zu erteilen, griff die Partei die Frage des Frauenwahlrechts allerdings nicht noch einmal auf. Wie der größte Teil der nicht sozialistischen deutschen Frauenbewegung drängten auch die katholischen Frauenverbände nicht auf das Stimmrecht – nicht einmal in den zehn Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als die Frage des Wahlrechts für Frauen bei Katholiken genau wie in Kreisen sozialistischer, liberaler und sogar konservativer Frauen zum politischen Thema wurde.90 85 86 87

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MK Nr. 48, 2. Dez. 1871, S. 380, 382. Windthorst an Heyl, Hannover, 14. [unleserlich] Aug. 1880, in Privathand. Dank an Dr. Josef Hamacher in Haselünne für eine Kopie. Mazura: Entwicklung, S. 62; Damennacht: Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 155; Steil: Wahlen, S. 117. Schloßmacher: Düsseldorf, S. 32, 56. In Aachen warf der Christlich Soziale Cronenberg dem Z-Wahlverein Constantia vor, Ehefrauen zu benutzen, um die Unterstützung ihrer Männer zu sichern. Lepper (Hrsg.): Katholizismus S. 214. Antrag von Hompesch u. Gen., 29. Nov. 1905, AnlDR (1905/06, 11/II, Bd. 2) DS 43, S. 1608 f.; der LLAntrag, ebd., DS 52, S. 1613. Stoeckers fortschrittliche Position: J.-C. Kaiser: Politisierung, S. 266 ff. BT 2. Beiblatt, Nr. 14, 9. Jan. 1912. Auch die SPD appellierte an die Ehefrauen: Saldern: Wege, S. 197; die Beschwerde eines Herrn Maxden (anscheinend aus Mittelschlesien) an Bülow, o. D. (archiviert/abgelegt 8. Juli 1903), BAB-L R1501/14696, Bl. 22 f. Eine Ausnahme: die Konvertitin Elisabeth Gnauck Kühne. Lucia Scherzberg: Die katholische Frauenbewegung im Kaiserreich, in: Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, hrsg. v. W. Loth, Stuttgart

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Aber während man akzeptierte, dass Stimmen allein von Männern abgegeben wurden, bestand das katholische Milieu darauf, dass die Politik alle betraf. Bereits 1876 bat die Schlesische Volkszeitung die Frauen um Mithilfe bei den bevorstehenden preußischen Landtagswahlen, und dies wurde im Laufe der Zeit von den katholischen Zeitungen im gesamten Reich übernommen. Es wurde bei den jährlichen Katholikentagen zur Routine, dass die Führung die Frauen drängte, »ihren Einfluss in diesem Kampfe zugunsten der Wahlpflicht geltend zu machen«. Und »unter allen Umständen müßten die katholischen Frauen dafür sorgen, dass kein Nationalliberaler gewählt« werde.91 Vor der letzten Wahl berichtete die Zeitschrift des Verbandes süddeutscher katholischer Arbeiterinnenvereine ausführlich über den Wahlkampf, wobei nicht weniger als sechs Artikel die Bedeutung der Wahlen hervorhoben, die politischen Parteien analysierten und die Rolle der katholischen Frau erörterten.92 Was war nun die Rolle der nicht wahlberechtigten katholischen Frau? Die alte Annahme, dass das Wahlrecht eine Treuhandschaft beinhaltete, die im Auftrag (und unter den Augen) der gesamten Gemeinschaft verwaltet wurde,93 scheint in der katholischen Vorstellung weitergelebt zu haben, derzufolge der Haushalt kollektiv durch den Ehemann und Vater wählte. In welchem Grade die Stimme eines katholischen Mannes tatsächlich die gemeinsame Meinung seines Haushalts ausdrückte, muss beträchtlich variiert haben und lässt sich unmöglich ergründen.94 Die Gegner des Zentrums jedenfalls waren davon überzeugt, dass die katholischen Frauen eine entscheidende Rolle spielten, und führten Beispiele an wie jenes, das sich während des erhitzten Wahlkampfs zwischen Zentrum und Konservativen im 11. Breslauer Wahlbezirk ereignete. Eine katholische Tochter hatte sich dort an den Hals ihres prominenten Vaters geworfen, der auf dem Weg zur Wahl war, und ihn unter Tränen angefleht, er möge doch nicht für den konservativen Kandidaten stimmen.95 So überrascht es nicht, dass einige der frühsten Proteste gegen klerikale Beeinflussung den Vorwurf enthielten, dass der Priester, besonders als Beichtvater, sich der Frauen bediente, um auf ihre Männer, Brüder, Söhne und Väter einzuwirken. Eine »gefügige Hilfsmacht«, »willkommene Helfershelfer« und »Mari-

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1991, S. 143 ff. Missionsvikar Müller schlug 1871 ein Frauenwahlrecht vor. MK 2. Dez. 1871, Nr. 48, S. 382. Windthorst beim Amberger Katholikentag 1884, zitiert in: Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 65. Mazura: Entwicklung, S. 101; Hiery: Reichstagswahlen, S. 419. Diese Information verdanke ich Douglas J. Cremers Artikel: The Limits of Maternalism. Gender Ideology and the South German Catholic Workingwomen’s Associations, in: Catholic Historical Review 87/3 (2001) sowie Cremer: Cross. Die enge Verbindung des Z zu den katholischen Frauen stand in scharfem Kontrast zu den Christlich Sozialen in Österreich. Boyer: Culture, S. 445. Wie Gash: Politics, S. 177, es so trefflich ausdrückt; hierzu auch Sperber: Radicals, S. 176; O’Gorman: Rituals, S. 79 ff. Die guten Dienste, die Prinz Karl von Arenberg-Meppen Windthorst 1878 erwies, scheinen das Interesse der »Frau Herzogin« reflektiert zu haben. Karl von Arenberg an [Forstinspektor R.] Clauditz, Marienbad, 5. [Juli 1878], SAO Dep. 62-b, S. 2379. Ich danke Dr. Josef Hamacher von Haselünne für die Kopien. Köller SBDR 5. Feb. 1885, S. 1102. Die Gegnerschaft des Freiherrn v. Buol-Berenberg wurde seiner Frau zugeschoben: »[… habe d]er Einfluss seiner Frau (Savigny) Herrn [Kammerherrn] von Buol zu so feindlichem Verhalten bewogen«: v. Eisendecher an Bismarck, Karlsruhe, 10. Feb. 1887, BAB-L R1501/14642, S. 155 f.

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onetten« des Klerus waren zur Wahlzeit immer »beim schwachen Geschlechte« zu finden, durch das ansonsten aufrechte Männer »um des lieben Friedens willen« klein beigaben.96 »Zwei Drittel derer, die klerikal wählen, geben für Weiber ihre Stimme ab«, die auf diese Weise ein »indirektes« allgemeines Wahlrecht ausübten, klagte 1874 eine regierungsnahe Zeitung.97 Die Behauptung fand ihr Echo in der populären Literatur sowie in Karikaturen und wurde überdies von Politikwissenschaftlern im Ausland wiederholt.98 Da eine der üblichen Rechtfertigungen für den Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht die Behauptung war, dass die Interessen von Ehefrauen gleichsam durch ihre Ehemänner wahrgenommen würden, musste die Möglichkeit, dass diese Ehefrauen tatsächlich ihr Interesse auf dem Stimmzettel ihres Mannes zum Ausdruck bringen wollten, keineswegs als subversiv erscheinen. Aber genauso wie Parteiinteressen die Propagandisten des Zentrums dazu motivierten, die politische Weitsicht der Frauen zu preisen, brachte dieselbe Logik die Antiklerikalen dazu, einen Diskurs mit frauenfeindlichen Untertönen zu beginnen. Liberale in Bochum stellten sich vor, katholische Frauen würden »ihre Männer mit dem Knittel zum Wahllokale treiben«. In der Regierungspresse wurden Zentrumswähler als »Frauenpantoffel« beschrieben.99 Wenn die Frauen des Zentrums schon Teigrollen schwingende Xanthippen waren, so waren sie hier demnach auch imstande, ihre Sexualität einzusetzen. Sie lieferten genug Gründe, dem Rheinland keine eigene Selbstverwaltung zu gewähren, wie Bismarck in einer Unterhaltung mit dem Abgeordneten Ludwig Friedrich Seyffardt aus Krefeld bemerkte. Was die Geistlichen durch den Beichtstuhl direkt tun konnten, sagte er, täten die Frauen indirekt: »Das Geschäft hat ja schon Mutter Eva verstanden.«100 Der Vorwurf, dass Beichtväter die Frauen ermahnten, ihren Männern die sexuelle Zuwendung zu verweigern, falls diese nicht ihren Kandidaten wählten, wurde in den achtziger und neunziger Jahren 96

DZJ Nr. 38, 22. Sept. 1907; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 64 f., 142; Schloßmacher: Düsseldorf, S. 206. Meyer: Wahlrecht, S. 455 f., zitiert die Furcht vor der Stärkung des Klerus als einen Grund, Frauen das Wahlrecht zu verleihen, bezieht sich aber nur auf Italien. Antiklerikalismus verbindet mit Frauenfeindlichkeit Blackbourn: Progress, S. 143 ff., 149 ff.; ders.: Marpingen, S. 288 ff.; McLeod: Frömmigkeit. 97 Norddeutsche Allgemeine Ztg. Nr. 7, 9. Jan. 1874, zitiert in Steinbach: Zähmung, Bd. 2, S. 392 Anm. 69. 98 Die Karikatur Vor der Wahl zeigt einen beleibten Geistlichen, der eine noch dickere Frau ermahnt: »Sorgen Sie dafür, dass Ihr Mann kirchentreu wählt, Frau Niederhuber, sonst ist die ewige Seeligkeit kaputt!« – Antwort: »No, dös wär’s rechte, und dös vülle Geld für’n Peterspfennig, für’d Kirchenfenster und Seelenmessen hätt’ mer umasonst neigschuasert!« Simplicissimus VIII/6 o. D. (1903–1904) S. 46. Die groteske Ansicht, dass man durch eine Stimmabgabe sein Seelenheil verwirken könnte, wurde so in einer Religion als plausibel dargestellt, in der materialistischer Aberglaube bereits grassierte. Zum Thema der Gegenseitigkeit: Vor der Landtagswahl, ebd., XVI 2/42, 14. Jan. 1912, S. 747, in der einer einfachen Frau mit Kopftuch gesagt wird: »Nanndl, jetzt derfst a Todsünd’ riskier’n, auf’m Stimmzettel hab i dreihundert Tag Ablaß.« Siehe auch Zentrumspredigt, ebd., XVI 2/46, 12. Febr. 1912, S. 815. Ausländische Politikwissenschaftler: Seymour u. Frary: World, Bd. 2, S. 28. 99 Zitate: Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1076; bzw. Steinbach: Zähmung, Bd. 2, S.392 Anm. 69. Siehe auch Meyer-Jena, NL, SBDR 13. Febr. 1886, S. 1060, und Mohl: Kritische Erörterungen, S. 571. K argumentierten ähnlich: z. B. C. Graf v. Behr-Behrenhoff, FK, SBDR 13.Febr, 1886, S. 1053. 100 Seyffardt: Erinnerungen, S. 165. Das Motiv der »Evchen« konnte jedoch auch von einem Geistlichen benutzt werden, wenn die Wahlen schiefgingen. Stanislaus Stephen: Der Beuthener Prozeß im Lichte der Wahrheit, Königshütte 1904, zitiert in: Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 129 f.

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vielfach in Frankreich erhoben und um die Jahrhundertwende von den Antiklerikalen in Deutschland aufgegriffen. Als das in Würzburg erscheinende Blatt Der christliche Pilger 1903 schrieb: »Eine Frau kann vieles durchsetzen. Am Wahltag gilt es die ihr vom Schöpfer verliehenen natürlichen Gaben für das Wohl des Volkes, des Staates, und der Kirche praktisch anzuwenden«, gab dies Anlass zu feindseligen Unterstellungen. Der antiklerikale Hitzkopf Ernst Müller, Abgeordneter für Meiningen, erntete Gelächter im Reichstag, als er die Aufmerksamkeit des Hauses auf die Aufforderung des Klerus an die Frau lenkte, »sie solle ihre natürlichen Vorzüge vor allem bei der Wahl zur Anwendung bringen (Große Heiterkeit links. Unruhe in der Mitte.) Sie wissen, dass ich lauter konkrete Sachen im Auge habe … (Wiederholte Heiterkeit)«. Kam der Hinweis des Christlichen Pilgers auf die »natürlichen Gaben« wirklich einer Empfehlung zu sexuellen Erpressung gleich? Honi soi qui mal y pense. Ganz anders als in Frankreich aber wurde dieser Vorwurf in Deutschland nie – nicht einmal von dem Abgeordneten Müller aus Meiningen – explizit erhoben. Die Antiklerikalen waren gezwungen, nach anderen Strohhalmen zu greifen, wie zum Beispiel dem Bericht, dass Pastor Böhmer bei einer Wahlveranstaltung des Zentrums im Dezember 1906 vorgeschlagen habe, Ehefrauen sollten ihren Gatten nichts zu essen geben, bis diese ihrer Wahlpflicht nachgekommen seien – vielleicht ein sehr deutsches Verständnis ehelicher Pflichten.101 Als weibliche Angestellte in Aachen während der Wahlen von 1907 ihren Arbeitgebern gegenüber die Befürchtung äußerten, dass in ihrem Bezirk ein Protestant oder ein Liberaler das Mandat erringen könnte, kannte der Zorn der Zentrumsgegner keine Grenzen. Hier lag ein klarer Beweis für den schädlichen Einfluss des Klerus! Denn wie sonst hätten die Frauen zu einer solch dummen Meinung kommen können?102 Genau wie frühere Mutmaßungen über die Macht des Priesters und die Dummheit des Volks war die angebliche Schwäche des weiblichen Geschlechts selbst ein Beweis dafür, dass klerikale Machenschaften die Entscheidung des Wählers korrumpiert hatten und dass die eigentlichen Autoritätsstrukturen in der Familie und am Arbeitsplatz unterwandert worden waren. Der unwahrscheinliche Fall, dass die unverschämten Bitten von Angestellten (zudem noch weiblichen Angestellten!) die Stimmabgabe ihrer Arbeitgeber beeinflussen könnten – was wirklich schwarzer Magie gleichkam! –, lässt auf den eigentlichen Stein des Anstoßes schließen: dass diese Aachener Frauen überhaupt eine politische Meinung geäußert hatten. 1903 veröffentlichte Monika, eine Zeitschrift für katholische Frauen, einen Artikel über die Reichstagswahlen, der andeutete, dass Katholiken selbst die politischen Aktivitäten von Frauen weder im Bett noch in der Küche und erst recht nicht am Arbeitsplatz sahen, sondern auf den Knien.

101 Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 64 f., 147 (Zitate); siehe auch S. 53, 59 f., 88, 142. Bruno Pauls Karikatur Das Brotkörbchen zeigte eine Sprecherin, die einer Versammlung von Feministinnen eine ähnliche politische Taktik vorschlug. Simplicissimus II/35, 1887, S. 272. Frankreich: Weber: Peasants, S. 365 Anm.; Charnay: L’église, S. 289, 294. 102 Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 142.

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Was gehen uns die Wahlen an? So werden die Monika-Leserinnen denken. – ›Wir Frauen kümmern uns nicht um Politik!‹… Aber es gibt eine Art, an der Politik teilzunehmen, welche auch die bescheidenste, einfachste Frau üben kann, ja sogar üben soll – und diese ist: das Gebet für unser Zentrum! … Die Feinde haben sich alle verbunden – auch wo sonst der Haß sie trennte – um dem Zentrum möglichst viele Sitze im Reichstag zu nehmen und leider ist zu befürchten, daß, wenn nicht Gott uns hilft, die Feinde an gar manchen Orten siegen werden! Deshalb, katholische Frauen, auf zum Gebet! Zeigen wir der Welt, dass Gottvertrauen und Frömmigkeit auch im Jahrhundert der Aufklärung noch existieren. Wenn jede liebe Leserin für den Sieg des Zentrums eine heilige Messe lesen läßt, so gibt das eine unabsehbare Zahl! Und in jeder dieser heiligen Messen opfert sich Christus selbst durch die Hände des Priesters dem himmlischen Vater auf für den Sieg Seiner Kirche … Fügen wir, wenn wir eifrig sein wollen, noch den täglichen Rosenkranz hinzu und Gott wird uns durch Seinen vielgeliebten Sohn und Dessen hochgebenedeite Mutter zum Sieg verhelfen.

Ein Liberaler las den Artikel in der Bayerischen Abgeordnetenversammlung laut vor und kommentierte (unter beifälligem Gejohle): »So schön, daß es nur ein Pfarrer gemacht haben kann.« Er empfinde Mitleid mit jedem, dem solch ein »ganz abscheulicher Mißbrauch« der Religion nicht die Schamröte ins Gesicht treibe. Die Berechtigung dieser Verdammung ist von einem Historiker, der die Zitate aus Monika an Blasphemie grenzend betrachtete, als nachvollziehbar dargestellt worden. Dasselbe könnte man auch von Matthias Erzbergers »sechs Geboten« für die Reichstagswahl behaupten, die 1912 in der illustrierten Monatsschrift Die christliche Jungfrau erschienen, in der Erzberger seinen Lesern versicherte: »Der Besuch des Altarssakramentes am 12. Januar und das Gebet für gute Wahlen geben unseren katholischen Jungfrauen einen recht hohen Einfluß auf das Gesamtresultat der Wahlen.«103 Aber der Vorwurf der Blasphemie wirft ein anderes Licht auf die Frage des klerikalen Einflusses. Wer wurde von den Lesern der Monika und der Christlichen Jungfrau beeinflusst, die Wählerschaft oder der Allmächtige? Anders als der Verweigerung des Sakraments durch einen Priester oder der Verweigerung sexueller Gunst durch seine weiblichen Instrumente – welche die Antiklerikalen gerne bewiesen hätten, was ihnen jedoch selten gelang – fehlte der Macht von Frauengebeten das nötige Element der Erpressung, es sei denn, man glaubte, dass Wahlen der göttlichen Beeinflussung unterlagen. Mit ihrem Zorn über Propaganda wie die der Monika bewiesen die Antiklerikalen eine Lesart der Themen, die genau jene Ängste bestärkte, die in der Stimmabgabe für das Zentrum zum Ausdruck kamen. Die katholische Religionsgemeinschaft konnte erst auf-

103 Die Reichstagswahlen, in: Monika Nr. 21, 23. Mai 1903, S. 251; Graf (der Historiker): Beeinflussungsversuche, S. 214 ff. Zitat des Bayerischen Abgeordneten Cassellmann und Monika aus Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 65, 147. Erzberger-Artikel wie auch ein ähnlicher Monika-Artikel zitiert in Bertram: Wahlen, S. 194 f.

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hören, das Zentrum als lebensnotwendig anzusehen, als die Gebete der Katholiken den deutschen Gesetzgebern keine Kopfschmerzen mehr bereiteten.

−−− Von Anfang an hatte das Zentrum behauptet, keine »konfessionelle« Partei zu sein, und betont, sowohl evangelische als auch katholische Christen in seinen Reihen willkommen zu heißen, wobei es auf die Rechte aller drei großen Religionsgemeinschaften in Deutschland verwies. Aber genau jene Merkmale der Zentrumskultur, die die hohe Politik für den katholischen Wähler greifbar machten – die Sprache ihrer Aufrufe, die Formen ihrer Propaganda, die Gegenwart bestimmter schwarz gekleideter Personen auf jedem Podium –, dies alles sorgte dafür, dass Protestanten und Juden mit großer Wahrscheinlichkeit fernblieben. Was sollten sich Nichtkatholiken bloß bei der Nördlinger Bekanntmachung denken, die den Zentrumskandidaten für die bevorstehende Wahl, einen Priester, als »den Gesalbten des Herrn, Gottes Stellvertreter auf Erden, Dr. Weißenhagen« beschrieb? Jeden Samstag wurde für die Landtagsdelegation des Zentrums in Berlin eine gemeinsame Messe gefeiert. Die Wahlveranstaltungen des Zentrums wurden in den katholischen Lokalzeitungen als kirchliche Veranstaltungen angekündigt, gleich nach den vier Sonntagsmessen. Der Terminplan einer Gemeinde für den 16. Juni 1903 umfasste folgende Punkte: »6.30 Uhr Beichte, 7 Uhr Bittgang, Hochamt und Herz-Jesu-Andacht. Von 10 bis 19 Uhr Reichstagswahl.«104 Als Bischof Ketteler 1872 sein Mandat aufgab und es einem evangelischen Rechtsanwalt namens Schulz anvertraute, war es da Zufall, dass das Mainzer Journal des Bischofs bei seinen Lesern den Eindruck hinterließ, dass Ludwig Schulz ein Katholik sei? Dieses Spiel der konfessionellen Täuschung konnte natürlich von beiden Seiten gespielt werden, aber selten mit dem gleichen Erfolg. 1887, als die Einmischung Papst Leos XIII. in die Reichstagswahlen Schlagzeilen machte, versuchten die Freien Konservativen in Lingen die Unterstützung des Zentrums-Amtsinhabers und prominentesten Gegenspielers des Papstes, Ludwig Windthorst, zu beschneiden, indem sie unweit der Eisenbahnfabrik, des größten Arbeitgebers der Stadt, ihren Mann auf riesigen Plakaten unwahrheitsgemäß als Katholiken beschrieben, der vom Heiligen Vater empfohlen worden war. »Die plötzliche Conversion des Obergerichts-R. Haenschen wird W[indthorst] sicher eine Freude machen«, bemerkte ein örtlicher Zentrumspolitiker trocken. »Haenschen weiß vielleicht selbst noch nicht, dass er in Lingen konvertiert ist.« Der Schreiber schlug vor, das Zentrum könne Verwirrung bei der evangelischen Basis seines Gegners stiften, indem es dafür sorgte, dass das wunderbare Ereignis die große Publizität erfuhr, die es verdiente.105 104 MK Nr. 3, 21. Jan. 1871, S. 24. Zitate in Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 144; Hahne: Reichstagswahl, S. 126. 105 Hlarer [? unleserlich], Z-Vertrauensmann, an Forstmeister [R.] Clauditz, L[ingen], 21. Feb. 1887, SAO Dep. 62b, S. 2379. Dr. Josef Hamacher, der mir freundlicherweise dieses Dokument zur Verfügung stellte, nimmt an, dass »Henschen« statt »Haenschen« gemeint war. Ähnlicher Trick 1890 von SD in Mülheim: Müller: Strömungen, S. 287. Häufiger war die Methode, die 1884 erfolgreich von FK in Wiesbaden 5

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Die Sprache der Religion und der Politik wurden regelmäßig verwechselt. Eine Liste von Warnhinweisen, wie die »brutale Wahlbeeinflussung« von Regierungsbeamten zu vermeiden sei, trug den Titel: »10 Gebote für Wähler«. Das Gebet- und Belehrungsbuch für die katholische Männerwelt, das von einem Pastor geschrieben und mit dem erzbischöflichen Imprimatur veröffentlicht worden war, enthielt ein Kapitel mit dem Titel »Wie wählst du?« und brachte Kritiker dazu, es das »Wahlgebetbuch« zu nennen. Eine Reihe von Wahl- oder Arbeiter-»Katechismen« stellten beispielsweise die Frage: »Für wen sollte der Arbeiter bei der Wahl seine Stimme abgeben?« – gefolgt von der vorhersehbaren Antwort.106 Für die Gegner waren solche »Katechismen« der eindeutige Beweis, dass der Klerus und seine Partei Religion und Politik vermengten – was diese sicherlich taten –, und dass dies ihren Vorwurf belegte, der katholische Wähler sei nicht frei – was durchaus nicht feststeht. Besonderen Unmut erregte ein Artikel mit der Überschrift »Wahlzettel«, der im Seraphischen Kinderfreund, einer Zeitschrift für katholische Kinder, erschien. Der Artikel enthielt die folgende Mahnung: Der Wahlzettel wiegt so schwer wie du selbst … An deiner Brust hat er geruht, dein Auge hat ihn betrachtet, kurz und gut, er ist ein Teil deines Ich, deiner Persönlichkeit. Nicht dein Zettel, sondern du liegst geistigerweise in der Wahlurne, ohne dich ist die Wahl keine vollkommene, es fehlt etwas ohne dich an der betreffenden Einrichtung im Staat, in der Gemeinde oder Kirche. Es kann nicht völlig besser werden, wenn du dein Votum nicht abgibst. O, es hängt viel an von deinem Wahlzettel! …

Bis hierher liest sich der Artikel wie eine Lektion in Staatsbürgerkunde, ein sentimentaler, etwas exaltierter, aber einfühlsamer Versuch, im Kind den zukünftigen Wähler zu überzeugen, dass es sein Stimmzettel ist, der ihn eines Tages mit der Welt der Politik verbinden wird, die als Staat, Gemeinschaft und (!) Kirche definiert wird. Der Stimmzettel werde dem Kind eines Tages gewisse Macht verleihen: genau dieses muss jede Bemühung um die Einführung von Kindern in die Ausübung der Demokratie vermitteln. Aber dann bekommt der Staatsbürgerkundeunterricht seine spezifisch katholische Dimension: … Auf dem Wahlzettel steht der Vorname deines Kandidaten, der Name eines Heiligen, des heiligen Namenspatrons. Meinst du, es sei den Heiligen und Unserm Herrgott ganz gleich, ob du wählst oder nicht? Glaubst du, es sei für Gott den Allmächtigen zu kleinlich, sich um deinen Wahlzettel zu kümmern? Gott der Herr, welcher sich nicht scheut, die Haare deines Hauptes und die deiner

angewendet wurde, die Konvertierung eines liberalen Konkurrenten oder das Versprechen der Konvertierung seiner Kinder zu behaupten, um ihm ein schmutziges Geschäft mit Windthorst im Austausch für katholische Stimmen anzuhängen. SBDR 9. April 1886, S. 2005, 2007, 2008. Ebenso Erzberger: Bilder, S. 38 f. 106 Schofer: Erinnerungen, S. 16; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 82, 92 f.; Bertram: Wahlen, S. 195.

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Mitmenschen zu zählen, er wird sich auch nicht die Mühe verdrießen lassen, die Wahlzettel zu zählen und einmal dich aufzufordern: ›Gib Rechenschaft von deiner Verwaltung!‹

Ein liberaler Autor, der diesen Artikel mit seinen Anspielungen auf die Parabel Christi von den Talenten abdruckte, hatte die Absicht, zu demonstrieren, dass die Machenschaften des Klerus nicht einmal vor dem Kinderzimmer Halt machten. »Kein Name, keine Partei ist genannt und doch die Parteipolitik so klar.« Die fehlende Erwähnung des Zentrums könnte eine unaufrichtige Auslassung gewesen sein, ein Zeichen, dass man die Ergebnisse religiöser Parteilichkeit beeinflussen wollte, ohne ganz offen deren Grund zu nennen. Aber sie zeigt auch, dass die Parteiidentität für Katholiken als selbstverständlich erachtet wurde. Nur auf das Ausmaß der Wahlentscheidung konnte man noch Einfluss nehmen. In die heiligen und gemeinschaftlichen Rituale, die die Beziehungen eines Katholiken zur äußeren Welt regelten, war jetzt die Wahl als ein wichtiges, ja sogar bestimmendes Element aufgenommen worden. Das Wählen war nicht mehr nur ein staatsbürgerlicher oder selbst moralischer Akt, sondern ein religiöser. Dies war »Stimmzettelkatholizismus«, wie Zentrumsgegner abfällig die politische Kultur der Katholiken nannten.107 Letztlich wurde der Wähler aufgefordert, sich nicht mit dem Kandidaten – einem bloßen Sterblichen – zu identifizieren, sondern mit dem Stimmzettel selbst, dem äußeren und sichtbaren Zeichen sowohl seiner Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft als auch seiner Teilhabe an der Macht über die politischen Vorgänge.

Nach 1900: Das Gespenst der klerikalen Wahlbeeinflussung geht wieder um Während des Kulturkampfes und sogar in dem Jahrzehnt, nachdem Vereinbarungen zwischen Berlin und Rom 1887 sein formales Ende festgeschrieben hatten, scheint die öffentliche Meinung, wenn auch unfreiwillig, Zentrumssiege als tatsächlich repräsentativ für »die wirkliche Forderung des katholischen Volkes« akzeptiert zu haben. Nach 1874 gab es kaum noch ernsthafte Versuche, Zentrumssiege für ungültig erklären zu lassen, und die Staatsrechtler hörten auf, »klerikale Einflüsse« in ihren Abhandlungen über Bedrohungen für die freien Wahlen zu nennen.108 Der Bericht der SPD von 1893 an ihre Wähler erinnerte 107 Graf: Beeinflussungsversuche, S. 166. Zitate: Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 64 und 12. 108 Zitat: Dr. Conrad Martin, S. 368. Z. B. ohne Erwähnung klerikaler Beeinflussung: K. M.: Schutz, S. 157 ff.; Zwischen 1874 und 1882 enthielten nur zwei Anfechtungen von Z-Siegen (1874 in Niederbayern 2, 1881 in Bochum) Vorwürfe gegen klerikale Beeinflussung – und beide waren erfolglos. Gelegentliche spätere Proteste waren halbherzig und wurden von den RT-Komitees kaum ernst genommen. Posen 10, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 44, S. 145; Kassel 2, SBDR 5. Feb. 1885, S. 684; Köller (zu Breslau 11), 5. Feb. 1885, S. 1102. Die Wahl von 1890, die von den relativ meisten Wahlanfechtungen bis dahin gefolgt wurde, brachte weder Proteste gegen Zentrumssiege aus den Regionen ein, die in den Siebzigern am meisten Proteste hervorgebracht hatten – Oberschlesien und Oberbayern –, noch aus Elsass-Lothringen. Eine kurze Debatte im Reichstag 1892 kam zu dem Ergebnis, dass der klerikale Einfluss unbedeutend

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diese zwar daran, dass, falls ein Geistlicher »während des sogenannten Gottesdienstes« Wahlkampf triebe, man diese Tatsache in einem Protest zitieren könnte, aber anders als bei anderen Formen illegalen Einflusses, die der Bericht beschrieb, wurden keine Beispiele aus den letzten Wahlen mehr genannt.1898, als die Wahlkommission des Reichstags die häufigsten Beschwerden gegen Wahlen auflistete, fehlte auf dieser Liste bemerkenswerterweise der klerikale Einfluss.109 Zur Jahrhundertwende jedoch kochte der siedende Unmut über die politische Rolle des Klerus plötzlich wieder über und das Thema nahm eine Bedeutung in der öffentlichen Diskussion ein, die an diejenige der frühen 1870er Jahre erinnerte. Einige Länder wiesen die örtlichen Beamten an, jede öffentliche Äußerung von Geistlichen in ihrem Zuständigkeitsgebiet, die diese während der Landes- und Reichstagswahlen gemacht hatten, zu dokumentieren.110 Staatsrechtler stellten erneut die Frage nach der politischen Gleichbehandlung des Klerus: Sollten seine Mitglieder das Recht haben, Reden zu halten, ein gewähltes Amt zu übernehmen, sogar zu wählen?111 Ein hochrangiger liberaler Richter behauptete, 49 konkrete neuere Fälle von Wahlbeeinflussung durch katholische Priester zusammengestellt zu haben, obwohl bereits eine weit größere Anzahl in der Presse und der parlamentarischen Literatur erwähnt worden war.112 Die Abweisung der meisten Beschwerden durch den Reichstag 1903 (die über 100 Abgeordnete starke Zentrumsfraktion bildete eine starke Barriere gegen die Ungültigkeitserklärung) heizte die öffentliche Empörung nur noch weiter an.113 Während der überaus heftig geführten »Hottentottenwahlen« von 1907 mobilisierte die Regierung diesen Unmut zu ihren Gunsten und noch die Anfechtungen nach der Wahl hielten das Thema im Bewusstsein der Öffentlichkeit.114 Auf lokaler

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sei. SBDR 18. März 1892, S. 4841 f. Obwohl eine Untersuchung der Länderparlamente in dieser Hinsicht den Umfang dieser Studie sprengen würde, lässt sich sagen, dass der Preußische Landtag drei Z-Siege wegen klerikaler Beeinflussung für ungültig erklärte. Rösch: Kulturkampf, S. 110 ff.; Virnich: Fraction, S. 18, 37 f. Abgedruckt in: Reichstags-Wahlgesetz, S. 77 ff. SPD: Thätigkeit, S. 155 f. Die Regierung von Baden befahl eine »Razzia« gegen dessen 1.300 Geistliche; im Rheinland führte die Regierung während des Wahlkampfes von 1907 eine Überwachung jedes Kreises und jedes Pastorats durch. Schofer: Erinnerungen, S. 90; Horn-Bericht, LHAK 403/8806. Everling (NL) SBDR 6. Mai 1908, S. 5194. Am Ende des Jahrhunderts hatte Meyer den Brauch mehrerer Länder untersucht, Beamte und Geistliche vom passiven Wahlrecht auszuschließen. Sein Schweigen über Deutschland deutet darauf hin, dass vor seinem Tod im Februar 1900 wenig über das Thema bekannt war. Meyer: Wahlrecht, S. 487 f. Campe: Wahlbeeinflussung, S. 6. Von Campe war jedoch auch ein Mitglied des Zentralvorstands des Evangelischen Bundes und Reichstagsabgeordneter. Smith: Nationalism, S. 136. Der Reichstag betrachtete die folgenden Vorwürfe als irrelevant (alle Zitate aus AnlDR, falls nicht SBDR angegeben): Stimmzettel austeilen: Bromberg 1 (1899, 10/I, Bd. 2) DS 212, S. 1591; EL 10 (1905/0, 11/ II, Bd. 6) DS 483, S. 4733 ff., bes. 4739; Allenstein 3 (1912/14, 13/I, Bd. 20) DS 1061, S. 1972; Oppeln 4 (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 798, S. 1096; Unterschriften sammeln: Trier 6 (1903/04, 11/I, Bd. 3) DS 411, S. 2400; bei Wahlveranstaltungen sprechen: EL 10 (1905/06, 11/II, Bd. 6) DS 483, S. 4737. Die folgenden betrachtete er als relevant: Läuten der Kirchenglocken vor Beginn der Wahl: EL 10, SBDR 16. Nov. 1906, S. 3593 ff.; Arnsberg 2: SBDR 26. Feb. 1908, S. 3421 ff.; EL 8, SBDR 6. Mai 1908, S. 5179 ff.; Posen 6: SBDR 21. Mai 1912, S. 2217 ff.; Trier 2 (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 379, S. 322; Wähler in der Sakristei versammeln: Oppeln 3 (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1436, S. 2954ff; Drohung mit Verweigerung der Absolution: Oppeln 4, AnlDR (1903/04, 11/II, Bd. 2) DS 228, S. 989. Z. B. aus AnlDR: EL 15 (1907/09, 12/I, Bd. 19) DS 638, S. 4314; Arnsberg 2 (1907/09, 12/I, Bd. 19) DS

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und Landesebene zeigten sich die Parlamente, Strafverfolgungsbehörden sowie die örtlichen Beamten eher bereit, gegen katholische Priester hart durchzugreifen. In Baden und Württemberg gab es Bemühungen, die existierenden Gesetze gegen Beeinflussungen von Wahlen durch die Regierung auf den Klerus auszudehnen.115 Der Evangelische Bund, der 1886 gegründet worden war, als die Regierung den Kulturkampf aufgab, um die Kulturkämpfe auf der Guerilla-Ebene der öffentlichen Meinung weiterzuführen, wurde nun zu neuem Leben erweckt. Verwandte Organisationen erhielten auch wieder Auftrieb: der Gustav-AdolphVerein, die Los-von-Rom-Bewegung, die Antiultramontane Wahlvereinigung, der Giordano-Bruno-Bund (aus Ernst Haeckels Deutschem Monistenbund), der Goethe-Bund … zur Abwehr von Angriffen auf die freie Entwicklung des geistigen Lebens (mit seiner Zeitschrift Das Freie Wort) und der Akademische Bismarck-Bund, eine Studentenorganisation (samt ihrer Zeitung Der Getreue Eckard. Antiultramontane Blätter zur Lehr und Wehr). Bei entfremdeten katholischen Intellektuellen stieß die Kraus-Gesellschaft mit ihrem Wochenblatt Das neue Jahrhundert. Organ der deutschen Modernisten, das von einem ehemaligen Priester herausgegeben und heimlich von Kreisen des Bayerischen Hofes finanziell unterstützt wurde, in das gleiche Horn.116 Bild Vielsagender als die neu aufflammenden Wahlanfechtungen oder die neuen antiultramontanen Aktionsgruppen waren die Forderungen nach neuer Strafgesetzgebung – drei Jahrzehnte nach dem Kanzelparagraphen, der Ausweisung der Jesuiten und dem Kirchenstrafengesetz.117 Nach den Reichstagswahlen von 1907, bei denen trotz skurriler Regierungsattacken das Zentrum sehr gut abschnitt, schlug Bethmann Hollweg, damals preußischer Innenminister, Kanzler Bernhard von Bülow die Möglichkeit vor, in das preußische Strafgesetz einen Paragraphen aufzunehmen, der den Gebrauch religiöser Drohungen oder Strafen im 636, S. 4303 ff.; München (Oberbayern 1), (1907/09, 12/I, Bd. 20) DS 737, S. 4633 ff.; Oppeln 4 (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 798, S. 1094, 1096 ff. 115 Ein elsässischer Bezirkstag, der durch ein Gericht in Colmar bestätigt wurde, wendete Reichstagsbeschlüsse, die Wahlen wegen Beeinflussung durch Beamte für ungültig erklärten, 1906 auf den Klerus an; der Württembergische Landtag verabschiedete 1908 Richtlinien für ähnliche Ungültigkeitserklärungen. Schofer: Erinnerungen, S. 90; Leser: Untersuchungen, S. 91 Anm. 2; Mayer: Bekämpfung, S. 22, zustimmend zitiert von Müller-Meiningen SBDR 21. Mai 1912, S. 2218 f.; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 72, 94 ff., 116 f. Bodewigs Arbeit, die bewiesene und unbewiesene Vorwürfe mit gleichem Eifer aufzählt (S. 87 f.), ist selbst ein Beispiel für die damalige Hysterie. 116 Interne Hinweise deuten darauf hin, dass die meisten seiner Autoren, und vielleicht auch der größte Teil der Mitglieder der Kraus-Gesellschaft, entfremdete süddeutsche Priester waren. Eine eindeutiger rechtsgerichtete katholische Gruppe mit ähnlichem Ziel war die Deutsche Vereinigung, die 1907/08 gegründet wurde. Horst Gründer: Rechtskatholizismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Westfälische Zeitschrift 134 (1984) S. 107 ff.; Schloßmacher: Antiultramontanismus, S. 167 ff.; Möckl: Prinzregentenzeit, S. 118 f., 512, 538. 117 Z. B. Cohn: Schutz, S. 581; Campe: Wahlbeeinflussung, S. 6 ff., 36 ff.; Mayer: Bekämpfung, S. 22 f.; BT 2. März 1913, BAB-L R1501/14653. Im Reichstag stellte die Linke einen Antrag, § 339 des Strafgesetzbuchs, der für den Missbrauch der Staatsmacht zur Beeinflussung von Wahlen Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren vorsah, auf den Klerus auszuweiten, und griff damit die Definitionsfragen der 1870er Jahre wieder auf. SBDR 16. Nov. 1906, S. 369B; der Württembergische Landtag diskutierte einen ähnlichen Antrag am 15. Juni 1907. Andere Reichsgesetze, deren Ausweitung auf den Klerus diskutiert wurde, waren §§ 106, 107, 167 und 253. Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 48, 95, 100.

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Abb. 4: Ein Gedenkblatt Kladderadatsch (Nr. 34, 22. August 1909, pp. 584)

Achtung Cherusker! Es sind wieder Römer im deutschen Wald

Wahlkampf verbot.118 In einzelnen Ländern wurden verschärfte Versionen des Reichs-Kanzelparagraphen vorgeschlagen. Obwohl Beamte, wie beispielsweise Landräte oder Bürgermeister, in dem Wahlbezirk kandidieren konnten, in dem sie amtierten, hatten Baden und Württemberg dieses Recht Mitgliedern des Klerus bereits untersagt.119 In Bayern ließ der Konservative Ernst Graf von Moy, Spross einer angesehenen katholischen Familie, 1904 einen dreißig Jahre alten 118 BH an Bülow, 9. März 1907, BAB-L R1501/14645, Bl. 51. 119 Lachner: Grundzüge, S. 48 f.; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 149; Elble: Kanzelparagraph, S. 40 f., 43, 62.

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Antrag der Fortschrittspartei wieder aufleben, Geistlichen aller Konfessionen das Wahlrecht zu entziehen. Hier, wie auch in den meisten anderen Fragen, wurde der deutsche Diskurs unter Zuhilfenahme legitimierender Beispiele aus anderen »Kulturländern« geführt. Von Moy selbst behauptete, solche in Spanien, Italien, Belgien, Luxemburg, der Schweiz, Großbritannien und nicht genannten Teilen der USA gefunden zu haben. Tatsächlich hatte kein einziger dieser Staaten den Geistlichen das Wahlrecht entzogen, wenn sie auch bestimmte Gruppen von Geistlichen von parlamentarischen Ämtern ausschlossen.120 Die neue intensive öffentliche Wachsamkeit, die Überwachung durch die Regierung und die Strafverfolgung brachten einige gepfefferte Skandale zutage, von denen der schmutzigste den Wahlkampf in der Industriestadt Kattowitz (KattowiceZabrze) betraf, wo sich die Kandidaten zweier konkurrierender katholischer Parteien um dieselbe Wählerschaft bemühten, wobei keiner vor religiösen Appellen zurückschreckte. Als der junge polnische Nationaldemokrat Albert (Wojciech) Korfanty, ein früherer Bergarbeiter und der Herausgeber einer nationaldemokratischen Zeitung, den alteingesessenen Amtsinhaber vom Zentrum absetzte, ließen seine Anhänger zur Feier des Sieges Messen lesen – natürlich nicht in Kattowitz-Zabrze, sondern einige Meilen jenseits der damaligen österreichischen Grenze, in Krakau. Aber es waren die Nachrichten über klerikales Einschreiten zugunsten des schwächelnden Zentrums, die am meisten Erstaunen erregten. Vor der Wahl hatte der regierungsfreundliche Fürstbischof von Breslau, Kardinal Georg Kopp, die Mitglieder seiner Diözese ermahnt: »Eure Priester hätten sonst das Recht und die Pflicht euch die Segnungen und Gnaden der Kirche … zu verweigern …«, falls sie nationaldemokratische Blätter über ihre Schwelle ließen.121 Zentrums-Kleriker hatten Albert Korfanty und seine Partei »Rotzlöffel« genannt – und Schlimmeres. Nach dem Sieg der Nationaldemokraten war angeblich ein wütender Pastor auf der Kanzel explodiert: »Ich verfluche das ganze polnische katholische Volk in Oberschlesien!« Andere hatten ihre Gemeindemitglieder sogar mit einem »Streik« überzogen: Sie weigerten sich zu predigen, das Hochamt zu feiern oder Kindern Religionsunterricht zu erteilen, deren Väter die Nationaldemokraten unterstützt hatten. Die spektakulärste dieser kirchlichen Strafen war die Weigerung von Zentrums-Geistlichen, den 28-jährigen Korfanty zu trauen. In einer internationalen cause célèbre, die sogar Gutachten von Theologieprofessoren und die Intervention des Vatikans nötig machte, durfte der zukünftige Vizepräsident der Republik Polen schließlich kirchlich heiraten, aber in Krakau, nicht in Deutschland. Korfantys Zeitung berichtete unverzüglich über diese Ereignisse, und Kardinal Kopp antwortete mit 120 Ernst Graf von Moy: Das Wahlrecht der Geistlichen, München 1905; Franz Heiner: Ausschluß der Geistlichen von den politischen Wahlen (Antrag des Grafen von Moy in der I. bayerischen Kammer), Archiv für katholisches Kirchenrecht 48 (3. Folge, Bd. 8) 1904, S. 107 ff.; DZJ 23. Jan. 1904, Nr. 4, und 5. Feb. 1905, Nr. 7; Friedrich: Wahlrecht. Dazu Thönys Karikatur: Ein Gegner der lex Moy, Beiblatt des Simplicissimus VIII/45 (2. Feb. 1904). Baden: Schofer: Erinnerungen, S. 89 f. 121 Zitiert in Schwidetzky: Wahlbewegung, S. 62. Zum Versagen des schlesischen Z, die Forderung der Polen nach Repräsentation zu erfüllen: Leugers-Scherzberg: Porsch, bes. S. 76 ff., 120 f., 128; das Zerbrechen des katholischen Lagers in den schlesischen Landtagswahlen: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 298 f., 303 und 303 Anm. 56.

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einer Verleumdungsklage im Namen seiner schlesischen Geistlichen. Aber was im Laufe des Verfahrens über die politische Beeinflussung durch den Klerus ans Licht kam, erwies sich für den Fürstbischof von Breslau als noch weit rufschädigender als die Berichte in Korfantys Zeitungen. Angesichts der zunehmenden Erregung schickte Kopp plötzlich ein Telegramm mit dem Angebot, die Anklage fallen zu lassen und die Gerichtskosten zu bezahlen. Die Schadenfreude der Zentrumsgegner kannte keine Grenzen. Wer konnte die Furcht des Kardinals bezweifeln, dass eine Weiterführung des Verfahrens noch schlimmere Skandale aufgedeckt hätte?122 Oberschlesien mag tatsächlich, wie Zentrumssprecher umgehend betonten, »eine Welt für sich« gewesen sein und untypisch für den Rest des katholischen Deutschland. Die überwältigende Zahl von Anklagen gegen den Klerus an anderen Orten betraf Aktivitäten, die jahrelang, wenn auch nur widerwillig, hingenommen worden waren. Selbst die schlimmsten Vergehen – wie der Fall des einfältigen Pastors Gaisert in Gündelwangen, der in Panik über eine nachträgliche Untersuchung der Wahl versuchte, ein Gemeindemitglied zum Meineid zu überreden – waren eher Aktionen aus Verlegenheit zur Vertuschung offensichtlicher Wahlwerbung für das Zentrum als Einschnitte in die Freiheit der Wähler.123 Wie erklärt sich dann die neue Entrüstung über den Klerus? Vier klare Trends sind erkennbar: durch eine neue Welle der Demokratisierung hervorgerufene Ängste; die erfolgreiche Eingliederung von Elsass-Lothringen in das Reich; eine Erosion der Solidarität der Katholiken aufgrund weltlicher Themen, wirtschaftlicher aber besonders auch »nationaler«, sowie die nie zuvor erreichte Macht der Reichtagsfraktion des Zentrums. 1. Der neue Feldzug gegen »klerikale Einflüsse« war, genau wie die ursprüngliche Kampagne von 1871, verbunden mit Ängsten vor der Demokratisierung, wie die auffällige Übereinstimmung zwischen denjenigen Gebieten, wo die Wahlkampftätigkeit des Klerus die meisten Kontroversen hervorrief, und jenen Ländern, die ihre Wahlgesetzgebung reformiert hatten, zeigt. Beginnend in Baden 1904, gefolgt von Württemberg 1905 und schließlich gipfelnd in Bayern 1906, formten Verfassungsänderungen die politischen Systeme dieser Staaten um. Obwohl ihr Wahlrecht bis dahin fast so umfassend wie das des Reichstags gewesen war, hatten die indirekte Stimmabgabe und willkürliche Wahlkreisgeometrie den liberalen und Regierungsparteien Vorteile verschafft. Jetzt hatten alle drei südlichen Staaten ein direktes allgemeines Männerwahlrecht; Bayern und Württemberg teilten außerdem ihre Wahlkreise neu ein und ersteres führte die Australische Stimmabgabe ein, letzteres das Verhältniswahlrecht.124 Anders 122 Bachem: Vorgeschichte, Bd. 6, S. 189 ff.; Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 54, 127 ff. (Zitate); DA 22/15 (10. April 1904) S. 233 f. 123 Hatschek: Kommentar, S. 204 ff., gibt viele Beispiele abgewiesener Proteste. 1912 endete das Verfahren der WPK über Posen 6 unentschieden, 7:7. AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 491, S. 541 ff.; SBDR 21. Mai 1912, S. 2217 ff. Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 75 ff.; Zitat S. 133. 124 Pohl: Arbeiterbewegung, S. 465 ff., bes. 467 ff. Die bayerischen Städte, wo die Liberalen ihre stärkste Unterstützung erfuhren, blieben dadurch geschützt, dass 28 Sitze für sie reserviert blieben. Seymour u. Frary:

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als der demokratische Wendepunkt von 1867–1871 auf der Reichsebene war dieser neue demokratische Durchbruch im Süden keineswegs ein Geschenk von oben, sondern die Frucht eines Jahrzehnts der Agitation, bei der über lange Zeit (Württemberg nach 1897 bildet hier eine Ausnahme) der niedere Klerus eine lautstarke Rolle gespielt hatte. Die größte Wirkung zeigten die Reformen bei der Wahlbeteiligung. Sobald das Votum der Wähler nicht mehr durch das zweistufige Wahlsystem und die Manipulation der Wahlkreisgrenzen verfälscht wurde, stieg die Beteiligung an den Landtagswahlen sprunghaft an.125 Angesichts von Parteiorganisationen, die sich an religiös-kulturellen Konflikten orientierten, war eine Verschärfung der religiösen Rhetorik auf allen Seiten ein nahezu unvermeidliches Nebenprodukt des Mobilisierungsprozesses. Und obwohl nicht klar ist, ob die Reformen des Wahlrechts selber oder die Mobilisierung, die mit ihnen einherging, die stärkere Repräsentation des Zentrums in diesen Länderparlamenten verursachte, war die Verbindung zwischen Liberalen und Regierungen, die den Süden so lange geprägt hatte, nun in Frage gestellt.126 Wie Karikaturen im Simplicissimus zeigen, fürchteten die Liberalen, dass, sobald das »Volk« einmal im Sattel säße, das Zentrum reiten werde.127 Badische Politiker wiesen Bülows »Block« von 1907 den Weg, als sie 1905 anfingen, alle Parteien von den Nationalliberalen bis einschließlich der SPD in einer Sammlung gegen das Zentrum zu vereinen, dem »Großblock«. Der nächste Schritt war die Annullierung von Zentrumssiegen.128 In diesem Zusammenhang einer zweiten Demokratisierungswelle muss die erneute Furcht vor dem Klerus gesehen werden. Graf von Moy stellte seinen Antrag, dem Klerus das Wahlrecht zu entziehen, zu einer Zeit, als sogar die bayerische Regierung Vorschläge für eine Wahlrechtsreform unterbreitete. Nur wenige Beobachter glaubten, dass der Graf, ein intellektuelles Leichtgewicht, sein Ausnahmegesetz alleine ersonnen habe. Da das Zentrum genügend Sitze besaß, um seine Ratifizierung zu verhindern, lag die Bedeutung dieses Gesetzes nicht darin, was es in der Praxis bewirken konnte, sondern in dem Schlaglicht, das es auf die massive Präsenz katholischer Geistlicher in den gewählten Gremien warf – sie stellten ungefähr 20 Prozent der Zentrumsabgeordneten im bayerischen und im Parlament des Deutschen Reichs.129 In den frühen 1870er Jahren hatte

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World, Bd. 2, S. 32; Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 395 f., 411 ff.; Schofer: Erinnerungen, S. 60, 62 ff., 82, 84 f. In Bayern war die Wahlbeteiligung sowieso im Zunehmen begriffen. Von 39,5 Prozent 1899 war sie auf 51,1 Prozent 1905 gestiegen. Jetzt sprang sie auf 72,9 Prozent – insgesamt ein Wachstum um mehr als 70 Prozent. Meine Rechnung, extrapoliert aus Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 157. Die SPD errang 1899 nur 15,3 Prozent der Stimmen, das Zentrum 48,2 Prozent. Während des nächsten Jahrzehnts stieg der Anteil der SPD, der des Zentrums fiel, bis zu 19,5 bzw. 40,9 Prozent. Ebd., S. 160. Möckl: Prinzregentenzeit, S. 486 ff., 497 ff., 502 f., 508. Die Ergebnisse variierten. In Württemberg profitierten Z, SPD und K/BB; NL und VP verloren, in Baden gewann die SPD viel, das Z etwas; in Bayern verlor das Z relativ zur letzten Wahl vor der Reform (aber nach der Mobilisierung). Die Änderungen in Bayern kamen dem rechten Flügel des Z zugute. Möckl: Prinzregentenzeit, S. 509 ff., 516 ff., 541 Anm. 257; Blackbourn: Class, S. 122 ff., 130 Anm. 46. Z. B.: Die Württembergischen Wahlen, in: Simplicissimus IX 2/41 (7. Jan. 1907) S. 654. Ernst Lehmann: Die Badischen Landtagswahlen, in: Die Hilfe 25/38 (19. Sept. 1909) S. 595 f.; Schofer: Erinnerungen, S. 88 ff.; Zangerl: Opening, und ders.: Courting, S. 223 ff.; Blackbourn: Class, S. 168. Rosenbaum: Beruf, S. 23, 29, 33, 62 f. Lachner gab zu, dass solch »eine in die politischen Prinzipien eines

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Heinrich von Sybel vorhergesagt: »Je demokratischer die Zeitströmung ist, desto schwerer fällt eine Partei in das Gewicht, welche über anderthalb Millionen Wähler mit militärischem Commando verfügt.« Dreißig Jahre später waren Nationalliberale wie Friedrich Naumann immer noch misstrauisch gegenüber der Macht der Priester »in einem demokratischen Zeitalter«.130 Wie die österreichischen Gesetzgeber, die versuchten, der Wahlrechtsreform des Reichsrats von 1906 Zusatzklauseln anzufügen, die klerikalen Missbrauch unter Strafe stellten, bereiteten sich diejenigen, die von Moy unterstützten – die Regierung und, Andeutungen nach, sogar einige katholische Bischöfe –, auf die jetzt für unaufhaltbar angesehene Demokratisierung mit einem Warnschuss auf die Geistlichen des Zentrums vor, die sie für die Demokratisierung verantwortlich machten.131 Es überrascht nicht, dass Anfang 1907, als die Zentrumspartei und ihr Klerus erneut heftigen Angriffen ausgesetzt waren, das Zentrum darauf reagierte, indem es seinen Gesetzentwurf erneut aufleben ließ, mit dem das preußische Dreiklassenwahlrecht durch das Reichstagswahlrecht ersetzt werden sollte.132 2. In Elsass-Lothringen fanden keine Änderungen des Wahlrechts statt, sondern es vollzogen sich andere mit der Demokratisierung verbundene Prozesse: Integration und Mobilisierung. Obwohl dies das katholischste Land in Deutschland war, blieben die Wahlbeteiligungen hier weit hinter denen anderer katholischer Gegenden zurück, mit Ausnahme der außergewöhnlichen »Plebiszite für Frankreich« von 1874 und 1887 (wobei das letztere von Gerüchten gespeist wurde, dass General Georges Boulanger dabei sei, die verlorenen Provinzen zurückzuholen). Während dieser ersten Jahrzehnte waren die religiösen Verwerfungslinien durch die Allianz zwischen Klerikalen, die dem deutschen Kulturkampf Widerstand leisteten, und den »gambettistischen« Honoratioren, die gegen die Annexion protestierten, in den Hintergrund gedrängt worden. Tatsächlich war die Nominierung des Bischofs von Metz für eine Kandidatur in Lothringen von einem Republikaner und Juden, dem Bankier Edouard Gordchauz aus Metz, vorangetrieben worden. In den 1890er Jahren jedoch wurden Elsässer, die im Deutschen Reich geboren worden waren und sich jetzt ohne großes Aufheben mit dem Reich identifizierten, immer aufgeschlossener gegenüber systematischer Organisation, wie sie ihre Väter verschmäht hatten.133 Gleichzeitig berichtete die elsässische Presse weiterhin ausführlich über französische Ereig-

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demokratisierten Volkes tief einschneidende Rechtsbeschränkung« eine größere Rechtfertigung verlange als in von Moys Gesetzesvorlage gegeben war. Grundzüge S. 38, 49 f., 54. Sybel: Politik, S. 452; Naumann: Das Zentrum, S. 114 f. Einer, der die Maßnahme unterstützte, wahrscheinlich selber ein Priester, glaubte, dass die Bischöfe zufrieden sein würden, da ihnen die Gesetzesinitiative von von Moy eine freiere Hand ließe, »wenn die geistlichen Herrn Abgeordneten, die bisher über manches Ordinariat einen wahren Terrorismus ausgeübt haben, von der Bildfläche verschwänden«. Das Wahlrecht der Geistlichen, DZJ 5/7 (1905) S. 70 ff.; Pastor Tremel: Wahlrecht der Geistlichen – Gedanken zum Antrag Moy, in: Augsburger Abendzeitung Nr. 46, 47, 48, (15., 16., 17. Feb. 1904). Der ähnliche Antrag der F schloss eine Neuordnung der Wahlbezirke ein, was für die ländlichen Z-Wahlkreise als gefährlich angesehen wurde. Loth: Katholiken, S. 124f; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 495 f. Niedrige Wahlbeteiligung: E. Manteuffel an King, 3. Nov. 1884, 5. März 1887, GStA PK I. HA, Rep. 89/211, Bl. 33; 75–81v. Hiery: Reichstagswahlen, S. 146 (Duponts Kandidatur) S. 235, 269, 282, 284, 306 f., 311, 317 ff., 320, 324, 334, 429 ff., 432 f.; Wahlbeteiligung: 160 f., 247 (Tabelle), 321.

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nisse – zu einer Zeit, als die Dreyfus-Affäre, die Konfrontation zwischen Kirche und Republik und der endgültige Sieg der Linken die Nachrichten beherrschten. Der antiklerikale Kreuzzug, mit dem die französische Linke ihren Erfolg in der Dreyfus-Affäre feierte und der nach der Jahrhundertwende mit der Unterdrückung der katholischen Schulen und der Ausweisung religiöser Orden seinen Höhepunkt erreichte, ermutigte die weitere Eingliederung Elsass-Lothringens in das Kaiserreich. Zugleich überschattete er aber auch die gleichzeitige Mobilisierung, wie dies bereits der Kulturkampf in den 1870er Jahren für die deutschen Katholiken getan hatte. Wieder einmal gingen der Liberalismus (mit seinen Verbündeten, den Sozialisten, Protestanten und Juden) und der Katholizismus in Kampfstellung, wobei beide einander die Sünden vorwarfen, die auf der anderen Seite der deutsch-französischen Grenze begangen worden waren. Sowohl das Zentrum als auch die Liberalen (bis 1903, anschließend die Sozialdemokraten) waren die Nutznießer, Respekt im Umgang war der Verlierer in diesem Prozess. Besonders in Colmar, Hagenau-Weißenburg, Saargemünd und im Straßburger Land wurde das Zentrum immer auffälliger, lautstärker – und unausstehlicher.134 In einigen Städten entwickelten sich Wahlversammlungen zu Schlägereien. Antisemitische Beleidigungen wurden dem liberalen antiklerikalen Kandidaten Daniel Blumenthal entgegengeschleudert und Steine trafen die Fenster jüdischer Geschäftsleute. Junge klerikale Hitzköpfe wurden (häufig zu Recht) für diese Ausbrüche verantwortlich gemacht – und ebenso für die Wahlsiege des Zentrums. 1903 erlangten die Wahlbeteiligungen in der Region weder zuvor noch später jemals erreichte Höhen. Ein elsässischer Bezirk erzielte mit 93,2 Prozent Wahlbeteiligung den ungebrochenen Rekord innerhalb des Reichs. Im selben Jahr erreichten die Versuche, Zentrumsmandate wegen »Beeinflussung« durch den Klerus annullieren zu lassen, einen Höhepunkt.135 3. Die Erosion der katholischen Solidarität begann an den Rändern. Dies war der dritte Grund dafür, dass der klerikale Einfluss auf Wahlen erneut öffentlich problematisiert wurde. Als der Kulturkampf in Vergessenheit geriet, war es nicht mehr selbstverständlich, dass die Politik des »katholischen Deutschland« deckungsgleich mit der religiösen Kultur der deutschen Katholiken war. Bereits 1887 hatte das Zentrum begonnen, einige seiner Anhänger zu verlieren, vor allem im rheinischen Adel, als es zum ersten Mal eine Wahl ausnahmslos mit einem weltlichen Thema bestritt: der Opposition zu Bismarcks Septennat. Für die Presse war Papst Leos XIII. implizite Zurechtweisung des Zentrums, als er sich wegen Bismarcks Militärvorlage einmischte, eine Sensation sondergleichen und sicher das spektakulärste Beispiel versuchter klerikaler Beeinflussung in der deutschen Geschichte. Aber da die beschädigte Partei, das Zentrum, das stärkste 134 Hiery: Reichstagswahlen, S. 283, 302, 318 f., 321, 323, 325 f., 328, 330, 433; frühere antisemitische Rhetorik: Sperber: Voters, S. 128. 135 EL 10, 1903 (26 Anklagen wegen Missbrauchs der Kanzel und 29 wegen Missbrauchs des Beichtstuhls): AnlDR (1905/06, 11/II, Bd. 4) DS 483, S. 4733 ff.; SBDR 16. Nov. 1906, S. 3691 ff.; EL 10 und EL 15, 1907: AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 29) DS 638, S. 4314; zum Antisemitismus im Z und seiner Wählerschaft: Blackbourn: Catholics, the Centre Party and Anti-Semitism, in ders.: Populists and Patricians. Essays in Modern German History, London 1987, S. 168 ff.; H. W. Smith: Alltag, S. 280 ff.; ders.: Religion, S. 283 ff.; ders.: Discourse, S. 315 ff.; Blaschke: Herrschaft.

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Interesse daran hatte, dass der klerikale Einfluss totgeschwiegen wurde, folgten der päpstlichen Intervention keinerlei Wahlproteste, die das Thema hätten am Leben halten können. Dennoch demonstrierte die Wahl von 1887 die Schwachstelle im Herzen des politischen Katholizismus: je wichtiger die rein politische Agenda der katholischen Abgeordneten wurde, desto größer war das Spektrum möglicher Meinungsverschiedenheiten unter ihren Wählern. Und je größer die Meinungsverschiedenheiten waren, desto stärker instrumentalisierte die Partei ihren Klerus, um die Botschaft der katholischen Geschlossenheit zu erzwingen oder wenigstens den Anschein davon zu erwecken. Zwangsläufig wurden dadurch die Geistlichen zur Zielscheibe innerkatholischer Konflikte. In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatten unzufriedene katholische Adlige ihren Unmut an Priestern ausgelassen, weil diese einer verhassten neuen »Demokratie« (sprich: Führung aus dem Mittelstand) innerhalb des Zentrums zum Triumph verholfen hatten.136 Auch populistische Aufständische – Arbeiter in den 1870ern, Handwerker in den 1880ern, Bauern in den 1890er Jahren – zählten den Klerus zu ihren Hauptgegnern.137 Einmal mit der Linken, dann wieder mit der Rechten in einen Topf geworfen – mit dem Schwinden der Solidarität konnte der Klerus allen alles bedeuten. Solange die Unzufriedenheit mit der Politik des Zentrums lediglich materiellen Interessen entsprang, konnten die Meinungsverschiedenheiten, wenn auch unter Anstrengungen, im Zaum gehalten werden. Und als Konflikte zwischen verschiedenen Interessengruppen innerhalb der Partei entstanden, hatte der Druck der Gemeinschaft geholfen, die Kritik zu dämpfen und die Kritiker zu isolieren.138 »Nationale« Belange jedoch, die das Verständnis der Gemeinschaft selbst in Frage stellten, erwiesen sich als schädlich. Als die wilhelminische Regierung unter dem Beifall zahlreicher lautstarker Interessengruppen begann, den Imperialismus in Übersee und zugleich »deutsche« Ziele im Reich intensiver voranzutreiben, gewannen die »Nation« und der Nationalismus eine stärkere Bedeutung als zu irgendeiner Zeit der Reichsgründung. Plötzlich zeigte der Drang nach Einheit innerhalb völlig unterschiedlicher realer katholischer Gemeinden Risse innerhalb der imaginären Gemeinschaft der Katholiken – dem »katholischen Deutschland«, das sich jedes Mal neu erfand, wenn es zu den Wahlen ging.139 Und weil der Klerus jetzt auf beiden Seiten aktiv wurde – beim 136 Z. B. Fürst Karl Isenburg-Birstein: Ist die heutige Zentrumsfraktion des deutschen Reichstags noch die wirkliche Vertreterin des katholischen Volkes?, ohne Erscheinungsort, 1893, S. 3. 137 Politisches A-B-C-Büchlein. Ein nützliches Lesen für den bayerischen Bürger und Bauersmann, Von einem Centrumsmann, Augsburg 1898, eine Sammlung von Wahlflugblättern, zeigt durch viele seiner Überschriften einen aufkommenden Antiklerikalismus unter katholischen Bauern: »Wie stellen sich die Führer des Bauernbundes zu den Priestern?«; »Suchen die Geistlichen ihren eigenen Vorteil?«; »Die Aufbesserung [des Salärs] der Geistlichen von 1894 und 1898«. Ebenso Ian Farr: From Anti-Catholicism to Anticlericalism. Catholic Politics and the Peasantry in Bavaria, 1860–1900, in: European Studies Review 13, 1983, S. 249 ff.; Möllers: Strömungen, S. 300; Bachem: Vorgeschichte, Bd. 5, S. 278, K. Müller: Zentrumspartei, S. 850. 138 Obwohl dies mit der Zeit schwieriger wurde. Loth: Katholiken. 139 Blanke: Polen; Eley: Reshaping, Smith: Nationalism, S. 144 ff., 185 ff. Unfrieden im Zentrum: Ross: Tower; Margaret Lavinia Anderson: Inter-denominationalism, Clericalism, Pluralism. The Zentrumsstreit and the Dilemma of Catholicism in Wilhelmine Germany, in: CEH 21/4 (1990): S. 350 ff.

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Ausgraben der Vorstellung von der »alten« katholischen Gemeinschaft und deren Neuerfindung auf eine »nationalere« Weise, wurden Außenseiter mit einer Flut von Beschimpfungen überschüttet. Die Diskrepanz zwischen dem »katholischen Deutschland« in den Vorstellungen des Zentrums und den real existierenden katholischen Gemeinden im Reich zeigte sich am deutlichsten an den Nationalitätengrenzen. Wenn die Integration von Elsass-Lothringen in die Nation das Aufkommen klerikaler Einflüsse im Westen verstärkte, machte die Aufspaltung des politischen Katholizismus in seine ethnischen Komponenten die klerikalen Einflüsse im Osten zu einem Thema – wie wir am Fall Korfanty bei der Wahl von 1903 gesehen haben. Die Weigerung des Zentrums, der Forderung des zentralen polnischen Wahlkomitees aus dem Jahr 1904 nachzukommen, sich um Sitze in Ostpommern, Westpreußen, Posen, dem Ermland und Oberschlesien nicht mehr zu bewerben, brachte einen siedenden Konflikt zum Kochen. Und in Oberschlesien hatte der sture Widerstand der regionalen »deutschen« Zentrumsführung, einheimischen »Schlesiern« Kandidaturen anzubieten, ein Tor geöffnet, durch das 1903 ein radikaler polnischer Nationalismus 1903 einbrach. Selbst in Hochburgen wie Pleß-Rybnik, wo noch 1893 das Zentrum 99 Prozent der Stimmen erzielt hatte, geriet die Partei in einen freien Fall; sie fiel bis 1907 auf 10,5 Prozent.140 In dem offensichtlichen Versuch, die Vorherrschaft der religiösen Gemeinschaft über politische Teilungen festzuschreiben, verteidigte sich das Zentrum, indem es mit voller Absicht in so vielen Bezirken wie möglich Priester kandidieren ließ – gerade so wie 1928, als die weltlichen Führer in der Parteilinken glaubten, dass die Gefahr einer Spaltung derart groß sei, dass nur mit einem Priester als Vorsitzendem (Prälat Ludwig Kaas in diesem Fall) die Partei zusammengehalten werden könne. Die polnischen Nationaldemokraten reagierten hierauf mit eigenen klerikalen Kandidaturen.141 Da sich nun an beiden Fronten der politischen Trennungslinie Priester gegenüberstanden, konnte das erste Opfer nur der gute Ruf des Klerus sein, während die Deutschen zu Zeugen desselben Sturms von Klagen und Gegenklagen wegen des Missbrauchs religiöser Ämter wurden, wie dies nach den analogen schlesischen Überraschungserfolgen von 1871 und 1874 der Fall gewesen war. Wie in den siebziger Jahren war ein auffälliges Merkmal dieser Kontroversen, dass für beide Seiten Geistliche als Zeugen auftraten. Mit der Auflösung der einen imaginären Gemeinschaft verschwand die omertà, die über lange Zeit hinweg die Praktiken des Klerus gedeckt hatte.142 140 Schwidetzky: Wahlbewegung, S. 81. Zur neuen Rivalität zwischen dem Z und den Parteien ethnischer Minderheiten im Allgemeinen: Sperber: Voters, S. 92 f. 141 Neubach: Geistliche, S. 251 ff.; Schwidetzky: Wahlbewegung, S. 55, 60, 78 f. Becker: Ende, S. 354 ff., 361, stellt Kaas’ Wahl in den Zusammenhang der Strukturkrise des Z nach 1918, aber sein Argument gilt auch, entsprechend angepasst, für das Vorkriegs-Z. 142 95 Proteste gegen Einschüchterung durch Geistliche in Oppeln 6: AnlDR (1903, 11/I, Bd. 3) DS 402, S. 2301 ff. Ebenso Oppeln 4: AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 798, S. 1098. [Heinrich Krückemeyer:] Die polnische Bewegung in Oberschlesien, in: Historisch-Politische Blätter 132/2 (1903) S. 713 ff. schob den Erfolg der ND hauptsächlich auf den Katolik. Erfolglose Bemühungen, den Bruch zu kitten: LeugersScherzberg: Porsch, S. 100 ff.; Hagen: Germans, S. 237, 364 Anm. 21. Für die LT-Wahlen von 1908 erreichte die Führung der beiden Parteien ein Übereinkommen, nicht gegeneinander zu kandidieren. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 227.

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Uneinigkeit zwischen den Katholiken wurde auch in Württemberg, in Bayern und besonders in Baden thematisiert. Hier, wo das Zentrum erst vor kurzer Zeit in seit langem bestehende liberale Bastionen eingedrungen war, rebellierten jene Priester, die sich mit den liberalen Zielen identifizierten, gegen die politische Betätigung ihrer Zentrumskollegen. Über was genau sie mit dem Zentrum uneins waren, äußerten die Kritiker ebenso vage wie leidenschaftlich, aber »nationale« statt sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Themen spielten eindeutig eine herausragende Rolle.143 Einer von ihnen beschwerte sich lauthals, er sei es leid, wieder und wieder bei jeder katholischen Versammlung zu hören, »was ›wir‹ sind, wie stark ›wir‹ geworden sind, und was ›wir‹ noch alles von den ›Herren Staaten‹ herauspressen müssen …« Selbsternannte »fortschrittlicher gesinnte Katholiken« konnten nicht verstehen, warum sie sich in ein »wir« fügen sollten, das etwas an der Regierung auszusetzen hatte, respektlos vom Staat sprach sowie den »reichsfeindlichen Elementen der Polen und Französlinge« in Deutschland Beistand leistete – und sie zu Außenseitern jenes »wir« stempelte, in dem sie sich wirklich zu Hause fühlten: dem nationalen (und nationalistischen) »wir« eines modernen, florierenden Deutschland des 20. Jahrhunderts.144 Und so berichteten in zahllosen, meist anonymen Artikeln anders denkende Geistliche im Süden einer wenig überraschten Öffentlichkeit die Insider-Geschichten der kleinen Bedrängungen, täglichen Korruptionen und allzu menschlichen Skandale, die eben passieren, wenn geistliche Herren sich zwischen den Bürger und die Wahlurne stellen.145 1905 unterbreiteten sie unter der Ägide der Kraus-Gesellschaft beim jährlichen Katholikentag den Vorschlag, die Wahlkampftätigkeit von Geistlichen zu verurteilen. Die Organisatoren des Kongresses, die enge Verbindungen zum Zentrum hatten, stellten allerdings sicher, dass der Antrag nie die Zuhörerschaft erreichte. 1907 unterbreiteten die Kritiker ähnliche Vorschläge in einem offenen Brief an die Bischöfe.146 Die Tatsache jedoch, dass dieselben Männer lautstark einen katholischen Pastor unterstützten, der sich gegen die Wünsche seines Bischofs stellte, als Nationalliberaler für das Parlament zu kandidieren, und dass sie 1912 eine eigene Wahlerklärung veröffentlichten, zeigt, dass sie eigentlich nicht die Wahlkampftätigkeit durch Geistliche, sondern nur die »ultramontane« Wahlkampftätigkeit, also die des

143 Besonders die Artikel in DZJ und seiner Nachfolgerin DNJ. Deren Nationalismus ist am auffälligsten in: Fr. Sch.: Die Religion meiner Kindheit 2/41 (9. Okt. 1910) S. 483 ff., und: Religion und Politik, S. 559 f.; [O. Sickenberger:] Katholikentag, S. 412. Antwort: Georgius: Darf ein katholischer Geistlicher liberaler Parteimann sein? S. 389 ff. 144 [Sickenberger:] Katholikentag, S. 410. Fr. Sch.: Religion und Politik, S. 559 f. 145 Z. B. : Der katholische Geistliche auf der politischen Arena, S. 90 ff.; Momentbild, S. 21; Ein Stimmungsbildchen aus dem »nicht-konfessionellen« Zentrum, DNJ 3/24 (11. Juni 1911) S. 283 f. Weniger explizit, aber ähnlich: Das Wahlrecht der Geistlichen, S. 70 ff.; D.E.K.: Geistliche Wahlbeeinflussung, DNJ 1/40 (3. Okt. 1909) S. 479; D.V.C.: Das Zentrum in Lothringen, DNJ 1/22 (30. Mai 1909) S. 263; ders.: Die Krisis im Zentrum, DNJ 1/33 (15. Aug. 1909) S. 387 ff.; ders.: Religiöses Bekenntnis und Parteizugehörigkeit, DNJ 1/40 (3. Okt. 1909, S. 478; Religion und Politik, S. 556 ff. DNJ empfahl seinen Lesern dringend Bodewig: Wahlbeeinflussungen. 146 [Sickenberger:] Zum Katholikentag, S. 409 ff.; offener Brief an die Bischöfe in: DZJ VII/11 (17. März 1907). Schloßmacher: Antiultramontanismus, S. 173, 176 f.

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Zentrums, hassten.147 Solche Kritiker blieben innerhalb des Klerus eine winzige Minderheit. Sie erreichten niemals ihr selbst gestecktes Ziel: »das katholische Volk«, und letztlich auch das Vaterland, von den schwarz gewandeten Wahlkampftruppen des Zentrums zu »befreien«. Aber sie bewiesen, dass die konfessionellen Bande bereits in Auflösung begriffen waren. Und sie gaben der Gesellschaft vielfältige Gesprächsthemen.148 4. Die Rhetorik der Angriffe auf klerikale Einflüsse wie auch die wechselnden Darstellungen der Geistlichen selbst deuten auf einen vierten Trend der erneuten Furcht vor dem Klerus hin: den Ärger über die Macht des Zentrums. Denn die neuen Attacken kehrten die Bedingungen der frühen 1870er Jahre um. Jetzt wurde nicht mehr die katholische Partei verteufelt, weil sie die Lobby für einen mächtigen und geheimnisvollen Klerus abgab. Stattdessen wurde der Klerus angegriffen, weil er für eine mächtige – und für viele noch undurchschaubare – Partei Lobbyarbeit betrieb. In alle Verhältnisse dringt der Zentrumsgeist ein. Er arbeitet heimlich an den Fürstenhöfen, er umspinnt Konservative und teilweise Nationalliberale, er fesselt Sozialdemokraten. Alle Wege führen nach Rom. Immer in allen Streitigkeiten der übrigen Volksteile ist Rom die ausschlaggebende Macht, weil es überall heimlich Anhänger hat. Auch unter den Sozialdemokraten hat es stille Bundesgenossen …

So Friedrich Naumann 1907.149 Rom, d. h. der Klerus, war hier gleichsam zum Synonym für das Zentrum geworden. Nicht jeder hegte solche Befürchtungen wie Naumann, aber die existierenden Ressentiments gegenüber dem Zentrum waren erheblich, und anders als die Macht der Jesuiten war die des Zentrums keine Legende. Seit der Mitte der neunziger Jahre hatte die Partei ihre beherrschende Stellung auf einige Länderparlamente ausgedehnt, vor allem das bayerische, wo sie inzwischen einen Vorsprung von achtzig Sitzen vor ihrem stärksten Konkurrenten hielt. Außer der dreijährigen Herrschaft des »Kartells« – zwischen Februar 1887 und März 1890 – war das Zentrum die stärkste Partei zwischen 1881 und 1912 und übertraf oftmals andere Fraktionen um vierzig oder mehr Sitze.150 Nach 1898 lag es 147 Derselbe Pastor Tremel, der mit dem Bischof von Bamberg Ärger bekam, weil der vor den (sehr antiklerikalen) Jungen Liberalen gesprochen hatte, war ein Verfechter der Lex Moy, die aus der Auffassung hervorgegangen war, dass politische Aktivität seitens des Klerus »die Gemüter, namentlich der Gebildeten entfremdet«. Später befürwortete er die LT-Kandidatur seines Kollegen Pastor Grandinger, der als NL antrat. Tremel: Wahlrecht der Geistlichen. Gedanken zum Antrag Moy, in: Augsburger Abendzeitung Nr. 46, 15. Feb. 1904, und Nr. 48, 17. Feb. 1904; Augsburger Abendzeitung Nr. 138, 19. Mai 1907. Zu den Affären Tremel und Grandinger: Georgius: Geistlicher, S. 389 ff.; Kessler: Kann ein überzeugter Katholik und insbesondere ein Priester dem Liberalismus anhängen? Landau 1909. 148 Zitat: Schloßmacher: Antiultramontanismus, S. 180. Was ist das Zentrum? Eine präsumptive Antwort von einem katholischen Arzt, DNJ 1/50 (12. Dez. 1909) S. 589 f., bestätigte ausdrücklich: »Nachdruck erlaubt«, was darauf hinweist, dass es zum Gebrauch durch andere Parteien zu Wahlkampfzwecken gedacht war. 149 Naumann: Zentrum, S. 114 f. 150 Das Z verfügte normalerweise über zusätzliche dreißig bis vierzig Mandate regionaler Parteien (W, P, Els).

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in den Händen des Zentrums, entweder eine linke oder eine rechte Mehrheit herzustellen. Kein Gesetz hatte eine Chance, ohne Einverständnis des Zentrums ratifiziert zu werden. Während er beobachtete, wie der einflussreiche Zentrumspolitiker Peter Spahn die entscheidende Stimme zu jedem Punkt auf der Liste des Zollausschusses abgab, wandte sich Adolf Wermuth seinem Nachbarn zu und bemerkte: »Wenn ich nicht Direktor im Reichsamt des Innern wäre, möchte ich Führer des Zentrums sein.«151 Es sind Ressentiments dieser Art gegen die Macht dieser »Viehhändlerpartei«, die hinter dem Bild des Priesters in der zeitgenössischen Satire und Karikatur hervorscheinen. Die schlanke, glatt rasierte, geschlechtslose Figur der 1860er und 1870er Jahre erschien jetzt mit deutlichem Bauch und Bartstoppeln. Der Ungewöhnliche war nur noch gewöhnlich; der Unheimliche nur noch schlau; den mageren, hungrigen Jesuiten hatte der fette Gemeindepfarrer ersetzt.152 Einst als gefährlich gefürchtet, wurde er jetzt als korrupt gehasst. Der Imagewandel des Priesters in der Karikatur vom Verschwörer zum Schwein ist ein starker Hinweis darauf, dass die wahre Schuld nicht bei den Geistlichen, sondern bei der Partei lag.153 Bild Die negativen Bilder des Klerus waren immer dort am hässlichsten, wo das Misstrauen gegenüber dem Wähler am größten war. Folglich wurde das Bild des Priesters den Änderungen in der Darstellung des katholischen Volks angepasst. Wähler, die man einst als dumm abgetan hatte, wurden auch jetzt noch als schwachsinnig, Marionetten oder Kinder dargestellt. Aber man hielt sie nicht mehr für bedrohlich, mit einem Hang zu Schlägereien, für wirkliche oder potentielle Kriminelle. Nun galten sie als bauernschlau und korrupt.154 Die Vorstellung, dass das Zentrum einen zynischen Handel zwischen gierigen Wählern und schachernden Klerikern organisiere, spiegelte die traditionelle lutherische Kritik wider, Rom reduziere das Heil auf eine materialistische Aufrechnung. Dass die katholische Wählerschaft glauben sollte, Gott werde himmlische Strafen für ihre Stimmen verhängen, war nach dieser Denkweise nicht weniger plausibel als die

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Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 39 ff. 1906 war das Z bereits die größte Partei im Württembergischen Landtag geworden und ab 1912 die beherrschende Macht in der Politik Badens. Martin: Machthaber, S. 394. Das Z war die schwarze »Schlange, die Deutschland … mit ihrem giftigen Leib umschnürte«. Saar- und Blieszeitung, zitiert in: Erzberger: Bilder, S. 8 f. Simplicissimus-Karikaturen: Die Wahlschlacht, VIII, o. D. (1903–1904), Extra-Nummer Reichstagswahl, S. 2 f.; Zentrum ist Trumpf, XIV 1/3, 19. April 1909, S. 39; Die Württembergischen Wahlen, XI 2/41, 7. Jan. 1907, S. 654. Aus dem Simplicissimus: der Priester als Schwein: Neue Deutsche Spielkarten, VIII/42, 12. Jan. 1904; der Bischof als Schweinehirt statt Schafshirt: Alles fürs Zentrum, XIV/10, 7. Juni 1909; dazu: ZentrumsAlbum, 1912, S. 201, 213, 239, 243, 254 ff., 258 f., 268, 273, 276, 286. Erzberger: Bilder, S. 21, 24, 26. Im Kladderadatsch waren die Bilder düsterer, z. B. wurde 1904 das Z als Charybdis in einem Jesuitenhut dargestellt, die den winzigen deutschen Michel zu verschlingen im Begriffe ist (die SPD war Scylla). Abgedruckt im Zentrums-Album, S. 233. Zur Verbindung zwischen katholischen Massen und Kriminalität: Rust: Reichskanzler, S. 685 ff., 696. Immer noch verächtlich, aber weniger bedrohlich als schwachsinnig dargestellt im Simplicissimus: Vaterfreuden, VIII/11, o. D. 1903–1904, S. 86; Aus Zentrumskreisen, VIII/16, n. d. (1903–1904) S. 128; Nach Einberufung des Bayerischen Landtags, VIII/27, 29. Sept. 1903, ohne Seitenangabe; Erprobte Zentrumswähler, XI 2/43, 21. Jan. 1907, S. 688; Reichstagswahlen in Bayern und Der Zentrumswähler auf dem Heimweg, XI 2/52, 15. März 1907, S. 699 bzw. 704; Wahlbefähigung, XII 1/15, 8. Juli 1907, S. 232; Bittgang, XV/11, 13. Juni 1910, S. 174.

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Abb. 5: Der boshafte Spiegel Der wahre Jakob (Nr. 643, 14, März 1911)

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unzähligen anderen Geschäfte, die zwischen den Abergläubischen und dem Allmächtigen durch die Kirche vermittelt wurden.155 Einen Ablass zu kaufen oder das Zentrum zu wählen: Waren dies nicht überirdische und irdische Varianten desselben Themas? Obwohl es aus jahrhundertealten Bildern stammte, fand dieses Bild Anklang gerade wegen der Erfolge des Zentrums – das als fetter, schweineähnlicher, schlitzohriger Priester dargestellt wurde – bei der Festlegung von Getreidezöllen, der Aushandlung von Maul- und Klauenseuche-Gesetzen, Margarineverboten und einer Vielzahl anderer wirtschaftlicher Regelungen, die die Zentrumsklientel sich wünschte.156 Ein erfundenes Kind drückte es in einem satirischen Schulaufsatz folgendermaßen aus: »Wenn man in den Himmel kommen will und haben will, daß keine Schweine nicht zu uns herein dürfen, heißt man es Zentrum.«157 Die Partei war vielleicht gerade noch zu tolerieren gewesen, solange Bismarck als Verkörperung der Macht der Reichsregierung sie hatte ausgleichen und verurteilen können. Aber alle Anzeichen, dass die Regierung dem Zentrum schmeichelte, ja sogar seine Gunst suchte, mussten jenen unerträglich erscheinen, deren Identität an eine Definition der deutschen Nation gebunden war, die den Sieg über Rom feierte. Luthers Pamphlete, welche die Kirche angriffen, wurden mit dem Kommentar zitiert: »… die Worte, die vor nun bald vierhundert Jahren geschrieben wurden, sie passen Zeile für Zeile ziemlich genau auf unsere heutigen Zustände.« Kanzler Bülows augenscheinliche Abhängigkeit vom Zentrum ließ das Schreckgespenst einer klerikalen Nebenregierung aufscheinen, das »auf den Hintertreppen der Heuchelei und Intrigue und der brutalsten Machtpolitik« zustande gekommen war – das heißt, durch die Entscheidungen des Zentrums, seine mehr als 100 Reichstagsstimmen zu geben oder zu verweigern. Nachdem er seine Zollgesetze unter Dach und Fach gebracht hatte, verkündete Bülow, dass er jetzt die Bemühungen unterstützen werde, den Jesuiten die Rückkehr nach Deutschland zu erlauben. Die Wut der Liberalen und Konservativen kannte keine Grenzen.158 Bülow sah auf der Stelle seine Gelegenheit. Er löste 155 In Simplicissimus: Vor der Wahl, VIII/6, o. D. (1903–1904) S. 46; Ludwig Thoma: Wählt Zentrum!, VIII, o. D. (1903–1904), Extranummer: Reichstagswahl, S. 7; Himmelsstrafen, XI 2/48, 25. Feb. 1907, S. 779; Bittgang, XV/11, 13. Juni 1910, S. 174; Probates Mittel, XVI 2/40, 1. Jan. 1912, S. 710; Vor der Landtagswahl, XVI 2/42, 15. Jan. 1912, S. 747; Zentrumspredigt, XVI 2/46, 12. Feb. 1912, S. 815. Die Bilder des »Geldwechslers im Tempel« und des »Seelenverkäufers« waren traditionelle religiöse Topoi, die jetzt auf politischen Kuhhandel und Hintertreppengeschäfte angewandt wurden. Erklärung des Evangelischen Bundes in: Erzberger: Bilder, S. 9. Die Überlappung zwischen Volks- und Rechtskultur wird deutlich, wenn ein Jurist die Verhaltensweise des Gemeindepfarrers in Ludwig Thomas antiklerikalem Roman Andreas Vost von 1907 schildert, um sich für die Strafverfolgung gemeiner Tricks auszusprechen. Mayer: Bekämpfung, S. 23. 156 Blackbourn: Class, bes. S. 50 Anm. 90. Die Vereinigung der christlichen deutschen Bauernvereine, eine zentrumsnahe katholische Lobby, übertraf 1907 mit 348.000 Mitgliedern den Bund der Landwirte, der 290.000 hatte. David W. Hendon: German Catholics and the Agrarian League, 1893–1914, in: GSR 4 (1981) S. 427 ff., bes. 435. Die SD Propaganda stieß auch in das materialistische Horn; sie verglich die »schwarzberockten Burschen«, die »Volksvereinspfaffen«, mit »Zuhältern«. Zitiert von Sachse (SD) SBDR 10. Mai 1912, S. 1829. 157 Die Wahl. Ein Schulaufsatz, in: Simplicissimus, VIII, undatiert, 1903–04, Extranummer Reichstagswahl, S. 9. 158 Gut zu Bülows Versagen in diesem Punkt: Lerman: Chancellor, S. 80 ff., 104 f. Saar- und Blieszeitung (Feb. 1907) zitiert in: Erzberger: Bilder, S. 8 f.

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Ende 1906 das Parlament auf und begann Anfang 1907 eine Wahlkampagne gegen die Macht des Zentrums und jene anderen »Reichsfeinde«, die Sozialdemokraten.159 Die überwältigende Reaktion der Öffentlichkeit – von den Saturnalien der Kulturkampfrhetorik bis zum Boykott katholischer Geschäfte in Bielefeld, Gütersloh, Duisburg und Hanau-Gelnhausen – bestätigte Bülows politischen Instinkt. Es war das dritte Mal (nach 1887 und 1893), dass eine deutsche Regierung den Reichstag auflöste, um gegen das Zentrum vorzugehen. Und dennoch war der Stein des Anstoßes nicht die Politik, die diese Partei vertrat. Keine ihrer weltlichen Forderungen war für eine breite Palette politischer Meinungen unannehmbar und ihre vielen Berührungspunkte mit den Parteiprogrammen der Rechten und der Linken untermauerten die Behauptung der Partei, eigentlich »zentristisch« zu sein. Selbst ihre kirchlichen Forderungen stellten inzwischen hauptsächlich prinzipielle Forderungen dar – Wahlkampfparolen zur Sammlung der Gläubigen. Dies wurde 1899 klar, als die Partei für die Unterstützung des Mittellandkanals die rheinische Wahlrechtsreform, und nicht die Rückkehr der Jesuiten, verlangte.160 Aber für diejenigen, die außerhalb des Zentrumsmilieus standen, war bereits die Tatsache, dass ihre Regierung zum Erlassen nationaler Gesetze auf eine derartige Partei angewiesen war, bitter. Anders als die anderen großen Parteien wusste das Zentrum von Anfang an, dass es dazu verdammt war, ein »Teil« zu bleiben, und dass es, auch in der Zukunft, nie den Anspruch würde erheben können, die »gesamte« Nation zu repräsentieren.161 So war das Zentrum nicht nur eine Partei unter anderen, sondern die Verkörperung von »Partei« überhaupt, das »Ding an sich«. Dass eine machthungrige Minderheit (wie man meinte), die ihre besondere Identität bei jeder Stimmabgabe deutlich machte, ein Vetorecht über die Mehrheitsbeschlüsse hatte, hieß, dass der Schwanz mit dem Hund wedelte. Der bittere Humor antiklerikaler Karikaturen beruhte auf dem gemeinsamen Sinn für die Unverhältnismäßigkeit und somit die Absurdität der Zentrumsmacht.162 Und je mehr sich das Zentrum wie eine echte weltliche politische Partei verhielt – Geschäfte machend, gesetzgeberische Kompromisse eingehend, Wahlabkommen mal mit den Sozialdemokraten, mal mit den Konservativen schließend –, desto mehr wurde den übrigen Deutschen die Abhängigkeit ihres Staatsschiffs von den Launen der Parteipolitik deutlich. Wenn die Bereitwilligkeit, Parteienkonflikte auszutragen, eine Voraussetzung für eine parlamentarische Regierung ist, dann war die erneute Beschäftigung der Öffentlichkeit mit der Kaplanokratie nach der Jahrhundertwende ein Zeichen dafür, dass viele Deutsche dieser Re159 W. Becker: Kulturkampf, S. 59 ff., bes. 78 Anm. 3, zeigt, dass nicht die SPD, sondern das Zentrum das primäre Ziel war. Crothers: Elections, S. 95 ff. Stimulierend zur integrativen Funktion konfessioneller Polemik, aber überzeugender für die protestantische als die katholische Seite: August-Hermann Leugers: Latente Kulturkampfstimmung im Wilhelminischen Kaiserreich. Konfessionelle Polemik als konfessionsund innenpolitisches Kampfmittel, in: Die Verschränkung von Innen-, Konfessions- und Kolonialpolitik im Deutschen Reich vor 1914, hrsg. v. J. Horstmann, Paderborn 1987, S. 13 ff. 160 Blackbourn: Class, S. 30; Zangerl: Courting, S. 234. 161 Sozialistische Analogien: Przeworski u. Sprague: Stones, S. 29 ff. 162 Germania, Simplicissimus XI, 1/12, 18. Juni 1906, S. 200; Bei der Stichwahl, ebd., XI, 2/46, 25. Feb. 1907, S. 783.

Kapitel 5: Schwarze Magie II: Fest im Glauben stehen

Abb. 6: Zwischen Scylla und Charybdis Kladderadatsch (Nr. 36, 4. September 1904, S. 505)

»Zwischen Scylla und Charybdis«,

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gierungsform gegenüber noch skeptisch eingestellt waren und einige sich nichts sehnlicher wünschten, als das Parteienkonzept als Ganzes zu überwinden.163

Schlussfolgerungen: Klerikaler Einfluss und Demokratie Die Kontroverse über die Beeinflussung von Wahlen durch Geistliche fand kein Ende. 1912 glaubten Kritiker, dass »der Missbrauch der Kanzel zur Wahlagitation immer weiter um sich« greife.164 Als ein Appellationsgericht, das in Elsass-Lothringen zur Bearbeitung der Wahlanfechtungen von Landtagswahlen geschaffen worden war, von den jüngeren Entscheidungen des Reichstags abwich und sechs Mandate für ungültig erklärte, weil der Klerus angeblich die Freiheit der Wähler beschnitten habe, bestärkten die darauf folgenden Schlagzeilen zahlreiche Parteien in ihrem Anliegen, die schwerfällige Wahlprüfungskommission des Reichstags durch ein unabhängiges Gericht zu ersetzen.165 Von Anfang an gingen derartige Bemühungen, vom Klerus beeinflusste Wahlen für ungültig erklären zu lassen, davon aus, dass die Kontrolle des Priesters über die Sakramente, besonders über die Beichte, katholische Wähler schlicht hilflos machte. 1907 gab es Bestrebungen, einen »Reichsverband wider den römischen Beichtstuhl« zu gründen, um ein Gesetz gegen die Anhörung der Beichte durchzusetzen.166 Gebildete Zentrumsanhänger, die mit den komplizierten Unterscheidungen der offiziellen Kirche zwischen den unterschiedlichen Arten von Autorität vertraut waren, bestanden entrüstet darauf, dass solche Anschuldigungen die Natur dieses Sakramentes völlig missverständen: Jeder Bauer könne sich in seinem Katechismus schwarz auf weiß davon überzeugen, dass es Nonsens sei, die Absolution zu verweigern, nur weil einer gegen den Willen des Pfarrers oder der Regierung seine Stimme abgegeben habe.167 Indem sie auf eigene Erfahrungen verwiesen, stuften sie die Wahrscheinlichkeit als »kaum denkbar« ein, dass ein Priester seine Gewalt über die Sakramente missbrau-

163 Pastor Graudinger machte die Verbindung zwischen Zentrumshass und dem Hass auf das Parteiensystem an sich deutlich, als er einen Angriff auf die Wahlkampftätigkeit des Klerus mit den Worten beendete: »Wie schön wäre es doch, wenn in den Parlamenten die Entscheidung über wichtige Kulturfragen nicht immer von Parteirücksichten abhinge!« Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 8. 164 Wahlreden von der Kanzel, BT Nr. 14, 2. Beiblatt, 9. Jan. 1912. 165 Geh. Justizrat Diefenbach: Der reichsländische Gerichtshof zur Prüfung der Gültigkeit von Wahlen, BT 5. März 1914, Morgenblatt, BAB-L R1501/14653; Dr. v. Zahn für Geh. ORR Dr. Schulze: Aufzeichnung über Wahlprüfungen, 17. Juni 1912, BAB-L R1501/14653 (23 Seiten). Spahn, Vorsitzender der WPK und einer der Zentrumsführer, kritisierte die Entscheidungen von Colmar, was schockierte, da Spahn selbst Richter war. SBDR 5. April 1913, S. 4494 ff. Auch die SPD kritisierte den NL Antrag, die WPK durch ein Gericht zu ersetzen, da dies die Autorität des Reichstags schmälerte. Der SPD ging es weniger um klerikale Einflüsse, vielleicht, wie Blackbourn vermutet, weil sie selbst durch die Demokratisierung weniger verwundbar war. Blackbourn: Class, S. 169. Solch ein Gericht wurde in der Weimarer Republik geschaffen. 166 Erzberger: Bilder, S. 34 f. Der Beichtstuhl war in allen evangelischen Ländern ein Bild mit starker Aussagekraft. Hanham: Elections, S. 305. 167 Schröder-Lippstadt SBDR 22. Nov. 1871, S. 440; Virnich: Fraktion, S. 43; Katholische Mitglieder der WPK: Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1076.

Kapitel 5: Schwarze Magie II: Fest im Glauben stehen

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chen könne, indem er ungewollte Fragen nach dem Wahlverhalten des Büßers stellte.168 Aber der Grad der Freiheit, den die katholischen Gläubigen theoretisch besaßen, war von ihren Pfarrern niemals bereitwillig hervorgehoben worden. Wenn Außenseiter mit Geschichten von Pastoren konfrontiert wurden, die der Gemeinde dunkel andeuteten, dass deren Beistand auf dem Totenbett hilfreicher sein werde als der eines liberalen oder konservativen Bürgermeisters, war es verzeihlich, wenn sie die Feinheiten der katholischen Theologie übersahen.169 Jede Hoffnung, dieses Problem loszuwerden, scheiterte allerdings an der Tatsache, dass das Sakrament der Beichte, wie auch die Stimmabgabe, geheim war.170 Also entzogen sich die Absolutionskräfte des Pfarrers genau in dem Maße, wie sie als politische Mittel wirksam waren, der Rechtsprechung derjenigen, die den katholischen Wähler schützen wollten. Denn jeder Versuch, den Missbrauch des Beichtstuhls durch Gesetze zu verhindern, war mit einer Widersinnigkeit konfrontiert. Jene Wähler, die sich durch die Ermahnungen des Priesters innerlich gebunden fühlten, waren am wenigsten bereit, diesen zu widersprechen – sicherlich nicht öffentlich, und vielleicht nicht einmal privat. Und wenn die Wähler freiwillig eine äußere Autorität akzeptierten, bis zu welchem Grad konnte man diese Autorität dann noch »äußerlich« nennen? Aber wenn sie nicht von außen kam, welches Recht hatten dann die Wahlkommission, staatliche Gesetze oder sogar die öffentliche Meinung, sie zu verbieten? Richter und Gesetzgeber waren machtlos, in ihren groben Netzen eine Beute zu fangen, die nicht politischer, sondern psychologischer Natur war und weniger durch einen bestimmten Kanon an Kirchenstrafen, als durch eine Kultur gestützt wurde. Im Bereich der politischen Theorie ist es ein Kennzeichen für freie Wahlen, wenn eine Partei einen Wähler überzeugt, einen Kandidaten zu wählen, und für eine unfreie Wahl, wenn dieser dazu gezwungen wird. Innerhalb des katholischen Milieus jedoch, ob in dessen mühsam geschaffenen städtischen Beziehungen oder seinen »natürlicheren« dörflichen Ausprägungen, waren die Unterschiede zwischen der Überzeugung eines Wählers und der Mobilisierung einer Gemeinschaft sowie zwischen der Mobilisierung einer Gemeinschaft und dem Druck auf ein Individuum genauso ungreifbar wie der Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Profanen.171 Dass das Milieu selbst die Kraft 168 »Kaum denkbar«: KVZ 21. Nov. 1906. Dieselbe Zeitung jedoch hatte nach dem Gerichtsverfahren von Beuthen zugegeben, dass so etwas in Oberschlesien wohl passiert sei. Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 60. Hierzu Hiery: Reichstagswahlen, S. 419. Die Bischofskonferenz von 1913 einigte sich darauf, dass Wahlverhalten nur im Beichtstuhl zur Sprache kommen dürfe, wenn der Beichtende selbst das Thema ansprach oder wenn sein antikirchliches Engagement allgemein bekannt war. Graf: Beeinflussungsversuche, S. 173. 169 Z. B. Amtsvorstand Meßkirch an das MdI, 17. Juli 1893, GLA 236/14901, S. 1/h. Horn-Bericht, LHAK 403/8806, S. 14/b. 170 Rechtliche Schwierigkeiten: Mayer: Bekämpfung, S. 27. Der Beweis des Missbrauchs der Absolution bestand für Außenseiter für gewöhnlich am ehesten in den Hinweisen in den gedruckten Beichtspiegeln, den formelhaften Gewissenserforschungen, die die Kirche offiziell den Beichtenden empfahl. Noch 1957 enthielten diese Fragen wie: »Habe ich bei Wahlen und Abstimmungen meine Stimme den Gegnern meines Glaubens gegeben?« Graf: Beeinflussungsversuche, S. 178. 171 Ich danke Marcus Kreuzer für den Hinweis auf den Unterschied zwischen Überzeugung und Mobilis-

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besaß, der Autorität des Beichtstuhls zu widerstehen, bewiesen die mehr als 20.000 polnischsprachigen Schlesier, die 1903 Albert Korfanty in Kattowitz wählten.172 Aber wie wir in Kapitel 10 sehen werden, bedeutet die Freiheit einer Gemeinschaft nicht notwendigerweise die Freiheit ihrer Individuen. Wie so häufig in der Debatte über die politische Betätigung des Klerus lässt der Begriff »Einfluss« genauso wie der Begriff »Mobilisierung« den wichtigen Unterschied zwischen Druck und Überzeugung unberücksichtigt. Letztendlich war es nicht der durch den Klerus ausgeübte Zwang, sondern die Mobilisierung, die in den katholischen Gemeinden den Wettbewerb bei Wahlen zerstörte und das Empfinden für Fairness bei Außenseitern verletzte. Das wahre Problem lag nicht im aus dem Mittelalter übernommenen Beichtstuhl, sondern in der sehr modernen Politik der Identitätsbildung. Obwohl beide Seiten der Debatte jederzeit bereit waren, Beispiele aus anderen »zivilisierten Nationen« anzuführen, war in Deutschland nun ein Streit entbrannt, der in seiner Intensität in anderen europäischen und auch den nordamerikanischen Staaten seinesgleichen suchte.173 Wenn auch die Religion nach wie vor in den Vereinigten Staaten politische Konflikte auslöste oder sinnstiftend für solche wirkte und Prediger bedeutende politische Führungskraft ausübten, so waren doch die religiösen Zuordnungen derart vielfältig und die Regeln der freien Rede derartig tief in der nationalen Kultur verwurzelt, dass der klerikale Einfluss in den USA kein dringenderes Thema war als das Manipulieren von Wahlurnen aus vergleichbaren Motiven der nationalen Kultur in Deutschland. In Irland, wo die Bedeutung der Kirche eher mit Deutschland vergleichbar war, führte eine Reihe von Ungültigkeitserklärungen von Wahlen schließlich dazu, dass klerikale Einwirkungen unter das Korruptionsgesetz (Corrupt Practices Act) von 1884 fielen. Zu Wahlkampfzeiten zögerten irische Priester niemals, ihre religiöse Macht einzusetzen, besonders in den beiden Jahrzehnten von 1852 bis 1872. Aber die Öffentlichkeit reagierte mit Gegenklagen statt mit Rufen nach besonderen Gesetzen, und selbst nach dem letzten Sieg des Klerus, der Niederlage Parnells 1892, erkannten die Wahlverlierer auf beiden Seiten der Irischen See endlich, dass es die irische Meinung, nicht die Meinung des Klerus war, die sie besiegt hatte. In England brachte noch 1909 die Einmischung eines anglikanischen Bischofs die Kirche in Verlegenheit, aber dies war keineswegs eine Staatsaffäre. Und in Frankreich hatte, wie wir gesehen haben, eine spektakuläre Serie von Ungültigkeitserklärungen aufgrund klerikaler Einflüsse den Klerus der Dritten Republik gründlich in die Schranken gewiesen.174 Im französischen Konflikt ging es eben nicht um soziokulturelle Fragen, sondern um institutio-

ierung. Graf: Beeinflussungsversuche, S. 159 f., zeigt, dass selbst die Bischöfe versuchten, die Befolgung ihrer Anweisungen zu fördern, indem sie deren Wert durch Argumente belegten. 172 Rechnungen beruhen auf der Nachwahl von 1905, die der Ungültigkeitserklärung folgte. Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, Nachtrag 23. 173 Wenn auch nicht in Südamerika. Posada-Carbó: Limits; Deas: Role, S. 164 ff. 174 D.V.C.: Geistlichkeit und Politik, DNJ 1/51, 19. Dez. 1909, S. 611 f.; Whyte: Influence, S. 244, 247, 252; Jones: Politics, S. 300, 303; Charnay: L’église, S. 267 ff., 289 Anm. 109. Das Thema blieb in Puerto Rico bis in die 1960er Jahre aktuell.

Kapitel 5: Schwarze Magie II: Fest im Glauben stehen

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nelle, und diese wurden vom Beginn des neuen Jahrhunderts an auf anderen Schauplätzen gelöst. Institutionelle Konflikte können unter anderem dadurch gelöst werden, dass eine Seite gewinnt, wie dies die Anhänger der französischen Republik 1905 mit der Trennung von Kirche und Staat bewiesen. In Deutschland jedoch gestaltete sich die institutionelle Rivalität zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem Nationalstaat von Anfang an durch Spannungen zwischen Bevölkerungsmehrheiten und -minderheiten, also zwischen gesellschaftlichen Kulturen, sehr viel komplizierter. Hinter der Empörung der evangelischen Mehrheit über die politische Betätigung des Klerus stand die Forderung nach einem klaren Zeichen kultureller Assimilation an die Kultur der Mehrheit zur Legitimierung der Vertretung der Mehrheit im Parlament. Für die katholische Minderheit wiederum verkörperte die Wahl der Partei ihrer Geistlichen die Zurückweisung dieser Forderung. Unter diesen Umständen konnte die Debatte darüber, ob die Kaplanokratie die Freiheit der Wähler einschränkte, nie ein befriedigendes Ende finden. Denn in den Augen jener, die sich in dieser Debatte zum Wortführer der Mehrheit aufschwangen, war es tatsächlich ihre eigene nationale Freiheit, die mit jedem Zentrumssieg beschnitten wurde – die Freiheit der evangelischen Mehrheit, einem Parlament vertrauen zu können, das ihrer Meinung nach dem deutschen Geist entsprach. Die anhaltende Bedeutung des »klerikalen Einflusses« bei Wahlanfechtungen sollte nicht nur als Zeichen deutscher politischer Rückständigkeit gelesen werden. Indem sie Agenten einer politischen Partei geworden waren, hatten die katholischen Geistlichen einen »modernen« praktischen Nutzen für ihre Gemeinden erworben, um den ihre Kollegen in anderen Ländern sie schlicht beneideten. Im Laufe der Zeit trat auch, wie Dankwart Rustow es andernorts genannt hat, »Gewöhnung« ein. Denn dieser selbe Klerus entwickelte ein pragmatisches, aber gleichwohl reales Engagement für demokratische Wahlen, parlamentarische Verfahren und Parteipolitik – ein Engagement, das die Geistlichen an ihre Gemeinden durch ihr Vorbild wie auch durch ihre Predigten weitergaben.175 So erstaunt es nicht, dass im Frühjahr 1907, als der Klerus und die Partei wieder einmal stark angegriffen wurden, das Zentrum reagierte, indem es erneut seine Gesetzesvorlage von 1873 einreichte, mit der das preußische Dreiklassenwahlrecht durch das demokratische Reichstagswahlrecht ersetzt werden sollte. Aber gerade der Erfolg der Partei des Klerus als Vermittler des Wunsches einer Minderheit nach kultureller Bestätigung – ein Erfolg, der die Weiterführung der »heißen Familienfehde« garantierte, die Rustow für eine Voraussetzung für jeden »Übergang zur Demokratie« hält, und der demokratisch ausgetragene Konflikte in den Augen des größten Teils der katholischen Bevölkerung legitimierte – unterminierte zugleich bei vielen Angehörigen der evangelischen Mehrheit deren Legitimität. Dadurch, dass uralte konfessionelle Gegensätze in den modernen Parteienkonflikt einflossen, machte bereits die Existenz des Zentrums außerordentlich vielen Deutschen die Aussöhnung mit Parteienstreit 175 Martin: Machthaber, S. 399; ähnliche Ergebnisse: Posada-Carbó: Limits, S. 272.

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Teil 2: Kraftfelder

und parlamentarischen Konflikten ausgesprochen schwer. Es verwundert daher nicht, dass die Bemühungen, Wahlen wegen angeblicher klerikaler Beeinflussung für ungültig erklären zu lassen, kaum Respekt für die Redefreiheit als Grundvoraussetzung aller freien Wahlen zeigten, noch, dass derartige Anfechtungen im Grunde auf der Annahme basierten, dass die katholischen Wähler nicht reif genug seien, eine echte Wahl zu treffen. Aber die Konsequenzen waren dennoch hart. Edmund Morgan hat darauf verwiesen, dass die politische Fiktion eines weisen und unabhängigen Freibauernstandes unabdingbar für die Fähigkeit des britischen Parlamentes (und später der amerikanischen Kolonien) war, der Krone die Souveränität abzutrotzen. Wenn die »Erfindung« eines Volkes mit positiven Qualitäten, die tragfähig genug sind, Macht – wenn auch zuerst nur theoretisch – zu übernehmen, wirklich eine notwendige Voraussetzung für das Bestehen auf parlamentarischer Staatshoheit ist, dann wirkten die fatalen Bilder des manipulierenden Priesters und des unreifen Volkes während der jahrzehntelangen deutschen Kulturkämpfe in die umgekehrte Richtung. Und dies hilft zu verstehen, warum so viele ganz moderne Bürger eine alles andere als parlamentarische Monarchie so willig und so lange ertrugen.

Kapitel 6: Brotherren I: Die Junker

Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Deutsches Sprichwort

»Brotherr« – diese veraltete Bezeichnung für einen Arbeitgeber ist mit vielen Assoziationen behaftet, die weit über die Beziehungen auf dem Feld oder am Arbeitsplatz hinausgehen.1 Der Ausdruck beschwört eine Welt, in der Macht Autorität bedeutete, wo Wirtschaft, Politik und Moral die drei Säulen der Gesellschaft bildeten. Die gesellschaftliche Distanz innerhalb der Hierarchien unterschied sich je nach dem Arbeitsplatz: von der familiären Atmosphäre des kleinen Betriebs, wo der Geselle an der Seite seines Meisters arbeitete und an seinem Tisch (wenn auch an dessen Ende) aß, bis zu den unüberbrückbaren Klassenunterschieden auf den Gütern der Norddeutschen Tiefebene.2 Aber überall gingen die Arbeitgeber davon aus, dass sie für das Verhalten ihrer Arbeiter und Angestellten verantwortlich seien, und sie forderten von diesen Ehrerbietung. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich langsam die modernere Be1

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Sprichwort zitiert von den Landräten in Bochum bei der Wahl von 1887: SBDR 11. Feb. 1888, S. 840. Es wurde ständig wiederholt, z. B. Marinechefingenieur Dede zu Arbeitern der Kaiserlichen Werft Danzig, zitiert: SBDR 2. Dez. 1882, S. 587; ein Bürgermeister zu einem Getreidebauern, Trier 6, AnlDR (1884, 5/ IV, Bd. 4) DS 103, S. 794; A. Strosser (K), SBHA, 19. Mai 1909, S. 6026–6029. Zusätzlich zu »Brotherr« gebrauchten Zeitgenossen den Ausdruck »Lohnherr«. Siehe: »Arbeitslohn«, in: Staats- und Gesellschaftslexikon, hrsg. v. H. Wagener, Berlin 1859, Bd. 2, S. 489. Walker: Towns; Keil: Erlebnisse, Bd. 1, S. 74 ff.; Hainer Plaul: Grundzüge der Entwicklung von Lebensweise und Kultur der einheimischen Landarbeiterschaft in den Dörfern der Magdeburger Börde unter den Bedingungen der Herausbildung und Konsolidierung des Kapitalismus und der freien Konkurrenz in der Landwirtschaft, in: Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde, hrsg. v. H.-J. Rach und B. Weissel, Berlin [Ost] 1982, S. 79 ff., bes. 101. Wie sich die wirtschaftliche Ordnung allmählich aus der des »ganzen Hauses«, welches einmal öffentliche Aufgaben wie die der Schule übernommen hatte, herausbildete, ist ein Thema in Kocka: Arbeitsverhältnisse; Hierarchie: ebd., S. 156, 159. Kocka warnt zu Recht vor der Annahme, dass ein Arbeiter als Teil der Familie behandelt wurde, nur weil er mit ihr aß und schlief. Die Familien waren natürlich auch hierarchisch strukturiert.

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Teil 2: Kraftfelder

zeichnung »Arbeitgeber«, also »der Geber von Arbeit«, gegen den Begriff »Brotherr« durchzusetzen. (Keiner dieser Begriffe existiert in der englischen Sprache, wo der Terminus des »bread-winner« – der denjenigen bezeichnet, der aktiv die Familie ernährt – seit den frühen 1820er Jahren gebraucht wird.) Die meisten, aber bei Weitem nicht alle Arbeitgeber hatten ihre Ansprüche auf die Bestimmung der Religion, der Heirat und sogar (zögernd) anderer Aspekte des gesellschaftlichen und häuslichen Lebens ihrer Beschäftigten aufgegeben, welche jetzt als Privatsache angesehen wurden.3 Das öffentliche Leben des Arbeitnehmers allerdings, das die Vereine umfasste, denen er beitrat, die Zeitungen, die er las, und besonders die Wahlstimme, die er abgab, wurde immer noch weithin als eine Angelegenheit desjenigen angesehen, der einem Mann seine Arbeit »gab« bzw. in dessen »Lohn und Brot« er stand.4 Diese noch andauernde Welt der »Herrschaft« – die reale Welt – hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem fiktiven Universum des Wahlrechts. Eine Wählerschaft, wie klein auch immer sie sein mag, ist eine zeitlich begrenzte Republik, deren einziges Gesetz die Gleichheit ist. An ihren Grenzen wird alles Gepäck überprüft und jedem ihrer Bürger wird die Währung des Reichs, die Stimme, ausgehändigt, und zwar jedem der gleiche Betrag. Eine Ausdehnung der Grenzen der Republik von den Wenigen auf die Vielen verursacht unweigerlich eine Inflation dieser Währung. Natürlich ist zu erwarten, dass die ursprüngliche Bürgerschaft Widerstand gegen diese Aussicht leistet. Aber wesentlich subversiver noch als die Inflation sind die Gelegenheiten, die jede größere Ausweitung der Grenzen bietet, die Verhältnisse der realen Welt hereinzuschmuggeln. In den Händen abhängiger Wähler – so ein klassisches europäisches und amerikanisches Argument – werde die Währung der Republik niemals frei ausgegeben werden, sondern nur die Kaufkraft derjenigen erhöhen, denen diese untergeben seien. Abhängige in die Republik der Wähler aufzunehmen verstieß gegen die Rechte der anderen Einwohner, die durch den Akt der Stimmabgabe selbst radikal gleichgemacht wurden, auch wenn diese Gleichheit künstlich war.5 So jedenfalls die Theorie. Ein Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung drückte es einfacher aus: »Es sollen aber auch der Aristokratie keine Mittel gegeben werden, durch die Masse zu herrschen.«6 Aber diese bekannten Argumente gegen die Erweiterung eines begrenzten Wahlrechts wurden kaum laut, als Bismarck 1867 ein nationales Wahlgesetz vorschlug, das keine der Beschränkungen kategorischer oder steuerlicher Natur vorsah, die in den Wahlreglements jedes deutschen Landes zu finden waren. Eine Zusatzklausel, die Wähler ohne »eigenen Herd« ausschließen sollte, die also dem im Haus des Arbeitgebers wohnenden Hauspersonal und den Stall3 4 5

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Jaeger: Unternehmer, S. 99, 270 f.; Bellot: Hundert Jahre, S. 107 Anm. 7; Manchester: Arms, S. 178; Spencer: Management, S. 76. Siehe z. B. Birk: Entwicklung, S. 175 f. Klassische Argumente: J. Morgan Kousser: Suffrage, in: Encyclopedia of American Political History, Bd. 3, hrsg. v. Jack Greene, New York 1984, S. 1236 ff., hier: S. 1236, 1241; Cowling: 1867, S. 49 f.; in Kalifornien: Ethington: City, S. 205, 253 f. Friedrich Ernst Scheller, in Gagel: Wahlrechtsfrage, S. 9. Ähnlich: Hamerow: Origins, S. 106, 108; Meyer: Wahlrecht, S. 182; Morgan: Inventing, S. 169.

Kapitel 6: Brotherren I : Die Junker

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knechten das Wahlrecht verweigert hätte, wurde ohne Debatte abgelehnt. Wer die Folgen eines allgemeinen Männerwahlrechts für seine eigene Macht gefürchtet haben mochte, scheint auf derartige Abhängigkeitsverhältnisse zur Garantie seines Wunschergebnisses gezählt zu haben. Der alte 1848er Hermann SchulzeDelitzsch formulierte seinen Appell für eine geheime Wahl, indem er die Abgeordneten an den »großen und berechtigten Einfluß« des Brotherrn erinnerte. »… der Mensch, der eine bedeutende soziale Stellung hat«, so versicherte er ihnen, »ein großer Grundbesitzer z. B., ein großer Arbeitgeber im Gewerbsleben, ein großer Fabrikant, üben einen solchen Einfluß bei jeder Art der Wahl.«7 Dies war dasselbe Argument, das Disraeli und auch der Historiker und Ökonom James Mill benutzt hatten, um in England Widerstände gegen ein erweitertes Wahlrecht zu brechen. »Für einen Mann, der diese Macht [die aus seinem Vermögen abgeleitet ist] besitzt, ist es möglich«, so schrieb Mill, »sie auf derartige Weise auszuüben, dass er zum Empfänger von Zuneigung und Ehrerbietung wird – nicht nur für alle, die in den Wirkungsbereich seiner Tugenden kommen, sondern durch das Mitgefühl für diese auch für alle jene, denen sein Charakter bekannt wird. Die Wünsche eines solchen Mannes werden für seine Mitbürger zur Triebfeder.« Disraeli und Mill wollten damit allerdings nicht andeuten, dass die abhängigen Klassen ihre politischen Ansichten einfach von einer höheren Klasse übernähmen, sondern nur, dass in überschaubaren Gemeinwesen die Wähler ganz natürlich die Meinungen ihrer anerkannten Führer annähmen.8 Und vielleicht war es diese Art von Sympathie innerhalb der Gemeinschaft, die der Gründer der Genossenschaftsbewegung, Schulze-Delitzsch, der an gesellschaftliche Harmonie glaubte, mit dem Einfluss großer Arbeitgeber meinte, anstatt der Ausübung von Autorität über die Klassengrenzen hinweg. Allerdings dürfen wir bezweifeln, dass eine derart feine Unterscheidung einer Zuhörerschaft viel bedeuten konnte, die an den sozialen Realitäten Mitteleuropas geschult war. Wann auch immer Konservative jeglicher Couleur in Deutschland die Existenz fest umrissener Gemeinschaften heraufbeschworen, war es, um ihr eigenes Veto gegen jede Bedrohung der »berechtigten und natürlichen Autoritäten«, durch neue, die von außen hereingetragen werden könnten, zu verteidigen. Ein konservativer Abgeordneter bestand darauf, dass »die Autoritäten nur da in Konkurrenz treten dürfen, wo sie gemeinschaftliche Gebiete okkupieren«.9 Das Fehlen konservativer Einwände gegen das Männerwahlrecht im Jahr 1867 bot später einen ständigen Bezugspunkt für die Verteidiger der Brotherren, wann immer Wähler sich über den Druck bei den Wahlen beklagten. Das Schweigen der Gründerväter angesichts eines solch radikalen Vorschlags, so argumentierte die Rechte, bot schlüssige Beweise dafür, dass jene angenom-

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Below: Wahlrecht, S. 75; Meyer: Wahlrecht, S. 240. D[avid] C[resap] Moore: Political Morality in Mid-Nineteenth Century England. Concepts, Norms, Violations, in: VS 13 (1969) S. 5 ff., 9, Zitat Mill ebd., S. 11; Disraeli in: Cowling: 1867, S. 53. B. v. Puttkamer-Plauth (K) SBDR 13. Feb. 1886, S. 1049, auch 1084. Hierzu Helldorf SBDR 10. Dez. 1885, S. 277; Kulemann: Erinnerungen, S. 25 ff.

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Teil 2: Kraftfelder

men hätten, der Einfluss der »natürlichen Autoritäten« sei offensichtlich.10 In der gesellschaftlichen Welt ist zweifellos genau wie in der physikalischen »die Natur« immer auf der Seite des Stärkeren. Das Attribut »natürlich« für die Autorität nicht nur der Brotherren war wenig mehr als ein widerwilliges »Ja« der Macht durch die Gesellschaft.11 Überzeugender vielleicht als das Schweigen der Konservativen bei den Verfassungsberatungen des Norddeutschen Reichstags war die Tatsache, dass das Wahlgesetz – anders als das französische, das spanische und das belgische Gesetz schon damals und auch als das heutige deutsche Wahlgesetz –keine Bestimmung darüber enthielt, dass die Wahlen sonntags stattfinden sollten. Gaben Wahlen an Werktagen den Arbeitgebern das Recht, ihren Beschäftigten die freie Zeit zum Wählen zu verweigern? Während Vorgesetzte dies versuchten und Verfassungsexperten dies rechtfertigten, erklärten die Gesetzgeber die Verweigerung für gewöhnlich als illegal.12 Aber die Interessen der Arbeitgeber waren für gewöhnlich eher daran zu erkennen, dass sie ihre Beschäftigten zum Wählen nötigten, als dass sie sie daran hinderten. Wahlen an Werktagen, die während der gesamten Dauer des Kaiserreichs entgegen den parlamentarischen Anträgen der Sozialdemokraten beibehalten wurden, verschafften den Arbeitgebern einen Vorteil, indem sie garantierten, dass der Wahlakt als Teil der Arbeitswelt angesehen wurde.13

−−− Wie genau die konservativen Anhänger des Männerwahlrechts die »natürliche« Ordnung der Gesellschaft eingeschätzt hatten, lässt sich daran ablesen, wie leicht sich über das Verhalten von Brotherren bei Wahlen Witze machen ließen. Diese wurden gelegentlich in der Presse als Nachrichten verbreitet: Ein biederer Landmann aus Alt-Chemnitz erzählt einem Städter: ›Da haben sie mir drei Wahlzettel ins Haus geschickt.‹ ›Was haben Sie denn damit angefangen?‹ frug der Städter. ›Nun, den für Eras [den Liberalen] habe ich behalten, und die zwei anderen habe ich meinen Knechten gegeben, für die ist der Most [Sozialdemokrat] gut genug.‹

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C. A. Munckel (F/FrVP), zitiert von P. v. Reinbaben SBDR 11. Jan. 1889, S. 395; Munckel SBDR 13. Feb. 1886, S. 1048, 1067. Siehe auch: Hamerow: Origins, S. 105. Drohungen mit Entlassung für ein bestimmtes Wahlverhalten seien »an sich naturgemäß« und ständen in der Tat in direktem Zusammenhang mit dem freien und geheimen Wahlrecht, so K. Thile (FK), 7. Okt. 1878, zitiert im Poschinger-Bericht, BAB-L R1501/14450, Bl. 164V. Siehe auch Helldorf SBDR 13. Feb. 1886, S. 1072; Reinbaben SBDR 11. Jan. 1889, S. 384 f. Hannover 17, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 242, S. 927; Lübeck, AnlDR (1893/94, 9/II, Bd. 2) DS 131, S. 791; Marienwerder 3, AnlDR (1898/1900, 10/I, Bd. 4) DS 507, S. 2660. Recht der Arbeitgeber, Arbeitern die Zeit zum Wählen zu verweigern: Paul Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4 Bde., Tübingen, 5. Aufl. 1911–1914, Bd. 2, S. 332. Bis zu einem im Mai 1890 verabschiedeten Gesetz war jedoch sogar der Sonntag in manchen Fällen ein Arbeitstag. Die Ansicht der Regierung und Vergleiche mit dem Ausland: Referent Landrichter Dr. Schulze: Sonntag als Wahltag, o. D. (nach 1908, und nach seiner Einordnung ca. 1911), BAB-L R1501/14460, Bl. 166 f.

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Und aus Berlin, einer Hochburg der reichen Fortschrittlichen, kam die Geschichte über einen Vorarbeiter in einer Fabrik, dem zu Ohren kam, dass der Kutscher seines Chefs für den militanten Sozialisten Wilhelm Hasenclever stimmen wollte. Der Vorarbeiter beeilte sich, dem abtrünnigen Fahrer zu erklären, dass ihn jemand gründlich an der Nase herumgeführt habe, und gab ihm stattdessen einen Stimmzettel der Fortschrittspartei. Als er von der Wahl zurückkam, berichtete der pflichtbewusste Kutscher, er habe tatsächlich fortschrittlich gewählt, fügte dann aber verschmitzt hinzu, er habe »seinen Kollegen«, den Kutscher des Kommerzienrats N. N., »wieder einmal schön angeführt«, indem er ihn überredet habe, den Stimmzettel für Hasenclever einzuwerfen!14 Die Zeitung, die diese »Wahlhistorien« veröffentlichte, überließ es ihren Lesern, selbst zu entscheiden, welche Lehren daraus zu ziehen seien. Oberflächlich gesehen illustrierten die Geschichten die Vormundschaft, die Arbeitgeber ganz selbstverständlich über ihre Bediensteten ausübten. In beiden Fällen wurde allerdings die Befolgung der Autorität durch Dummheit untergraben: diejenige des Brotherrn in der Geschichte aus Alt-Chemnitz, die des Angestellten in der Berliner Geschichte. Letztere wirkte darüber hinaus auf einer zweiten Ebene. Indem er den Kutscher durch eine List statt durch einen Befehl dazu veranlasste, den Stimmzettel der Fortschrittlichen zu nehmen, gab der Vorarbeiter stillschweigend zu, dass dieser über seine eigene Stimme verfügen konnte. Gerade diese zugestandene Freiheit erlaubt es, dass sich das Blatt wendet, als der törichte Kutscher seinen Kollegen, den anderen Kutscher, »austrickst«, und damit auch unbeabsichtigt seinen eigenen Vorgesetzten. Hierdurch verdeutlicht der Witz die subversiven Möglichkeiten des neuen Wahlrechts, die die ökonomische Hackordnung sowohl verstärken als auch untergraben konnten. Witze wie diese waren bezeichnend für ein bestimmtes Stadium der Demokratisierung der Bürgerrechte in Deutschland. Tricks sind schließlich die Waffen der Schwachen. Sobald eine Wählerschaft wirklich politisiert ist, wird ein solches Verhalten nicht mehr als witzig empfunden. Und sobald sie tatsächlich beginnt, die Macht zu ergreifen, geht die Pointe dieser Geschichten verloren, und sie werden nicht mehr erzählt.

−−− Von einer Machtergreifung der Wähler kann allerdings im folgenden Kapitel über die Brotherren in der deutschen Provinz nicht die Rede sein. Traditionelle Autoritätsbeziehungen, die sich in den katholischen Gebieten durch die Identitätsbildung zu gesellschaftlichen Verpflichtungen wandelten, denen man in einigen Gebieten mit aufkommender Industrie (wie wir in Kapitel 9 sehen werden) Widerstand entgegenbrachte, wurden im evangelischen Flachland einfach auf den Wahlakt übertragen. Herausforderungen von unten traten in den 1890er Jahren in der Gestalt des Antisemitismus, durch landwirtschaftlichen Protektio14

Vermischtes, GA Nr. 17, 21. Jan. 1874, S. 97; Vermischtes. Folgende Wahlhistorie, GA Nr. 21, 25. Jan. 1874.

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nismus sowie seitens der Sozialdemokratie auf. Aber diese Herausforderungen konnten die bestehenden Kräfte kaum erschüttern, und sie beseitigten sie schon gar nicht. Dennoch ist das platte Land ein Teil unserer Geschichte der politischen Entwicklung in Deutschland, obwohl wir in den ländlichen ostelbischen Gebieten wenige Gründe finden, das uns vertraute Bild der Deutschen zu revidieren, die das 20. Jahrhundert mit mangelnder Erfahrung bei der Formulierung von Kritik, der Organisation verschiedener Interessen, dem höflichen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten sowie dem Wettbewerb in einem freien politischen Markt beginnen. Denn obwohl das neue Wahlrecht es nicht vermochte, die Macht der abhängigen Landbevölkerung zu vergrößern, veränderte es radikal die Beziehungen zwischen denen, die traditionell die Macht innehatten, also zwischen den Großgrundbesitzern und der Regierung.

Die Herren der Menschheit Es war eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass es einem Mann oder einer Frau im Besitz eines schönen Landgutes nie an Einfluss auf die Wahlen mangelte. Auf den Landgütern der Norddeutschen Tiefebene, besonders in den alten preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien sowie der Provinz Sachsen, in Holstein und den Großherzogtümern Mecklenburgs folgte der Wahltag einem festgelegten Schema. Der Gutsverwalter rief die Landarbeiter im Gesinderaum zusammen. Dort gab er (oder sein Herr oder seine Herrin) häufig eine kurze Erklärung ab, gelegentlich wurden Butterbrote und Brandwein gereicht, aber immer wurden Stimmzettel verteilt. Unabhängig davon, ob die Wahl im Büro des Gutsverwalters nebenan oder außerhalb des Guts stattfand, war der Einfluss des Herrenhauses zu spüren. Die Wahlvorstände wurden aus den höheren Bediensteten des Guts gebildet und häufig vom Gutsbesitzer geführt. Diese scheuten sich nicht, in die gefalteten Stimmzettel hineinzuschauen.15 Und eine Gutsbesitzerin schreckte gelegentlich auch nicht davor zurück, ihre persönliche Autorität über das Wahlgesetz und den Wahlakt zu stellen.16 Den »permanenten Wahlkampf«,17 den wir in so vielen katholischen Gegenden gesehen haben, gab es im evangelischen Flachland nicht. Die seltenen 15

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Mecklenburg 3: BAB-L R1501/14662, Bl. 26; Dörfer im Reg.-Bez. Frankfurt a. O. 7, AnlDR 1881/82, 5/II, Bd. 5) DS 162, S. 551 ff.; Bromberg 2, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 105, S. 630 f., 633; Köslin 1, AnlDR (1893/94, 9/II, Bd. 2) DS 149, S. 882; Aussage Frau Rittergutsbesitzer Lessing zu Prust, Marienwerder 5, AnlDR (1895/97, 9/IV, Bd. 2) DS 195, S. 1263 f. Auch Hofgängerleben (1896), in: Kelly (Hrsg.): Worker, S. 218. Minden 1, AnlDR (1878, 3/II, Bd. 3) DS 99, S. 833; Sachsen 13, AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 212, S. 905; FrankZ, 60, 1. März 1903, S. 5. Morgenblatt, BAB-L R1501/14456, Bl. 3; Herzogtum Lauenburg in S. H. Gerlach: Erlebnisse, S. 45. Gutsbesitzer, Arbeitgeber im Allgemeinen und ihre Bevollmächtigten »wählten« für ihre minderjährigen, ausländischen oder aus anderen Gründen nicht wahlberechtigten Beschäftigten: Wahlprotest gegen Breslau 9, Feb. 1887, BAB-L R1501/14665, Bl. 71–75; Breslau 2, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1432, S. 2926, 2931. Steil: Wahlen, S. 109 f.; R. Kaiser: Strömungen, S. 292; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 547; Sperber: Voters, S. 167.

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Äußerungen der provinziellen Brotherren sind charakteristische Belege für den Grad der politischen Debatte. Sie können kaum als Reden gelten. Baron le Fort, der Wahlvorsteher seines Ortes in Mecklenburg, sprach, so wurde berichtet, direkt vor der Wahl folgendermaßen vor dem Schulgebäude: … er für seine Person werde für den Grafen von Plessen auf Ivenack stimmen, und er wünsche, daß die übrigen Wähler gleichfalls für denselben stimmten. Wer so zu wählen beabsichtige, möge von den im Wahllokale ausgelegten Stimmzetteln Gebrauch machen; wer aber anders zu wählen gedenke, möge nach Hause gehen und sich dort seinen Stimmzettel schreiben.

Dass der Baron keinerlei Argumente zugunsten seiner Wahl vorbrachte, war kein Zufall. Welcher Brotherr konnte es wünschen, indem er politische Themen ansprach, unter seinen Untergebenen Überlegungen über die Art der Bürgerpflicht anzustoßen, die sie verrichten sollten? Wie sich herausstellte, machten alle Anwesenden von le Forts Stimmzetteln Gebrauch.18 So wirkte das demokratische Wahlrecht genau in der Weise, in der Bismarck es ebenso wie Disraeli vorhergesehen hatte, und wie dies auch Radikale wie John Bright und Karl Twesten schweren Herzens vorhergesehen hatten.19 Können wir die Wahlergebnisse aus ländlichen Gebieten als die Folge »der Ehrerbietung der Gemeinden« betrachten, wie dies bekanntermaßen für England zur Mitte der Regierungszeit Victorias behauptet wird?20 Wenn die wirtschaftliche Macht mit dem Schleier der Gefälligkeit verdeckt wird wie bei Baron le Fort, mag sich Fügsamkeit wie Respekt ausnehmen. Aber Gefälligkeit war Druck mit menschlichem Gesicht. Unverhohlener Druck scheint allerdings die Norm gewesen zu sein, wobei die Wahlvorsteher und Gutsbesitzer die Männer anschnauzten, die mit den falschen Stimmzetteln zur Wahl erschienen, wie es ein Herr Demuth in einem Dorf mit dem Namen Leichnam (!) im Königreich Sachsen tat: Ihr seid Esel, ihr braucht nicht mehr auf Arbeit zu kommen; sagt den Leuten im Dorfe, dass ich nur Reich [einen ortsansässigen Gutsbesitzer und Konservativen] haben will, sonst kriegt ihr kein Arbeit mehr; ihr dürft nur die Zettel nehmen, die oben liegen. 21

Wo wie in England seit Jahrhunderten gewählt wurde und die Leute wussten, was von ihnen erwartet wurde, spürten die Autoritäten kaum das Bedürfnis nach derart herrischem Auftreten. Aber in der deutschen Provinz war sogar die 18 19 20 21

Mecklenburg 4, AnlDR (1879, 4/II, Bd. 5) DS 166, S. 1350. Gagel: Wahlrechtsfrage, S. 31, 40 f.; Hamerow: Origins, S. 109, 111, 117; hierzu Cowling: 1867, S. 58. Moore: Politics; Nossiter: Influence, S. 47 f.; Hanham: Elections, S. 18 f. Sachsen 3, AnlDR (1881, 5/II, Bd. 5) DS 174, S. 613 f. Ähnlich AnlDR: (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 300, S. 1095 ff. (Breslau 3); (1893/94, 9/II, Bd. 11) DS 149, S. 882 (Köslin 1); DS 217, S. 1142 ff. (SchwarzburgRudolfstadt); (1894/95, 9/III, Bd. 1) DS 166, S. 804 f. (Marienwerder 5); (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 186, S. 865 ff. (Köslin 4); DS 230, S. 960 f. (Stralsund 1); DS 278, S. 1212 ff. (Posen 3); DS 303, S. 1257 ff. (Mecklenburg-Schwerin); DS 333, S. 1361 ff. (Königsberg 4); DS 342, S. 1428 (Kassel 4).

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Wahl der Länderparlamente relativ neu. Dies war vielleicht der Grund dafür, dass kaum ein Aspekt der Wahlen auf dem platten Lande der Gewohnheit oder dem Zufall überlassen wurde.

−−− Wir dürfen nicht annehmen, dass der cholerische Herr Demuth in Leichnam oder der erzürnte Adlige in Buchenhaben in Nordschleswig, der hinter Wahlkämpfern herlief und ihre Stimmzettel an sich riss, sich ihres Verhaltens schämten. Macht ist, wie bereits Napoleon feststellte, niemals lächerlich. Als ein gewissenhaftes Mitglied eines Wahlvorstandes seinen Wahlvorsteher, Herrn von Loos, darauf hinwies, dass es gegen das Gesetz verstieß, Stimmzettel, die ihm nicht passten, zu zerreißen, zuckte der Herr mit den Schultern: »Ach was, das kann uns nicht schaden.«22 Weit entfernt davon, Ansehensverluste zu riskieren, wurden solche Eingriffe »mit energischen kerndeutschen Mitteln« zur Wahrung eigener Interessen von denjenigen Organen der öffentlichen Meinung, die die Ansichten des Adels vertraten, unverblümt empfohlen.23 Das Deutsche Adelsblatt, die Stimme der Erzkonservativen, forderte seine Leser auf, politische Eindringlinge »mit Faust und Dreschflegel …, nach guter, alter, deutscher Art« zu vertreiben.24 Es schlug vor, Dorfälteste als Wächter zu rekrutieren, die die Anwesenheit jedes Außenseiters auf der Stelle melden und diesen bereits am ersten Haus abfangen konnten. Postboten sollten daran gehindert werden, fremde Zeitungen und Stimmzettel auszuliefern, und politische Schriften, die diesem Embargo entgingen, sollten systematisch vernichtet werden.25 Das Adelsblatt rannte damit offene Türen ein. Nicht nur Adelige, sondern auch Bauern bildeten besonders in den 1890er Jahren aus ihren Leuten Schlägertrupps, die sie immer wieder zum Schnapstrinken aufforderten und dazu benutzten, politische Eindringlinge aus ihren Dörfern zu verjagen.26 Der gesellschaftliche Unterschied zwischen den Mächtigen und den Machtlosen bedurfte keineswegs der räumlichen Distanz. Im Gegenteil. Ein Landbesitzer, der Wert auf wirtschaftliche und politische Ordnung legte, wollte sein Gesindehaus gleich neben seinem Herrenhaus haben – obwohl es sowohl vom Anblick als auch vom Geruch her die schlimmsten Eigenschaften des Elendsviertels und des Bauernhofs miteinander verband. Indem es einen Schlafsaal 22 23 24 25

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Breslau 3, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 300, S. 1098. Wahlprotest des Arbeiter-Wahlkomitees in Flensburg (S-H 2), 10. März 1887, BAB-L R1501/14664; Bl. 1–8; Schmidt SBDR 27. April 1887, S. 414 ff. DA 8/39 (28. Sept. 1890) S. 652. Das moderne Heidenthum, ebd.; zitiert: Organisirte Abwehrmaßregeln gegen die socialdemokratische Agitation auf dem Lande, DA 8/41 (12. Okt.1890) S. 687. Anonym: Organisirte Abwehrmaßregeln, ebd.. Nur vereinzelt wurden weniger zwanghafte Maßnahmen zur Gewinnung der ländlichen Bevölkerung vorgeschlagen: DA 9/36 (6. Sept. 1891) S. 622; DA 9/39 (27. Sept. 1891) S. 678 f.; DA 9/40 (4. Okt. 1891) S. 695 ff.; DA 9/41 (11. Okt. 1891) S. 716 f. Man konnte sich darauf verlassen, dass eine erzürnte Leserschaft darauf hinwies, dass diese alternativen Maßnahmen zu teuer seien: Frhr. v. Durant (eingesandt), DA 9/38 (20. Sept. 1891) S. 657 f. Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 39, 139; Saul: Kampf, S. 179 erwähnt »blutige Zusammenstöße«, weist aber darauf hin, dass die Gerichte im Gegensatz zu den Provinzregierungen solche Maßnahmen nicht duldeten.

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für Knechte mit getrennten Bereichen für Aufseher und Handwerker umfasste, bot das Gesindehaus dem Gutsherrn eine zusätzliche Kontrollmöglichkeit. Als Hellmut von Gerlachs Tante, eine ehemalige Hofdame, vorschlug, den Ausblick ihres Bruders auf das Gesindehaus durch die Pflanzung einer Reihe von Tannen abzuschirmen, schnaubte der alte Gerlach, dass die einzige Möglichkeit, seine Feldarbeiter und ihre Frauen auf dem Pfad der Tugend zu halten, sei, diese wissen zu lassen, dass sie unter ständiger Beobachtung seien. »So kann wenigstens keiner ins Gesindehaus, ohne dass ich ihn sehe.« Dass der Preis der Autorität ununterbrochene Wachsamkeit war, wurde an einem Wahltag demonstriert, als der Gutsherr in Berlin sein musste. Bei seiner Rückkehr stellte er fest, dass die Wahl schlecht verlaufen war. »Unsere Knechte scheinen freisinnig gewählt zu haben. Die Kerls sind zu dumm. Ist man einmal nicht da, fallen sie auf irgendeinen Schwätzer hinein. Aber das soll mir eine Lehre sein. Nie fehle ich wieder am Wahltag!« Dieselbe Überlegung bewog andere dazu, die Wahlen einfach von dem vorgesehenen Wahllokal in ihre eigenen Herrenhäuser zu verlegen.27 Bereits das Prinzip der geheimen Wahl war ein Dorn im Fleisch dieser Herren alter Schule, die glaubten, dass es »eine Verschärfung des Treuebruchs wäre, wenn der Arbeiter seine wirkliche Stellung zu dem Arbeitgeber durch den Stimmzettel versteckt«. Da bewiesene Verletzungen des Wahlgeheimnisses unter den wenigen Delikten waren, die die Wahlprüfungskommission des Reichstags regelmäßig scharf verurteilte, drängten in den späten 1880er Jahren Konservative die Regierung (in den Worten eines ihrer Sprecher), »den kleinen Mann möglichst davor [zu] bewahren, daß die Überzeugung welcher er bei der Abstimmung Ausdruck zu geben hat, eine unrichtige ist«.28 Da jedoch eine entsprechende Reform keineswegs in Aussicht war, zögerten konservative Landbesitzer nicht, den kleinen Mann selbst zu schützen.29 Nicht jeder Brotherr war derart schamlos wie Baron von Richthofen-Brechelshof, der mit Inseraten in der Lokalzeitung seine Arbeiter in Faulbrück von seiner Absicht informierte, jeden zu entlassen, der falsch wähle.30 Aber dass Entlassungen aufgrund politischer Illoyalität zumindest innerhalb der eigenen gesellschaftlichen Schicht als gutes Recht angesehen wurden, lässt sich an einem Leitartikel in der Deutschen Post ablesen, einer illustrierten konservativen Wochenzeitung. Diese empfahl Arbeitgebern auf dem Lande, dem Beispiel von Fabrikbesitzern zu folgen, indem sie sich zusammenschlössen um sicherzustellen, dass kein Arbeiter, der auf einem Gut wegen politischer Abweichung entlas-

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Gerlach: Rechts, S. 3, 22. Gerlach war im Kreis Wohlau im Wahlbezirk Breslau 1 aufgewachsen. Hierzu Bromberg 2, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 3) DS 105, S. 628, 630 f. Rauchhaupt SBHA 6. Dez. 1883, zitiert von Rickert SBDR 7. Feb. 1888, S. 744. Zu IM Puttkamers angeblicher Bitte an Prof. Laband um eine Meinung zur Abschaffung der Geheimhaltungspflicht: Windthorst, Bamberger, Bötticher (Regierung), Bennigsen, Helldorf, Dr. Meyer (Jena) SBDR 1. Feb., 3. Feb. 9. Feb. 1888, S. 657, 661, 663, 666, 693 f., 696, 698, 784, 798. Z. B. in Liebertwolkwitz, Probstheida, Görnitz, Gerichshain, Cröbern und Großstädteln: Sachsen 13, AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 212, S. 904 ff. Breslau 11, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 104, S. 353 ff. Zu dieser und den folgenden Wahlen in dem Bezirk: Leugers-Scherzberg: Porsch, S. 29 f.

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sen worden war, auf einem anderen seinen Unterhalt verdienen könnte.31 Der Anspruch eines Arbeitgebers gegenüber einem Arbeiter bestand nach Ansicht einiger sogar noch, wenn dieser längst den Dienst seines Herrn verlassen hatte. Als ein junger evangelischer Pfarrer so unklug war, für die Freien Konservativen in Wohlau-Guhrau-Steinau zu kandidieren, machte ihm der Führer der Bezirksgruppe der Konservativen mit einer Annonce in der Gazette des Kreises Wohlau einen Strich durch die Rechnung. Er erklärte, es sei eine Frechheit, wenn jemand, der einmal als Hauslehrer bei ihm »in Lohn und Brot« gestanden habe, sich herausnehme, gegen ihn zu agieren.32 »Sie wissen, wessen Brot Sie essen!«, war für gewöhnlich alles, was nötig war, um Abhängige gefügig zu machen.33 Die Macht der ostelbischen Junker über ihre Bediensteten wurde durch ihre Macht über die örtliche Verwaltung gestützt: über die Steuern, die Schulen, das Armengesetz und oft auch über die evangelische Pfarrkirche. Von der preußischen Gemeindeordnung von 1853 ausgenommen, bildeten viele Güter als »Gutsbezirke« spezielle Verwaltungseinheiten, deren Polizeigewalt und Rechtsprechung in der Hand ihrer Besitzer blieben. Diese Regelung beließ große Teile der ländlichen Bevölkerung außerhalb des Schutzes der kommunalen Selbstverwaltung: 36 Prozent in Pommern, 28 Prozent in Posen, 20 Prozent der Bevölkerung des gesamten ländlichen Raums in Preußen. Obwohl ab 1891 eine neue Landgemeindeordnung die Eingliederung der Güter in die Jurisdiktion der benachbarten Dörfer vorsah, die selbst ein bescheidenes Maß an Selbstverwaltung genossen, musste eine solche Eingliederung vom Kreisausschuss bewilligt werden. Die Ausschüsse, die von Gutsbesitzern dominiert wurden, widersetzten sich diesem Verfahren. Bis 1914 hatten nur 641 der 15.612 Gutsbezirke ihre eigene Rechtsprechung verloren. Und selbst die ländlichen Kommunen unterstanden häufig der Autorität eines Amtsvorstehers, der damit gleichsam ein vom adelsdominierten Kreistag gewählter Statthalter und daher unweigerlich selbst ein Adliger war, und seit den 1880er Jahren fast immer ein Konservativer. Dies war der Mann, dem der Dorfbürgermeister und der Dorflehrer Rede und Antwort stehen mussten und dem die Wirtshausbesitzer ihre Tanzlizenzen verdankten.34 Die Verzahnung der wirtschaftlichen Stärke des Adels mit seiner administrativen Macht machte sich bei den Wahlen bezahlt. Beispielsweise erließ der Großgrundbesitzer in Neunkirchen, nachdem er jedes Haus auf seinem eigenen Gut nach sozialdemokratischen Stimmzetteln hatte durchsuchen lassen, in seiner Eigenschaft als Amtsvorsteher, ein offizielles Verbot jeglicher 31 32

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Zustimmend zitiert in DA 8/41 (12. Okt. 1890) S. 687 f. Gerlach: Rechts, S. 32, nennt »Seydlitz«, aber dies muss eine Verwechselung mit Otto Th. v. Seydewitz sein. Aus vielen Beispielen polnischer Landarbeiter, die von deutschen Arbeitgebern entlassen und vertrieben wurden: Marienwerder 5, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 1) DS 166, S. 802 ff.; Hagen: Germans, S. 370 Anm. 87. Ortsvorsteher Carl Wommer zu dem Getreidebauern und Dorffaktotum Nikel Brill in Ronnenberg, Trier 6, AnlDR (1884, 5/IV, Bd. 4) DS 103, S. 794. Traeger SBDR 13. Feb. 1886, S. 1052. Kühne: Liberale, S. 281. Molt: Reichstag, S. 119; Saul: Kampf, S. 180 f., 180 Anm. 73; Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 362 betrachtet die Reform angesichts der sehr niedrigen Vermögensgrenze bei der Qualifikation für die Wahlen zur Gemeindevertretung für demokratisierend.

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Abb. 7: Ostelbien E. Thöny: Ostelbien, in: Simplicissimus XVI/2, Nr. 40 (1. Jan. 1912): S. 715.

»Es ist eine liberale Stimme abgegeben worden. Der Schulmeister kriegt von heute ab keine Kartoffeln mehr.«

weiterer Verteilung von Stimmzetteln. Als eine unerschrockene Seele drohte, dieses Verhalten in einer Zeitung zu veröffentlichen, damit alle Welt es lesen könne, erwiderte der Adelige: »Das thun Sie nur! Das gereicht mir zur Ehre!« Er wusste, dass er bei den einzigen Leuten, auf deren Zustimmung er Wert legte, sofort Unterstützung bekommen würde. Und weil das Amt des Amtsvorstehers ein Ehrenamt war, wurde jeglicher Wahleinfluss, den er ausübte, als »privat«

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betrachtet. Er fiel damit nicht unter die Ächtung des Reichstages dessen, was als »offizielle« Einflussnahme gelten konnte.35 Außer jenen, die, von den Schäfern angefangen bis hin zu den evangelischen Geistlichen, direkt der Autorität der Adligen unterstanden, gab es im Einflussbereich der Junker auch konzentrische Kreise von Nachbarn – Männern für die, zumindest an den äußeren Rändern, »Klienten« ein besserer Begriff als »Abhängige« ist. Selbst ein ziemlich großer Bauer musste vielleicht hier einen Teich, dort eine Weide pachten – was durchaus im Ermessen des Gutsherrn lag –, wenn er seinen Besitzstand erhalten wollte.36 Und die Schicksale aller ländlichen Erzeuger, von den wenigen wohlhabenden bis zu den vielen armen, deren Marginalität das Wort »Kleinpächter« kaum anzudeuten vermag, waren von der »Waldstreu« abhängig – die alles umfasste, was auf dem Waldboden zu finden war. Die Waldstreu lieferte Humus, Brennmaterial, Frostabdeckung für Wurzelgemüse, Tierfutter und – für jene, die sich Stroh niemals hätten leisten können – Streu für den Hof oder den Stall. Zugang zur Waldstreu war der Schlüssel zu erfolgreichem Wirtschaften, und dieser Zugang wurde vom Gutsbesitzer kontrolliert, entweder persönlich oder durch seine Verbindung zu den Forstbeamten. Bei jeder Wahl waren die Drohungen, die Waldstreu zu verweigern, ein probates Druckmittel der Gutsbesitzer. Zur Einschätzung der Macht der Land besitzenden Elite, so argumentierte ein Zentrumsabgeordneter, müsse man nicht nur deren eigene Arbeiter in die Rechnung einbeziehen, »sondern auch die – sonst unabhängigen – Bauern«, die »nothwendig wie das liebe Brod Laub und Waldstreu haben«. Durch die Verweigerung der Waldstreu »wird seitens einer Koterie von Großgrundbesitzern die Wahl vollständig in ihren Händen gehalten«.37 In den östlichen Gegenden Preußens konnte sich der Einfluss der Junker sogar bis in die benachbarten Marktstädte erstrecken. So mussten in Medzibor, Festenberg, Juliusburg und Bernstadt die »als liberal denuncirten Kaufleute und Gewerbetreibenden« hinnehmen, dass die konservativen Landbesitzer nicht nur den Handel mit ihnen einstellten, sondern als Kreditgeber auch die sofortige Begleichung aller ausstehenden Rechnungen verlangten, anstatt wie üblich bis zum ersten Tag des neuen Jahres zu warten. In den frühen 1880er Jahren trat das gesamte liberale Wahlkomitee von Bernstadt (4.000 Einwohner) offiziell zurück unter Angabe von wirtschaftlichen Gründen. Niemand in Bernstadt wagte es, liberalen Sprechern eine Halle zu vermieten – und selbst wenn man es getan hätte, beteuerten die ausscheidenden Komiteemitglieder, so hätte niemand sich getraut, die Versammlung bei den örtlichen Behörden anzumelden oder die Veranstaltung zu eröffnen. Die Folge solchen Drucks war, dass ein Wahlkreis, der gerade einen Fortschrittlichen gewählt hatte, sich, nachdem der Sieger ein Man35 36

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Merseburg 7, SBDR 10. Feb. 1888, S. 831. Bote ging von Haus zu Haus und drohte mit Verlust der Pacht: LL Protest in Erfurt 1, 12. März 1887, BAB-L R1501/14464; Bl. 12–29; Drohung mit Vertreibung: Oppeln 4, 5. Apr. 1871, S. 182; Köslin 1, AnlDR (1893/94, 9/II, Bd. 2) DS 149, S. 883; Marienwerder 5, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 1) DS 166, S. 803 ff. Schröder-Lippstadt SBDR 21. Jan. 1875, S. 1175. Die Drohungen, Waldstreu zu verweigern, sind zu zahlreich zur Auflistung.

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dat in einem anderen Wahlkreis angenommen hatte, auf der Stelle zwangsweise wieder dem Lager der Freien Konservativen zugeschlagen sah.38 Die Offenheit, mit der die Junker die Presse benutzten, sowohl um Gehorsam von ihren Untergebenen einzufordern als auch um sich über Methoden zu verständigen, mit denen man das erreichen konnte, spricht für einen starken Konsens über die Wahlnormen innerhalb der ländlichen Elite. Aber wir sollten uns davor hüten, diese Normen mit »politischer Kultur« gleichzusetzen. Wenn »Kultur« irgendetwas bedeutet, dann bezieht sich der Begriff auf internalisierte Disziplin und auf Erwartungen, die derart allgemein verbreitet sind, dass sie unausgesprochen bleiben. Wenn Kultur das Medium ist, in dem sich politisch aktive Menschen bewegen, dann muss sie, wenn nicht von allen Teilnehmern, so doch prinzipiell über die Klassengrenzen hinweg geteilt werden. Aber der Vorsatz des alten Gerlach, nie wieder am Wahltag abwesend zu sein, die Hausdurchsuchungen und das Wegnehmen von Stimmzetteln durch seine Kollegen sowie die außergewöhnlichen Anstrengungen, die sie alle unternahmen, um sicherzustellen, dass ihre Stimmzettel von außen »gelesen« werden konnten – dies alles zeigt, wie wenig die Herren des flachen Landes bereit waren, die inneren, »natürlichen« Beziehungen zwischen Herrn und Knecht allein der Natur – oder der Kultur – anzuvertrauen. Wir sollten uns an diese Manöver erinnern, wann immer zeitgenössische Wahlmuster auf der anderen Seite des Ärmelkanals es nahelegen, die Wahlen auf dem flachen Land als Ergebnisse »zustimmender Gemeinschaften« zu sehen.39 Gewisse Gegenden hatten die Gutsbesitzer natürlich besonders fest im Griff. Die »Grafenecke«, eine dünn besiedelte Halbinsel, die an der Ostküste Schleswig-Holsteins ins Meer ragt, liefert ein besonders krasses Beispiel herrschaftlicher Macht. Wie wenig die Rantzaus, Reventlows, Bülows, Ahlefeldts, Holsteins und die anderen bedeutenden Familien, die dort wohnten, den Beginn einer Politisierung der Massen fürchteten, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass sie während der ersten beiden Wahlen das Feld den Progressiven und Sozialdemokraten überließen. Aber 1874 sollte der letzte große Triumph der Linken in der Grafenecke sein. Plötzlich beschloss der Adel, die Kontrolle zu übernehmen. Graf von Holstein-Waterneverstorff gewann 1877 mit großem Vorsprung. Bereits 1878 war die Linke, die 1874 immerhin noch 14.000 Stimmen geholt hatte, auf 805 Sozialdemokraten und 76 Fortschrittliche zusammengeschrumpft. Linke Meinungen auszumerzen war ein Kinderspiel in einem Wahlkreis, der 38 39

Breslau 3, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 300, S. 1096 f. Andere Beispiele für zurückgezogene Kredite: Marienwerder 5, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 1) DS 166, S. 801. Breslau 11, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 104, S. 354; Frankfurt 7, AnlDR (1881, 5/II, Bd. 5) DS 162, S. 551 ff.; Bromberg 2, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 105, S. 631, 633; Protest des Arbeiter-Wahlkomitees in Flensburg, 2. S-H), 10. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 1–8; Schmidt SBDR 27. Apr. 1887, S. 414 ff. Suvals Behandlung des Wählens auf dem Land scheint gelegentlich zwischen »Gehorsam«, »Ehrerbietung« und »zustimmender Gemeinschaft« als aufeinanderfolgenden Punkten auf einer Gradskala der Freiheit zu unterscheiden, an anderen Stellen fasst er sie zusammen. Politics, bes. S. 101 f., 106. Trotz aller Vieldeutigkeit vermittelt dieses Bild definitiv den Eindruck, dass in nicht näher bezeichneten Fällen jene Bewohner der ostelbischen Gebiete, die die Konservativen wählten, dies aus eigenem Willen taten. Eine ähnliche Ansicht: Nossiter: Influence, S. 198.

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noch 1905 keine einzige über 5.000 Einwohner zählende Stadt aufwies und dessen meiste Dörfer auf dem Gebiet eines Großgrundbesitzers lagen. Das Wirtshaus war (für den Konservativen) der einzige bedenkliche Ort in den Weilern, und daher wurde deutlich gemacht, dass kein Gastwirt den Gegnern des Grafen Holstein Räume vermieten sollte.40 In seinem eigenen großen Besitz ließ der Graf seine Gasthäuser leer stehen, da er es vorzog, auf Einkommen zu verzichten, anstatt seinen Leuten eine Gelegenheit zu geben, unkontrollierten Kontakt mit Ideen von außen – oder untereinander – zu bekommen. Noch 1893 konnte der Erfolg der ländlichen Quarantäne an den Wahlergebnissen von Futterkamp, Rantzau, Neuhaus und Kletkampf abgelesen werden. Graf Holstein bekam 795 Stimmen, sein Gegner drei. Holstein hielt das Mandat der Grafenecke bis zu seinem Tod im Jahr 1897. Friedrich Naumann, der charismatische evangelische Pastor, der kurz zuvor den Nationalsozialen Verein auf der Grundlage des Imperialismus in Übersee und sozialer Reform zu Hause gegründet hatte, glaubte, in der resultierenden Nachwahl eine Chance zu sehen. Naumann überzeugte Adolf Damaschke, den bekannten Verfechter einer Landreform, der im nahen Kiel eine Zeitung herausgab, davon, dass er für den ländlichen Wahlkreis der ideale Kandidat sei. In der gesamten Grafenecke allerdings, einem Bezirk mit fast 100.000 Einwohnern, hatten Damaschkes »Bodenreform« und Naumanns »Hilfe« zusammen sieben Abonnenten – ein guter Gradmesser für die Aussichten der neuen Partei. Obwohl sie ursprünglich gehofft hatten, ihre Wahlkampagne in jedem der 182 Wahlbezirke durchzuführen, wurde es den Wahlkämpfern der Nationalsozialen verwehrt, außerhalb der wenigen freien Weiler und Marktstädte aufzutreten. Und selbst dort wurden ihre Reden von den Vertretern der Landgüter unterbrochen. Obwohl Damaschkes unerschrockener Wahlkämpfer Hellmut von Gerlach behauptete, die gegen die dunklen Fenster der Vortragshallen, in denen er sprechen durfte, gepressten Nasen des ländlichen Proletariats gesehen zu haben, wagte es keiner der Neugierigen, hereinzukommen. Der konservative Kandidat, ein Adliger, der derart taub war, dass seine Berater entschieden hatten, ihn gänzlich von seinen Wählern fernzuhalten, gewann mühelos.41 Die Konservativen machten aus ihrer Taktik keinen Hehl. Ernst von Köller, ein konservativer Abgeordneter und Landrat (und zur Mitte der 1990er Jahre ein ausgesprochen streitsüchtiger Innenminister, freilich nur für kurze Zeit), veröffentlichte ein knappes juristisches Handbuch, das eine Bibel für jene seiner Kollegen wurde, die sowohl gewinnen als auch spätere Ungültigkeitserklärungen vermeiden wollten. Der Kleine Köller, wie es genannt wurde, warnte, dass es illegal sei, die Verteilung von Stimmzetteln in irgendeiner Weise zu be40

41

Wirtshäuser im Allgemeinen: Deutsche Post Nr. 40, 5. Okt. 1890, zitiert in DA 8/41 (12. Okt. 1890) S. 687 f. Ebenso DA 9/32 (9. August 1891, S. 549 ff.; DA 9/33 (16. Aug. 1891) S. 566 f. Letzteres zitiert die »Vorschläge zur Landagitation« einer SD-Publikation, die sich ausführlich mit der Schwierigkeit, in die Dörfer vorzudringen, beschäftigte. Rohe: Wahlen, S. 87 f., 90, behandelt mögliche Erklärungen für die Erfolge der Linken im ländlichen Holstein in den frühen 1870er Jahren, ohne jedoch eine allgemein gültige Antwort zu finden. Wahlbezirksstatistik: Gerlach: Rechts, S. 156.

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hindern, erinnerte jedoch in einer vielsagenden Fußnote die Gutsherren daran, dass »selbstverständlich« niemand fremdes Land gegen den Willen des Besitzers betreten dürfe. Den Klugen genügt ein Wort. Wo der Dobermann und die Deutsche Dogge die Privatsphäre eines Landbesitzers schützen konnten, wurde jedes Gut für Wahlkämpfer zur »verbotenen Stadt«.42 Ohne Versammlungsräume in Wirtshäusern oder Gemeindepfarrer als Verteiler konnten die Gegner der Brotherren ihre Stimmzettel einfach nicht in die Hände der Wähler gelangen lassen.

−−− Zweifel an der »Gemeinschaft«, sei sie nun zustimmend oder nicht, waren im ländlichen Nordosten am stärksten in Schlesien angebracht. Besorgte Beobachter äußerten sich zu der Gleichgültigkeit der schlesischen Aristokratie gegenüber den üblichen Verantwortlichkeiten und Beziehungen. Das Netz gegenseitiger Verpflichtungen, das früher die ländliche Gesellschaft verbunden hatte, war hier nur noch, wie der junge Max Weber 1892 klagte, in »trümmerhaften Resten« vorhanden. Aber man verzichtete auf modernere Umgangsformen. Weber behauptete, dass andernorts ein Industrieller oder Geschäftsmann, unabhängig davon, wie reich er sei, klug genug sei, Beamten gegenüber, die für ihn arbeiteten, die Anrede »Herr« zu benutzen und seine Arbeiter grundsätzlich mit der Höflichkeitsform »Sie« anzureden. In Schlesien jedoch konnte ein adliger Grundbesitzer »für seine Beamten kaum das Wort Herr über die Lippen bringen, und redet seinen Kutscher, Diener etc., seien diese auch verheiratet, auch seine Hofleute, mit ›du‹ an, während er für sich den Titel ›gnädiger Herr‹ beansprucht«.43 Weber überschätzte die Verbreitung von Höflichkeitsformen auf dem flachen Lande außerhalb Schlesiens, aber mit ihrem Fehlen innerhalb dieser Provinz hatte er Recht. Und die Gutsverwalter im deutschsprachigen evangelischen Unter- und Mittelschlesien sowie auch im polnischsprachigen katholischen Oberschlesien benutzten, um gute Wahlergebnisse zu erreichen, selten feinfühlige Methoden. Kräftige Forstgehilfen pflanzten sich neben den Wahllokalen auf, packten den unglücklichen Bürger und suchten ihn nach nicht genehmen Stimmzetteln ab. Mit nach außen gekehrten Taschen, den Stimmzettel des Brotherrn, den man ihm in die Hand gedrückt hatte, hoch über dem Kopf erhoben, wie man ihm befohlen hatte, wurde der Wähler dann zum Wahltisch geschoben oder getreten. Jetzt war er häufig, wie Johann Warzecha bekundete, derart eingeschüchtert, dass er schwach und »wie besinnungslos« dem Wahlvorsteher den ihm aufgezwungenen Stimmzettel übergab. Wenn eine etwas höhere gesellschaftliche Stellung solch eine rohe Behandlung ausschloss – oder wenn der Wähler körperlich dem Warzecha überlegen war –, benutzten die schlesischen Tyrannen andere Methoden: Sie fälschten die Wahlergebnisse oder ließen die Wahl ausfallen. Ein 42

43

[Köller]: Ungiltigkeit, S. 10 Anm. 2. Bereits in den späten 1880er Jahren bezog man sich darauf. Hermes SBDR 11. Jan. 1889, S. 382. Zu Köller als IM: Nipperdey: Geschichte, Bd. 2, S. 710, 714. Zur Kampagne von 1898 und der »verbotenen Stadt«: Gerlach: Rechts, S. 156 f., 161. M. Weber: Verhältnisse, S. 495, 633. Auch 635 f. zu einer Hypothese über die ökonomischen Ursachen, die unterschiedliche politische Loyalitäten im Osten schafften.

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Wahlvorsteher, der anscheinend davon überzeugt war, dass das ganze Dorf seinem Brotherrn nichts Gutes versprach, verkündete allen Eintreffenden: »Heute ist keine Wahl, ich werde nicht wählen, und ihr wählt auch nicht, und« – auf zwei gerade gekommene Wähler zeigend – »stellt euch zwei da an die Thüre und sagt es den Ankommenden.« 44

Der Hohenlohe-Klan war berüchtigt dafür, dass er mit derartigen Mitteln die oberschlesischen Wahlen beeinflusste. Der Herzog von Ratibor (ein HohenloheSchillingsfürst), dessen Niederlage in Pleß-Rybnik in Kapitel 4 erwähnt wurde, war nur der harmloseste der Missetäter – was seine Niederlage aus heiterem Himmel erklären mag. Das Mandat des Herzogs von Ujest (Fürst zu Hohenlohe-Oehringen) in Groß Strehlitz-Kosel wurde wegen bereits zuvor dokumentierter Praktiken für ungültig erklärt, nachdem er das Mandat im benachbarten Lublinitz-Tost-Gleiwitz bei der vorherigen Wahl »gewonnen« hatte.45 Prinz Karl von Koschentin (ein Hohenlohe-Ingelfingen) kam einer ähnlichen Ungültigkeitserklärung nur dadurch zuvor, dass er von seinem Mandat von LublinitzTost-Gleiwitz 1876 zurücktrat – am letzten Sitzungstag.46 Erbprinz Christian Krafft zu Hohenlohe-Oehringen gab gleichermaßen sein Mandat von Kreuzburg-Rosenberg 1881 auf, als die Wahlprüfungskommission schließlich zu einer Ungültigkeitsempfehlung kam. Aber bis dahin hatte der Erbprinz, ungehindert durch den Skandal seiner Wahl, bereits fast drei Jahre lang im Reichstag sein Stimmrecht ausgeübt. Gegen Wähler, die ihre Wünsche ignorierten, wandten die Gutsverwalter der Hohenloher alle üblichen Mittel an, mit denen ein Großgrundbesitzer den von ihm Abhängigen das Leben schwer machen konnte. Sie zogen kleine Ämter zurück, wie z. B. die Überwachung der Turmuhr, mit denen ein Mann sein kärgliches Einkommen aufbessern konnte, und legten zusätzliche Pflichten fest, wie beispielsweise das Mähen der Wiesen am Sonntag. Sie kassierten die Weiderechte und die Rechte zum Nachlesen der Äcker. Sie kündigten noch ausstehende Kredite, erhöhten Steuern, beendeten Pachtverhältnisse. Sie vertrieben Leute von ihren Anwesen. Im Falle des Fürsten von Pleß, der Rache für die Nie44

45

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Fünf Proteste in Oppeln 1, AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 179, S. 920 ff. Auch SBDR 21. Jan. 1875, S. 1175, AnlDR (1876, 2/IV, Bd. 3) DS 111, S. 812. Ähnlich in 7 Dörfern in Breslau 3, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 300, S. 1097. Oppeln 3, AnlDR (1874/75, 2/II, Bd. 4) DS 176, S. 1122 ff.; Parisius u. a., Antrag v. 19. Jan. 1875, Nr. 204 und Lingens u. a., Antrag v. 20. Jan. 1875, Nr. 206, S. 1264; SBDR 21. Jan. 1875, S. 1153 ff. (Ungültigkeitserklärung); AnlDR (1875/76, 2/III, Bd. 3) DS 195, S. 722; AnlDR (1876, 2/IV, Bd. 3) DS 72, S. 665; SBDR 26. Dez. 1876, S. 844 f. Mazura: Entwicklung, S. 99 f., 107. Oppeln 4, SBDR 5. April 1871, S. 182 ff.; AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 63, S. 139 ff.; Oppeln 4, AnlDR (1874/75, 2/II, Bd. 4) DS 149, S. 1105 ff.; Kircher-Gneist, Antrag vom 20. Jan. 1875, AnlDR (1874/75, 2/ II, Bd. 4) DS 207, S. 1265; SBDR 21. Jan. 1875, S. 1171 ff.; 4. Dez. 1875, S. 422 ff.; AnlDR (1875/76, 2/III, Bd. 3) DS 64, S. 242 f.; AnlDR (1876, 2/IV, Bd. 3) DS 111, S. 809 ff. Der Brief des Prinzen Hohenlohe, in dem er am letzten Sitzungstag wissen ließ, dass er, »um nicht in letzter Stunde den hohen Reichstag zu einer zeitraubenden Verhandlung zu veranlassen, hiermit sein Mandat niederlege«, wurde mit Gelächter begrüßt. Ballestrem fragte, wie man ein Mandat »niederlegen« könne, das man nie legitim innegehabt habe. SBDR 21. Dez. 1876, S. 998.

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derlage des Herzogs von Ratibor übte, wurden ganze Dörfer von der Armenhilfe abgeschnitten.47 Was die »Hohenlohe-Wahlen« in Oberschlesien von den zahllosen anderen Fällen erwiesener Einschüchterung durch ländliche Brotherren unterschied und was schließlich ihre Siege anfällig für Ungültigkeitserklärungen machte, war das sichtbare Einvernehmen von Regierungsbeamten, vom Landrat bis zum Gendarm, das Lakaien, zusätzlich zu dem hohen Grad kriminellen Verhaltens – Gewalt, offener Betrug, Unehrlichkeit –, auf ihr Geheiß anwandten.48 Diese Gewaltmethoden führten Siege herbei, aber sie führten auch zu Kontroversen. Schließlich wurden es die Hohenlohes leid, ihre unverdienten Mandate gegen die Wahlanfechtungen ihrer weniger bedeutenden Nachbarn zu verteidigen. Und dank des Kulturkampfes war es dem Zentrum möglich, diese kleineren katholischen Bauern, die schließlich auch Brotherren waren, zu organisieren, so dass sie den Drohungen der Adligen widerstehen konnten und am Ende diese Wahlbezirke selbst in den Landtagswahlen gewannen, bei denen das Dreiklassenwahlrecht galt.49 Die Hohenloher zogen sich einer nach dem anderen schließlich zurück. Eine Ausnahme bildete Christian Krafft, Erbprinz von Hohenlohe-Oehringen. Nach seinem vorsorglichen Rücktritt 1881, als seine Wahl für ungültig erklärt werden sollte, gewann er sein Mandat 1883 zurück und hielt es ununterbrochen bis zum Januar 1912, dann übergab er es einem anderen konservativen Gutsbesitzer. Christian Kraffts ununterbrochene Reihe von Erfolgen nach 1883 erklärt sich durch die Existenz einer großen, vierzigprozentigen evangelischen Minderheit in seinem Wahlkreis – die einzige Konzentration von evangelischen Christen in Oberschlesien. Eine solche Wählerschaft benötigte keine besondere Überredung, um gegen einen Zentrumskandidaten für einen evangelischen Mitbruder zu stimmen. Mit diesem Ass im Ärmel war der Erbprinz in einer guten Position, sich mit der besseren katholischen Gesellschaft zu einigen. Dies muss zwischen 1881 und 1883 geschehen sein, anscheinend in einem komplizierten Kuhhandel, bei dem die Konservativen und das Zentrum die zwei Landtagssitze des Wahlkreises zwischen sich aufteilten (und die bis dahin vorherrschenden, antiklerikalen Freien Konservativen hinausdrängten) und schließlich Christian Krafft das Reichstagsmandat erhielt. Denn nach einem Jahrzehnt heißer Wahlkämpfe (und der Wahlanfechtungen), bei denen sie einmal bis auf fünf Stimmen an die Übernahme des Mandats herankamen, reichten Hohenlohes katholische Nachbarn ihm plötzlich die Nachwahl von 1883 auf dem Silbertablett und stell47 48

49

Brief der Hauptverwaltung Schloß Pleß vom 1. April 1871 verlesen von Schröder-Lippstadt, SBDR 22. Nov. 1871, S. 434 f. Zu Oppeln 1: SBDR 5. Apr. 1871, S. 171 ff.; SBDR 11. Apr. 1874, S. 732 ff.; AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 179, S. 918 ff. Zu Oppeln 4: SBDR 5. Apr. 1871, S. 183, und 8. Nov. 1871, S. 139. Andernorts in Schlesien war es die Regierung, die die Unterstützung des Adels suchte, aber nicht immer bekam: Puttkamer an OP von Breslau, 8. Okt. 1881, zur Bitte um Unterstützung bei der Angelegenheit Schaffgotsch in Liegnitz 8, zitiert in: Wie Bismarck, 1/5, S. 9. Nach der ausführlichen Behandlung der Einschüchterung von Z-Wählern durch Arbeitgeber fügt Mazura hinzu: »Um abhängige Klerikale nicht der Gefahr einer Maßregelung auszusetzen, wurden für die Landtageswahlen von 1876 vielfach Dienstknechte ultramontaner Bauern zu Wahlmännern bestimmt, während 1870 vornehmlich Geistliche und Lehrer hierzu gewählt worden waren.« Entwicklung, S. 100, 101 Anm. 18.

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ten von da an keine eigenen Kandidaten mehr gegen ihn auf. Der daraus resultierende überkonfessionelle Konsens unter den Eliten des Wahlkreises war umfassend genug, um offene illegale Maßnahmen überflüssig werden zu lassen. Der Konkurrenzkampf – und damit die Wahlproteste gegen Christian Kraffts Wahlsiege in Kreuzburg-Rosenberg – versiegten.50

»Zustimmendes Wählen« und Vergleiche mit Großbritannien Vor Kurzem warf Stanley Suval – in einer zu Recht gepriesenen revisionistischen Schrift – ein freundliches Licht auf die Wahlen im ostelbischen Flachland. »Es steht außer Zweifel«, gestand Suval ein, »dass einige östliche Wähler sich wie jene lange gesuchten preußischen Bataillone verhielten und gehorsam zu den Wahlurnen marschierten.« Und Suval zitierte auch einen konservativen Zeitgenossen mit den Worten, dass »die natürlichen, sozialen Verschiedenheiten in einem viel verästelten System von Gehorsamsverhältnissen ihren robusten, praktischen Ausdruck fanden«. Aber keine dieser Aussagen erfasste für Suval die grundsätzliche Realität östlicher Wahlen. Stattdessen wichen, zu einem unbestimmten Zeitpunkt innerhalb des Kaiserreichs, jene »Anhänger«, die einmal aus Gehorsam konservative Stimmzettel eingeworfen hatten, »zustimmenden Gemeinschaften«. Das bedeutet, dass eine »Kombination von Interessengruppen und subkulturellen Bedürfnissen« sie als Wähler verband. Hohe Agrarpreise waren natürlich das gemeinsame Hauptinteresse dieser Wähler – und in den späten 1890er Jahren hatten bereits Organisationen wie der Bund der Landwirte geholfen, »den Stil der ostelbischen Politik von der Erwartung von Fügsamkeit zu ernsthaftem und andauerndem politischem Wahlkampf« zu wandeln. Aber selbst die von Interessengruppen geprägte Politik triumphierte niemals »über die Anhäufung von Symbolen und Beziehungen, die die Politik im Osten Deutschlands bestimmten«. »Anhäufungen von Symbolen und Beziehungen« ist ein mehrdeutiger Ausdruck. Suval illustrierte, was er damit meinte, indem er Robert Franks Beschreibung einer idealtypischen Versammlung der Konservativen in der brandenburgischen Provinz zitierte, die unweigerlich von einem Herrn Major oder Herrn Rittmeister geleitet wurde, dessen Beschwörungen von Herrscherhaus und heimischer Scholle an Loyalitäten zu einer Ordnung appellierten, die sowohl vertraut als auch zeitlos war; einer Ordnung, die zu erhalten die Konservativen noch mehr aufgerufen waren als hohe Agrarpreise. »Es war nur ein kleiner Schritt«, schloss Suval, »von solchem Verhalten zu zustimmendem Wählen.« Obwohl das Konzept an den Rändern schwer abzugrenzen ist,51 muss »zustimmendes Wählen«, wenn es den Gehorsam abgelöst haben soll, freiwillig ge-

50 51

Oppeln 1: Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 84, und Nachtrag, 23; Kühne: Handbuch, S. 344 ff. Konservative Monatsschrift, Heft 10, 1911, S. 974, zitiert in: Hans Boons: Die Deutsch-Konservative Partei, Düsseldorf 1954, S. 37, zitiert in Suval: Politics, S. 201. Siehe auch 101 ff.; freie ostelbische Wähler: Below: Wahlrecht, S. 154 Anm. 126.

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wesen sein.52 Frank selbst unterstützte diese Unterstellung, indem er behauptete: »In den Konservativen sah die Mehrzahl der Landbewohner ihresgleichen.«53 Aber wer waren die Wahlberechtigten, die Franks idealtypische Versammlung der Konservativen besuchten? Frank spricht von mittleren und kleinen Bauern. Wir könnten auch jene Elemente der brandenburgischen Provinzgesellschaft einschließen, die der alte Dubslav von Stechlin, Theodor Fontanes fiktionaler Vertreter von allem, was in der preußischen Landbesitzerklasse am besten war, bei besonderen Gelegenheiten um seinen Tisch versammelte: den evangelischen Pfarrer, den Oberförster, den Rentmeister und den Besitzer der Sägemühle. Jeder von diesen hatte einen bestimmten Platz in der örtlichen Hierarchie inne und alle, außer vielleicht dem Sägewerksbesitzer, waren in unterschiedlichem Maß vom Großgrundbesitzer abhängig. Aber die Frank-Suval-These bietet uns, indem sie die Arten und Abstufungen der Abhängigkeit in der ländlichen Gesellschaft ausklammert, eine zeitliche Erklärung für ein Phänomen, das eigentlich gesellschaftlich zu sehen ist. Der Fortschritt auf einer Skala, die von Zwang über Ehrerbietung zu zustimmendem Wählen geht, war kein Wandel, den früher einmal unabhängige Wähler durchmachten, während sie sich mit der Zeit emanzipierten, sondern ein Trick der Beobachtung, der passiert, wenn der Historiker, unter Umständen unbeabsichtigt, die sozialen Kategorien wechselt. Einschüchterung und Gehorsam sind, wie bei Suval, leicht als Ausnahmen abzutun, wenn wir über die Transaktionen zwischen Dubslav von Stechlin und den Männern sprechen, die um seinen Tisch sitzen oder dafür in Frage kämen – Gutsverwalter, Oberförster, mittlere Bauern und Händler. Denn außerhalb Schlesiens und vielleicht der holsteinischen Provinz war offener Zwang kaum Teil des sozialen Netzes, das solche Männer mit dem Gutsherrn und untereinander verband.54 Aber wie sah es mit den Wählermassen auf den unteren Rängen der gesellschaftlichen Skala aus? 52

53 54

Tatsächlich redet Suval hier derart drum herum, dass die Frage letztlich nie gelöst wird. Er beginnt damit, einzugestehen, dass »die ländlichen Wähler im Osten eigentlich ehrerbietige Gefolgsleute waren« (Politics, S. 102), tut dann aber die These, dass die Stärke der K-Wahl durch »Einschüchterung« zustande gekommen sein könnte, als »zweifelhaft« ab (S. 105), während seine Beschreibung der ländlichen Wähler als zustimmende Gemeinschaften ein starkes freiwilliges Element enthält. Am Ende argumentiert er nicht gegen die damaligen Liberalen (die bestritten hatten, dass die K-Erfolge im Osten freiwillig zustande gekommen seien), sondern gegen Hans Rosenbergs Konzept der »Pseudodemokratisierung«, einen Buhmann, den er mit Leichtigkeit besiegt: »Solange man das demokratische Modell des Wählens als einzig mögliches Ergebnis ansah [Rosenbergs Fehler], wurde zweifellos der Gebrauch der Massenmanipulation bei den Wahlen mit antidemokratischen Zielen zu einer ›Travestie‹«; aber die Bewohner der ostelbischen Gebiete hätten dies anders gesehen (S. 103). Nachdem er also die Frage danach gestellt hat, wie diese Stimmen auf dem Lande zustande gekommen seien (durch Ehrerbietung, Gehorsam, Einschüchterung oder durch Zustimmung?), beantwortet Suval diese mit dem Hinweis darauf, wofür diese Stimmen abgegeben wurden (»antidemokratische Ziele«). Seine Schlussfolgerung – dass die Tatsache, dass diese Ziele antidemokratisch waren, noch keine Manipulation der Wahl beweist, ist ganz logisch. Aber sie macht uns um keinen Deut klüger, was die Antwort auf die Frage angeht, ob diese Stimmen selbst eine ›Travestie‹ waren, das heißt, unfreiwillig abgegeben. Hingegen Nipperdey: Organisation, S. 241 ff. Frank: Brandenburger, S. 174 ff. Zitat S. 175. Indirekte Beweise: Wahlaussichten für die Provinz Ostpreußen berichtet von der Notwendigkeit »die große Masse der kleineren ländlichen Besitzer«, die sich 1878, nach dem Attentatsversuch auf den preußischen König, »von der Demokratie abgewandt hatten«, unter den K-Fahnen zu halten. GStA PK I. HA, Rep. 89/210, Bl. 211.

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Teil 2: Kraftfelder

Mit wenigen Ausnahmen veranlasste die Notwendigkeit, die Stimmen der kleinen Leute anzuhäufen, die großen Männer nicht dazu, ihren feudalen Ton zu entschärfen. Hier ein Ausschnitt aus der Verlautbarung des Ulrich Prinz Schönburg-Waldenburg, Herr auf Guteborn in Ruhland und Vorsitzender des Bundes der Landwirte im Kreis Hoyerswerda, der seine Nachbarn – aus der Schützengilde, dem Turnverein, der Freiwilligen Feuerwehr, dem Gesangverein Liedertafel und dem Kriegerverein – zu einer Versammlung unter seiner Leitung am 6. Januar in Ruhlands Kneipe zusammenrief, bei der der Landrat und konservative Kandidat sprechen würde: Ich darf wohl erwarten, dass Sie vollzählig erscheinen, und sowohl am 6. 1. wie am 12. 1. Ich würde es als persönliche Kränkung empfinden, wenn Sie mich sowohl am 6. 1. wie am 12. 1. im Stich lassen würden. Ich habe mich doch bemüht, mit den Ruhländern auf freundschaftlichem Fuße zu stehen und darf nun wohl auch diese Gegenleistung zum Wohle des Vaterlands verlangen.

Sprecher des Ruhländer Schützenvereins versicherten, dass man »diesen moralischen Erpressungsversuch« ablehne.55 Vielleicht stimmt das. Aber solche kleinen Leute hatten nie jene »preußischen Bataillone, die gehorsam zu den Wahlurnen marschierten« gebildet, über die Zeitgenossen sich beklagten und deren Existenz Suval beinahe leugnet. Selbst die Mitglieder der verschiedenen Vereine und Verbindungen im kleinen Ruhland waren nie »die Mehrzahl der Landbewohner«.56 Stattdessen wird jeder dieser Männer (und jeder der »zustimmenden Wähler« bei Frank-Suvals idealtypischer konservativer Versammlung) selbst ein Brotherr von Arbeitern und Knechten gewesen sein, von denen viele in den Ställen der Tiere schliefen, für die sie sorgten, und deren Gegenwart kaum zum Auffüllen der Reihen bei den politischen Versammlungen des Herrn Majors erwünscht war.57 Selbst der kleinste Vollzeitbauer hatte seine »Hofgänger«: bezahlte Helfer, die nicht weniger abhängig waren als jene Truppen von Landarbeitern, die direkt für den wohlhabenderen Junker arbeiteten.58 Gesinde, Tagelöhner, Einlieger, Heuerlinge, Hofgänger, Wanderarbeiter (mit oder ohne 55 56

57 58

Aus der Reichstagswahlbewegung. Der abgeblitzte ›Gnädige Herr‹. Handels-Ztg. Des Berliner Tageblatts 2 (2. Jan. 1912, Abend), 2. Beiblatt. Franks Worte: Brandenburger, S. 174. Franks Untersuchung, die sich auf Zeitungen stützt, beschränkt sich fast völlig auf Berichte über die statistischen Ergebnisse jeder Wahl in jedem brandenburgischen Wahlkreis. Seine Ansichten darüber, was die Wähler motiviert haben mochte, erscheinen allein auf seinen letzten drei Seiten und er verrät nie, auf welche Beweise er sich stützt. Frank behauptet, dass hohe Wahlbeteiligungen wenig Wahlabstinenz aufgrund von Einschüchterung bedeuten. Tatsächlich bewiesen 1898 die P, dass Gutsbesitzer sich weigerten (wie es ihre Pflicht gewesen wäre), ihre Arbeiter über den Zeitpunkt und den Ort der Wahl zu informieren, ihnen nicht zum Wählen frei gaben und jene bedrohten und entließen, die nicht für den NL-Kandidaten gestimmt hatten. Die WPK stimmte wiederholt dafür, diese Wahl für ungültig zu erklären, aber den NL gelang es, eine Abstimmung im Plenum fünf Jahre hinauszuzögern. Marienwerder 3, AnlDR (1898/1900, 10/I, Bd. 4) DS 507, S. 2660, 2663; SBDR 14. März 1903, S. 8665 f. Z. B. Dienstknecht H. Fuchs in Breslau 9: SBDR 6. März 1888, S. 1317; H. Steins in Esbeck (Hannover 9): AnlDR (1890/91, 8/1, Bd. 1) DS 95, S. 641. »Otto« und Franz Rehbein: Das Leben eines Landarbeiters, Jena 1911, auszugsweise in: Kelly (Hrsg.): Worker, S. 205 ff., 188 ff.; Perkins: Worker; Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 53 ff.

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Verträge) sowie Anbauer, Brinksitzer, Büdner, Drescher, Eigenkäthner, Gärtner, Gütler, Häusler, Instleute, Kätner, Körbler, Köther, Kossäten, Söldner, die nicht fähig waren, sich von ihren eigenen winzigen Grundstücken zu ernähren: Dies waren die Wähler, die auf dem Lande die schweigende Mehrheit bildeten. Es ist für eine englischsprachige Historikerin unmöglich, die Vielfalt in der wirtschaftlichen Existenzfähigkeit und Abhängigkeit zu erfassen, die mit diesen Begriffen ausgedrückt werden. Sogar der große Agrarhistoriker Georg Knapp, stellte Edgar Melton fest, der »sein Forscherleben der ländlichen Bevölkerung der ostelbischen deutschen Gebiete widmete, bekannte, dass er nie genau herausgefunden habe, was ein Häusler sei«.59 Mit Rekruten wie diesen wurden die Wählertruppen östlich der Elbe – aber nicht nur dort – aus dem Boden gestampft.60 Das idealtypische (oder vielleicht idealisierte) Bild der ländlichen »Jasager« geht auch von dem Fehlen kritischer Stimmen aus – was leicht genug zu erreichen war, wenn die Landbesitzer und ihre Vertreter diese zum Verstummen brachten. Sie brachten sie nicht nur dadurch zum Verstummen, dass sie die Stimmzettelverteiler von ihren eigenen Gütern und Dörfern fernhielten und die wenigen öffentlichen Gebäude schlossen (wie wir in der Grafenecke gesehen haben), sondern auch, indem sie die öffentlichen Plätze mit solcher Macht besetzten, dass alle anderen hinausgetrieben wurden. Im winzigen Ossa im Königreich Sachsen, wo ein Kandidat der Freisinnigen Volkspartei um sieben Uhr im Gasthaus sprechen sollte, erschien Oberst von Bastineller eine halbe Stunde früher, begleitet von siebzig seiner eigenen Feldpächter und Knechte, von Gemeindevorständen, die sein hastiges Rundschreiben erreicht hatte, und von Gutsbesitzern aus der Nachbarschaft mit deren Gefolge. Er brachte die Menge sofort dazu, ihn zum Vorsitzenden der Versammlung zu wählen. Dann stellte er den Antrag, dass kein Wahlkreisfremder zu Wort kommen und auch der Kandidat selbst nicht länger als 45 Minuten reden sollte. Als der Kandidat, ein Lehrer, darum bat, zu dem Antrag Stellung nehmen zu dürfen, schnauzte ihn der Oberst an: »Unterbrechen Sie mich nicht!« und bat um Handzeichen. Der Antrag wurde sofort angenommen. Als er erkannte, was geplant war – Oberst von Bastineller hatte den Raum ab halb acht Uhr gemietet – überließ der Lehrer den Saal, den er bezahlt hatte, seinen Gegnern. Der Herr Oberst prangerte daraufhin die Manieren der Freisinnigen an, und übergab das Wort an den konservativen Abgeordneten, der gerade eingetroffen war.61 Wenn Robert Franks Annahme: »In den Konservativen sah die Mehrzahl der Landbewohner ihresgleichen« das sentimentale Verständnis der Elite von ihrer eigenen Rolle innerhalb der Land besitzenden Gesellschaft widerspiegelte, ist Stanley Suvals Übernahme dieses Verständnisses wohl hauptsächlich dem 59

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Ausgezeichnet zum Thema: Kocka: Arbeitsverhältnisse, S. 149 ff.; und zu einem »großen und vielschichtigen Kontinuum«: Edgar Melton: Gutsherrschaft in East Elbian Germany and Livonia, 1500–1800. A Critique of the Model, CEH 21/4 (Dez. 1988) S. 315 ff., 340; Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 772. Landwirtschaftliche Lohnempfänger bildeten 1/7 der Bevölkerung des Kaiserreichs, bei Weitem die größte Gruppe der Lohnempfänger. Ullmann: Interessenverbände, S. 72. Zu Berkersheim in Kassel 8: [Knabe], [Unterschrift fehlt hier, ist aber auf einer folgenden Postkarte] an Daßbach, Praunheim, 15. März 1890, BAB-L R1501/14668, S. 215 f. Sachsen 14, AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 117, S. 569, 572 (Zitat).

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Bild von Gefälligkeit und Ehrerbietung geschuldet, das der Wahlkultur im viktorianischen England so häufig zugeschrieben wird. Die Gesellschaft der englischen Provinz bietet zwar einen guten Ausgangspunkt zum Vergleich mit dem deutschen flachen Land, aber die Gegensätze sind so aufschlussreich wie die Ähnlichkeiten. Zuerst einmal waren die Maßstäbe in England vollkommen anders. Die Statistiker setzen den Eintritt in die oberste Kategorie der Großgrundbesitzer in England bei 16.187 Morgen an, in Preußen lag die entsprechende Schwelle bei 607 Morgen.62 Zwar erreichte Oberschlesien mit seinen Großgrundbesitzern englische Verhältnisse. Fast 46 Prozent des bebaubaren Landes war hier in der Hand von 54 Besitzern (und über 26 Prozent von nur sieben, von denen jeder mehr als 20.000 Hektar besaß). Der größte davon, mit 80.000 Hektar, war allerdings kein Junker, sondern der Staat. Außerhalb Oberschlesiens jedoch besaß ein typischer Junker kaum mehr als 485 oder 647 Morgen – ein Besitz, der in Großbritannien nicht einmal als Landgut gegolten hätte, wo die sechste und niedrigste Kategorie der Landgüter von 4.856 bis zu 9.712 Morgen umfasste. Der Landbesitz eines typischen Junkers war tatsächlich nicht viel größer als eine durchschnittliche Farm in Kansas oder Nebraska. Obwohl seine weniger begüterten Nachbarn stolz mit dem alten Dubslav über Stechlins »Schloss« sprachen, erzählt uns Fontane, dass dieses, objektiv betrachtet, »ein alter Kasten und weiter nichts« gewesen sei.63 Die gesellschaftlichen Unterschiede in der deutschen Provinz waren mit Sicherheit sehr groß, nicht nur in Oberschlesien, sondern auch in Posen – das vom polnischen Adel beherrscht wurde –, in Pommern und den beiden mecklenburgischen Großherzogtümern, wo ein Prozent der Landbesitzer 44 und 51 beziehungsweise 65 Prozent des Grund und Bodens besaßen. Aber selbst diese reichten kaum an den Großgrundbesitz der britischen Aristokratie heran. 1874 befanden sich 80 Prozent der gesamten britischen Bodenfläche mit einer Bevölkerung von gut 30 Millionen Einwohnern im Besitz von nur 7.000 Personen.64 Derartig große Unterschiede deuten auf zwei Konsequenzen hinsichtlich der Macht der rund 15.000 norddeutschen Gutsherren in den Wahlkämpfen hin.65 1. Mit eher Dutzenden als Hunderten von Abhängigen war die Möglichkeit des deutschen Grundbesitzers, das politische Verhalten jedes einzelnen sei62

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Oder noch niedriger: 400 Morgen: »Großbetriebe«: Frank: Brandenburger, S. 109; »ländliche Eliten«: Baranowski: Sanctity, S. 189 Anm.18; mehr als 161 Morgen, »Latifundien«: Perkins: Worker, S. 20. Wehler setzt die Schwelle zum Großgrundbesitz jedoch bei 600 Morgen an. Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 175, 805 ff. P. Weber: Polen, S. 21. Fontane: Stechlin, S. 7, 9. Wer Fontanes Beschreibung der relativ bescheidenen Lebensverhältnisse vieler (wenn auch nicht aller) preußischen Junker bezweifelt, braucht sich nur die Bilder in Adelheid Gräfin Eulenburg u. Hans Engels: Ostpreußische Gutshäuser in Polen. Gegenwart und Erinnerung, München 1992, anzusehen. Mitte der 1870er Jahre bestand in England 55 Prozent des Landes aus Gütern von mehr als 1.600 Morgen. Um 55 Prozent der deutschen Bodenfläche zu erfassen, müssten wir Höfe mit knapp 81 Morgen einbeziehen. Barkin: Germany, S. 200 ff., bes. 203 f.; ders.: Study, S. 373 ff., bes. 376 (der Vergleich mit Nebraska u. Kansas); European landed Elites in the Nineteenth Century, hrsg. v. David Spring, Baltimore 1977, Einleitung S. 2 ff.; F. M. L. Thompson: English Landed Society, London 1963, bes. Tabellen S. 32, 114 f., 118. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 803 ff., Tab. S. 827, obwohl hauptsächlich den Adel behandelnd, ist sehr gut zum Landbesitz im Allgemeinen. Und 1880 ca. 20.000 Familien. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 811.

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ner Leute zu überwachen, erheblich größer als die seines britischen Pendants, selbst vor der Einführung der wirklich geheimen Wahl in Großbritannien im Jahr 1872.66 Seine Überwachungsmöglichkeiten wurden darüber hinaus durch die Verordnung verbessert, dass die Wahlbezirke möglichst mit bereits bestehenden, natürlich gewachsenen Gemeinschaften übereinstimmen sollten. In den spärlich besiedelten Teilen der norddeutschen Tiefebene bedeutete dies, wie wir gesehen haben, dass die Wahlbezirke mit dem Gebiet eines einzigen Landgutes gleichzusetzen waren. 2. Wenn es aber in Deutschland einfacher war, die Stimmen von Abhängigen zu kontrollieren als in England, so war es hier doch wesentlich schwieriger, sie in klingende politische Münze umzuwandeln als auf der Insel. Nicht nur waren die Besitztümer viel kleiner, sondern die Wahlkreise waren auch viel größer. Obwohl britische Wahlkreise mit nur 600 bis 700 Wählern nach dem Reformgesetz (Reform Bill) von 1832 nicht mehr so zahlreich waren, gab es sie immer noch. Norman Gash hat die Zahl der Wahlkreise in England und Wales, in denen ein einziger Patron genügend Einfluss hatte, um alleine den Wahlausgang zu bestimmen, auf mindestens 42 geschätzt. H. J. Hanham hat behauptet, dass auch nach dem Reformgesetz (Reform Bill) von 1867 noch mindestens vierzig solcher Wahlkreise bestanden. Selbst im Dezember 1885 setzte das Neuverteilungsgesetz eine Untergrenze von 15.000 für die Einwohnerzahl eines Wahlkreises fest. In Deutschland waren 100.000 Seelen die gesetzliche Norm für einen Wahlkreis. Obwohl einige beträchtlich kleiner waren (und viele erheblich größer), umfasste der kleinste 1885 immer noch 35.372 Einwohner (mit 7.788 eingetragenen Wählern). Die durchschnittliche Bevölkerung selbst eines ländlichen Wahlkreises im gleichen Jahr betrug 107.073 Personen.67 Bei Zahlen wie diesen, und da der Wahlakt gleichzeitig in bis zu 200 Wahllokalen stattfand, war die Kontrolle durch einen oder selbst durch zwei oder drei dieser Besitzer unmöglich.68 Eine Untersuchung der Wahlergebnisse von ganz Deutschland während der gesamten Dauer des Kaiserreichs deutet darauf hin, dass von allen 397 Wahlkreisen nur ein einziger dem ähnlich sah, was die Briten »a close constituency« nennen – das heißt, die Domäne einer einzigen Familie war.69 Abb. 5 Kaiserreich 66

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Dies stelle ich im vollen Bewusstsein der Tatsache fest, dass die britischen Güter nicht im Ganzen bewirtschaftet, sondern gebietsweise an große Bauern verpachtet wurden, die selbst Landarbeiter einstellten. Bis 1884 waren es diese Pächter, und nicht deren Arbeiter, die die Mehrheit der Wählerschaft in den Grafschaften stellten. Aber große Einkommen machten diese nicht weniger abhängig. D[avid] C[resap] Moore: The Other Face of Reform, VS 5 (1961) S. 7 ff., und ders.: Concession or Cure. The Sociological Premises of the First Reform Act, HJ 9/1 (1966) S. 30 ff. Gash: Politics, S. 25, 203–238, und Anhang D; Hanham: Elections, S. 18 f., 19 Anm.1, 44 f., 409 ff.; Seymour: Reform, S. 433, 507. Durchschnitt auf dem Lande: Lidtke: Party, S. 259; kleinster Wahlkreis: Die Ungleichheit der Wahlkreise, Teile I, II, BrZ, 23. und 25. März 1885, BAB-L R1501/14451, Bl. 301, 303. Oberschlesien, das durch seine Größe und die Verteilung seines Besitzes eine Ausnahme hätte bilden können, war dies aus konfessionellen und ethnischen Gründen nicht. Frankfurt 5 wurde von den v. Waldow und Reizensteins von 1867 bis 1903 gehalten, außer elf Jahren, in denen anscheinend kein Familienmitglied zur Verfügung stand. Conrad Graf Holstein-Waterneverstorff saß für Holstein 6 von 1877 bis zu seinem Tod 1897 im Parlament; Christian Krafft, Erbprinz (später Fürst zu) Hohenlohe-Oehringen war der Abgeordnete von Oppeln 1 von 1880 bis 1912, außer 1881–1882, als

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Die Aufteilung der Macht der Großgrundbesitzer trug keineswegs zur Freiheit des einzelnen Wählers bei. Aber sie machte auf jeden Fall gesteigerte Anstrengungen über das Landgut hinaus nötig, wenn die Wünsche seines Besitzers politisch zum Tragen kommen sollten. Die Dienste der Regierung, oder sonst einer politischen Partei, wie schlecht organisiert diese auch immer sein mochte, waren unabdingbar: nicht um die Wähler zu den Wahlurnen zu treiben (dazu genügten vollauf die Landaufseher), sondern um in jedem ländlichen Wahlkreis als Vermittler zwischen den zahlreichen Familien und Interessen der besseren Gesellschaft zu wirken. Andernfalls wären die Bemühungen der Gutsbesitzer unter einer Vielzahl wetteifernder Kandidaten zersplittert worden, und sie wären ihren Gegnern nicht gewachsen gewesen, für die die Stadt einen Zusammenhalt und eine natürliche Basis bildete. Eine Zeitlang, während der 1850er Jahre, hatte der Aufwand des preußischen Innenministeriums zugunsten der Konservativen, das nicht nur für geeignete Kandidaten sorgte, sondern auch noch deren Stimmzettel druckte und verteilte, diese Binsenweisheit vor jenen verborgen, die sie am dringendsten erkennen mussten. Es war ein Fehler, den sie noch bereuen sollten.70

Die Junker und der Staat Zu keiner Zeit war die Abhängigkeit der konservativen Landbesitzer von Interventionen von außerhalb ihrer Güter so schmerzlich offensichtlich wie in den frühen 1870er Jahren, als sie sich unvermittelt in Opposition zu der gesamten Politik ihrer Regierung fanden. Es war nicht das demokratische Wahlrecht, das ihre politische Macht bedrohte, sondern die Tatsache, dass die Regierung ihre Verbündeten wechselte. Bismarcks Zusammenarbeit mit den Liberalen erzeugte Risse innerhalb der konservativen Elite Preußens, die sich mit jedem neuen Schritt vervielfachten. Jede Maßnahme – der Kulturkampf, dessen Auswirkungen auf die evangelische Kirche sie fürchteten; die neue Kreisordnung, die die Regierung mit Hilfe des Pairsschub (der Ernennung zusätzlicher Mitglieder) durch das preußische Herrenhaus peitschte – zwang sie, sich für oder gegen Bismarck zu entscheiden, und für oder gegen einander.71 Die Feindseligkeiten zwischen dem Kanzler und der konservativen Partei erreichten im Februar 1876 ihren Höhepunkt, als Bismarcks Versuch, die Kreuz-Zeitung, das journalistische Bollwerk der Ultrakonservativen, zu zerstören, eine Widerstandserklärung provozierte, die von Hunderten blaublütiger Leser unterschrieben war. Bismarck hatte das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt, um die Macht

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das Zentrum das Mandat hielt. Hirth (Hrsg.): Parlaments-Almanach (1887) S. 232; Parlaments-Almanach (1898) S. 278. Selbst die beträchtliche Anzahl der »nepotistischen Überhänge« bei LT-Wahlen waren eher eine Konsequenz der Schwierigkeiten, geeignete Kandidaten zu finden, als der Besitzverhältnisse. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 306 ff., 331. Fischer: Konservatismus, S. 120 f. Gut über die Aufspaltung der K: Pflanze: Bismarck, Bd. 1, S. 336 ff., 422 ff.; Bd. 2, S. 210 ff., 337 ff. Beste Erklärung, warum die Kreisordnung für sie schwer zu akzeptieren war: Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 813.

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Abb. 8 : Die Größe der Landgüter im Deutschen Kaiserreich Quelle: Hellmut Hesselbarth: Revolutionäre Sozialdemokraten, Opportunisten und die Bauern am Vorabend des Imperialismus, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 244.

a) Gebiete mit vorherrschendem Großgrundbesitz über 100 ha (mehr als 40 Prozent des gesamten Bodens) b) Gebiete mit starkem Großgrundbesitz über 100 ha (20 bis 40 Prozent des gesamten Bodens) c) Gebiete, in denen Wirtschaften von 20 bis 100 ha vorherrschen (mehr als 40 Prozent des gesamten Bodens) d) Gebiete, in denen Wirtschaften von 5 bis 20 ha vorherrschen (mehr als 50 Prozent des gesamten Bodens) e) Gebiete, in denen Wirtschaften mit weniger als 5 ha vorherrschen (mehr als 20 Prozent des gesamten Bodens)

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seiner Regierung bei den Wahlen zu erhöhen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass diese Regierung – die ohnmächtig gegen das Zentrum und handlungsunfähig, wie wir in Kapitel 9 noch sehen werden, gegen die Sozialdemokratie war – sich nur gegen die Konservativen als wahrhaft effizient erweisen konnte. Aber gegen die Rechte war diese Macht tödlich, wie die für die Konservativen katastrophalen Wahlen von 1873/74 nur allzu deutlich zeigen sollten. Von 57 Reichstagsmandaten 1871 sackte die Partei 1874 auf 22, obwohl die Größe des Reichstags selbst durch die Wahlberechtigung der Elsass-Lothringer von 382 auf 397 Abgeordnete wuchs. In den Wahlen zum Preußischen Landtag von 1873 war der Zusammenbruch der Rechten noch dramatischer – dort sanken ihre Mandate auf wenig mehr als ein Viertel ihrer früheren Stärke. Die Altkonservativen, also die größten Kritiker der Bismarck’schen Linie, wurden auf sechs reduziert. In den fünfzehn evangelischen Wahlkreisen in Ostpreußen gewannen die Konservativen bei den Reichstagswahlen von 1874 nur drei Mandate; bei den Landtagswahlen holten sie 1873, sowie erneut 1876, kein einziges Mandat mehr.72 Was ist die Erklärung für dieses Debakel? Der Zusammenbruch der Rechten bedeutete nicht, dass die ländlichen Wähler plötzlich die Macht übernommen hätten. Im Westen, wo sie von vornherein nur eine marginale Rolle spielten, waren die Konservativen die zwangsläufigen Opfer, als Honoratioren und einfache Wähler sich gleichermaßen beeilten, in den Kulturkämpfen Fahne zu zeigen, indem sie entweder das Zentrum oder die Liberalen wählten. Im evangelischen Osten wurden sie zum Opfer von Bismarcks Entschlossenheit, ein Exempel zu statuieren, um ihnen zu zeigen, zu was die »Überschätzung des Gewichtes der Aristokratie in Preußen« und andererseits die »Unterschätzung des Gewichtes der Krone« führten.73 Entgegen den unterschwelligen, in Bismarcks eigennützigem Kommentar enthaltenen Andeutungen jedoch bewiesen die Verluste der Konservativen nicht, dass die »Krone« die Königstreue der Wähler gegen ihre Herren instrumentalisiert hätte. Die preußische Exekutive war gar nicht imstande, sich zwischen den Wähler und seinen Brotherrn zu stellen. Die Macht der Regierung lag hier nicht in ihren Taten, sondern in ihren Unterlassungen. Denn ohne jegliche übergreifende Organisation der Kommunikation, die die Dutzenden von Wahlmöglichkeiten koordinierte – so wie wahlkreisweite Parteistrukturen es in der Zukunft tun sollten und wofür in der Vergangenheit die Regierung gesorgt hatte –, zerstreute sich die Kontrolle der Landbesitzer über ihre Abhängigen in zahllose widersprüchliche Richtungen. Und Bismarck ergriff Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ihnen genau diese Kommunikations- und Organisationsstruktur verwehrt wurde. In seiner eigenen erzkonservativen Nachbarschaft in Varzin ermutigte Bismarck tatsächlich liberale Kräfte.74 Aber wichtiger als das, was er für die Liberalen tat, war 72 73 74

Zahlen: Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 38, 140; etwas anders für Landtage bei Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 814; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 58. Bismarck: Aufzeichnung, Berlin, 5. Feb. 1874, GW 6c, S. 53. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 273. Kühne begründet die LT-Verluste der Rechten überzeugend mit einer Kombination aus dem »Konformitätsdruck des Wahlterrors« durch den F Adel (ebd., S. 56 ff.), dem

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das, was seine Verwaltung nicht für die Konservativen tat. Diese ließ verlautbaren, dass die freundliche Unterstützung der Regierung den konservativen Kandidaten nicht länger zur Verfügung stände. Kurz vor der Wahl von 1874 tauschte Bismarck die Landräte von Schlawe und Stolp (im ersten und zweiten Wahlbezirk von Köslin) aus, weil sie sich den Altkonservativen gegenüber als zu entgegenkommend gezeigt hatten, und der neue Landrat in Schlawe wurde davor gewarnt, den konservativen Gegnern der Regierung Beistand zu leisten.75 Wenn die »Säuberung« auch die Wahlen in Köslin nicht beeinflusste, so sorgte sie doch andernorts im Osten für Ernüchterung. Die verschwiegenen kleinen Treffen in den Amtsstuben des Landrats, die nötig waren, um sich auf einen gemeinsamen konservativen Kandidaten zu einigen, wurden einfach nicht einberufen – und wenn doch (und dies war eine weitere Konsequenz der Entfremdung), wurden die Einladungen nicht angenommen. Der Konservatismus drückte sich in den frühen 1870er Jahren viel weniger in der Zugehörigkeit zu einer Partei als in einer gemeinsamen Haltung aus: der Gleichgesinntheit von Landadligen. Obwohl die Ereignisse von 1848 diese Herren früher einmal zu vorbildlicher organisatorischer Aktivität angespornt hatten, waren sie Mitte der fünfziger Jahre bereits zu angenehmeren Gewohnheiten zurückgekehrt. Sie hatten sich darauf verlassen, dass die Infrastrukturen der Regierung – Regierungspräsident, Landrat, Kreissekretär, Polizisten und Dorfvorsteher – die örtlichen Honoratioren zusammenrufen, Kandidaten auswählen, Stimmzettel austeilen und auch sonst ihr Verhältnis zur breiteren Öffentlichkeit regeln würden. Jetzt hatten sie keinerlei Organisation mehr, die die durch die Lossagung der Regierung entstandene Lücke geschlossen hätte. Die Folge der Verweigerung der Amtshilfe durch die Regierung war Chaos. In Landsberg-Soldin, Salzwedel-Gardelegen, Belgard-Schivelbein-Dramburg und Neustettin kandidierten Konservative gegeneinander. In Labiau-Wehlau forderten vier Konservative (ein Prinz, ein Landrat, ein Professor und ein nichtadliger Landbesitzer) den national-liberalen Amtsinhaber heraus. In Prenzlau-Angermünde, das von großen, aneinander grenzenden Fideikomiss-Gütern beherrscht wurde, wurde ein Konservativer durch einen Freien Konservativen aus dem Amt gejagt.76 Hilfe war weit und breit nicht in Sicht. Der Regierung nahestehende Amtsinhaber, auf die sich die Konservativen früher verlassen hatten – wie etwa der Vetter des Kanzlers, der alte Wilhelm von Bismarck in Osterburg-Stendhal, sowie die Landräte von Teltow-Beeskow-Storkow und Landsberg-Soldin –, er-

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Verlust der Unterstützung durch die Regierung – der sich in der Abnahme der Landräte im Landtag (von 41 im Jahr 1870 auf zwölf 1873, S. 88), bemerkbar macht –, und der demonstrativen Wahlenthaltung der K als Reaktion hierauf (S. 60). Bismarcks Notiz an einen Stellvertreter des IM, 15. Aug. 1873, zitiert in GW 6c, S. 39. Siehe auch ebd., 14, S. 839, 843; Phillips: Reichtstags-Wahlen, S. 32; Mann: Handbuch, zu LT-Wahlen in den beiden Bezirken, S. 540 ff.; Biographien lokaler Gegner Bismarcks: S. 145, 151, 423; Bismarcks Brief an den Landrat von Rügenwalde (im Wahlkreis Schlawe) zitiert bei Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 59 Anm. 7; auch S. 273 Anm. 19. Die Bedingungen erlaubten es Bismarck nicht immer, unzuverlässige Landräte derart schnell loszuwerden: Fenske: Landrat, S. 441 f. Die Rolle des Landrates bei der Kandidatenwahl: Gerlach: Rechts, S. 32. D. h.: Frankfurt 2, Magdeburg 1, Köslin 4 und 5, Königsberg 2, Potsdam 4. Phillips: Reichtstags-Wahlen, S. 1, 20, 24, 33 f., 60; Fischer: Konservatismus, S. 121; Frank: Brandenburger, S. 90.

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klärten sich nun unwillig zu kandidieren. Nutznießer waren die Liberalen-Kandidaten.77 In Jerichow waren die Konservativen überhaupt nur in der Lage anzutreten, weil jemand Stimmzettel für den Helden von Königgrätz, Graf Helmuth von Moltke, verteilt hatte: eine don-quichotische Geste, da es allgemein bekannt war, dass der alte Feldmarschall niemals seinen bisherigen Wahlkreis, Memel, im Stich lassen würde. Normalerweise wurden Männer wie Moltke außerhalb ihrer eigenen Wahlkreise nur aufgestellt, um Flagge zu zeigen, als Zählkandidaten in Gegenden, wo die Bevölkerungsstruktur ihrer Partei keinerlei Hoffnung ließ. Jerichow, das eine beträchtliche konservative Wählerschaft hatte, hätte nicht in diese Kategorie fallen dürfen. Da aber die Regierung einen Kandidaten der Liberalen Reichpartei unterstützte, konnte nur ein Name mit dem Glanz von Moltkes darauf hoffen, die fehlende Infrastruktur auszugleichen, die einen gemeinsamen konservativen Kandidaten aufgestellt und dann für ihn geworben hätte.78 In Arnswalde-Friedeberg, wo sich die Konservativen bereits 1871 gespalten hatten, waren fünfzehn Wähler derartig enttäuscht von ihren Optionen – zwischen einem bismarckorientierten Liberalen und einem bismarckorientierten Konservativen –, dass sie den Namen des Kaisers eintrugen.79 In Minden-Ravensberg, im evangelischen Teil Westfalens, wählte man ostentativ überhaupt nicht.80 Wahlergebnisse sprechen keine eindeutige Sprache, und erst recht nicht, wenn die Beziehungen zwischen der Klasse der Landbesitzer und der Regierung sich im Umbruch befinden. Warum war kein konservativer Anwärter bereit, 1874 in Ueckermünde-Usedom-Wollin oder in Randow-Greifenhagen, zwei durch und durch konservativen Wahlkreisen im Regierungsbezirk Stettin, zu kandidieren?81 Als Otto Baron von Hüllessem-Meerscheidt, der konservative Landrat des Regierungsbezirks Königsberg, in Königsberg-Fischhausen durch einen national-liberalen Gutsbesitzer niederen Ranges abgesetzt wurde, drückte da die Ablösung die Gefühle von Gutsbesitzern aus, die immer noch liberal waren, oder das Missfallen einer sehr unzufriedenen Regierung? Wahrscheinlich Letzteres, wenn man die konservativen Wahlergebnisse des Wahlkreises vor und nach dem Sieg der Liberalen 1874 bedenkt. Als der Fortschrittliche Leopold von Hoverbeck Gumbinnens neuen Regierungspräsidenten, Robert von Puttkamer, im ländlichen Sensburg-Ortelsberg vernichtend schlug, war da die Niederlage des Letzteren das Ergebnis örtlicher fortschrittlicher Traditionen, des systematischen »Terrors«, der (wie Puttkamers Parteigenossen behaupteten) generell von der dominanten fortschrittlichen Elite ausgeübt wurde, oder des Ärgers der Konservativen über die neue Kreisordnung der Regierung, die ihnen die Polizeigewalt auf ihren eigenen Gütern entzog und zu deren Durchsetzung der junge

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D. h. Magdeburg 2, Potsdam 10, Frankfurt 2: Phillips: Reichtstags-Wahlen, S. 10, 60; Frank: Brandenburger, S. 120. D. h. Magdeburg 3: Phillips: Reichstags-Wahlen, S. 61. Frankfurt 1. GA Nr. 17, 21. Jan. 1874, S. 95. Fünf Stimmen für den Kaiser wurden 1877 in Minden 1 abgegeben: AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 187, S. 517. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 60. Phillips: Reichtstags-Wahlen, S. 29 f.

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Regierungspräsident eingesetzt worden war? In solchen Fragen können uns nur Einzelfallstudien zu annähernd plausiblen Antworten verhelfen.82 Eine Lehre jedoch ließ sich bereits aus den Wahlen von 1874 ziehen. Die »Interessen« eines einzelnen Landbesitzers waren politisch ohne die Hilfe einer Partei oder der Regierung vollkommen bedeutungslos. Bis 1876 wurden bereits von den Konservativen Schritte eingeleitet, um diese beiden Defizite zu beseitigen. In diesem Jahr begruben sie ihre Streitigkeiten, indem sie eine neue Konfession konservativen Glaubens gründeten, die Deutschkonservative Partei. Für sich gesehen ließ die neue Organisation viel zu wünschen übrig. In Wirklichkeit weniger eine Partei als das Grundgerüst einer Clearingstelle, mit deren Hilfe die konservative parlamentarische Fraktion versuchte, die Kampagnen zu ihrer Wiederwahl zu koordinieren, war diese so konzipiert, dass sie keine unabhängige Rolle abseits der Macht der lokalen Entscheidungsträger spielen sollte, deren Instrument sie blieb. Obwohl die Meinungen über die Effizienz ihrer Organisation auseinandergehen, steht fest, dass sich die Partei selbst noch 1909 als unfähig erwies, auf dem minimalen und lebenswichtigen Vorrecht jeder politischen Partei zu bestehen: dem Recht, eine Nachwahl in einem sicheren Wahlkreis dazu zu benutzen, einem Parteiführer, der in den allgemeinen Wahlen geschlagen worden war, ein Mandat zu verschaffen.83 Dennoch bildete die Gründung der Deutschkonservativen Partei für den konservativen Landadel einen wichtigen Schritt zu politischer Sicherheit. Denn der zentrale Glaubenssatz der Partei, von dem sie nicht abrückte, solange Bismarck an der Macht war, lautete, dass sie nie wieder ohne Regierungsunterstützung in eine Wahl gehen wollte.84 Und die Regierung ihrerseits reagierte bereits 1879, indem sie, zumindest in den östlichen Teilen Preußens, ihren gesamten Apparat – vom Regierungspräsidenten bis hinunter zu den örtlichen Schul- und Strafanstaltsinspektoren – in den Dienst des konservativen Wahlkampfs stellte. Nur die katholische Kirche konnte dieser kommunikativen Infrastruktur Paroli bieten; keiner politischen Partei, und ganz sicher keinem Arbeitgeber, sei er städtisch oder ländlich, stand Ähnliches zur Verfügung. Dieselbe Maßnahme, die der neuen konservativen Partei eine politische »Maschine« zur Verfügung stellte, entzog den Liberalen und Fortschrittlichen fast über Nacht genau die Leute – Lehrer, Amtsärzte, Kreisbedienstete –, die in der Vergangenheit teils freiwillig, teils gezwungen für deren Wahlen aktiv geworden waren. Natürlich waren nicht alle Arbeitgeber auf dem Lande konservativ bzw. frei konservativ. Es ist nur die sprachliche Konvention, die den Begriff »Junker« 82

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Gumbinnen 7. A. v. Puttkamer berichtet nur von dem gleichzeitigen (knappen) Sieg seines Vaters im angrenzenden Oletzko-Lyck und sagt, die Kreisordnung sei ein absoluter Erfolg gewesen. Puttkamer, S. 32 f. Eines der großen Rätsel der Wahl von 1874 sind die Erfolge der K in Köslin 1 und 2, deren Landräte Bismarck unmittelbar vor der Wahl abgesetzt hatte, weil sie den K zu sehr entgegenkamen. Nipperdey: Organisation, S. 352 ff., 263 f. Fischer: Konservatismus, und Kühne: Dreiklassenwahlrecht, bes. S. 66, 66 Anm. 47, und 75, haben jedoch gezeigt, dass die Rückständigkeit der K-Organisation übertrieben worden ist. Bismarcks Beziehungen zu den K: Pflanze, Bd. 2, S. 340 ff. Zur K-Organisation nach 1876 und ihrer Abhängigkeit von der Regierung: Retallack: Notables, bes. S. 31 f., 55. Die Gefälligkeit der Regierung, sobald die K sich gewandelt hatten: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 65 f.

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auf den konservativen Gutsherrn beschränkt, der nicht einmal einen Adelstitel tragen musste, da, genau genommen, »Junker« eine soziale und nicht eine politische Kategorie darstellt.85 Dieselbe Konvention sagt auch, dass nur konservative Wahlen mit den »traditionellen« Mitteln der Arbeitgeber gewonnen wurden. Das entspricht jedoch keineswegs den Tatsachen. In der hessischen Provinz waren die Gutsbesitzer nationalliberal. In Hannover waren Landbesitzer entweder National-Liberale oder Welfen. Erstere genossen während der gesamten Dauer des Kaiserreichs die Gunst der Regierung, Letztere taten ihr Bestes, die Regierungsschikanen in einen moralischen und damit einen Wahlvorteil umzumünzen. Beide aber benutzten jeden möglichen Wahleinfluss, der sich aus ökonomischer Macht ziehen lässt. In der Grenzprovinz Ostpreußen hielten, zumindest bis in die späten siebziger Jahre, viele Gutsbesitzer an den Zielen der Fortschrittlichen fest. Die im Regierungsbezirk Gumbinnen und im zweiten und dritten Wahlbezirk des Regierungsbezirks Königsberg konzentrierten Fortschrittlichen-Gutsbesitzer waren ebenso entschlossen wie ihre Konservativen-Kollegen in Brandenburg und Pommern, politische Konformität herbeizuführen. Dies geschah sowohl »vertikal« bei ihren masurischen und litauischen Bauern und den kleinen Händlern innerhalb ihres Einflussbereichs, wie auch »horizontal« bei ihren Land besitzenden Kollegen, und zwar mit Hilfe ihres Einflusses auf die örtliche Selbstverwaltung, Erzeugerkooperativen, Pferdezuchtwettbewerbe und besonders die Vorschussvereine, von denen verschuldete Landbesitzer in hohem Maße abhängig waren. Thomas Kühne hat beschrieben, wie diese kollektiven Druckmittel Siege der Fortschrittlichen bei den Landtagswahlen erzwangen. Es ist unwahrscheinlich, dass Reichstagssiege anders zustande kamen. Natürlich blieb die persönliche Wahl eines Gutsherrn vor den neugierigen Augen seiner Nachbarn verborgen – denn wer hätte es gewagt, ihm den Stimmzettel zu entreißen? Aber sobald ein Landbesitzer seine Interessen politisch nutzte, indem er seine Leute veranlasste, eine bestimmte Partei zu wählen, oder dies unterließ, wurde seine Meinung genauso offensichtlich wie die Wahlergebnisse seiner Dörfer. Er wäre dann allen Nachteilen ausgesetzt gewesen, denen Andersdenkende ausgesetzt sein konnten.86 In Westpreußen und besonders in Posen verfügte der polnische Adel [die szlachta, sprich »schlachta«] mit der gleichen Leichtigkeit über seine Heere von Landarbeitern und anderen Abhängigen.87 Anders als die deutschen Junker brauchte die szlachta allerdings keinen Landrat für die Kleinarbeit. Sobald 1850 in Preußen Landtagswahlen eingeführt wurden, hatte sie ihre eigene Hierarchie von Komitees eingerichtet, auf Bezirks-, Kreis- und Wahlkreisebene, 85

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Während Baranowski den Begriff Junker ausschließlich für Familien verwendet, die vor 1400 geadelt wurden, gibt sie zu, dass dieser später auf die gesamte Land besitzende Klasse angewandt wurde. Sanctity, S. 29, 31, 189 Anm. 18. Ich benutze ihn für die deutschen Gutsbesitzer, die nicht adelig sein mussten. Liberale Hochburgen der Land besitzenden Klassen: Puttkamer: Puttkamer, S. 27; Molt: Reichstag, S. 114 f: G. Below (zugegebenermaßen konservativ eingestellt) zu liberalen Forderungen: Insterburg (Gumbinnen 3): Wahlrecht, S. 154 Anm. 126. Ein weiteres Beispiel: Gumbinnen 5, AnlDR (1882/83, 5/ II, Bd. 6) DS 283, S. 1034 ff., 1040. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 56 ff., 60. Solche Druckmittel waren auch nicht auf den Osten beschränkt. Hessen 8, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 16) DS 350, S. 290. Bromberg 2, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 105, S. 630 f., 633.

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um die Auswahl der Kandidaten zu koordinieren. Dies war das System der »Wahlautoritäten«(władze wyborcze), deren Wahl zum »gesetzlichen«, d. h. offiziellen Kandidaten der polnischen Wählerschaft deklariert wurde – obligatorisch für jeden, der der polnischen Sache dienen wollte.88 Das entscheidende Eingreifen der szlachta erfolgte also nicht bei der Wahl, denn dabei genügten normalerweise die polnische Solidarität, der Kulturkampf und das Drängen seitens des katholischen Klerus, um die freiwillige Unterstützung für den Kandidaten der polnischen »Wahlautoritäten« zu garantieren. Tatsächlich kam der wahre Einfluss der polnischen Gutsbesitzer zum Zeitpunkt der Kandidatenwahl bei den Versammlungen auf Bezirksebene zum Ausdruck. Obwohl diese Versammlungen angeblich öffentlich waren, wurden sie vom Adel veranstaltet – wie die jüngeren, städtischeren, weltlicheren und radikaleren Nationaldemokraten erkennen mussten, als sie selbst nach der Jahrhundertwende versuchten, sich an die Spitze der polnischen Bewegung zu setzen. Die Adligen überschwemmten die lokalen Wahlversammlungen, auf denen die Kandidaten aufgestellt wurden, mit ihren Gefolgsleuten und Arbeitern und hielten so die Politik unter Kontrolle. Das Ergebnis war, dass der Radikalismus der Nationaldemokraten erheblich gebremst wurde, da die Neuen gezwungen waren, dem Adel und dem ihn unterstützenden Klerus Zugeständnisse zu machen. Trotz aller jugendlichen Dynamik der Nationaldemokraten kontrollierten noch 1912 die polnischen Gutsherren vierzehn der achtzehn Sitze, die die polnische Reichstagsfraktion behauptete.89 In den frühen 1870er Jahren hatten sich die Liberalen bereits zum nahenden Ende der privilegierten Position der Gutsherren gratuliert. »Das Junkertum kann sein Testament machen«, verkündete eine Fortschrittlichen-Zeitung.90 Doch die Berichte über das Ableben der Herrschaft der konservativen Gutsbesitzer waren übertrieben. Die Wahl von 1874 markierte den Tiefpunkt der Fortüne der Konservativen. Ende 1878 hatten sie die miserablen Ergebnisse jenes schwarzen Jahres schon mehr als verdoppelt. Obwohl ihr Anteil an den Mandaten erheblich schwankte, erreichten sie nie weniger als fünfzehn Prozent der Stimmen bei den nationalen Wahlen. Im Preußischen Landtag, mit seinem undemokratischen Dreiklassenwahlrecht, stellten sie 1879 die größte Fraktion. Diese Position verloren sie nie mehr.91 Der Verdacht der Liberalen, dass die Ernennung Robert von Puttkamers 1881 zum preußischen Innenminister bedeutete, dass die Reue der Konservativen mit Wahlhilfe durch die Regierung belohnt werden sollte, erwies sich als mehr als berechtigt.92 Im ostelbischen Flachland wurde es bald unnötig, zwischen den Wünschen des Brotherrn, des Landrats und des örtlichen 88

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Hagen: Germans, S. 113; Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 168 f., 174. Es ist, was nicht überrascht, leichter, Beweise dafür zu finden, dass deutsche Gutsbesitzer polnische Arbeiter, als dass polnische Gutsbesitzer polnische Arbeiter unter Druck setzten. Die ND waren alle aus Posen. Hagen: Germans, S. 237 ff., 367 Anm. 45; Macht des Klerus: 243 f., 248. GA Nr. 80, 4. April 1871, S. 678. Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 38 f., 140. Eine nützliche Tabelle der K-Wahlen, nach Ländern und (für Preußen) nach Regierungsbezirken, aus Ritter u. Niehuss, in Retallack: Notables, S. 245 ff. Miquel an Cuny, 11. Sept. 1881, in: Oncken: Bennigsen, Bd. 2, S. 473 f. Anm. 2; Seyffardt: Erinnerungen, S. 136. Zum Gebrauch des Begriffs »Reaktion« 1879: Anderson u. Barkin: Mythos, S. 452 ff. Kühnes Einwände: Dreiklassenwahlrecht, S. 61 ff., und 62 Anm. 14.

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konservativen Wahlkomitees zu unterscheiden. Und dennoch: Während diese gegenseitig einträgliche ménage à trois den Chancen der Fortschrittlichen in der östlichen Provinz ein Ende setzte, war sie kaum eine Wiederaufnahme »traditioneller« – im Sinne spontaner und unreflektierter – politischer Beziehungen. Niemand bezweifelte, dass die Unterstützung der Amtsstuben des Landrats von dem anhaltenden Wohlverhalten der Gutsbesitzer abhängig war. Selbst der Richtungswechsel des Kanzlers vom Freihandel zu moderater Protektion im Jahr 1879, der als Bote des Aufstiegs der Junker verschrien wurde, geschah nicht auf deren Geheiß.93 Da sie im langen Schatten Bismarcks stand, hatte die Wiederbelebung der Konservativen etwas Gespenstisches. Die Popularität des Volksstücks Die Quitzows von Ernst von Wildenbruch, das 1888 Berlin im Sturm nahm, war ein Zeichen der Zeit. Die Saga dieser wilden Sippe von Raubrittern, die einst die Mark Brandenburg derart terrorisiert hatte, dass die Städter ihre Stadtmauern nicht zu verlassen wagten, erzeugte nun ein vergnügliches Gruseln bei den Zuschauern, und der Sieg Friedrichs von Hohenzollern über die Quitzows im Jahr 1414 wurde als zeitgenössisches Lehrstück aufgefasst.94 Das Bismarck’sche »Kartell«, dieser unschöne und ungeliebte Kral, in den der Kanzler seine konservativen Schäfchen während der Wahlen von 1887 zusammen mit seinen nationalliberalen Ziegen getrieben hatte, war schließlich ein genauso eindeutiges Zeichen der Unterwerfung der Junker wie die brennenden Schlösser der Quitzows. Als das Deutsche Adelsblatt den 73. Geburtstag Bismarcks 1888 mit einem Knittelvers feierte, der mit den Worten endete: »Ich schäm`mich, dass ich Dich gehasst, Man kann wahrhaftig Dich nur lieben« 95, war dies nur ein weiterer Beweis dafür, wie gründlich der konservative Adel an die Kandare genommen worden war.

Wie mächtig der Junker? 96 Konkurrenz durch Sozialdemokraten, Antisemiten und den Bauernverband Innerhalb der nächsten fünf Jahre verschwand abrupt das Gefühl der Öffentlichkeit, dass ihre nationalen Raubritter sicher auf die Bühne und ins Reich der Fabeln verbannt waren. Das Wort »Junker«, das lange Zeit nicht hoffähig gewesen 93

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Karl W. Hardach: Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879, Berlin 1967; Anderson: Windthorst, S. 226 ff.; Kenneth Barkin: 1878– 1879. The Second Founding of the Reich, A Perspective, GSR 10/2 (1987) S. 219 f. Wildenbruch, 1845–1909, war der Enkel des Prinzen Friedrich Ludwig Christian von Preußen. Die Details über die Quitzows verdanke ich Gordon A. Craig. Constant von Wurzbach: An Bismarck, DA 6/15 (8. April 1888) S. 232. Kartell als »Grundübel«: DA 11/26 (25. Juni 1893) S. 502 ff. Entlehnt von William W. Hagen: How mighty the Junkers? Peasant Rents and Seigneurial Profits in Sixteenth- Century Brandenburg, in: Past and Present, 108 (1985) S. 80–116.

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war, tauchte wieder regelmäßig im Wortschatz der Gegner auf, als Verfechter des Freihandels, städtische Intellektuelle, Sozialreformer und Sozialdemokraten ein Sinnbild fanden, das ebenso viel politische Kraft entwickeln konnte, wie es das Wort »Jesuit« für eine frühere Generation von Antiklerikalen vermocht hatte.97 Ihr Erfolg in der breiteren Öffentlichkeit wurde sogar von Dubslav von Stechlin registriert, der seinen Tischgenossen gegenüber die Meinung äußerte, dass das Junkertum innerhalb der letzten Jahre derartig seine Macht vergrößert habe, dass es ihm mitunter sei, »als stiegen die seligen Quitzows wieder aus dem Grabe heraus«. Wie der Wandel im Ansehen des Priesters zur Jahrhundertwende, so bedeutete auch die Auferstehung des Topos vom Junker in den 1890ern eine Veränderung in den Prämissen, von denen die Politik ausging, sowohl an der Spitze als auch an der Basis des deutschen Staatswesens.98 Drei bedeutende Entwicklungen liegen der Tatsache zugrunde, dass die Junker erneut zur Zielscheibe von Schmähungen wurden: 1. Es zerbrach die vereinte Front der Regierung und der Konservativen nach Bismarcks Ausscheiden 1890. Ohne die eiserne Hand des Eisernen Kanzlers war der Wille der Regierung nun so zersplittert wie früher einmal jener der Gutsbesitzer. Und da Bismarck nach seiner Entlassung sofort zu Intrigen gegen seinen Nachfolger Leo von Caprivi und dessen Neuen Kurs neigte, war das Ergebnis allgemeine Verwirrung.99 Wie sollte ein Konservativer Regierungstreue zeigen, wenn es zunehmend weniger klar war, wer für diese Regierung sprach? Und wer repräsentierte die konservativen Interessen wirklich: die Konservative Partei? Die Gruppe unorthodoxer Sozialreformer hinter dem früheren Hofprediger Adolf Stoecker? Der »Frondeur aus Friedrichsruh« und seine Freunde?100 Streit zwischen der preußischen Landes- und der Reichsregierung auf der einen Seite, Unordnung im konservativen Lager auf der anderen (die in einem innerparteilichen Coup gegen ihren 97

Nicht »hoffähig«: DA 12/7 (18. Feb. 1894) S. 123 f.; hierzu Retallack: Notables, S. 65. Gebrauch des Begriffs Junker in den 1860er und frühen 180er Jahren: DA 10/46 (13. Nov. 1892) S. 918 ff. Tatsächlich wurde das Wort weiterhin polemisch gebraucht: 1879: Ludwig v. Pastor: August Reichensperger 1808–1895, Freiburg i. Br. 1899, Bd. 2, S. 180; 1881: White: Party, S. 100; 1884: [E. Richter:] Neues ABC-Buch für freisinnige Wähler, S. 173 f.; 1893: DA 11/31 (30. Juli 1893) S. 585 ff.; DA 11/38 (17. Sept. 1893) S. 710 f. Einen neuen Ton bemerken: DA 12/18 (6. Mai 1894) S. 344 ff., und Nr. 19 (13. Mai 1894) S. 365 ff., die einen Grenzboten-Artikel zitiert, der besagte, dass es Deutschland nicht schaden würde, wenn 10.000 ostelbische adelige Landbesitzer verschwänden; DA 15 (1897) S. 797 ff., 818, 820; die Serie Konservative »Junker« und liberales »Bürgerthum«, DA 17 (1899) S. 247 ff., 268 ff., 283 ff., 299 ff., 310 ff. 98 Fontane: Stechlin, S. 7, 268 f. Strömungen an der Spitze und der Basis der Gesellschaft machen Junker verwundbar: Eley: Reshaping, S. 252 f. 99 Die folgenden Ausgaben des DA bezeugen die Desorientierung der K, als Bismarck und die Regierung sich überworfen hatten: Sprechsaal, DA 8/46 (16. Nov. 1890) S. 783; Max Schön, 10/32 (21. Aug. 1892) S. 684 f.; 10/35 (28. Aug. 1892) S. 705 ff.; 10/43 (23. Okt. 1892) S. 860 ff.; die dreiteilige Serie mit dem Titel Royalist oder Frondeur? (Eingesandt), 10/44 (30. Okt. 1892) S. 882 ff., 10/45 (6. Nov. 1892) S. 903 ff., 10/46 (13. Nov. 1892) S. 922 f.; Politische Wetterfahnen, 10/27 (2. Juli 1893) S. 523 ff. Allgemein: Pflanze: Bismarck, Bd. 3, S. 381 ff. K Desorientierung: Retallack: Notables, S. 80 ff.; Nipperdey: Organisation, S. 256, 260; in Kombination mit militärischem Partikularismus: ders.: Geschichte, Bd. 2, S. 700, 705. 100 Fürchtegott Peinlich [Georg Friedrich Dasbach?], Registrator im Dienst der geschichtlichen Wahrheit: Die Wahrheit über Bismarck. Eine Studie über die Geschichte der Friedrichsruher Fronde, Trier 1892. Die Angriffe der Reptilienpresse Bismarcks auf die K: ebd., S. 18 f.; die Unzuverlässigkeit der ostelbischen »Landratspresse« (Kreisblätter) bei der Unterstützung der Regierung nach 1890: Saul: Kampf, S. 189, S. 189 Anm. 110.

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Führer, Otto von Helldorf-Bedra gipfelte), warfen unweigerlich ein negatives Licht auf die Klasse, aus der sich sowohl die Regierung als auch die Partei rekrutierten. Sie warfen unangenehme Fragen über eine Dreiecksbeziehung auf, das alle drei – Regierung, Partei und Klasse – gerne als selbstverständlich betrachtet hätten. 2. Das Ansehen des Land besitzenden Adels konnte durch dessen Assoziation mit den Launen Wilhelms II. im öffentlichen Bewusstsein nur Schaden nehmen, eines Mannes, der sich, wie es ihn gerade überkam, als Karikatur mal des Absolutismus, mal des Feudalismus präsentierte. Wilhelm II., der seit 1888 König und darauf bedacht war, sein »persönliches Regiment« zu führen, neigte dazu, die banalsten Gelegenheiten zu Prahlereien zu nutzen.101 »Einer nur ist Herr im Reich, und das bin Ich«, verkündete er vor dem Rheinischen Provinziallandtag, »keinen Anderen dulde Ich.« Bei einem Besuch in München schrieb er »voluntas regis suprema lex est« [Der Wille des Königs ist das höchste Gesetz] in das Goldene Buch der Stadt, als »Galanterie« an den bayerischen König. Dies zwang selbst jenen unerschütterlichen Monarchisten Hans Delbrück, den Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, die »Beleidigung« der öffentlichen Meinung durch diese königliche »Kriegserklärung« zu registrieren. Und Wilhelm eröffnete die Versammlung des Brandenburgischen Provinziallandtages mit dem Versprechen, seine Gegner zu »zerschmettern«, und rief die versammelten Gutsherren auf: »Nun, Brandenburger! Ihr Markgraf spricht zu Ihnen, folgen Sie Ihm durch Dick und Dünn auf allen Wegen, die Er Sie führen wird!« Das angedachte Ziel dieser Ausbrüche war nicht der Reichstag, sondern der unendlich lästige Exkanzler. Dennoch schienen die Appelle an die Lehnstreue eines Vasallen kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert eindeutig fehl am Platz. Sie führten zu einem besorgten Einwand des Vorsitzenden der Deutschen Adelsgenossenschaft, der bemerkte, dass, wie sehr man auch wünschen möchte, seinem Markgrafen durch Dick und Dünn zu folgen, so müssten doch »in unserem von derartigen Erfahrungen gänzlich entwöhnten staatlichen, konstitutionellen Leben Übergänge solcher Art … zu Erschütterungen und Zuständen der Unsicherheit im öffentlichen Leben führen …«102 Die Brotherren auf dem flachen Land hatten mit den großspurigen obiter dicta Wilhelms II. genauso wenig zu tun wie mit den Intrigenherden in Berlin und Friedrichsruh. Viele, wie der Sprecher der Deutschen Adelsgenossenschaft, mögen dies herzlich bedauert haben, oder zumindest die Kontroversen, zu denen sie führten. Aber ihren Kaiser wegen seiner Feinde zu lieben, wie sie es 101 Allgemein: Erich Eyck: Das persönliche Regiment Wilhelms II., Zürich 1948; John C. G. Röhl: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1987, S. 119 ff.; Lamar Cecil: Wilhelm II, Chapel Hill 1989, 1996, bes. Bd. 2, S. 195, 208 f., 229 ff., 240 f., 248, 260 ff., 308. Überzeugend zur Frage der Realität des persönlichen Regiments finde ich die kritischen Argumente von Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 183 und Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1016 ff. 102 Zitate der Reihe nach: Die Düsseldorfer Kaiserrede, DA IX/19 (10. März 1891) S. 317 f.; Münchner Rede und Reaktion Delbrücks: Der König als Führer und Erzieher des Volksthums, DA X/1 (3. Jan. 1892) S. 3; Die neueste Kaiserrede, DA IX/9 (1. März 1891) S. 141 f., zitiert aus einer Rede vom 5. März 1890; Vorsitzender der Deutschen Adelsgenossenschaft, (missbilligend) zitiert in: Die Düsseldorfer Kaiserrede, DA IX/19 (10. März 1891) S. 317 f.

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taten, ihre Hingabe an »Autorität, nicht Majorität«, wie ihre Wahlslogans verkündeten, ließ den Adel unvermeidlich als Verkörperung des Neofeudalismus erscheinen, für den die Ausbrüche Wilhelms II. zu stehen schienen. Unvorteilhafte Darstellungen beeinflussten nicht das Verhältnis der Land besitzenden Eliten zu ihren Abhängigen noch ihre Fähigkeit, am Wahltag eine derart gedüngte Stimmenernte einzufahren. Sie richteten allerdings ein unwillkommenes Schlaglicht auf die ländliche Elite, ein Schlaglicht, das Herausforderer von unten nur ermutigen konnte. 3. Diese Herausforderer sorgten für die dritte Entwicklung während der 1890er Jahre, die die Aufmerksamkeit auf das Junkertum lenkte. Sie alle wurden schließlich von den immer noch mächtigen Landbesitzern zurückgedrängt. Aber den Herausforderern gelang es, »Junker« zu einem politischen AllzweckSchimpfwort zu machen, das völlig unterschiedliche Gruppen und Institutionen in einem umfassenden Symbol für privilegierte Rückständigkeit zusammenfasste.103 Deren Bemühungen werden wir uns nun zuwenden. Als Erstes machte sich die Sozialdemokratie bemerkbar. Obwohl es ein Grundsatz der Gutsherren war, dass jede Wahl der »natürlichen Autorität, die im sozialen Leben notwendig ist«, sowie »dem Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und allen ähnlichen Verhältnissen« »einen gewissen Schaden« zufüge, war dieser Schaden auf dem Lande kaum sichtbar.104 Die spektakulären Erfolge der Sozialdemokratie im Februar 1890, als sie ihren Stimmenanteil verdoppelte und fast 20 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhielt, waren genauso spektakulär auf städtische und industrialisierte Gebiete begrenzt geblieben. In Wahlkreisen mit nicht wenigstens einer Stadt mit über 20.000 Einwohnern (entweder innerhalb ihrer Grenzen oder in direkter Nachbarschaft) hielten sich die sozialdemokratischen Erfolge mehr als in Grenzen. In solchen Gebieten bekam die Partei durchschnittlich 735 Stimmen – nicht pro Wahlbezirk, sondern im gesamten Wahlkreis. Die niedrigen Zahlen waren dennoch eine gute Messlatte für die weiterhin große Effektivität der Gutsherren bei den Wahlen. Im Oktober 1890, einen Monat nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes, beschlossen die Sozialdemokraten bei ihrem Kongress in Halle, sich das freiere politische Klima zunutze zu machen und ihre Bemühungen um die ländlichen Wähler zu verstärken. Obwohl die Partei dabei die unabhängigen Bauern im Süden und Westen mindestens in ebensolchem Maße wie die Landarbeiter im Osten im Blickfeld hatte, interpretierten alarmierte Konservative die Resolution von Halle als einen Übergriff auf »die eigentliche Domäne des Adels«.105 Die Bekehrung des platten Landes war jedoch leichter gesagt als getan. Wenn »große Kollektive«, wie Giovanni Sartori behauptet hat, nur eine Klassen103 Fairbairn: Interpreting, S. 37. Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 44 f. »Autorität, nicht Majorität!«: Gerlach: Rechts, S.27; DA 8/1 (15. Jan. 1890) S. 7. 104 Helldorf SBDR 3. Feb. 1888, S. 699. Nachdem er von Reichensperger (SBDR 1. Feb. 1888, S. 675) und Rickert (SBDR 7. Feb. 1888, S. 743) kritisch zitiert worden war, zog Helldorf seine Wortmeldung weitgehend zurück und sagte, er habe nur Wahlkämpfe, nicht den Wahlakt selber gemeint. Ebd., S. 747. 105 Diese Redewendung erschien bereits bei der Wahl von 1890. Von W. W., DA 8/12 (23. März 1890) S. 192 f. Siehe auch die Artikel im DA, die in der vorliegenden Untersuchung in den Fußnoten 23–25 zitiert sind.

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struktur annehmen, wenn sie ein Klassenbewusstsein entwickeln, und wenn ein solches Bewusstsein »ein durchorganisiertes kommunikatives Netzwerk benötigt«, dann litten die Sozialdemokraten unter starken Behinderungen. Die Gewerkschaftsbewegung, die es ihnen ermöglicht hatte, in die Bergwerksindustrie vorzudringen, wobei potentielle Wähler durch Schutzvereine und Unterstützungsfonds gestärkt wurden, hatte in den alten preußischen Provinzen mit derart vielen gesetzlichen Fesseln zu kämpfen, dass es sich als fast unmöglich erwies, die Landarbeiter gewerkschaftlich zu organisieren.106 Selbst ein Vereinsleben geselliger Art, in dessen Schutz sich politische Aktivitäten hätten entfalten können, existierte nur unter strengen Auflagen – ganz abgesehen von den Behinderungen durch Zeitmangel und körperliche Erschöpfung. Einerseits verboten es preußische Gesetze von 1854 und 1860 Landarbeitern und Dienern, selbst Vereine zu gründen. Andererseits wurden diese gelegentlich von ihren Vorgesetzten in Organisationen gedrängt, die wiederum von eben diesen Vorgesetzten geleitet wurden. Oft dauerte es bis weit ins 20. Jahrhundert, bis es den Sozialdemokraten gelang, jene harmlos aussehenden Radfahr-Vereine, Männerchöre und Gymnastikgruppen zu gründen, die einer Bekehrung einen Deckmantel bieten konnten, und selbst dann drangen diese selten in ländliche Gebiete vor. Und bis dahin? Genossen aus jeder Marktstadt bekamen einfach einen Landstreifen zugeteilt, den sie an den Sonntagen besuchen sollten, um dann die Armen auf dem Lande in politische Gespräche zu verwickeln. Unter Berücksichtigung der geringen Zahl sozialdemokratischer Wähler und erst recht Parteimitglieder, die die Basis der Partei in diesen Kleinstädten bildeten, kann die Aufgabe der Mitgliedswerber, auch wenn viele von ihnen anscheinend dafür bezahlt wurden, weder leicht noch angenehm gewesen sein. Die von ihnen ausersehenen Rekruten brauchten nicht einmal direkt beim Junker angestellt zu sein, um seinen Zorn zu verspüren. Ein Friseur in Altendorf in Thüringen, der dabei 1894 ertappt wurde, wie er seinen Kunden SPD-Lesestoff zusteckte, verlor seine Kundschaft, da den Arbeitern untersagt wurde, sich bei ihm die Haare schneiden zu lassen.107 Die Partei setzte große Hoffnungen in jene umherreisenden Handwerker, deren Beruf sie beispielsweise als Bauarbeiter oder Mechaniker beim Reparieren von Landmaschinen in Kontakt mit der ländlichen Bevölkerung und anschließend wieder außer Gefahr brachte. Aber gerade die Mobilität, die diesen Handwerkern ein gewisses Maß an Sicherheit gab, sorgte dafür, dass sie nie lange genug an einem Ort waren, um anhaltende Beziehungen zu knüpfen. Den Namen nach zu urteilen, die in den zahlreichen Protesten wegen der Misshandlung sozialistischer Stimmzettelverteiler auftauchen, scheinen die meisten sowohl der bezahlten als auch der unbezahlten Parteiarbeiter Schuhmacher gewesen zu sein – Männer, die zu ihrem Broterwerb nicht von einem einzigen Arbeitgeber abhängig waren sowie Männer, die ihr Handwerk in Städten von beträchtlicher Größe ausübten.108 106 Sartori: Sociology, S. 85; Saul: Kampf, S. 171, 175. 107 Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 264 Anm. 123; Saul: Kampf; S. 172 f.; Birk: Entwicklung, S. 175 ff., 190 f.; DA 26/17 (26. April 1908) S. 245. 108 Z. B. Sachsen 4, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 260, S. 964 ff.; DA 9/33 (16. Aug. 1891) S. 566 f.

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Am Ende des Jahrhunderts konnte die sozialdemokratische Bewegung, die mit solch enormem Einsatz von Begeisterung und Ressourcen begonnen hatte, nur dort messbare Erfolge verzeichnen, wo die Partei bereits in den nahe gelegenen Städten stark war, das heißt insbesondere im Königreich Sachsen und in Thüringen, und allgemein in einem ellipsenähnlichen Bereich, der sich von Kassel im Westen und Hannover im Norden bis nach Liegnitz im Osten sowie Hof im Süden erstreckte. Selbst hier trafen sozialistische Werber häufig auf wütende Bauern und zähnefletschende Hunde.109 Die westlichen und östlichen Randgebiete des Reichs blieben selbst am Ende des Jahrzehnts nahezu unberührt. Im Westen, also im ländlichen katholischen Deutschland (im Münsterland und Rheinland, in Südwürttemberg, Baden und Unterfranken) und übrigens unabhängig von der Größe der Landbesitze, reagierte das Zentrum mit einer Gegenkampagne, die die Anstrengungen der SPD mehr als ausglich. Die Polenpartei tat das Gleiche im katholischen Osten: in Westpreußen, Posen, Südostpreußen und Ostpommern. Das Ergebnis war, dass die Sozialisten in diesen Gebieten bei der Wahl von 1898 tatsächlich an Stärke verloren.110 Gleichermaßen enttäuschend verhielt sich der evangelische Nordosten. Die Junker, ob sie nun Deutsche oder Polen waren, übten ein »strenges Patronat« aus, um sicherzugehen, dass kein Gastwirt, der wusste, was gut für ihn war, sozialistischen Wahlkämpfern einen Saal vermietete. Diese Botschaft wurde von den Provinzbehörden durch einen Wink mit dem Zaunpfahl untermauert, indem sie warnend auf die Überprüfung der Tanzlizenzen und Öffnungszeiten sowie der Einhaltung von Bau- und Hygienevorschriften hinwiesen, falls sozialistische Sprecher zu Wort kämen. Versammlungen im Freien fielen genauso unter ihre Entscheidungsgewalt wie solche in Privathäusern. Der SPD blieb nichts anderes übrig, als ihren Handzetteln Bitten um Information über mögliche Versammlungssäle beizufügen. Noch 1907 gab es 39 Wahlkreise im Osten, wo die Partei kein einziges Wirtshaus finden konnte, das ihr Geld nehmen wollte. Selbst noch 1912 hatte die SPD im gesamten Ost- und Westpreußen erst Zugang zu 110 Lokalen. Wenn man bedenkt, dass weit über 60 Prozent der fast vier Millionen Menschen in diesen zwei Provinzen in Gemeinden von weniger als 2.000 Einwohnern verstreut lebten, bekommt man einen Eindruck von der enormen Aufgabe der Sozialdemokraten.111 Mit Ausnahme der ostpreußischen Ostseeküste, 109 Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 130; Saul: Kampf, S. 169, 172 ff.; White: Party, S. 133. 110 Eine frühe Wahrnehmung des Widerstandes katholischer Gebiete, selbst in industrialisierten Gegenden: Blank: Zusammensetzung, S. 510 f., 523, 531, 533, obwohl G. A. Ritter diese Erkenntnisse relativiert und behauptet, dass bereits 1893 ein Drittel derjenigen katholischen Wähler, die im gewerblichen Sektor beschäftigt waren, sozialdemokratisch wählten. Strategie, S. 324 Anm. 40. SPD-Sieg über das Zentrum in Köln: Sun: Enemy. Misserfolge der SD in den Regierungsbezirken Gumbinnen, Marienwerder, Danzig und Allenstein können nicht allein durch die Stärke der konfessionellen und ethnischen Faktoren erklärt werden. Steinbach: Entwicklung, S. 1 ff., bes. 15. Ebenso: Ritter: Sozialdemokratie, S. 295 ff.; Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 248 f.; Saldern: Wege, S. 82. Selbst als das Z kurz gegen den BdL und andere Agrarlobby an Stimmen verlor, erwiesen sich ihre rivalisierenden Wahlkämpfe gemeinsam als tödlich für die Sozialdemokratie. Zu den Bauernvereinen: Farr: Populism, S. 136 ff. 111 Bertram: Wahlen, S. 210; Saul: Kampf, S. 171 f. Anm. 31, 184; Schücking: Reaktion, S. 97. Andere Parteien – besonders, aber nicht allein, das Z in Bayern – verweigerten ihren Konkurrenten ebenfalls Wahlkampfgelegenheiten in ihren Amtsbezirken. Bevölkerung: Hohorst u. a. (Hrsg.) Arbeitsbuch, Bd. 2, S. 42.

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wo die Städte Danzig und Königsberg ihnen eine städtische Basis gaben, von der sie ausschwärmen konnten, und jener Wahlkreise in Mecklenburg, deren Nähe zum Großraum Hamburg den Sozialisten einen sicheren Platz als zweiten Sieger verschafften, blieb der ländliche Friede im Nordosten ungestört. Mit nur einem Wahlkomitee mit Sitz in Lübeck, das beide Mecklenburgische Großherzogtümer bearbeiten musste, einem weiteren in Breslau für das gesamte Schlesien und Posen und einem dritten für ganz Ost- und Westpreußen (und einer Beschränkung dieser Komitees auf einen Radius, der mit dem Fahrrad oder zu Fuß zu erreichen war, also von zehn oder zwanzig Kilometern jeden Sonntag) – wie hätte es da anders sein können?112 Als die frustrierende Situation Streit und Kontroversen innerhalb der verschiedenen Flügel der SPD hervorrief, begannen die Gutsbesitzer sich zu entspannen.113 Bis 1903 war die Sozialdemokratie nicht fähig, größere Stimmanteile an irgendeinem Ort im ländlichen Osten zu erreichen, und die erreichten Stimmen gingen größtenteils auf Männer zurück, die nicht in der Landwirtschaft tätig waren. Wenige Landarbeiter waren so geistesgegenwärtig wie Willi Brandts Großvater, der »versehentlich« die Suppenterrine umwarf, die im Hause des Gutsverwalters die Stimmzettel enthielt, und der auf diese Weise seinem mecklenburgischen Gutsherrn den positiven Beweis verwehrte, dass er sozialdemokratisch gewählt hatte. Die Gewinne von 1903 gingen sogar in den folgenden Reichstagswahlen zurück, weil diejenigen, die es geschafft hatten, ihre Stimmzettel zum Protest zu gebrauchen, eine bessere Möglichkeit dazu fanden, indem sie das platte Land endgültig verließen. Die Tatsache, dass die Zentrale der Konservativen Partei, die an städtische Arbeiter und Handwerker gerichtete Wahlaufrufe verteilte, keine entsprechenden Handzettel für die Landwirtschaft druckte, ist der beste Beweis für die Zuversicht der Konservativen, dass die Masse der östlichen Landarbeiter immer noch fest unter ihrem Kommando stand.114 Wie Gerhard A. Ritter gezeigt hat, ist die Kampagne der SPD für die landwirtschaftliche Wählerschaft als ein Misserfolg zu bezeichnen. Selbst 1912, bei der letzten Reichstagswahl, stammten 107 der 110 sozialdemokratischen Mandate aus Wahlkreisen, in denen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung im Handel oder in der Industrie beschäftigt waren. Die restlichen drei kamen aus Wahlkreisen, wo zumindest eine relative Mehrheit der Menschen ihren Lebensunterhalt in diesen beiden Branchen verdiente. Östlich der Elbe lag jedoch der Anteil der Partei an den Stimmen unter 10 Prozent. In keinem der 109 eindeutig landwirtschaftlichen Wahlkreise, und selbst derjenigen, wo nur eine relative Mehrheit ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft verdiente, konnten die Sozialdemokraten auch nur ein einziges Mandat gewinnen.115 Selbst als bereits ihre 112 Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 23–28, 33 f., 39. Die Vorschläge für Landagitation der SD in DA 9/33 (16. Aug. 1891) S. 566 ff. Den LL ging es nicht besser: R. Breitscheid: Hinterpommersche Wahleindrücke, in: Die Hilfe 13/8 (24. Feb. 1907) S. 115 ff. 113 DA 12/48 (2. Dez. 1894) S. 919 f. 114 Meine eigene Schlussfolgerung aus Fairbairns Analyse: Democracy, S. 113 f., dazu auch 136. Brandt-Anekdote: Suval: Politics, S. 50. 115 Ritter: Strategie, S. 317, 319. Er gibt leicht andere Zahlen an in: Bases, S. 38. Saul: Kampf, S. 175; Fairbairn: Democracy, S. 137.

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Fahrradboten durch Autos und Telefone unterstützt wurden, blieb der Osten für die SPD eine terra inviolata. Die Nachfolger der damaligen Genossen fanden es selbst unter den freieren Bedingungen der Weimarer Republik unmöglich, dieses Defizit auszugleichen.116 Die zweite Herausforderung der Macht des konservativen Adels über die Wahlen auf dem Lande – zumindest in den Augen konservativer Panikmacher – resultierte aus dem antisemitischen Populismus städtischer Akademiker wie Otto Böckel und Hermann Ahlwardt, die das Land mit einem »Kampf gegen Juden und Junker« retten wollten. Böckel, ein junger, gut aussehender Bibliothekar an der Universität von Marburg mit einem Abschluss in Volkskunde, drang 1887 auf die politische Bühne vor. Der demokratische Anschein seiner Kampagne war unverkennbar. Nachdem er sich selbst zum Anwalt des kleinen Mannes erklärt hatte, zog Böckel durch die hessischen Lande, die schwarz-rotgoldene Fahne der Revolution von 1848 an seinen Wagen geheftet. Er schüttelte Hände und forderte eine billigere Prozessführung, ländliche Vorschussvereine, eine progressive Einkommenssteuer, Unterhaltszahlungen für parlamentarische Abgeordnete, eine wirklich geheime Wahl, die Ausweitung des demokratischen Reichstagswahlrechts auf die Landtagswahlen – und Beschränkungen der Wucherzinsen, der Einwanderung und der politischen Gleichstellung von Juden. Einige Jahre später begann der Berliner Erzieher Hermann Ahlwardt, dem eine unsaubere Buchführung die Kündigung als Schulrektor eingebracht hatte, eine zweite Karriere, bei der er durch das Schreiben paranoider Traktate und Verleumdungen prominenter Juden Gefängnisstrafen riskierte.117 Wie Böckel bearbeitete Ahlwardt seine ländlichen Wahlkreise direkt. Indem er in Vorpommern bei den Kleinbauern von Hof zu Hof reiste, fragte er jeden Besitzer, wie viele Morgen Land und wie viele Kühe er habe. Wenn er die Antwort gehört hatte, wandte er sich seiner Sekretärin zu, die einen riesigen Notizblock hervorholte, und diktierte: »Notieren Sie! Gussow hat 30 Morgen, 5 Kühe, 4 Schweine, müsste haben: 60 Morgen, 12 Kühe, 10 Schweine.«118 Ahlwarts Botschaft: Die großen Güter müssen aufgeteilt werden. Dies war eine Aussage, die nicht nur Gutsbesitzer aufschreckte, sondern auch Adolf Stoecker, den Vater der »sozialen« Judenhetze, der dies als »nackten Kommunismus« bezeichnete. Antisemitische Appelle, die die fromme Kreuz-Zeitung einst als »die Brücke« gepriesen hatte, über die die Massen von der Liberalen zur Konservativen Partei gelangen könnten, schien zu gänzlich anderen Ufern zu führen.119 116 Kritische Analyse der ungeschickten Versuche der SPD in den ostelbischen Gebieten: Walter Pahl: Wahlkampf im Osten, in: Das freie Wort. Sozialdemokratisches Diskussionsorgan 1/13 (29. Dez. 1929) S. 8 ff. Baranowski: Sanctity, S. 38, 40, 66 f., 79 ff., 100. 117 »Juden und Junker«: Gerlach: Rechts, S. 112, Levy: Downfall, bes. S. 43–99, Retallack: Notables, S. 98, 102. Allgemeiner Überblick: Eley: Anti-semitism. Eine Chronologie der verschiedenen Namen, unter denen die antisemitische Bewegung agierte, siehe Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 402. Ihre neunzehn Seiten umfassende Liste verschiedener Programme (S. 403 ff.) ist eine Messlatte ihrer Aufspaltung: die Programme des Z und der SPD umfassen jeweils nur drei bzw. neun Seiten. 118 Gerlach. Rechts, S. 113 f.; Paul Massing: Rehearsal for Destruction, New York 1949, S. 92 ff., 240 f., 300 ff. Die Fläche eines »Morgens« schwankte gebietsweise erheblich. 119 »Brücke« und »nackter Kommunismus« zitiert in: Frank: Stoecker, S. 300, 307 f. Für eine ähnliche Ansicht über den Antisemitismus als Übergangsstadium der Mittelständler vom Liberalismus zum Konserva-

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Ahlwardt errang 1893 nationale Aufmerksamkeit, als er in einem Wahlkreis in Vorpommern kandidierte, dessen kleine Kreis- und Marktstadt Neustettin ihre Synagoge im Frühjahr 1881 durch Brandstiftung verloren hatte, nur fünf Tage, nachdem ein anderer entlassener Berliner Lehrer, Ernst Henrici, in einer Hetzrede zu einem nationalen Kampf gegen die Juden aufgerufen hatte. Im Sommer, nach einer weiteren von Henricis Hetzkampagnen, und gerade als die Presse über Pogrome in Russland berichtete, waren 21 Neustettiner Läden und die Geschäftsräume der örtlichen liberalen Zeitung sowie die Fenster von mehreren hundert Privathäusern zertrümmert worden. Sie alle waren in jüdischem Besitz gewesen. Im Laufe des Sommers 1881 hatte sich das Rowdytum von Neustettin aus in konzentrischen Kreisen ausgebreitet, bis militärisches Eingreifen es schließlich beendete. Bei dieser deprimierenden Vorgeschichte erstaunt es nicht, dass die antisemitischen Agitatoren sich in den 1890er Jahren in Neustettin Chancen ausrechneten. Aber sie erregten weithin Aufsehen in konservativen Kreisen, als sie niemand anders als den antisemitischen Volkstribun Adolf Stoecker angriffen, den früheren Hofprediger beleidigten und dabei eine seiner Wahlversammlungen sprengten. Stoecker sei »es nicht werth«, dass die kleinen Leute in den Landtagswahlen »sich bei offener Stimmenabgabe seinetwegen brodlos machten«, ließ ein Sprecher verlauten. »Kämpft für Eure Feudalen und verschuldeten Rittergutsbesitzer«, forderte er sie heraus, »wir kämpfen für die kleinen Beamten, Handwerker und nothleidenden Landwirthe …« Ahlwardts Männer forderten »eine Reformpolitik, … die energisch einmal in die Geldsäcke der Reichen hineingreife …!«120 So trugen die antisemitischen Populisten wie auch die Sozialdemokraten zur Häufigkeit des Junker-Topos in den Neunzigern bei. Anders jedoch als die Sozialdemokraten machten die Antisemiten selten die ureigenen Gebiete des Adels zum Ziel ihrer Propaganda. Sie warben dort, wo Kleinstädte und kleine Höfe, nicht Rittergüter überwogen; wo »Junker« ein noch weiter entferntes Übel als »Juden« waren. Diese Gegenden hatten in der Vergangenheit liberale Abgeordnete genauso häufig wie Konservative in den Reichstag entsandt.121 Die Antisemiten waren in Hessen am erfolgreichsten, wo die Bauernhöfe klein waren (die meisten zwischen zwei und fünf Hektar) und die Anti-Junker-Rhetorik ein tismus: Schulamit Angel-Volkov: The Social and Political Function of Late 19th Century Anti-Semitism. The Case of the Small Handicraft Masters, in: Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1974, S. 416 ff., bes. 419 f., und Schulamit Volkov: Anti-Semitism as a Cultural Code, LBIY XXIII (1978) S. 25 ff. 120 DA 11/31 (30. Juli 1893) S. 585 ff. Ebenso DA 11/38 (17. Sept. 1893) S. 710 f.; DA 12/18 (6. Mai 1894) S. 344 ff., und DA 12/19 (13. Mai 1894) S. 365 ff.; Christhard Hoffmann: Politische Kultur und Gewalt gegen Minderheiten. Die antisemitischen Ausschreitungen in Pommern und Westpreußen 1881, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 3 (1994) S. 93 ff. 121 Gegensatz: Retallack: Notables, S. 98. Fairbairns Analyse legt nahe, dass die Antisemiten bei niedriger Wahlbeteiligung und großer Fragmentierung der Wähler, die sich an der Notwendigkeit von Stichwahlen ablesen lässt, besonders erfolgreich waren. Democracy, bes. S. 128 f. Bei Schwarz: MdR und Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, sieht man, dass von 1871 bis 1912 ca. zehn der Wahlkreise der Reformpartei bei früheren Wahlen konservativ gewesen waren und ca. neun liberal oder »links«, während zwei wechselnde politische Neigungen gezeigt hatten. Zwei kamen aus ehemaligen Z-Wahlkreisen in Niederbayern, wie auch zwei Siege der gelegentlich antisemitischen Wirtschaftlichen Vereinigung.

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Abb. 9: Die Verteilung der Stimmen für die SPD in Dörfern mit weniger als 2.000 Einwohnern bei der Reichstagswahl von 1898, in Prozent. Quelle: Helmut Hesselbarth: Revolutionäre Sozialdemokraten, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 246.

Ausdruck anti-preußischer Ressentiments – also gegen anderer Leute Junker gerichtet.122 Zwei der hessischen Wahlkreise, die die Antisemiten 1893 eroberten, waren in der Tat von Konservativen gehalten worden (Marburg und Hersfeld), aber fünf hatten Liberalen gehört (Alsfeld, Bensheim, Gießen, Rinteln, Eschwege), während einer (Fritzlar) immer heiß umkämpft gewesen war. Von diesen Wahlkreisen waren fünf ländlich und vier städtisch, aber sowohl in den ländlichen als auch den städtischen Bezirken waren die Produktionseinheiten klein und deshalb war die Anzahl der Stimmen, die ein einzelner Arbeitgeber kontrollieren konnte, begrenzt.123 Eine solche Gesellschaftsstruktur ermutigte Mo122 Ausgezeichnet hierzu: Levy: Downfall, S. 48, 51 ff., 58; White: Party, S. 134 ff. 123 Fairbairns sozioökonomische »Constituency Typology« für jeden der 397 Wahlkreise ist hier hilfreich.

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bilisierungsversuche von außen. Die Antisemiten waren auch in einigen Teilen des Königreichs Sachsen erfolgreich und in Berlin-Charlottenburg und Nordhausen (Provinz Sachsen) machten sie ebenfalls geräuschvoll auf sich aufmerksam. Dies war kein Junkerland. Es war die gleiche dicht besiedelte, zunehmend urbanisierte, wenn auch nicht immer städtische, mitteldeutsche Landschaft, wo die Sozialdemokratie ebenfalls im Wachsen begriffen war. Die beiden radikalen Bewegungen bewarben sich tatsächlich um dieselbe Wählerschaft: den hart bedrängten Mittelstand, dem das liberale Evangelium des freien Wettbewerbs keine gute Botschaft war.124 Die einzigen Hochburgen der Junker, die die Antisemiten in den frühen 1890er Jahren erobern konnten, waren Arnswalde-Friedeberg in Brandenburg und, für kurze Zeit, Neustettin in Vorpommern. Diese erwiesen sich als sehr spezielle Fälle. In Arnswalde-Friedeberg ging die Bevölkerung zurück und keine Stadt erreichte die Zehntausender-Grenze. Große Güter nahmen hier mehr als die Hälfte des bebaubaren Landes des einen Kreises und 40 Prozent des anderen ein. In der Vergangenheit hatten die Machtkämpfe zwischen Gutsherren und Bauern stattgefunden: den vom Adel unterstützten Konservativen auf der einen Seite und den Liberalen unterschiedlicher Provenienz auf der anderen.125 Im Jahre 1892 traf der plötzliche Tod des konservativen Amtsinhabers – der selbst von einer unerwarteten Nachwahl profitiert hatte, als der linksliberale Paladin Max von Forckenbeck andernorts ein Mandat erhielt – die konservativen Gutsbesitzer unvorbereitet. Antisemitische Agitatoren, die aus Berlin herbeiströmten, waren sofort zur Stelle. Sie fanden eine dankbare Zuhörerschaft in diesem Wahlkreis, der traditionell in den Händen der Liberalen gewesen war, bei den kleinen Produzenten, deren Achillesferse fallende Agrarpreise waren. Als die Antisemiten in der Stichwahl gegen die Freisinnigen antraten, hatte der konservative Adel keine Schwierigkeiten, zu entscheiden, welche Partei er unterstützen sollte. Die Führungsschicht der Junker und die Provinzbürokratie schlugen sich auf Ahlwardts Seite. Erst als die Konservativen im folgenden Jahr versuchten, den Wahlkreis zurückzuerobern, antwortete Ahlwardt mit einer Agitation gegen die Junker und sicherte sich so die Unterstützung der kleinen Produzenten, die hinter ihm standen. Danach ließen sich Ahlwardt und seine Nachfolger nicht mehr aus dem Sattel heben. Obwohl ihre Stimmenzahl zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückging, waren sie selbst noch 1912 in der Lage, hinterrücks anzugreifen und eine Stichwahl gegen einen konservativen Kandidaten zu gewinnen. Democracy, S. 263 ff. 124 Nach meiner eigenen Zählung der Wahlkreise. Zur Geographie der antisemitischen Stärke 1893: Levy: Downfall, S. 90, 148; Warren: Kingdom, S. x. 125 Fünfzehn Prozent der Landbesitze in Friedeberg waren unveräußerliches Erbgut (Fideikomiss), davon waren 55,5 Prozent größer als 100 ha und 51,5 Prozent größer als 200 ha. Selbst in Arnswalde, wo es keine Fideikomiss-Güter gab, machten Güter, die größer als 100 ha waren, 40 Prozent der Besitze aus, und solche über 200 ha 37,5 Prozent. Besitzer großer Güter konnten also eine bedeutende Rolle in ihrem Wahlkreis spielen; deren Bedeutung war abhängig von ihren eigenen Anstrengungen und denen ihrer Gegner. Statistik (für 1895): Frank: Brandenburger, S. 131. Dem gegenüber Fairbairns interessanter Diskurs über »electoral environments«, in der Arnswalde-Friedeberg nicht als Junkerhochburg erscheint. Democracy, S. 263 ff.

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Dieses Mal geschah das anscheinend mit sozialdemokratischen und nationalliberalen Stimmen. Ihr letzter Abgeordneter hielt sein Mandat, als Mitglied der DNVP, bis 1930.126 Aber ursprünglich war es ein Wahlkreis der Freisinnigen, nicht der Junker, gewesen, den Ahlwardt erobert hatte. Obwohl antisemitische Aktivitäten in Neustettin nichts Neues waren, ist nicht klar, warum Ahlwardt glaubte, diesen Wahlkreis einnehmen zu können – einen der sichersten Sitze der Konservativen in ganz Deutschland. Stoecker bewarb sich ebenfalls um das Mandat, was vermuten lässt, dass der offizielle konservative Kandidat, ein Mann namens von Hertzberg (der tatsächlich diese beiden Antisemiten in der Hauptwahl an Stimmen übertraf), zumindest entfernt »jüdisch« und somit verletzbar war. Eine Verbindung zum Judentum scheint kein Ausschlusskriterium für die Aristokratie dieser Gegend gewesen zu sein. Die Freien Konservativen hatten einst den getauften Juden Rudolf Friedensthal aufgestellt, der bald Staatsminister werden sollte. Der – gegen Ahlwardts Kollegen Paul Förster – erfolgreiche konservative Kandidat für das Landtagsmandat von 1893 war ein Moritz von Oppenfeld, der, obwohl selbst evangelisch, jüdische Vorfahren gehabt haben mochte. Es ist auch nicht klar, ob es Ahlwardts gleichmachende Rhetorik gegen die Feudalen war, die die Quelle seiner Stärke ausmachte. Ahlwardts Anhänger, die 1893 die Wahlversammlung Stoeckers gesprengt hatten, waren keine Ortsansässigen, sondern aus Berlin herbeigeholte Rabauken. Bereits 1898 nahm der Landrat von Neustettin, Bogislav von BoninBahrenbusch – der viel zu reaktionär war, um Antisemiten als Repräsentanten seines Wahlkreises gutzuheißen –, die Wahl in die Hand. Er schlug Paul Förster mit Abstand und hielt das Mandat gegen alle Herausforderer bis 1918. Wahrscheinlich war es Bonin, der, in seiner Eigenschaft als Landrat, Ahlwardt später untersagte, jemals noch einen Kreis in Pommern zu betreten.127 So können trotz aller Propaganda gegen die Junker die populistischen Wahlsiege nicht als Herausforderungen an die Macht der Gutsherren angesehen werden, und erst recht nicht als Zeichen dafür, dass der Wahleinfluss des Adels auf die von ihm Abhängigen schwächer wurde. Jene Wähler, die zuvor frei gewesen waren – hauptsächlich kleine und mittlere Produzenten –, wechselten einfach die Fahnen. Dabei zwangen sie wahrscheinlich ihr eigenes kleines Gesinde mitzukommen. Wer nicht frei gewesen war, wählte weiterhin so, wie es sein Brotherr wünschte. Was die populistischen Agitatoren tatsächlich in Frage stellten, war der Anspruch jener »Majore a. D.« innerhalb der Land besitzenden Elite auf ein gottgegebenes Recht auf Führerschaft im antisemitischen Lager. Seit den frühesten Tagen der »Berliner Bewegung« von Stoeckers war die Grenze zwischen den 126 Frankfurt 1, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 480, S. 525 ff., und SBDR 9. Dez. 1912, S. 2687 ff.; Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 38; Levy: Downfall, S. 81 f. 127 von Hertzfeld: Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 53; sicheres Mandat und Oppenfeld: Kühne: Handbuch, S. 262 ff. Ebenso: Hugo Gotthard Bloth: Bogislav von Bonin (1842–1929). Antisemiten-Gegner und ›Kanalrebell‹, in: Baltische Studien (N. F.) 57 (1971) S. 86 ff.; Bogislav v. Bonin-Bahrenbusch: 25 Jahre Landrat. Ein Beitrag zur Neustettiner Kreischronik, Neustettin 1924; Mann: Handbuch, S. 76; Levy: Downfall, S. 137.

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opportunistischen Konservativen und den »Rein-Antisemitischen« verwischt gewesen. Von den achtzehn Abgeordneten, die ursprünglich unter antisemitischen Vorzeichen gewählt worden waren, so beschwerten sich die »Rein-Antisemitischen«, seien sieben von der Konservativen Partei kooptiert worden, sobald sie in Berlin ankamen.128 Da fünfzehn Abgeordnete das nötige Minimum zur Erreichung des Fraktionsstatus im Reichstag waren – unabdingbar, wenn Mitglieder Anträge stellen, in Komitees mitarbeiten oder eine begründete Hoffnung haben wollten, vor dem Ende einer Debatte zu Wort zu kommen –, war der Verlust für die Antisemiten durch Überläufer zu den Konservativen mehr als symbolischer Natur. Ahlwardts viel zitierter Wahlspruch ›Gegen Junker und Pfaffen‹ beinhaltete bei weitem keine Strategie für das platte Land und noch viel weniger war dieser gegen die konservative Partei gerichtet, er war tatsächlich ein kaum verhüllter Versuch, die Grenzen der Bewegung zu sichern. Er hatte auch das Ziel, die Führerschaft innerhalb des antisemitischen Lagers seinen prominentesten – und opportunistischsten – Vertretern abzuringen: dem »Junker« und pensionierten Offizier Max Liebermann von Sonnenberg und dem »Pfaffen« Adolf Stoecker, die die Gründer der Deutschsozialen bzw. der Christlich-sozialen Partei waren. Die »Rein-Antisemitischen«, die es leid waren, gegängelt zu werden, und wütend über Kompromisse im Namen dieser »Feudalen«, waren fest gewillt, für sich selber zu sprechen. Einige Adelige behaupteten, wegen der Böckels und Ahlwardts ebenso beunruhigt zu sein wie durch die Sozialdemokraten. Aber die rein-antisemitischen Angriffe auf die Junker bedrohten nur die Kontrolle des Adels über den konservativen politischen Diskurs; sie artikulierten keinen Plan, »ihre Leute« zu beeinflussen.129 Spätestens 1904 konnten die Konservativen beruhigt sein, dass die Bewegung nur »vorübergehende, durch Zufall und besondere Verhältnisse bedingte Erfolge zu erringen« vermocht hatte. Inzwischen waren »diese Zeiten … längst vorüber«. Jetzt kamen die Antisemiten »höchstens als konservative Hilfstruppe« in Betracht.130 Die dritte mögliche Bedrohung für die Kontrolle des flachen Landes erwuchs dem Adel aus dem Populismus der Agrarier. Trockenheit, Maul- und Klauenseuche, Verschuldung und schließlich der Zusammenbruch der Erzeugerpreise in den frühen neunziger Jahren hatten auf dem Land eine Krise verursacht. Caprivis Handelsverträge von 1891–1894, die die Zölle auf Getreideimporte gesenkt hatten, wurden dafür verantwortlich gemacht, und mit ihnen die Abgeordneten, die sie im Parlament durchgebracht hatten. Dieselbe wirtschaftliche Verzweiflung, die in den regionalen Bauernbewegungen der späten 1880er Jahre gebrodelt und es den Linksliberalen zur Wende des Jahrzehnts ermöglicht hatte, den konservativen Gutsbesitzern zwei Mandate abzunehmen, und die außer-

128 DA 11/31 (30. Juli 1893) S. 586. 129 K Ambivalenz gegenüber Antisemiten in den Seiten des DA: 10/47 (20. Nov. 1892) S. 938; 10/51 (18. Dez. 1892) S. 1021 ff.; 11/23 (4. Juni 1893) S. 446 f.; 11/26 (25. Juni 1893) S. 502 ff.; 11/27 (2. Juli 1893) S. 522 f.; 11/28 (9. Juli 1893) S. 537 ff.; 11/31 (30. Juli 1893) S. 585 ff. 130 DA 22/43 (23. Okt. 1904) S. 685 ff.

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dem die frühen Erfolge der Antisemiten angeheizt hatte, kochte nun über.131 Ein sichtbarer und kraftvoller Ausdruck der Wut wurde die Gründung des Bundes der Landwirte BdL im Februar 1893. Dem BdL, der einen volkstümlichen Stil pflegte, gelang es, evangelische Bauern einfacher Herkunft – die aber selbst Arbeitgeber waren – für die protektionistische Sache zu gewinnen. Nach der eigenen Statistik hatte der Bund 1898 bereits 157.000 kleine und 28.500 mittlere Bauern als Mitglieder gewonnen, verglichen mit nur 1.500 Großgrundbesitzern. Obwohl wir Anzeichen dafür haben, dass in einigen Gegenden die Neigung, dem BdL beizutreten, mit dem Steueraufkommen eines Bauern wuchs, bildeten die Besitzer großer Ländereien nach 1900 immer noch weniger als ein Prozent der ständig wachsenden Mitgliederzahl.132 Trotz des scharfen Radikalismus war der BdL jedoch eine Bewegung, die die landwirtschaftlichen Produzenten eher vereinte als spaltete. Die Land besitzende Elite war niemals gezwungen, ihn zu besiegen, weil sie ihm gerne beitrat. Wie der Klerus bei der Gründung des Zentrums, so war der Adel hier von vornherein dabei. Bald nahm er viele der Führungspositionen des BdL ein. In Gebieten, wo die Gutsbesitzer nationalliberal waren, wie dem Großherzogtum Hessen, überschnitt sich die Organisation des BdL, bei aller offiziellen Unabhängigkeit, mit derjenigen der Nationalliberalen Partei. Dies traf dort nicht nur auf Zustimmung, da der BdL häufig die stärkere, selbstbewusstere und unabhängigere der beiden Organisationen war.133 Wo die ländliche Elite Konservative waren, las sich auch die Führungsriege des BdL wie eine Liste der konservativen Parteiprominenz. Aber obwohl der BdL seinen größten Einfluss in den neuen preußischen Provinzen Hannover und Hessen hatte und sich das Wahlverhalten im Osten kaum änderte, verlieh der BdL den landwirtschaftlichen Interessen im Osten eine organisatorische Kraft und eine populistische Dynamik, die ebenso neu wie willkommen war. Mit dem BdL entstand eine Interessengruppe ganz neuer Art, die nicht vorhatte, sich mit Petitionen an den Reichstag oder höflichen Abordnungen in die Ministerien und zu Parteikongressen zu begnügen. Indem er den Wahlkreis selbst zum Ziel machte, indem er Gelder sammelte und verteilte, die er jedem Kandidaten – unabhängig von dessen Parteizugehörigkeit – zur Verfügung 131 Retallack sieht ebenfalls die Gründung des BdL als Reaktion auf Druck von unten. Notables, S. 102. Ähnlich Eley: Anti-Semitism, der gut die unterschiedlichen Aktivitäten des BdL in Ost und West beschreibt. Nützlich auch Barkin: Study, S. 378. LL-Siege bei Nachwahlen in Stettin 7 (1888) und Köslin 1 (1890). Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 366. Für den Süden: Farr: Populism, S. 136 ff. 132 Steuern und BdL-Mitgliedschaft: Ehrenfeuchter: Willensbildung, S. 335; siehe auch 199. Allgemein: Retallack: Notables, S. 91 ff.; und bes. Puhle: Interessenpolitik; Statistik: Dieter Fricke: Bund der Landwirte (BdL) 1893–1920, in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945, Leipzig 1968, Bd. 1, S. 129 ff., bes. 133. Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 143, 249, schreibt, dass der BdL 1893 ca. fünf Prozent aller landwirtschaftlichen Produzenten umfasste; Ullmann: Interessenverbände, S. 89 ff.; Verbindungen zum ZdI: Molt: Reichstag, S. 205; Stegmann: Erben, S. 140 ff. 133 Eley: Reshaping, S. 27 f., 154, behauptet, dass die Beziehung zum BdL für die NL fatal war; White: Party, S. 143 ff.; Zahlen: Molt: Reichstag, S. 287. 1898 war der BdL bereits so mächtig, dass er, indem er die NLNominierung in Trier 6 eroberte, dem dort ansässigen FK Baron Carl von Stumm den ersten Platz in der Hauptwahl verweigern konnte, so dass er zur Stichwahl gegen das Z gezwungen wurde. 1903 verhalf die Weigerung des BdL, die NL zu unterstützen, dem Z zum Sieg. Bellot: Hundert Jahre, S. 201, 213.

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stellte, der sein protektionistisches Programm vertrat, verknüpfte der BdL die Landwirtschaftsinteressen mit dem Wahlvorgang. Er hatte es jedoch nicht auf die Wähler, sondern auf die Parteien abgesehen. Diese wollte er nicht ersetzen, sondern kontrollieren. Fast sofort schaffte er es, die Auswahl der Kandidaten in den ländlichen Wahlkreisen zu beeinflussen. Der Verband verfolgte das Abstimmungsverhalten genau, und falls es einem Abgeordneten nicht gelang, seine Versprechen einzulösen, bedeutete dies den Verlust der Unterstützung seitens des BdL. Wie dem Zentrum und den Sozialdemokraten gelang es dem BdL innerhalb kurzer Zeit, das »imperative Mandat« durchzusetzen, das den Abgeordneten an den Auftrag seiner Wähler bindet. Nichts hätte ein sichereres Zeichen dafür sein können, dass die alte Honoratiorenpolitik – jener Männer, die ihre Unabhängigkeit als eine Hauptqualifikation für ihr Amt ansahen – ein Ende hatte.134 Obwohl die genaue Anzahl der Abgeordneten, die Mitglieder des BdL waren, nicht bekannt ist, wird angenommen, dass sich bis 1893 etwa 25 Prozent der Reichstagsmitglieder seinem Programm verpflichtet hatten. Bis 1907 war dieser Anteil auf weit über 30 Prozent gestiegen. Auch dies war ein Zeichen dafür, dass die Deutschen sich in Demokratie übten. Der ländliche Populismus beeinflusste kaum das Verhältnis der Land besitzenden Elite zu den unteren Gesellschaftsschichten, aber sein Einfluss auf deren Beziehungen zur politischen Oberschicht war dramatisch. Der Druck des BdL in den Wahlkreisen war dafür verantwortlich, dass die Konservativen sich zumindest für die folgenden zehn Jahre zu dem entwickelten, was sie nie ganz gewesen waren: eine entschlossen landwirtschaftliche Interessen vertretende Partei.135 Infolgedessen warfen die Konservativen das Alpha und Omega des gutsherrlichen Glaubensbekenntnisses der letzten zwanzig Jahre ab: die stete Unterordnung unter die Wünsche der preußisch-deutschen Regierung. Ihr Stillschweigen, als die Agrarier einen Angriff auf den amtierenden Kanzler in einem Artikel veröffentlichten, dessen Titel ihn als »Schweinehund« bezeichnete, war bezeichnend für das neue Verhältnis.136 Provinzbeamte, die es versäumt hatten, Kandidaten des BdL zu unterstützen, mussten damit rechnen, nicht nur von den Agrariern beschimpft und von deren Presse gejagt, sondern auch von ihren Nachbarn geschnitten zu werden. Kurt von Willich, der unbeugsame Landrat des Kreises Birnbaum in Posen, wurde in den Selbstmord getrieben. In den siebziger Jahren war Bismarcks Prämisse bei der Einführung des Männerwahlrechts, dass die einfachen Wähler im ganzen Land sich dem Druck der Regierung genauso beugen würden wie jene in der ostelbischen Provinz, vom katholischen Klerus widerlegt worden. Jetzt erwies sich selbst die Annahme, die der Prämisse zugrunde lag – dass die Bewohner der ostelbischen Gebiete der Regierung zur 134 Einwände gegen imperative Mandate: Fred Graf v. Frankenberg (FK) SBDR 22. Nov. 1871, S. 438. 135 Molt: Reichstag, S. 112; Nipperdey: Organisation, S. 249. Betonung von Komplexität und Unterschiedlichkeit bei Fairbairn: Democracy, S. 130 ff. Anfechtungen von Puhles Andeutung (z. B.: Interessenpolitik, S. 38 f.), dass die Führung der Junker im BdL die Manipulation kleinerer Bauern bedeutete, zuerst bei James C. Hunt: Peasants, Grain Tariffs, and Meat quotas: Imperial German Protectionism Reexamined, in: CEH 7/4 (Dez. 1974) S. 311 ff.; ebenso Eley: Reshaping, S. 9, 28, 331. Die Selbsteinschätzung der Junker: DA 11/41 (8. Okt. 1893) S. 769 ff. 136 Barkin: Controversy, S. 101; Hartung: Geschichte, S. 226 f.

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freien Verfügung ständen –, als trügerisch. Der BdL kündigte der Regierung die Gefolgschaft auf: »Wir müssen handeln, indem wir aufhören, was wir bisher immer für selbstverständlich hielten, für die Regierung in unseren Bezirken die Wahlen zu machen.«137 Eine neue Beamtengeneration hatte entsprechend sowohl berufliche als auch gesellschaftliche Loyalitäten zu berücksichtigen und in den 1890er Jahren deutete sich in ihr erstmals eine entsprechende Zurückhaltung an, ihr bürokratisches Gewicht bei Wahlen ganz offen auf die konservative Waagschale zu legen. Schließlich verordnete der Innenminister, dass Landräte keine Kandidaturen mehr annehmen dürften.138 Provinzbeamte, die bereits Abgeordnete waren und sich offen mit dem Adel gegen die Regierung stellten, riskierten ihre Arbeitsplätze, wie achtzehn Landräte und zwei Regierungspräsidenten 1899 erfahren mussten, nachdem sie im preußischen Landtag gegen das Mittellandkanal-Gesetz der Regierung gestimmt hatten. Als das 20. Jahrhundert heraufdämmerte, wurde das preußische Kabinett neu gebildet und die Ehe zwischen den preußischen Gutsbesitzern und der deutschen Regierung schien den Weg allen Fleisches gegangen zu sein. Aber handelte es sich um eine Scheidung – oder nur um eine Entfremdung? Optimisten behaupteten bereits, dass der Minister und die Staatssekretäre sich den Liberalen näher fühlten als den Konservativen. Sie spekulierten, der vernünftige Theobald Bethmann Hollweg – preußischer Innenminister seit 1905 und Staatssekretär im Reichsamts des Innern seit 1907 sowie schließlich Reichskanzler seit 1909 – werde pauschal alle konservativen Regierungspräsidenten und Landräte durch nationalliberale ersetzen. Und »gegen einen nationalliberalen Regierungsapparat« könnten »die Konservativen überhaupt nicht mehr ankämpfen«. Der Beweis liege im Sieg eines Liberalen in einer konservativen Bastion – Oletzko-Lyck-Johannesburg – in einer Nachwahl von 1910. Für die Rechte war dies die Schrift an der Wand.139 Aber der Jubel war verfrüht. Die Hoch-Rufer hatten wohl nicht bemerkt, dass selbst die wegen der Kanalfrage entlassenen Landräte wieder eingesetzt worden waren. Nachdem sie 1902 erreicht hatten, dass die Kornzölle um ganze 40 Prozent angehoben wurden, konnten es sich die Konservativen leisten, sich von den extremeren Positionen des BdL zu distanzieren und sich der Regierung gegenüber höflicher zu verhalten.140 Auf jeden Fall überlebte ministerielles Missfallen selten die Fahrt von Berlin in die Landkreise, wie das Nachspiel zu dem mit viel Tamtam gefeierten libe137 Zitiert in Ziekursch: Geschichte, Bd. 3, S. 59. Willich: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 85 ff. 138 Saul: Kampf, S. 196 Anm. 138; Fairbairn: Authority, S. X; Die Stellung der Beamten im politischen Leben, in: Die Hilfe 15/18 (2. Mai 1909) S. 279 f. Der Bürokratie fehlten zunehmend die Macht und der Wille, in die Wahlen entscheidend einzugreifen: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 66, 79 ff., 88 f., 291, 309 f. Hingegen Witt: Landrat, bes. S. 214 und 214 Anm. 54. 139 Zitat: Martin: Machthaber, S. 524. Ähnlich Naumann, zitiert in: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 513 f. Hierzu auch James N. Retallack: The Road to Philippi. The Conservative Party and Bethmann Hollweg’s »Politics of the Diagonal« 1909–14, in: Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservativism from 1789 to 1945, hrsg. v. L. E. Jones und J. N. Retallack, Providence und Oxford 1993, S. 261 ff., bes. 277. 140 Siehe aber Eley: Reshaping, S. 239.

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ralen Sieg von Oletzko-Lyck-Johannesburg bewies. Denn der Adel setzte sofort beim Landrat durch, dass Lycks 85 Wahlbezirke auf 132 aufgeteilt wurden, deren Grenzen genauer mit denen seiner Landgüter übereinstimmten. 1912 wurde der Wahlkreis mit Leichtigkeit wieder von den Konservativen zurückerobert.141 Wie sehr auch die Verwaltung sich einen professionellen Standpunkt »über den Parteien« wünschte, wie sehr auch die »überwiegende Mehrheit« der Regierung inzwischen zu liberalen Sympathien neigte, so benötigte die Regierung jetzt, wo ein Drittel der Reichstagssitze von Sozialdemokraten besetzt waren, doch die Konservativen. Sie brauchte die Konservativen auch, weil das Königreich Preußen, das größte der deutschen Länder, bereits immer stärker »parlamentarisiert« worden war, und zwar nicht, wie dieser Begriff normalerweise anzeigte, durch eine liberale Landtagsmehrheit, sondern durch eine konservative. Die Minister mochten wohl wünschen, dass Deutschland mit einer modernisierten Konservativen Partei nach englischem Muster gesegnet wäre, die in der Lage wäre, mit der Zeit zu gehen; sie mochten wohl hoffen, dass eine rechtzeitige Reform des preußischen Wahlrechts, die vielleicht einigen Mitgliedern der Mittelklasse mehrfaches Stimmrecht gäbe, die Konservativen zwingen könnte, mehr die Wünsche der gesamten Wählerschaft zu berücksichtigen.142 Da die beiden konservativen Parteien ungefähr die Hälfte der Landtagssitze besaßen, war die Regierung gut beraten, den Führer der Konservativen im Voraus zu Rate zu ziehen, bevor er neue Initiativen in der Innenpolitik zur Abstimmung brachte. Angesichts von Preußens dominanter Stellung im Reich konnte es kein Kanzler sich leisten, sich von den Konservativen zu distanzieren.143 Selbst wenn die Regierung des Kaiserreichs entschlossen gewesen wäre, die Konservativen von ihrer Wahlhilfe abzuschneiden, ist es zweifelhaft, ob das Ergebnis derart tödlich gewesen wäre, wie die Liberalen es erhofften. Die Entwicklung seit 1893 hatte die Machtverhältnisse zwischen dem Ministerium und dem konservativen Adel verschoben. Außer dem Druck auf seine 1,2 Millionen Beschäftigten (gegen den der Reichstag mit Sicherheit ein Veto eingelegt hätte) standen der Regierung nur wenige eigene Möglichkeiten zur Verfügung, Wahlen zu beeinflussen. Mag auch Bethmann Hollweg gehofft haben, die Deutschkonservativen ins 20. Jahrhundert »vorwärts« zu »drängen« – die Adligen hatten jetzt keine Provinzbürokraten mehr nötig, um ihre Kandidaturen zu organisieren, ihre Presseverlautbarungen zu drucken und Stimmzettel an ihre Güter

141 Die kunstvolle Verkleinerung der Wahlbezirke im Kreise Lyck, BT XVI/7, 2. Beiblatt (4. Jan. 1912). 142 Begründung des Eventual-Entwurfes (Pluralwahlrecht) Okt. 1907, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A. VIII. 1. d., Nr. 1/Bd. 10, Bl. 88 f. 143 Frauendienst: Demokratisierung, S. 729 ff., gestützt auf Zitate von Bethmann Hollweg und IM Reinhold v. Sydow; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 481, 529 f.; Kehrtwendung 1910: 539. Frauendienst geht zu weit, wenn er Preußens Parlamentarisierung bereits 1892 ansetzt. Aber mein eigener Eindruck nach der Lektüre der Kabinettsüberlegungen von 1900 bis 1914 unterstützt seine generelle Hypothese der Parlamentarisierung Preußens. Z. B. SM-Aufzeichnungen, 2., 3. Jan. und 15. Okt. 1908, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A. VIII. 1. d. Nr.1/Bd. 9, Bl. 36, 39–39v, 183–185v; SM-Aufzeichnungen, 26. Feb., 7. März 1910, ebd., Bd. 11, Bl. 126, 129 f.

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auszuliefern.144 Diese Arbeit erledigten der BdL und eine effiziente konservative Parteiorganisation. Die Konservativen verloren zwar im Regierungsbezirk Gumbinnen 1912 drei Sitze an die Liberalen, aber Bethmann Hollweg war kein Bismarck. Die politischen Umwälzungen von 1874 wiederholten sich nicht.

Im Osten nichts Neues Erst 1912 stellten sich der »mühelosen Diktatur« – wie Bethmann Hollweg es ausdrückte – der ostelbischen Gutsherren über die Wahlen in der Provinz neue Herausforderungen.145 Gutmütige Landbesitzer händigten weiterhin ihren Arbeitskräften die Stimmzettel zusammen mit einer Handvoll Pfennige, einer Zigarre oder einem Bündel Feuerholz aus, um später als Wahlvorsteher zuzusehen, wie diese Stimmzettel eingeworfen wurden.146 Übellaunige Landbesitzer (oder ihre Aufseher) forderten weiterhin schriftliche Erklärungen, dass man in einer bestimmten Weise wählen werde, trieben »ihre Leute« an die Wahlurnen, zerrissen Stimmzettel, die ihnen nicht passten, und ersetzten sie durch ihre eigenen, mischten Wahlbeobachter der Konkurrenten auf und schritten die Schlange vor dem Wahllokal ab, bis alle neuen Stimmzettel eingeworfen waren.147 Hier ist die Aussage einer Marie Skerra über das, was im Kreis Ortelsberg geschah, einem Wahlkreis, der seit dreißig Jahren zum Stammbesitz der Konservativen gehörte: Oberinspektor Klimmek stand am Wahltage den ganzen Tag vor dem Wahllokal und drohte jedem Wähler mit Schlägen und dass sie kein Brennmaterial und Lebensmittel erhalten werden, wenn sie nicht [den konservativen Kandidaten] von Bieberstein wählten. … Mein Ehemann, der Gärtner Karl Skerra, ist Anhänger der National Liberalen Partei. Als er gestern … sich vom Wahllokale über den Hof zum Garten begeben hatte, schrie ihm der Oberinspektor Klimmek … nach: ›Du Sozialdemokrat, der Laps aus Berlin hat dir den Kopf verdreht‹ (Mit der Bezeichnung Laps meinte er meinen Sohn, der in Berlin als Soldat dient und zu Weihnachten zum Besuch war). Mein Mann gab nur zur Antwort: Ich bin kein

144 BH zitiert in Wollstein: Bethmann Hollweg, S. 36. Angestellte in Wehler: Kaiserreich, S. 74. Hingegen Schücking: Reaktion, bes. S. 105. Schückings eigene Rolle war zwiespältig: hierzu Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 79. 145 Zitiert in Wollstein: Bethmann Hollweg, S. 36. 146 In Sellnow, Raakow, Adolfsaue, Friedenau: Frankfurt 1, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 480, S. 528; in Langendorf: Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3412, 3414; in Lützlow und Seehausen: Potsdam 4, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1435, S. 2950. In 46 Bezirken in Glogau (in Liegnitz 3) war der Vorsteher des Wahlvorstands der Besitzer eines Adelsguts. Wie die Behörden im Wahlkampf arbeiten, BT XLI/5 (4. Jan. 1912). 147 In Bingerau, Kuschwitz, Wirschkowitz, Powitzko, Schebitz, Esdorf, Kapitz, Paulwitz und Kawallen: Breslau 2, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1432, S. 2928 ff.; in Stücken bei Belzig, Grabow bei Niemegt: Potsdam 9, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 807, S. 1109; in Barranowen, Choszewen, Gaynen, Jägerswalde, Prawdowen, Schimonken, Seeheften, Talten: Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3404, 3406, 3422, 3424, 3426, 3428, 3430, 3432, 3436, 3442; in Gramzow, Potsdam 4, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1435, S. 2953; in Rittergut Dammereez, Rittergut Scharbow, Rittergut Barnekow, in Groß-Hundorf: Meckl.-Schwerin 1, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 478, S. 513 f.

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Sozialdemokrat. In diesem Augenblick erhielt er von Herrn Klimmek mit der Faust einen Schlag gegen die Brust, daß er jetzt schwer zu Bett liegt, zumal er selbst schon sehr schwach und krank ist.

Ein anderer Mann wurde mit einem Stock geschlagen, bis er konservativ wählte.148 Vierzig Jahre Männerwahlrecht hatten die Beziehungen zwischen Gutsherren und Arbeitern kaum ins Wanken gebracht. Abweichler hatten nur wenig Hoffnung, aber sie taten, was sie konnten. Ein sächsischer Wähler versuchte den Stimmzettel ungültig zu machen, den er für den antisemitischen Nationalisten General Eduard von Liebert einzuwerfen gezwungen wurde, indem er unter den Namen des Kandidaten schrieb: »Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe«.149 In Schebitz verrieten die Arbeiter einem sozialdemokratischen Wahlkämpfer hinter dem Rücken des Gutsinspektors: »Wir möchten ja gern einen anderen als Heydebrand wählen, aber Sie sehen doch, wir können unter diesen Umständen nicht so, wie wir gern möchten.«150 Obwohl die Worte geflüstert wurden, als ob jemanden die wahren Loyalitäten der Wähler kümmerten, waren die marschierenden Kolonnen selbst der beste Beweis, dass es hier weder um Loyalität noch um die Gemeinschaft, sondern um Gehorsam ging. Drohungen, Abweichler zu entlassen, unterstrichen die Botschaft.151 Der Regierungsbezirk Köslin mit fünf Wahlkreisen bietet ein aufschlussreiches, wenn auch vielleicht extremes Beispiel dafür, dass die Brotherren das Land immer noch fest im Griff hatten. Nur acht Prozent der Wählerschaft der dritten Klasse kam bei den Landtagswahlen noch zu den Urnen – eine Wahlbeteiligung, die traditionell als Maßstab für die Entfremdung der niederen Schichten von einem System gesehen wird, das den Erfolg der Konservativen zu einer ausgemachten Sache macht.152 Dieselben Unterschichten jedoch strömten bei den Reichstagswahlen zu den Urnen – um den Konservativen 1907 mehr als 66 Prozent der Stimmen des Regierungsbezirks zu geben. Tatsächlich erhielten die Konservativen in einem Wahlkreis mit fast achtzigprozentiger Wahlbeteiligung mehr als 86 Prozent der Stimmen.153 Die dramatisch auseinanderklaffenden Beteiligungen bei den Reichstags- und Landtagswahlen, verbunden mit überwälti148 Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3392 ff. 149 Sachsen 14, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 718, S. 926. 150 Breslau 2, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1432, S. 2932 f. Fast das Gleiche passierte bei liberalen Landarbeitern sowohl in Salwarscheinen bei Petershagen und in Schirten. In Grunau, Rehfeld, Worienen, Wermten, Partheinen, Klein Steegen und anderen Dörfern des Wahlkreises wurden Arbeiter durch offensichtliche Verletzung der Geheimhaltung eingeschüchtert. Königsberg 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1401, S. 2900 f., 2903 f. Die Tabelle der Wahlergebnisse der Dörfer im Kreis Wanzleben, Provinz Sachsen, ist aufschlussreich: Birk: Entwicklung, S. 192. 151 Breslau 2, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1432, S. 2933. Andere Entlassungsdrohungen: In Hedersleben, Merseburg 5, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 840, S. 1136 ff., bes. 1137; in Kerstinowen, Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3410; in Döhlen, Sachsen 14, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 718, S. 927; in Groß-Ziethen, Potsdam 4, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1435, S. 2951 f.; auf Rittergut Klein-Krankow und Rittergut Rögnitz, Meckl.-Schwerin 1, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 478, S. 516 f. 152 Ein interessantes Gegenargument: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 165 ff. 153 Köslin 4, Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, Nachtrag 14; Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 71, 140.

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genden Siegen der Konservativen bei beiden Wahlsystemen, weisen darauf hin, dass die Kösliner Gutsbesitzer sich zur Herbeiführung konservativer Erfolge auf ein ungleiches Wahlrecht verließen, solange sie dies konnten – und entsprechende Maßnahmen ergriffen, wenn sie dies nicht konnten. Der Gegensatz sollte uns also davor warnen, aus Veränderungen in der Wahlbeteiligung auf dem Lande voreilige Rückschlüsse über die Meinung des Volkes zu ziehen.154 Die Verletzlichkeit der Brotherren lag nicht in einem Kontrollverlust über ihre Abhängigen, sondern in zwei bedeutenden demographischen Trends. Der erste war die Tatsache, dass die deutschen Landschaften immer mehr zu Vorstädten wurden. Die allmähliche Abnahme der konservativen Stimmen bei den Wahlen in der Mark Brandenburg spiegelte diese Veränderungen wider. Obwohl große Teile der Bevölkerung weiterhin in den ländlichen Regierungsbezirken Potsdam oder Frankfurt lebten und wählten, verdienten sie ihren Lebensunterhalt in den Städten Frankfurt an der Oder oder Berlin. Die Trennung von Arbeitsplatz und Wahlort – besonders, wenn der erstere in einer mittelgroßen Stadt lag – brachte manchen Wähler außer Reichweite seines Arbeitgebers. Im Königreich Sachsen hatten pendelnde Arbeiter bereits in den siebziger Jahren dafür gesorgt, dass die politischen Unterschiede zwischen dem städtischen und dem ländlichen Wahlverhalten sich allmählich anglichen. In Hessen begannen in den 1890ern immer mehr Menschen zur Arbeit zu pendeln, mit entsprechend starken Zuwächsen für die Sozialdemokraten in früher »ländlichen« Wahlkreisen.155 Zum anderen erschwerte die Entstehung eines städtischen Arbeitsmarkts mit höheren Löhnen zunehmend den Gutsbesitzern die Suche nach Arbeitskräften. Die »Landflucht« lieferte jenen konservativen Apologeten ein willkommenes Alibi, die gerne behaupteten, die Arbeitgeber seien überhaupt nicht in der Lage, Arbeitern mit Entlassung zu drohen: »… bei der heutigen Leutenot … schätzen [sie] sich glücklich, wenn sie die Arbeiter nicht verlieren.« Obwohl es keine Hinweise darauf gibt, dass die Landarbeiter jemals den Arbeitskräftemangel in einen politischen Vorteil hätten ummünzen können,156 untergrub dennoch die Verstädterung des Arbeitsmarktes indirekt die Macht der Gutsherren am Wahltag. Denn während die höheren Löhne – und auch, das gaben selbst die Junker zu, der »Trieb nach Freiheit« – die Söhne und Töchter der Unterschichten vom Lande in die Stadt zog, wurden ihre Plätze dort zunehmend von Ausländern eingenommen.157 Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs waren Fremdarbeiter

154 Beispielsweise gab der Arbeiter Stahnke zu Protokoll, dass er von seinem »Brotherrn« gezwungen worden sei, einen NL Stimmzettel abzugeben, als er nicht einmal vorgehabt hatte zu wählen: Marienwerder 3, AnlDR (1898/1900, 10/I, Bd. 4) DS 507, S. 2663. Bertram: Wahlen, S. 206 f. Siehe aber Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 290. 155 Sachsen: Steinbach: Entwicklung, S. 16; Hessen: White: Party, S. 133, 173; Region Magdeburg: Birk: Entwicklung, S. 177, 184. 1895 arbeiteten 27 Prozent aller Männer, die auf dem flachen Land beschäftigt waren, in der Industrie. Blank: Zusammensetzung, S. 531. 156 Ein Fall in Sachsen wurde als Ausnahme zugegeben: DA 26/17 (26. April 1908) S. 246. Below: Wahlrecht, S. 153 (Zitat); DA 26/17 (26. April 1908) S. 246. 157 »Trieb nach Freiheit«: Deutsche Post (K) 40 (5. Okt. 1891), zitiert in DA 8/41 (12. Okt. 1890) S. 687 f.

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»der wirklich herausragende Zug des deutschen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus«, der fast ein Drittel der Beschäftigten in der Landwirtschaft ausmachte.158 Ohne den Schutz von Gewohnheitsrechten und Verträgen waren diese Leute vielseitiger einsetzbare wirtschaftliche Werkzeuge als die Einheimischen in den Händen von Produzenten, die immer größere Produktivität durch Intensivierung anstrebten. Aber da die Fremdarbeiter nicht wählen konnten, wurde der wirtschaftliche Gewinn der Junker mit dem Verlust des politischen Einflusses erkauft.159 Dieser Verlust schlug sich jedoch noch nicht entsprechend in den Reichstagsmandaten nieder. Da die Regierung sich weigerte, die Wahlkreise neu einzuteilen, um der massiven Landflucht der Bevölkerung und deren Verschiebung von Osten nach Westen Rechnung zu tragen, hatte sie es den Gutsbesitzern ermöglicht, selbst mit (relativ) immer weniger Stimmen noch konservative Abgeordnete ins Parlament zu schicken. 1907 brauchte man noch durchschnittlich 17.000 Stimmen, um einen Konservativen zu wählen, während durchschnittlich 75.800 zur Wahl eines Sozialdemokraten nötig waren.160 In einem Land, wo der Ort und die Partei in derart enger Beziehung standen – und bei der Kontrolle der Junker über ihre Leute nicht von ungefähr –, wurden diese Ungleichmäßigkeiten, wie wir in Kapitel 10 sehen werden, zunehmend zum Gegenstand von Beschwerden, die von Jahr zu Jahr lauter wurden. Obwohl vierzig Jahre Männerwahlrecht den Griff der Aristokratie auf die Hebel der bürokratischen, diplomatischen, militärischen und lokalen Macht nicht gelockert hatten, hatten sie diese doch gezwungen, das parlamentarische Spiel mitzuspielen. Während der Adel noch immer nicht eine Partei wirklich benötigte, um seine Anhängerschaft zu mobilisieren, so hatte er doch eine Repräsentation im Reichstag dringend nötig, um das Schlimmste zu verhindern. In den neunziger Jahren hatte bei den Wahlkämpfen die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit der Elite auf dem Spiel gestanden. Nach der Jahrhundertwende, als der Druck wuchs, die Reichstagswahlkreise neu einzuteilen und das preußische Dreiklassenwahlrecht abzuschaffen, standen die Regeln selbst auf dem Spiel, mit denen die Elite sich an der Macht hielt. An der Spitze einer Pyramide balancierend, deren Grundmauern jetzt aus Nicht-Bürgern bestanden, konnte sich der Land besitzende Junker zu Recht fragen, wie lange dieses Ungleich-

158 Perkins: Worker, S. 24; Hierzu auch Bade: Kulturkampf, S. 121 ff., bes. 139; Christel Heinrich: Lebensweise und Kultur der in- und ausländischen landwirtschaftlichen Saisonarbeiter von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1918, in: Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde, hrsg. v. Hans-Jürgen Rach und Bernhard Weissel, Ostberlin 1982, S. 117 ff., bes. 127 f. 159 Verlust: Bertram: Wahlen, S. 217; und gestützt wird diese These durch einen Vergleich der Stimmen von 1912 und 1907 – zumindest in den Regierungsbezirken Königsberg, Stettin, Bromberg und bes. Frankfurt und Gumbinnen. Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 67, 70, 72. 160 Falter: Wähler, S. 131. Das Reichstags-Wahlrecht – ein Pluralwahlrecht, in: Vorwärts 19 (25. Feb. 1911), BAB-L R101/3360, Bl. 7–9, nennt die 25 größten Wahlkreise, mit mehr als 13 Millionen Einwohnern, während die 25 kleinsten wenig mehr als 1,787 Millionen besaßen. Der am häufigsten zitierte Fall, Schaumburg-Lippe, wo 1912 eine Stimme 25-mal so viel zählte wie eine von Teltow-Charlottenburg, das ein Teil Groß-Berlins war: Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 874. Dieser Fall ist jedoch für das Problem nicht repräsentativ, da die LL genauso in der Lage waren zu gewinnen wie die FK.

Kapitel 6: Brotherren I : Die Junker

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gewicht und die Konservative Partei, auf die er sich verließ, noch überleben konnten. Die ersten Nachkriegswahlen, in denen ausnahmslos jeder den Adel repräsentierende Kandidat in Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Sachsen und selbst Schleswig-Holstein besiegt wurde, gaben die Antwort.161

161 Schumacher: Wahlbewerbungen, S. 363.

Kapitel 7: Brotherren II: Meister und Industrielle

Ich bin Krupp, ich denke für Euch alle, Ich bin Krupp, bin Euer Herr und Gott, Ich bin Krupp, wem’s bei mir nicht gefalle, Gut, adieu, er mach’ sich auf den Trott. Parodie auf Alfred Krupps Ansprachen an seine Arbeiter, 1872 Die Macht, welche die Riesenbetriebe über die von ihnen Beschäftigten erlangen, erstreckt sich sogar über das Arbeitsverhältnis hinaus; sie erstreckt sich auf ihr gesamtes soziales, religiöses und politisches Dasein. Ja selbst die Geschäftsleute, bei welchen die Arbeiter verkehren, können durch sie unter die Botmäßigkeit der Betriebsleiter gelangen. Innerhalb des Reiches entstehen Gebiete, in denen nicht der Wille des Gesetzgebers sondern der der Betriebsinhaber Gesetz ist. Lujo Brentano, 1905 Rechte Hand hoch! Aufruf von Bochumer Vorarbeitern an ihre Bergleute, nachdem sie deren Zentrumsstimmzettel gegen nationalliberale ausgetauscht hatten, 1887

Die Stimme ihres Herrn Georg Wollmann war ein Porzellanmaler in der Firma des Egmont Tielsch, einer Porzellanmanufaktur mit kleinen Betrieben in den ländlichen Gemeinden Neu-Altwasser und Neu-Salzbrunn in Mittelschlesien. Kurz vor der Wahl von 1887 rief der Obermaler Wollmann und eine Handvoll anderer Maler zusam-

Kapitel 7: Brotherren II: Meister und Industrielle

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men, dann führte er sie zum Kontor, wo der Besitzer bereits auf sie wartete.1 Die Unterhaltung sei folgendermaßen verlaufen, berichtete später der junge Wollmann: ›Ihr seid also Sozialdemokraten!‹ Wir bestritten dies, worauf er erklärte: ›Wir möchten nicht erst streiten, wir gehörten ja dem Gesangverein ›Frohsinn‹ in NeuWeißstein an, der sozialdemokratische Zwecke verfolge.‹ Er forderte uns dann auf, heute noch aus dem Verein auszutreten, widrigenfalls wir aus der Arbeit entlassen würden.

Aber Tielsch dachte an mehr als Gesangvereine. Seine Forderung, die Männer sollten dem »Frohsinn« entsagen, war nur ein Vorspiel zu einem sofort wirksamen Ultimatum. Entweder jeder einzelne giebt mir das Versprechen sich bei der Wahl der Abstimmung zu enthalten oder ich entlasse Sie sämtlich sofort aus der Arbeit.

Wollmann und seine Kameraden versuchten, Tielsch mit Ausflüchten und Versicherungen ihrer Loyalität zu beschwichtigen. Aber sie wurden von ihrem Vorarbeiter unterbrochen, der dies Versprechen zu erzwingen versuchte, indem er nacheinander langsam ihre Namen verlas. In der Stille, während ihr Brotherr wartete, brach der Widerstand zusammen, und jeder der Männer gab sein Versprechen, nicht zu wählen. Zufrieden damit, dass er sein Ziel erreicht hatte, wurde Herr Tielsch versöhnlicher. Da diese Wahl so wichtig sei, so sagte er, wolle er gerade dieses Mal allen seinen Einfluss aufbieten. Später könnten sie wählen, wen sie wollten, nur nicht sozialistisch. Tielsch informierte die Untersuchungskommission des Reichstags: Die Genannten waren mir von zuständiger Stelle als solche bezeichnet, die einer sozialdemokratischen Verbindung angehörten. In meiner Fabrik ist durch Anschlag bekannt gegeben worden, daß Sozialdemokraten in der Arbeit bei mir nicht behalten, sondern sofort entlassen werden. Den obengenannten Malern hielt ich die gedachte Beschuldigung vor und versicherten mir diese hoch und theuer, daß sie Sozialdemokraten nicht seien. Ich sprach den Wunsch aus, mir durch Wahlenthaltung am 17. Februar 1887 den Beweis der Richtigkeit ihrer Angaben zu liefern. Sie versprachen dies freiwillig thun zu wollen. 2

1 2

Breslau 10, AnlDR (1889/90, 7/V, Bd. 3) DS 105, S. 418–425, bes. 427 f.; und Beilage 2 (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 215, S. 917 f. Es geschah häufig, dass Arbeitern Versprechen abgenommen wurden – gelegentlich in Wirtshäusern verbunden mit Einladungen zum Trinken: z. B. Arnsberg 5 (Witten), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1081. A. Krupp ließ seine Arbeiter ein Versprechen unterschreiben, nicht SD zu wählen, und erzwang auch bald solche Versprechen gegen den Christlich-Sozialen Verein (Z): Möllers: Strömungen, S. 333 Anm. 3; 336 Anm. 6.

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Teil 2: Kraftfelder

Später, als die Stichwahl anstand, lenkte der Fabrikbesitzer ein. Außerhalb Breslaus spielten die Sozialdemokraten in der Provinz kaum eine Rolle, und sie waren in Tielschs Bezirk nicht einmal angetreten. Es bewarben sich der vor Ort prominente nationalliberale Industrielle Dr. Egmont Websky, der bald einer der wirtschaftlichen Berater Wilhelms II. werden sollte, und Eduard Eberty, der als Freisinniger Sohn eines Fortschrittlichen Vaters bekannt war. Tielsch hatte bereits seine Männer vor Eberty gewarnt und fand, dass er ihnen ruhig die Teilnahme an der Stichwahl erlauben könne. Bei der Stichwahl … habe ich jedem meiner Arbeiter einen Stimmzettel überreichen … und durch meine Obermaler ausdrücklich bescheiden lassen, daß sie an der Theilnahme an der Stichwahl am 1. März 1887 meinerseits nicht behindert würden. Ich selbst war kurz vor der Stichwahl abwesend und habe keinerlei Aufforderung an meine Arbeiter zur Wahlenthaltung ergehen lassen, wie das Vertheilen der Stimmzettel klar beweist.

Seine Stimmzettel hatten allerdings auch deutlich erkennen lassen, wen seine Arbeiter wählen sollten: nämlich den nationalliberalen Industriellen Egmont Websky. Bis dahin hatte sich das Verhalten des liberalen Fabrikbesitzers kaum von dem des selbstherrlichsten Junkers auf dem flachen Lande unterschieden. Es war auch nichts Neues, dass Unternehmer ihre Arbeiter absichtlich während der Mittagspause durcharbeiten ließen, um sie am Wählen zu hindern.3 Tielsch bediente sich der frommen Sprüche, die jeder deutsche Arbeitgeber zumindest als Lippenbekenntnisse ablegte, und die Verantwortung des Arbeitgebers für die politische Bildung der ihm Anvertrauten spielte dabei eine gewichtige Rolle. Diese Verantwortung war naturgemäß aus den Traditionen der Haushaltswirtschaft erwachsen, bei denen der Meister in den Städten genauso wie der Gutsbesitzer auf dem Lande seinen Untergebenen in loco parentis vorstand und deren Verhalten, von der Moral angefangen bis zu den Tischmanieren, beaufsichtigte.4 Bei den progressivsten Unternehmern, wie z. B. Friedrich Harkort im Ruhrgebiet, war die Wahlunterweisung ein wichtiger Bestandteil einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die zur Förderung der Selbsthilfe und der Erwachsenenbildung der Arbeiter eingeführt wurden.5 Wie bereits geschildert, galt auf dem flachen Land allerdings bei Wahlen die Bekanntgabe der vom Arbeitgeber bevorzugten Partei häufig als ausreichende Aufklärung. Egmont Tielsch, der die ihm seiner Meinung nach zustehende Lehnstreue erzwang, aber auch, wie wir noch sehen werden, versuchte, seine Angestellten über ihr eigenes rationales Selbstinteresse aufzuklären, nahm dabei eine mittlere Position ein – ein nicht 3 4 5

Lübeck, AnlDR (1893/94, 9/II, Bd. 2) DS 131, S. 787 ff.; Marienwerder 5, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 1) DS 166, S. 805; Großraum Hamburg: Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 118 Anm. 23. Jürgen Kocka: Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990, S. 144 ff. Z. B. sein Brief an die Arbeiter (1849), sein Wahlkatechismus pro 1852 für das Volk (1852) und sein Arbeiterspiegel (1874). Sheehan: Liberalism, bes. S. 32. Andere Arbeitgeber verfassten ihre eigenen Aufrufe gelegentlich nach Harkorts Vorbild. Paul: Krupp, S. 228.

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untypisches Beispiel für die vielen Arbeitgeber, die sich zur Belehrung berufen fühlten, ohne ihr Weisungsrecht aufzugeben. Kurz vor der Stichwahl schrieb, druckte und hängte Tielsch in seinen beiden Fabriken einen Aufruf mit der Schlagzeile auf: »Wer hören will, der höre!« Er lud darin seine Männer auf, doch einmal genau hinzuschauen, und verglich die Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Kandidaten folgendermaßen: Herr Dr. Websky hält fest an den verfassungsmäßigen Rechten des deutschen Volkes; das thut Herr Eberty auch; Herr Dr. Websky ist ein entschiedener Gegner des Branntwein- und Tabak-Monopols; – das ist Herr Eberty auch …

Der eklatante Unterschied zwischen den Nationalliberalen und den Linksliberalen bestand in der Sozialpolitik: eine Tatsache, die, zu Tielschs Erstaunen, seine Männer zu ignorieren schienen. In den 1880er Jahren, einem Jahrzehnt, in dem sowohl Schutzzölle für Produzenten als auch Versicherungen für Arbeiter die politische Debatte beherrschten, hatten die Linksliberalen beharrlich darauf bestanden, dass der Staat nicht zugunsten einer Seite in den freien Markt eingreifen dürfe. Ihr Vorsitzender, Eugen Richter, war sogar so weit gegangen, zu erklären, dass es für seine Partei keine soziale Frage gebe.6 Bei der Betrachtung der Ablehnung der Linksliberalen jeglicher Art sozialer Gesetzgebung überwältigte Tielsch die Verzweiflung über das Unwissen seiner Arbeitskräfte. »Ist es Euch denn nicht bekannt«, fragte er sie, dass die freisinnige Partei der Unfallund Krankenversicherungsgesetze »ihr starres ›Nein!‹ entgegenstellte?« In der nächsten Legislaturperiode werde auch die Rentenversicherung für Arbeiter zur Abstimmung kommen. Der Nationalliberale Websky werde »ein wohlwollender Berater und Förderer desselben« sein. Der Freisinnige Eberty, betonte er, werde mit Sicherheit die Ablehnung seiner Partei aufrechterhalten. Hatte Herr Thielsch es sich bis dahin leicht gemacht, indem er an den homo oeconomicus appelliert hatte, so scheute er sich jetzt nicht, die heiße Kartoffel des Septennats anzufassen, des auf sieben Jahre angelegten Militärbudgets, das das Hauptthema der Wahlkampagne von 1887 bildete. Sieben-Jahres-Budgets waren nichts Neues – die deutschen Armeen waren seit 1874 auf diese Weise finanziert worden, wenn auch die Verabschiedung jedes einzelnen Septennats von Kontroversen begleitet war. Im Winter 1886/87 machten allerdings zwei Faktoren das Thema hochbrisant. Erstmals wurde der Reichstag von einer dagegen stimmenden Mehrheit beherrscht, der auch Ebertys Freisinnige Partei angehörte, die seit langem dafür bekannt war, jedes Septennat abzulehnen. Außerdem gaben Berichte über den blendend aussehenden französischen Kriegsminister Georges Boulanger, dessen provokative öffentliche Auftritte ihm den Namen General Révanche eingebracht hatten, Anlass zu ernster Sorge.7 Obwohl der 6 7

Wolfgang Pack: Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878–1890, Düsseldorf 1961, S. 24. Pflanze: Bismarck, Bd. 3, S. 228; Hiery: Reichstagswahlen, S. 220, 237.

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Regierung »jeder Mann, jeder Groschen« durch die opponierende Mehrheit bewilligt worden war, hatte sich diese geweigert, die Summe über sieben Jahre hin zu bewilligen. Fonds für länger als zwei volle Legislaturperioden festzulegen ließ ihrer Meinung nach die Haushaltsgewalt des Reichstags zum Gespött werden. Tielsch begegnete diesen Verfassungsbedenken mit Sarkasmus: Herr Eberty ist gegen das Septennat, weil seine Partei die edle Bescheidenheit zum Vorwande nimmt, nicht 7 x 43 Pfennige pro Jahr und Kopf bewilligen zu dürfen, sondern sich nur zur Bewilligung von 3 x 43 Pfennigen pro Jahr und Kopf befugt zu erklären, obschon der Reichstag bereits zwei Septennate (im Jahre 1874 und 1880) vollkommen rechtsgiltig beschlossen hat. 8

Tielsch gab zu, dass »… darum machen die Oppositions-Parteien Euch gruselig mit dem Hinweise auf den Verlust des allgemeinen Stimmrechts, mit dem Hinweis auf die Monopole, trotzdem Fürst Bismarck aller Welt verkündet hat, daß das Lügen sind.« In der offensichtlichen Leichtgläubigkeit seiner Männer bezüglich dieser Vorhersagen las ihr Arbeitgeber einen eklatanten Vertrauensbruch. »Gilt Euch demgegenüber Herr Eberty aus Berlin mit seinem AmmenMärchen von den bedrohten Volksrechten mehr?« Wenn auch Tielschs Bemühungen, Licht in das Dunkel seiner Arbeiter zu bringen, ihnen Rationalität und Unabhängigkeit unterstellten, bewiesen andere Passagen desselben Aufrufs das Festhalten an traditionelleren Vorstellungen. Der Arbeitgeber gab ihnen zu verstehen, dass er sie immer noch überwachte. Die Wahlergebnisse aus ihren Dörfern hätten »den Beweis geliefert«, dass die meisten von ihnen seinen »Mahnungen« gegen den Kandidaten der Freisinnigen bei der ersten Wahlrunde »keine Folge geleistet« hätten. Als modern gesinnter Mensch wusste der Fabrikbesitzer offensichtlich, was die neue Zeit erforderte: Wohl seid Ihr zu solchem Verhalten unbedingt berechtigt, und ich mache Euch wegen Eurer Abstimmung keinen Vorwurf …

Aber Tielsch war in einer Welt aufgewachsen, in der Herren und Untergebene einander mehr schuldeten als eine diskrete Entlohnung für erwiesene Dienste, deren Höhe der Markt bestimmte. Stattdessen waren sie durch einen ständigen gegenseitigen Austausch miteinander verbunden: Beistand gegen Treue – um die überlieferten Begriffe zu verwenden – ohne genaue Definition der Verpflichtungen jeder Seite.9 Sollten seine Leute weiterhin linksliberal wählen, so würden sie diese Verbindungen abbrechen und eine marktorientierte Klarheit in ihr Verhältnis einbringen – wie seine Schlussfolgerung deutlich machte:

8

9

Breslau 10, AnlDR (1889/90, 7/V, Bd. 3) DS 105, S. 418, und AnlDR, Beilage 2 (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 215, S. 917 f.; Hermes SBDR 11. Jan. 1889, S. 382; SBDR 14. Jan. 1890, S. 992–1108. Der Fall wurde landesweit verfolgt: August Roese, Buchdrucker, an Wilhelm II., BAB-L R1501/14693, Bl. 245–256. Otto Brunner: Land and Lordship. Structures of Governance in Medieval Austria (Wien 1939) Philadelphia 1992, S. 214 ff.

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… aber ich werde danach mein Verhalten gegen Euch bemessen, wenn die Verhältnisse sich so ungünstig gestalten sollten, daß aus dem gegenwärtigen Arbeitsmangel eine Fabrikations-Beschränkung nothwendig wird.

Seine Leute sollten sich nicht länger einbilden, er werde ihnen in harten Zeiten beistehen. Sie sollten schon heute wissen, dass er »solche Arbeiter nicht gern beschäftigen« wollte, »welche den hohen Bestrebungen unseres erhabenen Kaisers, die socialen Übelstände durch fortschreitende Besserung der Lage der Arbeiter zu beseitigen, entgegenarbeiten …«.10 Die Modernität hatte offensichtlich auch eine Kehrseite.

−−− Von Arbeitgebern ausgehängte Wahlaufrufe waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gang und gäbe. Egmont Tielschs Verhalten war nur in sofern untypisch, als er, wenn auch oberflächlich und sarkastisch, bereit war, die konkreten politischen Themen des Wahlkampfes anzusprechen.11 In Sachsen, wo die Sozialdemokraten 1884 bereits sechs der 23 Wahlkreise erobert hatten und in elf weiteren zur zweitstärksten Partei geworden waren, war der Glaube der Arbeitgeber an politische Argumente erheblich geringer. Wesentlich verbreiteter hingegen waren plumpe Hinweise auf die Folgen ihrer Stimmabgabe, da Verluste der Regierungsparteien zu wirtschaftlicher Instabilität führen könnten. So hieß es bei Preuß & Co., einer Fabrik im Wahlkreis Leipzig Land: Ein jeder wähle frei nach seiner Überzeugung, erwäge aber die Folgen. Siegt die Regierungspartei, so blüht die Industrie wieder auf, der Friede bleibt erhalten. Siegt die Opposition, so haben wir den Krieg sicher, und unmittelbar nach einem solchen Wahlresultat werden wir die Hälfte der Arbeiter entlassen (müssen) und achtstündige Arbeitzeit einführen. In gleicher Lage befinden sich sämmtliche Fabriken. Darum Arbeiter, bedenkt Euer Wohl.

Die Wahluntersuchungskommission weigerte sich, in dem Aufruf von Preuß & Co. eine Überschreitung der »zulässigen Grenzen der Belehrung« zu sehen. Es sei in der Tat »eine wissentliche Verletzung der Wahrheit … nicht nachweisbar«. Denn »sie prophezeien, und wer prophezeit, kann niemals in Verdacht kommen, gegen die Wahrheit zu verstoßen«.12 10 11

12

In die Zitate von Tielsch habe ich Punkte eingefügt, um sie besser lesbar zu machen. Hierzu der Aufruf des Direktors der schlesischen Aktien-Gesellschaft in Mazura: Entwicklung, S. 93. Heinrich Mann ließ seinen Antihelden, Diederich Heßling, den Besitzer einer Papierfabrik, seine Latrinen mit »erzieherischen Papieren« ausstatten, die mit »staatserhaltenden Maximen« bedruckt waren, um deren Benutzung niemand herumkam. Der Untertan, S. 331 f. Zitiert: P. Singer (SD) und A. Traeger, über Sachsen 13, SBDR 10. Jan. 1889, S. 351 f. (Hervorhebung im Original), S. 370. Ähnliche Beispiele: Müller: Strömungen, S. 242. In Sachsen 9 wetteiferten FK mit dem Direktor des Stahlwerks und versorgten die Zeitungen mit Wahlzusagen, die sie unter Drohungen und mit Versprechen Arbeitern aus dessen Werk abgerungen hatten. AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 328, S. 1788. Allgemein: v. Vollmar (SD) SBDR 13. Feb. 1886, S. 1055.

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Während einige Arbeitgeber versuchten, ihre Arbeiter aufzuklären, und andere, an die wirtschaftliche Vernunft zu appellieren, reagierten wieder andere emotional auf die persönliche Illoyalität, die sie in einer unerwünschten Stimmabgabe zu erkennen glaubten. Eine solche Persönlichkeit war Oberbergwerksrat von Detten, der für die Produktion, den Ertrag und die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung der fiskalischen Bergwerke im Revier Hameln zuständig war. Während des Bergarbeiterstreiks von 1889 waren Ruhe und Ordnung in den Zechen fast überall außerhalb Hamelns gestört gewesen. Von der Ruhr ausgehend, wo 87.000 Kumpel ihre Arbeit niedergelegt hatten, griff der Streik auf die Saar, Oberschlesien und Sachsen über. Für das öffentliche Ansehen der betroffenen Bergbauverwaltungen bedeutete der Streik ein Fiasko. In von Dettens Einflussbereich war es allerdings ruhig geblieben. Sein Sitz war im verschlafenen Hannover, wo Wahlkämpfe immer noch zwischen triumphalistischen Nationalliberalen und eingefleischten Anhängern der Welfenpartei ausgefochten wurden und wo mittelgroße Höfe, Handwerk und kleine Industriebetriebe noch das wirtschaftliche Leben bestimmten. Die Erfahrung des Hamelner Reviers mit dem Radikalismus war auf das beschränkt, was die Bewohner in den Zeitungen lesen konnten.13 Das Wohlverhalten der Bergarbeiter unter von Detten war im September vom Kaiser durch seinen Besuch honoriert worden. Aber die Zufriedenheit des Oberbergwerksrats war nur von kurzer Dauer. Innerhalb von sechs Monaten erschien in Hameln ein Rattenfänger in der Person eines sozialdemokratischen Schuhmachers namens Baerer. Bei den Wahlen vom Februar 1890 verdoppelte er die früheren Ergebnisse seiner Partei und zwang den nationalliberalen Amtsinhaber und ortsansässigen Gutsbesitzer Ferdinand von Reden in eine Stichwahl. Die Wahlurne hatte das erreicht, was die Organisatoren des großen Streiks von 1889 nicht vermocht hatten: Sie hatte den Bergarbeiteraufstand nach Hameln gebracht. Von Detten reagierte wie ein Betrogener. Er ließ verlauten: »Wenn ungerufen unbekannte Volksbeglücker sich an Euch herandrängen, ist es meine Pflicht, nicht zuzusehen und zu schweigen.« Er richte ein »letztes ernstes Wort an alle Bergleute und Invaliden« in den dreizehn Bergwerksgemeinden der Kreise Hameln, Linden und Springe. Seid gewarnt, Bergleute, im letzten Augenblick vor der Stichwahl bedenkt die Folgen, wenn Ihr Entscheidung trefft für von Reden oder für Baerer!! Der Wahn ist kurz, die Reue lang!

»Ein letztes ernstes Wort« spielte uralte Themen in allen Variationen durch. Königtum, Staat, Besitz, Religion, Ehe, Familie, Moral, Kultur, Menschlichkeit, Frieden nah und fern: sie alle fanden Erwähnung. Aber von Detten lagen seine Pflichten als politischer Erzieher wenig am Herzen. Die wirklich schmerzliche 13

Zu Hannover: Franz: Entwicklung; Ehrenfeuchter: Willensbildung; Hans-Georg Aschoff: Welfische Bewegung und politischer Katholizismus, 1866–1918. Die Deutschhannoversche Partei und das Zentrum in der Provinz Hannover während des Kaiserreichs, Düsseldorf 1987.

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Bedeutung der Wahlen lag nicht in einem Angriff auf die ewigen Wahrheiten. »Für uns Bergleute am Deister bedeutet der Stimmzettel Baerer noch unendlich mehr; er bedeutet für mich und Euch das Ende des Friedens der in guten und in schlechten Tagen zwischen uns bestanden, er bedeutet den Beginn des Kampfes.« Der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag – Beistand gegen Treue, war gebrochen. Jeder für Baerer von Bergleuten abgegebene Stimmzettel zerreißt das Band des zwischen uns bestehenden Vertrauens, lähmt die für das Wohl der Bergleute stets sorgende Hand, erkaltet das Herz, das für alle Bergleute, Invaliden und Wittwen so warm in jeder Noth geschlagen, er vernichtet die Ruhe, Ordnung, Einigkeit und Kameradschaft unserer Belegschaft …

Besonders verärgerte von Detten die Erkenntnis, die aus den Wahlergebnissen folgte, dass er offensichtlich seine eigenen Männer nicht kannte. Er wandte sich jetzt an »jene … Heuchler, welche im September v. J. unserem Kaiser huldigen und heute dem geschworenen Feinde des Kaisers Gefolgschaft leisten konnten, … welche heute mir offen versichern, keine Sozialdemokraten zu sein und geheim morgen für Baerer eintreten.« Die Wortwahl des Aushangs schwankte wild zwischen der kumpelhaften ersten Person Plural (»Für uns Bergleute am Deister«) und einer wütenden, autokratischen zweiten Person Plural in der Duzform (»Ihr Bergleute«) – in anderen Worten: zwischen einem Appell an die Solidarität und einer Bekräftigung der Autorität. In einer Arbeitswelt, die peinlich genau auf die Bedeutung der Anrede achtete, verriet dies die Schwierigkeit des Vorgesetzten, sich zu entscheiden, ob die Stimmen für Baerer einen Verrat an der Gemeinschaft oder eine Bedrohung der Hierarchie darstellten.14 Von Detten betete zum Allmächtigen: »Gäbe Gott, daß Strafe und Reue uns erspart … bleibt«. Aber während er Zuversicht bezüglich des Ausgangs der Stichwahl äußerte (»… so sehr die letzte Wahl mir zu denken gab«), machte er allerdings klar, dass er den geworfenen Fehdehandschuh nicht ignorieren werde. »Sollte Baerer in unseren Bergmannsdörfern als der Sieger aus der Urne hervorgehen«, so kündigte er an, »mein Beschluß ist gefaßt, den die Pflicht nur gebietet! Nicht feige verlasse ich den Platz auf den ich berufen!« Seid gewarnt im letzten Augenblick, ihr Bergleute, Euere Arbeit, Euer Lohn, Ihr Invaliden, Euere Unterstützungskassen stehen auf dem Spiele, wenn die Sozialdemokratie ihren Einzug hält durch Eure Unterstützung.

Die Stimmenanzahl für den Schuhmacher in diesen Dörfern sank in der Stichwahl um 32. Aber für jeden Bergmann, der sich durch das »letzte ernste Wort« 14

Die Arbeiter waren sich der Wahl der Personalpronomen äußerst bewusst: Kelly (Hrsg.) Worker, S. 55. Ihre Bedeutung für die Standesbeziehungen war allgemein bekannt: M. Weber: Verhältnisse, S. 633, und bestand bereits 1848: Moore: Injustice, S. 160, 267.

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seines Brotherrn einschüchtern ließ, reagierten vermutlich zehn andere aufgebracht. Die Wahl ging sehr knapp aus. Der Reichstag ignorierte Hinweise darauf, dass in dem gesamten Bezirk Arbeitern in Fabriken, Ziegeleien und Glashütten mit Entlassung gedroht worden war, falls ein Sozialdemokrat gewann. Aber weil zahllose kleine Fälschungen und technische Verstöße entdeckt wurden und weil von Detten ein königlicher und kein privater Bergbaubeamter war, wurde der liberale Sieg in Hameln-Linden-Land-Springe für ungültig erklärt.15

Die Allgegenwart des Drucks der Arbeitgeber Wie diese Beispiele zeigen, bildete die Hierarchie auch noch zwei Jahrzehnte nach der Einführung des demokratischen Wahlrechts die Grundlage des Arbeitslebens. Diese beschränkte sich weder auf die Landwirtschaft oder den rückständigen Osten noch auf eine bestimmte Industrie oder einen Landstrich. Papier und Glas, Kohle und Eisen, Werkbank und Fließband: sie alle wurden von denselben Vorstellungen regiert – am Arbeitsplatz und bei den Wahlurnen. Rücksicht auf die Hierarchie diktierte das Handeln der liberalen Geschäftsleute – wie zum Beispiel Tielsch mit seinen schmallippigen, wenn auch »modernen« Appellen an das rationale Selbstinteresse der Wähler, und von Adligen wie von Detten, mit seinem Versuch, eine gemeinsame Identität (»Für uns Bergleute«) mit sozialer Kontrolle (zweite Person Plural, informell: »Seid gewarnt, Ihr Bergleute«) zu verbinden. Die chemische Industrie gehörte zu den modernsten in Deutschland. Dennoch verstieß die Badische Anilin- und Soda-Fabrik in Ludwigshafen, ein Riese unter den Arbeitgebern, dessen Management mit der örtlichen Führung der Liberalen Partei übereinstimmte, ständig gegen die Regeln der freien Wahlen. Ihre Vorarbeiter wurden beauftragt, die Fabrikarbeiter zu informieren, dass derjenige mit sofortiger Entlassung rechnen müsse, der anstelle des alteingesessenen Amtsinhabers, des Liberalen Dr. Ludwig Groß, das Zentrum oder sozialdemokratisch wählte. Der folgende Reim machte unter den 1.600 Arbeitern des Werks die Runde: Wer nicht wählt Dr. Groß, Der ist morgen arbeitslos!

Nach der Wahl machte die Firma ihre Drohung wahr.16 Die den industriellen Arbeitgebern zur Verfügung stehenden Strategien waren kaum weniger vielfältig als die ihrer jeweiligen Kollegen in der Landwirt-

15

16

»Ein letztes ernstes Wort an alle Bergleute und Invaliden«, gemeinsam mit Beispielen aus anderen Industriezweigen in: Hannover 9, AnlDR (1890/91, 8/I, Bd. 1) DS 95, S. 641 f.; ebenso Auer (SD) SBDR 3. Dez. 1890, S. 762 f. Die SPD druckte den Bericht in voller Länge ab: Thätigkeit, S. 156 f. Hervorhebungen im Original. Pfalz 1, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 116, S. 426 f. Das Gleiche passierte 1884, als die Firma 2.500 Arbeiter beschäftigte: Frohme SBDR 1. April 1886, S. 1818.

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schaft: das Erzwingen mündlicher oder schriftlicher Versprechen, Entlassungsdrohungen, Räumungsbefehle und Zwangsvollstreckungen.17 Wahlbeschwerden geben ihrer Natur nach wenig Anzeichen, dass auch Gefälligkeiten beim Erzwingen von Wahlversprechen im Spiel waren, aber es muss 1871 üblich genug gewesen sein, dass die Nationalliberalen, die in Mittelschlesien mit den Konservativen wetteiferten, sich zu Warnungen wie dieser herausgefordert sahen: Ob die Wahlen wichtig sind? Gewiß! Gebt mal Acht! Wenige Tage vor dem Wahltage wird Euer Gutsherr oder Arbeitgeber, Euer Vorgesetzter im Amte, Euer Brotherr oder Wohlthäter Eure Nähe suchen, seid Ihr in einem öffentlichen Lokale, möglichst unbemerkt Euch bei Seite winken, oder, seid Ihr bei ihm auf der Stube, wird er Euch Äußerst freundlich zu sich auf den Stuhl nötigen – früher ließ er Euch wohl gar an der Thür stehen – und wird Euch einen weißen Zettel, bedruckt oder beschrieben mit einem Namen, geben und sagen: na, mein lieber Müller oder Schulze, ich hoffe und erwarte, Sie werden – sonst spricht er: Ihr werdet – wohl diesen Zettel am Wahltage in die Wahlurne legen. Und lest Ihr den Zettel, so steht entweder der Name Eures Land- oder irgend eines anderen Raths darauf oder der vom Herrn Pfarrer oder der von irgend einer anderen unbekannten, oft sehr hohen, oft sehr unbedeutenden Person. (Der örtliche Landrat nannte diese Wahlwarnung der Liberalen eine »Aufreizung gegen … die Obrigkeit«.)18

Die meisten der ausschnittweise dokumentierten Unterhaltungen zeigen allerdings ein distanziertes Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, das am Wahltage nicht einmal im kleinsten Betrieb überwunden wurde. Hier eine freundliche Unterhaltung, die 1881 in einer Gießerei bei Ulm stattfand: Hüttenverwalter Pfeiffer: »Also, morgen ist die Wahl.« Werkszimmermann Bulling: »So, so.« Hüttenverwalter Pfeiffer: »Nicht so, so, sondern Ihr werdet den Regierungsrat Riekert wählen, sonst könnt Ihr Euch in Heidenheim nach Arbeit umsehen.« 19

In Nordschleswig finden wir eine ähnliche Situation, bei der ebenfalls Freundlichkeit sehr schnell in autoritäres Gebaren umschlägt. Als Jürgen Jehsen in die Mittagspause ging, wurde er von seinem Chef, H. C. Petersen, eingeladen, ihn auf dem Weg zur Wahlurne zu begleiten. Jehsen machte Ausflüchte: »Ich habe meinen Stimmzettel nicht bei mir.« Auf dem Nachhauseweg besorgte er sich 17

18 19

Räumungsbefehle: Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 181, S. 898, 904; Sachsen 13 (Leipzig Land), AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 212, S. 905 f.; Breslau 3, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1433, S. 2939. Aufruf von Striegau zitiert in SBDR 17. April 1871, S. 244. Württemberg 14, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 113, S. 423. Aus den vielen Fällen von Einschüchterung in kleinen Handwerksbetrieben: Protest im Fall Potsdam 9 durch Hermann Werneck u. a., 10. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 64–68.

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jedoch einen sozialdemokratischen Stimmzettel und ging zum Wahllokal. Dort wartete Petersen auf ihn, ergriff seinen Stimmzettel, las ihn und rief: »Also Du bist von der Sorte.« »Um seinen Herrn nicht mehr zu erzürnen und möglicherweise sein Brod zu verlieren«, so berichtete Jehsen, ging er, ohne zu wählen in der Hoffnung, am Abend zurückkommen zu können. Aber Petersen deckte am Nachmittag Jehsen derart mit Arbeit ein, dass er nicht wegkommen konnte. Dennoch wurde er am Ende der Woche entlassen.20 Obwohl die normale Taktik der Arbeitgeber so aussah, dass sie Abweichler einzeln entließen, um ein Exempel zu statuieren wurden auch immer wieder Massenentlassungen wegen abweichenden Wählens bekannt. Beschwerden beim Reichstag, dass Arbeiter mit ihrem Lebensunterhalt für die Ausübung ihrer bürgerlichen Rechte bezahlen mussten, gab es ständig: in jedem Jahrzehnt, aus allen Berufen, Regionen und Parteien (wenn auch die meisten Proteste von Sozialdemokraten, dem Zentrum, von Polen und Linksliberalen kamen). Einige Bezirke waren dafür bekannt, dass »so und so viel Hunderte von Menschen nach jedem Wahlgeschäft … brotlos werden«. So beispielsweise in Thorn, einer mittelgroßen Stadt in Westpreußen, wo es Anhängern der Polenpartei entsprechend erging. Im neunten Wahlkreis der Provinz Hannover, dem späteren Einflussbereich des Oberbergwerksdirektors von Detten, beschwerten sich bereits 1874 Fabrikarbeiter darüber, dass sie wegen ihrer Stimmabgabe entlassen worden waren.21 In Ober- und Mittelschlesien beschränkte sich der schlechte Ruf nicht allein auf ländliche Gebiete. 1876 forderte die konservative Schlesische Zeitung jeden heraus, den Namen eines schlesischen Arbeiters zu nennen, der für seine Stimmabgabe bestraft worden war. Im Laufe der nächsten zwei Monate veröffentlichte die zentrumsnahe Schlesische Volkszeitung 100 Namen von Wählern (mit Adressen), die diszipliniert oder entlassen worden waren. Dies geschah als bewusster Versuch, eine Verleumdungsklage zu provozieren, die es der Zeitung erlauben würde, den Verstoß gegen das Wahlrecht der Arbeiter vor einem Gericht zu beweisen.22 Aber Beschwerden über Entlassungen und Entlassungsdrohungen sowie Zwangsräumungen beschränkten sich nicht auf besonders übel beleumdete Gegenden. Sie kamen aus jedem Winkel des Reichs. Dank der Kooperation der Wahlvorstände mit den Arbeitgebern war eine größere Entfernung zwischen Arbeit und Wohnort (und daher auch Wahlort) nicht notwendigerweise ein Schutz – wie der Fabrikarbeiter August Eggers erfahren musste. Seine Fabrik lag in der preußischen Provinz Hannover, während 20

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Protest des Arbeiter-Wahlkomitees Flensburg, 10. März 1887, BAB-L R1505/14664, Bl. 1–8; Schmidt SBDR 21. April 1887, S. 415. Hierzu Zimmermann Anton Heilwerk u. a., zu Potsdam 9, 10. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 64–68. Hannover 9, AnlDR (1874, 2/I, Bd. 3) DS 118, S. 397 ff.; SBDR 10. April 1874, S. 706 ff.; v. Koscielski zu Thorn (Marienwerder 4) SBDR 7. März 1888, S. 1359. Charakteristisch: »wir polnischen Leute« wurden vom Gutsbesitzer angebrüllt: »Wartet, ihr esset deutsches Brot und wollt mir nicht folgen. Wartet! …« Pieter Dabkowski (?) an den Reichstag, 3. März 1887, BAB-L R1501/14665, Bl. 90. Hatscheks Liste von zwanzig Wahlbeeinflussungen durch Arbeitgeber berührt nur die Oberfläche. Kommentar, S. 207. Zu Massenentlassungen von Zentrumswählern: Windthorst SBDR 15. Jan. 1890, S. 1022; Gröber SBDR 21. Apr. 1903, S. 8925; BAB-L R1501/14456, Bl. 134. Mazura: Entwicklung, S. 100; hierzu auch S. 97.

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er einige Kilometer entfernt im Herzogtum Braunschweig wohnte und wählte. Eggers hätte eigentlich hoffen können, dass die Grenze zwischen den zwei Ländern eine Abschirmung gegen die Forderungen seines Arbeitgebers biete. Aber er hatte bereits durch Protest auf sich aufmerksam gemacht, als der Wahlvorsteher seinen Stimmzettel entfaltet hatte, um zu sehen, wen er gewählt hatte. Als ihm ein paar Tage später sein Vorarbeiter den Laufpass gab, verlangte Eggers, der seine Rechte kannte, seinen Arbeitgeber zu sprechen. Direktor Heise gewährte ihm einen Termin, und als der Arbeiter nach dem Grund für seine Entlassung fragte, suchte dieser keinerlei Ausflüchte. »Er wolle ihm das ganz offen sagen, es geschehe das, weil er Baumgarten (Wilhelm, dem freisinnigen Amtsinhaber) bei der Reichstagswahl seine Stimme gegeben. Auf die Entgegnung von Eggers, daß der Direktor das unmöglich wissen könne, da die Wahl doch eine geheime sei, hat letzterer ihm erwidert, er wisse das ganz genau und halte seine Kündigung aufrecht. Er könne solche Leute, die nicht so wählten, wie er wolle, nicht gebrauchen.«23 Eggers war nicht der erste oder letzte Arbeiter, der seine Arbeit verlor, weil ein Wahlvorsteher Informationen an Arbeitgeber weitergab.24 Die Entlassungen scheinen in einigen Fällen politische Auswirkungen gehabt zu haben. 1881 führte der Landrat von Mülheim im Rheinland den Rückgang der sozialdemokratischen Stimmen in seinem Landkreis auf die »Umsicht, Strenge, und Energie der Fabrikanten« zurück. Die Energie mag an manchen Orten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts abgenommen haben, aber nicht die Strenge. 1901 konnten achtzehn Dienstjahre in der Hohenlohegrube einen schlesischen Arbeiter nicht vor der Entlassung schützen, der verdächtigt wurde, Wahlwerbung für das Zentrum betrieben zu haben. Die Besitzer sahen es so: Achtzehn Jahre Anstellung verdienten etwas Loyalität!25

−−− Wie die Forderungen nach Unterordnung und Beachtung der Hierarchie sich nicht auf bestimmte Wirtschaftszweige beschränkten, so waren sie auch nicht allein auf die untersten Gesellschaftsschichten begrenzt. Mit dem Argument, seine Pflicht, sich politischer Agitation zu enthalten, werde aufgehoben durch seine Pflicht, die Wahrheit zu verkünden, schickte der Oberkonsistorialrat und Generalsuperintendent der evangelischen Kirche in Sachsen-Coburg seinen Amtsbrüdern einen Brief, den er sie bat »als vertraulich anfassen zu wollen«. Darin regte er an, für den nationalliberalen Kandidaten zu stimmen. Die Intervention wurde nicht als klerikale Einflussnahme aufgenommen, da religiöse Argumente nicht erwähnt wurden, sondern als klassischer Versuch (»optima forma«) eines 23 24

25

Protest des Wahlkomitees der Freisinnigen von Gandersheim (Braunschweig 3),12. März 1887, BAB-L R1501/14657, Bl. 4. Der NL Gewinner: Kulemann: Erinnerungen, S. 38 f., 149. Sachsen 14 (Borna), AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 117, S. 568, 573; Ähnliche Zusammenarbeit: Marienwerder 3, AnlDR (1898/1900, 10/I, Bd. 4) DS 507, S. 2663; oder indirekte Zusammenarbeit: Breslau 10, AnlDR (1889/90, 7/V, Bd. 3) DS 105, S. 425; Hermes SBDR 11. Jan. 1889, S. 382. Larry Schofer: The Formation of a Modern Labor Force. Upper Silesia, 1865–1914, Berkeley und Los Angeles 1975, S. 95. Ähnlich 1873 in Thorn: Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 174. Zitat: K. Müller: Strömungen, S. 427 Anm. 106.

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Vorgesetzten, seine Untergebenen unter Druck zu setzen. Einer dieser Geistlichen fühlte sich genügend verletzt, um die Sache an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Kreis-Schulinspektor Gregorovius aus Waldenburg war vorsichtig genug, das Wort »Privatim« seinem Rundschreiben anzuheften, in dem er seinen 171 Lehrern sagte, wen sie zu wählen hätten. Nach Meinung seiner Anhänger bedeutete dies, dass ihm kein amtlicher Einfluss vorgeworfen werden könne. Aber die Linke lieferte mit Sicherheit die richtige Übersetzung: »›privatim‹… das heiße auf deutsch nichts anderes als: Thut, was ich will, und haltet den Mund darüber!«26 Es war fester Bestandteil des Glaubensbekenntnisses der Konservativen, dass in den großen Städten die Linksliberalen (Fortschrittliche und später Freisinnige) ihr Wahlverhalten auf die Personen in ihrem Umkreis übertrugen – entweder in ihrer Eigenschaft als Vorgesetzte von Handels- oder Finanzfirmen oder als Beauftragte städtischer Verwaltungen. Ein Maler aus Breslau erfuhr, dass sein Kredit von jüdischen Liberalen gekündigt worden war, die ein Drittel der Bevölkerung und die Hälfte des Stadtrats stellten, weil jene glaubten – vermutlich zu Recht –, dass der Verein zum Schutz des Handwerks, den er leitete, wahrscheinlich antisemitisch war.27 Noch 1909 behaupteten Konservative: »… ein Bankbeamter, der eine abweichende politische Ansicht praktisch betätigt, kann auf einen energischen ›Wischer‹ von seiten des Bankvorstands rechnen.« Die Erkenntnis, dass nur eine rigorose Erzwingung der geheimen Wahl ihnen erlauben würde, viele kleine Angestellte, Handwerker und Ladenbesitzer zu rekrutieren, brachte die antisemitischen Parteien dazu, Wahlumschläge zu fordern und die geheime Wahl bei den preußischen Landtagswahlen zu unterstützen. Gelegentlich stimmten sogar Konservative zu.28 Angestellte erhielten selten ausdrückliche Entlassungsdrohungen, aber auch sie bewegten sich in einem Umfeld, das von der Spitze aus nach unten darauf Wert legte, dass sie einen starken Sinn für das an den Tag legten, was die Loyalität zu ihrem Arbeitgeber gebot. So machte Wilhelm von Oechelhäuser, Generaldirektor der Deutschen Kontinentalgasgesellschaft in Dessau, sich die Mühe, seinen Vorstand um Erlaubnis zu fragen, als er für die Nationalliberalen im zweiten Anhalter Wahlkreis kandidieren wollte. Von 1881 an erneuerte er seine Bitte vor jeder seiner Kampagnen zur Wiederwahl, 1884, 1887 und 1890 – was seiner Gesellschaft die Gelegenheit gab, alle Veränderungen in seiner politischen Position und der seiner Partei genau zu beobachten. Eine Weigerung, aktiv für einen Kandidaten seines Arbeitgebers Wahlkampf zu betreiben – oder gegen einen Kandidaten, der ihm missfiel –, konnte selbst für einen höheren Angestellten unangenehme Folgen haben. Dies musste Bergwerksinspektor Adams von den 26 27

28

Zitate in Reihenfolge: Singer SBDR 11. Feb. 1888, S. 855; Breslau 10, AnlDR (1889/90, 7/V, Bd. 3) DS 105, S. 419; Wacker: Die Rechte, Meyer, zitiert auf S. 43; siehe auch S. 36 ff., 49. Theodor Rüdiger schrieb aus der Provinz Posen an (den Antisemiten) Baron Fr. Carl v. Fechenbach, 23. März 1882. BAK Nachlass Carl v. Fechenbach. Zu Elberfeld-Barmen: unsigniert, undatiert, wahrscheinlich vom OP zusammengestellt: Wahlaussichten für die Rhein-Provinz, GStA PK I. HA, Rep. 89/210, Bl. 230v; Behr-Behrenhoff SBDR 10. Dez. 1885, S. 261. Below: Wahlrecht, S. 154; antisemitische Plattformen: Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 406, 412, 416.

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Stumm-Werken in Saarbrücken 1901 erfahren, als ein Telegramm ihn über seine Strafversetzung informierte.29 Mittlere und einfache Angestellte erwiesen sich als sehr verletzlich angesichts der zahlreichen Entlassungen während des Kulturkampfs und auf dem Höhepunkt der antisozialistischen Hysterie.30 Die politische Unterwürfigkeit von Angestellten aus der Mittelklasse war eine beliebte Zielscheibe für den Stachel der Satiremagazine von den Fliegenden Blättern bis zum Simplicissimus. Abb. 7 das gute Herz Die Karikatur deutet an, dass eine Einschüchterung kaum notwendig war, um die kleineren Angestellten auf Kurs zu bringen – ein Wort von der richtigen Person zur richtigen Zeit, und die natürliche Unterwürfigkeit besaß wieder die Oberhand. Nur Ärzte und Rechtsanwälte, deren Kunden nicht ihre Vorgesetzten waren, scheinen es nicht nötig gehabt zu haben, loyal zu wählen. Nicht umsonst werden diese Berufe in Deutschland die »freien Berufe« genannt.

−−− In drei Wirtschaftszweigen – Forstwirtschaft, Eisenbahnen und Schwerindustrie (Kohle, Eisen und Stahl) – war der Druck auf die Wähler besonders ausgeprägt. Hier war die Belegschaft des Arbeitgebers ungewöhnlich groß. Alle drei besaßen starke traditionelle Bindungen an den Staat – und bei der Bahn wurden diese Bindungen immer stärker.31 Selbst in jenen Bergwerken und Wäldern, die jetzt in Privatbesitz waren, hatten die Verwalter ihre Karriere häufig in staatlichen Betrieben begonnen. Bei allen drei Wirtschaftszweigen wurden die üblichen Forderungen der Hierarchie durch ein Ethos verstärkt, das Loyalität dem Arbeitgeber gegenüber mit Patriotismus gleichsetzte. Den Beschäftigten wurde es durch die Aufseher der mittleren Verwaltungsebene eingebläut. Den Beweis dieser Treue erbrachte man durch die richtige Stimmabgabe. In der Forstwirtschaft hielt man sich nicht lange mit der Einhaltung der Vorschriften auf. Die Förster riefen die Waldarbeiter zusammen, gaben ihnen Stimmzettel und führten sie gruppenweise zu den Urnen. Die gemeinsame Identität der Waldarbeiter mag zwar das Gesamtbild ihrer Wahlentscheidungen als »affirmativ« erscheinen lassen, wie Stanley Suval es ausdrückte – im Gegensatz zu »erzwungen«. Die Tatsache aber, dass einige Förster ihre Männer den Weg zur Urne mit über dem Kopf erhobenen Stimmzetteln gehen ließen, deutet 29 30

31

BAB-L R1501/14456, Bl. 125; Gröber SBDR 21. April 1903, S. 8909; Jaeger: Unternehmer, S. 101 Anm. 344. Katholische Beamte zur Zeit des Kulturkampfes: Anderson u. Barkin: Mythos; katholische Postboten: Sperber: Catholicism, S. 243 f.; andere Postbeamte: Singer SBDR 29. April 1907, S. 1211; Regierungsangestellte mit SD Neigungen: Möllers: Strömungen, S. 332; Dorfbürgermeister (W-Anhänger): Hannover 17, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 242, S. 928; andere örtliche Beamte: Horn-Bericht, 24. Feb. 1907, LHAK 403/8806, Bl. 7v; Drohungen an Seminardirektor Turowsky in Ragnit (Gumbinnen 2), Zwei Fragen an die königliche Staatsregierung, NL Korrespondenz 49/1 (13. Jan. 1912), BAB-L R1501/14460, Bl. 140. 1879 waren mehr als ein Viertel der 17.600 km preußischer Gleise in staatlicher Hand. Bis 1888 hatte sich das preußische Schienennetz auf 23.700 km vergrößert, von denen jetzt 95 Prozent dem Staat gehörten. Spencer: Management, S. 26, 31 f.; Bellot: Hundert Jahre, bes. S. 217 f.; Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 1064 f.

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darauf hin, dass die Vorgesetzten kein Risiko eingehen wollten. Entlassungen wegen »falscher« Stimmabgabe waren jedenfalls häufig genug, um zu beweisen, dass eine Corporate Identity, falls es sie überhaupt gab, bei Weitem nicht überall zu finden war.32 Als der konservative Kandidat Julius von Mirbach Bismarck 1881 eine dringende Warnung schickte, dass die Förster in Preußen ihrer Pflicht nicht nachkämen, »machte« Innenminister Robert von Puttkamer dem Landwirtschaftsminister »Feuer«, um die Situation umzukehren. Mirbachs Bericht war jedoch, wie man sich denken kann, ein falscher Alarm gewesen. Oberlandforstmeister Ulrici antwortete auf die Beschwerde, indem er dem Minister versicherte, dass seine Förster und Oberförster bereits dabei seien, konservative Stimmzettel zu verteilen, und dass er für die Stimme eines jeden ihm unterstellten Forstbeamten garantieren könne.33 Die Eisenbahnen waren, wie bei den Wahlen in den Vereinigten Staaten, klassische Orte der Einschüchterung des Arbeitgebers. Das Zentrum und die Fortschrittlichen hatten die Verstaatlichung der deutschen Eisenbahnen genau aus diesem Grunde abgelehnt: weil sie eine ungeheuere Wahlmacht in den Händen eines einzigen Arbeitgebers konzentrieren würde – der Regierung. 1888 beschäftigte der preußische Staat bereits 86.714 Bahnbeamte und 157.997 Arbeiter – insgesamt also fast eine Viertelmillion Menschen. Die Leitung der Bahn unterwarf ihre Beschäftigten einer peinlich genauen politischen Überwachung, auch außerhalb der Wahljahre.34 Nicht nur war die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften, wie für alle Angestellten des öffentlichen Dienstes, verboten. Selbst von der Kirche oder von den Arbeiterorganisationen organisierte Feste waren für das Bahnpersonal tabu. Die Beamten kooperierten mit Arbeitgeberverbänden, indem sie auch von ihren eigenen Beschäftigten verlangten, dass sie auf Verlangen »Arbeiter-Nachweise« vorzeigten, die die Beschäftigung jedes einzelnen Mannes im Detail belegten. Dieses System erleichterte die politische Überwachung, da Gruppen von Arbeitgebern übereinkamen, niemanden anzustellen, der früher einmal entlassen worden war oder gekündigt hatte.35 Selbst der 32

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35

Einschüchterung, Geheimnisbruch, Entlassungen und ökonomisch wirksame Strafen gegen Waldarbeiter: Weber W. Stephan u. a. an den Reichstag zu Breslau 11, 10. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 69–76; Hannover 9, AnlDR (1874, 2/I, Bd. 3) DS 118, S. 399; Gumbinnen 6, AnlDR (1875, 2/III, Bd. 4) DS 82, S. 838 f.; Kassel 8, AnlDR (1877, 3/I; Bd. 3) DS 68, S. 269; Hannover 13 und Württemberg 14 (Ulm), beide AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 121, S. 429 und DS 113, S. 421 ff.; Breslau 11, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 104, S. 353 ff.; Potsdam 6, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 248, S. 1105; Sachsen 20, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 247, S. 1102; Hannover 2, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 148, S. 534 ff.; Anhalt 1, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 135, S. 511; Kröber (VP), zu Bayern, SBDR 29. Nov. 1888, S. 65; Saul: Kampf, S. 185. Zweideutig: Königsberg 8, AnlDR (1879, 4/II, Bd. 6) DS 276, S. 1631 ff.; Kassel 5, AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 20) DS 705, S. 4494; BAB-L R1501/14450, Bl. 195–202v; Überwachung: (anonymer) Protest gegen die Wahl von 1890 in Kassel 8, BAB-L R1501/14468, Bl. 233. Moritz Bromme betont ausdrücklich den Traditionalismus seines Schwiegervaters, der Holzfäller war, zeigt aber auch, dass dieser es als akzeptabel ansah, SD zu wählen, wenn man ungestraft davonkam. Lebensgeschichte (1905), auszugsweise in: Kelly (Hrsg.) Worker, S. 231 ff., bes. 235. Puttkamer an Bismarck, Ulricis Antwort: zitiert in: Wie Bismarck 1/5, S. 13. Ähnliche Bemühungen des RP von Gumbinnen: ebd., S. 14. Königliches Preussiches Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Archiv für Eisenbahnwesen 13 (Berlin. 1890), 438; Müller, Strömungen, 132; Blackbourn, Marpingen, 80f und 126. Vgl. Jensen, Winning, 53; Ethington, City, 205, 235f. Beispiele: Altona: Stegmann: Erben, S. 48; Naumann: Konservative Industriejunker, S. 6 f.; Hannover

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Abb. 10: Das gute Herz W. Schulz: »Das gute Herz«, Simplicissimus XVI/40 (1. Jan. 1912), S. 703.

1. »So, jetzt wähl’ ich einen Sozialdemokraten! Und wenn alles in Fetzen geht!«

2. »Nix, nix, ich wähl’ sozialdemokratisch!«

3. »Kinder, Kinder, der Vater wählt an Sozi!!«

4. »Ach, guten Tag, mein lieber Herr Sekretär, auch zur Wahl?« – »Jawohl, Herr Regierungsrat.«

5. »Na, wir beide wissen, was wir dem Staate schuldig sind, mein lieber Herr Sekretär!« – »Jawohl, Herr Regierungsrat.«

6. »Nein, es wär’ doch zu gemein! Ich wähl’ wieder meinen Nationalliberalen!«*

* Der Wahltag, Simplicissimus III (1898/99), S. 91, zeigt einen kleinen Mann, der auf dem Weg zur Wahl zuerst einen Konservativen trifft und ihm zustimmt. Das Gleiche geschieht ihm mit einem Liberalen, einem Pastor, dann Arbeitern – schließlich betrinkt er sich und wählt überhaupt nicht. Die Fliegenden Blätter bringen eine Bildergeschichte mit ähnlichem Thema. Hierzu Fontanes unsterblicher Hagelversicherungssekretär Herr Schickedanz von der Hagelversicherungsgesellschaft Pluvius: Stechlin, S. 104. Die Essener Blätter beklagten sich vor der preußischen Landtagswahl von 1873 über die Beamten, von denen wahrscheinlich die meisten das schöne Lied sängen: »Des Brot ich eß, des Lied ich sing.« Möllers: Strömungen, S. 221. Zur Politik der Beamten: Rickert SBDR 15. Jan. 1890, S. 1015.

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Betreiber einer Bahnhofsgaststätte musste damit rechnen, seine Konzession zu verlieren, wenn er Zeitungen der Fortschrittlichen auslegte.36 Bei Wahlen konnten jene Parteien, die die Gunst der Regierung genossen, immer auf die Hilfe diensteifriger Bahnbeamter zählen, ob es nun galt, Wahlaufrufe in Arbeitsräumen auszuhängen oder einen Kalfaktor zu finden, der die Arbeiterkolonnen zu den Wahlurnen begleiten sollte.37 Bahnarbeiter, die aus dem einen oder anderen Grunde nicht wahlberechtigt waren, kehrten immer wieder zum Wahllokal zurück und beharrten darauf, sie müssten die Stimmzettel einwerfen, die ihre Vorgesetzten ihnen gegeben hätten. Mit Einpeitschern wie diesen und einem Personalbestand von fast 350.000 um 1890 und 700.000 um 1910 konnte es kaum überraschen, dass die Wahlbeteiligungen im Kaiserreich so hoch waren.38 In den Rangierbahnhöfen von Hannover, Schlesien, Sachsen und selbst Bayern war die Wahlstimme eines Arbeiters weniger eine Angelegenheit der persönlichen Selbstbestimmung oder der Parteitreue als eine Steuer auf seine Anstellung.39

Im Reich der Schlotbarone Die Schwerindustrie verfügte über die höchste Konzentration an Arbeitern – und Wählern – in Deutschland. Und da der Besitz oft mehrere Sparten umfasste (nicht alle Bergwerksgesellschaften besaßen Eisen- und Stahlwerke, aber die meisten Eisen- und Stahlfirmen besaßen auch Minen), erstreckte sich die Kontrolle der Industriebarone über Beschäftigungsverhältnisse weit über diejenigen in einer einzelnen Branche hinaus. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurde ein Fünftel der gesamten Kohleproduktion an der Ruhr von Stahlfirmen kontrolliert wie den Phoenix-Stahlwerken, der Gutehoffnungshütte und Krupp (den fünft-, acht- und elftgrößten Kohleproduzenten). Zur Schwerindustrie gehörten 61

36 37

38 39

17, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 138, S. 390 ff.; Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 320, S. 1769; Saldern: Wege, S. 68. Einflussnahme von Bahnbeamten wurde auch 1893 in Württemberg 1 (Stuttgart) vorgeworfen: MAA, Stuttgart, 21. August 1894, BAB-L R1501/15691, Bl. 8; in Danzig 3, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 5) DS 80, S. 348; Marienwerder 3, AnlDR (1898/1900, 10/I, Bd. 4) DS 507, S. 2662. Offizielle Untersuchung der Stimmabgabe von Bahnarbeitern 1890 in Koblenz 2 (Neuwied): Monshausen: Wahlen, S. 274. SPD-Beschwerden im Namen von Angestellten: SBHA 19. Mai 1909, S. 6804 ff., bes. S. 6815. Mirbach an Bismarck: Bismarck an Puttkamer, 20. Aug. 1881, in: Wie Bismarck 1/5, S. 12 f. Sachsen 3, AnlDR (1881/82, 5/II, Bd. 5) DS 174, S. 610 f., 614. Die SPD, deren wirtschaftliche Vergeltungsschläge in anderen Wirtschaftszweigen bei den preußischen LT-Wahlen ein Gegengewicht bildeten, gab hier auf. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 114 f. Potsdam 6, SBDR 10. März 1885,S. 1105. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich (1880) S. 108 f.; (1890) S. 108 f.; (1910) S. 137, 141. F. Sievers, SD Protest gegen Hannover 9, 12. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 82; Gottlob Leuge u. Arbeiterkomitee, Protest gegen Erfurt 4, 10. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 88–93; H. Ramme [Kamme?] an Forst- und Gutsinspektor R. Clauditz (Hannover 3), 20. Feb. 1890, SAO Dep. 62b, S. 2379; Inspektoren der Pferdebahn-Betriebshöfe in Berlin: Berlin 6, AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 94, S. 666 ff.; 669 f., 673; Sachsen 14, AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 117, S. 569, 572; Breslau 6: Singer SBDR 6. März 1888, S. 1312 ff.; Breslau 10: Hermes SBDR 11. Jan. 1889, S. 382; Kröber (VP) zu Bayern, SBDR 29. Nov. 1888, S. 65; zu Göttingen, wo die Bahn der größte Arbeitgeber der Stadt war: Saldern: Wege, S. 129, 183.

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Prozent aller Riesenbetriebe – jener Unternehmen, die 1.000 oder mehr Arbeiter beschäftigten. Bereits 1882 fielen etwas mehr als ein Drittel der Firmen in der Schwerindustrie in die Kategorie »Riesenbetriebe«.40 Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab Krupp mehr als 70.000 Menschen Arbeit; die Gutehoffnungshütte, Deutscher Kaiser und Harpener Bergbau-AG jeweils mehr als 20.000; der Bochumer Verein, Hibernia, Hoesch und die Rheinischen Stahlwerke jeweils mehr als 10.000. Die gut zwanzig Firmen, deren moderne Schornsteine den Himmel über der Ruhr dominierten, waren nicht weniger entschlossen, politischen Gehorsam von ihren vielen tausend Arbeitern zu fordern, als der traditionellste Handwerksmeister, dessen zwei Gesellen auf seinem Heuboden schliefen. Und so war es nicht nur an der Ruhr. Wenn die Linksliberalen Windthorsts Wahlkreis im Emsland wortspielerisch ein politisches »Muffrika« nannten (»schwarz«, muffig-rückständig und für ihre fortschrittliche frohe Botschaft so undurchdringlich wie der schwarze Kontinent selbst), so äußerten sie sich nicht weniger sarkastisch über das Wahlkreis-Scheichtum von Baron Stumms »Saarabien«.41 Häufiger als in der Forstwirtschaft und bei den Eisenbahnen wurden die Führungsposten der Schwerindustrie von Männern besetzt, die eine herausragende Rolle auf nationaler Ebene, in der Landes- und vor allem in der Lokalpolitik spielten, wo sie es gewohnt waren, ihren Willen durchzusetzen. In Essen war Alfred Krupp derart reich, dass er bei den städtischen Wahlen gelegentlich die gesamte I. Klasse abdeckte. 1874 und wieder in den Jahren zwischen 1886 und 1894 hatten Krupp und später sein Sohn Friedrich das Recht, ein Drittel der Essener Stadtverordneten persönlich zu ernennen – ein Monopol, das ihre Nachfolger mit nur einer kurzen Unterbrechung bis 1918 bestand.42 Oligopole waren jedoch häufiger als Monopole. Die westfälische Städteordnung erlaubte jeder Steuern zahlenden juristischen Person, bei Stadtverordnetenwahlen zu wählen. Als solch ein Steuerzahler (und wie!) bildete der Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation (im Weiteren: Bochumer Verein) fast die gesamte I. Klasse der Stadt. Als Folge wurden Ratsherrenposten voll und ganz das Eigentum der Direktoren des Bochumer Vereins und von Generation zu Generation »weitervererbt«. Unternehmer dominierten auch die II. Klasse in Bochum und selbst die III. Klasse war eine Domäne der niederen Verwaltungsränge. Dieselben Männer dominierten auch die lokalen Wahlkampfkomitees der Nationalliberalen oder, alternativ, der Freien Konservativen Partei bei den Reichstagswahlen – besonders, als die steigenden Wahlkampfkosten in den 1880er Jahren die Reichstagspolitik an der Ruhr und der Saar zu einer Spielwiese der Reichen 40 41

42

Spencer: Management, S. 21 f.; Kaelble: Interessenpolitik, S. 59. »Muffrika«: Gerlach: Rechts, S. 175 f. »Saarabisch« 1895 geprägt von F. Naumann: Bellot: Hundert Jahre, S. 106. Bald war es in aller Munde: Ein Saarabisches Wahlbild, Saar-Post 25. Jan. 1912, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3609, 3590; Schwarze (Lippstadt) SBDR 21. Mai 1912, S. 2218. Brentano: Arbeitsverhältnis, S. 135 ff., bes. 141. Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 567. Nicht alle örtlichen Machthaber waren Kohle- und Stahlmagnaten: Ziese, der Besitzer der Schichau-Werft, beherrschte die I. Klasse in Elbing und ernannte zwanzig der sechzig Stadträte. Jaeger: Unternehmer, S. 87, 87 Anm. 281; 88, 113, 142, 262. In vielen rheinischen Städten war 1898 weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung berechtigt, in der I. Klasse zu wählen.

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machten. So hielt Louis Baare, der Geschäftsführer des Bochumer Vereins von 1855 bis 1895 war und Verbindungen zu fast jeder anderen wichtigen Industrieorganisation in der Gegend hatte, die meisten Fäden des Bochumer politischen Lebens in der Hand. Als Abgeordneter des Provinziallandtags und des preußischen Landtages, als Schwager des langjährigen Reichstagsabgeordneten Dr. Wilhelm Löwe, als Vorsitzender des Bochumer Wahlvereins und daher für die Finanzierung der nationalliberalen Wahlkämpfe verantwortlich, diktierte Baare persönlich die Antworten des liberalen Wahlkreiskandidaten auf soziale und wirtschaftliche Fragen. Notfalls schrie er die offiziellen Parteisprecher dabei nieder oder er drohte, das Geld des Bochumer Vereins den Freien Konservativen zukommen zu lassen, falls seinen Forderungen nicht entsprochen werde.43 Die Entschlossenheit von Industriebaronen wie Baare, ihre Kandidaten an der Kandare zu halten, spiegelte sich in der strengen Kontrolle, die sie über ihre Beschäftigten ausübten. Albert Hoesch von den mächtigen Dortmunder Eisen- und Stahlwerken unterschrieb höchstpersönlich den Entlassungsbrief eines Arbeiters, der die Unverfrorenheit besessen hatte, für den Freisinnigen Julius Lenzmann Wahlkampf zu betreiben, »[t]rotzdem wir mittels Anschlages Beamte und Arbeiter ersuchten, bei der stattgehabten Reichtagswahl dem Kandidaten Kleine ihre Stimme zu geben …«. Als der Arbeiter darum bat, wieder eingestellt zu werden, antwortete Hoesch erneut persönlich. Der Bittsteller habe sich »in deutlichster Weise als ein eifriger und überzeugter Anhänger Lenzmanns zu erkennen gegeben«, schrieb Hoesch: »Unser eigenes Interesse wie das unserer Beamten und Arbeiter gebietet es, unsere Gegner fern von unserem Werke zu halten …«44 Für gewöhnlich wurde jedoch die politische Autorität der Arbeitgeber indirekt sichergestellt, über ihre Aufseher: die Steiger im Bergbau, die Werkmeister bei der Verhüttung. Diese Männer waren sehr sorgfältig auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft worden – also auf eine Abneigung gegen Gewerkschaften, die Sozialdemokratie, den politischen Katholizismus und oft auch den Linksliberalismus. Gelegentlich wurden auch positive Beweise der politischen Loyalität verlangt. In Bochum wurden mehr als zwanzig katholische Bergwerks»Beamte« vor die Wahl gestellt, einen Wahlaufruf für Dr. Löwe (und damit gegen den Zentrumskandidaten) zu unterschreiben – oder entlassen zu werden. (Mindestens zwei Steiger entschieden sich für die Entlassung.) Viele Firmen, besonders die größeren, ersparten sich Ärger, indem sie ausdrücklich nur Protestanten für solche Posten einstellten.45 Die Oberaufseher waren in ständigem Kontakt mit den Arbeitern, die sie namentlich kannten, aber von denen man sich gesellschaftlich so weit wie möglich entfernt hielt. Obwohl die Steiger und Werkmeister einmal aus deren Reihen aufgestiegen waren, hatten sie sich in den 1890er Jahren zu einer eigenen 43 44 45

Kulemann: Erinnerungen, S. 155 ff.; H. Croon: Stadtvertretungen, S. 289–306 f.; Mann: Handbuch, S. 51; Jaeger, Unternehmer, S. 87. Gelesen von Lenzmann, SBDR 13. Feb. 1886, S. 1062. Arnsberg 5, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S.1079; Bellot: Hundert Jahre, S. 116, 207; Möllers: Strömungen, S. 327; Spencer: Management, S. 84 ff.

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Schicht entwickelt, die sich durch eine besondere Ausbildung auszeichnete. Körperliche Arbeit war ihnen verboten und sie unterschieden sich nicht nur durch bis zu 80 Prozent höhere Gehälter von ihren Männern, sondern auch durch ihre bürgerliche Kleidung, getrennte Werkswohnungen und eigene Freizeitorganisationen. Die gemeinsamen Kneipenbesuche und die Abschiedsgeschenke, die die dienstfreien Beziehungen britischer Arbeiter zu ihren unmittelbaren Vorgesetzten verbesserten, suchte man in Deutschland vergeblich. Die Arbeitgeber förderten die gesellschaftliche Ferne, indem sie bewusst für solche Posten Ortsfremde suchten; sie erzwangen sie, indem sie einem Arbeiter, der vergaß, vor seinem Vorgesetzten die Mütze zu ziehen, Geldstrafen auferlegten, und durch ihre Bereitschaft, jedes Anzeichen von Aufmüpfigkeit vor Gericht zu verfolgen.46 Faktisch autonom bei Einstellungen und Entlassungen, bei der Festsetzung von Löhnen und sogar Produktionsmengen, der Verteilung von Aufgaben und Auferlegung von Strafen, waren Meister und Steiger Könige in ihren Herrschaftsbereichen und sie benutzten diese Autorität rücksichtslos, um Wahldisziplin durchzusetzen. Ein entlassener Arbeiter tat sich für gewöhnlich schwer, anderswo eine Arbeit zu finden. Selbst wo schwarze Listen nicht veröffentlicht wurden, trugen die Entlassungspapiere häufig unauffällige Merkmale, die politisch Missliebige kennzeichneten. Im schlesischen Bezirk Kreuzburg-Rosenberg schrieben Arbeitgeber an ihre Kollegen selbst im fernen Russland, um sicherzugehen, dass ihre entlassenen polnischen Arbeiter nicht im Zarenreich weiterbeschäftigt würden.47 Die Rücksichtslosigkeit war mit Wachsamkeit gepaart. Pensionierte Polizisten wurden als Aufseher in den Häuserblocks der Werkswohnungen eingesetzt und mit der zusätzlichen Aufgabe betraut, Abonnenten missliebiger Zeitungen zu melden. Sie warteten, bis der Mann bei der Arbeit war, um dann mit der Frau ins Gespräch zu kommen und beiläufig ein Stück Zeitungspapier zum Anzünden ihrer Zigarre zu verlangen oder zu fragen, ob man einmal einen Blick in die Tremonia (eine Zentrums-Zeitung) werfen dürfe, um etwas nachzuschauen. Dasselbe argusäugige Personal saß in den Wahlvorständen der jeweiligen Bezirke. Dies kann nicht überraschen, denn anders als bei den ländlichen Wahlvorständen, deren Personal vom Landrat ausgewählt wurde, war die Auswahl der städtischen Wahlvorstände das Privileg des jeweiligen Stadtrats. Dass die Wahlen an der Ruhr »im Firmenbesitz« waren, wurde 1884 lebhaft illustriert, als der Oberbürgermeister von Bochum (der gleichzeitig Landrat des Stadtkreises war) die Wahlen des 12. Bezirks ins »Stahlhaus« verlegte, das »Kost- und Logierhaus« des Bochumer Vereins. Man kann sich schwerlich eine Örtlichkeit vorstellen, in der die Industriebarone ein stärkeres Hausrecht hätten geltend machen können. In einem Raum nebenan hielten sich zusätzlich angestellte Meister, Steiger und Ingenieure auf, die durch frei ausgeschenkten Alkohol an46 47

Biernacki: Fabrication, S. 188 ff.; seine Beispiele aus der Textilindustrie gelten a fortiori für die Schwerindustrie. Arnsberg 5, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 320. S. 1769. Umgebung Magdeburg: Gerlach: Erlebnisse, S. 71; Stumms Saar: Bellot: Hundert Jahre, S. 147, 159 f., 162, 166; Kreuzburg-Rosenberg: P. Majunke (Z), SBDR 2. Dez. 1882, S. 600.

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geheizt und durch nationalliberale Organisatoren angefeuert wurden und jederzeit bereit waren, Bürger hinauszuwerfen, die Stimmzettel für andere Parteien verteilten oder irgendein anderes Zeichen von Illoyalität zeigten. In Essen, wo der Chef 1893 selbst kandidierte, informierte ein Krupp-Beauftragter die Metallarbeiter in einem Wahllokal: »Wir sind hier in unserem Eigentum, wir haben hier das Recht, jedem scharf ins Auge zu sehen und ihm das Gewissen zu schärfen, damit er den wählt, von wem er sein Brot hat.«48 In konfessionell gemischten Wahlbezirken, wo der Kulturkampf die politische Identität bestimmte, war oft kein Druck auf evangelische Bergleute und Metallarbeiter nötig, da man, zumindest bis in die 1890er Jahre und teilweise weit darüber hinaus, für gewöhnlich davon ausgehen konnte, dass diese »national« wählten. Hier beschränkte sich die Überwachung darauf, dafür zu sorgen, dass sie überhaupt wählten – und denen, die es nicht taten, die Entlassung anzudrohen.49 Die Katholiken machten größere Anstrengungen nötig. In den Burbacher Stahlwerken in Saarbrücken wurden den Protestanten normale, gedruckte (liberale) Stimmzettel ausgeteilt, während die Katholiken der Nachtschicht von ihren Vorgesetzten zu einem Treffen zusammengerufen wurden. Dort erzählte man ihnen von einem Gerücht, dass ein katholischer Meister für seine Zentrumsstimme diszipliniert worden sei, und forderte sie auf, freiwillig besondere – lithographierte – Stimmzettel für den liberalen Kandidaten, Ernst Bassermann, anzunehmen, um damit zu beweisen, dass ihnen das Wohl der Firma am Herzen liege. Während drei Meister begannen, diese Stimmzettel auszuteilen, warnte der Sprecher, »wer diesen geschriebenen Zettel angenommen habe, müsse ihn auch abgeben, damit er seine Mitkollegen nicht in Verdacht bringe«. Selbst im Ersten Weltkrieg unterwarfen Werksangestellte in Stumms altem Wahlkreis, wo dessen Schwiegersohn und Nachfolger in der Firma in einer Nachwahl kandidierte, jeden Stimmzettel einer Prüfung der Handschrift.50 Die Bergleute waren leichte Opfer. An einigen Orten nahmen die Steiger einfach ihre Leitern weg, so dass mögliche Dissidenten massenweise so lange hilflos am Ende des Schachts gefangen blieben, bis die Wahllokale schlossen.51 Die Stahlarbeiter waren, da sie normalerweise in Kolonnen arbeiteten, leicht als solche vom Arbeitsplatz zum Wahllokal zu begleiten – obwohl sie, wie ein Zeitgenosse klagte, eher wie ein »Gefangenen-Transport« statt wie »freie Wahlmänner« aussahen. Jene, die andere Arbeiten verrichteten oder in der Nachtschicht arbeiteten, entkamen dem Druck nicht. Bis zu 100 polnische Arbeiter

48

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Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1887/88, 6/I, Bd. 7) DS 320, S. 1767 ff.; Protest des Z-Komitees von Bochum, 20. Jan. 1891, BAB-L R1501/14668, Bl. 188–197; Arnsberg 6 (Hörde), AnlDR (1890/91, 8/I, Bd. 3) DS 292, S. 2052; Zitat: Paul: Krupp, S. 275. Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 3) DS 57, S. 297 ff. Ein Saarabisches Wahlbild, Saarpost 20 (25. Jan. 1912), in: AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3609; Jaeger: Unternehmer, S. 186 Anm. 98. Oppeln 5, AnlDR (1879, 4/II, Bd. 4) DS 105, S. 647 f.; Wiesbaden 5, Spahn, SBDR 9. April 1886, S. 2007, und AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 304, S. 1710. Polnische Bergleute der Zeche Pluto bekamen Doppelschichten oder wurden mit Entlassung und Abschiebung in ihre Heimat bedroht. Arnsberg 5, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd.7) DS 320, S. 1773.

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gleichzeitig wurden von »Schleppern«, oft mit Hilfe eines großen Hundes, aus den werkseigenen »Kasernen« zum Wählen getrieben.52 Die Wahlproteste geben oftmals Zeugnis von den Bemühungen der Aufsichtspersonen und Vorarbeiter, jeden letzten Andersdenkenden ausfindig zu machen – entweder, um seine Stimme für die gewünschte Partei zu sichern, oder, falls das nicht möglich war, sicherzustellen, dass er in diesem Fall überhaupt nicht wählte.53 Die wiederholten Erklärungen der Industriebarone, sie würden sich nicht die Mühe machen, ihre Anstrengungen auf Katholiken zu verschwenden, ist von einigen Historikern akzeptiert worden.54 Aber zeitgenössische Beschwerden über die Taktik des starken Arms waren mindestens so häufig von Zentrumsanhängern und Polen wie von evangelischen Sozialdemokraten und Linksliberalen. In der Zeche Hasenwinkel in Dahlhausen schwärmten die Steiger unter den katholischen Arbeitern aus und sagten ihnen, sie sollten sich von den Wahllokalen fernhalten. Als der Maschinenwärter Karl Thöne von seinem Vorgesetzten aufgefordert wurde, er sollte auch seinen Bruder vom Wählen abhalten, blieb er diplomatisch und antwortete nicht. Aber sein Schweigen machte ihn verdächtig, so dass später am Tag ein weiterer Vorarbeiter an seinem Arbeitsplatz erschien und eine ausdrückliche Erklärung verlangte, dass er nicht wählen würde. Da gab Thöne zu, dass er wählen wollte. »Der Steiger sagte, auf eine Stimme komme es doch nicht an, ich möge also von der Wahl fern bleiben. Damit thäte ich dem Herrn Obersteiger einen großen Gefallen. Es werde mein Schaden nicht sein.« Thönes Bruder, der auch Maschinist war, wiederfuhr eine ähnliche Behandlung. Die Brüder Thöne entschlossen sich, dennoch wählen zu gehen – ein kalkuliertes Risiko, aber die Chancen standen gut. In einer Gegend, die bekannt dafür war, dass die Arbeitskräfte häufig wechselten, waren sie sich bewusst, blütenreine Arbeitsnachweise als gelernte und angesehene Handwerker führen zu können, mit mehr als zehn Jahren Beschäftigung im Hasenwinkel. Darüber hinaus wussten sie, wie sie es anfangen konnten. Sie besorgten sich Stimmzettel, die von außen nationalliberal aussahen, strichen innen aber den Namen Gustav Haarmanns aus und schrieben den des Barons Burghard von Schorlemer-Alst hinein, des Zentrumskandidaten. So machten es auch zwei ihrer Verwandten, die ähnlich düstere Hinweise bekommen hatten. Aber als die vier Männer am Wahllokal ankamen, entdeckten sie, dass sie Türen geschlossen waren – ein schlechtes Zeichen, denn es bedeutete, dass entgegen § 9 des Wahlgesetzes die Öffentlichkeit ausgeschlossen war. Sie würden keine Beobachter aus ihrem eigenen Lager zum Schutz haben, die beobachten konnten, was vor sich ging. Ihre 52 53 54

Bochumer Wahl von 1878, beschrieben in: AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1079, 1081; ähnliche Berichte aus Saarbrücken, noch 1912: Trier 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3590 ff., 3594. Jeder einzelne Wähler: siehe Johann Jarczewskis Zeugenaussage: Arnsberg 5, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 320, S. 1777, und AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 181, S. 907 f. Z. B. Hans-Otto Hemmer: Die Bergarbeiterbewegung im Ruhrgebiet unter dem Sozialistengesetz, in: Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr, hrsg. v. Jürgen Reulecke, Wuppertal 1974, S. 81 ff., 99. Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 567, behauptet Ähnliches, aber nicht alle seine Quellen unterstützen dies. Anderer Ansicht: Elaine Glovka Spencer: Rulers of the Ruhr. Leadership and Authority in Germany. Big Business before 1914, in: Business History 53/1 (Frühjahr 1979), S. 40 ff.

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Vorahnungen verstärkten sich, als sie eintraten. »Als Wahlvorsteher fungirte in Abwesenheit des Vorstandes der Obersteiger Strohsberg. Derselbe befühlte meinen Zettel von allen Seiten, ebenso machte er es bei meinem Bruder und Schwager.« Auch wenn der Stimmzettel selbst den Wähler nicht verriet, legten Mitglieder des Wahlvorstands ihn sorgfältig auf einen Stapel, der die Reihenfolge einhielt, in der gewählt worden war, und die sich später mit einer Liste vergleichen ließ, die die Reihenfolge der Wähler angab. Strohsberg muss sich solch einer Strategie bedient haben, denn am nächsten Tag sprach ihn der Obersteiger an, so berichtete Heinrich Thöne, »und er fragte mich höhnisch, ob ich und die beiden andern sich für schlauer hielten als er selbst. Ich fragte ihn, wie er dies meine. Darauf sagte er, das würden wir die nächsten Tage schon spüren.« Heinrich Thöne wurde, wahrscheinlich zu seiner Überraschung, nicht entlassen. Aber seine Bezahlung wurde wegen der beim Wählen verlorenen Zeit um eine halbe Schicht gekürzt; er verlor seinen Nebenverdienst als Verwalter des Pulvermagazins, der ihm 50 bis 70 Mark extra im Vierteljahr eingebracht hatte, und man tat alles, um ihm und seinem Bruder das Leben so schwer wie möglich zu machen. Er entschied sich, anderswo nach Arbeit zu suchen.55 Die Brüder Thöne waren musterhafte Angestellte, die die Risiken sorgfältig abgewogen und fälschlicherweise angenommen hatten, dass sie sicher seien. August Hundt, ein Hauer der Zeche Baaker Mulde im gleichen Bezirk, war aus anderem Holz geschnitzt. Gleich nach derselben Wahl wurde er mit zweiwöchiger Frist entlassen »wegen willkürlichen Feierns und Unfugtreiben«. Der Hauer war überzeugt, dass das »Unfugtreiben« sich nur auf ein Ereignis kurz vor der Wahl beziehen konnte, als er mit acht seiner Kameraden auf dem Nachhauseweg aus der Grube in einem Wirtshaus eingekehrt war. Als sie im Freien saßen und ihren Schnaps tranken, war die Unterhaltung auf die bevorstehende Reichstagswahl gekommen. »Unter Anderm wurde geäußert, daß unserer 8 sämmtlich dem Frh. v. Schorlemmer unsere Stimme geben würden und brachte ich schließlich ein Hoch auf v. Schorlemmer, worin sämmtlich einstimmten.« Dann gingen die Freunde nach Hause. Aber ihr Grubeninspektor, Richard Schepmann, war auch im Wirtshaus aufgetaucht, erinnerte sich Hundt später. Er musste ihre Unterhaltung gehört haben. Schepmann entgegnete, dies sei natürlich, Hundt wäre betrunken und laut gewesen. Denn als die Männer am nächsten Tag zur Arbeit erschienen, »waren unsere acht Kameraden am schwarzen Brett angeschrieben, fünf mit 1 Mark, drei (darunter ich) mit 3 Mark bestraft wegen willkürlichen Feierns und Unfugtreiben.« Dieselben Gründe wurden angegeben, als Hundt seine Entlassungspapiere bekam – am Tag nach der Wahl. War August Hundt wegen seiner politischen Einstellung gefeuert worden? Wie sich herausstellte, hatte er tatsächlich die Arbeit früher verlassen. Da es Zahltag war, war er zwei Stunden vor dem Ende seiner Schicht gegangen, um sein Geld abzuholen. Einmal draußen, »hatte er nicht Lust zu so später Stunde noch anzufahren, da das Ueberhauen bereits so weit vorangearbeitet war, daß wir durchhauen würden«. Am nächsten Tag hauten sie tatsächlich durch, als 55

Arnsberg 5, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 320, S. 1777 f.

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Hundts Arbeitskollege mit einer Bohrstange von oben das Überhauen durchstieß, wobei der Hauer von hereinstürzendem Wasser und Schlamm durchnässt wurde. Hundt sagte, er könne nicht in nassen Kleidern weiterarbeiten und wolle nach Hause gehen, »wogegen nichts einzuwenden war«. Da seine Wohnung eine Dreiviertelstunde entfernt lag, hatte er es allerdings nicht für nötig befunden, zurückzukehren, und Schepmann hatte »die Schicht genullt wegen zu früh Schicht machen«. Bei der »Revision resp. Abnahme unserer Arbeit, wie üblich, – wurden mir und meinem Kamerad (welcher auch katholisch ist) 30 Wagen Kohlen genullt …« Eine Woche später wurde Hundt entlassen. War dies eine politische Strafe dafür, dass er das Glas auf Schorlemer gehoben hatte? Der Hauer nahm es mit Sicherheit an, mit der Begründung: »Der Steiger Schepmann hat sich gegen Arbeiter nach der Reichstagswahl in der Grube geäußert, daß die Arbeiter von Blankenstein weil sie den Schorlemmer haben so plumpsen lassen, nach diesen Tagen noch bittere Erfahrungen machen sollten.« Aber man könnte gleichermaßen argumentieren, dass Hundt bestraft und dann gefeuert worden war, weil er seine Arbeitszeit nach seinem eigenen Gutdünken eingerichtet hatte. Auch ohne volle Anerkennung des Schepmannschen Standpunktes (die weit verbreitete Praxis, am Zahltag früher die Arbeit abzubrechen, war genau wie das Blaumachen am Montag und andere nicht-offizielle Feiertage den Vorgesetzten ein ständiger Dorn im Auge) lässt sich August Hundts Geschichte so oder so interpretieren. Aber auf welche Weise seine Entlassung auch gerechtfertigt war, demonstriert die Geschichte doch, wie leicht die alltäglichen Irritationen des Arbeitsplatzes sich in die Sprache der Wahlpolitik umdeuten lassen – und umgekehrt. Sie beweist auch die Überzeugung der Ruhrarbeiter, dass ihre beiläufigste Unterhaltung, wenn sie von der falschen Person mitgehört wurde, gegen sie verwandt werden konnte.56

Alfred Krupp und die Bilanzen Natürlich gab es in Deutschland, wie in jeder Gesellschaft, auch Arbeitgeber, denen die Wahlen egal waren, solange nur die Produktionsziffern stimmten.57 In Aachen, einer Textilstadt, bedrohte eine katholische Christliche Sozialbewegung, die von einem charismatischen Priester angeführt wurde und die eine radikale und zugleich rhetorisch skurrile Analyse der Lokalpolitik lieferte, die Dominanz der katholischen Oligarchie der Stadt. Sie kam 1877 bis auf Haaresbreit ihrem Ziel nahe, dem Zentrum das Aachener Mandat wegzunehmen – dennoch ließ dieselbe Oligarchie die Weber und Fabrikarbeiter wählen, wie 56

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Ebd., S. 1776, und Arnsberg 5, AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 181, S. 906 f. J. Lenzmann (F) berichtete von einem Eisen-Puddler, der nach zwanzig Jahren entlassen worden sei, weil er am Wahlabend auf ihn getrunken habe. SBDR 13. Feb. 1886, S. 1062. Zu diesen täglichen Konflikten: Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 256, 276, 578 f. Z. B. mittelgroße Bauern in Hannover 9: Ehrenfeuchter: Willensbildung. S. 113; Daimler in Untertürkheim: Fridenson: Herrschaft, S. 77 f., 87. Eine Fabrik in Chemnitz tolerierte SD Graffiti. Göhre: Drei Monate, S. 102. Einer von Keils Arbeitgebern fand sich mit dessen Aktivismus zwei Jahre lang ab – bis er der Arbeit wiederholt fernblieb. Erlebnisse, Bd. 1, S. 121 f.

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sie wollten.58 Selbst in Bochum, wo schwarze Listen für »schlechtes« Wählen im Umlauf waren, hören wir das Bedauern im Ton eines Arbeitgebers, der einem Arbeitsuchenden, welcher drei Monate nach der Wahl von 1887 immer noch arbeitslos war, sagte: »Bringen Sie mir einen anderen Abkehrschein, dann will ich Sie aufnehmen; mit diesem darf ich Sie nicht anstellen.«59 Extrem verhielten sich solche, die das Geschäft mit der Politik identifizierten und nie in ihren Bemühungen nachließen, ihre Arbeiter zu kontrollieren. Baron von Stumm, dessen Aktivitäten zugunsten der Metallindustrie vom Herumschnüffeln in den Wohnungen seiner Arbeiter bis zum energischen Einsatz seiner Kräfte im Reichstag reichte, ist das klassische Beispiel. Viele Arbeitgeber jedoch scheinen Politik und Wirtschaft weder so durchgehend miteinander verquickt zu haben wie Stumm noch sie so regelmäßig auseinandergehalten, wie Daimler in Untertürkheim dies wohl tat. Wie Egmont Tielsch, unser Porzellanfabrikant, ignorierten sie einige Wahlen und griffen in andere mit Zwangsmaßnahmen ein – eine Unterdrückung mit Unterbrechungen, die vielleicht am meisten Widerstand hervorrief.60 Einige Brotherren mögen sogar die politische Autonomie ihrer Arbeiter ermutigt haben. Der Manufakturbesitzer Ludwig Löwe aus Berlin, ein Fortschrittlicher, der Hunderte beschäftigte, behauptete, dass seine Arbeiter so frei seien, dass manche eine Sammlung direkt außerhalb seiner Fabrik veranstaltet hätten, um gegen seine eigene Wahl zu opponieren. Natürlich ignorieren unsere Quellen diese Männer; aufgeklärtes Verhalten führte nicht zu Wahlprotesten. Hat die Solidarität zwischen Meister und Untergebenem am Arbeitsplatz jemals auf die politische Sphäre abgefärbt, wie Patrick Joyce es bei Arbeitern in England beobachtete, die Tory-Anhänger waren? Der Breslauer Fabrikbesitzer Hermann Seidel schaffte es 1887 mit Hilfe von Freibier und »Liebeszigarren«, eine Fackelparade von mehr als 12.000 Arbeitern zugunsten des konservativen Kandidaten seines Bezirks aufzustellen. Die Tatsache, dass ihm anschließend vom König ein Orden verliehen wurde, verweist allerdings auf die Seltenheit eines solchen Ereignisses.61 Sicherlich stifteten Entwicklungen außerhalb des Arbeitsplatzes manchmal eine Wahlsolidarität über die Klassenschranken hinweg, ohne Rücksicht auf Arbeitskonflikte. Am verständlichsten noch war das im katholischen oder polnischen Umfeld während des Kulturkampfes, aber auch innerhalb des 58

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Es gab keine RT-Beschwerden gegen die Siege des Z in Aachen, und die Protokolle der Versammlungen der Christlich Sozialen, die den Wahlverein des Z als Repräsentanten der Arbeitgeber angriffen, enthalten keinen Hinweis darauf, dass der Erfolg ihrer Gegner dem Druck auf Arbeiter zu verdanken gewesen wäre. Siehe den hervorragenden Band Lepper (Hrsg.), Katholizismus, S. 106 ff., 121 ff., 125 ff., 132 ff., 151 f., 162 f., 167, 172 f., 177, 186 f., 193 ff. Zitiert in: Wacker: Rechte, S. 23. Wegen der Ablehnung liberaler Stimmzettel entlassene Bergleute im Wurm- und Inde-Revier (Aachen 2) wurden wenige Wochen später wieder eingestellt. Lepper: Strömungen, Bd. 2, S. 533. Dies behauptet Moore: Injustice, S. 483; hierzu Spencer: Management, S. 63. Löwe SBDR 8. Mai 1880, S. 1251; Joyce: Work, Society and Politics. The culture of the factory in later Victorian England, Sussex 1980; Seidel: Müller: Geschichte, S. 352 f. Gelegentliche Stimmzettel mit dem handschriftlichen Namen des FK-Kandidaten F. Krupp deuten auf die Existenz einiger Krupp-Anhänger unter den Essener Katholiken hin, die wegen der Zensur von Familien und Freunden keine offiziellen Krupp-Stimmzettel benutzen wollten. Wir wissen allerdings nicht, ob diese Arbeiter waren. Erwiderung … der nationalen Partei des Wahlkreises Essen, Anlage B AnlDR (1893/94, 9/II, Bd. 2) DS 214, S. 1136 f.

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evangelischen Milieus dort, wo das Zentrum eine glaubwürdige Herausforderung darstellte.62 Auf solche Harmonie der Gefühle oder Interessen über die Kluft von Autorität und Abhängigkeit hinweg können wir allerdings nur indirekt schließen, denn mit wenigen Ausnahmen schweigen unsere Quellen, was die Solidarität angeht. Zu Einschüchterung und Zwang allerdings äußern sie sich laut und deutlich. Nirgends wütete der Krieg zwischen Geschäftsdenken, dessen Gesetze eine strenge Gleichgültigkeit gegenüber allen Forderungen außer denen der Bilanzen verlangten, und dem tief eingefleischten Glauben deutscher Arbeitgeber an die ganzheitliche Natur der Autorität unablässiger als in der Brust des Alfred Krupp in Essen. Krupp war die Karikatur eines Industriekapitäns, der an die Figur des Josiah Bounderby von Charles Dickens erinnerte, welcher hinter jedem Bemühen seiner Angestellten um Selbstbestimmung das Verlangen nach Schildkrötensuppe und Kaviar vermutete. Dennoch erlaubt uns auch Krupps übertriebenes Verhalten einen klareren Blick auf eine Welt, die sowohl die Wut auf den Brotherrn anstachelte als auch, selbst in den 1870er Hungerjahren, den Wunsch nach einer gewissen politischen Unabhängigkeit von ihm förderte. Krupp, der als reichster Mann Europas galt, reagierte anfänglich auf die Wahlen als der homo oeconomicus, der er war. Weit entfernt davon, sie als Gelegenheit zu betrachten, seine Arbeiter zwangsweise hinter einer bevorzugten Partei zu vereinen, beklagte er die eine oder zwei Stunden, die der Produktion durch das Wählen verloren gingen. »Es kostet doch Tausende …, und hat es solchen Wert?«, wollte er wissen. 1877 veranlassten Gerüchte, einige seiner Dreher und Schlosser hätten in der Mittagspause Sammlungen zugunsten der Sozialisten veranstaltet, den Landrat von Essen, bei ihm vorzusprechen. Die Regierung hatte einen verdächtigen Zusammenhang zwischen sozialistischen Wahlstimmen und den Krupp’schen »Kolonien« (Arbeitersiedlungen) festgestellt. Der Regierungspräsident selbst appellierte an Krupp, ihm zu helfen, der Sozialdemokratie einen Riegel vorzuschieben. Eingedenk der Tatsache, dass seine Firma vor Kurzem einen umfangreichen Kredit vom Bruder des Regierungspräsidenten erhalten hatte, dem damaligen Präsidenten der Preußischen Staatsbank, hatte Krupp ganz sicher ein Interesse daran, ihm entgegenzukommen. Aber er zögerte, denn »wenn man die Sozialdemokraten an die Luft setzen wollte, dann müßten alle Leute fortgeschickt werden«. Aber Krupp konnte sich nicht mit »leben und leben lassen« zufriedengeben. Es war vielleicht unvermeidlich, dass ein Mann, der Verhaltensregeln in den Gästezimmern seiner Villa Hügel aushängen ließ (und Übernachtungsgästen im Falle der Nichteinhaltung Beschwerdebriefe schrieb), über kurz oder lang versuchen würde, das Verhalten und schließlich die Politik seiner Werkmannschaft zu bestimmen. Als in Essen immer mehr Gewerkschaftler tätig wurden, erweiterte sich Krupps Definition eines unzuverlässigen Arbeiters. Trotz der Missbilligung seiner eher skeptischen Verwalter unterzog er seine Leute einer ständigen Überwachung. Stenographen und schließlich Meister wurden abgeordnet, um 62

Rohe: Konfession, S. 121, 123; ders.: Wahlen, S. 84; Jaeger: Unternehmer, S. 93 f.

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über die Wahlveranstaltungen der Sozialdemokraten zu berichten, ein finanzieller Aufwand, über den selbst der Bürgermeister den Kopf schüttelte. »Ohne geheime Polizei«, insistierte Krupp den skeptischen unter seinen Verwaltungsangestellten gegenüber, »werden wir doch nicht fertig.«63 Jeder eingestellte Arbeiter oder Angestellte müsse schließlich »bedenken, dass das Etablissement … ihm sein tägliches Brot gegeben« habe.64 Solche gleichermaßen aus göttlichem Machtbewusstsein ergehenden Ansprüche, die dazu noch durch Bemühungen um geradezu göttliche Allwissenheit verstärkt wurden, rächten sich durch einen »endlosen Kleinkrieg« in den Werkshallen, wie ein Kommentator es ausdrückte. Krupp hängte politische Aufrufe in den Werkshallen auf, Arbeiter rissen sie herab und Krupp reagierte, indem er Wachleute engagierte, die seine »Hirtenbriefe« ohne Rücksicht auf die Kosten rund um die Uhr bewachten.65 1877 war in Deutschland der Tiefpunkt der »Großen Depression« erreicht. Im Bergbau wurden durchschnittlich zehn Prozent der Arbeitskräfte entlassen – einem Bericht nach 10.000 Männer zu Anfang des Jahres. Aber Krupps Betriebe wuchsen so gewaltig, dass 1.648 Hochöfen, 298 Dampfkessel, 294 Dampfmaschinen, 77 Dampfhämmer, achtzehn Walzwerke und 1.063 Werkzeugmaschinen voll in Betrieb blieben. Gelernte Schweißer und Maschinisten wuchsen nicht auf Bäumen, einige brauchten eine jahrelange Ausbildung. Vorarbeiter von Krupp waren einst bis nach Russland gefahren, um gute Arbeitskräfte zu finden. Während der alte Krupp anordnete, Unruhestifter zu feuern (»und wenn es noch so sehr an Händen fehlte«), und sogar darauf bestand »ohne Rücksicht auf Entbehrlichkeit den geschicktesten, besten Arbeiter oder Meister noch so rasch wie immer thunlich zu entfernen, der nur Miene macht, opponiren zu wollen …« – so vergaß er bei all seinem Toben doch nie die zentrale Wahrheit, dass jeder Markt, auch der Arbeitsmarkt, aus zwei Teilnehmern besteht. Obwohl Krupp im Frühjahr 1877 über 100 politisch verdächtige Arbeiter entließ, und zwar Katholiken wie auch Sozialdemokraten, so schreckte der Kanonenkönig doch davor zurück, auf die Fertigkeiten einer besonders fähigen, aber kompromittierten Arbeitskraft zu verzichten.66 Der Name des Arbeiters war Freßberger. Während des Wahlkampfs von 1877 hatte er unvorsichtig in betrunkenem Zustand gerufen: »Der König ist ein 63

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Paul: Krupp, S. 226 f., 238 (Zitate); siehe auch 150 f., 210 f., 216, 224 f., 235 (Stenographen), 260 ff. Auf IM Puttkamers Bitte von 1881 um Einflussnahme auf seine Arbeiter in Koblenz 1 antwortete Krupp wohlwollender: Wie Bismarck 1/5, S. 10. Sozialistische Aktivitäten in Essen in den späten 1860er Jahren: Möllers: Strömungen, S. 132, 152. Krupps Eigenarten: Peter Batty: The House of Krupp, London 1966, S. 98; Manchester: Arms, S. 163. Zitiert in Paul: Krupp, S. 32 f. Die Krupp-Arbeiter verdienten in Rheinland-Westfalen die besten Löhne, besonders vor der Jahrhundertwende: Bajohr: Krupp, S. 46 und Tabelle S. 47; allgemein: Manchester: Arms, S. 69, 171 f., 177. Endloser Kleinkrieg: Boelcke (Hrsg.): Krupp, S. 38; Ein Wort an meine Angehörigen, 11. Feb. 1877, in: Briefe, hrsg. v. Berdrow, S. 343 ff. Hierzu Paul: Krupp, S. 234. »Hirtenbrief« ist die Charakterisierung der Essener Freien Zeitung, ebd., S. 235. Krupp an die Firma, 24. Feb. 1870: Berdrow (Hrsg.): Krupp, S. 243. Ebenso Krupps Briefe an seine Geschäftsleitung und an Karl v. Wilmowski, in: Boelcke (Hrsg.): Krupp, S. 50 Anm. 35, 52 Anm. 36. Kulczyncki: Worker, S. 49; Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 479; Lepper: Strömungen, Bd. 2, S. 520; Manchester: Arms, S. 105; Paul: Krupp, S. 239 ff.

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Spitzbube.« Er wurde nicht nur wegen Majestätsbeleidigung verhaftet, sondern auch sofort entlassen. Nachdem der Mann seine Strafe abgesessen hatte, bat er darum, wieder eingestellt zu werden, und die Firma gab nach. Da Krupp nicht sentimental war, muss Freßberger wirklich unersetzlich gewesen sein. Seine Vorgesetzten nannten ihn einen »fleißigen, geschickten Arbeiter«. Aber Freßberger wieder einzustellen schien so, als würde man über die Beleidigung seiner Majestät hinwegsehen – und Krupp lebte von Regierungsaufträgen. Und schlimmer – da Krupp immer öffentlich darauf bestanden hatte, niemanden einzustellen, der mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, riskierte man einen unerträglichen Gesichtsverlust. Die außerordentlichen Anstrengungen, die Krupp unternahm, um seine politische Glaubwürdigkeit bei seinen Arbeitern zu wahren, wurden durch die bemerkenswerte Reise demonstriert, die Krupp einen Monat nach der Wahl antrat, um dem Monarchen in Berlin den Fall Freßberger zu erklären. Während Krupp in seinem Hotel wartete, arrangierte sein Prokurist Johannes Pieper eine Unterredung mit dem Vortragenden Rat im Zivilkabinett des Kaisers. Pieper unterbreitete die Angelegenheit. Die Wiedereinstellung des Mannes mache es nötig, dass Herr Krupp »den Freßberger begnadige«. Pieper wollte seine Majestät davon unterrichten, dass Krupp diese Ausnahme im Fall Freßberger nur »mit Rücksicht auf die Tüchtigkeit und sonstige Unbescholtenheit des Freßberger« mache, womit »hoffentlich auch die gegenwärtige Aufregung in den Arbeiterkreisen etwas beruhigt … werde«. Pieper muss seinem Arbeitgeber einen ähnlichen Bericht über die Unterhaltung geliefert haben, denn Krupp sah sofort, dass sein Stellvertreter es versäumt hatte, den wichtigsten Punkt der Unterredung anzusprechen. Folglich berichtete mittags der Vortragende Rat: Heute mittag erschien der Geh. Rat Krupp selbst und sagte mir, dass Dr. Pieper nicht völlig seine Intention zum Ausdruck gebracht habe; denn es liegt ihm nicht bloß daran, die Sache hier aufzuklären für den Fall, dass die Zeitungen den Vorfall besprächen, sondern er beabsichtige, den Freßberger nur dann ausnahmsweise wieder anzunehmen, wenn ihm von S. E. dem Herrn Geheimen Kabinettsrat [d. h. Krupp] die Mitteilung werde, dass die Annahme des wegen Majestätsbeleidigung bestraften Arbeiters wünschenswert erscheine; wenn indessen Bedenken gegen eine solche Ausnahme obwalteten, so werde er trotz der angeblichen Tüchtigkeit des Freßberger denselben nicht ›begnadigen‹.

Die Anführungsstriche um »begnadigen« in diesem Bericht sind eine orthographische gehobene Augenbraue. Allein die Idee, dass ein Industrieller es übernahm, einen Mann zu »begnadigen«, der Wilhelm I. beleidigt hatte! Worin bestand die wirkliche Majestätsbeleidigung? Krupp werde in Berlin im Hotel Royal bis zum frühen Morgen des nächsten Tages bleiben und bitte »um hochgeneigten baldigen Bescheid«.67 Weil er unwil67

Vernehmungsprotokoll des Vortragenden Rats im Zivilkabinett, Anders; und Marginaldekret von v. Wilmowski, Berlin, beide 11. April 1877, in: Boelcke (Hrsg.): Krupp, S. 50 f.

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lig war, seinen Werksangehörigen als ein Vorgesetzter gegenüberzutreten, der die Erfordernisse der Produktion seine absolute Autorität untergraben ließ, oder den Spott der sozialdemokratischen Presse zu riskieren, weil er sich der gegenwärtigen »Aufregung in den Arbeiterkreisen« beugte, war derselbe Mann, der über sich selbst sagte, dass er stets rücksichtslos seinen eigenen Willen durchsetze, ohne jemand anders nach dessen Meinung zu fragen, 570 Kilometer gefahren, um den achtzigjährigen Wilhelm I. zu bitten, für ihn geradezustehen. Wenn Krupps eigene politische Autorität so interpretiert werden konnte, als beuge er sich einer höheren, konnte das Prinzip der Hierarchie und der Unterordnung gewahrt werden, und Krupp stände es frei, die wirtschaftlich rationale Entscheidung zu treffen, Freßberger wieder einzustellen. Der König tat ihm den Gefallen. Sein Vortragender Rat überbrachte die willkommene Nachricht, »daß S. M. die Wiederaufnahme des Freßberger lediglich dem Ermessen des H. Krupp anheim stelle und Allerhöchsterseits nichts dagegen zu erinnern hätte.«68

−−− In Essen mögen einige Arbeiter sich hämisch über die Nachricht gefreut haben, dass Krupp die Entlassung zurücknehmen musste. Anderen konnte die königlich autorisierte Begnadigung für den glücklichen Freßberger nur die Sinne dafür schärfen, dass sie sich nicht das Geringste zuschulden kommen lassen durften – und sie machten sich auf den Weg in die Vereinigten Staaten oder nach Lateinamerika.69 Aber genauso wie Krupps Fahrt nach Berlin zeigt, wie eifersüchtig die Arbeitgeber ihren Machtanspruch auf die politische Betätigung ihrer Arbeitskräfte verteidigten, erinnert uns der Fall Freßberger daran, dass wirtschaftliche Beziehungen von Natur aus bilateral sind. In unserem nächsten Kapitel, in dem wir die Fähigkeit der Arbeiter behandeln, dem Druck der Arbeitgeber zu widerstehen, werden wir auf diese Grundtatsache des ökonomischen Lebens zurückkommen. Arbeiter brauchen Arbeitsplätze, aber Arbeitgeber brauchen auch – selbst in Zeiten einer ökonomischen Depression – Arbeiter.

68

69

Ebd.. Krupps indirektes Zitat über seinen rücksichtslosen Individualismus stammt aus Jaeger: Unternehmer, S. 280. Geheimrat war offensichtlich eine Abkürzung für Geheimer Kommerzienrat. Zur Bedeutung und Verbreitung dieses Titels: Spencer: Management, S. 38. Im Gegensatz dazu Pauls Ansicht, die Begnadigung Freßbergers sei eine »Goodwill-Aktion« gewesen, um das Image der Firma aufzupolieren: Krupp, S. 247. Möllers: Strömungen, S. 330 Anm. 36; Paul: Krupp: S. 250 f. Nach einem verstohlenen und erfolglosen Versuch, 1878 selbst ein RT-Mandat zu erlangen, verweigerte Krupp weitere RT-Kandidaturen und erklärte sich als nicht an den politischen Aktivitäten seiner Arbeiter interessiert: er sorge sich nur um Loyalität und häusliche Moral. Graf Pückler an Krupp, 29. Sept. 1884; Krupp an Pückler, 3. Okt. 1884; Berdrow (Hrsg.): Krupp, S. 391 ff., bes. 393. Nur 1887 engagierte er sich wieder direkt – zugunsten seines Sohnes.

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Internationale Perspektiven Deutschland war nicht das einzige Land, in dem Arbeitgeber die Wahlstimmen ihrer Männer bestimmten oder unterdrückten. In Teilen Spaniens, so erinnert uns ein Historiker der Halbinsel, »hing der Arbeitsplatz eines Mannes von seiner Stimme ab«. Obwohl in Frankreich nach dem Wahlkodex jede Bedrohung des Arbeitsplatzes mit bis zu einem Jahr Gefängnis und 2.000 Francs Bußgeld bestraft wurde, marschierten dort in bestimmten Industriestädten Brigaden von Fabrikarbeitern gemeinsam unter Bewachung zu den Urnen und wurden festgehalten, bis jeder einzelne gewählt hatte. Der Stil der französischen Geschäftsleitungen ist als »wesentlich autokratischer« und weniger an Regeln gebunden beschrieben worden als der ihrer deutschen Kollegen; Daimler beispielsweise gab 1910 einem entlassenen Arbeiter eine Frist von vierzehn Tagen, während ein Renault-Arbeiter innerhalb einer Stunde das Werksgelände verlassen musste. Für Großbritannien besitzen wir zuverlässige Quellen, dass zumindest für die Mitte des 19. Jahrhunderts, »um der generellen Wahlsituation gerecht zu werden, es nötig ist, gleichzeitig die Existenz, ja die überragende Bedeutung von Gewalt, Macht, Zwang und Niederlage, in einem fast militärischen Sinn, zwischen den verschiedenen Gruppen zu betrachten …«. In den Vereinigten Staaten beklagte der Oberste Gerichtshof von Missouri 1892 »die Tyrannei der riesigen Konzerne und des konzentrierten Reichtums«, die gemeinsam mit dem Einfluss der Gewerkschaften und politischen Parteien »es jedem außer einem kühnen und mutigen Mann außerordentlich schwierig« machten, »unabhängig zu wählen«.70 Doch die Beeinflussung der deutschen Reichstagswahlen durch Arbeitgeber scheint ein andernorts unbekanntes Ausmaß gehabt zu haben.71 In Frankreich, wo sonntags gewählt wurde, war die Einflussnahme des patron nur in zwei Fällen nach 1871 der Grund zu einer Beschwerde und nach 1900 gar nicht mehr.72 In Spanien, zumindest außerhalb Andalusiens, war nicht der Arbeitgeber, sondern der politische Anführer, der cacique, die Hauptquelle des Wahleinflusses, 70

71 72

Spanien: E. Malefakis, zitiert in: Dardé: Fraud, S. 201–221, bes. 212. Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 12, 17; Charnay: Le Suffrage, S. 241 Anm. 1, 243, Fridenson: Herrschaft, S. 81, 82, 84 f., 88 (Zitat); Französischer Wahlkodex: Mittermaier: Bestrafung, S. 361. Vincent: Pollbooks, S. 24. USA: Argersinger: Perspectives, S. 673, 676, 682, Zitat S. 681; Seymour u. Frary: World, Bd. 1, S. 249. Arbeitgebervergleiche günstiger für Deutschland, wenn er auch nicht über die Wahlen spricht: Fridenson: Herrschaft. Dies ist zumindest mein Rückschluss aus den vereinzelten Hinweisen in Charnay, der bei den 74 aufgrund nichttechnischer Mängel für ungültig erklärten Wahlsiegen von 1877 nur klerikale und Regierungseinflüsse erwähnt. Von den 33 Wahlen, die zwischen 1881 und 1902 wegen Einflussnahme (»pression«) für ungültig erklärt wurden, sind die einzigen, in denen Arbeitgeber erwähnt werden, 1892 und 1889 (zwei bzw. 22 Fälle), und letztere fassen klerikale und Arbeitgebereinflüsse zusammen. Les scrutins, bes. S. 84, 89, 92, 95, 97 f., 101. Hierzu auch Charnay: Le Suffrage, wo der Raum, der dem Druck von Arbeitgebern gegeben wird (S. 239–243) verschwindend gering ist gegenüber dem für die Einflussnahme durch die Regierung (S. 211–238) und den Klerus (S. 254–276). Seymour u. Frary, die den französischen Wahlen allgemein sehr skeptisch gegenüberstehen, erwähnen den Einfluss der Arbeitgeber kaum. World, Bd. 1, S. 368 ff.

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und caciquismo, so wird behauptet, war eine »echte Patronage«, ein gegenseitiges Erweisen von Diensten, das, wenn es auch auf einer Akzeptanz der Ungleichheit beruhte, mit »Vertrauen und einer Art Freundschaft« einherging.73 In England war der Einfluss der Arbeitgeber für gewöhnlich das Gegenstück von »deference«, jenem ausgesprochen englischen Begriff, dessen geschickte Umgehung des Unterschieds zwischen Freiwilligkeit und Zwang wahrscheinlich einer gleichermaßen ambivalenten Erfahrung entspricht. Die geheime Wahl, die 1872 eingeführt wurde, scheint zusammen mit den Wahlrechtserweiterungen von 1885/86 die politische Macht der Vorgesetzten über die von ihnen Abhängigen in Schranken gehalten zu haben. Wie groß auch immer der Einfluss der Arbeitgeber im Zeitalter Peels gewesen sein mag – zur Zeit Gladstones hören wir nur noch sehr wenig davon und zu Salisburys Zeiten fast gar nichts mehr.74 Niemand behauptete, dass der geheime Stimmzettel die Unantastbarkeit der Wahl in den Vereinigten Staaten schützte, obwohl über das Ausmaß, in dem die amerikanische Wahlpraxis korrupt war, noch immer debattiert wird und es sich offensichtlich von Ort zu Ort unterschied. In einigen Gegenden, besonders im Mittleren Westen, waren die nationalen Wahlen »sauber«. »Wenn mehr als 50 Männer im Mittleren Westen ihre Arbeit verloren, weil sie [den Demokrat William Jennings] Bryan unterstützten«, erklärt Richard Jensen, »dann wussten die Demokraten mit Sicherheit nichts davon.«75 Andernorts, wo man keine Ehrlichkeit voraussetzen konnte, waren die amerikanischen Wähler immer noch unabhängig genug, dass eine Wahlmanipulation nur durch Betrug oder Bestechung zustande kommen konnte. Und wo ihnen die wirtschaftliche Unabhängigkeit fehlte – wie dies bei den freigelassenen Sklaven im Süden der Fall war –, war Gewalt, und nicht Kontrolle durch die Arbeitgeber, das bevorzugte Instrument.76 Zwischen 1867 und 1901 habe ich nur fünf Einsprüche bei Kongresswahlen der Vereinigten Staaten gefunden, die eine Einschüchterung seitens der Arbeitgeber unterstellten.77 Im Gegensatz dazu sind bei jeder Wahl eines deutschen Parlaments, aber besonders ab 1881, die Beweise für massive Einschüchterung durch Arbeitgeber, die in Beschwerde auf Beschwerde an die Wahlprüfungskommission auftauchten, überwältigend. In keinem anderen Land – zumindest unter den »Kulturländern«, zu denen sich Deutschland gerne zählte – wurde die Ein73 74

75

76 77

Dardé: Fraud, S. 219 Anm. 34. Die Freiwilligkeit oder Zweideutigkeit betont: O’Gorman: Culture, S. 17 ff. Emphatisch über Kontrolle: Gash: Politics, S. 175; Vincent: Pollbooks, S. 10 ff., 25; und Seymour: Reform, S. 182 f., wenn er auch später (S. 403) darauf hinweist, dass das Versprechen zukünftiger Vorteile eine ebenso große Rolle spielte wie die Furcht. Nossiter: Influence, findet durch die Betonung der »organischen Natur« der Viktorianischen Gesellschaft sowohl Kontrolle durch Industrielle (S. 79, 88, 92, 95, 99) als auch Zeichen für Freiheit (197 ff., 202). Die freie Wahl von 1872 war ein Wendepunkt (S. 80, 203) und war es auch nicht (S. 91, 95, 104), sie »bedeutete nicht das Ende des Alten … sondern nur das Ende des Beginns des Neuen …«. Seymour u. Frary liefern wenige Beweise für ihre Ansicht, dass das Problem über 1872 hinaus bestand. World, Bd. 1, S. 159 ff. Jensen: Winning, S. 35 ff., 46 f., 50 f., 57. Jensen gibt jedoch die Existenz von Beschwerden zu und schließt die Wahlmaschinen der Großstädte von seiner Analyse aus. Ebd., S. 47, 49. Vergleiche Allen u. Allen: Fraud, S. 153 ff., mit Argersinger: Perspectives. Selbst Argersingers pessimistische Einschätzung legt größere Betonung auf Betrug, Bestechung und Gewalt als auf Einschüchterung durch Arbeitgeber. Rowell: Digest, S. 227, 232 f., 241 ff., 258, 275 f., 283, 382, 386, 429 ff., 449 f., 518 ff., 526 ff., 608. Ebd., S. 337, 434, 452, 470 f., 490.

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flussnahme durch Brotherren bei den Wahlen als so allgegenwärtig, so ungeschminkt und so dauerhaft wahrgenommen.

−−− Was kann der Grund für einen derart großen kulturellen Unterschied sein? Der Gegensatz zwischen der relativen Unwichtigkeit des Drucks der Arbeitgeber in Amerika verglichen mit Deutschland mag durch das unterschiedliche Parteiensystem gefördert worden sein. Das Zweiparteiensystem, das Amerika von England geerbt hatte, wurde wirksam durch Wahlregeln verstärkt, die den Sieg demjenigen Kandidaten zusprachen, der einen wenn auch noch so geringen Stimmenvorsprung hatte. Da Stichwahlen sich erübrigten, wurden vor der Wahl geschlossene Koalitionen zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Interessen belohnt, und Klassenunterschiede tendierten dazu, in zwei breit angelegten, intern heterogenen Lagern aufzugehen. »Die Wahlurne«, so behauptet der amerikanische Historiker A. Dawley, »wurde zum Sarg des Klassenbewusstseins.«78 In Deutschland hingegen machte die gesetzliche Vorschrift, dass der Sieger eine absolute Mehrheit haben müsse, Stichwahlen unumgänglich. Die Erfahrung lehrte die politischen Gruppen schnell, ihre unterschiedlichen Identitäten zu bewahren, selbst in Bezirken, wo sie keine Aussicht auf einen Sieg hatten, um die absolute Mehrheit der stärksten Partei zu verhindern. Denn Vorteile, die einer Minderheit im ersten Wahlgang verwehrt waren, konnten immer noch durch einen Handel mit ihren Stimmen vor der Stichwahl erlangt werden. Das Vielparteiensystem, das auf diese Weise entstand – und zwar nicht nur auf der Parlamentsebene, sondern schließlich auch in den Wahlkreisen im ganzen Land –, verstärkte die ursprünglichen Vorteile der Trennung.79 Wenn so viele Interessen eigenständig blieben, war es vielleicht unvermeidbar, dass wo immer eine Organisation bestand, die die Wähler von ihrer Klassenzugehörigkeit überzeugte, die Klasseninteressen ebenfalls anhand der Parteiziele anstatt über diese hinweg gesehen und definiert wurden. Die Wahlurne – um die amerikanische Aussage abzuändern – erwies sich als eine Wiege des Klassenbewusstseins. Und das relativ große Gewicht der Klasse auf der Parteiebene kann nicht unwichtig gewesen sein für die Erklärung des unterschiedlichen Verhaltens der Arbeitgeber in den beiden Ländern.

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Alan Dawley: Class and Community. Industrial Revolution in Lynn, Cambridge/MA 1976, zitiert in: Richard L. McCormick: The Party Period and Party Policy. American Politics from the Age of Jackson to the Progressive Era, New York und Oxford, 1986, S. 101. Ausführlich zum abschreckenden Effekt des Systems der einfachen Mehrheit auf Klassenparteien: Giovanni Sartori: European Political Parties. The Case of Polarized Pluralism, in: Joseph LaPalombara und Myron Weiner: Political Parties and Political Development, Princeton 1966, S. 171. Maurice Duvergers Argument in: L’influence des systèmes électoraux sur la vie politique, Paris 1950, dass Systeme, die zum Sieg eine absolute Mehrheit statt einer einfachen Mehrheit verlangen, ein Vielparteiensystem eher fördern als ein Zweiparteiensystem, ist viel diskutiert worden. Z. B. William H. Riker: Duverger’s Law Revisited, in: Grofman u. Lijphart (Hrsg.): Laws, S. 19 ff. (pro) und Nohlen: Wahlrecht, S. 201 ff. (contra); eine Weiterentwicklung: Sartori: Influence, S. 43 ff.

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Aber wenn wir die Allgegenwärtigkeit und Dauer des Drucks der Arbeitgeber bei den deutschen Wahlen durch ein Vielparteiensystem erklären, das die Klassengegensätze verstärkte, im Gegensatz zu einem Zweiparteiensystem, das diese zu verschleiern half, müssen wir uns dennoch fragen, ob solche systemimmanente Faktoren wirklich die dreisten Bekundungen dieses Drucks begründen können. Max Weber jedenfalls fand, dass das Verhalten der deutschen Arbeitgeber Wurzeln hatte, die über das Ökonomische und sogar, in einem konkreten Sinne, über das »Politische« hinausgingen. In einer Debatte vor dem angesehenen Verein für Sozialpolitik wandte sich Weber 1905 entschieden gegen Alexander Tille, den Sprecher der Schlotbarone des Saarlands, indem er behauptete, dass vom Ausland aus betrachtet die deutschen Arbeitgeber (wie »unsere gegenwärtige Politik«) den Eindruck erweckten, als ob es ihnen wie Parvenus weniger um die Macht als »vor allem den Schein der Macht« ginge. Tatsächlich, so Weber, stecke so etwas auch unseren Arbeitgebern im Blute, sie kommen über den Herrenkitzel nicht hinweg, sie wollen nicht bloß die Macht, die in der Leitung jedes Großbetriebes liegt, allein – nein, es muß auch äußerlich die Unterwerfung des anderen dokumentiert werden.

Allein die Diktion der Arbeitsregeln in deutschen Fabriken – »Wer das und das tut, der wird bestraft« – dies sei, ließ Weber wissen, »Schutzmannsjargon«. Genau dieselben Regeln könne man auch anders formulieren. »Aber gerade dieser Tonfall ist es ja, der so scheint es, den eigentümlichen psychischen Reiz bildet … Diesen Herren steckt eben die Polizei im Leibe.«80 Webers Bild, auch wenn es vom Arbeitsplatz und nicht von der Wahlurne stammt, und insbesondere von dem Kampf um Gewerkschaftsgründung, wird in hohem Maße durch das bestätigt, was wir über das Verhalten von Arbeitgebern bei den Wahlen wissen. Konnten Direktor Heise in Braunschweig, Gießereiverwalter Pfeiffer in der Nähe von Ulm, Herr Petersen in Schleswig und andere Brotherren im Norden und Süden, denen es derart wichtig war, die Wahlstimme jedes einzelnen Abhängigen zu kontrollieren, sich wirklich eingebildet haben, dass ein einzelner anders lautender Stimmzettel die Zusammensetzung des Reichstags zu ihren Ungunsten verändern würde? Sicherlich nicht. Tatsächlich setzten »national« denkende Arbeitgeber in Lingen 1890 ihre Strategie fort, die Stimmzettel ihrer Angestellten zu überwachen, obwohl die nationalen Parteien beschlossen hatten, den ihnen verhassten Windthorst ohne Gegenkandidaten antreten zu lassen.81 Die entscheidende Annahme scheint gewesen zu sein: »Use It, or Lose It«: die Hierarchie müsse ständig bestätigt werden, wenn sie aufrechterhalten werden solle.

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Weber: Diskussionsreden, S. 395 ff. Deutschlands Besonderheit und auch die Macht militärischer Normen betont Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 725 ff. Im Gegensatz dazu Fridenson: Herrschaft, S. 69 ff. Kaplan H. Ramme [?] an Clauditz, L[ingen], 20. Feb. 1890, SAO Dep. 62b, 2379.

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Was lag dieser Einstellung zugrunde? Weber selbst war mit der Erklärung schnell bei der Hand: »Es liegt … in unseren deutschen Traditionen« wie auch spezifisch preußischen Gewohnheiten des Kommandierens und Reglementierens, die zu einer beunruhigenden Charakterbildung geführt hätten. Eine Standarderklärung; aber kaum schmeichelhafter war Webers Beharren darauf, dass eine Wurzel des autoritären Verhaltens im Beruf in einem Mangel an echter politischer Macht der Arbeitgeber, wie jedes deutschen Bürgers, im Staat lag. In seiner Beschreibung dessen, was andere die »Fahrradfahrer-Persönlichkeit« genannt haben, argumentierte Weber: »… je mehr über seinen Kopf hinweg regiert wird, … desto mehr will er da, wo er nun einmal pater familias ist – und das ist er eben auch im Riesenbetriebe –, denjenigen, die unter ihm sind, zeigen, dass er nun auch einmal etwas zu sagen hat und andere zu parieren haben.« Webers Wahrnehmung von Ton und Duktus war äußerst scharf. (Im folgenden Jahr sahen sich die Nationalliberalen veranlasst, Webers Antagonisten in dieser Debatte, Alexander Tille, aus ihren Reihen zu verstoßen, weil dieser während eines Streiks die Meinung geäußert hatte, »das ganze Geschwätz von Menschenrechten gehöre in die Rumpelkammer«.) Aber Webers eigener Duktus war derart leidenschaftlich – er behauptete, »dieser spießbürgerliche Herrenkitzel« wirke »depravierend und charakterschwächend« auf die Deutschen, indem er sie zu »Kanaillen« erziehe, und deswegen die »Verachtung des Deutschen in der ganzen Welt« verdiente –, so dass einige der Zuhörer des gediegenen Vereins für Sozialpolitik (und nicht nur Herr Tille) sich wohl des Eindrucks nicht erwehren konnten, dem renommierten Soziologen sei wieder einmal das Temperament durchgegangen.82 Max Weber legte seinen Finger auf die Symptome, aber seine Diagnose der Krankheit ist weniger überzeugend, wenn sie auch im Einklang steht mit seinen Ansichten über die charakterbildenden Eigenschaften einer parlamentarischen Regierung. Wie auch immer man die wachsende Macht des Reichstags innerhalb des deutschen Kaiserreichs einschätzt (und ich würde sie höher einschätzen als Weber) – dem deutschen Bürgertum, zu dem viele, vielleicht die meisten dieser Arbeitgeber gehörten, fehlte es kaum an politischer Kraft. Zumindest galt das für die Bereiche, die ihr Leben unmittelbar betrafen – die kleinen und großen Städte, wo ein streng nach Vermögen geltendes Wahl- und Stimmrecht ihnen eine dominierende Rolle zuwies. Allein an der Ruhr saßen sechzehn der 38 führenden Industriellen der Region in ihrem jeweiligen Stadtrat. Ein herausragendes politisches Profil brachte natürlich auch das Risiko einer Demütigung mit sich. (1910 verließ August Thyssen den Stadtrat von Mülheim, nachdem dieser ein Kanalprojekt genehmigt hatte, das die Interessen von Hugo Stinnes – der Mann war unglaublich reich, aber nicht so reich wie Thyssen – stärker als seine eigenen berücksichtigte.) Wir dürfen nicht überrascht sein, dass viele Arbeitgeber es vorzogen, hinter den Kulissen die Fäden zu ziehen, anstatt direkte politische Funktionen zu übernehmen, um zu bekommen, was sie wollten. Aber meistens bekamen sie es. Darüber hinaus konnten Brotherren, nachdem 82

Weber: Diskussionsreden, S. 395, 396. Tille zitiert in Bellot: Hundert Jahre, S. 219.

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sie ein gewisses Vermögen angesammelt hatten, erwarten, vom Staat zumindest mit dem Titel »Kommerzienrat« geehrt zu werden, mitunter sogar mit dem geschätzten Zusatz »Geheimer«. Vielen der Reichsten, wie Thyssen, Stinnes, Emil Kirdorf und Friedrich Krupp, war sogar die Befriedigung vergönnt, Adelstitel abzulehnen.83 Und wenn es zu Konflikten zwischen Industrie und Staat kam, wusste der Arbeitgeber, wie er seine Macht über die Wählerstimmen wie auch seinen wirtschaftlichen Einfluss einsetzen musste, um seine Ziele zu erreichen. So rächte sich 1881 der mächtigste Arbeitgeber an der Saar, Karl Ferdinand Stumm, als die königlichen Bergbaubeamten sich weigerten, die von ihm für notwendig erachteten Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie einfach hinzunehmen, indem er sich weigerte, erneut als Reichstagskandidat in seinem Wahlkreis anzutreten, was im gesamten regierungsfreundlichen Lager seiner Region zu einem Chaos führte. Um der Regierung zu zeigen, was passierte, wenn er seinen Einfluss nicht geltend machte, gestattete er dem Zentrum, die Hauptwahl zu gewinnen, die den Kandidaten der Rechten in eine Stichwahl zwang. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Stumm im folgenden Jahr einen erblichen Sitz im preußischen Herrenhaus erhielt – worauf sein Wahlkreis an der Saar zu dessen gewohntem freikonservativ-nationalliberalen Wahlmuster zurückkehrte. Nachdem er so seine Kraftprobe mit dem Staat gewonnen hatte, weitete Stumm nun seine Autorität darüber aus. Wenn Provinzverwalter eine unabhängige Meinung äußerten, sorgte er dafür, dass sie strafversetzt wurden; ein ähnliches Schicksal ereilte 1898 zwei Vorsitzende des Saarbrücker nationalliberalen Wahlkomitees, als sie es gewagt hatten, einen Kandidaten (von außerhalb, natürlich!) zu suchen, der gegenüber Stumm ein gewisses Maß an Unabhängigkeit an den Tag legen konnte.84 Obwohl wenige Arbeitgeber eine ähnliche Macht ausübten wie »König« Stumm, hätten noch weniger sich in Webers Portrait des politisch schwachen Deutschen erkannt. Nicht die Gewohnheit der Unterwürfigkeit, sondern die Gewohnheit des Befehlens stand hinter dem autokratischen Verhalten deutscher Unternehmer bei den Wahlen. Natürlich waren Arbeitgeber nicht nur im Deutschen Kaiserreich an das Kommandieren gewöhnt. Aber in England und Amerika wurde Industriearbeit eher als eine Ware wie jede andere angesehen. »Sie sind nicht mein Herr und Meister, sondern nur ein Mann, der meine Arbeit für eine ganze Stange weniger kauft, als sie wert ist«, gab ein Engländer in den 1840er Jahren seinem Arbeitgeber zu verstehen. Die deutschen Brotherren, die am Arbeitsplatz tatsächlich Herren und Meister waren, erfuhren einen größeren Gegensatz zwischen der formalen Gleichheit, die mit dem Wahlrecht von 1867 geschaffen worden war, und den ganzheitlichen und hierarchischen Normen, die sie ererbt hatten und 83

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Spencer: Management, S. 33, 38, 61. Einige nahmen diese natürlich an: z. B. Cornelius Heyl, der »Krupp« von Worms und Führer der hessischen Nationalliberalen, wurde 1886 Baron Heyl zu Herrnsheim. White: Party, S. 129. Der Feudalisierungsthese widerspricht Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 720 ff. Kulemann: Erinnerungen, S. 165, – er war der Kandidat, der aber später um Rückziehung seiner Kandidatur gebeten wurde. Wahlaussichten für die Rheinprovinz, GStA PK I. HA, Rep. 89/210, Bl. 227–232v; Bellot: Hundert Jahre, S. 157 ff.

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die weiterhin andere Facetten der Gesellschaft prägten: die Familie, die Kirche, die Gemeinde wie auch die Arbeitswelt. Ganz sicher blieben diese Normen nicht länger unangefochten. Anfechtungen einer unbegrenzten Macht am Arbeitsplatz gehörten weit mehr noch als Lohnforderungen zu den Ursachen der schärfsten Arbeitskämpfe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.85 Nirgends war die Diskrepanz zwischen den Gepflogenheiten des Mikrokosmos und den Regeln des Makrokosmos so groß wie in Deutschland. In England, wo die Gesellschaft sich der Rangunterschiede äußerst bewusst ist, lässt sich zeigen, dass die immer noch auf Eigentum beruhenden Wahlgesetze keine Botschaft der absoluten Gleichheit aller Bürger mit sich brachten, bis das Mehrfachwahlrecht 1949 abgeschafft wurde. Während der langen Herrschaft der Ungleichheit in England wurden Machtkämpfe häufig nicht wie in Deutschland zwischen Insidern und Outsidern ausgetragen, sondern zwischen zwei Gruppen von Eliten, die jede von ihrem eigenen Wahlgefolge unterstützt wurden, und es ging um die Beute eines Systems, das beiden Vorteile brachte. Die Unterstützung der einen Gruppe untergrub nicht die Autorität der anderen. Die Hierarchien selbst waren in der Praxis lange gebröckelt, bevor sie durch das allgemeine Wahlrecht (für Männer und manche Frauen) von 1918 abgeschafft wurden. Obwohl in Frankreich ein demokratisches Wahlrecht eine längere Tradition hatte als in Deutschland, gab es dort keine nationalen politischen Parteien nach deutschem und britischem Verständnis und nationale Themen spielten nur gelegentlich in den Wahlkämpfen eine Rolle. Zeitgenössische Beschwerden über die Gleichgültigkeit der Wähler und darüber, dass Präfekten respektive Unterpräfekten fortgesetzt in der Lage waren, Wahlen für das Ministerium durch kluge ökonomische Patronage zu beeinflussen, deuten darauf hin, dass das Männerwahlrecht von jenen, die das Sagen hatten, kaum als eine Bedrohung für die traditionelle Autorität angesehen wurde. In Spanien, wo dasselbe Wahlrecht 1890 eingeführt wurde, machte das Fehlen jeglicher Erfahrung mit dem Wählen selbst bei örtlichen Wahlkämpfen das Wahlvolk derart passiv, dass es den Ansichten ihrer Honoratioren nur wenig Widerstand entgegenzusetzen vermochte.86 In den Vereinigten Staaten, wo revolutionärer Mythos und Wahlpragmatismus zusammenwirkten, um die politische Gleichheit zu legitimieren, stand das demokratische Wahlrecht noch weniger im Gegensatz zu den allgemeinen Normen. Und dort, wo die Diskrepanz zwischen der egalitären Ideologie und der rassistischen Re-

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Spencer: Management, S. 63, 82 f., 86 ff., 93 ff.; Moore: Injustice, S. 153, 249. Andere Kulturen am Arbeitsplatz: Biernacki: Fabrication, S. 166, 170, 189 ff., Zitat S. 193. Die große Seltenheit von Wahlanfechtungen bei französischen Wahlen wird als Zeichen von Resignation angesichts der unverhohlenen Parteilichkeit der Kammer bei Disputen gedeutet. Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 13 f., 19; Fehlen von Parteien: S. 28 f. Aber Lefèvre-Pontalis, der über französische Gleichgültigkeit klagte, fand deutsche Wähler auch gleichgültig: ebd., S. 12, 27, 116. Zur Schwierigkeit, das ländliche Frankreich zu politisieren: E. Weber: Peasants, Kap. 15; eine genaue Analyse der Spiegelung der nationalen Politik in den Provinzen: Michael Burns: Rural Society and French Politics. Boulangism and the Dreyfus Affair, Princeton 1984; und der Unterschiede: Jones: Politics. Gleichgültigkeit der Wähler, die aus Unerfahrenheit entspringt, ist Dardés hauptsächliche Erklärung für die Korruption bei den Vorkriegswahlen in Spanien. Fraud, S. 215.

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alität unüberwindlich war wie im Süden, geschah die Unterdrückung der Ausübung dieses Wahlrechts schnell, mit Gewalt und dauerhaft. So traf nur in Deutschland das allgemeine, gleiche und direkte Männerwahlrecht auf eine Bevölkerung, deren Gebräuche und Haltungen zutiefst hierarchisch waren, aber deren Erfahrungen vor Ort – in Zünften, Vereinen, Wohltätigkeitsgesellschaften und der städtischen Kirchturmpolitik – bereits beträchtliche politische Energie hervorgebracht hatten.87 Diese Energie wurde unterstützt durch eine der höchsten Alphabetisierungsraten der Welt und durch eine rasch wachsende kommunikative Infrastruktur, die es den Deutschen erlaubten, selbst in den kleinen Gemeinden, wo die meisten Arbeiter lebten, genau zu verfolgen, was andere taten und was ihnen in fernen Gegenden angetan wurde. Sowohl die Arbeitgeber als auch ihre Arbeitskräfte stellten sich den Reichstag als ein wahres und getreues Abbild – andere nannten es ein »Miniaturbild« – der Nation vor. Niemand glaubte, dass Mikrokosmos und Makrokosmos lange in einem Missverhältnis stehen könnten.88 Nicht die Auflösung der Autoritätsstrukturen ermutigte das Erstarken staatsbürgerlicher Tugenden in Deutschland, sondern das Erstarken der staatsbürgerlichen Tugenden selbst – durch das Wahlrecht legitimiert, durch Wahlproteste geschützt und durch die Rechtsprechung des Reichstags, wenn auch allzu selten, unterstützt – löste die Bande der Abhängigkeit. Durch sein unbedingtes Bestehen auf politischer Lehnstreue zeigte der Brotherr deutlicher, als er ahnte, wie befreiend dieses Wahlrecht sein konnte. Gleichzeitig war die Forderung des Brotherrn, in loco parentis bei den Wahlen für seine Arbeiter zu agieren, ein Angriff auf die Würde von Männern, die das Gesetz nun für mündig erklärte: reif, rational, autonom. Zwar beschuldigten später die Liberalen und Fortschrittlichen die SPD, ständig von Klassen zu reden, Arbeiter gegen Arbeitgeber aufzuwiegeln und dadurch »die Bildung einer großen demokratischen Partei« zu verhindern, die die preußischen Machtstrukturen hätte bedrohen können. Aber es waren die Arbeitgeber selbst, die durch ihre politische Definition der Treue zur Firma und deren Erzwingung durch Überwachung, Einschüchterung und exemplarische Strafen die Plausibilität einer Interpretation der Politik nach Klassengesichtspunkten bestärkten.89 Die Überzeugung, dass jede Wahl automatisch die Autorität des Arbeitgebers 87

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Zum frühen politischen Leben beginnt man am besten mit der bemerkenswerten »preußischen Städteordnung«, nachgedruckt in: Vogel u. a. (Hrsg.): Wahlen, S. 316 ff.; Walker: Towns, bes. S. 34 ff., 108 ff., 307 ff., 378 ff.; Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. Jahrhundert und im frühen 19. Jahrhundert, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland, hrsg. v. Hartmut Boockmann u. a., Göttingen 1972, S. 1 ff.; Langewiesche: Liberalismus, S. 34 ff.; Klaus Tenfelde: Die Entfaltung des Vereinswesens während der industriellen Revolution in Deutschland (1850–1873), in: Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, hrsg. v. Otto Dann, München 1984, S. 55–114, 111. Argumentiert schlüssig für Kontinuität über den Bruch von 1918 hinweg: Rudy Koshar: Social Life, Local Politics, and Nazism. Marburg, 1880–1935, Chapel Hill 1986, bes. S. 209 ff., und R. Chickering: Mobilization, S. 307 ff. Worauf ein Drucker in Swinemünde (jetzt Swinoujscie) kurz nach der Wahl von 1890 sich erlaubte, in einem Brief an den Kaiser hinzuweisen. August Roese, 6. März 1890, BAB-L R1501/14693, Bl. 245–256. »Miniaturbild«: Geh. RR Dr. Ritzhaupt an Bismarck, 25. Nov. 1881, BAB-L R43/685, Bl. 26 f. [Hans] D[elbrück]: Politische Korrespondenz … Preußische Wahlreform. – Der sozialdemokratische Parteitag, Preußisches Jahrbuch 130 (Okt.-Dez. 1907), S. 188 ff., Zitat S. 193.

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untergrub, war natürlich eine sich selbst bewahrheitende Voraussage. Indem sie den Arbeitsplatz politisierten, verstärkten die Brotherren nicht nur das Bewusstsein für Klassenunterschiede, sondern halfen noch, diese Klassenunterschiede grundsätzlich politisch zu definieren.90

Das Strafgesetzbuch ändern? Die Rinteln-Anträge von 1886 Während der gesamten 1880er Jahre machten sich jetzt die Stimmen zugunsten einer Wahlrechtsreform bemerkbar, die in Deutschland in den 1860er Jahren ausgeblieben war. Volksbewegungen von allen Seiten des politischen Spektrums forderten jetzt Abhilfe gegen den Druck der Arbeitgeber auf die Wähler. Katholische Handwerker und Kleingewerbetreibende hielten Massenversammlungen ab und schickten Petitionen an den Reichstag. Die Anhänger von Stoecker in der Hauptstadt und in ihren westfälischen Hochburgen Minden und Siegen protestierten, für gewöhnlich in privaten Briefen oder durch ihre Führer.91 Ein Berliner Hausdiener, der entlassen worden war, weil er sich weigerte, Eugen Richter zu wählen, brachte seinen Arbeitgeber vor Gericht. Der mutige Diener berief sich auf § 107 des Strafgesetzbuchs, der es verbot, die Stimmabgabe eines anderen durch Gewalt oder Androhung von Gewalt zu behindern. Aber die Berliner Richter legten den Begriff der Gewalt streng aus und der Arbeitgeber wurde freigesprochen.92 »Die Achtung … der fremden Stimmung [sic] gehört leider noch nicht zu den F[unda?]mentalsätzen unseres politischen Kodex«, beklagte sich ein Bürger in einem Schreiben an Bismarck.93 Ein Handwerker, der keineswegs links stand, ging so weit, vom Kaiser zu verlangen, dass er sich einmal die Liste der Reichstagsabgeordneten ansehe, dann würde er feststellen, dass die wirtschaftlichen Druckmittel der Arbeitgeber ein durch und durch unrepräsentatives Parlament geschaffen hätten. »Fast durchweg sind es reiche Leute, Leute, welche nicht im Entferntesten eine Ahnung haben können, was es heißt, wenn ein Arbeiter oder Handwerker eine Familie von 5 und mehr Köpfen mit durchschnittlich 1,50 Mk. Tagelohn jährlich anständig und ehrlich ernähren soll.«94 Wer oder was sollte da Abhilfe schaffen? Trotz aller Beschwerden ihres Fußvolks aus den einfacheren Gesellschaftsschichten war von den Konserva90 91

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Und – auf den Gütern im Osten – ethnisch. Von Koscielski (P) SBDR 15. Jan. 1890, S. 1027. Katholiken und Stoecker-Anhänger: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 409 ff.; Bellot: Hundert Jahre, S. 167. Unzufriedenheit mit den begrenzten Mitteln gegen Verletzung des Wahlgeheimnisses: Mendel (F) SBDR 3. März 1881, S. 131. Die Berliner LL hatten einen Aufruf herausgegeben, der ihre Anhänger an ihre Vorteile als Besitzer von Wohnungen und Arbeitgeber erinnerte. Sie merkten an: »… wenn die Sache vollständig ausgenutzt wird, so kann unser Sieg nicht fehlen«. Köller SBDR 13. Feb. 1886, S. 1065 f.; von dem sich seiner Partei schämenden Munckel beklagt: ebd., S. 1067. Unsigniertes Memorandum an Bismarck, von einem Berliner mit christlich-sozialen Ansichten (aber nicht Stoecker selbst, wie ein Handschriftenvergleich zeigt), 5. Jan. 1884, BAB-L R43/685, Bl. 185v. Der Autor plädierte für einen anonymen Stimmzettel bei den LT-Wahlen, aber sein Argument galt auch für RTWahlen. August Roese an Wilhelm II., 6. März 1890, BAB-L R1501/14693, Bl. 245–256. Andere K Beschwerden: Puttkamer-Plauth SBDR 13. Feb. 1886, S. 1048.

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tiven und erst recht den Nationalliberalen nichts zu erwarten. Initiativen der Sozialdemokraten, die selbst 1884 noch nicht mehr als 24 Abgeordnete hatten, waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt.95 Der Freisinnige Heinrich Rickert versprach einem Berliner Arbeiterverein, dass seine Partei einen Gesetzesantrag einbringen werde, der für jeden eine harte Strafe vorsah, der eine Wahl beeinflusste. Diesen Vorschlag pries die volkstümliche Zeitschrift Grenzbote, die sich normalerweise wesentlich rechts vom Freisinn befand, als »durchaus zeitgemäß«.96 Aber Rickert war seiner Partei voraus und von einer Initiative der Freisinnigen war nichts mehr zu hören. Schließlich unterstützten neunzig (der 99) Zentrumsabgeordneten gegen Ende 1885 eine Gesetzesvorlage, die die Freiheit des Wählers vor einer Bedrohung seines Arbeitsplatzes schützen sollte. Die Maßnahme wurde von Viktor Rinteln entworfen, der Geheimer Oberjustizrat in Berlin und ein langjähriges Mitglied der Wahlkommission des Reichstags war. In seinem Antrag schlug Rinteln vor, dem § 109 des Strafgesetzbuchs, der den Kauf und Verkauf von Stimmen unter Strafe stellte, möge ein Satz hinzugefügt werden, der jeden Arbeitgeber oder Funktionär bestrafte, der einen seiner Angestellten oder Arbeiter wegen der Ausübung oder Nichtausübung des Wahlrechts entließ oder mit Strafen bedrohte. Der Zentrumsantrag stieß sofort auf große Skepsis. Wäre nicht ein Zusatz zu § 107, der den Gebrauch von Gewalt bei Wahlen unter Strafe stellte, ein besseres Vorgehen zur Bekämpfung des Problems gewesen? War das Strafmaß – nicht weniger als drei Monate Gefängnis und der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte – nicht überzogen?97 Die fehlenden Maßnahmen gegen Wahldruck von Seiten der Priester wurden laut beklagt – eine kaum verschleierte Warnung gegen die katholischen Sponsoren des Gesetzes.98 Kein Abgeordneter stellte die Existenz und das Ausmaß des Übels in Abrede. Aber die Medizin sei noch schlimmer als die Krankheit. Die Konservativen gebärdeten sich, was vorauszusehen war, am erregtesten, indem sie behaupteten, dass der Antrag Rinteln den Arbeitgeber »vergewaltigte«, indem er ihn jedes Mal in eine kriminelle Handlung verwickelte, wenn er die Zahl seiner Arbeitskräfte verringern musste, »es würde dadurch das Verhältnis zwischen Herr und Knecht … geradezu vergiftet werden«. (»Knecht?!«, rief ein Sozialdemokrat in gespielter Verwunderung.)99 Die Nationalliberalen verhielten sich nicht weniger ablehnend. Früher hatten sie einmal angeboten, jede Wahl für ungültig zu erklären, die durch wirtschaftlichen 95 96 97

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AnlDR (1878, 3/II, Bd. 3) DS 66, S. 551. K. M.: Schutz, S. 157 ff. AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 4) DS 26, S. 92 f. Frühe Einwände gegen eine Ausweitung des Gewaltkonzepts: Drenkmann: Wahlvergehen, S. 171. Da Rinteln aus familiären Gründen nach Hause gerufen wurde, fiel die Aufgabe, den Antrag vorzustellen, einem unvorbereiteten Windthorst zu, dessen lahme Verteidigung darauf hindeutet, dass die juristischen Vorbehalte, die von den anderen Parteien ausgedrückt wurden, von einigen im Zentrum geteilt wurden. Die Gesetzesvorlage wurde von den Abgeordneten unterschiedlich als Antrag Rinteln und Antrag Windthorst bezeichnet. SBDR 13. Feb. 1886, S.1048 f. Überzogen: Puttkamer-Plauth, S. 1053; Meyer-Jena (NL), S. 1060; BehrBehrenhoff: S.1056; Munckel (F): S. 1068. »Vergiftet«: Puttkamer-Plauth SBDR 13. Feb. 1886, S. 1049; »vergewaltigt«: Behr-Behrenhoff, S. 1053; hierzu auch Helldorf: S. 1072; Meyer-Jena: »Schließlich hat der Arbeitgeber ebenso gut einen Anspruch auf Wahrung seiner Interessen als der Arbeitnehmer …«: S. 1096.

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Druck zustande gekommen war.100 Das war 1871 gewesen, als in nur vier Anfechtungen Arbeitgeber erwähnt wurden und die Liberalen bei der Maßregelung Politik treibender Priester ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellen mussten. Bei der zweiten Wahl hatten sie ihre Haltung geändert. Als sechzig Arbeiter in Kiel ihre Stelle verloren, weil sie den Befehl missachteten, das Werksgelände nicht vor sechs Uhr zu verlassen (wenn die Wahllokale schlossen), stimmten die Liberalen mit der Reichstagsmehrheit dafür, dass es sich um eine »Privatangelegenheit« handele. Diese Interpretation des Wahlgesetzes dominierte die Reichstagsurteile bis 1912, als die Zusammensetzung der Kammer entschieden nach links schwenkte.101 Die Linksliberalen waren geteilter Meinung, aber selbst jene, die den Antrag Rinteln unterstützten, waren hin und her gerissen. Ausschlaggebend war hier die Unterscheidung zwischen »öffentlich« und »privat«. Die Abgeordneten jeder Partei außer den Konservativen und den Freien Konservativen waren für gewöhnlich bereit, Wahlen für ungültig zu erklären, die durch das Einwirken königlicher Beamter manipuliert zu sein schienen. Hauptsächlich durch die Behauptung, dass der Klerus unter die Rubrik des öffentlichen Dienstes fiel, war es in den 1870er Jahren den Kulturkämpfern gelungen, Mehrheiten für die Annullierung klerikal beeinflusster Wahlen zu finden. Aber eine Beschäftigung lag im Ermessen des Arbeitgebers und die Beziehung zwischen Meister und Untergebenem wurde durch private Vereinbarungen geregelt. Als den Abgeordneten die sozialdemokratische Propaganda vertrauter wurde, verhärteten sich die Meinungen. Nach welchem Grundsatz konnte der Reichstag einem Mann das Recht verwehren, eine Person von seiner Gehaltsliste zu streichen, deren Partei die Arbeitgeber als Blutsauger, Parasiten und Diebe bezeichnete und zu ihrer Enteignung aufrief?102 Das Zentrum und die Sozialdemokraten antworteten: gemäß dem Prinzip der freien Wahlen. Es war jedoch nicht nur die Vertragsfreiheit, auf die man sich berief, um eine Politik der Nichteinmischung zu rechtfertigen, sondern die moralische Freiheit jedes einzelnen Wählers, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Obwohl bei einigen Gelegenheiten die Mehrheit der Wahlprüfungskommission bereit war, Entlassungsdrohungen als »zwar moralisch durchaus verwerflich« zu bezeichnen, weigerte sie sich gleichzeitig, die durch solche Drohungen erpressten Wahlen zu annullieren.103 Andere schoben das moralische Fehlverhalten von dem Mann, der erpresste, auf denjenigen, der sich der Erpressung beugte, da

100 Miquel SBDR 5. April 1871, S. 190; Wehrenpfennig 17. April 1871, S. 237. 101 SBDR 10. April 1874, S. 696 f. Privatangelegenheit: Kassel 2, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6, DS 165, S. 684; Merseburg 7, SBDR 10. Feb. 1888, S. 831; Danzig 3 (Stadt Danzig), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 5) DS 80, S. 338 ff.; Königsberg 4, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 333, S. 1361 ff. 102 Z. B. Reinbaben SBDR 11. Jan. 1889, S. 384 f. Analoge Ansichten: Puttkamer-Plauth und Traeger SBDR 13. Feb. 1886, S. 1049, 1062; der in Richtung NL tendierende H. A. Bueck, zitiert von Bebel, SBDR 11. Jan. 1889, S. 393. Die NL Presse, bestimmte katholische Zeitungen in Bayern: Möllers: Strömungen, S. 333 Anm. 3. Gegen diese Argumente: Windthorst und v. Vollmar SBDR 13. Feb. 1886, S. 1047 bzw. 1055 ff. 103 Pfalz 1 (Ludwigshafen), AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 116, S. 425 ff.; ein ähnliches Urteil über Breslau 11, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 104, S. 353 ff.; Meyer-Jena zum Antrag Rinteln: SBDR 13. Feb. 1886, S. 1069.

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jeder charakterfeste Mensch sich weigern würde.104 Die Tatsache, dass Arbeitern Stimmzettel aus den Händen gerissen, ihnen neue aufgedrängt und sie zwangsweise zu den Wahlurnen geführt wurden, zählte nicht. Der Landrat (und spätere Finanzminister) Paul von Reinbaben behauptete: »… ein erwachsener Mann lässt sich nicht so ohne weiteres Zettel ›entreißen‹«.105 Abgeordnete bekannten sich zu der Ansicht, dass Stimmabgabe unter dem Druck des Arbeitgebers »eben Wahl mit allgemeinem Stimmrecht« sei und sei bis jetzt noch so überall in der Welt, und anderwärts meistens schlimmer.« Als Beschreibung der damaligen Verhältnisse war dies bestenfalls eine Übertreibung. Was auch immer die Schwächen in der Praxis sein mochten, so hatten doch Frankreich, Großbritannien und Belgien wie auch einige amerikanische Staaten derartige Erpressungen kriminalisiert.106 Natürlich ist Kriminalisierung allein, besonders in einer Gesellschaft mit einer derart hohen Toleranz für Kriminalität wie den Vereinigten Staaten, ein unzuverlässiger Indikator für die Praxis. Aber in Deutschland, wo die buchstabengetreue Beachtung des Gesetzes bei allen Gesellschaftsschichten tief verwurzelt war, durfte man sich mit Recht fragen, wer behaupten könne, dass eine Sitte unzulässig sei, wenn das Gesetz diese nicht einmal verbot? Die Konservativen argumentierten: »Es ist nun einmal, meine Herren, das Loos des wirthschaftlich Schwachen, dass er bei der Ausübung seiner Rechte dem Einflusse des wirthschaftlich Stärkeren unterliegen muß.« Viele andere stimmten stillschweigend zu.107 Die weit verbreitete Überzeugung, dass die Freiheit einer Person davon abhing, ob sie den Schneid habe, diese zu verteidigen, steht im Kontrast zu einer Entscheidung, die der amerikanische Kongress in einer ähnlichen Situation traf. In einem Urteil über die Einschüchterung ehemaliger Sklaven in Louisiana befand das Pendant des Kongresses zur Wahlkommission des Reichstages, dass die Umstände der Wähler, »der Grad ihrer Abhängigkeit und Unabhängigkeit«, immer als wichtiger zu bewerten seien als die Frage, ob physische Gewalt im Spiel gewesen sei oder nicht, und stellte fest, dass Zwangsmaßnahmen sich nicht auf alle Wähler gleich auswirkten. Was auf die eine Klasse keine Wirkung habe, könne dennoch einen unwiderstehlichen Einfluss auf eine andere Klasse haben. Es ist auch … weder eine logische noch eine gerechte Doktrin, dass die Unterdrückungsmaßnahmen, die eine Wahl ungültig machen, notwendigerweise derart beschaffen sein müssen, dass sie imstande 104 Berlin 6, AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 94, S. 666 ff.; bes. 669 f.; Minderheitenbericht über Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 320, S. 1770. Die WPK stimmte für den Ankläger, aber der Reichstag annullierte nicht. Eine analoge Reaktion auf Einschüchterung durch Arbeiter: R. Schraps (Sächsische VP, SD) SBDR 17. April 1871, S. 246. 105 Reinbaben SBDR 18. Feb. 1888, S. 827. 106 Zitiert: Löwe SBDR 11. Apr. 1874, S. 718. Frankreich. Strafe von 100 Francs und zwischen drei Monaten und einem Jahr Haft. Traeger SBDR 13. Febr. 1886, S. 1051; Frankreich und England: Windthorst, ebd., S. 1070; Mississippi und Frankreich: Mittermaier: Bestrafung, S. 345, 361. Weniger eindeutig: Charnay: Le Suffrage, S. 243. 107 Z. B. Löwe SBDR 11. April 1874, S. 718. Zitiert: Reinbaben über Breslau 10, SBDR 11. Jan. 1889, S. 384 f. Bei LT-Wahlen war allen bewusst, dass »die unverblümtesten Verstöße«, wie Kühne es ausdrückt, nicht auf das Konto der K Landräte, sondern der LL Stadtverwaltungen gingen. Liberalen, S. 283.

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seien, den Willen von Wählern mit einem durchschnittlichen Maße an Mut und Intelligenz zu bezwingen. Ein solches Prinzip wie dieses würde in seiner praktischen Ausübung in der Aberkennung des Wahlrechts der schwachen und unwissenden Wähler resultieren, welchen grundsätzlich die Sorge des Gesetzes gelten muss … 108

Es sollte, wie wir wissen, bis 1965 dauern, bis diese edlen Gefühle zum Schutz der früheren Sklaven und ihrer Nachkommen führten. Dennoch, wenn Heuchelei eine Huldigung ist, den das Laster der Tugend darbringt, lässt der auffällige Gegensatz im Ton zwischen der Sorge des amerikanischen Kongresses um die »Schwachen und Unwissenden« und dem kurz angebundenen Urteil der Wahlprüfungskommission des Reichstags, »… Dagegen sei der Staat außer Stande, einem sozial abhängigen Wähler für die Wahl soziale Unabhängigkeit zu garantieren«, darauf schließen, welch geringer Stellenwert auf der Liste der Tugenden der Autonomie dieses Wählers bei einem großen Teil der herrschenden Klasse des deutschen Kaiserreichs zukam.109 Dementsprechend, so waren sich alle einig, glich die Debatte über den Antrag des Abgeordneten Rinteln einer »Hinrichtung«.110 Der Freisinn unterstützte den Antrag nur so weit, dass er genügend Stimmen erhielt, um sich für eine nähere Prüfung durch das Komitee zu qualifizieren. Innerhalb von drei Monaten war er vom Tisch. Rintelns zweiter Antrag, der auf einige der gegnerischen Einsprüche einging, erwies sich als ebenso erfolglos.111 Das Jahr 1886 war das erste und letzte, in dem der Reichstag versuchte, auf dem Gesetzeswege direkt gegen den Einfluss von Arbeitgebern vorzugehen. Eine frühe Auflösung und die Neuwahlen von 1887 veränderten die Zusammensetzung der Legislative drastisch. Der Freisinn kehrte mit weniger als der Hälfte seiner früheren Abgeordneten zurück; dies war eine weit geringere Anzahl, als nötig gewesen wäre, um gemeinsam mit dem Zentrum und elf Sozialdemokraten den Antrag Rinteln passieren zu lassen – selbst wenn sie vermocht hätten, ihre eigenen philosophischen Bedenken zu überwinden.112 Als ob das Zentrum die Ambivalenz seiner Mitstreiter erkannt hätte, versuchte es später nie mehr, Rintelns Gesetzesvorlage wieder aufzunehmen, selbst als sich drei Jahre darauf die parlamentarische Konstellation änderte. Auch 1910, als der Entwurf eines neuen Strafgesetzbuchs veröffentlicht wurde, kam es nicht zu einer Wiedergutmachung. Zwar erlaubte man durch engere Definitionen im entsprechenden Paragraphen des neuen Strafge108 Rowell: Digest, S. 527. 109 Die WPK weigerte sich, zwischen der Abhängigkeit des Wählers von seinem Arbeitgeber und seiner »sozialen Abhängigkeit« von Vereinen und Standesgenossen zu unterscheiden, die ebenso der Kontrolle des Staates entgehe. Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 320, S. 1770. 110 SBDR 13. Feb. 1886, S. 1047 ff. »Hinrichtung«: ein Einwurf während der Rede von Heine (SD), S. 1069. Hierzu auch Hegel SBDR 14. Jan. 1890, S. 996. 111 Traeger SBDR 20. Mai 1886, S. 2088. Antrag Rinteln u. Gen., AnlDR (1886/87, 6/IV, Bd. 2) DS 12, S. 77. 112 Rinteln SBDR 10. Jan. 1889, S. 374. Wann immer danach Abgeordnete wegen Einschüchterung durch Arbeitgeber protestierten (z. B. Hermes SBDR 11. Jan. 1889, S. 383), beriefen sich Gegner auf das »totgeborene Kind« des Antrags Rinteln: Reinbaben SBDR 11. Jan. 1889, S. 384.

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Teil 2: Kraftfelder

setzes, Wahlvergehen leichter zu verfolgen, aber zwei dieser Vergehen – Betrug und physischer Zwang – traten fast nie auf, während das dritte – Bestechung – zu selten geschah, um von politischer Bedeutung zu sein. Demgegenüber blieb die Einschüchterung von Arbeitnehmern, welche die häufigste und effektivste Verletzung freier Wahlen darstellte, weiterhin straffrei.113 Wie stand es denn um die Autorität des Reichstags, manipulierte Wahlen zu annullieren? Er bot keineswegs eine direktere Hilfe gegen diese Erpressungen an als das Strafgesetzbuch. Arbeitgeber, die es verstanden, ihre Arbeiter einzuschüchtern, verstanden es auch, diese zu zwingen, Erklärungen zu unterschreiben, die ihren Brotherrn von einem derartigen Vorwurf freisprachen.114 Selbst ohne Einschüchterung nach der Stimmabgabe, so schrieb ein Wähler in einem Brief an den Kaiser, sei das Beste, worauf man hoffen könne, eine Annullierung am Ende der Legislaturperiode, wenn es ohnehin zu spät sei, um noch einen Unterschied zu machen.115 Während des Bismarck’schen Kartells von Nationalliberalen und Konservativen (1887–1890) gab die Wahlprüfungskommission erst gar nicht mehr vor, unparteilich zu sein. Nachdem sie Geheimnisverletzungen mit einer Haarspalterei gewichtet hatte, die eines besseren Zwecks würdig gewesen wäre, und zu deren Entscheidung sie Jahre brauchte, präsentierte die Kommission ihre Ergebnisse dem Plenum, ohne sich überhaupt die Mühe zu machen, einen schriftlichen Bericht vorzulegen. Sie ignorierte damit eine zwanzig Jahre alte Tradition zugunsten mündlicher Zusammenfassungen, die von einem Mitglied vorgelesen wurden, das – so schien es jedenfalls – hauptsächlich wegen seiner leisen Stimme für diese Aufgabe gewählt worden war. Die Urteile standen von vornherein fest.116 Eine Diskussion darüber, ob man dem Reichstag die Entscheidung von Gültigkeitsfragen entziehen und sie einem unabhängigen Gericht anvertrauen sollte, die zur Mitte der 1880er Jahre unter Juristen begonnen hatte, flammte erneut auf.117 Aber selbst nachdem die Wahlen von 1890 die 113 Mayer: Bekämpfung, S. 19; Gurwitsch: Schutz, S. 18. Bellot: Hundert Jahre, S. 234; Breslau 3, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1433, S. 2939. 114 Z. B. unterbreitete der Königliche Grubensteiger H. Haunschild aus Waldenburg der Untersuchungskommission eine »Erklärung an meine Bergleute« mit 76 Unterschriften. Breslau 10, AnlDR (1889/90, 7/V, Bd. 3) DS 105, S. 418 ff., 433. 115 August Roese an Wilhelm II., Swinemünde, 6. März 1890, BAB-L R1501/14693. Bl. 245–256. 116 Obwohl die Überwachung erwiesen war, konnte die Anklage der Geheimnisverletzung abgewiesen werden, wenn die Kläger versäumten zu sagen, dass die Arbeiter gezwungen wurden, ihre Stimmzettel hoch zu halten. Puttkamer-Plauth über Breslau 6, SBDR 6. März 1888, S. 1314. Die WPK befand die Tatsache als unwichtig, dass die Stimmzettel nummeriert waren: Reinbaben SBDR 10. Feb. 1888, S. 827. Bergleute in Hörde: Arnsberg 6 (Dortmund): AnlDR (1890/91, 8/1, Bd. 3) DS 292, S. 2050, 2052 ff. Die Gerichte schützten die Geheimhaltung etwas besser: Rickert zitiert Traeger, SBDR 15. Jan. 1890, S. 1014 f. Kritik an der WPK: Rickert SBDR 6. März 1888, S. 1318, 1321, 1325; Wacker: Rechte; Prengel: Beiträge. 117 Von Mohl hatte für die Ausweitung der Macht des Parlaments plädiert: Über die Untersuchung bestrittener ständischer Wahlen durch die Abgeordneten-Kammern selbst (1847, 1860). 1874 war er darauf zurückgekommen, nur um (unter Vorbehalten) zugunsten des Parlaments im Gegensatz zu einem Gericht zu entscheiden: Erörterungen. Jede spätere Diskussion vertrat meines Wissens die entgegengesetzte Meinung. Gutachten des Herrn Professor Dr. Jellinek in Wien (1885), in: Gutachten in den Verhandlungen des Neunzehnten Deutschen Juristentages, Berlin 1988, Bd. 2, S. 121 ff.; Heinrich Jaques: Die Wahlprüfung in den modernen Staaten und ein Wahlprüfungsgerichtshof für Österreich. Eine staatsrechtliche Abhandlung, Wien 1885; Max v. Seydel: Parlamentarische oder richterliche Legitimationsprüfung, in: Annalen des Deutschen Reiches (1889), S.273 ff.; Adolf Rosinski: Das Recht des Reichstags zur Ungil-

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Stärke des Kartells auf gut die Hälfte reduziert hatten, blieben die Urteile der Wahlprüfungskommission in denselben Skrupeln über private Rechte befangen wie zuvor.118 Nur wenn der Arbeitgeber der Staat war, wie etwa bei den Danziger Schiffswerften, oder wenn eine eklatante Verletzung des Wahlgeheimnisses vorlag, wurden Wahlen annulliert.119 Das Handbuch der Konservativen Partei, das in den 1880er Jahren von einem ehemaligen Mitglied der Wahlprüfungskommission zusammengestellt worden war, um Parteiaktivisten zu informieren, wie man Annullierungen vermeiden könnte, und das danach in regelmäßigen Abständen neu herausgegeben wurde, gestattet Einblick in die geltende Rechtsprechung. Jede neue Auflage enthielt eine Liste der Fälle, in denen sich der Reichstag geweigert hatte, unter Druck von »Privatpersonen« erpresste Stimmen für ungültig zu erklären: beruhigende Beweise für die Arbeitgeber im ganzen Land, dass sie von dem Parlament nichts zu befürchten hatten.120 Erst als nach dem überwältigenden Sieg der Sozialdemokraten 1912 die Kommission in die Hände der SPD und des Zentrums überging, hörten deren Urteile auf, die Kontrolle des Arbeitgebers über die Stimmen seiner Beschäftigten als eine Privatsache zu betrachten.121

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tigkeitserklärung der Wahlen seiner Mitglieder und die Notwendigkeit der Erneuerung der Wählerlisten. Eine Interpretation des § 34 des Wahlreglements zum deutschen Reichstag, Berlin 1897; Leser: Untersuchungen; Jonge: Parlament, S. 207 ff. Öffentliche Unterstützung für Untersuchungen durch den Reichstag: Gegenprotest in Arnsberg 6, AnlDR (1890/91, 8/1, Bd. 3) DS 292, S. 2060. Auch die Gerichte, die darum gebeten wurden, bei Kommunalwahlen ähnliche Fälle zu entscheiden, verzweifelten, wenn auch anscheinend nicht so sehr wegen des Vertragsrechts, sondern wegen der Schwierigkeit, zu beweisen, dass die Beeinflussung den entscheidenden zahlenmäßigen Unterschied ausmachte. [Delius:] Beantwortungen von Anfragen. Arbeitgeber, Wahlbeeinflussung einer Gemeindewahl durch A., in: PVB 28/12 (22. Dez. 1906),S. 227; Landesgerichtsrat Dr. Mangler: Die Anfechtung von Reichstagswahlen, in: DN (15. Feb. 1912), BAB-L R1501/14653, o. S. Werften: Danzig 3, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 5) DS 80, S. 338 ff.; SBDR 16. Juni 1882, S. 541 ff. und 2. Dez. 1882, S. 582 ff.; Pächter von Staatsdomänen: Mecklenburg-Strelitz SBDR 8. Mai 1880, S. 1255 ff.; AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 153, S. 831 ff. Siehe auch Kap. 12. [Köller:] Ungiltigkeit, bes. S. 18 f.; Freudenthal: Wahlbestechungen, S. 58–59 Anm. 22; und noch 1914: Hatschek: Kommentar, S. 206 f. Z. B. Trier 5, AnlDR 1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3589, 3592; zu Merseburg 5, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 840, S. 1136 ff.

Teil 3: Grade der Freiheit

Kapitel 8: Die Entmachtung der Autoritäten

Wer könnte sich der Überzeugung verschließen, daß das geheime Wahlrecht die Negation jeder Autorität und im Effekt auch die Negation der Autorität der Krone ist? Wilhelm von Rauchhaupt, Landrat, 1883.

Bis heute nimmt die deutsche Wahlforschung die Frage der Wahlfreiheit nicht sonderlich ernst. Typischerweise werden eine oder zwei Anekdoten über Einschüchterung erzählt, die beispielsweise aus sozialdemokratischen Memoiren stammen, und dann geht man rasch zur Analyse des Wahlverhaltens über – also zum Ausgang der Wahlen. Der schnelle Übergang zu den Endresultaten lässt zumindest implizit die Auswirkungen der Überwachung, der Drohungen und Repressalien auf die Wahlbeteiligung oder den Wahlausgang unberücksichtigt.1 Im Gegensatz dazu habe ich in den Teilen I und II darzustellen versucht, für wie selbstverständlich die Zeitgenossen die Überwachung hielten, und in den letzten beiden Kapiteln, wie selbstverständlich der Druck des Brotherrn in seinen ganzen Auswirkungen und Härten erschien. Wenn auch das Interesse der Arbeitgeber nicht in jedem Wahlbezirk und an jeder Wahl gleich stark war, haben wir keine Beweise dafür, dass ihr Verlangen nach Kontrolle mit der Zeit abnahm. Im Gegenteil, je mehr Übung das Land im Wählen bekam, desto mehr hing für sie davon ab, wie ihre Arbeitskräfte wählten. Aber die Bemühungen der Mächtigen, politische Konformität herzustellen, vertragen sich schlecht mit einigen Fakten, die jedem bekannt sein dürften, der sich mit den deutschen Wahlen befasst hat: dass das ungeliebte Zentrum mit Hilfe der mit ihm verbündeten Welfen von 1881 bis 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag bildete, bevor es schließlich von den mit noch größerem Missfallen betrachteten Sozialdemokraten übertroffen wurde; dass die Sozialdemokraten bereits im Februar 1890 1

Z. B. Suval: Politics, S. 42; Guttsman: Party, S. 135. Einige Ausnahmen: Ritter: Strategie, S. 315; Bellot: Hundert Jahre; Bajohr: Krupp; Fairbairn: Authority (aber siehe S. 818), und am wichtigsten Kühne: Dreiklassenwahlrecht, Teil I.

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Teil 3: Grade der Freiheit

Deutschlands erfolgreichste Stimmenjäger waren (während das Sozialistengesetz noch in Kraft war) und dass sie im nächsten Vierteljahrhundert ihre Stimmenzahl nahezu verdoppelten, während sich ihre Mitgliederzahl vermutlich vervierfachte. »Keine andere sozialistische Partei in Europa«, schreibt William Guttsman, »mit Ausnahme der österreichischen Sozialisten nach 1918, konnte mit dieser Leistung auch nur annähernd mithalten.«2 Wie lassen sich die Mikrogeschichten der eingeschüchterten, ja sogar gezwungenen individuellen Wähler mit dieser makropolitischen Erfolgsgeschichte vereinbaren?

−−− Dieses Kapitel ist der Dreh- und Angelpunkt unserer Darstellung. Wir werden mit der nationalen Politik beginnen: angefangen bei den Veränderungen der öffentlichen Meinung bis hin zu der gespannten Beziehung zwischen Reichstag und Regierung, die in der Wahlreform von 1903 gipfelte, welche das Wahlgeheimnis schützte. Dies war vielleicht der wichtigste Beitrag der deutschen gewählten Abgeordneten zu der demokratischen Entwicklung ihres Landes. Weder die Parteien noch die Regierung wussten mit Sicherheit, welche Konsequenzen die Reform haben würde. Für sie alle war es eine Entscheidung, »ihre Interessen einer Unsicherheit zu unterwerfen«. Genau diese andauernde Unsicherheit, die eine derartige Reform in das System einbringt, macht für »Institutionalisten« wie Dankwart Rustow und Adam Przeworski den entscheidenden Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie aus.3 Aber die Reform von 1903 selbst ging von einer ständigen reformfreudigen Mehrheit in einem Reichstag aus, der sich seiner Macht sicher war. Und gerade diese Mehrheit, die durch Wähler aus der Unterschicht zustande gekommen war, muss noch erklärt werden. Um die entsprechenden Hintergründe sichtbar zu machen, werden wir uns wieder aufs Land begeben. Hier werden wir uns zuerst, im Rest dieses Kapitels, die strukturellen Bedingungen anschauen, die den nötigen, wenn auch unzureichenden Raum für politische Freiheit schufen – in erster Linie ein rapides Wirtschaftswachstum.4 Von einer sich modernisierenden Wirtschaft werden wir uns dann in Kapitel 9 den kulturellen Traditionen zuwenden – einem stark entwickelten Legalismus und einer Auffassung von Öffentlichkeit, die implizit kontrovers angelegt war und den Parteien erlaubte, diesen Raum auszubeuten und zu erweitern. In den letzten Kapiteln werden wir dann die Art und Weise untersuchen, in der Gemeinschaften und später Parteien um 2 3 4

Guttsman: Party, S. 130 f. Zitat: Przeworski: Problems, S. 58. Das Konzept des »sozialen Raums«, das benutzt wird, um die Fähigkeit subalterner Gruppen zu erklären, ihre eigene Agenda zu artikulieren, ist auf interessante Weise entwickelt in: Moore: Injustice, S. 482, der sich auf das Werk von Albert O. Hirschman: Exit, Voice, Loyalty, Cambridge/MA 1981, bezieht. Moores Untersuchung der Ursprünge eines Gefühls für Ungerechtigkeit, wie es sich in aufrührerischen Streiks äußert, entspricht meiner Untersuchung des rebellischen Wählens. Aber seine Prämisse ist, dass, während die meisten Arbeiter rebellieren können, es die wenigsten »wollen« – und so stellt er die Frage nach dem Warum. Meine eigene Prämisse, die sich auf Wahluntersuchungen stützt, ist, dass obwohl viele Wähler oppositionell wählen wollten, nur wenige dies konnten – daher stelle ich die Frage nach dem Wie.

Kapitel 8: Die Entmachtung der Autoritäten

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die Kontrolle dieses Raums kämpften, mit Waffen, die sowohl an ihre gemeinschaftliche Vergangenheit erinnerten als auch bereits die organisierte, geldgesteuerte Zukunft der Wahlkämpfe ahnen ließen.

Die geheime Wahl und der Kampf um die Macht des Reichstags Als der Reichstag sich als nicht willens zeigte, den Wähler gegen private Macht zu schützen – weder 1886 durch die Verabschiedung des Rinteln-Gesetzes, noch durch eine dauerhafte Ausübung seiner Autorität bei der Annullierung manipulierter Siege –, nahmen jene Abgeordneten, denen es um freie Wahlen ging, ihre früheren Anstrengungen wieder auf, das Wahlgeheimnis zu stärken.5 Aktivitäten zum Schutz der Geheimhaltung bedeuteten allerdings, sich nicht nur mit den Arbeitgebern anzulegen, sondern auch mit der Reichsregierung. Letzterer war in hohem Maße bewusst, dass die Frage, ob »die Geheimhaltung der Wahl im großen und ganzen eine theoretische Idee« bliebe oder nicht, ihre Interessen weit mehr berührte als die Ausweitung oder Einengung des Wahlrechts.6 Bereits in den 1880er Jahren hatte die preußische Regierung, wenn sie mit Anträgen zur Einführung des Wahlgeheimnisses bei Landtagswahlen konfrontiert wurde, diese mit der Drohung abgewehrt, die »geheime« Wahl bei den Reichstagswahlen wieder abzuschaffen.7 Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, ging sie 1888 so weit, Professor Laband zur Verfassungsmäßigkeit der Abschaffung der Reichstagswahl ohne die Zustimmung des Reichstags zu befragen. Eine Reihe von Nationalliberalen unterstützten diese Bemühungen, indem sie wissen ließen, dass allein das offene Wählen bei den preußischen Landtagswahlen das Reichstagswahlrecht erträglich mache.8 Dennoch verstärkten ab 1889 Abgeordnete des Freisinns und des Zentrums ihre Bemühungen, Vorkehrungen zur Sicherung der Integrität der Wahlen einzuführen, indem sie ihren regelmäßigen Ruf nach Umschlägen mit einer neuen Forderung nach einer Wahlkabine verbanden. Die Anwälte der Geheimhaltung berichteten beredt über den Australischen Stimmzettel sowie über die Erfahrungen in England, Norwegen, Belgien, Massachusetts und Connecticut; sie verlasen Passagen aus dem amerikanischen liberalen Blatt The Nation im Reichstag, die in den Protokollen erhalten sind.9 Ihre Gegner präsentierten alle nur möglichen Einwände. Ein Liberaler erinnerte die Abgeordneten: »Auch das 5 6 7

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Die bittere Realität anerkennend: Thätigkeit, S. 158. Zitat eines Vorsitzenden der WPK, in: Hatschek, Kommentar, S. 324. Kabinettdiskussionen: 4. Dez. 1883, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 5, o. S.; Christoph Tiedemann an Herrn Graf (unleserlich), 31. Dez. 1883, BAB-L R43/685, Bl. 179–182. Der Z-Antrag, der Stimmen von F erhielt, wurde 1881 gestellt, die Anträge Stern und Uhlendorff 1883 bzw. 1886. Gagel: Wahlrechtsfrage, S. 107 f., 122. Brief an Bismarck, ohne sichtbare Unterschrift, aber in christlich sozialer Wortwahl, zugunsten des Antrags Stern: 5. Jan. 1884, BAB-L R43/685, Bl. 183–188. Windthorst, Bamberger, Bötticher (Regierung), Bennigsen, Helldorf, SBDR 1. u. 3. Feb. 1888, S. 657, 661, 663, 666; 693 f., 696, 698; Meyer-Jena, Windthorst, 9. Feb. 1888, S. 784, 798. Internationale Beispiele: Rickert SBDR 15. Jan. 1890, S. 1018 f. Unzufriedenheit mit den Vorkehrungen zur Geheimhaltung in England: Lionel Helber, Präsidentenbüro des britischen Unterhauses, an R. Siegfried, 27. April 1893, BAB-L R101/3344, Bl. 17; Siegfried: Wahlurne, S. 735 ff., bes. 754, 758, 758 Anm. 1.

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Teil 3: Grade der Freiheit

Hineinstecken z. B. der Wahlzettel in die Kuverts ist für manche Leute eine gar nicht so einfache und kleine Arbeit. Nehmen Sie unsere Arbeiter, deren Hände an ganz andere Dinge gewöhnt sind als an das Umgehen mit Papier …«, worauf Windthorst scharf erwiderte: »Und will der geehrte Herr sagen, daß unsere Landsleute im Osten weniger gebildet sind als die Belgier?«10 1894 schließlich, als Bismarck im keineswegs friedlichen Ruhestand war, fand der Antrag Rickert – wie er nach seinem prominentesten Vertreter genannt wurde – seine erste Mehrheit.11 Der Bundesrat, dessen Zustimmung zu jedem neuen Gesetz nötig war, ließ ihn kommentarlos durchfallen. Aber der Reichstag verabschiedete das Gesetz erneut. Und noch einmal. In unterschiedlicher Form wurde der Antrag Rickert in zehn Jahren neunmal eingereicht. Und mit jedem Mal vergrößerte sich die Mehrheit.12 Warum gewann nach zwei Jahrzehnten der Tolerierung nicht-geheimer Wahlen die Forderung nach Sicherheiten für die geheime Abstimmung derart viele Anhänger? Von unten wuchs seit Beginn der 1880er Jahre das Verlangen der Wähler nach politischer Unabhängigkeit, wie all die Petitionen und Proteste verdeutlichten, die den Anstoß zu den Rinteln-Anträgen von 1886 gaben. 1889 hatte der Wahlumschlag sogar seinen Weg an die Spitze des Parteiprogramms der soeben gegründeten Deutschsozialen Partei des Max Liebermann von Sonnenberg gefunden, die als konservativste der neuen antisemitischen Gruppen galt: ein aufschlussreiches Zeichen dafür, dass die Zeit reif war für die Idee der Forderung nach Geheimhaltung.13 Dennoch: Das Übergewicht jener Fraktionen, die die Reform unterstützten (Zentrum, Linksliberale und SPD), über jene, die im Allgemeinen mit der Regierung stimmten (Nationalliberale und Konservative), war in den 1890er Jahren nicht größer, als es zwischen 1881 und 1887 gewesen war. Was neu hinzukam, waren die Stimmen aus dem Bildungsbürgertum, jenen Akademikern und Fachleuten, die überall eine wichtige Rolle als Meinungsmacher spielen – und nirgendwo mehr als in Deutschland. Unter diesem Druck ließen sich selbst die Nationalliberalen überzeugen.14 Zwei Entwicklungen helfen, die neue Empfänglichkeit dieser ausschlaggebenden Gesellschaftsschicht für eine geheime Stimmabgabe zu erklären. Die erste war der Ausbruch erbitterter Arbeitskämpfe, von denen der große Berg10

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Zitate: Struckmann, Windthorst SBDR 15. Jan. 1890, S. 1017, 1022. Anscheinend verharrten jedoch einige Wähler, als die Wahlkabine eingeführt wurde, darin und suchten einen Briefkasten! Geck (SD), SBDR 21. April 1903, S. 8923. Im Oktober 1889 stellten H. Rickert und T. Barth einen früheren Antrag noch einmal, der einen gestempelten Umschlag, einen getrennten Raum und die ausdrückliche Erlaubnis handschriftlicher Stimmzettel forderte: AnlDR (1889/90, 7/V, Bd. 3) DS 26, S. 54; SBDR 15. Jan. 1890, S. 1011 ff. Zwei fast identische Versionen eines vom Z geänderten Gesetzes wurden im Juli 1890 noch einmal unter Barths und Rickerts Namen eingereicht. AnlDR 1890/91, 8/I, Bde. 1 und 2) DS 139, S. 810; DS 140 (Druckfehler sagt 139), S. 813. Ein Gesetzesentwurf von 1892 von A. Gröber (Z) war im Prinzip gleich, und beide werden oft gemeinsam als Antrag Rickert-Gröber bezeichnet. Umfassend: Hatschek: Kommentar, S. 324 ff. Eine Liste aller neun Anträge: Meyer: Wahlrecht, S. 554 Anm. 5. Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 406; siehe auch Liebermanns Unterstützung, SBDR 21. Jan. 1903, S. 7458. Kühne entdeckt ab 1898 einen Linksruck selbst unter NL im preußischen Landtag. Liberale, S. 302.

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arbeiterstreik von 1889 und die Hamburger Werftarbeiterstreiks von 1896/97 nur die auffälligsten waren. Der Klassenkampf vergiftete die Atmosphäre der 1890er Jahre im gleichen Maß, wie es der Kulturkampf in den 1870ern getan hatte, aber auf eine Art und Weise, die Sympathie über die Klassenschranken hinweg erregte. Die zweite Entwicklung war die drohende Illegalität, und vielleicht sogar Gewalt, in Form eines Staatsstreichs mit der Absicht einer Aufhebung des Reichstagswahlrechts. Diese Bedrohung lag wie eine dunkle Wolke über dem gesamten Jahrzehnt. Und in dem Augenblick, als es in Frage gestellt wurde, entwickelte sich das Reichstagswahlrecht zu dem politischen Thema des Jahrzehnts, wobei die Frage der Abstimmung zum Bestandteil einer allgemeinen Verfassungskrise wurde. Diese beiden Entwicklungen wollen wir uns anschauen.

−−− Die Arbeitskämpfe in der Industrie machten Schlagzeilen – und sie hielten das Thema der Abhängigkeit im Zentrum des öffentlichen Interesses. Während Deutschlands mächtigste Arbeitgeber nicht nur die Forderungen ihrer Untergebenen in den Wind schlugen, sondern auch die Bemühungen der Geistlichen, der akademischen Reformkräfte und selbst des Kaisers um eine Wiederherstellung der sozialen Harmonie, büßten sie einen erheblichen Teil der Hochachtung und des guten Willens der Bevölkerung ein. Emil Kirdorfs arroganter Kommentar: »Weder Kaiser noch Könige haben in den Betrieben etwas zu sagen. Da bestimmen wir allein!« wurde durch die Presse weit verbreitet und war dem Anliegen der Arbeitgeber keineswegs zuträglich.15 Die öffentliche Meinung ist bekanntermaßen die veröffentlichte Meinung. Und die veröffentlichte Meinung begann sich erheblich zugunsten der Schwachen in der Gesellschaft zu verändern. Bezeichnend für den Wandel war eine Kraftprobe, die sich 1896 an der Saar zwischen einer Gruppe evangelischer Pfarrer, die versucht hatten, einen bescheidenen Arbeiterverein zu gründen, und dem mächtigsten Arbeitgeber der Region, Karl von Stumm, ereignete.16 Als der cholerische Baron die Geistlichen als »Krebsschäden« denunzierte, ihre Moral in seiner Zeitung in Frage stellte und ein Verfahren gegen sie im Königlichen Konsistorium einleitete, reagierten 36 von ihnen mit einer öffentlichen Stellungnahme, in der sie Stumms politische Kontrolle verteilten, die sich nicht nur über seine eigenen Arbeiter ausdehnte, sondern auch über die Gastwirte und Geschäftsleute, denen er »mit einem Federstrich … sämmtliche Kunden entziehen« konnte, sowie über die Drucker, 15

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Zitiert in: Mallmann u. Steffens: Lohn, S. 76. Sympathieverlust für Arbeitgeber: Rüdiger vom Bruch: Streiks und Konfliktregelung im Urteil bürgerlicher Sozialreformer 1872–1914; in: Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, hrsg. v. Klaus Tenfelde u. Heinrich Volkmann, München 1981, S. 257, 262. Stumm-Halberg, hrsg. v. d. Saarbrücker evangelischen Pfarrkonferenz, bes. S. 31 ff. (eine Dokumentation), und Kötzschke: Brief, S. 14 f. Pastor Kötzschke war der Christlich-Soziale Herausgeber des Evangelischen Wochenblatts, das Stumm verklagte, und stand der SPD nahe. Die Arbeit der Pastoren wurde angespornt durch die Furcht vor der attraktiven Macht der katholischen Organisationen, die von dem nicht kleinzukriegenden Kaplan Dasbach geleitet wurden.

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Teil 3: Grade der Freiheit

denen man gedroht hatte für den Fall, dass sie die Sonntagszeitung der Pfarrkonferenz druckten. Stumms System der Spionage und Einschüchterung, so sagten sie, erstreckte sich selbst auf Mitglieder des Stadtrats und indirekt auf seine Arbeitgeber-Kollegen. Das ideologische Bild der Familie, das so häufig von Brotherren wie Stumm zur Legitimierung ihres Rechts bemüht wurde, in loco parentis die Wahlstimmen ihrer Arbeitskräfte zu bestimmen, wurde in einer führenden evangelischen Zeitschrift zurückgewiesen: »… nach Tausenden zählende Familien sind ein Unding; und wo ist die Einzelpersönlichkeit, die Tausenden väterliche Fürsorge zuwenden könnte?«17 Für Superintendent Adolf Zillessen hatte das Stumm-Regime »das System der brutalen Gewalt unter völliger Nichtachtung des unveräußerlichen Rechts jeder anderen Persönlichkeit enthüllt«.18 Als ob die Anklage durch den höchsten Vertreter der evangelischen Kirche im Saarland nicht genug gewesen wäre, brach ein Pressekrieg aus zwischen der Saarbrücker Zeitung und der Neuen Saarbrücker Zeitung. Letztere war vom Baron allein zu dem Zweck gegründet worden, erstere in den Bankrott zu treiben. Der sich zunehmend nach links bewegende Pastor Friedrich Naumann, den Stumm an öffentlichen Auftritten in der Gegend hindern wollte, und Professor Adolf Wagner, Nationalökonom und früherer konservativer Landtagsabgeordneter, dessen Kritik Stumm veranlasst hatte, Satisfaktion zu fordern, fügten dem Streit ihr ureigenes Talent zur Öffentlichkeitsarbeit bei.19 Öffentlich wirksame Konflikte wie dieser kamen den Befürwortern des Antrags Rickert wie gerufen, konnten sie jetzt doch auf Geistliche (und dazu evangelisch) wie auch berühmte Intellektuelle zur Untermauerung ihres Bildes von der Verletzlichkeit der Arbeiter verweisen. Die Kontroverse warf ein scharfes Licht auf ein System, das Stumm als Modell für die Arbeitgeber im ganzen Land propagierte. Was dem Sturm an der Saar allerdings auf nationaler Ebene solchen Neuigkeitswert verlieh, war die Tatsache, dass der Baron, von dem man wusste, dass der Kaiser ihm sein Ohr lieh, für eine kleine, aber lautstarke Tendenz innerhalb der konservativen Meinung stand, die sich ebenso öffentlich wie auch hinter den Kulissen um eine »Revolution von oben« bemühte: um die Abschaffung »des köstlichen Kleinods des allgemeinen Wahlrechts« selbst. Dies bringt uns zur zweiten Entwicklung, die zusätzlich zu den Arbeitskämpfen hinter dem Umschwung in der öffentlichen Meinung zugunsten des Wahlgeheimnisses stand: die wiederholten Andeutungen der Regierung, dass sie willens sei, einen Staatsstreich zu unternehmen, falls der Reichstag nicht gefügig sei.20 Als die Reformfrage mit der Integrität des Parlaments verknüpft wurde, drängte, wie wir noch sehen werden, die Öffentlichkeit nach Reformen. 17

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Freiherr von Stumm und die Geistlichen an der Saar. Ein offenes Wort zum Frieden, in: Deutsch-evangelische Blätter 21(1896), S. 624 ff., bes. 627, 629, 635. Dieser anonyme Artikel wurde bestellt von Willibald Beyschlag. In einer Weise formuliert, dass er Stumm-Anhänger nicht verletzte, leistete er dennoch den Pastoren uneingeschränkte Unterstützung. Stumm-Halberg, hrsg. v. d. Saarbrücker evangelischen Pfarrkonferenz, Zitat S. 49. Ebd., S. 71 f. Bestätigung eines Spionagesystems, das sich auf die intimsten privaten Beziehungen erstreckte und selbst die Mittelschicht zu Unterhaltungen im Flüsterton veranlasste: Kulemann: Erinnerungen, S. 165, 168 f., 173. Oppen: Reform, S. 9, hat »nichts einzuwenden« gegen einen Staatsstreich, und ist ein Zeugnis für die

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Jene, die zur Abschaffung des allgemeinen Männerwahlrechts rieten, bekleideten einflussreiche Positionen am Hof des Kaisers und sie konnten auf die Unterstützung führender Persönlichkeiten in der Armee, dem preußischen Kabinett und der Schwerindustrie zählen. Durch öffentliche Reden und private Unterhaltungen, durch das Ausplaudern von Kabinettsgeheimnissen und gezielte Indiskretionen an bestimmte Zeitungen (die Hamburger Nachrichten stellten sich gern als Sprachrohr des Exkanzlers dar und berichteten regelmäßig aus Friedrichsruh über seine Kritik an der geheimen Wahl; die Kölnische Zeitung gab sich zweimal dafür her, Drohartikel abzudrucken, die dem preußischen Finanzminister und früheren Liberalen Johannes Miquel zugeschrieben werden), suchte man den Eindruck zu erwecken, dass ein auf der Basis des allgemeinen Männerwahlrechts gewählter Reichstag mehr als zwei Jahrzehnte nach seiner Einführung immer noch ein Experiment sei – ein Experiment, das sich jetzt als Fehler herausgestellt habe und jeden Moment beendet werden könnte.21 Gerüchte über einen Staatsstreich waren nichts Neues. Sie wurden stets dann verbreitet, wenn der Reichstag sich gegen ein Gesetz aussprach, das die Regierung für wichtig hielt, wie beispielsweise die Militärhaushalte von 1887, 1890, 1898 und 1899. In den 1880er Jahren hatten die Oppositionsparteien das Gerede von einem Staatsstreich der Regierung angekreidet und von ihr eine klare Antwort gefordert, so dass Bismarck gezwungen war, seine Verfassungstreue zu erklären. Aber die Gerüchte, die in den 1890ern in Umlauf gerieten, waren anderer Natur. Hier wurde nicht ein Coup angedroht, um Gesetze zu erpressen. Stattdessen – so hieß es – wurde die Gesetzgebung selbst in die Wege geleitet, um die Ablehnung des Reichstags zu provozieren und einen Staatsstreich herbeizuführen.22 Dies war ein Szenario, mit dem Bismarck Anfang 1890 geliebäugelt, das der Kaiser jedoch abgelehnt hatte.23 Aber als der Reichstag sich

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Hintergrund-»Geräusche«. Das »köstliche Kleinod des allgemeinen Wahlrechts« stammt aus Kötzschke: Brief, S. 71. »Revolution von oben« zitiert in Röhl: Germany, S. 216, auch 277; Ziekursch: Geschichte, Bd. 3, S. 80; Steinbach: Zähmung, Bd. 2, S. 416. Amtsgerichtsrat Schmölder: Das allgemeine gleiche Wahlrecht, KölnZ (15. Okt. 1890), Nr. 286, BAB-L R1501/14453, Bl. 90 f. Die Zweifel der KölnZ am allgemeinen Wahlrecht hatten bei der Wahl von 1884 begonnen. K. Müller: Strömungen, S. 205, 381 f. Ausgezeichnet zur Unzufriedenheit der NL mit dem Wahlrecht: Gagel: Wahlrechtsfrage, bes. S. 132 f. Siehe die lebhafte Beschreibung des Augenzeugen Bachem: Vorgeschichte, Bd. 5, S. 393 f., 407, 413, 461 ff., Bd. 6: S. 13 ff. Die frühere Variante: C. zu Hohenlohe-Schillingsfürst, damals Statthalter, hatte im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass er eine Krise herbeiführen werde, dazu geraten, der Presse einen Maulkorb zu verpassen, Bürger auszuweisen und die Wahlen in Elsass-Lothringen auszusetzen, bis das Militärgesetz 1893 verabschiedet war: also, um eine bestimmte Zusammensetzung des Reichstages zu erreichen. Er ging so weit, einen Entwurf des vorgeschlagenen Erlasses beizufügen: H-S. an Wilhelm II., Straßburg, 13. Mai 1893, und H.-S. an [Eure Excellenz; wahrscheinlich IM], GStA PK I. HA, Rep. 89/211, Bl. 182–187. Die 1880er Jahre: Anderson. Windthorst, S. 311, 352, 404 f.; zu Bismarck: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 408 Anm. 12. Die Kontroverse über Bismarcks Absichten: H. D[elbrück]: Die Auflösung des Reichstags, S. 186, behauptet, es sei so gewesen. Meinecke, HZ 98, S. 461 f., widersprach zuerst, war sich aber in HZ 102, S. 153 f., weniger sicher. Below: Wahlrecht, S. 169. Hatschek betrachtete es als ausgeschlossen, dass Bismarck daran gedacht haben könne, das Wahlrecht wieder an Besitz zu knüpfen: Kommentar, S. 7; während Kulemann: Erinnerungen, S. 139 f., 142 ff., Delbrücks Ansicht verteidigte und von der Furcht in parlamentarischen Kreisen berichtete, besonders bei NL. Neuer: John C. G. Röhl: Staatsstreichplan oder Staatsstreichbereitschaft? Bismarcks Politik in der Entlassungskrise, HZ 203 (Dez. 1966), S. 610 ff.; Michael Stürmer: Staatsstreichgedanken im Bismarckreich, HZ 209 (1969), S. 566 ff.; Nipperdey: Ge-

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dem Kaiser gegenüber keineswegs gefügiger zeigte als gegenüber seinem Reichskanzler, änderte Wilhelm II. anscheinend seine Meinung. Dreimal in diesem Jahrzehnt machte der Kaiser sich für Gesetze stark, die direkt gegen die Sozialdemokratie gerichtet waren und die im Grunde eine einzige Provokation darstellten. Das erste war die sogenannte Umsturzvorlage, die es ermöglichen sollte, jeden gerichtlich zu verfolgen, der der bestehenden Ordnung gegenüber feindlich gesinnt war. Dass eine derart vage Kategorie eines Tages selbst auf Hochschullehrer und Denker ausgedehnt werden könnte wie den aufmüpfigen Professor Wagner oder den redegewandten Pfarrer Naumann, entging den Gegnern des Gesetzes nicht – aber auch nicht seinen Befürwortern, von denen Stumm und seine Kollegen von der Schwerindustrie die eifrigsten waren. Die zweite Maßnahme, die man »das kleine Sozialistengesetz« nannte, hätte das preußische Vereinsrecht in einer Weise beschnitten, welche die Versammlungsfreiheit in noch größerem Maße in das Ermessen der Polizei gestellt hätte. Die dritte war die sogenannte Zuchthausvorlage, die Zwangsarbeit für jeden vorsah, der bei der Organisation von Streiks und Werksausschließungen »Zwang, Drohung, Ehrverletzung oder Verrufserklärung« anwandte. Eine Pressekampagne zugunsten der Zuchthausvorlage wurde auf vertrauliches Geheiß der Regierung vom Centralverband Deutscher Industrieller mit 12.000 Mark unterstützt. Was war das Ergebnis? Die Umsturzvorlage von 1895 wurde vom Reichstag am Ende seiner zweiten Lesung abgelehnt. Das »kleine Sozialistengesetz« erlitt 1897 eine Niederlage im Preußischen Abgeordnetenhaus (dessen Dreiklassenwahlrecht, das für ein Übergewicht der Rechten sorgte, mit Sicherheit ein besseres Ergebnis hätte erwarten lassen). Und die Zuchthausvorlage – sie gelangte nicht einmal an den zuständigen Ausschuss. Im November 1899 stimmte der Reichstag gegen jeden einzelnen Paragraphen. Die Ablehnung des Passus, der drei Jahre Zwangsarbeit androhte, erfolgte sogar einstimmig – als erste einstimmige Abstimmung in der Geschichte des Reichstags.24 Letztendlich führte keine dieser Niederlagen zur Ablösung der Regierung und erst recht nicht zu einem Staatsstreich. Am Ende eines Jahrzehnts der Aufwiegelung von ganz oben, der psychologischen Kriegführung und der offenen Herausforderung blieb das Männerwahlrecht uneingeschränkt erhalten. Warum? Ganz offensichtlich waren das Abenteuerhafte und die Illegalität, die jenen Plänen anhafteten, all denen ein Gräuel, die sich für vernunftbegabte Männer hielten. So etwa die Reaktion des preußischen Kabinetts, als Wilhelm II. ihm seine Gedanken zu einem möglichen Staatsstreich erläuterte, in der Wiedergabe von General von Waldersee mithin einem der Hauptdrahtzieher in der Intrige: »›Sie hätten einmal‹, so habe ihm der Kaiser erzählt, ›die Gesichter der Herren

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schichte, Bd. 2, S. 707 f., 713 ff. Der linksliberale H. v. Gerlach beschimpfte wider besseres Wissen alle Äußerungen, dass Bismarck je aufgehört habe, das Dreiklassenwahlrecht zu hassen, als »eine kecke Irreführung der öffentlichen Meinung«: Geschichte; S. 91. Röhl: Germany, S. 263; Hall: Scandal, S. 171 ff. Hierzu Hartungs Herunterspielen der Zuchthausvorlage in: Geschichte, S. 230, mit Bachems Beschreibung der Krisenatmosphäre während der 1890er Jahre: Vorgeschichte, Bd. 5, S. 387 f.; Bd. 6, S. 13 ff. Da Bachem ein Mitglied »dieses Reichstags« war, wie Kritiker ihn nannten, hat seine Beschreibung die emotionale Intensität einer Autobiographie.

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sehen sollen; ich dachte, sie würden in die Erde sinken.‹« Keinem klar denkenden, verantwortlich handelnden Minister, wie unzufrieden er auch immer mit dem gegenwärtigen Zustand sein mochte, konnte die Idee gefallen, alle gesetzlichen Vorgehensweisen über Bord zu werfen und die Entscheidungsgewalt einer Clique zu übertragen, die allein »Wilhelm dem Plötzlichen« verpflichtet war. Eine energische Gegenreaktion kam auch von den Regierungen der Bundesländer, deren Kooperation für ein solches Unterfangen unerlässlich gewesen wäre. Selbst die konservativen Abgeordneten, bei denen vorgefühlt wurde, lehnten es ab, von den konstitutionellen Pfaden abzuweichen.25 Es war charakteristisch für die Männer, die mit der Idee von einem Staatsstreich spielten, dass sie wollten, dass dieses Gerede an die Öffentlichkeit geriet, und auch wieder nicht; dass sie wollten, dass es ernst genommen werde, und auch wieder nicht. Ohne Staatsstreichgerüchte würde der Druck auf den Reichstag, die Gesetze der Regierung zu verabschieden, verpuffen. Aber sobald man das Gerede zugab, mussten seine Urheber damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Mittel und Wege zu benennen und für die verschiedenen Eventualitäten alternative Methoden abzuwägen, die es nicht gab – alles dies musste jenen Männern, die mit den alltäglichen Abläufen der Staatsgeschäfte betraut waren, zutiefst peinlich sein. Dementsprechend löste der Bericht des Zentrumsabgeordneten Richard Müller, eines Fabrikbesitzers aus Fulda, dass bereits ein Plan ausgearbeitet worden sei, das Reichstagswahlrecht zu ändern, eine Sensation aus – und ein Dementi folgte auf dem Fuß. Müllers Kollege, Carl Bachem, wiederholte jedoch bei einer Wahlveranstaltung in Krefeld die Anschuldigungen: »Ich kann aus meiner eigenen Kenntniß die Mittheilung des Herrn Müller noch erweitern, denn, m. H., es besteht und es hat bestanden sogar die Idee eines Staatsstreichs, d. h. der gewaltsamen Beseitigung des Reichstagswahlrechts. Diese Idee ist sogar von einflußreichen Ministern ernsthaft erwogen worden.« Bachem verglich die Intriganten mit Schillers Wallenstein – er stellte sich vor, wie sie überlegten, ob sie das Gesetz brechen sollten: Gedacht nur ist’s ein riesengroßer Frevel Vollbracht ist’s eine rühmenswerthe That.

Er bat sie jedoch zu bedenken, was mit Wallenstein geschah. (Ein Ministerialer schnitt diesen Kommentar aus der Zeitung, in der er abgedruckt war, aus und fügte die Notiz hinzu: »Bitte bei Sr. M. vorlegen.«26)

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Befürworter eines Staatsstreichs waren u. a. der König von Württemberg, Miquel zu verschiedenen Zeiten, General v. Waldersee, der preußische Ministerpräsident Botho von Eulenberg, IM v. Köller. Gegner: Kanzler Hohenlohe (zufolge seinem höchst kontroversen Tagebuch und entgegen seiner früheren Haltung als Statthalter in Elsass-Lothringen), die meisten Mitglieder des Bundesrates und anscheinend das preußische Kabinett. Ziekursch: Geschichte, Bd. 3, S. 68, 73 f., 81 ff.; Zitat: Wilhelm II. zu Waldersee: Röhl: Germany, S. 220 f. Bachem zitiert in: Germania, 26. Mai 1898, BAB-L R1501/14454, Bl. 150. Der Kopierstift eines Bürokraten hat »gewaltsamen« unterstrichen. Fairbairn bringt eine gute Besprechung des Müllerschen Aufruhrs: Democracy, S. 203.

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Teil 3: Grade der Freiheit

Obwohl die Rechte unverzüglich dem Zentrum »Wahlmanöver« vorwarf, zwang der durch die Gerüchte ausgelöste Tumult das Ministerium, durch wiederholte Forderungen von allerhöchster Stelle angetrieben, ein zweites Dementi jeglicher Staatsstreichpläne herauszugeben. Es war offensichtlich, dass die Regierung zu sehr protestierte – wie ein wütender Arthur Graf Posadowsky-Wehner, der Leiter des Reichsamts des Innern, sofort erkannte. Der Gesamteindruck war verheerend.27 Für Posadowsky waren die Gerüchte sicherlich ein weiteres Beispiel dafür, wie der Kaiser gern unterschiedliche Rollen ausprobierte: Einmal hängte er sich den Mantel Caesars über, einmal Wallensteins Umhang. Ebenso wenig wie die Kombination aus Draufgängertum und Schwäche, die so typisch für Wilhelms II. sprunghafte Beziehung zu den Staatsgeschäften war, entsprach das Gerede über einen Staatsstreich einem wohlüberlegten Vorgehen und schon gar nicht einem festen Plan. Die Umstände, unter denen ein gewaltsamer Verfassungsbruch jemals hätte versucht werden können, sind schwer vorstellbar. Mit Sicherheit wäre der Versuch gescheitert, wie Insider wie der nüchtern denkende Posadowsky sofort erkannten. Dennoch fühlten die Parlamentarier sich und die Institutionen, denen sie ihr Leben gewidmet hatten, zehn Jahre lang unter ständiger Bedrohung. Und dies bringt uns zu unserer Geschichte zurück. Denn genau diese Atmosphäre nachdrücklicher, wenn auch vager Bedrohung bietet die zweite Erklärung für die wachsende Bedeutung des Antrags Rickert für die Sicherung der geheimen Wahl. Die Debatte über die Demokratie, die in England mit dem Ersten Reformgesetz (First Reform Bill) eingeleitet wurde und die in Deutschland ganz offensichtlich fehlte, als Bismarck das allgemeine Wahlrecht einführte, begann jetzt ernsthaft – und nachhaltig. Die Sozialdemokraten und das Zentrum machten die Verteidigung des Reichstagswahlrechts zum Hauptthema ihrer Wahlkampagne von 1898; sie wetteiferten miteinander darum, wer dessen unerschütterlichster Garant sei, indem sie die einschüchternden Gerüchte der Regierung als eine Waffe gegen diese verwandten. Und sie waren nicht die Einzigen. Das Thema hatte eine derart zentrale Bedeutung angenommen, dass der Herausgeber der Dresdener Neuesten Nachrichten, ein gemäßigter Konservativer, an Kanzler Chlodwig Hohenlohe persönlich schrieb und ihn anflehte, eine unzweideutige Erklärung zugunsten des Reichstagswahlrechts abzugeben – sonst werde die Regierung die Wahlen verlieren!28 Massive Arbeitskämpfe, politische Bevormundung in den Fabriken, Bedrohung des Reichstagswahlrechts: Diese drei Phänomene waren in den parlamentarischen Auseinandersetzungen der 1890er Jahre sämtlich miteinander 27

28

Posadowskys Wut ist nicht nur an seinen Worten erkennbar, sondern auch an seiner eiligen Schrift, mit der er die Affäre notierte, die ganz anders als seine übliche Handschrift ist: Memorandum Posadowsky, 28. Mai 1898, BAB-L R1501/14454, Bl. 148. »Wahlmanöver«: Germania 26. Mai 1898, ebd., Bl. 150; Dementi: Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger, 11. Mai Abend 1898, Nr. 111, ebd., Bl. 151. Otto Fr. Koch an Hohenlohe, 12. Juni 1898, BAB-L R1501/14694, Bl. 191 f. Fairbairn: Democracy, S. 203–205; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 455 ff.

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verknüpft. Hans Freiherr von Hammerstein-Loxten, der von 1901 bis 1905 dem preußischen Innenministerium vorstand, traf den Kern der Kontroverse über den Antrag Rickert in einem Schreiben an seine Kollegen. Er bemerkte, dass diese Maßnahme, obwohl sie technisch gesehen nur eine Bestimmung der bestehenden Verfassung ausgestaltete, für ihre Gegner, selbst wenn diese gegen keinen einzelnen Punkt Einspruch erheben würden, für das gesamte Wahlverfahren stehe, das sie ersetzt sehen wollten, sobald aber der Antrag verabschiedet sei, werde er zum Hindernis bei der Beseitigung genau diesen Verfahrens. Für seine Verfechter hatte der Antrag dieselbe praktische und symbolische Bedeutung.29 Obwohl er lediglich beabsichtigte, ein bestimmtes Übel zu beseitigen, wurde der Antrag Rickert der Gegenstoß des Reichstags zur Umsturzvorlage, zum kleinen Sozialistengesetz, zur Zuchthausvorlage – und zur Androhung eines Staatsstreichs. Und jedes Mal, wenn die Abgeordneten dem Antrag zustimmten – in der Kommission 1892, dann im Reichstag 1894, 1896 und 1899, mit stets wachsenden Mehrheiten –, unterstrichen sie diese Bedeutung sowohl für seine Verfechter als auch für seine Gegner.30 Bereits 1899 wurde dieser technische Antrag, der Wahlumschläge und Wahlkabinen forderte, nicht mehr nur als Garant für das demokratische Wahlrecht, sondern für den verfassungsmäßigen Anspruch und Auftrag des Reichstags selbst gesehen. Am Ende des Jahrzehnts stellte der Jenaer Jurist Georg Meyer seine 700 Seiten lange Abhandlung über das Wahlrecht in 21 deutschen Staaten und achtzehn souveränen Ländern fertig. Er bot seinen Lesern einen Einblick in das, was solche »vernünftigen« Männer, die ich gerade bei der Verhinderung eines Staatsstreichs geschildert habe, vom Zustand der Verfassung hielten. Als Nationalliberaler, der dem konservativen Flügel seiner Partei angehörte und kein Freund des Antrags Rickert war, von dessen Annahme er eher mehr als weniger Wahlanfechtungen erwartete, räumte Professor Meyer ein, dass der Gedanke einer geheimen Wahl außerordentliche Zustimmung erhalten habe. Er folgerte daraus: »Keine politische Partei kann, wenn sie sich nicht selbst ihr Grab graben will, die Abschaffung desselben zum Gegenstand ihres Programms machen. Die Beseitigung der geheimen Abstimmung ist auf gesetzmäßigen Wegen ebenso wenig möglich«, fügte er bezeichnenderweise hinzu, »wie die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechtes.« Wenn man jedoch zu illegalen Mitteln greife, würden diese derart großen Widerwillen hervorrufen, dass jeder Vorteil wahrscheinlich zu teuer erkauft werde. Nicht nur in seiner Eigenschaft als Verfassungsjurist, sondern zweifellos aus eigener Erfahrung als liberaler Abgeordneter, zog Meyer den Schluss: »Es bleibt daher nichts anderes übrig, als sich mit den bestehenden Umständen abzufinden. Auch der Politiker muß unter Umständen im Stande sein, Resignation zu üben.«31 29 30

31

IM v. Hammerstein-Loxten an Bülow, 18. Juli 1902, BAB-L R1501/14455, Bl. 59–63. Der Artikel zum Stichpunkt »Wahlen« im weit verbreiteten Meyers Konversationslexikon (1898/99) enthielt eine beißende Kritik an der Regierung, weil sie die Maßnahme nicht bestätigt hatte. Der im Lexikon anonyme Autor war der Königsberger Wahlexperte Dr. Richard Siegfried. BAB-L R101/3344, Bl. 258–259. G. Meyer: Wahlrecht, S. 563.

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Teil 3: Grade der Freiheit

Viele teilten den Pragmatismus des Jenaer Juristen. Ähnliche Anzeichen einer Meinungsverschiebung bei der Führungselite hatten sich bereits 1896 gezeigt, als sowohl das Oberhaus als auch das Unterhaus des Badener Landtags ein Gesetz ähnlich dem des von Rickert beantragten annahm – und zwar einstimmig. Drei Jahre später folgten ihnen die Württembergischen Landstände auf dem Fuß.32 Dennoch wich der Bundesrat in demselben Jahr unter preußischem Druck von seiner Gewohnheit ab, den Antrag Rickert zu ignorieren, und wies ihn ausdrücklich zurück.33 Damit niemand auf die Idee käme, dass die Ablösung des achtzigjährigen Chlodwig von Hohenlohe durch Bernhard von Bülow im Oktober 1900 einen Wandel eingeläutet habe, verkündete Bülow im Januar 1902, dass er sich weigern werde, die Gesetzesänderung auch nur in Betracht zu ziehen.

Die Wahlrechtsreformen von 1903 Und dennoch verblüffte Bülow genau ein Jahr später politische Freunde und Gegner gleichermaßen, indem er die jahrzehntelange Taktik auf den Kopf stellte und dem Reichstag versprach, die Geheimhaltungsvorkehrungen einzuführen, die dieser seit Langem gefordert hatte.34 Tatsächlich begann die Verwaltung auf der Stelle damit, die Summen zu kalkulieren, die benötigt wurden, um Briefumschläge für die fünf Monate später stattfindenden Wahlen bereitzustellen – 140.000 Mark würden allein für Preußen gebraucht. Bülow bestellte gleich die doppelte Anzahl, um auch für Stichwahlen und Notfälle gerüstet zu sein.35 Wie ist ein solch vollständiger Sinneswandel zu erklären? Der Antrag Rickert hatte auf höchster Regierungsebene einen Verfechter gefunden: Vizekanzler Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern. Dieser Karriere-Bürokrat war ein Mann, dessen bisherige Arbeit im Finanzministerium bereits (nach der sehr missbilligenden Einschätzung seines Biographen von 1935) unter Beweis gestellt habe, »daß in den Kreisen der Reichsregierung die Macht des Reichstags jetzt als gegeben und unangreifbar angesehen wurde«, in erster Linie, »weil dieser Reichstag das Produkt des in der Verfassung von 1871 festgelegten allgemeinen Wahlrechts war.«36 Seinen Kollegen im preußischen Kabinett gegenüber beharrte Posadowsky darauf: »Die ethischen Gründe wie die politischen sprächen jetzt dafür, dem Reichs32

33 34

35 36

BAB-L R1501/14456, Bl. 125. Die Erfahrungen dieser beiden Länder waren wichtige Argumente innerhalb der Regierung zugunsten der Erprobung von Umschlägen und abgetrennten Räumen. Protokoll des SM, 17. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 211. Selbst das unruhige Sachsen, das 1896 das preußische Dreiklassenwahlrecht nachahmte, ließ sein eigenes geheimes Wahlrecht intakt. Preußische Verantwortung: Posadowsky im SM, 17. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 212. Bülow SBDR 20. Jan. 1903, S. 7431. Erstaunen: Ein freisinniger Erfolg, in: SaaleZ, 21. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 157; Sicherung des Wahlgeheimnisses, in: FrZ, 29. Jan. 1903. Auch: Zum Reichstagswahlrecht, 16. Jan. 1903, und: Der Schutz des Wahlgeheimnisses, 21. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 160, 162. Studt für das IM und Finanzminister an den König, 1. Juli 1903, GSt A PK 89/212, Bl. 140–141; Memo des Kanzlers, unterschrieben von Posadowsky, 27. März 1903, BAB-L R1501/14644, Bl. 42. Schmidt: Posadowsky, S. 29, 30, auch 34.

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tag entgegenzukommen.« Die Argumente der konservativen Partei gegen den Antrag Rickert basierten nicht auf »sachlichen Gründen«, sondern zielten nur darauf ab, »die Möglichkeit einer Beeinflussung der Wähler nicht aufzugeben«. Diese Position sei, erklärte Posadowsky, für die Regierung unmöglich in der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten: ein bemerkenswertes, aber anscheinend schlüssiges Argument. Bülow stimmte zu; er »sah es als Forderung einer realen Politik an, in der vorliegenden Frage dem wiederholten Verlangen der großen Mehrheit des Reichstags zu entsprechen, zu der außer allen liberalen Parteien auch das Zentrum gehöre.«37 In der Tat schrieb die Öffentlichkeit selbst Bülows Kehrtwende dem Druck des Zentrums zu, das der Kanzler damals umwarb.38 Das Gerücht war durchaus begründet. Das Gesetz war unermüdlich von Adolf Gröber vorangetrieben worden, einem demokratischen Schwaben, dessen Kenntnis der Gesetzeslage ebenso beeindruckend war wie seine asketische Frömmigkeit. Gröber war es gewesen, der 1892 das Geheimhaltungsgesetz durch das Komitee gebracht hatte; Gröber hatte das entsprechende Gesetz verfochten, das 1899 in Württemberg in Kraft trat – und derselbe Gröber führte mit drei Kollegen die Fraktion des Zentrums im Reichstag. Bereits seit Längerem setzte sich Posadowsky für eine enge Beziehung zwischen der Regierung und dieser Partei ein, die gemeinsam mit ihren polnischen und hannoverschen Verbündeten über mehr als 120 Reichstagsmandate verfügte und die somit ihre nächsten Rivalen bei Weitem in den Schatten stellte – die Konservativen und die SPD, die als Zweitplatzierte gleich stark waren. Jene Ungewissheit, die solch eine entscheidende Rolle in den Modellen der heutigen »Institutionalisten« spielt, war auch hier ausschlaggebend. Viele glaubten, dass das Zentrum der Hauptnutznießer des Antrags Rickert sein werde – an der Saar, am Niederrhein und in der Grafschaft Mark. Aber auch die Linksliberalen würden profitieren, dachten einige – sie würden endlich eine Chance bei jenen Stichwahlen im Osten bekommen, die bis dahin den Konservativen und Sozialdemokraten vorbehalten waren. Die SPD, die auf dem Arbeitsmarkt zwar mehr Stimmen gewinnen würde, konnte ihre Wähler unter den Händ37

38

Protokoll der Sitzung des SM, 17. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 210–211. Eine umfassende Geschichte des Antrags Rickert: Posadowsky an SM, 25. Nov. 1902 (Geheim), ebd., Bl. 107, 127–131. Sechs Monate früher hatte Bülow Stellungnahmen von seinen Kollegen angefordert. Sie empfahlen, dass, wenn er dem Reichstag nachgeben wolle, es besser sei, die Forderungen des Gesetzes durch eine »Bekanntmachung« als durch eine Änderung des Wahlgesetzes zu erfüllen, welche die Tür für weitere Zusätze öffnen würde. Bülow an MdI, [n. d.; 13.] Juni 1902, IM Hammerstein-Loxten an Posadowsky, 18. Juli 1902, BABL R1501/14475; IM Hammerstein-Loxten an Bülow; 18. Juli 1902; Gutbrod an SSdI (Geheim), 20. Aug. 1902. BAB-L R1501/14455, Bl 23–25; 59–63, 80. Bülow erkundigte sich dann nach den Erfahrungen von Staaten, die ähnliche Maßnahmen ergriffen hatten (ebd., Bl. 81, 87, 89) und kam zu dem Ergebnis, dass es »angängig und zweckmäßig« sei, dem Reichstag nachzugeben. Zum Schluss wurden durch eine Bekanntmachung offizielle Umschläge und ein abgetrennter Raum für den Wahlvorgang eingeführt und das Austeilen von Stimmzetteln während der Wahl verboten. Der »bereitgestellte Nebenraum«, in: SchlZ (K), 1. Feb. 1903, zitiert Sicherung des Wahl-Geheimnisses, in: Richters FrZ, 29. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 183. Andernorts beanspruchten allerdings die LL das Verdienst: Ein Freisinniger Erfolg, in: SaaleZ, 21. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 157. Saul: Kampf, S. 197 Anm. 142, schreibt den Sinneswandel Bülows Wunsch zu, die Liberalen für seinen Zoll zu gewinnen.

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lern und Handwerkern verlieren, die die SPD nur aufgrund des Drucks ihrer Kunden unterstützten – eine Überlegung, die Zentrumssprecher in ihren Unterredungen mit Bülow ins Spiel gebracht hatten.39 Selbst einige Konservative konnten erkennen, dass der hieraus resultierende Vorschlag der Regierung einen möglichen Vorteil hatte: Er sorgte für genügend Privatsphäre, um den Wähler vor den Nachstellungen der Parteikontrolleure zu schützen – was, wie sie annahmen, ein Nachteil für die SPD sein werde –, machte aber seine Handlung für den Wahlvorstand sichtbar, d. h. für jene Männer, die (so das unausgesprochene Argument) den Kräften der alten Ordnung wohlgesinnt waren.40 Aber alle Kalkulationen waren Zahlenspielereien. Innerhalb des Kabinetts stimmten zwei Minister, von denen einer dafür, einer dagegen war, überein, die Reform sei »allerdings gewissermaßen ein Sprung ins Dunkel«.41 Die meisten Konservativen jedoch reagierten auf Bülows Ankündigung mit Wut – und mit Drohungen. Sie wiesen darauf hin, dass genau jene Wähler, die auf die Weisheit ihrer Regierung vertrauten, nicht länger die Unbequemlichkeit des Wählens auf sich nehmen würden: ein bemerkenswertes Eingeständnis. Sie versuchten die Maßnahme zu verwässern und forderten, dass die Benutzung der Wahlkabine freiwillig sein sollte: Niemand sollte »zu ihrem Besuche gezwungen« werden. Diese Forderung hatte bereits das Britische Oberhaus, mit ebenso geringem Erfolg, gegen das Stimmzettelgesetz von 1872 erhoben. Am schärfsten griffen die Konservativen Bülow an, weil er die Pfade Bismarcks verlassen habe: weil er aufgehört habe, das Wahlrecht als ein Mittel zum Zweck zu sehen, als ein Instrument zur »Tauglichen Staatsgeschäftsführung«, und es stattdessen als »Grundsatzfrage« behandelte. Unter sich argumentierten die Konservativen, dass die Reform sie dreißig Sitze kosten werde.42 Im Juni 1903 fand die erste Reichstagswahl nach der neuen Ordnung statt. Als die Stimmen ausgezählt wurden, behaupteten die Rechten, dass ihre Voraussagen eingetroffen seien; die Ergebnisse sprächen für sich selbst.43 Tatsächlich jedoch verlor die konservative Fraktion nur zwei Mitglieder. Gemeinsam betrachtet fielen die zwei konservativen Parteien von 79 auf 75 Sitze zurück, was bei Weitem kein so großer Verlust war wie der in der vorhergehenden Wahl. Da die Nationalliberalen dazugewannen, war die Gesamtgröße der »nationalen« Lage im Parlament sogar um einen Sitz gewachsen. Es waren die Verfechter des Rickert-Antrags, die Mandate verloren hatten: das Zentrum zwei Sitze und die Linksliberalen gemeinsam dreizehn; Letzteres war ein vernichtender Schlag 39

40 41 42 43

W. Schwarze (Z) SBDR 18. Feb. 1903, S. 7993; früher: Windthorst SBDR 15. Jan. 1890, S. 1022. Peter Spahn (Z) hatte Bülow vorhergesagt, dass die SD nur zehn zusätzliche Mandate bekommen würden (in Wirklichkeit bekamen sie auf Anhieb 25). Lermann: Chancellor, S. 83. Kalkulationen: Sicherung des Wahl-Geheimnisses, in: FrZ, 29. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 183. Zur Sicherung des Wahlgeheimnisses, in: Die Post, 24. März 1903, BAB-L R1501/14456, Bl. 101 f. Hammerstein-Loxten und Georg Frhr. v. Rheinbaben. Protokoll des SM, 17. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 211. Der »bereitgestellte Nebenraum«, in: SchlZ (1. Feb. 1903), BAB-L R1501/14455, Bl. 195 f.; Zur Sicherung des Wahl-Geheimnisses, in: FrZ, 13. März 1903, ebd., Bl. 39. Oberhaus: Fredmann: Ballot, S. 15. Schmieding (NL) im Preußischen Landtag, zitiert in: Nationalliberale Wahlrechtsfeinde, in: Die Hilfe 11/21 (28. Mai 1905), S. 1.

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für eine Gruppe, die von jeher sehr klein war. Dennoch hatte die Wahl eine Sensation verursacht. Denn die Sozialdemokraten gewannen 25 Mandate, was sie endlich stärker als die beiden konservativen Parteien zusammengenommen machte und stimmenmäßig stärker als die gesamte nationale Gruppierung. Dies war nicht der größte relative Sprung in der Geschichte der Partei; ihren Durchbruch hatte sie bereits im Februar 1890 erlebt. Aber es war ein weiteres Zeichen für ein kontinuierliches, ungebremstes Wachstum und in absoluten Zahlen ihr bis dahin größter Erfolg. Die Sozialdemokraten hatten fast eine Million zusätzlicher Wähler gewonnen und proklamierten sich jetzt lautstark als »Dreimillionenpartei«. Es sah aus, als seien sie nicht mehr aufzuhalten. Tab. 1: Die Wahlen von 1898 und 1903 im Vergleich44 1898

1903

Veränderung

K FK Konservative zus.

56 23 79

54 21 75

–4

NL »Nationale« zus.

46 125

51 126

+5 +1

LL Z Verfechter des Antrags Rickert zus.

49 102 151

36 100 136

– 13 –2 – 15

56

81

+ 25

SPD

Über Bülow ergoss sich eine Flut wütender Briefe, in denen sich konservativ gesinnte Bürger über den von ihm begangenen Verrat ausließen. »Nunmehr erlahmt auch die Kraft der aufrichtigsten und uneigennützigsten Männer«, klagte einer von ihnen angesichts dieser Wahlumschläge und Kabinen: »Der Mut zur Fortsetzung des Kampfes für Kaiser und Reich ist vollkommen gebrochen.«45 Der am besten reflektierte Nachruf kam vom Vorsitzenden des Nationalliberalen Zentralkomitees für Annaberg-Schwarzenberg, einem Ratsherrn, der monatelang an der Wahlkampagne beteiligt gewesen war und dessen sächsischer Wahlkreis, der bis dahin ununterbrochen »national« repräsentiert worden war, an die 44 45

Zusammengestellt aus: Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 41. Z. B. Adalbert Dahm, Vorsitzender des Spandauer Neuen Wahlvereins (K), an Bülow, 18. Juni 1903, BABL R1501/14695, Bl. 207–209; unsignierte Postkarte aus Groß-Lichterfelde an Bülow Anm. d. [eingegangen 26. Juni 1903], von einem Wähler der FrVp, der die sofortige Einführung der offenen Wahl fordert, ebd., Bl. 211; Maxdon [anscheinend aus Schlesien] an Bülow Anm. d. [abgelegt 8. Juli 1903], der ihn drängt, Gelder für Abgeordnete im Austausch gegen die Einwilligung des Reichstags zur mündlichen Stimmabgabe zu bewilligen. BAB-L R1501/14696, Bl. 22 f.

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Sozialdemokraten gegangen war. Er leugnete nicht, dass der wichtigste Grund für diese Katastrophe die »unglücklichen sächsischen Verhältnisse« seien, aber er nannte außerdem »das ungeheure Vakuum an Begeisterung das die Reichspolitik schuf und die Unzufriedenheit mit so mancher That des neuesten Kurses«. (Wo ist hier die Unterwürfigkeit, für die der Wilhelminische Untertan, zumindest seit der Veröffentlichung des gleichnamigen Romans von Heinrich Mann, so berüchtigt ist? Jedenfalls lässt er sich nicht in den Briefen nach der Wahl von 1903 finden!) Auch der Kanzler blieb nicht ungeschoren. »Ein verhängnißvoller Fehler war es«, dass der umstrittene Agrarzoll »nicht ein Jahr früher eingebracht wurde«, denn so hätte man es vermieden, in die Hände der Sozialdemokraten mit ihrer »Brotwucherparole« zu spielen. Er warf Bülow »Verbeugungen gegen« die SPD vor und verurteilte besonders (hier sprach das Kernland der Reformation) dessen Entscheidung, die Rückkehr der Jesuiten nach Deutschland zuzulassen – eine Konzession, die »die deutsche Volksseele bis zu ihren tiefsten Tiefen erregt« habe. Schließlich war da noch der »Erlaß des sogenannten Closettgesetzes«, der Wahlkabine, »das so verhängnisvoll gewirkt« habe. Alle diese Fehler machten es verständlich, dass »das deutsche Bürgertum sich nur mit Unlust auf den Kampfplatz« begebe. Und was tue die Regierung, um diese Schwächen zu überwinden? »Kein Wort des Ansporns, der Ermuthigung erklang von jenen Männern die die Nation als Führer betrachtet. So mußte, da die Führer versagten, die Mannschaft die Initiative ergreifen und aus eigener Kraft den Weg zum Ziele sich erschließen. Ein trauriges Bild war es, das deutsche Bürgertum im Wahlkampf sich selbst überlassen zu sehen.« Und dann kam die radikalste Kritik: »Eurer Exzellenz hätte ich gewünscht täglich nur auf ein paar Stunden während des Wahlkampfes unter das Volk herabzusteigen und die Stimmung in diesem kennen zu lernen.«46 Derartige Empfehlungen – dass Regierungsmitglieder offen an den Wahlkämpfen teilnehmen sollten – wurden mit der Zeit immer zahlreicher.47 Eine aktive Teilnahme am Wahlkampf war natürlich nach dem bestehenden Verständnis der Verfassung einem deutschen Kanzler nicht erlaubt. Da der Monarch »über den Parteien« stand, mussten auch seine Diener über den Wahlkämpfen stehen. Wie veraltet diese »Lebenslüge« der Monarchie auch sein mochte – die Verbannung der Regierung aus den Wahlen war, für alle außer der äußersten Rechten, der Inbegriff der Bundeslade.48 Kein anderer Einfluss 46 47

48

Gustav Slesina, Stadtrat in Buchholz, Sachsen, an Bülow, 27. Juni 1903, BAB-L R1501/14696, Bl. 14 f. Beweise, dass Geheimhaltungsvorkehrungen wirksam gewesen seien: Bellot: Hundert Jahre, S. 224 f. Z. B. Ernst Krieger (Pseudonym?), Lt. a. D., an Bülow, Bad Kreuznach, 5. Jan. 1907, BAB-L R1501/14697, Bl. 105 f.; Mangler: Die Anfechtung von Reichstags-Wahlen, in: DN (25. Feb. 1912), BAB-L R1501/ 14653, o. S. »Lebenslüge« in: Gustav Radbruch: Die Politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechtes, (1930) S. 289, zitiert in Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 27. Rickert erinnerte den Reichstag daran, die Vertreter der Regierung hätten oft verkündet: »Wir stehen über den Parteien.« SBDR 2. Dez. 1882, S. 584. Repräsentative Monarchie: Zoepfl: Grundsätze, Bd. 2, S. 250, 252, 276 f. Wegen des Unterschieds der Konzepte des »Regierens« und des »Verwaltens« jedoch, und weil man der Ansicht war, die Verwaltung sei dem Volk ebenso wie der Krone verpflichtet, gab es keine ähnliche Unvereinbarkeit zwischen dem Richteramt oder dem des Landrats und der Kandidatur für den Reichstag. Wie wenig wahrnehmbar diese Unterscheidungen auch für Amerikaner sein mögen, so zeigt doch die Akzeptanz solcher Wählbar-

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führte mit derartiger Sicherheit zu einer annullierten Wahl wie Eingriffe durch Staatsorgane.49 Dennoch können wir erkennen, dass die Lex Rickert, wie sie jetzt genannt wurde, und die Kritik wütender Regierungstreuer an ihrer Regierung starke Impulse waren, die nicht nur hinter Bülows »Partnerwechsel« von 1907 standen, als er sich gegen das Zentrum wie auch gegen den ewigen sozialistischen Feind wandte, sondern auch hinter den Veränderungen in Theorie und Praxis. Anders als bei Bismarcks Sieg durch einen Volksentscheid in der Septennatsfrage zwei Jahrzehnte früher, der bei allen Bemühungen des Staatsapparats, vom evangelischen Lehrer bis hin zum Nachtwächter, wahrscheinlich hauptsächlich dem außerordentlichen Druck der privaten Arbeitgeber geschuldet war, griffen beim Volksentscheid von 1907 die obersten Ränge der Regierung direkt in den Wahlkampf ein. Bülow war auf das Argument seiner nationalistischen Kritiker eingegangen: Nie wieder sollte »das deutsche Bürgertum im Wahlkampf sich selbst überlassen« bleiben. Während der Kanzler selbst auch jetzt nicht »unter das Volk herabzusteigen« geruhte, wie es der sächsische Ratsherr gefordert hatte, gingen hochrangige Vertreter – der Staatssekretär im Reichskolonialamt Bernhard Dernburg und sein Unterstaatssekretär Friedrich von Lindequest – direkt an die Öffentlichkeit. Bei Treffen mit Gruppen in Berlin, München, Stuttgart, Frankfurt, Dresden, Hamburg und Köln versprachen sie eine Vielzahl öffentlicher Arbeiten, Konzessionen für Investoren sowie attraktive Steuermaßnahmen – »zum Erstaunen der Bürokraten«.50 Obwohl die Regierung als Arbeitgeber in dieser Wahl aktiv wurde (wie Tausende von Postangestellten erfuhren), erwies sich jetzt die Rolle des privaten Arbeitgebers als Wahlhelfer der nationalen Parteien als weniger wichtig als die Arbeit von Organisationen, zu denen viele beitrugen: der großen Interessengruppen, die die Wahlkampagne der Regierung finanziell unterstützten, der patriotischen Gesellschaften und vor allem, auf unterster Ebene, der Kriegervereine, die das Wahlvolk anspornten. Innerhalb solcher Gruppen wurden die Drohungen der Arbeitgeber von emo-

49

50

keit durch den Reichstag – bei den Rechten, weil sie in den Landräten, bei den Linksliberalen, weil diese in den Richtern ihr naturgemäßes Personal sahen –, verbunden mit den eindringlichen Warnungen des Reichstages, dass »Regierungskandidaten« das Reich Napoleons III. zu Fall gebracht hätten, dass viele Deutsche trotz aller theoretischen und praktischen Unstimmigkeiten einen Unterschied sahen. Die Kriterien waren jedoch nie einheitlich: Poschinger-Bericht, 11. Feb. 1879, BAB-L R1501/14450, Bl. 154–188, verzweifelt daran, klare Prinzipien für das zu finden, was für Beamte zulässig und unzulässig sei. Vergleiche die Forderung, dass das MdI keine Wahlempfehlungen herausgeben, die Presse unterstützen oder den Postdienst zur Förderung eines Kandidaten benutzen solle (MdI, in: Berliner Review 26/13 [1861], S. 431 ff.), mit der Einschätzung des Juristen, dass jede Regierung, die nicht abdanken wollte, nicht gezwungen sein sollte, das Feld ihren Gegnern zu überlassen, solange sie sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegte: Zoepfl: Grundsätze, Bd. 2, S. 282–283 Anm. 1. Diese Ansicht wurde zustimmend von Leser: Untersuchungen, S. 76 Anm. 1, zitiert, ebenso von Mangler (Mitglied des Sächsischen Zweiten Kammer): Die Anfechtung von Reichstagswahlen, in: DN (25. Feb. 1912, BAB-L R1501/14653, o. S. Wertvoll: Pollmann: Parlamentarismus, S. 93 ff.; Steinbach: Zähmung, Bd. 1, S. 31; Fischer: Konservativismus, S. 119, 126. Schreibt Crothers, der so den beispiellosen Charakter öffentlicher Förderungsversprechen bezeugt. Elections, S. 106 f., 164 f.; Fricke: Imperialismus, S. 538 ff.; W. Becker: Kulturkampf, S. 59 ff.

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tionalen, also politischen Appellen abgelöst, und von der Regierung unterstützt und koordiniert.51 Die Forderung an den Kanzler, »unter das Volk herabzusteigen« und sich aktiv am Wahlkampf zu beteiligen, war ein vielsagendes Zeichen der Erosion jener dualistischen Annahmen, die bis dahin den Herrscher davor bewahrt hatten, eine »Verbindlichkeit gegen eine Partei« einzugehen.52 Wenn aber die Kritik der Rechten an Bülows Verhalten von 1903 diese Wendung der Dinge beschleunigt hatte, so bereitete die Einführung größerer Sicherheitsmaßnahmen für die geheime Wahl den Weg für deren Legitimation – indem sie einer neuen Betrachtungsweise der Wahlvergehen die Tür öffnete. Wie wir gesehen haben, richteten sich die Forderungen nach sauberen Wahlen immer gegen eine grundlegende Schwierigkeit: Der Reichstag hatte sich als nicht fähiger erwiesen, eine Grenze zwischen legitimem Agitieren und illegitimer Beeinflussung zu ziehen, als ein Maler einen Strich im Meer zu ziehen vermag. Allein im Fall des Eingreifens der Regierung war die Mehrheit unbeirrt und gewissenhaft vorgegangen und hatte alle Stimmen für ungültig erklärt, die die Regierung möglicherweise zu beeinflussen suchte, in der Gewissheit, dass, im Gegensatz zum Priester und zum Arbeitgeber, deren politische Rechte als Bürger respektiert werden mussten, die Regierung in einer Wahlkampagne überhaupt nichts zu suchen habe. Dies war die unausweichliche Konsequenz der Ideologie des Dualismus – einer »über den Parteien« stehenden Regierung.53 Sobald aber die Mehrheit des Reichstags entschieden hatte, dass der Schutz des Wählers vor Pfaffen und Brotherrn weder dadurch zu erreichen sei, dass man jene kriminalisierte, die versuchten, Wahlen zu beeinflussen, noch durch die Annullierung jener Wahlen, bei denen solche Beeinflussung stattfand, sondern allein durch Vorschriften, die den Wahlvorgang selbst schützten, veränderte auch sie unbeabsichtigt die Voraussetzungen, unter denen Eingriffe der Regierungen die strengsten politischen Strafen nach sich gezogen hatten. Obwohl der Reichstag stets empfindlich auf Vorwürfe einer Beeinflussung seitens der Regierung reagierte (wie wir in Kapitel 12 sehen werden), stellte sich die Wahlprüfungskommission auf die durch die Lex Rickert geschaffene neue Situation ein, indem sie verkündete, sie werde aufhören, automatisch Stimmen zu annullieren, bloß weil irgendein Beamter an einer Wahlkampagne beteiligt gewesen sei – eine Ankündigung, die jene dazu ermutigte, sich noch stärker zu engagieren.54 51

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Enttäuschung über Beamte, einschließlich Postler, in Trier 2: Horn-Bericht, LHAK 403/8806, S. 1, 7v. Vgl. Working: (1907), in: Blackwood’s Edinburgh Magazine, S. 279, das feststellte: »die Wahl ist absolut geheim, und es wird kein Versuch unternommen, auszuspionieren, was sie [die Beamten] tun«. Aber die Unterdrückung der Postarbeiter blieb der SPD und den LL ein Dorn im Auge. SBDR 29. April 1907, S. 1211, und SBDR 28. März 1912, S. 1086 ff. Zoepfl: Grundsätze, Bd. 2, S. 252; Boetticher SBDR 2. Dez. 1882, S. 595. Und einer Verwaltung, die als Repräsentant des gesamten Volks angesehen wurde: »Das Beamtentum der alten Monarchie bildete eine Volks-Repräsentation«. Von Roon: Votum, 27. Mai 1866, BAB-L R43/685, Bl. 23v-24. EL 10, AnlDR (1905/6, 11/II, Bd. VI) DS 483, S. 4741 und U. v. Oertzen (FK), SBDR 16. Nov. 1906, S. 3698, 3718 (Einwände: Müller [Meiningen] und Müller [Sagen], ebd., S. 3696, 3710 f., 3720). Ähnlich: Düsseldorf 1 und Kassel 1: AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 20) DS 685, S. 4442 f., und DS 705, S. 4487 f. Die Kehrtwende des Reichstags von 1912, die mehr als 2.000 Stimmen für ungültig erklärte, weil elf Beamte

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Der Anspruch auf das Recht, den Wähler zu beeinflussen, basierte letztendlich immer auf zwei Voraussetzungen: einer überkommenen, die sich aus bereits bestehenden Abhängigkeiten innerhalb einer hierarchischen sozialen Ordnung ableitete, sowie einer modernen, die sich aus dem Recht zur freien Meinungsäußerung ergab. Als weitere Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz des Wählers vor den negativen Folgen der ersten Voraussetzung eingeführt wurden, konnte man der Ausübung der letzteren größeren Raum geben. So ebneten der bescheidene Umschlag und der abgesonderte Raum den Weg für eine bedeutende philosophische Verschiebung, mit Auswirkungen nicht nur auf den einzelnen Wähler, die politischen Parteien und die Freiheit der Wahl, sondern auch auf die Grundlagen des deutschen Staates selber. Die Reformen von 1903 stellten, indem sie die Fiktion einer Regierung »über den Parteien« entbehrlich machten, einen großen Schritt zur Legitimierung der Auflösung des konstitutionellen Dualismus dar. Dieser hatte die Regierung von politischen Auswirkungen einer Wahl isoliert und den Parteien die Möglichkeit versperrt, durch Reichstagsmehrheiten zur exekutiven Gewalt zu gelangen.55

−−− Und doch sehen wir hier wie auch anderswo, dass die Geschichte keine »wirklichen Gelenke« hat.56 Der schicksalhafte Wendepunkt, den die Rechte 1903 klar erkannt hatte, die Biegung in der Straße, die wir jetzt mit dem Abstand eines Jahrhunderts in den Interpretationen der Verfassung erkennen können, blieb für die Linke unsichtbar, die in andere Richtungen blickte und ganz andere Dinge sah. Die Linke sah weiterhin ausschließlich massive Verletzungen einer geheimen Wahl.57 Die übrigen Wahlen brachten die üblichen Geschichten hervor: von dem Prominenten, der »sich nach der Wahl damit wichtig gemacht« habe, »›dass er von jedem einzelnen Wähler wisse, wie er gewählt habe‹«;58 von Arbeitgebern, die Stimmzettel austeilten, und von Wahlvorstehern, die sie kennzeichneten; von Wählern, die zur Wahl marschierten und sich gegenseitig

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eine Petition zur Unterstützung eines K Kandidaten unterschrieben hatten, spiegelte die neue Macht der SPD wider: Magdeburg 2, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1497, S. 3030 ff. Landesgerichtsrat Dr. Mangler argumentierte, dass es als positiv anzusehen sei, dass die Regierung sich jetzt, wo die WPK den Weg durch die neuen Standards für Annullierungen frei gemacht habe, in die Wahlen einmische. Die Anfechtung von Reichstagswahlen, DN (25. Feb. 1912), BAB-L R1501/14653, o. S. Paul Veyne: Geschichtsschreibung – und was sie nicht ist, Frankfurt a. M. 1990, S. 40. 1903 allein in Potsdam 9 in 38 Wahlbezirken. Gerlach: Wahlurne, S. 693. Das Wahlgeheimnis in Hinterpommern, in: BT, 22. März 1911, BAB-L R1501/14475, o. S. Hierzu Seymour: Reform, S. 434, der behauptete, dass nach dem neuen britischen Wahlgesetz von 1872 »die neue Macht der Einschüchterung« durch Parteibeauftragte »ebenso despotisch und nicht weniger effektiv als die der Land besitzenden und der Wirtschaftsaristokratie« sei! Der wahre Reformer ist nie zufrieden. Zitiert von Gerlach: Wahlurne, S. 693. Hierzu auch Kassel 5, AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 20) DS 705, S. 4491. Im selben Band: Hannover 17, Erfurt 3, Waldeck-Pyrmont, Frankfurt 2, ebd., DS 702, S. 4471 f., 4477 ff.; DS 706: S. 4500 ff.; DS 736, S. 4631; DS 765, S. 4665. Hierzu auch Sachsen-Weimar 2 und Arnsberg 2, AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 19) DS 572, S. 3455 f. bzw. DS 636, S. 4315.

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beim Wählen zusahen – sicher viel weniger als früher, aber im wesentlichen das Gleiche wie in den ersten drei Jahrzehnten des Kaiserreichs.59 Wie erklären sich diese Verletzungen der jetzt geschützten Privatsphäre des Wählers? Zum Nachteil der deutschen Demokratie trieb die Erosion des Dualismus die Regierung, zumindest auf kurze Sicht, in eine größere Abhängigkeit von der Rechten. Angesichts der konservativen Hysterie, dass feindliche Kontingente in dem »abgesonderten Raum« ihr Lager aufschlagen und auf diese Weise ihre eigenen Anhänger am Wählen hindern würden, hatte die Regierung geschwankt und den »abgesonderten Raum« im Blickfeld des Wahlvorstandes gelassen. Außerdem wurde in kleinen Wahlbezirken, wo eine physische Trennung (wie eine Wahlkabine) zu teuer gewesen wäre, ein Seitentisch mit einem Vorhang als ausreichend angesehen. Am wichtigsten aber war es, dass die kleinsten Wahlbezirke bestehen blieben. Obwohl die Forderung des Antrags Rickert nach einer Mindestgröße der Bezirke im Laufe der Jahre von 400 auf 125 Einwohner heruntergeschraubt worden war, um eine größere Zustimmung zu erreichen, weigerte sich Bülow, selbst diese Mindestzahl in die neue Reform einzubeziehen, und versprach, die Sache stattdessen durch künftige Anweisungen an die Provinzverwaltungen zu regeln.60 Ohne eine standardisierte Wahlurne bewahrheitete sich die Warnung der Skeptiker, dass Wahlumschläge eine Überwachung der Wähler noch einfacher machen würden als bisher. Denn während Stimmzettel in der Urne frei beweglich bleiben mochten, war es bei einem klein genug gewählten Behälter leicht, die sperrigen Umschläge »der Reihe nach aufzuschichten«. Dies erlaubte jedem Mitglied des Wahlvorstands, nach Belieben zwei Listen zu führen und die Reihenfolge der Wähler mit derjenigen der Wahlumschläge zu vergleichen. Der Reichstag hatte den Kanzler in der Tat aufgefordert, Weisungen für standardisierte, sichere Wahlurnen zu erteilen.61 Die Besorgten hätten wahrscheinlich besser geschwiegen, denn die Manipulationen geschahen genau, wie jene es vorhergesagt hatten.62 Nach den Wahlen von 1903 und 1907 gab es 156 Wahlproteste mit der Begründung, das Wahlgeheimnis sei verletzt worden. Ob59

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EL: Delsor, SBDR 21. April 1903, S. 8925 f.; Sachsen-Meiningen 2 (1907/09, 12/I, Bd. 19) DS 625, S. 4233; Kassel 5, AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 20) DS 705, S. 4494; Sachsen 10, AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 20) DS 800, S. 4720; Magdeburg 3, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 765, S. 1062; Potsdam 9, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 807, S. 1109; in Bingerau, Kuschwitz, Wirschkowitz, Powitzko, Schebitz, Esdorf, Kapitz, Paulwitz und Kawallen: Breslau 2, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1432, S. 2928, 2931 ff.; Magdeburg 2, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1497, S. 3031, 3038 f.; Königsberg 5, AnlDR (12/14, 13/I, Bd. 22) DS 1401, S. 2901, 2903 f.; 1912 Trier 6: Bellot: Hundert Jahre, S. 234. O. T., FrankZ (24. März 1903), BAB-L R1501/14456, Bl. 105. Das Klosettgesetz, in: BT, 14. März 1903; Zur Sicherung des Wahlgeheimnisses, in: FrZ, 13. März 1903; Nochmals das Klosettgesetz, in: Deutsche Tageszeitung (K), 13. März 1903; Die Sicherung des WahlGeheimnisses, in: Vorwärts, 24. März 1903; Die »Sicherung« des Wahl-Geheimnisses, in: Volkszeitung, 2. April 1903; Es dämmert endlich, in: Deutsche Tageszeitung, 2. April 1903; Die geschäftliche Behandlung des Klosettgesetzes 1. April 1903. In der Debatte SBDR 21. April 1903, S. 8909 ff., sagten die Abgeordneten Pachnicke (LL) und Baron v. Hodenberg (W) exakt voraus, was passieren würde, und gaben eine genaue Beschreibung des Aufeinanderschichtens. Selbst die NL stellten einen Antrag, der standardisierte Wahlurnen und das Mischen der Umschläge forderte: Antrag Bassermann, Buesing, AnlDR (1905/06, 11/II, Bd. 8) DS 586, S. 5352 f. Gerlach: Wahlurne, S. 693. Hierzu S-H 9 (die Grafenecke), AnlDR (1903/04, 11/I, Bd. 3) DS 373, S. 2077; Die Wahlkiste, in: Volksstimme (Berlin), Nr. 304 (Juli 1906) zu Königsberg 2, BAB-L R1501/14474, Bl. 19; Leser: Untersuchungen, S. 92 f. (Mittelfranken 2). Die am heftigsten angefochtene Region war Westpreu-

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wohl keineswegs alle Anschuldigungen bewiesen wurden, glaubten viele Beobachter, darunter auch Regierungsmitglieder, dass diese nur die Spitze des Eisbergs seien.63 Dennoch wurden jene sozialdemokratischen Wahlbeobachter, die darauf bestanden, die Urne vor der Auszählung zu schütteln, zu vier Monaten Gefängnis wegen nicht genehmigter Ausübung eines öffentlichen Amtes verurteilt.64 Graf Posadowskys viel zitierter Satz: »Entweder ist die Wahl eine geheime oder sie ist keine geheime«, und seine Herausforderung an die Konservativen: »wer auf dem Standpunkt steht, daß es eine männliche Tat ist, öffentlich abzustimmen, der würde … eine männliche That begehen, wenn er hier den Antrag stellte: ›die Worte ›mit geheimer Abstimmung‹ in § 20 der Reichsverfassung sind zu streichen‹«, sowie die in der Öffentlichkeit viel beachteten Verteidigungsreden auch anderer Regierungsmitglieder verstummten nach 1903.65 Im gleichen Maße, wie die Führung in der Reichtsgesetzgebung »immer mehr von der verantwortlichen Macht, der Regierung, auf das Parlament [d. h. den Reichstag] überging«, erkannte Bülow die Bedeutung von dessen preußischem Gegenstück.66 Und die massive neue Kampagne der SPD, das Reichstagswahlreglement bei den preußischen Landtagswahlen einzuführen, ließ angesichts der Bedeutung des Preußischen Landtags die Frage der Geheimhaltung zunehmend regierungsgefährlich erscheinen. Die Macht der Rechten im Landtag hing, wie den Ministern durch vertrauliche Gespräche mit den Parteiführern der Konservativen klar wurde, jetzt weniger vom preußischen Dreiklassenwahlrecht ab, das Kompromisse durchaus zuließ, als von der öffentlichen Wahl. Keine Regierung konnte sich als engagierte Verteidigerin der öffentlichen Wahlen in Preußen profilieren und gleichzeitig energische Schritte zur Sicherung der Geheimhaltung im Reich unternehmen, ohne sich in offensichtliche Widersprüche zu verwickeln. So wurden Gesetzesanträge des Reichstags, die das Mitglied eines Wahlvorstands belangt hätten, das verriet, wie ein Mann gewählt hatte, kategorisch zurückgewiesen. Die versprochenen Weisungen, kleine Wahlbezirke aufzulösen oder durch Zusammenlegung zu vergrößern, wurden bis zum November 1911 aufgeschoben. Und die Annahme einer standardisierten, sicheren Urne, über die Minister ein Jahrzehnt lang brüteten und lavierten, musste bis zum Juni 1913 warten; mit anderen Worten, ein Jahr nach den letzten Reichstagswahlen im Kaiserreich.67

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ßen. Es gab keine Anfechtungen in Baden, Württemberg oder der Provinz Posen sowie in einigen der kleineren Staaten. Z. B. Geh. RR Dr. Lucas im Protokoll der kommissarischen Beratungen über Änderungen des Wahlreglements, 27. Juni 1910, BAB-L R1501/14475, o. S. Siegfried, der ein kommerzielles Interesse an standardisierten Urnen hatte: Wahlurne, bes. S. 735, 741. O. Landsberg (SD) SBDR 13. Feb. 1913, S. 4744, BAB-L R1501/14460, Bl. 423. Posadowsky SBDR 21. April 1903, S. 8916. Zustimmend: Gerlach: Wahlurne, S. 693; Die Wahlurne, in: SaaleZ, 16. März 1911, BAB-L R1501/14475, o. S. Angriffe auf Posadowsky von der Rechten: Schmidt: Posadowsky, S. 148 ff. und danach. Zitat: Schmidt: Posadowsky, S. 156, dessen Reichsamtsperspektive und Missfallen an diesem Prozess seinem Urteil Gewicht verleihen. Die Komplexitäten der Urnenfrage tauchen in den folgenden Akten des BAB-L R1501 immer wieder auf: 14459–61, 14474–76, die mühselig zu zitieren wären. Wichtig sind: IM Moltkes Memo, 8. Jan. 1908, gegen die Annahme des Antrags Hompesch, Verletzungen der Geheimhaltung unter Strafe zu stellen, weil

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Diese Aufschübe waren ein politischer Fehler. Wie unzulänglich die Geheimhaltung auch immer sein mochte, so war sie inzwischen doch in einem Maße eingeführt, das die Siegchancen der Opposition sicherstellte. Mit Ausnahme des ländlichen Ostens war der Druck der Brotherren tatsächlich ein weniger bedeutsamer Umstand der Stimmabgabe geworden. Aber ohne die Sicherheit in jedem Wahlbezirk, die diese letzten Maßnahmen bieten sollten, blieb die größere direkte Beteiligung der Regierung an den nationalen Wahlkämpfen ein weiteres Jahrzehnt lang kompromittiert, anstatt pragmatisch von deren Gegnern als ein Schritt zu einer einheitlicheren Regierungsform – und damit als besser mit einem parlamentarischen System vereinbar – akzeptiert zu werden. Die Lex Rickert von 1903 war ein Teil jener Gesamtbewegung für wirklich geheime Wahlen, die in dem halben Jahrhundert nach 1856 Länder mit gewählten Regierungen von Australien bis Norwegen, von Rumänien bis Chile ergriff.68 Sie bildete das deutsche Gegenstück zum britischen Ballot Act von 1872 und zu Frankreichs verspäteter Einführung von Umschlägen und Wahlkabinen von 1914 – welche beide in der Praxis ebenfalls anfänglich nicht die Erwartungen ihrer Befürworter erfüllten.69 Aber die Lex Rickert besaß eine tiefere Bedeutung als jene Wahlgesetze und selbst als der US-amerikanische Voting Rights Act von 1965. So wichtig diese auch waren, garantierten sie doch nur die Freiheit des Wählers innerhalb eines Gemeinwesens, in dem die Legitimität der Volksvertretung selbst nicht mehr zur Disposition stand. Aber weil eben das allgemeine Wahlrecht in Deutschland und der Reichstag, der damit gewählt wurde, immer noch in Frage gestellt wurden, hatte der Antrag Rickerts zu dem Zeitpunkt, als die Regierung 1903 dessen grundlegende Forderungen endlich erfüllte, eine Bedeutung jenseits des Kampfes des unabhängigen Wählers um Autonomie erlangt. Es war zu einer Verfassungsfrage erster Ordnung geworden. Posadowskys moralisches Argument, das darauf abzielte, die Regierung zu verpflichten, die Bestimmung der Verfassung, die die Geheimhaltung vorsah, entweder durchzusetzen oder aber zu versuchen, diese zu ändern, besaß in einer derart legalisti-

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er unvereinbar war mit der Weigerung, eine Geheimhaltung in Preußen auch nur zu erlauben (BAB-L R1501/14459, Bl. 5; wörtlich enthalten in 14474, Bl. 93–93v); IM Moltke an Kanzler Bethmann Hollweg, 5. Jan. 1910, wo er sich weigert, die Frage einheitlicher, selbsttätiger Urnen anzugehen, denn (inter alia): »Gerade der gegenwärtige Zeitpunkt scheint mir besonders wenig geeignet zu sein, die Frage zum Austrag zu bringen, da sich daraus wahrscheinlich ungünstige Rückwirkungen auf die Lösung der Wahlrechtsfrage in Preußen ergeben würden«, BAB-L R1501/14475, o. S. Vgl. auch das Protokoll der kommissarischen Beratungen über Änderungen des Wahlreglements, in denen Geh. ORR Falkenhayn vom MdI berichtete, »[s]ein Herr Chef halte es für höchst bedenklich jetzt, nachdem in der Wahlrechtsfrage eben erst eine Beruhigung der Gemüter eingetreten sei, schon wieder die Öffentlichkeit mit derartigen Fragen zu beschäftigen«. 27. Juni 1910, RdM 14475 o. S. Selbst nach 1903 hofften zumindest einige Mitglieder des preußischen Kabinetts noch – wie auch manche konservative Wähler – die geheime Wahl des Reichstags eines Tages rückgängig machen zu können. Hier einige der relevanten Daten: offizielle Stimmzettel mit Wahlkabine: Australien 1857, England 1872, Luxemburg 1884, Belgien 1884 und 1894; offizielle Umschläge mit Wahlkabine: Norwegen und Rumänien 1884, Chile 1890, Baden 1896, Württemberg 1899. [Siegfried:] Wahl, BAB-L R101/3344, Bl. 258; Seymour u. Frary: World, Bd. 2, bes. die optimistische Zusammenfassung, S. 315; E. Weber: Peasants, S. 271. In England hatten die Lords auf einem Nummerierungssystem bestanden, das eine Überwachung durch die Aufseher erlaubte – was angenommen wurde! Fredman: Ballot, S. 15.

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schen Kultur wie der der deutschen Bürokratie Überzeugungskraft. Aber noch überzeugender als sein moralisches Argument fiel sein politisches aus. 1903 verfügten die Regierungsparteien (die Konservativen und die Nationalliberalen) im Reichstag nur über 125 Mandate von insgesamt 397. Selbst wenn man die dreizehn Antisemiten hinzuzählte (wovon Bülow bei der Geheimhaltungsfrage nicht ausgehen konnte), wurde der Regierungsblock vom Zentrum und den Linksliberalen bei Weitem übertroffen. Zusammen mit den partikularistischen Bundesgenossen des Zentrums verfügte dieses Bündnis über 185 Stimmen – ohne die 56 Mandate der SPD mitzurechnen. Posadowsky und Bülow hatten die extreme Abneigung ihrer Ministerkollegen gegen die Geheimhaltung überwunden, indem sie auf den ständigen Druck durch die Reichstagsmehrheit hinwiesen und darauf, dass die Regierung eine sachliche Arbeitsbeziehung mit dieser Mehrheit benötigte, um die noch anstehenden, notwendigen Gesetze erlassen zu können. Sobald ein Staatsstreich einmal ausgeschlossen war – und nach der Ära Hohenlohe-Miquel war dies, in den Worten von Thomas Kühne, ein »Tabuthema«5– hatte die Regierung keine andere Wahl.70 Wenn wir jedoch darauf bestehen, 1903 als einen bedeutenden Wendepunkt nicht nur für die demokratische Praxis auf der Ebene der Wahlbezirke anzusehen, sondern auch für die Entwicklung der deutschen Verfassung, stellt sich uns eine sinnfällige Frage. Wenn Wahlumschläge und Wahlkabinen nötig waren, um andersdenkende Wähler vor »denen da oben« zu schützen, wie erklären wir dann deren Fähigkeit, eine Reichstagsmehrheit zu wählen, mit der die Regierung unter Druck gesetzt wurde und sich überhaupt erst die Rickert’schen Reformen erzwingen ließen? Dieser Frage werden wir uns nun zuwenden.

Die Geographie des Dissens Kritische Zeitgenossen pflegten die Bereitschaft derart vieler Wähler, sich bei den Wahlen »unökonomisch« zu verhalten und ihren Lebensunterhalt für ihre Überzeugungen zu riskieren, mit einer »höheren« Art ökonomischen Denkens zu erklären. Das Eigeninteresse an der Gegenwart, so argumentierten sie, werde, zumindest bei denen, die die größeren Oppositionsparteien unterstützten, von einem Eigeninteresse an der Zukunft verdrängt. Risiken wurden wegen eines naiven Glaubens an ein bevorstehendes Utopia (den Zukunftsstaat der Sozialdemokraten) einerseits und einer gleichermaßen naiven Furcht vor der Hölle (bei den Katholiken) andererseits in Kauf genommen. Aber kann ein naiver Fanatismus (denn der wird mit dieser Erklärung unterstellt) ausreichende Verbrei70

Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 36; »Tabuthema« S. 458. Meine Interpretation dieser Jahre kontrastiert im Ton, falls nicht auch in den Einzelheiten, mit Wehlers Ansicht, dass im späten Kaiserreich vor allem das Wichtigste fehlte: »der Kampfeswille und die Risikobereitschaft eines selbstbewußten, machthungrigen Parlaments im Verlauf eines großen Konflikts um die Spitze der Herrschaftshierarchie«. Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1039. Darauf zu bestehen, dass jeder »große« Kampf um »die Spitze der Herrschaftshierarchie«geführt werden muss, impliziert, dass Herrschaft immer ungeteilt ist, und verkennt den »Kampfeswillen« und die »Risikobereitschaft«, die die Abgeordneten des Reichstages wiederholt an den Tag legten.

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Teil 3: Grade der Freiheit

tung finden, um die Entwicklung des Zentrums und der Sozialdemokratie zu Massenparteien zu erklären? Ich bezweifle es. Eine weniger tendenziöse Erklärung dürfte die explosive Urbanisierung des Deutschen Reichs gewesen sein. Im entscheidenden Jahrzehnt vor dem Durchbruch der Sozialdemokraten von 1890 wuchs die Zahl der Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern von fünfzehn auf 26. Unterstützt durch die Anonymität der Großstadt, konnten die städtischen Wähler sowohl dem Terror der Arbeitgeber als auch den Netzen der Gemeinschaft entkommen. Stadtluft macht frei, sagt ein altes Sprichwort. Großstädte sind einfach zu unüberschaubar, für die Kontrollformen der traditionellen Autoritäten.71 Für dieses Argument spricht vieles. Die Unterstützung der Sozialdemokratie wuchs mit der Größe der Städte – oder zumindest der evangelischen Städte.72 Unter den frühen Bastionen der SPD waren Hamburg, Berlin, Breslau und Kiel. Doch die Größe der Wählerschaft eines Wahlkreises allein hinderte die örtlichen Machthaber nicht immer an der Überwachung der Wahlen. Den Sozialdemokraten gelang es vor 1893 nicht, Kiel und vier der sechs riesige Wahlkreise Berlins auch nur ein einziges Mal zu erobern. Wir brauchen uns nur die letzten Gemeindewahlen in der DDR im Mai 1989 wie solche in anderen Metropolen der Welt heutzutage anzusehen, um zu beobachten, wie »freie Wahlen« in Großstädten zur Farce werden können. Solche Überlegungen zwingen uns, die impliziten Voraussetzungen des Urbanisierungsarguments für die Erfolge der Opposition im Kaiserreich zu erkennen: dass es bestimmte Arten der Einmischung gab, die selbst die Mächtigen für ungesetzlich hielten. Gewalt gegen Wähler (wie sie etwa im Madrid der Jahrhundertwende und in New Orleans nach dem Ende des Bürgerkriegs gang und gäbe waren) war die eine; die Entfernung von Namen aus den Wählerlisten (wie im damaligen Bologna und in Padua) eine weitere.73 Kein deutscher Ratsherr, wie arrogant er auch immer sein mochte, hätte wie der New Yorker William (Boss) Tweed geprahlt, dass »die Stimmzettel kein Ergebnis geliefert« hätten: »die Zähler haben das Ergebnis geliefert«; oder sich wie sein Kollege in San Francisco, Chris Buckley, geäußert, dass die günstigen Ergebnisse seiner Wahlbezirke »nur durch die Bescheidenheit der Wahlvorstände« begrenzt seien. Die Abwesenheit von Gewalt oder sogar Wahlbetrug in messbarem Ausmaß in Deutschland wurde von den deutschen Zeitgenossen als selbstverständlich erachtet. Dennoch war die selbst auferlegte, wenn auch selektive Selbsteinschränkung der Mächtigen ein wichtiges Charakteristikum der Wahlen im Kaiserreich. Sie deutet auf einen eingefleischten Respekt für Regeln hin, der in der deutschen Kultur überall zu finden ist – ein ausschlaggebendes Charakteristikum, auf das wir im nächsten Kapitel zurückkommen werden.74 71 72

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Lidtke: Party, S. 179; Guttsman: Party, S. 85 ff. Diese Autoren vernachlässigen gleichzeitig nicht die Kleinstädte und den in kleinen Firmen beheimateten deutschen Sozialismus. Z. B. Steinbach: Entwicklung, S. 16. In Großstädten von mehr als 100.000 Einwohnern gewannen die SD für gewöhnlich mehr als 50 Prozent der Stimmen. Blank: Zusammensetzung, S. 507 ff., bes. 528; Ritter: Bases, S. 33. Rowell: Digest, S. 227 f., 232 f., 241 f., 519. Madrid: Dardé: Fraud; Bologna und Padua: Seymour u. Frary: World, Bd. 2, S. 115. Zitiert in Argersinger: Perspectives, S. 678. Chicago war bis in die 1930er Jahre berüchtigt für das Aus-

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Aber selbst angesichts der kulturell bedingten Selbstverleugnung der Obrigkeit erklärt uns die Urbanisierungsthese nicht annähernd so viel, wie wir wissen müssen. Die meisten Reichstagsabgeordneten repräsentierten keine Großstädte. Auch 1890, nach zwei Jahrzehnten beispiellosen Bevölkerungswachstums, lebten noch beinahe 60 Prozent aller Deutschen in Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern. Und obwohl die Explosion der Städte ungebremst weiterging, lebte selbst noch 1905 mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern.75 Noch in der Weimarer Republik wohnte nur jeder vierte Arbeiter in einer Großstadt; eine knappe Mehrheit – besonders sichtbar in Sachsen, Hessen und Württemberg – lebte in Gemeinden von weniger als 10.000 Einwohnern. Der idealtypische sozialdemokratische Wahlkreis im Ruhrgebiet der 1890er Jahre, sagt uns Karl Rohe, war nicht die Großstadt, sondern das kleine Bergarbeiterdorf.76 Und der Erfolg des Zentrums auf dem katholischen flachen Land war nicht auf solche Gegenden begrenzt, wo der Arbeitgeber selbst ein Anhänger dieser Partei sein mochte, sondern erstreckte sich auf Wahlkreise wie Pleß-Rybnik, wo der größte Arbeitgeber bei den vier Wahlen der 1870er Jahre zugleich ein mächtiger und erbitterter Gegner des Zentrums war. Das Unvermögen der Arbeitgeber und ihrer Verbündeten in der Regierung, den Vormarsch der Sozialdemokratie im Königreich Sachsen zu verhindern, legt auch nahe, dass die Urbanisierung, zumindest in der heutigen Form, nicht der entscheidende Faktor bei der Ausgestaltung der Wahlfreiheit gewesen sein kann. Denn anders als im übrigen Deutschen Reich blieb die Häufigkeit der sozialdemokratischen Stimmabgabe im Königreich Sachsen unabhängig von der Größe der Gemeinde oder der Entfernung von den großstädtischen Zentren. Bereits seit dem Mittelalter war Sachsen die am dichtesten besiedelte Region in Europa gewesen, und seit 1875 die am stärksten industrialisierte Region in Deutschland.77 Mit Dresden, Leipzig und Chemnitz besaß es drei Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern. Dennoch lebten während der Zeit des Kai-

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stopfen von Wahlurnen. Harris: Administration, S. 340 ff. und ders.: Registration, S. 350 ff. Allen u. Allen: Fraud, S. 169, stimmen Harris’ Meinung nicht zu, dass 1906 in Philadelphia 134.000 Namen illegal aus den Wählerlisten gestrichen wurden. Die deutschen Eliten bestanden natürlich nicht aus Engeln. Die Manipulation von Meldelisten, um vorteilhafte Wahlbezirksgrenzen besonders bei LT-Wahlen zu ziehen, war berüchtigt. Kühne: Liberale, bes. S. 283 ff. Aber der zahlenmäßige Unterschied zwischen Deutschland und den USA deutet auf einen grundsätzlichen Unterschied. Und grundsätzliche Unterschiede sind unser Forschungsgegenstand. Errechnet aus: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich XIII (1893), S. 1, mit Zahlen aus der Zählung von 1890; ebd., XXVIII (1908), S. 6, und G. Hohorst u. a. (Vergleiche): Arbeitsbuch, Bd. 2, S. 52, zweite Tabelle. Weimar: Falter: Wähler, S. 200, 218; idealtypisch: Rohe: Alignments, S. 115. Hohorst u. a. (Vergleiche): Arbeitsbuch, Bd. 2, S. 61, und 73, Tabelle 3. Warren: Kingdom, S. 1 f., 5. Steinbach: Entwicklung, S. 16. Rohe: Wahlen, S. 85 f., spekuliert, dass der frühe Sozialismus im weniger urbanisierten Sachsen besser gedieh als in den säkularisierten Großstädten, weil die Lehre Lassalles eine Ersatzreligion war. Er fügt aber hinzu, dass in den ersten Stadien einer Parteigründung, das Organisieren selbst mehr als alle kulturellen Faktoren ausmacht, ein Argument, das allgemeiner vertreten wird von Sartori: Sociology, S. 65 ff. Das preußische Sachsen war ein wesentlich ungünstigeres Umfeld: Thomas Klein: Reichstagswahlen und -abgeordnete der Provinz Sachsen und Anhalts 1867–1918. Ein Überblick, in: Zur Geschichte und Volkskunde Mitteldeutschlands. Festschrift für Friedrich von Zahn, hrsg. v. Walter Schlesinger, Köln und Graz 1968, Bd. 1, S. 65 ff.

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serreichs mindestens drei Viertel der sächsischen Bevölkerung außerhalb der Großstädte des Königreichs. Landwirtschaft, Spinnereien und Bergbau wurden im Allgemeinen in kleinem Umfang betrieben, während die Industrie, obwohl sie die meisten Arbeiter beschäftigte, von der Leichtindustrie und kleinen Manufakturen geprägt war. Die Betriebe waren nicht groß genug, hohe Löhne oder Werkswohnungen oder Versicherungsfonds zu bieten, um einen potentiell unabhängigen Wähler zu veranlassen, tiefgründig über seine Wahlstimme nachzudenken.78 Und wie entschlossen die sächsischen Arbeitgeber auch waren, die Sozialdemokratie auszurotten, so erschwerten ihre eigenen antagonistischen politischen Affinitäten (fortschrittlich, liberal, konservativ) eine rasche Vernetzung, wie sie im durch und durch nationalliberalen Nordwesten Schwarze Listen zu einer effektiven politischen Waffe machte.79 Ein Brotherr in Sachsen, der eifersüchtig über seine Stellung in politischen Angelegenheiten wachte, konnte von niemandem außer vom Staat Unterstützung erwarten. Und der Staat war beim besten Willen nicht bereit, außer bei bestimmten Aktivitäten auch noch beim Wahlakt selbst Druck auszuüben. Es war genau diese wirtschaftliche Topographie – dichte Besiedlung mit kleinen Betrieben anstatt einer riesigen Fabrik in einer Großstadt – die Deutschlands günstigste geographische Voraussetzung für politische Wahlfreiheit kennzeichnete. Eine solche Beschäftigungslandschaft bot den Arbeitern zu geringe Anreize und zu viele Alternativen, als dass die Androhung von Entlassungen dieselbe Macht gehabt hätte wie in den Gegenden, wo der Beschäftigungsmarkt von weniger Unternehmern kontrolliert wurde und wo die Vorteile für jene, die sich konform verhielten, beträchtlich waren.80 »Der freie Markt und die horizontale Mobilität der wirtschaftlich Tätigen sind Voraussetzungen für wettbewerbsmäßige Wahlen«, stellte ein Forscher klientelistischer Systeme in autoritären Umfeldern fest. Die sächsischen Wahlergebnisse spiegelten exakt diesen bedingten gesellschaftlichen Raum wider. Selbst noch während der Hysterie von 1878 über die »rote Gefahr« stieg die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen dort weiter an.81 1903 bereits waren bis auf einen alle 23 sächsischen Wahlbezirke an die Sozialdemokraten gegangen.82 Wir sollten uns hüten, uns das Marx’sche »Proletariat« vorzustellen, wenn wir die Statistiken der deutschen »Industrie« betrachten. Ein großer Teil der Arbeit wurde in Sachsen von Handwerkern oder in Heimarbeit geleistet. Selbst in Dresden, das im Jahr 1900 fast 400.000 Einwohner hatte, beschäftigten 86 Pro-

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H. Zwahr: Arbeiterbewegung, S. 448 ff. Arbeitgebergeführte Versicherungen in Hessen: White: Party, S. 48. Stumm war FK, und die FK verschwanden im (traditionell nationalliberalen) Saarland nach dessen Tod. Bellot: Hundert Jahre, S. 204 f. Solingen (seit 1881 SD), Hamburg und München (SD seit 1890) boten bei ähnlichen Strukturmerkmalen ebenfalls ein günstiges Umfeld für die SD. Bramann: Reichstagswahlen; Kutz-Bauer: Arbeiterschaft; Pohl: Arbeiterbewegung; bes. S. 50 f., 63. Wie allerdings auch in Hamburg und anderen Großstädten. Rohe: Wahlen, S. 90; Guttsman: Party, S. 38; Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 13. Zitat: Rouquié: Controls, S. 28. Von zehn Sachsen wählten sieben entweder die SD oder die Antisemiten. Warren: Kingdom, S. ix-xi, 1 f.

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zent der 22.000 Industriebetriebe nicht mehr als fünf Arbeiter.83 Dieses Handwerksmilieu der kleinen Meister und ihrer Abhängigen war es, das seit 1848 das Saatbeet für eine lebendige Kultur des plebejischen Dissenses bildete.84 In der Tat finden wir nicht nur in Sachsen, sondern überall, wo es Handwerksbetriebe gab, eine Art Freimaurerei – mit ihren eigenen Liedern und Sprichwörtern, ihren eigenen Nachbarschaften und Vereinen zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen, ihren eigenen Vorstellungsritualen (»Ein fremder Drechsler spricht um Arbeit vor«) und einem Netzwerk von Herbergen, die dem reisenden Gesellen eine Unterkunft oder zumindest etwas Geld anboten, bis er seine nächste Schlafstätte erreichte. So genoss der plebejische Wähler ein gewisses Maß an Protektion und Unterstützung.85 Tatsächlich war es nicht das klassische Fabrikproletariat, sondern das Handwerk mit seinen starken Zunfttraditionen – Steinmetze, Zimmerleute, Drucker, Sattler und Schuster –, das letztlich viele der aktiven Mitglieder und den größten Teil der Führungskräfte der Gewerkschaften und der nationalen Sozialdemokratischen Partei stellte, angefangen beim Drechsler August Bebel.86 Die Gewinne der Partei in den 1880er Jahren bei den Gemeindewahlen in Bremen, Braunschweig, Esslingen, Glauchau und Mannheim, die alle auf der Basis des vom Einkommen abhängigen (»plutokratischen«) Dreiklassenwahlrechts stattfanden, sind ein weiterer Beweis sozialdemokratischer Stärke innerhalb der Handwerkerschaft. Bebel prahlte einmal im Reichstag, dass sämtliche in Städten lebenden Handwerker in Deutschland Sozialdemokraten seien. Er übertrieb. Ähnliche Strukturen unterstützten ein oppositionelles Engagement in einem eher feindseligen örtlichen Umfeld auch bei linksliberalen, antisemitischen und zentrumstreuen Handwerkern.87 83

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Bevölkerung: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 42 (1903), 14; Beschäftigung: Retallack: Antisocialism, S. 53. 1882 waren 50 Prozent der deutschen Arbeiter in Betrieben mit weniger als fünf Beschäftigten angestellt; selbst 1895 waren es noch etwas mehr als 46 Prozent. Lidtke: Party, S. 11. Eine nützliche Kritik der Annahme, dass deutsche »Arbeiter« »Proletarier« in riesigen Firmen und in riesigen Städten gewesen seien: Moore: Injustice, S. 173 ff. Lidtke: Party, S. 183. Die Geschichtsschreibung der DDR bestritt diese weit verbreitete Beschreibung und bestand auf dem proletarischen anstatt dem handwerklichen Charakter der sächsischen Arbeiterklasse: Hartmut Zwahr: Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der Industriellen Revolution, [Berlin 1978] München 1981. Siehe jedoch Lidtkes skeptische Rezension über Zwahr in: The Formation of the Working Class in Germany, in: CEH 13 (1980), S. 393 ff. Zu den Arbeits- und Lohnbedingungen in Sachsen: Zwahr: Arbeiterbewegung, S. 448 ff.; Warren: Kingdom, S. 5. Keil: Erlebnisse, Bd. 1, S. 49 ff., 67, 70, 72 f., Zitat S. 73; August Bebel: My Life [1912], New York 1973, S. 43. Hamburgs frühe Sozialdemokratie mag der Größe der Stadt weniger verdanken als der Tatsache, dass es dort viele kleine und mittelgroße Firmen gab, die gelernte Arbeiter beschäftigten. Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 112 f. Sofern sie nicht Intellektuelle waren. Lidtke: Party, S. 10 Anm. 12; Molt: Reichstag, S. 212, 222, 227, 236; Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 160 ff., 213 ff., 432 ff.; Müller: Geschichte, S. 351; Blos: Denkwürdigkeiten, Bd. I. Lidtke: Party, S. 184; Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 125. Bereits 1905 hatte Robert Blank statistische Untersuchungen benutzt, um zu argumentieren, dass mindestens ein Viertel der Stimmen für die SPD von bürgerlichen Wählern kamen. Blank: Zusammensetzung, S. 507 ff., bes. S. 521 Anm. 1. Max Weber kritisierte die Statistik im selben Zusammenhang: M. Weber: Bemerkungen, S. 550 ff. In neuerer Zeit hat G. A. Ritter Blanks Rückschlüsse in einer These von 1959 zurückgewiesen, die in Ritter: Strategie, S. 324 Anm. 40 auszugsweise wiedergegeben ist. Siehe aber Sperber: Voters, S. 64 ff.; Warren: Kingdom, S. 49. Ein Reporter für Blackwoood’s bemerkte, dass die Zuhörerschaft bei SPD-Wahlkampfveranstaltungen in

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Und diese abweichenden Meinungen behaupteten sich nicht nur, sondern verbreiteten sich zunehmend. Die weit gestreuten Freundschaften und gegenseitigen Abhängigkeiten, die durch die Tradition fahrender Gesellen entstanden, ebneten bereits bestehende Wege zur Verbreitung eines neuen politischen Evangeliums, sobald erst einmal ein harter Kern von Aposteln gewonnen war.88 Und es gibt Anzeichen, dass bereits in den 1880er Jahren die Rekrutierung von einigen Brotherren selbst ausging – sogar von sozialdemokratischen Brotherren, und nicht nur in Sachsen. Wilhelm Keil, der als Drechslergeselle auf der Walz war, wurde in Köln von dem Sohn seines Meisters in den Sozialismus eingeführt. Letzterer bot ihm Ausgaben der Parteizeitung zum Lesen an und als sie sich für den darin ungeübten Keil als zu schwierig erwiesen, überredete er den jungen Mann, die Kölner Arbeiterzeitung zu abonnieren, eine volkstümlichere Version derselben. Auf Keils nächster Station, im verschlafenen Koblenz, stellte sich der Meister selbst als ein Sozialdemokrat heraus. Er war tatsächlich eine der Führungspersönlichkeiten der kleinen unscheinbaren Koblenzer Partei und zugleich der örtliche Kontaktmann für Besuche sozialdemokratischer Organisatoren. Keil war leicht zu gewinnen. Die Intimität handwerklicher Arbeit erleichterte die Unterhaltung und ein Teil des Lohns bestand für Keil in Unterkunft und Verpflegung bei seinem Meister. (Diese Tradition versuchten handwerkliche Selbsthilfeorganisationen abzuschaffen, nicht zuletzt wegen der politischen Abhängigkeit, die sie begünstigte.) Die Diskussionen mit Keils sozialistischem Brotherrn bei den Mahlzeiten drehten sich um Politik, »doch verliefen sie recht einseitig«, wie das spätere führende Mitglied der Sozialdemokraten einräumte: »Denn wir jungen Gesellen konnten in unserer politischen Ahnungslosigkeit wenig beisteuern. Wir stimmten eben den Meinungen des Meisters zu.« Keil sagt nirgends, dass seine sozialdemokratischen Meister ihn bedrängten, die Partei zu wählen, und es wäre entgegen ihrer Überzeugung und ihrem Geist gewesen, wenn sie dies getan hätten. Dennoch wurden gute Beziehungen zwischen sozialdemokratischen Arbeitgebern und ihren Angestellten zweifellos ebenso durch eine gleiche Gesinnung gefördert wie unter konservativen. Wenn dazu der Arbeitgeber sich als Respekt gebietende Persönlichkeit darstellte, war er leicht in der Lage, die politische Erziehung seiner Abhängigen zu beeinflussen. Die sozialdemokratischen Referenzen von Keils Meister verschafften dem jungen Wandergesellen den Zugang zu Parteikreisen selbst an so weit entfernt liegenden Orten wie Darmstadt und Mannheim.89 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Der Schutz der Anonymität, den große Städte boten; die vielfältigen und alternativen Beschäftigungsmöglich-

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den großen Städten »aus Männern in gut situierten Verhältnissen«, aus »lässigen ›Bürgerlichen‹« bestehe. Working, S. 270 f. Die SD wurden beschuldigt, Leuten, die auf Arbeitssuche nach Sachsen kamen, »einen förmlichen Zwangspass« auszustellen, der von den Wahlkomitees in den verschiedenen Wahlkreisen ausgegeben wurde, und sie zu zwingen, bei den Vorständen vorzusprechen, wo man ihnen sagte, welche Gasthäuser sie aufsuchen und in welchen Geschäften sie einkaufen könnten. Frhr. v. Friesen (K) SBDR 10. Jan. 1889, S. 371. Keil: Erlebnisse, Bd. 1, S. 53, 66 f., 74, 76, 83, 90. Über SD Politik unter Steigern 1912: Hall: Scandal, S. 92.

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keiten, die für eine kleinteilige Industrielandschaft charakteristisch sind, besonders in Sachsen; die Streuung politischer Zugehörigkeiten unter den Arbeitgebern in einer solchen Landschaft, besonders innerhalb des Handwerks – die sogar sozialdemokratische Mitgliedschaften einschließen konnte: alle diese Merkmale trugen dazu bei, dass einige Wähler die Möglichkeit hatten, entweder von ihren Brotherren abweichende Meinungen zu vertreten – oder aber die gleichen Überzeugungen anzunehmen wie ihr Brotherr, doch abweichend von den Parteien, die andere Autoritäten favorisierten, besonders solche, die in der Regierung saßen.

Ökonomische Rationalität ist keine Einbahnstraße Wenn wir die Bereitschaft der Wähler erkunden, ihren Lebensunterhalt für ihre politische Überzeugung aufs Spiel zu setzen, müssen wir nicht nur die Variationen in der Geographie der Macht im Auge behalten, sondern auch die wachsenden Gelegenheiten der Arbeiter, diese auszunutzen. Die explosive Industrialisierung des Deutschen Reichs wurde von der liberalen Gesetzgebung der 1860er Jahre beschleunigt, die zum ersten Mal völlige Freizügigkeit zwischen den zahlreichen deutschen Staaten erlaubte. Und Arbeiterbiographien lassen den Schluss zu, dass die Jungen, auch ohne politischen Motive, selbst in den Hungerjahren nach 1880, mit atemberaubender Geschwindigkeit die Arbeitsplätze wechselten, anscheinend unbeirrt durch die Furcht vor Arbeitslosigkeit.90 Zur Mitte der neunziger Jahre beklagten Rufer in der Wüste die ungebrochene Mobilität der Leute von einer Arbeit zur anderen als echte »Landplage«.91 Während also erboste Arbeitgeber Arbeiter von außen importieren konnten, war es den Arbeitern durchaus möglich, abzuwandern – wie sie dies schließlich auch von den ostelbischen Gütern taten. Bei der hoch entwickelten Verkehrsinfrastruktur des Reichs und verbilligten Eisenbahnfahrkarten für Arbeiter konnte ein Mann, dessen Umgebung ihm keine alternative Arbeit bot, hoffen, anderswo eine zu finden – selbst wenn er zuvor wegen seiner politischen Einstellung gefeuert worden war.92 Die Mobilität wurde nicht nur durch konjunkturelle Aufschwünge begünstigt, die sowieso erst in den 1890er Jahren das ganze Reich erreichten. Von Anfang an hatten Versicherungsvereine und Gewerkschaften die Zunfttradition, ihre Mitglieder mit Reisegeld (10 bis 15 Pfennig pro Meile) auszustatten, übernommen. Dies geschah als Regulierungsmaßnahme für den örtlichen Arbeitsmarkt, indem es die überschüssigen Handwerker ermutigte, anderswohin zu 90

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Keil: Erlebnisse, Bd. 1, bes. 49 ff. Hierzu Eugen May, der 1907 kündigte, weil sein Meister ihm nicht zum Austeilen von SD Stimmzetteln am Wahltag frei gab: Mein Lebenslauf, in: Kelly (Hrsg.): Worker, S. 380; und »A Barmaid«, ebd., S. 252 ff. Oppen: Reform, S. 11. Hierzu Regierungspräsidenten in den 1890ern, zitiert in: H. Romeyk: Wahlen, S. 47. Verbilligte Fahrkarten für Arbeiter: Bade: Kulturkampf, S. 112. Hierzu auch an fahrende Arbeiter gerichtete Annoncen: GA Nr. 207 (5. Sept. 1871); Nr. 208 (6. Sept. 1871) und 209 (7. Sept. 1871), S. 1859, 1863, 1873.

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gehen, als Akt der Solidarität mit dem eine Anstellung suchenden Arbeiter, aber auch, weil die »Freien« Gewerkschaften (die mit der Sozialdemokratie assoziiert waren) annahmen, dass das Reisen als solches die politische Emanzipation und die Entwicklung des Klassenbewusstseins fördere. Das Reisegeld hatte bereits in den 1850er Jahren eine große Bedeutung und bildete den größten Haushaltsposten der Gewerkschaftsunterstützungsfonds. 1893 machte es fast ein Drittel derartiger Ausgaben aus.93 Die Verbindung zwischen der Freiheit des Wählers und wirtschaftlichen Wahlmöglichkeiten war besonders in Hamburg augenfällig. Dort waren sowohl Löhne als auch Beschäftigungsraten hoch genug, um den Sozialdemokraten am Wahltag zu erlauben, massenhaftes Fernbleiben vom Arbeitsplatz zu organisieren und dadurch die Überwachung durch die Arbeitgeber erheblich zu erschweren. Es ist kein Zufall, dass während der zehn Jahre zwischen 1877 und 1887, in denen der Stadtstaat zur nationalen Hochburg der Sozialdemokratie wurde, Hamburgs Binnenwirtschaft sichtbar stärker und die Lage seiner Arbeiter erheblich besser waren als im deutschen Durchschnitt.94 Da die Reichsregierung für gewöhnlich keine Arbeitslosenstatistik führte, ist es schwer zu sagen, wer zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Gewerbe in einer stärkeren Verhandlungsposition gewesen sein mochte.95 Erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Industriezweigen, örtliche und regionale Unterschiede im Tempo der Industrialisierung sowie starke saisonale Fluktuationen lassen keine absoluten Verallgemeinerungen zu. Obwohl die deutsche Wirtschaft 1873 einen gravierenden Einbruch erlitt und bis 1879 stark beeinträchtigt blieb und obwohl eine vollständige Erholung bis 1896 auf sich warten ließ, können wir nicht annehmen, dass die Beschäftigung in diesen beiden Jahrzehnten völlig brach lag. Wie wir im Fall Alfred Krupps und des aufmüpfigen Freßberger erfahren haben, konnte ein Arbeitgeber, selbst wenn ein Rückgang der Produktion zu Entlassungen führte, einen bestimmten Arbeiter mindestens ebenso dringend brauchen wie der Arbeiter ihn. Wenn ein Historiker, der die polnischen Wanderarbeiter erforscht hat, uns sagt, dass die Zahl der im Rheinland und in Westfalen lebenden Menschen, die in Schlesien, Posen oder Ost- und Westpreußen geboren waren, in den 1880er Jahren um über 94.000 anstieg, ist die unabweisbare Schlussfolgerung, dass selbst während der Rezession zehntausende neuer Arbeitsplätze geschaffen wurden.96 Da der Anteil 93 94

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Schönhoven: Selbsthilfe, S. 152, 157 (Tabelle 3), 162 ff., 174; Tennstedt: Proleten, S. 130. Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 118, 127, 140 f., 273, 277, 300, 418 ff. Eventuell ermöglichte auch Gelegenheitsarbeit die politische Unabhängigkeit. Hierzu Karl Ditt: Fabrikarbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert in der neueren deutschen Sozialgeschichtsschreibung. Eine Zwischenbilanz, in: GG 20 (1994), S. 299 ff., 308. »Man tappt leider ganz im Dunkeln, wenn man die Zahl der Arbeitslosen berechnen will«, bekannte der christlich-soziale Herausgeber des Evangelischen Wochenblatts. Kötzschke, Brief, S. 46. Die meisten der uns vorliegenden Arbeitslosenstatistiken wurden von den Gewerkschaften geführt, die erst in den 1890er Jahren signifikante Bedeutung erlangten. Barkin: Germany, S. 207; Tennstedt: Sozialgeschichte, S. 204. Regierungsstatistiken für einige Monate des Jahres 1895 zeigen, dass die Arbeitslosigkeit zwischen 1,11 und 3,4 Prozent schwankte. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 781. Statistik: Kulczyncki: Arbeiter, S. 51, und Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 119. Selbst in der tiefsten Depression widerlegt Hamburg jede Vorstellung von Universalität bei der Arbeitslosigkeit und gleichzeitig

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der in Hamburg als Haushaltshilfen beschäftigten Frauen von zehn Prozent aller 1871 sich in einem Arbeitsverhältnis befindenden Frauen auf 4,4 Prozent im Jahr 1895 zurückging, können wir von einem Anstieg bei den besser bezahlten Arbeiten mit freieren Arbeitsbedingungen ausgehen. So etwas wie einen einzigen Arbeitsmarkt gibt es nicht, und ganz sicher nicht in einer Gesellschaft, die eine rapide Industrialisierung erlebt. Was wir sagen können, ist, dass das wirtschaftliche Wachstum als ganzes während der ersten drei Jahrzehnte des Kaiserreichs steil anstieg. Die Wahl im Februar 1890, bei der die Sozialdemokraten ihren Durchbruch erlebten, folgte gleich auf ein »Boomjahr«. Und es ist naheliegend, den großen Sprung der SPD nach vorn von 1893, als sie ein Plus von 25 Prozent an Stimmen verzeichnete (obwohl die Wahlbeteiligung um weniger als ein Prozent anstieg), als Spiegelbild nicht nur des Endes des Sozialistengesetzes zu sehen, sondern auch als eines der größeren Freiheit durch immer günstigere Beschäftigungsmöglichkeiten.97 Aus dem Blickwinkel des abhängigen Wählers war es ein außergewöhnliches Glück, dass die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Deutschland zeitlich mit seiner industriellen Revolution einherging. Nach 1896 entwickelten sich die wirtschaftlichen Bedingungen für die Arbeiter sogar noch günstiger. Für die Vorkriegsjahre hat Kenneth Barkin für Deutschland eine Durchschnittsarbeitslosigkeit von erstaunlichen 2,7 Prozent errechnet, fast zwei Prozentpunkte niedriger als die britische. Die Löhne in vielen bedeutenden Industriezweigen stiegen in den 1890er Jahren langsam, danach verzeichneten sie einen rasanten Anstieg.98 Trotz all der berechtigten Wut über Familien, deren Ernährer unabhängig gewählt hatte und die deswegen hungerten – ein Arbeiter, der wusste, dass er den Wünschen seines Vorgesetzten zuwider handelte, konnte um das Jahr 1903 angesichts des Booms ohne Weiteres dieses Risiko eingehen. Und die Ergebnisse für die SPD zeigen, dass viele dies auch taten. Was für den Einzelnen galt, galt erst recht für große Gruppen. Dies stellt nicht die Härte der Massenentlassungen in Abrede. Aber ökonomische Zwänge wirkten, wie wir gesehen haben, in zwei Richtungen. Ein Industriebetrieb auf dem Lande, wo die Wahl einstimmig verlief, war in einer schlechten Position,

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legt es eine erkennbare Verbindung zwischen den Erfolgen (und Misserfolgen) der SD und dem Arbeitsmarkt nahe. Eine gewisse Arbeitslosigkeit war selbst in Hamburg »ein normaler Zustand« (ebd., S. 68 ff., 111, 135 ff., aber siehe S. 139), und die Abnahme der Stimmen für den Sozialismus 1878 mag mindestens genauso viel mit dem Höhepunkt der Rezession wie mit zunehmender Unterdrückung zu tun haben. Ebd., S. 131 f., 134. Jetzt entschieden zur »Großen Depression«: Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, allgemein: S. 103 ff.; Löhne: S. 548, 559, 592; Arbeitslosigkeit (in einigen Industriezweigen 25 Prozent): S. 561, 571; Erholung: S. 569; spätere Zyklen: S. 575, 577. Zur Arbeitslosigkeit im Bergbau: Spencer: Management, S. 41, und Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 579. Starke Fluktuationen unter Arbeitern in Essen: Möllers: Strömungen, S. 145. »Boomjahr«: Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 577. Prozentsätze errechnet aus Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 40. Beschäftigung: Barkin: Germany, S. 207; Tennstedt: Sozialgeschichte, S. 204. Weitere Hinweise auf Arbeitskräftemangel, in der Landwirtschaft wie in der Industrie: Romeyk: Wahlen, S. 46 f., 49 f., 55, 57, 60. Siehe aber Steinmetz: Regulating, S. 203 f. Löhne: Barkin: Controversy, Tabelle auf S. 117.

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wenn es galt, politische Forderungen zu stellen.99 Kein Arbeitgeber, so versicherten die Parteizeitungen ihren Lesern, konnte allen seinen Beschäftigten kündigen. (Die Junker waren nur deshalb eine Ausnahme, weil sie anscheinend über eine unbegrenzte Anzahl von Fremdarbeitern verfügen konnten.) Sogar Streiks, eine wesentlich unmittelbarere Bedrohung der Autorität eines Brotherrn als das seinen Erwartungen zuwiderlaufende Stimmverhalten, wurden mit exemplarischer anstatt allgemeiner Bestrafung erwidert. Rund 20.000 Bergarbeiter legten im Ruhrgebiet 1890, 1891, und nochmals 1893 die Arbeit nieder. Obwohl jeder Streik Entlassungen nach sich zog, betraf doch deren höchste Anzahl (823) im Jahr 1893 nur ein Bruchteil (1/24) der rebellischen Arbeiterschaft. Als der ökonomische Aufschwung wieder voll in Gang kam, wurde es derart wichtig, sich ausreichend Arbeitskräfte zu sichern, dass die Geschäftsführer schließlich bereit waren, selbst bekannte Gewerkschafter sowie streikende und aufsässige Arbeiter einzustellen.100 Das Wissen, dass sie eine Ressource darstellten, die der Arbeitgeber brauchte, mag tatsächlich einige unzufriedene Arbeiter dazu veranlasst haben, ihre Wahlstimme als eine Möglichkeit zu betrachten, dem Arbeitgeber zu erklären: »Steck dir den Job an den Hut!« Achtzehn Grubenarbeiter der Zeche Marianne & Steinbank verlangten am Wahltage ihren Abkehrschein, bevor sie entlassen wurden: ein Beispiel, dem andere Arbeitskollegen, die »der Wahlplackerei auf diesem liberalen Bochumer Vereinsbergwerk müde« waren, schließlich folgten.101 Einige widerspenstige Seelen waren nur allzu gerne bereit, ihre Arbeit wegen einer politischen Unabhängigkeitserklärung zu verlieren.102 Die meisten Wähler hofften natürlich, möglichst unauffällig durch die Wahl zu kommen, und sich nach einem neuen Lebensunterhalt umsehen wollten sie schon gar nicht. Für viele war der äußerste Protest, den sie zu riskieren bereit waren, einen leeren Stimmzettel einzuwerfen.103 Einer ging einen Schritt weiter: Er nahm den Stimmzettel seines Arbeitgebers und schrieb hinter den Namen des Kandidaten: »ist nicht der Mann für mich«. Damit erreichte er, dass der unerwünschte Stimmzettel

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Arbeiter am Eisenbahnwerk in Meppen-Lingen: [unleserlich: Hlarer?] an Clauditz, L[ingen], 21. Feb. 1887, und H. Ramme, (sp?) Kpln [= Kaplan], an Clauditz, L[ingen], 20. Feb. 1890, SAO Dep. 62b, S. 2379. Spencer: Management, S. 40 f., 67. Rückversicherung durch die Parteipresse: Rheinisch-Westfälischer Volksfreund, 21. Juli 1878, und Essener Volkszeitung zitiert in: Paul: Krupp, S. 258. »Wahlplackerei« ist der Kommentar des Zentrums. Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1079 f. August Schubert, Stellenbesitzer, Breslau 10, AnlDR (1889/90, 7/V, Bd. 3) DS 105, S. 426. Beispiele anderer, die energisch gegen angenommenes Fehlverhalten seitens des Wahlvorstandes protestierten: Berlin 6, AnlDR (1980, 4/III, Bd. 4) DS 94, S. 669; Sachsen 22, AnlDR (1882–1883, 5/II, Bd. 5) DS 193, S. 689; Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 181, S. 898 ff.; Sachsen 14, AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 117, S. 567 ff.; Einbeck: Graf v. Rittberg SBDR 28. März 1871, S. 25; Breslau 5: Becker SBDR 29. März 1871, S. 46; in Sachrang, Bayern: SBDR 5. April 1871, S. 186; Minden 1, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 187, S. 522; Minden 1, AnlDR (1878, 3/II, Bd. 3) DS 99, S. 833 ff. Wähler in Hörde: Arnsberg 6, AnlDR (1890/91, 8/I, Bd. 3) DS 292, S. 2050; Arbeiter in Berlin 1, die 1881 zwischen dem Antisemiten Max Liebermann von Sonnenberg und dem F Fabrikbesitzer Ludwig Löwe gefangen waren: Frank: Brandenburger, S. 60. Ein Vergleich: 80.000 israelische Araber, die bei der Wahl der Knesset im Mai 1996 leere Stimmzettel einwarfen.

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aussortiert wurde.104 Ich möchte ihre Risiken nicht kleinreden. Es kann kaum ein Trost gewesen sein, zu wissen, dass der Arbeitsmarkt günstig war, falls sie ihre Arbeit verloren, oder dass die meisten ihrer Kameraden ihrem Schicksal entgehen würden. Indem der Akt des Widerstands – bei der Wahl wie auch beim Streik – zum russischen Roulette wurde, konnte auch nur eine einzige Entlassung genügen, um beträchtliche Konformität zu erzeugen, wie es auf den Landgütern geschah. Deswegen erstaunt es nicht, dass das »Opfer« ein wichtiger Teil des politischen Vokabulars jeder Partei war – und zwar nicht als Befehl, sondern als Beschreibung des politischen Prozesses, wie er sich jeden Tag ergab. »Opfermut« war die Tugend, die eine Partei von ihren Abgeordneten erwartete, die weit von ihrer Heimat entfernt und (bis 1906) ohne offizielle Entlohnung arbeiteten. Das Wort lobte jene Zählkandidaten, die in hoffnungslosen Wahlkreisen kandidierten, so dass die Getreuen eine Chance bekamen, Flagge zu zeigen. »Opfermut« zeichnete auch die Gabe des Witwenpfennigs von hunderten kleiner Spender aus, wie wir noch in Kapitel 11 sehen werden.105 Aber der Begriff wurde vor allem verwendet, um die Wähler selbst zu loben, die aufgerufen sein könnten, das äußerste Opfer zu bringen. Das Wort warf einen moralischen Schatten auf jeden Aspekt politischer Vorgänge. Keine Partei predigte rückhaltloses Heldentum.106 Bei jedem Wähler, wie auch bei Alfred Krupp, war die Entscheidung für die »Ökonomie« und gegen die »Politik«, oder umgekehrt, selten ein für alle Mal getroffen; sie musste eine ganze Reihe veränderlicher Gesichtspunkte berücksichtigen, und die Parteien wussten dies. Beim Umgang mit den Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Wähler sahen die Parteien ihre Aufgabe nicht nur darin, diesen Zivilcourage einzuimpfen (so sehr sie das auch versuchten), sondern auch, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, Risiken zu verringern und Chancen zu vergrößern.

Die Versicherung des Wählers Die Bereitwilligkeit des Arbeiters, bei den Wahlen Risiken einzugehen, nahm zu, wenn die Parteien notfalls selbst Beschäftigung anbieten konnten – eine schwierige Aufgabe in einem Gemeinwesen, wo selbst Sieger keine öffentliche Patronage erwarten konnten. Die polnischen und deutschen Katholiken profitierten von dem Informationsnetzwerk des Klerus, aber alle Parteien waren stark vom Anzeigengeschäft in ihren angegliederten Zeitungen abhängig, die ihre Anhänger um Informationen baten, die Stellen und Arbeitsuchenden zusammenbrachten – was einer der Gründe dafür war, warum die autokratischeren unter den 104 Sachsen 14, AnlDR (1912, 13/I, Bd. 19) DS 718, S. 926. 105 Die Wortwahl wurde von den K genauso gebraucht wie von den Linken. Adalbert Dahm an Bülow, Spandau, 18. Juni 1908, BAB-L R1501/14695, Bl. 207 f. Einiger Widerstand: Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 329. 106 Hierzu den Rat von Probst Wloszkiewicz in Skalmierzyze an Landarbeiter, den er (in der Kirche) auf Polnisch und Deutsch gab. Posen 10, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 44, S. 145.

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Arbeitgebern alles taten, solche Zeitungen aus den Wohnungen und Wirtshäusern ebenso wie aus den Betrieben zu verbannen.107 Die Parteien richteten auch Unterstützungsfonds für die Opfer von Vergeltungsmaßnahmen ein. Beispielsweise gelang es Essens Sozialdemokraten 1877, innerhalb weniger Monate 1.400 Mark mit Hilfe von Spenden aus so weit entfernten Gebieten wie Bayern und Hamburg einzunehmen. (Der Essener Bürgermeister verweigerte den Männern daraufhin Hilfsgelder aus den örtlichen Armenfonds mit der Begründung, dass ihr eigenes Unterstützungskomitee sie bereits gut versorgte!) Berliner Sozialdemokraten veranstalteten Auktionen und Lotterien (ein Nähmaschinenhändler spendete seine Waren als Preise) neben Sammlungen; sie erzielten 9.273 Mark und verteilten diese über elf Monate hinweg zwischen 1878 und 1879 an 53 Bedürftige. Die katholischen Hilfsgruppen waren nicht weniger aktiv. Bei der Nachwahl von 1901 in Stumms altem saarländischem Wahlkreis richtete der Zentrumskandidat, der Kölner Geschäftsmann Eduard Fuchs, bereits vor der Wahl einen Fonds zur Unterstützung von Opfern der Wahlkampagne ein. Auf Entlassungen konnten Arbeitskollegen mit gezielten Arbeitsniederlegungen reagieren.108 In harten Zeiten fiel es einer Partei natürlich schwer, zwischen Arbeitslosen aus politischen Gründen und solchen Arbeitern zu unterscheiden, die schlicht keine Beschäftigung fanden. Sozialistische Funktionäre beklagten sich, dass Männer in ihren Büros erschienen und um Unterstützung baten, »die niemals der Partei angehörten und gerade als entschiedene Gegner betrachtet werden« müssten, das heißt, »Erzliberale« und selbst »Ultramontane«. Da in den 1870er und 1880er Jahren Sozialdemokraten bereits tief in die Tasche griffen, um jenen zu helfen, die im Gefängnis saßen oder nach Amerika auswandern wollten, und Katholiken ihre Geistlichen unterstützten, deren Gehälter sistiert wurden – scheinen die finanziellen Zuwendungen, die Anhänger der Sozialdemokratie, des Zentrums und der Polenpartei dennoch denen anzubieten in der Lage waren, die ihretwegen zu Opfern wurden, in der Tat bemerkenswert.109 Bei der Abwägung ökonomischer gegen politische Interessen war der Arbeitsplatz keineswegs das Einzige, was für den Wähler wirtschaftlich zählte. Die Wohlfahrtseinrichtungen der Unternehmen – Wohnungen, Renten, Konsumvereine, Kranken- und Lebensversicherungspolicen – waren auch Teil der Überlegungen. Obwohl sie eingerichtet worden waren, um eine beständige Belegschaft zu garantieren – letztlich auch ein Zeichen für die Verletzlichkeit des Arbeitgebers –, waren diese Leistungen aber auch, wie Lujo Brentano es darstellte, ein Instrument des Klassenkampfs, »ein Kampfmittel, das die Übermacht der einen der beiden Parteien verstärkt«. Denn sämtliche Wohlfahrtsleistungen, 107 Z: Möllers: Strömungen, S. 330 f.; SD und ZP: Paul: Krupp, S. 243 ff., 267 f.; Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1081; Kühne (preußische LT-Wahlen): Elezioni, S. 60, und: Dreiklassenwahlrecht, S. 107, 197. Die Staatschikane gegen die oppositionelle Presse arbeitete Hand in Hand mit den Arbeitgebern. Paul: Krupp, S. 274; Czaplinski: ´ Presse, S. 20 ff., 31 ff. 108 Mazura: Entwicklung, S. 66; Majunke, SBDR 2. Dez. 1882, S. 600; Bellot: Hundert Jahre, S. 206, 214, 216; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 107; ders.: Elezioni, S. 60; Ernst: Polizeispitzeleien, S. 40 f., 46. 109 Paul: Krupp, S. 245 (Zitat); Müller: Geschichte; Sperber: Catholicism, S. 246 ff.

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einschließlich derjenigen, zu denen der Arbeitgeber einen Beitrag des Arbeitnehmers verlangte, verfielen, sobald der Arbeiter die Firma verließ. Deswegen steigerte ein Anspruch auf diese Leistungen die »Furcht für’s liebe Brot« beim Wähler noch mehr.110 Die Unfähigkeit der vielen kleinen Firmen in Sachsen, solche Waffen einzusetzen, war ein weiterer Grund für ihre frühe Hilflosigkeit im Kampf gegen die Sozialdemokratie. Aber die Firma war in Notzeiten nie die einzige Quelle der Sicherheit. Deutschland besaß eine lange Geschichte örtlich regulierter, gelegentlich sogar verpflichtender Krankenversicherungen, und in der zweiten Jahrhunderthälfte breiteten sich diese örtlichen Versicherungen weiter aus. Bereits 1870 existierten 550.000 derartiger Fonds in Preußen (wo die Städte sogar das Recht besaßen, Arbeitgeber zu Beitragszahlungen zu verpflichten); die meisten bayerischen Städte hatten ebenfalls so etwas eingerichtet. Schätzungsweise zwei Drittel aller deutschen Arbeiter waren auf irgendeine Weise versichert. Darüber hinaus waren die Arbeiter durch die Tradition der Zünfte daran gewöhnt, eigene freie Hilfskassen zu gründen. Eine Mitgliedschaft bei einer solchen Versicherung nahm sie gesetzlich von den vorgeschriebenen städtischen Versicherungen aus – dennoch schrieben sich manche Arbeiter sogar in beiden Kassen ein. 1860 waren schon mehr als 400.000 Menschen allein in Preußen Mitglieder von Selbsthilfefonds, davon waren 40 Prozent Fabrikarbeiter. Obwohl diese freien Hilfskassen oft so klein waren, dass sie bei jeder größeren Belastung ihrer Ressourcen Schwierigkeiten bekamen, wuchs ihr Wert exponential zur Bedeutung der Gewerkschaften, besonders, nachdem die Fonds zunehmend zentralisiert wurden. Von Anfang an hatten sozialdemokratische, zentrumsnahe sowie polnische Zeitungen ihre Leser gedrängt, nicht bei den Firmenfonds einzusteigen, sondern ihre eigenen Fonds zu gründen.111 In einigen Fällen richteten Zeitungen selbst Versicherungen ein. Der Verleger des Katolik beispielsweise, der über eine treue Anhängerschaft unter den Oberschlesiern gebot, gründete eine Versicherung für seine Abonnenten. Vor allem von Frauen geschätzt, rekrutierte die Versicherung neue Leser für das Blatt und stärkte am Wahltag den Mut ihrer Abonnenten den Vorgesetzten gegenüber.112 Obwohl die Fonds der freien Hilfskassen dazu dienten, sich für Krankheit, Alter, Streiks, Reisen und schließlich sogar Arbeits110 Brentano: Arbeitsverhältnis, S. 142; Möllers: Strömungen, S. 327, 330. Stabilität der Belegschaft: Moore: Injustice, S. 268; hierzu auch Manchester: Arms, S. 170 ff.; Saldern: Wege, S. 59 f. Menne: Blood, S. 178, sagt, dass die Mitgliedschaft in Krupps Fonds verbindlich war; aber wie die eigene Wahlanalyse der Firma zeigt, war dies zumindest um 1903 nicht der Fall. 111 Steinmetz: Regulating, S. 125 f.; Hartmut Zwahr: Ausbeutung und gesellschaftliche Stellung des Fabrikund Manufakturproletariats am Ende der Industriellen Revolution im Spiegel Leipziger Fabrikordnungen, in: Kultur- und Lebensweise des Proletariats. Kulturhistorisch-volkskundliche Studien und Materialien, hrsg. v. Wolfgang Jacobeit und Ute Mohrmann, Berlin 1973, S. 85 ff., 100; T. Müller: Geschichte, S. 82 f.; Paul: Krupp, S. 167, 259 f.; Ritter: Welfare, S. 77. 112 Czaplinski: ´ Presse, S. 31. Wie bei der britischen Arbeiterbewegung wurden diese Versicherungsvereine, mit ihren Amateur-Buchhaltern und bei dem Mangel an gesetzlicher Regulierung, von Skandalen und Bankrott verfolgt. Beispiele aus katholischen Arbeitervereinen: Lepper: Cronenberg, S. 57 ff., bes. 100, 145, und allgemeiner: ders. (Hrsg.): Katholizismus; Ernst Thrasolt: Eduard Müller. Der Berliner Missionsvikar. Ein Beitrag zur Geschichte des Katholizismus in Berlin, der Mark Brandenburg und Pommern, Berlin 1953, S. 205 ff.; für Fonds der Sozialdemokratie oder ihr nahe stehenden Fonds: Keil: Erlebnisse, Bd. 1, S. 96; Bellot: Hundert Jahre, S. 186.

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losigkeit abzusichern (und sie 1913 mehr als elf Millionen Mark an die Arbeitslosen auszahlten), ist es in unserem Zusammenhang wichtig, dass ein kleiner, aber bedeutender Teil besonders der Gewerkschaftsgelder an »Gemaßregelte« ausgegeben wurde – an jene Mitglieder also, die von den Autoritäten (privaten oder amtlichen) wegen ihres politischen Verhaltens bestraft worden waren.113 Die Auswirkungen dieses Netzwerks an Versicherungsschutz – aus Instrumenten der Selbsthilfe wie auch (manchmal) aus verbindlichen und städtisch regulierten örtlichen Fonds – auf die deutsche Wahlfreiheit muss meines Wissens noch im Detail erforscht werden. Was wir aber erkennen können, ist, dass durch die Abkoppelung der Versicherungsleistungen von der Gunst des Arbeitgebers, durch die Bereitstellung von Notfallhilfe und durch die Erleichterung der geographischen Mobilität ein solcher Versicherungsschutz zu einer Unabhängigkeit des Arbeiters bedeutsam beitrug.114 Das wegweisende Werk der Reichsgesetzgebung von 1883 und 1889, die im ganzen Reich für bestimmte Industriesparten Krankheits- und Rentenversicherungen einführte und alle bereits existierenden Versicherungen – die Ortskrankenkassen und Gemeindekrankenkassen wie auch die von Arbeitern gegründeten Freien Hilfskassen – unter staatliche Kontrolle stellte, vervollständigte dieses Gebäude. Darüber hinaus ermöglichte der Schutzschild der staatlich regulierten Versicherung auch das Überleben der sozialdemokratischen Hilfswerke, mit leichten Namensänderungen, während der Ära der Sozialistengesetze. Da ein Drittel der Gelder in den staatlich regulierten Versicherungspolicen aus den Beiträgen der Arbeitgeber stammte, kontrollierten letztere auch ein Drittel der Vorstände, die die örtlichen Fonds verwalteten. Aber zwei Drittel dieser Vorstände wurden dank der neuen Gesetzgebung von den versicherten Lohnempfängern gewählt (was nach 1891 auch weibliche Lohnempfänger einschloss). Gewerkschaftsmitglieder und sogar Sozialdemokraten hielten bald die Mehrheit der Sitze. Sie benutzten ihre mit Gehältern versehenen Positionen in diesen staatlich regulierten Vorständen dazu, finanzielle Hilfen an Arbeiter zu leisten, die aus politischen Gründen diszipliniert oder entlassen worden waren – ohne dass es ihre eigenen Organisationen auch nur einen Pfennig kostete!115 Schließlich bildeten alle diese Versicherungsunternehmen – die Gemeinde-, Orts-, Parteikrankenkassen und die von Arbeitern geführten – gemeinsam ein 113 Schönhoven: Selbsthilfe, S. 156 f., 174, 179, 180, 190; Tennstedt: Sozialgeschichte, S. 112 f., 133, 232 f.; ders.: Proleten, S. 164, 220 f., 302, 328 f.; Ritter: Welfare, S. 80 f. 114 Im Gegensatz hierzu Steinmetz: Regulating, S. 125, der argumentiert, dass »die Zulassung zur Sozialversicherung voraussetzte, dass die Arbeiter fest angestellt waren und regelmäßige Zahlungen leisteten … ein starker Anreiz, sich keine Unregelmäßigkeiten zuschulden kommen zu lassen … von Gewerkschaftstätigkeit und anderen Formen des Widerstandes, die Entlassung und das Aufnehmen in eine schwarze Liste riskierten, bis zum Blaumachen am Montag«. 115 Hierzu gut: Ritter: Welfare, S. 74 ff.; Schönhoven: Selbsthilfe, S. 154 und 154 Anm. 17. Gelegentlich jedoch erhoben Protestbriefe den Vorwurf, dass örtliche Beamte damit drohten, demjenigen die (staatliche) Unfall- oder Rentenversicherung zu entziehen, der falsch wählte. Z. B. 1912: Hessen 8, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 16) DS 350, S. 290; Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3412; Sachsen 14, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 718, S. 927. Kritik an Versicherung durch SD: Tennstedt: Proleten, S. 289, 316, 322. Aber siehe auch ebd., S. 323 f., 326, 412, 424, 432, 436, 446, 486. Betonung der entmachtenden Merkmale der Versicherung: Steinmetz: Regulating, S. 124 ff.

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riesiges Arbeitsbeschaffungsprogramm. In die Verwaltungspositionen dieser Fonds strömten genau jene Arbeiter, die wegen ihrer politischen Tätigkeit gefeuert worden waren. Selbst ein ungelernter Arbeiter konnte den Tresen des örtlichen Versicherungsbüros besetzen, wo er anderen Arbeitern half, ihre Formulare auszufüllen oder ihre Anträge zu stellen. (»Sind Sie der Verstorbene selbst?«, soll ein gewissenhafter Funktionär einen Klienten gefragt haben, der einen Tod meldete.) Auf höherer Ebene schaffte die Versicherungsbürokratie somit ihren Zweiten Bildungsweg für junge, talentierte und politisch aktive Arbeiter. Dieser Prozess der Integration von politischen und Gewerkschaftsfunktionären in der Versicherungsbürokratie ist wegen seiner unerwarteten, langfristigen politischen Bedeutung mit der Einführung des Männerwahlrechts selbst verglichen worden. Solche Arbeiter-Bürokraten wurden zu »Unteroffizieren der Sozialdemokratie«.116 Das System staatlich regulierter Fonds hatte viele Mängel – nicht zuletzt einen Mangel an Vorsorge für den Fall der Arbeitslosigkeit. Aber nach der Jahrhundertwende, als die Sozialdemokraten in mehr und mehr Stadträten Fuß fassten, übernahmen einige Städte nach belgischem Vorbild die Unterstützung der gewerkschaftseigenen Hilfsfonds. Mitte 1914 lieferten bereits 22 Städte Beiträge (für gewöhnlich 50 Prozent) zu gewerkschaftseigenen Arbeitslosenversicherungen.117 Andere Mängel der staatlich regulierten Fonds führten zur Entwicklung der sogenannten »Volksversicherung«, einer Versicherung in privater Trägerschaft und Verwaltung für Kunden mit niedrigem Einkommen. Um 1910 besaß bereits jeder neunte Deutsche eine solche Volksversicherungspolice. In einigen Regionen war der Anteil noch höher: 50 Prozent der Sozialdemokraten und 64,7 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in Waldenburg (einem Wahlkreis, in dem die Einschüchterung der Wähler besonders gravierend war) besaßen dort 1913 solch eine Police, wie eine Untersuchung des örtlichen (nota bene) SPD-Wahlvereins ergab. »Der genuin machtpolitische Charakter« der bescheidenen Versicherungspolice wurde selbst von einfachen Wählern erkannt. Eine konservative Seele empfahl, dass ein mögliches neues Sozialistengesetz sich auf die Cassenbestände der SPD konzentrieren solle. Sowohl die konservativen Landwirte als auch die Radikalen innerhalb der SPD fürchteten die Versicherungen, die unabhängig von ihrer Kontrolle verwaltet wurden. Erst nach Jahren der Auseinandersetzung mit der SPD-Führung, die annahm, dass die Vorteile der Einrichtung der parteieigenen Volksversicherung dem Reformflügel zugute kämen, waren die Gewerkschaften schließlich in der Lage, 1912 eine Volksfürsorge-Aktiengesellschaft zu gründen, die die früheren Kranken-, Alters- und Sterbekassen ablöste.118 Sofort 116 Tennstedt: Sozialgeschichte, S. 172, Unteroffiziersschulen der Sozialdemokratie: S. 180 f., 233 (Zitat). Diese »Unteroffiziere« wurden manchmal von Arbeitern beneidet, die nicht in solch »süssem Nichtstun« leben konnten. Bernhard Gehle (München) an Bülow, 4. Jan. 1907, BAB-L R1501/14697, Bl. 91–92v. 117 Steinmetz: Regulating, S. 202–213. 118 A. Jädicke, Dresden-Plauen, an Bülow, 8. Jan. 1907, BAB-L R1501/14697. Bl. 118–119. »Der genuin machtpolitische …« und ein großer Teil meiner Analyse stammt aus dem ausgezeichneten Werk: Trischler: Sozialreform, S. 618 ff.; Zitat S. 624. Die Radikalisierung von Arbeitern, die nicht in das gewerk-

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argwöhnten die Konservativen, dass die Volksfürsorge sich bemühen würde, Landarbeiter anzuwerben – und damit die Sozialdemokratie auf dem flachen Land zu etablieren. Der Generallandschaftsdirektor von Ostpreußen und Vorsitzende seiner regionalen Lebensversicherung, Wolfgang Kapp, später berüchtigt wegen seiner Rolle im gescheiterten Kapp-Putsch von 1920, appellierte an die Reichsregierung, die Volksfürsorge zu verbieten! Bezeichnenderweise wies Bethmann Hollweg unter Brüskierung der Anhänger Kapps im preußischen Kabinett die Bitte zurück. Stattdessen setzte sich die Regierung für die Anwendung objektiver juristischer – im Gegensatz zu den politischen – Kriterien für die Zulassung von Versicherungsgesellschaften ein. Wie sich herausstellt, bestätigten die Ereignisse die Vorhersagen der Unkenrufer auf der Rechten wie auf der Linken. Die Volksfürsorge der Gewerkschaften stabilisierte tatsächlich die politische Autonomie des wirtschaftlich abhängigen Wählers – wie die Konservativen vorhergesagt hatten. Aber sie beschleunigte auch, wie die SPD Linke befürchtete, seine Integration in die deutsche Gesellschaft.119

−−− Wichtige Hinweise auf die Rolle der unabhängigen Versicherungen bei der Beseitigung der Kontrolle der Arbeitgeber über die Wahlurne finden sich in den unterschiedlichen Ergebnissen der Wahlen von 1903 in Essen und des sechsten Trierer Wahlkreises an der Saar. Beide Wahlkreise hatten kurz zuvor ihre kommandierenden Industriekapitäne verloren. Baron von Stumm aus dem Wahlkreis Trier 6 war 1901 gestorben. Friedrich Krupp, der Sohn des Kanonenkönigs, war im folgenden Jahr in den Freitod getrieben worden, nach einer unerbittlichen Aufdeckung seiner Homosexualität durch die italienische, die Zentrums- und besonders die sozialdemokratische Presse.120 1903 erhielten die Sozialdemokraten in Stumms altem Wahlkreis nur 170 von 34.363 abgegebenen Stimmen; in Krupps Hochburg tauchten über Nacht 22.773 sozialdemokratische Wähler auf.121 Essen war elektrisiert. Der Vorstand von Krupp, angestachelt durch Presseberichte, dass es Krupparbeiter gewesen seien, die den Sozialdemokraten die schaftliche Versicherungssystem integriert waren, wird an der ansonsten reformistischen Münchener SPD sichtbar. Pohl: Arbeiterbewegung, S. 520. 119 Trischler: Sozialreform, S. 623, 625, 627 ff. 120 Menne: Blood, S. 208 ff.; Hall: Scandal, S. 178; Saldern: Wege, S. 67, 127. Die SPD war auch der Wächter der heterosexuellen Moral; sie erzwang den Rücktritt des Zentrumsführers Julius Bachem 1891, indem sie ein Vaterschaftsverfahren gegen ihn aufdeckte. Müller: Strömungen, S. 269. 121 Wenn in Essen für 1898 in Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, keine SPD-Stimmen verzeichnet sind, so liegt dies daran, dass die (demonstrativen) 4.429 Stimmen für Ludwig Schröder – einen der Führer im großen Bergarbeiterstreik von 1889 – automatisch ungültig waren, weil Schröder im berüchtigten Essener Meineidskandal verurteilt worden und damit nicht wählbar war. Einen Vorgeschmack der RT-Wahlen von 1903 hatte man im April bekommen, als die Freien Gewerkschaften den Christlichen Gewerkschaften zum ersten Mal in den Wahlen zum örtlichen Gewerbegericht knapp überlegen waren. Ein Mene Tekel für die Reichstagswahlen, in: Die Zeit 2/28 (9. April 1903), S. 33 f. Obwohl die Freien Gewerkschaften im Allgemeinen für sozialistisch gehalten wurden, klagte 1902 W. Düwell, der Vorsitzende der SPD in Essen, dass von deren 2.500 Mitgliedern nur 362 der Partei angehörten. Bajohr: Krupp, S. 36. Zur politischen Bedeutung der Gewerbegerichte: Tennstedt: Sozialgeschichte, S. 199 ff.

Kapitel 8: Die Entmachtung der Autoritäten

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Stimmen geliefert hätten, leitete eine Untersuchung ein. Das Ergebnis, ein Bericht, der sich über neun dicht beschriebene Seiten erstreckte, war vielleicht der erste Versuch einer »Wahlsoziologie« in der deutschen Geschichte.122 Die mit der Untersuchung Beauftragten gingen davon aus, dass in einem Wahlkreis, der zu rund 60 Prozent katholisch war, kein evangelischer Arbeiter für das Zentrum gestimmt haben dürfte und fast keine Katholiken für das »nationale« Aushängeschild, einen evangelischen Pfarrer (der zweifellos zur Wiederherstellung der Moral des nationalen Lagers nach dem Krupp-Skandal ausgewählt worden war). Die eigene Wahlanalyse der Nationalliberalen kam, nachdem sie die evangelischen Kirchensteuerlisten mit den Wahlteilnehmerlisten der Wahlbezirke verglichen hatten, zu dem Schluss, dass die Wahlbeteiligung der wahlberechtigten evangelischen Männer in Essen selbst bei erstaunlichen 94 Prozent gelegen habe.123 Nachdem sie Berechnungen auf der Basis der Konfession, der Beschäftigung, der Wohngebiete und der demographischen Veränderungen seit der letzten Wahl 1898 sowie Veränderungen der Wahlbeteiligung in den Wahlbezirken angestellt hatten, gaben die Statistiker von Krupp widerwillig zu, dass es denkbar sei, dass im schlimmsten Fall mehr als ein Viertel der in Frage kommenden 17.000 Krupparbeiter sozialdemokratisch gewählt hatten. Wer oder was war hierfür verantwortlich? Versicherungsgesellschaften, die nicht im Besitz von Betrieben waren! Das war zumindest die Schlussfolgerung des Vorstands. Die größte dieser Versicherungen war die Hamburger Allgemeine Kranken- und Sterbekasse für Metallarbeiter, eine große und jetzt landesweit operierende sozialdemokratische Einrichtung. Die gut 25 Prozent der von der Firma geschätzten Kruppianer, die sozialdemokratisch gewählt haben könnten, waren auffällig identisch, bemerkten sie, mit der Anzahl der relativen Neuankömmlinge, die es vorgezogen hatten, der firmeneigenen Versicherung nicht beizutreten. Dieses Argument zeigte, zumindest nach Ansicht des Kruppvorstandes, die Verbindung zwischen Versicherung und politischer Konformität.124 Der Bericht zeigte auch, dass einige Dinge unverändert geblieben waren, obwohl das Essener Familienunternehmen nach Alfreds Tod 1887 ein Konzern geworden war: Das galt sowohl für das Bestreben der Firma, die politische Betätigung ihrer Angestellten zu kontrollieren, als auch – seltsamerweise – für ihre beinahe unpolitisch anmutende Engstirnigkeit. Selbst im 20. Jahrhundert scheinen die Wahlstimmen der Kruppianer die Firma nur als Maß ihrer eigenen Au122 Die Kruppsche Arbeiterschaft und die Reichstagswahlen in Essen, im Folgenden: Krupp-Bericht, BABL R1501/14696, Bl. 56–60. Es ist interessant, dieses Dokument mit der Analyse des SD Wahlkreises zu vergleichen, der zwei Jahre später veröffentlicht wurde von Blank: Zusammensetzung. Ein Exemplar des Berichts wurde am 29. Oktober 1903 von Krupps Witwe, Margarethe, an Wilhelm II. geschickt. 123 Jeder Bürger, der mehr als 900 Mark im Jahr verdiente, bezahlte Kirchensteuer, und selbst SD ließen sich selten von diesen Listen streichen. Vernon Lidtke: Social Class and Secularisation in Imperial Germany. The Working Classes, in: LBIY 25, 1980, S. 21 ff. Von diesen Männern hatten 78 Prozent Pastor Klingemann gewählt, womit 2.954 evangelische Wähler blieben, die nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Diese müssen entweder Z gewählt haben (sehr unwahrscheinlich), oder SPD. Krupp-Bericht, BAB-L R1501/14696, Bl. 56–60. 124 Hierzu Heinz Reif, der argumentiert, dass der Gebrauch der Wohlfahrtseinrichtungen zu politischen Zwecken bei Krupp erst nach 1900 begann: »Ein seltener Kreis von Freunden«. Arbeitsprozesse und Erfahrungen bei Krupp 1840–1914, S. 541 ff., zitiert in Bajohr: Krupp, S. 53.

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Teil 3: Grade der Freiheit

torität interessiert zu haben. Die eigentlichen Wahlergebnisse beziehungsweise die in den Reichstag gewählten Abgeordneten spielten kaum eine Rolle. Das können wir daran erkennen, was die Firma als ihren »schlimmsten Fall« bezeichnete: die Möglichkeit, dass 25 Prozent ihrer Belegschaft in der Hauptwahl sozialdemokratisch gewählt hatte. Aber der allerschlimmste Fall, vom Standpunkt des Ergebnisses her gesehen, war das, was in der Stichwahl passierte. Diese Wahl zogen die Statistiker von Krupp zu ignorieren vor, weil, wie sie behaupteten, »Gründe ausschlaggebend waren, welche bei dem ersten Wahlgange nicht existierten« (wahrscheinlich der Wegfall des »nationalen« Kandidaten) und das Ergebnis beeinflusst haben könnten. Bei der Stichwahl gewann das Zentrum weniger als 4.000 neue Wähler, während der Anteil der Sozialdemokraten von 28 auf 46 Prozent der Essener Wähler anstieg: ein erdrutschartiger Zuwachs von 10.000 Stimmen. Es bedurfte kaum der Erläuterung der Krupp-Statistiker, um zu ahnen, woher diese Stimmen kamen. Aber die offensichtliche Schlussfolgerung, dass ungefähr die Hälfte der gehorsamen Anhänger der »nationalen« Partei bei der ersten Wahl jetzt ihre Stimmen der Sozialdemokratie gegeben hatten, blieb unerwähnt. Sobald der von der Firma unterstützte Kandidat eliminiert war, war es gleichgültig, wie die Beschäftigten ihre Stimme abgaben – und wer die Wahl gewann.125 Wenn es der Firma Krupp hauptsächlich um die Autorität statt der Wahlergebnisse ging, und dies ein Element der Kontinuität zwischen der Ära des Kanonenkönigs und dem 20. Jahrhundert darstellte, so zeigte die in ihrem Bericht angewandte Methode, dass tatsächlich eine neue politische Epoche angebrochen war. Bezeichnend für die Veränderungen seit Alfreds Tod war die Tatsache, dass der Bericht von 1903 rein statistisch war. Kein einziger Kruppianer wurde interviewt, selbst solche Vorarbeiter, deren politische Ansichten als zuverlässig bekannt waren, scheinen nicht über die politischen Ansichten ihrer Untergebenen befragt worden zu sein. Der Bericht bezieht sich auf keinerlei Beobachtungen oder mitgehörten Unterhaltungen, auf keine der Schnüffeleien, die unter dem alten Krupp gang und gäbe waren. Die erhebliche Reduzierung des persönlichen Kontakts zwischen der Arbeiterschaft und den Männern, die sie überwachten, war Teil einer generellen Bewegung in der deutschen Industrie, in der die Ersetzung des Familienbetriebs durch Konzernstrukturen ihren Aus-

125 Dieter Fricke schreibt, dass am 29. Oktober der Vorstandsvorsitzende von Krupp, Max Röder, Bülow einen neunseitigen Bericht über die Ergebnisse von Krupps eigener interner Untersuchung der SPD-Lawine schickte. Fricke: Imperialismus, S. 539. Fricke zitiert das Dokument als Reichskanzlei Nr. 1792 fol. 93–99. Dies scheint eine andere Abschrift zu sein, vielleicht auch eine frühere Signatur desselben Dokuments, das ich in BAB-L R1501/14696, Bl. 56–60, gesehen habe. Obwohl Krupps »Terrormethoden« genau das waren, wonach ich suchte, enthielt das Dokument, das ich sah, nichts, das Frickes folgende Charakterisierung rechtfertigen würde: »die bei Krupp üblichen Terrormethoden des monokapitalistischen Unternehmerabsolutismus wurden hier propagiert und für die gesamte deutsche Arbeiterschaft zur Nachahmung empfohlen« – vielleicht ist es also ein anderes Dokument. Ich habe auch keinen Hinweis darauf, dass der Bericht von der Reichsregierung veranlasst war. Auszüge des Krupp-Berichts, oder zumindest der Ausgabe, die im GStA PK I. HA, Rep. 89 zu finden ist, sind abgedruckt in: Bolecke (Hrsg.): Krupp, S. 117 ff. Dies ist die Ausgabe, auf die Jaeger: Unternehmer, S. 92 Anm. 300, sich bezieht.

Kapitel 8: Die Entmachtung der Autoritäten

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druck in der wachsenden Unpersönlichkeit der Beaufsichtigung im Allgemeinen fand.126 Aber wie lange konnte man dieselben Rituale politischer Treue von Arbeitern erwarten, deren strenger, aber persönlicher Gottvater inzwischen durch einen Deismus des Rechenschiebers ersetzt worden war?

126 Spencer: Management, S. 88 f.

Kapitel 9: Die Einhaltung der Spielregeln

Wer sein Recht gebraucht, kränkt niemand, und wer sich gekränkt fühlt, ist gewöhnlich im Unrecht. Alter Rechtssatz

Zwei Aspekte kennzeichnen das Konzept freier Wahlen. Der erste betrifft den individuellen Menschen und das Ausmaß, in dem dieser seine Stimme nach eigenem Gutdünken abgeben kann. Er betrifft den Wahlakt als solchen. Aber die Freiheit der Wahl ist auch abhängig von der Freiheit, sich über die Wahlmöglichkeiten zu informieren, und von der Freiheit, andere von dem selbst gewählten Kandidaten überzeugen zu dürfen. Daher betrifft der zweite Aspekt freier Wahlen den Wahlkampf und oft auch die Partei. Da die Partei den stärksten Schutz des Individuums bilden kann, sind beide Aspekte eng miteinander verknüpft. Weil Menschen sich gelegentlich von einer Partei genauso bedrängt fühlen wie von einem Arbeitgeber oder einer Autoritätsperson, haben die Verbindungen vielfältige Auswirkungen. Obwohl es zur analytischen Klarheit beiträgt, wenn man diese beiden Bedingungen der Wahlfreiheit separat betrachtet – die Entscheidungsfreiheit des Individuums und die freie Entfaltung des Wahlkampfs –, färben die Bereiche unweigerlich aufeinander ab. Sie beide zu betrachten ist daher unumgänglich zur Erklärung der Erfolge von Parteien, die von den Mächtigen verachtet und verfolgt wurden. Die Existenzfähigkeit von Parteien ist sowohl eine Voraussetzung als auch ein Beweis für wirklich kompetitive Wahlen, und diese werden überall als Kennzeichen einer Demokratie angesehen.1 Bis jetzt haben wir uns in unserer Suche nach den Grenzen der Freiheit, innerhalb derer sich die Wähler bewegten, mit Deutschlands äußeren Strukturen – den geographischen und den wirtschaftlichen – befasst. Aber eine andere Art strukturellen Maßstabs, ein kultureller, erwies sich als zumindest ebenso wichtig für die Gewährleistung eines Freiheitsrahmens während der Wahlen, selbst in 1

Nohlen: Wahlrecht, S. 18 und passim.

Kapitel 9: Die Einhaltung der Spielregeln

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Gegenden, in denen weder die Wirtschaft noch irgendeine Partei viel Unterstützung zu bieten hatten. Edward Thompson hat eloquent die »subpolitischen« Traditionen beschrieben, die der englischen Unterklasse den Mut gaben, ihre Interessen zu vertreten und sie als Rechte zu bezeichnen. Eine derartige Tradition fand Thompson im »derben und gewalttätigen« Aufruhr, der in der Volkskultur durch ungeschriebene Gesetze er »moralischen Ökonomie« legitimiert war. Eine andere fand er in dem sich auf die Bibel berufenden, oft apokalyptischen Protestpotential der protestantischen Sekten.2 Keine dieser Traditionen spielte in Deutschland eine Rolle: Dem mitteleuropäischen Protestantismus fehlte die sich durch die Abspaltung von der herrschenden anglikanischen Kirche vermehrende Vitalität der englischen Nonkonformität; und das deutsche Kaiserreich, wo, anders als im Gregorianischem England, die Polizei für Ruhe und Ordnung sorgte, erwies sich für die Unangepassten jeglicher Art als feindliches Umfeld. Doch die Deutschen verfügten über ihre eigene subpolitische Tradition, die anscheinend der ordnungswidrigen englischen diametral entgegengesetzt war, sich aber als Waffe der Andersdenkenden als nicht weniger nützlich erwies. Dies war eine Tradition des Respekts vor den Spielregeln. Die Deutschen begreifen sich als sehr gesetzestreues Volk. Sie frönen übermäßig der Rechthaberei, wobei das Recht häufig durch die Vorschriften eines Gesetzes, einer Verordnung oder einer Genehmigung definiert wird.3 Ausländer, die eine Zeit lang in diesem Land gelebt haben, teilen ganz sicher diese Auffassung. Die Bürger des Kaiserreichs waren stolz darauf, einem Rechtsstaat anzugehören. Das Wort beschrieb einen Staat, der gemäß festgelegten Richtlinien regiert wurde, die universell angewandt werden konnten und für den Regierenden ebenso wie für die Regierten bindend waren. Aber das Wort »Recht« bezeichnet nicht nur ausdrücklich das Gesetz, sondern auch Gerechtigkeit und Richtigkeit. Diese sprachliche Übereinstimmung von Regeln und Vorschriften mit Gerechtigkeit (und umgekehrt) förderte eine fruchtbare Doppeldeutigkeit; sie wies darauf hin, dass die Autorität einer Regel nicht nur von ihrem gesetzgeberischen Ursprung (Krone, Parlament, Gott usw.) herrührte, sondern, und vielleicht mit noch stärkerer Überzeugungskraft, aus ihrer allgemeinen Anwendbarkeit. Die Bereitschaft, Konflikte auf juristischem Wege zu lösen, die auf eben diesem Vertrauen auf die Universalität von Regeln beruht, ist in deutschen Landen mindestens bis ins 18. Jahrhundert hinein anzutreffen.4 Natürlich wurden Regeln in Deutschland – gerade so wie die Bibel in England – in der Praxis oft übertreten. Aber wie die von den englischen Nonkonformisten ins Feld geführte Bibel wurden die Regeln in ihrem überragenden Wert von allen Schichten der deutschen Gesellschaft öffentlich und privat anerkannt. In Deutschland wie in 2 3

4

E[dward] P. Thompson: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bd., Frankfurt a.M., 1987, S. 64 f., S. 68–74. In seinem Diskurs über das gegenwärtige Deutschland, in: Parties in a Legalistic Culture, liefert Poguntke keine Begründung für die Existenz der legalistischen Kultur. Dass er sie für derart selbstverständlich hält, ist ein schlagkräftiger Beweis für meine Behauptung. Schulze: Resistance; Peter Blickle: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart, Bad Cannstatt 1980.

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Teil 3: Grade der Freiheit

England verlieh die Stärke einer derartigen kulturellen Tradition demjenigen, der sie für sich reklamieren konnte, einen gewaltigen Vorteil und enorme moralische Energie. Die Überzeugung, dass Regeln befolgt werden müssen, die gelegentlich als fatale Schwäche in ihrem politischen Charakter angesehen wird, welche die Deutschen jeder geltenden Autorität ausliefere, konnte daher auch subversive Folgen haben, denn sie bot ebenso eine logisch konsequente Grundlage für den Widerstand gegen diese Autorität. Wenn sich auch Gewerkschaftsführer und Sozialdemokraten sarkastisch über die deutsche Gesetzestreue äußerten, so war dies doch der Sarkasmus eines vernachlässigten Liebhabers. Selbst den Verächtern gelang es, das komplizierte Netz von Regeln und Bestimmungen geschickt auszunutzen. Dicke Parteihandbücher informierten die Anhänger über die Gesetze zur Rede- und Versammlungsfreiheit, boten Ratschläge für die Vorgehensweise im Fall einer Verhaftung und beschrieben, wie man eine Wahlanfechtung aufsetzte.5 Ein Arbeiter fasste in Worte, was ein ständiger Wahlrefrain werden sollte, nämlich dass »das Gesetz doch dazu da ist, daß es befolgt wird u. schon ein einziger Verstoß dagegen genügt, dessen Wirkung od. Zweck illusorisch zu machen. …«6 Welche apokalyptischen Hoffnungen die Linke auch immer für den »Zukunftsstaat« hegen mochte – es war der Rechtsstaat, auf den sie setzte.

Die Spielregeln Wie wirkte sich dieser Glaube an die Macht der Regeln aus? Erst einmal prägten sich die Wähler die Wahlcodices ein, deren Aushang in jedem Wahllokal gesetzlich vorgeschrieben war. Als großer Vorteil erwies sich § 9 des Wahlgesetzes, der vorsah, dass ein Wahlvorgang öffentlich stattfand. Katholische Priester beriefen sich bereits 1871 auf diesen Paragraphen, um die Wahllokale überwachen zu lassen und ihre Interessen zu vertreten, indem sie den geringsten Formfehler oder Beeinflussungsversuch meldeten. Schon 1874 hatten die Polen in Thorn ein Meldesystem eingerichtet, so dass, wann immer eines ihrer Parteimitglieder das 5

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Das Handbuch für Sozialdemokratische Gemeindewähler, hrsg. v. Landesvorstand der Sozialdemokratie Bayerns, München 1908, das einen Fragebogen enthält, mit dessen Hilfe die Mitglieder örtliche Statistiken zusammenstellen sollten, ist bemerkenswert wegen seiner Objektivität und erzieherischen Seriosität. Die SPD ging außerdem so weit, eine Broschüre mit den Definitionen der wichtigsten ausländischen Redewendungen zu veröffentlichen, die Teil des politischen Wortschatzes des gebildeten Bürgers waren. Weitere Handbücher: Konservatives Handbuch, Berlin 1892; Ratgeber für Konservative im Deutschen Reich, Leipzig 1903; Der preußische Landtag. Handbuch für sozialdemokratische Landtagswähler, hrsg. v. Paul Hirsch, Berlin 1903; Vorstand der Sozialdemokratischen Partei: Handbuch für sozialdemokratische Wähler. Der Reichstag. 1907–1911, Berlin 1911; Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei, Berlin, 4. Aufl. 1911. 1912 hatte allein das Zentrum noch kein solches Handbuch veröffentlicht. Bergsträsser: Geschichte, S. 248. H. Mahlke u. a.: Protest des Arbeiterwahlkomitees von Flensburg, 27. April 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 8. Arndt (FK): »Unsere Rechtspflege wird im Auslande allseitig anerkannt. … es gibt keinen Deutschen, der im Auslande in irgendeinem Lande gelebt hat … der nicht anerkennt, daß … unsere Rechtspflege erheblich besser ist als die in den meisten Ländern der Welt.« SBDR 13. Feb. 1913, S. 3744, ausgeschnitten und abgeheftet in BAB-L R1501/14460, Bl. 441v; Saldern: Wege, S. 69–70; Mallmann u. Steffens: Lohn, S. 78 f. Vergleiche Witt: Landrat, bes. S. 218.

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Wahllokal verließ, zwei andere an seine Stelle traten.7 In Berlin und Sachsen bezogen um die Mitte der 1870er Jahre auch Sozialisten ihre Beobachtungsposten. Wenn die Bedeutung der Gesetze offensichtlich wäre, hätten Gesellschaften keinen Bedarf an Rechtanwälten; wenn Regeln sich selbst erfüllten, brauchten Gesellschaften keine Gerichte. Die deutschen Regeln und Gesetze bildeten keine Ausnahme darin, dass sie sich interpretieren ließen. So sehen wir einerseits einen Polizisten in Hannover, der Stimmzettel mit dem Namen des Welfenkandidaten konfiszierte, sie aber kurz darauf verlegen mit der Erklärung zurückgab, er habe gerade von seinem Vorgesetzten erfahren, dass dies eine freie Wahl sei. Andererseits erlebte der Beauftragte der linksliberalen Partei, der auf gleicher Behandlung der Wahlbeobachter in Königsberg, der Stadt Kants, bestand, denn »sie ständen alle unter dem gleichen Gesetze und Jedermann habe dies zu respektiren«, dass ein Polizist ihn mit den Worten des Wahllokals verwies: »Ach was Gesetz! Hier handelt es sich nur darum, was in der Ordnung und anständig ist«8 Die Sorge darum, was »in der Ordnung und anständig« sei, bewegte einige Wahlvorsteher dazu, die Aufzeichnung von Notizen zu verbieten, andere, Wahlbeobachter mit Feuerwehrschläuchen zu vertreiben, und wieder andere, die sich außerstande sahen, mit den Parteiaktivisten fertig zu werden, die Wahllokale komplett zu schließen.9 Die Autoritäten übten mit voller Absicht Druck aus und kein Gesetz konnte sie daran hindern, wenn niemand furchtlos genug war, das Gesetz anzurufen. Wie auch immer die Bestimmungen lauteten – in der Praxis musste jedes Recht von den Wählern und Parteimitgliedern selbst mühsam vor Ort erkämpft werden. Ein Wahlbeobachter brauchte viel Mut, um den Schikanen zu widerstehen – jenen des Wahlvorstands wie auch denjenigen der selbsternannten oder privat angestellten Wahlbeobachter, die sich im Wahllokal aufhielten. Es konnten Handgreiflichkeiten ausbrechen, falls ein Wahlbeobachter versuchte, zur Unterstützung einer Wahlanfechtung Exemplare eines von Arbeitgebern herausgegebenen auffälligen Stimmzettels zu sammeln. Der Landarbeiter Ernst Girod, der sowohl von einem Polizisten als auch von einem Gutsbesitzer angegriffen wurde, wobei letzterer mit seinem Gehstock herumfuchtelte und rief: »Sie schnoddriger Junge, Sie haben hier gar nichts zu suchen«, erwiderte mit einer Kühnheit, die ihm nur die Kenntnis der Regeln verliehen haben konnte: »… ich habe dasselbe Recht wie Er, hier zu stehen.«10 Beide Seiten waren sich der Tatsache bewusst, dass diese Konfrontationen zu einer Annullierung führen konnten, und viele Autoritätspersonen waren überzeugt, dass ihre Gegenspieler versuchten, sie zu unüberlegter Autoritätsaus7 8 9 10

AnlDR (1871, 1/II, Bd. 2) DS 38, S, 94 f., 98 f.; A. v. Donimirski zu Marienwerder 4, SBDR 10. Apr. 1874, S. 710. Polizist: Graf v. Rittberg SBDR 28. März 1871, S. 25; Königsberg 3, AnlDR (1879, 4/II, Bd. 6) DS 232, S. 1526 f. (Zitat); auch Hannover 17, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 138, S. 392. Hierzu Hall: Means. O. Reimer (Lassalle-Gruppe) und v. Donimirski (P) SBDR 10. April 1874, S. 696, 710; Kassel 8 AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 68, S. 270. Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3428, 3430. Von den Konservativen angeheuerte Schläger: Sachsen 19, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 7) DS 327, S. 1785.

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übung zu provozieren – eine Einsicht, die sie nicht davon abhielt, auf die Provokationen einzugehen. Bände voller Proteste zeigen das immer gleiche Bild von Wahltagen: Hunderte dünner, beharrlicher kleiner Leute, die in ganz Deutschland mit dem Wahlgesetz unterm Arm ausschwärmten, auf Paragraphen verwiesen, ihre Rechte einforderten, zur Tür abgeführt wurden, häufig die Treppe heruntergeworfen wurden – aber unbeirrt ihre Forderungen stellten, mit einem Gerichtsbescheid zurückkehrten und letztendlich bei Beobachtern mehr Mitleid als Verachtung erregten.11 Sie kamen aus jeder Partei, aber den polnischen und sozialistischen Wahlbeobachtern erging es am schlimmsten. Oft wurden sie unter irgendwelchen Vorwänden wochenlang ins Gefängnis gesteckt. Es verwundert nicht, dass in einigen, vielleicht in den meisten Wahlkreisen die Wahlbeobachter für ihre Mühen entlohnt wurden.12 Die SPD holte ihre Wahlbeobachter für gewöhnlich aus entfernten Gegenden, um wirtschaftlich abhängige Ortsansässige vor dem Ärger einer Konfrontation zu bewahren. Normalerweise zeigte der Mann dem Wahlvorstand einen gedruckten Zettel, der ihn als von seiner Partei zur Wahlbeobachtung autorisiert auswies (und ihm unter erschwerten Umständen die Suche nach eigenen Worten ersparte). Häufig wurde er mit dem Argument abgewiesen, dass allein Wahlberechtigte dieses bestimmten Wahlbezirks in dem Wahllokal »autorisiert« waren. Dann war er für gewöhnlich gezwungen, im Wirtshaus einen Ortsansässigen aufzutreiben, der sich dafür bezahlen ließ, die Wahl zu beobachten und ihm darüber zu berichten.13 Zahlreiche der Ausgesandten, die dies auf sich nahmen, waren selber zu jung zum Wählen, und einige suchten zweifellos Streit. Eventuell kam es einem Wahlbeobachter auch lediglich darauf an, »seine Machtstellung als Abgesandter der Sozialdemokratie zu zeigen«, wie ein Gericht in einem Fall entschied. Aber offiziell wies die SPD ihre Ortsgruppen an, diese Probleme zu vermeiden, indem man nur »ganz verlässliche, ruhige und nüchterne Männer« schickte, die mindestens im Wahlalter von 25 Jahren waren und sich als solche ausweisen konnten.14 Die meisten Auseinandersetzungen ergaben sich angeblich aus der Frage, wer gemäß § 9 »die Öffentlichkeit« sei. Bereits 1869 hatten Sprecher der Reichsregierung den Zutritt jedes anerkannten Wählers zu jedem Wahllokal als »selbstverständlich« dargestellt.15 Dies war die Logik eines nicht territorial ge11

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Beispiele aus den Jahren 1877 bis 1912, die von den Regierungsbezirken Marienwerder, Gumbinnen, Köslin, Stralsund, Magdeburg, Merseburg, Erfurt, Schleswig-Holstein, Amtshauptmannschaft Leipzig, Minden und Kassel bis zu den Städten Flensburg, Harburg, Hörde, Lübeck und München reichten, sind zu zahlreich, um sie alle zu zitieren. Z. B. der schwache August Schmidt, Tabakarbeiter, Magdeburg 8, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 91, S. 333 ff.; ähnlich, in Dorstfeld: Ladenbesitzer Heinrich Boecker, Arnsberg 6, AnlDR (1894/95, 29/III, Bd. 2) DS 354, S. 1495; Anfertigung von Notizen: RP d’Haussonville an MdI, Köslin, 4. Aug. 1892, BAB-L R1501/14668, Bl. 42; Mitglied der Arbeiterpartei [Unterschrift fehlt] an Daßbach (SD), Praunheim, 15. März 1890 zu Kassel 8, BAB-L R1501/14668, Bl. 215 f. Reimer und Donimirski, SBDR 10. April 1874, S. 696, 710. Ein bezahlter K Wahlbeobachter, der von Liberalen bedroht wurde: Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3438, 3440. Württemberg 1, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 2) DS 268, S. 1144 ff. in BAB-L R1501/14691 o. S. Ebenso Reimer SBDR 10. April 1874, S. 697; LR aus Penneberg, in Hannover 17, SBDR 13. Mai 1878, S. 485. Zitate: Landsberg SBDR 10. Feb. 1912, S. 3645; Thätigkeit, S. 136 f. SBNDR 13. Mai 1869, S. 978; Hatschek: Kommentar, S. 172. Ironischerweise hatte bei den preußischen LT-Wahlen, bei denen die Stimmen mündlich abgegeben wurden, niemand außer den Wahlberechtigten Zutritt zum Wahllokal – mit der Begründung, dass die Abstimmung nicht öffentlich sei! IM an SM (in Ver-

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bundenen Parlaments, in dem jeder einzelne Abgeordnete durch die Verfassung verpflichtet war, nicht nur die Wähler seines eigenen Wahlkreises zu vertreten, sondern »das Volk als Ganzes«. Aber es sollte noch zwei Jahrzehnte dauern, bis der Reichstag »die Öffentlichkeit«, die gemäß § 9 zur Wahlbeobachtung berechtigt war, beständig derart umfassend definierte. In den frühen 1890er Jahren entschieden endlich die Abgeordneten, unterstützt vom Königlichen Landgericht in Berlin, dass jeder Wahlberechtigte ohne Beschränkung auf den Ort seiner Registrierung als Wahlbeobachter überall in Deutschland zuzulassen sei. In der Folgezeit vergrößerte sich dementsprechend die Flut der vom Reichstag angeordneten »Richtigstellungen« und Rügen örtlicher und Kreisbeamter, die versucht hatten, die Armee unwillkommener Wachen zurückzuhalten.16 1892 wurde der Beschluss des Reichstags durch ministeriellen Erlass bestätigt.17 Schließlich wurde den Wahlaufsehern selbst das Recht verwehrt, von jemandem, der als Wahlbeobachter zugelassen werden wollte, einen Beweis zu verlangen, dass er wahlberechtigt, deutscher Bürger oder auch nur erwachsen sei. Wilhelm Hasenclever hatte früher einmal wissen wollen: »Wenn die Wahlhandlung öffentlich ist, wenn überhaupt jeder Mensch dort vorhanden sein kann, warum soll er dann noch eine Legitimation aufweisen? Man sieht ihm doch gewiss am Gesicht an, dass er ein Mensch ist.« Jetzt erfuhr Hasenclever eine späte Bestätigung. Obwohl die Bezeichnung des »Menschen« augenscheinlich immer noch keine Frauen und Kinder umfasste, die offensichtlich nicht wahlberechtigt waren, lag jetzt die Beweislast beim Wahlvorsteher, der zu erklären hatte, warum eine sonst glaubwürdige Person nicht zugelassen werden sollte. Und selbst wenn die Enge des Wahllokals eine Beschränkung der Anzahl der Wahlbeobachter rechtfertigte, konnte kein Antragsteller aufgrund seiner Parteizugehörigkeit ausgeschlossen werden, ohne die Gültigkeit der gesamten Wahl zu gefährden. Selbst noch bei den letzten Wahlen des Kaiserreichs wurden einige Wahlbeobachter unsanft aus Wahllokalen entfernt, aber dies hatte ernsthafte Konsequenzen hinsichtlich der Gültigkeit der entsprechenden Wahlen.18 Die Bewegung zum Schutz fairer Wahlen durch parteieigene Wahlbeobachter war international. Dennoch war Deutschland beispielsweise sowohl Belgien voraus, das keine Parteivertreter, sondern nur einfache Wähler als Beobachter zuließ, als auch Ungarn, das Parteivertreter zuließ, aber nicht die Wähler

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tretung: Herrfurth), 13. Aug. 1884; Maybeck: Votum, 19. Aug. 1884; Bötticher: Votum …, 1. Sept. 1884, Bronsart v. Schellendorff: Votum, 13. Sept. 1884; Finanzminister (Vertretung), 17. Sept. 1884; Gossler, 3. Okt. 1884, GStA PK I. HA, Rep 90a, A.VIII.1.d., Nr.1/Bd. 5. Strafsenat …, 3. Nov. 1890, BAB-L R101/3343, Bl. 176–180v; SBDR 18. März 1892, S. 4841; AnlDR (1890/92, 8/1, Bd. 2) DS 169, S. 1224, DS 184, S. 1382; AnlDR (1890/92, 8/I, Bd. 6) DS 707, S. 3858. Memo v. 13. Juni [1892] BAB-L R1501/14668, Bl. 11; AnlDR (1894, 9/II, Bd. 2) DS 217, S. 1147; SBDR 1. Mai 1900, S. 5174; Hatschek: Kommentar, S. 172, 174. Ministerieller Erlass v. 18. Juli 1892, als Warnung zitiert in [Köller]: Ungiltigkeit, S. 28. Bestätigung ist im Memorandum v. 13. Juni 1892 zu finden und in Hanic (vom MdI) an den Kanzler, 11. Juli 1892, BAB-L R1501/14668, Bl. 11, 14. Hasenclever SBDR 13. März 1878, S. 487. A. Heine (SD) SBDR 13. Juni 1890, S. 319; P. Spahn (Z) 1. Mai 1890, S. 5177 f.; AnlDR (1897/98, 9/V, Bd. 3) DS 286, S. 2368; AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 14) DS 253, S. 1267 f.; Thätigkeit, S. 144 ff., bes. 145; Hatschek: Kommentar, S. 172 ff.

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selbst.19 Obwohl sie nicht wie die Amerikaner das Recht hatten, sich innerhalb der Absperrung aufzuhalten, die den Wahlvorstand abschirmte, genossen die deutschen Wahlbeobachter mehr Privilegien als ihre britischen Kollegen, die bei jedem Wetter gezwungen waren, vor der Tür zu stehen. Der Weimarer Republik wurde der Weg bereitet, wo Vertrauensmänner der verschiedenen Parteien offiziell einen Raum innerhalb der Wahllokale zugeteilt bekamen – ein Zeichen nicht nur der Legitimität, sondern der Vorherrschaft der Parteien im politischen Leben Deutschlands.20

−−− Das scharfe Auge eines Wahlbeobachters erhöhte stets die Wahrscheinlichkeit einer Wahlanfechtung. Und hier hatte das deutsche Gesetz Konsequenzen, da es den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahlen zu einer öffentlichen Angelegenheit machte, die vom Staat geschützt und finanziert wurde, statt (wie in England und den USA) allein eine Angelegenheit des Verlierers zu sein, der die Anfechtungskosten aus eigener Tasche bezahlen musste. Die Parteien zögerten nicht, von der Möglichkeit der Beschwerde Gebrauch zu machen. An Rhein und Ruhr gingen allen Wahlen Zeitungsannoncen voraus, die die Wähler aufforderten, ihrer Partei unverzüglich zu melden, wenn ihnen »irgend etwas ungehöriges« auffiele.21 Rasch entwickelte sich eine Beschwerdekultur. Anfangs formulierten plebejischen Protestler ihre Beschwerde noch zu vage, ohne Namen und Daten, und mussten erleben, dass diese fast ausnahmslos mangels Beweisen zurückgewiesen wurden. Aber sie lernten bald aus ihren Fehlern.22 Selbstverständlich kamen nicht alle Beschwerdeführer aus der Unterschicht. Wer bereit war, Druck auszuüben, um eine Wahl zu beeinflussen, schreckte auch nicht davor zurück, Druck auszuüben, um Unterschriften für eigene Wahlanfechtungen zu bekommen. Als der unbekannte Eduard Müller den Sieg über den Herzog von Ratibor errungen hatte, war dessen Nachbar, der Fürst von Pleß, entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Es waren des Fürsten polizeiliche Untersuchungen von Sonntagspredigten, die 1871 die Kontroversen über klerikale Einflüsse auslösten und zur Annullierung der Wahl von Pleß-Rybnik führten, und dies war, wie wir wissen, einer der Auslöser des Kanzelparagraphen. Aber später gestand ein reuiger Kreis- und Ortsschulze, der Freigutbesitzer Pudelko, dass sein Zeugnis gegen seinen Pfarrer von ihm erpresst (»ausgequetscht«) worden war – ein 19 20

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Granville Survey Nr. 1 (April 1881), BAB-L R1501/14451, Bl. 46–49. Hatschek: Kommentar, S. 174. England und die Weimarer Republik im Vergleich: Pollock: Administration, S. 34, Amerika: Seymour u. Frary: World, Bd. 1, S. 256. Handgemenge zwischen Wahlbeobachtern des Z und der NL: Ein Saarabisches Weltbild, in: Saar-Post Nr. 20, 25. Jan. 1912, AnlDR(1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3609. Bergwerksdirektor E. Kleine (NL) SBDR 11. Feb. 1888, S. 845 (Zitat); Mülheimer Anzeiger (Z) 117 (30. Sept. 1879) in K. Müller: Strömungen, S. 126 f.; Z-Handzettel abgedruckt in Nettmann: Witten in den Reichstagswahlen, S. 153; Beispiele im Volksboten 16, 25. Feb. 1888: Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 567 Anm. 358; Der sozialistische Aufruf von 1878: Steinbach: Zähmung, S. 683. Mangel an Beweisen in SD Protest über Düsseldorf 2 (Elberfeld-Barmen): AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 263, S. 970; 13 Seiten detaillierter, hauptsächlich statistischer Informationen im Protest von Karl Schön aus Heilbronn (SD) gegen Württemberg 3, 9. März 1887, BAB-L R1501/14691, o. S.

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Vorgang, den er als »Fürstliche Plessische Geheim-Wahlpolizei-Inquisition« beschrieb. Subtiler war die Methode, die Fortschrittliche in Berlin anwandten, welche die Frauen und Töchter von Arbeitern aufwiegelten, eine Petition gegen die Wahl von Hasenclever zu unterschreiben, indem sie ihnen Wählerlisten zeigten, auf denen die Namen ihrer Männer aus Versehen ausgelassen worden waren. Die Männer selbst unterzeichneten dann die Gegenbeschwerde der Sozialisten, in der sie versicherten, dass sie mit Sicherheit für Hasenclever gestimmt hätten, wenn sie zur Wahl zugelassen worden wären. Es bleibt jedem überlassen zu erraten, welche der beiden Unterschriftenlisten mit dem größeren Druck zustande gekommen war.23 Aber es ist nicht möglich, sämtliche Proteste als das Resultat von Druck statt das der eigenen Überzeugung abzutun. Denn wir haben Fälle wie den jenes treuen Wählers aus Gutach in Baden, der, als es hieß, dass sein Bezirk einstimmig für einen Nationalliberalen gestimmt habe, bereit war zu schwören, dass zumindest er selbst das Zentrum gewählt habe – und sich so öffentlich zu seinem Abweichen von all seinen 160 Nachbarn und Mitbürgern zu bekennen.24 Die Handbücher der SPD widmeten mehrere Seiten der Kunst, eine präzise und respektable Wahlanfechtung zu formulieren. Durchaus verantwortungsbewusst versuchte die Partei, ihre Wähler von der Konzentration auf Formfehler (»Kleinigkeiten«) wegzuführen, welche, wie sie sagte, »das Überlasten« der Wahlprüfungskommission zur Folge hätten und durch die »der Fortgang der Wahlprüfungen ungemein erschwert« werde, die aber wenige Ergebnisse änderten.25 In der Praxis jedoch waren die ortsansässigen Aktivisten Pedanten, was den Buchstaben des Gesetzes angeht, die nicht einmal zögerten, einen Stimmzettel anzufechten, auf dem jemand den Namen des SPD-Kandidaten durchgestrichen und einen anderen eingetragen hatte, besonders, wenn dem Namen des letzteren zur Identifikation der Beruf, ein Titel oder der Vorname fehlten. Wenn sie knapp verloren hatten, gingen die Sozialisten die Wählerlisten besonders gründlich durch und bestanden auf dem Ausschluss eines jeden, der jemals ein Bankrottverfahren durchlaufen hatte, der irgendeine geistige oder psychische Behinderung aufwies, jedes Heranwachsenden, der auch nur einen Monat von der Volljährigkeit entfernt war (obwohl ihr eigener Vorstand für eine Senkung des Wahlalters auf achtzehn Jahre eintrat), und eines jeden, der als Ausländer verdächtigt werden konnte (unabhängig davon, wie lange er bereits in Deutschland lebte), der keinen gültigen Staatsbürgerschaftsnachweis führen konnte. Die Partei der Sozialdemokratie hatte keine Skrupel, den Begriff »Armenhilfe« so 23

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Pudelko zitiert v. T. Schröder (Z), SBDR 22. Nov. 1871, S. 434. Zu Berlin 6: AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 93, S. 322, 324. Andere Ehefrauen, die angeblich erpresst wurden, ihre drei Kreuze zu machen: Zeugnis des Johann Seidel u. a., Königsberg 9, Sept. 1890, BAB-L R1501/14666, Bl. 25–33. Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen wegen Protest: Hannover 9, AnlDR (1874, 2/I, Bd. 3) DS 118, S. 399. Baden 5, AnlDR (1878, 3/II, Bd. 3) DS 124, S. 973 ff.; WPK–Bericht ohne Diskussion angenommen: SBDR 2. Mai 1877, S. 990. Thätigkeit, S. 134 ff., Zitate: 135; Vorstand der Sozialdemokratischen Partei: Handbuch für Sozialdemokratische Wähler (1911), S. 751 ff.; anleitende Broschüren, die die schmutzigen Tricks ihrer Gegner aufdeckten: Th. Müller: Geschichte, S. 155.

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weit wie möglich auszulegen, um zu fordern, dass jeder Empfänger irgendeiner Form von öffentlicher Beihilfe, und seien es auch nur die Schulbücher seiner Kinder, aus den Listen gestrichen werden sollte. Es spielte keine Rolle, dass das Ergebnis der Ausschlüsse ganz offensichtlich undemokratisch war. Durch die Streichung von Wählern verringerte sich die Größe der absoluten Mehrheit und die Wahrscheinlichkeit erhöhte sich, dass die Wahl wegen eines Formfehlers annulliert wurde. 1912 brachte die SPD auf diese Weise unter anderem ihren berühmtesten Gegner, General Eduart von Liebert, den Vorsitzenden des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie, zu Fall. Sie ließ derart viele arme Wähler von den Listen seines Wahlkreises streichen, dass der General die Schrift an der Wand erkannte und in Erwartung des mit Sicherheit drohenden Amtsenthebungsverfahrens zurücktrat.26

−−− Die Wirksamkeit eines solchen Legalismus hing nicht davon ab, dass der Reichstag jede Wahl annullierte, die glaubhaft durch Fehlverhalten zustande gekommen war. Wir wir wissen, nahmen die Abgeordneten Formfehler gelassen hin. Ein Parlamentarier drückte es so aus: Wenn sie jede Wahl für ungültig erklärten, in der es Probleme gab, blieben keine Abgeordneten mehr übrig.27 Wie bei jedem Parlament, das das Vorrecht einer Wahlaufsicht genießt, veränderten sich die Standards, sobald Veränderungen in seiner eigenen politischen Zusammensetzung auftraten. Selbst wenn die Besetzung der Wahlprüfungskommission gleich blieb, war doch jeder Fall derart von den Umständen abhängig, dass der Ausgang immer unvorhersehbar blieb – wie ein hoher Regierungsbeamter verzweifelt am Ende seiner 64-seitigen Analyse eines Jahrzehnts von Reichstagswahlurteilen schrieb.28 Aber das Wissen seiner Gegner von der Möglichkeit des Protests garantierte auch nicht die Freiheit eines Wählers. Eine längere Untersuchung der Beschlüsse der Wahlprüfungskommission zur Jahrhundertwende zeigte wenig Veränderung in der Art und Häufigkeit unerlaubter Beeinflussung und anderer Verstöße im Laufe der drei Jahrzehnte seit der Einführung des demokratischen Wahlrechts.29 Wenn auch sein direkter Einfluss auf die Zusammensetzung des Reichstags gering war, so war der Protestmechanismus doch nicht nutzlos. Er informierte die Öffentlichkeit über Machtmissbrauch. Er bot ein Forum für oppositionelle Interpretationen des Gesetzes. Von größter Bedeutung war allerdings die Bestimmung, dass der Reichstag selbst jede Wahl bestätigte und jeden einzelnen 26

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Sachsen 14, AnlDR (1912, 13/I, Bd. 19) DS 718, S. 924 f., 928 ff.; Gegenprotest des Eduard v. Flottwell, Kapitän a. D.: S. 932 ff. Zu Liebert: Chickering: We Men, S. 85, 128, 182 Anm. 149, 221, 244; Marilyn Sheven Coetzee: The German Army League. Popular Nationalism in Wilhelmine Germany, New York 1990, S. 96 f. Weitere SD Proteste gegen die Aufnahme von Armenhilfeempfängern in die Wahllisten: Sachsen 16, SBDR 10. Jan. 1889, S. 373; Berlin 1, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 450, S. 415. SBDR 11. April 1874, S. 718; siehe auch E. Banks (F), SBDR 10. April 1874, S. 691. Poschinger-Bericht, Feb. 1879, BAB-L R1501/14450. Bericht der Wahlprüfungskommission über die Ergebnisse der Wahlprüfungen in der neunten Legislaturperiode von 1893 bis 1898, in: Reichstags-Wahlgesetz, S. 77 ff.

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mutmaßlichen Verstoß untersuchte. Wenn auch die Juristen an den widersprechenden Ergebnissen verzweifelten, so verlieh dieses Verfahren nicht nur den Beschwerden, sondern auch den Beschwerdeführern Würde. Darüber hinaus festigte der Vorgang des Erbittens und der anschließenden Verfolgung von Beschwerden die persönliche Verbindung zwischen dem Wähler und der von ihm gewählten Partei. Dies war dort besonders wichtig, wo die bereits bestehenden Netzwerke nur schwach waren. Wenn also der Schreinermeister Adam Schaub einem SPD-Wahlkampfleiter 1890 meldete, er sei entlassen worden, weil er sozialistisch gewählt hatte, erwartete er nicht, dass seine Beschwerde etwas am Wahlergebnis ändern oder er seine Arbeit zurückbekommen werde. Aber er erwartete von seiner Partei, so schrieb er, »… doch wenigstens die Sache richtig klar und einen schönen Vers daraus zu machen und in die Zeitung setzen zu lassen, und mir einige Zeitungen zu zuschicken dass ich Sie [sic] verbreiten kann, damit die Gesellschaft beschämt wird«.30 Wenn eine Gesellschaft fähig ist, sich zu schämen, wird die Wahlanfechtung zu einer eigenständigen politischen und organisatorischen Waffe. Selbst Parteien, die nur einen dritten Platz errungen hatten, konnten eine Untersuchung erzwingen.31 Die daraus resultierende Publizität wurde dann zur Eröffnungssalve der nächsten Wahlkampagne, die darauf gerichtet war, Wähler zu mobilisieren, Arbeiter zu organisieren und die Bürger zu erziehen.32 Wenn der Vorwurf Druck seitens des Arbeitgebers lautete, bedeutete eine Wahlanfechtung Krieg mit anderen Mitteln. Die SPD feierte ihren allerersten Sieg im Regierungsbezirk Arnsberg, im Herzen des Ruhrgebiets, nach einem Sturm von Enthüllungen über das Verhalten nationalliberaler Arbeitgeber während der zwei vorhergehenden Wahlen, die zur Annullierung der einen Wahl und dem Rücktritt des Siegers bei der anderen geführt hatten.33 Eine Beschwerde führende Partei hoffte auch, dass durch die Veröffentlichung von Wahlverstößen und der sie begleitenden Reime und Geschichten – die ihren Anhängern so teuer waren – eine Verleumdungsklage seitens des Schuldigen provoziert werde könnte. 1903 beispielsweise strengte Geheimrat Ewald Hilger, eine führende Persönlichkeit der Bergbauindustrie im Saarland, einen Prozess gegen Ludwig Lehnen, den Herausgeber der Zentrumsnahen Neunkirchener Zeitung an. Das Resultat war ein veritabler Schauprozess zum Thema Einschüchterung durch Arbeitgeber. Jede Wahl seit 1890, bei der Bergleute und Metallarbeiter an der Saar von ihren Arbeitgebern unter Druck gesetzt 30

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Und »Gruß an Koleg [sic] Geck«, den Abgeordneten, dessentwegen Schaub seine Arbeit verloren hatte. Adam Schaub an [Wm.] Birkle [?, anderswo Brürkli geschrieben] zu Kassel 8 [o. D., 1890] BAB-L R1501/14668, Bl. 236. Ein weiterer Brief von Beschwerdeführern an die SPD: Wallensen, 2. März 1890, an SD, BAB-L R1501/14668, nicht nummerierte Anlage des Protests gegen Hannover 9. Z. B. der SD Protest gegen Breslau 11: AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 104, S. 353 ff. Erzwungene Untersuchung: Sachsen-Cobung-Gothas siebenseitiger Bericht als Antwort auf einen SD Protest. V. Wittney an Bismarck, 29. Aug. 1888, BAB-L R1501/14685, o. S. So prahlte v. Koscielski (P) in der Debatte über den Antrag Rickert: SBDR 15. Jan. 1890, S. 1027. Suval: Politics, S. 216 f., sagt, dass die Wahl für ungültig erklärt wurde, aber Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 144, vermerken, dass der Mann am 25. Feb. 1893 zurücktrat, zwei Monate vor Ablauf seiner Legislaturperiode.

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worden waren, wurde nun in der Öffentlichkeit breitgetreten, wobei die Zeugen unter Eid standen. Als im Preußischen Abgeordnetenhaus über das Bergbaubudget abgestimmt wurde, wurden die Zeugenaussagen noch einmal hervorgeholt; dies führte zu einer zwei Tage dauernden Debatte. Obwohl das Gericht es ablehnte, Hilger für die Handlungen seiner Vorgänger oder Untergebenen verantwortlich zu machen, sah es die massive Bespitzelung, die Denunziationen und die Einschüchterung durch die Industrie als bewiesen an. Kaum war der Prozess Hilger vs. Lehnen beendet, schloss sich eine zweite Verleumdungsklage an, dieses Mal angestrengt von den Industriekapitänen gegen den Bergarbeiterverband, was den Angeklagten erlaubte, ihre ursprünglichen Zeugenaussagen wegen Wahlerpressung um die schwarzen Listen der Industrie zu erweitern. Das Ergebnis war das gleiche wie beim Verfahren Hilger vs. Lehnen: ein gewonnener Prozess – und ein politisches blaues Auge – für die Bergbauindustrie. Blaue Augen hatten Folgen, die über das Kosmetische hinausgingen. Während der Wahl von 1907 fühlten sich die Sprecher bei jeder liberalen Wahlkampfveranstaltung an der Saar bemüßigt, das Recht der Arbeiter zu betonen, sich frei zu organisieren. Die beiden Kampagnen zur Verteidigung des Rechts auf freie Wahlen und zur Erweiterung der Versammlungsfreiheit und der Gewerkschaftsgründung verstärkten sich gegenseitig.34 Die größte Bedeutung gewannen diese Verleumdungsklagen durch die Wirkung, die sie auf die öffentliche Meinung ausübten. Denn wenn es nicht nur legal war, dass ein Brotherr über die Wählerstimme eines Angestellten verfügte, sondern dies geradezu sein legitimes Vorrecht war – was war dann an der Behauptung verleumderisch, er habe dies getan?

Der Sieg über das Sozialistengesetz Die Fähigkeit oppositioneller Parteien, sich die legalistische Kultur in Deutschland zunutze zu machen, erklärt, warum derart viele Wähler bereit waren, der Forderung der ihnen wirtschaftlich und gesellschaftlich überlegenen Autoritätspersonen zu trotzen, um Stimmzettel für diese Parteien einzuwerfen. Was aber geschah, wenn die Gesetze selbst dazu angetan waren, sie an der Suche nach solcher Unterstützung zu hindern? Versuche, gesetzlich zulässige Ausnahmen von den allgemeinen Regeln zu schaffen, waren im Kaiserreich nicht selten: Ein erheblicher Teil des Kulturkampfes wie auch die Regierungskampagne gegen die Sozialdemokraten besaßen keine andere Grundlage. Ausnahmegesetze genossen aber allgemein einen schlechten Ruf; nichts beschämte jene Pragmatiker, die etwas bewirken wollten, mehr, als wenn ihren Maßnahmen das Etikett »Ausnahmegesetze« angehängt wurde. Wir haben bereits ein Beispiel derart gezielter Gesetzgebung in Kapitel 4 kennengelernt: den Kanzelparagraphen von 1871, 34

Bellot: Hundert Jahre, S. 107, 214 ff., 221, 223 ff., zitiert SBHA v. 12. u. 13. Feb. 1904. Die unmittelbaren Vorwürfe bezogen sich auf eine LT-Wahl, aber das System war das gleiche. Hierzu auch die Verleumdungsklage zweier Steiger gegen Johannes Fusangel in den 1880er Jahren: Wacker: Rechte, S. 21 f., und Mazura: Entwicklung, S. 97, 100. Prozesse wegen Verleumdung und übler Nachrede zwischen Reichstagskandidaten: BT 41/12 (8. Jan. 1912).

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der die Wahlkampftätigkeit des katholischen Klerus einschränken sollte. Auf der hoffnungslos künstlichen Unterscheidung zwischen der geistlichen und der persönlichen Autorität eines Priesters basierend, erwies sich der Kanzelparagraph, wie wir wissen, als nicht durchsetzbar. Effektiver war das Gesetz, das unter Zwang im Oktober 1878 vom Reichstag verabschiedet und in unregelmäßigen Abständen bis zum 30. September 1890 erneuert wurde: das sogenannte Sozialistengesetz, das darauf abzielte, die Sozialdemokraten ein für allemal außer Gefecht zu setzen. Sozialistische Aktivisten hatten immer unter Schikanen gelitten, aber bis dahin waren diese unkoordiniert gewesen. Nach 1878 wurden sie mit einem landesweiten Verbot ihrer Vereine, Versammlungen und Publikationen konfrontiert. Von 1878 bis 1888 wurde das Gesetz herangezogen, um 78 lokale und siebzehn zentrale Gewerkschaftsorganisationen aufzulösen, zwanzig lokale und drei zentrale Arbeiterversicherungen sowie 106 politische und 108 Freizeitvereine. Die Finanzrücklagen der Partei wurden konfisziert und weitere finanzielle Beiträge verboten. Gastwirten und Buchhändlern wurde untersagt, ihre Räume Sozialisten zur Verfügung zu stellen.35 Es wurden Gefängnisstrafen verhängt, die sich auf insgesamt mehr als eintausend Jahre beliefen. Annähernd 900 Personen wurden aus ihrer Heimat ausgewiesen. In Berlin war die Partei, mit 293 Vertreibungen, besonders hart betroffen. Sie reagierte damit, dass sie die Vertreibungen zu spektakulären Demonstrationen machte, bei denen Sozialdemokraten in großen Massen an den Bahnhöfen erschienen, um ihre verbannten Kollegen zu verabschieden. Wenn die Polizei sie aus den Warteräumen vertrieb, kauften sie selber Fahrkarten und zwangen, da sie zu Hunderten zählten, die Bahn, für zusätzliche Waggons zu sorgen, was die Abfahrt der Verbannten sehr verzögerte.36 Wahrscheinlich war es dieses vielfach berichtete Ereignis, das Lenins berühmten Stoßseufzer auslöste, dass die deutschen Sozialdemokraten, wenn sie bei einer Revolution die Eisenbahn besetzen wollten, erst anstehen und eine Bahnsteigkarte lösen würden. Aber der Legalismus, über den sich Lenin lustig machte, erwies sich als die Kraft und die Herrlichkeit der Sozialdemokratie. Das Anwachsen der sozialdemokratischen Wählerschaft unter dem Sozialistengesetz demonstrierte die selbstzerstörerische Natur einer »Regel«, die auf nur einen einzigen Fall angewandt werden konnte, und die Fruchtlosigkeit eines Ausnahmegesetzes innerhalb einer Kultur, die auf die universale Anwendbarkeit ihrer Regeln stolz war. Analysieren wir, wie dies geschah. Ursprünglich schien das Sozialistengesetz sämtlichen Hoffnungen auf eine angemessene Vertretung der Sozialisten im Reichstag den Todesstoß zu versetzen.37 Würde eine für eine verbotene Partei abgegebene Stimme selbst für ille35 36

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Z. B. Magdeburg 8, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. V) DS 91, S. 343 f.; Singer SBDR 29. Nov. 1888, S. 62 ff. Ernst: Polizeispitzeleien, S. 6, 47. Frühere Schikanen: z. B. in Braunschweig: HZtg Nr. 104, Beilage I, 5. Mai 1871, o. S. Gasthäuser und Buchhändler: Magdeburg 8, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 91, S. 343 f.; Singer SBDR 29. Nov. 1888, S. 62 ff. § 28, Absatz 1 enthielt aber den Zusatz: »auf Versammlungen zum Zweck einer ausgeschriebenen Wahl zum Reichstag oder zur Landesvertretung erstreckt sich diese Beschränkung nicht«. Laut Frhr. v. Marschall, Badens Abgeordnetem im Bundesrat, wurde jedoch ein Antrag des Z-Hospitanten Bruël, § 9 des

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gal erklärt werden, fragten sich die Wähler. Aber Verfügungen erlangen, wenn sie einmal aufgeschrieben sind, eine Klarheit, die ihre Urheber sich kaum vorstellen können; allein der Ausschluss einiger Optionen ermöglicht andere. Ein Breslauer Genosse bemerkte dazu, »jedes Gesetz und jede Verordnung habe eine Hintertür«.38 Die deutschen Regierungen fanden sich jetzt in die Falle von Bismarcks eigenen Antiparteienkalkulationen gelockt. Des Kanzlers Wahlrecht hatte angesichts seines Parteienhasses deren reale Existenz ignoriert und sich nur auf Wähler und Abgeordnete bezogen. Bismarcks Verfassung war bei der Unterminierung der Parteien sogar noch weiter gegangen, indem sie in Artikel 29 erklärte, dass jeder Abgeordnete »Vertreter des gesammten Volkes« sei. Das Ergebnis dieser ausdrücklichen Leugnung irgendeiner gesetzlichen Bedeutung der Parteien in der Verfassung und im Wahlkodex (einer Leugnung, die sich in der Weimarer Republik, nicht aber in der Bundesrepublik fortsetzte), war, dass die Tür zum Reichstag jedem wahlberechtigten Bürger geöffnet blieb – selbst für den Anhänger einer per Gesetz in Quarantäne geschickten Partei, da die Parteien für das Wahlgesetz »unsichtbar« waren. Ähnlich konnte jeder Wähler, selbst ein Sozialdemokrat, sich als Kandidat zur Vertretung »des gesammten Volkes« bewerben. Sobald sie einmal gewählt waren, genossen Sozialisten, wie jeder andere Abgeordnete auch, den Schutz parlamentarischer Immunität. Frühere Verhaftungen und laufende Verfahren konnten für die Dauer der Legislaturperiode durch ein einfaches Votum des Plenums suspendiert werden. Und es ist bezeichnend für eine starke parlamentarische Kultur, die sich von den ersten Tagen des Kaiserreichs an bemerkbar machte, dass die Abgeordneten nicht zögerten, die nötigen Suspendierungen selbst zugunsten ihrer erbittertsten politischen Gegner zu beschließen. Der von den Liberalen dominierte Reichstag tat dies für die Zentrumsabgeordneten auf der Höhe des Kulturkampfes; der von den Linken und dem Zentrum dominierte Reichstag tat es für die Antisemiten in den 1890er Jahren; und Mehrheiten in jedem Reichstag taten es für die Sozialdemokraten, selbst während der Zeit ihrer stärksten Verfolgung durch die Regierung. »Mit welch rührender Sorgfalt wachte der gute Windthorst darüber, dass sämmtliche Haare auf den theuren Häuptern der Sozialdemokraten ungekrümmt blieben«, spottete ein konservativer Bürger, »und wie donnerte der strenge Richter, wenn wirklich aus Versehen einmal ein solches Härchen eine Krümmung erlitten hatte!« Sobald sie das Plenum des Reichstags erreicht hatten, konnten die verbotenen Sozialisten mit voller Macht missionieren – denn jedes Wort im Parlament, jede Redewendung, wie aufheizend sie auch sein mochte, war verfassungsmäßig geschützt. Eine Zeitung, die normalerweise strafrechtliche Verfolgung hätte fürchten müssen, konnte selbst die kühnste Botschaft mit dem einfachen

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Sozialistengesetzes als nicht anwendbar auf Wahlkämpfe zu erklären, zurückgewiesen. Marschall SBDR 13. Nov. 1889, S. 283. Der Genosse stellte sich jedoch als agent provocateur heraus. Th. Müller: Geschichte, S. 70, 160 f. Reinhard Koselleck hat dieses »Paradox des Gesetzwerkes« für eine frühere Zeit dargestellt in: »Staat und Gesellschaft in Preußen 1815–1848«, in: Werner Conze (Hrsg.): Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, Stuttgart 1970, S. 79–112.

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Hinweis darauf sicher verbreiten, dass sie aus einer Reichstagsdebatte zitierte, da die Reden auf Staatskosten von Stenographen aufgezeichnet wurden.39 Selbstverständlich saßen nicht alle Sozialisten im Parlament und erlaubte der Reichstag gelegentlich (aber selten) die Verfolgung seiner Mitglieder;40 auch konnte ein Abgeordneter gerichtlich verfolgt werden, wenn der Reichstag gerade nicht tagte. Aber selbst außerhalb des Parlaments überrascht, in welchem Ausmaß die Parteien miteinander kooperierten. Bürgerliche Fortschrittliche gründeten in Hamburg Komitees, die innerhalb der ersten sechs Tage 8.200 Mark zur Unterstützung der Familien von 65 Männern sammelten, die unter dem Sozialistengesetz aus ihrer Stadt verbannt worden waren. Zwei Zentrumsabgeordnete, der unermüdliche Vertreter von Lippstadt, Theodor Schröder, und der aus Posen stammende Karl Eusebius Bernhard Stephan, der einen oberschlesischen Wahlkreis vertrat, waren gefeierte Verteidigungsanwälte für Breslauer, die unter dem Sozialistengesetz verfolgt wurden. Wenn Sozialdemokraten verurteilt wurden (was nicht unausweichlich war), beschritten sie gegen die arroganten örtlichen Beamten den Instanzenweg und hatten gelegentlich Erfolg. Je stärker die Behörden versuchten, das Rechtssystem zu politischen Zwecken einzuspannen, desto schlechter war das Ergebnis. 1889, nach einjähriger Vorbereitung, Tausenden von Seiten an Dokumenten und einer Liste von 470 Zeugen, strengten preußische Staatsanwälte in Elberfeld ein spektakuläres Verfahren gegen neunzig Sozialdemokraten an, unter anderem gegen ihren angesehenen Führer, August Bebel. Das Resultat war eine »Katastrophe« für den Staat. 43 der Männer wurden auf der Stelle freigesprochen, und die feindlichen Pressemeldungen, die nun auf ihre Widersacher herabregnete, waren für die Partei wertvoller als Geld.41

Die Macht der »Wahlzeit« Aber wie war eine Partei, die mit einem gesetzlichen Verbot belegt war, in der Lage, genügend Wähler zu rekrutieren, um überhaupt Kandidaten in den Reichstag wählen zu lassen? Indem sie sich den einzigartigen gesetzlichen Schutz der »Wahlzeit« zunutze machte, der offiziellen Periode zwischen der Ankündigung von Neuwahlen durch das Bundespräsidium und der Verkündung der Gewinner. Während der Wahlzeit hatte das komplexe Gefüge des Wahlrechts und Wahlre39

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Zitat: Oppen: Reform, S. 5 ff. Allein während der neunten Legislaturperiode (1893–1898) nahm nach meiner Zählung der Reichstag folgende Anträge zur Suspendierung von Gerichtsverfahren an: 26 von SD, vierzehn von Antisemiten, zwei von FK (private Verleumdungsklagen) und je einen von Mitgliedern der K, Elsässer, P, Z, VP, LL und des Bayerischen Bauernbundes. Der preußische Gesetzesantrag zur Redebeschränkung im Reichstag, der sich besonders gegen die SD richtete und ohne den Bismarck das Sozialistengesetz für nur beschränkt wirksam hielt, wurde im Bundesrat erheblich modifiziert und danach sofort im Reichstag abgelehnt. Poschinger: Bismarck, Bd. 4, S. 35 ff. Z. B. 1899 in einem Fall von Majestätsbeleidigung: BAB-L R101/3386, Bl. 187–202. Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 308, auch 398, 427 f. Schröder-Lippstadt: Th. Müller: Geschichte, S. 93 ff. Aspekte eines Schauprozesses: H. Asmus: Entwicklung, S. 315. Die Bezugnahme der SD auf den gleichzeitigen Z-Protest gegen die Dortmunder Wahl zeigt klare Anzeichen von Kollaboration. Arnsberg 6, Anlage 4, AnlDR (1890/91, 8/I, Bd. 3) DS 292, S. 2055. Ähnlich katastrophale Verfahren 1896 und 1903: Hall: Scandal, S. 51 f. (Zitat), 56 f. Geschichte, S. 62.

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glements Vorrang gegenüber jeglicher anderen Gesetzgebung und befreite die Kandidaten, deren Beauftragte und Wahlkampfhelfer aus den Klauen des Sozialistengesetzes. Dank einer Serie von Entscheidungen des Reichstags und der obersten Gerichte war jede Versammlung oder Wahlkampfveranstaltung, die in geschlossenen Räumen stattfand, prima facie erlaubt, solange deren Teilnehmer sie als Wahlveranstaltung deklarierten – unabhängig von der politischen Ausrichtung ihrer Veranstalter oder der Sprecher. Die übliche Vorschrift, dass »politische« Vereinigungen eine Liste ihrer Verantwortlichen innerhalb von zwei Wochen nach ihrer Gründung bei der Polizei abzuliefern hatten, war während der Wahlzeit aufgehoben.42 Als nahezu völlige Auszeit, die im Interesse aller Teilnehmer ausgerufen wurde, war die »Wahlzeit« die Rettung der Sozialdemokraten. Die Freiheit, Wahlkampf zu betreiben, wurde sogar noch durch § 17 erweitert, eine Ergänzung zum Wahlgesetz, der aus dem Plenum in den letzten Tagen der Sitzungsperiode von 1869 eingereicht und ohne Debatte verabschiedet worden war. § 17 legte fest, dass jeder Wahlberechtigte das Recht hatte, sich auf die Wahlen durch die Gründung von »Wahlkomités« und Wahlvereinen vorzubereiten. Die Auswirkung dieses Artikels auf die Freiheit, Wahlkampf zu betreiben, und auf die Versammlungsfreiheit im Allgemeinen ist unschätzbar. In MecklenburgSchwerin beispielsweise verlangte das Landesgesetz für jede politische Versammlung eine Erlaubnis auf ministerieller Ebene, was der großherzoglichen Regierung die Möglichkeit einräumte, jede Partei aus ihrem Herrschaftsbereich zu verbannen, die ihr nicht willkommen war. Aber Drohungen des Reichstags, jede mecklenburgische Wahl für ungültig zu erklären, bei der die Regierung es versäumt hatte, § 17 zu beachten, zwangen schließlich diesen reaktionärsten aller deutschen Staaten dazu, sein eigenes Versammlungsrecht drastisch zu verändern und mit dem Reichstagswahlrecht in Einklang zu bringen.43 Obwohl der Streit des Reichstags mit Mecklenburg-Schwerin durch die Bemühungen der Linksliberalen provoziert worden waren, war der größte Nutznießer des § 17 die Sozialdemokratie. Das bloße Wort »Wahl« vor einer Aktivität bedeutete Immunität. Durch das einfache Hilfsmittel der Umbenennung von »Sozialistisches Arbeiterkomitee« in »Arbeiter-Wahlkomitee« wurde beispielsweise ein Ortsverein der SPD legalisiert – solange er in geschlossenen Räumen und während der Wahlzeit tagte.44 42

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Limburg-Stirum, Gesandter in Weimar, an SM v. Bülow, Juni 1878, BAB-l R1501/14450, Bl. 100–101. Schmidt, Liebknecht, Rickert SBDR 8. Jan. 1886, Spahn, 13. Jan. 1886: S. 422, 426, 428, 430, 494. Edgar Loening: Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena, 3. Aufl. 1911, Bd. 8, S. 152 ff., bes. 165. Berichtet in der umfangreichen Korrespondenz, die durch die Beschwerden eines Journalisten und Reisepredigers für den Freisinn, W. Buddi aus Güstrow, an das RKA, 17. April 1890, ausgelöst wurde; RKA an Mecklenburg-Schwerins AA, 2. Mai 1890, ihre Antwort an Caprivi, 9. Juni 1890; C. an Buddi, 26. März 1891, BAB-L R1501/14693, Bl. 258–260; 281–291, 339–343. Schwierigkeiten bei der Einschätzung des Ausmaßes, in dem § 17 die Regierung behinderte: IM v. d. Recke an Hohenlohe, 19. Feb. 1897, BAB-L R1501/14454, Bl. 78. Bedeutung der Wahlkomitees: Zu den Wahl-Prüfungen im Reichstage, in: Berliner Volksblatt (1. Mai 1887), BAB-L R1501/14452, Bl. 227. Siehe Klagen des Polizeipräsidenten von Barmen: Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 569. Ebenso Amtshauptmann des Amtes Meppen an Clauditz, 26. Sept. 1884, SAO Dep. 62–b, S. 2379.

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So sind es das Wahlreglement und der besondere Schutz der Wahlzeit, die erklären, dass Großstädte wie Berlin und Hamburg gleichzeitig für jeden bekannten Sozialisten (durch den »kleinen Belagerungszustand« kraft Sozialistengesetzes) verbotenes Gelände darstellen und dennoch ununterbrochen sozialdemokratische Abgeordnete in den Reichstag entsenden konnten.45 Als die Macht des Wahlkodex über das Sozialistengesetz immer deutlicher zutage trat, bemühte sich die Regierung mit beeindruckenden Demonstrationen jener Autorität dagegenzuhalten, die sie selbst durchzusetzen nicht in der Lage war. Obwohl die Anwesenheit eines bekannten und vorbestraften Sozialisten auf dem Podium – mangels einer genau definierten, unmittelbaren Bedrohung der öffentlichen Sicherheit – kein legaler Grund für die Auflösung einer Wahlversammlung sein konnte, konnte ein solcher Sprecher sich ständig von bewaffneten Polizisten umringt sehen, die ihn von einer Wahlkampfveranstaltung zur anderen eskortierten.46 Aber der gemischte Eindruck, den diese kleinen Szenen machten, war eher dazu angetan, Gelächter als Furcht zu erregen. Das Recht zu wählen zog unweigerlich andere Bürgerrechte nach sich, die jede politische Beschränkung durchlöcherten. Die Fesseln nicht nur des Sozialistengesetzes, sondern auch der Gewerbeordnung und des Pressegesetzes (welches vorsorgliche Beschlagnahmungen erlaubte, um ein Verbrechen oder eine Störung der öffentlichen Ordnung zu verhindern) wurden gelockert, besonders nachdem ein Zusatz 1883 nicht nur Stimmzettel, sondern jegliche Publikationen »zu Wahlzwecken« ausnahm. Die Ausnahme bot fast vollständige Freiheit für Bilder, Broschüren und selbst Zeitungen, die das Programm eines Kanditaten ausführlich erklärten und Wähler zu überzeugen versuchten. Was geschah also, wenn Hausdurchsuchungen die Beschlagnahmung sozialistischen Materials zur Folge hatten? Nach wenigen Tagen wurde dieses zumeist zurückgegeben, da die Polizei feststellen musste, dass vorsorgliche Beschlagnahmen illegal waren, wenn sie eine Wahl behinderten. Der Sozialistenkongress in Kopenhagen lenkte bald die Aufmerksamkeit auf die Öffnung, die der Zusatz von 1883 bedeutete.47 Die Genossen konnten nun dieselben aufrührerischen Pamphlete verwenden, die früher (sogar noch vor dem Sozialistengesetz) konfisziert worden wären, beispielsweise »Wählt Liebknecht!« auf die Titelseite drucken und, solange es Wahlzeit war, diese legal bei ihren Wahlversammlungen verteilen. Wahlmaterial jeder Art wurde für die sozialistischen Wahlkämpfer zum Freibrief, der ihnen

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Siehe Rickert SBDR 13. Nov. 1889, S. 273 ff. wie man § 9 des Sozialistengesetzes interpretieren sollte. Ich behaupte nicht, dass das Gesetz nicht beträchtliche Schwierigkeiten bereitete. Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 134 f. Zu A. Gecks Badener Wahlkampagne in Polizeibegleitung: Rickert SBDR 11. Nov. 1889, S. 229; I. Auers in Sachsen 17: AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 5) DS 154, S. 522; M. Oppenheimers in Düsseldorf 2, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 263, S. 969 f. RT-Resolution gegen die Schließung von SD Wahlversammlungen: Th. Müller: Geschichte, S. 155. Tzschoppe: Geschichte, S. 58; K. Müller: Strömungen, S. 195, 434 Anm. 47; Th. Müller: Geschichte, S. 155 f. Die Entwicklung zur Ausnahme von mechanisch reproduzierten Stimmzetteln von den Gesetzen für Druckerzeugnisse geschah nach und nach und wurde von einer Gesetzesvorlage von Moritz Wölfel und anderen Liberalen und der Gutheißung des Bundesrates eingeleitet. Poschinger: Bismarck, Bd. 5, S. 154.

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Zutritt zu Personen und öffentlichen Orten überall im Reich verschaffte.48 Wenn jedoch diese geheiligte Zeit auslief, wurde auch der Freibrief ungültig. Die Zivilgesellschaft selbst schrumpfte und expandierte, je nachdem, ob in Deutschland Wahlzeit herrschte oder nicht.49 Eine Wahlzeit dauerte für gewöhnlich ungefähr vier Wochen. Aber eine Stichwahl konnte zwei weitere hinzufügen – und nach 1890 endeten mehr als 40 Prozent aller Wahlen mit Stichwahlen. Nachwahlen, die einzelnen Wahlkreisen kostbare zusätzliche Wahlzeit bescherten, waren ebenso häufig: es gab 25 Ersatz- und Nachwahlen von 1884 bis 1887 und fünfzig von 1890 bis 1893.50 Sie wurden nicht nur durch Tod, Krankheit oder plötzlichen Ruhestand notwendig, sondern auch durch die Beförderung eines Abgeordneten im Beamtenstand (er war dann gesetzlich gezwungen, zurückzutreten und sich um Wiederwahl zu bemühen), und durch Siege ein und desselben Kandidaten in mehreren Wahlkreisen. Solche Nachwahlen wurden zu Triebfedern dafür, dass die außerordentliche Freiheit der nationalen Wahlzeit auf den gewöhnlichen Alltag übertragen wurde. Es ist nicht verwunderlich, dass die deutschen Landesregierungen mit Preußen an der Spitze sich allesamt das Hirn zermarterten, um sich Wege und Mittel einfallen zu lassen, wie man dieses verflixte Intervall so kurz wie möglich halten könne. Die Archive sind voll mit ihren vergeblichen Vorschlägen.51 Die Privilegien der Wahlzeit waren sogar fähig, die Germanisierungsversuche im preußischen Polen außer Kraft zu setzen. Als die preußische Regierung 1876 beschloss, sämtliche polnischen Versammlungen aufzulösen, wann immer der zur Beobachtung abgestellte Polizist die polnische Sprache nicht beherrschte, griffen die Gerichte ein. Sie entschieden, dass die Bringschuld nicht bei den überwachten Polen liege, sondern die Polizeibehörde, die diese Überwachung wünsche, die Verpflichtung habe, polnischsprachige Beobachter zu stellen. Zwanzig Jahre später entschloss sich der Innenminister der Regie48

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Schleswig-Holstein 2, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 125, S. 479 ff. Hierzu SBDR 12. April 1883, S. 1879 ff. BAB-L R1501/14451, Bl. 163, 164. § 43, Abs. 3 und 4 der Gewerbeordnung in: ReichstagsWahlrecht, S. 21; Thätigkeit, S. 137 f. Ausgezeichnet zu allem Genannten: Ritter: Sozialdemokratie, S. 122 f.; Lidtke: Party. SBDR 11. Nov. 1889, S. 236 ff. Eine Wahlveranstaltung der LL wurde geschlossen, weil der ursprünglich angekündigte Sprecher absagte: Sachsen 20, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 247, S. 1101; Protest von Liberalen in Merseburg 1, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 44, S. 169 ff.; von Elsässern in Straßburg, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 174, S. 494 ff. Statistik der Stichwahlen nach 1890: Suval: Politics, S. 40. Die Zahlen der 1880er Jahre sind meine eigenen. Z. B. in BAB-L R1501: Mappen 14451, Bl: 149, 236–239, 145, 149, 246–248, 250–252, 255–257, 259 f., 268–274; 14452, Bl. 2–17, 62–70; 14460, Bl. 162–164; 14641, Bl. 2 f., 8, 10–19, 53 f.,; 14643, Bl. 42–49; 77 f., 95, 120–123, 125, 134 f., 142 f.; 14644, B. 36; 14645, B. 98 f., 106 f., 134, 255–258, 260; 14654, Bl. 105–107, 111, 113–117; 14694, Bl. 41 f.; und BAB-L R43/685, Bl. 140–142, 247 f. Die Öffentlichkeit war sich der Versuche bewusst, die Termine für die Wahlen zu manipulieren. Hierzu die Interpellation von Rickert u. a., unterzeichnet von der gesamten LV, AnlDR (V LP, Ausserordentl. Session, 1883) DS 6, in BAB-L R1501/14451, Bl. 188–188v. Klagen über die Manipulation von Daten durch die Regierung erschienen in zahllosen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, gesammelt in BAB-L R1501/14460, Bl. 2, 4–6, 101–8, 112–13v, 115. Aber einige der Parteien hießen die Versuche der Regierung gut, ihre Möglichkeiten zur Festsetzung von Wahlterminen zu nutzen: Reichstagswahlen. Der Termin der Stichwahlen, in: Liberale Landtags-Korrespondenz (21. Dez. 1911), BAB-L R1501/14645, Bl. 171. Andere waren umsichtig: T. Heuß: Die Hilfe, 18/4 (25. Jan. 1912) S. 50.

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rung unter Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe in dem Bewusstsein, dass es juristische Meinungsunterschiede gab, zu prüfen, wie der Wind wehte und ob sich die Rechtsauffassung der Gerichte geändert habe. Mit dem Hinweis auf den erheblichen Anstieg an öffentlichen Versammlungen der Polen wiederholte er die Anordnung, jede polnische Versammlung aufzulösen, bei der der zugeteilte Polizist kein Polnisch sprach. (In Lippinek verlas der Polizeibeamte den Erlass und erklärte spöttisch, dass die Anwesenden, falls sie der deutschen Sprache nicht mächtig seien, gerne französisch reden dürften.) Diesmal war es die Wählerschaft statt der Gerichte, die den Bemühungen der Regierung ein Ende setzte. Ein Proteststurm an den Reichstag informierte den Minister umgehend über den Preis, den er in Form ungültiger Wahlen zu bezahlen haben werde. Dieser blies hastig zum Rückzug, kehrte seine Maßnahme um (und rügte übrigens seinen taktlosen Beamten in Lippinek) – um nur dem Reichstag keine »Handhaben zur etwaigen erneuten Kassirung der Wahl zu geben«.52

−−− Wir sollten nicht annehmen, dass diese gesetzlichen Garantien stark genug gewesen seien, die Wahlzeit zu etwas Karnevalesken für Wähler zu machen, wie es britische Historiker bei ihren eigenen Wahlen festgestellt haben.53 Die Deutschen erlebten das Karnevaleske, wenn überhaupt, an den zwei Tagen von Rosenmontag bis Aschermittwoch. Und selbst in einer Kultur der Gesetzestreue ist ein Gesetz nur so mächtig wie die Bereitschaft seiner Nutznießer, Übertritte vor Gericht zu bringen. Spontan zeigten die Behörden wenig Eifer, die Feinheiten des Gesetzes zu beachten.54 Obwohl im Oktober 1878 der Reichstag darauf bestanden hatte, dass das Sozialistengesetz nicht dazu missbraucht werden dürfe, Wahltätigkeit nur deshalb einzuschränken, weil der Kandidat ein Sozialist sei, war die Logik der Abgeordneten, die Sozialistische Partei zu verbieten und dann 52

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IM v. d. Recke an die RP von Münster, Posen, Königsberg, Danzig und Breslau sowie den Polizeipräsidenten von Berlin, 28. Okt. 1896; IM v. d. Recke an Kanzler Hohenlohe, 24. März 1897, BAB-L R1501/14454, Bl. 22–25. Hierzu auch SBDR 29. März 1897, S. 5359 ff.; 30. März 1897, S. 5365 ff.; Einspruch: Czarlin´ski und Gen. AnlDR (1895/97, 9/IV, Bd. 6) DS 719, S. 3809. Zu unterschiedlichen juristischen Meinungen: die verschiedenen Urteile darüber, ob man Wahlmaterial innerhalb einer Gaststädte ohne polizeiliche Erlaubnis aushängen dürfe: DGZ, XLIII/33 (13. Aug. 1904) S. 199. O’Gorman: Rituals, S. 79 ff.; ders.: Culture, S. 17 ff. 1887 behauptete die Regierung von Baden, jede SD Versammlung verboten oder aufgelöst und dem Kandidaten A. Geck keinerlei Redemöglichkeit geboten zu haben. Von Eisendecher an Bismarck, Karlsruhe, 10. Feb. 1887, BAB-L R1501/14642, Bl. 156. Besonders ignoriert wurde das Recht der SD auf kleine Ausschusstreffen von fünf bis sieben Leuten zur Vorbereitung von Wahlen, was Hasenclever für wesentlich bedeutsamer hielt, als ob eine Wählerversammlung (z. B. eine Wahlkampfveranstaltung) verboten wurde oder nicht. Hasenclever SBDR 5. Feb. 1886, S. 904. Auslegungen des Gesetzes brauchten Zeit: hierzu die hektische Telegraphiererei zwischen der Kieler Polizei, der Regierung in Schleswig und dem preußischen MdI wegen der Konfiszierung von SD Stimmzetteln 1881, an deren Ende das MdI, das sich mit Konflikten zwischen Pressegesetz, Gewerbeordnung und Sozialistengesetz konfrontiert sah, die konfiszierten Stimmzettel zurückgeben ließ. Es gab keine Anzeichen böser Absicht, aber die Wahllokale schlossen 25 Minuten nach Ankunft des Telegramms. Der Reichstag annullierte diese Wahl. Schleswig-Holstein 7 (Kiel-Altona), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 279, S. 1029 ff. Die Abgeordneten waren nicht immer so konsequent: Berlin 6 (1880, 4/III, Bd. 4) DS 94, S. 666 ff.; Hessen 5 (Offenbach): Singer SBDR 7. März 1888, S. 1361.

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eine Ausnahme für ihre Wahlveranstaltungen zu machen, den mittleren Behörden schwer zu vermitteln – zumal diese sehr wohl wussten, welche Art von Wahlergebnissen ihre Vorgesetzten sich wünschten. Es ist kaum verwunderlich, dass die örtlichen und Kreisbehörden, deren Ungeschicklichkeit sprichwörtlich war, die Unterscheidung zwischen unerlaubter Schrift und Rede zur Förderung der Sozialdemokratie (gegen die sie die volle Macht des Sozialistengesetzes einsetzen sollten) und erlaubter Schrift und Rede zur Erzeugung von sozialdemokratischen Mehrheiten bei Wahlen (welche sie in Ruhe lassen sollten) sogar noch rätselhafter fanden. 1889 stellte die Wahlprüfungskommission eine Liste der Risse im Netz der Schutzvorrichtungen zur Vereins- und Versammlungsfreiheit fest, die der Polizei während der Wahlzeit vorgeworfen wurden: 110 in den vorhergehenden elf Jahren.55 Damit kompetitive Wahlen stattfinden konnten, mussten die Bürger ständig gegen diesen Missbrauch protestieren und der Reichstag musste ihre Rechte andauernd mit Anweisungen an die Regierungen bestätigen.56 Dennoch setzten sich die Verletzungen bis ins 20. Jahrhundert fort.57 Die sozialistischen Stimmzettelverteiler achteten darauf, bei ihren Runden mehrere Exemplare des Wahlgesetzes mitzuführen. Als Waffe gegen wütende Arbeitgeber oder Polizisten taugten diese zwar kaum; den greifbarsten Effekt dürfte der Hinweis auf das Wahlgesetz gehabt haben auf das Bewusstsein des Stimmzettelverteilers, im Recht zu sein.58 (Und dies galt nicht nur für sozialistische Stimmzettelverteiler. Kapläne des Zentrums und polnische Adlige waren gleichfalls gezwungen, Rechtsexperten zu werden und darauf zu bestehen, das Gesetz oder den Erlass mit eigenen Augen zu sehen, die sie beeinträchtigten, die Unterschrift des Befugnis erteilenden Richters zu fordern sowie Paragraphen und Absätze ihrer eigenen Rechte und der anderer Bürger auswendig zu ler55

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Die geringe Anzahl der wegen der Verletzung dieser Regeln aufgehobenen Mandate ist durch die Praxis des Reichstags zu erklären, keine Untersuchung einzuleiten, wenn das Ausmaß des Sieges eine Annullierung ausschloss. SBDR 11. Nov. 1889, S. 226 ff., bes. Rickert, S. 228, 230; und AnlDR (1888/89, 7/IV, Bd. 6) DS 251, S. 1462 ff. Antrag der WPK auf Ungültigkeitserklärung von Arnsberg 4 aufgrund der Verletzung des § 28 des Sozialistengesetzes: AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 100, S. 513 ff.; sehr aufschlussreiche Debatte zum Antrag Rickert über die Versammlungsfreiheit: SBDR 6. März 1888, S. 1325 ff. und SBDR 29. Nov. 1888, S. 56 ff.; Auer, bezüglich Hannover 9, SBDR 3. Dez. 1890, S. 762. Korfanty behauptete, die Polizei habe keine einzige Wahlkampfveranstaltung der P in Oberschlesien zugelassen: SBDR 28. Jan. 1904, S. 542; in Altenburg wurde eine Wahlveranstaltung mit Berufung auf das Sozialistengesetz noch mehr als ein Jahrzehnt nach dessen Abschaffung verboten: Stücklen (SD) SBDR 6. Feb. 1904, S. 750. Folgende Beispiele in AnlDR (1912/14, 13/I): Wahlbeobachter in sieben Bezirken ausgeschlossen: Breslau 8 (Bd. 23, DS 11638, S. 3573); und trotz der telegraphierten Anweisungen des LS und des Kreisamts: Merseburg 5 (Bd. 19, DS 840, S. 1136 ff., bes. 1138), Gumbinnen 7 (Bd. 23, DS 1586, S. 3402), Hessen 8 (Bd. 16, DS 350, S. 291 f). H. Kröber, ein Schuhmacher, besaß fünf Exemplare: München 1 (1882/83, 5/IV, Bd. 4) DS 123, S. 981 ff. Besonders hartnäckig war der Schneider H. Mahlke aus Flensburg: sein Protest, der von der WPK anerkannt wurde, gegen Schleswig-Holstein 2, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 125, S. 479, und ein weiterer v. 10. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 1–8. Als der Direktor der Silesia-Werke in Paruschowitz Franz Sch. wegen Blockierung des Pfades zur Fabrik mit der Verteilung von Stimmzetteln entfernen ließ, verklagte Sch. ihn wegen unrechtmäßiger Verhaftung. Er wurde seinerseits wegen falscher Anschuldigungen und übler Nachrede angeklagt und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. DGZ 43/20 (14. Mai 1904), S. 120. Liebknecht über Schikanen durch Beamte im Kieler Wahlkampf: SBDR 8. Jan. 1886, S. 425 ff.

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nen.) Indem sie selbst die Regeln einhielten, zwangen die Sozialdemokraten die Regierung, sie ernst zu nehmen: nicht als Verschwörer und Bombenwerfer, sondern als Wettbewerber um die Unterstützung der Bürgerschaft.59 Womöglich ist die Zeit des Sozialistengesetzes nicht die Wasserscheide, die Historiker gelegentlich in ihr gesehen haben. In einigen Gegenden hatte die Polizei die Sozialisten bereits lange vor dessen Verabschiedung gnadenlos schikaniert und zum Frühjahr 1878 vertrieben.60 In anderen Teilen des Reichs wurde das Gesetz selbst kaum oder mit wenig Nachdruck umgesetzt.61 Schließlich erlebte die Sozialdemokratie während der Zeit der Gültigkeit des Sozialistengesetzes ihren stärksten Durchbruch. In nur drei Jahren, von 1887 bis 1890, verdoppelte die Partei ihren Stimmenanteil – ein Sprung nach vorne, den weder sie selbst noch irgendeine andere Partei während des gesamten Kaiserreichs wiederholen konnte.62 Rein rechnerisch lösten die Sozialdemokraten die Nationalliberalen als Deutschlands Haupt-Stimmenfänger ab (wenn auch mit geringerer Anzahl als die Nationalliberalen 1874, 1877 und 1887 und das Zentrum 1874 erreicht hatten). Die Genossen reagierten auf den neuen Status mit zwei Neuerungen. Ihr Zentralkomitee widerrief den Beschluss eines früheren Parteikongresses, der die Anhänger aufgerufen hatte, in keiner Stichwahl abzustimmen, in der es keinen sozialistischen Kandidaten gab. Stattdessen rief es die Mitglieder auf, ihre Stimmen jedem Kandidaten zu geben, der versprach, gegen die Ausnahmegesetze zu votieren.63 Zweitens änderten die Genossen beim Erfurter Parteitag von 1891 endgültig ihren Namen. Sie ließen den alten, klassenbewussten Namen »Sozialistische Arbeiterpartei« zugunsten des universell klingenden Namens »Sozialdemokratische Partei Deutschlands« (SPD) fallen – eine symbolische Richtungsänderung, die die Geburt der Sozialdemokratie als Massenbewegung einleitete. Von Anfang an hatte das Verhalten der Landes- und der örtlichen Behörden viel dazu beigetragen, das Vertrauen der deutschen Arbeiter in die Unparteilichkeit ihrer Reichsregierung »über den Parteien« zu erschüttern. Dann kam das Sozialistengesetz, das die Klassenkonflikte am Arbeitsplatz mit dem nationalen politischen System verknüpfte und für deren Perpetuierung in einer weiteren »heißen Familienfehde« sorgte, die wie der Kulturkampf weder beendet noch 59

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Wie man an den abfälligen Randbemerkungen erkennen kann, mit denen Bürokraten die Artikel der SD Presse versahen, z. B.: Zur Rechtlosmachung der Wähler in Reuß, in: Vorwärts, 18. Dez. 1912, BAB-L R1501/14460, Bl. 378. Schloßmacher: Düsseldorf, S. 133; Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 126, 142; GA Nr. 160, 12. Juli 1871, und Nr. 170, 3. Aug. 1871. Dieselbe Art von Schikanen traf auch andere Parteien, wenn auch weniger häufig. A. Schütte, Vorsitzender des LL Wahlkomitees, in Braunschweig 3, 12. März 1887, BAB-L R1501/14657, Bl. 13–15. Essen Land: Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 531 Anm. 199; Solingen: Bramann: Reichstagswahlen, S. 56; Hessen: White: Party, S. 133; Region Magdeburg: Birk: Entwicklung, S. 183; Hamburg bis 1886: KutzBauer: Arbeiterschaft, S. 331 ff. Sperber: Wähler, S. 39 f. Das Anwachsen der SPD von 1871 bis 1874 – von 3,2 Prozent auf 6,8 Prozent – ist in absoluten Zahlen zu gering, um als Durchbruch betrachtet zu werden. Es gab entschiedene Gegner dieser Änderung, aber da sie im Komitee beschlossen wurde, fand keine Diskussion statt. Blank: Zusammensetzung, S. 541 ff. Der Durchbruch, den die SD in der Wahl von 1890 erlebten, wurde erst später deutlich. G. A. Ritter: Arbeiterbewegung, S. 80 f.; ausgezeichnet zur neuen psychischen Unsicherheit der SD: S. 79 ff.

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gelöst und beigelegt werden konnte. Aber die paradoxe Kombination des diskriminierenden Sozialistengesetzes und des egalitären Wahlgesetzes hatte einen bedeutsamen Einfluss auf die politische Kultur des deutschen Arbeiters. Als ihre eigene politische Existenz als gesetzeswidrig gebrandmarkt wurde, wurden die Anhänger der verbotenen Partei zu mustergültigen Gesetzesanhängern. Darüber hinaus setzte ihr fluktuierender Status innerhalb eines Rechtssystems, das sowohl willkürlich war als auch häufig vom Reichstag getadelt und »richtiggestellt« wurde, eine unerwünschte und anfangs unbewusste Fixierung auf die Parlamentswahlen in Gang. Diese wurde (wie unstimmig auch immer bei einer Bewegung, deren Ideologie die Politik in den »Überbau« verbannte und deren Heilsgeschichte in einer Revolution endete) bald zum entscheidenden Charakteristikum des deutschen Sozialismus – und brachte ihn damit auf den langen Weg zum politischen Pragmatismus in einer pluralistischen parlamentarischen Demokratie.

Die Regeln der öffentlichen Rede Nicht alle Regeln, die die Reichstagswahlen betrafen, wurden schriftlich niedergelegt. Die Wahlkämpfe waren auch von einer allgemeinen Vorstellung davon geprägt, wie eine öffentliche politische Versammlung auszusehen habe. Eine als öffentlich angekündigte Veranstaltung, fanden die Leute, sollte nicht nur allen, die kommen wollten, offen stehen, sondern als Teil des regulären Programms sollte auch eine Zeitspanne vorgesehen sein für solche Meinungen, die denen der Hauptredner widersprachen. Diese volkstümliche Vorstellung von »öffentlich« als implizit kontrovers war im sogenannten »Diskussionsredner« institutionalisiert, einem Mann, der die rivalisierende Partei oder Interessengruppe bei den Versammlungen ihrer Gegner vertreten sollte.64 Im 19. Jahrhundert schickten die Parteien in jedem Land, in dem ein Parlament gewählt wurde, ihre besten Sprecher von Ort zu Ort, um für rhetorisch weniger geschickte Kandidaten das Wort zu ergreifen. Allein in Deutschland aber, soweit ich dies weiß, war es üblich, die besten Redner zu den Wahlversammlungen der Gegner zu schicken. Obwohl er nicht dazu verpflichtet war, wurde von einem Diskussionsredner erwartet, dass er mit dem Veranstalter rechtzeitig Kontakt aufnahm und seinen Auftritt ankündigte. Er konnte für gewöhnlich davon ausgehen, dass man ihm eine gute halbe Stunde einräumte, um auf den angekündigten Hauptredner zu antworten – und wehe dem Vorsitzenden, der ihm

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Beispiele sind in den örtlichen Untersuchungen fast jedes Wahlkreises und jeder Wahl zu finden. Die ungeschriebenen Regeln der öffentlichen Versammlungen wurden ausführlich diskutiert in der langen Debatte über Liebermann v. Sonnenbergs Antrag auf stärkeren Polizeischutz für antisemitische Wahlkampfveranstaltungen, SBDR 21. März 1906, S. 2186 ff. Anfangs fühlten sich sogar Sprecher der älteren Eliten, obwohl sie ungern selbst Wahlkampf betrieben, verpflichtet, ihre Gegenposition zu den Sozialisten bei den SD Wahlkämpfen zu vertreten. Kulemann: Erinnerungen, S. 24 f.; Gerlach: Erlebnisse, S. 21 f. Vergleiche Ralf Dahrendorfs Ansicht, dass die politische Kultur der Deutschen Konflikte zudeckte: Gesellschaft und Demokratie, München 1965.

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nach zehn Minuten das Wort abschneiden wollte!65 Obwohl damit der Form Genüge getan war, kamen bei einigen Wahlkämpfen die resultierenden Reden einer formalen Debatte gleich, bei der der Diskussionsredner nicht nur die Gelegenheit erhielt, auf die Rede des Hauptredners einzugehen, sondern auch noch auf dessen Erwiderung zu antworten.66 Einige Veranstalter zeigten sich sogar noch großzügiger. Bei einer Großveranstaltung im Hamburger Vorort Barmbeck erlaubte der veranstaltende liberale Wahlverein großmütig einem »gemischten Bureau« aus gewählten Liberalen und Sozialdemokraten, das Treffen zu leiten. Hier war es ein Sozialdemokrat, der die Hauptrede hielt, und ein Liberaler, der mit einer Gegenrede antwortete. Dies geschah 1878, gleich nachdem der Kaiser in einem zweiten Attentatsversuch schwer verletzt worden war und Bismarck im ganzen Land eine antisozialistische Hysterie zu entflammen versuchte.67 Ein solches Verhalten war nicht einmalig. Es liegen Berichte von Erfurter Sozialdemokraten vor, die ihrem geladenen antisemitischen Gegner eineinhalb Stunden Redezeit gaben, und von Antisemiten in Bischoffswerda, die sich revanchierten.68 Kein Gesetz zwang die veranstaltende Partei, dem Diskussionsredner das Wort zu erteilen. Aber alle Parteien leisteten das Lippenbekenntnis von der Wahlkampagne als Instrument zur Volksbildung und alle bestanden auf dem Recht ihres eigenen Diskutanten, als Mitglied der Öffentlichkeit, zu sprechen, als ob dieses Recht die wahre Quelle des Bürgerrechts wäre.69 Derart fest waren diese Bräuche in der Volkskultur verwurzelt, dass jede Partei, die versuchte, die Diskussionsredner auszuschließen oder zu begrenzen, auf massive Buhrufe und gelegentlich die (fälschliche) Anschuldigung traf, dass solch eine Beschränkung eine gänzlich illegale Wahlbeeinflussung sei.70 Obwohl wir bezweifeln dürfen, dass viele Meinungen während dieser forensischen Wortwechsel geändert wurden, waren die deutschen Wahlkämpfe doch Schauplätze echter Debatten. Tatsächlich wurden Diskussionsredner häufig dazu eingeladen aufzutreten. Einige Einladungen geschahen mit Hintergedanken, um die gegnerische Partei schwach erscheinen zu lassen, falls sie die Herausforderung nicht annahm.71 Die 65

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Wittener Volkszeitung (Z) zitiert in Nettmann: Witten, S. 137, 140. Beschwerden über nur fünf Minuten für den Diskussionsredner: Schöpflin, Horn, Hoffmann (SD) SBDR 21. März 1906, S. 2213 ff.; Im Wahlkreis Hannover-Linden: BT XLI/7, 2. Beiblatt (5. Jan. 1912). Monshausen: Wahlen, S. 272 f. Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 281. Die Feindseligkeit den SD gegenüber schwankte erheblich. Ein großer Arbeitgeber in Hagen, Commerzienrat Wm. Meckel (NL) erklärte, die Sozialdemokratische Partei sei eine absolute Notwendigkeit und ihre Existenz sei in gewisser Weise gerechtfertigt: HVZ Nr. 4, 6. Jan. 1877, BAB-L R1501/14693, Bl. 13 f. Reißhaus (SD) und Zimmermann (Ref.) SBDR 21. März 1906, S. 2211 f. Rickert SBDR 7. Feb. 1888, S. 744; Kayser (SD) SBDR 2. Dez. 1882, S. 590 f. GA Nr. 6, 8. Jan. 1874; Protest Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1079; Kritik der Eisenacher Antisemiten: SBDR 21. März 1906, passim; ähnlich: Antisemitische Kampfesformen, in: Nationalliberale Correspondenz 39/1 (3. Jan. 1912) BAB-L R1501/14460, Bl. 141; Aus der Reichstagswahlbewegung, in: BT 41/3 (3. Jan. 1912). Hagener SD Annoncen luden ihre Gegner ausdrücklich ein: E. Richter und Julius Funcke: HVZ Nr. 4, 6. Jan. 1877, BAB-L R1501/14693, Bl. 14. Stoecker wurde von SD eingeladen: M. Braun: Stoecker, S. 157; er und Richter waren eingeladen, 1881 gemeinsam bei derselben Veranstaltung aufzutreten: Ernst: Polizeispitzeleien, S. 50; die Hamburger Welfenpartei lud 1878 einen SD Sprecher ein: Kutz-Bauer: Arbei-

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Zuhörer erwarteten allerdings eine authentische Debatte, und mein Eindruck ist, dass die meisten Einladungen ernst gemeint waren. Im Zweiten Sächsischen Wahlkreis trafen die Wahlkomitees der Konservativen und der Sozialdemokraten ausdrückliche Vereinbarungen, Sprecher zu den öffentlichen Versammlungen der jeweils anderen Partei zu schicken – bei einer Gelegenheit waren es sechs! Selbst am Geburtstag des Kaisers, als die politische Leidenschaft durch Alkoholgenuss angeheizt war, verlief die Debatte ohne Zwischenfälle. Der Brauch brachte für alle Seiten Vorteile. Selbst jemand, der notorisch nuschelte, konnte hoffen, Menschenmassen anzuziehen, wenn er ankündigen konnte, dass Wilhelm Liebknecht, ein Redner mit enormem Charisma, als Diskussionsredner auftreten werde. Da die Abwesenheit eines Gegners als Zeichen gewertet werden konnte, dass der Redner nicht ernsthaft als Bewerber in Betracht kam, konnte ein Kandidat immer noch einen Verbündeten im Publikum unterbringen, der ihn von dort aus angriff, um den fehlenden gegnerischen Diskussionsredner zu ersetzen.72 Das gemischte Publikum, das sich aus der Institution der Diskussionsredner ergab, machte Wahlversammlungen auch für dritte Parteien interessant. Bei den größeren und wichtigeren Veranstaltungen sammelten deren Beobachter Argumente, die sie später gegen beide Seiten verwendeten. Mit dem Gedanken an die spätere Presseberichterstattung setzten die Außenseiter auch ihren Applaus taktisch ein, und wenn sie in ihren eigenen Kolumnen die Gewinner und Verlierer des Abends verkündeten, taten sie dies mit Rücksicht auf zukünftige Alliancen mit der einen oder der anderen Partei – sei es bei einer Stichwahl oder sei es in einem anderen Wahlkreis.73 Andere »Außenseiter«, die sich die Lage zunutze machten, konnten Vertreter von Gruppen sein, die ein Interesse an dem Ausgang der Wahl, aber nicht als Kandidat hatten. Der Bauernverband war bekannt dafür, dass er Fragesteller zu Wahlkampfveranstaltungen schickte, die den Kandidaten zwangen, zum Agrarzoll Stellung zu beziehen. Katholiken in einem evangelischen Wahlkreis, und gelegentlich selbst Juden, verhielten sich ähnlich. In der kleinen westpreußischen Stadt Schwetz (Weichsel), wo die Polen leicht in der Überzahl waren, war die jüdische Gemeinde zu einer wichtigen Komponente bei jedem »deutschen« Erfolg geworden. 1893, als die antisemitischen Parteien mehr Sitze (17) gewannen als jemals vor dem Krieg, waren die jüdische Kooperation, und damit auch das deutsche Mandat, in Frage gestellt. Es tauchten Gerüchte auf, dass der zweimalige »deutsche« Mandatsträger, ein örtlicher Gutsbesitzer namens Otto Holtz, antisemitisch sei – was nicht auszuschließen war, da Holtz den Freien Konservativen angehörte und beide konservative Parteien auf die antisemitische Karte setzten. Ein junger Beamter des Landratsamts, der von Holtz beauftragt

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terschaft, S. 281; Fairbairn: Authority, S. 825; K. Müller: Strömungen, S. 196, 208 f.; Frank: Stoecker, S. 146. BAB-L R1501/14458, Bl. 128–129. Liebknechts Charisma: Bramann: Reichstagswahlen, S. 61. K. E. Sindermann (SD) SBDR 21. März 1906, S. 2206; Gerlach: Rechts, S. 159 f. Gemischtes Publikum: HVZ Nr. 4, 6. Jan. 1877, BAB-L R1501/14693, Bl. 13 f.; Nettmann: Witten, S. 138 f.; Romeyk: Wahlen, S. 130, 305, 311, 362; Lepper (Hrsg.): Katholizismus, S. 304.

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war, eilte zum Synagogenvorsteher, dem Kürschner Hirschberg, und versicherte ihm, dass die Gerüchte über Holtz falsch seien. Er berief sich auf die Geschichte der freundschaftlichen interkonfessionellen Beziehungen innerhalb des Wahlkreises und verwies auf einflussreiche jüdische Mitglieder des inneren Kreises der »deutschen« Wahlkomitees, um schließlich den Synagogenvorsteher darum zu bitten, »dafür zu sorgen, daß die jüdischen Mitbürger wenigstens unsere Wahlversammlungen besuchen möchten, um durch Interpellationen die Angelegenheit klar zu stellen«. Dort wurde die Angelegenheit tatsächlich geregelt. Bei der Wahlveranstaltung stand ein jüdischer Rechtsanwalt auf und fragte nach der Einstellung des Kandidaten zum Antisemitismus. Nachdem er eine befriedigende Antwort erhalten hatte, sprachen sich die jüdischen Gemeindeführer erneut für den »deutschen«, also den Amtsinhaber der Freien Konservativen, aus und er gewann ein drittes Mal.74 Eine Gruppe von Außenseitern wurde noch nicht erwähnt. Frauen waren niemals gesetzlich aus politischen Vereinen und Versammlungen in Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Coburg-Gotha, den Stadtstaaten der Hanse und einigen anderen kleineren Ländern ausgeschlossen. Nach 1898 war ihre Anwesenheit auch in Bayern erlaubt. In Sachsen jedoch war es Frauen verboten, politischen Vereinen beizutreten; und obwohl es ihnen nicht ausdrücklich untersagt war, deren Versammlungen zu besuchen, wurde häufig der Ermessensspielraum der Polizei ausgeschöpft, Versammlungen zu schließen, »deren Zweck es ist, Gesetzübertretungen oder unsittliche Handlungen zu begehen, dazu aufzufordern oder geneigt zu machen«, um sie von Wahlkampfveranstaltungen fernzuhalten.75 In Preußen schloss das Vereins- und Versammlungsgesetz von 1850 Frauen von allen Versammlungen aus, die von politischen Organisationen einberufen wurden. Juristen setzten Frauen mit Feuerwaffen gleich, die ebenfalls als ausreichender Grund für die Schließung einer Versammlung angesehen wurden, und an einigen Orten führte selbst das Nachfüllen der Biergläser durch die Wirtin dazu, dass der Polizist aufstand und die Veranstaltung für beendet erklärte.76 Gesetzlich legitimierte allerdings nicht die Anwesenheit einer Frau, sondern erst deren Weigerung, zu gehen, die Auflösung einer Versammlung. Und in der Tat variierte die Durchsetzung des Ausschlusses 74

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Die Handvoll Liberale des Kreises reichten einen Protest ein mit der Behauptung, dass der Landrat bei seiner Intervention eine Drohung an die jüdische Gemeinde angedeutet habe, falls sie Holtz nicht unterstützten – eine Interpretation, die sowohl der Beamte wie auch der Synagogenvorsteher unter Eid verneinten. Marienwerder 5, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 1) DS 166, S. 799 f.; AnlDR (1895/97, 9/IV, Bd. 2) DS 195, S. 1259; C. Gamp (FK) SBDR 24. April 1896, S. 1927. § 5 des sächsischen Vereinsgesetzes, zitiert v. Grillenberger SBDR 1. Mai 1895, S. 1999. Vom Frauenvereinsrecht, in: Die Zeit 2/15 (8. Jan. 1903), S. 450. Eine Liste fast aller deutscher Länder mit ihren entsprechenden Gesetzen und Handhabungen: Jacqueline Strain: Feminism and Political Radicalism in the German Social Democratic Movement, 1890–1914 (Ph. D. Diss., Berkeley, 1964), S. 55 ff. DGZ 37/10 (5. März 1898), S. 59 f. Delius: Die Unterschiede des preußischen und des französischen Vereins- und Versammlungsrechts, in: PVB 26/15 (7. Jan. 1905), S. 145 f., behauptet, dass Frauen, wenn auch nicht unumstritten, in Frankreich nicht länger ausgeschlossen waren. Otto Gerland: Die polizeiliche Beaufsichtigung der Versammlungen, in: DGZ 29/45 (8. Nov. 1890), S. 263; Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 571 Anm. 379. Frauen waren jedoch nicht nur bei RT-Sitzungen Teil der Öffentlichkeit, sondern auch bei Stadtratsversammlungen: GA 7. Jan. 1874, S. 28.

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von Frauen beträchtlich, nicht zuletzt deswegen, weil es Sache der Polizei war, das Treffen in Anwesenheit von Frauen als unzulässige »Vereinsversammlung« einer politischen Organisation oder als zulässige »Volksversammlung« zu definieren.77 Angesichts der Anwesenheit konservativer Frauen bei Wahlkämpfen des BdL hörte die Regierung Anfang 1902 auf, die Bestimmung durchzusetzen, und erlaubte Frauen, an Wahlveranstaltungen teilzunehmen, solange eine Art Abgrenzung – die aus nicht mehr als einer Kreidelinie oder einem Stück Bindfaden bestehen musste – die Geschlechter trennte. Bereits im Winter 1907 reiste die unerschrockene Lily Braun mit dem Schlitten durch die ostelbischen Gebiete und hielt auf einer Wahlkampfveranstaltung nach der anderen Reden vor Publikum, das häufig zu 30 Prozent aus Frauen bestand – die Polizei war anwesend, und weit und breit war keine Absperrung zu sehen.78 Das 1908 vom Reichstag beschlossene Versammlungs- und Vereinsrecht, das sowohl Organisationen als auch Wahlkampfveranstaltungen für alle Erwachsenen zugänglich machte, öffnete schließlich überall die Schleusen zur Teilnahme der Frauen an der Politik, und nicht nur zur verstohlenen Anwesenheit bei diesem wichtigsten Forum der öffentlichen Kontroverse. Bereits 1911 organisierte das Frauenbüro der SPD Wahlkampfreisen für nicht weniger als 48 Rednerinnen. Die Fortschrittlichen schickten Listen von fünfzehn Rednerinnen an alle ihre Ortsvereine. Noch wichtiger war, dass bei den Wahlversammlungen selbst die nationalliberalen Frauen forderten, Frauen in den Vorständen sitzen zu sehen, während die Frauen der Fortschrittlichen das Forum benutzten, um die Kandidaten in der Frage des Frauenwahlrechts festzunageln – die das Programm ihrer Partei am liebsten stillschweigend übergehen wollte.79

−−− Bei den meisten Versammlungen erschien der Kandidat selbst gar nicht, noch war der Diskussionsredner eine gefeierte Persönlichkeit wie Wilhelm Liebknecht. Die Redner waren meistens örtliche Parteimitglieder, deren rhetorische Gewandtheit dennoch häufig beachtlich war. Obwohl man behaupten könnte, dass diese stilisierten Duelle unabhängige Beiträge gewöhnlicher Bürger aus dem Publikum unterbanden, ist es fraglich, ob bei Versammlungen mit häufig Tausenden von Teilnehmern Spontaneität wahrscheinlich oder auch nur praktikabel war. Als Alternative zur Spontaneität bemühten sich die Sozialisten ausdrücklich, nicht nur ihre Funktionäre, sondern auch ihre einfachen Mitglieder im öffentlichen Reden zu schulen. Die wachsende Anzahl potentieller Disku77

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[Köller:] Ungiltigkeit, S. 8; Entscheidungen. Vereins- und Versammlungsrecht, in: PVB 20/1 (1. Okt. 1898) S. 8. Mit der Zeit schränkten die Gerichte die Entscheidungsbefugnis der Polizei ein: Urteile des 2. Kammergerichts: DGZ 37/17 (23. April 1898) S. 100. Die Regeln: Hatschek: Kommentar, S. 168, 237 f., 248. Braun: Agitation, S. 200 ff. Öffentlicher Hohn über die Abgrenzung: Politische Notizen, Vereinsrecht und Frauen, in: Die Zeit 2/1 (2. Okt. 1902), S. 1. Evans: Movement, S. 73. Skepsis über Qualität der Rednerinnen: Ludwig Radlof: Kritisches zur Taktik der Sozialdemokratischen Frauenbewegung, in: Sozialistische Monatshefte 19/1, 7. Heft (10. April 1913), S. 426. Steinmann: Mitarbeit, S. 18; Bertram: Wahlen, S. 196 ff.

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tanten war nicht nur ein Vorteil für den Wahlkampf, sondern ein integraler Bestandteil des sozialistischen Projekts der Emanzipation. Was konnte für das auf Respekt vor Autoritäten beruhende System destruktiver sein als die Fähigkeit der kleinen Leute, in der Öffentlichkeit für sich selbst zu sprechen? Die stockenden Bemühungen eines Kleinstadt-Demosthenes konnten zwar Lächeln oder Gähnen bei den Wortgewandteren hervorrufen, aber ihre Wirkung, die auf dem Respekt vor Mut und innerer Stärke beruhte, mochte genauso groß gewesen sein wie die eines Liebknecht.80 Während der Gültigkeit des Sozialistengesetzes war die Institution des Diskussionsredners das Blut in den Adern der Sozialdemokratie. Sie gab einem sozialistischen Aktivisten die Möglichkeit, selbst unter den ungünstigsten Umständen, wo es etwa zu wenige Mitglieder gab oder diese zu ängstlich waren, um eine eigene Wahlversammlung einzuberufen, oder wo kein Wirt ihnen eine Halle vermieten wollte, sich an die Veranstaltungen seiner Gegner anzuhängen und vor den Augen des anwesenden Polizisten für seinen Kandidaten, seine Partei und seinen Zukunftsstaat zu werben. So erschienen an der Saar, wo die Arbeitgeber die Arbeiter daran hinderten, sozialdemokratisch zu wählen, die Sozialisten dennoch nicht nur bei den Wahlversammlungen des Zentrums, sondern auch bei denen des Kandidaten Stumm selbst und zwangen ihn, seine Leistungen zu verteidigen und zu versprechen, er werde im Reichstag auch die Arbeiter vertreten. Zumindest im gleichen Maß wie der Schutz der Öffentlichkeit in den Wahllokalen war es diese volkstümliche Ansicht von der »Öffentlichkeit« als Schauplatz von Kontroversen, die sicherstellte, dass die sozialistischen Wahlkämpfer selbst dort ein Publikum fanden, wo das Sozialistengesetz mit Nachdruck durchgesetzt wurde.81 Politische Versammlungen boten jedoch nicht nur einen Schauplatz für Kontroversen, sondern auch, wie die Wahl selbst, für Machtdemonstrationen. Und wie bei der Wahl war einer der Hauptgründe für die Teilnahme die Möglichkeit, die andere Seite wissen zu lassen, dass man da war. Buhrufe und Pfiffe hatten immer einen Reiz für die weniger Sprachgewandten. Die Sozialdemokraten reagierten bei Zentrumswahlkämpfen mit Johlen, wann immer das Wort »Gott« fiel, während Anhänger des Zentrums freidenkende Gegner mit Hymnen übertönten. Einige Abgeordnete, wie der geistreiche Fortschrittliche Albert Traeger, waren in den Wortgefechten der Debatten derart geschickt, dass sie die aufmüpfigste Menge zähmen konnten – die, wie Scheherazades Sultan, neugierig war

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Göhre: Drei Monate, S. 88 ff. Beachtliche rhetorische Gewandtheit: siehe die Kommentare des Schreinermeisters Euler aus Bensburg. K. Müller: Strömungen, S. 241, auch 316. Z. B. bei einer riesigen Breslauer Wahlkampfveranstaltung, bei der der angekündigte Sprecher R. Virchow war. Müller: Geschichte, S. 75 f., auch 157 f., 302. Stumms Wahlkampf: Bellot: Hundert Jahre, S. 183 f., 208. Ähnlich parierten Anhänger des Z die Argumente des Hüttendirektors Ott in Pachten und übernahmen seine Wahlversammlung: ebd., S. 173. Allgemein: Monshausen: Wahlen, S. 341. Der Wert der Institution des Diskussionsredners für die SPD im Regierungsbezirk Koblenz, wo ihr selbst im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg Hallen verwehrt wurden: Romeyk: Wahlen, S. 68, 70, 81, 130, 134, 222, 225, 290 f., 332, 369, 391, 414. Eine der Schwierigkeiten der SPD, in katholischen Gegenden Fuß zu fassen, lag in der Tatsache, dass das Z nicht immer Wahlkampfversammlungen veranstaltete. Ebd., S. 81.

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auf das, was als Nächstes kam.82 Andere hatten kein solches Glück. Dieselbe Offenheit, die den verbotenen Sozialdemokraten einen Raum bei den Versammlungen der anderen Parteien verschaffte, ermöglichte es den Genossen – oder allen anders denkenden Zuschauern –, diesen Raum für sich selbst zu erobern. Es bestand ein verbreiteter Konsens darüber, dass öffentliche Versammlungen auf parlamentarische Art verfahren sollten. »Parlamentarisch« schloss die Erwartung ein, dass die Veranstalter das anwesende Publikum entscheiden lassen würden, wer der Versammlung vorstehen, was auf der Tagesordnung stehen und wie viel Zeit jedem Redner zugestanden werden sollte. Obwohl dieses Vorgehen nicht, wie allgemein angenommen wurde, tatsächlich von den verschiedenen Versammlungsrechten der Länder vorgeschrieben war, hatte es, mit den Worten des Christlichen Gewerkschafters und Zentrumsabgeordneten Johannes Giesberts, den Status eines »Gewohnheitsrechts« angenommen. So trat der Augenblick größter Gefahr für die einberufende Partei jedes Mal dann ein, wenn die Menge rief: »Bureau-Wahl! Bureau-Wahl!« Wenn die Bataillone des Diskussionsredners an Größe diejenigen der Veranstalter übertrafen, konnten sie den Vorsitzenden bestimmen und die Versammlung übernehmen. Dann konnten sie ganz legal jeden aufrufen, der ihnen gefiel, die angekündigte Attraktion auf den Rang des Diskussionsredners zurückstufen, und jene Zuhörer, die gekommen waren, um die Ansprache der veranstaltenden Partei zu hören, mit der Wahl konfrontieren, entweder die eigenen endlosen Reden anzuhören oder gleich zu gehen. Durch strategisch platzierten Applaus oder Zischen konnten Eindringlinge sogar den Nominierungsprozess ihrer Gegner beeinflussen und die Nominierung eines Kandidaten (zumindest bei dieser Veranstaltung) verhindern, dessen Sponsoren gehofft hatten, ihn gleichgesinnten Bürgern zur Beifallskundgebung zu präsentieren.83 Je offener die örtlichen Parteiversammlungen waren und je weniger sie auf Autoritätspersonen und Klerus beschränkt blieben, desto anfälliger wurden sie für diese Taktiken. Die Sozialisten taten sich mit feindlichen Übernahmen am häufigsten hervor. Ihre Erfolge bei den Berliner Versammlungen des Adolf Stoecker waren allseits bekannt. (Vielleicht weil die Wahlkampfveranstaltungen des früheren Hofpredigers quasi gottesdienstlichen Charakter besaßen, scheint die Polizei weniger aufmerksam den Ausschluss von Frauen betrieben zu haben, obwohl jene lautstarke Teilnehmer auf beiden Seiten waren.84) Die Sozialisten 82 83

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Severing: Lebensweg, Bd. 1, S. 28. Nettmann: Witten, S. 139 f.; Hymnen: Baudert (SD) SBDR 21. März 1906, S. 2190, 2214; Monshausen: Wahlen, S. 230. Giesberts SBDR 21. März 1906, S. 2193; Gesetze: Liebermann v. Sonnenberg: ebd., S. 2186 f. Für Unterbrechungen berüchtigt war der mit dem Dreschflegel herumfuchtelnde Geistliche P. T. Iskraut: Hoffmann, ebd., S. 2214, und Severing: Lebensweg, Bd. 1, S. 27. Baares Schläger, bei einer Versammlung, bei der sie »ausdrücklich nicht Einberufer … waren«: Arnsberg 5 (Bochum) AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 4) DS 292, S. 1079. SD Versuch, 1877 die Nominierung des Z zu beeinflussen: Möllers: Strömungen, S. 294; ihr Eindringen in eine Versammlung des Z 1885: K. Müller: Strömungen, S. 64. Gut hierzu für die Weimarer Republik: Chickering: Mobilisierung, S. 307 ff., 310, 320. SD in Liegnitz: GA Nr. 6, 8. Jan. 1874; in Essen 1877: Paul: Krupp, S. 209 f.; Müller: Strömungen, S. 64 f., 83, 318 f. Oertzen: Stoecker, Bd. 1, S. 240; Braun: Stoecker, S. 157 f., 163 ff.; allgemeiner: Romeyk: Wahlen, S. 68, 133, 216, 225. Zu Stoeckers Beitrag zur Zulassung von Frauen in der Öffentlichkeit: J.-C. Kaiser: Politisierung, S. 254 ff.

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nahmen auch die Christliche Arbeiterbewegung aufs Korn, bis diese, besonders in Essen, lernte, mit gleicher Münze heimzuzahlen. Selbst wenn eine Podiumswahl gegen die Genossen ausging, konnten diese immer noch gewaltige Unruhe stiften, indem sie nur die »Arbeiter-Marseillaise« sangen. Eugen Richter beispielsweise war es bald leid, dass sich die Sozialisten in Sachen der Versammlungsfreiheit ständig als Opfer sahen. Indem sie regelmäßig in die Veranstaltungen seiner Partei eindrangen und dann den Redner übertönten, seien sie »viel schlimmer, als irgendwie die Polizei jemals das Vereins- und Wahlrecht bedroht hat«. Die Sozialdemokraten rümpften daraufhin die Nase, dass in den beanstandeten Fällen »dies jedes Mal dadurch geschehen ist, dass die einladende Partei das sogenannte Präsidium nicht hat wählen lassen wollen, trotzdem sie eine öffentliche Versammlung einberufen hatte.« »Daß aber die Majorität in einer Volksversammlung sich von der Minorität des Herrn Richter terrorisiren lassen soll, das, meine Herren, sehe ich auch nicht ein, daß dies ein Prinzip der Freiheit ist«, äußerte sich Hasenclever. Obwohl die sozialistische Führung gelegentlich die Mitglieder aufrief, fremde Versammlungen nicht zu unterbrechen oder aufzumischen, machte ein Parteimitglied in seinen Memoiren klar, dass solche Interventionen, die er unbekümmert »Schauspiel« nannte, einen beträchtlichen Teil des Spaßes an der Politik ausmachten.85 Dieses Spiel konnte natürlich jeder spielen. Das »Majorisieren« einer gegnerischen Veranstaltung wurde wahrscheinlich bereits 1869 von Berliner Katholiken im Kampf gegen die Fortschrittlichen erfunden. Nur Wochen später setzten es Liberale in Baden gegen die Katholische Volkspartei ein; fast vier Monate später majorisierten die Linksliberalen in Baden die Versammlungen der Nationalliberalen.86 Wie wir gesehen haben, konnte ein Arbeitgeber auf dem Lande Truppen von Pächtern und Stallknechten ebenso leicht zur Übernahme einer »parlamentarischen« Veranstaltung kommandieren, wie er diese zu den Wahllokalen marschieren lassen konnte. Auch die Mitglieder des Bauernverbandes und die Antisemiten liebten es, diese Unterbrechungen herbeizuführen; letztere veranlassten schließlich die Berliner Fortschrittlichen dazu, private Schutzleute (bis zu 200 für eine einzige Veranstaltung) zu engagieren, um ihre Versammlungen unter eigener Kontrolle zu halten.87 1912 gelang es Nationalliberalen mit Rufen: »Wir sind alle konservativ!«, dem Vorsitzender der Konservativen Fraktion selbst – Ernst von Heydebrand, Abgeordneter aus einem der sichersten konservativsten Wahlkreise überhaupt – eine Veranstaltung abzuringen, die 85

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Richter, Hasenclever SBDR 2. April 1878, S. 675, 677 f.; »Schauspiel«: Th. Müller: Geschichte, S. 353; auch 302. Richters Anhänger versuchten, eine Versammlung der NL zu übernehmen: HZV Nr. 4 (4., 6. Jan. 1877) BAB-L R1501/14693, Bl. 13 f. SD Schläger: v. Friesen SBDR 10. Febr. 1888, S. 828 und 10. Jan. 1889, S. 371. »Beschränkungen der Redefreiheit« durch Versagen der Unterstützung bei Stichwahlen bestraft: Frank: Brandenburger, S. 111. Antisemiten: E. Richter: Reichstag, Bd. 2, S. 202 f. Das Klosterstürmen von 1869, in: BK 1871, S. 55 ff.; Auch Moabitisches, in: BK 1871; Das Ei des Kulturkampfes, in: BK 1883, S. 88; Die Post Nr. 425, 20. Aug. 1869; Zangerl: Opening, S. 187. Übernahme einer vom Stahlwerksdirektor einberufenen nationalistischen Wahlveranstaltung durch das Z, und von Veranstaltungen des Z und der SD durch Stumms Leute: Bellot: Hundert Jahre, S. 173, 191. E. Richter: Reichstag, Bd. 2, S. 238 ff. Gutsbesitzer, der siebzig Abhängige in Ossa kommandierte: AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 117, S. 579, 572. Ähnlich in Rochlitz: Sachsen 14, AnlDR (1885/86, 6/II, Bd. 5) DS 117, S. 567, 570 ff.

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von ihrem Organisator zur geschlossenen konservativen Veranstaltung erklärt worden war. Die Reaktion hing vollkommen davon ab, wessen Ochse geschlachtet wurde. Zeitungen, die empört über die Übernahmen der Veranstaltungen der von ihnen favorisierten Parteien berichteten, ließen sich in derselben Ausgabe sarkastisch über das »Märtyrertum« ihrer Gegner aus.88 Während ihrer Blütezeit in den 1890er Jahren nutzte die antisemitische Reformpartei diese Vorgehensweise derart häufig, dass ihre Mitbewerber besonders in den Dresdener Vororten und Teilen Ostsachsens in den Untergrund getrieben wurden. Als ihr Stern dann nach der Jahrhundertwende unterging, war den Reformern jedes Mittel recht, zu verhindern, dass diese Mitbewerber ihnen das Gleiche antaten. Sie tarnten ihre Wahlveranstaltungen mit irreführenden Namen (»Wahlausschuß der vereinigten nationalen Parteien«), sie hörten auf, öffentliche Versammlungen einzuberufen, und verschickten stattdessen Einladungen an Angehörige bestimmter Berufe; sie kündigten in Zeitungsannoncen und an den Türen zu ihren Versammlungsräumen an: »Keine Bureauwahl, Diskussionszeit 15 Minuten«, und selbst: »Nur Wähler der bürgerlichen Parteien werden eingeladen«. Damit glaubten sie eventuell bei Gerichtsverfahren gegen Krawallmacher Hausfriedensbruch geltend zu machen. Aber Versuche, den Zugang dadurch zu beschränken, dass die Teilnehmer eine Einladungskarte vorweisen mussten, konnten immer durch die auserwählten Gäste selbst zunichte gemacht werden, die die Karten an ihre Freunde (oder interessierte Bekannte) weitergaben, und – im Falle der Breslauer Eisenbahnarbeiter – jenen ihre Dienstmützen zur Tarnung liehen. Die Gerichte erwiesen sich gegenüber den Beschwerden der Reformer keineswegs als entgegenkommend. Die Missetäter wurden entweder freigesprochen oder derart mild bestraft, dass ein wütender Reformer sich vornahm, sich nie wieder die Mühe einer Anklage zu machen.89 Manchmal machte die Menge Krawall. Selbst in Deutschland wurden gelegentlich Möbel zerschlagen und Bierkrüge durch die Luft geschleudert. Die Sozialdemokraten vergaßen nie, dass Berliner Fortschrittliche Ferdinand Lassalle einmal ins Gesicht gespuckt hatten. Das Zentrum bekräftigte seine territorialen Ansprüche auf die Eifel, indem es bei einer Veranstaltung der Sozialdemokraten im Freien mit einer Musikkapelle erschien, deren Spielen die Genossen schließ88

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Vergleiche das schadenfrohe: Herr von Heydebrand in seinem Wahlkreis. Das wackelnde Thrönchen der Konservativen, in: BT, 2. Beiheft, Nr. 18 (11. Jan. 1912), das die Übernahme durch die NL beschreibt, mit dem entrüsteten Bericht in derselben Ausgabe über Unterbrechungen einer LL Versammlung durch Landwirte in Plön-Oldenburg: Wie die Konservativen kämpfen. Das Grammophon als Wahlbegleitung. Ein teuerer Spaß. NL und SD übernahmen die Versammlung des Antisemiten W. Bruhns in Arnswalde-Friedeberg: Antisemitische Kampfesformen, in: Nationalliberale Correspondenz 39/1 (3. Jan. 1912), BAB-L R1501/14460, Bl. 141. Andere Beispiele von 1912, von K, NL und SPD: Bertram: Wahlen, S. 200. In den 1880er Jahren mussten sich die SD Sorgen machen, dass Anarchisten ihre Versammlungen übernahmen: Sun: Martyrdom, S. 55, während sie selbst K Wahlversammlungen übernahmen: Th. Müller: Geschichte, S. 302. Von den Antisemiten geschlossene Versammlungen der LL in Sachsen-Meiningen: SBDR 20. Mai 1886, S. 2087. FK zwangen durch anhaltende Hochrufe auf Seine Majestät die Polizei, eine Veranstaltung des Z in Breslau 12 zu schließen: GA Nr. 6, 8. Jan. 1874. Mützen: Th. Müller: Geschichte, S. 353; Liebermann v. Sonnenberg, Raab (RefP), K. Schrader (LL), G. Burckhardt (Christ.Soz.) SBDR 21. März 1906, S. 2187, 2199, auch 2200, 2202, 2205, 2210, 2216 f.

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lich zwang, auf ihrem Rückweg zum Bahnhof Polizeischutz anzufordern. Besonders bei den Wahlveranstaltungen der Antisemiten, vom Hofprediger Stoecker angefangen bis zu einer Reihe schlimmer Gesellen, konnten Handgemenge ausbrechen.90 Aber die Gegenwart des Polizisten trug viel dazu bei, das Chaos auf ein Minimum zu begrenzen. Die Veranstalter mussten diesem einen offiziellen Sitzplatz zuweisen, für gewöhnlich setzten sie ihn auf das Podium, an einen Tisch gleich neben das Präsidium. Selbst nach der Lockerung des preußischen Vereinsgesetzes 1899, und ab 1908 im ganzen Reich (Reichvereinsgesetz), war ein Polizist bei jeder politischen Versammlung anwesend. Weit davon entfernt, die Veranstalter vor feindlichen Übernahmen zu schützen, verhielt sich die Polizei mit äußerst ärgerlicher Neutralität. Ihre Aufgabe war es, für öffentliche Sicherheit und die Einhaltung der Feuerbestimmungen zu sorgen sowie sicherzustellen, dass kein Gesetz durch die Anwesenheit von Frauen, Kindern oder Lehrlingen gebrochen wurde. Alle diese Gründe und eine große Bandbreite anderer Anlässe, über die er eine fast uneingeschränkte Ermessensgewalt hatte, konnten jederzeit dazu führen, dass der Polizist aufstand und die Versammlung für aufgelöst erklärte. Die Menge ging dann unverzüglich auseinander. Die geringe Toleranz der Polizei für unbotmäßiges Verhalten verlieh selbst der kleinsten Minderheit eine enorme Macht – und erweiterte die Definition dessen, was es bedeutete, die Regeln einzuhalten. Denn indem er die geringste Unruhe stiftete, und sei es durch einen drohenden Zwischenruf, konnte ein Eindringling einen nervösen Polizisten veranlassen, die Veranstaltung aufzulösen. Die Variationen dieses Spiels waren nur durch die Phantasie beschränkt. Ein Pastor oder Beamter konnte bei einer sozialdemokratischen Versammlung auftauchen und den Kaiser hochleben lassen – zu dem alleinigen Zweck, die Veranstaltung wegen der strafbaren Handlung der Majestätsbeleidigung aufgelöst zu sehen, wenn die Genossen sich weigerten, aufzustehen.91 Die Arbeiterpartei benutzte eine ähnliche Strategie, ihren zahlreichen Gegnern die Öffentlichkeit streitig zu machen – besonders in den ersten Jahren nach 1878, als die örtlichen Autoritäten (fälschlicherweise) glaubten, dass unter dem neuen Sozialistengesetz die bloße Anwesenheit eines sozialistischen Redners genügte, um eine Veranstaltung illegal zu machen.92 Indem er bei einer Versammlung aufstand 90

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Hasenclever SBDR 2. April 1878, S. 677 f.; Gerichts-Zeitung. Ein Nachspiel zu einer politischen Versammlung, in: BT Nr. 14, 1. Beiblatt, 9. Jan. 1912; Wahlkampf mit Steinen, ebd.; Monshausen: Wahlen, S. 291; GA Nr. 17, 21. Jan. 1871, S. 97; Oertzen: Stoecker, Bd. 1, S. 240. Romeyk: Wahlen, S. 355 f.; Möllers: Strömungen, S. 139. G. Malkewitz (K) klagte, dass mehr als 1.000 Drohungen und Beleidigungen rufende SD zu seinem Haus marschiert seien. PAH 11. Feb. 1909, S. 1982 ff., in GStA PK I. HA, Rep. 90a, AVIII.1.d., Nr. 1/Bd. 9. Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 41, lässt fälschlicherweise durchblicken, dass diese Technik allein gegen SD angewandt wurde. Gegenbeweise: Bramann: Reichstagswahlen, S. 50; Romeyk: Wahlen, S. 291, 355 f.; Rickert SBDR 11. Nov. 1889, S. 228, und SBDR 13. Nov. 1889, S. 280; Reißhaus (SD) SBDR 21. März 1906, S. 2211; Th. Müller: Geschichte, S. 157 f.; E. Richter: Reichstag, Bd. 2, S. 202 f. Auflösung von Versammlungen illegal, nur weil der Sprecher SD war: (zu Kiel:) Schmidt, Liebknecht, Rickert SBDR 8. Jan. 1886, S. 422, 426, 428, 430; zu Schleswig-Holstein 2: Spahn, Rickert, Köller (widersprechend), Liebknecht, Windthorst SBDR 13. Jan. 1886, S. 494, 498 ff., 503 ff. Korrespondenz zwischen MdI und WPK ist aufschlussreich darüber, wie der Reichstag die Regierung überstimmte. Obwohl die WPK eine Wahl in Schleswig-Holstein 2 für gültig erklärte, weil die Mehrheit überwältigend war und die

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und dem Publikum den sozialdemokratischen Kandidaten empfahl, hatte ein Genosse gute Aussichten, den beobachtenden Polizisten auf die Füße zu bringen und damit die Versammlung zu »sprengen«. Für die Sozialdemokraten waren das »Sprengen« einer Versammlung oder deren Dominierung durch ihren Diskussionsredner Meisterleistungen im politischen Kampfsport: die Stärke ihrer Gegner (in erster Linie des Staats, in zweiter Linie einer rivalisierenden Partei) als Waffe gegen diese selbst zu verwenden. Es gab vieles, was die Parteien gegen die Versammlungsgesetze einzuwenden hatten – die Anwesenheit der Polizei, den Ausschluss von Frauen, die Unterschiede zwischen den Ländergesetzen, um nur einige Punkte zu nennen. Aber die Möglichkeit des Publikums zur Übernahme fremder Veranstaltungen war nicht darunter. Die Ansicht der Mehrheit wurde deutlich, als 1906, während im Reichstag mehrere Initiativanträge zur Beseitigung dieser Ausschlussgründe und Vorschriften vorlagen, Liebermann von Sonnenberg einen Antrag einreichte, die Polizei zur Unterstützung bedrängter Veranstalter zu verpflichten. Als damaliges Mitglied der Deutschsozialen Reformpartei, zu der sich die größeren antisemitischen Gruppierungen zusammengeschlossen hatten, wies er auf die kürzliche Nachwahl in Eisenach hin, wo Sozialdemokraten in die geschlossene Wahlveranstaltung der Reformpartei eingedrungen waren und diese nach beträchtlichem Krawall übernommen hatten – aber erst nachdem Türen, Fenster und einige Schädel zu Bruch gegangen waren. Alle Parteien außer den Konservativen reagierten einheitlich mit Verachtung. »Wo in der Welt spielen sich politische Kämpfe ohne den und jenen störenden Zwischenfall ab?«, wollte ein Nationalliberaler wissen. Eduard Bernstein, der stets bereit war, auf seine jahrelangen Erfahrungen in England zu verweisen, erinnerte Liebermann: »Dort haben sich die größten Politiker, wie ein Palmerston, Peel, Disraeli, Gladstone ruhig dem aussetzen müssen, daß sie in öffentlichen Versammlungen mit irgendwelchen Objekten beworfen, daß sie unterbrochen, daß sie niedergeschrieen wurden …«, – wie neuerdings selbst ein Balfour und ein Chamberlain – ohne die Polizei zu rufen. »Es gibt in England überhaupt gar kein Versammlungsgesetz.« Die Streitereien zwischen Lassalle-Anhängern und Fortschrittlichen in Berlin in den 1860er Jahren wurden angeführt, wie auch andere Vorfälle: der erregbare Pfarrer Paul Theodor Iskraut von der Reformpartei mit seinen Dreschflegel schwingenden Bauern in der »Schlacht bei Spenge«; die gewaltsame Übernahme einer Wahlveranstaltung der Reformpartei 1890 in Lörrach in Baden (trotz der Anwesenheit von dreizehn Polizisten) durch Sozialdemokraten; ein Handgemenge zwischen Sozialisten und antisemitischen Bergleuten in Eisleben im gleichen Jahr; die »Sprengung« konkurrierender Versammlungen, die Kandidaten der Reformpartei 1893 in den Dresdener Vororten und später in Thüringen mit der Hilfe von »deutschnationalen Handlungsgehilfen organisiert« hatten; deren Überfall auf den Vortrag des sozialdemokratischen Professors Neißer über Geschlechtskrankheiten in Stettin; die Übernahme einer Wahlveranstaltung in SD nicht die Stichwahl gewann, erklärte der Reichstag sie für ungültig – weil zwei Versammlungen der SD verboten worden waren.

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Geisa, Sachsen-Weimar durch das Zentrum und den BdL 1903; Steine werfende sozialistische Steinmetze bei einer Versammlung der Reform-Partei in Melsungen in Hessen-Nassau (ein Teilnehmer reagierte mit dem Ziehen eines Revolvers); die Behinderungen der »nationalen« Parteien bei einem sozialistischen Wahlkampf im Kreis Meiningen. Die Fähigkeit des Reichstags, sich an jeden einzelnen Wahlaufruhr der letzten Jahre zu erinnern, untermauerte nur Bernsteins Urteil, dass die Tumulte bei den Wahlen im deutschen Kaiserreich »ja außerordentlich winzig und harmlos« gewesen seien. Allgemein – ausgenommen bei den Konservativen – herrschte das Gefühl, dass die Antisemiten bekamen, was sie verdienten – nicht nur, weil deren Verhalten bei Weitem das schlechteste war, sondern auch wegen der hinterhältigen Versuche, die »Öffentlichkeit« von ihren eigenen Versammlungen fernzuhalten. Johannes Giesberts bestand darauf, dass es einfach nicht möglich sei, mit einem Dutzend Polizisten Ordnung in eine aufgebrachte Menge von tausend oder mehr Personen zu bringen. Er sprach für viele, als er argumentierte: »Dann müssen Sie das ganze Lokal mit Polizeibeamten besetzen, und da nehme ich lieber einen kleinen Tumult auf mich …«93

−−− Es wäre in der Tat falsch, die Manipulationen und das Chaos übertrieben zu sehen, die während der Wahlkämpfe auftraten. Bei vielen, vielleicht den meisten Konfrontationen gegnerischer Parteien wurden doch die Umgangsformen gewahrt. Ein britischer Journalist, mit der Berichterstattung über die Wahl von 1903 beauftragt, war nicht nur über zweistündige Reden erstaunt, sondern auch über die absolute Höflichkeit, die sich auch allgemein auf Mitglieder der Opposition erstreckte.94 Dies war weit entfernt nicht nur von den Schlägereien, die früher in England so häufig gewesen waren, sondern auch von der Gewalt – besonders zwischen Tschechen und Deutsch-Österreichern –, die politische Veranstaltungen in Wien im gleichen Jahrzehnt kennzeichnete. Es wäre leicht, diese Unterschiede, wie der Journalist es tat, mit dem Hinweis auf den allgegenwärtigen Polizeibeamten zu erklären. Aber gab es wirklich in Wien eine weniger gründliche polizeiliche Überwachung?95 Waren es wirklich strengere Gesetze, die die deutschen Versammlungen gesitteter ablaufen ließen, oder war es der Respekt, den die Deutschen dem Gesetz entgegenbrachten? Was immer die Gründe waren – wenn auch »absolute Höflichkeit« bei deutschen Wahlveranstaltungen keineswegs garantiert war, so wurden doch die wenigen Festnahmen als peinlich angesehen, als Schande für die verantwortliche Partei. Die Institution des Diskussionsredners und die dazugehörige Annahme, dass 93 94

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SBDR 21. März 1906, S. 2186 ff.; zitiert: Giesberts (S. 2194), A. Patzig (S. 2196), K. E. Sindermann (S. 2206), Burckhardt (S. 2210). The Working, S. 275. Ein »hitziges Gefecht« zwischen LL und SD in Herford-Halle unbeeinträchtigt durch Beleidigungen: Severing: Lebensweg, Bd. 1, S. 28; dreiseitiger Austausch zwischen Christ. Soz. (katholisch), SD und Constantia (Z) in Aachen: Lepper (Hrsg.): Katholizismus, S. 291 ff.; Lepper: Strömungen, Bd. 1, S. 304. Ausnahmen: GA Nr. 6, 8. Jan. 1874, S. 33; Müller: Strömungen, S. 197; Bellot: Hundert Jahre, S. 173, 184, 227; Wahlterrorismus des Zentrums, in: BT Nr. 18, 2. Beiheft, 11. Jan. 1912. Der Vergleich mit Wien ist mein eigener, angeregt durch Boyer: Culture, S. 322 f.

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politische Veranstaltungen kleine Parlamente seien, prägten zutiefst den Charakter der deutschen Wahlkämpfe. Wenn auch bei den auf Mitglieder beschränkten Versammlungen einiger deutscher ultranationalistischer, parapolitischer Randgruppen wie dem Alldeutschen Verband eine bierselige Einstimmigkeit beinahe Vorschrift war, so bildeten diese doch die große Ausnahme.96 Die prinzipielle Vorstellung, dass bei jeder Wahlversammlung, die diese Bezeichnung verdiente, die gesamte »Öffentlichkeit« zugegen sein sollte, statt nur die eigenen Parteigetreuen, macht diese Versammlungen kaum vergleichbar mit dem, was man in den USA unter einer »rally« versteht. Indem man auf den Rechten des Diskussionsredners bestand, legten die Parteien und ihr Publikum ein Bekenntnis ab zu einer Idee, die in vielen Wahlbezirken immer noch eine Fiktion war: der Annahme, dass Wahlen nach dem Abwägen der Argumente beider Seiten durch Individuen stattfänden. Aber diese Annahmen und diese Tradition machten die Wahlkämpfe zu wirklich demokratischen Wettbewerben um die Herzen und Hirne des deutschen Volkes – auch dort, wo die Stimmabgabe selbst noch nicht frei war.97 Um die Wahl selbst frei zu gestalten, genügten weder das traditionelle Verständnis des Gesetzes noch die gängigen Vorstellungen von dem, was die »Öffentlichkeit« ausmachte. Macht war ebenfalls nötig. Freunde, Verwandte, Alterskohorten aller Art – wie wir im nächsten Kapitel sehen werden – sowie insbesondere Vereine und Organisationen waren das »soziale Kapital«, das einem Bürger die Kraft geben konnte, entgegen seinen wirtschaftlichen Interessen zu wählen.98 Aber diese Kraftquellen hatten auch ihre Nachteile. Denn es waren nicht nur die Beschränkungen des Staates und die Forderungen von Respektspersonen, sondern auch, und noch anhaltender, jene seines sozialen Umfelds, die dem deutschen Wähler zu schaffen machten. Die Stärke der Gemeinschaft wirkte auf zweierlei Weise: sie schützte, aber sie erzwang auch Konformität. Diesen Themen werden wir uns nun zuwenden.

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Chickering: We Men, S. 154 ff., 173, 175 f.; Mitglieder: 213; Ähnlichkeiten mit anderen nationalistischen Gesellschaften: 187 f.; Eindringen von Gegnern: S. 161; Randgruppen: S. 110, 135. Z. B. setzten Arbeiter den NL Kandidaten bei der Debatte zur Saarbrücker Nachwahl von 1902 unter Druck, obwohl die Arbeitgeber noch das Wählen der SD verhinderten: Bellot: Hundert Jahre, S. 208. Politische Versammlungen konnten häufig stattfinden und lebhaft sein, selbst wenn die Wahlbeteiligungen niedrig waren, wie 1877 in Potsdam 9 und 10. Frank: Brandenburger, S. 116, 121 f. Die Bedeutung vermittelnder Gruppen für die Demokratie wurde zuerst 1830 von Tocqueville beschrieben: Democracy, aber sie ist auch Gegenstand neuerer Diskussionen. Unter vielen siehe Fish: Democracy, bes. Anm. 31; ders.: Crisis, S. 152. Eine breite Literatur zu »sozialem Kapital« versammelt Putnam: Bowling, und ders.: Making, S. 163 ff. – eine Analyse Italiens. Putnam macht allerdings eine Ausnahme bei solchen Gruppen, die mit der katholischen Kirche verbunden sind, die seiner Meinung nach »zu einer guten Regierung in einem negativen Verhältnis stehen« (S. 175 f) – eine Schlussfolgerung, die auf die Gefahr der Generalisierung eines einzigen Falles hinweist.

Kapitel 10: Zugehörigkeit

A person thinks politically as he is socially. Paul F. Lazarsfeld u. a.: The People’s Choice (1944)*

Konformität Im Juni 1914 verfasste einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller die nachfolgende Beschreibung einer Reichstagswahl, die sich in der fiktiven Stadt Netzig abspielte: Die Entscheidung aber fiel nachmittags um drei. In der Kaiser-Wilhelm-Straße erscholl Alarmgeblase, alles stürzte an die Fenster und unter die Ladentüren, um zu sehen, wo es brenne. Es war der Kriegerverein in Uniform, der herbeimarschierte … Kühnchen, der das Kommando führte, hatte die Pickelhaube wild im Nacken sitzen und schwang auf furchterregende Weise seinen Degen … Am anderen Ende der Straße holte man die neue Fahne ab und empfing sie, bei schmetternder Musik, mit stolzem Hurra. Unabsehbar verlängert durch die Werbungen des Patriotismus erreichte der Zug das Klappsche Lokal! Hier ward in Sektionen eingeschwenkt, und Kühnchen befahl ›Küren‹. Der Wahlvorstand, an seiner Spitze Pastor Zillich, wartete schon, festlich gekleidet, im Hausflur. Kühnchen kommandierte mit Kampfgeschrei: ›Auf, Kameraden, zur Wahl! Wir wählen Fischer!‹ – worauf es vom rechten Flügel ab, unter schmetternder Musik, in das Wahllokal ging. Dem Kriegerverein aber folgte der ganze Zug. Klappsch, der auf so viel Begeisterung nicht vorbereitet war, hatte schon kein Bier mehr. Zuletzt, als die nationale Sache alles abgeworfen zu haben schien, dessen sie fähig war, kam noch, von Hurra empfangen, der Bürgermeister Doktor Scheffel-

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Politisch denkt ein Mensch entsprechend seinem sozialen Sein. Deutsche Ausgabe: Paul F. Lazarsfeld, Bernard Berelson u. Hazel Gaudet: Wahlen und Wähler. Soziologie des Wahlverhaltens. Neuwied u. Berlin 1969, S. 62.

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Teil 3: Grade der Freiheit

weis. Er ließ sich ganz offenkundig den roten Zettel in die Hand drücken, und bei der Rückkehr von der Urne sah man ihn freudig bewegt. 1

Es war Heinrich Mann, der auf diese Weise die Aufgeblasenheit, die gedankenlose Konformität und letztendlich die Scheinheiligkeit des Kleinstadtpatriotismus zur Wahlzeit satirisch darstellte (denn dank eines Kuhhandels im Vorfeld, der nichts mit dem nationalen Wohl, sehr wohl aber mit den wirtschaftlichen Interessen vor Ort zu tun hatte, war die Wahl der Krieger auf Napoleon Fischer gefallen, den Vorsitzenden der SPD in Netzig). Wenn auch wenige Kommentatoren das Vereinsdeutsch, die pompöse Redeweise der deutschen Babbitts in Aktion, derart geschickt einzufangen verstanden, war Mann nur eine Stimme in einem ganzen Chor von Kritikern.2 Seit den 1880er Jahren gab es kaum eine Wahl, die nicht aufgrund der Aktivitäten der Kriegervereine angefochten wurde.3 Im Gegensatz zu einigen der prominenten nationalistischen Organisationen – beispielsweise dem Flottenverein, dem Deutschen Wehrverein, dem Ostmarkenverein oder dem Alldeutschen Verband, deren Mitglieder hauptsächlich dem evangelischen Bildungsbürgertum entstammten – waren die Kriegervereine, die nach dem Sieg über Frankreich 1871 gegründet worden waren, echte Basisorganisationen. Sie standen allen offen, die jemals Militärdienst geleistet hatten, und waren vor allem in den evangelischen Gegenden Nord- und Mitteldeutschlands äußerst beliebt, wo die Ortsgruppen von einem Dutzend bis zu mehr als 100 Mitgliedern zählen konnten. Um 1889 gehörten den verschiedenen Kriegervereinen etwa eine Million Männer an – rund ein Zehntel der Wahlberechtigten. Zwanzig Jahre später hatte sich ihre Mitgliederzahl fast verdoppelt.4 Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gemeinde mit einem Kriegerverein aufwarten konnte, wuchs in umgekehrtem Verhältnis zu deren Größe. Im Königreich Sachsen kam auf fünf Wähler mehr als ein Mitglied. In Preußen war man der Ansicht, »dass ein Bauerndorf ohne Kriegerverein ›einer Katz‹ ohne Schwanz‹ glich«.5 Zu den Privilegien der Krieger gehörte es, Feste zu feiern und ohne Rücksicht auf die Polizeistunde Tanzveranstaltungen zu organisieren sowie bei besonderen Gelegenheiten bewaffnet zu marschieren. Obwohl es ihr erklärtes Ziel war, Vaterlandsliebe zu fördern, genossen sie den wohlverdienten Ruf von »Sauf- und Rauf-Vereinen«. Zugleich 1 2 3

4

5

Mann: Untertan, S. 318 f. Z. B.: L. E. Schücking: Reaktion, ist Der Untertan ohne romanhafte Ausgestaltung. Vereinsdeutsch: Chickering: We Men, S. 155. Z. B. Merseburg 8, AnlDR (1890/91, 8/I, Bd. 3) DS 297, S. 2081; Hessen 8, AnlDR (1912/14, 8/I, Bd. 16) DS 350, S. 289; Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3404. Schücking: Reaktion, S. 92 f. Statistik: K. Zeitz (NL) SBDR 10. Jan. 1889, S. 363 f.; Wolfgang Hartwig: Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, in: GG 16/3 (1990), S. 269 ff.; 271. Die wissenschaftliche Literatur über die Kriegervereine ist zu umfangreich, um sie hier aufzuführen. Innerhalb derselben Kategorie könnte man den Bund Deutscher Militäranwärter nennen, dessen Vorsitzender J. A. Schwier in einem Brief an Bülow vom 15. Jan. 1907 von 40.000 Mitgliedern sprach. BAB-L R1501/14697, Bl. 193. Zahlen errechnet aus Rickert SBDR 10. Jan. 1889, S. 360; Reg.-Bez. Magdeburg: G. Birk: Kriegervereinswesen, S. 266, 271; Zitat S. 272.

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gaben ihre Unterstützungskassen, die Sammlungen zugunsten von Witwen und Waisen, sowie die Gebühren, die sie zur Bezahlung von Beerdigungen erhoben, welche sie mit ihrem kriegerischen Auftreten schmückten, den Mitgliedern das Gefühl einer finanziellen wie auch einer gesellschaftlichen Zugehörigkeit. In den Augen von Kritikern schuf diese Kombination aus wirtschaftlichen Vorteilen, die bei dem Verlust der Mitgliedschaft verloren gingen, und den kaiserlichen Privilegien, die die Regierung jederzeit jedem der Vereine entziehen konnte, die Möglichkeit, politischen Zwang auszuüben. Die Vereine wurden gemeinhin als Wahlmaschinen für jede Partei angesehen, die den Mantel des Nationalismus oder die Gunst ihrer jeweiligen Landesregierung für sich beanspruchen konnte. Ihre Statuten verboten jegliche Diskussion über Religion und Politik, verpflichteten aber die Mitglieder zu Loyalität gegenüber Kaiser und Reich. Konservative und nationalliberale Kräfte zögerten nicht lange, diesen Raum mit ihren eigenen tendenziösen Interpretationen von »unpolitisch« und »loyal« zu besetzen.6 Die Kriegervereine traten besonders bei den Wahlkämpfen von 1887, 1893 und 1907 in Erscheinung, die von Auseinandersetzungen über das Militärbudget beherrscht wurden, einer Angelegenheit, die den Kriegern sicher besonders am Herzen lag. Die Wahlkundgebungen der Landes- oder Kreisverbände begannen üblicherweise mit der Ankündigung, dass der Vorstand den Mitgliedern nicht sagen werde, wem sie ihre Stimme geben sollten (»Das müsst Ihr mit Gott und Euren Soldatenherzen abmachen …«), gingen dann schnell über zur Verpflichtung, zu wählen (»Das Vaterland ruft, das Ihr mit Euren Leibern gedeckt habt und jederzeit wieder zu decken bereit seid«), und endeten mit der Erklärung, es gebe nur eine Möglichkeit, ein Mitglied zu behandeln, das einen Gegner unseres deutschen Vaterlandes unterstütze: »Ihm weist mit Verachten den Rücken!«7 1907, als die Stimmabgabe bereits durch Wahlumschläge und Wahlkabinen geschützt sein sollte, bat eine Vereinsleitung immer noch darum, benachrichtigt zu werden, falls »pflichtvergessene Mitglieder« gegen die Regierung Wahlkampf betrieben, damit sie diese um freiwilliges Ausscheiden bitten könne. Solche Anordnungen erregten jedes Mal Ärgernis, die fortschrittliche Berliner Zeitung nannte die Veteranen »Kriechervereine«. Der Ruf der Krieger, sich fair zu verhalten, verbesserte sich auch nicht gerade durch die Tatsache, dass sie gelegentlich als Streikbrecher engagiert wurden.8 6

7

8

Graf v. Hohenthal und Bergen, Zeitz SBDR 10. Jan. 1889, S. 361, 364. Beschwerden in Kassel 8: W. Schmalz, Schreiner, Datum abgegriffen, BAB-L R1501/14468, Bl. 214; andernorts: anonymer Protest, ebd., Bl. 233. »Kameraden des deutschen Kriegerbundes!« in: Thüringer Ztg 41 (18. Feb. 1887) BAB-L R1501/14664, o. S.; Gen. v. Spitz [?], Vorsitzender des preußischen Landes-Kriegerverbandes, an Bülow, 10. Feb. 1903, BAB-L R1501/14695, Bl. 24 f. Der General sandte Wahlkampfschriften an seine Kollegen in Sachsen, Baden, Hessen, Braunschweig und in zwölf kleineren Staaten mit insgesamt 702.000 Mitgliedern. Der Brief machte in der gesamten Bürokratie die Runde (ich habe neun Unterschriften gezählt), bevor er an den Kaiser ging. Der Reichstag konnte solche Einflussnahme für illegitim halten oder nicht: [Köller:] Ungiltigkeit, S. 17 f. Zu Hessen 5: Hasenclever SBDR 17. Mai 1887, S. 621. Zitiert: Erzberger: Bilder, S. 55 f.; Köller SBDR 20. Mai 1886, S. 2084; Bellot: Hundert Jahre, S. 187

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Ein Abend, an dem man auf die gute alte Zeit beim Kommiss anstieß, förderte zweifellos eine bierselige Nostalgie. Ob diese tatsächlich die Verbreitung nationalistischer, konservativer politischer Haltungen steigerte oder nur die Wirtshausstimmung widerspiegelte, ist schwer auszumachen. Landesweite Wahlanweisungen hatten sich gelegentlich gegen örtliche Veteranenvereine mit eigenen Ansichten durchzusetzen, die linksliberale, Zentrums- oder sogar sozialdemokratische Kandidaten aktiv unterstützten.9 Tatsächlich zeigten in den achtziger Jahren die Wahlergebnisse einiger Dörfer im Herzogtum Braunschweig, dass weniger als ein Drittel der Krieger nicht-sozialistisch gewählt hatten. In Thüringen finden wir ländliche Vereine, die die Verteilung der sozialistischen Stimmzettel übernahmen. Einer von ihnen öffnete sogar seinen Versammlungssaal für den sozialistischen Kandidaten – und schockierte übergeordnete Stellen, indem er das Portrait des Kaisers und des Herzogs während der Dauer der Rede zur Wand drehte. Protestierende Stimmen bestanden darauf, dass diejenigen Ortsverbände, die den Zentralverbänden offen zuwiderhandelten, mit Disziplinarmaßnahmen zu rechnen hätten. Förderte die Kenntnis solcher Möglichkeiten Konformität? Mindestens drei Ortsverbände in Sachsen-Coburg-Gotha, die die Anweisung erhalten hatten, gegen die Sozialdemokraten zu stimmen, entschlossen sich, stattdessen aus dem Dachverband auszutreten.10 Das politische Gewicht der Kriegervereine lag nicht in der Macht und den Privilegien ihrer Zentralorgane, sondern – wie Heinrich Manns Netzig und seine einheitlichen »roten« Stimmzettel zeigten – in der Fähigkeit der Ortsvereine, lokale Konformität zu schaffen und durchzusetzen. Für gewöhnlich geschah dies in Form einer Resolution zugunsten einer einstimmigen Wahl oder in der Übereinkunft, jene auszuschließen, die »falsch« wählten.11 (Die Vereinsführung und die Mitglieder sahen es offenbar als selbstverständlich an, dass die Stimmzettel der Veteranen auf irgendeine Weise erkennbar seien.) »Wir haben gegen die Sozialdemokratie Front gemacht«, gab der Vorsitzende eines Führungskomitees in Hannover zu, der im Wahllokal Stimmzettel verteilt hatte: »Jeder hat seinen freien Willen, aber als ein Sozialdemokrat kann er nicht im Verein bleiben«12 Wie in jeder Organisation war jedoch die Wirksamkeit der Ausschlussdrohung nicht stärker als die Bereitschaft der Mitglieder, diese durchzusetzen. Als in Braunschweig der Vorstand sich anschickte, zwei Männer auszuschließen, die sich zu einem sozialistischen Kandidaten bekannt hatten, stimmten die 700 Mitglieder dagegen mit der Begründung, dass Politik hier nichts zu suchen habe. 9

10 11

12

LL: Thätigkeit, S. 159; Z: Bellot: Hundert Jahre, S. 227; Horn-Bericht, 24. Feb. 1907, LHAK 403/8806, S. 4v; Monshausen: Wahlen, S. 337; SD: ebd., S. 298, 338; Erfurt 1, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 20) DS 1160, S. 2291 ff. Köller SBDR 20. Mai 1886, S. 2082, 2093; Zeitz SBRD 10. Jan. 1889, S. 364 f.; Reinbaben SBDR 20. Mai 1886, S. 2090 f.; Blos: Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 117. F. Sievers, Kleinhändler, SD Protest in Hannover 9, 12. März 1887, BAB-L R1501/14664, Bl. 82: Singer, Traeger, Rickert und Zeitz SBDR 10. Jan. 1889, S. 353 f., 359, 362 f., 368; Auer SBDR 3. Dez. 1890, S. 768. Hierzu Sachsen-Meiningen 1 (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 184, S. 765 f. Verlesen von I. Baumbach (FK) SBDR 3. Dez. 1890, S. 764; markierte Stimmzettel in Hannover 9, AnlDR (1890/91, 8/I, Bd. 1) DS 95, S. 638, 640. Benachrichtigung, dass Stimmzettel »geprüft« würden: Sachsen 13, AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 212, S. 906.

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Die Behörde löste daraufhin den Ortsverein auf und konfiszierte dessen Vermögen von 37.000 bis 40.000 Mark.13 Die Kriegervereine boten nie schwächeren Gruppen effektiven Schutz gegen die Mächtigen; nur selten verteidigten sie das Individuum gegen die Gruppe. Aber sie wurden niemals wirklich von oben kontrolliert. Ihre schärfste Waffe war eine Erklärung, dass jemand »nicht Kamerad« sei, wie ein Wahlaufruf es ausdrückte. Die Sozialdemokraten rieten ihren Anhängern schließlich, nicht ihre Zeit damit zu verschwenden, gegen die Wahlkampfinterventionen der Kriegervereine zu protestieren, außer wenn sie einen Verstoß gegen die Geheimhaltungspflicht nachweisen könnten: »Freie Männer kümmern sich um einen solchen ›Befehl‹ nicht, wer sich aber freiwillig bevormunden lässt und auf seine politische Selbständigkeit verzichtet, dem ist nicht zu helfen.«14 Von einem Genossen in einer deutschen Kleinstadt zu erwarten, dass er den Ausschluss von seinen Kameraden riskiere, verlangte allerdings einen hohen Preis.

−−− Wir würden jedoch die Pointe von Manns Satire verpassen, wenn wir glaubten, dass sie sich auf das nationalistische Milieu beschränkte. Der Marsch der eng geschlossenen Reihen von Netzig (der Name erinnert an Netzwerke, Maschen, und letztendlich Fallen) zur Wahlurne war Manns Metapher für die gesamte Wilhelminische Gesellschaft. Nicht nur der Kuhhandel, der den Anführer der Honoratioren von Netzig, Dr. Scheffelweis, dazu nötigte, einen roten Stimmzettel einzuwerfen, sondern auch der kollektive und unterschwellig zwangsweise Charakter des Wahlakts selbst belastete ein Gemeinwesen, in dem, wie Mann und andere Intellektuelle es sahen, die politische Wahl weder rational noch individuell und definitiv nicht frei war. Das Wählen ist schließlich der Ausweis des modernen Bürgers. Mann konnte sich darauf verlassen, dass seine Leser ähnlichen Druck auf andere Wähler kannten – in katholischen und evangelischen Vereinen, in Handwerkszünften, in Gewerkschaften – und seine Botschaft verstanden, wie weit der im Titel des Buches erscheinende Untertan von einem wahren Bürger entfernt war.15 Dies war eine Welt, in der die Satirezeitschrift der SPD, Der Wahre Jakob, mit der folgenden Annonce, die in einer Braunschweiger Zeitung erschien, einen Heidenspaß haben konnte:

13 14 15

Bock SBDR 20. Mai 1886, S. 2090; Blos: Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 116 f. Ähnliche Verteidigung eines liberalen Schuhmachers in Danzig 3 (1882/83, 5/II, Bd. V) DS 80, S. 348. Wahlaufruf: Sachsen-Meiningen 1, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 184, S. 766; Thätigkeit, S. 160 f. DA 21/24 (14. Juni 1903) S. 398; GA Nr. 6, 8. Jan. 1874, S. 32; [Köller:] Ungiltigkeit, S. 18; Reyscher SBDR 18. April 1871, S. 270. Auf zur Wahl!, Meppen, 28. Juli 1878, im Besitz von Dr. Josef Hamacher, Haselünne.

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Hierdurch erkläre ich die von mir am 21. ds. Mts. abgegebene Stimme für W. Blos (die einzige, welche derselbe hier bekam) für null und nichtig. Ich sage mich frei von jeder Verantwortung und Verpflichtung gegen die Sozialdemokratie, und nachdem ich eine ganz andere Anschauung von der Sache gewonnen habe, trete ich der nationalliberalen Partei bei und gebe meine Stimme nachträglich Herrn Stadtrat Retemeyer. Schandelah, im Februar 1887. Emil Opitz, Leinenhändler 16

Es waren nicht nur die Anhänger der Sozialdemokratie, die sich in einer prekären Lage wähnten. Als ein älterer Einwohner Rostocks Wilhelm II. einen Ausschnitt seiner örtlichen Zeitung zuschickte, von dem er annahm, dass er den »wahren Charakter« der SDP aufdeckte, wollte er seinen eigenen Namen aus der Sache heraushalten: »Majestät! Im Interesse dieser Sendung u. Bericht, ist es wohl gut es geheim zu halten.« Die gesellschaftlichen Strafen für Abweichler brauchten selten explizit genannt zu werden. Als der nichtsnutzige Schwiegervater des Aufsteigers Walter Eickenrot in Ludwig Thomas ätzender Komödie Die Sippe verkündet, dass er endlich eine Arbeit gefunden habe, und zwar bei einer SPD-Zeitung, konnten die Zuschauer über den wütenden Walter sowohl lachen wie auch Mitleid mit ihm haben, denn er sieht sofort die Konsequenzen für seinen Status als Reserveoffizier: »Nu kann ich effektiv die Uniform ausziehen!«17 Voraussetzungen wie diese, das wusste jeder, waren ein Eisberg, von dem die gelegentliche Parade zur Wahlurne nur die sichtbare Spitze bildete. Derartige Prozessionen am Wahltag wurden von jedem politischen Lager abgehalten. Wenn sich die Kolonnen aus Schweißern in Begleitung ihrer Betriebsleiter, aus Stallknechten und Feldarbeitern in Begleitung von Gutsverwaltern und Gutsherren, aus Dorfbewohnern in Begleitung von Ortspolizisten, aus Soldaten und deren Offizieren zusammensetzten, war der Zwang offensichtlich.18 Wenn es sich um Gemeindemitglieder handelte, die ihren Geistlichen hinterherschlenderten, oder um Dorfveteranen, die hinter den Offizieren ihres Kriegervereins marschierten, war deren Ritualisierung und Symbolcharakter offensichtlicher.19 Äußerst ambi16 17 18

19

Blos: Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 154 f. Ähnliche Fälle im Hamburger Echo: Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 162. W. Habermann, Rostock, 20. Dez. 1906, an Wilhelm II., BAB-L R1501/14697, Bl. 138. Ludwig Thoma: Die Sippe, München [1913] 1956, S. 49 f. Bei Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft habe ich unter vielen anderen, die in geschlossenen Reihen zu den Wahlurnen begleitet wurden, folgende gefunden: Steinbruch- und Bergarbeiter in Hannover; Brauer in Mainz und Berlin, Weber in Sachsen; Arbeiter von chemischen und Seidenfabriken in Ludwigshafen; Porzellanarbeiter in Mecklenburg-Strehlitz; Holzfäller in Potsdam 6 und ganz Mittelschlesien; Tonfabrikarbeiter im Erzgebirge; Spiegelfabrikarbeiter in Breslau 10; Bleistiftfabrikarbeiter in Oberfranken; Fabrikarbeiter in Rheinbrol sowie in Magdeburg 6 mehr als 100 Beamte der königlichen Irrenanstalt Colditz; Bergleute sowie Stahl- und Eisenarbeiter im gesamten Ruhrgebiet; Soldaten (die nicht wahlberechtigt waren!) in Liebenswalde. Priester, die Gemeinden anführten: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 147. Hundert marschierende Dörfler:

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valent waren die Prozessionen der Sozialdemokraten. Glaubhafte Berichte aus der sächsischen Hochburg der Partei beklagen sich über Genossen, die Wähler umringten, Stimmzettel verteilten, mit ihnen zur Wahlurne marschierten und sie genau wie Vorgesetzte bewachten, während sie wählten.20 Auch bei Kommunalwahlen führten Gewerkschaften Kolonnen von Arbeitern, die noch mit Ruß bedeckt waren und ihre Grubenlampen trugen, direkt von den Hochöfen und Bergwerken zu den Wahllokalen. Die Arbeiterbrigaden mussten durch Straßen gehen, die von Wachen der Gewerkschaft flankiert waren, welche sie zu den Urnen begleiteten, um ihre Wahl zu überwachen.21 War dies Solidarität oder Zwang?

Gemeinschaft verpflichtet Die Frage ist wichtig, aber unmöglich zu beantworten. Was wir sagen können, ist, dass jede Wahlprozession, unabhängig davon, wer sie organisierte, auf Realitäten und Beziehungen verwies, die der Stimmabgabe am Wahltag vorausgingen und auch danach fortbestanden. Die ungleiche Entwicklung und Ausprägung dieser Beziehungen birgt den Schlüssel zur Erklärung eines der Rätsel in unserer Geschichte der auf Wettbewerb angelegten Wahlen: die vergleichsweise größere Schwäche der Sozialdemokraten, verglichen mit dem Zentrum und der Polenpartei, bei Konfrontationen mit den Feindseligkeiten der Mächtigen. Die Diskrepanz zeigt sich am besten in jenen gemischten Gebieten im sich industrialisierenden Westen, wo Zentrum und Sozialdemokraten mit den gesellschaftlich und wirtschaftlich mächtigen Nationalliberalen konkurrierten und wo beide Nachteile erlitten.22 In Bochum-Gelsenkirchen, einem weitgehend evangelischen Wahlkreis mit Hunderttausenden von Einwohnern, betrug die gesamte Stimmenzahl der ersten sieben Reichstagswahlen für die Sozialdemokraten nicht einmal 4.000. In Saarbrücken, wo zwischen 30 und 40 Prozent der Bevölkerung evangelisch waren, wurde für die Sozialdemokratie in keiner dieser ersten sieben Wahlen auch nur eine einzige Stimme dokumentiert. In Stumms zu gut 40 Prozent evangelischem Ottweiler-St. Wendel-Meisenheim

20

21

22

Oppeln 5, AnlDR (1879, 4/II, Bd. 4) DS 105, S. 647 f. Marschierende Veteranen: A. Schütte (L) Protest gegen Braunschweig 3, 12. März 1887, Bl. 15; Singer SBDR 29. Nov. 1888, S. 64. Mann als historische Quelle: Reinhard Alter: Heinrich Manns Untertan – Prüfstein für die ›Kaiserreich-Debatte‹?, in: GG 17 (1991), S. 370 ff. Physische Bedrohung in Zwickau: Reimer SBDR 10. April 1874, S. 697, und Ortsrichter u. Bezirksvorsteher Eduard Würker, ans RKA, 28. Jan. 1877 und nochmals 22. Aug. 1878, BAB-L R1501/14693, Bl. 21 und 71; in Sachsen 15, SBDR 17. Jan. 1894, S. 691 ff., bes. 692; Ein unhaltbares Verfahren bei Wahlprüfungen, in: Hamburger Nachrichten, 27. März 1914, BAB-L R1501/14653/1, o. S.; W. Löwe-Calbe SBDR 11. April 1874, S. 718; Chemnitz: Göhre: Drei Monate, S. 105 f.; Romeyk: Wahlen, S. 62. Beantwortung von Anfragen. J. B.: Wahlbeeinflussungen bei Gemeindeverordnetenwahlen; Befugnissse des Wahlvorstandes, in: PVB 27/15 (13. Jan. 1906) S. 272. Für NL arbeitende proletarische Schläger 1877: Erfurt 1, AnlDR (1877, 3/I; Bd. 3) DS 113, S. 359; in Hamburg 3: Graf von Arnim-Boytsenburg SBDR 12. März 1878, S. 482. Vergleich Sieg-Mülheim-Wipperfürth (katholisch) mit dem benachbarten (evangelischen) Wiehl: Möllers: Strömungen, S. 180 f., 216; ähnlich: K. Müller: Strömungen, S. 181, 427, Anm. 106.

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waren die Sozialisten bis 1887 gänzlich erfolglos, bekamen 1890 gerade einmal 2.591 Stimmen und verschwanden wieder fast völlig.23 In allen drei Wahlkreisen erreichte das Zentrum erhebliche Stimmenzahlen – genau wie in anderen, die einem ähnlich hohen Druck von Seiten der Arbeitgeber ausgesetzt waren, selbst wo die Katholiken sich in der Minderheit befanden.24 Das Abweichen der Erfolge der drei Außenseiterlager kann nicht völlig der anhaltenden Wirkung des Kulturkampfs zugeschrieben werden. Zweifellos trocknete jener Konflikt die mögliche Unterstützung für die Sozialisten bei den Katholiken der Arbeiterklasse aus, aber warum sollte er ihre evangelischen Kollegen vom sozialistischen Anliegen ferngehalten haben? Die Sozialdemokratie war schließlich mehr als bereit, auch die antikatholische Fahne hochzuhalten.25 Die Verfolgung durch den Staat, die zweifellos schärfer und anhaltender für die Sozialdemokraten ausfiel als für das Zentrum (wenn auch nicht für die Polenpartei), überbrückt die Erklärungslücke nicht vollständig. Das Sozialistengesetz wurde während der zwölf Jahre seiner Gültigkeit nie, oder fast nie, im Kreis Essen angewandt. Selbst nach dem September 1890, als das Gesetz seine Gültigkeit verlor, brauchte die Sozialdemokratie in Essen mehr als ein Jahrzehnt, um sich auszubreiten – ein Versagen, das »umso erstaunlicher« war, schreibt Frank Bajohr, als die strukturellen Voraussetzungen für einen Wahlerfolg dort ideal erschienen.26 Die Wahlen von 1878 in einem Essener Arbeitervorort, wo Alfred Krupp als Kandidat für die »nationale« Sache antrat (NL), bieten einige Hinweise zur Erklärung dieses Unterschieds. In den sieben Wahlbezirken von Altendorf, die von nicht weniger als 339 »Vertrauensmännern« der Krupp-Firma umworben wurden, wohnten ein Drittel der Krupp’schen Stahlarbeiter. Hier war der Kandidat Krupp in der Lage, die Stimmenzahl seines nationalliberalen Vorgängers auf das Siebenfache zu verbessern. Angesichts der gewaltigen Übermacht Krupps fiel die Stimmenzahl für das Zentrum stark ab; die Sozialdemokratie verschwand sogar vollkommen – sie verlor fast 96 Prozent ihres früheren Anteils.27 Bezeich23

24

25 26

27

Molt: Reichstag, S. 186, Anm. 4. In den zwölf hoch industrialisierten Wahlkreisen im Reg.-Bez. Düsseldorf waren in den 1870er und frühen 1880er Jahren die SD nur in Elberfeld-Barmen und Solingen stark; ähnlich im Reg.-Bez. Koblenz: Romeyk: Wahlen, S. 408. SD und Urbanisierung: Ritter: Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich, S. 295 ff. Schloßmacher: Düsseldorf, S. 239. In Dortmund-Hörde, wo 42,6 Prozent der Bevölkerung katholisch waren, unterstützte das Z den LL Lenzmann. Die Tatsache, dass 1890 Schorlemer-Alst (Z) in Hamm-Soest, bei ähnlicher konfessioneller Zusammensetzung, gewann, deutet darauf hin, dass analoge Alliancen eher als erfolgreiche Einschüchterung die Erklärung für das gelegentliche Fehlen des Z in der Wahlstatistik der 1870er und 1880er Jahre sind. Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 162 ff. Contra Rohe, bes. in: Wahlen, und: Konfession. Auch der Status von Neulingen erklärt nicht vollständig die Rückständigkeit der SD: Kutz-Bauer, Arbeiterschaft, S. 126. Bajohr: Krupp. S. 25, 27 (Zitat), 28 f.; Tenfelde: Bergarbeiterschaft, S. 531, Anm. 199. Bereitschaft der SPD, den Kulturkampf selbst am Ende unserer Forschungsperiode weiterzukämpfen: Romeyk: Wahlen, S. 140. Möllers: Strömungen, S. 328 ff.; Paul: Krupp, S. 44 f., 256, 266; Phillips: Reichstags-Wahlen, S. 104. Altendorf war zu 72 Prozent katholisch. Ich nehme an, dass Z-Wähler ausschließlich katholisch und die »nationalen« und SD Wähler größtenteils, wenn auch nicht alle, evangelisch waren. Wir können niemals mit Sicherheit die Entscheidungen von Individuen aus den Statistiken der Bezirkswahlen erschließen (J. Morgan Kousser: Ecological Regression and the Analysis of Past Politics, in: JIH 4/2 [Autumn 1973], S. 237 ff.; Bartolini u. Mair: Identity, S. 21 f.; zu Veränderungen in der Wahlbeteiligung: S. 174). Aber wäh-

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nenderweise verloren die Sozialisten die größte Anzahl von Stimmen in jenen Bezirken, in denen sie die meisten Stimmen zu verlieren hatten. Dies mag logisch erscheinen, aber dasselbe traf nicht auf das Zentrum zu. Stattdessen verlor dies die meisten Wähler in jenen Bezirken, in denen die katholische Partei die wenigsten Anhänger hatte. Anders als bei den Sozialdemokraten wurde dem Zentrum dort nicht viel weggenommen, wo es viele Anhänger hatte. Tab. 2: Vergleich der Wahlen von 1877 und 1878 in Altendorf (63.328 Einwohner)28 Zentrum Stimmen

SPD Stimmen

Nationalliberale Stimmen

% Wahlbeteiligung

Jahr

Bezirk

1877 1878

Frohnhausen

393 382

16 0

17 132

66 80

1877 1878

Holsterhausen

326 344

63 3

9 141

61 75

1877 1878

Altendorf II

424 416

60 8

47 222

63 76

1877 1878

Altendorf I

382 331

65 0

48 230

70 80

1877 1878

Kronenberg II

245 100

164 9

67 456

74 88

1877 1878

Kronenberg I

291 106

222 9

85 530

82 88

1877 1878

HolsterhausenSchederhof

199 102

236 7

67 543

65 85

Da die wirtschaftlichen Bedingungen dieser beiden Wählergruppen gleich gewesen sein dürften, scheinen nicht unterschiedliches wirtschaftliches Kalkül, sondern Unterschiede in der politischen Homogenität die Diskrepanzen im Widerstand gegen die Krupp-Kampagne zu erklären. Die Zahlen legen nahe, dass, sobald eine bestimmte Masse erreicht war, Homogenität zu einem sich selbst verstärkenden Mechanismus wurde. Tatsächlich erkannte Krupp selbst dieses Prinzip an, als er sich erfolglos bemühte, katholische und evangelische Familien in seinen Häuserblocks »alle durcheinander wohnen« zu lassen.29 Eine aktivierte und homogene Nachbarschaft, in Essen wie in Netzig, hatte ihre eigenen

28

29

rend die Anzahl der Wahlberechtigten seit der letzten Wahl genau wie die Quote der Wahlbeteiligung pro Bezirk gestiegen war, ist es nicht glaubhaft, eine derart dramatische Verschiebung der Präferenzen innerhalb eines Jahres mit dem Zuzug oder Wegzug von Wahlberechtigten zu erklären. Quelle: Zahlen ermittelt aus Möllers: Strömungen, S. 329 f., und Paul: Krupp, S. 44 f., 266. Aufgeführt mit abnehmender Stimmenanzahl. Stimmenzahl für Krupp steht in umgekehrtem Verhältnis zur Stimmenzahl des Z. Dieselbe (zunehmende) Reihenfolge kennzeichnet die Stimmenzahl der SPD. Paul: Krupp, S. 168. Wohnmuster und Unabhängigkeit: H. Steffens: Arbeiterwohnverhältnisse, in: Tenfelde u. Volkmann (Hrsg.): Streiks, S. 124 ff.; Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 168 f.

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Mittel, Wahlnormen durchzusetzen, und ihre Sanktionen für Nonkonformismus konnten genauso wenig erstrebenswert wie die des Kanonenkönigs sein. Gemeinschaft verpflichtet. Wie Untersuchungen des Gruppenverhaltens während des Dritten Reichs nahelegen, kann Konformität eine ebenso mächtige Kraft sein wie Autorität. Von wem ist der kleine Mann in einer unsicheren Zeit letztendlich abhängiger – von seinem Arbeitgeber oder seinem Schwager? Von seinem Betrieb oder seiner Nachbarschaft?

−−− Homogenität wird selbstverständlich sozial und kulturell ebenso wie demographisch und räumlich wahrgenommen. Wir haben bereits erfahren, dass es der potentiellen Wählerschaft des Zentrums und der Polenpartei möglich war, sich nicht nur in den Kirchenbänken zu versammeln, sondern innerhalb eines gesellschaftlichen Kosmos außerhalb der Reichweite des Arbeitgebers. Solche sozialen Räume waren gerade in jenen noch jungen Industriegebieten wichtig, wo Werkswohnungen jederzeit durchsucht werden konnten, wo Postbeamte mit den Arbeitgebern bei der Verletzung des Briefgeheimnisses kollaborierten,30 wo Neuankömmlinge weder über ausgedehnte familiäre Bindungen noch über Beziehungen aus der Kindheit verfügten. Wo der soziale Raum durch bewusst evangelische Geselligkeit besetzt war, wie an der Ruhr, wo die evangelischen Kirchen Gebetsgruppen, Freizeitorganisationen und selbst Arbeitervereine organisierten, war es wahrscheinlich, dass sie auf lange Zeit die »nationalen« Kandidaten ihres Arbeitgebers unterstützten. In einigen Gegenden profitierte auch die Sozialdemokratie von kompakten Wohnverhältnissen; auch sie konnte sich auf existierende Freizeitnetzwerke stützen und einen gesellschaftlich-kulturellen Raum in einen politischen umwandeln. In Chemnitz durchdrang der Einfluss der Partei jeden Aspekt des täglichen Lebens. In Hamburg, der Großstadt mit den wenigsten Kirchen im ganzen Reichsgebiet, nahm eine lebendige Arbeitervereinsszene mit Leichtigkeit eine politische Färbung an. Eine Arbeiterbildungsgesellschaft bestand dort bereits seit Jahrzehnten, und schon 1873 wurde in 26 Freizeitvereinen ein LassalleKult betrieben.31 Strukturen wie diese ermöglichten es den schwer bedrängten Anhängern, die Stürme der Feindschaft seitens der Arbeitgeber und polizeilichen Verfolgung zu überdauern. Aber an den meisten Orten mussten die Sozialisten von vorne anfangen. Obwohl die »Proletarierklasse« vom Standpunkt der marxistischen Theorie gesehen eine bereits bestehende Wählerschaft bildete, existierte sie als nennenswerter Anteil der Lohnempfänger kaum in Deutschland, noch weniger als Gemeinschaft und am wenigsten als bewusste Identität.32 Und in den explosiven, 30 31 32

»Kosmos«: Moser: Vereinswesen, S. 452; Romeyk: Wahlen, S. 401. Bajohr: Krupp, S. 24 f. Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 117, 193; Lidtke: Culture, S. 23 ff., 37; Chemnitz: Moore: Injustice, S. 223. Moore: Injustice; Rohe: Introduction: Elections, S. 3.

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mehrsprachigen Ballungsgebieten der Ruhr, wo es keine bestehenden Strukturen plebejischer Geselligkeit gab, ließen die Sozialisten sich Zeit, solche aufzubauen. Das komplexe Vereinsleben, das uns heute als Kennzeichen der SPD erscheint, trat dort in den meisten Orten erst am Ende des 19. Jahrhunderts in Erscheinung. Und zu dieser Zeit war es bereits eine selbstbewusste Massenbewegung, nicht mehr die verfolgte Sekte aus den Katakomben.33 Währenddessen waren die Sozialdemokraten in Orten wie Essen die letzten der gesellschaftlichen Gruppen dieser Stadt, die ihre Botschaft in Vereine einbrachte, welche eine größere, kulturell definierte Gemeinschaft schaffen und mobilisieren konnten. Diese Vernachlässigung mag teilweise den demographischen Besonderheiten der frühen Anhänger der sozialistischen Bewegung geschuldet sein: männlich, gut ausgebildet, alleinstehend und aus allen diesen Gründen überdurchschnittlich mobil. Auf der Höhe ihrer Kraft hatten solche Männer kaum die gesellschaftlichen und Selbsthilfeorganisationen nötig, die die Älteren, die weniger gut Ausgebildeten und die Familienväter suchten – Organisationen, die einen Deckmantel für die politische Rekrutierung wie auch die Mittel zur politischen Disziplin boten. Aber die Vernachlässigung der Geselligkeit erwuchs auch direkt dem eigenen politischen Ethos der Partei. Mobilität, nicht Milieubildung war die von den Aktivisten verbreitete Losung, denn die Veränderung selbst, so wussten sie, verhinderte die Gewohnheit und erweiterte den Horizont.34 Während das Ziel der Zentrumspolitik die Verteidigung des (katholischen) Alltagslebens war, bot sich die Sozialdemokratie geradezu als eine Möglichkeit an, wie Frank Bajohr argumentiert hat, ihre Anhänger von den »Fesseln« des Alltags zu emanzipieren. Während die Wahl des Zentrums (zumindest) eine Bestätigung der Gruppenidentität war, artikulierte sich die Wahl der Sozialisten in den frühen Jahrzehnten als ein Ausdruck individueller Selbstbestimmung. Nicht bloße Geselligkeit, sondern das »Soziale« selbst, wie es die Deutschen verstanden (d. h. als praktisches Interesse an den vielen verschiedenen Problemen der Armen), nahm beim größten Teil der Führung nur eine nachgeordnete Priorität ein. Die Sozialdemokratie an der Basis bedeutete weniger eine Agenda zur Behebung der elementaren Probleme der eigenen Genossen, als man vermuten möchte, sondern vielmehr der Wille des Einzelnen zur Autonomie, Kultur und Selbstachtung. Diese Ziele scheinen, zumindest zu Beginn, in ihrem Ausdruck besonders »unsozial« gewesen zu sein. So zeichnete geistige Erhebung und nicht unschuldige Geselligkeit die Person des überzeugten Sozialdemokraten aus. »Bildung«, »Geistesbedürfnisse«, die Verantwortung der »Kulturvölker« waren ebenso zentrale Bestandteile des sozialdemokratischen politischen Wortschatzes wie des liberalen. Nur dann, wenn sich sozialistische Freizeitgestaltung in Möglichkeiten zur Weiterbildung – in Abstinenzler-, Freidenker-, Bibliotheks- und Theatervereine, in Turnvereine für Gymnasten, Radfahrer und Wanderer umwandeln ließ, blühte die Geselligkeit der Partei weit auf, und in einigen Gegenden brauchte diese Transforma33 34

Ausgezeichnet: Lidtke: Culture, bes. Kap. 1 u. 7; Guttsman: Party, S. 174 ff. Schönhoven: Selbsthilfe, S. 166 f.; Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 126, 134; Oppen: Reform, S. 11.

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tion mehrere Jahrzehnte. Selbst dann wurden diese Vereine oft von Aktivisten als »Klimbim-Vereine« abgetan – sie waren lediglich Ablenkung vom Klassenkampf.35 Die Vorherrschaft der Politik innerhalb der sozialdemokratischen Mission wie auch deren überwältigende Orientierung an der Erfahrung von Lohnempfängern bestärkten ihren Charakter als Männerbewegung. Dies mag es – trotz aller Bemühungen der Partei um die Emanzipation von Frauen wie Männern – der Sozialdemokratie anfangs schwer gemacht haben, in der häuslichen privaten Sphäre Fuß zu fassen. Erst sehr spät erkannten die Genossen, dass Parteien nicht nur aus einem Milieu erwachsen, sondern dieses auch selber prägen und umformen. Dieses Defizit trägt zur Erklärung bei, warum die Sozialdemokratie, die nur im Mut von Einzelpersonen verankert war, an vielen Orten lange eine diffuse soziale Protestbewegung blieb, die unfähig war, die Intervention starker Arbeitgeber zu überleben – und ebenso unfähig, einen eigenen erfolgreichen Angriff vorzunehmen.36 Bevor sie ihre Wähler in Kolonnen zu den Wahlurnen führen konnte, musste die Sozialdemokratie zuerst die Eigenschaften nicht nur einer Partie, sondern einer Gemeinschaft annehmen.

Ausstoß Wenn Verwandte, Freunde und Vereine aller Art zu den Ressourcen gehörten, die – zusammen mit hohen Beschäftigungsraten und kulturellen Bräuchen, die in geschriebenen und ungeschriebenen Regeln festgelegt waren – den bedrängten Bürger in die Lage versetzten, »unökonomisch« zu wählen, so konnten Verwandte, Freunde und Vereine – wir wollen sie vorurteilslos die »Gemeinschaft« nennen – ebenso leicht, und sogar gleichzeitig, die Wahlmöglichkeiten eines Wählers beschränken. Der Beitrag der Gemeinschaften zu freien Wahlen lag nicht in den Erfahrungen von Individuen als Individuen, sondern in der Ermöglichung des Wettbewerbs zwischen Gruppen. Denn hier zeigt sich das Paradox von Heinrich Manns Netzig am Wahltag: geschlossene Reihen sehr respektabler Bürger, die – durch ihre Zugehörigkeit – frei waren, den sozialdemokratischen Reichsfeind zu wählen. Ermächtigung und Beschränkung waren die zwei Seiten der Sicherheit, die in der Menge lag, und der Vertrautheit, die mit der Zugehörigkeit entstand. Zu einer Gemeinschaft zu gehören bringt eigene Verletzlichkeiten mit sich. Sobald politische Themen für wichtig erachtet wurden, mussten Abweichler immer mit Ächtung rechnen. In den ländlichen und kleinstädtischen deutschen Gemeinden konnten die persönlichen Konsequenzen mindestens ebenso schmerz35

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Überzeugend dargestellt von Bajohr: Krupp, S. 27, 33 ff. (Zitat »Fessel« S. 35), unterstützt durch Lidtke: Kultur, S. 175; Guttsman: Party, S. 210, sowie die Autobiographie von Moritz Bromme, in: Kelly (Hrsg.): Worker, und übereinstimmend mit Saldern: Wege. Rohe: Introduction: Elections, S. 11 f., 14. Man muss sich natürlich vor Verallgemeinerungen hüten. Gewerkschaften und Handwerksvereine wurden immer gefördert. Lepper: Strömungen, Bd. 1, S. 152 ff. Ein analoges Missfallen daran, sich auf das Milieu zu verlassen, wurde gelegentlich – mit erstaunlich wenig Selbsterkenntnis – von den Liberalen geäußert. Zum 3. März, in: GA Nr. 53, 3. März 1871, S. 439.

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lich wie der Verlust der Arbeit, der Wohnung oder der Waldstreu sein. Während des Kulturkampfs berichtete die Ostseezeitung, dass in der Stadt Kosten in der Provinz Posen »kein Kaufmann, selbst nicht ein evangelischer oder jüdischer, es wagt, dem staatstreuen Pfarrer irgend etwas zu verkaufen oder ihm öffentlich freundlich zu begegnen«. In Prüm ließ 1907 ein Pastor verlauten, ein Mitbruder, »der nicht für das Zentrum eintrete … sei nicht wert, dass ihn die Sonne bescheine« – worauf selbst Schweigen kompromittierend wirkte.37 Konservative Ortsgruppen des Bundes der Landwirte waren dafür bekannt, dass sie nicht nur Liberale ausschlossen, sondern mit Hilfe von Pressekampagnen auch Landräte zu Ausgeschlossenen machten, die sich weigerten, während der Wahlzeit alle Mittel des Staats in vollem Umfang zugunsten der Landwirte auszuschöpfen. Obwohl ein Opfer wegen übler Nachrede klagen – und gewinnen – konnte, wie beispielsweise der Landrat von Flensburg, verlor der Betreffende örtlich jede Handlungsfähigkeit. Der Leser mag sich an den unglücklichen Landrat des Kreises Birnbaum aus Kapitel 6 erinnern: Vom Bund der Landwirte vernichtend kritisiert und wegen seiner angeblichen politischen Defizite zum Duell herausgefordert, verweigerte er (als Beamter) pflichtgemäß die Satisfaktion – und beging Selbstmord.38 Wie exemplarische Entlassungen brauchte die Ächtung nicht jeden »Schuldigen« zu treffen, um wirksam zu sein. Für gewöhnlich genügte ein ausreichend publiziertes Beispiel. Auf diese Weise konnte das gleiche Gefühl der Identität, das »unökonomisches« Wählen ermöglichte, dieses auch erzwingen.39 Während in Lublinitz-Tost-Gleiwitz Gendarmen und Kreisbeamte den verarmten Wählern die schlagenden Vorzüge des freikonservativen Herzogs von Ujest klarzumachen suchten, stigmatisierte ein Korrespondent des polnischsprachigen Katolik all jene, die es wagen sollten, für den Fürsten zu stimmen, als »wahrhafte Judasse«, die bereit seien, das einfache Volk »zu verkaufen«. Der Herausgeber fügte die Bitte an seine Leser hinzu, die Namen der »Verräther … der Redaktion zu melden, welche ohne Gnade Jedem vergelten wird, was er verdient.«40 Führt man sich vor Augen, wie unbedeutend die Macht der Presse in einem ländlichen Bezirk erschienen sein muss, wo der Standartenträger der anderen Seite Herr über mehr als 40.000 Hektar war, erstaunt es nicht, dass der Reichstag lachte, als diese Zeilen verlesen wurden. Aber die Ächtungsdrohung, besonders wenn von Verrat und Judas die Rede war, wirkte stark. Und sie ermutigte Wähler, die Wahl nicht als eine Entscheidung über Abgeordnete oder als eine Debatte über Politik anzusehen, sondern als einen Krieg zwischen verfeindeten Gemeinschaften.

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Zitiert: Rust: Reichskanzler, S. 721; (ähnlich in Elsass-Lothringen 1907: Hiery: Reichstagswahlen, S. 420); und Definitor Schmitt aus Prüm, Horn-Bericht, 24. Feb. 1907, LHAK 403/8806, S. 4. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 83 ff. Jakob Neureiter, der berühmte Pastor von Marpingen, verspottete Gemeindemitglieder, die den Anordnungen ihres (NL) Arbeitgebers nachkamen: Trier 6, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 323, S. 1329. Verlesen von Albrecht, SBDR 5. April 1871, S. 184. Die ungeheuerlichen Druckmittel des Herzogs: AnlDR (1874/75, 2/II, Bd. 4) DS 176, S. 1122–1137; SBDR 21. Jan. 1875, S. 1153–1171; AnlDR (1875/76, 2/III, Bd. 3) DS 195, S. 722; AnlDR (1876, 2/IV, Bd. 3) DS 72, S. 665; SBDR 26. Dez. 1876, S. 844 f.; Mazura: Entwicklung, S. 99 f., 107.

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Selbst gegen die Hochwohlgeborenen erwies sich die Drohung der Ausgrenzung als wirksam. Die Furcht vor Ächtung war der Grund dafür, dass sich die Erklärung der rheinischen Adligen von 1887 zugunsten des Septennats bei der Wahl als vollkommen wertlos für die Regierung erwies – die diese zweifellos als Waffe gegen das Zentrum vorgesehen hatte. Kaum war die Erklärung veröffentlicht, da verkündete Franz Graf von Spee-Heltorf, dass er es für seine »Pflicht« halte, »aus bestimmten Gründen« seine Unterschrift zurückzuziehen. Zwei weitere Unterzeichner folgten ihm auf dem Fuß. Schließlich zog sich selbst der Kandidat der »Septennatskatholiken«, Landrat von Fürstenberg, aus dem Rennen gegen das Zentrum zurück – und machte damit jene evangelischen Nationalgesinnten wütend, die man gezwungen hatte, ihn öffentlich zu unterstützen. Die Kraft der Gemeinschaft gegen die Mächtigen ließ sich am besten in Oberschlesien beobachten, als die katholische Presse den offenen Drohungen der Gutsund Bergwerksbesitzer gegen die Wähler des Zentrums dadurch begegnete, dass sie diese öffentlich bloßstellten. Solche Bemühungen waren es zweifellos, die das Zentrum in die Lagen versetzten, bereits 1890 jeden der neun Oppelner Wahlkreise bis auf einen einzunehmen.41 Auch die Hochwohlgeborenen mussten schließlich in der Nachbarschaft leben.

−−− Ächtung und das, was die Zeitgenossen »Wahlterror« nannten, waren Etappen in einer ununterbrochenen Folge kommunaler Druckmittel. Das vieldeutige Wort »Terror« kann alles meinen, von der Einschüchterung der von ihm Abhängigen durch einen Arbeitgeber bis zur Manipulation der öffentlichen Meinung durch die Regierung.42 Der Ausdruck wurde zur Bezeichnung (und De-Legitimierung) der Macht der Streikenden über jene, die arbeiten wollten, benutzt; für den Druck von Pastoren auf ihren Bischof, für die Macht der Organisierten über die Nicht-Organisierten; für den Druck der Mehrheit auf die Minderheit (und der Minderheit auf die Mehrheit!); von Parteien auf das Wahlvolk; von einem Parteiflügel auf einen anderen. Wenn wir den Ausdruck bei jeder Begegnung wörtlich nehmen wollten, müssten wir zu dem Schluss kommen, dass große Teile der deutschen Bevölkerung unter ständiger Furcht litten. Aber in Wirklichkeit bezog sich »Terrorismus« auf jede Handlung – ob gesellschaftlich,

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Müller: Strömungen, S. 243, 254; GA Nr. 188, 13. Aug. 1871, S. 1682; Below: Wahlrecht, S. 154; Mazura: Entwicklung, S. 55. Die kassierte Wahl in Stendhalt-Osterburg, in: SaaleZ, 27. März 1914, und Nationalliberale Correspondenz 108 (28. Mai 1914), beide in BAB-L R1501/14653/1, o. S.; »Werksterroristen« an der Ruhr: zitiert von H.-O. Hemmer: Bergarbeiterbewegung, S. 99; Saldern: Wege, S. 59; Ein Saarabisches Wahlbild, in: Saar-Post 20 (25. Jan. 1912); AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3610. »Amtlicher Terrorismus« beschrieb eine Warnung der Regierung vor einer Zeitung, die ein Wahlgedicht aus dem Kladderadatsch abdruckte: Sachsen 17 (1882/83, 5/II, Bd. 5) DS 154, S. 522; eine »Richtigstellung« des sächsischen MdI in einer Zeitung veranlasste Ed. Bauer, Schriftsetzer, u. a. zu einem Protest gegen diesen »geradezu terroristischen Druck«: Sachsen 13, AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 212, S. 907.

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religiös, wirtschaftlich, physisch oder rituell –, die auf ein bestimmtes politisches Ergebnis abzielte.43 Wo immer deren Infrastruktur mit Hilfe von Vereinen weit entwickelt war, wurde »Terrorismus« mit der Sozialdemokratie assoziiert.44 »Das ist fast in allen sächsischen Wahlkreisen vorgekommen, wo überhaupt Arbeiterkandidaten aufgestellt sind«, räumte 1871 ein Sprecher der Partei ein: dass nämlich Genossen den Wählern Stimmzettel aus den Händen gerissen und ihnen sozialdemokratische aufgedrängt hatten. Aber er tat es mit einem Achselzucken ab: »Wer sich nicht einen anderen Wahlzettel anstatt des abgenommenen zu verschaffen weiß … der verdient überhaupt nicht zur Wahl zu kommen.«45 Mit zunehmendem Einfluss jedoch gingen die Sozialisten über Drohungen, Überwachung und Raufereien hinaus. Die Konservativen glaubten, dass die Verpflichtungen, die die Arbeiter der SPD gegenüber eingingen, als Versicherungsprämien für die Aufrechterhaltung ihres Arbeitsplatzes gesehen wurden. Sie wussten, »wenn sie sich nicht über ›reine Wäsche‹ ausweisen können, wie der bezeichnende Ausdruck lautet, so werden sie überall, wo zielbewusste ›Genossen‹ die Situation beherrschen, einfach aus der Arbeit gedrängt«.46 Der »Terrorismus« der SPD setzte die Solidarität nicht nur mit anderen Arbeitern durch, sondern schließlich auch mit solchen Leuten, die außerhalb der eigenen »Klasse« standen. Als die Honoratioren aus Manns Netzig zu den Wahlurnen marschierten, um für Napoleon Fischer zu stimmen, den autokratischen Chef der örtlichen SPD, reagierten sie, zumindest teilweise, auf Fischers glaubhafte Drohung, ihre Firmen zu boykottieren. Wie selten solch ein Ereignis 1893 auch gewesen sein mag, als die fiktive Wahl stattfand, so war doch zur Zeit, als Mann diesen Abschnitt schrieb, die Waffe des Boykotts, wie wir sehen werden, bereits fester Bestandteil der deutschen Wahlszene geworden – und als solcher untrennbar (wenn auch nicht ausschließlich) mit der inzwischen zu Respekt nötigenden SPD geworden.47 43

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Terror durch Streikende: MK 34 (26. August 1871), S. 270; W. Schwarze (Z) SBDR 18. Feb. 1903, S. 7993; durch Priester gegen Bischöfe: Das Wahlrecht der Geistlichen, S. 71; durch die Elsässische Presse gegen Elsässische Honoratioren: Manteuffel an Wilhelm I., Straßburg, 3. Nov. 1884, GStA PK I. HA, Rep. 89/211, Bl. 36v; von Laien gegen Theologen: anonym: Zum Katholikentag 1905, in: DZJ 5/35 (28. Aug. 1905), S. 409 ff.; von der »ultraliberale[n] Majorität der Stadtverordneten-Versammlung [von ElberfeldBarmen]« gegen die »bürgerlichen Kreise«: in: Wahlaussichten für die Rhein-Provinz, GStA PK I. HA, Rep. 89/210, Bl. 230v; durch Minderheit im K Wahlkomitee von Danzig I: Rickert SBDR 9. April 1886, S. 2017; durch Parteiführer gegen »den einfachen Wähler«: J. Pfeiffer an Wilheln II., 1. März 1903, BABL R1501/14695, Bl. 97; durch Hessens Junge Liberale gegen einen NL Grafen und Baron: Freiherr von Saß: Jungliberaler Terrorismus, in: DA XXVII/41 (10. Okt. 1909) S. 515 f.; durch das Zentrum gegen den schlesischen Adel: Leugers-Scherzberg: Porsch, S. 75; durch Z Landwirte gegen Z Arbeiter: Nipperdey: Organisation, S. 280. W. Frankenburger (F) SBDR 10. April 1878, S. 875; BAB-L R1501/14450, Bl. 96; v. Friesen SBDR 10. Jan. 1889, S. 371; Göhre: Drei Monate, S. 105 f.; Nebe: Grenzboten, 5. Dez. 1907, zitiert in Below: Wahlrecht, S, 156, Anm. 158. Schraps (Sächs. VP) SBDR 17. April 1871, S. 244 ff. Zur Sicherung des Wahlgeheimnisses, in: Die Post (24. März 1903) BAB-L R1501/14456, Bl. 101 f.; v. Oertzen (K), SBDR 17. Nov. 1906, S. 3698. Sachsen 15, SBDR 17. Jan. 1894, S. 691 ff.; EL 10, AnlDR (1905/06, 11/II, Bd. VI) DS 483, S. 4741; Gegenprotest Eduard v. Flottwell, Kapitän a. D., Sachsen 14, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 718, S. 932 f.

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Boykott Ausstoß ist eine Waffe, die nur in Gemeinden wirkt, wo man sich persönlich kennt: in einem Verein, einem Dorf, einem aristokratischen Netzwerk, einer städtischen Nachbarschaft. Je größer und amorpher die Gruppe ist, desto schwieriger ist es, Ausgrenzung durchzusetzen, und desto einfacher ist es für das Opfer, der Strafe zu entgehen. Andererseits benötigt der Boykott definitiv eine größere Arena, denn die Boykottierenden selbst brauchen alternative Versorgungsmöglichkeiten. Und weil er eine einzelne Beziehung betrifft, die wirtschaftliche, lässt sich ein Boykott besonders in bevölkerungsreichen, pluralistischen, städtischen Gesellschaften organisieren, wo Ächtung sich unmöglich in einem größeren, wirksamen Maßstab durchsetzen ließe. Zwischen Ächtung und politischem Boykott besteht noch ein anderer wichtiger Unterschied. Ächtung ist die Kehrseite der Solidarität. Ihr Ziel ist nicht der Gegner, sondern der strauchelnde Freund. Per definitionem kann sie sich nur gegen jemanden richten, der sich selbst als der Gemeinschaft zugehörig fühlt, aus der er exkommuniziert wird. Sein Ausstoß ist daher in beträchtlichem Ausmaß subjektiv definiert. Der Boykott hingegen richtet sich gegen den Außenseiter statt: jemanden, der nicht zur Klasse oder zum Milieu gehört. In den Augen der Allgemeinheit erscheint das Übel umso größer, weil ein Boykott anscheinend jeden treffen kann. Sozialistische Wahlaufrufe wiesen gelegentlich darauf hin, dass man eine Waffe gegen die Entlassungsdrohungen besäße: »Die Wahl ist frei und geheim! … Sollte man Euch gar mit Entlassung aus der Arbeit bedrohen oder mit anderen Nachtheilen, so theilt uns dies mit. Wir werden dann für die Bestrafung der Schuldigen sorgen«48, kündigte ein Braunschweiger Aufruf an. Der Boykott »ermöglichte« nicht als solcher unökonomisches Wählen bei sonst machtlosen Bürgern, sondern er erlaubte ihnen, das wirtschaftliche Kalkül zur Waffe gegen Widersacher zu machen. Für den kleinen Ladenbesitzer war schließlich selbst der kleine Kunde ein Brotherr. Die Deutschen waren bei Weitem nicht die Einzigen, die den Boykott zu Wahlzwecken nutzten. Der »ausschließliche Handel« mit Geschäften, die die eigene Überzeugung hegten, war in England unter Peel eine politische Verpflichtung, die sowohl von Blackwood’s Magazine als auch von der Quarterly Review gutgeheißen wurde. In Birmingham konnten Geschäftsleute, die konservativ wählten, Kreidekreuze an ihren Türen finden, die liberale Kunden warnen sollten, hier nichts zu kaufen. In Stockport hallte der Marktplatz wider von den Rufen: »Cobden-Rindfleisch, Cobden-Kartoffeln«, von Standbesitzern, die ihren Kunden versichern wollten, dass sie auf der Seite des Volks standen.49 Die meisten englischen Beispiele kommen jedoch aus einer Zeit, als das Wahlrecht ein Privileg war und die Stimmen mündlich abgegeben wurden, nicht per Stimmzet48 49

Zitiert in Steinbach: Zähmung, Bd. 2, S. 683. Hervorhebung im Original. Seymour: Reform, S. 187; Gash: Politics, S. 137; allgemeine Verbreitung des Phänomens: S. 175.

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tel. Im deutschen Kaiserreich, wo jeder Mann zählte, wo die Grenzen zwischen den Gruppen schärfer und die Ansprüche auf Gegenseitigkeit weniger grundsätzlich waren, scheint der Boykott als größeres Vergehen gegen den Wahlakt wahrgenommen worden zu sein. Es ist für den Historiker sicherlich schwieriger, das Mittel als ein bloßes Beispiel seltsamer Wahlfolklore zu betrachten. Boykotte waren nie das exklusive Mittel der Sozialdemokraten. Aachens katholische Arbeiterbewegung nutzte die Drohung ausschließlichen Handels gegen ihre bürgerlichen Konfessionsbrüder im Zentrumswahlverein Constantia.50 Mehr als dreißig Jahre später rächten sich katholische Bauern in Teilen von Straßburg Land für den Sieg des freikonservativen Fürsten Alexander zu Hohenlohe, indem sie Ladenbesitzer boykottierten und sich weigerten, Milch an Juden zu verkaufen (mit den Rufen: »Nieder mit Hohenlohe! Nieder mit Protestanten und Juden!«)51 Konservative und Liberale griffen ebenfalls zum Mittel des Boykotts.52 Das Mittel wurde auch eng mit dem Bund der Landwirte assoziiert, der nicht nur einzelne Geschäftsleute ausschloss, sondern in einem Fall eine gesamte Stadt, als Rache für die linksliberale Reichstagskandidatur ihres Bürgermeisters, mit einem Verbot belegte. Gewann man mit diesen Mitteln Wahlen? Trotz aller Schwächen der geheimen Wahl waren die Landwirte nicht wirklich in der Lage, die Wähler außerhalb ihrer Gemeinden zu überwachen; und ob die meisten Mitglieder des BdL bereit waren, ihre eigene Bequemlichkeit, die auch ein Wirtschaftsfaktor war, der Politik zu opfern, darf bezweifelt werden. Dennoch konnte die Boykottdrohung einen Kandidaten zum Rücktritt zwingen – wie 1912 den nationalliberalen Bankdirektor Dr. August Weber angesichts konservativen Drucks von seiner Wahlkampagne für den 2. sächsischen Wahlkreis – mit dem Ergebnis, dass die SPD die Wahl gewann. Am verletzlichsten durch wirtschaftliche Sanktionen seiner Kunden war der Gastwirt, denn sein Beruf brachte ihn in direkte Verbindung zur Wahlkampagne. Einerseits bedeutete die Vermietung seines Saals an eine Partei unverhoffte Profite am Ende eines langen Abends durstig machender Volksreden. Andererseits konnten zusätzlich zu der Vielzahl von Geldbußen, die einem unvorsichtigen Wirt von den örtlichen Ämtern drohten, die Gegner einer Partei – der Kriegerverein und der Bund der Landwirte beispielsweise – zurückschlagen, indem sie ihren jährlichen Ball absagten.53 Besonders heikel war das Thema der Stamm50 51

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Lepper (Hrsg.): Katholizismus, S. 265; und zur Verteidigung von Priestern: Lepper: Strömungen, Bd. 1, S. 335. D.V.C.: Das Zentrum in Lothringen, in: DNJ I/22 (30. Mai 1909); Ein Stimmungsbildchen, in: DNJ III/24 (11. Juni 1911) S. 283 f.; EL 10, AnlDR (1905/06, 11/II, Bd. VI) DS 483, S. 4736; Hiery: Reichstagswahlen, S. 328 (Zitat). Die eskalierenden Folgen gegenseitigen Boykotts (unabhängig von Wahlen) zwischen Juden und Nichtjuden in Bretten, Baden (4.786 Einwohner),veranlasst durch die Gründung eines antisemitischen Deutschsozialen Vereins durch zwei Brettener Honoratioren: Smith: Alltag, S. 291 ff. 1878 drängte die SVZ zu einem antijüdischen Boykott im Zuge einer massiven antisemitischen Kampagne – anscheinend als Teil des Versuchs ihres Redakteurs, eines der Breslauer Mandate zu gewinnen, das von einem Juden gehalten wurde. Müller: Kampf, S. 128 ff., 200. Geh. Justizrat Diefenbach: Der reichsländliche Gerichtshof zur Prüfung der Gültigkeit von Wahlen, in: BT (5. März 1914). Morgenblatt, BAB-L R1501/14653, o. S. Bertram: Wahlen, S. 201 f.; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 83 f.; Monshausen: Wahlen, S. 281.

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tische – jener Gruppen regelmäßiger Gäste, deren Tisch zum Mittagessen, zum Kartenspielen und für Vereinstreffen reserviert war; deren Aufzeichnungen und Ausrüstung im Gasthaus aufbewahrt wurden und von deren Kundschaft der Wirt das ganze Jahr über profitierte. Die Voraussetzung dieser Institution war gegenseitige Loyalität: der Stammtischrunde zu ihrem »Tisch«, des Wirts zu seinen Stammgästen. Wenn ein Gastwirt die Gefühle seines Stammtischs zugunsten der Kundschaft von »Außenseitern« verletzte, rechtfertigte dies, zumindest in den Augen des Fortschrittlichen Eugen Richter, die schärfste Reaktion.54 Den größten Nachteil von dem Druck auf Gastwirte hatten, zumindest anfänglich, die Sozialdemokraten, denen es folglich stellenweise unmöglich war, in neue Gebiete vorzudringen. In ihren eigenen Milieus jedoch bildete der Boykott eine Notwehrwaffe gegen ängstliche Wirte, die andernfalls, besonders während der Dauer des Sozialistengesetzes, nur widerwillig ihre Säle an sie vermietet hätten. In ihren eigenen Lokalen, wo ihre eigenen Zeitungen und Zeitschriften ausgehängt waren, waren die Sozis selbst Stammgäste, mit allem Gewicht, das dies mit sich brachte.55 Abwägungen, mit denen zuerst die Gastwirte konfrontiert waren, gehörten bald auch in die politischen Kassenbücher anderer Geschäftsleute eingetragen. Der junge Seminarist Paul Göhre, der als einfacher Arbeiter in eine Chemnitzer Fabrik gegangen war, um dort zu erfahren, wie die andere Hälfte der Gesellschaft lebte, bemerkte 1890: »Dieser Geschäftssozialismus ist wohl in allen solchen Industriezentren weiter verbreitet, als man glaubt; er ist das Eigentum der allerverschiedensten zahlreichen Geschäftsleute.« Zur Jahrhundertwende war die Überzeugung weit verbreitet, dass die Sozialdemokratie einen Großteil ihrer Stärke dem wirtschaftlichen Kalkül der Ladenbesitzer und Handwerker sowie auch der Arbeiter selbst verdankte. Geschichten von sozialistischen Blockwarten machten die Runde, die verlangten, dass Kaufleute den Vorwärts abonnierten, sonst würden sie boykottiert, und zur Wahlzeit mit dem »Klingelbeutel« herumgingen und Beiträge erpressten, damit man von der Liste gestrichen würde.56 Als Robert Blank 1905 seine berühmte Analyse der sozialdemokratischen Wählerschaft veröffentlichte, in der er behauptete, dass mindestens ein Viertel der sozialistischen Wähler keine Proletarier sein müssten, mögen einige Beobachter hierfür eine weniger erfreuliche Erklärung gefunden haben als Blanks optimistische Schlussfolgerung, dass die Genossen aufgehört hätten, eine Klassenpartei zu sein.57 54

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Richter SBDR 8. Mai 1880, S. 1242, 1244; Kassel 8, AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 68, S. 268 ff. Verweigerung des Zutritts zur Gaststube wegen Einspruchs der Stammgäste in Querfurt (Merseburg 7): Petition von Otto Huth u. a., Dreher, 6. (?) Mai 1890, BAB-L R101/3343, Bl. 199 f. Kurt Koszyk: Anfänge und frühe Entwicklung der sozialdemokratischen Presse im Ruhrgebiet (1875– 1908), in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark, 50, S. 1–151, bes. 84; Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 41; Romeyk: Wahlen, S. 290. Göhre: Drei Monate, S. 94; DA 22/43 (23. Okt. 1904) S. 685 ff.; O. Fischbeck SBAH 19. Mai 1909, S. 6846. Blank: Zusammensetzung. Unterstützung für die SPD in der Mittelschicht: Wm. Kohlsdorf, Bitterfeld, an Bülow, 28. Dez. 1906; anonym an Bülow, Frankfurt. a. M., 10. Jan. 1907, BAB-L R1501/14697, Bl. 56 f., 146; Pohl: Arbeiterbewegung, S. 521 f.

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Was konnte man tun, um den kleinen Geschäftsmann angesichts der Boykottdrohungen zu schützen? In einer mehr als zweifelhaften Interpretation des Reichsstrafgesetzes ließ die Chemnitzer Polizei verlautbaren, sie werde jeden, der öffentlich vor einer Menschenansammlung zu einem Boykott aufrief, zu 100 Mark Strafe oder vierzehn Tagen Gefängnis verurteilen. 1907 gewann der Besitzer eines Bahnhofsrestaurants in Berlin-Zehlendorf 4.700 Mark Schadensersatz von der Berliner SPD, die seinen Betrieb in den Ruin getrieben hatte, und zwar nicht nur durch den von ihnen verhängten Boykott, sondern weil die Maßnahmen, die die Genossen ergriffen, um diesen durchzusetzen, auch seine bürgerlichen Kunden vertrieben hatten. Aber dieser Erfolg blieb eine Ausnahme. 22 Mal weigerte sich das Reichsgericht, Ächtung und Boykott als Verstöße gegen die öffentlichen Sitten anzuerkennen. Juristen äußerten Enttäuschung über den Mangel an gesetzlichen Gegenmaßnahmen und klagten, dass die Verweigerung der gesetzlichen Verfolgung eine Art »Klassenjustiz« sei, die sich »gerade gegen die sozial Bessergestellten« richte. 1908 und 1909 beauftragte der Deutsche Juristentag eine Untersuchung über die Legalität des politischen Boykotts.58 Und die preußische wie auch die Reichsregierung ergriffen die Gelegenheit der Neufassung des Strafgesetzes, um zu beraten, ob man den politischen Boykott explizit für illegal erklären sollte, und erwogen Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr für das Verbrechen des »Verrufs« im Zusammenhang mit einer Wahl. Aber die Opposition gegen eine derartige Kriminalisierung war erheblich. Es wurde befürchtet, solche Gesetzgebung werde dem anonymen politischen Denunziantentum Tür und Tor öffnen. Es sei nicht möglich, Argumente gegen wirtschaftlichen Druck auf den Wähler zu formulieren, ohne die schwarzen Listen der Arbeitgeber einzuschließen; schwarze Listen aber ließen sich im Zeitalter des Telefons unmöglich beweisen. Mit der Zeit war der staatlichen Bürokratie die Komplexität der Kriminalisierung von Aktivitäten klar geworden, die das Ziel hatten, das Bewusstsein der Menschen zu verändern, und so zögerte sie, Maßnahmen zu ergreifen, die »auch, soweit bekannt, nirgends in der ausländischen Gesetzgebung vorgesehen« seien.59 Wie die Abgeordneten im Reichstag, so hatten auch die Beamten, die die Reichsgesetzgebung vorbereiteten, immer ein Auge auf die internationale Gemeinschaft der »Kulturvölker«, der sie sich zugehörig fühlten. Letzten Endes war die beste Waffe gegen den Boykott das gegenseitige Einvernehmen der Parteien, sich dieser nicht zu bedienen. In Wetzlar in der Provinz Rheinland plädierte der Leserbrief eines Geschäftsmanns 1913 an alle Parteien, eine öffentliche Erklärung abzugeben, »dass sie den hiesigen Geschäftsleuten die freie, uneingeschränkte, ihrer Überzeugung entsprechende Wahlausübung zuge58 59

Der Boykott vor dem Kammergericht, in: FrZ 155 (10. Okt. 1909) GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 10; Meyerowitz: Streik, S. 838 ff., bes. 845 ff.; Chemnitz: Singer SBDR 11. Nov. 1889, S. 232 f. IM Bethmann Hollweg an Bülow, 9. März 1907, BAB-L R1501/14645, Bl. 51; Diskussion unter Vertretern der preußischen und sächsischen sowie der Reichsregierung, 2. Feb. 1912, BAB-L R 1501/14460, Bl. 171 ff. Schließlich entschied sich eine sehr gespaltene Gruppe zu der Empfehlung, Verruf als Form von Nötigung unter § 119 des neuen Strafgesetzbuchs zu verbieten: BAB-L R1501/14645, Bl. 226. Noch 1912 versuchten Bürokraten, Wege zu finden, das Gesetz nachzubessern, um Drohungen mit wirtschaftlichen Nachteilen zu verhindern. BAB-L R1501/14645, Bl. 208. Ein englischer Liberaler nannte den ähnlichen Einschüchterungsparagraphen im Corrupt Practices Act Altpapier. Seymour: Reform, S. 386.

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stehen und jede wirtschaftliche Schädigung durch ihre Anhänger missbilligen würden«. Der Brief traf bei allen konkurrierenden Parteien mit Ausnahme der SPD auf positive Resonanz.60 Womöglich bedeutete dieser Abrüstungspakt auf Gegenseitigkeit einen echten kulturellen Wendepunkt hinweg von den zwangsweisen Methoden der Wahlwerbung. Aber er kam reichlich spät.

−−− Boykotte waren natürlich bei den (indirekten) Landtagswahlen am wirksamsten, wo im zweiten Schritt eine kleine und äußerst sichtbare Gruppe von Wahlmännern das Ergebnis jedes Wahlkreises bestimmte.61 Bei den Reichstagswahlen jedoch, wo eine Wählermasse direkt wählte, war der Stimmzettel dieses oder jenes Geschäftsmanns ein Tropfen auf den heißen Stein. Welche politischen Funktionen konnte der Boykott dann hier haben? Die erste Funktion war die der Agitation. Aufrufe, jemanden zu boykottieren, der sich an »unseren« Einkäufen bereicherte, und nur noch bei »unseren eigenen Leuten« einzukaufen, waren das üble Merkmal mehr als einer Wahlkampagne – vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, der Antisemiten. Als solche waren sie düstere Vorläufer noch weit unheilvollerer Boykotte ab 1933. Der Zweck solcher Boykotte war jedoch nicht nur der Ausdruck und die Entladung von Feindseligkeit, sondern die Schaffung und Erhaltung von Gemeinsamkeit und Begeisterung. Zu diesem Zweck waren selbst Aktionen wie der »Boykott« der Berliner Philharmonie durch die SPD – welche weder hoffen konnte, wirtschaftlichen Schaden anzurichten, noch, Wahlprofite einzufahren – wirksam.62 Als Form praktischer Propaganda war dieser Krieg die Fortführung der Wahlpolitik mit anderen Mitteln. Sein Profit entstand nicht während der kurzen Dauer der gegenwärtigen Kampagne, sondern in der langfristigen Rekrutierung von Parteimitgliedern. Aber der Boykott hatte noch andere Zwecke. Die SPD benutzte ihn gerne, um unwillige Gastwirte zur Vermietung ihrer Säle zu zwingen. Als die »patriotischen« Parteien ihn in dem nationalistisch aufgeheizten Wahlkampf von 1907 gegen katholische Ladenbesitzer in Duisburg, Gütersloh und Gelnhausen benutzten, geschah das nicht, um Siege des Zentrums zu verhindern, da die Katholiken in diesen Wahlkreisen (außer in Duisburg) bereits hoffnungslos in der Minderheit waren. Aber Boykotte konnten die katholische Wählerschaft dazu bewegen, aus Furcht die Wahlbündnisse ihrer Partei – in diesen Wahlkreisen mit den Sozialdemokraten – zu verlassen. (In diesem Fall rächte sich die Taktik.

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Zitat: Romeyk: Wahlen, S. 363. Der retributive Charakter der Wahl: Kühne: Elezioni, S. 41–73, 62; Dreiklassenwahlrecht, S. 94 ff., und: Liberalen, S. 287. Meyerowitz: Streik, S. 847; Suval: Politics, S. 158; Monshausen: Wahlen, S. 200. »Ausschließlicher Handel« mit Anhängern der eigenen Konfession bedeutete manchmal »friedliche Trennung« statt Konflikt. Smith: Religion, S. 283 ff.

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Die Katholiken verhalfen der SPD zum Sieg gegen die Nationalliberalen in allen drei Stichwahlen.63) Die Parteien benutzten den Boykott nicht nur taktisch, sondern auch »strategisch«, wie ein bemerkenswerter Fall in Sachsen zeigt. 1893 hatten es die Sozialdemokraten mit fast dreimal mehr Stimmen in Sachsen gegenüber den Antisemiten bewerkstelligt, nur sieben Abgeordnete zu wählen gegenüber sechs der Antisemiten – dank der Streuung ihrer Wähler sowie feindlicher Bündnisse bei Stichwahlen. Die Partei reagierte prompt damit, diese Diskrepanz deutlich zu machen, indem sie ihre Kaufkraft gegen einen der Gewinner einsetzte. Die Genossen boykottierten eine große Schnapsbrennerei, die sich im Besitz der Mutter des Felix Oskar Hänichen befand, eines frischgebackenen antisemitischen Abgeordneten für das Dresdener Umland. In weniger als zwei Jahren brachten sie den jungen Hänichen dazu, sein Mandat aufzugeben. Das Gerücht ging um, dass Hänichens Mutter derart viel Geld verloren habe, dass sie ihn nicht mehr unterstützen konnte, während er in Berlin lebte. Wahrscheinlicher aber ist es, dass seine Brüder, die die Firma leiteten, nicht bereit waren, den Preis für Felix Oskars politische Überzeugungen zu zahlen. Die Nachwahl für Hänichens freigewordenes Mandat gewannen die Sozialdemokraten mit Abstand, da sie fast doppelt so viele Stimmen erhielten wie der neue antisemitische Kandidat. Der Erfolg des sozialistischen Boykotts hatte sogar noch größere Nebenwirkungen. In ihren Beratungen zur Revision des sächsischen Landeswahlrechts bestanden einige Monate später sowohl die Nationalliberalen als auch die Regierung darauf, das geheime Wahlrecht einzuführen, um zu verhindern, dass die SPD derartigen »Terrorismus« auch bei den Landtagswahlen anwende!64 Der wohl berühmteste Einsatz des Boykotts durch die SPD – anlässlich der Landtagswahlen von 1908, besonders, aber nicht nur in Berlin – war agitatorischer wie auch strategischer Natur. Bis zur Jahrhundertwende hatte die SPD die Landtagswahlen, wo das Dreiklassenwahlrecht und mündliche Stimmabgabe die Niederlage vorprogrammiert hätten, beinahe ignoriert. 1898 jedoch begann die Partei sich um einige Mandate im Preußischen Landtag zu bewerben. Der Triumph der Genossen bei der Reichstagswahl von 1903, der sie als »Dreimillionenpartei« auswies, ermutigte die Führung, ihren Angriff auf den Landtag auszudehnen, indem sie ihre zahlenmäßige Stärke gegen die Nutznießer des Wahlprivilegs, die wohlhabenderen Wähler (und ihre Wahlmänner) in der ersten und zweiten Klasse wandte.65 Als Wunderwaffe war erneut der Boykott vorgesehen. Wie ganz Berlin rasch feststellte, baute die Strategie der Partei auf einen massiven »sozialdemokratischen Terrorismus«, insbesondere den »Terror der Genossinnen«.66 Drei Monate vor der Wahl von 1908 veröffentlichte ein evan63 64

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Wirtshausbesitzer: Romeyk: Wahlen, S. 290. Katholiken: Becker: Kulturkampf, S. 76; Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, Nachtrag, S. 39, 44, 48; ähnliche Stichwahltaktiken: Crothers: Elections, S. 168 ff. Retallack: Notables, S. 77, 85; zu Hänichen:. Amtliches Reichstags-Handbuch. Neunte Legislaturperiode. 1893/98, hrsg. v. Reichstags-Bureau, Berlin, undatiert, S. 174; Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 222; Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 89; D[elbrück]: Preußische Wahlreform, S. 191. Die Parteien waren sich des wechselseitigen Einflusses zwischen LT- und RT-Wahlkämpfen bewusst. Romeyk: Wahlen, S. 142. Sozialdemokratischer Terrorismus, in: Vorwärts (24. Mai 1908); Der Terror der Genossinnen, in: Vorwärts

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gelisches Wochenblatt ein geheimes Dokument, das einer »Vertrauensperson« der Sozialdemokratischen Frauen Deutschlands zugeschrieben wurde. Darin wurden die Frauen aufgerufen, die Wahl ihrer Metzger, Bäcker, Gemüsehändler, ihrer Milchmänner, Kohlen- und Holzhändler zu überwachen, überhaupt jedes Ladenbesitzers, der auf Kunden der Arbeiterschicht angewiesen war. Obwohl Frauen während der Wahlkampagne von 1907 bei einer Anzahl sozialistischer Versammlungen als Rednerinnen wie auch als Zuhörerinnen aufgetreten waren, war die Entscheidung, sie im Frühjahr 1908 gleichsam als Stoßtrupp einzusetzen, kühn. Trotz des offenen Auftretens von Frauen bei sozialistischen Umzügen, einer auffälligen Beteiligung bestimmter sozialistischer Heldinnen an nächtlichen Ausflügen, die dem Aufhängen von Plakaten und Anbringen von Graffiti dienten, sowie des Glaubens der Sozialdemokratie an die Gleichberechtigung der Frauen stellten Frauen 1908 erst sechs Prozent der Parteimitglieder im Reich.67 Auch wenn in Berlin ihr Anteil erheblich größer gewesen sein muss – in einem einzigen Bezirk, Neukölln, beschäftigte die Partei nur vier Jahre später 262 bezahlte weibliche Funktionäre –, ist es nicht möglich, ihre Anzahl für 1908 mit einiger Sicherheit zu schätzen. Die Ankündigung selbst räumte ein, dass die Masse der Frauen immer noch außerhalb der Bewegung waren. Aber darum war es umso wichtiger, sie jetzt zu mobilisieren: »Alle diese Frauen müssen wir haben, wenn unser Plan gelingen soll.« Die Führung war sich nicht zu schade, bei dieser Aktion die männliche Autorität zu Hilfe zu rufen, als sie Veranstaltungen im gesamten Stadtgebiet von Berlin ankündigte, »zu denen alle organisierten Genossen verpflichtet sind, ihre Frauen zu schicken«. Eine gewisse Besorgnis war bei den Veranstaltern in ihrer ausdrücklichen Ermahnung abzulesen: »Pflicht der Genossen ist es, an diesem Abende einmal zurückzustehen, um so den Frauen die Teilnahme an der Besprechung zu ermöglichen.«68 Die strategisch Boykottierenden beabsichtigten ebenso wenig, den Händler in den Bankrott zu treiben, wie der Arbeitgeber, seine Arbeitskräfte zu entlassen. Was beide bewirken wollten – und hierin unterschieden sie sich von jenen, die wegen ethnischer Vorurteile boykottierten –, war eine Verhaltensänderung. Aber anders als bei einem Arbeitgeber, der es vorzog, unbemerkt von irgendjemandem außer seiner Zielgruppe zu handeln, verlangte eine Massenaktion nach Öffentlichkeit – um das Opfer einzuschüchtern, aber auch um ihre eigenen verstreuten und keineswegs zuverlässigen Truppen zu überzeugen und bei der Stange zu halten. Außerdem musste man sicherstellen, dass in einer Stadt mit einer derart großen Bevölkerung wie Berlin, mit zwölf (Landtags-)Wahlkreisen, die Boykotte in einem Wahlkreis nicht durch Käufe von Kunden ausgeglichen wurden, die in einem anderen lebten und einkauften.

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(2. Juni 1908), beide zitiert von Fischbeck (LL), Berlin. Müller: Geschichte, S. 110, 114 f. Weibliche Mitglieder: Guttsman: Party, S. 152, 241; Schwierigkeiten: Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 231 ff., 237 f., 241 ff. An die organisierten Genossen Groß-Berlins!, zitiert in einem Protest, AnlAH (1908/09, 21/II) DS 579, Anlage A, S. 6 [Seitenangabe des Archivs], GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d. Nr. 1 / Bd. 9; Working, S. 276.

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Daher die drastische Sprache: der Schwur, dass »die proletarischen Frauen Berlins dem Terror durch Terrorismus die Zähne ausbrechen« würden; das Versprechen, »gegen alle Geschäftsleute den wirtschaftlichen Kampf bis zur Vernichtung der Existenz zu führen«; die öffentliche Forderung des Vorsitzenden der Berliner sozialdemokratischen Wahlkommission an alle Sozialdemokraten, dieselben Methoden anzuwenden wie die Junker auf dem Lande, und zwar »mit der größten Schroffheit«. Daher der süffisante Ruf: »Auge um Auge, Zahn um Zahn!« Die Sozialdemokraten gewannen 1908 sieben Landtagsmandate, sechs davon in Berlin. Das wahre Ziel der Boykottstrategie war jedoch nicht diese Handvoll städtischer Mandate in einem ansonsten uneinnehmbaren Landtag, sondern (in Verbindung mit einer ganzen Reihe anderer Mittel wie beispielsweise der absichtlichen Verlangsamung des Wahlprozesses), das gesamte preußische System der indirekten, zweistufigen Wahlen, und besonders ihre öffentliche Stimmabgabe, für die Mehrheitsparteien »unwirtschaftlich« zu machen. Der Mittelklasse sollte klargemacht werde, dass die offene Wahl per definitionem »das Wahlrecht des Terrors« sei.69 So weit die Theorie. Und ein großer Teil der Öffentlichkeit glaubte daran. Die geheime Stimmabgabe bei Landtagswahlen war von einigen konservativen Bürgern bereits in den 1880er Jahren gefordert worden, um ihre Parteifreunde in katholischen und industrialisierten Gegenden vor wirtschaftlichen Nachteilen zu schützen.70 Eine Bäckerinnung sandte schließlich einen offenen Brief an die preußische Regierung mit der Bitte um geheime Abstimmung, denn sonst wären die »Bäckermeister und auch alle übrigen offenen Geschäftsinhaber« gezwungen, wegen des Boykotts sozialdemokratisch zu wählen, »wenn wir nicht das bisschen Kundschaft, welches wir jetzt noch haben, verlieren wollen«.71 Diese Haltung, obwohl sie nie von der Mehrheit geteilt wurde, verbreitete sich in konservativen und besonders konservativgesinnten liberalen Kreisen in Sachsen und Preußen. Ein preußischer Verleger bemerkte, dass die englische Regierung, gerade »um die Arbeiter diesem unerträglichen Drucke zu entziehen«, der von anderen Arbeitern ausging, 1872 die öffentliche Stimmabgabe abgeschafft habe, mit dem Ergebnis, dass die Arbeiter erneut die Torys wählten.72 Dennoch sahen die meisten Konservativen ein, dass es sich beim Boykott um ein städtisches Phänomen handelte. Auf dem Lande waren einfache Leute kaum in der Lage, Männer zu boykottieren, die ihre Arbeitgeber sein konnten. Aus der Position ihrer ländlichen Festungen waren die meisten Konservativen nicht allzu traurig, die einstmals sicheren Mandate ihrer linksliberalen Rivalen in den Großstädten durch Boykott bedroht zu sehen. Aber sie taten sich mit ih69

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Zitiert von Fischbeck SBHA 19. Mai 1909, S. 6842 ff.; 6848; Neue Zeit 33 (14. Mai 1909), Sozialdemokratischer Terrorismus, in: Vorwärts (24. Mai 1908), Wozu der Lärm? und Der Terror der Genossinnen, in: Vorwärts (2. Juni 1908). Berlin V,VI, VII, XII, AnlAH (1908/09, 21/II) DS 579, Anlage B, C und D: GStA PK I. AH, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 9, Bl. 280 f. Ungenannter Schreiber (offenbar Stoecker-Anhänger) an Bismarck, 5. Jan. 1884, BAB-L R43/685, Bl. 183–188. Zitiert in Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 115. D[elbrück]: Preußische Wahlreform, S. 191; Below: Wahlrecht, S. 155, 156, Anm. 129.

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nen und den Nationalliberalen zusammen, um vier der sechs Berliner Wahlsiege der SPD annullieren zu lassen.73 Entschied »der Terror der Genossinnen« wirklich die Berliner Landtagswahlen? Polizeiliche Untersuchungen nach dem planloseren Boykott von 1903 fanden kaum Anhaltspunkte für einen nennenswerten Schaden bei Berliner Firmen. 1908, als sozialdemokratische Parteimitglieder von Betrieb zu Betrieb gingen, um schriftliche Versprechen von Männern der II. und I. Klasse zu sammeln, dass sie sozialdemokratisch wählen würden, war die Unterstützung für SPDKandidaten unter den Wählern dieser Klassen in der Tat gestiegen. Es scheint jedoch, dass die meisten der angesprochenen Geschäftsleute auf den Druck reagierten, indem sie ganz einfach den Wahlen fernblieben. Im zweiten Schritt des Prozesses, bei dem die Delegierten die Abgeordneten wählten, sind die Hinweise auf die Wirkung des Boykotts stärker. Ein konservativer Schuhmacher und neun Handwerker, die als Linksliberale gewählt worden waren, unterstützten jetzt den sozialdemokratischen Kandidaten, während 39 nationalliberale und konservative Delegierte überhaupt nicht wählten: genügend Beweise für aufgebrachte Linksliberale, dass die Boykottdrohungen ihre Wahlerfolge gestohlen hatten.74 Dennoch lassen sich die sozialdemokratischen Siege ebenso leicht mit der Einkommenssteuerreform von 1906 erklären, die zur Demokratisierung der beiden obersten Klassen beitrug, indem sie einen Großteil der Wähler eine Klasse nach oben beförderte: von der III. zur II., von der II. zur I.75 Gleichermaßen wichtig war es, dass es den Genossen inzwischen gelungen war, den größten Teil Berlins in ein sozialdemokratisches »Milieu« zu verwandeln. Die Ersetzung des traditionellen monatlichen »Zahlabends«, des monatlichen Treffens der Ortsvereine, bei dem die Mitglieder ihre Beiträge entrichteten, durch die »Hauskassierung« kann als Hinweis für die Umformung der Partei von einer Sekte in eine »Kirche« angesehen werden – der Wechsel von einem Verein mit vollkommen freiwilliger Mitgliedschaft der wenigen Bekehrten zu einem, bei dem die Zugehörigkeit ebenso sehr eine Sache der gesellschaftlichen Einordnung – in diesem Fall der Nachbarschaft – war wie ein Akt der Überzeugung. Im Arbeiterbezirk Neukölln waren die Berliner Sozialdemokraten in der Lage, fast eintausend Parteifunktionäre als Kassierer zu beschäftigen, einen für je vier Wohnblocks, die eine Provision von drei Pfennig pro Monat und Mitglied (zehn Prozent der Gesamteinnahmen) erhielten. Ihre »Hauskassierung« legte jedem im Wohnblock die Daumenschrauben an, unabhängig von seiner Klassenzugehörigkeit oder politischen Ausrichtung.76 Eine solche Einrichtung konnte allerdings nur wirk73 74

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Abweichende Ansichten: Malkewitz (K) SBHA 11. Feb. 1909, S. 1996, und Friedberg (NL) SBHA 19. Mai 1909, S. 6851. GstA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr.1/Bd. 9. Verschiedene Anmerkungen zu den Beweisen von H. Schoeler (FrVP) im Moabiter Bezirksanzeiger (27. Juni 1908), Ströbel (SD) SBHA 19. Mai 1909, S. 6819; Fischbeck (FrVP) SBHA 19. Mai 1909, S. 6845; Die Berliner Bezirke 5, 6, 7 und 12, in AnlAH (1908/09, 21/II) DS 579, S. 7, Anlage B, C und D: GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 9, Bl. 281. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 113, Anm. 61. Fischbeck, SBHA 19. Mai 1909, S. 6086; vom Zahlabend zur Hauskassierung in Guttsman: Party, S. 170, 241, die Einschätzung ist jedoch meine eigene.

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sam werden, wo eine Partei glaubhaft versichern konnte, ein ganzes Milieu zu umfassen. Wenn auch eine solche Situation nicht unfreiwilliges Wählen einzelner Abweichler ausschloss, so legt sie doch nahe, dass große Wählerbewegungen im Allgemeinen ein genauer Ausdruck der politischen Sympathien der Wohngegend waren. Der Fall von Moabit, eines anderen Arbeiterviertels, der zur Zielscheibe größter Empörung wurde, ist aufschlussreich. In der Nacht vor der LandtagsStichwahl von 1908 wurden Listen von vierzehn Geschäften, deren Besitzer beim ersten Schritt der Wahl nicht SPD gewählt hatten, an Geschäften und Häuserblocks aufgehängt. Die im Viertel vorherrschende Meinung war deutlich: Der fast gleiche Wahlkreis hatte gerade in der Reichstagswahl des Vorjahres (1907) 99.560 Stimmen für die SPD gebracht – mehr als 70 Prozent der abgegebenen Stimmen, und dies unter einer Flut feindlicher Regierungspropaganda und unter Abstimmungsbedingungen, die inzwischen so annähernd geheim wie im sichersten Wahlkreis im Reich waren. »Möge Bülow von oben kommandieren, wir kommandieren von unten«, verkündete Ottilie Baader, die »zentrale Vertrauensperson der Genossinnen«.77 Doch trotz aller ausgehängten Listen, trotz aller Bemühungen sowohl der SPD-eigenen Propagandamaschine und der sozialistenfeindlichen öffentlichen Meinung, Berlins Frauen als Mesdames Lafarge des 20. Jahrhunderts darzustellen, dürfen wir bezweifeln, dass viele Moabiter Frauen wirklich ihren Schlachtern und Bäckern um die Ecke mit wirtschaftlichem Ruin drohten – Leuten, mit denen sie jeden Tag zu tun hatten, bei denen sie freundlich ihre Einkäufe tätigten und bei denen sie gelegentlich bis zum nächsten Zahltag anschreiben lassen mussten. Die Tatsache, dass SPD-Aufrufe forderten: »Nicht nur eine Frau muß bei einem Händler nach seinem politischen Glaubensbekenntnis forschen, sondern eine größere Anzahl Frauen soll es tun, damit dem Manne bange wird vor den Vielen Kunden, die ihm abtrünnig werden könnten«, deutet darauf hin, dass die Führung fürchtete, die Frauen an der Basis könnten wirklich die Aufgabe, »einen Terrorismus auszuüben, der so stark wie nur möglich ist«, den Fachleuten überlassen.78 Die Sozialdemokratin als eine hartherzige Xanthippe, die begierig war, einen unglücklichen Ladenbesitzer, der die Parteilinie nicht befolgte, dem Hungertod zu überlassen, war wahrscheinlich der komplexen Realität, die die Wahlergebnisse erzeugte, kaum näher als die katholische Frau als manipulierende »Eva«, die ihren Gatten durch die Verweigerung ehelicher »Gunst« zwang, dem Willen des Pfarrers zu entsprechen. In den kriegerischen Aufrufen der SPD finden sich Zeilen, die andeuten, 77

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Identifiziert von Fischbeck SBHA 19. Mai 1909, S. 6841, 6843, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 9. Ich vergleiche den Berliner Wahlkreis 6 des Reichstags (Moabit und Teile von Wedding) mit Berlin XII des Landtags (auch Moabit und Teile von Wedding), obwohl sie nicht exakt übereinstimmen mögen. Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, Nachtrag, S. 8; Kühne: Handbuch, S. 164 f. Beeindruckende Mitgliederzahlen der SPD für Neukölln 1912: Guttsman: Party, S. 241. An die organisierten Genossen Groß-Berlins!, zitiert in Protest, AnlAH (1908/09, 21/II) DS 579, Anlage A, S. 5 der Ausgabe des Archivs, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 9; weibliche Funktionäre in Neukölln: Guttsman: Party, S. 241; in Arnsberg 6 (Dortmund) war das Anwachsen der SPD zu einer Massenpartei nach der Jahrhundertwende teilweise ein Ergebnis weiblichen Interesses. Fast 20 Prozent der Mitglieder im Bezirk waren 1913–1914 Frauen. Graf: Entwicklung, S. 27.

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Teil 3: Grade der Freiheit

dass das Verständnis der Partei von der Realität der Berliner Frauen tatsächlich nuancierter war: »Genossinnen! Bietet Eure ganze Überredungskunst auf, lasst Euch durch nichts abschrecken!«79 Die Genossin, deren Mut aufgepäppelt werden musste, deren Überredungskunst zu Hilfe gerufen wurde, war kaum eine Frau, die ihren langjährigen Metzger in den Bankrott treiben würde. Der Zweck des Redens über Terror war es, einen wirklichen Boykott unnötig zu machen. Wie weit die Bewegung dennoch zur Durchsetzung eines Boykotts zu gehen bereit war, wird in der Gewerkschaftsresolution deutlich, die kurz vor der Wahl verfasst wurde: Jedes Mitglied, das weiterhin eine boykottierte Wirtschaft besuchte, werde ausgeschlossen.80 Wenn Boykotte mit denselben Überwachungsstrategien durchgesetzt werden sollten, die Streiks erzwangen, hätten proletarische Frauen es dann gewagt, als Boykottbrecher aufzutreten? Die Einschüchterungsrhetorik der SPD scheint ebenso gegen strauchelnde Genossinnen wie gegen deren Händler gerichtet gewesen zu sein. Einige linksliberale und Zentrumsabgeordnete waren nicht damit einverstanden, dass der Landtag bereitwillig die Existenz von Terror als bewiesen anerkannte, um die neuen Berliner Mandate der SPD zu kassieren. »Den Kampf gegen das Dreiklasssensystem braucht man wahrhaftig nicht mit Empfindsamkeiten zu belasten«, argumentierte Friedrich Naumann.81 Die Liberalen hatten in den Städten selbst eine lange Tradition wirtschaftlicher Einschüchterung aufzuweisen und die Sozialdemokraten hatten somit wenig Mühe, darauf hinzuweisen, dass ihre Kritiker unterschiedliche Standards anlegten, je nachdem, wessen Siege sie gerade beurteilten. Aber die eigene Empörung der SPD über wirtschaftlichen Terror bei vergangenen Reichstagswahlen sprach jetzt gegen sie. Die Boykotte kosteten die SPD moralisches Kapital, wie einige Sozialdemokraten bald bemerkten: Man denke an ihre lahmen Bemühungen, zu argumentieren, dass es eigentlich keine Boykottstrategie gebe; dass die Boykottaufrufe von Linksliberalen aufgehängt worden seien – als ein schmutziger Trick, um die SPD-Siege für ungültig erklären zu lassen!82 Es war dieser Verlust moralischen Kapitals, und nicht die sechs sozialdemokratischen Mandate in Berlin (von denen fünf aufgehoben und vier wieder gewonnen wurden), der die dauerhafte Wirkung der Boykottbewegung der SPD bedeutsam machte. Ob das Berliner Kleinbürgertum aus Überzeugung oder aus Furcht sozialdemokratisch wählte – außerhalb der großstädtischen Zentren konnten jene Geschäftsleute und Handwerker, deren Ansichten über die Partei nicht durch bestehende freundliche Beziehungen zu sozialdemokratischen Kunden gemildert waren, in ihren Zeitungen aus bester linksliberaler Quelle 79 80 81

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SPD-Aufruf verlesen von Fischbeck: SBHA 19. Mai 1909, S. 6843 f. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 115, Anm. 70. Die ungültigen Landtagsmandate, in: Die Hilfe 15/22 (30. Mai 1909), S. 338. Nachdem ein aufgebrachter Fischbeck blutrünstige Passagen verlesen hatte, warnte Reinhard (Z) davor, alles zu glauben, was im Vorwärts stand. SBHA 19. Mai 1909, S. 6852, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 9. Gegenprotest von H. Borgmann (SD): AnlAH (1908/09, 21/II) DS 579, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII. 1.d., Nr. 1/Bd. 9; H. Ströbel (SD) SBHA 19. Mai 1909, S. 6810 ff.

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lesen, wie die SPD ihre Freiheit erstickte. Sie konnten sich selbst in die Lage des Vorkosthändlers Seela versetzen, der immer wieder eine neue Boykottliste an seinem Ladenschild kleben fand, wie oft er sie auch abriss, und dessen Frau Angst hatte, ihm in seinem – jetzt leeren – Laden zu helfen. Seela war bereit, die Pacht seines Ladens aufzugeben und die Stadt zu verlassen. Sie konnten erschauern angesichts der Klagelieder Otto Fischbecks, des linksliberalen Stadtrats von Berlin, der verkündete: »Noch niemals ist anderwärts in dieser starken und brutalen Weise die Macht ausgeübt worden, wie sie die Sozialdemokratie bei diesen Wahlen zur Anwendung gebracht hat«, wie gegen die kleinen Händler und Handwerker in Berlin. »Sie haben nach der Pfeife der Sozialdemokratie zu tanzen, und wenn sie das nicht tun, dann haben sie, wie es in der schönen Drohung heißt, eventuell Hungers zu sterben.« Fischbeck hätte gar nicht die Trommel der Feindseligkeit des Arbeiter-Mittelstands rühren müssen, um die kleinen Geschäftsleute zu überzeugen, dass Sozis gefährliche Leute seien. Der radikale Flügel der Sozialdemokraten tat es bereits für sie. Robert Leinerts Handzettel im Wahlkampf von Linden in der Provinz Hannover hatte sich gebrüstet: »die Geschäftsleute sind gezwungen in ihrem eigenen Interesse, sozialdemokratische Wahlmänner zu wählen, ob sie wollen oder nicht, sie müssen der Arbeiterkundschaft wegen, denn Hunger tut weh!«83 Als Leinert ein Jahrzehnt später dem Reichskongress der Arbeiterund Soldatenräte vorstand, dann den Vorsitz des Zentralrats der kurzlebigen Deutschen Sozialistischen Republik führte und schließlich 1919 die preußische Verfassungsversammlung leitete, dürfen wir nicht zu sehr überrascht sein, dass viele Mitglieder des gleichen Mittelstands misstrauisch gegenüber dem neuen Staat eingestellt waren, vor allem da Leinert selbst während der ersten Jahre der Weimarer Republik (1920–1924) Präsident des Preußischen Landtags war. Paul Hirsch, der Gewinner des Mandats im Wahlbezirk Berlin VII, akzeptierte 1908 den Boykottvorwurf mit der großspurigen Bemerkung: »Wir liefern diese Leute dem Hungertode aus«! So ist es kein Wunder, dass, als er als Ministerpräsident von 1918 und 1920 und als Stellvertretender Bürgermeister von Berlin-Charlottenburg von 1921 bis 1925 über die Demokratisierung Preußens wachte, einige jener Leute, denen er dies einmal hatte antun wollen, nun das Gefühl hatten, das Land sei in den Händen von politischen Gegnern, die vor nichts zurückschreckten.84 Die Tatsache, dass Hirschs Hauptgegner von 1908, der erzürnte Otto Fischbeck, selbst als Mitglied der neuen Deutschen Demokratischen Partei in Hirschs Kabinett als Handelsminister dienen sollte, war weniger dazu angetan, für Beruhigung als für Zynismus zu sorgen. Wie auch immer wir den Erfolg des Boykotts bei der Eroberung der SPD-Mandate im Landtag beurteilen, so war dieser allenfalls eine kurzsichtige Strategie, zumal er das Ziel verfolgte, die größtmögliche Aufmerksamkeit auf die Fähigkeit der Sozialdemokratie zur Ausübung außerparlamentarischer Macht zu lenken, die den Wandel in Deutsch83 84

Fischbeck, Leinert zitierend, SBHA 19. Mai 1909, S. 6843 f., GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 9. Vorkosthändler Seela: Kühne, Dreiklassenwahlrecht, S. 114. Hirsch zitiert in: Vorwärts, AnlAH (1908/09, 21/II) DS 579, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 9, Bl. 280. Leinert u. Hirsch in B. Mann: Handbuch, S. 182 f., 241.

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land von einer bürokratischen Monarchie zu einer demokratischen Republik erheblich belastete – einen Wandel, der – ohne dass die Betroffenen es ahnten – nur noch zehn Jahre entfernt war.

Die Unterminierung der Regeln: Wahlkreisschiebung von unten Im Jahr 1907 hörte ein Chauffeur in einem Berliner Vorort zufällig eine Unterhaltung, die anschließend die Gerüchteküche zum Kochen brachte. Nachdem er eine Zeitlang vor dem Tübbecke`schen Lokal in Velten gewartet hatte, während sein Arbeitgeber eine konservative Wahlversammlung besuchte, mischte er sich unter die stetig wachsende Menge von Sozialdemokraten, die gekommen war, um Karl Liebknecht zu begrüßen, den angekündigten Diskussionsredner. Die Rede kam auf die Aussichten der SPD hier in Potsdam-Osthavelland-Spandau. »Zu befürchten haben wir nicht viel«, prahlte einer der Genossen, »wir haben strammen Zuwachs aus Berlin gekricht [sic].« Auf die Frage: »Wieso?« antwortete er: »Wir haben 1.800 Mann aus Berlin in Spandau in Schlafstelle einquartiert.« Ein Neuankömmling bemerkte dazu naiv, »daß diese Leute nun doch in Berlin gefehlt hätten«. Die süffisante Antwort war, dass die Hälfte der sozialdemokratischen Wähler in Berlin VI umziehen könnten, dann hätte die Partei immer noch genug für den Sieg.85 Gerüchte spielten selbst in diesem Zeitalter der Massenkommunikation eine wichtige, wenn auch nicht immer deutlich erkennbare Rolle bei politischen Sichtweisen. Seltsam hartnäckig im Deutschen Reich war der Bericht, dass Armeen von Arbeitern in ihren angestammten Quartieren zusammengerufen und anschließend in einem angrenzenden Wahlkreis einquartiert wurden. Dort mieteten sie für eine oder zwei Nächte ein Bett (manchmal zwanzig in einem Zimmer), meldeten sich bei der Polizei an, wie es die Meldepflicht verlangte, schrieben sich in die Wahllisten ein und wählten sozialdemokratisch. Besonders bei einer Nachwahl konnte eine solch unerwartete Stimmmacht einen überraschten Gegner leicht überwältigen. Selbst bei einer Reichstagswahl, zumal, wenn es ein Kopf-an-Kopf-Rennen gab – und Berlin I wurde 1912 durch neun Stimmen entschieden –, konnte die Verschiebung überzähliger Wähler von einem sicheren Wahlkreis in einen unsicheren entscheidend sein. Spätestens seit 1878 war von solchen Taktiken in vielen der größeren Städte die Rede gewesen: in Berlin, Hamburg, Altona – und selbst in Stuttgart.86 1903 schrieb eine Gruppe liberaler Arbeiter in Bremen an Bülow und warnte ihn, dass Sozialdemokraten aus Hamburg und den Industriegegenden in Hannover jetzt wegen der Wahlen in ihre Stadt kämen (und tatsächlich übernahm die SPD den Bremer Wahlkreis in diesem Jahr von den Linksliberalen). Anzeichen einer anwachsenden SPD wurden auch in Hessen verzeichnet.87 Die Wahrheit zumin85 86 87

Aussage unter Eid von Paul Dammer, 5. Feb. 1907, BAB-L R1501/14458, Bl. 126 f., 128 f. Wähler [unleserlich] an RKA, Münster, 22. Juli 1878, BAB-L R1501/14693, Bl. 53 f.; Richter SBDR 8. Mai 1880, S. 1245 f.; Württemberg 1, AnlDR (1894/95, 9/III, BD. 2) DS 268, S. 1144 ff. Anonym an Bülow, 18. Juni 1903, BAB-L R1501/14703, Bl. 002 ff.; B. an Bremer Senat 29. Juni 1903;

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dest einiger dieser Gerüchte war nicht zu leugnen. Während der Wahl von 1912 wurde die alte Stadt Leipzig, wie Bremen eine Hochburg der Liberalen, von Wählern der Arbeiterklasse aus ihren durch und durch sozialdemokratischen Vororten überschwemmt. Auch Wilhelmsburg wurde ins Auge gefasst, aber die Polizei war rechtzeitig informiert und ergriff Gegenmaßnahmen.88 Anzeichen für ähnliche Aktivitäten fanden sich in Dresden, Düsseldorf und Frankfurt am Main.89 Diese menschlichen Wogen sozialdemokratischer Arbeiter verleihen dem Begriff »Mobilmachung« eine völlig neue Dimension. Die Menschen wählten dort, wo sie nicht hingehörten. Und das galt nicht nur für Sozialdemokraten. Die Firma Buderus beförderte eine große Anzahl von Vertretern und brachte sie auf Firmenkosten in Betzdorf im Rheinland unter, um dort eine liberal wählende Versammlung zu füllen.90 Und in Berlin, wo fünf der sechs Reichstagswahlkreise gänzlich sozialdemokratisch waren, kamen zwei phantasievolle bürgerliche Wähler, der Bankdirektor Max Hirschberg und ein Student, Wilhelm Busse, 1912 auf die gleiche Idee. Obwohl sie in Berlin VI lebten – das fast 220.000 Wahlberechtigte zählte –, waren sie, sagte der Student, »nicht so dumm, dort zu wählen«. Deshalb quartierten sie sich im nahen Berlin I ein, wo es ungefähr 13.000 Wahlberechtigte gab, und trugen so zur Mehrheit der neun Stimmen bei, die diesen vornehmen Wahlkreis im Besitz der Linksliberalen hielt.91 Auch Katholiken nahmen sich ein Beispiel an den Roten. In Bergheim-Euskirchen, einem derart schwarzen Wahlkreis, dass die Herausforderer des Zentrums seit 1874 regelmäßig überwältigt wurden, drängte der Katholische Arbeiterverein seine Mitglieder, ihre Stimmzettel im nahen Köln einzuwerfen, wo die Sozialdemokraten die dominierende Stellung der katholischen Partei stark bedrohten. Die Invasion Kölns wurde nur durch das Bürgermeisteramt vereitelt, das die Arbeiter – tatsächlich irrtümlicherweise – informierte, dass ihr Plan illegal sei.92 An der Saar schrieb man es geistlichen Predigten zu, dass bis zu 4.000 Bergund Metallarbeiter aus Merzig-Saarlouis, einem sicheren Zentrumswahlkreis, in dem Katholiken 96 Prozent der Bevölkerung ausmachten, nach Saarbrücken und Ottweiler-St. Wendel-Meisenheim »umzogen«, wo bei wesentlich geringerem Anteil an Gläubigen das Zentrum niemals vermocht hatte, die »nationalen«

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Verzeichniße zu den Akten über Wahlfälschungen von 1903–1904: BAB-L R1501/14703; Dr. Wagner, Kreisamt Dieburg, an SM von Hessen, 8. Jan. 1913, zu 1903: BAB-L R1501/14461, Bl. 118. Dr. Wagler, Polizei Leipzig, 26. Sept. 1912, BAB-L R1501/14460, Bl. 364 f.; Wilhelmsburg: Stoltz (?), MdI, an Bethmann Hollweg, 23. April 1913, BAB-L R1501/14461, Bl. 54 f. Königliches Landgericht Dresden, BAB-L R1501/14461, Bl. 110–112v, RdI an Sächsisches AA, und Antwort, Re-Brief vom 10. Dez. 1912, BAB-L R1501/14460, Bl. 459–469. In Dresden verschickte die Wahlkommission mehr als 600 Drucksachen an örtliche Gemeinden mit Anweisungen zur Verhinderung und Entdeckung von Doppelwählern. Stichproben zeigten keinen systematischen Betrug. Koettig, Polizei Dresden, an Kreishauptmannschaft Dresden, 1. Feb. 1913, ebd., Bl. 460–467. Haupt, OBM, für Stadtrat v. Freiberg in Sachsen, 14. Jan. 1913, an Kreishauptmannschaft in Dresden, ebd., Bl. 468 f. Andernorts: Bertram: Wahlen, S. 202. Monshausen: Wahlen, S. 67. AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. XVII) DS 450, S. 414, 416 (Zitat). Statistik in Michael Erbe: Berlin im Kaiserreich, 1871–1971, in: Geschichte Berlins. 2 Bde. Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, hrsg. v. Wolfgang Ribbe, München 1987, Bd. 2, S. 691–792, bes. 770 ff. Stoltz (?), MdI, an Bethmann Hollweg, 23. April 1913, BAB-L R1501/14461, Bl. 54 f.

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Parteien zu verdrängen. Entgegen dem Gerücht war es jedoch nicht der Klerus, sondern ein unternehmungslustiger Parteifunktionär mit Namen Peter Schmidt, ein Angestellter der Saar-Post, der für dieses Manöver verantwortlich war. Er ließ die Saar-Post ein ganzes Einwohner-Registrierungsformular auf ihren Seiten abdrucken, mit konkreten Anweisungen an die Abonnenten, wie man den Meldeschein ausschnitt und ausfüllte, und dem Rat, ihn, Schmidt, als Ausführenden anzugeben, sollte das unorthodoxe Dokument von der Polizei zurückgewiesen werden. Um das Projekt nicht durch Gedächtnislücken zu gefährden, reiste Schmidt sogar in die Dörfer, um die Geburtsdaten der über 3.000 Wähler zu sammeln, die er hoffte, gewinnen zu können. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde der Gemeindeklerus involviert, der Hausbesuche machte, um die Arbeiter von ihren »neuen« Wahlmöglichkeiten zu informieren. Die Liberalen trafen umgehend Gegenmaßnahmen gegen diesen »planmäßigen Überfall«.93 Handzettel mit falschen Informationen wurden in Umlauf gebracht, auf denen behauptet wurde, dass alle, die in einem Wahlkreis wählten, die örtlichen Steuern bezahlen müssten. Der Regierungspräsident und die Landräte gaben Anweisungen an die Dorfbürgermeister, nicht mit Untermietern zu kooperieren, die um Änderung ihres Meldescheins baten. Der renommierte Professor Paul Laband aus Straßburg wurde bemüht, um gesetzliche Begründungen für die Hinhaltetaktik durch die Polizei zu finden. (Laband äußerte seine persönlichen und politischen Einwände gegen den Transport von Wählern, aber seine zwei Kommentare zitierten auch pflichtgemäß Reichstagsentscheidungen von 1879 und 1898, die das Wählen außerhalb der eigenen Wohngegend duldeten. Dies war ein beachtlicher Sieg der Wissenschaft über die politische Überzeugung!) Schließlich brachte der Respekt gebietende Schmidt seinen Fall vor den Innenminister, der mit telegraphierten Richtigstellungen an die Landräte, Regierungspräsidenten und Bürgermeister reagierte, in denen er sie aufforderte, diese Ummeldungen in letzter Minute zu akzeptieren. Trotz Schmidts Bemühungen gelang es nicht, die Liberalen aus dem Sattel zu heben. Aber sie kosteten Ernst Bassermann, den Gewinner von Saarbrücken, einen Monat vor der Wahl und zwei Jahre danach (dank eines Protests des Zentrums) viele Nerven, bevor seine Wahl endlich bestätigt war.94 Solche »Mobilmachungen« beschränkten sich keineswegs nur auf Deutschland. Sie waren in den Vereinigten Staaten spätestens seit dem Jahr 1854 angewandt worden, als einwandernde Wähler den Begriff »Bleeding Kansas« (»Blutendes Kansas«) dem amerikanischen politischen Wortschatz – und den Wurzeln des Bürgerkriegs – hinzugefügt hatten. Selbst nachdem in den meisten amerikanischen Staaten eine funktionierende Meldepflicht eingeführt worden 93 94

Dr. Bretschneider an NL Funktionäre, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3575 ff., 3582 (Zitat); Debatte SBDR 19. Mai 1914, S. 9080 f.; Bertram: Wahlen, S. 203. Laband, Briefe vom 20. Dez. 1912 und 10. März 1912, in AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3603 f.; AnlDR (1879, 4/II, Bd. 5) DS 166, S. 1346 f.; Dr. Weiß: Wohnbegriff in Reichstagswahlen, in: PVB 28/13 (29. Dez. 1906), S. 248. Juristen gaben zu, dass der vom Reichstag definierte Begriff des »Wohnsitzes« und des Wahlgesetzes breiter gefasst sei als der des Strafgesetzes: Gurwitsch: Schutz, S. 38; Ludwig Koerner: Wohnsitz und Wahlrecht, (Dissertation) Heidelberg 1910.

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war, blieb die »Kolonisierung« bis zum Ersten Weltkrieg eine Lieblingstaktik städtischer Arbeitgeber.95 Im Kaiserreich jedoch war das Phänomen ein Nebenprodukt nicht nur der Parteientwicklung, sondern einer Industrialisierung, die proletarische Kolonien außerhalb der Verwaltungsgrenzen der Großstädte und an der Saar Arbeitsplätze hervorgebracht hatte, die derart weit von den Wohnorten der Familien entfernt lagen, dass diese nur in wöchentlichen oder vierzehntägigen Abständen besucht werden konnten. Am selben Ort zu wählen, wo sie arbeiteten, brachte diese Männer unter die Knute ihres Arbeitgebers. Aus diesem Grunde hatte das Zentrum einmal vorgeschlagen, dass die Bürger dort verpflichtet würden zu wählen, wo ihre Familien lebten und sie Steuern bezahlten – eine Maßnahme, mit der sie den Wahlbezirk Neunkirchen aus der stahlharten Umklammerung des Barons von Stumm zu lösen gehofft hatten. Von den Linksliberalen bis zu den Konservativen hatten die Parteien der Arbeitgeber darauf entgegnet, dass die Pflicht, am Wohnort zu wählen, die Wahl für Migranten und Pendler erschweren würde (vor allem – so hätten sie hinzufügen können, taten es aber nicht –, weil die Wahlen an Werktagen stattfanden). Dies würde der klaren Absicht der Väter des Wahlgesetzes zuwiderlaufen, die das Wahlrecht möglichst vielen Männern geben wollten.96 Sie sollten bald Grund haben, ihre Position zu bereuen. Die Wendung der konservativen Partei hin zu einem Wahlrecht am Wohnort vollzog sich parallel zur Zunahme der sozialistischen Stimmen. Wenn man nur dort wählen konnte, wo man seit mindestens zwei Jahren wohnte, besonders wenn Ähnliches auch für die Kandidaten galt, hätte dies die Hälfte der sozialdemokratischen Truppen vernichtet.97 Aber die Vorschläge, die die Regierung und die Rechte ausbrüteten, trafen allesamt auf den hartnäckigen Widerstand des Reichstags.98 Die Umzüge sozialdemokratischer Wählerbrigaden von ihren Arbeitsplätzen in den Vororten hinein in die Großstädte während der 1870er und 1890er Jahre legen den Schluss nahe, dass der Schutz, den das Zentrum durch das Wahlrecht nur am Wohnort gesucht hatte, zumindest in einigen Gegenden auch durch die Mobilität der Wähler zu erreichen war. Nach der Jahrhundertwende jedoch hatte sich die Richtung der Wählerwanderung augenscheinlich umgekehrt. Anstatt den Vororten oder den ländlichen Gegenden zu entkommen, wo 95 96

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Argersinger: Perspectives, S. 672, 675, 683; Harris: Administration, S. 19. Verbindungen zum Mehrfachwählen: Seymour u. Frary: World, Bd. 1, S. 260 f. Steffens: Arbeiterwohnverhältnisse; Trier 6, AnlDR (1890/91, 8/I, Bd. 3) DS 346, S. 2212 f., 2217. Die arbeitgeberfreundliche Mehrheit setzte damit frühere RT-Entscheidungen außer Kraft: zu MecklenburgSchwerin 4, AnlDR (1879, 4/II, Bd. 5) DS 166, S. 1346 ff., und AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 186, S. 948 ff.; zu Sachsen-Anhalt 1 (1884/85, 6/I, Bd. 5) DS 135, S. 509 ff. V. Oppen: Reform, S. 11 f.; A. Putschke an Bülow, Zittau, 19. Jan. 1907, BAB-L R1501/14697, Bl. 210– 214. Tiedemann (FK) AnlDR (1905/06, 11/II, Bd. 2) DS 70, S. 1785, in BAB-L R1501/14457, Bl. 94; MdI an Bülow, 7. April 1907, BAB-L R1501/14458, Bl. 124; Dr. Ayerer, Kreishauptmannschaft Leipzig, an MdI von Sachsen, 2. Okt. 1912, BAB-L R1501/14460, Bl. 352; Ein Attentat auf unser Recht!, in: Mecklenburgische Volkszeitung (im Weiteren: MVZ) 61 (22. Mai 1898); MdI Mecklenburg: Berichtigung, 23. Mai 1898; Wie das Großherzogliche Mecklenburgische Ministerium berichtigt!, in: MVZ 63, 25. Mai 1898; MdI Mecklenburg, Berichtigung, 25. Mai 1898; Das mecklenburgische Ministerium des Innern, das liberale Stadt-Regiment in Rostock und das Wahlrecht der Saisonarbeiter, in: MVZ 63 (27. Mai 1898), alle in BAB-L R1501/14694, Bl. 195–197.

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ihre Arbeitsplätze waren, scheinen einige Brigaden diese zum Ziel erwählt zu haben. Die Aktion des Zentrums in Saarbrücken im Jahr 1912, die von ihren Gegnern als »Einfall« beschimpft wurde, ließ in Wirklichkeit nur die Arbeiter dort wählen, wo sie bereits waren: die sogenannten »Schlafhausbewohner und Quartierleute«, die während der Arbeitswoche am Ort ihrer Anstellung schliefen.99 Angesichts von größeren Geheimhaltungsgarantien, Arbeitskräftemangel und effektiver Parteiorganisationen war die Entscheidung, den Ort seiner Wahl selbst zu bestimmen, keineswegs mehr defensiv, sondern offensiv. Der Spieß hatte sich umgekehrt. Die Polizei gab es auf, die Horden aufhalten zu wollen: Es schien ihr kaum möglich, zu überprüfen, welche der »abgemeldeten Schlafburschen« aus den Vorstädten wirklich umgezogen waren. Zu versuchen, diese Fälle durch die kaiserlichen Gerichte lösen zu lassen, war eine Sisyphusarbeit. Und selbst wenn es den Invasoren nicht gelungen war, ihr Ziel zu erreichen – die Wahl zu gewinnen –, war es in den Augen der meisten Behörden nur eine Frage der Zeit und besserer Planung, dass es ihnen gelingen werde. Ohne eine Änderung des Wahlgesetzes, die das Wahlrecht mit einem festen Wohnort verband, waren den Behörden die Hände gebunden.100

−−− Nach internationalem Maßstab war das deutsche Wahlgesetz atemberaubend liberal. In einem Zeitalter, in dem ausgerechnet die niedersten Klassen am mobilsten waren, war die Bedingung eines festen Wohnsitzes die einfachste Möglichkeit, das Wahlrecht zu beschränken und gleichzeitig den Anschein zu vermeiden, als ob man der demokratischen Gleichheit feindlich gesonnen sei, wie Frankreich dies 1850 demonstriert hatte. Dort hatte eine konservative Deputiertenkammer, die sich nicht nachsagen lassen wollte, dass sie vom allgemeinen Männerwahlrecht abrückte, stattdessen eine strikte dreijährige Wohnsitzpflicht eingeführt und damit auf einen Schlag die französische Wählerschaft um ein Drittel verringert. Großbritanniens strenge Wohnsitzpflicht verlangte von einem Neuankömmling, dass er bis zu 29 Monate warten musste, um zur Wahl zugelassen zu werden. Und in Deutschland konnten nur Dorfbewohner den Gemeinderat wählen, die seit mindestens zehn Jahren im Ort wohnten.101 Aber das Reichstagswahlgesetz sah im Wohnsitz nur eine administrative Angelegenheit. Die Vorschrift, dass der Wähler in dem Wahlbezirk seinen Wohnsitz haben 99

Achtung! Schlafhausbewohner und Quartierleute!, in: Saar-Post 294 (23. Dez. 1911) AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3601. »Einfall«: Nationalliberale Correspondenz, 39/1 (3. Jan. 1912) BAB-L R1501/14460, Bl. 140v. 100 Zitat: Dr. Wagler, Polizei Leipzig, 26. Sept. 1912. BAB-L R1501/14460, Bl. 364 f.; Der Schutz der Wahlhandlung nach § 108 St. G. B. in der Judikatur des Reichsgerichts, Archiv für Öffentliches Recht, (Tübingen 1906) 20/2, S. 285 ff.; LR v. Wilms an RP in Potsdam, 11. Feb. 1907, BAB-L R1501/14458, Bl. 125 ff.; MdI an Kanzler, 7. April 1907, BAB-L R1501/14458, Bl. 124; Dr. Ayrer, Kreishauptmannschaft Leipzig, an MdI von Sachsen, 2. Okt. 1912, BAB-L R1501/14460, Bl. 352. 101 Huard: Suffrage, S. 54 f., zitiert in Kreuzer: Institutions; Seymour u. Frary: World, Bd. 1, S. 149; Richard J. Evans: Death in Hamburg. Society and Politics in the Cholera Years 1830–1910, New York 1987, S. 48.

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müsse, dessen Wählerliste seinen Namen enthielt (§ 7), ließ ohne nähere Erläuterung, was unter »Wohnsitz« zu verstehen sei, alles offen.102 Die Liberalität des Wahlgesetzes, die 1898 durch eine eindeutige Festlegung des Reichstags untermauert wurde, wurde zur Magna Charta der SPD, die sich darauf berief, wann immer örtliche Potentaten versuchten, umherziehende Erntehelfer und Rübenarbeiter von den Wählerlisten zu streichen. Alle Anträge auf Änderungen wurden mit eigenen Anträgen beantwortet, die Strafen für Wahlvergehen zu verschärfen. Das Zentrum schwenkte auf die gleiche Linie ein, ließ seinen Vorschlag der Wohnsitzpflicht von 1890 fallen und bat die Regierung, die Bürgermeister anzuweisen, dass sie jeden Wähler akzeptieren müssten, der ein Schlafquartier in ihrem Wahlbezirk nachweisen könne.103 Und die Reichsregierung fühlte sich genötigt, der Bitte zu entsprechen. Als sich die Regierung des winzigen Fürstentums Reuß (Ältere Linie) sich mit einer unverhofften Nachwahl kurz nach der Reichstagswahl von 1912 konfrontiert sah und die Wahlvorsteher anwies, keine Stimmzettel von Wählern anzunehmen, von denen sie wussten, dass sie erst nach dem ersten Wahlgang angekommen waren, brach in der SPDPresse die Hölle los. Das Kanzleramt war gezwungen, in Aktion zu treten und zum Hütehund der SPD zu werden, indem es das auf Irrwege geratene Reuß in den Schoß der Verfassung zurück geleitete.104 Das Thema des Wohnsitzes umfasste ein Problemfeld, das beträchtliche Auswirkungen auf Deutschlands Zukunft haben würde. Die Begriffe, die von den Betroffenen zur Beschreibung der Wahlkreisschiebung »von unten« durch das Volk benutzt wurden (»Überfall«, »Attentat«, »Verschiebungen«, »Wähler-Vagabundentum«, »politische Schieberkunst«), implizierten, dass die Zugehörigkeit selbst – in diesem Fall zum Wahlkreis, einer Gemeinschaft Wahlberechtigter – gewissermaßen normativen Wert besaß. Als jedoch Parteien und Interessengruppen begannen, zahlreiche Funktionen von Gemeinden zu übernehmen und sich nicht nur als reale örtliche Milieus zu etablieren, sondern als »imaginäre«, ortsungebundene Gemeinden, gerieten die Frage der Grenzen und der »Zugehörigkeit« sowie die Beziehung von beiden zur Organisation politischer Repräsentation zusehends schwieriger. Tatsächlich sollte die Zukunft – wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden – die Wähler nicht enger an ihre Wahlkreise anbinden, sondern sie von den Fesseln territorialer Zugehörigkeit vollkommen lösen.

102 Einige Orte scheinen Beweise dafür vorgeschrieben zu haben, dass die Namen der Wähler aus der Liste ihres gesetzlichen (nach Definition des Gewerbe- und Zivilrechts) Wohnorts gestrichen sei, aber die meisten taten dies offenbar nicht. Wenn sie dies getan hätten, wären die Sorgen über Doppelwähler verflogen. Stoltz (?), MdI an Bethmann Hollweg, 23. April 1913, BAB-L R1501/14461, Bl. 54 f.; Haupt, OBM für Stadtrat v. Freiberg/Sachsen, an Kreishauptmannschaft Dresden, 14. Jan. 1913, BAB-L R1501/1460, Bl. 460–467. Für gewöhnlich wurde höchstens ein Beweis für den Namen des Wählers verlangt. Forderung des angloamerikansischen Systems: Unsigniert an Bismarck, Naumburg (?), 5. März 1890, BAB-L R1501/14693, Bl. 234. 103 Antrag Dr. Frank, § 120 des Strafgesetzes zu ändern, 23. Jan. 1912, in BAB-L R1501/14645, Bl. 220; Rheinisch-Westfälische Zeitung, zitiert in: Politische Schieberkunst, in: Nationalliberale Correspondenz 39/1 (3. Jan. 1912) BAB-L R1501/14460, Bl. 140v. 104 Korrespondenz und Zeitungsausschnitte in BAB-L R1501/14460, Bl. 378 f., 393 f.f, 400 ff., 409 ff..

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Welche Bedeutung hatten die wandernden Armeen von Parteimitgliedern im Gegensatz zu jenen glücklosen Wählern, die einfach durch ihre Arbeit gezwungen waren, fern der Heimat zur Wahl zu gehen? Das Kanzleramt veranlasste, getrieben von einer empörten liberalen Presse, nach den Wahlen von 1903, 1907 und 1912 Untersuchungen der Gerüchte über einwandernde Legionen und drängte zugleich die Landesregierungen, dasselbe zu tun.105 Jagten sie nach einem Phantom? Das Phänomen ereignete sich vermutlich weniger häufig und war mit Sicherheit weniger wirksam, als die Behörden und die Kassandras von der Presse befürchteten. Obwohl einige der Panikmacher so weit gingen, das explosive Wachstum des Berliner Vororts Niederbarnim – so unwahrscheinlich dies auch war – auf eine Wahlstrategie der SPD zurückzuführen, ließen sich wenige Beweise dafür finden, dass Wahlergebnisse maßgeblich durch Bürger beeinflusst wurden, die mit den Füßen abstimmten. (Bereits 1912 hätte die SPD selbst in einem hermetisch abgeriegelten Niederbarnim ohnehin den Sieg davongetragen.106) Aber selbst wenn sich die Gerüchte bewahrheitet hätten, sah sich die Regierung nicht imstande, Abhilfe zu schaffen. Eine Wohnortpflicht hätte eine Änderung des Wahlgesetzes nötig gemacht, eine Aussicht, die sie realistisch genug war, für »wohl nach der Lage der Sache gänzlich ausgeschlossen« zu halten.107 Darüber hinaus hätte jede Initiative, die das bestehende Gesetz in Frage stellte, die Büchse der Pandora geöffnet, aus der die Rechte und ihre Anhänger wenig Gutes zu erwarten gehabt hätten, mit unüberschaubaren negativen Folgen, falls weitere Reformen dabei herauskämen. Nicht das geringste der Übel war die schon lange bestehende Forderung nach einer Neueinteilung der Wahlkreise.108 Es bedurfte keiner großen Einsicht, zu erkennen, dass die Sozialdemokraten sich gerechtfertigt fühlten, die Wahlkreisgrenzen von unten zu verschieben, da die bestehenden Grenzen der Wahlkreise de facto eine Art Wahlkreismanipulation von oben bedeuteten. Diesem Thema werden wir uns jetzt zuwenden.

105 Bülow an Landesregierungen, 7. Juli 1903, BAB-L R1501/14703, Bl. 2–7; Delbrück (für Bethmann Hollweg) an Landesregierungen, 1. Nov. 1911, BAB-L R1501/14460, Bl. 132, und nochmals am 10. Dez. 1912, ebd., Bl. 363. 106 Antworten auf die Frage Bethmann Hollwegs: BAB-L R1501/14460, Bl. 459 ff., 475 ff.; BAB-L R1501/14461, Bl. 54 f., 113 f., 118 ff., 125 ff. Frank: Brandenburger, S. 97 ff. 107 MdI an Bülow, 7. April 1907, BAB-L R1501/14458, Bl. 124; Zitat v. Wilms, LR in Nauen, an RP in Potsdam, 11. Feb. 1907, ebd., Bl. 126 f. Hierzu Dr. Ayerer, Kreishauptmannschaft Leipzig, an sächsisches MdI, 2. Okt. 1912, BAB-L R1501/14460, Bl. 352. 108 Um diese Büchse geschlossen zu halten, drängte Bismarck die Länderregierungen, die gewünschten Reformen aufzugeben, die die Verwaltungsgrenzen verändert hätten. Hierzu Korrespondenz von März 1877 bis 1880: BAB-LR1501/14450, Bl. 14, 16–18, 82, 83–85, 205v-206, 213–217; BAB-L R1501/14653, Bl. 58–60, 70; und wieder 1887: BAB-L R1501/14452, Bl. 162, 164 f., 222 f.; wie seine Nachfolger 1893– 1894: BAB-LR1501/14453, Bl. 169 f., 173, 211.

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Wer ist mein Nachbar? Die imaginierte Gemeinschaft und die Forderung nach dem Verhältniswahlrecht Zwei Überlegungen dienen traditionell dazu, die Vorschrift zu legitimieren, dass der Bürger tatsächlich in dem Bezirk wohnen soll, in dem er wählt. Die erste ist praktischer Natur. Die Wohnortvorschrift macht es leicht, nachzuprüfen, ob der Wähler tatsächlich der ist, der zu sein er vorgibt: eine Barriere gegen Betrug, besonders gegen mehrfaches Wählen.109 Obwohl die polizeilichen Auskünfte auf Regierungsnachfragen gelegentlich nicht zwischen mobilen und betrügerischen Wählern unterschieden, war direkter von Parteien veranlasster Betrug kein ernsthaftes Problem.110 Männer, die sich für andere ausgaben, waren fast immer unbedarfte Angehörige der niederen Schichten, die von jemandem gehört hatten, der nicht wählen konnte oder wollte. Sie handelten aus eigener Initiative, motiviert durch das Verlangen, keine politische Gelegenheit ungenutzt zu lassen.111 Ausländische Wähler kamen für gewöhnlich aus dem Osten: polnische Arbeiter und jüdische Geschäftsleute mit zweifelhaftem Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit, aber mit demselben Bedürfnis, politisch zu gelten.112 Selbst falls sich jeder geäußerte Verdacht bestätigt hätte, kämen die Zahlen für das Deutsche Reich nicht annähernd den 25.000 illegalen Wählern nahe, die den Einbürgerungsmühlen der Organisation Tammany in New York im späten 19. Jahrhundert zugeschrieben wurden. Der Tübinger Jurist Carl Schneidler hielt in seiner Untersuchung über Wahlverstöße Betrug im Ausmaß selbst einiger hundert Stimmen für »wohl kaum denkbar«. Und während massiver Betrug bei den damaligen amerikanischen Wahlen Anlass zu einiger Skepsis über die herrschende ethno-kulturelle Historiographie geliefert hat, welche Wahlstimmen als »Träger kultureller Äußerungen« interpretiert, verstärkt die Handvoll Fälle mehrfacher oder illegaler Stimmabgabe, die jeder deutschen Wahl angelastet 109 Notiz von G.[allenkamp? Beamtem], 2. Juli [1903], BAB-L R1501/14703, Bl. 3 f.; Reichstagswahlrecht und Wohnsitzveränderung, in: Königsberg Hartungsche Ztg (20. Dez. 1912). Bab-L R1501/14460, Bl. 379; Tages-Rundschau, in: Abendblatt der FrankZ 355 (23. Dez. 1911), auch die Neue Politische Correspondenz (12. Dez. 1911). BAB-L R1501/14645, Bl. 184 f. 110 Antworten auf Bülows Nachfrage legten einige Fälle stellvertretenden Wählens, Verkörperung anderer Personen oder ähnlicher Unregelmäßigkeit nahe: BAB-L R1501/14703, Bl. 121–124, 240, 245 f.; ebd., 14750, Bl. 33–38, 54–77, 96–107. 1903 jedoch wurde Jos. Herzfeld, ein SD Abgeordneter von Rostock, verurteilt, weil er sowohl in Rostock als auch in Berlin gewählt hatte. Seltsamerweise setzte das Gericht eine Strafe von nur vierzehn Tagen Gefängnis fest und sprach ihm »eine ehrlose Gesinnung« ab, da er aus »Parteieifer« in einer »wichtigen prinzipiellen Frage« (der Wahl) gehandelt habe. Urteil Königliches Landgericht Berlin, 1. Dez. 1903, BAB-L R1501/14703, Bl. 288–319. SS des MdI an SS des RJA, Juli 1904, BAB-L R1501/14705, Bl. 1–4. Eine Handvoll Fälle doppelten Wählens, oft in gutem Glauben: BABL R1501/14703, Bl. 39–42, 79–82, 140. 111 Z. B. Gerichtsurteil gegen Jos. Braun, BAB-L R1501/14461, Bl. 98–101. Andere Fälle von 1912: Bl. 149– 151, 155 f., 157–164, 167, 169–174; BAB-L R1501/14460, Bl. 475 f. 112 Hierzu Berlin I und II (1882/83, 5/II, Bd. 5) DS 29, S. 266 f. und Königsberg 3 (1879, 4/II, Bd. 6) DS 232, S. 1524–1526. Anschuldigungen, dass ca. sechzig Schweizer in Gut Gollmitz bei Prenzlau K wählen durften: Potsdam 4, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1435, S. 2953. Allgemein: Wahlfälschung bei Reichstagswahlen, Annalen des Reichsgerichts 1 (1880), S. 458 f.; 4 (1881), S. 355 f.

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werden, tatsächlich das Argument für eine kulturelle Interpretation der Bedeutung der Stimmabgabe als Zeichen von Selbstachtung und Intensität des politischen Engagements.113 Der Schuhmacher Max Bruno Falz zum Beispiel wählte außerhalb seines Wahlkreises, weil niemand wissen sollte, dass er als Empfänger von Armenhilfe nicht berechtigt war, sein Bürgerrecht wahrzunehmen.114 Als der Landarbeiter Hermann Stern aus Groß Sibsau bekannte, zweimal gewählt zu haben, war er nicht das Werkzeug einer Parteimaschine gewesen. Aber, so erklärte er, er wolle »lieber Strafe leiden, als den Polen durchkommen lassen«.115 Die Unehrlichkeit dieser Männer war individuell, und – anders als bei jenen von »Boss« Tweed bestochenen Wählern in New York – nicht ein Anzeichen der Käuflichkeit, sondern des politischen Willens. Obwohl die Parteien selbst die Gesetzeslücken ausnutzten, um ihre Wähler zu verschieben, hielt sie der Respekt vor den Regeln davon ab, sie diese mit Hilfe von Gesetzeslücken doppelt wählen zu lassen. Ich bin sogar auf Wahlbeobachter der SPD gestoßen, die gegen sozialdemokratische Wähler Strafanzeige erstatteten, welche zweimal oder anstelle anderer wählen wollten – Skrupel, die Parteifunktionäre in manchen Ländern erstaunt hätten.116 Ein verblüffter Eduard Bernstein erinnerte sich, wie ein Funktionär der Labour Party versucht hatte, ihn in der Zeit seines Londoner Exils zur Wahl einzuschreiben, selbst nachdem er darauf bestanden hatte, dass er kein britischer Staatsbürger sei. Es sei Sache des Gegners, dies herauszufinden, erwiderte der Funktionär, und den Antrag zu stellen, Bernsteins Namen aus den Wählerlisten streichen zu lassen. In Deutschland beschuldigte nicht einmal die liberale Presse, die empört auf die Wanderwähler der SPD reagierte, diese, doppelt gewählt zu haben. Die Liberalen klagten sie nicht der Wahlfälschung an, sondern der »Wahlbildfälschung«.117 Die zweite traditionelle Legitimierung der Vorschrift, dass der Bürger in dem Ort seinen Wohnsitz haben sollte, in dem er wählte, war ideologischer Natur. In einigen Kulturen, besonders den angloamerikanischen, wurde das Territorium (als gleichbedeutend mit »Interessen«) als Objekt der Repräsentation angesehen, und nicht die »nichtssagende Bevölkerung«. Die Wohnsitzvorschrift war ein naheliegendes Mittel, um sicherzustellen, dass die Wähler, die den Repräsentanten wählten, eine Verbindung zum Territorium und zueinander hatten. 113 Schneidler: Die Delicte gegen das öffentliche Wahl- und Stimmrecht. R. St. G. B. §§ 107–109, in: Der Gerichtssaal. Zeitschrift für Strafrecht, Strafproceß, Gerichtliche Medicin, Gefängnißkunde und die gesammte Strafrechtsliteratur 40 (1888), S. 1 ff.; Zitat S. 15; Argersinger: Perspectives, S. 672. Einige Wissenschaftler datieren jetzt das klassische Zeitalter der städtischen Wahlkorruption in den USA nach dem Ersten Weltkrieg. Betrug des W. M. Tweed und seiner politischen Organisation Tammany in New York, sowie Beschwerden gegen elf weitere Großstädte: Allen u. Allen: Fraud, S. 59, 162 – die jedoch dem Bild weit verbreiteter Korruption widersprechen. 114 BAB-L R1501/14460, B. 464–466; ebd., 14461, Bl. 110–110v. Eine Frau gab eine Stimme stellvertretend für ihren Mann ab, da sie nicht wollte, dass alle erführen, dass ihr Mann im Gefängnis saß. Ebd., Bl. 108 f. 115 BAB-L R1501/14461, Bl. 155 f.; und Bl. 122–124. 116 BAB-L R1501/14460, Bl. 464 f.; ebd., 14461, Bl. 110–112v. 117 Politische Schieberkunst, in: Nationalliberale Correspondenz 39/1 (3. Jan. 1912), BAB-L R1501/14460, Bl. 140v. Dr. Wagler von der Leipziger Polizei jedoch betrachtete die SPD-Aktion als Betrug. Ebd., Bl. 364.

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Laband drückte dies so aus, dass ohne eine solche Vorschrift »Zweck und Wirkung der gesetzlichen Wahlkreiseinteilung vollständig vereitelt« werde.118 Auch wenn die Territorien selbst einige historische Substanz hatten, entsprachen die Affinitäten der Bevölkerung selten exakt deren Grenzen. Politiker, die von dem Wunsch getrieben wurden, ihrer eigenen Partei einen Vorteil zu verschaffen, haben die Grenzen häufig dementsprechend neu gezogen – der berühmteste unter ihnen war Elbridge Gerry, dessen salamanderförmiger Wahlkreis im Jahr 1812 dem »Gerrymandering« seinen Namen gab. Dennoch behielt Gerrys tendenziöse Grenzziehung, obwohl sie die Substanz untergrub, die Form der territorialen Repräsentation bei. Aber trotz Professor Labands gegenteiliger Meinung taucht eine territoriale Auffassung der Repräsentation nach ihrer Erörterung in der Frankfurter Versammlung, selbst als Ideal, kaum noch in den deutschen Diskussionen über das Wahlrecht auf.119 Die Reichstagswahlkreise waren von Anfang an aus verschiedenen Kreisen zusammengesetzt und konnten nur die geringsten Ansprüche darauf erheben, definierbare Gemeinschaften zu sein, deren Verbindungen sich in die Vergangenheit erstreckten. Anders als amerikanische Kongressabgeordnete waren deutsche Abgeordnete nie verpflichtet, in dem Wahlkreis zu wohnen, den sie repräsentierten, und einige ließen sich niemals dort blicken. (Der Zentrumsmann Windthorst, weithin als »Perle von Meppen« bekannt, beglückte seinen Meppener Wahlkreis nur zweimal in 23 Jahren.) Je weiter links eine Partei stand, desto wahrscheinlicher war es, dass ihr Kandidat von außerhalb kam, eine Tatsache, die den Zeitgenossen nicht entging.120 Einige Parteigrößen kandidierten, wie wir wissen, in mehreren Wahlkreisen und wählten gelegentlich ihren Wahlkreis erst, nachdem alle Ergebnisse feststanden. Der heftigste Schlag gegen das Konzept der territorialen Repräsentation war Artikel 29 der Reichsverfassung, der einen Abgeordneten zum Repräsentanten des »ganzen Volkes« erklärte, der nur seinem Gewissen und keinen speziellen Interessen verantwortlich war. Dieses von jeglichem Territoriumsbezug losgelöste Verständnis der Volksvertretung hatte erhebliche Konsequenzen, vor allem nachdem demographische Veränderungen in einigen Wahlkreisen diese erheblich bevölkerungsreicher machten als andere. Das Gesetz sah eindeutig eine ungefähre Gleichheit der Repräsentation vor und setzte als Norm einen Abgeordneten pro 100.000 Menschen fest. Aber ein früher Vorschlag der Regierung, die Grenzen zwischen den Wahlkreisen mit jeder neuen Volkszählung anzugleichen, wurde von der Linken im Konstituierenden Reichstag abgelehnt. Die Erfahrung von 1856, als die preu118 Zitiert in einem L Protest: Trier 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3585, 3604. 119 Ausnahmen: Preußischer Landtag 1849, Hatschek: Kommentar, S. 133; das preußische Kabinett in den frühen 1860er Jahren: v. Selchow [Votum] an SM, 28. Okt. 1864, Bismarck an SM, 23. Dez. 1864, BAB-L R43/685, Bl. 2–7, 11 f.; Pollmann: Parlamentarismus, S. 72; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 222 f. Labands eigene Meinung muss im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Debatte über Neueinteilung der Wahlkreise gesehen werden, bei der er die Seite der Konservativen vertrat. Oft wurde von Gruppen die Meinung vertreten, dass die Wahlbezirksgrenzen, innerhalb derer die Leute wählten, eine Art von »Zugehörigkeit« widerspiegeln sollten. Der Kocherbote (Gaildorf) 93 (6. Aug. 1878) BAB-L R1501/14693, Bl. 62. 120 A. Putschke an Bülow, Zittau, 19. Jan. 1907, BAB-L R1501/14697, Bl. 210–214.

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ßische Regierung die Grenzen von 61 oppositionellen Wahlkreisen neu gezogen hatte, war keineswegs vergessen und die Abgeordneten fürchteten um ihre Mandate, falls die Verwaltung ermächtigt würde, in regelmäßigen Abständen die Wahlkreise zu verändern.121 Doch bereits 1871 veranlasste die riesige Diskrepanz zwischen dem größten Wahlkreis (Pleß-Rybnik) und dem kleinsten (Schaumburg-Lippe) die Statistiker zu Kommentaren, in denen sie akkurat vorhersagten, dass die Ungerechtigkeit in den kommenden Jahren noch anwachsen werde. In den 1880er Jahren hatte der größte Wahlkreis, Berlin VI, eine Bevölkerung, die mehr als doppelt so groß war wie die gesetzlich festgelegte Norm (und achtmal so groß wie Schaumburg-Lippe), und die oppositionelle Presse wies regelmäßig auf diese Ungleichheiten hin – mit der Genugtuung der Gerechten.122 Der Reichstag wurde gedrängt, die dichtere Bevölkerung der Städte durch die Erhöhung der Abgeordnetenzahlen zu kompensieren – und dies zu tun, bevor das geplante neue Reichstagsgebäude errichtet wurde, das nach Paul Wallots Entwurf nur Platz für 400 Sitze bot. Schließlich wurden die Forderungen nach neuen Wahlkreisgrenzen lauter, zumal einige Abgeordnete behaupteten: »Es gibt keine dringendere Staatsnothwendigkeit, keine größere nationale Frage als diese Forderung.«123 Obwohl in der Formulierung des Reichstagswahlgesetzes deutlich stand, dass die ursprünglichen Wahlkreisgrenzen provisorisch seien, wurden die Wahlkreise dennoch nie neu festgelegt. 1912 war Schaumburg-Lippe immer noch sehr wenig gewachsen, während die Bevölkerung von Teltow-Charlottenburg eine Million überstieg, wodurch eine Stimme aus Schaumburg-Lippe 25mal so viel Gewicht hatte wie eine aus Teltow-Charlottenburg.124 Deutschland war nicht das einzige Land, wo die Bestrebung zur Demokratie mit Wahlkreisgrenzen im Konflikt stand, welche unterschiedlichen Bürgern unterschiedliche Stimmkraft verliehen. Selbst nach dem Redistribution Act von 1885 wies Großbritanniens größter Wahlkreis eine 30-mal größere Bevölkerung auf als die des Wahlkreises der Dubliner Universität, der zwei Mitglieder ins Un121 Die Ungleichheit der Wahlkreise: II, in: BrZ (F) 25. März 1885, BAB-L R1501/14451, Bl. 303; Hatschek: Kommentar, S. 134 ff. 122 Knorr: Statistik, Spalten 313–318; Hannoverscher Kurier (4. Okt. 1881), und Reichswahlgesetz und Wahlkreis-Einteilung, in: Hannoverscher Kurier (7. Nov. 1884) beide in BAB-L R1501/14451, Bl. 64 u. 242; Die Eintheilung der Reichstags-Wahlkreise, in: BT (2. April 1887) BAB-L R1501/14452, Bl. 224. 123 Rezension von E. Cahn: Das Verhältnis-Wahlsystem in den modernen Kulturstaaten (Berlin, 1909) in W. Heile: Mehrheitswahl, S. 482 ff. Zu Forderungen, Wahlkreise neu einzuteilen oder die Anzahl der Abgeordneten zu erhöhen: Bismarck an Forckenbeck, 9. Dez. 1876, BAB-L R101/3342, Bl. 230–230v; Antrag Blos u. Most, AnlDR (1878, 3/II, Bd. 2) DS 67, S. 550; Antrag Rittinghausen u. Sonnemann, Jan. 1882, BAB-L R1501/14451, Bl. 290–292; Entwurf von P. Wallot: SBDR 9. Juni 1883, 24. Jan. 1885; Petition des (Berliner) Arbeiter-Bezirksvereins vom Lausitzer Platz und Antrag Viereck: 3. März 1884, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 228, S. 945; Wahlverein (F) von Berlin VI, 14. Juni 1890, und Wahlkreisverein der Hamburger Vorstadt zu Berlin, BAB-L R1501/14453, Bl. 79, 82–86, 144 f.; W. Gannert, Vorsitzender des Berliner Arbeiter-Bezirksvereins, 18. Feb. 1907, BAB-L R1501/14458, Bl. 138 f.; Handlungen des Dritten Deutschen Städtetages am 12. Sept. 1911 zu Posen betr. Neueinteilung der Reichstags-Wahlkreise, Das »gleiche« Wahlrecht, in: Leipziger Volkszeitung 218 (20. Sept. 1911), beide in BAB-LR101/3360, Bl. 28. 124 Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 874; Steinbach: Zähmung, Bd. 1, S. 35 f. Schaumburg-Lippe ist jedoch nicht repräsentativ für das Problem, weil es genauso fähig war, einen LL als einen FK zu wählen. Hierzu auch: Das Reichstag Wahlrecht – ein Pluralwahlrecht, in: Vorwärts 19, 25. Feb. 1911, BAB-L R101/3360, Bl. 7–9.

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terhaus sandte – ein Verhältnis, das ungünstiger war als jedes deutsche. Großbritanniens Ungleichheiten hatten auch politische Konsequenzen – beispielsweise für die Zukunft Irlands, als in der Unterhauswahl von 1886 die Liberalen (die im Allgemeinen für die Selbstbestimmung Irlands (Home Rule) eintraten, mit mehr als 65.000 Stimmen Vorsprung gewannen, aber die Konservativen die Regierung übernahmen und über eine überwältigende Mehrheit von 104 Sitzen im Unterhaus verfügten. Obwohl die Diskrepanzen zwischen der Stimme des Volkes und der Sitzverteilung nie wieder dieses Ausmaß annahmen, blieben sie doch genauso lange bestehen wie die deutschen – also bis zu den Reformen am Ende des Ersten Weltkriegs. Aber es gab einen großen Unterschied: Das britische Wahlgesetz schützte keine Gleichheit vor. Die Anzahl der Stimmen, die ein Mann abgeben durfte, war nur durch die Zahl der Wahlkreise begrenzt, in denen er Grundbesitz im benötigten Mindestwert besaß. Joseph Chamberlain, Parteiführer der Liberal Union, der in drei Wahlkreisen wählte, behauptete jemanden zu kennen, der sogar in 23, und noch jemanden, der in 80 Wahlkreisen wählen durfte. Einige britische Wahlkreise waren geradezu überschwemmt von Grundbesitzern, die nicht dort wohnten, was die ganze Frage der territorialen Repräsentation zum Gespött machte. Die Torys, die im Ruf standen, bei jeder Wahl vierzig bis achtzig Sitze durch Mehrfachwähler zu gewinnen, stellten sicher, dass vor 1918 sämtliche Versuche, das System zu beenden, durch ihre Macht in jener höchst undemokratischen Versammlung – dem House of Lords – vereitelt wurden.125 Die Ungerechtigkeiten, die sich durch die veraltete Einteilung der deutschen Wahlkreise ergaben, hatten auch nicht entfernt das Ausmaß wie noch heute im US-Senat, wo 2006 der Staat Wyoming, mit kaum 500.000 Einwohnern, über so viele gewählte Senatoren verfügte wie der Staat Kalifornien mit seinen 37 Millionen Menschen – also 74-mal so vielen – eine Diskrepanz, die niemanden zu stören scheint. Bereits dreimal in seiner Geschichte hat das Electoral College der USA, eine geisterhafte Institution, an deren Existenz die Bürger (bis zur Präsidentenwahl 2000) von Zeit zu Zeit erinnert werden müssen und das allein zur Repräsentation des Territoriums existiert, den Amerikanern einen Präsidenten beschert, der der Stimmenzahl des Volkes nach die Wahl verloren hatte. Was am deutschen System auffällig war, waren nicht seine Ungleichheiten, sondern die ungeheuere Aufmerksamkeit, die diese erregten. Die Journalisten fanden die Frage unglaublich faszinierend; sie behaupteten, in der Bevorzugung des platten Landes durch das System eine perverse Machtverteilung zugunsten der Rückständigkeit zu entdecken: »Je rückständiger, desto mächtiger!« Die Linke sah in der Weigerung, die Wahlkreise neu einzuteilen, »die Aufhebung des gleichen Wahlrechts für die Einwohner der großen Städte und der Industriezentren«. Die Tatsache, dass das ostelbische Flachland den Sozialisten verschlossen blieb, bedeutete, dass diese im Durchschnitt 75.800 Stimmen brauchten, um einen der ihren zu wählen, während ein Konservativer nur 17.700 Stimmen benöti125 Seymour u. Frary: World, Bd. 1, S. 151 ff., 166 ff., 177 f. Blewett: Franchise, S. 44 ff., ist sich einer systematischen Voreingenommenheit weniger sicher.

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gte.126 Da geographische Diskrepanzen den Parteivorteil verstärkten, wurde die Berechnung einer möglichen Zusammensetzung des Reichstags entsprechend Kriterien, die die Bevölkerungsverteilung genauer widerspiegelten, zum nationalen Zeitvertreib.127

−−− Alle Grenzen jedoch sind in gewisser Weise willkürlich. Diese Erkenntnis brachte einige, die ursprünglich Reformen befürwortet hatten, dazu, sich zurückzuhalten, da sie die ungeheuere Macht fürchteten, die derartige Reformen in die Hände jeder ausführenden Regierung gegeben hätten.128 Die Frage der Grenzen berührte darüber hinaus das fundamentale Thema der Zugehörigkeit. Jede Grenze ließ jene, die durch sie majorisiert wurden, fühlen, dass sie auf der »falschen« Seite, abgeschnitten von ihrer wahren politischen Heimat seien. Die »reichstreuen« Wähler von Gaildorf waren ihre durch die Demographie vorgegebenen Niederlagen gegen das Zentrum derart leid, dass sie nach Jahren vergeblicher Beschwerden eine öffentliche Erklärung abgaben, in der sie einen Boykott der Reichstagswahlen ankündigten, bis die Grenzen ihres Wahlkreises (Württemberg 13) neu gezogen seien: ein offensichtlicher Versuch, die Reichsregierung zu erpressen.129 Und wo die Bevölkerung mobil war, konnte jeder Wahlkreis willkürlich erscheinen. Die Grenzen einzelner Wahlkreise zu ändern würde den Reichstag nicht repräsentativer machen, argumentierte der Geschäftsführer einer Druckerei im brandenburgischen Beeskow in einem Brief an Bismarck.130 Das absolute Mehrheitsrecht in Einmännerwahlkreisen versetzte jene, die sich weniger mit einer territorialen als mit anderen Gemeinsamkeiten identifizierten, zumal, wenn sie in der Minderheit waren, in das Gefühl, keine Stimme zu haben. Wenn die Abgeordneten nicht, wie Artikel 32 der Verfassung dies versicherte, das »Territorium« repräsentierten, das sie gewählt hatte, sondern die gesamte Nation, welche Rechtfertigung gab es dann für sie, den Mehrheiten der 397 einzelnen Wahlkreise den Vorzug zu geben und lokale Minderheiten ihrer Wählerstimmen zu berauben, die sie, insgesamt gesehen, reichsweit verdienten? Seit den 1870er Jahren schrieben immer wieder Wähler an den Kanzler wegen genau dieses Themas: der Ungerechtigkeit eines Reichstags, der aus

126 Zitate: Naumann: Ungleiches Wahlrecht, S. 580 ff.; Reichstag: Siebenter Bericht der Kommission für Petitionen, 3. März 1885, BAB-L R1501/14451, Bl. 290–292. Merkt: Einteilung, Spalten 50–67. Zahlen: Falter: Wähler, S. 131; andere Zahlen, aber gleiche Botschaft: Vorwärts 86 (13. April 1907), BAB-L R1501/14458, Bl. 130. 127 Ohne Suval: Politics, S. 41, nahetreten zu wollen. Die Ungleichheit der Wahlkreise, in: BrZ (F), 23. und 25. März 1885, BAB-L R1501/14451, Bl. 301, 303. 128 Bismarck an Ministerium, 23. Mai 1886, BAB-L R43/685, Bl. 15; Die Ungleichheit der Wahlkreise: II, in: BrZ (F), 25. März 1885: BAB-L R1501/14451, Bl. 303. 129 Amtspfleger Haaf an Herbert Bismarck, 6. Aug. 1878 (Beilage: Der Kocherbote Nr. 93, 6. Aug. 1878, und Zur Reichstagswahl, in: Der Kocherbote Nr. 121, (13. Okt. 1881) BAB-L R1501/14693, Bl. 58–62; 84. 130 H. Prelipper [Trelipper?] an Bismarck, 19. Nov. 1884, BAB-L R43/685, Bl. 227–230.

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hunderten Wahlkreisen gewählt wurde, wobei jeweils deren eigene Mehrheit entschied, ohne eine Möglichkeit, die »verlorenen« Stimmen der Minderheiten zu sammeln. Sowohl komplizierte als auch einfache alternative Systeme wurden vorgeschlagen – nicht nur von Politikwissenschaftlern, sondern auch von unzufriedenen Ärzten, Rechtsanwälten, Kaufleuten, Priestern, Reichen, Armen, Bürokraten, Handwerkern und Fabrikbesitzern. Aus Hamburg und Berlin, aus Karlsruhe, Regensburg und vielen kleineren Städten und Dörfern in ganz Deutschland kamen diese Vorschläge. Manchmal war das Ziel, einer Minderheitenmeinung gerecht zu werden. Gelegentlich, aber nicht immer, lag der Zweck eines Vorschlags darin, die Notwendigkeit von Parteien überhaupt in Frage zu stellen, oder zumindest solcher Parteien, deren Interessen vom Schreiber als allzu speziell angesehen wurden.131 Einige glaubten, dass ein korporatives, an Berufe gebundenes Wahlrecht fairer sei.132 Mit der Zeit schien die einzig faire Lösung zu sein, die Idee aufzugeben, dass der Wähler irgendwo »hingehöre«, ob territorial oder beruflich, und einen Modus zu akzeptieren, der die Wählerschaft aufgelöst nur noch als Individuen betrachten würde. Territoriale Grenzen würden verschwinden, Mandate würden an die einzelnen Parteien proportional zu deren Gesamtstimmenzahl verteilt und jeder Mensch würde gleich gezählt werden. Dieses System radikaler proportionaler Repräsentation war zuerst von dem britischen Politikwissenschaftler Thomas Hare publiziert worden; seine Ansichten waren durch die Arbeit des Rechtsgelehrten Johann Caspar Bluntschli auch in Deutschland weit bekannt.133 Der sich herauskristallisierende Konsens zugunsten eines radikal individualistischen Wahlsystems muss seltsam anmuten bei einem Volk, das derart gewohnt war, als Gemeinschaft zu wählen. Doch die Idee, die Wähler von ihren

131 Gegen Parteien: der Anwalt Fr. Hofnockel an Bismarck (mit beigefügtem Aufsatz), Weiden i. d. Oberpfalz, 15. Nov. 1881, BAB-L R1501/14693, Bl. 97–99 (mit Dank erhalten, 29. Nov. 1881, Bl. 101). Adolph Laewi (?) sagte, dass er große politische Parteien befürworte, »ähnlich wie es in anderen Ländern der Fall ist«. Laewi an Bismarck, Regensburg, 10. März 1890, ebd., Bl. 235–240. Andere Vorschläge: Dr. Otto Ringk, Arzt und Geburtshelfer: Entwurf zur Einfuhr eines neuen Wahlgesetzes, Berlin 1884, ebd., Bl. 117–119; T. Moeller, Pastor in Gr. Trebbow bei Schwerin, an Bismarck, 24. Feb. 1886, ebd., Bl. 147–152; Stellvertretender Pfarrer Fischer an Ministerium, Rengersdorf, Kreis Sagan, 9. Feb. 1898, BAB-L R1501/14694, Bl. 141 f.; W. Staelin an Bismarck, Hamburg, 16. Nov. 1884, BAB-L R43/685, Bl. 22 f.; Geh. RR Dr. Ritzhaupt an B., 25. Nov. 1881, Karlsruhe, mit beigefügter Kopie seines Artikels: Zur Frage der Wahlreform, in: Zeitschrift für badische Verwaltung und Verwaltungsrechtspflege, 14 (7. Juli 1869), ebd., Bl. 28–31. Zeitungsdiskussion: Die Ungleichheit der Wahlkreise, in: BrZ, 23. und 25. März 1885, BAB-L R1501/14451, Bl. 301, 303; Das Reichstag Wahlrecht – ein Pluralwahlrecht, in: Vorwärts 19 (25. Feb. 1911), BAB-L R101/3360, Bl. 7–9. 132 Kaufmännischer Lesezirkel: in: Deutsche Buchhändler Ztg, 35 und 36 (2. Sept. 1884), S. 122; Deutsche Männer!, gedruckte Absage an das »Einclassen-Wahlsystem«, unterzeichnet von Fr. Krupp Jr., Privatier, Bonn, 22. Nov. 1884, geschickt an Bismarck, BAB-L R43/685, Bl. 231 f.; Memorandum an Wilhelm II. von Aug. Roese, Drucker, Swinemünde, 6. März 1890, in BAB-L R1501/14693, Bl. 245–256; Adolph Laewi an Bismarck, 10. März 1890, ebd., Bl. 235–240; Jul. Pfeiffer an Wilhelm II, 1. März 1903, BAB-L R1501/14695, Bl. 93–105v. 133 Ritzhaupt an Bismarck, 25. Nov. 1881, BAB-L R43/685; Bl. 28–31; H. Prelipper [Trelipper?] an Bismarck, 19. Nov. 1884 (mit Bleistiftnotiz eines Beamten: »Empfehl des bekannte System Hare«), ebd., Bl. 227–230. Bluntschli: Allgemeines Staatsrecht 1, Buch 5, Kap. 7, zitiert in Fr. Hofnockel an Bismarck, 15. Nov. 1881, BAB-L R1501/14693, Bl. 97–99.

414

Teil 3: Grade der Freiheit

sichtbaren Milieus zu trennen und sie jenen unsichtbaren, imaginären Gemeinschaften zuzurechnen, zu denen jeder sich mit seinem Stimmzettel als zugehörig bekannte, traf auf wenig Kritik. Dies war ein Zeichen dafür, wie rasch sich die Parteien als neue Identifikationsgruppen eingebürgert hatten. Sprecher für alle Ansichten des politischen Spektrums argumentierten zu irgendeiner Zeit zugunsten des Verhältniswahlrechts als gerechteste Wahlrecht. Als erster tat dies ein Statistiker der preußischen Regierung, der schon während des Verfassungskonflikts der 1860er Jahre schrieb, dass die Konservativen, bei mehr als 30 Prozent des Stimmenanteils, nur 10 Prozent der Landtagsmandate bekommen hatten.134 In den 1880ern sangen die Liberalen das gleiche Lied.135 Die Befürworter des Verhältniswahlrechts schlossen gelegentlich sogar das Zentrum ein: eine Partei mit kompakten Wählerschaften, der ein solches Arrangement auf nationaler Ebene am wenigsten zu hoffen und am meisten zu fürchten gab – die aber in Landesparlamenten wie dem württembergischen darauf wetten konnte, als Sieger hervorzugehen. Aber als die Bevölkerung vom Land in die Stadt und von Osten nach Westen zog, deutete sich bereits an, dass von allen Parteien die SPD am stärksten von dem Wandel profitieren würde. Die Argumente für ein Verhältniswahlrecht verlagerten sich von der Notwendigkeit, Minderheiten zu vertreten, die bis dahin als von der Mehrheit »vergewaltigt« dargestellt worden war, zur Begründung, dass es gelte, das volle Potential der Mehrheit auszuschöpfen – die zu sein die SPD anstrebte.136 Von dieser Passage des Erfurter Programms von 1891 an schlugen die Trommeln der SPD das ständige Ostinato des Verhältniswahlrechts. In der Tat erwarteten die meisten Kommentatoren vom Verhältniswahlrecht einen scharfen Linksruck. Die folgende Tabelle vermittelt einen Eindruck von den erwarteten Veränderungen. Die Resultate dieser Berechnungen veranlassten ihren linksliberalen Autor zu frohlocken: »Mit der konservativ-klerikal-polnischen Herrlichkeit ist es damit endlich vorbei«. Nur wenige dieser Triumphierenden schienen sich darum zu sorgen, dass ihre Projektionen, die von dem Anspruch einer gründlicheren Demokratie ausgingen, unter einem System, das die Ungleichheiten nicht nur der Geographie, sondern auch der Geschlechter beseitigt hätte, wahrscheinlich zunichte gemacht worden wären. Doch was wir von den Wahlen der Weimarer Republik wissen, legt es nahe, dass die Vorliebe der Frauen jenen Parteien galt, die den Kirchen besonders zugetan waren – also den Konservativen, dem Zen134 E. Engel: »Die Ergebnisse der Urwahlen …,« zitiert in Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 138. 135 Selbst als sie von der »Wahlkreisgeometrie« in Bayern und Baden profitierten: Die bayerische Wahlkreis-Geometrie von 1881/87 in ihren Wirkungen und in ihrer Tendenz beleuchtet von einem Freunde der Wahlfreiheit und des Rechts (Regensburg und Amberg, 1887); X.Y.Z.: Badische Wahlkreisarithmetik nebst einigem Nichtarithmetischen das dazu gehört (Freiburg i. Br., 1895). 136 Zentrum und Reichstagswahlrecht, in: KVZ (28. Jan. 1904) BAB-L R1501/14457, Bl. 7; Schofer: Erinnerungen, S. 85, 87, Below: Wahlrecht, S. 112; Blackburn: Class, S. 130. Polnische Beschwerden über Reichstags-Wahlkreisgeometrie in Marienwerder 4: v. Koscielski SBDR 7. März 1888, S. 1359. »Unser heutiges Reichstagswahlsystem erscheint in letzter Konsequenz als eine gesetzlich sanktionirte Vergewaltigung der Minorität.« Dr. med. Otto Ringk, Wundarzt und Geburtshelfer, Berlin: Entwurf zur Einführung eines neuen Wahlgesetzes (1884), BAB-L R1501/14693, Bl. 119.

Kapitel 10: Zugehörigkeit

415

Tab. 3: Die Auswirkungen des Einzelmandats-Mehrheitswahlkreises verglichen mit dem Verhältniswahlrecht 1907:1371

Parteien

Sitze im Mehrheitssystem

Sitze im Verhältniswahlrecht

Konservative

60

39

Freie Konservative

24

17

Bund der Landwirte

8

8

Süddeutscher Bauernbund

0

2

Antisemiten

21

9

insgesamt:

113

75

Nationalliberale

54

60

Fr. Vgg

14

13

Fr. VP

28

27

Südd. VP

7

5

Dänen

1

0

insgesamt:

104

100

Zentrum

105

79

Polen

20

16

Welfen

1

2

Elsaß-Lothringen

7

3

insges.:

133

100

Klerikale/ Partikularisten = minus 33

Sozialdemokraten

43

117

= plus 76

Sonstige

4

0

Konservative = minus 38

Liberale = plus 1

137 Quelle: E. Cahn: Das Verhältnis-Wahlsystem in den modernen Kulturstaaten, besprochen von Heile in: Mehrheitswahl, S. 482 ff. Die Summen sind von mir.

416

Teil 3: Grade der Freiheit

trum und der Polenpartei – und deren Verluste durch ein Verhältniswahlrecht ohne Weiteres hätten wettgemacht werden können.137

−−− Aber bis dahin? Um 1900 war der Ruf nach einem Verhältniswahlrecht derart laut geworden, dass es bei den Kommunalwahlen in Bayern (1903), Württemberg (1906) und Oldenburg (1908) sowie in den Landtagswahlen in Württemberg und Hamburg (1906) eingeführt wurde; im Reichstag wurde es für die vorgeschlagenen, von Vertretern der Arbeiter und der Führungskräfte zu wählenden Gewerbegerichte ebenso wie für die auf Vordermann gebrachte Selbstverwaltung der Krankenkassen ins Auge gefasst – ein sichtbarer Trend, der zur international wachsenden wissenschaftlichen Diskussion beitrug.138 Die Debatte über die Neueinteilung der Wahlkreise hatte auch Auswirkungen auf unser jetziges Thema. Denn das berüchtigte »Wähler-Vagabundenthum«, der »Einfall« der abkommandierten sozialdemokratischen Wählermassen, steht im Zusammenhang mit den weit verbreiteten Zweifeln an der Legitimität der Wahlkreisgrenzen überhaupt, und dem Gefühl der Sozialdemokraten, dass ihre Wahlen gestohlen wurde. Da die Grenzen der Wahlkreise, insbesondere solcher, die durch die industrielle Entwicklung, Verstädterung des städtischen Umlands und Pendler verwischt waren, keine gefühlte Legitimierung mehr besaßen – warum sollte man sich noch durch sie einengen lassen? Wenn die Grenzen nicht verschoben werden konnten, so konnten dies doch die Wähler. Die militante Antwort auf die eisenharte Weigerung des Staates, die Wahlkreise »von oben« zu ändern, war eine Wahlkreisänderung, wie sich die Gelegenheit bot, von unten. Von den örtlichen Sozialdemokraten gedrängt, deren nationale Führung behauptete, dass die Weigerung der Regierung, die Sitze neu zu verteilen, einer »systematischen Wahlfälschung« gleichkäme, setzte die wandernde Arbeitsbevölkerung in Berlin, Hamburg, Offenbach, Leipzig und deren Vororten ihre eigene Wahlkreisverschiebung eben mit ihren Füßen durch.139 Wähler zu verpflichten und diese dann physisch – wenn auch nur für kurze Zeit – über Wahlkreisgrenzen hinweg zu bewegen, brauchte Organisation, noch mehr als die Großdemonstrationen zum 1. Mai und zum Wahlrecht, die die Zeitgenossen ungemein beeindruckten: Teams von Parteiarbeitern, die die Adressenänderungsformulare für die Neuankömmlinge ausfüllten, Geld für Betten in billigen Absteigen, für Adressenänderungsgebühren und für die Strafen, die zu entrichten waren, wenn ein übereifriger Wähler dabei erwischt wurde, eine offizielle Ankündigung einer »Ansiedelung« vorgenommen zu haben, die gar nicht stattgefunden hatte. In Leipzig betrug diese Strafe 1912 insgesamt 1.000 Mark – die die SPD auf der Stelle bezahlte.140 Wettbewerbsmäßige Wahlen be137 138 Biographie v. Prof. R. Siegfried, Bab-L R1501/14474, Bl. 229v; Vogel u. a.: Wahlen, S. 135. 139 Dies ist meine Interpretation. »Systematische Wahlfälschung«: Vorstand der Sozialdemokratischen Partei: Handbuch (1911), S. 755. 140 Dr. Wagler, Polizei Leipzig, an Königliche Kreishauptmannschaft Leipzig, 26. Sept. 1912, BAB-L

Kapitel 10: Zugehörigkeit

417

nötigen Parteien, und Parteien benötigen nicht nur die Freiheit des Wählers, sondern auch Geld und Organisation. Wie die deutschen Parteien sich beides verschafften, ist die Frage, der wir uns jetzt zuwenden wollen.

R1501/14460, Bl. 364–365v; Koettig, Polizei Dresden, an Kreishauptmannschaft Dresden, 1. Feb. 1913, ebd., Bl. 460–467.

Kapitel 11: Organisation

Für alle allgemein und gleich gewählten Parlamente brachte der Einsatz des Geldes für die Wahl- und Organisationsfinanzierung eine grundlegende Veränderung, die den Abgeordneten von »Herren« des Wählers zum »Diener« der Parteiführung machte. Peter Molt (1963) No idea has ever made much headway without an organization behind it. Samuel H. Barnes (1955)*

Millionen einzelner Menschen, wie demokratisch ihre Gesinnung und wie frei ihre Wahlen auch immer sein mögen, können keine Kontrolle über einen Staat ausüben. Ihre Ansichten sind zu unterschiedlich, ihre Wünsche zu vergänglich. Die allgemein formulierten Prinzipien, unbestimmten Wählerschaften, schwach definierten Interessen und rudimentären Organisationsstrukturen, welche die alten Honoratiorenpolitik einerseits und die Hyperdemokratie andererseits charakterisieren, können keine realen Ansprüche an einen Staat stellen, weil ihre Sprecher keinen Rückhalt vorweisen können. Wahlen ohne echte Parteien bringen amorphe Parlamente hervor, die keinerlei Sicherheit dafür bieten, dass jene, die das Wort führen, tatsächlich für irgendjemanden außerhalb des Saales sprechen. Unfähig zu diszipliniertem Handeln, sind derartige Gremien zur Ohnmacht verdammt. Sie sind nicht fähiger, einen Handlungsplan zu definieren und durchzuführen, als eine durchschnittliche Kaffeeklatschrunde. Damit die Wünsche des Volks eine Wirkung zeigen, müssen sie durch Organisationen gebündelt werden, die in der Lage sind, ihnen jene Art solider Form zu verleihen, die eine Kooperation des Staates lohnend erscheinen zu lassen. Solche Organisationen, die eine Zivilgesellschaft voraussetzen, aber nicht notwendigerweise aus ihr hervorgehen, entstanden im Deutschen Kaiserreich innerhalb kurzer Zeit.1 * 1

Keine Idee hat sich jemals durchgesetzt, ohne dass eine Organisation dahinter stand. Fish: Democracy S. 61, dessen Idealtypus einer Zivilgesellschaft (S. 43–53) und anschaulicher Analyse Russlands nach Gorbatschow (S. 57, 133) ich diesen Abschnitt verdanke.

Kapitel 11: Organisation

419

Wie erlangen Organisationen die Fähigkeit, sich zum Sammelbecken von Interessen zu entwickeln? Wir wissen bereits, wie sich in der deutschen Politik durch den Kulturkampf eine klare, scharfe Trennlinie herausbildete, die die »Stimmen zu strukturieren« vermochte. Diese Aufgabe ist die grundlegende Funktion politischer Parteien in neu entstehenden Demokratien. Und wir wissen, wie die konfessionelle Identität (die katholische und, dialektisch dazu, die evangelische) eine Grundlage für jenes Gefühl gegenseitiger Verpflichtung bildete, sowohl in horizontaler als auch vertikaler Hinsicht, das eine echte Partei erst möglich macht. Von einem ähnlichen Pflichtgefühl (das Claus Offe »Solidaritätsnormen« nennt) waren die regionalen, ethnischen und letzten Endes auch die Klassenidentitäten durchdrungen. Es versetzte die Parteien, die diese repräsentierten, in die Lage, zeitliche und finanzielle Ressourcen ihrer Mitglieder in Anspruch zu nehmen, und angesichts der Außenwelt genügend Einfluss auf ihre Anhänger auszuüben, um diese für ihre politischen Anliegen zu verpflichten, die oft nur »imaginär« mit deren persönlichen Belangen zu tun hatten.2 Die finanziellen Anstrengungen, die zur Wahl und für den Lebensunterhalt eines Kandidaten nötig waren, verstärkten noch das Gefühl des »Opfermuts«, mit dem wir bereits vertraut sind. Und dieses gemeinsame Opfer knüpfte die moralischen Bande, die den Abgeordneten, der häufig ohne Aufwandsentschädigung arbeitete, mit dem Parteimitglied verbanden, das für Spenden oder seine Beiträge tief in die Tasche griff, und auch mit dem Wähler seines Wahlkreises, der mit jeder abgegebenen Stimme materielle Nachteile befürchten musste. Im folgenden Kapitel werden wir dieses Thema weiterverfolgen, indem wir nach den Arbeits- und Vorgehensweisen der politischen Parteien in Deutschland fragen: wie sie ihre Ressourcen sammelten und ihre Netzwerke ausbauten; wie sie ihre Wähler mit sich und untereinander verbanden und wie die Sachzwänge des Nehmens und Gebens gerade das Konzept der Repräsentation beeinflussten.

Stimmzettel, Diäten und Freifahrten Die finanzielle Ausstattung, die nötig ist, um einen Sitz im Parlament zu erobern, wird zu Recht als Schlüssel zur Offenheit eines politischen Systems angesehen. An den zwei Punkten im Verlauf des demokratischen Verfahrens, an denen man erwartet hätte, dass die deutsche Vorstellung von dem Wahlrecht als öffentliche Funktion eine öffentliche Finanzierung begründet hätte – und zwar am Anfang des Wahlvorgangs, mit dem Druck und der Verteilung von Stimmzetteln, wie auch am Ende, mit Gehältern für die Abgeordneten –, waren die Kandidaten stattdessen auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen. Die Stimmzettel selbst waren mit rund 100 Mark pro Wahlkreis im Jahr 1907 relativ billig; aber ihre Verteilung konnte teuer werden. Selbst in den 1880er Jahren war es möglich, dass 2

»Wählerstimmen strukturieren«: Leon D. Epstein und Claus Offe: Corporatism as Macro-Structuring, in: Telos, Nr. 65 (Herbst 1985), S. 102 f., beide zitiert in Fish: Democracy, S. 77 und 54.

420

Teil 3: Grade der Freiheit

für das sicherste Mandat in einem ländlichen katholischen Wahlkreis zum Verteilen der 25.000 Stimmzettel weit mehr als fünfzig Helfer benötigt wurden. In den späten 1890er Jahren wurden in einem städtischen Bezirk wie Mülheim 100 Parteigenossen gebraucht, allein um einen Kandidaten ins Rennen zu schicken.3 Ausreichende finanzielle Mittel zu sammeln, die einen Mann und seine Familie während seiner Zeit als Abgeordneter im Reichstag unterstützen konnten, war eine noch wesentlich größere Aufgabe. Die Notwendigkeit, die beiden Defizite auszugleichen, bildete den größten Ansporn zum Aufbau professioneller Parteiorganisationen. Diese Entwicklung hätte, wie es in Frankreich und den Vereinigten Staaten der Fall war, langsamer vonstatten gehen können – wenn der Staat bereit gewesen wäre, die Kosten selbst zu übernehmen.4 Dass die Repräsentanten des Volks ohne ein Gehalt dienen sollten, war für die meisten Deutschen bei Weitem keine Selbstverständlichkeit. Im Landtag eines jeden deutschen Landes erhielten die Abgeordneten eine tageweise oder anders geregelte Entschädigung für ihre Arbeit.5 Nur die Mitglieder des Reichstags waren, laut Artikel 32 der Reichsverfassung, ausgenommen von jeglichen Diäten. Bismarck hatte auf diese Regelung als notwendigen Ausgleich zum einzigartig egalitären Reichstagswahlrecht bestanden. Noch dringender als der Wunsch des Kanzlers, Kandidaten fernzuhalten, die die Ansichten der vermögenden Klassen nicht teilen mochten, war seine Absicht, das Aufkommen von Berufspolitikern zu verhindern, die das Parlament zu ihrem »Geschäft« machen sowie mit ihrer Expertise und ihrer gemeinsamen Identität seine eigene Autorität bedrohen würden.6 Er reagierte auf die wiederholten Proteste der Abgeordneten zu Artikel 32 mit dem Angebot, diesen jederzeit zu ändern – aber ausschließlich in Verbindung mit einer »organischen« (sprich: antidemokratischen) Revision des gesamten Wahlgesetzes.7 3

4

5

6

7

Tabelle der 56 Vertrauensmänner in Meppen, mit Adressen und Berufen, Oktober 1884. Frye an Meppener Vertrauensmänner (Drucksache), Juni 1878; Frye an Heyl, 30. Juni 1878, mit Bitte um persönliche Wahlwerbung; Windthorst an Heyl, 5. Juli 1878. In Privatbesitz. R. Clauditz an Vertrauensmänner, 18. Sept. 1884; Windthorst an Clauditz, 18. Okt. 1887. SAO Dep. 62–b, S. 2379. K. Müller: Strömungen, S. 368. Die NL hatten jedoch 1902 nur 250 Vertrauensmänner in ganz Hannover. G. Vascik: Conservatism, S. 246. Seit 1852 gewährte Frankreich ein jährliches Gehalt von 2.500 Francs, das bis zum Jahr 1900 auf 12.500 Francs angehoben wurde. Eine Aufwandsentschädigung für Abgeordnete wurde im 1. Artikel der US-Verfassung festgelegt. Meyer: Wahlrecht, S. 214 f., 465, 506 f., 512 f. Meyer: Wahlrecht, S. 180. 500 f., 507 ff.; Stauffenberg (F) und Hänel (F) SBDR 26. Nov. 1884, S. 17, 28. Leider erschien folgende umfangreiche Studie zu spät für meinen Gebrauch: Hermann Butzer: Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag. Der Weg zum Entschädigungsgesetz von 1906 und die Nachwirkung dieser Regelung bis in die Zeit des Grundgesetzes, Düsseldorf 1999. Bismarck: »gewerblicher Parlamentarismus« (5. Mai 1881), in: Gesammelte Werke, Bd. 12, S. 262 ff., zitiert in Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 893 (Zitat), 894 f.; Richard Augst: Bismarcks Stellung zum parlamentarischen Wahlrecht, Leipzig 1916, S. 149. Meyer: Wahlrecht, S. 514 ff., zitiert aus der RT-Debatte auf eine Weise, die nahelegt, dass die ursprüngliche Opposition gegen Tagessätze aus den Landesregierungen kam; im März 1867 bemerkte Bismarck, dass eine Entschädigung per Gesetz eingeführt werden könnte, falls sich Probleme zeigten. Zitiert von Hänel SBDR 26. Nov. 1884, S. 28; Bismarcks Antwort: ebd., S. 33. Graf Schwerin 1867, zitiert von Stauffenberg; Bismarck und ein nicht zu identifizierender K, zitiert von Graf v. Stolberg-Wernigerode; Bismarcks Angebot einer »organischen Revision«: SBDR 26. Nov. 1884, S. 17, 21, 26.

Kapitel 11: Organisation

421

Anhänger des Verbots von Diäten, die in der Minderheit waren, konnten sich auf analoge Regelungen in Italien, Spanien und insbesondere Großbritannien berufen, wo die Mitglieder des Parlaments bis 1911 ohne Entschädigung arbeiteten.8 Weit entfernt davon, lediglich Kuriositäten für komparativ arbeitende Historiker zu sein, finden sich Beispiele aus der »Mutter der Parlamente« mit vielsagenden Zitaten von Liberalen wie Mill in den Argumenten der Rechten. Ihre Gegner beklagten sich bitterlich darüber, dass »die englischen Verhältnisse« zur Rechtfertigung der undemokratischen Elemente des Status quo in Deutschland herangezogen würden.9 Zwischen 1871 und 1904 wurden vierzehn Anträge zur Abschaffung oder Änderung des Artikels 32 angenommen – sicherlich ein Rekord an mit Hartnäckigkeit verbundenem Konsens und auf den ersten Blick überraschend bei einem Gremium, in dessen sozialer Zusammensetzung zumindest in den ersten Jahrzehnten die Begüterten erheblich überrepräsentiert waren. Aber die vorherrschende Meinung war, dass das nationale Parlament eine »Photographie« der Nation selbst sein sollte.10 Wichtiger noch war es, dass eine Entschädigung der Abgeordneten als »eine Frage des Ansehens des Reichstags« angesehen wurde, wie Peter Spahn es ausdrückte.11 Die finanzielle Bürde, die durch Artikel 32 entstand, war beträchtlich. Um einen zweiten Wohnsitz in Berlin zu unterhalten und sich für acht Monate im Jahr von seinem bürgerlichen Beruf verabschieden zu können, benötigte ein Abgeordneter ein geschätztes jährliches Einkommen von 6.000 Mark – eine Summe, die 1884 über 99 Prozent der Bevölkerung Preußens ausschloss.12 Die Reichstagsfraktionen hielten also Ausschau nach begüterten Aspiranten, die sich selbst finanzieren konnten. Diese Suche verlangte häufig langwierige Verhandlungen unter den Bewerbern, die unterschiedliche örtliche Gruppen repräsentierten. Wenn man nicht die Reichen wählen wollte, wo ließen sich derartige 8

9

10

11

12

Bis 1858 benötigten englische und walisische Abgeordnete, die Kreise repräsentierten, einen Gutsbesitz mit einem Ertrag von mindestens 600 Pfund pro Jahr, städtische Abgeordnete 300 Pfund. Die Gebühren für Wahlvorstände konnten (von 1868 bis 1880) in England und Wales zwischen 4 und weit über 1.000 Pfund liegen. Schottland besaß keine Besitzforderungen und seine offiziellen Gebühren waren minimal. Gash: Politics, S. 108 f.; Gwyn: Democracy, S. 22 ff., 206 ff. Die höhere Qualität der RT- im Vergleich mit den LT-Abgeordneten wurde der politischen Auslese durch das Fehlen von Diäten zugeschrieben. Kulemann: Erinnerungen, S. 53 f. Mill zitiert von K. A. Baumbach (F), SBDR 12. Jan. 1892, S. 3574. Beschwerden: »Man beruft sich auf England, obgleich die Verhältnisse radikal verschieden sind. Das House of Commons besteht eben nur aus zwei Hauptpartheien und ist keine Gesetzesfabrik wie unser Reichstag.« A. Reichensperger an Jörg, 3. Nov. 1881, in Jörg: Briefwechsel, S. 471; Stauffenberg SBDR 26. Nov. 1884, S. 17 (Zitat). Die Deutschen empfanden die englische Privatisierung öffentlicher Angelegenheiten als Skandal. Meyer: Wahlrecht, S. 465, 506 f., 512 f. (andere Länder); zum konstituierenden Reichstag: S. 517. Bismarck versprach die »Photographie« 1867. Dies zitiert von Reichensperger, wie auch Miquels Antwort: »[es] sei jeder Vorschlag falsch, der dahin führe, aus der Photographie eine Karikatur zu machen«, SBDR 1. Feb. 1888, S. 675. Ähnliche Metaphern: Kayser SBDR 9. Dez. 1885, S. 245; Singer (SD) SBDR 3. Feb. 1888, S. 693; Geh. RR Dr. Ritzhaupt: Zur Frage der Wahlreform, in: Zeitschrift für badische Verwaltung und Verwaltungs-Rechtspflege 14 (7. Juli 1869), BAB-L R43/685, Bl. 28–31. Zitiert in Bachem: Vorgeschichte, Bd. 6, S. 261 f. Wenn auch Stoecker Diäten befürwortete (SBDR 12. Jan. 1892, S. 3584), leisteten viele K und einige NL bis zum Schluss Widerstand: Anonym: Zur Diätenfrage, in: Deutsches Wochenblatt 7 (1894), S. 229 f.; Diäten. Verfassung. Wahlrecht, in: Grenzboten 63/1 (1904), S. 306 f.; O. Arendt (FK): Das Diätenwesen im Reichstag und im Landtag, in: Der Tag Nr. 145 (1911); Kulemann: Erinnerungen, S. 50 ff. Eine mittlere Position: Meyer: Wahlrecht, S. 518 f. Hänel, Stauffenberg, Auer SBDR 26. Nov. 1884, S. 17 f., 22, 29; Rickert SBDR 10. Dez. 1885, S. 257.

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Teil 3: Grade der Freiheit

Summen dann auftreiben? Eine Reihe von Notbehelfen wurde ergriffen. Einige Abgeordnete erklärten sich bereit, Unterstützung von Wählerkomitees aus ihren Wahlkreisen anzunehmen; andere, insbesondere Konservative, erhielten großzügige Geschenke von dankbaren Einzelpersonen. Schließlich zahlte man Abgeordneten, die Parteizeitungen herausgaben oder in anderen Funktionen einer Partei dienten, weit überzogene Gehälter. Die verlässlichste Geldquelle war es jedoch, die reicheren Wahlkreise wie Berlin und Hamburg zur Unterstützung der Kandidaten aus den ärmeren anzuzapfen, ein Mechanismus, der die Parteifunktionäre dazu trieb, beständige Parteiorganisationen auf Länderebene zu gründen, und der zu einer ständig wachsenden Zentralisierung der Maßnahmen zur Geldbeschaffung innerhalb der Grenzen der einzelnen Staaten führte. Das Ergebnis war, dass das, was die Deutschen unter einer »Partei« verstanden, sich rasch wandelte von einer Ansammlung von Männern, die nur durch gleiche Gesinnung miteinander verbunden waren, zu einer Verbindung Gleichgesinnter durch eine Organisation.13 Die Sozialdemokraten waren die Ersten, die dauerhafte Wahlkreisorganisationen mit formaler Mitgliedschaft gründeten. Bereits 1878 hatten sie annähernd 40.000 zahlende Mitglieder und waren somit in der Lage, ihren Reichstagsabgeordneten 80 bis 100 Mark monatlich zu zahlen. In den 1890er Jahren sah das Budget der SPD 105.000 Mark allein für Diäten vor; ihre Unterhaltszahlungen für Abgeordnete waren auf 3.000 Mark jährlich gestiegen (mit zusätzlichen 3.000 Mark für die zwei Fraktionsvorsitzenden) und Bebel prahlte damit, dass, selbst wenn seine Partei 100 statt der 35 Reichstagssitze gewonnen hätte, sie keine Schwierigkeiten bekommen würde, die Fraktion zu finanzieren – und sie könnte »sogar einen bedeutenden Theil« der »Herren Kollegen, wenn es sonst gewünscht würde, sustentiren«.14 Die von den Sozialdemokraten gepredigte Solidarität hatte zur Folge, dass selbst Kinderfeste zu profitorientierten Unternehmungen wurden. Solidarität erfordert Opfer – ein immer wiederkehrendes Wort. Es wurde erwartet, dass Ortsvereine Fonds zur Unterstützung ländlicher Gebiete oder der Partei als solcher bildeten. In den großen Städten konnten diese mehr als zehn Prozent ihres gesamten Einkommens beanspruchen, aber auch in recht kleinen Städten war dieser Brauch, mit einem geringeren Anteil an Einnahmen, verbreitet. Die Gegner bemühten sich, einen Werbevorteil aus der Aufzählung dessen zu schlagen, was der arme Sozialist seiner Gewerkschaft und seinem Wahlbezirkskomitee schuldete (zu Anfang des 20. Jahrhunderts zehn Pfennig für Männer, fünf für Frauen), 13

14

Hasenclever SBDR 17. Feb. 1886, S. 1094. Auch die SPD, so seltsam dies erscheinen mag, kam in den Genuss von Beiträgen und Nachlässen reicher Sponsoren. Hall: Scandal, S. 145. Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 893; Nipperdey: Organisation, S. 152, 227, 383; Jaeger: Unternehmer, S. 113, 113 Anm. 24, 25; Jörg: Briefwechsel, S. 403. Bis 1899 verbot das Vereinsgesetz politischen Organisationen, sich über regionale und Landesgrenzen hinweg zusammenzuschließen. Bebel SBDR 12. Jan. 1892, S. 3580; Th. Müller: Geschichte, S. 306; Dominick: Liebknecht, S. 263, 331, 385. Befürchtungen, dass ohne Diäten die Parteien der Mitte untergehen und nur »die Aristokratie und Geldmatadoren auf der äußersten Rechten und Sozialdemokraten auf der äußersten Linken sich schließlich unvermittelt gegenüberstehen« würden: Stauffenberg SBDR 26. Nov. 1884, S. 17 f. Siehe auch Ritter: Arbeiterbewegung, S. 58 ff., 228 ff.; Nipperdey: Organisation, S. 383.

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die er bei den monatlichen »Zahlabenden« im Wirtshaus entrichtete oder die er für Zeitungsabonnements und Eintrittsgebühren ausgab.15 Zugegebenermaßen trieben diese Opfer, die in kleineren Ortsgruppen auf den Schultern von wenigen lasteten, gelegentlich Mitglieder davon. Als die kaum mehr als zwanzig aktiven Mitglieder des kleinen Ortsvereins von Göttingen (rund ein Zehntel der formalen Mitglieder) die Parteibeiträge von zwanzig auf vierzig Pfennig erhöhten, um die Kosten zu decken, sank die Mitgliederzahl umgehend. Die Genossen sahen sich genötigt, über Werbeprämien für jedes neue Mitglied nachzudenken. Dennoch nahm die Sozialdemokratische Partei seit Ende der 1890er Jahre insgesamt jährlich rund eine Million Mark ein.16 Es war eine Binsenwahrheit, dass alle anderen Parteien gemeinsam nicht halb so viel Geld ausgaben, wie die SPD zu politischen Zwecken einsetzen konnte.17 Das Bewusstsein, dass die Sozialisten über unbegrenzte Ressourcen verfügten, bewirkte eine wunderbare Konzentration im Denken der anderen Parteien. Die Nationalliberalen erkannten auf der Stelle die Folgen der finanziellen Herausforderung durch die Sozialisten, waren aber nicht fähig, über vertrauliche Bitten an bekannte Sympathisanten um »einmalige Beiträge« hinauszugehen.18 Eugen Richters Linksliberale folgten andererseits dem sozialdemokratischen Weg. Obwohl sie bis 1903 vor Pflichtbeiträgen zurückschreckten, hatten die Freisinnigen bis Mitte der 1880er Jahre bereits mindestens 20.000 aktive eingeschriebene Mitglieder; sie besaßen annähernd 200 Ortsvereine und schafften es, eine Kriegskasse von 50.000 Mark zur Unterstützung von Abgeordneten zu unterhalten, die nicht in der Nähe von Berlin lebten. Die Diäten waren unabhängig vom persönlichen Vermögen eines Abgeordneten – wenn auch der Betrag geringer als bei den Sozialdemokraten war und nur 500 Mark für die Reichstagssession betrug.19 Man hätte meinen können, dass es für einen Abgeordneten, der einer Kultur angehört, in der öffentlich Bedienstete traditionell als Mitglieder eines »allgemeinen Standes« angesehen wurden, die niemandem und nichts als dem Gemeinwohl verpflichtet seien, vollkommen inakzeptabel gewesen sei, Unterstützung von Einzelpersonen oder Gruppen anzunehmen.20 Selbstverständlich widersprach dieser Brauch zumindest seinem Wesen nach Artikel 29 der Verfas15

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Opfer: Koettig, Polizei Dresden, an Kreishauptmannschaft Dresden, 1. Feb. 1913, BAB-L R1501/14460, Bl. 462; Göhre: Drei Monate, S. 97 ff., 112. SD Bestätigung: Keil: Erlebnisse, Bd. 1, S. 85. Beiträge: Th. Müller: Geschichte, S. 139; etwas andere Zahlen: S. 351; für Frauen: Guttsman: Party, S. 273. Arbeit auf dem Lande: Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 46. SD »Opferwilligkeit« vom Volksverein für das katholische Deutschland betont: Heitzer: Volksverein, S. 160. Aber derselbe Geist wurde fast allen Parteien zugeschrieben und von allen Seiten bestätigt. Saldern: Wege, S. 43 f., 55, 57; Nipperdey: Organisation, S. 306; Ritter: Arbeiterbewegung, S. 51, 61 f.; Guttsman: Party, S. 169 ff. »Agitationsgelder, sozialdemokratische«, in: Siebertz: Abc-Buch, S. 21 f.; DA 9/12 (22. März 1891): S. 194–196; DA 27/6 (7. Feb. 1909), S. 95; Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 111; Molt: Reichstag, S. 279; Saldern: Wege, S.159 ff., 164 f. Wehrenpfennig an Forckenbeck, 20. Feb. 1877, GStA PK I. HA, Rep. 92, Nachlass Forckenbeck, Bd. B, Bl. 4. C. Graf Stolberg-Wernigerode (FK) SBDR 26. Nov. 1884, S. 21; K. Baumbach: Der Diätenfonds der Fortschrittspartei, in: Die Nation 1 (1883/84), S. 78 ff. Sheehan: Politische Führung, S. 83.

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sung, die die Abgeordneten des Reichstags verpflichtete, »Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden« zu sein. Doch das Verfahren bürgerte sich rasch ein und Männer, die Unterhaltszahlungen von ihren Wählern oder ihrer Partei annahmen, wurden weder gesellschaftlich noch politisch dafür bestraft. Hierin lag ein bedeutender Unterschied zwischen der deutschen und der englischen Parlamentskultur. Macaulay bemerkte dazu einmal reuevoll: »ohne Einkommen ist es für einen Mann im öffentlichen Leben nicht sehr leicht, ehrlich zu sein; es ist fast unmöglich für ihn, für ehrlich gehalten zu werden …« Als in England Richard Cobden eine Alimentierung annahm, die seine Anhänger für ihn gesammelt hatten, damit er Abgeordneter bleiben konnte, machte es diese Beschädigung seines Rufs den Whigs unmöglich, ihn in ihre Regierung aufzunehmen. Noch 1901 hatte selbst die neu gegründete Labour Party Schwierigkeiten, einen Unterhaltungsfonds für Labourabgeordnete zu gründen. Es war Irland, jener Inkubator der Massenpolitik, und nicht England, das zum Vorläufer der deutschen Gepflogenheiten wurde. Der »O’Connell-Tribut«, der eine lange Tradition der Finanzierung von nationalistischen Abgeordneten durch deren Anhänger begründete, fand sein deutsches Pendant 1888, als Eugen Richter zum fünfzigsten Geburtstag 100.000 Mark von seinen Wählern erhielt, die er nach eigenem Gutdünken zugunsten der politischen Ziele ausgeben sollte.21 Einige Kollegen runzelten die Stirn – besonders diejenigen innerhalb seiner Partei, die der Meinung waren, Richter habe bereits genügend Macht –, aber das Geld zu akzeptieren schadete ihm politisch nicht. Was das unvermögende Mitglied des Reichstags von der Demütigung seines englischen Kollegen unterschied, dessen Bedarf an Unterstützung »ihn dem Verdacht aussetzte, von den niedersten Motiven bewegt zu werden«, war der fundamentale, durch die Verfassung begründete Unterschied zwischen dem deutschen und dem britischen Parlament: das Fehlen jeglicher direkter Verbindung zwischen den Reichstagsmehrheiten und den »Sitzen« in der Exekutive in Deutschland. Wegen des deutschen »Dualismus« konnte aus den politischen Aktivitäten eines Abgeordneten niemals ein Ministerialposten hervorgehen.22 So sehr er und seine Partei auch die Vorgänge in der »Gesetzesfabrik« beeinflussen mochten, würde er doch niemals – in diesem Punkt vergleichbar mit den Anhängern O’Connells und Parnells, aber im Gegensatz zu den Whigs und den Torys – ein öffentliches Patronat erlangen. Folglich konnte ein Mann, der sich 21 22

Gash: Politics, S. 107 ff.; Gwyn: Democracy, S. 127, 144, 159 ff., 179, 205. Nipperdey: Organisation, S. 208. Zitat: Gash: Politics, S. 108. Die anschauliche Analyse von Shefter: Party, erwähnt nicht diesen strukturellen und Verfassungsaspekt. Obwohl Hohenlohe, der von 1896 bis 1900 Kanzler war, auch während dessen ersten Jahrzehnts im Reichstag gesessen hatte, war seine Karriere eine bürokratische, die sogar vor 1871 im Amt des Ministerpräsidenten von Bayern gegipfelt hatte. Die preußischen Finanz- und Handelsminister J. Miquel und T. Möller hatten früher einmal als NL Abgeordnete gedient; doch ihre Beförderung ins Staatsministerium war unabhängig von Parteifunktionen. Das »Angebot« eines Ministerialpostens an Bennigsen in den späten 1870er Jahren war genau darum vergeblich, weil Bismarck sich weigerte, verfassungsmäßige Konsequenzen daraus zu ziehen. Als G. v. Hertling (Z) 1912 die Ministerpräsidentschaft von Bayern übernahm, sah die Öffentlichkeit zu Recht eine verfassungsmäßige Wende.

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um einen Reichstagssitz bemühte – weit entfernt davon, als Karrierist verdächtigt zu werden, der ein Amt zur Mehrung seines Vermögens suchte –, erwarten, dass sein Opfermut gerühmt werde.23 Selbst jene Abgeordneten, die bereits Verwaltungsämter innehatten, als sie in den Reichstag eintraten – als Landräte, Regierungspräsidenten und Richter –, waren weitgehend vor der Unterstellung gefeit, ihre Karrieren zu fördern. Denn das Gesetz bestimmte, dass sie bei einer Beförderung automatisch ihr Mandat verloren. Um weiterhin im Reichstag zu dienen, mussten sie sich erneut ihren Wählern stellen – was immer eine riskante Angelegenheit war, die keine Regierung ihren Anhängern wünschen konnte. Vorwürfe, dass ein Kandidat finanzielle Hilfe aus dem Ausland bekam, waren da sicherlich dem Ruf abträglicher. Solche Unterstellungen waren nie ganz von der Hand zu weisen, da viele Affinitäten zwischen den politischen Gruppierungen über die Staatsgrenzen hinweg bestanden. Schließlich wurden tausende Pfund Sterling aus Nordamerika in Parnells Home Rule Party geschleust. Dominique Antoine, der Reichstagsabgeordnete für Metz, wurde von seinen Gegnern beschuldigt, Wahlhilfe von französischen Revanchisten erhalten zu haben. Es kursierten auch Gerüchte, dass die deutschen Freisinnigen, unerschütterliche Freihändler, Geld vom englischen Cobden Club annahmen.24 Die Sozialdemokraten, deren Engagement für die internationale Organisation sehr deutlich war und die offen um Unterstützung der Genossen in anderen Ländern baten, waren die häufigsten Zielscheiben solcher Vorwürfe. Der preußische Innenminister, der die Aufrufe in der sozialdemokratischen Presse überwachte, ließ regelmäßig Informationen über ausländische Beiträge zugunsten sozialdemokratischer Kandidaten an deren Gegner übermitteln, mit dem Vorschlag, »von diesen Mittheilungen den geeignet erscheinenden Gebrauch zu machen«.25 1887 berichteten Regierungsquellen, dass die Sozialisten über 50.000 Mark von Sponsoren in Frankreich erhalten hätten. Bebel tat den Vorwurf mit der größten Kaltblütigkeit ab: über 50.000 Mark hätten die Gesamteinnahmen aus dem Ausland zur Unterstützung ihrer Wahlkampagne betragen; der Großteil dieser Gelder sei aus den Vereinigten Staaten überwiesen worden »und aus Frankreich sind im ganzen vielleicht leider nur 300 Francs eingegangen«.26 Glaubhafter als die düsteren Warnungen der Regierung bezüglich ausländischer Einflüsse waren Bedenken wegen des mächtigen Instruments des Konformitätsdrucks, den parteifinanzierte Unterhaltszahlungen der Führung in die Hand gaben. Wenn die Partei die Diäten bezahle, »verkaufe sich nicht der Abgeordnete durch Annahme eines Mandats gewissermaßen an seine Partei«? 27 Der Ärger der Linksliberalen über die »Tyrannei« Richters, der die Kontrollhoheit 23 24 25 26 27

Zitiert: A. Reichensperger an Jörg, 3. Nov. 1881, in Jörg: Briefwechsel, S. 471; Auf zur Wahl!, in: KVb, 28. Juli 1878; Meppen …; in: KVb, 13. Feb. 1887. Zu Antoine: EL 14, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 185, S. 767 ff.; »englisches Gold«: Rickert SBDR 10. Dez. 1885, S. 256. Gwyn: Democracy, S. 135. MdI an G. A. Schlechtendahl, FK Komitee von Barmen, 19. Feb. 1887; Schlechtendahl an RdI, 27. Feb. 1887, BAB-L R1501/14693, Bl. 164 f., 173 ff. Friesen: Bebel SBDR 10. Jan. 1889, S. 372, 376. Zitiert von Stolberg-Wernigerode SBDR 26. Nov. 1884, S. 21. Huber stimmt zu: Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 893 f.

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über die Finanzen dazu benutzte, dafür zu sorgen, dass seine Kollegen nicht aus der Reihe tanzten, deutete die Möglichkeit des Missbrauchs an.28 Aber die Sozialdemokraten, deren Disziplin beträchtlich größer als die der Linksliberalen war, machten sich über die Vorstellung lustig, dass irgendjemand in ihrer Fraktion so kindisch sei, zu einem Kollegen zu sagen: »wenn du nicht stimmst, wie ich stimme, bekommst du keine Diäten«.29 Sofern von der Partei gezahlte Diäten die Disziplin förderten, so war jene Disziplin, zumindest im Prinzip, für ihre Anhänger akzeptabel. Uns sind wenige Beispiele überliefert, in denen ein Wahlkreis einen Kandidaten gegen den ausdrücklichen Willen seiner Parteiführung nominierte, und ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Abgeordneter in der Lage war, die Führung zu ignorieren und dennoch sein Mandat zu behalten – zugleich der beste Beweis dafür, dass die Wähler und ihre Parteien wahrhaftig eng miteinander verbunden waren.30 Nach der Verfassung waren diese parteifinanzierten Unterhaltszahlungen ebenso illegal wie jede von der Regierung gezahlte Diät und Bismarck drohte, jeden, der erwiesenermaßen Unterstützung angenommen habe, aus dem Parlament entfernen zu lassen. Aber da der Reichstag selbst die alleinige Macht besaß, über die Legitimität seiner Mitglieder zu entscheiden, war die Drohung des Kanzlers nicht mehr als heiße Luft. Als die Regierung die Korruptionsgesetze heranzog, um vier Sozialdemokraten und drei Freisinnige in den berüchtigten »Diätenprozessen« anzuklagen, trug ihr das ein blaues Auge ein. Die Gerichte ließen die Anklage gegen alle sieben fallen – was der Praxis stillschweigend Legitimität verlieh.31 Obwohl die Regierung sich in der zweiten Instanz mit ihrer Ansicht durchsetzte und die Richter die Parteidiäten als nicht verfassungskonform erklärten, wurde im Gegensatz zu Bismarcks Drohung niemand aus dem Reichstag ausgestoßen. Das Finanzministerium behielt sich das Recht vor, die Diäten zu konfiszieren, aber es wäre kaum in der Lage gewesen, jeden Abgeordneten jedes Jahr vor Gericht zu bringen. In der Tat erwies sich, wie die Juristen sogleich erkannten, die Forderung der Regierung als nicht durchsetzbar.32 28 29

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Meyer: Wahlrecht, S. 520; Nipperdey: Organisation, S. 203 f., 383. Viscount Gladstones ähnliche Andeutungen über die Verbindung zwischen Parteigehältern und Parteidisziplin: Gwyn: Democracy, S. 120 ff. Hasenclever SBDR 17. Feb. 1886, S. 1095. Bebel jedoch verkündete, dass die SPD § 29 nicht beachten werde, der erklärte, dass »die Mitglieder des Reichstages … an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden« seien. Er und seine Genossen seien jederzeit bereit, ihren Wählern Rechenschaft abzulegen. SBDR 10. Dez. 1885, S. 280. Z. B. Solingen: Blos: Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 112 ff., 118. Jedoch im Widerspruch zu Molt: Reichstag, S. 275, der sagt, dass keine Kandidaten gegen den Willen der Führung nominiert wurden, geschah Stötzels erster Sieg in Essen 1877 gegen den offiziellen Kandidaten des Z, und in Oberschlesien traten Juliusz Szmula und Franz Strzoda (1893) gleichfalls gegen die vom Zentrum empfohlenen Kandidaten an. Nach ihrem Sieg traten alle drei der Zentrumsfraktion bei. Harry K. Rosenthal: National Self-Determination. The Example of Upper Silesia, in: Journal of Contemporary History 7/3–4 (Juli–Okt. 1972), S. 231 ff., 233 ff. 1907 besiegte J. Becker (Z) in Arnsberg 2 den Mandatsträger des Z, J. Fusangel. Ich weiß nicht, wen die Führung unterstützte. Zu diesem Wettkampf: Loth: Katholiken, S. 124 Anm. 100. Bismarck SBDR 26. Nov. 1884, S. 26; Rickert SBDR 10. Dez. 1885, S. 254 (Zitat); Hasenclever SBDR 17. Feb. 1886, S. 1095. Aufwandsentschädigungen und Ausgleichszahlungen für entgangene Einkünfte für Wahlmänner aus Parteikassen waren bereits sehr früh allgemeine Praxis bei den preußischen Landtagswahlen, auch wenn dies gelegentlich zur Annullierung des Sieges führte. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 76, und S. 76 Anm. 101, 102 u. 103. Tzschoppe: Geschichte, S. 59 ff.; Seydel: Commentar, S. 215 ff. Seydels frühere Verteidigung der Parteidi-

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Zusätzliche Glieder in der Kette, die die Partei und den Wähler miteinander verband, wurden durch eine Maßnahme geschmiedet, die 1874 beschlossen wurde: die kostenlose Bahnfahrt für Abgeordnete, der Freifahrtschein. Ursprünglich war dieser nur dafür vorgesehen, die finanziellen Belastungen unter den Abgeordneten anzugleichen, die in unterschiedlichen Entfernungen zur Hauptstadt wohnten, wurde dann aber rasch von den Aktivisten als Möglichkeit erkannt, ihre Paladine in verschlafene oder aussterbende Ortsgruppen zu schicken, um Geld zu sammeln und Begeisterung für weniger geschickte örtliche Kandidaten zu wecken. Wie Ian Kershaw in anderem Zusammenhang beschrieben hat, entsteht ein »Charisma« selten spontan; es ist stattdessen stets abhängig von einer Beziehung zwischen einer Gruppe und ihrem Führer. Weit davon entfernt, an die Stelle einer Organisation zu treten, setzt diese Beziehung eine gewisse Organisation voraus. Dank des Freifahrtscheins wurden der unermüdliche Eugen Richter und der dynamische Heinrich Rickert unverzichtbare Werbeträger bei den linksliberalen Wahlkämpfen auch in den abgelegensten Gebieten des Reichs. Allein 1879 reiste Richter von Posen nach Kiel, von Kassel nach Stettin, dann nach Tilsit, Memel, Insterburg sowie in zahlreiche andere, wirklich winzige Gemeinden in ganz Ostpreußen. 1881 sprach er in Bielefeld, Potsdam und an vielen Orten im Königreich und in der Provinz Sachsen.33 Der Freifahrtschein ermöglichte es Windthorst, 1881 zwei Wochen lang in verschiedene Wahlkreise von der Ruhr bis zum Bodensee zu reisen. Schließlich erstreckte sich seine Reiseroute weit über das katholische Kernland hinaus. Indem er oftmals zu nachtschlafender Zeit aufstand, um den Zug zu erreichen, und bis zu drei Reden an drei verschiedenen Orten an einem einzigen Tag hielt, machte er sich bei den Wahlkämpfen des Zentrums derart unverzichtbar, dass die örtlichen Parteiführer sein Erscheinen ankündigten, bevor sie ihn davon benachrichtigten. »Man hat ohne mich zu fragen, einfach in die Welt hinein geschrieben, dass ich auch komme«, beklagte er sich über eine Wahlveranstaltung in Münster.34 Ein konservativer Kritiker verglich spöttisch den kleinwüchsigen Führer des Zentrums mit dem Titan Antaeus, der ständig neue Kraft aus dem Boden – dem Volk – schöpfte.35 Die Metapher enthielt eine Wahrheit, die nicht nur auf Windthorst zutraf, sondern auf die Parteien im Allgemeinen: Eine Woge der Stärke (Geld, Unterstützung, Verbundenheit) strömte von unten nach oben und verlieh den Fraktionen ihre Macht, »Interessen zu bündeln«. Der Populismus dieser Parteiprominenten hatte seine Grenzen. Weder Windthorst noch Richter, Bebel oder Stoecker verbrachten viel Zeit damit, Kleinkinder zu küssen oder Hände zu schütteln. Sie hielten ihre Reden eher in Sälen als auf Baumstümpfen, und sie redeten gelegentlich vor 8.000 oder mehr

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äten: Der Deutsche Reichstag, in: Annalen des Deutschen Reichs (1880), S. 352 ff., bes. S. 404 f. und 405 Anm. 5. Richter: Reichstag, Bd. 2, S. 142, 237; Poschinger: Bismarck, Bd. 2, S. 381 ff. Windthorst an Reuß, 8. Okt. 1882, BAT 105/1493; Windthorst an Reuß, 29. August 1884, BAT 105/1523. Stoecker könnte auch von dem Freifahrtschein profitiert haben: Braun: Stoecker, S. 83. Helldorf SBDR 10. Dez. 1885, S. 276. Windthorst an Heyl, 22. Okt. 1881; Extrablatt des Katholischen Volksboten, 22. Sept. 1884.

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Zuhörern. Dennoch zeigten ihre Wahlkämpfe in ihrer Abhängigkeit von der Eisenbahn auffällige Ähnlichkeiten mit den Entwicklungen in England, Frankreich und Amerika. Sie verlagerten die Politik »ins Freie« – nicht nur aus dem Parlament heraus, sondern auch heraus aus den kleinen Versammlungen prominenter »Freunde«, deren Unterstützung in weniger demokratischen Tagen allein nötig gewesen war, um das Verhältnis eines Kandidaten zur Wählerschaft zu regeln. Gerade wie sich die Briten über die Angemessenheit der Wahlkampagne Gedanken machten, die Gladstone 1879/80 in dem schottischen Wahlkreis Midlothian führte, und die Franzosen über die überschwänglichen Bäder in der Menge, die Gambetta, Clemenceau und schließlich Boulanger nahmen, so rümpften auch manche Deutsche die Nase; vor allem, aber keineswegs ausschließlich waren es die Anhänger der Rechten, die glaubten, dass diese Wahlkämpfe im Freien den Kandidaten, der sie führte, diskreditierten.36 Rudolf von Bennigsen, ein Mann, der derart zurückhaltend war, dass man über ihn sagte, wenn er einen Raum betrete, »frieren die Fenster«, lehnte jede Bitte seiner liberalen Kollegen ab, sich »in ähnlicher Weise wie Eugen Richter oder Rickert als Agitationsredner … aufzuspielen«.37 Aber jene wackeren Wahlkämpfer lehnten es ab, sich zu entschuldigen. Als Ernst von Köller, Landrat von Kammin und ein gewiefter konservativer Taktiker, Heinrich Rickert vorwarf, in seinen baltischen Wahlkreis eingedrungen zu sein, erwiderte Rickert, dass der Vorwurf nur seine Entschlossenheit gestärkt habe, mehr als er »bisher für Pommern habe thun können, zu thun«. Gerade weil sich derart zahlreiche Abgeordnete immer noch an die behaglichen Gepflogenheiten der Honoratiorenpolitik gebunden fühlten, spielte der Freifahrtschein eine entscheidende Rolle bei der politischen Mobilisierung, indem er den wenigen Kühnen erlaubte, die Defizite der vielen Würdevollen auszugleichen.38 Die Freiluft-Wahlkämpfe von Gladstone, Gambetta, Clemenceau und Boulanger sind in jüngerer Zeit »bonapartistisch« oder sogar »cäsaristisch« genannt worden.39 Dies erscheint mir als eine seltsame Charakterisierung. Denn derjenige deutsche Politiker, dem diese Eigenschaften üblicherweise zugesprochen wurden, war selbstverständlich nicht Richter, Bebel oder Windthorst, sondern der Wahlkämpfer, der nie seine Heimat verließ: Otto von Bismarck. Solange er Kanzler war, beschränkte Bismarck, dessen hohe Stimme wenig beeindruckte, seine Reden auf das Parlament. Und Bismarck war entschlossen, das Spielfeld einzuebnen. Obwohl das Freifahrt-Gesetz den Abgeordneten das Recht gab, während der Sitzungsperioden und acht Tage zuvor und danach in alle Richtungen zu reisen, beklagte sich der Kanzler, dass ein Abgeordneter seinen 36

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Köller SBDR 2. Dez. 1882, S. 595; BAB-L R1501/14641, Bl. 163. Größe der Wahlveranstaltungen: Arnsberg 5 (Bochum), AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1075. Bendikat: Wahlkämpfe, S. 96, 106, 123, 147, 164, 214, 234, 254. Oncken: Bennigsen, Bd. 1. S. 290; Bd. 2, S. 492, 613. Lasker hatte ebenfalls Missfallen über uneingeschränkte Freifahrtscheine geäußert. Zitiert von Stolberg-Wernigerode SBDR 26. Nov. 1884, S. 20. Rickert SBDR 2. Dez. 1882, S. 595. Die Zurückhaltung vieler Abgeordneter des Z, besonders vor 1900, in ihren Wahlkreisen Wahlkampf zu treiben: Heitzer: Volksverein, S. 159. Bendikat: Wahlkämpfe, S. 15, 98, 208, 341, 384, 400. Max Weber zu Gladstones »cäsaristisch-plebiszitärem« Wahlkampf in Midlothian: Politik, S. 523.

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Schein benutzt hatte, um innerhalb von nur acht Monaten 12.000 Kilometer zu reisen, während ein anderer (wahrscheinlich Richter – obwohl das Gerücht von Feldmarschall von Moltke sprach und Bismarck selbst die Sozialdemokraten beschuldigte) tatsächlich mehr als 17.000 Kilometer zurückgelegt hatte. Zwischen den Hauptwahlen und den Stichwahlen von 1884 gelang es dem Kanzler, den Bundesrat dazu zu bewegen, neue Freifahrtscheine einzuführen, die auf Fahrten zwischen dem Wohnort der Abgeordneten und Berlin begrenzt waren. Die Beschränkungen blieben bis 1906 in Kraft.40 Aber zu diesem Zeitpunkt war das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Jene, die bereits die Frucht der Massenpolitik gekostet hatten, ließen sich nun nicht mehr in den winzigen Garten Eden halböffentlicher Versammlungen mit sympathisierenden Ortsansässigen zurückdrängen. Die parlamentarischen Führer hatten sich daran gewöhnt, ihre Wochenenden auf Wahlkampfreisen zu verbringen, die politischen Gewässer in diesem und jenem Wahlkreis auszuloten sowie über die Gesetzgebung Rede und Antwort zu stehen. Die zehn Jahre unbegrenzter Freifahrten von 1874 bis 1884 hatten erheblich zur Nationalisierung der politischen Arena beigetragen, indem sie lokale Gruppierungen mit den im ganzen Land populären Politikern bekannt machten. Wie die große Geschwindigkeit der Lokomotive selbst hatte der Freifahrtschein – der aus der Weigerung der Regierung resultierte, den Abgeordneten Diäten zu zahlen – die Geographie »kondensiert«.41 Der Freifahrtschein war nicht das einzige Hilfsmittel, das zur Minderung der Belastung des unbezahlten Abgeordneten geschaffen wurde. Dem Reichstag gelang es auch, Tagessätze für jene durchzusetzen, die in der zeitraubenden Justizkommission saßen – eine Ausnahme zu Artikel 32, die der Bundesrat tatsächlich zuließ.42 Die Parteien ermunterten die Reichstagsabgeordneten auch, sich um Landtagsmandate zu bewerben, um mit ihren dortigen Diäten ihre Reichstagskarrieren zu finanzieren.43 Die doppelten Mandate halfen zweifellos ein wenig, die finanziellen Engpässe zu überwinden, was Bismarcks – niemals verwirklichten – Plan der 1880er Jahre erklärt, die Verfassung zu ändern, um sie zu verbieten.44 Noch 1907 hatten 65 Prozent der Mitglieder der Reichstagsfraktion des Zentrums und 25 Prozent der Fraktion der Sozialdemokraten gleichzeitig Sitze in den Landesparlamenten inne, während sich die Zahlen für die anderen Parteien dazwischen bewegten. Wenn aber die Voraussetzung für die Annahme eines Mandats im demokratischen Nationalparlament die Wahl in 40

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Bismarck SBDR 26. Nov. 1884, S. 24; Auer, ebd.; Kayser SBDR 9. Dez. 1885, S. 249; Blos: Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 123. Hierzu Meyer: Wahlrecht, S. 517; Poschinger: Bismarck, Bd. 2, S. 383; Bd. 5, S. 200. »Cäsaristische Demagogie« wurde Bismarck von Liberalen wie H. Baumgarten vorgeworfen: Molt: Reichstag. Mommsen: Weber, S. 6 f. Der Ausdruck kommt von Wolfgang Schivelbusch: Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1978, S. 36. Der Einfluss von E. Liebers Sonntagen, die mit Wählergruppen bei Reden über die Position des Z zu Caprivis Militärgesetz verbracht wurden: Bachem: Vorgeschichte, Bd. 5, S. 273. Stauffenberg SBDR 26. Nov. 1884, S. 19. Stauffenberg SBDR 26. Nov. 1884, S. 19; Molt: Reichstag, S. 47; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 353. Vorschlag des Min-Präs., betr. Vorlage eines Gesetz-Entwurfes, daß Reichstags-Mitglieder nicht Abgeordnete des Landtags sein können, 14. Feb. 1883, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 5, o. S.

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ein Landesparlament war, dessen Wahlrecht als ausgesprochen undemokratisch galt, so wurde das Versprechen der Gleichheit des Männerwahlrechts erheblich kompromittiert.45 Eine Folge des Verbots von Diäten war, dass mehrere Jahrzehnte lang die Zusammensetzung des Reichstags durch ein starkes Übergewicht zugunsten der Reichen geprägt war – sowie der Landes- und Kommunalbeamten, Offiziere und Richter, Professoren und Geistlichen, die alle beurlaubt werden konnten, während sie weiterhin ihre Gehälter bezogen.46 Eine weitaus ernsthaftere Konsequenz des Diätenverbots war das Fernbleiben von Abgeordneten von den Reichstagssitzungen. Von der 100 Mann starken Zentrumsfraktion mit ihrem hohen Anteil an Süddeutschen waren gelegentlich nur zwanzig Abgeordnete anwesend.47 Noch in der Legislaturperiode 1903–1907 ermutigte der Schatzmeister der Sozialdemokraten jeden Abgeordneten seiner Fraktion, der nicht unabkömmlich war, den Sitzungen in der Wochenmitte fernzubleiben, um die Kosten der Tagessätze für die Partei gering zu halten. Seit Beginn der 1890er Jahre litt »das Haus …« nach dem Urteil von Beobachtern »an fast permanenter Beschlussunfähigkeit«. Ein Scherz machte die Runde, dass das größte Schauspiel bei der Galaeröffnung des Nord-Ostsee-Kanals der Anblick des Reichstags in Kiel in voller Stärke geboten habe.48 Die leeren Hinterbänke in Berlin erleichterten zweifellos der Führung die innerparteiliche Arbeit; sie leisteten auch einen Beitrag zu deren Fähigkeit, die für parlamentarische Systeme so wichtig ist, über die Parteigrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Aber mit welcher Berechtigung konnte man noch von öffentlicher Kontrolle reden, wenn die Entscheidungen dieser Führer routinemäßig getroffen wurden, ohne auch nur von ihren eigenen Fraktionen diskutiert worden zu sein? Verwässerten nicht die Reduzierung des Parlaments auf annähernd fünfzig aktive Mitglieder und die Verabschiedung nationaler Gesetze durch gelegentlich gerade einmal zwanzig zustimmende Abgeordnete die Bedeutung demokratischer Vertretung bis zur Unkenntlichkeit? Eine solche Situation konnte nur so lange andauern, wie die Vorsitzenden der verschiedenen Fraktionen darin kooperierten, die Anträge auf Beschlussun45

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Im Württembergischen Landtag erhielten die Abgeordneten 10 Mark am Tag, was angeblich diejenigen, die ein zweifaches Mandat innehatten, davon abhielt, ihre Pflicht im Reichstag zu tun. Siebertz, AbcBuch, S. 489. Garantiert durch Artikel 78 der Verfassung. Ein ausgezeichneter Überblick über die soziale Zusammensetzung des Reichstags: Schumacher: Wahlbewerbungen, S. 353 ff. Auch Molt: Reichstag, bes. S. 38 ff.; Sheehan: Führung, S. 94–95 Anm. 14 u. 19, S. 96 Anm. 21; Meyer: Wahlrecht, S. 479 f.; Rosenbaum: Beruf, S. 62; Willy Kremer: Der soziale Aufbau der Parteien des Deutschen Reichstages von 1871 bis 1918 (Diss., Köln 1938), S. 28; Rudolf Morsey: Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, in: Deutsche Parteien, hrsg. v. G. A. Ritter, Köln 1973, S. 270 ff.; Zahlen auf S. 286; Stauffenberg SBDR 16. Nov. 1884, S. 18. Die Wähler waren nicht begeistert. Die häufige Abwesenheit des Josef Krebs drohte das Essener Zentrum zu spalten: Möllers: Strömungen, S. 227. Der Mangel an Tagessätzen war allerdings nicht der einzige Grund für das Fehlen von Z-Abgeordneten. Georg an Anna v. Hertling, 30. Okt. 1874, BAK Nachlass Hertling, 9, Bd. I. Beschlussunfähigkeit: Meyer: Wahlrecht, S. 519. Hänel SBDR 7. Feb. 1888, S. 749; James F. Harris: A Study in the Theory and Practice of German Liberalism. Eduard Lasker, 1829–1884, New York 1984, S. 127; v. Oppen: Reform, S. 3, 16 ff.

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fähigkeit auf ein Minimum zu reduzieren, was sie viele Jahre lang taten. Nach der Jahrhundertwende jedoch brachen die Sozialdemokraten aus. Sie machten den Antrag auf Beschlussunfähigkeit zu einer ihrer bevorzugten Taktiken, so etwa, wenn es galt, ungeliebte Anträge zu Fall zu bringen oder zu verzögern, insbesondere bei den Steuerdebatten. Weit entfernt davon, kürzere Sitzungen zu fördern, wie es die Konservativen einst gehofft hatten, erschwerte das Fehlen staatlich finanzierter Diäten das Finden von genug Abgeordneten, um auch nur einen Antrag auf Vertagung zu verabschieden.49 Die wachsende Zahl der parteifinanzierten »Berufspolitiker« löste dieses Problem ebenfalls nicht, da bereits die Tatsache, dass sie Berufspolitiker waren, dafür sorgte, dass sie außerhalb des Parlaments stark gefragte Leute waren: beim Organisieren der Politik, beim Spendensammeln, im Journalismus. Als Bülow schließlich an den Kaiser herantrat, um Artikel 32 zu ändern, hatte er zwei unwiderstehliche Argumente auf seiner Seite: die Unmöglichkeit, andernfalls die Unterstützung des Zentrums für die Marine- und Finanzgesetzgebung der Regierung zu bekommen, und das notorische, lähmende Fernbleiben der Abgeordneten vom Reichstag. Beide Argumente waren auf unterschiedliche Weise zugleich eine Bestätigung der Unverzichtbarkeit des Parlaments. Der Bundesrat stimmte endlich im Frühjahr 1906 den Diäten zu – in Höhe von 3.000 Mark jährlich abzüglich 20 Mark für jede vom Abgeordneten verpasste Sitzung. Inzwischen war der hohe Grad an Organisation, der das politische Leben in Deutschland charakterisiert, längst erreicht.50 Die Reichstagsabgeordneten »lebten« bereits, wie Max Weber es ausdrückte, »von der Politik«. Anstatt die Entwicklung einer Klasse von Berufspolitikern zu verhindern, wie Bismarck es vorgehabt hatte, war die unbeabsichtigte Folge des Verbots von Diäten, jene Männer, die im Parlament dienen wollten, dazu zu zwingen, die Politik zu ihrem Beruf zu machen.

Maschinenarbeit Es war keineswegs üblich, dass Mandatsanwärter sich persönlich bei den Wählern bewarben, wenn auch Neueinsteiger, wie beispielsweise Otto Böckel (von der antisemitischen Deutschen Reformpartei) in den 1880er Jahren und Friedrich Naumann (Nationalsozialer Verein) in den späten 1890ern gezwungen waren, persönlich auf Stimmenfang zu gehen, um in ein Spiel einzubrechen, bei dem die anderen Parteien bereits seit zwei Jahrzehnten bekannte Mitspieler waren. Die Verteilung der Stimmzettel jedoch, wenn auch nur durch die Vertreter

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Meyer: Wahlrecht, S. 519. Thätigkeit, S. 143; Bachem, Vorgeschichte, Bd. 6, S. 261, 304; Kulemann: Erinnerungen, S. 41, 45, 50 ff.; Molt: Reichstag, S. 310, 312 ff. Lerman: Chancellor, S. 64, 80. Text des Antrags Gröber zur Änderung des Artikels 32: Reichstags-Wahlrecht, S. 36. Die Verfassungsänderung vom 21. Mai 1906 verbot weiterhin ein Gehalt, bot aber eine Kompensation an. Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 895. Jaeger: Unternehmer, S. 101, gibt eine höhere Summe an: 400 Mark im Monat.

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Teil 3: Grade der Freiheit

der Kandidaten, nahm den Charakter eines Stimmenfangs an und war von sich aus bereits ein Ansporn zu einem höheren Grad an Organisiertheit.51 Jeder Kandidat war froh, wenn er sich bei der Erledigung dieser Aufgabe auf ehrenamtliche Parteimitglieder verlassen konnte. Auf dem flachen Lande konnten sich die konservativen Parteien (und stellenweise deren liberale Pendants) den umfangreichen Staatsapparat zunutze machen – angefangen von den Landräten und Gendarmen bis zu den Lehrern und Dorfbürgermeistern –, um die Verteilung zu beschleunigen und die Kosten (zwischen 500 und 1.000 Mark pro Wahlkreis) zu begrenzen. Allerdings gingen sie damit das Risiko ein, dass die Wahl für ungültig erklärt wurde, falls sie tatsächlich gewannen.52 Das Zentrum war mit seinen Pfarrern und Konfirmanden in einer noch weitaus komfortableren Lage. In den Städten jedoch nahmen die Parteien selbst die Herausforderung der Organisation an. Bereits 1877 hatte das Zentrum mindestens einen Beauftragten (»Straßenvertrauensmann«) für jede Straßenseite in Düsseldorf ernannt und die Sozialisten verfügten in Hamburg über eine regelrechte »Wahlmaschinerie«. Gegen Ende der 1880er Jahre teilten sie die Stadt unter einem Netzwerk von Bezirksführern auf, denen jeweils zwanzig bis fünfzig weitere Parteimitglieder unterstanden. Bei rund 700 Wählern pro Wahlbezirk war es möglich, dass ein Mitglied mit einem Sack voller Stimmzettel auf jeweils zwanzig Passanten kam, denen man begegnete. In den industrialisierten, aber immer noch sehr ländlichen Hamburger Vororten waren ihnen die Liberalen ein Jahrzehnt voraus, indem sie jeden Wahlbezirk in Abschnitte von je zwanzig Wählern einteilten und Freiwillige damit beauftragten, den ganzen Tag lang Gruppen zerlumpter Arbeiter in ihren eleganten Kutschen zu und von den Wahllokalen zu transportieren – was zu Wahlbeteiligungen bis zu 90 Prozent führte.53 In Anbetracht der Abhängigkeit der Wähler dürften diese Zeichen der Zuvorkommenheit in Hamburg denselben Zweck erfüllt haben wie die erzwungenen Märsche zu den Wahlurnen, die wir aus den kleineren Gemeinden kennen. Dennoch ist jedes Anzeichen der Zuvorkommenheit seitens der Arbeitgeber bemerkenswert, weil diese Herablassung wie auch der hohe Grad an Organisiertheit einen so starken Gegensatz zu unserem üblichen Bild von den deutschen Liberalen unter Bismarck bedeutet. Die Aufgabe der Stimmzettelverteilung war zeitraubend und die Begeisterung der unbezahlten Ehrenamtlichen hielt selten lange an. In München verbrachte der Schuhmacher Heinrich Kröber, der 6.000 adressierte Umschläge zur Verteilung erhielt, drei Tage damit, 2.000 davon ohne Bezahlung auszutragen, bis er der Meinung war, sein Geschäft nicht länger vernachlässigen zu können. 51

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Womit die britischen Liberalen bestätigt wurden, die vorhergesagt hatten, dass der Stimmzettel zur Vorherrschaft politischer Verbände führen werde. Seymour: Reform, S. 431. Die Skepsis der deutschen Liberalen gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht setzte ihrer Vorstellungskraft bezüglich der Konsequenzen organisatorischer Details Grenzen: Pollmann: Parlamentarismus, S. 88, 89 Anm. 116. Bennigsen SBDR 15. Dez. 1888, zitiert v. Richter 3. Feb. 1888, S. 684. Nipperdey: Organisation, für NL: S. 151 ff.; für LL: S. 200 ff., 208, 220 f., 226 f., 235 f.; für SPD: S. 306, 308, 313, 319, 322 f., 325, 327, 341, 368, 370, 372; K Kosten: Molt: Reichstag, S. 260. Schloßmacher: Düsseldorf, S. 53, 70, 207, 213 f., 223, 241; Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 116, 130 und 130 Anm. 60, 132 (Wahlmaschinerie).

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Er heuerte einen gewissen Sebastian Kraft an, den Rest auszuliefern. Als er von einem Polizisten angehalten wurde, behauptete Kraft, der Armenhilfe bezog und daher nicht wählen durfte, weshalb er sich »auch um das politische Parteileben nicht kümmere«, nicht einmal den Inhalt der auszutragenden Stimmzettelumschläge zu kennen. Hunderte von Hausierern in Chemnitz verbanden die Verteilung der Stimmzettel mit einem Nebenverdienst durch den Verkauf von Uhrkettenanhängern, Streichhölzern und Anstecknadeln mit Bildern von Bebel, Liebknecht und dem beliebtesten Sohn der Stadt, Dr. Max Schippel.54 An Orten, an denen eine Partei schwach vertreten war, befand sie sich jedoch in einer Zwickmühle. Bei wenigen Mitgliedern wagte sie nicht, deren Dienste zu häufig in Anspruch zu nehmen. Aber die Parteigetreuen zu bitten, die finanziellen Mittel zur Bezahlung von Hilfskräften aufzutreiben, barg ähnliche Risiken. Zumindest bei den Sozialdemokraten folgte häufig, wie wir erfahren haben, die Ausbildung eines unterstützenden Milieus auf die Organisation der Partei und den Wahlerfolg, und nicht umgekehrt.55 Um den Prozess in Gang zu bringen, gab es nur die Möglichkeit, Ressourcen und Hilfstruppen von den Habenden zu den Habenichtsen zu transferieren, von den Zentren der Parteiorganisation in die Randgebiete, mit vorhersehbaren Konsequenzen für die örtliche Autonomie. Es überrascht nicht, dass eine solche »Zentralisierung« nicht von jenen in den Hochburgen vorangetrieben wurde, die Positionen der Stärke innehatten, sondern von jenen an den Peripherien der Parteiaktivität – wie beispielsweise den Sozialdemokraten in der Universitätsstadt Göttingen. Bebel war nicht gerade begeistert von den Folgen der zunehmenden Professionalisierung: »… in der Arbeitsweise der Partei ist seit 10 Jahren eine totale Umwandlung eingetreten«, beklagte er sich 1911 bei Victor Adler. »Von der alten Opferwilligkeit der Partei ist wenig mehr zu spüren, heute soll jede Leistung bezahlt u. zwar gut bezahlt werden.«56 Dennoch weit entfernt davon, mit dem Ethos der Sozialdemokratie unvereinbar zu sein, war das Prinzip der Bezahlung von Arbeit eng mit dem Evangelium der Selbstachtung verbunden, das von der Arbeiterbewegung gepredigt wurde. Auch dieser Arbeiter war seines Lohnes wert. Wie viel Geld wurde hierfür ausgegeben? 1887 zahlten die Sozialisten einem Beauftragten rund 20 Mark für das Austeilen von Stimmzetteln und Wahlkampfliteratur – wohl kaum eine königliche Summe angesichts der damit verbundenen Risiken und Erschwernisse. Zwanzig Jahre später erhielt ein Verteiler der Freisinnigen Volksvereinigung in Marburg 10 Mark mehr. (In England fand man fast während des gesamten 19. Jahrhunderts, dass 200 Pfund ein an54

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München 1, AnlDR (1884, 5/IV, Bd. 4) DS 123, S. 981 (Zitat), 983 f.; Göhre: Drei Monate, S. 95; Czaplinski: ´ Presse, S. 30 f.; unbezahlt: Keil: Erlebnisse, Bd. 1, S. 84; Möllers: Strömungen, S. 78; Nipperdey: Organisation, S. 306; Bergsträsser: Geschichte, S. 250. Göttingens nichtsozialistische Arbeitervereine organisierten wesentlich mehr Arbeiter als die SPD. Saldern: Wege, S. 129; auch 46, 50, 56, 84, 231, 235. Magdeburg: Asmus: Entwicklung, S. 317. Bebel an Victor Adler, 10. April 1911: Victor Adler. Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky … Gesammelt und erläutert von Friedrich Adler, hrsg. v. Parteivorstand der Sozialistischen Partei Österreichs, Wien 1954, S. 531, zitiert in Guttsman: Party, S. 241 f.; siehe auch S. 269 Anm. 39. Hierzu Saul: Kampf, S. 172 f. In Berlin VI meldeten sich allerdings 800 Freiwillige am Wahltag zur kostenlosen Arbeit für die SPD. Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 124.

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gemessener Lohn für einen Hauptwahlbeauftragten seien, wenn auch einige sich erheblich besser standen.57) Einen Söldner anzuheuern barg Gefahren, da eine andere Partei jederzeit mehr bieten konnte. Die Freisinnigen entdeckten dies, als einer ihrer Verteiler seine Stimmzettel an den Vertrauensmann ihres Gegners für 10 Mark verkaufte.58 Die größten Gefahren allerdings drohten den Verteilern selbst, da feindlich gesinnte örtliche Behörden unter jedem möglichen Vorwand – oder oft auch grundlos – ihre Stimmzettel vernichten, sie selbst zusammenschlagen und für zwei Wochen ins Gefängnis werfen oder aber sie aus der Stadt hinauswerfen konnten – in mindestens einem Fall unter der Drohung, sie totzuschlagen.59 Es scheint offensichtlich zu sein, dass die meisten dieser Stimmzettelverteiler, selbst wenn sie dafür bezahlt wurden, sowohl aus Überzeugung als auch für Geld arbeiteten.

−−− In Deutschland oblag bekanntlich die Verantwortung für die Registrierung der Wähler, also für die Führung einer offiziellen, aktuellen Liste der Wahlberechtigten, nicht den Bürgern, sondern den örtlichen Behörden – im Gegensatz zu den britischen und US-amerikanischen Gepflogenheiten – was weitreichende Konsequenzen hatte. In Großbritannien machte das komplizierte Verfahren der Einschätzung des zum Wählen nötigen Mindestbesitzes es derart schwierig, eine genaue Liste der Wahlberechtigten zu führen, dass die Behörden vor Ort dies häufig vernachlässigten. Es war Sache des Wählers, seine Wahlberechtigung zu beweisen, was derart komplex war, dass oft die Verteidigung vor Gericht nötig wurde. Radikale beschwerten sich, dass »das Wahlrecht des Volks … in die Aktentasche eines Anwalts ausgeleert« worden sei. Die Notwendigkeit der Registrierung hielt vermutlich etwa 2,5 Millionen andernfalls wahlberechtigte britische Männer vom Wählen ab. Zweifellos war die Aufgabe, ein genaues Register zu führen, im autoritären Deutschland erheblich einfacher – dank der Meldepflicht, der Pflicht, die Polizei vom Zuzug bzw. Wegzug vom Wohnort zu benachrichtigen. Dennoch brauchte es 1887 in einem Ort wie Hamburg, mit seiner höchst mobilen Bevölkerung, 170 Sachbearbeiter, die mit nichts anderem beschäftigt waren als die Listen der Stadt zusammenzustellen. Indem nach dem Gesetz die Regierung für das Führen genauer Listen verantwortlich war, garantierte dieses das Wahlrecht des gemeinen Wählers und senkte zudem (im Vergleich zu Großbritannien) erheblich die Kosten der Wahl für die Kandidaten und ihre Parteien.60 57

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Hiervon heuerte er wahrscheinlich zusätzliche Arbeitskräfte an. Gwyn: Democracy, S. 37 Anm. 1. Beauftragte: Hessen 5, AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 2) DS 155, S. 673. LL: Waldeck-Pyrmont, AnlDR (1907/09, 12/I, Bd. 20) DS 736, S. 4627. Sachsen 20, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 247, S. 1102. Ähnlich in Baden 3: Amtsvorstand St. Blasien an MdI, 24. Juni 1893, GLA 236/14901, 3/b; Koblenz 1: Monshausen: Wahlen, S. 70. Protest des Bochumer Z, 20. Jan. 1891, BAB-L R1501/14668, Bl. 189; M. Dietz, K. Grehs und F. Pröbstl, Wahlprotest vom 12. März 1887 (München II), BAB-L R1501/14656, Bl. 14–15; Sachsen 20, AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 6) DS 247, S. 1103. Britisches Erstaunen darüber, dass in Deutschland »die Registrierung die Pflicht des Staats ist«: Working,

Kapitel 11: Organisation

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Jeder Bürger besaß das Recht, in den acht Tagen vor der Wahl die Listen einzusehen, um sicherzugehen, dass er nicht ausgelassen worden war. 1887 machten in Hamburg 68 Prozent der Wahlberechtigten von diesem Recht Gebrauch.61 Die Berliner waren ebenso gewissenhaft; dort kamen 206.898 Männer zur Überprüfung ihrer Namen zur Wahl von 1907 – als Gradmesser ihrer Gewissenhaftigkeit als Staatsbürger ist diese Zahl mindestens so eindrucksvoll wie die hohe Wahlbeteiligung in der Stadt am Wahltag.62 Tab. 4: Wahlwoche in Hamburg (1887):63 Zahl der die Listen überprüfenden Wähler Tag Montag: Dienstag: Mittwoch: Donnerstag: Freitag: Samstag: Sonntag: Montag:

Personen 1.716 6.717 9.826 10.878 10.494 10.297 22.985 10.467 82,380

Aber war ein Wähler befugt, die Listen auch für einen anderen durchzusehen? Und konnte er sich Abschriften zum Mitnehmen machen – etwa auch von Adressen und Berufen?64 In Kapitel 3 haben wir erfahren, wie Aufseher und andere Repräsentanten der Obrigkeit die Listen benutzten, um die von ihnen Abhängigen zu den Wahlurnen zu rufen. Aber bereits in den 1870er Jahren hat-

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S. 274. Seymour: Reform, S. 5, 134 ff., 167, 352 f., 361, 364 ff., 370, 373 f., 381 ff., Zitat: S. 368 Anm. 2; Hanham: Elections, S. 399 ff.; Blewett. Franchise, S. 35 ff., 43 Anm. 65. Anträge zur Änderung des Systems wurden abgelehnt. Seymour u. Frary: World, Bd. 1, S. 163 f. Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 120. 1890 überprüften in Breslau 7.000 Personen die Listen. Müller: Geschichte, S. 352. Die SPD verteilte Formulare, mit denen man protestieren konnte, wenn man auf den Listen ausgelassen worden war. 13.000 davon wurden 1903 allein in Berlin eingereicht. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 122 f. Die Parteibüros ließen die Wähler ihre eigenen Listen noch einsehen, als das Rathaus bereits lange seine Bücher geschlossen hatte, was in einer Stadt mit 832 verschiedenen Wahllokalen besonders hilfreich war. Lokales und Vermischtes. Das Wahllokal, in: BT Nr. 15, 1. Beiblatt, 9. Jan. 1912 (Abend). Quelle: Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 120. Jede beteiligte Partei verfolgte mit ihrer Antwort auf diese Fragen immer bestimmte Interessen. F. Buht u. Gen. (K), Emden, 5. Aug. 1878, BAB-L R1501/14693, Bl. 57; KP zu Frankfurt 2, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 103, S. 252; Reimer SBDR 10. Apr. 1874, S. 696; SD zu Magdeburg 8, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 91, S. 333 ff. und Düsseldorf 2, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 263, S. 971; gegen die Verweigerung des Rechts, die Listen abzuschreiben: KP zu Berlin 2, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 2) DS 44, S. 120 ff.; v. Donimirski u. a., Marienwerder 4, 12. März 1887, an den Reichstag, BAB-L R1501/14665, Bl. 82–86. Allgemein: Hatschek: Kommentar, S. 157 ff.

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ten die Fortschrittlichen in Berlin und Breslau sowie die Sozialisten in Kiel, Altona und im Königreich Sachsen dieselbe Methode benutzt, um ihre eigenen Wählerschaften zu mobilisieren.65 Es dauerte allerdings zwanzig Jahre, bis der Reichstag offiziell von seiner früheren Position Abstand nahm und, unterstützt von Deutschlands Juristen, übereinkam, dass jedermann Zugang zu allen Namen auf der Liste haben musste. »Ich kontrolliere die Wahlliste nicht, weil ich Wähler der Bahnhofstraße, der Bismarckstraße oder der Sperlingsgasse bin, sondern weil ich als Aktivbürger der Stadt am Rechtseffekt der Gesammtwahl betheiligt bin.«66 Jede Partei, die es sich leisten konnte, fertigte sich mehrere Abschriften an, denn die »Schlepper« – männliche wie weibliche, und ganz zu schweigen von jenen Schwärmen von Radfahrern, die bereit waren, mögliche Wähler ihrer Partei abzuholen – waren ohne diese kaum vorstellbar.67 Der Wert dieser Abschriften wurde bereits 1883 in einer Hamburger Nachwahl bewiesen; dort machten die Listen eines Wahlbezirks den entscheidenden Unterschied aus.68 Bei aller »Modernität« dieser Methode war immer noch ein gewisser Zwang hinter den Klopfzeichen der Schlepper zu hören. In Halberstadt begrüßte ein nationalliberaler Schlepper jeden Haushaltsvorstand mit den folgenden Worten: »Eine Empfehlung von Herrn Gerbereibesitzer Kühne und Kaufmann Heinzius und Sie sollten doch zum Wählen kommen, und sollten sich hier auf dieser Liste unterschrieben, dass Sie kommen wollten.« Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Jahr 1907 die Wahlbeteiligung in Deutschland fast 85 Prozent erreichte – nur sechs Prozentpunkte weniger als die in Österreich, wo eine Wahlpflicht bestand.69 Die Parteien beschränkten sich nicht auf ihre sichere Klientel. In den 1880er Jahren erhielten die Berliner bereits von allen Parteien Stimmzettel und Pro65

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H. H. Wachs (NL) SBDR 10. April 1874, S. 697; Kayser SBDR 8. Mai 1878, S. 1248. Eine zehnseitige Liste von 1881 mit 675 Meppener Wählern, von denen 534 abgehakt sind, in Spalten, die Z-Vertrauensmännern zugeteilt sind, im SAO, Dep. 62–b. Felix Stoerk: Die Oeffentlichkeit der Wählerliste nach preußischem Verfassungs- und Verwaltungsrecht, DGZ 37/48 (26. Nov. 1898), S. 289 ff. Eine erhitzte Debatte brach über die Einsehbarkeit der Listen bei den preußischen LT- und Kommunalwahlen aus, da die Listen vertrauliche Steuerinformationen enthielten. Ferdinand Nöll: Ueber die Entnahme von Abschriften der ausgelegten Wahllisten seitens der Wähler, in: PVB 21/21 (24. Feb. 1900), S. 225 ff.; Ungültigkeit der Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung (1901) S. 276 f.; [Georg] Strutz: Die Oeffentlichkeit der Wählerlisten für die Wahlen zum Abgeordnetenhause und zu den Gemeindevertretungen, in: PVB 20/10 (3. Dez. 1898), S. 97 ff.; SBHA (1907–1908, 20/IV) S. 2867 ff. Die WPK hatte 1881 entschieden, dass es zulässig sei, dass der Berliner Stadtrat den LL, aber nicht den SD Zugang zu den Listen gewährte. AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 94, S. 669. Ähnlicher Fall 1890: Thätigkeit, S. 165. FVp-Vertrauensmänner von den Listen ferngehalten: Potsdam 4, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 22) DS 1435, S. 2948 f., 2952. Arnsberg 5, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 292, S. 1081; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 126; Working, S. 276; Politik und Presse, in: DA 21/27 (5. Juli 1903) S. 443 ff., bes. 444; Koettig, Polizei Dresden, an Kreishauptmannschaft Dresden, 1. Feb. 1913, BAB-L R1501/14460. Bl. 462. Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 127 Anm. 50, S. 136, 269. SD Protest gegen NL in Halberstadt: Magdeburg 8, AnlDR (1881/82, 5/I, Bd. 3) DS 91, S. 335; Beschwerde der Emdener KP gegen Liberale, 5. Aug. 1878, BAB-L R1501/14693, Bl. 57. Sachsen 14, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19) DS 718, S. 927; Birle an Jörg, 12. Jan. 1877: Jörg: Briefwechsel, S. 439; Koettig, Polizei Dresden, an Kreishauptmannschaft Dresden, 1. Feb. 1913, BAB-L R1501/14460, Bl. 467. Ein freundlicheres Bild von der Rolle der Schlepper: Suval: Politics, S. 244. Österreich: Boyer: Culture, S. 89.

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spekte, die ihnen direkt zugeschickt wurden, manchmal zwei- oder dreimal während eines einzigen Wahlkampfs. Eugen Richter verursachte eine Sensation, als er Briefe benutzte, um in einige Dörfer auf Gütern bei Greifswald vorzudringen. Jeder Arbeiter erhielt einen Brief, der in Berlin abgestempelt und an ihn persönlich adressiert war, vom Reichspostboten zugestellt – mit einem Stimmzettel der Fortschrittlichen Volkspartei. Wie war die Partei an diese Namen und Adressen gekommen? Jemand musste sich Zugang zu den Greifswalder Listen verschafft haben! Wie hätten die Fortschrittlichen das bloß bezahlt? Richters Coup bewirkte einen Aufruhr im pommerschen Adel.70 Die angefertigten Listen sorgfältig auf dem neusten Stand zu halten war eine nicht enden wollende Aufgabe und für die Sozialdemokraten, deren Zielgruppe für ihre Mobilität bekannt war, eine überlebenswichtige Angelegenheit.71 Die logistischen Herausforderungen waren immens. Bei den ersten Wahlen waren die Wahlberechtigten aller sechs Berliner Wahlkreise auf einer einzigen Liste geführt worden, was einen ausgiebigen Zugang mehr als einer Person gleichzeitig praktisch ausschloss. Aber schon 1878 hatte sich die Situation umgekehrt – vielleicht zum Schlimmeren, da die Hauptstadt nun 18.000 separate Listen besaß, da jeder Haus- und Wohnungsbesitzer eine Liste seiner Mieter hatte anfertigen müssen, deren Zahl der eines gesamten Wahlbezirks in einem ländlichen Wahlkreis gleichkommen konnte. Die Genauigkeit dieser Listen zu überprüfen war in jedem Fall nötig, da viele Hausbesitzer – besonders Fortschrittliche – sich nur die Mühe machten, die Mieter der ersten beiden Stockwerke und des Erdgeschosses zu registrieren, weil sie die Pflicht scheuten, zum Dachboden hinauf und in den Keller hinab zu steigen, um die Namen ihrer ärmeren Mieter zu erfassen.72 Da Hunderte von Angestellten fieberhaft mit dem Anfertigen leserlicher Kopien für die Bezirkswahlvorstände beschäftigt waren, blieb für die Wähler oder die Parteien wenig Zeit, um eigene Kopien anzufertigen. Die Sozialdemokraten begannen bald, die Stadtverwaltungen unter Druck zu setzen, die kostbaren Listen gegen Bezahlung für jede Partei zu kopieren, eine Forderung, die sie gegen hartnäckige (für gewöhnlich Fortschrittliche) Stadtväter in Stellung brachte.73 Um die Jahrhundertwende jedoch taten dies die meisten Städte bereits ganz selbstverständlich. Als Richter forderte, diese Dienstleistung für das

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Behr-Behrenhoff SBDR 1. Feb. 1888, S. 655; Richter SBDR 3. Feb. 1888, S. 682 f. Die SD hatten den Direktversand bereits in München benutzt. AnlDR (1884, 5/IV, Bd. 4) DS 123, S. 983. Zwei Jahre zuvor hatte das MdI während der preußischen LT-Wahlen heimlich versucht, Wahlkampfprospekte an jeden Haushalt im Königreich zu versenden. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 69. Bergsträsser: Geschichte, S. 249, nahm an, dass der Gebrauch des Postdienstes durch die nichtsozialistischen Parteien für eilige Hand- und Stimmzettel neu war. Die Wiederwahl Kaempfs, in: BT 6. Nov. 1912. Die Kopierstiftnotizen auf dem Artikel zeigen, dass die Bedeutung veralteter Listen für den Sieg über die SD den Bürokraten des RdI nicht entging. BAB-L R1501/14645, Bl. 269. Veraltete Listen konnten zu peinlichen Einsprüchen führen: Bötticher an SM in Weimar, 23. Febr. 1895, BAB-L R1501/14453, Bl. 254. Reimer SBDR 10. April 1874, S. 696; Kayser SBDR 8. Mai 1880, S. 1245; Berlin 6, AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 94, S. 672. Richter, Löwe SBDR 8. Mai 1880, S. 1245 f., 1250; Möllers: Strömungen, S. 92; SPD-Protest, Berlin 6, AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 94, S. 669 ff.

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ganze Land verbindlich zu machen, weigerte sich die Regierung allerdings.74 Zugang für alle – Bevorzugung für niemanden war das Äußerste, was sie garantieren konnte. Kandidaten, denen die Energie oder die Organisation fehlten, ihre eigenen Kopien anzufertigen, bezahlten ihren Preis.

Die Erziehung der Wähler Entgegen dem, was wir von Wahlen in anderen Ländern erwarten, gehörten Belustigungen und Festlichkeiten nicht zu den zentralen Aspekten eines deutschen Wahlkampfes. In kleinen Gemeinden, deren Netzwerke der Autorität und Konformität noch intakt waren, waren Festivitäten zur Mobilisierung der Wähler kaum nötig. In größeren, heterogeneren, »moderneren« Orten, wo bereits Parteien die Agenda bestimmten, wurden tatsächlich Massenversammlungen abgehalten, um Begeisterung zu wecken, Gegner einzuschüchtern und den öffentlichen Raum zu besetzen: also zur Demonstration von Macht. Aber Macht wurde nicht festlich, sondern argumentativ begriffen, als rhetorische Zurschaustellung korrekter Meinungen, die durch Armeen von Fakten unwiderstehlich untermauert wurden. Wenigen Eiern wurde ausgewichen – und wenige wurden geworfen; lebende Bilder, die von den Schönen des Orts dargestellt wurden, blieben ganz besonderen Gelegenheiten vorbehalten; und praktisch niemand wurde als Puppe am Galgen gehenkt. Die stumme Präsenz eines sich Notizen machenden Polizisten half zweifellos, das Benehmen grundsätzlich im Rahmen des Anstands zu halten. Aber – und dies war ebenso wichtig – ein unausgesprochener Konsens darüber, was für die politische Entscheidungsfindung angebracht war, stellte sicher, dass das Schauspiel eine untergeordnete Rolle im Verhältnis zu den anderen Mitteln der Überzeugung spielte und dass die Wahlkampfrituale verbal anstatt visuell stattfanden.75 Der demokratische Herzschlag der Sozialdemokratie war nirgends spürbarer als in den langen Stunden, die damit zugebracht wurden, jedes Mitglied in einen örtlichen Demosthenes zu verwandeln, der bereit war – zumindest theoretisch –, auf die Barrikaden der öffentlichen Debatte zu steigen. Der Hauptteil jedes Treffens eines Ortsvereins war den Reden und Diskussionen der Mitglieder gewidmet. Beispielsweise verkündete der Präsident des sozialdemokratischen Wahlvereins von Chemnitz seinen gut vierzig regelmäßigen Teilnehmern: »Es wird gewünscht, dass jeder redet, jeder sich ausspricht. Und wenn das auch in der kläglichsten Form geschieht, jeder ist sicher, nicht ausgelacht zu werden, denn eben dazu sind wir allvierzehntägig hier zusammen, damit wir uns schulen, um in den größeren Versammlungen unseren Gegnern mit Erfolg antworten zu können.« Von acht bis zwölf Uhr hatten Weber, Mechanikermeister und Arbeiter das Wort. Selbst »wenn sie das tollste Zeug vorbrachten«, bemerkte ein 74 75

SBDR 21. April 1903, S. 8915; Richter an IM v. Hammerstein, 16. Mai 1903; Kitzing an Bülow, 19. Mai 1903; Kitzing an Richter, 19. Mai 1903, BAB-L R1501/14456, Bl. 173 f. Im Kontrast dazu Englands »Politics of Sight«: Vernon: Politics, S. 107 ff. Auch O’Gorman: Rituals.

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Beobachter, sie »wurden mit Ruhe und Aufmerksamkeit und fast kindlichem Ernst angehört.« Auch wenn einige dieser Reden sich hören lassen konnten, so waren doch die meisten ungelenk und ungrammatisch und offenbarten »ein grauenhaftes Gemisch von Wissen und Unwissenheit, von praktischer Erfahrung und Mangel an Überblick über das große Ganze, und oft eine Verranntheit in Ansichten …, über die selbst die klaren klugen Köpfe unter den Genossen erschraken«.76 Dass jedoch jedermann zur Teilnahme ermutigt wurde, stärkte die Selbstachtung und besiegelte die Loyalität des Teilnehmers zur Partei – die amateurhafte Erscheinung der Partei bei einigen ihrer frühen Auftritte war ein geringer Preis für solche Vorteile! Dennoch erforderte der hohe Anspruch des argumentativen Wettbewerbs erfahrene und geschickte Redner. Die Sozialdemokraten entwickelten rasch formale Schulungsprogramme für ihre Sprecher. 1876 beschäftigten sie acht bezahlte Vollzeitredner, vierzehn Teilzeit- und 123 geschulte, aber noch nicht bezahlte »Berufsredner«. Deren Anzahl vergrößerte sich mit der Zeit beträchtlich, was der Partei die Möglichkeit gab, nicht nur in den größeren städtischen Zentren zu werben, sondern auch in den Vororten und Kleinstädten. Schon 1890 bemühte sich die Partei um die Wähler des Zentrums, eine Herausforderung, die zu einer sofortigen und analogen Reaktion führte: der Gründung des Volksvereins für das katholische Deutschland. Das Ziel des Volksvereins war es, die katholischen Arbeiter zu »mündigen Bürgern« zu machen, die ein sachkundiges, aktives Interesse an öffentlichen Angelegenheiten an den Tag legten und sich in öffentlichen Versammlungen verteidigen konnten. Handbücher ermutigten künftige Sprecher, eine Tageszeitung zu lesen, Artikel zu unterstreichen, auszuschneiden und zu ordnen sowie sie in beschrifteten Sammelmappen als Quelle für spätere Reden abzulegen. Die Schulungen des Volksvereins hatten nicht nur die wenigen Eloquenten im Sinn, sondern die vielen Schweigsamen, in der Hoffnung, dass selbst Arbeiter, die vielleicht niemals auf dem Podium brillieren würden, zumindest aus der Menge heraus einen Kommentar beisteuern würden, vielleicht auch am Arbeitsplatz.77 Auf diese Weise verbesserte der Wettbewerb laufend den Standard der politischen Argumentation, was wiederum die Tendenz zur Nationalisierung der Wahlkampforganisationen verstärkte. Die Fortschrittlichen hatten einen geringeren Bedarf an Schulungsprogrammen, professionalisierten aber ebenso rasch ihre Wahlkämpfe. 1880 besaßen sie bereits eine Liste von 64 bekannten Rednern, die für rednerlose Wahlkreise zur Verfügung standen. Weiter rechts auf der politischen Skala war die Parteitradition solcher Professionalisierung gegenüber resistenter. Reden, die über das Versprechen hinausgingen, sein Bestes für König und Vaterland zu geben, waren 76

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Göhre: Drei Monate, S. 88 ff. Pater Cronenberg versuchte ähnliche Fertigkeiten in seinem Paulus-Verein in Aachen zu fördern, aber die charismatische Art seines Auftretens unterminierten seine Bemühungen um Demokratie. Volksversammlung im Paulushaus am 15. Jan. 1877. Stenographischer … Bericht, in: Lepper (Hrsg.): Katholizismus, S. 208. Obwohl formal gesehen nicht Teil des Z und dieses offiziell auch nicht finanziell unterstützend wurde der VV von Windthorst gegründet, und sein Vorstand war stets mit Führern des Z besetzt. Heitzer: Volksverein, S. 144–191, 157 f. (Zitat), 246 f., 259 ff.

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den Konservativen, die meinten, dass politische Legitimität sich aus bereits bestehender Autorität ableite, ideologisch abstoßend. Die Suche nach Argumenten als solche widersprach bereits der »Natürlichkeit« der Ordnung, die sie zu erhalten suchten, denn wenn die Autorität von Natur aus besteht, ist es besser, so wenig wie möglich darüber zu reden. Die Nationalliberalen ließen sich auch Zeit, professionelle Redner zu engagieren – sie warteten damit bis zum Ende des Jahrhunderts, als sie vom explosionsartigen Anwachsen der Sozialdemokratie aufgeschreckt wurden. Selbst dann noch neigten sowohl die Liberalen als auch die Konservativen dazu, ihre Wahlkämpfe national gesinnten Interessengruppen (die ihre eigenen Schulungen veranstalteten) vertraglich zu übertragen – eine andere Form der Professionalisierung.78 1907 bot der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie Redner für 50 Mark pro Auftritt an. Kader von Afrikaveteranen, die von der Regierung gefördert (und vermutlich zumindest indirekt bezahlt) wurden, waren ein zusätzlicher Publikumsmagnet für die Versammlungen der Rechten.79 Die Professionalisierung schloss die Demokratisierung keineswegs aus. Als der Bund der Landwirte begann, seinen bevorzugten Kandidaten große Summen für öffentliche Redner zur Verfügung zu stellen, war eine der Folgen, dass gewöhnliche Bauern sich schlagartig um Reichstagsmandate bewarben.80

−−− Die Wahlkämpfe wurden als Bildungsveranstaltungen angesehen.81 Folglich machte die Flut des Gedruckten, die das Land der Dichter und Denker überschwemmte, einen wesentlich größeren Teil der Wahlkampfbudgets aus als der für die Redner und Versammlungen. Die Deutschen kannten nicht jene bunten Plakate, die in Frankreich bereits eine so große Rolle im Wahlkampf spielten und ihm einen »burlesken Charakter« verliehen, indem sie die Wände öffentlicher Gebäude »wie einen vielfarbigen Bildteppich« erscheinen ließen.82 In Bayern und Sachsen konnte man Plakate finden, aber in Preußen verbat das Pressegesetz von 1851 das Aufhängen von Bildern, Proklamationen oder Anzeigen, außer für öffentliche Belustigungen, Verkäufe und verlorene und gefundene Gegenstände. Sozialdemokratische Vandalen bepinselten gelegentlich in der Nacht vor der Wahl Häuserwände mit den Namen ihrer Favoriten. Aber Plakate, die sich größtenteils auf geschriebene Texte beschränkten, waren auf die wenigen offiziellen Litfaßsäulen begrenzt – sowie auf durch die Berliner Straßen laufende Plakatträger.83 Der illustrierte Einblattdruck war nicht gänzlich unbe78

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»Vertraglich übertragen« ist die Erkenntnis von Eley: Reshaping, S. 28. Ausgezeichnet zu Diederich Hahns Einfluss auf die Agitation des BdL: Vascik: Conservatism, bes. S. 252, und zu den Antisemiten: Levy: Downfall, sowie Eley: Anti-Semitism. Siehe auch Richter: Reichstag, Bd. 2, S. 89, 98, 109, 169 ff.; Nipperdey: Organisation, S. 154, 200, 306; Bergsträsser: Geschichte, S. 248, 252; Saldern: Wege, S. 85. Working, S. 277; Nipperdey: Organisation, S. 152; Erzberger: Bilder, S. 46 ff. Molt: Reichstag, S. 117. Steinbach: Zähmung, Bd. 1, S. 57. Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 30, 120. §§ 9, 10 und 41 des preußischen Pressegesetzes zitiert in SBDR 6. März 1888, S. 1317; Thätigkeit, S. 138; [Köller]: Ungiltigkeit, S. 12; M. Hagen: Werbung und Angriff: Politische Plakate im Wandel von hundert

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kannt. Im Jahr 1887 verteilten Nationalliberale Schaubilder, die französische Truppen zeigten, die sich an der deutschen Grenze versammelten, sowie grelle Abbildungen von dem, was sie bei ihrem Eintreffen mit den deutschen Frauen tun würden. Aber die meisten deutschen Propagandisten scheinen davon überzeugt gewesen zu sein, dass ein Wort so viel wert sei wie tausend Bilder.84 Wesentlich häufiger waren schon die eng beschriebenen Handzettel, die laufend auf den neusten Stand gebracht wurden, um die Angriffe eines Rivalen zu kontern oder den Anhängern taktische Hinweise zu geben. 1877 verteilten die Sozialdemokraten weit über eine Million Schriftstücke allein in Berlin; Richter brachte im Jahr darauf mehr als eine Million Exemplare eines einzigen Handzettels unter die Leute.85 1907 produzierte die SPD 55,5 Millionen Handzettel; 1914 bekämpfte der Volksverein sie mit 89 Millionen eigenen: dies alles in einem Land mit einer Gesamtbevölkerung von nicht einmal 70 Millionen!86 Jene Parteien mit weniger gut entwickelten Organisationen, wie zum Beispiel die Antisemiten, benutzten denselben Handzettel in jedem Wahlkreis, indem sie den Namen des jeweiligen Kandidaten am Kopf mit einem Stempel eintrugen.87 Mit der Zeit wandten sich die Handzettel an immer differenziertere Zielgruppen. Das Zentrum veröffentlichte eine Serie mit den Titel: »Was hat das Reichstagszentrum für die … getan?« Der Satz wurde dann mit »Beamten«, »Kaufmannstand« [sic], »Handwerker«, »Landwirtschaft« oder »Arbeiter« vervollständigt. Dieses alles wurde von Satiren, Wahlkampfliedern und Knittelversen begleitet sowie von den unvermeidlichen Empfehlungen örtlicher Prominenter mit deren Unterschrift, die bei keinem Wahlkampf fehlen durften.88 Die Parteien hielten die Wähler allerdings für eifrige Leser, deren Appetit kaum durch einen bloßen Handzettel oder eine Broschüre gestillt werden konnte. Bücher, dünne wie auch dicke, waren ein wichtiger Teil des politischen Lebens. Abgeordnete hatten bereits 1848 Rechenschaftsberichte über ihre Aktivitäten abgegeben, und in den 1870er Jahren nahmen diese Berichte eine sehr umfangreiche Form an.89 Der Zentrumsabgeordnete von Kleve veröffentlichte

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Jahren, in: Politische Plakate, hrsg. v. H. Bohrmann, Dortmund 1984. Ich danke Julia Sneeringer für diesen Hinweis. Als Lefèvre-Pontalis schrieb, dass 600.000 antisemitische »placards« in Berlin verteilt wurden und die Partei dennoch nur 46.000 Stimmen gewann, muss er Handzettel gemeint haben. Plakate in Leipzig (außerhalb der Gültigkeit der preußischen Gesetze): Guttsman: Party, S. 173; in EL 10: AnlDR (1905/06, 11/II, Bd. VI) DS 483, S. 4739 f.; in Bayern: GA Nr. 12, 15. Jan. 1874, S. 68. Graffiti und großformatige Blätter: Müller: Geschichte, S. 110, 182, 353. Richter: Reichstag, Bd. 2, S. 67 ff.; Ullstein: Richter, S. 43 ff.; Nipperdey: Organisation, S. 200, 306; Möllers: Strömungen, S. 318. Crothers: Elections, S. 153; Klein: Volksverein, S. 63. Siehe auch: Saldern: Wege, S. 57 f.; Nettmann: Witten, S. 120 ff. Bergsträsser: Geschichte, S. 251. Das Verfahren wurde erstmals 1884 von SD angewandt. BAB-L R1501/14702, Bl. 42. Eine Liste solcher Titel ist zu finden in: A. Wolfstieg u. K. Meitzel: Bibliographie (1896), S. 516 ff. Satirisch: [A. Reichensperger:] Phrasen; Anonym: Humoristisch-satirisches Bilderbuch für den antiliberalen Wähler, Berlin 1881 (antisemitisch); Das Lied vom Schlangentöter und die Eugeniade. Zwei neu gefundene Epen, in altgriechischer Sprache, hrsg. v. H. Chalkeus, Hagen i. W. 1899 (gegen Eugen Richter). Dr. C[arl] G[ustav] Kries: An meine Wähler, Berlin 1851; Major Dr. H[einrich] Beitzke: An meine Wähler des Anclamer, Ueckermünder und Usedomer Wahlkreises, Anclam 1859; Rechenschaftsbericht des Reichstagsabgeordneten und ersten Vicepräsidenten des deutschen Reichstags Fürsten Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürst, zitiert v. H. Gollwitzer, in: Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche

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einen Bericht an seine Wähler, der 113 Seiten umfasste und zusammen mit einer 222–seitigen Sammlung von Reden seiner Kollegen in Buchform mit festem Einband gebunden war, samt Fußnoten und einem detaillierten Index. Der Autor schrieb, er fühle sich gedrängt, seinen »Auftraggebern gegenüber einen kurzen [!] Bericht über die wichtigsten Vorkommnisse« zu erstatten. Er wähle die gedruckte Form in erster Linie, um auf diese Weise »alle« seine Wähler zu erreichen, aber auch, weil die Erfahrung ihn gelehrt habe, dass die Obrigkeit Versammlungen des Zentrums bei der geringsten Provokation schließe und »jedes unbedachte Wort« sowohl den Redner als auch die Zuhörer »für den Staatsanwalt und die Polizei reif machen« könne. Dies war 1877, und der Kulturkampf war in vollem Gange.90 Wahrscheinlich brachten wenige Abgeordnete ganze Bücher heraus, um ihre Wiederwahl zu rechtfertigen, und verließen sich auf jene, die von der eigenen Partei und für diese veröffentlicht wurden.91 Aber kulturell bedingte Erwartungen hielten die Abgeordneten davon ab, kurzlebige Schriften zu verbreiten. Hellmut von Gerlach warnte seinen »Wahlkampfadjutanten«: »Vor allem nichts verteilen, was sich dem Format nach zum Einwickeln eignet! Kleine Bücher verkaufen! Die findet man vielleicht noch nach 10 Jahren in der Bibliothek des Bauern.«92 Gerade so, wie in Großbritannien der Vertrauensmann des Abgeordneten dessen Wahlkreis zwischen den Wahlen mit guten Werken und öffentlichen Wohltaten bei der Stange hielt, stärkten auch die deutschen Parteien die Treue des Wählers mit bildender Literatur aller Arten: von gesammelten Reden (Richter glaubte offensichtlich, dass jede Rede, die es wert war, gehalten zu werden, auch einer Veröffentlichung wert sei) über Erörterungen technischer Themen (zum Tabakmonopol oder zum Militärbudget) bis hin zu Biographien von Parteihelden, mit denen sich der Wähler identifizieren sollte.93 »Unser Virchow«, »Unser Bebel«, »Unser Windthorst«, »Unser Bismarck« wurden den Getreuen angeboten. Die Wähler rauchten Tabakspfeifen, die mit dem Portrait ihres Helden geschmückt waren, und behandelten Halsschmerzen mit Spezialmedi-

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Stellung der Mediatisierten 1815–1918, 2. Ausgabe, Göttingen 1964, S. 421; Ketteler: Centrums-Fraktion; ein Zwischenbericht an seine Wähler über die ersten acht Tage des neuen Reichstags: L. Müller (F): Aus dem Reichstage, in: GA Nr. 38, 14. Feb. 1874, S. 117. Die Krankheit des LT-Abgeordneten Dr. Paux wurde als Grund für die Unterbrechung seiner regelmäßigen Berichte genannt: GA 32, 7. Feb. 1874, S. 180. Virnich: Fraktion, S. 1. Obwohl dieser Bericht den Landtag betraf, waren RT-Reden im selben Band enthalten. Z. B. August Bebel: Die parlamentarische Thätigkeit des Deutschen Reichstages und der Landtage und die Sozialdemokratie von 1871 bis 1873. Nebst einem Anhang, Leipzig 1873. Eine Ausgabe mit demselben Titel behandelte die Jahre 1874–1876. Auch: Vorwärts: Thätigkeit; M. Erzberger: Zentrumspolitik, 1904 u. folgende bis 1913. Gerlach: Wahlgeplauder, S. 148 ff. Reden: z. B: Gegen die Konservativen. Rede des Abg. Eugen Richter, gehalten im Bezirksverein der Hamburger Vorstadt für den 3. Berliner Landtagswahlkreis, Berlin 1898; L. Windthorst: Ausgewählte Reden, gehalten in der Zeit von 1851 bis 1891, 3 Bde., Osnabrück 1901/02. Mindestens drei Sammlungen der Reden Moltkes wurden herausgegeben: Reden des Abgeordneten Grafen Moltke. 1867–1878, Berlin 1879; Graf Moltke als Redner. Vollständige Sammlung der parlamentarischen Reden Moltkes. Chronologisch geordnet …, Berlin und Stuttgart [1889]; Reden des General-Feldmarschalls Grafen Hellmut von Moltke, Berlin 1892.

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kamenten, die deren Namen trugen.94 Die Parteien stellten ihre Vorkämpfer als Erzieher hin, mit dem moralischen Unterton einer Kultur, der die Bildung heilig war. Die einflussreichen Werke Nietzsches in den 1870er Jahren (Schopenhauer als Erzieher) und Julius Langbehns in den 1890ern (Rembrandt als Erzieher) erscheinen schon lange als typisch für das Kaiserreich, und wo sonst als im deutschen Kulturraum ließen sich solche Wahlkampfmottos finden wie »Bennigsen als Erzieher«, »Windthorst als Erzieher«, »Moltke als Erzieher«, und »Bismarck als Erzieher«?95 »Die politische Unwissenheit der Menge ist unser größter Feind«, verkündete ein Wahlkampfbüchlein »für den bayerischen Bürger und Bauersmann«. Wo Bildung derart geschätzt wurde, war es unvermeidlich, dass die Parteien ihr Terrain absteckten.96 Wenn die Politiker Erzieher waren, wurde von den Wählern erwartet, dass sie zu Schülern wurden. Die typischsten, wenn nicht auch die meistverkauften Artikel der deutschen Wahlkampfliteratur waren politische Enzyklopädien, die scherzhaft »Bibeln« genannt wurden. Anfangs trugen sie bescheidene Titel wie Das wohlgemeinte Wahlbüchlein, Wahlkathechismus, Wahlkalender, Vademecum, Parlamentarisches Handbuch und besonders Politisches ABC-Buch; bald jedoch eroberte politische Expertise ihren Platz in der wachsenden Selbsthilfeliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.97 1879 gab Richter einen Band heraus, der zum Klassiker dieses Genres werden sollte, das ABC-Buch für frei94

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H. Steinitz: Unser Rudolf Virchow. Ein Lebensbild, Berlin 1884; Unserem August Bebel zum 70. Geburtstag (Gedicht), in: Illustrierte Unterhaltungs-Beilage des Wahren Jacob, 1910, Nr. 615; Unser Bismarck. Leben und Schaffen des Deutschen Reichskanzlers Fürst Otto von Bismarck in kurzgefaßter Entwicklung dem deutschen Volke vorgeführt, Leipzig und Berlin, 1885; der übergroße Bildband von Christian W. Allers: Unser Bismarck, Berlin, Stuttgart, Leipzig, undatiert [1896]; »Unser Windthorst! Windthorst-Meppen« (Gedicht zum Windthorst-Tag, 28. Sept. 1884), freundlicherweise mir zur Verfügung gestellt von Dr. Josef Hamacher, Haselünne, wie auch die Anzeigen für Windthorst-Brust-Medizin, Windthorst-Tabak, Windthorst-Pfeifen. Allein der Umfang populärer Biographien politischer Persönlichkeiten ist überwältigend. Als Überblick: Wolfstieg u. Meitzel: Bibliographie. [Max Harden:] Bennigsen als Erzieher, in: Zukunft, Bd. 3 (1893), S. 373 ff.; H. H. Mönch: Windthorst als Erzieher, Trier 1893; Moltke als Erzieher, in: Simplicissimus, München 1900–1901, V/39, Titelseite – eine der wenigen Simplicissimus-Zeichnungen, die nicht satirisch gemeint waren. P. Dehn: Bismarck als Erzieher, besprochen in: Politische Notizen. Bismarck als Erzieher, in: Die Zeit II/15 (8. Jan. 1903), S. 449. 1892 druckte das Deutsche Adelsblatt einen Artikel unter der Überschrift: Der König als Führer und Erzieher des Volksthums, DA 10/1 (3. Jan. 1892) S. 3. Die Christlich Sozialen in Österreich veröffentlichten: [Albert] Gessmann als Erzieher. Boyer: Culture, S. 650. Zu Langbehns Bestseller: Rembrandt als Erzieher, siehe Fritz Stern: Politics of Cultural Despair, Berkeley 1961, 116 ff. Epigramm zum Vorwort in Siebertz: Abc-Buch. Rohe: Introduction: Elections, S. 14, ist der gleichen Meinung. Ein Beispiel: [Koester:] Das wohlgemeinte Wahlbüchlein. Eine Ansprache an die schlesischen Urwähler und Wahlmänner vom Lande, Berlin 1848; F. Harkort: Wahl-Kathechismus pro 1852 für das Volk von Friedrich Harkort, Braunschweig 1852; Anonym: politisches Wahl-Büchlein zum 28. April und 6. Mai 1862 für Jedermann, Nordhausen 1862 (F); Anonym: Der liberale Wähler oder Was man zum Wählen wissen muß. Handbüchlein nach dem ABC geordnet, Berlin 1879; Anonym: Des braven Wählers ABC. Aus dem schätzbaren Zukunfts-Material eines vergangenen Wahlministers zu Tage gefördert und der Gegenwart nutzbar gemacht von XYZ, Berlin 1888; A-B-C für konservative Wähler. Hrsg. unter Mitw. namhafter Konservativer, Berlin 1881; A-B-C für konservative Wähler hrsg. unter Mitw. sächsischer Reichstagabgeordneter, Berlin 1884; Vademecum zur Landtagswahl 1888. Hrsg. von dem Wahlverein der Deutschen Conservativen, Berlin 1888; Konservativer Kalender, hrsg. v. L. M. v. Hausen, Charlottenburg 1908; Politisches A-B-C-Buch für bayerische Landtagswähler mit Programm der vereinigten Liberalen und Demokraten Bayerns und Landtagswahlgesetz nebst Wahlkreiseinteilung, München, undatiert [1907].

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sinnige Wähler. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen. Bei der dritten Auflage war Richters ABC bereits auf 544 Seiten angewachsen und behandelte alles von der Kaffeesteuer bis zu Graf Moltkes widersprüchlichen Äußerungen zum Thema Krieg (unter »M«); es setzte einen Standard für die Wahlpropaganda, den seine Mitbewerber sich bemühten zu erreichen.98 Das Zentrum kam als letztes dran, aber 1900 veröffentlichte es endlich sein eigenes ABC. Es begann mit »Abkommandieren« (dem Vorwurf, dass die Führung des Zentrums den Hinterbänklern befahl, den Saal zu verlassen, damit Kompromisse, die das Zentrum offiziell ablehnte, dennoch verabschiedet wurden), und führte über »Bebels Villa« (die angeblich eine halbe Million Mark gekostet hatte) bis zur Präsenzliste der württemberg. Reichstagsabgeordneten, eine Tabelle, die die Fehlzeiten der konkurrierenden Volkspartei aufführte sowie schließlich zum »Wahlrecht«. Der treue Zentrumsanhänger wurde insgesamt mit fast 700 Seiten politischer Munition versorgt.99 Das gedruckte und das gesprochene Wort ergänzten sich im ritualisierten Höhepunkt einer jeden politischen Wahlkampfveranstaltung, die ihren Namen verdient hatte: dem Rededuell zwischen dem angekündigten Redner und den Diskutanten. Bekehrungen waren wahrscheinlich selten, aber es war für eine Partei eine Frage der Selbstachtung, sich mit Fakten und Argumenten verteidigen zu können. Der junge schwäbische Volksschullehrer Matthias Erzberger begann seine Zentrumskarriere, indem er regelmäßig bei sozialistischen und liberalen Wahlveranstaltungen erschien und seine katholischen Konfessionsbrüder mit einer Flut von Informationen begeisterte, die er imstande war, den Rednern entgegenzuschleudern, die häufig doppelt so alt waren wie er selbst und jahrelange parlamentarische Erfahrung besaßen.100 Die dicken kleinen ABCBücher – die klein genug waren, in eine Jackentasche zu passen, um jederzeit herausgezogen zu werden, sollte ihr Besitzer sich noch unauffällig präparieren wollen, bevor er in der Debatte nach vorne trat – waren für die Erzbergers dieser Welt wie geschaffen. Auch die Zeitungen und die demokratischen Wahlen waren wie füreinander geschaffen. Vor der Stimmabgabe waren die Zeitungen die Augen des Wahlkampfes, die den Fußsoldaten der Parteien, die blind in ihren örtlichen Schützengräben saßen, den Überblick über die Angriffe und Finten des Feindes verschafften. Die Abonnenten wurden zu Lokalreportern, die Berichte von der Front zur Redaktion der Politischen Übersicht schickten – ohne irgendeine Belohnung außer dem Vergnügen, den eigenen Beitrag gedruckt zu sehen. Das Berliner Tageblatt verzeichnete 1912 Hunderte solcher Beiträge von Lesern – zu viele, um sie alle zu veröffentlichen.101 Es wurde angenommen, dass den Wäh98

Neues ABC-Buch für freisinnige Wähler. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen, Berlin, 3. Aufl., 1884; Politisches ABC-Buch. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen von Eugen Richter, Mitgl. des Reichstags und Abgeordnetenhauses, Berlin, 7. Aufl. 1892. (Die Erstausgabe erschien zu den preußischen LT-Wahlen von 1879 unter dem Titel: Der liberale Urwähler oder Was man zum Wählen wissen muß.) Richter: Reichstag, Bd. 2, S. 142. 99 Siebertz: Abc-Buch. 100 Klaus W. Epstein: Erzberger, S. 9. Für die SPD: Saldern: Wege, S. 127. 101 Severing: Lebensweg, Bd. 1, S. 26; Aus der Reichstagswahlbewegung, in: BT 41/18 (8. Jan. 1912).

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lern jede Wahl am Herzen lag, und die Zeitungen listeten seitenlang jeden Kandidaten für jeden Wahlkreis auf und taten das Gleiche bei den Stichwahlen noch einmal.102 Die Zahl der Leser war sehr groß. Einer Schätzung nach lasen 1880 sechzig Prozent der lese- und schreibkundigen Bevölkerung eine Zeitung. 1891 erschien in Deutschland die stolze Zahl von 800 Tageszeitungen, so viele wie in England, und die Deutschen druckten mehr Zeitungen aller Art, nämlich 5.500, als jedes andere europäische Land. Wer etwas Unnötiges vorhatte, der wollte »Zeitungen nach Berlin tragen«. Wenn auch fast die Hälfte dieser Blätter entweder Handelsorgane oder »Käseblättchen« waren – örtliche Anzeigenblätter, die eher einen Beitrag zum Einwickeln von Käse als zur Bildung der Menschen leisteten –, so waren alle außer einer Handvoll der restlichen Zeitungen nicht nur politisch, sondern einer bestimmten Partei zuzuordnen.103 Jede Kneipe, jedes Wirtshaus und jeder Gasthof in Deutschland abonnierten mindestens eine Zeitung für ihre Gäste. Ein Abonnement war ein Bekenntnis zu einer politischen Identität – was einer der Gründe dafür war, dass die Autoritätspersonen – in der Kirche, im Staat, im Bergwerk, in der Fabrik – sich bemühten, die Abonnements zu kontrollieren. Da angenommen wurde, dass die Leserschaft aus Anhängern bestand, war der selbstverleugnerische Ton augenscheinlicher Unparteilichkeit, den wir von unserer heutigen respektablen Presse fordern, niemandes Ideal. Bei der Berichterstattung über die Aktivitäten der Gegner bediente man sich des vollen Arsenals der Redekunst: der Übertreibung, des Sarkasmus und des ironischen Heuchelns von Zweifel. Um einen Überblick zu bekommen, abonnierte ein gewissenhafter Sozialdemokrat nicht nur die Presse seiner eigenen Partei, sondern auch verschiedene Blätter seiner Gegner, denn nur so konnte er die Argumente des Feindes kontern.104 Diese Hingabe erklärt, warum im überwältigend sozialistischen Chemnitz, wo die Linksliberalen ihren letzten Sieg 1871 gefeiert hatten und wo ihre Partei seit 1884 (als sie dritte wurde) nicht mehr nennenswert vertreten war, die linksliberalen Neuesten Nachrichten immer noch im Impressum den Zusatz: »Verbreitetste Chemnitzer Zeitung« tragen und sich 1898 einer bezahlten Auflage von 57.000 rühmen konnten – was unglaublichen 28 Prozent der gesamten Bevölkerung an Männern, Frauen und Kindern und mehr als allen Chemnitzer Wahlberechtigten zusammen gleichkam.105 Viele der großen deutschen Publizisten waren selbst Fraktionsmitglieder des Reichstags oder der Länderparlamente: Männer wie Richter, Rickert und 102 Ein Beispiel für 1912: BAB-L R101/3397. Das gleiche Phänomen tauchte in kleinerem Maßstab bereits 1874 auf: Katholischer Volksbote (Meppen), Extrablatt zum 14. Jan. 1874, druckte die Wahlergebnisse nach Amt und Bezirk geordnet ab, zusammen mit jenen aus den Z-Wahlkreisen in Köln, Krefeld, Essen, Düsseldorf usw. 103 Keil: Erlebnisse, Bd. 1, S. 93; Asmus: Entwicklung, S. 317. Leserschaft: August Lammers, zitiert v. Smith: Nationalism, S. 80 f.; Anzahl der Zeitungen 1891: DA 9/12 (22. März 1891) S. 194 ff., das 3.000 Zeitungen für England angibt, von denen 800 Tageszeitungen waren; Frankreich hatte 2.800, davon 700 Tageszeitungen. Die Aufteilung in politische und unpolitische stammt von E. R. May: The World War and American Isolation, Cambridge 1959, S. 98 f. »Zeitungen nach Berlin«: de Jonge: Parlament, S. 210. 104 Göhre: Drei Monate, S. 94 ff. 105 Leichenreden, Neueste Nachrichten. Verbreitetste Chemnitzer Ztg 10/148 (30. Juni 1898), BAB-L R1501/14694, Bl. 215; Specht u. Schwabe: Reichstagswahlen, S. 229.

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Naumann unter den Linksliberalen; Georg Dasbach, Julius Bachem, Theodor Wacker, Eduard Müller und Matthias Erzberger im Zentrum; Otto Böckel, Max Liebermann von Sonnenberg und Oswald Zimmermann als Antisemiten; Georg Ratzinger (Bayerischer Bauernbund), Georg Oertel (BdL) und Otto Arendt (Freie Konservative) auf der Rechten; Wilhelm Liebknecht, Eduard Bernstein, Karl Kautsky, Gustav Noske bei den Sozialdemokraten – es ließen sich in jedem Lager noch viele nennen. Die Konservativen, die weniger Interesse an Propaganda hatten, machten teilweise eine Ausnahme, aber einige ihrer bekanntesten Führer, wie zum Beispiel Stoecker und Wilhelm von Hammerstein, verfügten über ihre eigenen Presseorgane.106 Dieser Typus war in anderen Gesellschaften mit allgemeinem Wahlrecht nicht unbekannt – Georges Clemenceau fällt mir spontan ein, und in der Tat waren 31 Mitglieder der französischen Deputiertenkammer von 1898 Journalisten.107 Aber in keinem anderen Land spielten die Meister des geschriebenen Worts eine derart wichtige parlamentarische Rolle wie in Deutschland. In Großbritannien, wo die Presse in den Händen einiger weniger konzentriert war, hatten sich die Parteien in die unwürdige Lage manövriert, um die Gunst der großen Pressezaren mit Ehren und Titeln zu buhlen.108 Die dem britischen press lord ähnlichsten deutschen Pendants waren Rudolf Mosse, einer der reichsten Männer in Preußen, und vielleicht die fünf Ullstein-Brüder; aber im Gegensatz zu den britischen Pressemagnaten kam es niemandem jemals in den Sinn, sie könnten eine Regierung stürzen. Mehr als das Heranwachsen der Parteibürokratien, das selbst bei den Sozialdemokraten langsam vonstatten ging und bei anderen Parteien, verglichen etwa mit Großbritannien, fast unsichtbar war, war es in Deutschland der Journalist, der die Partei und die Wähler miteinander verband, der für eine Kontinuität zwischen den Wahlen sorgte und der am meisten die »Politik als Beruf« verkörperte. Über »die moderne Demagogie« schreibend, befand Max Weber: »der politische Publizist und vor allem der Journalist ist der wichtigste heutige Repräsentant der Gattung.«109 Die politischen Herausgeber, die ständig befürchten mussten, von der Regierung verfolgt oder von ihren Gegnern verklagt zu werden, wurden oft zu Volkshelden, auch wenn sie kein parlamentarisches Mandat innehatten. Berüchtigt oder gefeiert, je nach dem eigenen politischen Standpunkt, war der ehemalige Lehrer Karol Miarka, der Gründer des schlesischen Wochenblatts Katolik, der sieben Mal in den Jahren 1871 und 1872 verhaftet, im zweiten Jahr neun Monate eingesperrt sowie 1874 tätlich angegriffen wurde.110 Miarkas Artikel, die 106 Molt: Reichstag, S. 176 ff., 228, weist auf den gleichen Umstand hin, mit anderen Publizisten. 107 Von 581 Abgeordneten. Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 33. Im damaligen San Francisco »war es schwer, einen politischen Führer zu finden, der nicht zu irgendeiner Zeit eine Zeitung besessen oder herausgegeben hatte. Eine Zeitung herauszugeben und sich um ein politisches Amt zu bewerben … waren ähnliche und tief miteinander verwobene Aktivitäten.« Ethington: City, S. 21. 108 Searle: Corruption, S. 80 ff., Ritter: Parlamentarismus, S. 22. 109 M. Weber: Politik, S. 513. Bayern stellte 1910 das Extrem dar: Neunzehn LT-Abgeordnete kontrollierten jeweils ihre eigenen örtlichen Z-Zeitungen (zwei von ihnen kontrollierten zwei) – zusätzlich zur offiziellen Zeitung der LT-Fraktion. Möckl: Prinzregentenzeit, S. 556 Anm. 4. Nipperdey: Organisation, S. 327, 369. Eindruck des Fehlens von Bürokratie: Working, S. 275. 110 Mazura: Entwicklung, S. 81. L. Müller: Kampf, S. 174 f., 175 Anm. 4; Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 147 f.

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sich an die oberschlesischen hart bedrängten Pächter und Bergleute wandten und mit Bitterkeit über Liberale, Protestanten und Juden durchtränkt waren, trugen weniger den Charakter von Nachrichtenartikeln als von Klageliedern, in denen konfessionelle, soziale und polnisch-nationalistische Themen unentwirrbar miteinander verflochten waren.111 Das Zusammentreffen von Kulturkampf und demokratischen Wahlen war ein Gottesgeschenk für jemanden mit Miarkas journalistischen Stil. Innerhalb von vier Jahren nach seiner Gründung 1869 schnellte die Auflage des Katolik zur dritthöchsten in der Provinz Schlesien herauf. Und da, nicht zuletzt durch Miarkas Bemühungen, die oberschlesischen Wahlergebnisse ständig angefochten wurden (zwölfmal von 1871 bis 1887) und deshalb laufend Wiederholungs- und Nachwahlen anstanden, ging Miarka das verwertbare Material nie aus. Am Ende der 1870er Jahre hatten die Verkaufszahlen des Katolik die Höhe der auflagenstärksten der Germania, der »nationalen« Zeitung des Zentrums. Schließlich übertraf der Katolik die Germania sogar um mehr als das Dreifache, mit einer geschätzten Auflage von 20.000 in den späten 1880er Jahren und einer Leserschaft von rund 340.000 zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Aber Miarkas Artikel reichten tiefer in Schlesiens polnisch sprechende Wählerschaft hinein, als seine Abonnentenzahlen oder die Zahl der alphabetisierten Polen ahnen lassen. 1925 erinnerte sich ein 85-jähriger Oberschlesier: Allwöchentlich versammelten wir uns damals in der Regel nach dem sonntäglichen Gottesdienste in der Dorfschenke und in den geräumigen Bauernhäusern, wo uns von den des Lesens kundigen Mitbewohnern die einschlägigen Artikel des Katolik vorgelesen wurden. Mit größtem Interesse verfolgten wir die kirchenpolitischen Ausführungen. Die Erregung über diese oder jene Regierungsmaßnahmen gegen die katholische Kirche zitterte in uns allen noch auf dem Nachhausewege derart nach, daß wir fast jedes Mal beschlossen, auch noch am Abend hier und da zusammenzukommen, um weiter hierüber zu debattieren. Und wenn sich unter uns einmal mehrere Meinungen bildeten, so brauchte derjenige, der mit seiner Meinung durchdringen wollte, nur zu erklären: ›so hat es Miarka gesagt‹ –, und sofort stimmten alle seiner Meinung bei.

Journalisten wie Miarka und Georg Dasbach, sein Pendant in der Eifel und an der Saar, der die gesellschaftlichen und religiösen Ziele auch mit dem Widerstand gegen »jüdische« Unterdrücker verband, konnten, obwohl sie eindeutig mit einer Partei identifiziert wurden, in eigener Person zu regionalen Machthabern werden. (Die Verschiebung des Katolik vom Zentrum zum Koło Polskie 111 Miarkas Kolumnen errangen nationale Aufmerksamkeit, als Bismarck, der fälschlicherweise annahm, dass Miarka Priester sei, sie benutzte, um dem Klerus die Erregung von sozialer, religiöser und ethnischer Gewalt vorzuwerfen, besonders im Streik der Königshütte vom Juni 1871. Bismarck SBHA 9. Feb. 1872, S. 700. Aufständische hatten Geschäfte (meist in jüdischem Besitz) geplündert, Gebäude angezündet und den Bürgermeister von Beuthen gezwungen zu fliehen, um sein Leben zu retten. Selbst nachdem die Ordnung wiederhergestellt war, blieb die Stadt weitere zwei Monate besetzt. Siehe Nr. 149–152, 154, 159, 162–163, 168, 171–173, 189 in GA vom 29. Juni bis 15. Aug. 1871.

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am Ende des Jahrhunderts trug erheblich zur Eroberung der Region durch den polnischen Nationalismus bei.112) Als lokale Riesen ließen sich solche Männer nicht durch nationale und parlamentarische Standards respektabler Diskurse beengen; den Reichstagsfraktionen waren sie peinlich. Dennoch standen sie außerhalb der effektiven Kontrolle durch die Parteiführungen.113 Wo die Herausgeber weniger einfallsreich waren, wurden vermittelnde Institutionen benötigt, bevor die Presse zum entscheidenden Verbindungsglied zwischen den kurzlebigen örtlichen Wahlkämpfen und dem langwierigen Prozess politischer Sozialisation werden konnte. Hier wie bei so vielen Aspekten der Entwicklung von Parteien waren die Linksliberalen die Vorreiter. 1877 richteten Eugen Richter und Ludolf Parisius eine monatliche Parlamentarische Korrespondenz ein, um die Aktivitäten der Fortschrittlichen freundlich gesinnten Herausgebern in der Provinz zu vermitteln. 1881 hatte die Parlamentarische Korrespondenz bereits eine Auflage von fast 20.000.114 Die Korrespondenz spielte eine zentrale Rolle bei der Nationalisierung der Wahlkämpfe (vierzehn Tage vor jeder Wahl änderte sie ihren Namen in Wahl-Korrespondenz und erschien ab diesem Zeitpunkt mehrmals täglich), nicht zuletzt, weil sie Nachahmungen erzwang. »Parlamentarische Bureaus« mit der Aufgabe, Berichte von Reichstagsdebatten geneigten Presseorganen im ganzen Land zukommen zu lassen, wurden bald von allen Parteien eingerichtet. Selbst die Regierung hatte ihr Pressebüro, Die »Reichskorrespondenz«, die vom Innenministerium betrieben wurde und den Wolff`schen Telegraphendienst benutzte, wurde aus den konfiszierten Geldmitteln des Königshauses der Welfen bezahlt und versorgte etwa 400 »Kreiseblätter« gratis.115 Noch nie wurden so viele von so wenigen aufgefordert, so viel zu lesen. Die Annahme, dass der deutsche Wähler sich nach Unterweisung sehnte, dass das Wahlrecht ein Aufruf zur Ernsthaftigkeit darstellte, war allen Beteiligten gemeinsam. Eine Durchsicht der Wahlpropaganda hinterlässt den nicht zu wi112 Die Angaben darüber, wo der Katolik erschien, variieren. Mazura: Entwicklung, S. 80–81 Anm. 6, 82; Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 27, 30; Franzke: Industriearbeiter, S. 109; Müller: Kampf, S. 175, 191. Czaplinski: ´ Die polnische Presse, S. 23, 24, 28, 31 f. sagt, dass der Katolik zuerst vierzehntägig, später dreimal pro Woche erschien. Rust: Reichskanzler, S. 621; Leugers-Scherzberg: Porsch, S. 78, 103. Der Katolik verbarg sich wahrscheinlich hinter E. Müllers Siegen von 1871 und 1872 in Pleß-Rybnik. 113 Zu Windthorsts Schwierigkeiten mit Dasbach: Windthorst an Alexander Reuß, 28. Apr. 1833, 16. Mai 1883, BAT 105/1512: II, Bl. 296 f.; Hermann Mosler an Reuß, 4. Feb. 1884; Reuß an Mosler, 7. Feb. 1884, BAT 105/1522, Bl. 14a, 80; Windthorst an Reuß, 18. Nov. 1884, BAT 105/1523, Bl. 269. 114 L. Parisius und E. Richter: Aus der deutschen Fortschrittspartei. Parlamentarische Korrespondenz. (Organ der Partei für Mitteilungen des Central-Wahlkomité’s und des geschäfts-führenden Ausschusses) Berlin, 1877–83; Bergsträsser: Geschichte, S. 247; Nipperdey: Organisation, S. 322. Das Z folgte Richters Beispiel und gründete im Mai 1878 ein Informationsbüro und einen Parlamentsberichtsdienst für Mitgliederzeitungen, aber es war nie erfolgreich bei der Kontrolle örtlicher Pressefürsten. 115 Richter: Reichstag, Bd. 2, S. 69 f., 72, 172; Richter zur »Reichskorrespondenz«: SBDR 10. Dez. 1885, S. 256; Ullstein: Richter, S. 62 ff., 103 f., 185 f.; Pflanze: Bismarck, Bd. 3, S. 52; Steinbach: Zähmung, Bd. 1, S. 59, 97. Die Regierung gab auch die Provinzial Korrespondenz heraus, die durch die Landräte gratis an Privatpersonen verteilt wurde und als Quelle für die Kreiszeitungen diente. Schorlemer SBHA 6. Dez. 1878, S. 212 f.; Robert Nöll v. der Nahmer: Bismarcks Reptilienfonds. Aus Geheimakten Preußens und des Deutschen Reiches, Mainz 1968, S. 98, 107. Die Norddeutsche Allgemeine erhielt in späteren Jahren 30.000 Mark jährlich von der Regierung, aber die Abonnements erstreckten sich kaum über offizielle Kreise hinaus.

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derlegenden Eindruck einer weit verbreiteten Sehnsucht danach, die Politik als eine Wissenschaft zu beherrschen, die im 19. Jahrhundert in gleichem Maße ein Teil des Anstiegs der Respektabilität war wie die Hygiene und die Keuschheit. Die Sozialdemokraten sonnten sich im Wissen, dass »… so lange die Erde steht, niemals eine derartig vorgebildete unterste Klasse in einer Nation vorhanden gewesen ist, wie in unseren Tagen in Deutschland … ein lesendes, ein reflektierendes, ein kritisierendes Volk«.116 Eine »Buchpartei« nannte Thomas Nipperdey die Sozialisten des deutschen Kaiserreichs, aber der Begriff trifft in kaum geringerer Weise auch auf deren zeitgenössische Konkurrenten zu – wie auf die heutigen Nachfahren der Sozialisten. Während der Bundestagswahlen vom Oktober 1994 gab die SPD immer noch dicke »Wahlkampfbibeln« heraus, jetzt mit jedem Stickwort einzeln auf einer Karteikarte statt zwischen Buchdeckeln, während die Atmosphäre peinlich berührter Leichtigkeit, welche die Auftritte der Rockstars bei ihren Wahlversammlungen begleitete, von der Tradition einer politischen Kultur zeugte, die sich mit Gedrucktem eher wohl fühlte als mit Showelementen. »Die moderne Demagogie bedient sich zwar auch der Rede«, gestand Max Weber 1918 ein, »… Aber noch nachhaltiger doch: des gedruckten Worts.«117

−−− Wie reagierte der Wähler auf all diese eng bedruckten Seiten, mit denen er überflutet wurde? Alles, was uns darüber Auskunft gibt, sind die Beweise des Marktes: Das Zeug verkaufte sich. Wie die Wahlveranstaltungen finanzierten sich die Druckerzeugnisse hierzu selbst. Hellmut von Gerlach ermahnte seine Beauftragten, seine Wahlkampfliteratur auf keinen Fall zu verschenken, sondern jedes Stück mit einem Preis zu versehen, wie niedrig auch immer er sei. »Der Landmann ist sparsam, verschenkt nichts, achtet daher auch das nicht, was verschenkt wird, sondern hält es für wertlos, wirft es weg. Was er gekauft hat, hält er dagegen in Ehren.«118 Weit entfernt davon, die finanziellen Reserven der Parteien aufzubrauchen, versorgte die politische Presse diese schließlich mit laufenden Einkünften, während die Kandidaten von dem Drucken von Handzetteln zur Gründung von Zeitungen und schließlich ihrer eigenen Verlage übergingen. Richter, der damit begann, seine Reden zu verteilen, und mit umfangreichen verlegerischen Versuchen endete, welche seine Macht innerhalb der Partei enorm vergrößerten, war nur der bekannteste einer langen Reihe.119 Die enge Verbindung zwischen Veröffentlichen und Parlament erklärt teilweise die hohen Wahlkampfkosten in Deutschland – aber auch, wie die Parteien 116 C. v. Massow: Reform oder Revolution! Berlin 1895, S. 21. Siehe auch Saldern: Wege, S. 56 f.; kritisch bewertet: 235 f. Kritik an Richters »schulmeisterlicher« Art: Ullstein: Richter, S. 216. 117 M. Weber: Politik, S. 513. Weber spricht auch vom »Erziehungswerk, welches sie an den Massen vollzieht«. Bemerkungen, S. 550 ff. Nipperdey: Geschichte, Bd. 2, S. 558 (Zitat). 118 Gerlach: Wahlgeplauder, S. 148 ff.; Hesselbarth: Sozialdemokraten, S. 42. 119 Nipperdey: Organisation, S. 198, 204. Richters Unternehmungen waren nicht ausnahmslos profitabel oder konnten sich auch nur selbst tragen. Ullstein: Richter, S. 116 ff.

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sich diese leisten konnten. Bereits 1878 lebten 47 Herausgeber von den Sozialdemokraten. 1913 war deren Zahl auf 367 angestiegen. Die Veröffentlichungen bildeten das finanzielle Rückgrat der Parteizentralen. Der Betrag, den die Parteikasse der Sozialdemokraten aus dem Vorwärts, ihrer Tageszeitung, erzielte, war durchschnittlich gesehen höher als alle örtlichen an die Partei fließenden Beiträge zusammengenommen, außer jenen aus Berlin und Hamburg.120 Mitte der 1870er Jahre verdiente Wilhelm Liebknecht zwischen seinen zahlreichen Gefängnisaufenthalten zwischen 250 und 400 Mark monatlich mit der Herausgabe des Vorwärts und der Wochenzeitung Die Neue Welt: rund das sechsfache Einkommen eines durchschnittlichen Arbeiters. Zehn Jahre später brachten ihm seine verlegerischen und propagandistischen Unternehmungen 7.000 Mark im Jahr ein, was ihn, in den Worten seines Biographen, zu einem der höchstbezahlten Männer der Nation machte. Natürlich ging es nicht jedem Journalisten oder Verleger so gut. Karl Fentz, Drucker, Herausgeber und Verteiler der Mannheimer Volksstimme, verdiente 1890 nur knapp 24 Mark in einer Siebentagewoche – und überhaupt nichts, wenn der Verkauf nicht gut lief. Liebknechts Einkommen hingegen war 1890 bereits auf 10.000 Mark angestiegen, wovon er sich eine Wohnung im eleganten Charlottenburg leisten konnte. Obwohl solche Reichtümer kaum mit jenen beispielsweise von Baron Wilhelm von Hammerstein vergleichbar waren, der 40.000 Mark jährlich als Chefredakteur der konservativen Kreuz-Zeitung einnahm, riefen die Summen Bestürzung bei den Genossen und Häme bei den Gegnern der SPD hervor. Es überrascht nicht, dass Schmähschriften, die den Sozialdemokraten aufs Korn nahmen, der es sich in feinen Restaurants bei Austern und Veuve Cliquot gut gehen lässt und »just noch einen neuen Gang« bestellt, bevor er zu einer Versammlung eilt, um den »Arbeitergroschen« einzusammeln, zur Grundausstattung des Wahlkampfarsenals gegnerischer Parteien gehörte.121 Was wir daraus jedoch lernen sollten, ist nicht, dass die Sozialdemokratie korrupt war, sondern dass in einer Kultur, die derart politisch und lesefreudig wie die deutsche war, ein wirklich erfolgreicher Politiker-Journalist es kaum verhindern konnte, reich zu werden.122

120 Ritter: Arbeiterbewegung, S. 60; Molt: Reichstag, S. 229. 121 Fentz: Keil: Erlebnisse, S. 92 ff. Der Sozialdemokrat (Wahlkampfgedicht), Hettinger Ztg 15. Feb. 1887, in Nettmann: Witten, S. 123. Hammerstein: Hall: Scandal, S. 153. 122 Dominick: Liebknecht, S. 263, 331, 384 f., 407 f. Die Neue Zeit besserte Bebels Einkommen mit einem jährlichen Vorschuss von 3.600 Mark auf, für die er wenig schrieb. Häme über Liebknechts Gehalt, das mit 7.200 Mark beziffert wurde: DA 12/44 (4. Nov. 1894), S. 839 ff.; Nagelneues vom Zukunftsstaat, in: Wittener Zeitung (NL), 5. Juni 1898, abgedruckt in Nettmann: Witten, S. 133. »Unser Wilhelm« (im Gegensatz zu dem anderen Wilhelm in Berlin) wurde weiterhin von den Parteimitgliedern verehrt: LefèvrePontalis: Élections, S. 124, Saldern: Wege, S. 171.

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Das große Geld, die Partei und der Neo-Korporativismus Eine deutsche Reichstagswahl »kostet nicht viel weniger als eine Million Mark pro Partei«, schätzte 1881 Großbritanniens Gesandter in Berlin. Diese Zahl war maßlos übertrieben – und sie lag ebenfalls dramatisch unter den damaligen Kosten in Großbritannien, wo 1880 bei einer wahlberechtigten Bevölkerung, die nur einen Bruchteil der deutschen betrug, weit über zwei Millionen Pfund Sterling den Besitzer wechselten.123 Aber die Kurve der britischen Wahlkampfausgaben begann zu fallen, während die deutsche steil anstieg. 1910 fielen die Gesamtausgaben einer britischen Unterhauswahl auf knapp 1,3 Millionen Pfund – hauptsächlich dank des Verschwindens der Bestechung –, während die Ausgaben bei der letzten Wahl des Reichstags mit fast 10 Millionen Mark angegeben wurden.124 Wahlkampfkosten können als Indiz angesehen werden – nicht als Grund, sondern als Zeichen – für politische Organisation. In den 1880er Jahren hatten bereits alle Parteien begonnen, ihre regionalen Hochburgen miteinander zu vernetzen und in neue Gebiete vorzudringen. Wahlen, bei denen nur zwei Parteien antraten, hörten 1881 auf, die allgemeine Norm zu sein; 1893 waren vier Bewerber pro Wahlkreis schon häufiger als drei: ein Zeichen dafür, dass die Wahlkämpfe jetzt wirklich auf nationaler Ebene ausgetragen wurden. Die Ausbreitung der Sozialdemokratie war spektakulär, obwohl sie durch repressive Gesetze behindert wurde. 1871 hatten die Sozialisten gelegentlich Wahlversammlungen abgehalten, bei denen nur der Redner selbst erschien – was, mit offensichtlicher Schadenfreude, von den konkurrierenden Fortschrittlichen »als eine für ganz Thüringen bezeichnende Thatsache« dargestellt wurde.125 1887 gelang es ihnen, in 69 Prozent aller Wahlkreise Kandidaten aufzustellen; drei Jahre später waren es bereits 89 Prozent. Die Vermehrung der Kandidaturen machte es möglich, ihre früher unsichtbaren Anhänger zu zählen. Die Sozialisten wurden für diese organisatorische Meisterleistung mit fast 20 Prozent der Stimmen im Jahr 1890 belohnt, als sie ihren Anteil um erstaunliche 95 Prozent steigerten – ein solcher Sprung gelang weder ihnen selbst noch einer anderen Partei bei irgendeiner späteren Wahl in der Kaiserzeit.126 Die Methoden des »getting and spending« (des Einnehmens und Ausgebens) waren für alle, die diese lange genug wachen Auges verfolgten, ausreichend deut123 Sir John Walsham, 21. Mai 1881, Granville Survey Nr. 1, über die Wahl von 1878. Die F hatten nur 16.000 Mark ausgegeben; selbst 1881 gaben sie nur 206.000 Mark aus. Nipperdey: Organisation, S. 201. 124 Gwyn: Democracy, S. 37, 51; Searle: Corruption, S. 85; Bertram: Wahlen, S. 190 ff.; Konservative Industriejunker, in: Die Hilfe 15/48 (28. Nov. 1909) S. 6 f. Die deutschen Ausgaben lagen erheblich höher als die österreichischen. Boyer: Culture, S. 92. 125 Politische Übersicht, in: GA Nr. 128, 4. Juni 1871, S. 1135; Lidtke: Party, S. 17; Fenske: Wahlrecht, S. 108 ff. Molt: Reichstag, S. 185, datiert die entscheidende Monetarisierung der Wahlkämpfe auf die Jahre 1882 bis 1895. 126 Sperber: Voters, S. 39 f. Prozentzahlen errechnet auf der Grundlage v. Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 40. Steinbach: Entwicklung, S. 5; Ritter: Sozialdemokratie, S. 120 ff., hier: 122.

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lich demonstriert worden. Bei der Wahl von 1912 wurden die Gesamtkosten für alle Parteien auf knapp 10 Millionen Mark geschätzt – ein Zehnfaches der Ausgaben von 1882, obwohl die Wählerschaft (jetzt über 14 Millionen) um nicht viel mehr als ein Drittel angestiegen war. Teilweise reflektierte diese Summe die größere Anzahl der Kandidaten, die sich um ein einziges Mandat bewarben. Aber die durchschnittlichen Kosten pro Kandidat waren auch erdrückend: geschätzte 25.000 Mark. Obwohl die Konkurrenten in hoffnungslosen Wahlkreisen weniger Geld locker machten, kam es vor, dass sie in symbolisch wichtigen sehr viel mehr ausgaben. Die Nationalliberalen verwandten 1913 weit über 100.000 Mark darauf, im Zuge ihres »Ritts nach dem Osten« den Konservativen das ländliche Ragnit-Pillkallen in einer Nachwahl abzuringen: eine Ausgabenhöhe, die nach Ansicht von Beobachtern eine Amerikanisierung des deutschen Wahlkampfes einläutete.127 Andere Zeitgenossen jedoch, wie der junge Politikwissenschaftler Ludwig Bergsträsser, verbanden die Ausgaben mit sehr deutschen Themen. Tief ergriffen von den enormen Opfern an Zeit und Geld, die seine Mitbürger, die kleinen wie die großen, bereit waren zu bringen, um ihre Ansichten in die Tat umzusetzen, schloss er daraus, dass jeder Wahlkampf zweifellos seine unerfreulichen Seiten habe, seine Indoktrinationen und Übertreibungen, aber dass »sich auch in einem jeden Wahlkampfe … etwas Gutes und Schönes, der Opfermut, die Hingabe an ein Ideal, die Arbeit für das Ganze« zeigten.128

−−− Der Opfergeist war tatsächlich unübersehbar. Aber offensichtlich kam dieses Geld nicht ausschließlich von der Basis. Berichte von großen Geldgebern machten die Runde und schürten ein Unbehagen darüber, was solche Großzügigkeit für die Repräsentation des Volks bedeutete. Von Anfang an machte die soziale Geographie des Linksliberalismus, der sich in den Städten konzentrierte, mit wohlhabenden Anhängern in einigen wenigen großstädtischen Wahlkreisen, ihn besonders anfällig für hässliche Gerüchte. Die Zeichen überlegener Organisation der Linksliberalen – die Verschiebung von Ressourcen aus den großen in die Kleinstädte – ermutigten die konservative Presse zu düsteren Andeutungen über Korruption, und ganz besonders »jüdische« Korruption. Die Berliner Juden waren in der Tat großzügige Sponsoren der linksliberalen Sache, besonders in den frühen 1880er Jahren, als sie in Richters Partei ihre einzigen überzeugten Vertreter gegen Stoeckers »Berliner Bewegung« sahen, die damals im Begriff war, sich über die Grenzen der Hauptstadt hinaus auszubreiten.129 Ähnliche Kor127 Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 566 Anm. 35 u. 36. Andere Statistiken zu Kandidaten: Fenske: Wahlrecht, S. 108 ff. Bertram: Wahlen, S. 190 ff., nennt 10.000 bis 15.000 Mark, ohne die doppelt so hohen Summen in Nipperdey: Organisation, S. 91, und Molt: Reichstag, S. 261 Anm. 9, zu berücksichtigen. Da aber Nipperdey 1992 die Zahl von 25.000 noch einmal bestätigte, und nur solch ein Durchschnitt annähernd die 10 Millionen Mark ergibt, nehme ich sie als maßgebend an. Nipperdey: Geschichte, Bd. 2, S. 518, 579. Ausgaben im Allgemeinen: Nipperdey: Organisation, S. 220 Anm. 4, 226 f., 227 Anm. 7. Veränderungen der Wählerschaft errechnet aus Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 39, 42. 128 Bergsträsser: Geschichte, S. 252 f. 129 Die reichlich jüdischen Korruptionsmittel, in: DA 11/41 (8. Okt. 1893) S. 770; Hamburger: Wähler,

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ruptionsvorwürfe, die sich ebenfalls auf jüdische Wahlkampfsponsoren bezogen, verfolgten die britischen Liberalen – allerdings erst nach der Jahrhundertwende. Bezeichnenderweise waren diese in der Lage, die wesentlich plausibleren Vorwürfe abzuweisen, indem sie die Ankläger mit dem Makel des Antisemitismus belegten. Richters Verteidigungsstrategie war es hingegen, regelmäßig eine Abrechnung über die Wahlkampffinanzen seiner Partei zu veröffentlichen – eine Zeitlang war seine Partei die einzige, die dies tat.130 Dennoch verband sich die Unterstützung durch die Berliner Juden, zusammen mit den vielleicht jeder Wahrheit entbehrenden Geschichten über geheimnisvolle Geldgeber, die angeblich ihre bevorzugten Kandidaten in abgelegenen Wahlkreisen unterbrachten, mit Richters organisatorischen und publizistischen Meisterleistungen, um den Fortschrittlichen den Ruf nahezu unbegrenzter Mittel und Wege einzutragen. Als sich 1884 die Fortschrittlichen mit den für den Freihandel eintretenden Abtrünnigen der Nationalliberalen zur Deutschen Freisinnigen Partei vereinigten, lieferte dies der volkstümlichen Assoziation von Linksliberalismus mit Reichtum neue Nahrung. Prominente unter den Sezessionisten waren Ludwig Bamberger, Karl Schrader und Georg Siemens; sie alle waren frühere oder noch amtierende Mitglieder des Vorstands der Deutschen Bank, der »roten« Bank von Berlin.131 Gerüchte über einen Bankier, der es sich 1881 im ostpreußischen SensburgOertelsburg 50.000 bis 100.000 Mark hatte kosten lassen, einem Linksliberalen zu einem Mandat zu verhelfen, wurden noch einmal ausgegraben. Die Gerüchte waren durch keinerlei Beweise erhärtet, aber wie hoch ihr Wahrheitsgehalt auch immer sein mochte, die Freisinnigen wurden als »Fraktion Goldsack« bekannt – ein Spitzname, der ihnen noch lange anhaftete, als die Ressourcen der 1880er Jahre bloß noch in der Erinnerung existierten.132 Jede Partei hatte ihre Mäzene, auch die Sozialdemokraten. Innerhalb der Fraktionen selbst waren einige Abgeordnete in der Lage, nicht nur ihre eigenen Wahlkämpfe zu finanzieren, sondern auch ihren Kollegen unter die Arme zu greifen – ein Akt, der ihre eigene Macht innerhalb der Partei stärkte. Im Zentrum waren der Fuldaer Fabrikant Richard Müller und Franz Graf von Ballestrem, letzterer mit einem unermesslichen Vermögen, das auf schlesischer S. 351, 357; Nipperdey: Organisation, S. 201, 234. 130 Großbritannien: Searle: Corruption, S. 3, 206 f.; Ullstein: Richter, S. 66. Die SPD wurde ähnlich von der KrZ beschuldigt, die eine angebliche Spende von 300.000 Mark von Leo Arons nannte. Vorwärts antwortete, dass die Geschäftsbücher der Partei zur Überprüfung offen lägen. Hall: Scandal, S. 145. Bismarcks jüdischer Bankier, G. Bleichröder, stand im Ruf, 10.000 Mark für den Wahlkampf der K gespendet zu haben, im Gegenzug dafür, dass sie die Antisemiten zwangen, ihre Kandidaturen in Berlin aufzugeben. Dem antisemitischen Journalisten Josef Cremer wurde vorgeworfen, das Geld in die eigene Tasche gesteckt zu haben. Frank: Stoecker, S. 207. 131 L. Gall: Bank, S. 83 ff., 108 f. 132 Apostata [Maximilian Harden]: Fraktion Goldsack, in: Die Zukunft, Bd. 3 (1893) S. 333 ff. Der Ausdruck wurde auch nicht ausschließlich für die LL gebraucht. Cronenbergs Christlich-Soziale nannten sich Gegner der »Geldsäcke« und verstanden sich als katholische Glaubensbrüder in der Constantia. Lepper (Hrsg.): Katholizismus, S. 105, 126. Die SPD nannte alle konkurrierenden Parteien »Geldsackparteien«. Thätigkeit, S. 112. Verringerte Finanzierung: Nipperdey: Organisation, S. 201. Gumbinnen 7 im Jahr 1881: J. v. Mirbach (K), P. A. W. Meyer (F), W. Hegel (K) SBDR 6. März 1888, S. 1307, 1309. Der Bankier ließ sich nicht identifizieren, außer dass er nicht Bleichröder war. 1887 ließ derselbe Mann seine Gunst einem Kandidaten des Kartells gegen die LL zukommen. Traeger SBDR 13. Feb. 1886, S. 1050.

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Kohle, Eisen und Zink basierte, sowohl einflussreiche Abgeordnete als auch bedeutende Spender.133 Bei den Nationalliberalen wurden regelmäßige Aufbesserungen der Kriegskasse der Partei zu einer Art selbst auferlegter Steuer auf Führungspositionen. Eduard Bartling, ein Industrieller, der mit Bergbau, Stahl und Papier reich geworden war, und Robert Friedberg, ein Professor, dessen Frau einer wohlhabenden jüdischen Breslauer Bankiersfamilie entstammte, finanzierten einen großen Teil der Geschäfte der preußischen Landtagsfraktion. Im Reichstag spielten Waldemar Graf Oriola, ein hessischer Großgrundbesitzer, Cornelius von Heyl, der Wormser Lederfabrikant und Ernst Bassermann, dessen Millionen der eigenen Familie in Baden durch die Bankverbindungen seiner Frau noch vermehrt wurden, eine ähnliche Rolle.134 Gelegentlich wurden Bedenken darüber geäußert, dass die Partei »von einigen Dutzend potenter Männer« abhängig werde. Hierin unterschieden sich die deutschen Liberalen nicht von den britischen, die ihre Kandidaturen bei den Wahlen von 1900 und 1906 hauptsächlich aus den Spenden von 27 Wohltätern finanzierten, von denen achtzehn Geschäftsleute aus Nordengland und Schottland waren.135 Geld alleine garantierte jedoch niemals ein Reichstagsmandat. Die drei vergeblichen Versuche des Georg Siemens in den 1870er Jahren, den Konservativen das Mandat von Schweinitz-Wittenberg abzujagen, zeigten, dass im sächsischen Flachland Geld nicht die einzige Macht war. Ernst Bassermanns Schwierigkeiten, einen Wahlkreis zu finden, der ihn wählen wollte, waren sprichwörtlich.136 Und wenn Geld manchmal selbst mit der Unterstützung einer politischen Partei nichts erreichte, so war es ohne Partei vollkommen nutzlos – wie Freiherr Karl Friedrich von Fechenbach zu seiner Empörung feststellen musste. Tiefe Taschen hatten es Fechenbach ermöglicht, Aufmerksamkeit zu erregen. Er konnte Memoranden an den Kanzler und dem Kaiser schicken und eine Antwort erwarten. Er konnte zu jedem Thema seine Ansicht in Pamphleten verbreiten und (durch gut platzierte Subventionen) ein breites Echo in der antisemitischen und innungsfreundlichen Presse sicherstellen – durch Beeinflussung der entsprechenden Journalisten sogar in Zeitungen, die offiziell den Konservativen gewogen waren. Er konnte einen Agenten beauftragen, der Petitionen mit Tausenden von Unterschriften fingierte, die ihm für seine Arbeit zugunsten der Handwerkerbewegung dankten, um sich in der öffentlichen Meinung als deren Führer zu etablieren – eine List, die ausreichte, seinen Ruf als Sozialreformer zu begründen, zumindest unter manchen Historikern. Aber der wohlhabende Baron, der sich zu verschiedenen Zeiten als Nationalliberaler, Konservativer und Zentrumsmann bezeichnete, fand seinen Ehrgeiz, im Reichstag zu sitzen, bei jedem Anlauf frustriert – da keine der Parteien ihn haben wollte. Als ih133 Zu diesen und anderen wichtigen Spendern des Z: Jaeger: Unternehmer, S. 111; Stegmann: Erben, S. 30, 241, 451, 472 f., 492. 134 Martin: Machthaber, S. 448, 452, 454 f.; White: Party, S. 42 f., 129. 135 Nipperdey: Organisation, S. 152 (Zitat), 220; Kulemann: Erinnerungen, S. 152; Searle: Corruption, S. 112. 136 Zu Siemens: Phillips: Reichstags-Wahlen, S. 64; Gall: Bank, S. 84. Zu Bassermann: Martin: Machthaber, S. 448; Trier 5, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1639, S. 3602.

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nen die finanzielle Unterstützung dieses geschäftigen Megalomanen angedient wurde, gingen die Führungen aller drei in Frage kommenden Parteien auf Distanz. Selbst in seinem Heimatwahlkreis Miltenberg in Niederfranken war die Antwort auf die hoffnungsvollen Anfragen nach einer möglichen Kandidatur ein höfliches Nein.137

−−− Plausibler als die Furcht vor diesem oder jenem wichtigen Mäzen war diejenige vor »organisierten Interessen«. Das Heranwachsen großer industrieller Organisationen, welche zur Jahrhundertwende doppelt so schnell wie die Bevölkerung insgesamt wuchsen, verlief parallel zur Kurve der Parteispenden – was Argwohn über eine mögliche Verbindung schürte.138 Hierin waren die Deutschen bei Weitem nicht die Einzigen. In jedem Land mit gewählten Legislativen gab es Stimmen, die vor der Bedrohung warnten, die das »organisierte Geld«, wie es die Amerikaner nannten, für die demokratischen Prozesse darstellte. In Frankreich diskreditierte der Panama-Skandal von 1892–1893, bei dem 150 Abgeordnete und Senatoren beschuldigt wurden, Schmiergeld angenommen zu haben, das Parlament derartig, dass einige den Zusammenbruch der Dritten Republik kommen sahen.139 In den Vereinigten Staaten war das Bewußtsein von politischer Korruption stark genug, die Federal Corrupt Practices Acts von 1910–1911 im Kongress durchzubringen, aber niemals mächtig genug, diese Gesetze in die Tat umzusetzen.140 In Großbritannien waren unter den Königen Edward VII. und George V. handfeste Begünstigungen Teil des politischen Lebens: Parlamentsmitglieder hatten nominelle Direktorenposten in der Wirtschaft inne, bei jedem Wahlkampf wurde mit Ehrentiteln gehandelt und in einer endlosen Suche nach Einflussmöglichkeiten auf die »Medien« beeilten sich die jeweiligen Regierungsparteien, die Besitzer von Zeitungs-Ladenketten zu adeln, bevor ihre Rivalen Gelegenheit bekamen, dies zu tun.141 Skandale waren die unvermeidliche Folge einer explosionsartigen Vermehrung von Reichtum, die schneller zustande kam als jeder Konsens darüber, was einen Interessenkonflikt darstellte. Aber mit gleicher Unvermeidlichkeit stellte der Verdacht, dass öffentliche Entscheidungen und die Träger öffentlicher Ämter käuflich seien, die Parteien und letztendlich auch die parlamentarischen Institutionen in Frage.

137 H. Lange an Fechenbach, 1. Juli 1881; Ostsee-Ztg. und Börsennachrichten der Ostsee (Stettin), 11. Jan. 1884; Fechenbach an Jörg, 19. Apr. 1885; v. Schauensee an Fechenbach, Würzburg, 18. Okt. 1884; v. Regner an Fechenbach, Würzburg, 22. Dez. 1884; Pastor Potthoff an Fechenbach, Dresden, 5. Juni 1885; Ernst Jaeger an Fechenbach, Speyer, 2. Okt. 1886 und 4. Juli 1887. 1890 machte Fechenbach Entwürfe für eine »Deutsche Arbeiterpartei«; am 21. Dez. 1891 schickte er ein Memorandum an Caprivi für eine »Neue Partei (Nationalpartei)«. BAK, Nachlass Fechenbach. 138 Molt: Reichstag, S. 185. Als Großbetriebe wurden als solche mit fünfzig oder mehr Beschäftigten definiert. Befürchtungen: Stegmann: Erben, S. 256. 139 Der berühmteste war Friedrich Engels, aber er stand nicht allein. Searle: Corruption, S. 423. 140 John T. Noonan, Jr.: Bribes, New York 1984, S. 626 ff. 141 Searle: Corruption, S. 40 ff., 80 ff., 350 ff.

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Dem Deutschen Reich blieben die Skandale erspart, die die westlicher gelegenen Nationen plagten. Parlamentsmitglieder verkauften hier ihre Stimmen nicht für Bares oder Wahlkampfspenden. Das Fehlen eines dem Corrupt Practices Act entsprechenden Gesetzes und selbst irgendwelcher Überlegungen, dass ein solches nötig sei, spricht für sich. Das umgangssprachliche Wort für Korruption blieb, bis zum Schluss, »Panama«; die hausgemachten Arten der Bestechung waren zu unbedeutend, um es durch ein eigenes Wort zu ersetzen.142 Genau wie die Stärke des vor Ort ausgeübten Drucks, von ihresgleichen wie von Seiten der Vorgesetzten, die Bestechung der Wähler entweder überflüssig oder unwirksam machte, scheinen analoge kulturelle Haltungen Angriffe auf die Tugend des individuellen Abgeordneten gehemmt zu haben. Die Forderungen des »organisierten Geldes« kamen in Deutschland nicht als geheime Bestechungen im Austausch gegen verschwiegene Gegenleistungen, sondern nahmen die Form mehr oder weniger offener Wahlkampfspenden an – und von Drohungen, diese zu unterlassen. Für viele Deutsche war dies schon schlimm genug. Die bloße Anzahl der Organisationen, die versuchten, politischen Einfluss auszuüben, indem einige von ihnen Geld anboten und andere die Stimmen ihrer zahllosen Mitglieder versprachen, ließ die Alarmglocken läuten. Obwohl der Fall des Justizrats Kehren, des nationalliberalen Kandidaten von Düsseldorf, nicht typisch war, wurde er sprichwörtlich für das Problem. Kehren wurde vom Rheinisch-Westfälischen Konsumverein, dem Deutschen Werkmeisterverband in Düsseldorf, dem Reichsdeutschen Mittelstandsverband mit Sitz in Leipzig, einem Verlag aus der Genussmittelbranche, dem Deutschen Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung und dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee in Berlin zu Zusagen gedrängt. Kehren wies diese Forderungen als »unerhört« zurück; als Vorbild nannte er Arthur Graf Posadowsky, der sich geweigert hatte, »sich auf so eingehende Wahlprogramme einzelner Interessengruppen festzulegen, weil ein Abgeordneter, der sich in solcher Weise binde, kein Volksvertreter mehr, sondern nur der Agent einzelner Gruppen sei«.143 Posadowsky gewann, aber Kehren verlor seine Wahl. Die finanziellen Ressourcen der »organisierten Interessen«, der Lobbyisten, mussten unweigerlich Teil des Kalküls der Wahlkämpfe werden und ihre Bedeutung stieg, je mehr wirtschaftliche Themen auf der Agenda des Reichstags an Bedeutung gewannen. Der Bund der Landwirte, der eine der maßgeblichen Kräfte hinter der Ablösung Caprivis 1894 gewesen war und der auch zu Bülows Fall 1909 beigetragen hatte, verdeutlichte für alle die Anfälligkeit des Wahlgeschehens für die Interventionen einer mächtigen Lobby.144 Von 1898 bis 1914 gelang es dem BdL, sich die Unterstützung seines Programms durch niemals 142 Z. B. wurden Bestechungen der Kölner Polizei »ein ganzes Polizeipanama« genannt. Hall: Scandal, S. 102 – bezeichnenderweise erwähnt dieses Buch nicht einmal die Bestechung von Abgeordneten. Obwohl die SPD behauptete, dass ein Rüstungsskandal einem Panama gleichkäme, betraf dieser ministerielle Bevorzugung (von Krupp) und keine Stimmen im Parlament. Ebd., S. 183 ff.; siehe auch 172 f. 143 Abgelehnte Wunschzettel, in: BT 14, 2. Beiblatt (7. Jan. 1912). 144 Nipperdey: Geschichte, Bd. 2, S. 586 ff.

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weniger als 78 Abgeordnete zu sichern. Wenn sie auch über mehrere Parteien verstreut waren, so bildeten doch die Schützlinge des BdL die größte »Fraktion« in zwei der letzten vier Legislaturperioden des Reichstags. 1907 überstieg ihre Zahl mit 138 Abgeordneten die jeder früheren Fraktion in der Geschichte des Kaiserreichs. Die einzige Ausnahme bildeten nur die Nationalliberalen nach ihrem erdrutschartigen Sieg von 1874. Die Botschaft an andere Interessengruppen, die ähnlichen Einfluss ausüben wollten, war klar: So gehe hin und tue desgleichen!145 Deutschlands Industrien machten sich auf, dem Erfolg des BdL nachzueifern. 1908 kannten die unterschiedlichen Interessengruppen etwa 12.000 Branchenverbände, die in der Lage waren, wohlwollenden Kandidaten Wahlkampfhilfe durch bezahlte Funktionäre anzubieten. Lobbyisten wurden selbst Abgeordnete. Gustav Stresemann, Direktor des Vereins sächsischer Industrieller, Vorsitzender des Bundes der Industriellen (BdI) sowie mit einer Vielzahl weiterer, die Leichtindustrie repräsentierender Organisationen verbunden, verkörperte diesen neuen Typus. Nachdem er sich in der sächsischen Landespolitik durch seinen geschickten Einsatz von Geschäftsinteressen bei der Eroberung konservativer Sitze durch seine nationalliberalen Parteifreunde einen beträchtlichen Ruf erworben hatte, wurde Stresemann 1907 Reichstagsabgeordneter. Dort spielte er weiterhin eine vermittelnde Rolle, indem er seine nationalliberalen Kollegen über die Interessen der Industrie und seine Sponsoren in der Industrie über die Interna der Sitzungen seiner Partei und der verschiedenen Kommissionen informiert hielt.146 Die unverschämten Bitten der Interessengruppen verärgerten alle. Cornelius von Heyl zu Herrnsheim, der Sprecher des rechten Flügels der Nationalliberalen, selbst Arbeitgeber von Tausenden, ein Mann, dessen Macht in Worms der von Krupp in Essen und König Stumm im Saarland vergleichbar war, kochte vor Wut über die »Unbescheidenheit« Henry Axel Buecks, des aufdringlichen Geschäftsführers des Centralverbands deutscher Industrieller (im Weiteren: CV), der für die Unterstützung der Montanindustrie Bedingungen stellte. Unter Anspielung auf Bueck und Männer wie ihn rümpfte Heyl zu Herrnsheim die Nase: »Die Generalsekretäre, die bezahlten Angestellten dieser Industrieberufsvereine, sind für mich auch nicht unschädlicher und unbedenklicher als die Berufsvertreter der Gewerkvereine.«147 Trotz aller gegenseitiger Entrüstung jedoch war Buecks Interessenvertretung eine natürliche Reaktion auf die Logik konkurrierender Wahlen. Ein vorausschauender Freier Konservativer hatte bereits 1871 darauf hingewiesen: »… die ganze Signatur dieses Gesetzes ist: strenge dich an, übe deinen Einfluß so gut du irgend kannst.«148 145 Diesen Schluss zog Max Maurenbrecher in: Die Ethik der Reichstagswahl, in: Die Zeit 2/31 (30. April 1903), S. 136 ff. 146 Molt: Reichstag, S. 197, 294; Warren: Kingdom, S. 83 f. Noch früher als Stresemann war Abgeordneter und Lobbyist in Personalunion Diederich Hahn, der erst regionaler und dann nationaler Direktor des BdL war und dem Reichstag ab 1893 angehörte. Vascik: Conservatism, S. 229 ff. 147 Heyl SBDR 26. April 1899, S. 1953, zitiert in Warren: Kingdom, S. 29. White: Party, S. 42 f., 129 (Zitat). 148 Behr SBDR 17. April 1871, S. 240. Kulemann (Erinnerungen, S. 165 ff.), dessen Kandidatur 1898 in Saarbrücken an Stumm und 1903 in Göttingen am Agrarflügel der NL scheiterte, äußerte sich verständlicher-

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Die sichtbaren Zeichen der Macht der Großunternehmen warfen drei beunruhigende Fragen auf. Wirkten die Interessengruppen in sehr allgemeinem Sinne nicht dahingehend, dem Wahlprozess einen Teil seiner Wirkung zu nehmen? Ein flüchtiger Blick auf die Wahlproklamationen bewies einem angewiderten Beobachter, dass bei den Wahlen nicht die Parteien konkurrierten, sondern lediglich die großen Wirtschaftsorganisationen: »Die Zugehörigkeit zu einer Partei bildet eigentlich nur das fadenscheinige Mäntelchen, unter dem die Jacke des Landbundes oder der Gürtel der Hansa oder sonst eine wirtschaftliche Interessengruppe schimmert.«149 Wo wurde das Geschäft der Vertretung wirklich erledigt – in den öffentlichen Beratungen des ordnungsgemäß konstituierten Forums der Nation oder in privaten Verhandlungen zwischen Interessen, Kandidaten und Parteien, welche der Reichstag anschließend lediglich ratifizierte? Doch die Vertretung eines Volkes findet berechtigterweise durch eine ganze Reihe von Institutionen statt: der Gerichte und der Exekutive, der Kirchen und der freiwilligen Wohlfahrtsverbände, wirtschaftlicher Zusammenschlüsse und gewählter Abgeordneter. Die Grenze zwischen dem Politischen und dem Gesellschaftlichen ist komplex; Mitgliedschaften und Zuständigkeiten überlappen sich unweigerlich. Die schwer zu trennenden Facetten eines solchen Pluralismus tragen, zumindest nach Ansicht einiger Politikwissenschaftler, zur Stabilität moderner demokratischer Systeme bei.150 Von den Bürgern des Kaiserreichs jedoch, die sich gerade erst aus einer ständischen Gesellschaft gelöst hatten, wurden diese vielfachen Ansprüche auf Repräsentation vom Volk als eine Bedrohung der Autorität des Parlaments empfunden.151 Die Befürchtungen über den Bedeutungsverlust des Parlaments waren sicherlich übertrieben. Zolltarife und Verordnungen der Innungen, Massentransport und öffentliche Einrichtungen, Sozialversicherung und Wirtschaftsaufsicht, Steuerverteilung und Rückerstattung: Alle diese Objekte des Interesses von Lobbyisten mussten gesetzlich geregelt werden und werteten die Rolle der Abgeordneten auf. Thomas Nipperdey hat Recht: »Gegen oder auch nur ohne den Reichstag zu regieren, wurde zunehmend unmöglich.«152 Es war unvermeidlich,

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weise verbittert über die Rolle ökonomischer Interessen im Wahlprozess aus. Aber Stumms Macht beruhte auf viel mehr als seiner Fähigkeit, Wahlen zu finanzieren, und das Gewicht der Landwirte innerhalb einer bestimmten Partei beruhte auf ihren Stimmen, nicht auf ihren Finanzen. Zitiert in Stegmann: Erben, S. 256, ohne Quelle. Pitkin: Concept, S. 221 f. FrankZ (18. Okt. 1909) BAB-L R1501/14645, Bl. 78; E. Lederer: Parteien (1912), Spalten 329 ff.; ders.: Die wirtschaftlichen Organisationen, Leipzig und Berlin 1913. Abweichend: Kaelble: Interessenpolitik, S. 123. Wehler scheint mit Lederer übereinzustimmen: »Unübersehbar wanderte die Macht aus dem Parlament in vorgelagerte informelle Entscheidungsgremien ab, so daß den gewählten Repräsentanten des Wählervolkes oft nur mehr die Ratifizierung ihrer Beschlüsse übrig blieb.« Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 674. Nipperdey (Geschichte, Bd. 2, S. 576, 593 ff.) erkennt die Normalität von Interessen an, deren Demokratisierungseffekt und Unterschied zum Korporatismus, betont aber deren retardierenden Einfluss im Kaiserreich. Pluralismus: Lipset: Introduction: Ostrogorski, S. lvii-lix, lxiii; Philippe Schmitter: Still the Century of Corporatism? In: Review of Politics 36/1 1974), S. 85 ff. Nipperdey: Geschichte, Bd. 2, S. 471 ff.; Analyse und Zitat S. 474. Wehler findet, dass das wachsende Regulierungsbedürfnis sowohl den Reichstag (Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, S. 669) als auch den »autoritären Staat« unaufhaltsam aufwertete (S. 673). Ullmann: Interessenverbände, S. 84 f.

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dass die Kräfte der Wirtschaft, sobald die politischen Parteien, wie indirekt auch immer, Macht über die Wirtschaft erlangten, eine Vertretung innerhalb der Parteiführungen verlangen würden. Und dann stellte sich nicht die Frage, ob, sondern wie; und durch und für wen? Der Teufel saß im Detail. Das Unbehagen, das durch die Interessenvertretungen verursacht wurde, beruhte auf einer weiteren Befürchtung – der Furcht davor, dass mächtige Lobbyorganisationen die Wählerschaft überstimmen und deren egalitäre Zusammensetzung neutralisieren könnten. Die direkte Beziehung zwischen Wähler und Abgeordnetem, die das demokratische Reichstagswahlrecht versprochen hatte und die der Hauptvorteil über die Wahlrechte der deutschen Einzelstaaten wie auch seine Garantie der Gleichheit war, schien zu verblassen, als sich Gremien, die sich nicht vor dem Volk verantworten mussten, in die Prozesse der Nominierung und der Wahl der Kandidaten einschalteten. Verpflichtete sich ein Kandidat, der solche Hilfe annahm, nicht denen, die sie gaben – zum greifbaren Nachteil jener, die ebenfalls zu »repräsentieren« er ebenfalls gesetzlich verpflichtet war? Das Unbehagen hatte sich bereits in den 1870er Jahren angekündigt, als die Zentrumsabgeordneten vielen Leuten als bloße Lobbyisten der katholischen Kirche erschienen waren, die dabei den eigentlichen Prozess missbrauchten, durch den das gesamte Volk vertreten werden sollte. Ähnliche Bedenken regten sich in den 1880ern darüber, dass die Linksliberalen zum Arm des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens werden könnten. Solche Probleme, die vom Standpunkt demokratischer Theorie aus unlösbar sind, sind letztlich dem Begriff der Repräsentation inhärent, in dem bekanntlich ein Teil für das Ganze stehen muss.153 In den modernen Demokratien ist es die Partei, die die Schwächen des Individuums ausgleicht, indem sie die Gleichgesinnten zusammenführt und ihnen Gewicht verleiht. Ebenso ist es die Partei, die den Kandidaten und den Abgeordneten als Puffer vor einer maßlosen Lobby schützt. Und die Partei macht die Bündelung von Maßnahmen möglich, die die organisierten Interessen zumindest grob miteinander in Einklang bringt – eine Aufgabe, die die Lobbyorganisationen, welche jeweils nur ein einziges Interesse verfolgen, niemals selbst vollbringen könnten. Wie John Vincent uns erinnert: »Eine Partei wirkt zivilisierend: sie muss viele Leute vereinigen und viele Konflikte lösen, bevor sie ihrerseits beginnen kann, Uneinigkeit zu schaffen.«154 Politikwissenschaftler nennen diesen zivilisierenden Prozess »Interessenbündelung«. Die Zusammenfassung unterschiedlicher Anliegen zu legislativen Positionen, die sowohl verantwortbar als auch nicht widersprüchlich sind, ist keine einfache Aufgabe. Neunzig Jahre Erfahrung und ständige Übung haben sie heute

153 Pitkin: Concept, S. 8 f. Missbilligung über die Beziehung zwischen dem Centralverein deutscher Bürger jüdischen Glaubens und den LL: Zukunft (1893), S. 145 ff., zitiert mit Zahlen, in Hamburger: Wähler, S. 356 f. Die Beschwerden des Centralvereins, als die LL getaufte Juden kandidieren ließen: Nipperdey: Organisation, S. 234. 154 Vincent: Pollbooks, S. 30.

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kaum leichter gemacht. Die Notwendigkeit, zwischen aufdringlichen Anspruchstellern zu vermitteln und deren Forderungen untereinander sowie mit den unorganisierten Wählerschaften der Parteien zu versöhnen, bedeutete für die Parteien der Wilhelminischen Zeit eine ständige Belastung. Konservative und Sozialdemokraten, deren korporative Sponsoren, Organisationen, die jeweils Landwirtschaft oder Arbeitnehmer vertraten, einigermaßen homogen waren, fühlten diese Belastung am wenigsten. Das Zentrum, das sich anmaßte, für das gesamte wirtschaftliche Spektrum zu sprechen, fühlte sie in wesentlich stärkerem Maße.155 Und die liberalen Parteien, denen das Bindemittel der Religion oder eine wirtschaftliche Zielgruppe fehlte, fühlten sie bis an die Schmerzgrenze. Was jedoch die integrativen Aufgaben der Parteien besonders erschwerte, war weniger die Stärke der Interessengruppen als der verfassungsmäßige Dualismus des deutschen Kaiserreichs, der den Parteiführern den stärksten Anreiz zur Erzwingung von Disziplin und Kompromissbereitschaft verweigerte: die Aussicht auf Regierungsgewalt. In Deutschland musste der Wille zur Integration allein durch Ethos zustande kommen – eine komplexe Mischung aus Ideologie, Ethik, persönlichen und kommunalen Loyalitäten sowie der reinen Parteizugehörigkeit. Aber die Frustration der Wähler, deren wirtschaftliche und andere Interessen kaum außerhäusig organisiert waren, führte zu einem ständigen Unbehagen, einem Gefühl, dass die Parteien die volle Breite legitimer Interessen eher verschleierten als reflektierten.156 Es war im Zusammenhang mit diesem Unbehagen, dass die Idee eines Parlaments, das von den Berufsständen gewählt würde, eine anhaltende Faszination ausübte. Bereits in den 1880er Jahren bedrängten einige Wähler die Regierung, ein solches als Alternative zum Reichstag einzuführen. Die Idee wurde von einer Reihe von Geschäftsleuten aufgegriffen, die verärgert waren, dass das bestehende System ihren Interessen nicht jenes Gewicht verlieh, das ihnen ihrer Meinung nach zustand.157 Um 1906 herum hatte die Idee eines »Berufständigen Parlaments«, die fundamentalste Bedrohung des liberalen Glaubens an eine gemeinsame Vertretung, Befürworter nicht nur innerhalb der Vorstandsetagen der Schwerindustrie gefunden. Angeregt wurde es auch, allerdings mit einigen Einschränkungen, von einer Persönlichkeit wie Georg Jellinek, dem führenden liberalen Verfassungstheoretiker seiner Zeit. Selbst nachdem der Krieg und die Revolution von 1918/19 die Bedingungen gründlich

155 Sheehan: Führung, S. 88 f.; Loth: Katholiken. 156 Hierzu der Aufruf, dass die Handelsstände in jedem Bezirk einen der Ihren wählen sollten, und ihr Abscheu gegen die »Partei-Disziplin« in: Kaufmännischer Lesezirkel, Deutsche Buchhändler-Ztg Nr. 35 und 36 (2. Sept. 1884), S. 122. 157 Deutsche Männer! Gedruckte Annonce gegen das »Einclassen-Wahlsystem«, unterschrieben von Fr. Krupp Jr. Privatier, Bonn, 22. Nov. 1884, welche auch an Bismarck ging. BAB-L R43/685, Bl. 231 f.; August Roese, Drucker, an Wilhelm II., Swinemünde, 6. März 1890, in BAB-L R1501/14693, Bl. 245–256; A. Laewi an Bismarck, Regensburg, 10. März 1890, BAB-L R1501/14693, Bl. 235–240; Julius Pfeiffer an Wilhelm II., 1. März 1903, BAB-L R1501/14695, Bl. 93–105v.

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verändert hatten, unter denen die Idee geboren worden war, sollte sie noch als Alternative in der deutschen Politik herumgeistern.158

−−− Und was war die praktische Bedeutung der großen Geldsummen, die die »organisierten Interessen« in die deutschen Wahlkämpfe steckten? Dies bringt uns zu der dritten Sorge, die durch die Spenden der Firmen und Verbände ausgelöst wurde: dass sie die konkreten gesetzgeberischen Positionen der Abgeordneten innerhalb ihres Wirkungskreises beeinflussen konnten. Die Geldgeber nahmen mit Sicherheit an, dass sie etwas für ihr Geld bekommen würden, sonst hätten sie wohl kaum derart viel gegeben. Aber die Interessenkonflikte, die in der britischen Politik unter Edward VII. zum Himmel schrieen, waren in Deutschland weniger eklatant.159 Selbst die berüchtigtste Industrielobby achtete bei den Bedingungen, die sie für ihre finanzielle Unterstützung stellte, darauf, dass zumindest der Anstand gewahrt blieb. Der CV forderte, dass der Kandidat, der ihre Hilfe empfing, versprechen musste, Handel und Landwirtschaft gleich zu behandeln, dass er bei den Überlegungen zur Sozialgesetzgebung nicht Deutschlands Konkurrenzrolle im Ausland übersehen dürfe und dass er die Ansichten der Industrie den zuständigen Reichstagskomitees vermittle.160 Derart allgemein gehaltene Bedingungen konnten das Gewissen selbst des gewissenhaftesten Sozialdemokraten kaum belasten. Die Verpflichtungen eines Abgeordneten seinen Sponsoren gegenüber erschöpften sich natürlich nicht in ausdrücklichen Versprechen. Und selbst ohne den Antrieb des Geldes vergaß er kaum die Bande, die durch Neigung und Zugehörigkeit geknüpft waren. Georg Siemens, der im Vorstand der Deutschen Bank saß, versicherte einem Kollegen, der sich beklagte, dass seine parlamentarischen Aktivitäten Zeit der Firma in Anspruch nähmen, dass er im Gegenteil gerade im 158 Jellinek zitiert in Lederer: Parteien, Spalte 336; Dr. Weiß, in: Besprechungen von Neuigkeiten des deutschen Buchhandels. Recension von Leo von Savigny: Das parlamentarische Wahlrecht im Reich und in Preußen und seine Reform, Berlin 1907, PVB, 28/20 (16. Feb. 1907), S. 378. Einige Unterstützung im Z: Blackbourn: Class, S. 126 f., 131. Selbst in der Weimarer Republik fand die Idee eines Parlaments, das aus den Berufsständen gewählt würde, breite Unterstützung. Fenske: Wahlrecht, S. 28. Zu Wahlen von »berufständigen Parlamenten«: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 473 ff. Die Forderungen der Industriellen standen in krassem Gegensatz zu ihrem Widerstand gegen Forderungen von unten nach einer Vertretung der Berufsstände bei der Kandidatenauswahl – ein Widerstand, den sie mit dem Hinweis auf die Verpflichtung des Liberalismus gegenüber der gesamten Gesellschaft begründeten. Ebd., S. 369 f. Kaelble: Interessenpolitik, S. 119, vertritt den Standpunkt, dass der CV kein »berufständiges Parlament« befürwortete, S. 123; Gegenposition: Stegmann: Erben, S. 113 ff. (eine Geschichte der Diskussion über das »berufständige Parlament«, die den Einfluss des aristokratischen Flügels des Z übertreibt), und 283 ff. Dirk Stegmann: Between Economic Interests and Radical Nationalism: Attempts to found a New RightWing Party in Imperial Germany, 1887–94, in: Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, hrsg. v. L. E. Jones und J. N. Retallack (Providence, Oxford 1993), S. 157 ff., ist ein ausgezeichneter Überblick. 159 Viele Abgeordnete hatten Direktorenposten inne, u. a. Bassermann und Stresemann, aber auf ihre Integrität scheint kein Schatten gefallen zu sein. Epstein: Erzberger, S. 110. Hall: Scandal, erwähnt keine Skandale über Interessenkonflikte. 160 Bericht der Geschäftsführung der Wahlfondskommission des CVDI über die Reichstagswahlen von 1912, Appendix 5, Kaelble: Interessenpolitik, S. 215 ff., bes. 218.

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Reichstag »der Bank … nützen« könne – andernfalls hätte er selbst niemals dem »Privatwunsch« nach einem Mandat stattgegeben. Fast die gesamte parlamentarische Führung der Nationalliberalen, der Freien Konservativen, selbst der Freisinnigen Vereinigung genoss im letzten Jahrzehnt des Reichs Verbindungen zur Finanzwelt oder zur Industrie.161 Es wäre naiv, zu glauben, dass das Verhalten eines Abgeordneten niemals durch den Druck seiner finanziellen Sponsoren beeinflusst wurde; aber in den meisten Fällen wäre es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, diese Einflüsse von jenen der Gesellschaftsschicht, Neigung, Überzeugung und den Bedürfnissen innerparteilicher Harmonie zu trennen.162 Ein Indikator für die Integrität der Abgeordneten war die wachsende Unzufriedenheit der Interessengruppen selbst. Zwar schienen sich die Bemühungen des BdL ausgezahlt zu haben, als der Reichstag die Getreidezölle 1902 um fast 40 Prozent erhöhte. Aber selbst die Macht dieser erfolgreichsten Lobbyistengruppe sollte man nicht übertrieben sehen. Der BdL war selbst zutiefst gespalten und durch bittere persönliche Konflikte und Fehden innerhalb der Führung zerstritten. Zudem sorgte der extreme Charakter seiner Forderungen oft für ein schlechtes Verhältnis sowohl zur Regierung als auch zum Reichstag, da jene Abgeordneten, die nicht seine besonderen Freunde waren, für gewöhnlich seine Feinde waren. Die Grenzen des BdL zeigten sich in aller Schärfe im Jahr 1903. Da die Landwirte wütend auf die Konservativen waren, weil diese mit Bülow einen Kompromiss über die Getreidezölle geschlossen hatten, der 20 bis 35 Mark niedriger lag als der vom BdL geforderte Wert, versuchten sie, die Parteien gänzlich zu umgehen und die Argumente der Landwirtschaft den Wählern direkt nahezubringen. Der BdL stellte 55 eigene Kandidaten auf – und erlebte, wie alle bis auf vier von ihnen scheiterten. 1912 nahm die Macht des BdL bereits wieder ab und weniger als ein Drittel seiner Kandidaten kamen durch die Stichwahlen.163 Die immerwährende Frage: »Wer wem?« artikulierte sich am lautesten durch die berüchtigtste Intervention korporativer deutscher Interessengruppen im Rahmen einer Wahlkampagne – während der »Hottentotten«-Wahlen von 1907. Auf Initiative Bülows wurde ein lobby- und parteienübergreifendes »Patria-Komitee« gegründet, um die Wahl für die Regierung zu gewinnen. Bülow sicherte sich ausdrücklich die Unterstützung der Riesen aus Handel, Finanzen und Industrie. Richard Vopelius, Buecks Kollege im Centralverein, übernahm die Besorgung des Geldes. Die lange Liste der namhaften Sponsoren schloss 161 Siemens zitiert in Gall: Bank, S. 85. NL: Anthony J. O’Donnell: National Liberalism and the Mass Politics of the German Right, 1890–1907 (Ph. D. Diss., Princeton 1973) S.57 ff. 162 Ein wichtiges Argument, das auf der Auswertung der namentlichen Abstimmung basiert, ist, dass, weit entfernt davon, der Spielball von Interessengruppen zu sein, die Parteimitgliedschaft bei Weitem der Haupteinfluss war. RT-Stimmen: W. Smith und S. Turner: Legislative Behavior, S. 3 ff. Auch Kaelble: Interessenpolitik, S. 20. Hierzu Stegmann: Erben, S. 128. Nipperdey: Organisation, S. 152, 154 f.; ders.: Geschichte, Bd. 2, S. 529. Argumente für die beträchtliche Abhängigkeit der Abgeordneten von Spenden: Fricke: Imperialismus, S. 538 ff.; Jaeger: Unternehmer, S. 13; Kulemann: Erinnerungen, S. 152, 155; Eley: Reshaping, S. 27 f. 163 Barkin: Controversy, S. 211 ff.; Vascik: Conservatism, S. 230, 252 ff. Geringfügig andere Zahlen: Stegmann: Erben, S. 259. BdL-Kandidaturen: Nipperdey: Geschichte, Bd. 2, S. 339, 587.

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die Bankiers Robert von Mendelssohn und Paul von Schwabach ein, von denen jeder 30.000 Mark spendete. Den größten Beitrag leisteten allerdings nicht Individuen, sondern Körperschaften, die gebeten wurden, eine Mark für jeden ihrer Beschäftigten zu spenden. Der Bergbauliche Verein und die Nordwestliche Gruppe des Vereins deutscher Eisenbahn- und Stahl-Industrieller brachten 230.000 Mark zusammen.164 Nicht alle Gelder des Komitees gingen an bestimmte Kandidaten. Einige kamen beispielsweise dem Flottenverein zugute, dessen Propaganda zu einer generellen Atmosphäre beitragen sollte, die wiederum dem Anliegen der Regierung nützte.165 Wenn die massiven finanziellen Beiträge der Wirtschaft von 1907 aber der rauchende Colt sind, der das politische System der Unterwürfigkeit gegenüber korporativen Interessen überführt, so muss man fragen: Wo ist die Leiche? Bülow gewann diese Wahl, das korporative Deutschland nicht. Die Strategie des Kanzlers lief darauf hinaus, vor der Wahl mit den regierungsfreundlichen Parteien Abmachungen zu treffen, um die Parlamentsmandate unter allen Parteien zu verteilen, die gegen das Zentrum, die Sozialdemokratie und die Polen antraten – Parteien innerhalb eines Spektrums von den Linksliberalen bis zu den Antisemiten. Konkurrenz, die Quelle jedes Einflusses der Verbraucher, wurde auf diese Weise durch ein von der Regierung gesponsertes Oligopol ersetzt und die Kaufkraft der Industrie sank dementsprechend. Die Freude darüber, dass die Zahl der Mandate der Sozialdemokraten nahezu halbiert wurde (von 81 auf 43), hielt sich in Grenzen, als die Unternehmer feststellten, dass die Absprachen vor der Wahl bei der Aufteilung der Wahlkreise tatsächlich einige der Gelder der Patria Kandidaten zugute kommen ließen, die die korporativen Spender verabscheuten. Nur zehn persönlich von der Industrie beschäftigte Männer wurden gewählt, während im Gegenzug zwei Funktionäre des CV ihre Sitze verloren. Albert Ballin, der Schiffsmagnat, beklagte, dass die wenigen »Reichstagsabgeordneten aus der Großindustrie, der Hochfinanz und dem Handel … in einem einzigen Wagen nach Hause fahren« könnten. Ein anderer angewiderter Sprecher beschrieb die Resultate der Wahl als eine »völlige Entrechtung des Unternehmertums«.166 Aber das Fehlen einer direkten Vertretung war nur die eine Hälfte der schlechten Nachrichten. Nachdem sie die Musikanten bezahlt hatten, sahen sich die Lobbyisten außerstande, die Musik zu bestimmen. Sobald die Wahl vorbei war, lehnte Ernst Bassermann, der Parteiführer der Nationalliberalen, jeden Annäherungsversuch des CV »in schroffster Weise ab«, wie dessen Handelsblatt wütend vermerkte, und »die nationalliberalen Abgeordneten … legten … nicht die geringste Neigung zur Verständigung an den Tag«.167 Offenbar konnte man jemandes Brot essen, ohne dessen Lied zu singen. 164 Molt: Reichstag, S. 264 f., Jaeger: Unternehmer, S. 185 Anm. 97. 165 Anfrage hierzu: SBDR 25. Feb. 1905; AnlDR (1907, 12/I) DS 120, BAB-L R1501/14645, Bl. 8; Bülow SBDR 26. Feb. 1907, S. 63. Konsternierung darüber, wie man auf die Anfrage reagieren solle: Posadowsky an Bülow, 1. März 1907, Bülow an Posadowsky, 11. März 1907, BAB-L R1501/14458, Bl. 109 ff. Jaeger: Unternehmer, S. 185, 185 Anm. 97; Fricke: Imperialismus, S. 554 ff., 567 f.; Martin: Machthaber, S. 226; Hall: Scandal, S. 172 f. 166 Zitate in Stegmann: Erben, S. 147, 152. 167 Von 1907 bis 1910 brachte die Deutsche Industriezeitung des CV eine Serie von Artikeln, in der sie

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In dem Gefühl, von der Regierung und den Parteien schlicht benutzt worden zu sein, waren einige Interessengruppen entschlossen, sich nie wieder hereinlegen zu lassen: »Für die nationalliberalen Reichstagsabgeordneten vom Schlage Bassermann, Stresemann e tutti quanti keinen Pfennig«, verkündete die Deutsche Volkswirtschaftliche Correspondenz 1908 – eine Drohung, die eine gewisse Berühmtheit erlangte, als sie im Reichstag zitiert wurde. Alexander Tille, Sprecher der Montanindustrie an der Saar, setzte Diskussionen um die Gründung einer separaten Arbeitgeberpartei in Gang.168 Der CV ging nicht ganz so weit, aber gründete eine Kriegskasse, um zukünftig nur eigene Kandidaten zu unterstützen. Jede Mitgliedsorganisation wurde mit 0,5 Prozent ihres jährlichen Lohns »besteuert«, also 50 Pfennig für jede 1.000 Mark, die sie an ihre Arbeitnehmer auszahlte.169 Gleichzeitig stellte der CV fürs Erste die Zahlungen an die Nationalliberalen ein. Stattdessen arbeitete er hinter den Kulissen daran, den rechten Flügel der Liberalen zu ermutigen, sich von der Partei zu lösen und den Freien Konservativen beizutreten, eventuell in einer neuen Parteiorganisation. Um diese Kontakte zu stimulieren, ernannte der CV Johannes Flathmann, den früheren Generalsekretär der Nationalliberalen Partei in Hannover, einen Mann, der deutlich weiter Rechts stand als die meisten der Reichstagsfraktion seiner Partei, zum Verwalter seines Wahlkampffonds. Auf ähnliche Weise wurden die nationalliberalen Presseorgane ermutigt, im »Geiste Bennigsens« zu argumentieren, was eine indirekte Kritik an Bassermann bedeutete. Der CV machte keinen Hehl daraus, dass sein Ziel die Bekämpfung der »›Demokratie‹« sei, »jener illiberalen politischen Staatsauffassung, der heute … so große Teile unseres Volkes zu verfallen scheinen«.170 Der Wahlfonds des CV rief auf der Stelle negative Kommentare in der Öffentlichkeit hervor. Er ziele auf die Leibeigenschaft der Abgeordneten mit gleicher Sicherheit wie der »Arbeitsnachweis« des CV es bei Bergarbeitern tue, warnte Friedrich Naumann: »Gründet nur Nachweisbureaus für Arbeiter dort und für Abgeordnete hier.«171 Bassermann und Stresemann selbst machten sich keine Illusionen über die Gefahr. »Wenn wir uns beugen vor der Geldmacht der westfälischen Industrie, so haben wir die sittliche Daseinsberechtigung verloren«, sagte Bassermann zu Eugen Schiffer. Bestürzt äußerte sich Stresemann:

168

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die NL angriff. Die Situation verbesserte sich erst unmittelbar vor dem Krieg. Kaelble: Interessenpolitik, S. 198 und 198 Anm. 471. Fricke: Imperialismus, S. 563; Stegmann: Erben, S. 150 ff., (»… e tutti quanti keinen Pfennig« ist aus: Der Fall Stresemann«, DVC 20 (10. März 1908), zitiert auf S. 150, 228 ff.; zitiert im Reichstag: Jaeger: Unternehmer, S. 119; A. Tille: Die Arbeitgeberpartei und die politische Vertretung der deutschen Industrie, in: Südwestdeutsche Flugschriften Nr. 5, Saarbrücken 1908. Das Datum, an dem der Fonds eingerichtet wurde, wird, manchmal sogar im selben Buch, unterschiedlich angegeben: Kaelble: Interessenpolitik, S. 19 f., 28 ff., 120 f.; Jaeger: Unternehmer, S. 126 ff., Stegmann: Erben, S. 159 ff., 391; Ullmann: Interessenverbände, S. 85. Der CV selbst hatte 1907 nur 96.000 Mark ausgegeben, wobei das meiste Geld durch Mitgliedsorganisationen geleitet wurde und an Parteien statt einzelne Kandidaten ging. Kaelble: Interessenpolitik, S. 28 ff.; die »Autobiographie« der Wahlfondskommission findet sich in Appendix 5, S. 215 ff.; Stegmann: Erben, S. 222 f. und 222 Anm. 80, Zitate S. 223. Stegmann erwähnt Paul Reuschs Randkommentar: »Vorläufig nicht zahlen.« FrankZ (18. Okt. 1909), in BAB-L R1501/14645, Bl. 78; Naumann: Konservative Industriejunker, S. 6 f.

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»Ich komme mehr und mehr zu der Ansicht, dass unsere Partei allmählich von dem Zentralverband Deutscher Industrieller aufgekauft wird …« Man ist nun ganz systematisch vorgegangen und hat das Geld nicht nur für einzelne Wahlkreise, sondern für ganze Provinzen gegeben … und unsere Parteisekretäre … werden sich allmählich daran gewöhnen, sich mit ihren Geldbedürfnissen an Herrn Flathmann zu wenden. Die Folge davon ist, daß man rechtsnationalliberale Abgeordnete bzw. Kandidaten verlangt, der Zentralverband übernimmt die finanzielle Führung und kauft sich dafür die Gesinnung der nationalliberalen Partei. 172

Hellmuth von Gerlach – kein ganz unvoreingenommener Beobachter – verhöhnte die »Nationalmiserablen«, die, wie er sagte, über die Aussicht auf die tiefen Taschen schwafelten, die sich ihnen bei der nächsten Wahl öffnen würden oder auch nicht. Aber trotz aller Misere der Liberalen waren die Anhänger Bassermanns beim Parteikongress in der Lage, ihn als Führer der Reichstagsfraktion durch Akklamation wiederwählen zu lassen – ein Manöver, das die Anhänger des CV innerhalb der Partei »vor Einigkeit sprachlos« machte.173 Der Aufruhr und die Intrige zwischen linkem und rechtem Flügel hielten an, aber Bassermann hielt seine Partei auf einem Kurs, der den Sprachrohren der Industrie widerstrebte: Kooperation mit den Linksliberalen und dem Hansabund (der inzwischen seine eigene Wahlkampfkasse eingerichtet hatte), Zurückweisung einer gemeinsamen Sammlung mit den Konservativen gegen die Sozialdemokraten und Unterstützung zumindest moderater politischer Reformen zur Stärkung der Volksvertretung (wie beispielsweise die Neueinteilung der Reichstagswahlkreise und die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts) in einer egalitäreren Richtung.174 Humoristen spotteten, die Nationalliberalen hätten Angst vor ihrer eigenen Courage, und der zitternde Bourgeois wurde zu einem ebenso beliebten Thema auf den satirischen Abbildungen der Partei, wie es der schweinische Priester für das Zentrum war. Hier sehen wir den Simplicissimus die Albträume verspotten, die ein Liberaler Abgeordneter erleidet, der mit der SPD ein Geschäft zur Zusammenarbeit bei einer Reichstagsabstimmung eingegangen ist: Doch trotz allen Spotts über die angebliche Rückgratlosigkeit der Partei gab die Karikatur indirekt zu, dass die Angst, die die Partei bewegte, von innen heraus kam. Die Botschaft dieser Bildergeschichte war, dass, während es auch mit den Sozialdemokraten abstimmen mochte, das nationalliberale Gewissen doch monarchistisch blieb. Es ist bemerkenswert, dass keine der zahlreichen Karikaturen des Simplicissimus über die Liberalen jemals das Thema Korruption anschnitt, noch dass Alpträume vom Druck der Geldgeber ausgelöst waren.

−−− 172 Zitiert in Stegmann: Erben, S. 222, 307 f.; zu Flathmann ebd., S. 211. 173 Zitiert ebd., S. 224; Gerlach zitiert auf S. 227. 174 Ebd., S. 222; auch 230 f., 239. Fonds: Nipperdey: Organisation, S. 153.

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Teil 3: Grade der Freiheit

Abb. 11: Nationalliberales Alpdrücken Quelle: Nationalliberales Alpdrücken, Simplicissimus XVI.2., Nr. 50 (11. März 1912): S. 866

1. »So, das haben wir gedeichselt.«

2. »und mal Bebel unsere Stimme gegeben –«

3. »eigentlich ist es komisch –«

4. »?!!«

5. »!!!??«

6. »!!!????«

7. »Aaaahhhh!!«

8. »Um Gottes Willen! Welch eine Nacht!!«

9. »Hier schwöre ich vor deinem Bilde, Majestät, nie mehr von der nationalen Bahn abzuirren!!«

Kapitel 11: Organisation

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Während des Wahlkampfs von 1912 gab der CV mehr als eine Million Mark aus, um 120 Kandidaten zu unterstützen.175 Wären diese Kandidaten erfolgreich gewesen, so hätte der CV mehr als ein Drittel der Reichstagsmitglieder finanziert. Einige Abgeordnete, beispielsweise Bassermann, argwöhnten, dass das letztendliche Ziel der Industriebarone die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts war, das sich für sie als so frustrierend erwiesen hatte. Aber den Industriellen stand noch eine weitere Enttäuschung bevor. Trotz der riesigen Geldmengen, die sie in ihre Wahlkämpfe gepumpt hatten, waren nur 41 der 120 vom CV gesponserten Kandidaten erfolgreich. Die Zahl der Mandate, die persönlich von Unternehmern und Lobbyisten gehalten wurden, halbierte sich.176 So begann der Traum der Schwerindustrie, dass sie in den städtischen Bezirken den gleichen Einfluss ausüben könnte wie der BdL in den ländlichen, zu verblassen. Wo die Landwirte Wahlen gewannen, erreichten sie dies nicht allein mit Geld, sondern durch Organisation und die Überzeugung ihrer Anhänger. Außerhalb ländlicher Wahlkreise gelang es den Interessengruppen in beider Hinsicht nicht, mit den Parteien mitzuhalten. 1914 konnten selbst die Nationalliberalen, obwohl sie erst spät damit begonnen hatten, sich in den Wahlkreisen zu organisieren, eine Mitgliederzahl von fast 300.000 vorweisen – sowie fünfzig Parteisekretäre in den Provinzen und in der Zentrale, um diese im Auge zu behalten.177 Wenn man die Wahlkampfstärke in Personen statt in Mark maß, waren das wahre Gegenstück in den Industriebezirken zum Bund der Landwirte in den ländlichen Regionen nicht die Lobbygruppen der Unternehmer, sondern die Arbeitergewerkschaften. 1913 beschäftigte sich der Reichstag mit einer Maßnahme, die den Industriellen besonders am Herzen lag – und die wir als Barometer für den (Mangel an) Erfolg des CV betrachten können: einem Antrag zum Verbot der Streikpostenkette. Der Antrag wurde abgelehnt; von der gesamten nationalliberalen Fraktion stimmte nur ein einziger Abgeordneter mit Ja.178 Was erklärt das Unvermögen der Industriellen, ihre Ziele zu erreichen? Um Druck auszuüben, muß man glaubhafte Alternativen haben. Wenn jedoch ein Abgeordneter oder dessen Partei die Anordnungen seiner korporativen Sponsoren ignoriert, an wen sollen sich die Geldgeber dann wenden? Im heutigen 175 Allerdings waren 74 dieser Kandidaten von der Linken – das heißt, FVP und linke NL! Stegmann: Erben, S. 260. 176 Auch Stresemann fand sich ohne Mandat wieder. Aus der Reichstags-Wahlbewegung, in: BT 41/11 (7. Jan. 1912). Jaeger: Unternehmer, S. 118 (Bassermanns Befürchtungen von 1908), 185 Anm. 97; Fricke: Imperialismus, S. 565 f.; Sheehan: Führung, S. 89; Molt: Reichstag, S. 203, 294; Kaelble: Interessenpolitik, S. 121, 123, 225; Nipperdey: Geschichte, Bd. 2, S. 579. Der Reichsdeutsche Mittelstandsverband war in der Lage, 203 Abgeordnete zu nennen, die versprochen hatten, sein Programm zu unterstützen, aber der Wert solcher Versprechungen kann am anhaltenden Pessimismus der Lobby gemessen werden. Stegmann: Erben, S. 262. Gesamtkosten der Wahl: Bertram: Wahlen, S. 256. 177 Nipperdey: Geschichte, Bd. 2, S. 520 f., 528, 555. 178 Und obwohl der Hansabund das Ergebnis der Wahl von 1912 als großen Erfolg verkündete, zeigt die Analyse durch die Verwaltung des Wahlfonds des CV, dass der Erfolg des Hansabunds sich darauf beschränkte, mehr Sozialdemokraten ins Parlament zu bringen! Bericht der Geschäftsführung der Wahlfondskommission des CVDI über die Reichstagswahlen von 1912, in Kaelble: Interessenpolitik, S. 215 ff., bes. 218 f. Stegmann: Erben, S. 271; 259 f. zu den Wahlverlusten der Industrie und des Junkertums von 1912.

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Amerika können die Lobbyisten einen Schützling, der sich auf Abwege begibt, bestrafen, indem sie beim nächsten Mal einen anderen Kandidaten unterstützen. Aber im Kaiserreich waren spätestens 1903 die politischen Auswahlmöglichkeiten innerhalb jedes möglichen Wahlkreises derart polarisiert, dass wenigen Interessengruppen diese Option blieb, denn der Gegner des Protegierten war mit Sicherheit jemand, den sie noch weniger mochten. Da sie gezwungen waren, Kandidaten in städtischen oder gemischten Wahlkreisen zu finden, in denen entweder die Sozialdemokratie oder das Zentrum eine starke Präsenz zeigten, mussten die Industriellen diesen Verhältnissen Rechnung tragen. Solange das Reichstagswahlrecht unangetastet blieb, waren selbst jene korporativen Interessen, die am wenigsten mit den Parteien zufrieden waren, gezwungen, ihre Agenden an eine Wählerschaft anzupassen, die von den Parteien organisiert war. Sie rissen an den Ketten des Parteiensystems und diskutierten weiterhin andere Optionen, aber in der Praxis erkannten sie die Hoffnungslosigkeit des Versuchs, sich außerhalb der von den Parteien kontrollierten Kanäle zu bewegen. Die Parteien benötigten zweifellos Geld, aber das Geld brauchte die Parteien noch dringender. Diese Grundtatsache des politischen Lebens erklärt zu einem großen Teil diejenigen Entwicklungen, die undenkbar gewesen wären, falls der Neo-Korporatismus tatsächlich bekommen hätte, was er glaubte, bereits bezahlt zu haben. Hierunter fällt beispielsweise die Weigerung der Duisburger Nationalliberalen 1912, im Herzen des Ruhrgebiets einen Kandidaten aufzustellen, den der Wahlkampffonds des CV ihnen aufzwingen wollte. Oder die Bereitschaft der Nationalliberalen, in Bochum im gleichen Jahr den Forderungen der Bergleute nachzugeben, einen Bergmann zu ihrem Fahnenträger zu ernennen.179 Die Unerschütterlichkeit der liberalen Parteien – denn diese waren die Hauptzielscheiben des CV – angesichts des Drucks ist bemerkenswert. Es »würden noch sehr viel mehr industriefreundliche Abgeordnete gewählt worden sein«, berichtete die Verwaltung des industriellen Wahlfonds nach der Wahl von 1912, »wenn nicht … die liberalen Parteien – im Gegensatz zu den Wahlen von 1907 – eine fest geschlossene Kampfesgruppe gegen alle weiter rechts stehenden Elemente bildeten …«. Dies bewirkte, »daß eine Reihe von rechtsstehenden Kandidaten, die zur Vertretung industrieller Interessen geeignet und bereit waren und infolgedessen aus dem industriellen Wahlfonds unterstützt wurden, auf der Wahlstatt geblieben sind«. Obwohl fast sechzig der Kandidaturen des CV bei den Stichwahlen noch vertreten waren, besiegelte der Vorzug, den die Freisinnige Volkspartei den Sozialdemokraten vor allen Kandidaten gab, die mit der Rechten assoziiert wurden, deren Schicksal.180 Das Jahr 1912 markierte den eindeutigen Sieg der Parteien über die Interessengruppen. Während die parteieigenen Organisationen sprunghaft expandierten, schwand entsprechend die Fähigkeit jeder wirtschaftlichen Interessengruppe, die Wahlen an den Druckpunkten der Wahlkreise zu beeinflussen. Die Existenz von 179 Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 365. Hierzu Stegmann: Erben, S. 227 ff. 180 Bericht der Geschäftsführung der Wahlfondskommission …, zitiert in Kaelble: Interessenpolitik, S. 219. Etwas inkonsequent zitiert der Bericht jedoch nur acht Wahlkreise, wo die Allianz aus SPD und F einen vom Fonds subventionierten Kandidaten schlug.

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397 geographisch festgelegten Wahlkreisen mit je einem Abgeordneten gab den Parteien beträchtlichen Schutz, indem sie ihnen erlaubte, unmögliche Forderungen mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit abzuweisen, unterschiedlichen Interessen gerecht zu werden. Unglücklicherweise unterschätzten die Parteien selbst auf fatale Weise diese strukturelle Quelle ihrer Stärke. In den letzten Jahren des Kaiserreichs begannen sie, sich in den Dienst der immer lautstärker geäußerten Forderungen nach einem »gerechteren« Wahlsystem zu stellen, also einem, das auf dem Verhältniswahlrecht beruhte. Und wie Emil Lederer 1912 so vorausschauend bemerkte, würde »das naturgemäß die Einwirkung der Interessenorganisationen auf die politischen Parteien verstärken, ja zu einer vollständigen Herrschaft der Interessenorganisationen mit Notwendigkeit führen …«.181 Das System des Verhältniswahlrechts in der Weimarer Republik formte die Reichstagsfraktionen nicht aus den Wahlkreisen, sondern in einer vor der Wahl festgelegten Reihenfolge aus den Parteilisten, womit den Parteien keine Ausflüchte angesichts von Interessengruppen und deren Geldgebern blieben. Bis dahin konnten jedoch die Parteien, die von der Großzügigkeit eines Spenders profitierten, mit beträchtlicher Ehrlichkeit den sprichwörtlich gewordenen selbstbewussten Ausspruch des Grafen Mirabeau, des Präsidenten der französischen Nationalversammlung, von 1791 wiederholen: »Ich kann bezahlt, aber nicht gekauft werden.«182

Die Berufspolitiker »Demokratie« ist mit »den Kosten der Politik« verbunden – aber auf mehrdeutigere Weise, als häufig angenommen wird.183 Die hohen Wahlkampfkosten verhindern »Demokratie« weniger, als dass sie die Art der »Demokratie« bestimmen – also die Art der Volksvertretung, die ein Land hat. In England war der hohe Preis, den das Erringen eines Sitzes im Unterhaus kostete, eine der Hauptursachen dafür, dass bis weit ins 20. Jahrhundert das Parlament die Domäne einer stark privilegierten Elite war. Obwohl in Deutschland persönlicher Reichtum ein Faktor bei der Wahl eines Kandidaten blieb, förderten die Spielregeln eine besondere politische Klasse, die sich teilweise aus bescheidenen Gesellschaftsschichten rekrutierte. Wenn auch das Zentrum, die Polenpartei und die Elsässischen Autonomisten weiterhin auf örtliche Honoratioren zurückgriffen, so veränderte sich bis zur Wende zum 20. Jahrhundert die Zusammensetzung der übrigen Fraktionen erheblich. Die soziale Offenheit des deutschen Systems 181 Lederer: Parteien, Spalte 335. Ein guter Überblick über die Literatur zum Verhältniswahlrecht: Nohlen: Wahlrecht. Skeptisch über die Rolle der politischen Macht der Industrie nach dem Niedergang der Unternehmerpersönlichkeiten: Jaeger: Unternehmer, S. 129; Kaelble: Interessenpolitik, S. 20, 122; noch negativer: Molt: Reichstag, S. 307; Ullmann: Interessenverbände, S. 120 ff. 182 Hierzu der Gedankenaustausch über Bestechung zwischen Liebermann v. Sonnenberg und O. Zimmermann (RefP) SBDR 27. Feb. 1907, S. 99, 114. 183 Hierzu der Titel von Gwyns Buch: Democracy and the Cost of Politics. Zum Beispiel der Lohn der Wahlaufseher in England und Wales: 1868–80, betrug zwischen Pfund 4 und Pfund 1.000 pro Wahlkreis. ebd., 21–28.

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war tatsächlich mit den »Kosten der Politik« verbunden – mit der Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der technischen Kosten der Wahlen vom Staat getragen wurden, aber auch, und ganz besonders, mit den Rückkopplungsmechanismen, die, als die Wahlkämpfe selbst zunehmend teurer wurden, eine gute Organisation mit mehr Geld und mehr Wählern belohnte. Die Kosten der Wahlen, einschließlich des Unterhalts des Gewinners, beschleunigten ihrerseits die unaufhaltsame Professionalisierung der politischen Klasse in Deutschland. Wenn sie auch keine Vollzeitparlamentarier waren, so waren viele, vielleicht die meisten Reichstagsabgeordneten doch Vollzeitpolitiker. Die Politik selbst erwies sich als Weg zum sozialen Aufstieg, die Grundlage für einen höheren sozialen Status, persönliches Ansehen und finanzielle Einkünfte. Beispielsweise gewann jeder bedeutende Gewerkschaftsführer früher oder später ein Reichstagsmandat.184 Die wachsende Professionalisierung in anderen Berufen verstärkte darüber hinaus den Trend zur Professionalisierung in der Politik. Als die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung derart anspruchsvoll wurden, dass sie den Beamten an seinen Schreibtisch fesselten, erschienen die Landräte, die einstmals jeden zehnten oder elften Abgeordneten im Preußischen Landtag gestellt hatten, nach 1900 nur noch halb so oft wie früher – oder noch seltener.185 Bei den vielbeschäftigten Geschäftsleuten wurde die Abnahme ihrer Anzahl im Reichstag sowohl von den Zeitgenossen als auch von Historikern mit Kopfschütteln registriert, wenn auch ein zusätzlicher Grund ihres Verschwindens – nämlich dass die Wähler sie schlicht nicht wollten – häufig vergessen wird.186 Aus allen diesen Gründen bewahrheitete sich Bismarcks Albtraum von einem Reichstag, der aus einer Klasse von Männern bestand, die »von« der Politik lebten. Aber die Professionalisierung, die bei anderen Berufen normalerweise den Respekt erhöht, scheint der Wertschätzung der gewählten Abgeordneten beim Wahlvolk, das sie repräsentieren sollen, zu schaden. Die Verachtung des Eisernen Kanzlers für den Berufspolitiker wurde von den Kritikern des Kaiserreichs übernommen, auf der Rechten wie auf der Linken, wo sie zum festen Bestandteil des gegen die Parteien gerichteten öffentlichen Diskurses wurde, der die Institutionen der Volksvertretung während ihrer gesamten Geschichte begleitete. In Deutschland wurde dieses allgemeine Missfallen am Berufspolitiker stark durch eine Niedergangsstimmung beeinflusst, die, besonders in konserva184 Molt: Reichstag, S. 237; Tabellen zu Partei- und Gewerkschaftsfunktionären im Reichstag, 230 f.; Retallack: Notables, S. 276 f. Rund 70 Prozent der SPD-Fraktion waren Männer, die in der Arbeiterbewegung angestellt waren. Nipperdey: Organisation, S. 383; auch 103; Huber: Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 893. 185 Errechnet aus Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 87 f.; der Wandel wurde vom IM selbst beschleunigt: Saul: Kampf, S. 196 Anm. 138. Korrektiv gegen die Übertreibung der politischen Auswirkungen der Professionalisierung: Witt: Landrat. 186 Saure Trauben: »Die besten Kräfte der Nation tragen kein Verlangen, im Zirkel des deutschen Reichstages zu sitzen.« DA 21/27 (5. Juli 1903), S. 444. Eine erfreuliche Ausnahme: Hartmut Berghoff und Roland Möller: Unternehmer in Deutschland und England 1870–1914, in: HJ 256/2 (April 1993), S. 381. Hierzu auch Kaelble: Interessenpolitik, S. 116 f., und Tabellen S. 223–225; Gall: Bank, S. 83. Das Interesse der Ruhrelite an gewählten Ämtern in der Lokalpolitik, wo das Wahlrecht zu ihren Gunsten wirkte, nahm auch ab. Spencer: Management, S. 61.

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tiven Kreisen, im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem Gemeinplatz wurde.187 Die beiden Diskurse verbanden sich 1918, als Max Weber über die deutschen Berufspolitiker Bilanz zog und sie als eine Art Subalterner beschrieb, die »ein Parlament mit tief herabgedrücktem geistigen Niveau« bevölkerten. Da ihnen die Möglichkeiten der exekutiven Gewalt oder Verantwortung verwehrt waren, beschied er, seien diese Männer von »Zunftinstinkten« angetrieben – das heißt, dem Wunsch nach Selbstperpetuierung. Organisation, so schien es, verlangte zumindest im Zusammenhang des deutschen Dualismus Mittelmaß: unter denen, »die ihr Leben aus ihrem kleinen Pöstchen machten, hochzusteigen [sei unmöglich] für einen ihnen nicht gleichgearteten Mann«.188 Seitdem ist Webers Klage, dass der Reichstag seine Fähigkeit verloren habe, die besten politischen Köpfe anzuziehen, von Bewunderern wiederholt worden, die es besser hätten wissen sollen. Gebunden an ihre Organisationen, ohne die disziplinierende Kraft der Verantwortung, so hören wir von einem Kommentator unserer Tage, sei »das Format der Abgeordneten und Parteiführer« im wilhelminischen Reichstag »einigermaßen durchschnittlich« gewesen.189 Da drängt sich gleich die Frage auf: verglichen mit wem? In welcher Hinsicht waren Erzberger und Scheidemann weniger bedeutend als Windthorst und Bebel? Warum sollten Bassermann, Naumann und Stresemann als Epigonen von Bennigsen, Rickert und Richter betrachtet werden? Die Antwort ist keineswegs offensichtlich.190 Webers Klage während des Weltkrieges, dass sein Land, das jetzt der Niederlage nahe war, nicht die »Führer« hervorgebracht habe, die dessen Feinde in Ländern mit einem funktionierenden Parlamentarismus auszeichneten, wäre vielleicht weniger leidenschaftlich ausgefallen, wenn er in Frankreich gelebt hätte, als Clemenceau für seine Verwicklung in den Panamaskandal nicht wiedergewählt wurde, oder in England, als dessen auf großem Fuß lebender Premierminister aus gutem Grund den Spitznamen »£loyd George« trug. Mit Sicherheit wäre Webers Klage weniger leidenschaftlich ausgefallen, wenn der Krieg in Europa anders verlaufen wäre. Stattdessen ist die Öffnung der politischen Klasse im wilhelminischen Deutschland, von der die Demokratisierung des Reichstags nur einen Teil darstellte, von einem der herausragendsten Anhänger Webers als Zeichen für »… den Geltungsdrang, das Prestigebedürfnis und die Eitelkeit der bürgerlichen Karrieremacher« beschrieben worden.191 In Deutschland hat gesellschaftlicher Aufstieg noch nie eine gute Presse gefunden. 187 Z. B. DA 21/27 (5. Juli 1903) S. 444. Stegmann: Erben, S. 116, gibt eine Reihe von Zitaten aus den 1890er Jahren. Selbst in Frankreich, wo die Parteiaktivität noch in örtlichen Komitees stattfand, beklagten Kritiker den Berufspolitiker als Zeichen von Dekadenz: Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 12. 188 Zitiert: M. Weber: Parlament, S. 308; Politik als Beruf, S. 530. Die Deutschen waren nicht allein in ihrem Glauben an den »Untergang«. Ostrogorski verlieh ähnlichen Gefühlen Ausdruck, als er bemerkte: »sobald eine Partei, selbst wenn sie zu dem vornehmsten Zweck gegründet wurde, sich perpetuiert, neigt sie zur Degeneration«. Ostrogorski: Democracy, [1902], 1964, Bd. 1, Zitat S. ix. 189 Nipperdey (zitiert): Geschichte, Bd. 2, S. 575; Molt: Reichstag, S. 29. 190 Ein Buch von 1910 mit dem Titel »Deutsche Machthaber« beurteilt Bassermann als mächtiger als seinerzeit Bennigsen und schließt (zusätzlich zu Bebel) Erzberger, Peter Spahn (Z), H. E. Müller (Meiningen) (FrVP) wie auch den Direktor des BdL und früheren NL Diederich Hahn ein: Martin: Machthaber, S. 447, 456. 191 H. Rosenberg, zitiert in Molt: Reichstag, S. 109.

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Die Ambivalenz jedoch, mit der der Berufspolitiker als Typus gesehen wird, hat tiefere Wurzeln als Bismarcks Vorurteil und breitere als den Snobismus. Seitdem Cincinnatus seinen Pflug verließ, um das Land zu retten, und nach getaner Arbeit an seine Arbeit zurückkehrte, übt das Modell des Laien als Gesetzgebers eine starke Anziehungskraft aus, gegen das der Politiker wenig reizvoll erscheint. Das Ideal des Laien ging natürlich mit einem besonderen Wahlkampfstil einher – oder genauer gesagt, dem Fehlen eines Wahlkampfs. Es beinhaltete, dass die Tugenden des Kandidaten ausreichend gut bekannt seien, dass sie keine Werbung nötig hätten. Das Ideal ging von einer Öffentlichkeit aus, deren legitime Interessen genügend homogen seien, dass die Klugheit und Integrität eines Kandidaten als Qualifikationen ausreichten, womit Anweisungen von seinen Wählern sowohl unerwünscht als auch unnötig seien. In Deutschland war dieses Ethos in Artikel 29 der Reichsverfassung enthalten, der den Abgeordneten zum Repräsentanten der gesamten Nation erklärte, auf dessen Gewissen keine Einzelinteressen, und deshalb keine bindenden Versprechen (das sogenannte »imperative Mandat«) einen Anspruch haben konnten. Es war Artikel 29, wie wir erfahren haben, der für die Sozialdemokraten das Schlupfloch darstellte, das ihnen ermöglichte, Wahlkampf für Reichstagsmandate zu treiben, nachdem ihre Partei 1878 verboten worden war. Das Ethos, das er verkörperte, gefiel Liberalen und Konservativen gleichermaßen, in England wie auch in Deutschland. Es hallt wider in der brüsken Zurückweisung des Herzogs von Ratibor, als die Katholiken von Pleß-Rybnik 1871 forderten, dass er zu den Kontroversen zwischen Kirche und Staat Stellung beziehe: »Ich lasse mir von den Bauern nicht die Pistole auf die Brust setzen!«192 Wir können es in Westminster hören, wo J. S. Mill zur Bedingung seiner Nominierung machte, dass er weder gezwungen würde, einen Wahlkampf zu führen, noch Versprechen abzugeben. Das gleiche Ethos stand 1878 hinter der Ankündigung des Düsseldorfer Liberalen Vereins, dass der Herr Landvogt sich »durch moralische Gründe vom Erscheinen in der Versammlung habe abhalten lassen; er habe sich nicht als Kandidat aufdrängen wollen«. Als einige der Versammelten sich weigerten, für einen Mann zu stimmen, der kein Programm eingereicht hatte, antwortete der Vorstand, der Kandidat könne sich »nicht von vornherein binden, solches sei einem Ehrenmanne nicht zuzumuthen«.193 Überall in Europa und den Ländern um den Atlantik klang die Stimme des Volkes, wenn sie Festlegungen im Voraus verlangte, illegitim nach Zwang für jene, die ihre eigene Unabhängigkeit für eine der wichtigsten Qualifikationen für ein öffentliches Amt hielten.194 Wenn aber einem Wähler mehr an den Positi192 Zitiert in Rust: Reichskanzler, S. 621. 193 Schloßmacher: Düsseldorf, S. 219; auch 222, bei der LT-Wahl von 1879. Hierzu auch Forcade de la Biaix (Z), der es als Richter ablehnte, außerhalb des Parlaments einen Parteistandpunkt zu vertreten: Möllers: Strömungen, S. 265 ff. Nipperdey: Organisation, S. 37. 194 Die Literatur zur »Kontroverse über die Unabhängigkeit der Mandate«, die Pitkin »unzweifelhaft die zentrale klassische Kontroverse in der Literatur der politischen Repräsentation« nennt, ist endlos. Repräsentativ: Felix Stoerk: Das verfassungsmäßige Verhältnis des Abgeordneten zur Wählerschaft, Wien 1881. Ausgezeichnet: Pitkin: Concept, Kap. 7, Zitat S. 145; und Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 51, 173, 177, 234, 318, 577.

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onen als an der Person seines Volksvertreters gelegen war, wenn er sogar eigene Ansichten über die richtigen Maßnahmen des Staats hegte, wie konnte er anders als durch Anfragen und Forderungen sicherstellen, dass seine Stimme tatsächlich der Politik seiner Wahl zugute kam? Das Laienideal verkörperte eher abstrakte Überzeugungen und die gesellschaftlichen Konventionen lokaler Eliten als die Realitäten einer sich entwickelnden nationalen politischen Kultur. Bei großen und unterschiedlichen Wahlkreisen waren die Anforderungen sowohl an die örtliche Bekanntheit des Kandidaten als auch an die Harmonie unter seinen Wählern einfach zu groß. Parteiorganisationen wurden benötigt, um die Verbindung zwischen Kandidaten und Wählern herzustellen. Die Statuten einer Partei, die Disziplin verlangten, vertrugen sich nicht mit dem Individualismus, der dem Laienideal zugrunde lag. Gelegentlich dauerte es lange, bis die Parteien selbst diese Tatsache erkannten – wie 1878 der Fall des Düsseldorfer Liberalen Vereins bewies. Die Sozialdemokraten hingegen, die der Wählerschaft ganz offen ein verbindliches Programm anboten, waren immer darauf bedacht, die Weigerung eines Gegners, Bericht zu erstatten und Rechenschaft abzulegen, propagandistisch auszuschlachten. Obwohl das Zentrum behauptete, keinen Zwang auf die Stimmen seiner Abgeordneten auszuüben, war es doch gleichermaßen hartnäckig bei der Festlegung der kirchenpolitischen Maßnahmen, die den Katholiken am Herzen lagen.195 Wir sollten uns darum hüten, zu viel in den gefeierten Sieg des Grafen Arthur von Posadowsky-Wehner hineinzulesen, der sich 1912 nur unter der Bedingung zur Kandidatur bereit erklärt hatte, »daß er von allen Parteibindungen frei bleiben würde, und dass man von ihm keinen Wahlkampf erwartete«. Als ehemaliger und zu Recht gerühmter Staatssekretär im Reichsamt des Innern, als Konservativer, der sich der Gunst der fortschrittlichen Gesellschaft für Sociale Reform erfreute; als Protestant, dessen Bemühungen um die Integration der Katholiken bekannt waren, war der Graf in einer Position, Bedingungen für seine Kandidatur zu stellen, die glaubhaft an sich wie auch Männern geringeren Ranges kaum möglich waren. Posadowskys Wahl war weniger ein Zeichen der anhaltenden Existenzfähigkeit des ungebundenen »Laienabgeordneten« als ein Rückschritt in eine Zeit, die in der Realität längst vorüber war.196 Dennoch wäre es falsch, das Festhalten der öffentlichen Meinung am Ideal des Laien als Volksvertreter lediglich als »Ideologie« abzutun, als leicht verdauliche Form der anhaltenden politischen Ansprüche der traditionellen Eliten. Denn solch eine Geringschätzigkeit verkennt die Tatsache, dass das Zeitalter 195 SD: Schloßmacher: Düsseldorf, S. 232; Z: MK 16 (22. Apr. 1871), S. 115; ungenannter Priester an Windthorst, 30. Aug. 1882, und W. v. Schorlemer-Vehr an Ziner, 13. Aug. 1889, BAK, Kleine Erwerbung Nr. 596. 196 Ohne Sheehan (Führung, S. 90, Zitat) nahetreten zu wollen. Bertram: Wahlen, S. 140 f., schreibt, dass selbst Posadowsky seine Weigerung, Reden zu halten, aufgab; hierzu auch S. 153 f. Bei den Landtagswahlen existierte weiterhin das Ideal des ungebundenen Volksvertreters (im Gegensatz zu seinem auf der Tradition fußenden Gegenstück, der Person, die als Sprecher für ihre Interessengruppe gewählt wurde), besonders bei den Liberalen. Eine Liste von Weigerungen von Kandidaten, ein imperatives Mandat anzunehmen: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 234 Anm. 14, 370. Zur Gesellschaft für sociale Reform: Molt: Reichstag, S. 304 f., 305 Anm. 57.

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der Massenorganisation, der Parteien und Interessengruppen, sich seine eigenen Privilegien erschafft. Es ist keine bloße Ideologie, sich nach einer Offenheit im System zu sehnen, die zumindest gelegentlich einem Mr. Smith erlauben würde, nach Washington, und einem Herrn Schmidt, nach Berlin zu gehen.197 Die Erkenntnis, dass ein Element des demokratischen Ideals verloren geht, wenn ein gewöhnlicher – oder zumindest unorganisierter – Bürger niemals davon träumen kann, seine individuelle Stimme denen der Gesetzgeber seines Landes hinzuzufügen, ist ein starkes und anhaltendes Thema in den westlichen Demokratien. Wir hören es nicht nur im Missfallen, welches die Honoratioren des 19. Jahrhunderts an Parteien und Berufspolitikern fanden, sondern auch in der Forderung der Begrenzung des Abgeordnetenstatus auf eine Legislaturperiode, die von Wählern der Grünen in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren erhoben wurde wie von so vielen Wählern beider Parteien in den Vereinigten Staaten heute. Es liegt dem Argwohn von Reformern und Theoretikern wie Robert Michels zugrunde, der überzeugt war, dass »Organisation … zur Beherrschung der Wähler durch die Gewählten führt, der Auftraggeber durch die Beauftragten, der Entsendenden durch die Entsandten«, und den Schluss zog: »Wer von Organisation spricht, spricht von Oligarchie.«198 Oligarchie ist ein irreführender Begriff für eine Gruppe von Männern, die schließlich in regelmäßigen Abständen mit der Abberufung durch das Volk rechnen mussten. Aber es ist kein Missverständnis, die Berufspolitiker als eigene Klasse zu betrachten. Französische Kommentatoren sprachen davon, dass die Kandidaturen von »einer neuen Rasse, den Politikern« monopolisiert wurden.199 Das berühmte Golfspiel des Liberalen Lloyd George gegen seinen politischen Gegner, den Konservativen Bonar Law, auf dem Höhepunkt der Home-RuleKrise ist als Beispiel für eine ähnliche Situation in Großbritannien zur Zeit Georg V. genannt worden. Einige Kommentatoren haben gerade diesem entspannten gesellschaftlichen Umgang innerhalb der französischen und der englischen politischen Klasse, der durch eine beträchtliche soziale Homogenität verstärkt wurde, zugute geschrieben, dass er die kollektiven Normen ihrer Parlamente stabilisierte und deren Fähigkeit stärkte, politische Verantwortung zu übernehmen. Diese Kommentatoren meinten, die Professionalisierung des Reichstags reiche nicht aus, um die soziale, regionale und ethnische Vielfalt, die zur Demokratisierung gehörte, zu überwinden. Diese Vielfalt steht im Ruf, es den deutschen Volksvertretern erschwert zu haben, jenen Konsens über Grundsätze zu finden, die eine erfolgreiche parlamentarische Regierung verlangt.200 Aber das Golfspiel von Lloyd George und Bonar Law, gleichsam der Beweis für die anhaltende Vitalität des kollektiven Geistes im Unterhaus, vermit197 Es gab »wilde« Abgeordnete selbst im Reichstag: 1893 (27), 1898 (37), 1903 (22), 1907 (12), und 1923 (25), wenn auch einige von ihnen wahrscheinlich Interessengruppen vertraten. Tabelle 31 in Molt: Reichstag, S. 355. 198 Zitiert als Epigramm von Lipset in: Introduction: Ostrogorski, S. i. 199 Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 12. 200 Ritter: Deutscher und britischer Parlamentarismus, S. 30; Molt: Reichstag, bes. S. 279 f.; Sheehan: Führung, S. 90 f.; Golf: Searle: Corruption, S. 127, 189.

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telt einen irreführenden Eindruck von der Regierbarkeit Großbritanniens vor dem Krieg – das behauptet jedenfalls George Dangerfield.201 Und jeder, der mit dem ersten, weniger demokratischen Jahrzehnt des Reichstags vertraut ist, sollte skeptisch bezüglich eines Zusammenhalts sein, den die gemeinsame Mitgliedschaft im Honoratiorenstand bot, wenn wichtige Dinge auf dem Spiel standen. Dies war schließlich der Reichstag, in dem der ehrenwerte Richter und Obertribunalrat Peter Reichensperger ein Rednerpult entzweischlug und in dem Graf Ballestrem von Fürst Bismarck beinahe zum Duell herausgefordert wurde.202 In der Tat entwickelte das deutsche Parlament seine eigenen Formen, die sozialen Gegensätze zu überwinden. Während jeder Sozialdemokrat ein »Genosse« war, legten innerhalb der nationalliberalen Fraktion die Mitglieder, wenn sie übereinander und miteinander sprachen, Wert darauf, sich gegenseitig als »Kollegen« zu bezeichnen, unabhängig von den normalerweise obligatorischen Amts- oder Adelstiteln.203 Dem Reichstag mag vor dem Krieg der leichte soziale Umgang des britischen »Clubs« oder der französischen »Republik der Kumpel« gefehlt haben, aber wenn dies so war, ist der Grund weit mehr in seiner politischen als in seiner gesellschaftlichen Vielfalt zu suchen. Und sogar jene politische Vielfalt, die durch ein Wahlgesetz verstärkt wurde, das ein Vielparteiensystem förderte, welches die wirtschaftlichen, ethnischen, religiösen und ideologischen Spaltungen innerhalb der deutschen Gesellschaft reflektierte, verhinderte nicht die Entwicklung bedeutender Kooperationsmuster über die Gegensätze hinweg. Memoiren von Abgeordneten versichern mit einigem Erstaunen, dass die gegenseitigen Anfeindungen des Wahlkampfs an der Reichstagstür aufhörten, dass einvernehmliche persönliche Beziehungen, Respekt und selbst Sympathie sich zwischen den Mitgliedern selbst der gegnerischsten Parteien entwickelten. Der Nationalliberale Wilhelm Kulemann lernte Herrn und Frau Liebknecht bei einer internationalen Konferenz kennen und schätzte »beide als prächtige Menschen« – und die Liebknechts waren nicht die einzigen Sozialisten, mit denen er gesellschaftlich zu verkehren begann. Selbst in den Wahlkämpfen siegte häufig die gute Laune: 1912 fuhren der Liberale Eugen Schiffer und der Konservative August Strosser, zwei Kandidaten, die sich um dasselbe Mandat bewarben, in bestem Einvernehmen zusammen im Auto von Berlin in ihren Wahlkreis. Carl Bachem zeichnete ein ähnliches Bild und vermittelte den Eindruck, dass, zumindest für das Zentrum, selbst die SPD keineswegs indiskutabel war.204 Eine namentliche Analyse des Abstimmungsverhaltens im 201 George Dangerfield: The Strange Death of Liberal England, New York 1935. Wo kleine Gruppen von Menschen derart viel kontrollierten, förderte der enge Umgang politischer Feinde miteinander den Verdacht des Vertrauensbruchs, was in Kriegszeiten Verschwörungstheorien Nahrung gab, dass die politischen Führer Großbritanniens unter der Kontrolle des Feindes standen. Searle: Corruption, S. 241 ff., zeigt, wie die Bedingungen, die die Widerstandsfähigkeit des britischen Systems unter ganz bestimmten Umständen stärkten, unter anderen (schlechten Nachrichten in Kriegszeiten) zu dessen Fragilität führten – was auf deutsche Historiker sehr suggestiv wirken soll. 202 Reichensperger: Julius Bachem: Erinnerungen eines alten Publizisten und Politikers, Köln 1913, S. 71. 203 Mit der Ausnahme von Bennigsen, der »Herr von« und später »Exzellenz« blieb. Kulemann: Erinnerungen, S. 62 f. 204 Hierzu Bachems einfühlsame Beschreibung des skandalösen Ereignisses, bei dem die SPD-Fraktion »sich weigerte«, bei Hochrufen auf den Kaiser aufzustehen, als ungewolltes Missgeschick. Vorgeschichte, Bd. 5,

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wilhelminischen Reichstag kommt zu dem Schluss, dass in seiner Fähigkeit, unterschiedliche Interessen und Standpunkte gesetzgeberisch zu integrieren, das deutsche Parlament »sich qualitativ anscheinend nicht von den meisten anderen Legislaturen unterscheidet«.205 Auf das deutsche Kaiserreich scheint genau wie auf die französische Dritte Republik Bernard de Jouvenels berühmtes Bonmot zuzutreffen: »Es besteht weniger Unterschied zwischen zwei Deputierten, von denen einer ein Revolutionär ist und der andere nicht, als zwischen zwei Revolutionären, von denen einer Deputierter ist und der andere nicht.«206 Den deutschen Abgeordneten mangelte es auch nicht an Treue zu ihrem Parlament als Institution – man betrachte ihr gemeinsames Insistieren auf Diäten, das sich über vier Jahrzehnte erstreckte und das gesamte politische Spektrum mit Ausnahme der äußersten Rechten umfasste. Man bedenke auch die Bereitschaft fast der gesamten nationalliberalen Fraktion im Jahre 1912, Klassensolidarität und Parteimeinung sowie die Wut ihrer reichsten Sponsoren zu ignorieren und der Sozialdemokratie die Anerkennung ihres numerischen Gewichts zuzugestehen, indem sie Philipp Scheidemann zum Ersten Vizepräsidenten des Reichstags wählte.207 Man betrachte die Bereitschaft der Sozialdemokraten, im August 1914 für die Kriegskredite zu stimmen.

−−− Aber das immer stärkere Aufkommen von Berufspolitikern war an sich ein Zeichen, dass miteinander konkurrierende Standesinteressen, konfessionelle Ansprüche und nationale Forderungen in Deutschland in höchst differenzierten Parteistrukturen institutionalisiert worden waren. Diese Strukturen verdankten ihre Stärke ihrer Fähigkeit, im Volk selbst politische Identitäten zu mobilisieren und zu verstärken, die der Definition nach im Konflikt miteinander standen. Sogar im wesentlich homogeneren Preußischen Landtag wirkte die Institutionalisierung dieser Konflikte auf Wahlkreisebene bei der Gesetzgebung in einer Weise, die die schwer erkauften Bemühungen der Abgeordneten um Kompromisse zur Sisyphusarbeit machten.208 In den englischen Wahlkreisen war eine solche Parteiloyalität in der Identität der Wähler, zumindest seit der Abspaltung der Liberalen von 1886, sehr viel weniger fest verankert als in Deutschland. Und

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S. 384. Gemeinsame Autofahrt nach Magdeburg 5: Bertram: Wahlen, S. 204. Kulemanns Beziehung zu Wilhelm Liebknecht und der SPD: Erinnerungen, S. 225 ff. (Zitat), verglichen mit RT-Kartell: S. 79 ff. und 187; leichter Umgang zwischen nicht-sozialistischen Parteien: S. 43 f. LT-Präsident v. Kröcher (K) verteidigte die Verfassungstreue der SD gegen seinen K Kollegen: SBHA 10. Feb. 1909, S. 1950 ff., GStA PK I. HA, Rep. 90a, A.VIII.1.d., Nr. 1/Bd. 9, Bl. 1968; Freundlichkeit des Großherzogs von Hessen gegenüber Sozialistenführer: White: Party, S. 176; zwischen Abgeordneten und Mitgliedern des BR: S. 90. Gegensatz: Fairbairn: Democracy, S. 261. Smith u. Turner: Behavior, S. 28, widerlegt so Molts Bild. La République des Camarades, Paris 1914, S. 17, zitiert in Sheehan: Führung, S. 91. Die Unterstützung der NL für Scheidemann war umstritten und belastete die Fraktion unter Bassermanns Führung schwer: Ueber die Wahl des Reichstagspräsidiums, in: Die Parteien, Heft 1 und 2 (1912), S. 124, 212, 304; White: Party, S. 194; Gall: Bank, S. 436. Konsequenzen für die schwierigen Wahlrechtsreformen des Preußischen Landtags: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 445 f., 449.

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in Frankreich existierten kaum Strukturen, die die nationalen Parteien an lokale Identitäten auf Wahlkreisebene banden. Wenn andererseits die gegenseitigen Verpflichtungen stark waren, konnten sie die Wählerschaft wie auch die Fraktion binden. Da die gesetzliche Vorschrift, dass ein Sieger eine absolute Mehrheit für sich gewinnen musste, die Kandidaten immer häufiger in Stichwahlen zwang, mussten alle Parteien, einschließlich der an dritter und vierter Stelle, in Verhandlungen miteinander treten – über die Kulturen, über die Wahlkreise und mitunter sogar über die gesetzgebenden Körperschaften hinweg. Die Notwendigkeit derart vieler Stichwahl-Allianzen half, den Verkrustungen feindlicher Identitäten entgegenzuwirken, indem die Wähler daran gewöhnt wurden, auch Kandidaten rivalisierender Parteien zu unterstützen. Und der so gewählte Abgeordnete fand sich nicht nur seiner eigenen Partei gegenüber verpflichtet, sondern auch den Parteien zumindest einiger seiner Gegner.209 Wenn dies nicht eine »Bündelung von Interessen« ist, also eine wichtige Funktion nicht nur von Parteien, sondern auch von Parlamenten, ist schwer vorstellbar, was die Bündelung von Interessen sein soll. Die Spannung zwischen der Demokratisierung der Wählerschaft und der Fähigkeit des Parlaments, seine Arbeit zu tun, ist genauso wenig eine Erfindung der Ideologie der Liberalen und Konservativen zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wie die Verbindung zwischen der Mobilisierung der Wählerschaft und der Verschiebung der Entscheidungsfindung des Parlaments in die Hände der Parteioligarchien ein Hirngespinst der Unabhängigen war. Demokratisierung benötigt Publizität, Publizität erfordert Geld, Geld benötigt Organisation, und Organisationen – in unserem Fall Parteien – entwickeln unweigerlich Hierarchien und Begründungen, die ein Eigenleben entwickeln. Mit der zunehmenden Sichtbarkeit solcher Organisationen war es ebenso unvermeidbar, dass die Ansicht zunahm, dass »Parteiorganisationen keine demokratischen Spiegelungen des öffentlichen Willens sind, sondern mächtige Instrumente zur Beherrschung der Wähler, um Beamte, Meinungen und politische Maßnahmen der Öffentlichkeit aufzuzwingen«. Sozialwissenschaftler, vom russischstämmigen Moisei Ostrogorski bis zum italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto und zum ehemaligen deutschen Sozialdemokraten Robert Michels, unterfütterten diese öffentliche Sorge, als sie argumentierten, dass Organisation unweigerlich zur Herrschaft einer Elite führen müsse. Die Spannungen zwischen den Forderungen des Individuums nach Repräsentation und der Notwendigkeit der Organisation der Massen, zwischen Demokratie und Partei, ist niemals befriedigend gelöst worden und kann auch nie gelöst werden. Lord Ampthill hatte 1922 zweifellos Recht – zu einem Zeitpunkt, als die Debatte in Großbritannien sich zwei Jahrzehnte lang endlos um immer denselben Zirkel von Geld und Partei, Organisation und Repräsentation gedreht hatte –, als er darauf beharrte: »Man kann nicht zwischen parlamentarischer Regierung und Parteienregierung wählen … sie gehören zusammen.«210 209 Ein Argument, das Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 210, 236, über den Landtag anführt, das im Prinzip aber auch auf RT-Wahlen zutrifft – wie Ritter vor Jahrzehnten in: Parlamentarismus, S. 42, bemerkte. 210 Ostrogorski von Lipsit in seiner »Introduction« paraphrasiert. S. lvii; Ampthill in Searle: Corruption, S. 348.

Kapitel 12: Schlussfolgerungen

Das Wahlrecht macht den Knecht zum Herren. Zunächst nur für einen Wahltag. Wenn aber verständig und von allen benutzt, bald zum Herren für immer, richtiger: zum freien Mann. Vorwärts (1876) Democratic societies are populated not by freely acting individuals, but by collective organizations that are capable of coercing those whose interests they represent. Adam Przeworski (1991)*

Im Herbst 1918, nach viereinhalb Jahren eines zunehmend total geführten Krieges und im Angesicht einer sicheren Niederlage, brach die Autorität der kaiserlichen Regierung zusammen. Nach der erzwungenen Abdankung des Monarchen war die Revolution, aus der die Weimarer Republik hervorging, vergleichsweise moderat. Sie ordnete die exekutive und die legislative Macht neu und eliminierte damit den Dualismus, der das entscheidende Merkmal der Verfassung des Kaiserreichs gewesen war. Und sie führte Reformen ein, analog zu jenen, die in vielen westlichen Ländern am Ende des Krieges in Kraft traten: das Frauenwahlrecht, das Verhältniswahlrecht sowie die Abschaffung aller übrigen Elemente einer Herrschaft der Besitzenden wie des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Lange Zeit war es üblich, diese Mäßigung als einen weiteren Beleg für Deutschlands »Versagen« bei seinen demokratischen Revolutionen zu beklagen. Aber Heinrich August Winkler hat dem widersprochen: Ein halbes Jahrhundert allgemeines Wahlrecht habe dazu geführt, dass Deutschlands »Grad der Demokratisierung« einfach »zu hoch« für einen Umsturz nach französischem

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Demokratische Gesellschaften bestehen nicht aus frei handelnden Individuen, sondern aus kollektiven Organisationen, die in der Lage sind, auf diejenigen Zwang auszuüben, deren Interessen sie vertreten.

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oder russischem Vorbild war. »Gewöhnt an das allgemeine Reichstagswahlrecht, wäre eine Phase der revolutionären Diktatur der überwältigenden Mehrheit der Deutschen als Verlust und nicht als Gewinn an Partizipation, als Rückschritt und nicht als Fortschritt erschienen.« Die am häufigsten gestellte Forderung der Bürger, einschließlich der Mehrheit der Vertreter der Arbeiter und der Soldatenräte, war die nach nationalen Wahlen, und zwar je früher, desto besser. Nach fünfzig Jahren der Urnengänge waren die Deutschen überzeugt, dass die Demokratie sowohl erstrebenswert als auch unvermeidlich sei.1 Dieses Kapitel wird versuchen zu erläutern, warum dies so war, indem es auf die Merkmale des Wahlprozesses zurückblickt, der das deutsche Kaiserreich bis 1914 zu einem »teilweise demokratischen Land« machte.2 Und es wird sich kurz mit dem Vermächtnis des Kaiserreichs für die nachfolgende Generation befassen. Aber zuerst müssen wir systematischer als bisher die Rolle der Regierung betrachten und die Gründe dafür, warum sie sich als unfähig erwies, von dem Wahlrecht zu profitieren, das Bismarck vordem mit großem Optimismus eingeführt hatte.

Schwache Regierung, starker Staat: die Paradoxien der Amtsmacht Einen Blick auf die Veränderungen, die im letzten halben Jahrhundert stattgefunden hatten oder aber ausgeblieben waren, bietet uns die letzte Wahl des Kaiserreichs in Nordhausen, Provinz Sachsen. Kritiker behaupteten, dass die Provinzbeamten, vom Landrat bis zum rangniedrigsten Faktotum, mit aller Kraft daran gearbeitet hätten, den linksliberalen Amtsinhaber Otto Wiemer abzuwählen. In einem Weiler, wo der Ortsdiener krank im Bett lag, hatte dessen Frau angeblich »den Säbel ihres Mannes umgeschnallt und seine Dienstmütze aufgesetzt« und war dann losgezogen, um die Rundschreiben gegen Wiemer selbst zu verteilen. Der blaue Stempel des Landrats hatte die Flugblätter einer Koalition konservativer Gruppen geziert, die, angeführt durch die antisemitische Wirtschaftsunion, alle die gleiche Botschaft verkündeten: Wiemer muss geschlagen werden. Reserveoffiziere hatten die Devise an die Kriegervereine ausgegeben und solchen Ortsgruppen, die noch kürzlich gerügt worden waren, weil sie sozialdemokratisch gewählt hatten, wurde versprochen, dass sie ihre Fahnen zurückbekämen, falls Wiemer besiegt werde. Eine Beteiligung bei der Hauptwahl von 98,8 Prozent, die den absoluten Rekord für das Kaiserreich darstellte, hatte die enorme Symbolkraft des Wettkampfes bezeugt: Die Linksliberalen hatten Nordhausen dreißig Jahre lang gehalten und Wiemer war der Fraktionsvorsitzende der Fortschrittlichen Volkspartei. Wiemer wurde in der Tat geschlagen, aber die Wahl wurde wegen Wahlbeeinflussung seitens der Regierung für ungültig erklärt. 1

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Winkler: Revolution, S. 19 ff., 26 (Zitat), 30 f., 53; substantiell gleich in ders.: Sozialdemokratie, S. 11 ff.; ders.: Weimar, S. 13. Gegen Wehler (Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1041): ein halbes Jahrhundert Männerwahlrecht erkläre auch, warum die Deutschen keine Massenbewegung analog zum englischen Chartismus in Gang setzten, der exakt dieses gefordert hatte. Winkler: Weimar, S. 601.

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Den Leser, der unsere Geschichte von Anfang an verfolgt hat, mag ein Gefühl von déjà vu beschleichen. Hier, bei der letzten Wahl vor dem Krieg, zeigte sich der traditionelle Obrigkeitsstaat, der mit Hilfe einer Befehlskette eingriff, an die man sich seit 1848 gewöhnt hatte. Selbst der Einsatz von Frauen war nicht neu. Aber der Name des Siegers lässt uns aufhorchen. Der Kandidat, zu dessen Gunsten der Staat, die Konservativen und die Antisemiten sich nach Kräften angestrengt hatten, war ein sozialdemokratischer Hitzkopf namens Oskar Cohn, ein Mann, der links von seiner linken Partei stand.3 Die Gründe und Hintergründe dieser seltsamen Konstellation – auf die wir zurückkommen werden – interessierten diejenigen nicht, die auf Annullierung der Wahl drängten. Als sie befragt wurden, gaben sie zu, dass nichts derart Plumpes wie ein Telegramm mit der Nachricht »Fürst wünscht Cohn« im Landratsamt angekommen sei. Aber dennoch, so beharrten sie, handelte es sich bei Cohn um einen »amtlichen Kandidaten«.4 Die »Mann-beißt-Hund«-Geschichte in Nordhausen beinhaltet gegensätzliche Botschaften von Macht und Schwäche. Die Tatsache, dass der Reichstag den Sieg des Sozialdemokraten wegen amtlicher Beeinflussung annullierte, zeigt, dass in den Augen vieler Bürger die Regierungsmacht selbst 1912 noch eine Bedrohung für die freien Wahlen darstellte. Aus unserer eigenen Perspektive jedoch demonstriert nichts die Ohnmacht der Regierung mehr als die Ausweglosigkeit, in die ein halbes Jahrhundert demokratischer Praxis die Staatsdiener der Hohenzollern getrieben hatte: die Alternative zwischen »Wir wollen Cohn« – oder weiteren fünf Jahren mit einem Führer der Fortschrittlichen.

−−− Wie war es so weit gekommen? Bismarcks Absicht war es gewesen, durch die Einführung des demokratischen Wahlrechts seiner Regierung einen überwältigenden Vorteil zu verschaffen. Wie alle seine Zeitgenossen war er von der Wirksamkeit des Wahlrechts unter Napoleon III. in Frankreich beeindruckt. Es waren der »Bonapartismus« und dessen augenscheinliche Versöhnung von Repräsentation und autoritärer Staatsgewalt, die dem Männerwahlrecht in den Augen des zukünftigen Kanzlers jenen Glanz verliehen – während sie fast allen anderen Bürgern als Bedrohung erschienen.5 »Ministerielle Kandidaturen« – von Männern, deren Wahl die Verwaltung explizit befürwortete – waren die Kennzeichen des französischen Systems, und die Beratungen des preußischen Staatsministeriums in den 1860er Jahren befassten sich mit Wegen, diese Idee an die deutschen Bedingungen an3

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Erfurt 1, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 20) DS 1160, S. 2291 ff.; SBDR 28. Nov. 1913, S. 6067 ff. Wahlbeteiligung: Hiery: Reichstagswahlen, S. 326 Anm. 93. Cohn trat während des Krieges der USPD bei. Weitere merkwürdige Wahlen, die wegen Regierungseinflusses beanstandet wurden: Marienwerder 3 (P), AnlDR (1884/85, 6/I, Bd. 4) DS 273, S. 1176 ff.; Sachsen-Altenburg (SD), SBDR 16. März 1904, S. 1871 ff. Neumann-Hofer SBDR 28. Nov. 1913, S. 6070. Zeldin: System, S. 81; Jones: Politics, S. 221. »Bonapartismus« und »Cäsarismus« wurden austauschbar verwendet. Pollmann: Parlamentarismus, S. 93, 101 Anm. 41; Steinbach: Zähmung, Bd. 1, S. 110 f.

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zupassen. Ausgeklügelte Möglichkeiten wurden erwogen – wie beispielsweise, die Stimme jedes Wählers, der nicht zur Wahl ging, denjenigen für den offiziellen Kandidaten zuzurechnen. Aber die juristischen Einwände setzten sich durch. Stimmenthaltungen als Wählerstimmen zu zählen »würde auf eine nicht festzuhaltende Fiktion hinauslaufen«.6 Maßnahmen, die die Resultate eines Prozesses illegitim machen konnten, dessen Absicht doch gerade die Legitimierung war, waren daher unwirksam. Darüber hinaus erregten die Klarheit und Einfachheit, die anfangs den Führern Preußens die ministeriellen Kandidaturen empfohlen hatten – die Aufteilung der Bewerbungen zwischen Regierung und Opposition – schließlich Bedenken. Wozu konnte es führen, wenn das Ansehen der Krone wiederholt so unverhohlen aufs Spiel gesetzt wurde?7 Im Hintergrund dieser Diskussion schwang – stets gegenwärtig, aber uneingestanden – die Erkenntnis mit, dass ausdrückliche ministerielle Kandidaturen die Aura einer Regierung »über den Parteien« zerstören und durch die Überbrückung der Kluft zwischen Exekutive und Legislative den Dualismus beenden würden, der die Vorrechte der Krone vor dem Zugriff des Parlaments schützte. Schließlich verzichtete das Staatsministerium bei der Übernahme des napoleonischen Wahlrechts auf dessen offizielle Kandidaturen. Bismarck räumte ein, dass »der Deutsche überhaupt nicht wohl in der Weise des Franzosen regiert werden kann«.8 Während das Ministerium keine Einzelkandidaten unterstützte, blieben dennoch die Regierungsorgane nicht neutral.9 Und wann immer sie eingriffen, also jedes Mal wenn ein Provinzverwalter eine Kandidatur vermittelte oder ein Kreisblatt »belehrende« Kommentare zu einer Wahl veröffentlichte, erhob sich ein Geschrei, dass dies eine »ministerielle Kandidatur« sei.10 Über die bemühte Ahnungslosigkeit hinter dieser Entrüstung kann man sich nur wundern. Spätestens in den 1880er Jahren war es ganz sicher für niemanden mehr ein Geheimnis, welche Parteien die Regierung bevorzugte. Ein System, das eine Wahl für un6

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Die gewissenhafteren Antworten von Bodelschwingh (Zitat), 26. Mai 1866, und Roon, »Votum«, 27. Mai 1866, auf Bismarck an das SM (Votum) vom 23. Mai 1866: BAB-L R43/685, Bl. 13–19, 21–25. Eulenberg: Pollmann: Parlamentarismus, S. 98, 99 Anm. 35, 100 Anm. 39. Wähler machten denselben Vorschlag! BAB-L R1501/Akten: 14693, Bl. 235–240; 14694, Bl. 137–142; 14695, o. S.; 14696, Bl. 16 f. Die niederländische Regierung hatte in den 1820er Jahren eben diese »Fiktion« benutzt, indem sie Stimmenthaltungen in Flandern mitzählte. Kenneth Barkin, private Mitteilung. Ausgezeichnet: Pollmann: Parlamentarismus, S. 72, 94 f., 95 Anm. 15 u. 16, 96 ff.; Steinbach: Zähmung, Bd. 1, S. 31. Hierzu Bismarck an das SM, 23. Mai 1866, BAB-L R43/685, Bl. 16. Siehe die Drucksache, die am 21. Oktober 1884 vom Vorsitzenden des K Wahlkampfkomitees in Berlin I, Frhr. v. Hammerstein, an einen preußischen Minister (vermutlich Puttkamer) und andere hochrangige Bürokraten gesandt wurde, der darauf drängte, Beamte zu beurlauben und den 41 Wahlbüros zuzuteilen, um säumige Wähler zu holen und in Wahllokalen Dienst zu tun. BAB-L R1501/14693, Bl. 137. Sein Kandidat, Adolf Wagner, verlor. Von Bunsen SBDR 29. März 1871, S. 43; Wehrenpfennig SBDR 17. April 1871, S. 237; Rickert SBDR 9. April 1886, S. 2015; Protest des Schriftsetzers Ed. Bauer und des Feilenhauers Theo. Werner, wegen »einer offiziellen oder Regierungskandidatur im schlimmsten französischen Sinne des Wortes«. Sachsen 13, AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 212, S. 907; Delsor SBDR 21. April 1903, S. 8925 f. Pejorative Bemerkungen über ministerielle Kandidaturen und das französische System gab es bereits vor dem Kaiserreich: Der Minister des Innern, S. 431 ff. Behauptung, dass Napoleons Kontrolle über die Wahlen übertrieben dargestellt wurde: Zeldin: System, S. 11, 45, 63, 119, 135 f., 137 f.; und dass sie indirekt dazu beitrug, demokratische Ideen im Volk zu verwurzeln: S. 98 f.

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Teil 3: Grade der Freiheit

gültig erklären konnte, wenn die Empfehlung des Landrats den Handzettel des Kandidaten zierte, es dem Landrat selbst aber gestattete, zur Wahl anzutreten (und das in seinem eigenen Landkreis!), machte Außenseiter sprachlos. Es beruhte auf einer Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Aktivitäten, die derart fein war, dass nicht einmal der gallische Intellekt sie zu entdecken wusste.11 Während jedoch der abwertende Begriff »ministerielle Kandidatur« in den Wahlkämpfen bis zum Sieg Oskar Cohns weiterlebte, tauchte die echte Version à la française überhaupt nie in Deutschland auf. Warum war dies so? Die ministeriellen Kandidaturen Frankreichs basierten auf einer Grundlage, deren Erwägung auf viele Deutsche bereits schockierend wirkte: Patronage. Der »Bonapartismus« und später der ländliche Republikanismus waren in »tausend geringfügigen Subventionen« verankert. Der Bürgermeister lieferte die Stimmen seiner Kommune an den Kandidaten (häufig zusammen mit einer Liste von Namen und der Notiz, dass hier ein neues Dach nötig sei und dort »Viehverluste« ersetzt werden müssten). Über seinen Zugang zum Ministerium verschaffte der Kandidat den Wählern Güter und Dienstleistungen. Das Herzblut des Kreislaufs der Wahl waren jedoch nicht die individuellen Vergünstigungen, sondern die öffentlichen Arbeiten: Straßen, Kanäle, Brücken – und besonders EisenbahnNebenstrecken (lignes électorales), deren verwirrende Anordnung von fürchterlicher Misswirtschaft, aber großartiger Politik zeugte.12 Weder in den Beratungen des preußischen Staatsministeriums in den 1860er Jahren noch zu irgendeiner späteren Zeit erwogen die politischen Führer Deutschlands jemals, öffentliche Arbeiten systematisch zu Wahlzwecken einzusetzen. Das offensichtliche Abweichen des Kolonialministers von dieser Norm im Jahre 1907 rief in der Tat »Verblüffung« hervor, und zwar nicht nur unter seinen Kollegen in der Verwaltung. Strukturelle Unterschiede zwischen den beiden Ländern mögen helfen, diesen Unterschied zu erklären. Das französische System der Wahlpatronage wurde durch eine vereinfachende Bipolarität gefördert – die Zentralisierung der Entscheidungen in Paris und die Armut der isolierten ländlichen Gemeinden –, die in Deutschland mit seinem komplexen Föderalismus und seinem dichten nord-südlichen Gürtel an wohlhabenden Städten fehlte. Aber der wichtigste Unterschied lag vermutlich in der Kultur. Eine »nicht 11

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Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 122, 126; Leser: Untersuchungen. Die Verwunderung der Regierung darüber, was der Reichstag tolerierte oder nicht tolerierte, begann spätestens mit dem Poschinger-Bericht 1879. BAB-L R1501/14450, Bl. 158. Sie setzte sich bis 1917 fort, als Bethmann Hollweg, ein Mann, der wahrhaftig Wichtigeres im Kopf haben musste, seinen Stab die Geschichte des IM Puttkamer überprüfen ließ, der drei Jahrzehnte nach seinem Sturz immer noch als ein Beispiel für unlauteren Einfluss galt. Bethmann Hollweg bereitete offensichtlich eine Antwort auf den Antrag der Verfassungskommission vor, die Prüfungsverfahren zu beschleunigen, indem man dem Reichstag erlaubte, Informationen direkt zu sammeln. Von Zahn: Äusserung über die Ungültigkeitserklärung der Wahl des Rittergutsbesitzers v. Puttkamer …, 24. Mai 1917, und: Das Wahlprüfungselend, in: Weser-Ztg 10. Mai 1917, beide in BAB-L R1501/14653, o. S. Jones: Politics, S. 295 ff. (Zitat), 299, 301 f.; Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 11, 31 Anm. 1; lignes électorales: Sydney Pollard: The Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe, 1760–1970, Oxford 1981, S. 132, 160. Nach 1877, als das Parlament und die Regierung aufeinander ausgerichtet waren, geriet der Begriff candidature officielle außer Gebrauch. Die Bezeichnung républicain/e genügte. Charnay: Les scrutins, S. 117.

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sachliche«, das heißt politische Verwendung der Ressourcen des Staats verletzte das deutsche Anstandsgefühl.13 Hierzu ein Zeitungsausschnitt aus dem Emsland, der Befürchtungen zurückweist, dass die Wähler dem für seine Freundschaft zu der abgesetzten Welfendynastie bekannten Windthorst ihre Stimme versagen könnten, weil er für die Hohenzollern eine persona non grata war: Glaubt Ihr, daß die Wahl eines solchen Mannes Euch um Euer Amt oder Gericht, um den Bau eines Kanals oder einer Straße bringen wird? Glaubt es, die Regierung Sr. Majestät treibt keine Emdener Schleusenpolitik. Ihr könntet einen Rothen wählen und hättet dieserhalb nicht zu fürchten, die Regierung würde aus Rache anders handeln als die sachlichen Rücksichten es verlangen. 14

Ich behaupte keineswegs, dass die Zuversicht der Ems- und Hase-Blätter in die Objektivität des Staats von jedermann geteilt wurde. Für den einfachen Bauern war es sicher unvorstellbar, dass die Regierung nicht dem Lauf der Welt folgen und Gleiches mit Gleichem vergelten werde. Aber der Verdacht konnte ohne ausdrückliche Unterstützung der Regierung selbst nicht in Wahlsiege umgemünzt werden. Die Landtagswahl von Gummersbach-Waldbröl im Jahre 1879 war solch ein einschlägiger Fall. Während sich das nationale Lager bemühte, seine inneren Spaltungen zu überwinden, indem es den Staatsminister für öffentliche Arbeiten, Albert von Maybach, nominierte mit dem Argument, dass mit Maybachs Nominierung die Gummersbacher sicher sein könnten, an das Eisenbahnnetz angeschlossen zu werden, bestritten örtliche Anzeigenblätter, dass der Minister für seinen eigenen Wahlkreis mehr tun könne als für jeden anderen. Die Wählerschaft schien das auch zu glauben, denn die erste Abstimmung zeigte keinen klaren Gewinner innerhalb des nationalen Lagers und Maybach zog seine Kandidatur zurück.15 Der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich wurde auch 1884 deutlich, als der Reichsstatthalter von Elsass-Lothringen, Edwin von Manteuffel, die schlechte Wahlbeteiligung seiner Region mit dem Hinweis auf die »französischen« Erwartungen des Reichslands entschuldigte: Die französische Regierung machte die Communen für die Abstimmung bei den Wahlen verantwortlich. Eine Commune, welche im Sinne der Regierung gestimmt hatte, erhielt nie Gewährung ihrer Petition. Die Elsaß-Lothringischen Communen sind in diesem Geiste groß geworden und da die deutsche Verwaltung diesen Weg nie betreten, sondern nur nach sachlicher Prüfung über alle vorliegenden Petitionen entschieden hat, so fühlen die Communen sich frei von der Befürch-

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Bennigsen: »Verblüffung«: Crothers, Elections, S 106 f., 164 f. Bennigsen stellte Frankreich »›die gute deutsche Tradition‹, daß der Beamte die Sorge für das Wohl des Ganzen … obenan stelle«, gegenüber: Fenske: Landrat, S. 454. Reichstags-Wahlangelegenheit, in: Ems- und Hase-Blätter, 25. Aug. 1867. K. Müller: Strömungen, S. 117 ff., 123, 129; H. v. Gerlach: Wahlprüfungspraxis und Wahlprüfungspraktiken, in: Die Nation 24 (1906/07), S. 118 f.

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tung, daß ihre Abstimmung nachtheilige Folgen für sie haben könnte und verfallen dem Einflusse der Agitatoren, welche ihnen Versprechungen machen. Um diesem Uebelstande abzuhelfen, wird in Zukunft bei Anträgen von Communen, welche nicht im Rechte begründet sind, sondern eine Vergünstigung beanspruchen, auf ihre Haltung bei der Wahl Rücksicht zu nehmen sein. 16

Manteuffel hatte in der Tat das Geheimnis des Erfolgs der französischen Regierung mit dem allgemeinen Wahlrecht entdeckt. Aber seine Ankündigung einer analogen Politik war nur heiße Luft. Als Angehöriger des Militärs besaß der Reichsstatthalter keinerlei Verständnis für die Gesetzestreue seiner Bürokratie – mit der er ohnehin auf Kriegsfuß stand. Angesichts dieser Gesetzestreue reduzierte Manteuffels Ausschluss »im Rechte begründeter« Entscheidungen von seinem angekündigten System des Quidproquo die Reichweite seines Vorschlags quasi auf null. Ich habe keinen einzigen Beleg dafür gefunden, dass er jemals auch nur versucht hat, ihn in die Tat umzusetzen.17 Wenn auch gelegentlich Fälle von politischer Günstlingswirtschaft auftauchen, so wird doch kein Historiker dem deutschen Kaiserreich oder seinen Bundesstaaten jemals den spöttischen Beinamen anhängen, den die Dritte Republik bekam: »Milchkuh-Staat«.18 Wenn die Anwendung des staatlichen Zuckerbrots zur Beeinflussung der deutschen Wähler undenkbar war, wie verhielt es sich mit dessen Peitsche? Mit Sicherheit war die Androhung von Nachteilen eine jener Botschaften, die die Allgegenwart der Polizei während des Wahlkampfs vermittelte: Diese führte Buch, wer zu den Wahlversammlungen kam, zitierte aus den Debatten und notierte, wessen Name zuerst bei den dreifachen Hochs am Ende der Veranstaltung ausgerufen wurde – der des Kaisers, des Kandidaten oder des Papstes.19 Verdeckte Informanten lieferten zusätzliche Details, die sämtlich vom Regierungspräsidenten zusammengefasst und an den Oberpräsidenten gesandt wurden. Die Polizei gab ihre Informationen auch an private Arbeitgeber weiter – wenn auch

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Manteuffel an Wilhelm I., Straßburg, 3. Nov. 1884, GStA PK I. HA, Rep. 89/211, Bl. 36–37v. Regierungseinfluss im französischen Herrschaftsbereich: Delsor SBDR 21. Apr. 1903, S. 8925 f. Dass Hierys gründliche Untersuchung des Wahleinflusses, in: Reichstagswahlen, ihn nicht erwähnt, muss Aussagekraft besitzen. Ich behaupte nicht, dass K und NL Kandidaten keine Anspielungen auf Vorteile machten, die sie für ihre Wahlkreise erwirken könnten. Gelegentlich taten sie dies, und wenn sie es nicht selbst taten, so mochten die lokalen und Kreisbeamten es für sie tun. Aber den Andeutungen von Vorteilen fehlte die Spezifizierung ihrer französischen Pendants: ein entscheidender Unterschied. Versprechungen, den Wunsch nach einer Eisenbahnverbindung in Berlin zur Sprache zu bringen: LR Frhr. v. Riedesel in Kassel 8 (und Mitglied des Landtags), 30. Juli 1891, BAB-L R1501/14667, Bl. 148 ff.; LR in Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3394 f.; Satire über Versprechungen von J. Cremer, SBHA, 1888, zitiert in Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 354. Es überrascht nicht, dass die wenigen Fälle, die ich gefunden habe, welche französischer Patronage nahekamen, fast ausschließlich in Elsass-Lothringen stattfanden. EL 7, AnlDR (1880, 4/III, Bd. 4) DS 126, S. 775 ff. »Milchkuh«: Jones: Politics, S. 295, 306. Horn-Bericht, 24. Feb. 1907, LHAK 408/8806, Bl. 12. Andere Überwachung: Turban an Großherzog Friedrich, 31. März 1887, GLA 60/494; und IM Eisenlohr, 14. Juni 1993 an Regionalbeamte, mit Antworten: GLA 236/14901 (Baden); Göhre: Drei Monate, S. 100 f. Gelegentlich sandten Bürger selbst Beweise für illoyale Haltungen ein: August Michaelis, Hotelier in Neubrandenburg, an Bötticher [19. Feb. 1890], BAB-L R1501/14693, Bl. 228; Oberingenieur Fr. Ruppert an Bülow, Chemnitz, 10. Jan. 1906 (sic), BAB-L R1501/14697, Bl. 141.

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nicht so viele und so häufig, wie es Letztere wünschten.20 Aber der deutsche Obrigkeitsstaat war in seinem Durst nach politischen Informationen keineswegs einzigartig. Auch die französischen Autoritäten führten ihre Personalbögen. Noch 1919 beschuldigte der Führer der Radikalen Sozialisten, Eduard Herriot, das Innenministerium, das damals gleichsam ein Lehen der Radikalen war, ein »Organ der politischen Polizei« zu sein: »Hier werden Wahlen manipuliert, dort überwacht man die Orthodoxie.«21 Aber in Frankreich wurden die Informationen zur Belohnung und Bestrafung benutzt. Sie wurden zu Schlüsseln, die die Stimmen ganzer Kommunen erschlossen. Die deutschen Regierungen hingegen taten gar nichts. Und was half selbst die perfekteste Überwachung, wenn man die Information nicht gegen den Wahlkreis einsetzte? Da tatsächlich die Überwachung selten unbemerkt blieb, war ihre Wirkung weniger bedrohlich, als dass sie die Regierung lächerlich aussehen ließ. Welchen Eindruck musste es machen, wenn ein Redner einen Informanten anstarrte und, wie der berichtende Bürokrat klagte, »dem beaufsichtigenden Polizeidiener … höhnisch« zurief, »er möge sich nur alles notieren, ›alles herein in das geheime Aktenbündel‹«?22 Bereits 1882 machten sich die Leute über die Schwärme von Polizisten lustig, die den Fortschrittlichen Moses Oppenheimer bei jedem öffentlichen Auftritt begleiteten. »Die Schutzengel von Moses«, witzelten sie.23 Wenn, wie die Konservativen behaupteten, jede Reichstagswahl der bestehenden Autorität schadete, dann schadete ihr der Spott, der durch die Plumpheit der Autoritäten provoziert wurde, am allermeisten. Selbstverständlich konnten die niederen Beamten unabhängig von jeder Politik auf Ministerialebene handeln, und sie taten es auch. Wir haben bereits erfahren, dass der Landrat die Steuerschätzungen beeinflussen konnte. »Bismarck im Kleinen« in Form des einen oder anderen Bürgermeisters drohte seinem Dorf Strafdienste für illoyales Wählen an.24 »Die Staatsgewalt ist in jedes Menschen Hand mächtig, auch in der Hand des letzten Nachtwächters und Gendarmen«, beharrte Lasker;25 und die Häufung der Beweise für Parteilichkeit besonders der Gendarmerie nötigt uns, ihm zuzustimmen.26 Aber Schikanen hatte es auch schon vor der Einführung des demokratischen Wahlrechts gegeben und indem sie diese in einen größeren politischen Zusammenhang stellten, forderten die Wahlen jetzt den Widerstand heraus. 20 21 22 23

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Wilhelm Funcke an Puttkamer, Hagen, 23. Dez. 1881, BAB-L R43/685, Bl. 42, 43–47v. Zitiert in Charnay: Les scrutins, S. 101. Horn-Bericht, 24. Feb. 1907, LHAK 408/8806; offene Kritik eines kleinen Geschäftsmanns: Onrod (?) an BR, Beelitz, 30. Juni 1903, BAB-L R1501/14696, Bl. 20 f. Düsseldorf, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 6) DS 263, S. 969 f. Verspottung der Überwachung: Ernst: Polizeispitzeleien, S. 60; Fontane: Stechlin, S. 145 ff., 166, 228 ff., 262; Hall: Scandal, S. 54. Beschwerden: Wahlaufruf, 30. Sept. 1906 (1907 abgesandt), BAB-L R1501/14697, Bl. 109 f. Hannover 17, AnlDR (1881, 4/IV, Bd. 4) DS 104, S. 622, 624 ff. »Bismarck im Kleinen«: Seyffardt: Erinnerungen, S. 241. Lasker SBDR 17. Apr. 1871, S. 248; zitiert im Poschinger-Bericht, 11. Feb. 1879, BAB-L R1501/14450. Ähnliche Ansichten: Schücking: Reaktion, S. 99; Saldern: Wege, S. 175, 183; Th. Müller: Geschichte, S. 184; Hall: Scandal, S. 24, 54, 92 f. Sachse (SD) zu Bochum, SBDR 10. Mai 1912, S. 1828 ff.; AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 403, S. 346 ff.

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Letzten Endes war es nur das eigene Personal des Staates, das in ausreichendem Umfang durch die Überwachung eingeschüchtert werden konnte, um die Wahlergebnisse zu beeinflussen. Eisenbahn-, Post- und Werftarbeiter waren einem enormen Druck ausgesetzt.27 Weiter oben in der Hierarchie war jeder Beamte gehalten, sich persönlich für die Wahlbeteiligung und die Ergebnisse des ihm unterstehenden Ressorts verantwortlich zu fühlen. Falls ein Landrat selbst sich um ein Mandat bemühte und die Wahl verlor, wurde seine Eignung für sein Amt in Frage gestellt.28 Aber man tut gut daran, diesen Druck zu relativieren. Deutschlands öffentlicher Dienst war nicht der einzige, der sich Wahlrepressalien ausgesetzt sah; noch verlangte man von den deutschen Staatsdienern jemals, wie es in den Vereinigten Staaten teilweise der Fall war, eine informelle Steuer auf ihre Gehälter in Form eines »Beitrags« zur Wahlkampfkasse der Regierungspartei.29 Der Druck der Regierung auf die Beamten war darüber hinaus nicht immer rückschrittlich. Als badische Beamte von der Anwesenheit von Gymnasiallehrern bei antisemitischen Wahlkampfveranstaltungen erfuhren (»wirklich ein trauriges Zeichen der Zeit«, kommentierte der Informant, »daß so viele gebildete Männer an einem Radau-Antisemitismus … Gefallen finden konnten«), untersagten sie deren Teilnahme – mit Erfolg. Von ihrem Großherzog angehalten, der die Verfolgung der Juden verwerflich fand, ergriff die Regierung von Hessen 1892 Maßnahmen, um sicherzustellen, dass keiner ihrer Lehrer antisemitische Politik betrieb, und ließ diese Anordnungen streng in die Tat umsetzen.30 Keiner Regierung gelang es, völlige Konformität zu erzwingen. Widerspruch regte sich an den unwahrscheinlichsten Stellen. Beispielsweise bei einem Lehrer in Elbing-Marienburg, der 1884 ins Landratsamt zitiert wurde, nachdem der Landrat erfahren hatte, dass er bei den Hochrufen auf den konservativen Kandidaten, einen Bruder des Innenministers, nicht aufgestanden war. Der Lehrer erkundigte sich bei einem Rechtsanwalt und beschloss, nicht zu erscheinen. Es gehöre nicht zu seinen Pflichten, so erklärte er, Herrn von Puttkamer hochleben zu lassen.31 In den 1890er Jahren wurde es bereits als selbstverständlich angesehen, dass viele mittlere und untere Regierungsbedienstete linksliberal oder SPD wählten.32 Nach 1903, als die Beamten die Auswirkungen höherer Lebensmittel27

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Werften: Danzig 3, AnlDR (1882/83, 5/II, Bd. 5) DS 80, S. 338 ff.; SBDR 16. Juni 1882, S. 541 ff. und 2. Dez. 1882, S. 582 ff; Präsident des Reichstags an Bismarck, 15. Juni 1882; Bismarck an Admiral v. Stosch, 16. Juni 1882; Konteradmiral Livonius an Bötticher, 16. Juni 1882; B[ötticher?] an Stosch, Nov. 1882; Stosch an B[ötticher?], 27. Nov. 1882; B[ötticher?] an Stosch, 2. Dez. 1882, BAB-L R1501/14641, Bl. 147 f., 151, 153 ff. Bebel, Gröber SBDR 26. Feb. 1907, S. 60, 125. Bismarck an Hohenlohe, Straßburg, undatiert [Feb. 1887], BAB-L R1501/14643, Bl. 2 f.; Amtsvorstand Tauberbischofsheim an MdI Baden, 16. Juli 1893, GLA 236/14901, Bl. 14c; Horn-Bericht, 24. Feb. 1907, LHAK 408/8806. Drohung an Seminardirektor (Gumbinnen 2): Zwei Fragen an die königliche Staatsregierung, in: NL Correspondenz 49/1 (3. Jan. 1912), BAB-L R1501/14460, Bl. 140. Wie Bismarck 1/5, S. 11; Wahlaussichten für die Provinz Pommern und: Wahlaussichten für die Provinz Brandenburg: GStA PK I. HA, Rep. 89/210, Bl. 215, 237. US- Marinewerft: Argersinger: Perspectives, S. 682; Steuer: Seymour u. Frary: World, Bd. 1, S. 258. Smith: Alltag, S. 284; Levy: Downfall, S. 137 ff., Hessen: S. 141. Rickert SBDR 9. April 1886, S. 2015 f.; Möllers: Strömungen, S. 332. Ulrich, Oberrevisor, an Graf [Caprivi], Dessau, 27. Juni 1893, BAB-L R1501/14694, Bl. 39; in Sachsen:

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preise zu spüren bekamen, die durch die Bülowschen Zolltarife entstanden waren, waren einige kühn genug, den Kanzler ihre Unzufriedenheit spüren zu lassen, indem sie ausdrücklich damit drohten, die Regierung bei den Wahlen nicht zu unterstützen.33 Eine einheitliche Front hinter dem konservativen Kandidaten fehlte gelegentlich sogar unter den höheren, »politischen Beamten«.34 Wenn auch die meisten abweichenden Amtsträger sich bemühten, ihre politischen Ansichten für sich zu behalten, so sprach doch nach 1888 (und dem Sturz des ausgemachten »Wahlministers« Robert von Puttkamer) auch der Staat nicht mehr über deren Disziplinierung. Exemplarische Bestrafungen kamen nicht in Frage. Denn im Gegensatz zu anderen Brotherren drohte staatlichen Arbeitgebern eine echte Bestrafung, wenn eine derartige Vergeltung bekannt wurde: zumindest ein peinlicher Aufschrei der Öffentlichkeit, und womöglich eine annullierte Wahl.35 Die Bedeutung dieser Fakten für das Schicksal des Bismarckschen Projekts kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Indem der deutsche Staat sich weigerte, materielle Vergünstigungen und (größere) Strafen entsprechend dem Wahlverhalten zu verteilen, verzichtete er auf eben jenes Werkzeug, das dem französischen Wahlrecht zur Wirkung verhalf – und eliminierte damit den Hauptgrund für das Männerwahlrecht in einem autoritären System. Welches Instrument könnte es für Bismarck sonst noch gegeben haben? Die Königstreue der ländlichen Bevölkerung wird von der älteren Literatur hervorgehoben, obwohl man Zweifel daran haben darf, inwieweit Bismarck, der selbst äußerst unsentimental war, sich auf die Gefühle anderer verließ. In neueren Darstellungen wird das Potential bürokratischer Manipulation hervorgehoben. Sicherlich dachte das preußische Staatsministerium lange und gründlich über Methoden nach, die Wahl zu seinen Gunsten zu beeinflussen; der Vorschlag, die »Wahlbeteiligung« durch »ambulante Wahl-Bureaux« zu steigern, die von Haus zu Haus gehen und die Stimmzettel träger Wähler einsammeln sollten, war nur eine der Ideen, die immer wieder auftauchten. Aber die Einsicht, dass solche Maßnahmen »einen starken polizeilichen Beigeschmack« trügen, ließ sie alle wieder in der Versenkung verschwinden.36 Nicht in der Manipulation, sondern in der Organisation lag die Chance der Regierung unter dem neuen Wahlrecht. Bevor Sozialisten und Fortschrittliche auch nur davon träumten, ihre politischen »Maschinen« aufzubauen, und bevor der katholische Klerus zeigte, dass er über eine verfügte, war der Staat schon da. In einer traditionellen Gesellschaft brachte die Fähigkeit des Staats zu ko-

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Retallack: Antisocialism, S. 69; Hannover: Ehrenfeuchter: Willensbildung, S. 211 ff.; Working, S. 271, 279. Wilhelm Kohlsdorf, Bitterfeld, an Bülow, 28. Dez. 1906, BAB-L R 1501/14697, Bl. 56 f.; anonym an Bismarck, Frankfurt a. M., 10. Jan. 1907, ebd., Bl. 146. T. Barth: Erziehung zur Heuchelei, in: Die Zeit II/50 (12. Sept. 1903), S. 741 ff. LR Köhlers Kandidatur geschah beispielsweise gegen den Willen des Regierungspräsidenten! Wie Bismarck 1/5, S. 11. Fairbairn legt großen Nachdruck darauf: Democracy, S. 69 ff., 247. Hierzu Suval: Politics, S. 44. Bodewig: Wahlbeeinflussungen, S. 138; L. v. Bar: Wahlrecht und Beamtenverhältnis, in: Das Recht. Rundschau für den deutschen Juristenstand 14/1 (10. Jan. 1910), Spalten 1–4. Roon: Votum, 27. Mai 1866, BAB-L R43/685, Bl. 23. Bismarck hatte die Angelegenheit erstmals 1864 zur Sprache gebracht: Bismarck an SM, 23. Dez. 1864, ebd., Bl. 11 f.

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ordinieren, zu kommunizieren und zu verteilen sofort jedem Kandidaten Vorteile, den der Staat favorisierte. Je umfangreicher die Wählerschaft, umso größer war der Vorteil – besonders, wenn die Ersetzung der indirekten durch direkte Wahlen die Möglichkeit seiner Gegner beendete, auf einige wenige begrenzte Druckpunkte zu zielen. Eine massive Ausweitung der Wählerschaft, die direkt wählte, in einer Welt, die noch immer dünn besiedelt, ländlich und von kleinem Maßstab war: Dies sollte das Geheimnis des Männerwahlrechts in einem bürokratisch regierten Staat sein. Der infrastrukturelle Vorteil des Staats war tatsächlich beträchtlich. Aber er war ein Vorteil, der, wie wir gesehen haben, beinahe über Nacht verschwand: dank der Bemühungen des Klerus in den katholischen Wahlkreisen, dank konkurrierender Parteiorganisationen in städtischen Regionen anderswo. Außerhalb der ländlichen ostelbischen Gebiete, wo die Provinzialverwaltung weiterhin eine bedeutende Hilfe für die Konservativen darstellte, war die staatliche Infrastruktur, da ihre Erfolge eine Annullierung provozieren konnten, ein schwindender Vorteil. Ein zweiter mutmaßlicher Vorteil für die deutsche Regierung bestand in ihrer Macht, auf eine Niederlage im Parlament mit der Auflösung des Reichstags zu reagieren, und damit das Thema des folgenden Wahlkampfs zu bestimmen.37 Vier Mal, in den Jahren 1878, 1887, 1893 und 1907, tat sie genau das. Diese Wahlen wurden als »Plebiszite« betrachtet – ein Begriff, in dem autoritäre Untertöne mitklingen. Doch obwohl gelegentlich argumentiert wird, dass die bloße Androhung einer Auflösung es dem Kanzler erlaubte, einen widerspenstigen Reichstag zu disziplinieren, spielte diese Drohung im britischen Parlament eine wesentlich größere Rolle, wo Parteien und Kandidaten, und nicht, wie in Deutschland, der Staat die administrativen Kosten einer Wahl tragen mussten. In der Tat haben diese vier Wahlen eine größere Ähnlichkeit mit dem Urnengang, der einer Auflösung des britischen Unterhauses folgt, wenn eine unterlegene Regierung über ihre Politik abstimmen läßt, als mit einem autoritären Plebiszit, bei dem einer sonst mundtoten Öffentlichkeit eine einzige Wahlmöglichkeit geboten wird.38 Im Jahr 1907 verteidigte Bülow tatsächlich die beispiellose Involvierung der Exekutive in den Wahlkampf mit dem Hinweis auf seine Kollegen in England und Frankreich – eine Parallele, die zwangsläufig die Antwort provozierte, dass jene Staatsmänner außerdem Parteiführer seien.39 Dies war ein wichtiger Unterschied – aber einer, der auf die Schwäche der deutschen Regierung hinwies, 37

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Michael Stürmer: Regierung und Reichstag im Bismarckstaat, 1871–1880: Cäsarismus oder Parlamentarismus, Düsseldorf 1974, S. 114; Wehler: Kaiserreich, S. 65. Nuancierter: Steinbach: Zähmung, bes. 3. Bd., S. 1973. Anthony Trollopes Roman Phineas Finn (1869) portraitiert lebhaft die Furcht des unvermögenden britischen Parlamentsabgeordneten vor einer möglichen Auflösung des Unterhauses. Pollmann deutet an, dass 1867 die im wahrsten Sinne plebiszitärste aller deutschen Wahlen stattfand: Parlamentarismus, S. 102 und 102 Anm. 50. C. zu Hohenlohe beschrieb, dass Wahlen im Elsass »völlig plebiszitären Charakter angenommen« hätten. 3. Mai 1893, GStA PK I. HA, Rep. 89/211, Bl. 182 ff. Gelegentlich riefen Bürger selbst nach einem Plebiszit: Prof. Dr. A. Müller, Chemnitz, an Wilhelm II., 16. Dez. 1894, BAB-L R1501/14694, Bl. 60 f. Wiemer (FVp) SBDR 27. Feb. 1907, S. 82.

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nicht auf ihre Stärke. Denn während die Logik des Wahlprozesses den strengen Dualismus zwischen Exekutive und Legislative erodierte und konservative Bürger Bülow drängten, »unter das Volk herabzusteigen«, war die Regierung in einem Netz traditioneller und verfassungsmäßiger Erwartungen gefangen. Daraus resultierte ihr Beharren, dass sie »keine Parteiregierung« sei und eine Politik verfolge, »die Se. Majestät der Kaiser ihr vorgeschrieben« habe.40 Zum Unglück für den Kanzler stimmte die Opposition ihm zu, dass »der schwerste Vorwurf, der überhaupt einer Regierung gemacht werden kann, … der Vorwurf einer Parteiregierung« sei.41 Solange diese gemeinsame Ansicht Bestand hatte, waren Bismarck und selbst Bülow, anders als Gladstone und Asquith, dazu verdammt, mittels Stellvertreter Wahlkampf zu betreiben: sicherlich auch durch Kriegervereine und patriotische Verbände, aber hauptsächlich durch befreundete politische Parteien. Doch spätestens seit 1893 gab es keine Partei mehr, auf die sie sich wirklich verlassen konnten. Die Konservativen und die Nationalliberalen hatten, wenn sie auch gern auf die Ressourcen des Staats zurückgriffen, eigene Programme, die dem Kanzler durchaus nicht immer wünschenswert erschienen. Jenen anderen »Block«-Parteien wiederum, die als Ergebnis des Bülowschen Plebiszits von 1907 gewählt wurden – den Linksliberalen und den Antisemiten –, begegnete die Reichsregierung nur mit allergrößten Bedenken. Aber es gibt noch einen aufschlussreicheren Grund, warum die »plebiszitäre« Option keine wirkliche Möglichkeit für die Exekutive darstellte, Kontrolle über den Reichstag auszuüben. Anders als echte Volksabstimmungen, die eine Regierung gewinnen konnte, waren derartige plebiszitäre Wahlkämpfe stets ein Nullsummenspiel, bei dem man nur verlieren konnte. Es stimmt, dass Bismarck, als er nach der Auflösung des Reichstags im Dezember 1886 auf der Straße erschien, von einer begeisterten Menge begrüßt wurde, die jubelnd ihre Hüte in die Luft warf. Die Auflösung des Reichstags durch Bülow im Dezember 1906 rief ähnliche Reaktionen hervor. Und es stimmt auch, dass aus drei dieser Volksabstimmungen – 1878, 1887 und 1907 – ein Reichstag hervorging, dessen Mehrheit behauptete, die Politik der Regierung zu unterstützen. Aber in jedem dieser Fälle politisierte die Teilnahme an den Wahlkämpfen die Krone selbst, welche doch durch die dualistische Verfassung abgeschirmt werden sollte. Die Interventionen des Königs von Sachsen und des Großherzogs von Baden mochten hier als Vorbilder gedient haben.42 Am auffälligsten aber war Wilhelm II., der nationalistischen Verbänden und rechtsgerichteten Politikern gestattete, seine Person zu ihrem politischen Maskottchen zu machen.

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Mangler: Die Anfechtung von Reichstags-Wahlen, in: DN (25. Feb. 1912), BAB-L R1501/14653, o. S.; Ernst Krieger [Pseudonym?], Leutnant a. D., an Bülow, Bad Kreuznach, 5. Jan. 1907, BAB-L R1501/14697, Bl. 105 f.; Bötticher SBDR 2. Dez. 1882, S. 596 (Zitat). Lasker SBDR 2. Dez. 1882, S. 584; auch Rickert: »über den Parteien«: SBDR 2. Dez. 1882, S. 584, 595. Für die SPD jedoch galt: »Die Frage, ob die Regierung Parteiregierung ist oder nicht, kann uns ganz kalt lassen.« Kayser, ebd., S. 591. Abstreitend, dass die Regierung von der Verfassung her nicht an Wahlen teilnehmen konnte: Zoepfl: Grundsätze, Bd. 2, S. 282–283 Anm. 1. Telegramme an den König von Bayern: Dönhoff an Bismarck, Dresden, 23. Feb. 1887, BAB-L R1501/14642, Bl. 173. Zum Großherzog: Singer SBDR 11. Nov. 1889, S. 230.

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Teil 3: Grade der Freiheit

Dies ist am deutlichsten im Jahr 1907 zu erkennen, als der erste Wahlgang auf den Vorabend des Geburtstags Wilhelms II. fiel. Mit glühender Verehrung für die »muthige Tat« ihres Monarchen, das Parlament aufzulösen, bezeichneten Anhänger der Regierung jede Stimme gegen das Zentrum, die Sozialdemokraten, die Welfen oder die Polen als ein Geburtstagsgeschenk für den Kaiser. Sie gingen in Berlin auf die Straße, um ihm zuzujubeln, als er auf seinem Balkon erschien, um die Ergebnisse der Wahl zu begrüßen. Telegramme, Briefe und Karten – von Alten und Jungen, Männern und Frauen, Arbeitern und Doktoranden – gratulierten ihm zu »seinem« Sieg. Derart eng war die Verbindung zwischen dem »Plebiszit« und der Person des Monarchen, dass Korrespondenten aus so entfernten Orten wie Wien, Amsterdam, Paris, Pau, Eastbourne, Essex, New York und selbst Blomfontain ihm herzliche Wahlgrüße sandten. Vielen dieser Gratulanten ließ der Kaiser seinen persönlichen Dank zukommen.43 Einige der Schreiben waren vergleichsweise harmlos, wie zum Beispiel jene Postkarte, welche die Niederlage des Magdeburger SPD-Mandatsträgers verkündete und von einem Sekthändler, Hermann Spannuth, entworfen worden war. Sie trägt den selbstgefälligen Spruch: »Nur Mut, sagt ›Spannuth‹«.44 Andere waren weniger gutmütig. Eines unter den vielen Gedichten, die an Kaiser Wilhelm geschickt wurden, um seinen »heroischen« Sieg zu feiern, drängte: Majestät, Majestät, nur nicht bangen, Ist Berlin auch noch so rot, Diese Kerls werden doch gehangen, Es lebe die Farbe schwarz-weiss-rot. 45

Dass sie sich auf eine derartige Parteilichkeit einließ, zerstörte die Krone als Symbol nationaler Einheit. Viele Bürger »ekelte« das stillschweigende Einverständnis ihrer Regierung mit den bösartigen Angriffen auf die Opposition »an«.46 Bebel behauptete, die SPD erhalte jedes Mal 100.000 zusätzliche Stimmen, wenn der Kaiser eine Rede hielt. Dieser Abscheu trägt unter anderem zur Erklärung der entmutigenden Geschichte bei, die der Verlauf der Stimmkurve erzählt, selbst bei »Plebiziten«, die spektakuläre »Gewinne« – gemessen an der Anzahl der Sitze – für die Regierungsparteien bedeuteten.47 1887 gewann das 43

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Es finden sich 120 in dem Beiheft von GStA PK I. HA, Rep. 89, o. S. Weitere Gratulationen im Königlichen Geh. Civil-Cabinet, ebd., Rep. 89/215. LR Frhr. v. Lauer aus Ottweiler, Trier, an Wilhelm II., 7. Feb. 1907, der um Erlaubnis bittet, die Presse der nationalen Parteien das Telegramm des Kaisers an ihn selbst veröffentlichen zu lassen, um es gegen die Z-Presse von Dasbach zu verwenden. Antwort: »Unbedenklich.« GStA PK I. HA, Rep. 89/213. Fr. Krupp gründete die Süddeutsche Korrespondenz, um Süddeutschland mit einem »ganz auf die Person des Kaisers ausgerichteten Blatt« zu versorgen. Jaeger: Unternehmer, S. 184. Der Trend ist in Heinrich Manns Der Untertan satirisch dargestellt. GStA PK I. HA, Rep. 89/215. Stammtisch Müller, Dresden, ebd.. Amicus an Bülow, nicht datiert (kurz vor der Wahl von 1907), BAB-L R1501/14697, Bl. 107 f. Ein Aufruf zu Frieden und Mäßigung zwischen Regierung und SPD (mit einem Versprechen, dasselbe Herrn Bebel mitzuteilen), N. N. (Name »thut nichts zur Sache!«) an Bülow, Berlin, 3. Jan. 1907, ebd., Bl. 73. Notiz von Le Maistre, Darmstadt, an Bismarck, 23. Feb. 1887, BAB-L R1501/14642, Bl. 177. Zu Bebel:

Kapitel 12: Schlussfolgerungen

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Abb. 12: Postkarte, die den Sieg des Fleischermeisters Wilhelm Kobelt (Lib) über den SPD-Mandatsträger in Magdeburg 1907 feiert und von Hermann Spannuth, Sekthändler, bezahlt wurde. Auf der Rückseite ist Bülows Antwort auf das Siegestelegramm der »nationalen« Parteien von Magdeburg abgedruckt, der ihnen für ihren Einsatz und ihre Geschlossenheit dankt. Spannuth schickte die Postkarte »aus Freude« an den Kaiser; er habe die Gelegenheit benutzt, um sich respektvoll vorzustellen. Quelle: Postkarte Wilhelm Kobelt, BStA PK I. HA, Rep. 89, Nr. 215 (Königliches Geheimes Civil-Cabinet, Akten betr. den Deutsche Reichtag), Beiheft o.D. (Huldigungstelegrame, die auf den Reichstag bezug haben)

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Teil 3: Grade der Freiheit

siegreiche Kartell nur 47,3 Prozent der Stimmen, die noch breitere Koalition der Bülowschen Blockparteien 1907 hingegen nur 38,9 Prozent. Das bedeutete, dass 61,1 Prozent der Wähler im Land für die Opposition gestimmt hatten. Jede plebiszitäre Wahlkampagne förderte darüber hinaus eine Mobilisierung, die immer weitere Kreise der Bevölkerung in den Dunstkreis von Parteien zog und somit jene politische Konsenskultur zerstörte, nach der sich viele ältere Deutsche so sehr sehnten – und auf der die Autorität des Monarchen letztlich beruhte. 1907 gewannen die Polen und das Zentrum, deren begrenzte Wählerschaften bereits in hohem Grad mobilisiert waren, dennoch hunderttausende neue Stimmen hinzu: Ein Zeitgenosse merkte diese »geradezu kolossalen Gewinne« an. Die SPD gewann eine Viertelmillion neuer Wähler, wenn sie auch Mandate verlor. Bestenfalls waren plebiszitäre Siege kurzfristige Lösungen, bei denen auf jedes künstliche Hoch ausnahmslos und auf der Stelle ein Tief folgte, das die Gesamtstimmenzahl für die Regierung bei der nächsten Wahl sogar noch niedriger als zu ihrer Ausgangszahl vor dem Plebiszit sinken ließ. Und für die Zukunft blieben der Regierung zudem weniger an bislang nicht mobilisierten Reserven. Die drei erfolgreichen Wahlkämpfe von 1878, 1887 und 1907 waren daher bloße Luftblasen in einer Popularitätskurve, die von 1871 bis 1912 unaufhörlich sank.48 Was die anderen Wahlvorteile für den Kanzler anging, so waren diese tatsächlich minimal. Die Kreisblätter, die seine offiziellen Standpunkte veröffentlichten (wenn auch um den Preis ständiger Proteste);49 eine »Reptilienpresse«, die geheime Subventionen brauchte, um zu überleben;50 Beihilfe an Gruppen, die sich für die Feinde der Regierung vielleicht als störend erweisen könnten (75.000 Mark gingen an Kaplan Eduard Cronenberg, der in den 1870er Jahren ein Stachel im Fleisch des Aachener Zentrums war – aber unfähig, es zu besiegen).51 Das Militär konnte die Reservisten kurz vor einer Wahl zusammenziehen – was, wie man hoffte, die Neigung der Männer, »patriotisch« zu wählen, vergrößern könnte, sobald sie nach Hause zurückkehrten.52 Unter Innenminister Puttkamer machte bekanntermaßen der Staat das Leben der regierungsfreundlichen Parteien leicht, indem er die Gesetze solchermaßen interpretierte, dass die Wahlbezirke so klein – und die Stimmabgabe so transparent – wie nur möglich waren.53 Berüchtigt war die Fähigkeit des Staats, Herausgeber und Stimmzettelverteiler zu schikanieren, (zumindest zeitweilig) politische Veranstaltungen zu schließen sowie Kritik unter dem Vorwand der Majestätsbeleidigung zu verfolgen – was 48

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Hall: Scandal, S. 155. Zitat aus: Beschämende Zahlen, in: Die Neue Gesellschaft 3/19 (6. Feb. 1907), S. 217. Die Summe der Stimmen, die 1881 für die K, FK und NL Parteien abgegeben wurden, lag 6,4 Prozent unter der von 1877, 1890 um 4,3 Prozent unter der von 1884 und 1912 um 1,5 Prozent unter der von 1903. Errechnet aus Ritter u. Niehuss: Arbeitsbuch, S. 38 ff. Sperbers ähnliche Argumentation: Voters, S. 268 f. BAB-L R1501/14694, Bl. 196; Sachsen 13, AnlDR (1887/88, 7/II, Bd. 4) DS 212, S. 907; Zangerl: Opening, S. 276 f.; Fenske: Landrat, S. 446 ff. Geheime Subventionen des MdI und Politik der Kreisblätter: K. Müller: Strömungen, S. 57 ff. Lerman: Chancellor, S. 116 ff.; Saul: Kampf, S. 191 ff. Hierzu Napoleon III. in: Zeldin: System, S. 112 f. Lepper (Hrsg.): Katholizismus, bes. S. 177 f., 186 f., 194 ff. So geschehen in Sachsen: Dönhoff an Bismarck, Dresden, 23. Feb. 1887, BAB-L R1501/14642, Bl. 173 f. Puttkamer an den RP, 7. Sept. 1884, BAB-L R1501/14642, Bl. 9, 39.

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um 1900 jährlich nahezu 300 Bürger betraf. Einzelne Amtsträger konnten auch von der freien Rede abschrecken, indem sie eine Reihe von Verleumdungsklagen anstrengten. Bismarck persönlich soll für bis zu 1.600 solcher Verfahren verantwortlich gewesen sein.54 Aber das Gesetz, das dem Staat Macht verleihen konnte, schränkte, wie wir bereits festgestellt haben, diese auch ein. Schließlich war der Kanzler in der Lage, mit Hilfe seiner Verwaltungsbefugnis den Zeitpunkt der Wahlen und der Stichwahlen so zu legen, dass sich der Termin zum Vorteil der Regierung auswirken sollte.55 Aber selbst hier ließen gesetzliche und prozedurale Überlegungen wenig Raum für Manöver.56 Letztendlich konnte keine Manipulation des Zeitpunkts den Mangel an Wahlmöglichkeiten wettmachen, was sich spätestens 1912 herausstellte, als die Reichsregierung beschloss, die Stichwahlen an drei verschiedenen Terminen stattfinden zu lassen, die wiederum über fünf Tage verteilt waren. Es war diese Entscheidung, die den Schlüssel zu den seltsamen Ereignissen in Nordhausen birgt, mit denen dies Kapitel begonnen hat. Obwohl die örtliche Rechte ursprünglich versprochen hatte, Otto Wiemer bei der Stichwahl zu unterstützen – wohl wegen Zusicherungen, die er gemacht hatte –, war Wiemer als Führer der Fortschrittlichen gleichwohl landesweit eine Reihe von Vereinbarungen mit der SPD eingegangen. Diese wurden zwar zunächst äußerst geheim gehalten, aber gleich die ersten beiden Serien von Stichwahlen offenbarten der Öffentlichkeit, in welcher Richtung der fortschrittliche Wind blies. Als am fünften Tag Wiemers eigene Stichwahl stattfand, erwiderten die Rechten das, was sie als Verrat ansahen, indem sie eine abrupte Kehrtwende vornahmen und ihre Unterstützung dem Sozialdemokraten zukommen ließen.57 Dieser Tatsache – der Entscheidung des Kanzlers, die Stichwahlen nicht an einem Tag zu veranstalten – verdankte Oskar Cohn wirklich seinen »Regierungs-«Sieg, und nicht dem Einfluss der örtlichen Bürokratie. Es wird niemanden überraschen, dass eine Regierung, die durch ihre verfassungsmäßigen Vorgaben derart handlungsunfähig gemacht wurde, ständig Überlegungen anstellte, das Gesetz zu ändern, das ihr die Mehrheiten vorenthielt, 54

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Irene Fischer-Frauendienst: Bismarcks Pressepolitik, Münster 1963, S. 18; Suval: Politics, S. 42; LR Frhr. v. Riedesel, 30. Juli 1891, BAB-L R1501/14667, Bl. 51v; drei Jahre Gefängnis für Majestätsbeleidigung: 1899, BAB-L R101/3386, Bl. 187 ff. Siehe Kap. 9, Anm. 51; LR Seydewitz aus Görlitz, nicht datiert (ca. 1881), zitiert in: Wie Bismarck 1/5, S. 9. Bitten von Bürgern an Bismarck bezüglich der Wahltermine: unsigniert, Königsberg, 9. Juni 1878; Dresden, 13. Juni 1878: BAB-L R1501/14693, Bl. 34 f.; Große Carnevalsgesellschaft zu Cöln, 17. Jan. 1887, Gelbke v. Benediktus ans RdI, Dresden, 17. Feb. 1887; Bismarck an Puttkamer, 14. Feb. 1887, alle in BABL R1501/14642, Bl. 105 f., 124, 147; B. Gehle (Arbeiter) an Bismarck, München, 4. Jan. 1907, BAB-L R1501/14697, Bl. 91 f. Protokolle des SM und Memo dazu: BAB-L R1501/14460, Bl. 121. Die Öffentlichkeit begriff die Vorteile unterschiedlicher Wahltermine: Rickert u. a., Anfrage 29. Aug. 1883, BAB-L R1501/14451, Bl. 188. Debatte über Wahltermine während des gesamten Jahres 1902 in VossZ, Danziger Ztg, Berliner Börsen-Ztg, Deutsche Tageszeitung, FrZ, Berliner Neueste Nachrichten, Badische Landes-Ztg, National-Ztg, Reichsbote. BAB-L R1501/14455, und wieder 1911 (BAB-L R1501/14460): Deutsche Tageszeitung, VossZ, BT, Deutsche Juristenzeitung, Der Tag. Auf der Grundlage von Bertram: Wahlen, S. 224 ff., 241 f. In Schleswig-Holstein 4 weigerte sich der BdL unter ähnlichen Umständen, seine Stichwahlvereinbarung mit den NL einzuhalten. Hof SBDR 28. März 1912, S. 1137.

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Teil 3: Grade der Freiheit

die sie benötigte, um ihre Arbeit auszuführen. Jahrelang erforschten, berieten und debattierten die Reichsbeamten eine ganze Reihe von Ideen, einschließlich derer, die ihr freundlich gesinnte Wähler ihr nahelegten.58 Aber jede Änderung, wie minimal auch immer, riskierte eine Diskussion über die Grundprinzipien, die sich im Schneeballprinzip ausweiten und zu einer umfassenden Gesetzesänderung führen konnte, und die wenigen übrig gebliebenen Bastionen der Unterstützung der Regierung auch noch aufs Spiel setzen konnten.59 Darüber hinaus war es höchst unwahrscheinlich, dass eine Reform, die den regierungsfreundlichen Parteien zugute kam, jemals den Reichstag passieren würde. Das Wissen um diese absolute Barriere war es, das einige Rechte daran denken ließ, das demokratische Wahlrecht gänzlich abzuschaffen. Der Staatsstreich war, wie wir in Kapitel 8 erfahren haben, eine ständige Versuchung, zu der sich aufeinanderfolgende deutsche Kanzler wiederholt hingezogen fühlten, aber von der sie letztlich wussten, dass sie ihr widerstehen mussten.60 Denn die einzige gangbare Alternative zum Übergang zu einer parlamentarischen Monarchie war der Anspruch der Reichsregierung, »der Staat« zu sein, das heißt, die Verkörperung des Gesetzes, oder zumindest sein unparteiischer Verwalter. Parteilichkeit wirkte sich zerstörerisch genug auf dieses Ideal aus, was die Regierung mit einem gewissen Unbehagen spürte – wenn sie dies auch nicht davon abhielt, weiterhin in parteiischer Weise zu intervenieren. Illegalität jeglicher Art würde sie umbringen. Trotz aller Befürchtungen Max Webers und anderer vor einem »Cäsarismus« war, soweit es die Wahlen betraf, die angemessene Metapher für die Regierung nicht Caesar, sondern Gulliver.61 Doch wir müssen vorsichtig sein. Auch wenn die Regierung schwach war, so war doch der Staat stark. Seine Stärke lag nicht in der Macht, Wahlergebnisse zu bestimmen, sondern in seiner Fähigkeit, die Grundvoraussetzungen, also das essentielle Rahmenwerk aufrechtzuerhalten, in dem die Wahlen stattfinden konnten. Dankwart Rustow beschreibt in seinem »dynamischen Modell« demokratischer Übergänge nur einen Aspekt dieses Rahmenwerks: klare geographische Grenzen, die von den meisten Bürgern anerkannt werden. Indem Rustow seine »Voraussetzungen« für die Demokratie auf diesen einen Punkt beschränkt, wird er der Rolle des Staats nicht gerecht. Denn nicht nur die Solidität der Grenzen, sondern die Stärke des Staats und die Erwartungen, die die58

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Z. B. zur Wahlpflicht: Reichskanzlei an SSdI, 21. Jan. 1907, BAB-L R1501/14458, Bl. 65; MdI an SS des AA, 4. Mai 1907, ebd., Bl. 67; T. L[ewald?], Ministerialdirektor, ebd., 14460, Bl. 191–198. Zeitungsartikel hierzu: ebd., 14459, Bl. 84, 86–89. Siehe Kapitel 10, Anm. 108. Auch: Puttkamer an Bismarck, und dessen Antwort: 25. März 1887, BAB-L R 1501/14452, Bl. 221–223. Einige Wähler kamen auch in Versuchung: BAB-L R1501/Akten: 14693, Bl. 36 f.; 14697, Bl. 144 f.; BAB-L R43/685, Bl. 219 f. Andere rieten zu uneingeschränkter Unterstützung des RT-Wahlrechts: BAB-L R1501/ Akten: 14694, Bl. 191 f.; 14697; Bl. 76 f., 91 f. D[elbrück]: Auflösung, S. 184 ff. Cäsarismus: Mommsen: Weber, S. 7. Ich habe bei den Wahlen keinerlei Anzeichen dafür gefunden, dass Bismarck als Kanzler über irgendwelches Charisma verfügte; seine charismatische Autorität entwickelte er nach seiner Entlassung. Im Gegensatz dazu Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 483 f., 849 (wo er die wesentlich treffendere Beschreibung »der Große Koordinator« gebraucht), 865, 1293. Ich schätze die Fairness der deutschen Gerichte höher ein als Hall: Scandal, S. 70 ff. Unterstützende Indizien: Ernst: Polizeispitzeleien, S. 50, 64 ff., 75.

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ser bei seinen Bediensteten und der Bevölkerung im Allgemeinen weckt, lassen überhaupt erst den Konflikt zu einer Konkurrenzsituation werden. James Madison würde sagen: Eine Regierung muss sowohl fähig sein, die Regierten unter Kontrolle zu halten, als auch verpflichtet werden, sich selbst unter Kontrolle zu halten.62 Ein Staat muss in der Lage sein, ein Mindestmaß an ehrlicher Auszählung zu garantieren, und vor allem, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Von diesen Voraussetzungen war auf den vorhergehenden Seiten nicht viel die Rede, denn es ist immer deren Abwesenheit, nicht deren Anwesenheit, die von den Zeitgenossen bemerkt wird.63 Es gibt natürlich keine absoluten Kriterien, festzustellen, wann ein Staat stark »genug« ist. Der deutsche Beamte war (in einigen Kreisen) berüchtigt für seine Arroganz und seine haarspalterische Beachtung bürokratischer Vorschriften; andererseits wurde er ebenso dafür gefeiert (in anderen Kreisen), »auch die Rechte seiner Verwalteten, selbst dem Staate gegenüber«, zu vertreten. Wir brauchen weder die Kritik noch die Verklärung zu schlucken, um anzuerkennen, dass der deutsche Obrigkeitsstaat seine Wähler besser schützte als der englische liberale Staat zur Mitte oder der amerikanische oder italienische Staat am Ende des 19. Jahrhunderts – wo Schädelbrüche eine normale Begleiterscheinung von Wahlen waren. Man braucht kein Apologet zu sein, um zu erkennen, dass der deutsche Staat wohl besser ausgerüstet gewesen wäre, die Gewöhnung an demokratische Vorgänge zu fördern als selbst die friedlicheren Regionen des amerikanischen »Parteienstaats« in der gleichen Ära – als dessen Bürokratie, Polizei und Gerichte sich oftmals ganz offen aus Parteimitgliedern rekrutierten, und dessen Große Geschworenengerichte, die als Parteimaschinen geführt wurden, sich manchmal weigerten, Wahlbeamte wegen Wahlbetrugs unter Anklage zu stellen.64 Wir haben bisher gesehen, dass die Vertreter des Staats grob ungerecht sein konnten. Aber das Ideal einheitlicher Vorgehensweisen, das von einem neutralen Beamtenstand durchgesetzt wurde, setzte einen Standard, der gewöhnlich nicht nur Kontrahenten im Zaum zu halten, sondern auch das staatseigene Personal zu zügeln vermochte. Dementsprechend existierten selbst für die selbstherrlichsten Beamten klare Grenzen. Wahlbeobachter wurden aus Wahllokalen herausgeworfen, aber meines Wissens wurde kein Deutscher jemals wegen 62

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Wörtlich: »Man muss zuerst die Regierung befähigen, die Regierten unter Kontrolle zu halten, und dann sie selbst verpflichten, sich selbst unter Kontrolle zu halten.« In Madison: Federalist, zitiert in Huntington: Meaning, S. 24. Rowdytum zu Wahlzeiten war nicht unbekannt: Hörde (Schläger der Arbeitgeber gegen SD), AnlDR (1890/91, 8/I, Bd. 3) DS 292, S. 2055, 2057; Gumbinnen 7 (K gegen NL), AnlDR 1912/14, 13/1, Bd. 23) DS 1586; Harburg 1878: Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 133. 1884 wurden Truppen nach Darmstadt gerufen, nachdem die SD zwei F Wahlveranstaltungen aufgelöst hatten: White: Party, S. 132. Es gab Tumulte bei Siegesfeiern, besonders wenn die Verlierer sich betrogen fühlten, wie die Polen in Schwetz und die ZAnhänger in Saarbrücken. Bertram: Wahlen, S. 203. Aber dies waren Ausnahmen – und es wurden jeweils auf der Stelle Polizeikräfte eingesetzt. A. Ernst v. Ernsthausen: Erinnerungen eines preußischen Beamten, Bielefeld und Leipzig 1894, S. 287 (Zitat); Otto Hintze: Der Beamtenstand, in: Vorträge der Gehe-Stiftung zu Berlin 3, Leipzig 1911, S. 1 ff., bes. 69, 72, 74, 76; Argersinger: Perspectives, S. 682. Ernst: Polizeispitzeleien, S. 50. Wenn SD behaupteten, das MdI schicke Provokateure in ihre Reihen, gaben ihnen die Gerichte gelegentlich Recht. Ebd., S. 64 ff., 75.

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Teil 3: Grade der Freiheit

Wahlwerbung ernsthaft verletzt, geschweige denn totgeschlagen. Polizisten und örtliche Beamte fühlten sich nur allzu berechtigt, oppositionelle Stimmzettel bei den Verteilern zu konfiszieren und sie selbst einem Wähler aus der Hand zu reißen. Aber niemals, soweit mir dies bekannt ist, wurden Stimmzettel von der Polizei vernichtet, wenn sie einmal eingeworfen waren; und die Polizei erlaubte auch niemand anderem, dies zu tun.65 Mit Rustow, Przeworski und anderen Theoretikern lässt sich die Demokratie »in erster Linie als eine Frage des Verfahrens statt der Substanz« und als »Institutionalisierung der Ungewissheit« sehen. Dementsprechend wird die Fähigkeit eines Staats, die Stabilität seiner Verfahrensweisen – die Gewissheiten, innerhalb derer die »Ungewissheit« fruchtbringend arbeiten kann – zu garantieren, zu der entscheidenden Komponente bei der Kanalisation der Konflikte, die die Substanz des politischen Lebens ausmachen.66 Der deutsche Staat erwies sich als sowohl willig als auch fähig, die Regeln durchzusetzen, selbst gegen sich selbst. Das Reichsamt des Innern und die Kanzler wurden, ex officio, vom Parlament verpflichtet, sicherzustellen, dass eigensinnige Mitgliedsstaaten sich an die Reichswahlgesetze hielten. Selbst Bismarck war hiervon betroffen, als er den Fall eines Mecklenburger Gärtners vertreten musste, sicherlich des Letzten in der ländlichen Hackordnung, der unberechtigterweise seiner Stimme beraubt worden war. Dem Eisernen Kanzler gelang es schließlich, Mecklenburg dazu zu bewegen, seinen Wahlvorstand zu disziplinieren – aber nur, indem er drohte, das Großherzogtum nicht gegen eine Interpellation im Reichstag zu verteidigen.67

Hierarchie, Gemeinschaft und Wettbewerb Ein großer Teil meiner Darlegungen hat sich bisher mit den Hindernissen für eine freie Wahl befasst. Jene Hindernisse, mit denen die Deutschen am kontinuierlichsten konfrontiert waren, kamen jedoch von einer Seite, auf die der Staat beinahe keinen Einfluss ausübte: von alteingesessenen örtlichen Hierarchien und von Beziehungen, die auf wirtschaftlichen und sozialen Interessen beruhten. Wir haben erfahren, wie lokale Größen erwarteten, über die Nominierungen und die Stimmabgabe zu entscheiden, und wie sie diese Erwartungen durchsetzten. Da sie oft ebenso streng waren, wenn das Ergebnis vorhersehbar war wie wenn es ein Kopf-an-Kopf-Rennen gab, ist es klar, dass ihre Motive wenig mit Zweckdenken und viel mit Autorität zu tun hatten.

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Angezeigte Fälle wurden verfolgt. BAB-L R1501/14703, Bl. 271–286. Hamburg im Vergleich mit Preußen: Kutz-Bauer: Arbeiterschaft, S. 368 ff., 381 ff., 413 f., 414 Anm. 289. Vorgehensweisen: Rustow: Transitions, S. 345; Unsicherheit: Przeworski: Democracy, S. 15, 26, 32. Anderson: Voter, S. 1474. Hohenlohe sprach die gleiche Drohung aus, als Württemberg nicht gleich nach dem Tod eines Mandatsträgers eine Wahl ansetzte. H. (unterzeichnet v. Posadowsky) an Württ. SM, 30. März 1898, BAB-L R1501/14454, Bl. 118–220. Abstreitend, dass die Reichsregierung eine gesetzliche Verpflichtung habe, die Interpretation des Reichstags bezüglich der Wahlgesetze zu vertreten, während er gleichzeitig bestätigt, dass diese dies weiterhin tun werde: Dr. Schulze im RdI, nicht datiert (ca. 1912), BAB-L R1501/14460, Bl. 412 f.

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Schließlich lag es in der Natur des Reichstagswahlrechts, dass jede Wahl zur Herausforderung der Autorität wurde. Am Wahltag geschah es regelmäßig, dass »auch der Gedrückteste und Elendeste, der Jahr für Jahr hindurch sich niedergedrückt und geknechtet sieht, einmal Menschengefühl und eine Menschenwürde bekommt und sich sagt: Ich bin einmal auch ein Mann, der etwas gilt; ich, der ärmste Mann und der gedrückteste Tagelöhner, gelte so viel wie der Herr Gutsbesitzer«.68 Diese Veränderung des Selbstbewußtseins ist die deutlichste Folge des allgemeinen Wahlrechts. Der »moralische Status«, den es verleiht, behaupten Martin Harrop und William Miller, »wirkt als weiterer Schutzschild … eine Quelle der Selbstachtung, die die wichtigste Grenze der Ausbeutung überhaupt darstellt«.69 Dass die Deutschen ihre neue Würde zu schätzen wussten, bewiesen nicht nur die Wahlbeteiligungen, die schließlich über 80 Prozent betrugen (denn wie wir gesehen haben, konnten einige dieser Männer gar nicht anders als zu wählen), sondern vor allem die Abneigung der Armen dagegen, öffentliche Unterstützung zu empfangen, da sie dann das Wahlrecht verloren.70 Auch für die kleinen Leute besaß das Wahlrecht eine Bedeutung, die außerhalb jeglicher Proportion im Verhältnis zu einer vorhersehbaren Wirkung auf die Politik stand. Es überrascht daher nicht, dass der »Tag der Gleichheit« für den Arbeiter zum »Tag des Schreckens« für den Meister wurde.71 Wie ein Bürger in seinem Brief dem Kaiser anvertraute: »Wenn ich das Schicksal des Staates entscheiden kann, wenn ich ebensoviel politische Macht habe, als der Herr Pfarrer oder der Herr Baron, so muß ich auch berechtigt sein, ebenso gut zu essen wie der Herr Pfarrer und der Baron, so schließt der einfache Wähler.« Diese Schlussfolgerung mag nicht direkt, wie der Schreiber glaubte, zum »Kommunismus« geführt haben. Aber sie schuf doch eine kognitive Dissonanz, die einen kritischen Geist förderte – den Geist einer »beständigen latenten Revolution«.72 Die Auswirkung wurde im Verhalten der Kandidaten sichtbar. Am Wahltag »muss auch der hochwohlgeborene Herr Graf oder Seine Durchlaucht, der Fürst, sich wohl einmal herbeilassen, er muß ›gnädigst geruhen‹, in die Mitte seiner Wähler zu treten«, freute sich Bebel hämisch.73 Hinweise darauf gab es bereits 1872, als der Herzog von Ratibor, der erst ein Jahr zuvor sich geweigert hatte, auch nur auf Fragen seiner Wähler zu antworten, erstmals »gnädigst geruhte« sich zu bemühen, sein Mandat vom Zentrum zurückzuerobern. In seiner Erkenntnis, dass die verarmten Oberschlesier sich kaum mit ihm identifizieren würden, bemühte sich der Herzog nun außerordentlich, zu betonen, dass er sich 68

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Kayser SBDR 9. Dez. 1885, S. 245 f. (Zitat); ähnlich: Helldorf SBDR 9. Dez. 1885, S. 243; und 3. Feb. 1888, S. 699 – aber dann machte er einen Rückzieher: 747. Zitiert (gemeinsam mit Rauchhaupt [K] SBHA, 6. Dez. 1883) von Rickert SBDR 7. Feb. 1888, S. 743 f.; Joh. Georg Allen, Dresden, an Wilhelm II., 1. März 1903, BAB-L R1501/14695, Bl. 93–105; Treitschke klagte, dass das Wahlrecht den Massen eine »phantastische Überschätzung der eigenen Macht und des eigenen Wertes« gebe. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 400. Harrup u. Miller: Elections, S. 260 f. Tennstedt: Sozialgeschichte, S. 205, auch Warren: Saxony, S. 67. Kayser, in seiner Interpretation von Minnigerodes Pamphlet von 1881: SBDR 9. Dez. 1885, S. 245 f. Joh. Georg Allen, Dresden, An Wilhelm II., 1. März 1903, BAB-L R1501/14695, Bl. 93–105. SBDR 10. Dez. 1885, S. 281; auch Singer SBDR 3. Feb. 1888, S. 692.

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mit ihnen identifiziere. »Ich bin unter euch geboren«, verkündete er (in Wirklichkeit war er im Schloss Rotenburg in Hessen geboren). »Ich spreche zu Euch wie der Bruder zum Bruder«, kontrastierte er sein eigenes dreißigjähriges Domizil in der Gegend (dort »theilte ich Freud und Leid mit meinen Wählern«) mit dem Berliner Wohnsitz seines Gegners, eines Mannes, der, wie er betonte, »kein Wort polnisch« sprach.74 Aber obwohl sein eigenes Polnisch ziemlich gut war, zogen die Anspielungen des Herzogs auf die Gemeinsamkeit nicht, denn die demokratische Politik begann bereits, den Gemeinschaftssinn von der bloßen physischen Nähe zu trennen. »Was sollen wir einen Herzog wählen, der gar nicht bei uns wohnt?«, fragten die Bürger im angrenzenden Landkreis mit Blick auf den Herzog – und wählten wieder den Berliner Kaplan Eduard Müller. Indem sich das Kriterium für ein öffentliches Amt spürbar von der natürlichen Überlegenheit über den Wähler zu einer Identifikation mit ihm verschob (»ein Mann Namens ›Müller‹ bietet schon dadurch eine größere Garantie«),75 waren die subversiven Auswirkungen des neuen Wahlrechts deutlich. Die Bedeutung der Herausforderung wurde durch die Intensität, mit der die Elite hierauf reagierte, noch unterstrichen. Bekanntermaßen minderte allerdings eine wachsende Wirtschaft die Wirkung der Drohungen, Zwangsräumungen und Entlassungen, während die Parteien selbst, in bemerkenswert rascher Zurschaustellung ihrer organisatorischen Energie, Gegendruck ausübten. Den frühsten Schutz für den abweichenden Wähler boten jedoch nicht die Parteien, sondern die Gemeinden, besonders wenn, wie in Sachsen und teilweise auch im Westen, ein dichtes Netz zwischengeschalteter Verbände der »Gemeinschaft« eine Art institutioneller Form geben konnte. In den ländlichen evangelischen ostelbischen Gebieten hingegen blieben, nicht zuletzt wegen der Schwäche solcher Institutionen, große Wählermassen bis zum Ende des Kaiserreichs ihren Vorgesetzten ausgeliefert. Aber anderswo war eine Folge der Reichstagswahlen, dass an manchen Orten die politische und gesellschaftliche Macht des Brotherrn systematisch untergraben wurde. Was die Autorität des katholischen Klerus angeht, so verringerte sich diese nicht, sondern wandelte sich, indem sie in den Dienst einer Partei gestellt wurde, deren Politiker auf nationaler Ebene Laien waren. Die Stärke dieser Solidarität angesichts des Drucks von oben kam nicht von selbst. Sie war das Produkt des Kulturkampfs und eines Klassenkampfs, der sich im ersten Jahrzehnt des Kaiserreichs formierte. Dies waren die »heißen Familienfehden«, die nach Dankwart Rustow eine »in den Kinderschuhen steckende Demokratie benötigt«.76 Beide entsprangen einer komplexen Reihe von Prozessen, aber das neue demokratische Wahlrecht und die Ängste, die es auslöste, waren wichtige Bestandteile derselben. Die daraus resultierenden Polarisierungen beflügelten eine Politik der Identität, die den Zugriff der Gemeinschaft auf ihre Mitglieder noch verstärkte. Historiker des Kaiserreichs, die die Demokratisierung hauptsächlich als »Emanzipation«, nicht als politische Parti74 75 76

Ratibors Geburtsort: Rust: Reichskanzler, S. 609; Zitate 623, 625 f. Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 29. Zitiert von Schröder aus einer Umfrage, die in dem Wahlkreis gemacht wurde: SBDR 22. Nov. 1871, S. 433 f. Rustow: Transition, S. 355.

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zipation schätzten, haben wenig Gutes über die Gemeinschaften zu sagen, deren Robustheit gerade in dem Grad lag, zu dem die einzelnen Mitglieder nicht von ihnen »emanzipiert« waren. Doch häufig waren es diese Gemeinschaftsbande, die den Bürger dazu befähigten, das Kalkül materieller Vorteile zu überwinden, das für erzwungene Stimmabgabe wie auch für den klassischen Klientelismus charakteristisch ist, und »unökonomisch« zu wählen. Das Ergebnis war wohl kaum ein »politischer Massenmarkt«, da der Wähler selten wie ein Konsument handelt und seinen Geschmack als Individuum ausdrückt. Nicht durch die Ausübung individueller Freiheit, sondern durch den Wettbewerb zwischen Gruppen bürgerten sich demokratische Gepflogenheiten in Deutschland ein. Und ein Prozess, der auf nationaler Ebene wirklich als ein Wettbewerb stattfand, war häufig der Spiegel von unzähligen Wahlbezirken, in denen gar kein Wettbewerb existierte. Obwohl ein starkes Element horizontaler Solidarität viele, vielleicht sogar die meisten dieser Bezirke von der Anklage des Klientelismus freispricht, lassen sie sich dadurch aber kaum von der Zuschreibung »Wahlen ohne Auswahl« ausnehmen.77 Gemeinschaft war nicht, wie wir gesehen haben, eine starre Einheit. Während regionale und nationale Organisationen immer mehr Wahlaufgaben übernahmen, trugen sie zu einem abstrahierenden Prozess bei, in dem die Gemeinschaft in etwas Ortsübergreifendes bzw. Ortsunabhängiges umdefiniert wurde: Konfession, Klasse und in den meisten Fällen: Partei. Es waren Abstraktionen wie diese, mit denen sich schließlich der Wähler identifizierte. Die Folgen waren signifikant. Wie Werner Frauendienst es ausdrückte, »lernte« das Volk – dessen Erfahrungen größtenteils noch in Dörfern und Kleinstädten wurzelten – mittels solcher Abstraktionen »in der Kategorie des Reichs [zu] denken«.78 Die Verfestigung der Identitätspolitik, die sich in den »BebelKappen« und dem »Bebel-Haar« der Sozialdemokraten, den »Windthorst-Pfeifen« und »Papst-Tagen« der Katholiken sowie den »Kaiser-Schnurrbärten« der Nationalisten ausdrückte, war es, die zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt als ihre französischen Pendants die neu gegründeten Parteien in Deutschland befähigte, »die Stimmen zu strukturieren«.79 Sie erlaubte es auch den Parteien, jene disziplinierten Wahlkreise zu entwickeln, die so wichtig waren, wenn sie von den Stichwahlen profitieren wollten, die nach 1912 bereits jede zweite Wahl entschieden. Das Ausmaß der Identifizierung des Einzelnen mit diesen Abstraktionen ermöglichte es den Parteien, vom Wähler das Opfer seiner relativen Präferenz in der real existierenden, örtlichen Gemeinschaft zu fordern, zugunsten einer Strategie, die auf die Erlangung einer Höchstzahl von Mandaten auf nationaler Ebene abzielte. Dies war die Art von Opfer, welche 1912 Nordhausens konservative, antisemitische Unterstützung für Oskar Cohn zustande brachte.80 Schließlich waren es diese Identitätsbande, die den Parteien 77 78 79 80

Hierzu Rouquiés Argument (basierend auf Lateinamerika und Afrika) des »geselligen Wählens«: Controls, S. 22 ff. Frauendienst: Demokratisierung, S. 742. »die Stimmen strukturieren«: Leon D. Epstein, zitiert in Fish: Democracy, S. 72 f. Bertram: Wahlen, S. 225 ff., hat Carl Schorskes Argument in: German Social Democracy, 1905–1917: The

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erst ihre Glaubwürdigkeit als Vermittler zwischen ihrem eigenen Wahlvolk und den anderen Parteien gaben und die auch bei der Zusammenarbeit mit diesen Parteien zwischen Öffentlichkeit und Regierung vonnöten waren. Sie erlaubten ihnen, die Aufgabe der Bündelung von Interessen zu bewältigen, ohne die keine konstruktive Gesetzgebung möglich ist.81 Der Stärke dieser Bande – wie auch der wachsenden parlamentarischen Erfahrung seiner Mitglieder – verdankte der Reichstag schließlich jenes Durchsetzungsvermögen, das er seit den 1890er Jahren unter Beweis stellte. Es lässt sich nicht leugnen, dass diese Vorteile für die abstrakte Gemeinschaft einen hohen Preis an lokaler Konformität forderten.82 Die Drohungen mit Ausgrenzung und Boykott sind nicht weniger zwingend als die mit Zwangsräumung und Entlassung. Aber erzwungene Konformität war nicht allein den Wahlen in Deutschland vorbehalten. Jede Interessengruppe – ob Gewerkschaft, Lobby, Kirche oder politische Partei – muss, wenn sie im Namen ihrer Mitglieder handlungsfähig sein will, in der Lage sein, auch Abmachungen in deren Namen einzuhalten. Und das bedeutet, wie Adam Przeworski und andere betont haben, dass sie fähig sein müssen, Mitglieder zu sanktionieren, die versuchen, »ihre individuellen Ziele auf Kosten des Gemeinwohls zu anzustreben. Um Marktmacht auszuüben, müssen Gewerkschaften in der Lage sein, Arbeiter zu bestrafen, die ihre streikenden Kollegen ersetzen wollen; um eine strategische Stärke zu zeigen, müssen Arbeitgeberverbände den Wettbewerb zwischen Firmen einer bestimmten Branche kontrollieren können.«83 Auch Parteien können nur in dem Grad effektiv arbeiten, wie sie fähig sind, Disziplin unter ihren Anhängern zu halten – im Reichstag, sicherlich, aber auch in einem System [Mehrheitswahlrecht], das Stichwahlen nötig machte: in Orten wie Nordhausen sowie hundert weiteren Wahlkreisen. Es ist diese unbequeme Realität, die aus der Perspektive der demokratischen Realität den Druck gerade tolerierbar macht, den die Gemeinschaften auf ihre Anhänger ausüben. Der Schlüsselbegriff hier ist »Anhänger«. Denn freie Wahlen fordern auch, innerhalb jeder gängigen Theorie zur Demokratie, dass erklärte Außenseiter vor derartigen Sanktionen geschützt werden. Wie lässt sich dieses Dilemma lösen? Nur durch eine wirklich geheime Wahl.

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Development of the Great Schism, New York 1955, dass die LL nicht fähig gewesen seien, ihre Wahlabsprachen mit den SD einzuhalten, einer Untersuchung und, wie ich finde, überzeugender Kritik unterzogen. Er weist Schorskes Schlussfolgerung zurück, dass »das Auseinanderklaffen der öffentlichen Meinung der Trennlinie zwischen Mittelklasse und Arbeitern folgte, nicht der zwischen Junkern und Mittelklasse«. Statistik: Suval: Politics, S. 40. Ein Argument, das Nipperdey bezüglich des Z bringt: Geschichte, Bd. 2, S. 492; und Fish, der auf deren Fehlen in Russland hinweist: Democracy, S. 79. Der Widerstand der »Subkulturen« des Reichs gegen das Aufgehen in einer »pluralistisch offenen Gesellschaft« – nicht die Skepsis gegenüber der Macht des Reichstags – bewegt Dieter Langewiesche dazu, die Demokratisierung des Reichs in Frage zu stellen. Das Deutsche Kaiserreich – Bemerkungen zur Diskussion über die Parlamentarisierung und Demokratisierung Deutschlands, Archiv für Sozialgeschichte 19 (1979), S. 628 ff., 640 f. Przeworski: Democracy, S. 12.

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Die Lehrlinge der Demokratie In jeder Gesellschaft, in der, wie im deutschen Kaiserreich, die Regierenden ehrlich und die Bürger abhängig sind und wo die Strafen für Abweichler, ob sie nun von deren Vorgesetzten oder von ihresgleichen verhängt werden, real ausfallen, wird der Schutz der Geheimhaltung der Stimmen zu einem alles überragenden Thema, das so wichtig für die Entwicklung freier Wahlen ist wie der Kampf gegen Korruption in England und gegen Wahlbetrug in den Vereinigten Staaten. Infolgedessen brach die Debatte über das demokratische Wahlrecht, welche die Deutschen in den 1860er Jahren zu führen versäumten, als das Recht des armen Mannes zu wählen von oben zugewiesen wurde, in den 1880ern aus, bei dem Kampf, das Wahlrecht des armen Mannes zu schützen. Die Ambivalenzen hinsichtlich dieses Schutzes waren in Deutschland ebenso stark wie die Ambivalenzen bezüglich der Beendigung der Korruption in England. Sie durchdrangen die Gesellschaft von oben nach unten, da jede Gruppierung ein Interesse daran hatte, Wähler zu überwachen, und jede Partei davon profitierte, wenn sie den gesetzlich vorgeschriebenen Schleier des Wahlgeheimnisses durchdringen konnte. Der institutionelle Rahmen, in dem die deutschen Wahlen stattfanden, erleichterte jedoch Wahlproteste, da die Regierung deren Kosten trug. Und als die Proteste von Einzelnen gegen die Verletzung der Geheimhaltung ihrer Stimmen vor den Reichstag gebracht wurden, zwang die Logik des Parteienwettbewerbs – unter den Argusaugen der Öffentlichkeit, die von einer ständig wachsenden Parteipresse versorgt wurde – alle Seiten (außer den ostelbischen Konservativen, die von der Disziplin des Wettbewerbs weitgehend ausgeschlossen waren), gemeinsam Schutzmaßnahmen zu fordern: Wahlumschläge und Wahlkabinen. Die Verteidigung des Wahlverfahrens durch die Abgeordneten hatte tiefergehende, unbeabsichtigte Konsequenzen. Denn die logische Folge jeder Forderung, dass Wahlen entsprechend dem Wahlgesetz durchgeführt werden müssten, war die Anerkennung, dass alle Gruppen, die durch dieses Verfahren gewählt würden, ihren rechtmäßigen Platz im Reichstag hatten. Je mehr die Abgeordneten also auf den Verfahren bestanden, umso stärker wurden sie in die Verteidigung des Wahlrechts selbst involviert und in dessen ausdrückliches Bekenntnis zur Gleichheit. Schließlich fanden sie sich, zumindest rhetorisch, den Schlüsselaspekten der Demokratie verpflichtet: Gleichheit, Toleranz gegenüber Andersdenkenden, einer offenen Gesellschaft.84 Meine These, dass der Wettbewerb der Wahlen die Antagonisten zu immer demokratischeren Verhaltens- und Argumentationsweisen zwingt, wird bereits durch die Vorgänge von 1898 bestätigt, als die SPD und das Zentrum um die Verteidigung des Reichstagswahlrechts wetteiferten und dieses schließlich zu einem zentralen Thema des Wahlkampfs machten. Die Linksliberalen stiegen in den Wettkampf ein, wie schließlich auch 84

Analoge unbeabsichtigte Konsequenzen in Wien: Boyer: Culture, S. 288.

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die meisten der Nationalliberalen, deren Führung im Reichstag nun entschieden nach links rückte. Die Tatsache, dass die Konservativen es 1912 für nötig befanden, ihre Unterstützung »für eine ungeschwächte Kaisergewalt« zum Wahlkampfthema zu machen, zeigt uns, wie sehr das Gleichgewicht sich bereits zugunsten des Reichstags verschoben hatte.85 Die öffentliche Verteidigung – und Durchsetzung – des allgemeinen Wahlrechts durch die Mehrzahl der Abgeordneten bedeutete nicht, dass diese ausnahmslos wünschten, dass der Reichstag noch repräsentativer würde. Noch bedeutete es, dass sie sich danach sehnten, dasselbe System der direkten, gleichen und geheimen Stimmabgabe auf andere Gebiete ausgedehnt zu sehen. Obwohl im Jahrzehnt vor dem Krieg die meisten deutschen Länder ihr Wahlrecht reformierten und – mit der Ausnahme von Lübeck, Hamburg und Sachsen – dies in ausgesprochen demokratischer Richtung taten, blieben die Wahlen zum Preußischen Landtag und zu den meisten Rathäusern unreformiert.86 Die Linksliberalen hätten als Folge der Demokratisierung der städtischen und preußischen Wahlrechte Mandate an die Sozialdemokraten und Konservativen verloren; die Nationalliberalen an die Sozialdemokraten und ans Zentrum.87 Im Falle einer Neueinteilung der Wahlkreise und einer preußischen Landtagsreform hätte das Zentrum Sitze an die Linken verloren. Und die Linksliberalen und die Sozialdemokraten – obwohl diese Konsequenz häufig unerwähnt blieb – hätten bei der Einführung eines allgemeinen Frauenwahlrechts Mandate ans Zentrum und an die Konservativen verloren.88 Die Abneigung jeder Partei, politischen Selbstmord zu begehen, sollte uns nicht überraschen. Die Neigung der Historiker dagegen, zwischen idealistischen und eigennützigen Reformvorschlägen, zwischen echten Demokraten und sogenannten Demokraten einen Unterschied zu machen, verschleiert die offensichtliche Tatsache, dass nirgends auf der Welt die politisch Handelnden jemals eine Wahlrechtsreform unterstützt haben, ohne sich deren mutmaßliche Folgen für ihre Partei auszurechnen. Worauf es ankommt, ist, dass der Wettbewerb alle politisch Beteiligten dazu drängte, jene Reformen, die das Eigeninteresse tolerieren konnte, in ein Idiom zu übersetzen, das nur ein demokratisches sein konnte. (Hierzu gehörten im Fall der Linksliberalen die Wahlkreisreform und das Verhältniswahlrecht; im Fall des Zentrums das Reichstagswahlrecht für die Städte; im Fall der Konservativen die geheime Abstimmung für die Landtagswahlen – womit sie 1910 um ihres neuen Bünd85 86

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K Proklamation für Frankfurt 1, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 17) DS 480, S. 529. Wahlkampf von 1898: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 456. Sachsen ersetzte sein Dreiklassenwahlrecht 1909 durch ein Pluralwahlrecht, was die Wahlbeteiligung gefördert haben mag. Die südlichen Länder führten das Verhältniswahlrecht bei einigen Stadtrats- und Gemeinderatswahlen ein. Helmut Croon u. a.: Kommunale Selbstverwaltung im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart 1971, S. 47 f. Daten der Wahlrechtsreformen der Länder: Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 25 f. Richter drohte 1894 seinen Rücktritt an, um seine FrVp zu zwingen, eine Ausweitung des RT-Wahlrechts auf die Kommunalwahlen abzulehnen. Als in Kiel die Anzahl der Stimmen von Arbeitern zu hoch zu werden drohte, erhöhte die LL-Mehrheit im Stadtrat die zum Wählen nötige Mindest-Steuerquote. Erst 1910 unterstützten die vereinigten LL – die FtVp – das Reichstagswahlrecht für Kommunalwahlen. Gagel: Wahlrechtsfrage, S. 143 f., 158; Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 407. Bebel bemerkte dies, Lily Braun nicht. Evans: Movement, S. 9; Braun: Agitation, S. 201 f.

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nisses mit dem Zentrum willen das A und O ihrer bisherigen Position aufgaben.) Dieses Argument beschwor den Willen des Volks als legitime Urteilsinstanz über die öffentlichen Angelegenheiten.89 Weitere Hinweise auf den egalitären Effekt des Wettbewerbs finden sich bei der Betrachtung der Frage des Frauenwahlrechts. In einigen lokalen Gremien besaßen die Frauen bereits ein Stimmrecht: als Haus- oder Grundbesitzerinnen in den ländlichen Kommunen und den Kreistagen der meisten Gegenden mit Ausnahme der preußischen Rheinlande und der bayerischen Pfalz westlich des Rheins; als Lohnempfängerinnen bei den Wahlen der Vorstände der staatlich kontrollierten Versicherungen. Von Anfang an waren sie bei den Wahlkämpfen dabei. Nicht alle ihrer Tätigkeiten waren genau genommen immer legal: Sie »bestachen« Wähler mit Kuchen und Bier; sie vermieteten Betten an Wähler von außerhalb, die ihre Wohnsitznachweise gefälscht hatten; sie wählten stellvertretend für ihre Ehemänner (selbst eine Witwe tat das!). Aber sie hatten auch rechtmäßig teilgenommen: als Zuhörerinnen, für gewöhnlich mit ihren Männern, bei politischen Reden im Freien (sogar noch vor der Liberalisierung des Vereins- und Versammlungsgesetzes von 1908); als Komponistinnen von Liedern zu Siegesfeiern; als Unterzeichnende von Wahlprotesten und Zeugen bei Untersuchungen; als Verteilungsstützpunkte für Hand- und Stimmzettel; als schlecht getarnte Hilfskräfte der Parteien. Bereits 1907 hatte sich Lily Braun, die sich mit den »alten Teutonen« auf dem Kriegspfad verglich, auf der Suche nach SPD-Stimmen in den Wahlkampf gestürzt und sich als glücklichste Kriegerin erwiesen.90 Nach der formalen Liberalisierung von 1908 nahm die Teilnahme der Frauen an der Arbeit aller Parteien enorm zu. Ursprünglich stimmten viele Deutsche vermutlich dem Liberalen Robert von Mohl zu, der 1874 bemerkte: »Der völlige Ausschluss des weiblichen Geschlechts kann selbst bei Solchen, welche die Theilnahme an staatlichen Wahlen als ein natürliches Recht ansehen, kaum einem verständigen Zweifel begegnen. Auch sie müssen einsehen, dass ein Hereinziehen der Weiber in das politische Leben gegen deren Natur ist und von den verderblichsten Folgen für Alle wäre.«91 Die Sozialdemokraten erwähnten das Frauenwahlrecht in ihrem Eisenacher Programm von 1869 nicht, und als Bebel es 1875 beim Gothaer Kongress beantragte, wurde er überstimmt, mit dem Argument, dass Frauen noch nicht genügend Bildung besäßen. Bebel konterte mit einem Argument, das bemerkenswert dem von Dankwart Rustow – und unserem eigenen – ähnelt: »Ein Recht muß geübt werden, und es muss Gelegenheit dazu gegeben werden, wenn man die Wirkungen sehen will … [Bildung] geschieht eben dadurch, daß wir ihnen das Wahlrecht geben, damit sie sich in der Benutzung desselben üben.«92 Erst 1891, 89

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Selbst die K gaben 1910 das geheime Wahlrecht für LT-Wahlen auf, im Austausch gegen die Unterstützung des Z für indirekte Wahlen. Die Wut der NL über den Diebstahl ihrer eigenen politischen Kleider lieferte der Regierung einen Vorwand, die Parlamentarisierung, die im schwarzblauen Antrag impliziert war, zu vereiteln und die Reform zurückzustellen. Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 550 ff., 567 f. Braun: Agitation, S. 200 ff. Mohl: Erörterungen, S. 539. Eine Liste von deutschen Ländern, in denen Frauen, wenn sie nur reich genug waren, in Kommunalwahlen wählen durften: Evans: Movement, S. 10. Zitiert in E. Altmann-Gottheiner: Parteien, S. 596. Der anhaltende Antifeminismus einiger: ebd., S. 597 f.

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bei ihrem Erfurter Kongress, übernahm die Mehrheit der SPD Bebels Ansichten und erst 1895 stellte sie im Reichstag einen dementsprechenden Antrag. Bemerkenswert ist nicht, dass die SPD sich erst spät für das Frauenwahlrecht einsetzte. Die Sozialdemokraten befanden sich hier auf einer Linie mit der fortschrittlichen Meinung ihrer Zeit auch anderswo und lagen dabei ganz sicher nicht weit hinter der großen Mehrheit der deutschen Frauen selbst, die erst 1894 begonnen hatten, sich zugunsten des eigenen Wahlrechts zu organisieren. Bemerkenswert ist vielmehr die Schnelligkeit, mit der die Logik wettbewerbsmäßiger demokratischer Politik andere Parteien dazu führte, dasselbe Licht zu sehen.93 In demselben Jahr, 1895, demonstrierte sogar Adolf Stoecker seine Aufgeschlossenheit für Frauenfragen. Als er 1903 erfuhr, dass in Australien die Frauen bereits wählten, warnte er die Freie Kirchlich-soziale Konferenz davor, »nicht von vornherein neue Dinge als undurchführbar zu bezeichnen und als unmöglich anzusehen … Das volle Frauenstimmrecht ist heute für moderne Kulturverhältnisse bereits ein ganz normaler Zustand.«94 1912 bedienten nationalliberale Frauen in Köln nicht nur die Telefone ihrer Partei, sie schickten sogar ihre eigenen Delegierten zum Parteitag der Rheinprovinz – und legten ihre Interessen den Parteiältesten ans Herz, indem sie auf den Wettbewerb zwischen Sozialdemokraten, dem Zentrum und den Linksliberalen um die Unterstützung der Frauen verwiesen.95 Und obwohl die politische Gleichheit für die katholische Lehre über Autorität in der Familie eine ebenso große Herausforderung darstellte wie für die des Brotherrn am Arbeitsplatz, ließen sich selbst Theologen, wie etwa der Münchener Kardinal Faulhaber, überzeugen.96 Hier sehen wir die Wirkungsweise des Rustowschen Modells. Gleich, welche theoretischen Einwände sie hatten, so mussten doch alle Seiten anerkennen, dass die Aktivitäten der Frauen für ihren eigenen Erfolg wichtig geworden waren.97 Die Folge war, dass die öffentliche Meinung der Männer mit dem wachsenden Wunsch der Frauen selbst nach dem Wahlrecht Schritt hielt. So entstand bereits vor dem Krieg ein breiter Konsens über die Unabwendbarkeit des Frauenwahlrechts, der die mühelose Einführung nach Kriegsende sicherstellte.98 Diese Entwicklung sollten wir nicht als selbstverständlich betrachten. In Frankreich, dem Geburtsland der Menschenrechte, wo die theoretischen Einwände sicher weniger Gewicht hatten als jene der konservativen Pastoren oder katholischen 93

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Dies ist das Thema von Altmann-Gottheiner: Parteien, die eine pragmatische Offenheit bezüglich des Frauenwahlrechts auf der gesamten Breite des politischen Spektrums zeigten, wobei die Unterschiede innerhalb der Parteien ebenso groß waren wie jene zwischen ihnen; auch Wally Zeppler: Frauenbewegung, in: Sozialistische Monatshefte 29, 2. Bd., 14. Heft (14. Juli 1913), S. 53 ff. Kaiser: Politisierung, S. 268. Steinmann: Mitarbeit, S. 13, 18 ff; viele Artikel zur politischen Rolle von Frauen in: Schlesische Freikonservative Parteikorrespondenz, 1913–1914. Im November 1917 beruhigte er den Kölner Kardinal Felix Hartmann mit dem Hinweis darauf, dass der Kaiser, Kanzler Hertling und das Z die seiner Überzeugung nach unausweichliche Ausweitung des Wahlrechts auf die Frauen unterstützten. Cremer: Cross, S. 242 f. Z. B. LL Frauen: Der Wahlkampf in Groß-Berlin, in: BT 41/7, 4. Jan. 1912; »adlige Damen« (K) in Köslin 1, FrankZ Nr. 60, 1. März 1903, BAB-L R1501/14456, Bl. 3; Einsatz von Frauen 1912: Bertram: Wahlen, S. 196 ff. Altmann-Gottheiner: Parteien, S. 584 f.

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Prälaten in Deutschland, wo aber die Entwicklung der Parteien – und damit der Wettbewerb bei den Wahlen – erheblich schwächer war, erhielten Frauen erst 1946 die Gelegenheit, gemeinsam mit den Männern die Nationalversammlung zu wählen.

−−− In den 1890er Jahren brachten die wachsenden Verpflichtungen des Reichstags diesen zunehmend in Konflikt mit den Wünschen des Kaisers, was zu einer, wie einige Historiker es sahen, chronischen Krise führte. Dennoch blieben die Abgeordneten standfest trotz des enormen Drucks der Reichs- und preußischen Minister. Die wichtigsten Entwicklungen der Verfassung dieses Jahrzehnts sind in dem zu finden, was nicht geschah. Der Reichstag und der Preußische Landtag weigerten sich, drei Gesetze zu verabschieden, die darauf gerichtet waren, die Rechte der Arbeiter und der Sozialdemokraten zu beschneiden. Dies geschah zu einer Zeit zunehmender Arbeitskämpfe, während bedeutende Arbeitgeber lautstark nach Abhilfe riefen und die Androhung eines kaiserlichen Staatsstreichs mit dem ausdrücklichen Ziel einer Legislative, die diesen Vorschlägen gerechter würde, in der Luft lag. Die Ablehnung der Umsturzvorlage, des Kleinen Sozialistengesetzes und der Zuchthausvorlage sind Maßstäbe dafür, wie sehr der Respekt des Reichstags für die Rechte der Bürger, aber auch sein Mut, gewachsen war seit jenen Tagen, als er seinen Kulturkampf geführt und wiederholt Ausnahmegesetze gegen die Sozialisten erlassen hatte. Und sowohl der Respekt als auch der Mut waren Maßstäbe für die demokratisierenden Folgen des Wahlrechts – Folgen, die noch deutlicher zu sehen waren, als dieselben Themen im Herbst 1910, anlässlich von Straßenkämpfen zwischen Streikenden und Streikbrechern im Berliner Bezirk Moabit, erneut auftauchten. Der französische Truppeneinsatz zur Niederschlagung von Eisenbahnerstreiks in jenem Oktober hatte einen großen Eindruck beim Kaiser hinterlassen und er notierte, dass Premierminister Aristide Briand von der französischen Deputiertenkammer unterstützt worden war: »So muß es auch bei uns sein!« Aber das Reichsjustizamt schloss aus der Betrachtung des kläglichen Schicksals der Umsturzvorlage sowie der Zuchthausvorlage, dass keine derartige Maßnahme eine Chance zur Verabschiedung haben würde. »Die Mehrheitsparteien, insbesondere das Zentrum, werden nicht geneigt sein, durch Verabschiedung einer solchen Vorlage sich ihre ohnedies schwierige Stellung im Wahlkampfe gegenüber der Sozialdemokratie weiter zu verschlechtern.« Darüber hinaus, warnte das RJA, werde die vorhersehbare Niederlage des Gesetzes die Wahlaussichten der Regierung sehr negativ beeinflussen – besonders, da die SPD die Aktion in ihrem Wahlkampf ausschlachten werde.99 Die Demokratie machte Fortschritte, und dies nicht nur bei überzeugten Demokraten. Das Zweite, was während dieser Kämpfe nicht stattfand, war ein Plebiszit. Im Gegensatz zu Bismarck, der 1878 die liberale Mehrheit für die Ablehnung 99

Zitiert in Saul: Staat, S. 309.

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seines ersten Entwurfs des Sozialistengesetzes bestraft hatte, indem er den Reichstag auflöste und sein Anliegen dem Land zur Abstimmung vorlegte, stellte die Regierung in den 1890er Jahren das Feuer ein. Sie wusste, sie konnte nicht gewinnen. Ihre Kalkulation zeigt, wie sehr seit den 1870er Jahren der Respekt der Wählerschaft selbst für die Rechte der Bürger gewachsen war. Das Dritte, was nicht stattfand, war ein Staatsstreich. Dies war die wichtigste Abwesenheit überhaupt. Denn wie sehr andere Aspekte des Lebens im Kaiserreich auch denen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten ähnlich gewesen sein mögen, in einer Hinsicht war Deutschland wirklich »sonderbar«. Britische und amerikanische Abgeordnete waren niemals bei ihrer täglichen Arbeit mit ständigen »Indiskretionen« konfrontiert, die darauf hindeuteten, dass ihre Regierung drauf und dran war, die Verfassung außer Kraft zu setzen, mittels derer sie doch gewählt worden waren. In Frankreich war die engste Analogie hierzu die Crise du seize mai (Krise des 16. Mai) im Jahr 1877, als Ministerpräsident MacMahon Premier Jules Simon entließ, ohne die Deputiertenkammer zu fragen. MacMahons Fehltritt, den Victor Hugo als »demi-coup« anprangerte, wurde zum Meilenstein in der Geschichte der Dritten Republik, da die Republikaner sich versammelten, um ihr eigenes Verständnis der Verfassung zu verteidigen.100 In Deutschland jedoch wurde die Frage der Verfassung letztlich niemals in dieser dramatischen Weise gestellt. Denn in dem Fall gab die Reichsregierung kampflos nach. Es war sicherlich kein Zufall, dass das Gespenst eines Staatsstreichs in den 1890er Jahren immer wieder auftauchte und dabei immer mehr in die Öffentlichkeit geriet. Aber es war ebenfalls kein Zufall, dass niemals ein Staatsstreich unternommen wurde. Nach zwei Jahrzehnten war der Reichstag einfach zu mächtig und außerdem zu tief und breit in der Achtung der Öffentlichkeit und ihrer Institutionen verankert. Der Cäsarismus, wenn er überhaupt jemals eine ernsthafte Option gewesen war, kam seit 1898 als Option nicht mehr in Frage. Obwohl gelegentlich Gerüchte in der Presse aufkamen und es im Staatsministerium keinen Mangel an Diskussionen darüber gab, wie das Wahlrecht auf legale Weise abgeändert werden könnte, war der Staatsstreich im 20. Jahrhundert tot.101 Hans Delbrück bemerkte hierzu 1907: »Die Wahnwitzigen, die auch heute noch von der Notwendigkeit eines Staatsstreiches sprechen … brauchen nicht ernsthaft genommen zu werden.«102

−−−

100 Dank an meine Kollegin Susanna Barrows für diese Information. 101 Z. B. Votum des MdI zur preußischen Wahlrechtsreform: 7. Nov. 1909, GStA PK I. HA, Rep. 90a, A. VIII. 1.d., Nr. 1/Bd. 10, Bl. 99–125. Anhaltende Gerüchte: Die neue Gesellschaft 3/10 (6. Feb. 1907), S. 217; Crothers: Elections, S. 148 Anm. 120; Saul: Staat, S. 15 f., 34 ff. 102 D[elbrück]: Die Auflösung, S. 187. Auch Wähler warnten vor einem Staatsstreich oder Ausnahmegesetzen. A. Putschke, Geschäftsmann, Zittau, an Bülow, 19. Jan. 1907, BAB-L R1501/14697, Bl. 210–214. Obwohl der Wunsch weiterhin von Reaktionären geäußert wurde (Stegmann: Erben, S. 263 Anm. 46, und ff.; Saul: Staat, S. 306 ff.), tut Kühne »die Allgegenwart der Staatsstreichdrohungen«, für die es keine konkreten Pläne gab, als »Redensarten« ab. Dreiklassenwahlrecht, S. 402 f., 406.

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Was tatsächlich in den 1890er Jahren geschehen war, das war, dass das Parlament angesichts dieser Bedrohung des demokratischen Wahlrechts darauf bestanden hatte, die Macht der Wähler zu stärken – was es durch seine niemals nachlassenden Forderungen nach dem Schutz der Stimmzettel tat.103 Der Sieg erfolgte 1903, als der Bundesrat endlich dem Antrag Rickert zustimmte und den eigenen Staatsapparat zugunsten der neuen Schutzvorrichtungen einspannte. Worin lag die Ursache für die Entscheidung der Regierung zugunsten der Reform gegenüber einer weiteren »Revolution von oben«? War es die Ungewissheit über die Konsequenzen durchgeführter oder unterlassener Reformen? Waren es die eingefleischten Traditionen bürokratischer Korrektheit (besonders deutlich am Beispiel von Posadowsky zu sehen)? War es das Gefühl der regierenden deutschen Elite, dass sie Teil einer größeren Welt sei – der Welt der Wahlrechtskulturen –, in der die ihnen Gleichgestellten nicht der Zar oder der Sultan waren, und nicht einmal der österreichische Kaiser, sondern Belgien, England, Frankreich und (mit gewissem Naserümpfen) auch die Vereinigten Staaten.104 Mit Sicherheit lag die Ursache in allen drei genannten Gründen. An der Zustimmung der Reichsregierung zu Stimmzettelumschlägen und Wahlkabinen können wir »jenen Akt der Entfremdung der Kontrolle über die Ergebnisse von Konflikten« erkennen, nicht nur seitens der Parteien, sondern bei Schlüsselfiguren innerhalb des Staatsapparats, den Adam Przeworski zum »entscheidenden Schritt zur Demokratie« erklärt hat.105 Der Schritt war keineswegs unvermeidlich. Die Sozialdemokraten hätten nicht unbedingt solche Optimisten sein müssen, die ein ausreichendes Maß an vorsichtigem Vertrauen in den Reichstag und den Wahlvorgang setzten, um den anderen Parteien zu erlauben, mit ihnen zu verhandeln. Die Regierung hätte nicht unbedingt derartig pessimistisch sein müssen, furchtsam vielleicht vor dem Ausmaß an Gewalt, sicher vor dem Verlust an Prestige und an Vertrauen der Öffentlichkeit, sollte die Legalität verletzt werden. Die Liberalen, das Zentrum und die Polen hätten nicht unbedingt mit der SPD für die Integrität der Wahlen und die Macht des Parlaments eintreten müssen, statt sich zu einer Front gegen sie zu vereinigen. Die wiederholte Entscheidung, Maßnahmen und Regeln zu akzeptieren, ohne nach Alternativen zu suchen, um einen Konflikt zu kontrollieren, war jeweils eine bewusste Wahl. Diese Entscheidungen strafen die weit verbreitete Behauptung Lügen, dass durch »seine Stellung und Entwicklung der Reichstag des Kaiserreiches völlig ungeeignet [war], die Vorstufe eines demokratischen Parlaments zu werden.«106 Die Entscheidungen basierten auf einer Art von Kosten-NutzenRechnung, wie sie in letzter Zeit von politischen Theoretikern in ihren Abhandlungen zu den Übergängen zur Demokratie hervorgehoben worden sind. Aber wir sollten darüber hinaus nicht die psychologischen Voraussetzungen unterschätzen, die ein jahrzehntelanger Lernprozess geschaffen hatte. In diesem Ner103 Hierzu Beschwerden in: Diäten, S. 306 f. 104 R. Martin schrieb Bethmanns Anweisung an das MdI, demokratische und SPD-Demonstrationen im Freien zuzulassen, den »französischen und englischen Zeitungsstimmen« zu. Machthaber, S. 524 f. 105 Przeworski: Problems, S. 58. 106 Molt: Reichstag, S. 328.

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venkrieg mit der Regierung zeigten die Abgeordneten Stehvermögen und eine Bereitschaft, um Prinzipien und der Macht willen auch Risiken einzugehen.107 Ich möchte die fortschrittlichen Elemente des Umgangs mit den Wahlen in Deutschland nicht übertreiben. Die Ungleichheit und Einschüchterung, die in Ostpreußen weiterbestanden – und von besonderer Bedeutung waren, da die ostpreußischen Stimmen die Gesetzgebung im Preußischen Landtag und dieser wiederum den Bundesrat bestimmen konnten –, riefen erhebliche Wut hervor. Forderungen, das preußische Wahlrecht zu reformieren, welches diese Dominierung ermöglichte, beschäftigten die öffentliche Meinung – und die Regierung – in den zehn Jahren vor dem Weltkrieg, aber ein Konsens über die Art und Weise der nötigen Veränderungen erwies sich als unerreichbar. Aus der Bitterkeit der Debatten über dieses Thema lassen sich zwei Schlüsse ziehen: zum einen über die große Schwierigkeit der Reform, wo eingefleischte Interessen auf dem Spiel standen; sowie zum anderen hinsichtlich des Ausmaßes, in dem die demokratische Teilnahme zu der Norm geworden war, an der alle anderen politischen Fragen gemessen wurden. Die Situation, die das Überleben des preußischen Dreiklassenwahlrechts bis 1918 heraufbeschwor, in einem Jahrzehnt, das Wahlrechtsreformen in siebzehn anderen deutschen Ländern hervorbrachte, »gab dem Hegemonialstaat des deutschen Reiches«, behauptete Thomas Kühne, »eine im nationalen wie im internationalen Vergleich einzigartige Ausnahmestellung …«.108 Jede Situation weist einzigartige Züge auf, doch die Fähigkeit einer regionalen Elite, ihre Macht an einer undemokratischen Peripherie zu erproben, um einen Würgegriff auf Entwicklungen im demokratischeren Zentrum auszuüben, ist keine Seltenheit. Der amerikanische Süden war den ostelbischen Gebieten sehr ähnlich darin, dass er eine geographisch isolierte und überdies relativ arme Region war, die in der Lage war, sich sowohl von fortschrittlichen Entwicklungen im Rest des Landes zu isolieren als auch ein Vetorecht über einen bedeutenden Teil der nationalen Politik auszuüben. Das Fehlen von echter Wahlkonkurrenz in »the solid South«, wo die Wahlbeteiligung gelegentlich nicht mehr als zwei Prozent betrug sowie die Regeln im Kongress, die den mit Macht verbundenen Vorsitz der Komitees den dienstältesten Mitgliedern zusprachen, versetzten den Süden in die Lage, sämtliche Gesetze zu kontrollieren, die den Senat erreichten. Dies geschah auch noch lange nachdem diese Institution im Mai 1913 aufgehört hatte, indirekt durch die Parlamente der Bundesstaaten gewählt zu werden. Erst in den 1960er Jahren, nach heftigem Widerstand seitens dieser regionalen Peripherie und nachdem sogar Menschenleben zu beklagen waren, fand die natio107 Kosten-Nutzen: Przeworski: Democracy; Rustow: Transitions. Sofern die Erklärung für die Haltbarkeit des deutschen Dualismus bis zum Ende des Krieges in den Handlungen des Reichstags begründet liegt, finde ich sie nicht im »Versagen der Parlamentarier«, im Fehlen der »Risikobereitschaft«, ihrem Zurückweichen vor einer »existentiellen Kraftprobe«, sondern in der frühen Parteienbildung des Kaiserreichs. Und ich kann Wehlers Einschätzung nicht zustimmen, dass wegen des »fehlenden Machthungers« des Reichstags »die reichsdeutsche Gesellschaft … die Praxis dieser Konfliktmeisterung in unumgänglich mühsamen Lernprozessen nicht einüben konnte«. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 864 f., 1039 f., 1287. 108 Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 25.

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nale Mitte den politischen Willen, darauf zu bestehen, dass auch diese regionale Peripherie sich der amerikanischen Demokratie anschloss. Das deutsche Kaiserreich war auch nicht einzigartig darin, dass es – mit dem Preußischen Landtag und dem Bundesrat – ein undemokratisches »ReichsOberhaus« besaß, das in der Lage war, ein Veto gegen Gesetze einzulegen, die das demokratischere Parlament bereits passiert hatten.109 Erst im Mai 1911, nach einem Verfassungskonflikt, der das gesamte britische Parlament ergriff, aber die Wähler kaum zu bewegen schien, wurde der Würgegriff auf die Gesetzgebung durch das House of Lords, dessen Sitze erblich waren, gebrochen und dessen Macht auf ein suspendierendes Veto reduziert – gerade einmal sieben Jahre vor der Reform des preußischen Wahlrechts. Selbst danach bedeutete die fortgesetzte Opposition der Lords zur irischen Selbstbestimmung, obwohl diese bereits vom Unterhaus beschlossen worden war, dass die zugrunde liegende Verfassungskrise Großbritanniens auf verhängnisvolle Weise ungelöst blieb. Zu einem Abschluss kam diese erst durch die blutig und mit Waffengewalt erfolgte Abtrennung Irlands in den Jahren 1920–1922.

Gewöhnung Institutionen und Gesetze waren nicht die einzigen Motoren im »Prozess der Institutionalisierung der Ungewissheit«, der für eine funktionierende Demokratie charakteristisch ist. Die Kultur – jene mysteriöse Macht, die »den Menschen sagt, was sie wollen sollen; … sie informiert, was sie nicht tun dürfen …[und] ihnen anzeigt, was sie vor anderen verbergen müssen« – spielte, wie wir gesehen haben, eine zentrale Rolle in diesem Prozess: in der Markierung der ersten, und womöglich wichtigsten, politischen Trennlinie, der konfessionellen; in den ungeschriebenen Gesetzen, die den öffentlichen Raum als einen notwendigerweise umkämpften definierten; und – vielleicht am fundamentalsten – in der Strukturierung der außerordentlichen Erwartungen der deutschen Bürgerschaft an die Gesetzestreue ihres Staates.110 Wenn auch in den bisherigen Kapiteln sehr viel von der Wirkung der Kultur auf die sich mit den Wahlen befassende Politik die Rede war, so haben wir doch wenig über die Wirkung dieser Politik auf die politische Kultur gesagt. Ging Deutschland – in der Rustowschen Terminologie, die wir verwendet haben – über jenes Stadium hinaus, bei dem die politischen Führer bewusste Entscheidungen treffen, welche die Ungewissheit bis zu einem Punkt institutionalisieren, an dem die Bevölkerung selbst derart an die offenen Konflikt gewöhnt ist, dass sie diese Verfahren zu seiner Regulie109 Ebd., S. 485. 110 Definition der Kultur: Przeworski: Democracy, S. 24. »Institutionalisierung der Ungewissheit«: ebd., S. 15, und ders.: Problems, S. 58; 60 – eine etwas breitere Funktion als die von Kaltefleiter und Nissen: Wahlforschung, S. 26, betonte, die der Sicherstellung der Chance zur Erneuerung. Das Bestehen der Öffentlichkeit auf der Debatte steht scharf der Ansicht von Norbert Elias entgegen, dass die deutsche Kultur »die Kunst der verbalen Debatte durch Streitgespräche und Überredung« entwertete! Michael Burleigh: Rezension von Elias: The Germans, Oxford 1996, in TLS, 29. März 1996, S. 5.

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rung als selbstverständlich erachtet; bis zu dem Punkt, an dem Kompromisse, die im Parlament ausgehandelt worden sind, von einer breiten Öffentlichkeit akzeptiert werden? Wenn, wie wir argumentiert haben (und wie die Zeitgenossen auch argumentierten), die Demokratie eine Lernerfahrung ist, können wir dann behaupten, dass am Ende des von uns behandelten Zeitraums die Deutschen demokratische Werte »gelernt« hatten«?111 Eine Antwort ergab sich 1918/19 in der Spontaneität, mit der die Öffentlichkeit Wahlen verlangte statt anderer Methoden, die von ihr gewünschten Veränderungen herbeizuführen. Aber noch früher kann auf eine Akzeptanz demokratischer Verfahrensweisen geschlossen werden: aus den wachsenden Mehrheiten, mit denen die Parteien, die Gesetzesvorlagen wie den Antrag Rickert unterstützten, wiedergewählt worden waren; aus dem Insistieren auf einem »Diskussionsredner« bei politischen Versammlungen – womit der Tatsache Rechnung getragen wurde, dass es in einer wirklichen »Öffentlichkeit« mehr als einen Standpunkt gab; selbst aus dem Ansehen, das der Reichstag genoss.112 Richtig ist aber auch: Das explosive Wachstum des politischen Katholizismus und der Sozialdemokratie machte viele Leute wütend und störte noch mehr; es brachte einige dazu, die Weisheit gerade dieses demokratischen Wahlrechts in Frage zu stellen. Aber den Vorschlägen nach zu urteilen, die sie an den Kaiser und die Reichskanzler schickten – umso überzeugendere Beweise wegen deren selbstverständlicher konservativer Tonart –, befürworteten die meisten Kritiker eine Änderung des Wahlrechts statt dessen Abschaffung. Viele dieser Vorschläge zeigten, was nicht erstaunt, wenig Achtung vor demokratischen Werten. Es gab Vorschläge, bestimmte Parteien oder gar Teile der Bevölkerung von den Wahlen auszuschließen: das Zentrum, die SPD, die Polen, die Elsässer, die Steuersünder, die Empfänger privater Unterstützung.113 Es gab Rufe nach Besitz- oder Altersgrenzen, offener Stimmabgabe oder einem zu ernennenden »Wirtschaftsparlament« als Ausgleich zum gewählten Reichstag.114 Einige waren atemberaubend 111 Hierzu Windthorst SBDR 9. Feb. 1888, S. 798: »Ich bin nicht so angstvoll vor den Bewegungen des Volks, auch nicht vor der Agitation, weil ich glaube, daß jeder bei der Sache etwas lernt, und daß unter allen Umständen im Resultate doch immer noch etwas gutes herauskommt.« »Joint learning experience«: Rustow: Transition, S. 358. Siehe auch Fish: Russia’s Crisis, S. 159. Dagegen Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1287. 112 Symbolisiert durch Windthorsts Trauerfeier, an der Parlamentsmitglieder und Regierung, Bundesrat und Delegierte der regierenden Monarchen in bemerkenswerter Weise teilnahmen – zum Missfallen von F. Hartung: Geschichte, S. 219 f. 113 Wählervorschläge, Beschwerden und Kommentare, wie auch jene, die in Zeitungen erschienen, füllen neun dicke Akten in den Archiven des RdI. Gegen das Z: BAB-L R1501/Akten: 14697, Bl. 4; 14693, Bl. 42–46; gegen die SPD: BAB-L R101/3353; Bl. 317; BAB-L R1501/Akten: 14697, Bl. 118 f.; 14696, Bl. 36–39; gegen Polen und Elsässer: BAB-L R1501/14693, Bl. 187 f. Steuersünder, Wohlfahrt: BAB-L R1501/Akten: 14693, Bl. 21; 14694, Bl. 63 f., 34 f. 114 BAB-L R1501/Akten: Besitz: 14693, Bl. 27 f., 32 f., 234; 14697, Bl. 58. Alter: 14453, Bl. 91; 14694, Bl. 307 f. Offene Stimmabgabe: 14693, Bl. 39–41; 14695, Bl. 211; 14696, Bl. 65 f.; 14697, Bl. 167 f. Volkswirtschaftsrat: 14693, Bl. 96, 245–256; 14695, Bl. 12. BAB-L R43/685, Bl. 231 f. Für ein Berufsparlament: BABL 1501/Akten: 14453, Bl. 311–324; 14695, Bl. 93–105. Ruf nach Abschaffung des RT-Wahlrechts ohne Vorschläge einer Alternative: Zur Reichstagswahl, in: Würzburger Presse mit Bayerischer Volkszeitung, 10. Okt. 1881, Nr. 239. BAB-L R1501/14693, Bl. 80. BAB-L R1501/Akten: 14451, Bl. 243 f; 14453, Bl. 76 f.

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naiv, wie Franz Pieczonkas Vorschlag einer Lotterie oder die Forderung, die Zulassung zu den Wahlurnen vom Bestehen einer Prüfung abhängig zu machen.115 Doch die meisten dieser Rat gebenden Bürger scheinen ihre Hoffnungen auf eine wachsende statt eine verminderte öffentliche Teilnahme gesetzt zu haben. Einige schlugen vor, die Stimmabgabe zur Pflicht zu machen. Diese Tradition ging zurück bis auf Steins Städteordnung von 1808 und war in der Debatte über eine Wahlpflicht immer noch aktuell.116 Andere wollten das Wählen mit einer Steuererleichterung belohnen.117 Andere baten um die Briefwahl für Handelsreisende – oder zumindest Freifahrtscheine nach Hause.118 Manche wollten das Wahlrecht auf das Militär ausweiten – oder auf Frauen.119 Von einigen kam der Vorschlag, das Nichtwählen zu bestrafen (etwa durch die Verdreifachung der Einkommensteuer für die Delinquenten oder durch die Veröffentlichung ihrer Namen). Wieder andere rieten zu mehrfacher Stimmabgabe für jene, die mehr Steuern bezahlten oder ein höheres Alter hatten.120 Und schließlich bestanden einige Bürger, wie wir in Kapitel 10 gesehen haben, darauf, dass nur ein Verhältniswahlrecht die Leute in den demographisch hoffnungslosen Wahlkreisen zum Wählen ermutigen könnte. Mein Eindruck von der Verbreitung demokratischen Gedankenguts wird durch Trends in der Presse bestärkt. Wenn der Erfolg der britischen Konservativen an den Auflagenzahlen konservativer Tagesszeitungen wie des Daily Express (ca. 500.000) und der Daily Mail (1.000.000) gemessen werden kann, dann wird das Scheitern der deutschen Rechten nicht weniger deutlich. Die offiziell konservative Kreuz-Zeitung zählte in den Jahren vor dem Krieg nur 12.000 Abonnenten; die frei-konservative Post nur die Hälfte. Die Berliner Neuesten Nachrichten und die Deutsche Zeitung, ebenfalls konservativ, verkauften jeweils 12.000 und 14.000 – und dies in einem Land mit um die 65 Millionen Einwohnern. In Sachsen zogen die Dresdner Neuesten Nachrichten, die von einer Gruppe moderater Adliger englischen Stils herausgegeben wurden, Abonnenten von ihrem erzkonservativen Rivalen, den Dresdner Nachrichten, ab. Etwas er115 BAB-L R1501/14693, Bl. 110, bzw. 14694, Bl 269–274. 116 BAB-L R1501/Akten: 14694, Bl. 214 f.; 14696, Bl. 18 f.; 14696, Bl. 216; Liebermann v. Sonnenberg SBDR 27. Feb. 1907, S. 98. Berliner Times-Korrespondent, zitiert in GA Nr. 15, 18. Jan. 1874, S. 81; Reichsbote, zitiert in: Deutsches Reich. Die Wahlfälschungen, in: Vorwärts, 22. Jan. 1903, BAB-L R1501/14455, Bl. 158. Die Untersuchung der Regierung über mögliche Konsequenzen der Wahlpflicht: SS des Innern an Bülow, 14. Juli 1908, BAB-L R1501/14459, Bl. 124–138. Wahlpflicht: Sachsen 14, AnlDR (1912/13, 13/I, Bd. 19), DS 717, S. 934; Gumbinnen 7, AnlDR (1912/14, 13/I, Bd. 23) DS 1586, S. 3424, für LT-Wahlen angeraten (mit Geheimhaltung): Porsch (Z) SBHA 15. Feb. 1903, S. 913; abgelehnt von Ernst Radnitzky: Die Parteiwillkür im öffentlichen Recht, Wien 1888, S. 38 f.; Rhetorik der Wahlpflicht: Nettmann u. Witten, S. 134 sowie Hahne: Reichstagswahl, S. 119. 117 Denkschrift: Wählen oder Zahlen … Ein Flugblatt hoffentlich zur rechten Zeit den Verbreitern des … [unleserlich] gewidmet. Kommentar des RKA, 28. Juli 1877: »eine Idee, die weder neu noch nützlich ist«: BAB-L R1501/14693, Bl. 30. 118 BAB-L R1501/Akten: 14693, Bl. 49–51, 171; 14694, Bl. 36 f. 119 BAB-L R1501/Akten: 14694, Bl. 304; 14695, Bl. 12; 14696, Bl. 159 f., 217. 120 Steuerstrafen: BAB-L R1501/Akten: 14693, Bl. 115 f.; 14697, Bl. 197 f., 210–214; Mehrfachstimmen: BABL R1501/14693, Bl. 230 f., 302 f.; BAB-L R1501/14696, Bl. 24 f. Ich entdeckte nichts, was darauf hinweist, dass sich die Deutschen nach einem charismatischen »Führer« sehnten (gegen Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1285).

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folgreicher war Böckels vierzehntägiger Reichs-Herold. Während dessen kurzer Glanzperiode in den frühen 1890ern brüstete er sich mit 15.000 Abonnenten. Die erfolgreichste aller Zeitungen auf der Rechten, die Deutsche Tageszeitung, die »seriöse« Zeitung des BdL mit einer sicheren Basis unter den Landwirten, erreichte dennoch nur 22.000 Abnehmer. Wenn auch die Verkaufszahlen geringer sein mögen als die Leserschaft, so können sie allerdings auch größer sein. Sie werden noch deutlicher im Vergleich mit der demokratischen Presse: Tägliche Rundschau (48.000), B.Z. am Mittag (60.000–100.000), Berliner Tageblatt (180.000) und Berliner Morgenpost (360.000). Wenn man die SPD-, die linksliberale und die Zentrumspresse hinzunimmt, so ist der Eindruck eines demokratischen Rutschs noch überwältigender. Falls die öffentliche Meinung in der veröffentlichten Meinung gefunden werden kann, wird klar, dass im Bewusstsein der Öffentlichkeit die Rechte auf dem Wege war, marginalisiert zu werden.121 Die Marginalisierung förderte die Radikalisierung – und umgekehrt. Diese Binsenweisheit zeigt sich im Schicksal des Alldeutschen Verbandes, der von einer Organisation, deren Respektabilität durch die Mitgliedschaft einiger liberaler Imperialisten von Rang, wie Max Weber und Ernst Bassermann, garantiert schien, zu einer unpopulären Gruppe rassistischer Spinner verkam. Seine Mitgliederzahl erreichte 1902 mit nicht einmal 23.000 ihren Höhepunkt, dabei waren dies größtenteils Männer, die nach dem Hören einer mitreißenden Rede beigetreten waren, deren Engagement aber häufig nicht weiter ging.122 Der katholische Volksverein zählte am Vorabend des Kriegs mehr als 36-mal so viele Mitglieder; die SPD 1907 mehr als 44-mal so viele (530.466) – und diese Zahl hatte sich bis 1914 noch einmal verdoppelt. Die Abwanderung ihrer Mitglieder brachte die Alldeutschen an den Rand ihrer Auflösung, wovor sie nur durch die Beiträge von Industriellen gerettet wurden. In nationalistischen Kreisen wurden die Mitglieder als »Spatzen im nationalliberalen Starenkasten« abgetan.123 Typischer für die nationalistische Meinung im frühen 20. Jahrhundert war der Flottenverein. Aber dieser war derart weit davon entfernt, zwangsläufig rechts zu stehen, dass er mit einem »Konventikel der Jungen Liberalen« verglichen wurde.124 Die Mitgliederzahlen des Flottenvereins, die 300.000 überstiegen, waren ein Zeichen anhaltender Stärke »nationaler« Topoi bei der evangelischen Mittelklasse – und der Schwäche solcher Themen bei der Rekrutierung 121 Statistik für alle Zeitungen außer dem Reichs-Herold: Martin: Machthaber, S. 522 f. Ähnliche Beschreibung, aber die Diskrepanz zwischen der blühenden (im weitesten Sinne) »liberalen« Presse und ihren konservativen und radikal nationalistischen Rivalen als nur eine der »Paradoxien« des Kaiserreichs einschätzend: Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1243 ff; Zitat: 1283. Levy: Downfall, S. 56, 115, schätzt, dass die drei auflagenstärksten antisemitischen Zeitungen in den 1890er Jahren gemeinsam nur 25.000 Abonnenten hatten, wenn auch ihre Resonanz, da andere Zeitungen häufig deren Artikel nachdruckten, erheblich größer war. 122 Sagt Chickering: We Men, S. 110, 134 f., 214, 221, 323. 123 Flottenvereins-Stimmungsmache der Konservativen gegen die Alldeutschen, in: Berliner Volks-Zeitung 25. Dez. 1907, S. 1 f., zitiert in Eley: Reshaping, S. 281; auch 366. Stegmann: Erben, S. 296 ff.; SPD. Moore: Injustice, S. 183. 124 Eley: Reshaping, S. 262, 279, 280 Anm. 88. Fairbairn bemerkt die »seltsame Unsichtbarkeit« des Flottenvereins »… in der Massenpolitik bei den Wahlen«, und fragt, »wie effektiv kann der soziale Imperialismus gewesen sein, wenn er keinen großen Einfluss auf die Wahlen ausübte?« Democracy, S. 247.

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über die Schranken von Klasse und Konfession hinaus, die dem Liberalismus jahrzehntelang effektive Grenzen gesetzt hatte. Allein mit Begeisterung für die Flotte gewann man noch keine Wahlen. Aber indem der Flottenverein die Popularität der imperialistischen Variante des Nationalismus in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts zeigte, offenbarte er jene Gefühlsreserve, die für eine Radikalisierung vorhanden war, sobald die internationalen Verhältnisse es dem Nationalismus erlaubten, über andere Themen zu triumphieren.125

Vermächtnisse Der Begriff »Demokratie« hat normative Konnotationen und wird sie immer haben. Obwohl Triumphalisten in der Vergangenheit behauptet haben, dass demokratische Institutionen der rationalste Weg seien, Macht und Ressourcen zuzuteilen, würden doch wenige von uns unsere Verteidigung der Demokratie auf diese vermeintliche (und vielleicht zeitlich sehr begrenzte) Leistungsfähigkeit stützen wollen. Wir schätzen die Demokratie, weil wir die Menschenwürde schätzen, die sie zu bestätigen sucht. Aber sind diese Werte notwendigerweise an bestimmte Verfahren gebunden? Die Institutionalisten, die Verfahren als ihren Ausgangspunkt wählen, gehen davon aus, dass dies so ist, und unsere eigene Geschichte hat eine gewisse Unterstützung für diese Annahme geliefert. Inzwischen wird der skeptische Leser sicher fragen: Ist es nicht überaus optimistisch, den hässlichen, bitteren, ungelösten Konflikten des Kaiserreichs (die Rustow euphemistisch als »heiße Familienfehden« bezeichnet hat) eine derart positive Bedeutung zu verleihen und sie als Motoren zu bezeichnen, die Gruppen zwingen, sich auf prozedurale Modi vivendi zu einigen? Sollte nicht jeder Historiker, und sicherlich jeder über Deutschland schreibende Historiker, der Rustowschen politischen Theodizee Skepsis entgegenbringen – in der das Gute aus dem Bösen kommt, in der tüchtige Parteien und »Interessenbündelung« aus Kulturkampf und Klassenkampf erwachsen? Haben die Wahlen, unter diesen Bedingungen, nicht nur darauf hingewirkt, die latenten Konflikte innerhalb der Gesellschaft aufzudecken, sondern vor allem auch darauf, sie zu vergrößern, auszuweiten und zu verstärken? Läuft nicht die institutionalistische Betonung der Demokratie »in erster Linie als eine Frage des Verfahrens statt der Substanz« Gefahr, den sprichwörtlichen Sechs-Tonnen-Elefanten im Zimmer zu übersehen: in diesem Fall die zerstörerischen Gefühle: Wut, Verachtung, Selbstgerechtigkeit, sogar Hass – die diese Konflikte begleiteten und von ihnen genährt wurden? Ein Indikator dafür, ob die Institutionen Werte förderten, die wir mit einer demokratischen Bürgerkultur verbinden – Gleichheit, gegenseitigen Respekt, Toleranz –, ist die Haltung der Gesellschaft gegenüber jenen Minderheiten, die zahlenmäßig zu gering sind, um direkt im Wahlprozess vertreten zu werden. Im Fall Deutschlands waren dies die Juden, deren Verfolgung und Vernich125 Siehe aber Fairbairns Skepsis: Democracy, S. 247.

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tung Jahrzehnte später zu Recht einen langen Schatten auf alle unsere Urteile über das Kaiserreich geworfen haben.126 Die Quellen, die wir für diese Studie herangezogen haben, sind weniger aussagekräftig hinsichtlich der Haltung der Gesellschaft gegenüber Juden als gegenüber Katholiken, Sozialisten oder selbst Polen, und jede Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen, muss deshalb vorsichtig bleiben.127 Mein Eindruck ist, dass die Ressentiments gegen Juden in der Öffentlichkeit in den ersten Jahrzehnten des Kaiserreichs am stärksten waren: in den Siebzigern und frühen Achtzigern unter den Katholiken, in den Achtzigern und frühen Neunzigern unter den Protestanten. Bei der allerersten Wahl sprachen Katholiken die Befürchtung aus, dass die liberalen Vorschläge zur Schulreform (die Beendigung der Inspektionen der Schulen durch die örtlichen Geistlichen, die Integration der Konfessionen, aber die Beibehaltung des Religionsunterrichts als Pflichtfach) ihre Kinder gefährden würden, indem sie es ermöglichten, dass diese von Juden unterrichtet würden.128 Überkommene religiöse Vorurteile wurden genährt durch die augenscheinliche Begeisterung für den Kulturkampf seitens einiger bedeutender jüdischer Zeitungsverlage sowie von zwei der prominentesten jüdischen Abgeordneten, Lasker und Bamberger. Die Germania und die Schlesische Volkszeitung, aber besonders kleinere Zeitungen mit lokal begrenzter Auflage, beklagten sich heftig über die Gefahren, die emanzipierte und nicht-religiöse Juden angeblich für die christliche Zivilisation darstellten.129 Bei den evangelischen Wählern, besonders den Handwerkern und Bauern, waren es andererseits nicht die kulturellen Konflikte der 1870er Jahre, sondern die wirtschaftlichen der Achtziger und frühen Neunziger, die den Argumenten von Stoecker, Böckel und ihren Nachahmern eine verzweifelte Plausibilität verliehen, welche die offensichtlichen ökonomischen Erfolge von Juden mit ihren eigenen, ebenfalls offensichtlichen Misserfolgen verknüpften. Wahlen vergrößerten die öffentliche Bedeutung, die antisemitische Agitatoren der »Judenfrage« beimaßen, während nervöse Wahlkampfbeauftragte anderer Parteien Boden unter den Füßen suchten. Doch selbst in den frühen 1880er Jahren lassen sich Beispiele öffentlichen Widerstands gegen den Antisemitismus finden. Es geschah in Witten an der Ruhr, dass 87 Bürger (darunter achtzehn 126 Ausgezeichnete, aber unterschiedliche neuere Darstellungen: Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; und Alan S. Lindemann: Esau’s Tears. Modern Anti-Semitism and the Rise of the Jews, Cambridge 1997, das eine transnationale Perspektive hat. 127 Wir haben jedoch Zeugnisse aus Minden 1 in AnlDR (1877, 3/I, Bd. 3) DS 187, S. 515 ff., und SBDR 2. Apr. 1878, S. 677 ff., sowie aus Berlin 1, AnlDR (1881/82, 1/II, Bd. 2) DS 44, S. 117 ff.: den beiden Zentren der Stoecker-Bewegung. Auch: Hannover 2, AnlDR (1884, 6/I, Bd. 5) DS 148, S. 539; Frank: Brandenburger, S. 60. Ich fand nur einen Vorschlag, der den Juden das Wahlrecht entzogen haben könnte: C. (?) Jul. Schulz, Greiz (Reuß a. L.), an Bülow, 1. Juli 1903, BAB-L R1501/14696, Bl. 36–39. Fritz Pieske, Rentier aus Charlottenburg, der einzige Korrespondent, der ausschließlich oder nur in erster Linie antisemitisch war, erbat vom Kaiser, dass er Juden das passive Wahlrecht für den Reichstag entzöge. 24. Juni 1903, ebd., Bl. 32 f. 128 Oppeln 7, AnlDR (1871, 1/1, Bd. 2) DS 69, S. 164 f. 129 Z. B. Eduard Müllers Bonifacius-Kalender; die Veröffentlichungen von G. F. Dasbach; der Gladbacher Merkur und die Reichszeitung (Bonn). Abgeordneter Carl Bachem und die Juden, Historisches Archiv der Stadt Köln, Bachem-Nachlass, 1006, Nr. 65b. Hierzu auch Blaschke: Herrschaft, S. 246 ff. Eine andere Auffassung als ich vertritt Olaf Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997.

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Fabrikbesitzer und -direktoren, acht höhere Beamte, acht Schuldirektoren und Lehrer sowie 28 Handwerker, Vorarbeiter und Arbeiter) auf eine Rede von Stoecker reagierten, indem sie eine Einladung zu einer öffentlichen Veranstaltung unterzeichneten, in der die Behauptungen des Hofpredigers debattiert (sprich: widerlegt) werden sollten.130 Während also der Wahlprozess zwar ursprünglich jede latente Judenfeindlichkeit ans Licht brachte, ist es nicht sicher, dass er diese Ressentiments verstärkte. Die örtlichen Gemeindeführer der Juden verweigerten konservativen Kandidaten, als Mitläufer ungestraft davonzukommen. Sie erschienen bei den Wahlveranstaltungen und zwangen sie, eine Position gegen den Antisemitismus zu ergreifen. Und der Konkurrenzdruck der Wahlen ließ seltsame Koalitionen entstehen. 1887 wurde Bamberger in Alzey-Bingen nur deswegen wiedergewählt, weil die Katholiken – wie er sagte – »höllisch« für ihn »schafften« und Tausende katholischer Wähler ihm ihre Stimme gaben.131 Was das gesellschaftliche Klima betrifft, so gab es Anzeichen, dass die Feindseligkeiten gegenüber den Juden an Boden verloren. Der Abwehr-Verein gegen Antisemitismus, der 1890 von prominenten nicht-jüdischen Linksliberalen gegründet wurde, gründete Ortsgruppen in Wahlkreisen, in denen Antisemiten agitierten. Und der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der drei Jahre später gegründet wurde, ließ kein antisemitisches Argument unwidersprochen.132 Darüber hinaus half der öffentliche Widerstand von Einzelpersonen gegen den Antisemitismus, die auch von gesellschaftlichen Kreisen, die Juden gegenüber voreingenommen waren, verehrt wurden – Eugen Richter und Theodor Mommsen (evangelischer Mittelstand und Universität), Ludwig Windthorst und Ernst Lieber (Katholiken), Kronprinz (später Kaiser) Friedrich Wilhelm, die Großherzöge Ernst Ludwig von Hessen und Friedrich I. von Baden sowie Kanzler Caprivi (Beamte) – der antisemitischen Sache die notwendige Seriosität zu entziehen.133 Es fällt schwer, in der zweiten Führungsgeneration des Kaiserreichs ein wachsendes Bewusstsein über den Antisemitismus als ein positives Übel zu übersehen. Während also die angesehenste Persönlichkeit im katholischen Episkopat der 1870er Jahre, Bischof (und Baron) Emanuel von Ketteler, mit vielen seines Standes negative Stereotype über Juden teilte und der allseits verehrte Bischof Konrad Martin, der im Kulturkampf im Gefängnis saß, noch an blutrünstige mittelalterliche Legenden glaubte, waren die mächtigsten 130 Monshausen: Koblenz, S. 71 f.; Nettmann: Witten, S. 116 f. Die katholische SVZ beendete ihre scharfzüngige Kampagne gegen die Juden 1881, als jüdische Geschäftsleute nicht nur ihre eigenen Anzeigen zurückzogen, sondern nichtjüdische Anzeigenkunden dazu brachten, ebenfalls die Zeitung zu boykottieren. Müller: Kampf, S. 137. 131 Marienwerder 5, AnlDR (1894/95, 9/III, Bd. 1) DS 166, S. 799 f., und AnlDR (1895/97, 9/IV, Bd.2) DS 195, S. 1253, 1259; Le Maistre an Bismarck, Darmstadt, 23. Feb. 1887, BAB-L R1501/14642, Bl. 176; Bamberger an Franz von Stauffenberg, 25. Feb. 1887, Im Neuen Reich 1871–1890. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer. Ausgewählt und bearbeitet von Paul Wentzcke. Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung, Bd. 2, Osnabrück 1967, S. 430. Die Katholiken hatten bereits 1881 geholfen, Bamberger zu wählen. Anderson: Windthorst, S. 368. 132 Levy: Downfall, S. 146, 181; zur abschreckenden Wirkung der starken Reaktionen des Centralvereins auf jede Partei, die in ihren Wahlkämpfen Antisemitismus benutzte, S. 188. 133 Kronprinz: Margarethe Edle v. Poschinger: Kaiser Friedrich III., 1870–1888, Berlin 1900, S. 288. Andere: Levy: Downfall, S. 138 ff.

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Prälaten der 1880er und 1890er Jahre, der Kölner Kardinal Philipp Krementz und der Breslauer Kardinal Georg Kopp – die an entgegengesetzten Enden des katholischen politischen Spektrums standen – beide ausgewiesene Gegner des Antisemitismus.134 Der erste Führer der Nationalliberalen, Rudolf von Bennigsen, hatte als junger Mann von den »gewöhnlichen Fehlern der jüdischen Nation« geredet; als alter Mann sah er viel Nachahmenswertes in den Schriften eines Houston Stewart Chamberlain.135 Sein Nachfolger war Ernst Bassermann, der nicht weniger nationalistisch war, aber – wie seine Kollegen in der Führungsriege der Liberalen, Gustav Stresemann und der Vizepräsident des Reichstags, Hermann Paasche – mit einer Frau jüdischer Abstammung verheiratet. Sie alle bewegten sich in jüdischen wie auch in christlichen Kreisen. Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass unser überkommenes Bild von zynischen Politikern, die den Antisemitismus als Möglichkeit nutzten, die Unterstützung von Wählern für wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Programme zu erhalten – ein Bild, das vom Beispiel Stoeckers in Berlin in den frühen 1880er Jahren inspiriert ist –, in die Irre führen könnte. Häufiger nämlich, zumal mit Voranschreiten der Zeit, begegnen wir Antisemiten, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Programme als eine Möglichkeit anbieten, um den Leuten ihre ansonsten nicht wettbewerbsfähigen Parteien schmackhaft zu machen.136 In den späten 1890er Jahren waren diese Parteien bereits im Niedergang begriffen und damit war auch die Zeit vorüber, in der ihre Wahlkämpfer Aufmerksamkeit zu erregen suchten mit derartigen Aktionen, wie Hunde mit Plakaten durch die Straßen zu führen, auf denen stand: »Wählt keine Juden!« (wie es 1881 in Berlin geschah).137 Welche Vorurteile die Leute auch immer haben mochten – mit der »Judenfrage« ließen sich keine Massen bewegen. 1906 wurde antisemitischen Wahlkampf-Organisatoren vorgeworfen, ihren Antisemitismus zu verheimlichen, um Zuhörer anzulocken, indem sie vorgaben, Nationalliberale zu sein.138 Dank der Übereinkünfte, die sie mit anderen Parteien aus dem »nationalen« Block getroffen hatten, wurden siebzehn antisemitische Kandidaten im folgenden Jahr in den 397 Abgeordnete starken Reichstag gewählt. Aber die Erfolge dieser Allianzen waren davon abhängig gewesen, dass sie ihren Antisemitismus in der Öffentlichkeit unterdrückten. Schließlich hatten die Kandidaten »die Wahlen nicht wegen, sondern trotz ihres Antisemitismus gewonnen«.139 Ich möchte keinesfalls über die Tatsachen hinausgehen. Die Rhetorik der Agrarverbände, der katholischen wie auch der evangelischen, war mit antisemitischen Ressentiments getränkt. Stereotypen über Juden wurden als selbstverständlich hingenommen und tauchten an den unwahrscheinlichsten Stellen auf. 134 Blaschke: Herrschaft, S. 263 Anm. 80. 135 Oncken: Bennigsen, Bd. 1, S. 100; Bd. 2, S. 623 f. 136 Frank: Brandenburger, S. 60; Smith. Alltag, S. 284. Zum Unvermögen des Antisemitismus, katholische und evangelische Christen zu »integrieren«: ders.: Religion, S. 310 ff. und bes. 310 Anm. 93. 137 Für solche »Agitation [war] … die Zeit noch nicht reif«, wie eine Dissertation 1933 zweideutig kommentierte. Frank: Brandenburger, S. 60. 138 Baudert (SD), Patzig (NL), Raab (Reformpartei), Liebermann v. Sonnenberg SBDR 21. März 1906, S. 2190, 2092, 2096, 2199, 2216. 139 Levy: Downfall, S. 228, 233.

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Der Anhang der Textausgabe des Wahlgesetzes von 1907 beispielsweise, der zur Information der Wahlvorstände gedacht war, druckte ein Beispiel einer Wählerliste ab, mit Auslassungen für den Namen, das Alter, den Beruf und den Wohnsitz jedes Wählers, wie auch Beispiele dafür, warum jemand nicht zur Wahl zuzulassen sei. Gemeinsam mit Einträgen wie »Arnold, Ludwig; 25; Pächter« und unter »Bemerkungen«: »… ist noch nicht 25 Jahre alt«, enthält das kurze Beispiel auch »Cohn, Hirsch; 39; Handelsmann; ist im Konkurs«.140 Aber ich habe keinen überzeugenden Beweis gefunden, dass die Häufigkeit dieser Stereotype zunahm.141 Die antisemitischen Wahlkämpfer waren nie in der Lage, wie ihre Rivalen erhebliche finanzielle und zeitliche Opfer von ihren Wählern zu verlangen, die nötig gewesen wären, um sie als funktionierende Parteien am Leben zu erhalten.142 Im letzten Reichstag des Kaiserreichs war die Zahl der antisemitischen Abgeordneten auf sechs geschrumpft. Die Beobachter im Reich und im Ausland hatten aufgehört, ihre »Bewegung« ernst zu nehmen.143 Bis zum Ende des Kaiserreichs förderte die gelebte Demokratie keine bleibenden Siege für antisemitische Demagogen. Im Gegenteil – der Wettbewerb der Wahlen setzte einen Prozess in Gang, der die politischen Eliten Deutschlands die Abscheulichkeit des Antisemitismus lehrte und der das gesamte Volk an solche Kompromisse gewöhnte, die den Fanatismus abwehrten. Dennoch kann es zur Frage, ob Konflikte von Vorteil waren, keine endgültige Antwort geben. Einige Konflikte mögen zu mächtig sein, um selbst von den Institutionen der Demokratie in Schach gehalten zu werden. Die polnisch-deutschen Feindseligkeiten, die sich im Jahrzehnt vor dem Krieg verstärkten, scheinen hierzu zu gehören, wenn ich auch selbst nicht ausschließen möchte, dass bestimmte Entscheidungen – wie die Wiederaufnahme einer aggressiven Germanisierungspolitik seitens der preußisch-deutschen Regierung – eine wichtige Rolle spielten. (Der Höhepunkt des Konflikts – das preußische Enteignungsge140 Reichstags-Wahlgesetz, Anlage A. Siehe auch die Titelkarikatur des Simplicissimus VII/26 (1907–1908), S. 210: »Die Polenisierung Westpreußens«, welche drei hässliche Ostjuden, umgeben von Kaninchen, zeigt, die alle durcheinanderhoppeln. Die Bildunterschrift lautet: »Bald werden wir sein die einzigen die hier noch reden daitsch.« Der Artikel über »Antisemitismus, Antisemitische Partei« von Siebertz, dem Herausgeber des Bayrischen Kuriers (Z), der den Antisemitismus verurteilt, ist selbst nicht frei davon. Abc-Buch, S. 49 ff. 141 Vergleiche Blaschke, dessen Glauben an den »im Kaiserreich stark zunehmenden Antisemitismus« in: Wider die Herrschaft, S. 237, und auch in: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, mit: zu Baden: Smith: Alltag; zu Breslau: Till van Rahden: Mingling, Marrying, and Distancing. Jewish Integration in Wilhelminian Breslau and Its Erosion in Early Weimar Germany, in: Jüdisches Leben in der Weimarer Republik. Jews in Weimar Germany, hrsg. v. W. Benz u. a., Tübingen 1998, S. 193 ff., bes. 216; zu Frankfurt: Roth: Stadt, S. 341. Über den unpolitischen Alltag werden die Historiker nie Gewissheit erlangen, denn selbst hunderte lokaler Studien würden keine Garantie gegen falsche positive oder negative Aussagen geben können. 142 Klagen über Mangel an finanziellen Zuwendungen: Theodor Fritsch. Antisemitische Correspondenz und Sprechsaal für innere Partei-Angelegenheiten (Wird nur an zuverlässige Parteigenossen versandt), Leipzig, Dez. 1882, Nr. 2; Levy: Downfall, S. 119 f., 285 Anm. 21. Hierzu die NL, deren Mitglieder jedes nötige Opfer an Zeit, Energie und Geld für den guten Zweck gebracht haben, wie ein Zeitgenosse bemerkte: Le Maistre an Bismarck, Darmstadt, 23. Feb. 1887, BAB-L R1501/14642, Bl. 177. 143 Lefèvre-Pontalis: Élections, S. 112 f., setzte den Niedergang in Deutschland in Kontrast zu dem Erfolg in Österreich; Ernst (SD) verglich 1911 die Gegenwart positiv mit den 1880er Jahren: Polizeispitzeleien, S. 60.

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setz von 1908 – wurde von einigen außerparlamentarischen Gruppen lautstark unterstützt, besonders vom Ostmarkenverein. Aber das Gesetz wurde von den Gerichten bis 1912 aufgehalten, und als Bethmann Hollweg es endlich in die Tat umsetzte, wurde er von der Reichstagsmehrheit heftig kritisiert – eine »Erniedrigung«, die »in einem vollends parlamentarisierten System seinen Rücktritt unausweichlich gemacht hätte«.144) Andernorts waren heftige Arbeitskämpfe für einige Zeitgenossen ein Beleg dafür, dass die Kluft zwischen den Klassen anwuchs – obwohl massive Demonstrationen zugunsten einer preußischen Wahlrechtsreform andere wiederum die Unterschiede als nicht so gravierend empfinden ließen – zwischen den wenigen Privilegierten und der Masse der Unterprivilegierten. Was den Anti-Katholizismus angeht, so wurde dessen Wiederkehr bereits deutlich, bevor Bülow die bewusste Entscheidung traf, die konfessionelle Wunde durch seinen Wahlkampf 1907 wieder aufzureißen. Das Erschrecken über die »Macht« des katholischen Klerus nach 1900 zeigt, wie Lektionen, die man aus bestimmten Umständen gezogen hat – in diesem Fall eine nur widerwillig gewährte Toleranz in den 1880er Jahren – noch einmal gelernt werden müssen, wenn die Umstände sich ändern. Die Abneigung gegen das Anderssein der Katholiken wuchs, wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, mit der Demokratisierung der südlichen Bundesstaaten und mit der wachsenden Autorität des Reichstags – da beide Entwicklungen für die Vertreter der katholischen Minderheit einen Zuwachs an Macht bedeuteten. »Wir haben das Herz mit Phantasien genährt,/ Von dieser Kost ist das Herz brutal geworden;/ Mehr Substanz in unseren Feindschaften/ Als in unserer Liebe.«145 Diese Zeilen, die von einem Beinahe-Zeitgenossen über eine Gesellschaft geschrieben wurden, die sich ebenfalls zahlreicher demokratischer Institutionen erfreute, trafen auch auf das Kaiserreich zu. Das gegenseitige Misstrauen, das so charakteristisch für die politisierten Gruppierungen des Kaiserreichs ist, erschwerte es den Deutschen, »ein Volk zu erfinden«, über dessen Urteilsvermögen sie sich sicher sein könnten. Es überrascht daher nicht, dass die Forderungen nach Verfassungsänderungen, die dem »Volk« die gesamte Macht gegeben hätten – also einer einfachen Mehrheit des Reichstags, die von den verschiedenen deutschen Völkern gewählt würden –, nicht vergleichbar laut geäußert wurden wie die Forderungen nach der Demokratisierung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, die doch jedermanns Aufmerksamkeit erregten. Die Zeitgenossen scheinen gespürt zu haben, was 144 Hagen: Germans, S. 210. Die Wahlen selbst mögen den ethnischen Konflikt durch die Förderung der Kooperation gedämpft haben. Im Ruhrgebiet druckte die Wittener Volkszeitung (Z) das Wahlprogramm des Z von 1878, das die gesamte Titelseite einnahm, auf Polnisch. Bei den Versammlungen des Zentrums trat Vikar Rupinski aus Westpreußen auf, der seine »Landsleute« nach den Reden des Hauptredners und des Diskussionsredners auf Polnisch ansprach. Die Tatsache, dass die Polen um seiner Bemerkungen willen bis zum Ende eines langen deutschsprachigen Abends ausharrten, verrät viel guten Willen. Die NL verzweifelten an der Anfechtung von Z-Wahlen: »… wird ja doch irgendein ultramontaner Polacke gegen Einhändigung von 3 Mark und einer Flasche denaturiertem Spiritus die ›Verantwortung‹ für alle christkatholischen Wahlheldentaten übernehmen …« Zitiert in: Nettmann: Witten, S. 140, 144, 147. Trotz Aufrufen, dass deutsche Firmen polnische Zeitungen als Anzeigenkunden boykottieren sollten, machten deren Anzeigen zwischen 80 und 90 Prozent des Einkommens der letzteren aus. Czaplinski: ´ Presse, S. 29. 145 W. B. Yeats: Meditations in Time of Civil War, in: The Tower, 1928.

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der Politikwissenschaftler Arend Lijphart später behauptete: dass in überaus vielschichtigen Gesellschaften die Herrschaft der Mehrheit nach klassischem englischem Vorbild »nicht nur undemokratisch, sondern gefährlich ist«, da sie »Auseinandersetzungen in der Bevölkerung statt Demokratie« bedeute. Solche Gesellschaften benötigen institutionelle Vereinbarungen, die den Konsens statt eines Sieges betonen, die ein- statt ausschließen und die darauf abzielen, die Zahl der »Gewinner« zu maximieren, indem sie zu Koalitionen zwingen. Lijphart nennt solche Vereinbarungen, die in verschiedener Form in vielen erfolgreichen Demokratien heute zu finden sind, »Konsens-Demokratie«.146 Aber die zeitgenössischen Theoretiker sahen die Alternative zur Autorität des Monarchen nur im Bezug auf das klassische Mehrheitsmodell und verschwendeten unglücklicherweise nur wenige Gedanken darauf, wie das Ziel demokratischer Reaktionsfreudigkeit – die Teilnahme breiter Bevölkerungsschichten und eine breite Zustimmung zur Politik der Regierung – unter den deutschen Bedingungen am besten verfassungsmäßig erreicht werden könnte.147 Auch in ihrem Nachkriegseifer, das Verhältniswahlrecht einzuführen, bemerkten die Deutschen nicht, dass das System des Kaiserreichs selbst in seiner Ritualisierung der Feindseligkeiten dahin gewirkt hatte, Feindseligkeiten zu verhindern – nicht zuletzt, weil die Regeln (der Einmannwahlkreis und absolute Mehrheiten) Koalitionen zu einem vorhersehbaren Bestandteil der Zukunft einer jeden Partei machten. Wahlvereinbarungen hatten die Deutschen gezwungen, über jede trennende Kluft hinweg zu wählen: Alzey-Bingens Katholiken stimmten für den Kulturkämpfer Bamberger, Nordhausens Antisemiten für den sozialistischen Juden Oskar Cohn. Den Bewachern der konfessionellen Grenze bescherte man in Neuwied-Altenkirchen eine Allianz zwischen dem Zentrum und dem Kreisvorsitzenden des anti-ultramontanen Evangelischen Bundes.148 Kommentatoren des Klassenkampfs in Essen mussten erst einmal verdauen, dass die Sozialdemokraten ihren millionenschweren Arbeitgeber, Friedrich Krupp, dem früheren Metallarbeiter, Gerhard Stötzel von der Linken des Zentrums, vorzogen. Die Linksliberalen, deren Hass gegen den Antisemitismus außer Zweifel steht, handelten 1907 eine Unterstützung durch die Antisemiten aus.149 Das Erstaunen, das Historiker gelegentlich ausdrücken, wenn sie dieses oder jenes unsaubere Wahlbündnis entdecken, zeigt, dass sie das Prinzip nicht begriffen haben: In diesem System wurde keine Partei »ausgegrenzt«.150 Und derselbe Prozess des 146 Lijphart betrachtet das Mehrheitsmodell (Westminster) und das »Konsensmodell« als »diametral entgegengesetzte Modelle der Demokratie«. Democracies, S. 3, 22 f. Gerhard Lembruch nennt dies »Konkordanzdemokratie«. 147 So argumentiert Ritter: Parlamentarismus, S. 33 f. 148 Kühne: Dreiklassenwahlrecht, S. 295 ff. 149 Selbst Georg Winter, der Vizepräsident des Abwehr-Vereins, unterstützte 1907 in Eisenach Antisemiten, um einen SPD-Sieg zu verhindern – weswegen er zurücktreten musste. Levy: Downfall, S. 148 f. 150 Andere seltsame Bettgenossen: das Z und die antiklerikalen F in den gesamten 1880er Jahren; Antisemiten bzw. K, die den SD in Breslau (1881) und in Magdeburg (1884) halfen; Z und SPD 1907. Siehe Politischer Karneval und Bei der Stichwahl – wo ein bayerischer Bauer einem anderen erklärt, warum sie SPD wählen müssen: »Weil d’Religion in G’fahr is!« Simplicissimus XI-II/2 (1906–1907), S. 749, und 783. Hierzu H. W. Smiths treffsichere Kommentare: Religion, S. 306, Anm. 77. Ähnlich (mit pessimistischeren Schlussfolgerungen): Fairbairn: Democracy, S. 261.

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Wettbewerbs, der die Antisemiten nach der Jahrhundertwende dazu bewegte, die »Judenfrage« aus ihren Wahlaufrufen zu streichen, brachte die Sozialdemokraten dazu, den Klassenkampf herunterzuschrauben.151 Die »Kultur«, mit ihren konfessionellen und Klassengegensätzen, die von aufmerksamen Gemeinschaften durchgesetzt wurden, bedeutete dem Wähler fortgesetzt, dass diese Gegensätze von größter Wichtigkeit waren. Die Regeln des Wahlsystems des Kaiserreichs antworteten: nicht immer, und nicht diesmal.152 Indem sie die Konflikte in Deutschland ritualisierten, hielten die Wahlen diese in gewaltfreien Grenzen. Doch solche Rituale weckten den nicht von der Hand zu weisenden Verdacht, dass das eigentliche Interesse der Parteien nicht in der Lösung von Konflikten lag, sondern in ihrer Perpetuierung. Die Ansicht, dass die Parteien die Nutznießer der Konflikte in Deutschland seien, trug dazu bei, die Parteienfeindlichkeit, die für die frühen Stadien repräsentativer Institutionen allgemein typisch sind, in Deutschland bis in die Weimarer Republik hinein am Leben zu halten, wo sie die deutsche Politik massiv heimsuchte und belastete. Konfessionelle und Klassengegensätze, die durch die Ereignisse unmittelbar nach dem Krieg wesentlich verschärft wurden, bestimmten in den Jahren nach dem Krieg weiterhin die Entscheidungen, und dies oftmals auf verhängnisvolle Weise. Bei der Präsidentenwahl von 1925 wurde eine Koalition demokratischer Parteien, deren Sprecher aus dem Zentrum gewählt worden war, knapp von einem pensionierten Feldmarschall geschlagen, der eine Koalition der Rechten anführte. Der Grund war, dass bayerische Katholiken sich weigerten, für irgendjemanden zu stimmen, der von der SPD unterstützt wurde, und dass überdies einige evangelische Liberale den reaktionären Paul von Hindenburg einem »Ultramontanen« vorzogen. Hätte sich eine dieser Gruppen anders verhalten, so wäre vielleicht auch die Weltgeschichte anders verlaufen. Die politische Praxis im Kaiserreich – die Gewohnheiten des Wählens zusammen mit der Gewöhnung daran, nicht regieren zu müssen – hatte sowohl das Zentrum als auch die Sozialdemokraten besser darauf vorbereitet, den subkulturellen Zusammenhang zu verteidigen als die Regierungsverantwortung zu übernehmen – wie dies während der Krise von 1917 und noch tragischer in der krisenhaften Endphase der Weimarer Republik seit 1930 deutlich wurde. Wenn auch das Zentrum (im Gegensatz zu seinem bayerischen Ableger) in den meisten dieser Jahre pflichtgemäß jene Kompromisse machte, die halfen, die Republik funktionsfähig zu erhalten, war es ungünstig, dass die deutsche Demokratie von einer Partei abhängig war, deren Daseinsberechtigung in den gänzlich anderen Bedürfnissen einer universalen Kirche wurzelte. Die »Inkommensurabilität von Kirche und Partei, Religion und Politik« bedeutete, dass die Partei selbst in 151 Crothers: Elections, S. 149 Anm. 121. Die revisionistische Kontroverse (SPD) und der Zentrumsstreit waren Zeichen desselben Drucks. 152 Selbstverständlich traf das, was eine Kultur »sagte«, auch über sich selbst, nicht immer zu. Die »alternative Kultur« der SPD war weniger eine marxistische als eine liberalere, demokratischere und humanere Version der Kultur der Mitte; viele Arbeiter blieben Mitglieder bürgerlicher gesellschaftlicher Organisationen und bewegten sich zwischen beiden »Kulturen«. Lidtke: Culture, S. 45, 194 f.

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den Nachkriegsjahren ständig am Rand der Auflösung stand.153 Was die SPD angeht, so hatte sie vom Dualismus des Kaiserreichs profitiert. Ihr Ethos und ihr Wortschatz waren auf eine heroische Oppositionsrolle zugeschnitten.154 Aber dieselben Arbeitskämpfe, die ihren Zusammenhalt in der Opposition gestärkt hatten, untergruben diesen, als sie an der Macht war. Sie löste sich nicht auf, aber die SPD der Weimarer Zeit erwies sich als unfähig, ihre am stärksten unter Druck stehenden Wähler zu halten – die Partei verlor sie an entscheidenden Schnittstellen an die extremen Parteien auf der Linken und der Rechten. Die abnehmende Stärke dieser beiden einstmals so mächtigen Parteien, die genau zu den Zeiten schwand, als sie ihre Stärke in Verantwortung übertragen mussten, weist darauf hin, dass das enorme Ansehen, das der Reichstag vor dem Krieg genoss, eine Folge des verfassungsmäßigen Dualismus war. Bei Konfrontationen mit einer vereinten monarchischen Autorität – im Kampf um die geheime Abstimmung beispielsweise oder um Diäten für die Abgeordneten – konnten die Abgeordneten zusammenfinden. Es war mit Hilfe dieser Einigkeit – die verloren gehen sollte, sobald das Parlament selbst die Regierung und die Opposition stellte –, dass der Reichstag beanspruchen konnte, das gesamte »deutsche Volk« zu vertreten. Und dennoch: Obwohl nicht alles positiv war, was die Deutschen bei ihrer Einübung einer parlamentarischen Demokratie lernten, war das schlimmste Vermächtnis des deutschen Kaiserreichs an die nächste Generation nicht seine politische Kultur, sondern sein Krieg – die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wie George Kennan ihn genannt hat. Es war der Krieg, der ethnozentrischen Nationalismus in einen Massenwahn verwandelte. Es war der Krieg, der paranoide Denkmuster überzeugend erscheinen ließ.155 Es war der Krieg mit seinen verheerenden Konsequenzen, der den Preis jedes nationalen Konflikts weit über das hinaushob, was irgendein Verlierer – wie demokratisch seine Denkweisen auch immer sein mochten – friedlich zu zahlen bereit war. Es war der Krieg, der die staatliche Autorität und Fähigkeit zerstörte, sicherzustellen, dass Regeln befolgt werden, dass Verträge – geschriebene und ungeschriebene – eingehalten, dass die Bürger vor Gewalt geschützt werden und Gewalt nicht unbestraft bleibt. Wenn wir Max Webers Ausführungen im Revolutionswinter 1918 zum Thema der »Modernen Demagogie« lesen, in denen er den Journalisten als den »wichtigste[n] heutige[n] Repräsentant[en] der Gattung« nennt, und dabei an Röhms Straßentheater, an Albert Speers Techno-Prunk und an Hitlers Tiraden denken, merken wir, dass wir in der Tat nun in einer anderen Welt sind.156 Was wäre geschehen, wenn es keinen Krieg gegeben hätte – den Krieg, für dessen Zustandekommen die deutschen Regierenden, auch wenn sie nicht allein 153 Becker: Ende, S. 360, 375 Anm. 81. Verantwortung: Leugers-Scherzberg: Porsch, S. 222 ff.; Ulrich v. Hehl: Wilhelm Marx 1863–1946, Mainz 1987. 154 Wie Winkler jedoch hervorhebt, bevorzugten auch die Sozialisten in Frankreich, außer während der Union Sacrée, die Freuden der Nicht-Verantwortung: Weimar, S. 599. 155 Searle: Corruption, S. 241 ff., 299 f. zeigt dies, einschließlich seiner antisemitischen Konsequenzen, brillant für Großbritannien. 156 Zu einigen überraschenden Kontinuitäten siehe jedoch Chickering: Mobilization.

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dafür verantwortlich waren, doch so viel getan haben? Auch wenn die südlichen Bundesländer sich grundsätzlich bis 1914 zu parlamentarischen Demokratien entwickelten, so wäre doch wohl ein »Sprung« auf nationaler Ebene nötig gewesen, Deutschland vom Dualismus in ein parlamentarisches System zu verwandeln. Der Sprung hätte nicht gewaltsam sein müssen. Womöglich hätte der Tod des Kaisers mit 83 Jahren – 1941 – zu einer Änderung des Regimes vergleichbar der spanischen nach dem Tode Francos im selben Alter im Jahr 1975 geführt. Wir können es nicht wissen. Wir wissen jedoch, dass nach den Katastrophen der beiden folgenden Jahrzehnte die Deutschen 1945 nicht bei Null anfingen. Wo sie frei handeln konnten, verschafften sich erneut die alten Gegensätze Geltung, etwas verschwommen, gemeinsam mit einem dynamischen Parteiensystem, einem eingefleischten Respekt für Verfahrensweisen und einer Tradition der Beteiligung. Jede Geschichte der Demokratie muss eine Geschichte ohne ein Ende sein – weil die Demokratie stets etwas Vorläufiges hat und selbst überzeugte Demokraten stets nur »üben«. Demokratie ist nie ein erreichtes Ziel, wo man sich ausruhen kann; sie ist immer eine »zu erledigende Arbeit«, eine niemals endende Suche nach Gerechtigkeit und menschlicher Würde.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9:

Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12:

Die mißverstandene Wahlkabine – S. 87 Die Isolierzelle – S. 89 Das Stimmvieh – S. 123 Ein Gedenkblatt – S. 179 Der boshafte Spiegel – S. 190 Zwischen Scylla und Charybdis – S. 193 Ostelbien – S. 209 Die Größe der Landgüter im Deutschen Kaiserreich – S. 223 Die Verteilung der Stimmen für die SPD in Dörfern mit weniger als 2.000 Einwohnern bei der Reichstagswahl von 1898, in Prozent – S. 239 Das gute Herz – S. 267 Nationalliberales Alpdrücken – S. 466 Postkarte, die den Sieg des Fleischermeisters Wilhelm Kobelt (Lib) über den SPD-Mandatsträger in Magdeburg 1907 feiert und von Hermann Spannuth, Sekthändler, bezahlt wurde. Auf der Rückseite ist Bülows Antwort auf das Siegestelegramm der »nationalen« Parteien von Magdeburg abgedruckt, der ihnen für ihren Einsatz und ihre Geschlossenheit dankt. Spannuth schickte die Postkarte »aus Freude« an den Kaiser; er habe die Gelegenheit benutzt, um sich respektvoll vorzustellen. – S. 491

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Mit wenigen Ausnahmen sind nur Werke aufgelistet, die mehr als einmal im Text zitiert werden.

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Personenregister

Adenauer, Konrad 136 Adler, Victor 433 Ahlefeldt 211 Ahlwardt, Hermann 237–238, 240–242 Ampthill, Lord 477 Anderson, Benedict 99 Angerer, Johannes 67, 74 Antoine, Dominique 425 Arndt, Otto 342 Argersinger, Peter H. 53, 56, 58–59, 281–282, 322, 403, 486, 408, 495, 533 Aristoteles 31 Arons, Leo 453 Asquith, Herbert Henry 489 Auer, Ignaz 260, 358, 376, 421, 429 Baader, Ottilie 397 Baare, Louis 270 Bachem, Carl 109, 122, 133, 137, 152, 167, 181, 185, 305, 306, 307, 421, 429, 431, 475, 514 Bachem, Julius 81, 105, 126, 152, 336, 446, 475 Baerer, SPD-Kandidat 258–259 Bajohr, Frank 278, 299, 336–337, 380, 382–384 Balfour, Arthur James 370 Ballestrem, Franz Graf von 215, 453, 475 Ballin, Albert 463 Bamberger, Ludwig 37, 94, 115, 128, 137,

207, 301, 453, 514–515, 519 Barkin, Kenneth D. 131, 142, 147, 220, 229, 230, 243–244, 265, 328–329, 462, 481 Barnes, Samuel 418 Barth, Theodor 487, 302 Bartling, Eduard 454 Bassermann, Ernst 39, 55, 272, 318, 402, 455, 461, 463, 465, 467, 471, 476, 512, 516 Bastineller, Oberst von, sächsischer Landbesitzer 219 Bauer, katholischer Pastor in der Diözese Freiburg 159 Bebel, August 325, 422, 424, 426,–428, 433, 443, 466, 490, 497, 502–503 Behr, Friedrich von 61, 457 Below, Alexander von 228 Bennigsen, Rudolf von 85, 137, 424, 432, 443, 471, 483 Bernstein, Eduard 408 Bethmann Hollweg, Theobald von 54, 178, 245–247, 320, 336, 391, 401, 405–406, 483, 518 Bismarck, Otto von 33–34, 36–37, 43, 61–62, 92, 96, 104, 133, 158, 171, 191, 200–205, 222, 224–225, 227, 231, 256, 266, 268, 278, 302, 305–306, 308, 353, 361, 409–410, 412–413, 420–421, 424, 426, 428–430, 432, 443, 447, 460, 475, 479, 481, 485–487, 489, 493–494, 496

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Personenregister

Bismarck, Wilhelm von 225 Blackbourn, David 137, 194 Blank, Robert 325, 390 Bleichröder, Gerson 453 Blumenthal, Daniel 184 Bluntschli, Johann Caspar 413 Böckel, Otto 58, 237, 431, 514 Boehmer, katholischer Pfarrer 172 Bonin-Bahrenbusch, Bogislav von 241 Borkenau, Franz 165 Bötticher, Karl von 43, 86, 90, 94, 207, 301, 345, 484, 486, 489 Boulanger, Georges 183, 255, 428 Brandt, Willy 236 Braun, Lily 364, 502 Brentano, Lujo 252, 269, 332–333 Briand, Aristide 505 Briggs, Asa 32, 35, 56 Bright, John 205 Bronner, katholischer Pastor in Achern 159 Bruno, Giordano 122 Bryan, William Jennings 282 Buckley, Chris 322 Bueck, Henry Axel 291, 457, 462 Bülow, Bernhard von 309–316, 318–319, 321, 331, 335, 338, 354, 374–375, 390–391, 397, 400, 403, 406–407, 409, 431,438, 491 Busch, Wilhelm 133 Butzer, Hermann 420 Caprivi, Leo Graf von 231, 242, 354, 429, 455–456, 486, 515 Chamberlain, Houston Stewart 370, 516 Chamberlain, Joseph 29, 410 Clemenceau, Georges 428, 446, 471 Cobden, Richard 388, 424–425 Cohn, Oskar 130, 178, 480, 492, 499, 517, 519 Cremer, Christoph Joseph 484, 504, 170 Cronenberg, Eduard 148, 166, 169, 333, 453, 492 Damaschke, Adolf 212 Dangerfield, George 475 Dasbach, Georg Friedrich 83, 149, 159, 161, 231, 303, 446–448, 490, 514 Davitt, Michael 107 Daxer, Anton 67 Delbrück, Hans 88, 95, 232, 305, 406, 506 Derby, Edward George Stanley Graf von 32 Dernberg, Bernhard 85 Detten, Oberbergwerksrath von 258–260, 262 Dieterle, katholischer Pastor in Dogern 159

Disraeli, Benjamin 32, 34, 92, 201, 205, 370 Duncker, Franz 128–129 Duverger, Maurice 283 Eberle, Johannes 66–67, 75 Eberty, Eduard 254–256 Eble, katholischer Pastor in Minseln 159 Eggers, August 262–263 Engl, J. B. 122 Ernst Ludwig, Großherzog von Hessen 515 Erzberger, Matthias 39, 157, 173, 175, 189, 191, 194, 375, 440, 442, 444, 446, 461, 471 Eulenberg, Botho 307, 481 Eynern, Ernst von 81 Fairbairn, Brett 43, 49, 55, 168, 233, 236, 238–240, 244–245, 299, 307–308, 362, 476, 487, 512–513, 519 Falz, Max Bruno 408 Faulhaber, Michael, Kardinal Erzbischof von München-Freising 504 Fechenbach, Carl Friedrich Baron von 150, 152, 264, 455 Fentz, Karl 450 Fischbeck, Otto 390, 394–399 Fish, M. Steven 44, 145, 372, 418–419, 499–500, 510 Flathmann, Johannes 464–465 Fontane, Theodor 52, 138, 217, 220, 231, 267, 485 Forcade de la Biaix, Friedrich Christoph von 472 Forckenbeck, Max von 240, 423 Franco, General Francisco 522 Frauendienst, Werner 246, 499 Freßberger, Arbeiter bei Krupp 278–280, 328 Fricke, Dieter 243, 315, 338, 462–464, 466 Friedberg, Robert 396, 454 Friedrich, Kronprinz von Preußen (später Kaiser Friedrich I) 515, 230 Friedrich I, Großherzog von Baden 515 Fries, Hugo Friedrich 94 Fuchs, Eduard 218 Fürstenberg, Landrat von (»Septennatskatholik«) 386 Fusangel, Johannes 350 Gagern, Heinrich von 127 Gaisert, katholischer Pastor von Gündelwangen 181 Galileio 122 Gallie, W. B. 49 Gambetta, Leon 160, 428 Garibaldi, Guiseppe 160 Gash, Norman 221

Personenregister

Geck, Ernst Adolf 86, 302, 349, 355, 357 Geertz, Clifford 46 Geissler, Carl 92 Gellner, Ernest 114, 116 Gerlach, Hellmut von 84, 151, 205, 207–208, 211–213, 225, 237, 269, 306, 360, 362, 442, 449, 465, 483 Gerlach, Ludwig von 60, 125, 126, 271, 317–319 Gerry, Elbridge, amerikanischer Politiker 98–99, 409 Gessmann, Albert 443 Girod, Ernst 343 Gladstone, William E. 35, 92, 155, 282, 370, 426, 428, 489 Gnauck-Kühne, Elisabeth 169 Gneist, Rudolf 68, 85, 116, 135, 137, 140 Göhre, Paul 275, 365, 379, 387, 390, 423, 433, 439, 445, 484 Gordchauz, Edouard 183 Groß, Ludwig 79 Gröber, Adolf 85, 114, 129, 262, 265, 302, 311, 431, 486 Gutenberg, Johann 122 Guttsman, William 299–300, 322, 324, 382, 384, 394, 396–397, 423, 433, 441 Haarmann, Gustav 273 Haeckel, Ernst 178 Hahn, Diederich 60, 440, 457, 471, 511 Hammerstein, Wilhelm von 446, 450 Hammerstein-Loxten, Baron Hans von 480 Hanham, H. J. 55, 70, 100, 107, 194, 205, 221, 435 Hänichen, Felix Oskar 393 Hare, Thomas 413 Hartmann, Kardinal Felix (Erzbischof von Köln) 504 Hartung, Fritz 244, 306, 407, 510 Hasenclever, Wilhelm 345–346, 357, 367, 369, 375 Hasselmann, Wilhelm 78, 81 Haym, Rudolf 127 Heimpel, Hermann 42 Heise, Fabrikdirektor in Freden 263, 284 Helldorf-Bedra, Otto von 94, 232 Henckel von Donnersmarck, Guido Graf (später Fürst) 103 Henrici, Ernst 238 Hergenroether, Franz Josef 110, 157 Herriot, Eduard 485 Hertling, Georg Freiherr von 424, 504 Herzfeld, Josef 407 Heydebrand, Ernst von 248, 366, 368

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Heyl zu Herrnsheim, Cornelius von 286, 457 Hilger, Ewald 349–350 Hindenburg, Paul von 520 Hirschberg, jüdischer Kürschner 363 Hirschberg, Max 401 Hitler, Adolf 144, 521 Hitze, Franz 167 Hoesch, Albert 270 Hohenlohe-Ingelfingen, Karl von Koschintin, Prinz zu 214 Hohenlohe-Oehringen, Erbprinz Christian Krafft zu 214, 221 Hohenlohe-Oehringen, Hugo Fürst zu, Herzog von Ujest 214 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig, Fürst zu 104, 305, 441, 137 Hohenlohe-Schillingsfürst, Prinz (später Fürst) Alexander zu 137 Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, Viktor Moritz Karl, Herzog von Ratibor 214 Holstein-Waterneverstorff, Graf von 211, 220 Holtz, Otto 362–363 Hoverbeck, Leopold von 226 Huber, Ernst-Rudolf 33–34, 36, 61, 77, 91, 116, 129, 131, 140, 182, 208, 232, 250, 265, 410, 420, 422, 425, 431, 470 Hugo, Victor 506 Hundt, August 274–275 James, William 42 Jehsen, Jürg 261–262 Jellinek, Georg 36, 64, 460 Jensen, Richard 107, 266, 282 Jesset, konservativer Lehrer in Ostpreußen 71 Jones, E. L. 49–50, 144, 245, 461 Jones, P. M. 103, 196, 287, 480, 482, 484 Jörg, Josef Edmund 99, 109, 113, 117, 125, 129, 153, 421–422, 425, 436, 455 Joyce, Patrick 276 Kaas, Ludwig 186 Kapp, Friedrich 127 Kapp, Wolfgang 336 Kautsky, Karl 433, 446 Kehren, Justizrat, nationalliberaler Kandidat 456 Keil, Wilhelm 326 Kennan, George 521 Ketteler, Wilhelm Emanuel Baron von 113, 125, 148, 155–156, 442, 515, 113, 125, 148, 155–157, 163, 174, 442, 515 Kirdorf, Emil 286, 303

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Personenregister

Klatt, katholischer Dekan in Westpreußen 167 Klein, Bischof Karl 159 Kleist-Retzow, Hans von 94 Kley, Dale van 48 Knorr, Julius 85, 96, 104, 106, 163, 410 Kobelt, Wilhelm 491 Kohl, Helmut 136 Köller, Ernst von 64, 68–69, 73, 80, 170, 176, 212, 289, 295, 307, 345, 364, 369, 375–377, 428, 440 Kopp, Kardinal Georg 180–181, 516 Korfanty, Albert Wojciech 180–181, 186, 196, 358 Koschintin, Prinz Karl von (siehe Hohenlohe-Ingelfingen) Kötzsche, Hermann 303–304, 328 Kousser, Morgan 34–35, 84, 200, 380 Kraft, Sebastian 403, 433 Krebs, Joseph 430 Krementz, Kardinal Philipp 516 Kreuzer, Marcus 46, 98, 195, 404 Kröber, Heinrich 268, 358, 432 Krupp, Alfred 253, 268–269, 275, 276-280, 337–338, 380–381, 457 Krupp, Friedrich 413, 460, 490 Kühne, Thomas 142, 224, 228, 292, 302, 332, 436, 506 Laband, Paul 207, 301, 402, 409 Lasker, Eduard 104, 112, 128, 130, 136, 428, 485, 489, 514 Lassalle, Ferdinand 323, 343, 368, 370, 382 Lehnen, Ludwig 350 Lenin, Vladimir Ilich 351 Lenzmann, Julius 82, 270, 275, 380 Leo XIII, Papst 158 Liebert, General Eduard von 248, 348 Liebknecht, Wilhelm 39, 364–365, 446, 450, 476 Lijphart, Arend 40, 283, 519 Lipset, Seymour Martin 145, 458, 474 Löwe, Wilhelm 80, 84–85, 270, 276, 292, 330, 379, 437 Luther, Martin 190 Macaulay, Thomas Babington 424 MacMahon, Graf M. E.P. M. de 506 Madison, James 495 Mahlke, H. Schneider 342, 358 Mann, Heinrich 256, 374, 376–377, 379, 387 Manteuffel, Edwin von 84, 183, 387, 483–484 Marx, Karl 324 Maybac

Maybach, Albert von 483 Meath, Bischof von 107, 161 Miarka, Karol 168, 446–447 Michels, Robert 474, 477 Mill, James 201 Mill, John Stuart 32, 94, 421, 472 Miquel, Johannes 229, 291, 305, 307, 421, 424 Mirabeau, H. G. V. Graf de 469 Mohl, Robert von 60, 78, 126–127, 130, 139–140, 171, 294, 503 Möller, Theodor von 111, 114, 119, 121, 124, 134, 142, 144, 149, 184, 253, 265, 267, 270, 278, 280, 291, 329, 339, 332–333, 366, 369, 379–380, 424, 430, 433, 437, 441, 472, 486 Moltke, Helmut von 38, 226, 319, 429, 442–444 Mommsen, Theodor 112, 429, 494, 515 Morgan, Edmund 124, 198 Mosse, Rudolf 446 Moufang, Christoph 122, 148, 157 Moy, Ernst Graf von 179–180, 182–183, 188 Müller, Eduard 104, 111, 134, 168, 346, 446, 498, 514 Müller, Richard 151, 307, 453 Napoleon (Bonaparte) 206 Napoleon III 480, 482 Naumann, Friedrich 36, 55, 115, 183, 188, 212, 245, 266, 269, 304, 398, 412, 431, 446, 464, 471 Neumayer, Elisabeth 67, 97 Nietzsche, Friedrich 49 Nipperdey, Thomas 212, 217, 227, 231, 244, 288, 305, 387, 422–424, 426, 432–433, 440–441, 446, 448–449, 451–454, 456, 458–459, 462, 465, 467, 470–472, 500 Opitz, Emil 378 Oppenfeld, Moritz von 241 Orbin, Johann Baptist 159 Oriola, Waldemar 454 Paasche, Hermann 516 Palmerston, Henry John Temple 370 Pareto, Vilfredo 477 Parisius, Ludolf 85, 214, 448 Peel, Sir Robert 63, 282, 370, 388 Peer, Martin 97 Petersen, H. C. 261–262, 284 Philipps, Georg 104, 110, 225–226, 380, 454 Pieczonka, Franz 31, 33, 37, 42–44, 511 Pieper, Johannes 279 Posadowsky-Wehner, Arthur von 308, 310, 473

Personenregister

Putnam, Robert D. 46, 372 Puttkamer, Robert von 90, 207, 215, 226– 229, 266, 268, 278, 481–482, 485–487, 492–494 Ratibor, Herzog von (siehe HohenloheWaldenburg-Schillingsfürst, Viktor Moritz Karl) Ratzinger, Georg 446 Rauchhaupt, Wilhelm von 207, 299, 497 Reden, Ferdinand von 442 Reichensperger, August 82, 104–105, 147, 231, 233, 421, 425, 441 Reichensperger, Peter 75, 94, 129, 233, 475 Richter, Eugen 61, 69, 80–81, 231, 255, 289, 311, 361, 367, 369, 390, 400, 423–424, 427–429, 432, 437, 438, 440–445,448–449, 452–453, 471–472, 475, 502, 515 Richthofen-Brechelshof, Baron von 207 Rickert, Heinrich 71, 73, 82–83, 85–86, 90– 91, 129, 207, 233, 290, 294, 301–302, 304, 308–314, 318, 320–321, 349, 354–356, 358, 361, 369, 374, 376, 387, 421, 425–428, 445, 471, 481, 486, 489, 493, 497, 507, 510 Rinteln, Viktor 290–291, 293 Ritter von Schulte, Johann Friedrich 110 Rochefort, Marquis de Henri 160 Rohe, Karl 42, 66, 92, 141–145, 166, 212, 277, 323–324, 380, 382, 384, 443 Russell, Lord John 63 Rustow, Dankwart 31–32, 44–48, 197, 300, 494, 496, 498, 503, 508, 510, 513 Salisbury, Robert Cecil, Marquis von 282 Sartori, Giovanni 121, 135, 145, 233–234, 282, 323 Schaub, Adam 349 Schels, August 125, 128–129 Schepmann, Richard 274–275 Scheidemann, Philipp 471, 476 Schiffer, Eugen 464, 475 Schiller, Friedrich 122, 307 Schmidt, Peter 402 Schneidler, Carl 407–408 Schönburg-Waldenburg, Ulrich Prinz von 218 Schorske, Carl 499–500 Schrader, Karl 368, 453 Schröder, Ludwig 336 Schröder, Theodor 347, 353 Schulze, Winfried 162 Schulze-Delitzsch, Hermann 201 Schwabach, Paul von 463 Seyffardt, Ludwig Friedrich 105, 119, 125, 171, 229, 485

553

Skerra, Karl und Marie 247 Smith, Helmut Walser 109, 111, 142, 152, 154, 163–164, 166, 168, 177, 184–185, 519 Smith, John Prince 126 Sombart, Anton Ludwig 85–86 Sonnenberg, Max Liebermann von 242, 302, 330, 360, 366, 368, 370, 446, 469, 511, 516 Spahn, Peter 189, 194, 272, 312, 345, 354, 369, 421, 471 Spannuth, Hermann 490–491 Speckbacker, Vincenz 66 Spee-Heltorf, Franz von 386 Stechlin, Dubslav von 138, 216–217, 220, 231, 267 Stephan, Karl Eusebius Bernhard 353 Stinnes, Hugo 285–286 Stoecker, Adolf 72, 168, 230–231, 237–238, 240–242, 288–289, 361–362, 366, 369, 421, 427, 446, 452–453, 504, 514–515–516 Stresemann, Gustav 457, 460, 464, 467, 471 Strosser, August 475, 199 Strosser, Karl 94 Stumm, Karl Ferdinand von 83, 271, 273, 276? 286, 303–304, 306, 332, 336, 365, 378, 403 Suval, Stanley 38–39, 43, 73, 77, 148, 168, 211, 216–219, 236, 265, 299, 349, 356, 392, 412, 436. 487, 493, 500 Sybel, Heinrich von 116, 119, 183 Thoma, Ludwig 150, 191, 378 Thompson, Edward P. 341 Thyssen, August 285–286 Tielsch, Egmont 252–253–257, 260, 276 Tille, Alexander 284–285, 464 Tocqueville, Alexis de 32, 46, 372 Treitschke, Heinrich von 118, 127, 497 Tweed, William M. (Boss) 322, 408 Twesten, Karl 205 Vincent, John 107, 281–282, 459 Virchow, Rudolf 365, 442–443 Vopelius, Richard 462 Wagner, Adolf 481, 304, 306 Weber, Max 37, 77, 154, 158, 213, 259, 284–286, 325, 428–429, 431, 446, 449, 471, 494, 512, 521 Wehler, Hans Ulrich 39, 219–220, 222, 224, 232, 238, 247, 284, 286, 321, 328–329, 458, 479, 488, 494, 508, 510–512 Wiemer, Otto 479, 488, 493 Wildenbruch, Ernst von 230 Wilhelm I 84, 279–280, 387, 413, 484

554

Personenregister

Wilhelm II 232, 256, 289, 294, 305–307, 337, 378, 413, 460, 488–490, 496–497 Windthorst, Ludwig 37–38, 49, 64, 94–95, 114, 116, 122, 125, 141, 150, 159, 167, 169–170, 174–175, 207, 230, 262, 269,

284, 290–292, 300–302, 305, 312, 352, 369, 409, 420, 427–428, 439, 442–443, 448, 470–471, 473, 483, 499, 510, 515 Winkler, Heinrich August 48, 478–479 Zillessen, Adolf 304

Ortsregister

Aachen 58, 80, 98, 169, 172, 275, 276, 371, 389, 439, 492 Achern 159 Allenstein 177, 236 Alsfeld 239 Alt-Chemnitz 202, 203 Altendorf 234, 380, 381 Alt-Gurren 71 Altona 75, 266, 357, 400, 436 Alzey-Bingen 515, 519 Angerburg-Lötzen 69 Arnsberg 349 Arnswalde-Friedeberg 226, 240, 368 Augsburg 85, 113, 116, 132, 183, 185, 188 Australien 320, 504 Baden 33, 62, 73, 75, 77, 125, 131, 135, 142, 143, 148, 149, 151, 153, 154, 159, 161, 162, 164, 177–182, 187, 189, 235, 319, 320, 347, 357, 363, 367, 370, 375, 389, 414, 434, 454, 484, 486, 489 Bamberg 37, 71, 94, 110, 115, 118, 128, 137, 188, 207, 301, 453, 514, 515, 519 Barmen 81, 134, 264, 346, 354, 380, 387, 425 Bayern 13, 33, 38, 54, 59, 67, 74, 75, 79, 80, 85, 91, 97, 104, 109, 117, 125, 129, 134, 142, 143, 148, 151, 155, 157, 176, 178, 179, 181, 182, 189, 235, 238, 266, 268, 291, 330, 332, 342, 363, 414, 416, 424, 440,

441, 443, 446, 489 Beeskow 225, 412 Belgard-Schivelbein-Dramburg 225 Belgien 49, 83, 84, 129, 180, 292, 301, 320, 345, 507 Bensheim-Erbach 98 Bentheim-Meppen-Lingen 154 Bergheim-Euskirchen 401 Berlin 40, 47, 54, 69, 72, 73, 81, 104, 136, 148, 153, 174, 176, 203, 207, 230, 232, 240–242, 245, 247, 249, 250, 256, 268, 276, 279, 280, 290, 292, 315, 322, 325, 330, 333, 345, 347, 351, 355, 357, 370, 378, 391, 393–402, 406, 407, 410, 413, 416, 421–423, 429, 430, 433, 435–437, 440–443, 445, 450, 451, 453, 456, 458, 474, 475, 481, 484, 490, 495, 504, 505, 514, 516 Betzdorf 401 Beuthen 171, 195, 447 Bielefeld 168, 192, 427, 495 Birnbaum 244, 385 Bischoffswerda 361 Bitburg, Kreis 139, 159 Blankenstein 275 Bochum 80, 83, 105, 127, 133, 143, 171, 176, 194, 199, 252, 261, 268–273, 276, 292, 293, 330, 332, 361, 366, 379, 428, 434, 468, 485

556

Ortsregister

Bonn 109, 119, 164, 254, 413, 460, 514 Boppard 133 Boronow 77 Brandenburg 133, 162, 204, 217, 228, 230, 232, 240, 249, 333, 412, 484, 486 Braunsberg 134 Braunschweig-Blankenburg 79, 263, 284, 325, 351, 359, 375–377, 379, 388, 443 Bremen 134, 325, 400, 401 Breslau 71, 72, 74, 76–79, 81, 83, 92, 133, 134, 170, 176, 180, 181, 204–207, 211, 214, 215, 218, 236, 247, 248, 253, 254, 256, 261, 263, 264, 266, 268, 276, 291, 292, 294, 318, 322, 330, 349, 352, 353, 357, 358, 365, 368, 378, 389, 435, 436, 454, 516517, 519 Bretten 389 Büchelberg 160 Chemnitz 76, 79, 80, 202, 203, 275, 323, 379, 382, 390, 391, 433, 438, 445, 484, 488 Chile 320 Colmar 178, 184, 194 Dänemark 34 Danzig 44, 64, 73, 74, 114, 199, 235, 236, 268, 291, 295, 357, 377, 387, 486, 493 Darmstadt 157, 326, 490, 495, 515, 517 Dessau 264, 486 Dörnfeld 88 Dogern 159 Dortmund 80, 144, 270, 353, 390, 397, 441 Dortmund-Hörde 294, 380 Dresden 134, 315, 323, 324, 335, 368, 370, 393, 401, 405, 455, 489, 490, 492, 493, 497 Düsseldorf 77, 80, 119, 130, 134, 139–141, 144, 164, 165, 169, 316, 346, 355, 380, 401, 432, 435, 445, 456, 485 Duisburg 134, 143, 192, 392, 468 Eichstätt 134 Eifel 109, 151, 368, 447 Eisenach 361, 370, 503, 519 Eisleben 82, 370 Elberfeld 83, 353 Elberfeld-Barmen 264, 346, 380, 387 Elsass-Lothringen 54, 79, 80, 108, 136, 141, 153, 162, 176, 181, 183, 184, 186, 194, 305, 306, 385, 483, 484 Ems, Emsland 98, 136, 167, 269, 483 Erfurt 71, 78, 80, 83, 134, 210, 268, 317, 344, 376, 379, 504 Eschwege 239 Essen 116, 144, 269, 277, 278, 280, 336, 337, 366, 380, 381, 383, 426, 457, 519

Esslingen 325 Flensburg 206, 211, 262, 342, 344, 358, 385 Frankreich 32, 34, 49, 51, 61, 64, 82, 84, 88, 103, 107, 108, 114, 118, 127, 129, 136–138, 146, 150, 153, 160, 165, 172, 183, 196, 281, 287, 292, 320, 363, 374, 404, 420, 425, 428, 440, 445, 455, 471, 477, 480, 482, 483, 485, 488, 504, 506, 507, 521 Franken 71, 74, 117, 160, 235, 318, 378, 455 Frankfurt 33, 42, 73, 78, 79, 80, 83, 142, 143, 204, 211, 221, 225, 226, 240, 241, 246, 247, 249, 250, 315, 317, 390, 401, 435, 487, 502, 517 Freiburg 72, 73, 75–77, 134, 135, 148, 159, 163, 164, 414 Friedrichsruh 231, 232, 305 Fritzlar 239 Fulda 151, 152, 158, 307, 453 Futterkamp 212 Gaildorf 99, 143, 409, 412 Geisa 371 Gelnhausen 192, 392 Gießen 239 Glauchau 325 Gleiwitz 118, 214, 385 Göttingen 65, 423, 433, 457 Gotha 78, 363, 376, 503 Greifswald 60, 437 Groß Munzel 79 Groß Sibsau 408 Groß Strehlitz-Kosel 214 Großbritannien 13, 32, 35, 37, 45, 54, 63, 77, 91, 93, 99, 100, 129, 180, 216, 220, 221, 281, 292, 404, 410, 411, 421, 434, 442, 446, 451, 453, 455, 474, 475, 477, 506, 509, 521 Gündelwangen 181 Gütersloh 192, 392 Gutach 347 Hagenau 184 Halberstadt 436 Halle 57, 233 Hamburg 75, 236, 254, 315, 322, 324, 325, 328, 329, 332, 353, 355, 359, 361, 379, 382, 400, 404, 410, 413, 416, 422, 432, 434–436, 442, 450, 453, 459, 497, 503 Hameln-Linden Land Springe 258, 260 Hamm-Soest 380 Hanau 58 Hanau-Gelnhausen 192 Hannover 65, 71, 72, 78, 79, 114, 136, 169, 202, 218, 228, 235, 243, 258, 260, 262, 265, 266, 268, 275, 316, 343, 344, 347,

Ortsregister

349, 358, 361, 376, 378, 399, 400, 420, 464, 485, 487, 514 Harburg 344, 495 Haspe 81 Heidenheim 261 Heilbronn 161, 346 Hersfeld 239 Hessen 33, 62, 73, 77, 78, 80, 83, 98, 128, 131, 143, 150, 157, 164, 228, 238, 243, 249, 323, 324, 334, 357–359, 363, 371, 374, 375, 387, 400, 401, 434, 477, 487, 498 Hollenbach 167 Holstein 204, 212, 217, 221 Hoyerswerda, Kreis 218 Ingolstadt 167 Irland 41, 58, 108, 116, 148, 160–162, 196, 411, 424, 509 Island 34 Italien 35, 58, 82, 110, 118, 125, 129, 131, 171, 180, 372, 421 Jena 83, 309, 310 Jerichow 97, 226 Kanada 84 Karlsruhe 170, 357, 413 Kassel 73, 78–80, 176, 205, 219, 235, 266, 291, 316–318, 343, 344, 375, 390, 427, 484 Kattowitz-Zabrze 180, 196 Kiel 212, 291, 322, 357, 427, 430, 436, 502 Koblenz 76, 84, 129, 134, 268, 278, 326, 365, 380, 434, 515 Köln 57, 109, 116, 119, 122, 133, 134, 139, 142, 151, 152, 154, 155, 159, 165, 235, 305, 315, 323, 326, 332, 401, 430, 445, 456, 475, 504, 514, 516 Königsberg-Fischhausen 226 Königsberg Stadt 57, 73, 78, 79, 83, 92, 205, 225, 226, 228, 236, 248, 250, 266, 291, 318, 343, 347, 357, 407, 493 Königshütte 168, 171, 447 Köslin 79, 81, 83, 98, 204, 205, 210, 225, 227, 243, 248, 344, 504 Kolumbien 107 Konstanz 119, 124 Krakau 180 Krefeld 82, 105, 119–121, 134, 169, 171, 307, 445 Kreuzburg-Rosenberg 214, 216, 271 Labiau-Wehlau 225 Landsberg-Soldin 225 Lateinamerika 164, 280, 499 Leipzig 73, 78, 133, 257, 261, 323, 344, 401, 416, 441, 443, 456, 458, Lendzin 140

557

Liptingen 154, 161 Lörrach 370 Ludwigshafen 260, 291, 378 Luxemburg 83, 180, 320 Magdeburg 72, 80, 198, 225, 226, 317, 318, 344, 351, 378, 433, 435, 436, 476, 491, 519 Mainz 110, 122, 134, 136, 378 Mannheim 325, 326 Marburg 133, 151, 237, 239, 288, 433 Meiningen 74, 172, 316, 318, 363, 368, 371, 376, 377, 471 Melsungen 371 Memel 226, 427 Meßkirch 162, 195 Miltenberg 455 Minden 73, 74, 115, 204, 226, 289, 330, 344, 514 Mörs-Rees 122 Mülheim 83, 133, 174, 263, 285, 379, 420 München 76, 85, 134, 138, 150, 164, 232, 315, 324, 325, 335, 342, 344, 358, 432–434, 437, 443, 493 Münster 53, 113, 129, 135, 136, 159, 357, 400, 427 Neuhaus 212 Neu-Salzbrunn 252 Neuseeland 40 Neustettin 225, 238, 240, 241 Niederbarnim 406 Niederlande 34, 83 Nordhausen 240, 443, 479, 480, 493, 499, 500 Nordirland 41 Northeim 70 Norwegen 34, 301, 320 Oberwesterwald 150 Österreich 34, 41, 107, 110, 111, 125, 170, 180, 183, 294, 300, 371, 433, 436, 443, 451, 507, 517, 531 Offenbach 357, 416 Olpe-Meschede-Arnsberg 142 Osnabrück 134, 159 Osterburg-Stendal 225 Ottweiler-St. Wendel-Meisenheim 379, 401 Pleß-Rybnik 104, 105, 115, 128, 140, 163, 168, 186, 214, 323, 346, 410, 448, 472 Plön-Oldenburg 368 Polen 167, 180, 181, 185, 220, 262, 356, 415 Pommern 98, 186, 204, 208, 220, 228, 235, 237, 238, 240, 241, 251, 317, 333, 428, 468 Portugal 82, 84, 129 Posen 32, 113, 114, 130, 148, 154, 176, 177,

558

Ortsregister

181, 186, 205, 208, 220, 228, 229, 235, 236, 244, 264, 319, 328, 331, 353, 357, 385, 410 Prenzlau-Angermünde 225 Prüm 155, 156, 385 Ragnit-Pillkallen 452 Randow-Greifenhagen 226 Regensburg 413, 414, 460 Rheinland 98, 111, 116, 120, 124, 136, 142, 143, 171, 177, 235, 263, 328, 391, 401, 503 Rinteln 239 Rosenheim 122 Rostock 403, 407 Rothenburg-Hoyerswerda 79 Ruhrgebiet 144, 254, 273, 323, 330, 349, 378, 390, 468, 518 Saarbrücken 82, 265, 272, 273, 379, 401, 402, 404, 457, 495 Saargemünd 184 Saarland 163, 284, 304, 324, 349, 457 Sachsen 33, 72, 73, 79, 80, 82, 83, 85, 97, 114, 131, 151, 204, 205, 207, 219, 234, 235, 240, 248, 249, 251, 257, 258, 261, 263, 266, 268, 310, 314, 318, 323–327, 330, 331, 333, 334, 343, 348, 355, 356, 363, 367, 374–376, 378, 379, 386, 387, 393, 395, 401, 403–405, 427, 434, 436, 440, 479, 481, 486, 489, 492, 498, 502, 511, Salzwedel-Gardelegen 225 Schlesien 79, 103, 104, 135, 142, 148, 155, 157, 169, 176, 180, 181, 186, 195, 204, 213, 215, 217, 220, 221, 236, 313, 328, 358, 378, 386, 426, 447, Schleswig-Holstein 75, 211, 251, 344, 356, 357, 358, 369, 493

Schweden 34, 45 Schweinitz-Wittenberg 454 Schweiz 34, 164, 180 Sensburg-Ortelsberg 226, 453 Siegburg 149 Siegen 289 Solingen 324, 359, 380, 426 Spanien 34, 58, 82, 129, 165, 180, 281, 287, 421 Stolp 225 Stralsund 344 Strasburg (Preußen) 167 Straßburg (Elsaß-Lothringen) 148, 184, 305, 356, 387, 389, 402, 484, 486 Stuttgart 268, 315, 400 Teltow-(Beeskow-Storkow-)Charlottenburg 225, 250, 410 Thüringen 114, 234, 235, 370, 376, 451 Ueckermünde-Usedom-Wollin 226, 441 Ulm 44, 261, 266, 284 Ungarn 345 Untertürkkheim 275, 276 USA 323, 346, 372, 408, 411 Vatikan 110, 112 Westfalen 135, 142, 168, 226, 328 Westpreußen 98, 148, 186, 204, 228, 235, 236, 238, 262, 318, 328, 517, 518 Wien 294, 371, 490, 501 Wohlau-Guhrau-Steinau 208 Worms 286, 457 Württemberg 33, 62, 108, 125, 138, 143, 150, 153, 162, 164, 178, 179, 181, 182, 187, 235, 261, 266, 268, 311, 319, 320, 323, 344, 363, 400, 412, 416 Würzburg 134, 152, 172, 455

Sachregister

1848 (Revolution) 32, 109, 237 Ächtung 47, 138, 210, 384–386, 388, 391 Afroamerikaner 34, 84 Alldeutscher Verband 372, 374, 512 Antikatholizismus 131 Antiklerikale 126, 128, 131, 132, 140, 171, 172, 173, 184, 185, 188, 191, 192, 215, 231, 519 Antisemiten, antisemitisch 13, 23, 27, 58, 98, 184, 203, 230, 237–243, 248, 264, 302, 321, 324, 325, 330, 352, 353, 360, 361–363, 367, 368, 369–371, 389, 392, 393, 340, 431, 441, 446, 453, 454, 463, 479, 480, 486, 489, 499, 512, 514–517, 519, 520, 521 Antisemitismus 184, 203, 237, 238, 363, 453, 486, 514–517, 519 Antrag Rickerts 85, 302, 309–311, 320, 349, 358, 507, 510 Antrag Rinteln 290, 291, 293 Arbeitslosigkeit 328–329, 334–335 Australischer Stimmzettel 84 Autorität 32, 38, 46, 47, 70, 73, 76, 95–97, 100, 106, 110, 147, 157, 158, 160, 162, 172, 194–196, 198, 201–205, 207, 208, 210, 229, 233, 259, 270, 271, 277, 280, 286–288, 294, 299, 301, 322, 327, 330, 334, 338, 340–343, 351, 355, 365, 366, 369, 382, 394, 420, 438, 440, 445, 458,

498, 485, 492, 494, 496–498, 504, 518, 519, 521 Baden Aniline and Soda Company (BASF) 260 Bayerischer Bauernbund 353, 446 Bestechung 13, 56, 57, 59, 60, 77, 108, 114, 282, 294, 295, 451, 456, 569 Betrug 54, 58, 59, 63, 79, 95, 106, 121, 215, 221, 282, 294, 322, 379, 401, 407, 408, 416, 423, 451, 469, 495, 497, 501, 508 Bonapartismus 38, 51, 248, 480, 482 Boykott 41, 47, 148, 192, 387–396, 398, 399, 412, 500, 515, 516, 518 Bülow Block 182 Bund der Industriellen (BdI) 457 Bund der Landwirte (BdL) 191, 216, 243, 385, 389, 440, 446, 456, 467 Bundesrat 31, 62, 85, 86, 302, 307, 310, 351, 353, 355, 429, 431, 507–509 Bundesrepublik Deutschland (BRD) 62, 376 Cäsarismus, siehe auch Bonapartismus 51, 480, 488, 494, 506 Centralverband deutscher Industrieller 306 Centralverein deutscher Bürger jüdischen Glaubens 459, 462, 515 Charisma 362, 427, 494 Christlich Soziale 469 Constantia, Zentrumswahlverein 169, 371, 389, 453

560

Sachregister

Das kleine Sozialistengesetz 306 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 322, 325 Deutsche Vereinigung 178 Deutscher Juristentag 391 Die Grünen 474 Dreyfus-Affäre 184 Drittes Reich 382 Dualismus 40, 99, 280, 316–318, 424, 460, 471, 473, 479, 481, 489, 508, 521, 522 Eisenacher Programm 503 Enteignungsgesetz 517 Erfurter Parteitag 359 Evangelischer Bund 191, 519 Frankfurter Nationalversammlung (1848– 1849) 92, 93, 109, 200 Frauen 34–35, 64, 73, 90, 118, 126, 134, 165–173, 207, 246, 287, 329, 333, 345, 347, 363–364, 366, 369–370, 384, 394–395, 397–398, 414, 422, 441, 445, 478, 480, 490, 493, 502–505, 511 Freie Kirchlich-soziale Konferenz 504 Freie Konservative 104, 415, 446 Freie Rede 130 Freisinn siehe: Linksliberale 159, 207, 219, 231, 240, 241, 254–256, 263, 264, 270, 290, 293, 301, 310, 311, 354, 423, 425, 426, 433, 434, 444, 453, 462, 468 Geheime Wahl siehe: Wahlurne, Stimmzettel 36, 61, 66, 77–78, 91–95, 99, 201, 237, 264, 282, 299, 301, 316, 320, 393, 500, 503 Gerrymandering 98, 99, 409 Giordano-Bruno-Bund 178 Gumbinnen 37, 57, 69, 71–73, 76–78, 80, 83, 84, 91, 92, 99, 114, 227, 228, 235, 247, 248, 250, 265, 266, 334, 343, 344, 358, 374, 453, 484, 486, 495, 511 Gustav-Adolph-Verein 178 Harpener Bergbau-AG 269 Herzogtum Braunschweig 362, 376 Hibernia 269 Hohenlohe-Klan 214 Hohenzollern 90, 97, 139, 230, 480, 483 Hörde 58, 272, 294, 330, 344, 380, 495 Identitätspolitik 499 Imperatives Mandat 473 institutionalistisch 46, 513 Interessenbündelung 459, 513 Interessengruppen 42, 149, 185, 216, 315, 405, 440, 456–458, 460, 462, 464, 467–469, 474 Interessengruppen 42, 149, 185, 216,

315, 405, 440, 456–458, 460, 462, 464, 467–469, 474 Jesuiten 112, 116, 118, 132–138, 157, 160, 178, 188, 189, 191, 192, 314 Juden 124, 134, 137, 174, 183, 184, 237, 238, 241, 362, 289, 447, 452, 453, 459, 486, 513–516, 519 Kanzelparagraph 130, 131, 139, 140, 162, 179, 351 Kartell 57, 230, 476, 492 Katholiken 41, 58, 94, 99, 105, 109–111, 113, 116, 117, 120–122, 124, 133–135, 141–144, 146, 147, 151–154, 158, 161, 164–170, 172, 174, 176, 181, 183–185, 187, 272, 273, 276, 278, 289, 321, 331, 332, 337, 362, 367, 380, 386, 387, 392, 393, 401, 426, 430, 460, 472, 473, 499, 514, 515, 518–520 Katholikentag 158, 170, 187, 387 katholisch 112, 113, 141, 142, 145, 153, 163, 164, 275, 337, 371, 179, 380 Kladderadatsch 133, 179, 189, 193, 386 Klerus siehe auch katholisch 46, 65, 100, 105–111, 113, 115–119, 121, 126–129, 131, 132, 135, 136, 138–140, 146, 147–152, 155–163, 166, 167, 171, 172, 175–179, 181–186, 188, 189, 194, 196, 197, 229, 234, 244, 281, 291, 331, 351, 366, 402, 447, 487, 488, 498, 518 Klientelismus 499 Konservative Partei 69, 216, 231, 242, 251 Kraus-Gesellschaft 149, 178, 187 Kriegervereine 315, 374–377, 479, 489 Krupp, Firma 268 Kultur 44–46, 50, 60, 144, 150, 158, 165, 167, 169, 176, 184, 195–197, 199, 211, 238, 250, 258, 321, 322, 325, 333, 341, 350–352, 357, 360, 383, 384, 423, 443, 449, 450, 473, 482, 509, 520, 521 Kulturalistische Debatte 46 Kulturkampf 46, 105, 106, 111, 113, 117, 118, 131–133, 137, 139, 143, 146, 147, 149, 152, 153, 166, 168, 169, 177, 178, 183, 184, 192, 222, 229, 250, 263, 272, 303, 315, 327, 359, 380, 393, 419, 430, 442, 446–448, 498, 505, 513–515 landwirtschaftlichen Protektionismus 203 Legalismus 47, 56, 300, 348, 351 Lernerfahrung 510 Lernprozess 507, 508 Liberale 75, 78, 85, 92, 94, 99, 110, 113, 118, 119, 122, 125–127, 132, 142, 144, 151, 161–164, 169, 171, 187, 208, 210, 224,

Sachregister

228, 238, 240, 246, 260, 272, 302, 323, 356, 361, 363, 367, 385, 387–389, 403, 408, 432, 436, 443, 444, 477, 475, 495, 505, 520 Liberale Reichspartei 113 Liberalismus 39, 51, 110, 119, 127, 137, 143, 162, 168, 184, 188, 237, 288, 461, 513, 151 Linksliberale 85, 151, 240, 302, 306, 376, 389, 396, 398, 423, 512 Malteserorden 166 Mobilisierung 46, 50, 182–184, 195, 196, 366, 428, 438, 477, 492 Monistenbund 178 Nationaldemokraten 180, 186, 229 Nationalliberale 79, 82, 85, 94, 127, 183, 188, 245, 252, 254, 255, 272, 302, 312, 361, 368, 375, 386, 396, 404, 405, 408, 441, 465, 475, 504, 516 Norddeutscher Reichstag 68, 78, 202 Ostmarkenverein 374, 518 Ostpreußen 71, 76, 97, 217, 224, 228, 235, 251, 336, 427, 508 Panama-Skandal 455 Parlamentarische Immunität 352 Parlamentarisierung 246, 500, 503 Patria-Komitee 462 Patronage 150, 282, 287, 331, 482, 484 Plebiszite 183, 488 Polizei 58, 127, 139, 151, 159, 165, 169, 278, 284, 306, 341, 351, 354, 355, 357–359, 363, 364, 366, 367–370, 391, 400–402, 404, 408, 416, 417, 423, 434, 436, 442, 456, 484, 485, 495, 496 Populismus 237, 242, 244, 427, Presse 86, 92, 100, 105, 110, 113, 120, 132, 134, 137, 152, 153, 156, 177, 183, 184, 202, 211, 238, 244, 280, 291, 303, 305, 315, 332, 333, 336, 359, 385–387, 390, 405, 406, 408, 410, 425, 433, 436, 445, 446, 448, 449, 452, 454, 471, 490, 506, 510, 511, 512, 518 Preuß & Co 257 Protestanten 109, 110, 113, 124, 142, 144, 174, 184, 270, 272, 389, 447, 514 Regierungsbezirk Oppeln 54 Reichsverband gegen die Sozialdemokratie 440 Reichsverband wider den römischen Beichtstuhl 194 Repräsentation 32, 74, 124, 180, 182, 250, 316, 405, 408, 409, 411, 413, 419, 452, 458, 459, 472, 477, 480 Revolution von 1848 32, 237

561

Rheinische Stahlwerke 269 Sachsen-Coburg, Herzogtum 78, 263, 363, 376 Sammlungspolitik 142 Schulaufsicht 113, 131, 138 Schulaufsichtsgesetz 131, 134, 138 Schwarze Listen 271, 276, 324, 334, 350, 391 Septennat 158–159, 184, 255–256, 315, 386 Simplicissimus 82, 89, 122–124, 157, 171– 172, 180, 182, 189, 191–192, 209, 265, 267, 443, 465–466, 517, 519 Sonderweg 37, 47 Sozialdemokraten (ab 1891: SPD) 40–41, 50, 55, 65, 72, 78, 81, 85–86, 94, 114, 122, 124–125, 141, 143–144, 159, 164, 168–169, 184, 188, 192, 202–204, 206, 208, 211, 218, 223, 230–231, 233–239, 240–244, 246, 248–250, 253–260, 262– 263, 265, 267, 270, 273, 277–278, 280, 286, 288, 290–291, 293, 295, 299–300, 306, 308–309, 311, 313–315, 319, 321–329, 332–338, 342–344, 346–362, 364–371, 376–390, 392–396, 398–401, 403, 406, 408, 411, 415–416, 422–423, 425–426, 429–433, 436–441, 444–446, 449–451, 453, 460–461, 463, 465, 467–468, 472–473, 475–477, 479–480, 485, 487, 490, 493, 499, 502–507, 510, 514, 519–521 Sozialistengesetz 144, 233, 255, 273, 300, 306, 309, 329, 334–335, 350–355, 357–360, 365, 369, 380, 390, 505–506 Staatsstreich 303–309, 321, 494, 505–506 Stettin 76, 79, 225–226, 238, 240–241, 243, 250, 370, 427, 455 Stichwahl 54, 151, 154, 159, 167, 192, 238, 240, 243, 254, 255, 258, 259, 283, 286, 310, 311, 256, 259, 338, 362, 367, 393, 397, 429, 445, 462, 468, 477, 493, 499, 500, 519 Stimmabgabe 36, 47, 60–61, 74–75, 84, 92–95, 108, 125–126, 171–173, 181, 192, 195, 200, 257–258, 262, 265–266, 268, 289, 292, 294, 302, 313, 320, 323, 372, 375, 379, 393, 395, 407–408, 444, 492, 496, 499, 502, 510–511 Stimmzettel 41, 59, 66, 67, 70–86, 88, 90–92, 94, 95, 99, 100, 105, 114, 117, 120, 138, 154, 156, 160, 163, 165, 171, 175–177, 203–209, 211–213, 216, 219, 222, 225, 226, 228, 234, 236, 246–249, 252, 254, 259, 261, 262, 263, 265, 266, 268, 272–274, 276, 282, 284, 289, 292, 294, 301, 302, 311, 312, 317, 318, 320, 322,

562

Sachregister

327, 330, 343, 347, 350, 355, 357, 358, 376, 377, 379, 387, 389, 392, 401, 405, 414, 419, 420, 431–434, 436, 437, 487, 493, 496, 503, 507 Streik 168, 180, 258, 285, 300, 303, 306, 330–331, 333, 336, 375, 381, 386–387, 391–392, 398, 447, 467, 500, 505 »Terrorismus« 386–387, 393 Umsturzvorlage 306, 309, 505 Verein für Sozialpolitik 284 Vereinsgesetz 363, 369, 422 Verhältniswahlrecht 181, 407, 414– 416, 469, 478, 502, 511, 519 Vertreibung, Räumungsbefehle 137, 157, 210, 261 Volksverein für das Katholische Deutschland 157, 423 Voting Rights Act (USA 1965) 34, 320 Wahlbeobachter 247, 319, 343–346, 358, 408, 495, Wahlbeteiligung siehe Mobilisierung 40, 50, 72, 77, 108, 113, 121, 141–143, 167–168, 182–184, 218, 238, 248–249, 268, 299, 329, 337, 372, 380, 432, 435–436, 480, 483, 486–487, 497, 502, 508 Wahlbezirk 37, 57, 58, 71, 72, 88, 98, 128, 135, 170, 179, 207, 225, 228, 233, 299, 320, 399, 403–405, 432 Wählerlisten 59, 71, 72, 295, 322, 323, 347, 405, 408, 436 Wahlgesetz 34, 68, 69, 80, 85, 90, 91, 94, 99, 104, 117, 120, 177, 181, 200, 202, 204, 273, 287, 291, 311, 317, 320, 342, 344, 348, 352, 354, 358, 360, 402–406, 411, 413, 414, 420, 443, 475, 496, 501, 517 Wahlkabine 86–88, 90–91, 99, 107, 301–302, 309, 312, 314, 318, 320–321, 375, 501, 507 Wahlkampf 38, 64, 100, 106–108, 111, 113, 119, 120, 124, 125, 142, 143, 146, 151, 152, 160, 162, 169, 170, 177, 179–181, 187, 188, 192, 194, 196, 204, 216, 227, 235, 127, 247, 257, 264, 569, 270, 278, 314–316, 325, 340, 349, 350, 351, 354, 355, 357, 358, 360, 362–366, 369, 371, 375, 377, 392, 399, 428, 429, 433, 437, 438–444, 449–453,

455–457, 464, 465, 467–469, 472, 473, 475, 481, 484, 486, 488, 489, 501–505, 514, 516, 518 Wahllokale 71, 73, 77, 81, 114, 171, 205, 247, 272, 291, 342, 343, 346, 357 Wahlprüfungskommission 53, 55, 64, 85, 194, 207, 214, 282, 291, 293– 295, 316, 347, 348, 358 Wahlsystem 127, 151, 182, 410, 413, 415, 460, 469 Wahlumschläge 85, 98, 264, 309, 313, 318, 321, 375, 501 Wahlurne 41, 59, 61, 66, 67, 74, 77, 80, 83, 84, 88, 91, 95, 117, 166, 167, 175, 187, 196, 216, 218, 222, 247, 258, 260, 261, 268, 283, 284, 292, 301, 317–319, 323, 336, 377–379, 384, 387, 432, 435, 511, 529, 531 Wahlveranstaltung 114, 126, 128, 140, 151, 174, 177, 278, 358, 364, 368, 369, 371, 428, 444, 449, 495, 515 Wahlversammlung 108, 184, 229, 238, 241, 355, 360, 362–365, 368, 372, 400, 449, 451, 484 Wahre Jakob 190, 377 Weimarer Republik 34, 50, 91, 137, 157, 159, 178, 194, 237, 323, 346, 352, 366, 399, 414, 461, 469, 478, 517, 520 Welfen 157, 228, 299, 415, 448, 490, Weltkrieg, Erster 37, 51, 61, 63, 71, 157, 169, 269, 272, 365, 403, 408, 411, 430, 447, 471, 508 Westminster-Modell 40 Zahlabende der Sozialdemokraten 423 Zählkandidat 38, 150, 226, 331 Zeitungen 92, 94, 105, 120, 140, 152, 153, 162, 163, 170, 181, 200, 206, 218, 257, 258, 268, 271, 279, 291,305, 331–333, 349, 355, 368, 390, 398, 444–446, 449, 545, 510, 512, 514, 518 Zentrumspartei 113, 124, 149, 151, 157, 169, 183, 185 Zivilgesellschaft 356, 418 Zuchthausvorlage 306, 309, 505 zustimmende Gemeinschaften, zustimmendes Wählen 216, 217

STEINER — Sachbuch

Wolfgang König

Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft Konsum als Lebensform der Moderne 2008. 294 Seiten mit 17 Abbildungen. Geb. mit Schutzumschlag ¤ 24,90 ISBN 978-3-515-09103-9

Der globale Klimawandel hat in verschärfter Form die Frage aufgeworfen, ob unsere Art zu konsumieren Zukunft haben kann oder ob wir unsere Lebensweise ändern müssen. Die „Kleine Geschichte“ geht der Frage nach, wie es zur Lebensform der Konsumgesellschaft gekommen ist. Sie konzentriert sich – in durchgängig vergleichender Perspektive – auf die Herausbildung und die Entfaltung der Konsumgesellschaft in der Zwischenkriegszeit in den Vereinigten Staaten und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik. Von den USA aus verbreitete sich die Konsumgesellschaft in andere Länder und beeinflusste schließlich die ganze Welt. Dabei erfuhren die amerikanischen Konsumformen eine partielle Rezeption, eine Umgestaltung und eine Anreicherung durch autochthone Konsumtraditionen. Im Zentrum des Buches stehen die Konsumenten, ihr Handeln und die jeweiligen Kontexte, in welche der Konsum eingebettet ist.

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STEINER — Sachbuch

Eine der größten Umwälzungen in der Geschichte der westlichen Welt ist die Emanzipation der Frauen. Wir leben im „Jahrhundert der Frau“ – aber warum, und wie kam es dazu? Von Mythen bis zur Moderne, vom Mittelalter bis zum Heute spürt Michael Salewski der Geschichte der weiblichen Revolution nach: In der Philosophie und der Kunst über Medizin Michael Salewski

und Psychologie bis hin zur Pornographie ver-

Revolution der Frauen

folgt er die Vorgeschichte und die Auswir-

Konstrukt, Sex, Wirklichkeit

kungen eines Umbruchs, der viel weiter reicht,

Historische Mitteilungen – Beiheft 75 2009. 505 Seiten mit 5 Farb- und 34 s/w- Abbildungen. Geb. mit Schutzumschlag ¤ 34,– ISBN 978-3-515-09202-9

als es eine enge Sicht auf die Frauen-Bewegung glauben macht. Dabei nimmt er den Einfluss berühmter Persönlichkeiten ebenso in den Blick wie den Alltag der „einfachen“ Zeitgenossinnen – und die Widerstände und Gegenstrategien einer Männerwelt, die sich zunehmend bedroht sieht. So entsteht die faszinierende Zusammenschau eines fundamentalen Wandels, dessen Ausgang nach wie vor ungewiß ist.

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