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German Pages 488 [478] Year 2015
Eckhard Jesse Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen
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Eckhard Jesse
Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen Historisch-politische Streifzüge
2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Wahlplakate verschiedener Parteien in Berlin-Prenzlauer Berg, August 2013. © snapshot-photography/T. Seeliger
© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Dr. Franziska Heidemann, Berlin Satz: Punkt für Punkt · Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22302-1
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Inhalt Politikwissenschaft, Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen . . . . . . .
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TEIL 1: POLITIKWISSENSCHAFT
Die erste Generation der deutschen Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Politikwissenschaft in Deutschland. Trends, Herausforderungen, Perspektiven . .
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Theodor Eschenburg und die deutsche Vergangenheit. Die Abschaffung des Theodor-Eschenburg-Preises ist ein Armutszeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Karl Dietrich Bracher (geboren 1922) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Hans-Peter Schwarz (geboren 1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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TEIL 2: EXTREMISMUS UND DEMOKRATIE
Antifaschismus in der Ideokratie der DDR – und die Folgen. Das Scheitern (?) einer Integrationsideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
„Extremistische Parteien“ – worin besteht der Erkenntnisgewinn? . . . . . . . . . . . . . 105 Die NPD und die Linke. Ein Vergleich zwischen einer harten und einer weichen Form des Extremismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
Nicht-Akzeptanz wegen extremistischer Positionen? Politik, Wahlniederlagen und Wahlerfolge der NPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
Die Diskussion um ein neuerliches NPD-Verbotsverfahren – Verbot: kein Gebot, Gebot: kein Verbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Fundamentalkritik an der Konzeption der streitbaren Demokratie und am Extremismusbegriff. Auseinandersetzung mit differenzierter und plumper Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
Feindbilder im Extremismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Rechtsterroristische Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland – Vergangenheit und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Mitte und Extremismus – eine Kritik an den „Mitte“-Studien einer Leipziger Forschergruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
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Inhalt
TEIL 3: PARTEIEN UND WAHLEN
Das Parteiensystem des Kaiserreiches und der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . 261 Das „Parteiensystem“ der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Die koalitionspolitische Haltung der SPD gegenüber der SED, der PDS, der Linkspartei und der LINKEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313
Schwarz-Gelb – Vergangenheit und Gegenwart, aber Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . 327 Verhältniswahl und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Der glanzlose Sieg der „Bürgerlichen“ und die Schwäche der Volksparteien bei der Bundestagswahl 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371
Nach allen Seiten offen? Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und mögliche Folgen für das Parteiensystem und das Koalitionsgefüge . . . . . . . . . . . . . 383 Die Linke als dritte Kraft? Personal, Organisation, Programmatik, Koalitionsstrategien, Wahlergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Wie geht es mit der FDP weiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Systemwechsel in Deutschland, Regierungswechsel im Bund – ein „Staat der Großen Koalition“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
EXKURS: HINWEISE ZUR PROMOTION
Zehn „goldene Regeln“ für Promovenden – Erfahrungen und Einsichten . . . . . . . 453 Zehn – strukturelle und sprachliche – Anregungen für das Schreiben einer Dissertation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Zehn „goldene Regeln“ für Doktorväter und -mütter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Verantwortung und Vertrauen – wider die verschulte Promotion . . . . . . . . . . . . . .
471
ANHANG
Publikationsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
477
Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Vita Eckhard Jesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488
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Politikwissenschaft, Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen Der einleitende Beitrag verdeutlicht zum einen die Intention des Bandes, zum anderen dessen Inhalt. Neben Anregungen für Doktoranden finden Abhandlungen aus den letzten Jahren zu drei Komplexen Aufnahme: Politikwissenschaft, Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen. Die Handschrift des Verfassers soll erkennbar bleiben, unabhängig von der jeweiligen Textsorte.
1.
Intention
Im Jahre 2008, anlässlich meines 60. Geburtstages, waren zwei Sammelwerke mit bereits publizierten Aufsätzen auf den Markt gekommen. Sie hatten (fast) den denselben Titel und Untertitel. Nur das erste – entscheidende – Wort lautete anders: „Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen“1 enthielt 21 Beiträge zu folgenden Themenbereichen: Zeit- und Streitgeschichte – „Vergangenheitsbewältigung“ und Tabus – DDR und deutsche Frage – alte und neue Bundesrepublik – Wahlen und Wahlsystem – Parteien und Parteiendemokratie – Demokratie und Demokratieschutz – Links- und Rechtsextremismus. „Diktatur in Deutschland. Diagnosen und Analysen“2 umfasste 24 Beiträge zu drei Komplexen: Theorie – Geschichte – DDR. Die positive Resonanz hat mich ermuntert, einen dritten Band mit ausgewählten seit 2008 entstandenen Texten folgen zu lassen. Dieser Reader – das kann kaum anders sein – ist nicht aus einem Guss. Die Beiträge sind schließlich aus unterschiedlichen Anlässen zu verschiedenen Zeiten veröffentlicht worden, und die Textsorten variieren. Neben stark enzyklopädisch ausgerichteten Aufsätzen (etwa über das Parteiensystem des Kaiserreichs und der Weimarer Republik sowie über das – in Anführungszeichen – der DDR) finden sich leidenschaftliche, von Polemik nicht freie Essays, etwa zum Streit über Theodor Eschenburg, einen der Gründungsprofessoren der deutschen Politikwissenschaft, oder zur Zukunft der Liberalen. Sollte die politische Wirklichkeit die Skepsis, die im Essay über die FDP zum Ausdruck kommt, nachhaltig widerlegen, so ist der Verfasser keineswegs verstimmt. Ohnehin muss das Prospektive nicht dem Präskriptiven entsprechen. Angesichts des begrenzten Raumes war es unmöglich, Einschätzungen aus meinen Kommentaren und Kurzanalysen aufzunehmen, veröffentlicht etwa im „Focus“, in der „Neuen Zürcher Zeitung“ oder in der – leider eingestellten – „Financial Times“. Gleiches gilt für Kritiken. Es hat mir immer viel Freude bereitet, mich mit Positionen anderer
1 2
Vgl. Eckhard Jesse, Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen, hrsg. von Uwe Backes und Alexander Gallus, Köln u. a. 2008. Vgl. ders., Diktaturen in Deutschland. Diagnosen und Analysen, Baden-Baden 2008.
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Einleitung
Autoren auseinanderzusetzen – sei es in Form von Literaturberichten3, sei es in Form eines Rezensionsessays.4 Im ersten Fall kann der Kritiker die Spreu vom Weizen scheiden, im zweiten Fall in die Tiefe gehen und Hinweise auf Aspekte geben, die das Buch nur am Rande oder gar nicht anspricht. In Deutschland hat der „Mittelbau“ bei Besprechungen im Fach Politikwissenschaft „das Sagen“. Das ist ein betrüblicher Umstand, weil bei jüngeren Kollegen – verständlicherweise – der Mut zu einer kritischen Position ebenso wenig entfaltet ist wie ausgeprägte Urteilskraft. „Die Feder“ des Autors soll, auch wenn die Textsorten unterschiedlich sind, erkennbar sein. Mir ist Leisetreterei ein Gräuel. Wer „anstößige“ Positionen vermeidet, vermag keine Anstöße zu geben. Daher fallen manche Aussagen deutlich aus, ohne „diplomatische“ Verklausulierungen. Der Verfasser begreift sich als Demokratiewissenschaftler. Dieser keineswegs dogmatisch zu verstehende Begriff erhebt keinen Alleinstellungsanspruch, soll Politikwissenschaftler mit einem anderen Ansatz nicht ins Abseits rücken. Das hiesige Fach umfasst zu Recht Repräsentanten höchst verschiedenartiger Couleur, wie es in einer pluralistischen Gesellschaft der Fall ist.5 Selbstverständlich kann Politikwissenschaft nicht nur die Wissenschaft von der Demokratie sein, denn dies liefe auf eine keineswegs zu rechtfertigende Verengung hinaus. Und selbst ein „Demokratiewissenschaftler“ wäre schlecht beraten, jede Fragestellung monokausal in das Prokrustesbett einschlägiger Positionen zu zwängen. Gleichwohl: Ich sehe den Erhalt des demokratischen Verfassungsstaates als eine zentrale Herausforderung an. Dies schließt seine Fortentwicklung ein. Eine Demokratie braucht Reformen, eine Diktatur kann sie sich nicht leisten. Wer Politikwissenschaft als ein Fach mit gesellschaftlicher Relevanz begreift, weiß nur allzu genau: Damit ist es oft nicht gut bestellt. Viele Debatten schmoren im eigenen Saft, kreisen um die eigene Achse, sind nicht frei von Selbstreferenzialität, um das Defizit mit unterschiedlichen Worten zu kennzeichnen. Peter Graf Kielmansegg, studierter Jurist, promovierter Historiker, habilitierter Politologe, hat vor über einem Jahrzehnt dem Fach die Leviten gelesen. Die Monita gelten teilweise noch heute, mag auch der eine oder andere Fortschritt zu verzeichnen sein: Die Politikwissenschaft „muss sich die Frage gefallen lassen, wie präsent sie in den politischen Diskursen des Landes ist; was sie an 3
4
5
Vgl. etwa nach (traurigen oder erfreulichen) Jubiläen, wenn der Bücherberg anschwillt: Dreißig Jahre nach dem sogenannten „deutschen Herbst“, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 20, Baden-Baden 2008, S. 279–303; Friedliche Revolution – Deutsche Einheit – Vereinigtes Deutschland?, in: Politische Vierteljahresschrift 52 (2011), S. 437–555; Der Bau der Mauer vor 50 Jahren, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 24, Baden-Baden 2012, S. 265–284. Vgl. etwa am Beispiel dreier Bücher von Hans Herbert von Arnim, Frank Decker und Karl Dietrich Bracher: „Volksparteien ohne Volk“, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 19 (2009), S. 421–436; Frank Deckers „Architektur der deutschen Politik“: fulminanter Entwurf mit einigen Baulücken, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 42 (2011), S. 436–444; Demokratie versus Diktatur: Karl Dietrich Brachers „Zeitgeschichtliche Kontroversen“, in: INDES 3 (2014), Heft 4, S. 153–158. Vgl. Eckhard Jesse/Sebastian Liebold (Hrsg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014.
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Einleitung
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Erkenntnis in die Diskurse einzubringen hat. Und muss sich, wenn diese Frage gestellt ist, wohl sagen lassen: Politikwissenschaft in Deutschland – das ist, alles in allem, eine Veranstaltung um ihrer selbst willen; ein Fach, das ängstlich und angestrengt darum bemüht ist, sich selbst von seiner Wissenschaftlichkeit zu überzeugen. Politikwissenschaftler schreiben für Politikwissenschaftler, Politikwissenschaftler werden von Politikwissenschaftlern gelesen, die Zunft produziert für die Zunft – viel mehr ist leider nicht zu vermelden.“6 Peter Graf Kielmansegg hat diesen Defiziten durch sein wissenschaftlich ertragreiches wie öffentliches Engagement entgegenzusteuern gewusst, und nicht nur er. So spürte Franz Walter mit zwei Mitarbeitern dem Phänomen „Pegida“ in einer brandaktuellen Studie vom März 2015 facettenreich nach: essayartig, empirisch, analytisch, deskriptiv, auch bewertend, keine sechs Monate nach dem Beginn der ersten Demonstration.7 Frank Decker, Jürgen W. Falter, Karl-Rudolf Korte, Claus Leggewie, Werner Patzelt, um nur einige politikwissenschaftliche Kollegen aus dem Bereich der (vergleichenden) Regierungslehre zu nennen, schrecken ebenso nicht vor Urteilen bei „heißen Eisen“ zurück. Auch Ulrich von Alemann, Florian Grotz, Wolfgang Merkel, Manfred G. Schmidt und Roland Sturm sind im politischen Diskurs gefragt. Der Verfasser hat solche Beiträge ausgesucht, die eben nicht in erster Linie für die „Zunft“ bestimmt waren, sondern auf ein breiteres öffentliches Interesse hoffen durften. Ob das gelungen ist, mögen andere entscheiden. Drei Komplexe stehen neben einem Exkurs über Promotionen im Vordergrund: Politikwissenschaft – Extremismus und Demokratie – Parteien und Wahlen. Dadurch entfielen Beiträge zur deutschen Einheit – ein Themenfeld, das mir am Herzen liegt.8 Das Thema meiner Antritts- wie das meiner Abschiedsvorlesung betraf jeweils die DDR.9 Geboren in der Ringelnatzstadt Wurzen, habe ich die ersten zehn Jahre meines Lebens in der Leipziger Region zugebracht. Insofern war das frühe Interesse für die DDR wohl lebensgeschichtlich bedingt.10 Lange vor 1989/90 wandte ich mich DDR-Themen 6 So Peter Graf Kielmansegg, Notizen zu einer anderen Politikwissenschaft. Über Wilhelm Hennis’ politikwissenschaftliche Abhandlungen, in: Merkur 55 (2001), S. 436. 7 Vgl. Lars Geiges/Stine Marg/Franz Walter, Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015. 8 Vgl. Eckhard Jesse, Die Verfassungsfrage: neue Konstitution oder „Anschluss“?, in: Andreas Apelt/ Robert Grünbaum/Martin Gutzeit (Hrsg.), Der Weg zur Deutschen Einheit. Mythen und Legenden, Berlin 2010, S. 171–187; Die deutsche Demokratie 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, in: HansJoachim Veen/Peter März/Franz-Josef Schlichting (Hrsg.), Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus, Köln u. a. 2010, S. 31–43; 20 Jahre Deutsche Einheit. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, in: MUT 45 (2010), Heft 10, S. 24–41; Die demokratische Konsolidierung der neuen Bundesländer, in: Clemens Vollnhals (Hrsg.), Jahre des Umbruchs. Friedliche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa, Göttingen 2011, S. 345–360; 1945 – 1949 – 1955 – 1968 – 1989 – 1990?, in: Einsichten und Perspektiven Heft 3/2012, S. 202–227. 9 Vgl. ders., War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40/1994, S. 12–23; Das Ende der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 34–35/2015. 10 Ders., Ostdeutsche Identität im Westen und Entscheidung für die Politikwissenschaft, in: Andreas Apelt (Hrsg.), Neuanfang im Westen. Zeitzeugen berichten – 1949–1989, Halle (Saale) 2013, S. 40–45.
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Einleitung
zu, so einem deutsch-deutschen Systemvergleich, der meine Skepsis gegenüber einer systemimmanenten Vorgehensweise verdeutlicht,11 der „Totalitarismus-Doktrin“ aus DDR-Sicht, den (Pseudo-)Wahlen oder der Volkskammer.12 Der Tenor entsprach nicht dem Zeitgeist. Auch die eng mit der Teilung verbundene deutsche Frage ließ mich bereits vor den Schlüsseljahren 1989 und 1990 nicht los, wenngleich der „deutsche Taumel“ (Brigitte Sauzay), den das Ausland überschätzt hatte, an mir vorüberging. Ich gehörte – als „Westler“ – zu den Gegnern einer Vereinigung unter neutralen Vorzeichen,13 nicht zu den Gegnern einer deutschen Einheit unter den Vorzeichen der Westbindung, wohl aber zu den (eher wenigen) Befürwortern des NATO-Doppelbeschlusses. Meine Sympathie galt keineswegs Franz Alt, dem irrlichternden Bestsellerautor, sondern Manfred Hättich, seinem rational argumentierenden Kritiker, einem Verantwortungsethiker.14 Die Phantasie fehlte für die Vorstellung, die Sowjetunion werde die DDR aus ihrem Machtbereich entlassen. Noch immer ist unklar, wieso Michail Gorbatschow nicht auf die „deutsche Karte“ gesetzt und eine Neutralisierung Deutschlands propagiert hat.15 Jede Form des dritten Weges war und ist mir suspekt.16 Der demokratische Verfassungsstaat, die Marktwirtschaft und die Westbindung müssen unverbrüchlich gelten. 11 Vgl. ders. (Hrsg.), Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich (1980), 4. erw. Aufl., Berlin 1985. 12 Vgl. ders., Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland – ein Vergleich, in: Jürgen Weber (Hrsg.), DDR – Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zu einer vergleichenden Analyse ihrer politischen Systeme, München 1980, S. 191–212; Die „TotalitarismusDoktrin“ aus DDR-Sicht, in: Konrad Löw (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988, S. 63–87; Die Volkskammer der DDR. Befugnisse und Verfahren nach Verfassung und politischer Praxis, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Berlin 1989, S. 1817–1840. 13 Vgl. ders. (Hrsg.), Renaissance der deutschen Frage?, Stuttgart 1987; Die deutsche Frage rediviva, in: Deutschland Archiv 17 (1984), S. 397–414; Die (Pseudo-)Aktualität der deutschen Frage – ein publizistisches, kein politisches Phänomen, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Die deutsche Frage in der Weltpolitik, Stuttgart 1986, S. 51–68; Das SPD/SED-Papier – Dokument von weitreichender Bedeutung (mit Jutta Ludwig), in: Deutsche Studien 26 (1988), S. 284–300; Der „dritte Weg“ in der deutschen Frage. Über die Aktualität, Problematik und Randständigkeit einer deutschlandpolitischen Position, in: Deutschland Archiv 22 (1989), S. 543–559; 40 Jahre deutsch-deutsche Beziehungen. Gibt es eine deutsche Nation?, in: Politik und Kultur 16 (1989), Heft 3, S. 29–35; The German Question. AngloAmerican, French and West German Perspectives, in: West German Politics 12 (1989), S. 143–150. 14 Vgl. Franz Alt, Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt, München 1983; Manfred Hättich, Weltfrieden durch Friedfertigkeit. Eine Antwort auf Franz Alt, München 1983. 15 Vgl. etwa Stefan Karner u. a., Der Kreml und die „Wende“ 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Dokumente, Innsbruck u. a. 2014. 16 Vgl. beispielsweise Eckhard Jesse, Oppositionelle Bestrebungen in der DDR der achtziger Jahre. Dominanz des dritten Weges?, in: Karl Eckart/Jens Hacker/Siegfried Mampel (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998, S. 98–101; Die Bundesrepublik Deutschland zwischen drittem Weg und Westbindung. Die Beispiele des „Historikerstreits“ und der „deutschen Frage“, in: Peter März (Hrsg.), Die zweite gesamtdeutsche Demokratie. Ereignisse und Entwicklungslinien. Bilanzierungen und Perspektiven, München 2001, S. 65–76; Alexander Gallus/ders., Was sind dritte Wege? Eine vergleichende Bestandsaufnahme, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B. 16–17/2001, S. 6–15.
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Einleitung
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Oft kreisen die schillernden dritten Wege nur um Ziele, deren Urheber von utopischen oder unausgegorenen Gedankengängen (je nach Perspektive) geleitet sind. Da sie niemals in der politischen Wirklichkeit bestehen mussten, ist es einfach, sie gegen die schnöde Praxis des ersten oder des zweiten Weges auszuspielen. Einer Versuchung bin ich nicht erlegen: Kein Beitrag wurde nachträglich aktualisiert oder anderweitig verändert, um jeden Eindruck von Besserwisserei, Rechthaberei und rückwärtsgewandter Prophetie zu vermeiden. So tauchen manche Irrtümer auf – den „Absturz“ der FDP etwa habe ich nicht wahrhaben wollen. Und den demokratischen Parteien hätte ich mit Blick auf das NPD-Verbotsverfahren nicht nur mehr Vernunft gewünscht, sondern auch mehr zugetraut. Politikwissenschaft ist ohnehin keine Disziplin, deren Stärke in der Prognosekraft liegt, ob man an die Studentenbewegung, den Zusammenbruch des Ostblocks, das Aufkommen des Islamismus oder die „Arabellion“ denkt. Formale Vereinheitlichungen, etwa bei der Zitierweise, erschienen unumgänglich. Manche Überschneidung hat den Vorteil, dass der Leser erkennt, welche Aspekte dem Autor besonders am Herzen liegen, etwa die Revision des deutschen Wahlrechts in einigen wesentlichen Punkten, um zu größerer Transparenz zu gelangen. Der mit Fragen versehene Vorspann zu jedem Text soll neugierig machen und dessen Kern benennen. Es möge nicht selbstbespiegelnd wirken: Nach der friedlichen Revolution empfand ich es gleichsam als eine Verpflichtung, an der TU Chemnitz in Ringvorlesungen Oppositionellen von einst, die mittlerweile, nach dem Ende der Diktatur, deren Ablehnung sie einte, keineswegs mehr gleiche Positionen vertraten, ein Forum zu geben (mit Blick auf die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft). Sie nutzten die Gelegenheit, der kritischen Öffentlichkeit Rede und Antwort zu stehen.17 Der gebürtige Sachse hätte „so etwas“ vor 1990 nicht für möglich erachtet. Aber das bedeutet keineswegs den Verzicht auf Kritik an den Positionen von Bürgerrechtlern.18 Die Einleitung zu einem von Armin Mitter und mir herausgegebenen Sammelwerk zur deutschen Einheit – eines der ersten seiner Art – verweist als Tag des Abschlusses auf den 18. März 199219, die zu dem Band „Eine normale Republik?“ auf 17 Vgl. ders., Eine Revolution und ihre Folgen. 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz (2000), 2. Aufl., Berlin 2001; ders. (Hrsg.), Friedliche Revolution und deutsche Einheit. Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Berlin 2006; ders./Thomas Schubert (Hrsg.), Zwischen Konfrontation und Konzession. Friedliche Revolution und deutsche Einheit in Sachsen, Berlin 2010; dies. (Hrsg.), Friedliche Revolution und Demokratie. Perspektiven nach 25 Jahren, Berlin 2015. 18 Vgl. u. a. ders., Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden/Frankfurt a. M. 1995, S. 987–1030; ders., Die DDR-Opposition seit Mitte der siebziger Jahre, in: Hans-Joachim Veen/Ulrich Mählert/Peter März (Hrsg.), Wechselwirkungen Ost-West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975–1989, Köln u. a. 2007; S. 65–77; ders., Haben die Bürgerrechtler gesiegt?, in: Tilman Mayer (Hrsg.), Deutscher Herbst 1989, Berlin 2010, S. 29–38. 19 Vgl. Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hrsg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte – Politik – Gesellschaft, Bonn/Berlin 1992.
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Einleitung
den 18. März 2012.20 Diese Einleitung ist am 18. März 2015 beendet worden, genau 25 Jahre nach der ersten und letzten demokratischen Wahl zur Volkskammer, die den Weg zur deutschen Einheit geebnet hat. Bis jetzt fehlt eine große Studie zu diesem frei gewählten Parlament, im Gegensatz zur bestens dokumentierten Tätigkeit des Zentralen Runden Tisches durch Uwe Thaysen.21 Das stellt der Politikwissenschaft – und der Geschichtswissenschaft – kein gutes Zeugnis aus.22
2.
Inhalt
Dieser Band umfasst (ohne die kleinen Texte im Exkurs) 24 Beiträge zu den drei erwähnten Komplexen. „Extremismus“ nimmt ebenso wie „Parteien“ mehr Platz ein als „Demokratie“ und „Wahlen“, wobei die Analyse eines extremistischen Phänomens zugleich die demokratische Komponente einschließt und die Analyse von Parteien kaum angängig ist, ohne deren Abschneiden bei Wahlen kritisch zu würdigen. Zudem: Trennscharfe Grenzen zwischen den beiden letzten Kategorien sind nicht immer möglich. Abhandlungen über extremistische Parteien könnten in der einen wie in der anderen Rubrik Aufnahme finden. Die ersten fünf Beiträge analysieren höchst unterschiedliche Aspekte zur Politikwissenschaft, einer in Deutschland jungen Disziplin. Ich war während meines Studiums in der ersten Hälfte der 1970er Jahre an der Freien Universität Berlin über das dortige Tohuwabohu perplex. Das Otto-Suhr-Institut galt seinerzeit als Hochburg der hiesigen Politikwissenschaft. Mich hatte mehr der damals längst emeritierte Ernst Fraenkel geprägt, den ich 1974 bis zu seinem Tode im Frühjahr 1975 regelmäßig aufsuchen durfte, wobei das Engagement von Hannelore Horn, Hartmut Jäckel, Alexander Schwan, Gesine Schwan, Helmut Wagner und Heinrich August Winkler gegen die teils unzumutbaren Zustände beeindruckend war. Der Pluralismustheoretiker Fraenkel23, dessen Schriften nun vollständig vorliegen24, zeigte sich von den wenig pluralistischen Verhältnissen an dem Institut, an dem er lange, von Anfang der 1950er bis Ende der 1960er Jahre, gelehrt
20 Vgl. Eckhard Jesse (Hrsg.), Eine normale Republik? Geschichte – Politik – Gesellschaft im vereinigten Deutschland, München/Baden-Baden 2012. 21 Vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 2000; ders. (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, 5 Bde., Wiesbaden 2000. 22 Die ausgezeichnete Fallstudie von Hans Michael Kloth (Vom „Zettelfalten“ zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die „Wahlfrage“, Berlin 2000) erfasst nur einen Ausschnitt der Arbeit der Volkskammer. 23 Vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (1964), 9. Aufl., hrsg. von Alexander von Brünneck, Baden-Baden 2011; Hans Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland. Entstehung, Kritik, Perspektiven, Leverkusen 1977. 24 Vgl. ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1–Bd. 6, hrsg. von Alexander von Brünneck, Hubertus Buchstein und Gerhard Göhler, Baden-Baden 1999–2011.
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Einleitung
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hatte, milde formuliert, wenig angetan.25 Der erste Satz meiner allerersten Rezension lautete: „Der geistige Klimawandel, der sich in den letzten Jahren (nicht nur im Bereich der Politikwissenschaft) vollzogen hat, offenbart sich auf exemplarische Weise an der Kritik der Pluralismustheorie, die das rivalisierende Mit-, Neben- und Gegeneinander einer Vielzahl von Interessen nicht perhorresziert, sondern als unabdingbar erachtet.“26 Der ersten Generation der deutschen Politikwissenschaft, überwiegend aus der inneren oder äußeren Emigration stammend, gehörten somit keine ausgebildeten Politikwissenschaftler an. Gleichwohl wirkten einige von ihnen schulbildend, so etwa Wolfgang Abendroth in Marburg, Arnold Bergstraesser in Freiburg, Ferdinand A. Hermens in Köln. Ihre Leistungen als „Generalisten“ und als „Demokratiewissenschaftler“ sind oft unterschätzt worden. Der gemeinsam mit Sebastian Liebold verfasste Beitrag über Trends, Herausforderungen und Perspektiven in der deutschen Politikwissenschaft verweist auf die Gefahr des Identitätsverlustes des Faches. Es bedarf mehr gesellschaftlich relevanter Synthesen, weniger spezialistisch-kleinteiliger Studien zu marginalen Themen. Der Essay über den Doyen der deutschen Politikwissenschaft, Theodor Eschenburg, ist eine scharfe Reaktion auf die Entscheidung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, den nach dem Tübinger Gelehrten benannten Preis für ein wissenschaftliches Lebenswerk nicht mehr zu verleihen. Die Kontroverse dauert an, ein Ende ist nicht in Sicht.27 Claus Leggewie spricht in seinen Erinnerungen jüngst „salomonisch“ davon, das Votum der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, den Preis abzuschaffen, sei „überkorrekt“, die Verteidigung Eschenburgs durch manche seiner Schüler „überempathisch“.28 Ob es mit dieser vage-vorsichtigen Aussage sein Bewenden haben kann?29 Die Porträts zu dem über 90-jährigen Bonner Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und zu dessen über 80-jährigen Nachfolger Hans-Peter Schwarz sind nicht nur in der Struktur gleich angelegt, sondern die beiden herausragenden Wissenschaftler weisen auch ein ähnliches wissenschaftliches Profil auf, allein schon durch ihre starke geschichtswissenschaftliche Orientierung.30 Konzentrierte sich Bracher stärker auf die Zeit vor 1945, so lag der Schwerpunkt der Forschungen von Schwarz nach 1945. Bei Bracher dominierte, anders als bei Schwarz, die strukturelle Komponente die
25 Vgl. Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt a. M. 2009, S. 32–325. 26 Eckhard Jesse, Ernst Fraenkels Beiträge zur Pluralismus-Diskussion, in: Das Parlament v. 9. März 1974, S. 11. 27 Vgl. auf der einen Seite Udo Wengst, Theodor Eschenburg. Biographie einer politischen Leitfigur 1904–1999, Berlin u. a. 2015; auf der anderen Seite Anne Rohstock, Vom Anti-Parlamentarier zum „kalten Arisierer“ jüdischer Unternehmen in Europa. Theodor Eschenburg in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2015), S. 33–58. 28 Claus Leggewie, Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie, München 2015, S. 312. 29 Vgl. demnächst den Beitrag des Verfassers: Die Kontroverse über Theodor Eschenburg, in: Zeitschrift für Politik 62 (2015), Heft 4. 30 Die 2007 mit Frank-Lothar Kroll ins Leben gerufene Buchreihe „Chemnitzer Beiträge zu Politik und Geschichte“ umfasst mittlerweile 12 Titel.
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biographische. Es ist ein beklagenswerter Umstand: Die heutige Politikwissenschaft hat sich von ihren Ursprüngen gelöst, gerade mit Blick auf ihre historische Dimension. Der zweite Teil ist mit neun Abhandlungen dem Komplex „Extremismus und Demokratie“ gewidmet, so gleichfalls der Titel des vom Verfasser herausgegebenen Jahrbuches31, zunächst mit Uwe Backes, ab Band 21 (2009) zudem mit Alexander Gallus. In den Beiträgen soll der rote Faden erkennbar sein: einerseits der strikte antiextremistische Ansatz, der auf Äquidistanz gegenüber jedweder extremistischen Variante fußt, einer Gleichsetzung der Extremismen jedoch keineswegs das Wort redet, auch nicht durch Vergleiche32; andererseits der konsequente Demokratieschutz, der auf liberalen Prinzipien fußt, nicht auf repressiven. Kritik an der normativen Extremismusforschung ist wie die Kritik an der Konzeption der streitbaren Demokratie möglich und nötig, doch sollte sie keinen Popanz aufbauen.33 Wer dies tut, betreibt Donquichotterie. Der Aufsatz über den gleichsam ubiquitären „Antifaschismus“ in der DDR bei Genossen, der Masse und den wenigen Dissidenten beleuchtet einen schillernden Begriff, der selbst für Anhänger des demokratischen Verfassungsstaates positiv konnotiert ist, ohne dass diese immer die Gefahr einer „Antifaschismusfalle“ wahrnehmen. Den Erkenntnisgewinn des Terminus „extremistische Parteien“ hingegen in Zweifel zu ziehen, ist unangebracht, weil die Forschung sonst auf einen Ansatz verzichtete, der weithin vernachlässigte Aspekte zur Sprache bringt, wie im nächsten Beitrag verdeutlicht.34 Dass die normative Extremismusforschung entgegen verbreiteten Unterstellungen keineswegs rechts und links außen gleichsetzt, sondern Intensitätsgrade unterscheidet, erhellt der Aufsatz über eine harte (NPD) und eine weiche (Die Linke) Form des Extremismus, und zwar am Beispiel der für die Parteienforschung wichtigen Kategorien Ideologie, Organisation, Strategie.35 Es mutet paradox an: Gerade die Richtung, die das antithetische Begriffspaar von Extremismus und Demokratie negiert, lehnt Abstufungen innerhalb des Extremismus als 31 Die Anfang der 1990er Jahre mit Uwe Backes ins Leben gerufene Buchreihe „Extremismus und Demokratie“ umfasst mittlerweile 30 Titel. 32 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005. 33 Vgl. etwa Christoph Kopke/Lars Rensmann, Die Extremismus-Formel. Zur politischen Karriere einer wissenschaftlichen Ideologie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 45 (2000), S. 1451– 1462; Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hrsg.), Ordnung, Macht, Extremismus, Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Wiesbaden 2011; Jan Ackermann u. a., Metamorphosen des Extremismusbegriffes. Diskursanalytische Untersuchungen zur Dynamik einer funktionalen Unzulänglichkeit, Wiesbaden 2015. Hier wird Uwe Backes und Eckhard Jesse der – nicht selbstironische – Gebrauch des pejorativ konnotierten Terminus der „Extremismus-Formel“ unterstellt, obwohl dieser doch von Kopke und Rensmann stammt. Siehe Tino Hein/Patrick Wöhrle, Politische Grenzmarkierungen im flexiblen Normalismus, in: Ebd., S. 14. 34 Eine Gegenposition verficht Richard Stöss, „Extremistische Parteien“ – Worin besteht der Erkenntnisgewinn?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 47/2008, S. 3–7. 35 Eine Ausweitung des differenzierten Extremismusbegriffs hat jüngst vorgelegt: Armin Pfahl-Traughber, Das Zehn-Stufen-Modell der „Extremismusintensität“. Kategorien zur Analyse und Einordnung politischer Bestrebungen, in: Ders. (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2014 (I), Brühl 2014, S. 7–36.
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untauglich ab.36 Wie nicht nur die Analyse über die NPD anlässlich der Bundestagswahl 2009 belegt, ist diese weitaus entfernter vom demokratischen Verfassungsstaat als die Partei Die Linke – und vielleicht deswegen auch weitaus weniger erfolgreich.37 Wer das neuerliche Verbotsverfahren gegen die 1964 ins Leben gerufene, moralisch erledigte und politisch gescheiterte NPD entschieden verwirft, will diese Partei nicht verteidigen, wohl aber das Konzept der streitbaren Demokratie, dessen jakobinische Interpretation („keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“) die Demokratie nicht stärkt, sondern schwächt. Das Motto des Verfassers: Verbot: kein Gebot, Gebot: kein Verbot. Die Verteidigung der streitbaren Demokratie setzt sich zum einen mit der plumpen – antifaschistischen – Kritik Wolfgang Wippermanns auseinander, zum andern mit der differenzierten – wertrelativistischen – Kritik Claus Leggewies und Horst Meiers.38 Deren Konzept, so schlüssig es ausfällt, lässt außer Acht: Extremismus erschöpft sich nicht in propagierter oder praktizierter Gewalt.39 Extremisten – den Gebrauch dieses als ideologisch angesehenen Terminus lehnen die Autoren ab – von rechts und links außen bedienen sich vielfältiger Feindbilder, gegenläufiger wie analoger. Deren Intensität sagt etwas über das Ausmaß der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates aus. Dessen Anhänger sollten Feindbilder vermeiden, auch und gerade in der Auseinandersetzung mit Feinden des demokratischen Verfassungsstaates – aus Gründen der Glaubwürdigkeit und der Überzeugungsfähigkeit. Das ist eine Quintessenz des Textes über Feindbilder. Die beiden Aufsätze über terroristische Strukturen in Vergangenheit und Gegenwart sowie über extremistische Einstellungsmuster sind weit voneinander entfernt – und doch nahe benachbart. Es geht jeweils um höchst unterschiedliche Formen des Extremismus, aber ausschließlich um dessen rechte Variante. Der von Mythen umrankte „Nationalsozialistische Untergrund“40 war keine „Braune Armee Fraktion“, und die Studien einer Leipziger Forschergruppe entlarven unaufhörlich den verwirrend interpretierten „Extremismus der Mitte“41, wobei sie, wie viele andere, diesen nur „rechts“ orten und mit Alarmismus nicht sparen.42 36 Vgl. beispielsweise Richard Stöss, Zum „differenzierten Extremismusbegriff “ von Eckhard Jesse, in: Alexander Gallus/Thomas Schubert/Tom Thieme (Hrsg.), Deutsche Kontroversen. Festschrift für Eckhard Jesse, Baden-Baden 2013, S. 169–183. 37 Vgl. Marc Brandstetter, Die NPD unter Udo Voigt. Organisation. Ideologie. Strategie, Baden-Baden 2013. 38 Vgl. Claus Leggewie/Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie, Reinbek bei Hamburg 1995. Siehe kritisch dazu Eckhard Jesse, Der Streit um die streitbare Demokratie. Fundamentalkritik an der Schutzkonzeption des Grundgesetzes und an der Praxis, in: Politische Vierteljahresschrift 38 (1997), S. 577–583. 39 Vgl. zuletzt Horst Meier, Verbot der NPD – ein deutsches Staatstheater in zwei Akten. Analysen und Kritik 2001–2014, Berlin 2015. 40 Die beste (nicht in jeder Hinsicht gute) Studie stammt von Stefan Aust/Dirk Laabs, Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, München 2014. 41 Siehe zuletzt Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Hrsg.), Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus, Gießen 2015. 42 Vgl. jetzt eine umfassende Studie, die linksextremistische Einstellungspotentiale unter die Lupe nimmt: Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder, Gegen Staat und Kapital – für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie, Frankfurt a. M. 2015.
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Der dritte Teil umfasst zehn Abhandlungen zu „Parteien und Wahlen“.43 Misstrauen ruft bei mir hervor, wer die demokratischen Spielregeln als „formal“ abtut und nicht bereit ist, den Wert von Wahlen als Ausdruck der politischen Willensbildung anzuerkennen. Die Art des Wahlsystems legitimiert den Verfassungsstaat.44 Mag Kritik an Auswüchsen der Parteiendemokratie noch so berechtigt sein: Bessere demokratische Alternativen – diese Banalität kann nicht oft genug betont werden – gibt es nicht. Weder ein Ständestaat noch ein Rätestaat ist in der Lage, den auf Parteien basierenden demokratischen Verfassungsstaat zu ersetzen, der im Bund erst einen einzigen ungefilterten Regierungswechsel – 1998 – erfahren hat. Die ersten beiden Aufsätze, jeweils stark lexikalisch strukturiert, erörtern zum einen das buntscheckige Parteiensystem im autoritären Kaiserreich und in der demokratischen Weimarer Republik, zum anderen das einförmige „Parteiensystem“ in der undemokratischen Deutschen Demokratischen Republik. In den drei Systemen, so unterschiedlich sie auch waren, nahmen die Parteien keinen zentralen Rang in der politischen Wirklichkeit ein, mit Ausnahme der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die in der DDR die Suprematie besaß. Die Haltung der SPD, die in der Vergangenheit offen oder verdeckt antidemokratische Positionen stets bekämpft hatte, zur PDS, der Linkspartei und der Partei Die Linke steht danach auf dem Prüfstand, und zwar unter der doppelten Kernfrage: Rückt die SPD von einstigen Positionen ab? Ist ein Wandel angemessen? Das in anderer Hinsicht mitunter gespannte Verhältnis zweier „bürgerlicher“ Parteien – der Union auf der einen, der FDP auf der anderen Seite – gerät im nächsten Beitrag ins Zentrum. Lange galt ein solches Bündnis gleichsam als selbstverständlich, doch durch die jetzige Vielfalt des Parteiensystems und durch die Krise der Liberalen sind in der deutschen Koalitionsdemokratie45 andere Konstellationen möglich geworden – und wohl nötig.46 Das Anwachsen der Parteienzahl im Bundestag – 1983 durch die Grünen, 1990 durch die PDS und 2017 vielleicht durch die Alternative für Deutschland – ist vor dem Hintergrund der in der Bundesrepublik Deutschland praktizierten Verhältniswahl erfolgt. Wie die Abhandlung über „Verhältniswahl und Gerechtigkeit“ belegt, ist Gerechtigkeit in diesem Umfeld ein schillernder Begriff: „Gerechtigkeit durch die Wahl des Parlaments“ deckt sich nicht mit „Gerechtigkeit durch die Wahl der Regierung“. Zwar erscheint eine große Reform im Sinne eines Übergangs zur Mehrheitswahl keineswegs vonnöten, hingegen die eine oder andere kleine Reform: die Modifikation der Fünfprozentklausel und die Abschaffung des Zweitstimmensystems etwa. Seit Jahrzehnten engagiere ich mich dafür. Die beiden Aufsätze zum 43 Die 2012 mit Roland Sturm ins Leben gerufene Buchreihe „Parteien und Wahlen“ umfasst mittlerweile zehn Titel. 44 Vgl. Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen 1949–1983, Düsseldorf 1985. 45 Vgl. Frank Decker/Eckhard Jesse (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013. Parteiensystem und Regierungsbildung im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2013. 46 Vgl. Volker Kronenberg/Christoph Weckenbrock (Hrsg.), Schwarz-Grün. Die Debatte, Wiesbaden 2010.
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Ausgang der Bundestagswahlen 2009 und 2013 analysieren Koalitionskonstellationen wie Perspektiven des Parteiensystems. Das beste Ergebnis der FDP (2009) erklärt sich auch mit dem damaligen Wahlsystem (keine Verrechnung von Überhangmandaten), ihr schwächstes (2013) mit dem jetzigen (Kompensation von Überhangmandaten). Sollten die Parteien immer weniger gewillt sein, vor der Wahl im Bund und in den Ländern47 ihre Koalitionsoptionen bekanntzugeben, verlöre das Wählervotum massiv an Einfluss. Die Linke hat 2013 zwar gegenüber der Bundestagswahl 2009 3,2 Prozentpunkte verloren, doch konnte sie – die stärkste Oppositionskraft – zum ersten Mal den dritten Platz erobern. Wie nach der Bundestagswahl 2005 gelang es ihr, sowohl eine „bürgerliche“ als auch eine rot-grüne Regierung zu blockieren. Heute will kaum einer seine Vorhersagen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre wahrhaben, als das parlamentarische Ende der PDS auf Bundesebene zu nahen schien. Nicht nur der Verfasser dieser Zeilen war davon überzeugt. Hingegen vermochte sich damals keiner das Ende der FDP in der Bundespolitik vorzustellen. Nun ist das Eintreten eines solchen Szenarios möglich, wiewohl nicht zwingend. Ein Essay verdeutlicht, warum es gute Gründe gibt, auf eine Revitalisierung des Liberalismus zu hoffen. Wir brauchen, pointiert formuliert, „weniger Staat“! Kritik am „Steuerstaat“ und am „Umverteilungsstaat“ ist ein Alleinstellungsmerkmal der Liberalen. Die Kennzeichnung der Bundesrepublik Deutschland unabhängig von der jeweiligen Regierungskonstellation als „Staat der Großen Koalition“ (Manfred G. Schmidt) stimmt. Der Sachverhalt verdient gleichwohl eine ambivalente Würdigung: Zum einen ist dies ein positives Zeichen für politische Mäßigung (zumal in einem Land, das im 20. Jahrhundert vier Systemwechsel erlebt hat48), zum anderen ein negatives, weil konsensuelle Prozeduren nötigen Wandel erschweren. Regierungswechsel wirken sich durch vielfältige verhandlungsdemokratische Mechanismen zu wenig auf die Policy-Ebene aus. Allerdings sind in den letzten Jahren „rapide Politikwechsel“49 eingetreten: Die abrupte Wende in der Energiepolitik ist dafür prototypisch. Im „Exkurs: Hinweise zur Promotion“ sind vier kürzere Texte aufgenommen, die nicht recht zu den bisherigen Themen passen. Was hat es damit auf sich? Es war mir seit jeher ein Bedürfnis, eigene Erkenntnisse an andere weiterzugeben. Die Artikel sind Anregungen für junge Wissenschaftler, nicht mehr, nicht weniger. Dass die Mehrheit der Promovenden das dritte Lebensjahrzehnt bei Abgabe ihrer Doktorarbeit überschritten hat, ist ebenso ein Missstand wie die hohe Zahl der Abbrecher. Diese Defi47 Vgl. Volker Best, Koalitionssignale bei Landtagswahlen. Eine empirische Analyse von 1990 bis 2012, Baden-Baden 2015. 48 Vgl. Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90, 4. Aufl., Bonn 2013. 49 Vgl. Friedbert W. Rüb, Rapide Politikwechsel in der Demokratie. Grüne, Akteure, Dynamiken und Probleme, in: Jens Kersten/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Politikwechsel als Governanceproblem, Baden-Baden 2012, S. 15–44; ders. (Hrsg.), Rapide Politikwechsel in der Bundesrepublik. Theoretischer Rahmen und empirische Befunde (= Sonderheft der Zeitschrift für Politik 6), Baden-Baden 2014.
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zite, die aus vielen Ursachen resultieren, gehen auch auf mangelnde Betreuung zurück. Ein damit zusammenhängendes Problem: Der „Fall Guttenberg“, der zu Guttenbergs Fall ausgelöst hat, führte der Öffentlichkeit das Plagiats-„Unwesen“ vor Augen. Die zehn „goldenen Regeln“ für Promovenden sind wie die zehn „goldenen Regeln“ für Doktorväter und -mütter bei aller Ernsthaftigkeit nicht frei von leiser Ironie. Der Titel deutet darauf hin, ebenso die jeweils letzte „Regel“. Im Laufe der Jahre ist mir zunehmend aufgefallen, manche Studie droht an bloß strukturellen und sprachlichen Problemen zu scheitern. Daraus sind zehn – strukturelle und sprachliche – Anregungen entstanden. Ein unklarer Ausdruck ist oft Ausdruck unklarer Gedanken. Klarer Ausdruck setzt meist klare Gedanken voraus. Wer einen schwierigen Sachverhalt durchdrungen hat, kann ihn einfach wiedergeben (nicht: vereinfacht). Die Kritik an der in den letzten Jahren aufgekommenen „Verschulung“ will belegen, wie wichtig die Verantwortung und das Vertrauen eines Betreuers für das Gelingen einer Promotion ist. Gleiches gilt für Verantwortung und Vertrauen bei den Promovenden. Ich habe niemals eine „Betreuungsvereinbarung“ unterschrieben, und ich habe nicht vor, dies jemals zu tun. Bereits hier fängt die für Betreuer und Betreute unwürdige Reglementierung an. Im Promotionswesen liegt an deutschen Universitäten vieles im Argen. Mögen meine Hinweise eine kleine Hilfe für Doktoranden bedeuten. Selbstverständlich bin ich mir der verschiedenen Wissenschaftskulturen bewusst, weswegen eine Promotion in Chemie anderer Regularien bedarf als eine im Fach Politikwissenschaft. Seit nunmehr 25 Jahren führe ich mindestens zweimal jährlich dreitägige Doktorandenkreise durch, zuweilen ergänzt durch einwöchige Treffen: oft im Ausland, in Italien, auch in Litauen und Polen. Die Betreuung leistungswilliger junger Menschen in einer Atmosphäre der Liberalität beglückt. Wer meine Vorliebe für Kritik in jeder Form kennt, weiß nur zu gut: Die Teilnahme an Rezensionswettbewerben bedeutet eine „freiwillige Pflicht“. Niemals war es mein Ziel, Doktoranden und Habilitanden dogmatisch auf eine spezifische – wissenschaftliche oder gar politische – Position festzulegen (deren Publikationen sprechen ohnehin für sich), wobei die Akzeptanz des Verfassungsbogens, das läuft nicht auf eine Apologie des juste milieu hinaus, für einen Demokratieforscher selbstverständlich ist. Einer meiner Lieblingssätze: Politikwissenschaft ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Mit Freude habe ich die späteren beruflichen Fortschritte vieler „Schüler“ – und „Schülerinnen“ – verfolgt. Damit der Kontakt nicht abreißt, finden Jahr für Jahr – stets im Sommer, immer an einem anderen Ort – Treffen mit den „doctores“ und ihren Partnern statt. Im Vordergrund steht weniger der wissenschaftliche Gedankenaustausch, mehr das persönliche Gespräch. Nicht nur das legendäre „Mafia“-Spiel stellt die Nähe zwischen Doktoranden- und Doktorenkreisen dar. Die Zusammenarbeit mit meinen „Schülern“ war und ist mir nie Last, sondern bereitet mir Lust, selten Frust. Ihnen ist dieser Band gewidmet.
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Die erste Generation der deutschen Politikwissenschaft Wer war die erste Generation der deutschen Politikwissenschaft nach 1945? Zu ihr zählten „Einheimische“ wie Theodor Eschenburg, Michael Freund und Dolf Sternberger und „Ausgewanderte“ wie Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Eric Voegelin. Das oft abwertende Urteil über die „Generalisten“ – naturgemäß keine „gelernten“ Politikwissenschaftler – ist unangebracht, Ausdruck von Geschichtsvergessenheit. Wo kann die heutige Politikwissenschaft von der – zum Teil vergessenen – Gründergeneration des Faches lernen?
1.
Statt einer Einleitung: Der Streit um die Vergangenheit Theodor Eschenburgs
In den letzten Jahren erregte eine erbittert geführte Kontroverse, die bis heute andauert, nicht nur die (politik)wissenschaftlichen Gemüter1. Die Vergangenheit von Theodor Eschenburg, einem der Gründungsväter der deutschen Politikwissenschaft, steht auf der Agenda. Auslöser: Ein Aufsatz von Rainer Eisfeld, der Eschenburg, welcher der NSDAP nie beigetreten war, u. a. die Beteiligung an einer Kampagne gegen den linken Pazifisten Emil Gumbel sowie die Mitwirkung an einem „Arisierungsfall“ 1938 vorwarf. Außerdem habe Eschenburg seine keineswegs ruhmreiche Vergangenheit nach 1945 nicht offenbart2. Daraufhin gab die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) ein Gutachten in Auftrag, das zu dem Ergebnis kam, es sei sinnvoll, den nach Eschenburg benannten Preisnamen für ein großes wissenschaftliches Lebenswerk nicht mehr zu vergeben3. Claus Offe nahm den Preis auf dem wissenschaftlichen Kongress der DVPW 2012 – ausgerechnet in Tübingen – zwar entgegen, distanzierte sich aber in seiner Dankesrede vom Namensgeber. Weniger dessen Verhalten im Dritten Reich sei Anlass zur Klage als sein leisetreterisches Verhalten nach 1945, die eigene Vergangenheit betreffend4. Obwohl über 100 Professoren vornehmlich der Politikwissenschaft in einem „offenen Brief “ davor warnten, die Benennung des Wissenschaftspreises zu ändern, beschloss der Vorstand der DVPW im Oktober 2013, den Lebenswerk-Preis ganz abzuschaffen. Eschenburg, nach eigener Lesart kein Held, hatte sich im Dritten Reich als Geschäftsführer von Industrieverbänden durchlaviert. Rechtfertigt das die Abschaffung des nach 1 2 3
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Vgl. Jürgen W. Falter, Die Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen, in: INDES 3 (2014), Heft 2, S. 126–144. Vgl. Rainer Eisfeld, Theodor Eschenburg. Übrigens vergaß er noch zu erwähnen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 27–44. Vgl. Hannah Bethke, Theodor Eschenburg in der NS-Zeit. Gutachten im Auftrag von Vorstand und Beirat der DVPW (3. September 2012), in: Hubertus Buchstein (Hrsg.), Die Versprechen der Demokratie. 25. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Baden-Baden 2013, S. 527–567. Vgl. Claus Offe, Rede anlässlich der Verleihung des Theodor-Eschenburg-Preises der DVPW, in: Politische Vierteljahresschrift 53 (2012), S. 601–606.
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ihm benannten Preis, den vor Claus Offe Gerhard Lehmbruch (2003), Helga Haftendorn (2006) und Wilhelm Hennis (2009) erhielten? Müssen Kritiker nicht die wissenschaftlichen und publizistischen Leistungen Eschenburgs als Gründungsprofessor 1952 im Fach Politikwissenschaft an der Universität Tübingen berücksichtigen, zumal dieser im Dritten Reich nichts geschrieben hatte? Ist das nicht ebenso eine Überreaktion, wie es Austritte früherer Vorsitzender der DVPW sind (Jürgen W. Falter, Gerhard Lehmbruch, Christine Landfried)? Eschenburg, eine Art „Praeceptor Germaniae“, hatte nach Alexander Rüstow (1951–1956) als Zweiter den Vorsitz der DVPW übernommen (1956–1959) und maßgeblichen Anteil an der wahrlich nicht einfachen Etablierung des Faches im Wissenschaftsbetrieb sowie der Einführung des Politikunterrichtes in der Schule. Der Streit ist deswegen ein Politikum, weil es lange nahezu Common Sense war, die Politikwissenschaft sei im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen von der (braunen) Vergangenheit unbelastet. Sie verstand sich anfangs als „Demokratiewissenschaft“ und galt als Neugründung. Im Zusammenhang mit Eschenburg gerieten weitere Autoren ins Kreuzfeuer der Kritik, so der Kieler Michael Freund5 und der Freiburger Arnold Bergstraesser. Auf dem erwähnten Kongress der DVPW 2012 kam es zu einer heftigen Fehde zwischen Hannah Bethke sowie Rainer Eisfeld auf der Seite der „Angreifer“ und Günter C. Behrmann sowie Gerhard Lehmbruch auf der Seite der „Verteidiger“6. Die Debatte litt unter der Fixierung auf die „Vergangenheitspolitik“. Was die (besagten) Nachkriegspolitologen geleistet oder nicht geleistet haben, blieb weithin unerörtert. Dieser Sachverhalt wäre für ein Gesamturteil wichtig gewesen. Bereits in den achtziger Jahren flammte eine Diskussion über mögliche Kontinuitätsstränge von der Weimarer Politikwissenschaft zur „Auslandswissenschaft“ im Dritten Reich und von dort zur Politikwissenschaft in der Bundesrepublik auf (herkömmliche LinksRechts-Orientierungen spielten dabei keine Rolle). Sie erlosch aber rasch wieder7. Was auffällt: An der zeitweiligen Mitgliedschaft von Wolfgang Abendroth, Ossip K. Flechtheim und Richard Löwenthal in der KPD nahm keiner Anstoß. Der folgende Beitrag will an die erste Generation der deutschen Politikwissenschaft erinnern. Wodurch zeichnete sie sich aus? Was waren ihre Leistungen, was ihre Schwächen? Zunächst geht es um die Entstehung der von „innen“ wie von „außen“ aufgebauten Politikwissenschaft nach 1945. Es folgt eine Charakterisierung der teils im Lande ge-
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Der Beitrag von Wilhelm Knelangen und Birte Meinschien über Michael Freund nahm eine abwägende Position ein. Siehe auch dies., „Ich wäre gern in Ruhe gelassen worden ...“. Michael Freund im Nationalsozialismus, in: Politische Vierteljahresschrift 55 (2014), S. 321–355. Vgl. Hubertus Buchstein (Anm. 3). Vgl. Johannes Weyer, Politikwissenschaft im Faschismus (1933–1945). Die vergessenen zwölf Jahre, in: Politische Vierteljahresschrift 26 (1986), S. 423–437; Kurt Lenk, Über die Geburt der „Politikwissenschaft“ aus dem Geiste des „unübertrefflichen“ Wilhelm Heinrich Riehl, in: Politische Vierteljahresschrift 27 (1986), S. 252–258; Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler, In der Kontinuität einer braunen Politikwissenschaft?, in: Politische Vierteljahresschrift 27 (1986), S. 330–340.
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bliebenen, teils ins Ausland gegangenen Nestoren der ersten Generation sowie ein kurzer, keineswegs systematischer Vergleich zur heutigen Politikwissenschaft.
2.
Die Entstehung der deutschen Politikwissenschaft nach 1945
Die Konferenz „Einführung der politischen Wissenschaften an den deutschen Universitäten und Hochschulen“8 im hessischen Waldleiningen am 10./11. September 1949 ging auf deutsche wie auf amerikanische Initiativen gleichermaßen zurück9. Eingeladen hatte das hessische Kultus- und Justizministerium. Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Karl Loewenstein und der hessische Kultusminister Erwin Stein waren die „starken Männer“ auf der Tagung. Die 99 Teilnehmer, davon 44 Professoren aus dem In- und Ausland, höhere Beamte aus den Ministerien wie bekannte Persönlichkeiten, verständigten sich mehrheitlich auf die Etablierung eines Universitätsfaches „Wissenschaft von der Politik“ (die Terminologie schwankte). Die Königsteiner Konferenz am 15./16. Juli 1950 mit diesmal 88 Teilnehmern – erneut dominierten Loewenstein und Stein – sprach sich für ein Fach „Wissenschaft von der Politik“ an den Universitäten aus und begrüßte die Gründung einer Fachvereinigung. Sie folgte im Februar 1951, wiederum in Königstein. Es ist eine gewisse Paradoxie: auf der einen Seite Widerstände anderer Fächer, auf der anderen Seite eine schnelle Gründung der Politikwissenschaft. Dieses Votum fußte auf dem politischen Willen, der neuen Disziplin den Weg zu ebnen. Berlin nahm mit der Deutschen Hochschule für Politik und dem Institut für Politische Wissenschaft eine gewisse Vorreiterfunktion ein. Bereits am symbolischen 18. März 1948 – auf den Tag ein Jahrhundert nach dem Ausbruch der Revolution in Berlin – beschloss die Berliner Stadtverordnetenversammlung die Wiedererrichtung der 1920 gegründeten Deutschen Hochschule für Politik. Der eigentliche Inspirator, Otto Suhr, später Regierender Bürgermeister von Berlin (1955–1957), wollte die Demokratie stärken. „Politisch gesehen war die Hochschule im wesentlichen ein Produkt sozialdemokratischer Reformbemühungen.“10 1952 erhielt die Deutsche Hochschule für Politik das Promotionsrecht. Im Juli 1950 entstand das Institut für politische Wissenschaft, das von vornherein als politikwissenschaftliches, international vernetztes Forschungszentrum angelegt war11
8 Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 266. 9 Vgl. Arno Mohr, Die Durchsetzung der Politikwissenschaft an deutschen Hochschulen und die Entwicklung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, in: Klaus von Beyme (Hrsg.), Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungsprobleme einer Disziplin, Opladen 1986, S. 62–77; Mohr, Arno: Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Wege zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik 1945–1965, Bochum 1988. 10 Ebd., S. 49. 11 Vgl. Otto Stammer, Zehn Jahre Institut für politische Wissenschaft, in: Ders. (Hrsg.), Politische Forschung. Beiträge zum zehnjährigen Bestehen des Instituts für politische Wissenschaft, Köln/Opladen 1960, S. 175–203.
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und insofern nicht in Konkurrenz zur Deutschen Hochschule für Politik geriet.12 Otto Heinrich von der Gablentz avancierte zum ersten wissenschaftlichen Leiter, Arcadius R. L. Gurland zu seinem Stellvertreter. Ab 1954 übernahm nach internen Unstimmigkeiten Otto Stammer die Leitung. Drei Forschungszweige standen im Vordergrund: „die vergleichende Analyse der für moderne demokratische Verfassungssysteme kennzeichnenden politischen Institutionen und Prozesse – das Gebiet der ‚Demokratieforschung‘, die Untersuchung der gesellschaftlich-ideologischen Voraussetzungen, des politischen Wirkungszusammenhanges und der kulturellen Folgen totalitärer Herrschaftsgebilde – das Gebiet der ‚Totalitarismusforschung‘ – und im Zusammenhang mit diesen beiden Forschungsaspekten die kritische politikwissenschaftliche Durchleuchtung der jüngsten deutschen Geschichte und des Verhältnisses der Deutschen zu anderen Völkern und gesellschaftlich-politischen Lebensstilen“13. Dieses Programm nimmt sich geradezu modern aus, und mit einiger Phantasie lässt sich der dritte Forschungszweig im Sinne „politischer Kultur“ interpretieren. Bezeichnenderweise ging die große Habilitationsschrift Karl Dietrich Brachers über die „Auflösung der Weimarer Republik“ (1955) aus diesem Institut hervor.14 Zur ersten Generation gehörten Persönlichkeiten, die emigriert waren (meistens in die USA), wie solche, die in Deutschland „überwintert“ hatten (innere Emigration). Die einschlägige Forschung verzeichnet eine Diskussion über den anfänglichen Einfluss der jeweiligen Strömung bei der Entstehung des Faches. Die einen sehen in den Emigranten die treibende Kraft15, die anderen in den im Land Gebliebenen16. Ein Grund für die unterschiedliche Akzentsetzung mag in dem anders gewählten Forschungsschwerpunkt liegen. Eine weitere – damit zusammenhängende – Kontroverse zielte auf die Bewertung des amerikanischen Einflusses. Antiwestlich gesinnte Autoren, sei es von rechts17 sei es von links18, beurteilen ihn negativ, freilich unterschiedlich begründet und unterschiedlich scharf. Zur Kategorie der „Einheimischen“ zählen u. a. Wolfgang Abendroth, Theodor Eschenburg, Gert von Eynern, Eugen Fischer-Baling, Michael Freund, Otto Heinrich 12 Damit erklärt sich, dass Otto Suhr (neben Franz L. Neumann) eine tragende Rolle auch bei der Gründung dieses Instituts gespielt hatte. 13 Otto Stammer (Anm. 11), S. 176. 14 1958 wurde das Institut für Politische Wissenschaft in die Freie Universität integriert, 1959 die Deutsche Hochschule für Politik. Sie hieß von nun an Otto-Suhr-Institut. Berlin entwickelte sich damit für längere Zeit zur Hochburg der deutschen Politikwissenschaft. 15 Vgl. Alfons Söllner, Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, Opladen 1996. 16 Vgl. Hubertus Buchstein, Wissenschaft von der Politik, Auslandswissenschaft, Political Science, Politologie. Die Berliner Tradition der Politikwissenschaft von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik, in: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 183–211. 17 Vgl. Hans-Joachim Arndt, Die Besiegten von 1945. Versuch einer Politologie für Deutsche samt Würdigung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978; Stefan Scheil, Transatlantische Wechselwirkungen. Der Elitenwechsel in Deutschland nach 1945, Berlin 2012. 18 Vgl. Hans Kastendiek, Die Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt a. M. 1977.
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von der Gablentz, Eugen Kogon, Carlo Schmid, Bruno Seidel, Otto Stammer, Dolf Sternberger und Otto Suhr. Hier bedarf es mannigfacher Differenzierungen. Wolfgang Abendroth (vier Jahre) und Eugen Kogon (sechs Jahre) gerieten aus politischen Gründen in die Gefängnisse des Dritten Reiches. Standen manche Widerstandskreisen nahe (wie Otto Heinrich von der Gablentz und Otto Suhr), verblieben die meisten in der inneren Emigration19. Als Einziger der Genannten war Michael Freund, ein früherer Sozialdemokrat, Mitglied der NSDAP. Zur Kategorie der „Ausgewanderten“ gehören u. a. Arnold Bergstraesser, Ossip K. Flechtheim, Ernst Fraenkel, Carl J. Friedrich, Adolf Grabowsky, Arcadius R. L. Gurland, Ferdinand A. Hermens, Ernst Jäckh, Siegfried Landshut, Richard Löwenthal, Ernst Wilhelm Meyer, Fritz Morstein-Marx, Edgar R. Rosen, Eric Voegelin. Das Spektrum war breit gefächert, wiewohl etwas nach links verschoben (das gilt nicht für Bergstraesser, Grabowsky, Hermens, Jäckh und Voegelin). Carl J. Friedrich ging bereits 1926 in die USA (nicht aus politischen Gründen), der mit ihm aus Studentenzeiten gut bekannte Arnold Bergstraesser, zunächst angetan von der „nationalen Revolution“, erst 1937 (aus politischen Gründen). Alfons Söllners Liste umfasst 64 Personen, die vor 1933 in Deutschland ein Examen abgelegt und sich dann – nach der Emigration – unter zum Teil schwierigen Umständen als Politikwissenschaftler etabliert hatten. Viele von ihnen kehrten auf Dauer nicht mehr nach Deutschland zurück, nahmen allenfalls Gastprofessuren wahr, so Hannah Arendt, Arnold Brecht, Waldemar Gurian, Ernst Hamburger, Otto Kirchheimer, Karl Loewenstein, Hans J. Morgenthau, Franz L. Neumann, Sigmund Neumann, Hans Simons, Leo Strauss, Arnold Wolfers. Zum ersten Professor für Politikwissenschaft an einer deutschen Universität nach 1945 avancierte Wolfgang Abendroth in Marburg (1950). Es folgten Ernst Wilhelm Meyer in Frankfurt (1951), Eugen Kogon in Darmstadt (1951), Heinrich Brüning in Köln (1951) und Michael Freund in Kiel (1951). Wer diese Professoren näher in Augenschein nimmt, erkennt die für die erste Generation typische Vielfalt der Lebenswege, auch ihre Brüche. Zwei (Brüning und Meyer) sind – trotz der Berufung – niemals „richtige“ Politikwissenschaftler geworden, übten ihre Position nur kurzfristig aus. Wolfgang Abendroth (1906–1985) war fast zeit seines ganzen Lebens Marxist, als Mitglied der KPD, der KPD(O), der SPD und als Parteiloser von 1961 an. Nach dem ersten juristischen Staatsexamen in der Weimarer Republik folgte die juristische Promotion 1936. Eine vierjährige Zuchthaushaft (1937–1941) wegen Hochverrats, die Arbeit in einem Strafbataillon sowie ein Kriegseinsatz in Griechenland unterbrachen die verheißungsvolle Karriere. Zwar wurde er schnell auf juristische Professuren in der SBZ berufen, doch kehrte er der sich etablierenden SED-Diktatur Ende 1948 den
19 Vgl. Jens Hacke, Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen. Dolf Sternberger und Theodor Eschenburg als Nestoren der deutschen Politikwissenschaft, in: Friedrich Kießling/Bernhard Rieger (Hrsg.), Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre, Köln 2011, S. 209–228.
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Rücken, aus Furcht vor Verhaftung. Nach einer Professur an der Wilhelmshavener Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft folgte 1950 der Wechsel auf den Marburger Lehrstuhl (bis zur Emeritierung 1972). Dort radikalisierte sich der Anfang der sechziger Jahre aus der SPD ausgeschlossene Marxist, einer der produktivsten Politikwissenschaftler Deutschlands, mit seiner zeitweiligen Hinwendung zum System der DDR. Seine vielen Schüler konnten mit ihrer marxistischen Scholastik keine ebenbürtigen Leistungen aufweisen.20 Ernst Wilhelm Meyer (1892–1969) studierte ebenfalls Jura und trat danach in den diplomatischen Dienst ein, den er 1937 aus politischen Gründen verließ. Obwohl Professor für Politische Wissenschaft in den USA (von 1940 an), kam Meyer 1947 als einer der ersten Emigranten wieder nach Deutschland. Er engagierte sich auf den Konferenzen zur Gründung des neuen Faches vielfältig und gelangte in den ersten Vorstand der Vereinigung. Doch bald nach der Annahme des Frankfurter Rufes – 1951 – folgte die Rückkehr in den Diplomatendienst, diesmal als Botschafter in Indien. Von 1957 bis 1965 fungierte er als SPD-Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Größere politikwissenschaftliche Leistungen sind von ihm, dem Mitbegründer der „Politischen Literatur“, einem Vorläufer der „Neuen Politischen Literatur“, nicht bekannt. Weitaus einflussreicher wurde Eugen Kogon (1903–1987), doch weniger aufgrund seiner politikwissenschaftlichen Professur, die er bis zur Emeritierung 1968 wegen vielfältiger anderer Engagements eher halbherzig wahrnahm (1967 bis 1969 hatte er allerdings den Vorsitz der DVPW inne), als durch sein Buch über den „SS-Staat“21 und durch seine Moderation des Fernsehmagazins „Panorama“ (1964/65), die zuweilen auf konservative Kritik stieß. Dem Studium der Nationalökonomie folgte eine lange Schaffensperiode bei einer katholischen Zeitschrift. Die Zeit von 1939 bis 1945 verbrachte der konservative Gegner des Nationalsozialismus, autoritären Staatsvorstellungen nicht abhold, im Konzentrationslager Buchenwald. Gemeinsam mit Walter Dirks gründete Kogon, der sich lange gegen die Westbindung Deutschlands gewandt hatte, 1946 die linksliberalen „Frankfurter Hefte“, anfangs ein bedeutendes kulturpolitisches Magazin. Von Kogon sind zwar gesammelte Schriften in acht Bänden vorgelegt worden; über sein wechselvolles Leben gibt es jedoch keine Biographie. Heinrich Brüning (1885–1970), ausgebildeter Nationalökonom, wurde nach dem Bruch der Großen Koalition unter Hermann Müller von 1930 bis 1932 Reichskanzler einer von der SPD tolerierten bürgerlichen Minderheitsregierung der Weimarer Republik. Die Wissenschaft streitet sich bis heute über Brünings Rolle: versuchter Retter der Weimarer Demokratie oder einer ihrer Totengräber? Die posthum publizierten Memoiren bestätigen eher seine Kritiker. Er stimmte als führender Politiker der Zentrumspartei
20 Zur „Marburger Schule“ vgl. den letzten Abschnitt dieses Beitrages. 21 Es erschien bereits 1946 und erlebte dank seiner ergreifenden Anschaulichkeit, nicht wegen seiner wissenschaftlichen Akkuratesse, viele Auflagen. Vgl. Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, 44. Aufl., München 2006.
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1933 dem Ermächtigungsgesetz zu, geriet aber bald unter politischen Druck der Nationalsozialisten. Nach der Flucht 1934 über die Niederlande in die USA gelang es ihm, eine Professur an der Harvard University zu erlangen. Die Gründungsprofessur in Köln für Politikwissenschaft gab Brüning, der mit der Westbindungspolitik Adenauers über Kreuz lag, 1953 auf. Sein dortiges universitäres Auftreten hat so gut wie keine Spuren hinterlassen. Michael Freund (1902–1972) war nach der Promotion im Fach Geschichtswissenschaft bei Hermann Oncken in einer untergeordneten Position an der Deutschen Hochschule für Politik tätig. Er publizierte im Dritten Reich eifrig und habilitierte sich bei Gerhard Ritter in Freiburg mit einer bereits veröffentlichten dreibändigen „Weltgeschichte der Gegenwart in Dokumenten“. Nach seiner Entlassung aus politischen Gründen – wegen der früheren SPD-Mitgliedschaft – trat Freund 1940 der NSDAP bei, wohl aus Opportunismus, nicht aus Überzeugung22. Großen Nutzen zog er daraus nicht. Nach 1945 engagierte sich Freund bei den Initiativen zur Gründung des Faches Politikwissenschaft. Publizistisch aktiv, gehörte er zu den Herausgebern des Periodikums „Die Gegenwart“ (1951–1958). Besonders die Publikation eines Dokumentationsbandes über George Sorel, „Der falsche Sieg“, aus dem Jahre 1944 wird ihm heute vorgehalten. Er will den Text so nicht geschrieben haben23.
3.
Führende Repräsentanten der ersten Generation
Die Frage nach der Zahl der (bisherigen) Generationen im Fach Politikwissenschaft ist ebenso umstritten wie deren Periodisierung. Trennscharfe Grenzen zu ziehen ist sind wegen mannigfacher Überlappung ohnehin kaum möglich. Nach der Gründergeneration, die vornehmlich „Demokratiewissenschaft“ in den Vordergrund rückte, um damit ihre Legitimation zu bekräftigen, folgte etwa von 1960 bis Mitte der siebziger Jahre die Zeit der Konsolidierung, der Politisierung und der Professionalisierung. Mit Karl Dietrich Bracher, Iring Fetscher und Wilhelm Hennis, um nur drei Namen zu nennen, gelangten Politikwissenschaftler auf Lehrstühle, die nach 1945 studiert hatten (in der Regel nicht das Fach Politikwissenschaft). In den achtziger Jahren setzte eine deutliche Separierung der einzelnen Fachteile ein, die es kaum mehr möglich machte, einen angemessenen Überblick über die Disziplin zu gewinnen, zumal die Policy-Forschung und ein verstärkter Szientismus neue Akzente setzten. Durch die deutsche Einheit kam wieder jene Richtung etwas mehr zur Geltung, welche die Identität der Disziplin ebenso wie normative Elemente zu betonen sucht24. Allerdings ist eine solche Kategorisierung ver22 Vgl. Birte Meinschien, Michael Freund. Wissenschaft und Politik (1945–1965), Frankfurt a. M. 2012. 23 Vgl. dies., Historie und Macht. Die Kieler Politikwissenschaft unter Michael Freund, in: Wilhelm Knelangen/Tine Stein (Hrsg.), Kontinuität und Kontroverse. Die Geschichte der Politikwissenschaft an der Universität Kiel, Essen 2013, S. 327–368. 24 Gerhard Lehmbruch, Die Politikwissenschaft im Prozess der deutschen Vereinigung, in: Ders. (Hrsg.), Einigung und Zerfall. Deutschland und Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1995.
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einfachend, schon wegen der Unabhängigkeit selbstbewusster Professoren, die nicht jeden neuen Ansatz aufgreifen und nicht jeder Mode nachlaufen. Das Fach expandierte – die Zahl der Professuren stieg bald sprunghaft an: von 21 (1959), davon allein zehn in Berlin, auf 81 (1969), später auf 214 (1974). In den letzten 40 Jahren hat sich die Zahl wegen des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik auf rund 250 erhöht. Von den einstigen Widerständen traditioneller Fächer, der Rechts- und der Geschichtswissenschaft etwa, ist nichts mehr zu merken. Gerade die gescholtenen Bergstraesser, Eschenburg und Freund waren es, die mit anderen – wie z. B. Ernst Fraenkel und Otto Heinrich von der Gablentz – die Politikwissenschaft an den Universitäten verankert hatten. Die erste Generation ist von der nächsten besser abgrenzbar, als dies für die weitere Generationenfolge gilt. Vor dem Ersten Weltkrieg geboren, hatte sie bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Examen absolviert. Sie ist bei allem politischen und wissenschaftlichen Pluralismus durch ein beträchtliches Maß an Homogenität gekennzeichnet. Das einigende Band ist, wie erwähnt, mehr oder weniger die „Demokratiewissenschaft“ gewesen. Zu den Ausnahmen gehören vor allem Carl J. Friedrich und Michael Freund, nicht die (früheren) Marxisten Wolfgang Abendroth, Ossip K. Flechtheim und Richard Löwenthal. Wer gehört zu den führenden Politikwissenschaftlern der ersten Generation? In dem kürzlich veröffentlichten Band „Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung“, der nach Meinung der Herausgeber die 50 bedeutendsten Politikwissenschaftler porträtiert, sofern gestorben oder über 70 Jahre alt25, fanden elf Politikwissenschaftler der ersten Generation Aufnahme: Wolfgang Abendroth, 1906–1985; Arnold Bergstraesser, 1896–1964; Theodor Eschenburg, 1904–1999; Ossip K. Flechtheim, 1909–1998; Ernst Fraenkel, 1898–1975; Carl J. Friedrich, 1901–1984; Ferdinand A. Hermens, 1906– 1998; Siegfried Landshut, 1897–1968; Richard Löwenthal, 1908–1991; Dolf Sternberger, 1907–1989; und Eric Voegelin, 1901–1985. Viele aus der ersten Generation sind Spätberufene. Das gilt im doppelten Sinne. Zum einen hatten sie alle das 40. Lebensjahr überschritten (der Jüngste, Abendroth, war 44), die meisten das 50., als sie die Professur erhielten.26 Der Grund: Vor 1933 gab es zum einen keine Professoren der Politikwissenschaft, im Dritten Reich ohnehin nicht, jedenfalls nicht in einer Weise, die es gerechtfertigt hätte, solche Personen nach 1945 in einem Fach, das Demokratieschulung in den Vordergrund rückt(e), Karriere machen zu lassen.27 Zum andern zogen sich die Berufungen hin, u. a. wegen der späten Einrichtung der Lehrstühle und wegen des Zögerns 25 Zwei Ausnahmen gab es mit Herfried Münkler (Jahrgang 1951) und Manfred G. Schmidt (Jahrgang 1948). Sie wurden aufgenommen, weil ihre politikwissenschaftliche Leistung bereits jetzt als bahnbrechend gilt. 26 Allerdings hatten einige von ihnen in den USA bereits eine Professur inne. 27 Freilich war Karl Heinz Pfeffer, von 1943 bis 1945 als Nachfolger von Franz Alfred Six Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät, dem Nachfolgeinstitut der Deutschen Hochschule für Politik, Professor für Soziologie in Münster (1962–1971). Vgl. Gideon Botsch, „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940–1945, Paderborn 2006.
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mancher Personen, einen Ruf anzunehmen: Abendroth erhielt 1950 den Ruf, Landshut 1951, Eschenburg 1952, Fraenkel 1953, Bergstraesser 1954, Friedrich 1956, Voegelin 1958, Hermens 1959, Flechtheim 1961, Löwenthal ebenso 1961, Sternberger 1962.28 Insofern zählten nicht alle aus der ersten Generation zu Gründungsprofessoren.29 Deren beachtliche Zahl an Alterswerken erstaunt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Dolf Sternberger, ihm verdanken wir seit 1979 das schöne Wort „Verfassungspatriotismus“, das nicht in einem Gegensatz zu herkömmlichem Patriotismus steht, hat sein gelehrtes Hauptwerk „Drei Wurzeln der Politik“, in gewisser Weise charakteristisch für viele normative Positionen der ersten Generation, mit über 70 Jahren der Öffentlichkeit präsentiert. In ihm geht es darum, den Politikbegriff aufzufächern. Die unverschnörkeltglasklare Sprache differiert sich wohltuend von der vieler heutiger Politikwissenschaftler. Der Verfasser unterscheidet in seiner begriffsgeschichtlichen Studie zwischen Politologik, für die Aristoteles steht, Dämonologik, die Machiavelli repräsentiert, und Eschatalogik, zu der Augustinus zählt. Sein Urteil überrascht nicht: „Weder die dämonologische noch die eschatologische Politik in irgendeiner ihrer Spielarten will die Menschengleichheit anerkennen, die eine, weil sie den oder die Herrschenden von ihr ausnehmen, die andere, weil sie die Guten und die Bösen auseinanderhalten und unterschiedlich behandeln will. Einzig die Politologik ist imstande, unsere philosophische Voraussetzung zu akzeptieren, indem sie nämlich die Menschen in Bürger zu verwandeln vermag oder als Bürger aufzufassen verlangt und das heißt als Gleiche. Das ist einer der Gründe, weswegen bürgerliche Politik den Menschen ebenso möglich wie zuträglich, weswegen sie also gute Politik ist.“30 Unter den Gründungsvätern (es waren in der Tat nur Männer) ragen zwei Politikwissenschaftler heraus, ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit: Carl J. Friedrich und Ernst Fraenkel.31 Friedrich, in Leipzig geboren und in Marburg aufgewachsen, drei Jahre jünger als Fraenkel, lehrte nach der Promotion bei Alfred Weber in Heidelberg bereits von 1926 an in den USA. 1936 Professor in Harvard geworden, wollte er nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland wissenschaftlich wirken. Von 1956 an, dem Beginn des Ordinariats in Heidelberg, fand die Lehre jeweils im Sommersemester in Deutschland statt, in der übrigen Zeit in den USA. In Heidelberg währte seine Tätig28 Der (amerikanische!) Emigrant Edgar R. Rosen erhielt einen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl in Braunschweig erst 1965 (mit 53), Fritz Morstein Marx einen verwaltungswissenschaftlichen Lehrstuhl in Speyer 1962 (mit 62). 29 Das gilt etwa für Ferdinand A. Hermens, der Heinrich Brüning ablöste, ebenso für Carlo Schmid, der Ernst Wilhelm Meyer folgte. 30 Vgl. Dolf Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt a. M. 1978, S. 441. 31 Die beiden großen Arbeiten zu Friedrich (vgl. Hans J. Lietzmann, Politikwissenschaft im „Zeitalter der Diktaturen“. Die Entwicklung der Totalitarismustheorie Carl Joachim Friedrichs, Opladen 1999) und zu Fraenkel (vgl. Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt a. M. 2009) sind höchst unterschiedlich. Während Lietzmann sich (zu) kritisch auf das Werk konzentriert (und das Leben nur streift), schildert Ladwig-Winters mit viel Wohlwollen das Leben (und vernachlässigt dabei das Werk).
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keit bis 1966, in Harvard bis 1971. Eine schwere Krankheit hinderte ihn im letzten Lebensjahrzehnt daran, seine Forschungen fortzusetzen. Friedrich war kein „Demokratiewissenschaftler“. Seine Konzeption des demokratischen Verfassungsstaates, die den Institutionen ein großes Gewicht beimaß, betonte vor allem den Wert des Rechtsstaates und die gewaltenbeschränkenden Prinzipien des Föderalismus. Die verwaltungswissenschaftliche Forschung gehörte zu Friedrichs Steckenpferden. Wohl keiner hat eine so ausgefeilt-systematisierte Totalitarismuskonzeption wie er entfaltet. Kaum ein Bereich der Politik war vor seinen Analysen „sicher“. Was nicht verwundert: Von ihm stammt das erste wissenschaftliche Buch zur Politikwissenschaft in deutscher Sprache32. In Köln geboren und mit 16 Jahren nach Frankfurt am Main gekommen, studierte Fraenkel nach dem freiwilligen Kriegseinsatz dort Rechtswissenschaft. Das SPDMitglied, bei Hugo Sinzheimer promoviert, machte sich einen Namen als Anwalt und als Autor für gewerkschaftsnahe Blätter. Fraenkel, jüdischer Abstammung, musste 1938 fliehen. Da er in den USA beruflich nicht recht Fuß fassen konnte, arbeitete er nach dem Krieg für amerikanische Behörden in Korea. 1953 erhielt Fraenkel nicht zuletzt dank der Fürsprache seines Freundes Otto Suhr eine Professur an der Freien Universität Berlin mit vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten. 1967 emeritiert, zeigte er sich über die Studentenunruhen verbittert. Fraenkel starb fast ein Jahrzehnt vor Friedrich, seinem Kollegen und Konkurrenten. Fraenkel war ein „Demokratiewissenschaftler“ durch und durch. Sein leidenschaftliches Bekenntnis für die westliche Demokratie repräsentativen Ursprungs, von Kenntnis getragen, nicht pathosgetränkt, durchzog sein Werk nach 1945 wie ein roter Faden. Er gilt als Begründer der zeitweilig heftig befehdeten Neopluralismustheorie33, die dem Konzept Rousseaus eine Absage erteilt, ohne deswegen den Gemeinwohlbegriff zu verwerfen. Sein „Doppelstaat“ von 1941, eine gelehrte Abhandlung zum nationalsozialistischen Totalitarismus, der auf einem „Maßnahmenstaat“ und einem „Normenstaat“ basiert, wird breit rezipiert. Der Berliner Politikwissenschaftler wirkte, gleich dem Heidelberger, im Grenzgebiet zwischen politischer Theorie und vergleichender Regierungslehre. Wie dieser begründete er keine Schule, auch wenn sich heutzutage viele auf Fraenkel berufen. Der Wandel, mit Blick auf die Zeit vor 1933 und nach 1945, ist bei ihm größer als bei Friedrich. Dieser verfügt in den USA über weitaus mehr Reputation als in Deutschland. Bei Fraenkel ist es umgekehrt, obwohl er das amerikanische Regierungssystem überaus wohlwollend analysiert hat. Friedrich wird mittlerweile stärker kritisiert als Fraenkel, anders als vor vier Dezennien.
32 Vgl. Carl J.Friedrich, Die politische Wissenschaft, Freiburg/München 1961. 33 Vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, hrsg. von Alexander von Brünneck, 9. Aufl., Baden-Baden 2011.
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Für die Aufnahme unter die „besten 50“ galt es drei Hauptkriterien zu berücksichtigen: „fachliche Kompetenz, erfolgreiches Wissenschaftsmanagement samt – jedenfalls ansatzweise – Bildung einer meinungsprägenden Schule, öffentliche Sichtbarkeit“34. Nicht alle Kriterien trafen gleichermaßen zu. So war bei Fraenkel wie bei Friedrich die fachliche Kompetenz besonders ausgeprägt, bei Bergstraesser das Wissenschaftsmanagement, bei Eschenburg die öffentliche Sichtbarkeit. Naturgemäß lässt sich trefflich darüber streiten, ob es sich um die wichtigsten Merkmale handelt und wie sie zu gewichten sind. Gert von Eynern, Michael Freund, Eugen Kogon, Carlo Schmid, Otto Heinrich von der Gablentz, Arcadius R. L. Gurland, Otto Stammer, die auch in Frage gekommen wären, fehlen aus den unterschiedlichsten Gründen, meistens deshalb, weil die fachwissenschaftliche Kompetenz niedriger eingestuft wurde als die der Aufgenommenen. Zugegeben: Ein Gran Subjektivismus wohnt solcher Auswahl inne. Unberücksichtigt bleiben mussten Wissenschaftler, die nicht wieder nach Deutschland zurückkehrten und im Ausland (meistens in den USA) eine (große) politikwissenschaftliche Karriere machten, etwa Hannah Arendt (1906–1975), John H. Herz (1908– 2005), Otto Kirchheimer (1905–1965), Karl Loewenstein (1891–1973), Hans J. Morgenthau (1904–1980), Franz L. Neumann (1900–1954), Sigmund Neumann (1904–1962). Die genannten Personen hatten sich zum Teil beim Aufbau der deutschen Politikwissenschaft nach 1945 verdient gemacht.
4.
Die weithin vergessene Gründergeneration im Vergleich zur heutigen Generation der Politikwissenschaftler
„Die politische Geistesgeschichte der Bundesrepublik lässt sich nicht schreiben, ohne auf die Wirkung und Bedeutung einzugehen, welche die Entstehung der Politikwissenschaft als einer eigenständigen Disziplin an den Universitäten und Hochschulen für die geistige Grundlegung der deutschen Politik und das politische Bewusstsein gehabt hat.“35 Zu Recht verweist Kurt Sontheimer, der zur zweiten Generation des Faches gehört, auf die Ausstrahlungskraft der Gründergeneration in der Öffentlichkeit. Theodor Eschenburg, Ernst Fraenkel, Ferdinand A. Hermens, Richard Löwenthal, Dolf Sternberger, um einige Beispiele zu nennen, prägten Debatten, sei es zur Kritik an Mauscheleien in der Politik, sei es zur Verteidigung pluralistischer Demokratiekonzeptionen, sei es zum Effekt von Wahlsystemen, sei es zur Entfaltung totalitarismustheoretischer Ansätze, sei es zum Plädoyer für Verfassungspatriotismus.
34 Vgl. Eckhard Jesse/Sebastian Liebold (Hrsg.), Politikwissenschaftler und Politikwissenschaft in Deutschland, in: Dies. (Hrsg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014, S. 18. 35 Kurt Sontheimer, So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, München 1999, S. 67.
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Die Gründergeneration war politisch interessiert, weniger parteipolitisch motiviert, wenngleich zu ihr mehr Sozialdemokraten als Christdemokraten gehörten, ob nun mit Parteibuch oder nicht. Richard Löwenthal, ein Freund Willy Brandts, etwa beriet die SPD jahrzehntelang. Die Politikwissenschaftler der ersten Generation, weithin „Generalisten“, mussten aus der Not eine Tugend machen, da sie – bis auf die „Berliner“ – das Fach in seiner ganzen Breite zu unterrichten hatten (jedenfalls theoretisch war es so), gab es an ihren Universitäten doch nur einen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl. Dies hatte Vor- und Nachteile. Einerseits bestand die Gefahr des Dilettantismus, andererseits nutzte die Berücksichtigung zentraler politischer Fragen dem Fach. Gleichwohl hatte auch die erste Generation ihre Schwerpunkte. Um dies an den elf als herausragend charakterisierten Personen zu zeigen: Abendroth und Flechtheim repräsentierten den Bereich der Innenpolitik. Gleiches galt für Eschenburg mit seinem Faible für historische Grundlagen. Fraenkel und Friedrich standen für die vergleichende Regierungslehre, ohne demokratietheoretische Aspekte zu vernachlässigen. Hermens zählt ebenso dazu. Allerdings fiel sein Werk durch die starke Orientierung an der Wahlrechtsthematik enger aus – zugleich ging es durch empiriegesättigte Studien über die Fraenkels und Friedrichs hinaus. Landshut, Sternberger und Voegelin sind von den erwähnten Politikwissenschaftlern der Politischen Theorie zuzurechnen, so verschiedenartig ihre Ansätze anmuten. Bergstraesser, wohl der „Generalist unter den Generalisten“, und Löwenthal, von der Publizistik kommend, weisen zwar höchst unterschiedliche – wissenschaftliche und politische – Lebenswege auf, doch überwiegt bei ihnen der Forschungszweig der Internationalen Politik. Bei Löwenthal springt dies deutlicher ins Auge als bei Bergstraesser. Ohne einer Idealisierung der ersten Generation der Politikwissenschaft und einer Perhorreszierung der heutigen das Wort zu reden: Was neu ist, muss nicht immer gut sein – und was alt ist, nicht immer schlecht. War die Politikwissenschaft vor 60 Jahren besser, als es die heutige ist? Die Frage lässt sich so einfach nicht beantworten. Das Jahr 1954 bietet eine aufschlussreiche Parallele zum Sport. War der damalige Fußballweltmeister Deutschland besser als der heutige? Sinnvoll ist der Vergleich nur, wenn angesichts des mannigfachen Fortschritts dieselbe zeitliche Ebene gewahrt bleibt. Deutschland war seinerzeit die beste Mannschaft im Fußball, doch die deutsche Politikwissenschaft, erst im Entstehen begriffen, damals gewiss nicht, etwa im Vergleich zu den USA. Mittlerweile etabliert, hat sie (außer Carl J. Friedrich) mit Klaus von Beyme und Max Kaase zweimal den Vorsitzenden der International Political Science Association (IPSA) gestellt. Die erste Generation hat es versäumt, eine Gesamtdarstellung zum hiesigen politischen System vorzulegen. Diese Lücke, 1960 bereits erkannt36, schloss erst die Studie 36 Otto Heinrich von der Gablentz, Politische Forschung in Deutschland, in: Otto Stammer (Hrsg.), Politische Forschung. Beiträge zum zehnjährigen Bestehen des Instituts für politische Wissenschaft, Köln/Opladen 1960, S. 164.
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von Thomas Ellwein, ein Repräsentant der zweiten Generation, im Jahre 1963.37 Das Buch Eschenburgs, dessen Titel den Eindruck eines Systemüberblickes erweckte, war deskriptiv-historisch und dröge verfassungsrechtlich ausgerichtet38, anders als die Vielzahl seiner (späteren) Kommentare und Glossen in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Seinerzeit entstanden politikwissenschaftliche Schulen, wie sie heute kaum mehr möglich sind. Es gab charismatische Gründungsväter an einem Ort mit einem Netzwerk an Schülern, die das spezifische Gedankengut des „Meisters“ aufnahmen und in dieser oder jener Weise verbreiteten. So ist von einer marxistischen „Marburger Schule“ um Wolfgang Abendroth39 zu reden, von einer spezifisch normativen „Freiburger Schule“ um Arnold Bergstraesser40, von einer empirisch bestimmten und auf das Wahlsystem konzentrierten „Kölner Schule“41 um Ferdinand A. Hermens42, von einer philosophisch orientierten „Münchner Schule“ um Eric Voegelin43, nicht jedoch von einer „Berliner Schule“44. Die seinerzeitige Hochburg der deutschen Politikwissenschaft wurde wegen der Vielfalt der Ansätze nicht durch einen Repräsentanten geprägt. Ernst Fraenkel hätte dazu das intellektuelle Rüstzeug gehabt, wohl aber nicht das Geschick, eine Schülerschar um sich zu versammeln und zu fördern. Ob eine „Heidelberger Schule“ bestand, ist in mehrfacher Hinsicht umstritten. Welche Parallelen gibt es in den Denkstrukturen zwischen Alexander Rüstow, dem ersten Vorsitzenden der DVPW (1951–1956), Carl Joachim Friedrich, dem Vorsitzenden der IPSA (1967–1970), und Dolf Sternberger, dem späteren Vorsitzenden der DVPW (1961–1963)? Die Akzeptanz des Konstitutionalismus war bei allen dreien ausprägt45. Es ließe sich auch die Frage aufwerfen, ob Klaus von Beyme (ein Schüler Friedrichs) und Manfred G. Schmidt (ein Schüler Gerhard
37 Das Werk, immer wieder überarbeitet, ist auch nach einem halben Jahrhundert ein Standardwerk. Vgl. zuletzt Thomas Ellwein/Joachim Jens Hesse, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., Baden-Baden 2012. 38 Vgl. Theodor Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart 1956. 39 Vgl. Lothar Peter, Marx an die Uni. Die „Marburger Schule“ – Geschichte, Probleme, Akteure, Köln 2014. 40 Vgl. Horst Schmitt, Politikwissenschaft und freiheitliche Demokratie. Eine Studie zum „politischen Forschungsprogramm“ der „Freiburger Schule“ 1954–1970, Baden-Baden 1995. 41 Zuweilen findet sich der Terminus „Köln-Mannheimer Schule“, weil die Kölner Rudolf Wildenmann, Schüler von Ferdinand A. Hermens, und Max Kaase, Schüler von Wildenmann, in Mannheim die empirische Forschung weiterentwickelten und sie von der Fixierung auf die Wahlrechtsfrage lösten. 42 Vgl. Werner Kaltefleiter, Die Kölner Schule für Politische Wissenschaft, in: Vera KaltefleiterGemmecke (Hrsg.), Im Kampf für Frieden und Freiheit. Ferdinand A. Hermens 65 Jahre alt, Köln u. a. 1972, S. 19–24. 43 Vgl. Dietmar Herz/Veronika Weinberger, Die Münchener Schule der Politikwissenschaft, in: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 269–293. 44 Vgl. Hubertus Buchstein, Politikwissenschaft und Demokratie. Wissenschaftskonzeption und Demokratietheorie sozialdemokratischer Nachkriegspolitologen, Berlin 1992. 45 Vgl. Hans J. Lietzmann, Integration und Verfassung. Oder: Gibt es eine Heidelberger Schule der Politikwissenschaft?, in: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Anm. 44), S. 245–267.
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Lehmbruchs), von 1987 bis 1997 kooperierend46, eine „Heidelberger Schule“ ins Leben gerufen haben: durch empirisch vergleichende und policyorientierte Forschung sowie durch eine große Schülerschar (von denen einige einen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl erhielten), so dass Heidelberg in der Zunft eine führende Rolle spielt47. Ungeachtet aller Kritik hat sich der Begriff „Schule“ in einem Fall durchgesetzt, wenn dies auch weniger die Politikwissenschaft betrifft. Der Terminus „Frankfurter Schule“ ist in aller Munde, bei ihren Anhängern wie ihren Gegnern. Die frühe politikwissenschaftliche Forschung in der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet sich von der heutigen u. a. durch die starke Orientierung an Lehren aus der Vergangenheit. Das mag verkehrte Parallelen provozieren, begünstigt aber eine realistische Sichtweise, keine utopische. Wenn Jürgen W. Falter der gegenwärtigen Politikwissenschaft Geschichtsvergessenheit vorwirft, so betrifft das nicht nur den eingangs erwähnten Umgang mit dem Leben und Werk Eschenburgs. Die „historische Tiefendimension“48, deren Fehlen der Mainzer Politikwissenschaftler beklagt, war für die deutsche Gründergeneration geradezu konstitutiv, ebenso wie die Verbindung von Normativismus mit empirieorientierten Zugängen, freilich nicht in annähernd so raffinierter Form wie derzeit. Sie war sich auch nicht zu schade für politische Bildungsarbeit, für die Weitergabe ihrer Erkenntnisse an politisch interessierte Jüngere. Das ist ein bemerkenswerter Unterschied zu den meisten Politikwissenschaftlern heute, die politische Bildung etwas herablassend betrachten. Für die erste Generation galt die folgende Aussage Otto Heinrich von der Gablentz’ nach der „Erfahrung des totalen Staates in seinen beiden Formen“ als nahezu selbstverständlich: „Politische Wissenschaft hat also einen normativen Charakter.“49 Heute ist diese Perspektive zwar nicht verschwunden, doch stärker in den Hintergrund gedrängt, sei es durch das Vordringen szientistischer Vorgehensweisen, sei es durch die Kritik an der Maxime, demokratische Positionen stünden antidemokratischen von rechts und links gegenüber, denn längst nicht jeder Politikwissenschaftler versteht sich als „AntiExtremist“50. Urteilskraft dürfte früher weiter verbreitet und angesichts der Komplexität des politischen Geschehens in der Gegenwart wohl auch leichter möglich gewesen sein. Die Erfahrung der NS-Diktatur, ebenso die der SED-Diktatur, wirkte nachhaltig. Es mag sein, dass die folgende Position Kurt Sontheimers kulturpessimistisch überzogen ausfällt, frühere Konstellationen etwas idealisiert und heutige nicht ausreichend gewichtet, doch ein wahrer Kern steckt in ihr: „Trotz seiner quantitativen Ausdehnung hat das Fach nach 1968 viel von seiner früheren Einwirkungsmöglichkeit auf die politi46 Manfred G. Schmidt wurde über den Umweg von Bremen (1997–2001) Nachfolger Klaus von Beymes in Heidelberg, wo er seither wieder (und noch) lehrt. 47 Vgl. Arno Mohr/Dieter Nohlen (Hrsg.), Politikwissenschaft in Heidelberg. 50 Jahre Institut für Politische Wissenschaft, Heidelberg 2008. 48 Jürgen W. Falter (Anm. 1), S. 134. 49 Otto Heinrich von der Gablentz (Anm. 37), S. 157. 50 Jürgen W. Falter (Anm. 1), S. 144.
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sche Bewusstseinsbildung und seinem öffentlichen Ansehen eingebüßt. Auch sind die Persönlichkeiten rar geworden, die, wie einst die Gründerväter, das Fach eindrucksvoll nach außen repräsentieren können. [...] Man spricht unter Politologen mit einer gewissen Zufriedenheit über die erfolgte ‚Professionalisierung‘ der Politikwissenschaft, doch deren Fähigkeit zur Profession, d. h. zum Bekenntnis ihrer Erkenntnisse für die politische Öffentlichkeit, ist schwach ausgebildet. Aus mehr ist weniger geworden“51. Allerdings gibt es auch jetzt eine Reihe von Politikwissenschaftlern, die es verstehen, ihre gut begründeten Positionen öffentlichkeitswirksam zu vertreten. Obwohl dazu nicht nur Peter Graf Kielmansegg und Herfried Münkler gehören, bilden Persönlichkeiten, die mit ihrer Forschung das Licht der Öffentlichkeit suchen, eine eher kleine „Fraktion“ innerhalb der Politikwissenschaft. Bei diesem Aspekt kann und soll die heutige Generation von den Gründern lernen, will sie die Disziplin nicht der gesellschaftlichen Legitimität berauben. Es ist wichtig, die junge Geschichte des Faches Politikwissenschaft zu erörtern. Dabei darf es keine Tabus geben. Nur: Wer über die Politikwissenschaftler der ersten Generation urteilt, muss fair sein und unrealistische Maßstäbe vermeiden. Das gilt für den persönlichen Hintergrund wie den Output des Faches. Wer im Dritten Reich „überwinterte“, hatte wohl unvermeidlich gewisse Konzessionen zu machen. Jede andere Annahme fiele weltfremd aus – und geschichtsvergessen, geradezu selbstgerecht. Die Politikwissenschaft der ersten Generation war nicht ansatzweise so „differenziert“ entfaltet wie heute. Das konnte seinerzeit gar nicht anders sein, zumal die Repräsentanten der ersten Generation keine „gelernten“ Politikwissenschaftler waren. Um den Bogen zum Beginn zu schlagen: Die eingangs erwähnte scharfe Kritik Claus Offes an Theodor Eschenburg ist damit ebenso ein Indiz für „Geschichtsvergessenheit“ im Fach wie für mangelnde Differenziertheit. Die deutsche Politikwissenschaft muss auf ihre Anfänge nach 1945 nicht beschämt zurückschauen – im Gegenteil.
51 Kurt Sontheimer (Anm. 36), S. 86.
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Politikwissenschaft in Deutschland. Trends, Herausforderungen, Perspektiven Die Politikwissenschaft ist in Deutschland an den Universitäten erst nach 1945 etabliert worden – zum Teil gegen Widerstände „alter“ Disziplinen. Heute stellt niemand ihre Existenzberechtigung in Frage. Dabei hat sie ungeachtet aller Stärken ihren Charakter als Integrationswissenschaft längst verloren. Durch die unvermeidliche Professionalisierung besteht die Gefahr, die Identität des Faches zu verlieren. Inwiefern muss die Politikwissenschaft Sorge dafür tragen, dass sie vor lauter Spezialisierung und Selbstreferenzialität nicht ihre Reputation einbüßt? Welchen anderen Herausforderungen sieht sie sich ausgesetzt?
1.
Bestandsaufnahme
Die Politikwissenschaft ist bekanntermaßen eine junge Disziplin mit einer alten Tradition. Das gilt zumal für Deutschland1. Nach 1945 etablierte sich das Fach weithin als „Demokratiewissenschaft“ – begünstigt durch die alliierte reeducation. Vor 60 Jahren, am 10. Februar 1951, bildete sich die „Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft“ (zunächst unter dem Namen „Deutsche Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik“). Die Politikwissenschaft wuchs langsam – 1959 gab es erst 21 Professuren, 1969 schon 81, 1974 hingegen 2142. Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre setzte eine starke Expansion ein, die zum Teil mit einer beträchtlichen Politisierung im neomarxistischen Sinne verbunden war. Die Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft“ 1983 war eine späte, wenn nicht verspätete Reaktion auf diese Entwicklung, die freilich bald wieder in ruhigerem Fahrwasser verlief. Bei der gelungenen Etablierung der Politikwissenschaft in den neuen Bundesländern3 – angesichts der Ablösung diskreditierter Fächer wie „Wissenschaftlicher Kommunismus“ und „Marxismus-Leninismus“ war dies nicht selbstverständlich – arbeiteten die beiden Vereinigungen (die DVPW hat 1715 Mitglieder, die DGfP 200) eng zusammen. Schon lange ist das Verhältnis entspannt, ja ungetrübt, wie etwa die hohe Zahl der Doppelmitgliedschaften belegt. State of the art bietet jeweils ein Band, der aus der Mitte beider Gesellschaften entstanden ist4.
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4
Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001. Cord Arendes, Politikwissenschaft in Deutschland. Standorte, Studiengänge und Professorenschaft 1949–1999, Wiesbaden 2004, S. 194. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Die Politikwissenschaft im Prozess der deutschen Vereinigung, in: Ders. (Hrsg.), Einigung und Zerfall. Deutschland und Europa nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, Opladen 1995, S. 327–376. Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) (Hrsg.), Politikwissenschaft in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme zu 50 Jahren PVS, Politische Vierteljahresschrift 50 (2009), Heft 3, S. 368–603; Irene Gerlach/Eckhard Jesse/Marianne Kneuer/Nicolaus Werz (Hrsg.), Politikwissenschaft in Deutschland, Baden-Baden 2010.
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Die Jahrestagung der DGfP lautete 2010 „Die Einheit der Politikwissenschaft“, die Jubiläumstagung der DVPW 2011 ganz ähnlich „Politikwissenschaft – Sinn und Nutzen einer Disziplin“. Eine Debatte zur Selbstvergewisserung ist im Gange und offenbar vonnöten. Dies dürfte symptomatisch sein für ein junges Fach, das weniger in sich ruht als „alte“ Disziplinen. Die Professionalisierung des Faches ist gleichwohl fortgeschritten, die eigene Geschichte gut erforscht, die Zahl der Studien, die sich „Einführungen“ nennen, nahezu Legion und kaum mehr zu überblicken. Mittlerweile gibt es nicht nur über Werk und Leben der „Gründungsväter“ der deutschen Politikwissenschaft nach 1945 wie Ossip K. Flechtheim5, Ernst Fraenkel6 und Siegfried Landshut7 ergiebige Studien, sondern auch über die „zweite Generation“, die unmittelbar nach 1945 studiert hat, aber nicht Politikwissenschaft, schon deshalb nicht, weil es das Fach zu jenem Zeitpunkt nicht gab.8 Hierzu zählen unter anderem Karl Dietrich Bracher9 und Wilhelm Hennis10. All das ist wichtig, weiterführend und zum Teil wegweisend, aber die Politikwissenschaft darf nicht permanent um sich kreisen. Selbstbespiegelung ist kein Zeichen von Gelassenheit. Der folgende, essayistisch angelegte Beitrag will dreierlei erreichen. Zum Ersten sucht er Trends in der gegenwärtigen deutschen Politikwissenschaft nachzuzeichnen: Welche Teilgebiete dominieren, welche sind in der Defensive? Wie beeinflusst die Bologna-Reform die Disziplin? Zum Zweiten möchte der Essay die vielfältigen Herausforderungen für die Politikwissenschaft (nicht nur) in Deutschland benennen. Beeinflusst das Fach Debatten von öffentlichkeitswirksamem Gewicht? Wie steht es mit seiner Praxisrelevanz, wie fördert es Urteilskraft? Zum Dritten geht es darum, Perspektiven unter einer doppelten Fragestellung aufzuzeigen: Wohin steuert die Politikwissenschaft in Deutschland, wohin soll sie steuern?
2.
Trends
Die deutsche Politikwissenschaft ist im 21. Jahrhundert angekommen: Sie begreift sich als moderne Forschungsdisziplin, die auf Fragen des gesamten öffentlichen Lebens Antworten geben kann. Dazu trägt sie in Seminaren und bei Colloquia, auf Tagungen und
5 Vgl. Mario Keßler, Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1900–1998), Köln u. a. 2009. 6 Vgl. Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt a. M. 2009. 7 Vgl. Rainer Nicolaysen, Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik, Frankfurt a. M. 1997. 8 Heute ist es partiell umgekehrt: Es gibt eine Reihe Politikwissenschaftler, die ein anderes Fach unterrichten (Europastudien, Anglistik, Soziologie). 9 Vgl. Ulrike Quadbeck, Karl Dietrich Bracher und die Anfänge der Bonner Politikwissenschaft, BadenBaden 2009. 10 Vgl. Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008.
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in Publikationen stets Ansätze aus ihren Teilgebieten zusammen – sie besitzt den Anspruch einer „Demokratiewissenschaft“. Ihr akademischer Nachwuchs erlernt mittlerweile in Bachelor- und Masterstudiengängen sein Handwerkszeug. Forschungsergebnisse aus Dissertationen und Drittmittelprojekten werden nicht nur in einschlägigen Zeitschriften rezipiert, sondern auch über die Hochschulgemeinschaft hinaus wahrgenommen – in Einrichtungen der politischen Bildung, in Politik und Verwaltung, in der Wirtschaft und nicht zuletzt im gesellschaftlichen Diskurs, den die Presse zuweilen mit politikwissenschaftlichen Thesen befeuert. Die Qualität der öffentlichen Resonanz ist hingegen nicht übermäßig groß. Als die Zeitschrift „Cicero“ 2006 und 200711 die führenden 500 deutschen Intellektuellen zu ermitteln suchte (bezogen auf die quantitative Präsenz in den wichtigsten deutschsprachigen Medien, nicht auf die qualitative Dimension)12, tauchten keine 20 Politikwissenschaftler auf. Die Erwähnten fanden sich zumeist in der zweiten Hälfte des Rankings wieder. In beiden Jahren dominierte bei den Politikwissenschaftlern Gesine Schwan. 2006 lag sie auf Platz 96, 2007 auf Platz 53. Zudem führte sie 2008 unter den 50 wichtigsten Gesellschaftswissenschaftlern mit Platz 5 die Riege der Politikwissenschaftler an13. Der vordere Rang dürfte vornehmlich auf ihre Kandidatur für das Bundespräsidentenamt zurückzuführen sein, weniger auf ihre Meriten als Politikwissenschaftlerin, wie überhaupt die Diskrepanz zwischen diesem Ranking und dem Ranking in der Fachwissenschaft auffällt14. Autoren wie Claus Leggewie und Franz Walter, im Cicero-Ranking gut platziert (Leggewie 2006 auf Platz 167 und 2007 auf Platz 187; Walter 2006 auf Platz 152 und 2007 auf Platz 133), fehlen in dem der Politikwissenschaft.15 Nur bei Herfried Münkler spiegelt sich die öffentliche Resonanz16 auch im Votum der Fachvertreter wider. Er rangiert bei der Befragung 2006 an dritter Stelle, sogar an erster im Bereich der Politischen Theorie. Bei der Cicero-Umfrage nach den 50 wichtigsten Gesellschaftswissenschaftlern liegt er 2009 an siebter Stelle; er führt
11 Vgl. Max A. Höfer, Von Grass bis Mika. Liste der 500, in: Cicero, Heft 4/2006, S. 58–63; ders., Das Cicero-Ranking 2007, in: Cicero, Heft 5/2007, S. 52–61. 12 Max A. Höfer hatte zuvor bereits ein Ranking der ersten 100 Intellektuellen vorgelegt, dessen Aussagekraft am Verzicht auf inhaltliche Kriterien leidet: Meinungsführer, Denker, Visionäre. Wer sie sind, was sie denken, wie sie wirken, Frankfurt a. M. 2005. 13 Jürgen Busche, Die neuen Wissenschaften, in: Cicero, Heft 10/2008, S. 127. 14 Vgl. Hans-Dieter Klingemann/Jürgen W. Falter, Die deutsche Politikwissenschaft im Urteil der Fachvertreter, in: Michael Th. Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens? 20. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Opladen 1998, S. 305–341; Jürgen W. Falter/Michèle Knodt, Die Bedeutung von Themenfeldern, theoretischen Ansätzen und die Reputation von Fachvertretern, in: Rundbrief der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 137/2007, S. 147–160. 15 Allerdings stand bei der Kategorie „Wichtigste Vertreter in der Öffentlichkeit“ Claus Leggewie 1996 auf Platz 4, Franz Walter 2006 auf Platz 8. Vgl. Jürgen W. Falter/Michèle Knodt (Anm. 14), S. 157. 16 Vgl. Max A. Höfer, Von Grass bis Mika (Anm. 11), S. 59; ders., Das Cicero-Ranking 2007 (Anm. 11), S. 60.
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damit die Liste der Politikwissenschaftler an17. Auch dieses Beispiel zeigt die begrenzte öffentliche Deutungsmacht der Politikwissenschaft. Immerhin folgen Franz Walter und Claus Leggewie auf den Plätzen 10 und 11. Unterschiedlich entwickeln sich die Teilbereiche der Politikwissenschaft: Im internationalen Vergleich bleibt die klassische Abgrenzung zwischen 1. Politischer Theorie und Ideengeschichte (teils mit politischer Ethik und Philosophie), 2. (vergleichender) Regierungs- und Systemlehre sowie 3. Internationaler Politik (neben Regional- und Kulturstudien nehmen die Europastudien einen aufstrebenden Platz ein) strikt. Mancherorts treten Wirtschaftspolitik und Didaktik bzw. politische Bildung hinzu. Nachdem die Einrichtung der Lehrstühle in den neuen Bundesländern diesem Prinzip weithin gefolgt ist, sieht sich nun das ganze Bundesgebiet vom „Rotstift“ der Länderministerien betroffen. Dabei kann sich die (vergleichende) Regierungslehre – mit gewissen Einbrüchen bei der Innenpolitik – vor der Internationalen Politik behaupten. Die Politische Theorie hat es beim Kampf gegen die Stellenstreichungen am schwersten18. Die Defensive der Theoriesektion rührt vom immer stärker anwendungsorientierten Charakter des Faches her, liegt ebenso in der Abhängigkeit vom geistigen „Innovationszentrum“ Amerika (ein eigenständiger europäischer Diskurs existiert im Grunde nicht mehr) begründet, das paradoxerweise wenige neue Theorien liefert. Dabei tragen neue Sozial- und Gesellschaftstheorien nicht nur zum Verständnis gegenwärtiger Krisen bei, sondern liefern auch Grundlagen für andere Teilgebiete. Diachrone Vergleiche ermöglichen den Brückenschlag zur Zeitgeschichte – so ist zum Beispiel das politische System der Bundesrepublik nicht ohne das Scheitern der Weimarer Republik zu erfassen. Ein historisches Grundverständnis bleibt für eine Beurteilung der Gegenwart unabdingbar. Dies schlägt sich im Fach freilich unzureichend nieder; im Vergleich zu den Anfangsjahren hat sich die deutsche Politikwissenschaft von der Geschichtswissenschaft – keineswegs zu ihrem Vorteil – deutlich entfernt bzw. emanzipiert, je nach Perspektive. In der Regierungslehre ist zum einen die Governance-Forschung im Aufwind begriffen. Bis in die hintersten Winkel werden Entscheidungsprozesse ausgeleuchtet, die allgemeine Tendenzen der Gouvernementalisierung, vor allem der Gesetzgebung, anzeigen19. Zum anderen besteht der drive zum Nachvollzug der Europäisierung und Globalisierung in
17 Vgl. ders., Deutschlands wichtigste Vordenker, in: Cicero, Heft 10/2009, S. 116. 18 Vgl. Herfried Münkler, Was das Fach zusammenhält. Die Bedeutung der Politischen Theorie und Ideengeschichte für die Politikwissenschaft, in: Rundbrief der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 134/2006, S. 175–179; Hubertus Buchstein/Stefan Fietz, Vom Verschwinden bedroht? Politische Theorie und Ideengeschichte in curricularen Reformfallen, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 33 (2007), S. 67–80. 19 Manfred Mols, Droht der Politikwissenschaft ein massiver Relevanzverlust?, in: Werner J. Patzelt/ Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hrsg.), Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls. Festschrift für Heinrich Oberreuter zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2008, S. 42.
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vergleichenden Themen. Gerade die Bildung neuen Rechts auf europäischer Ebene bietet ein Betätigungsfeld, das auf die hierzulande unabhängigen Verwaltungswissenschaften zurückweist. Außerdem blühen Politikfelder (Wohlfahrtsstaat, Parteien und Wahlen, Sicherheitspolitik, Föderalismus) durch den Einsatz von Düngemitteln verschiedenster „Hersteller“. Das schier unübersehbare Meer an Konflikten prägt die Ausdifferenzierung der Internationalen Politik: Arbeiten internationale Organisationen effizient? Wie lassen sich asymmetrische Kriege einhegen? Wann ist Entwicklungshilfe sinnvoll? – Wer will hier eine Hierarchie der Prioritäten angeben? Das Jahr 2011 ist wohl kaum zu überbieten mit fordernden Themen: Eurokrise und „Arabellion“, die Instabilität von „AfPak“ und iranische Nuklearversuche. Ist mit (kombinierten) Theorien der Internationalen Politik zu erfassen, welches gegenwärtige Problem die schwersten Folgen zeitigen wird? Der Anspruch analytischen Vorgehens kann nur auf konkrete Probleme der Zeit zielen: Im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) sind griffige Totalitarismuskonzeptionen entstanden – heute bemühen wir uns um eine treffende Einschätzung des Terrorismus. Nie kann die Politikwissenschaft der Zeit vorgreifen und zukünftig aufkommende Probleme sicher „prophezeien“. Das war beim „Schwarzen Freitag“ (Klaus von Beyme) der Politikwissenschaft 1989 so, das trat beim plötzlichen Aufkommen des Islamismus zutage, und das bestätigte sich 2011 bei der „Arabellion“; es wird beim nächsten weltweit umgreifenden Ereignis wohl nicht anders sein20. Welche engere Prognosefähigkeit besitzt die Politikwissenschaft heute? Sie kann – wie bei der Wahlforschung – langfristige Trends ergründen oder Voraussagen zu unmittelbar anstehenden Ereignissen geben. Prognosen sind dann gut, wenn die Rahmenbedingungen zufällig konstant bleiben oder sich nur auf eine algorithmisch erfassbare Weise ändern. Politikwissenschaft vermag politische Verhaltensweisen zu ergründen, die sich langsam wandeln. Sie hat durch die Analyse von Strukturen die prägende Rolle politischer Persönlichkeiten wie etwa Michail Gorbatschow vernachlässigt. Zu den rühmlichen Ausnahmen zählt Jürgen Hartmann21. Neben der Exaktheit besitzt die Prognose eine soziale Korrektivfunktion – vor allem wenn negative Ereignisse eintreten, die so prognostiziert wurden22. Gegen den Einfluss unwissenschaftlicher Prophezeiungen – in der Form eines teleologischen Historizismus – hilft die genaue Analyse von Ideologien („politische Religionen“) und Ideokratien sowie (neuen) extremistischen Strömungen. Politikwissenschaftler sind mit Interpretationen aktueller Vorgänge in manchen Medien präsent, auch wenn viele Beiträge in Zeitungen meist zu Recht als „trocken“
20 Bertrand de Jouvenel, Politische Wissenschaft und Vorausdenken, in: Politische Vierteljahresschrift 6 (1965), S. 3. 21 Vgl. Jürgen Hartmann, Persönlichkeit und Politik, Wiesbaden 2007. 22 Michael Thöndl, Einführung in die Politikwissenschaft. Von der antiken Polis bis zum internationalen Terrorismus. Ideen – Akteure – Themen, Wien 2005; Frank R. Pfetsch, Erkenntnis und Politik. Philosophische Dimensionen des Politischen, Darmstadt 1995.
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gelten (anders als im angelsächsischen Raum). Doch gibt es eine paradoxe Gegenläufigkeit zwischen Ansprüchen an Forschungsleistungen und an Relevanz für leicht anwendbare und (ja!) eher „einfache“ Themen: Einerseits wird die Neigung zu immer spezielleren Nischenthemen, die durch eine wohlbegründete, aber letztlich für die res publica irrelevante Methodendebatte hervorsticht, stark bemängelt. Andererseits kritisieren an Grundlagenforschung Interessierte die ausgedehnte Beratungstätigkeit mancher Professoren – ein solcher Lehrstuhl mutet wie ein kleiner think tank für die Regierung, für die Opposition, für diese Institution oder jene Organisation an. Das ist nicht Aufgabe der Politikwissenschaft, die eben keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln darstellen soll. Mit der akademischen Lehre, oft lieblos bewältigt, zum Teil vernachlässigt, sieht es nicht sonderlich gut aus. Mit der Bologna-Reform hat die Politikwissenschaft (wie alle anderen Wissenschaften) eine wesentliche Neuerung erfahren – den berufsbefähigenden Abschluss nach drei oder vier Studienjahren. Die Phase fußt auf festen Stundenplänen, womit ein (kleiner) Kanon abrufbaren Wissens erwächst. Die Mobilität zwischen deutschen Universitäten ist gesunken, die Zahl der Auslandssemester wohl nicht gestiegen, die Abbrecherquote hingegen niedriger als zuvor. Der Umfang einer BachelorArbeit von etwa 40 Seiten ist im internationalen Vergleich „groß“, der Charakter dieser Studie als ein wohlgeschliffenes „Gesellenstück“ aber nicht (mehr) weit verbreitet. Oft liegt das nicht zuletzt an Nebenjobs, die zuweilen vor der eigentlichen Studienaufgabe rangieren. Der Tenor privater wie öffentlicher Arbeitgeber: Bachelor-Absolventen werden eingestellt. Ihre Qualifikation scheint ausreichend, um im Beruf darauf aufzubauen. Die größten Bereiche wie Journalismus, Unternehmen, freie Träger, die öffentliche Verwaltung oder Stiftungen äußern zwar immer wieder zu Recht Vorbehalte, beschäftigen inzwischen Bachelor-Absolventen dort, wo bislang ein Diplom oder Magister gefordert war (diese „sterben aus“). Insgesamt bekommt allerdings die Gängelung durch das Bachelor-Studium der Politikwissenschaft nicht sonderlich. Nur mit Erfolgserlebnissen über eine eigene Entdeckung – das jetzige System behindert solche Erfahrungen eher – kann eine selbstbewusste Studentenschaft ins Berufsleben gehen. Nach dem Bachelor-Abschluss hält ein „Wegepluralismus“ Einzug: „Der“ Master wird teils sofort nach „dem“ Bachelor absolviert (beim Übergang gibt es teilweise Schwierigkeiten durch Bewerbungsfristen vor dem Ende der gängigen Prüfungszeiten)23, teils als i-Tüpfel nach einer – willkommenen und wünschenswerten – Praxisphase. Zwar erwachsen politologische Dissertationen immer häufiger aus Graduiertenkollegs24 und aus curricularen Promotionsstudiengängen (dieser Trend zur „Verschulung“ darf nicht die Eigenständigkeit der Forschung gefährden), aber es ist nur ein unwesentlicher
23 Vgl. Heike Schmoll, Zu jung, um Zeit zu verlieren, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. November 2011, S. 8. 24 Sie bieten nicht zuletzt den Vorteil einer festen Bezugsgröße; Ausdruck einer akademischen „Schule“ kann beispielsweise eine gemeinsame Veröffentlichung der Doktoranden sein.
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Anstieg der Abschlüsse zu verzeichnen. Ein „Promotionsratgeber Politikwissenschaft“25, der Wert auf die Notwendigkeit von Originalität legt und jeder Form des selbstreferenziellen Arbeitens den Kampf ansagt, ist dringender denn je.26 Nach dem Erwerb der Promotion wird die Luft dünner, Forschungsprojekte bedürfen oft formelhafter Angaben zur Bewilligung – den Streit um die Drittmittel-Vergabe tragen Gutachter unter anderem in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ aus27. Die Anonymität des Verfahrens, in Zeiten „knapper Kassen“ und vermehrter Anträge immer schwieriger erfolgreich zu durchlaufen und kostbare Energien bindend, schadet – bei allen qualitativen Vorzügen – der Transparenz. Wie entwickeln sich die Professoren- und Studentenzahlen? 1994 gab es in der deutschen Politikwissenschaft 253 Professuren, davon 135 auf einer „C4“- und 118 auf einer „C3“-Stelle, 2010 sind es 257 Professoren, 183 auf einer „C4“- bzw. „W3“- und 74 auf einer „C3“- bzw. „W2“-Stelle28. Die Kontinuität seit der deutschen Einheit ist damit beachtlich.29 Die Zahl der Studenten mit dem ersten Studienfach Politikwissenschaft lag im Wintersemester 1994/95 bei 23.236, im Wintersemester 2010/2011 bei 28.592. Im ersten Fachsemester waren im Wintersemester 1994/95 4.163 Studenten eingeschrieben (davon 3.553 Deutsche), im Wintersemester 2010/2011 7.222 (davon 5.833 Deutsche). In denselben Jahren begannen 1.712 bzw. 3.270 Frauen das Studium der Politikwissenschaft.30 Das Examen absolvierten im Kalenderjahr 1994 1.431 Studenten, 2006 – einschließlich Bachelor – 3.934 Studenten.31 1994 schlossen 181 Politikwissenschaftler ihre Promotion ab, 2010 274 (dazwischen traten deutliche Schwankungen auf: 2004 wurden 185 Arbeiten verteidigt, 284 im Jahr 2005). Wie die Datenlage erhellt, ist das Betreuungsverhältnis in den letzten 15 Jahren deutlich schlechter geworden – freilich kein politikwissenschaftliches Spezifikum. Dabei fallen starke regionale Unterschiede auf: Ostdeutsche Universitäten können wegen der nicht alteingesessenen Lage und der demographischen Situation „punkten“. Die Förderung durch die vom Bundesforschungsministerium finanzierten Stipendien der Begabtenförderungswerke hat in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen: Hier sind Studenten der Politikwissenschaft überdurchschnittlich vertreten. Im Jahr 25 Vgl. Frieder Wolf/Georg Wenzelsburger, Promotionsratgeber Politikwissenschaft, Wiesbaden 2010. 26 Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Promotion 2011 greifen dies auf. 27 Vgl. Roland Reuß/Volker Rieble, Die freie Wissenschaft ist bedroht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19. Oktober 2011, S. N5; Axel Michaels, Wutwissenschaftler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 2. November 2011, S. N5. 28 Vgl. Statistisches Bundesamt, 2011c: Fachserie 11, Reihe 4.4, Personal an Hochschulen, 2010, S. 224. 29 Wer alle Professuren neben den genannten einbezieht, kommt zu einer höheren Zahl. So haben Cord Arendes und Hubertus Buchstein für 1994 350 Professuren ermittelt. Vgl. dies., Politikwissenschaft als Universitätslaufbahn. Eine Kollektivbiographie politikwissenschaftlicher Hochschullehrer/-innen in Deutschland 1949–1999, in: Politische Vierteljahresschrift 45 (2004), S. 9–31. 30 Statistisches Bundesamt, 2011a: Fachserie 11, Reihe 4.1, Studierende an Hochschulen, WS 2010/2011, S. 120. 31 Statistisches Bundesamt, 2011b: Fachserie 11, Reihe 4.2, Prüfungen an Hochschulen, 2010, S. 43.
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2011 startete zudem das „Nationale Stipendienprogramm“ der Bundesregierung. Mit dem BAföG existiert weiterhin ein breit angenommenes Bildungsdarlehen. Angehende Politologen sind in akademischen Gremien aktiv – die Mitwirkung kann anderen Fachrichtungen einen Impuls geben, gerade in Zeiten „rationalisierter“ Selbstverwaltung der Hochschulen. Wie sieht es mit dem eigentlichen Lernen aus? Neben dem Einsatz von Powerpoint-Präsentationen – die Bekenntnisfrage nahezu einer ganzen Generation – ist eines nicht zu unterschätzen: die Ausrichtung am Internet.32 Da auf einem iPhone gleichsam der gesamte studentische Schreibtisch Platz findet, ist die Konzentration in der Vorlesung und im Seminar geschwächt. Es bedarf auch in der Politikwissenschaft einer Erziehung – ohne Mühe kein Erfolg, ohne Pflichtgefühl von Dozent und Student keine akademische Gemeinschaft.
3.
Herausforderungen
Die Rockefeller-Stiftung finanzierte von 1929 an ein europaweites Projekt, das den Gründen für die Krise der seinerzeit „modernen“ Lebenswelt nachspüren sollte. In Deutschland entstanden an Alfred Webers Heidelberger Institut für Sozial- und Staatswissenschaften übergreifende, bis heute lesenswerte Studien33. Ist nicht ein solches Projekt heute angebracht – als Rückversicherung für die westliche Welt wie umgekehrt für die arabische Welt im Aufbruch? Sich einer Krise bewusst werden ist oft der erste Schritt zu einer angemessenen Lösung. Angesichts vielfältiger Krisen – wer hätte vor einigen Jahren mit dem „Euro-Desaster“ gerechnet? – muss die Politikwissenschaft neue Überlegungen zur Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens anstellen. Dazu gehört zum einen der Blick auf Bewährtes (das Grundgesetz), zum anderen die Suche nach wirksamen Kontrollmechanismen in Gebieten, die jahrelang von „liberaler“ Deregulierung gekennzeichnet waren. Eine Forschungsfrage kann lauten: Müssen sich Strukturen ändern, damit die Regierungen „gute“ Entscheidungen zu treffen vermögen? Die Politikwissenschaft unterliegt einem Paradoxon: Einerseits soll sie herrschaftskritisch sein und Alternativen zu „eingefahrenen Wegen“ aufzeigen – institutionelle Zwänge sind aufzudecken, demokratische Revolutionen zu begrüßen. Andererseits darf Politikwissenschaft nicht chaotische Verhältnisse dort provozieren, wo Stabilität als gerecht empfunden wird. Keine Änderungen ohne Not – es geht um die Erneuerung eingespielter Gemeinwesen.
32 Vorteile des Internet sind unter anderem schnelle Erreichbarkeit und eine Reaktionsmöglichkeit auf Ergebnisse etwa in Blogs. Foren wie zum Beispiel http://www.pw-portal.de bieten ein breites Angebot an Rezensionen und Veranstaltungen sowie eine Übersicht zu den politikwissenschaftlichen Instituten in Deutschland. 33 Vgl. Reinhard Blomert, Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München 1999, S. 108.
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Wo liegt der Hase im Pfeffer? Wie Jonas Hagmann eindrucksvoll nachgewiesen hat, führt an amerikanischen Universitäten eine einseitig westliche Sichtweise zu einem abnehmenden Erkennen von Problemlagen in anderen Regionen der Erde34. Bei vergleichenden Themen sollte die politische Kultur stärker in den Vordergrund treten – dies spielt bei Vertragsabschlüssen und Wirtschaftsbeziehungen eine ebenso entscheidende Rolle wie in der Entwicklungspolitik. Warum ist die Etablierung demokratischer Systeme in manchen Weltgegenden derart schwierig? Welche Form politischer Herrschaft wird wo als gerecht angesehen? Eine Suche nach der „guten Ordnung“, wie sie die deutsche Staatswissenschaft des 19. Jahrhunderts betrieb, stärkt normative Verfahren – dies ist eine Chance für die derzeitige Politische Theorie. Ein zweites Gebiet mit Potential besitzt die Politikwissenschaft in politischen Inhalten: policy stärken – ohne schlechtes Gewissen für den, der sich klar macht, wie gut die politischen Prozesse erforscht sind, mittels derer Inhalte zur Geltung gelangen.35 Hier kann eine relevante Frage lauten: Arbeiten Parteien die in der Bevölkerung breit erörterten Themen angemessen ab? Ein paradoxer Befund betrifft die Erfolge politischer Bildung: Überinformation geht einher mit sinkender Allgemeinbildung – es reicht nicht zu wissen, wo etwas steht. Politische Bildung heißt kritische Aneignung. Politikwissenschaft (hat sie nicht einen Bildungsauftrag?) muss das Demokratiebewusstsein schulen – unter Studenten wie in der Bevölkerung – und den Sinn von Bildung erklären36. Angesichts von Leistungszulagen, leider fast nur für möglichst hoch dotierte Drittmittelprojekte vergeben, stellt sich die Frage nach dem Wert der Lehre. Sinn erwächst aus der Brauchbarkeit erlernter Regeln. Ein besserer Praxisbezug ist bereits durch den schnelleren Berufseinstieg der Bachelor-Absolventen gelungen. Diese Erfahrungen sind – bei allen Imponderabilien – eine Chance für den akademischen Betrieb! Die Politikwissenschaft tut gut daran, sich der Geschichts- und der Verwaltungswissenschaft neuerlich anzunähern37, denn heutige Phänomene haben tiefe historische Wurzeln, und Verwaltungsabläufe bedingen oft die Umsetzbarkeit einer politischen Agenda. Ferner sind Querverbindungen zu anderen Fächern (wieder) vermehrt zu knüpfen: zur Rechtswissenschaft, zur Soziologie, zu den Wirtschaftswissenschaften, zur Psychologie und zur Kommunikationswissenschaft. Schließlich ist die originäre 34 Vgl. Jonas Hagmann, Der Westen legt sich die Welt zurecht. Das Fach „Internationale Politik“ erscheint als zunehmend engstirniges Denksystem, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. November 2011, S. N3. 35 Vgl. Manfred Mols, Einführung und Überblick, in: Hans-Joachim Lauth/Christian Wagner (Hrsg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung, 6. Aufl., Paderborn u. a. 2009, S. 46; Lawrence M. Mead, Reformiert die Politikwissenschaft! Die Misere einer randständigen Forschungsdisziplin, in: INDES, Heft 0/2011, S. 129–131. 36 Vgl. Bernhard Vogel, Zu welchem Ende studiert man Politische Wissenschaft?, in: Werner J. Patzelt/ Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Anm. 19), S. 19–26. 37 Manfred Mols, Einführung und Überblick, in: Hans-Joachim Lauth/Christian Wagner (Anm. 35), S. 46; Lawrence M. Mead (Anm. 35), S. 129–131.
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Tradition der „Demokratiewissenschaft“ in Deutschland mit Rückblicken auf politikwissenschaftliche „Schulbildungen“ des Forschens würdig.38 Die Erfolgsgeschichte der deutschen Demokratie belohnt weiteres Nachdenken etwa über die „Bundesrepublik als Idee“39, ohne dass nur von „Besinnung in der Krise“ die Rede sein könnte. Vielmehr weisen entsprechende Arbeiten auf ein über Generationen gewachsenes plurales und zugleich abwehrbereites Demokratieverständnis hin. Ist die Politikwissenschaft eine Disziplin ohne Disziplin? Politikwissenschaft wird heute kaum mehr als „synoptische Wissenschaft“ oder Integrationswissenschaft begriffen. Der „Doppelcharakter“ des hermeneutischen und empirischen Faches sollte die Lehre neu aufnehmen. In einer Zeit, die für jeden Einzelnen instabilere Rahmenbedingungen (in Deutschland eine Klage auf hohem Niveau!) bereithält, muss neben Erkenntnis verstärkt Urteilskraft treten. Eine Zahlenreihe sollte nicht ohne die Quintessenz in einer Publikation erscheinen, ob sie einen „guten“, neutralen oder weniger erwünschten Verlauf anzeigt. Jede Form der Politikberatung wertet selbstverständlich so.
4.
Perspektiven
Die neue, von Franz Walter herausgegebene Zeitschrift „Indes“ wartete jüngst mit einem Paukenschlag auf. Der US-amerikanische Politologe Lawrence M. Mead griff die Politikwissenschaft (in den USA) frontal an und warf ihr Randständigkeit vor.40 Drei Kerndefizite machte er dabei aus: Scholastizismus, das Vernachlässigen politischer Inhalte zugunsten von Prozessen sowie das oft wissenschaftsinterne Rekrutieren von Politologen. Der Scholastizismus der Politikwissenschaft trete in vier Formen auf: im hohen Spezialisierungsgrad (Nischenthemen erfahren intensive Bearbeitung), im Methodologismus (methodische Probleme gelten im Vergleich zu inhaltlichen als wichtiger), im Antiempirismus (die Mathematisierung mancher Vorgehensweisen hebele die inhaltliche Substanz aus) sowie in der Selbstreferenzialität (die Forschung gehe auf ausgetretenen Pfaden, meide hingegen neue Wege). Wer die harsche Diagnose Meads auf Deutschland überträgt, sieht gewisse Parallelen. Das gilt vor allem für Scholastizismus und für die Rekrutierung der Politikwissenschaftler ohne Praxisnähe, weniger für die Vernachlässigung der Policy-Forschung. In der Tat erleben wir eine Tendenz, die nicht leicht zu stoppen sein dürfte: Die Politikwissenschaft verliert durch die erwähnten vier Kritikpunkte die politische Relevanz ihrer Vorhaben aus den Augen. Die fortschreitende Szientifizierung der Politikwissen-
38 Vgl. Arno Mohr/Dieter Nohlen, Politikwissenschaft in Heidelberg. 50 Jahre Institut für Politische Wissenschaft, Heidelberg 2008. 39 Vgl. Jens Hacke, Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009. 40 Vgl. Lawrence M. Mead (Anm. 35), S. 126–137.
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schaft schwächt die Urteilskraft. Sicher, die Professionalisierung ist nicht aufzuhalten, aber mit ihr muss und darf nicht das Ausblenden begründeter Urteile einhergehen. Dass das Betreuungsverhältnis (Zahl der Studenten gegenüber der Zahl der Professoren) sich mittelfristig nicht verbessert, liegt angesichts wenig ermutigender Erfahrungen auf der Hand. Sollte die Zahl der Studenten der Politikwissenschaft nachhaltig sinken, dürfte dies die Zahl der Professorenstellen nachteilig beeinflussen. Im umgekehrten Fall muss dies keine Konsequenzen auf die Zahl der Professoren haben. Ein Blick in viele politikwissenschaftliche Journale, deren Zahl – trotz Internet – nahezu Jahr für Jahr steigt, bestätigt manch scharfes Urteil etwa zur Relevanz der Themen. Dies trifft selbst für die „Politische Vierteljahresschrift“ zu, die dank praktizierter (unter anderem durch „Kommentare“41, die keiner Begutachtung ausgesetzt sind) und angekündigter Reformen (unter anderem durch den jährlichen „Gastbeitrag“ eines internationalen Wissenschaftlers zur Lage des Faches) ihre Reputation als Flaggschiff der Disziplin wiederherstellen will. Die Konkurrenz ist groß. So bietet die „Zeitschrift für Politik“, das älteste, 1907 gegründete politikwissenschaftliche Periodikum, neben bisher stark theorielastigen Grundsatzbeiträgen Artikel – aus der Regierungslehre und der Internationalen Politik – zu Themen von Belang42. Die „Zeitschrift für Politikwissenschaft“ sieht seit 2011 grundlegende Neuerungen vor43: Neben dem begutachteten Aufsatzteil gibt es drei weitere Rubriken: „Forum“ (zu aktuellen Themen), „Lehre und Forschung“ (zu Entwicklungen im Fach) und „Literaturbericht“ (zu zentralen Publikationen). Und wie frisch, lebendig und aktualitätsorientiert sind viele Abhandlungen in der „Zeitschrift für Parlamentsfragen“, die kein Peer-Review-Verfahren favorisiert, stattdessen die Verantwortung selbst übernimmt. Anders als im angelsächsischen Bereich ist der Rezensionsteil überwiegend in der Hand des nicht abgesicherten Mittelbaus, der oft vorsichtig, geradezu milde urteilt. Wie sehr käme es dem Fach zugute, widmeten sich erfahrene Kollegen mit augenscheinlich besser entwickelter Urteilskraft vermehrt dem nicht eben prestigeträchtigen Geschäft der Kritik – etwa in Literaturberichten oder in Rezensionsessays. Insofern ist der Schritt der PVS-Redaktion begrüßenswert, künftig eine Rubrik „Bücher in der Debatte“ sowie das Format „Ein Buch – zwei Fachperspektiven“ einzurichten.44 Johan Galtung45 hat vor Jahren intellektuelle Stile in den Sozialwissenschaften leicht ironisierend charakterisiert und dabei den „teutonischen Stil“ als fad und sperrig ge-
41 Auf diese Weise gelangen mehr profilierte Fachvertreter ins Heft. Da deren Abhandlungen in der Regel weit über einen „Kommentar“ hinausgehen, wird damit das Gutachterverfahren strenggenommen unterlaufen – nicht zum Nachteil der Qualität des Periodikums. 42 Vgl. Theo Stammen, Hundert Jahre Zeitschrift für Politik, in: Ders., 100 Jahre „Zeitschrift für Politik“, Sonderband 2, Baden-Baden 2008. 43 Vgl. Karl-Rudolf Korte, Editorial, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 21 (2011), S. 3 f. 44 Vgl. Reiner Schmalz-Bruns, In eigener Sache, in: Politische Vierteljahresschrift 52 (2011), S. 353–354. 45 Vgl. Johan Galtung, Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft, in: Leviathan 11 (1983), S. 303–338.
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kennzeichnet, jedenfalls nicht als leichtfüßig. Eine bessere Verständlichkeit bedeutet wahrhaftig nicht Unwissenschaftlichkeit. Die Kritik an „semantischen Barbareien“ und an „einem formelhaften, nuancenarmen, erfahrungsleeren Deutsch“46 trifft für einen Teil der Politikwissenschaft durchaus zu. Damit kapselt sich das Fach von der Öffentlichkeit ab. Wir brauchen mehr den Typus eines Frank Decker, eines Jürgen W. Falter, eines Karl-Rudolf Korte, eines Claus Leggewie, eines Franz Walter, der sich nicht scheut, den „Elfenbeinturm“ zu verlassen und die eigenen Erkenntnisse der Öffentlichkeit zu präsentieren – aber eben nicht nur Kollegen dieses Schlages. Die Politikwissenschaft sieht sich größerer Konkurrenz ausgesetzt als früher. In Zeiten klammer öffentlicher Kassen neigen staatliche Instanzen dazu, eher bei einem nicht unbedingt als gesellschaftlich überaus nützlich angesehenen „Diskussionsfach“ zu sparen als bei einer Disziplin, die wegen des leicht(er) einsehbaren Nutzens für Gesellschaft und Wirtschaft über eine hohe Akzeptanz verfügt. Die Politikwissenschaft hat sich der Konkurrenz von Nachbardisziplinen zu erwehren, etwa den Europastudien. Wer dem Gebot des Sparzwangs folgt und Professuren aus verschiedenen Fächern unter dem Vorwand der Interdisziplinarität zusammenlegt, unterhöhlt die Identität des Faches, das angemessen erst bei mindestens vier Professuren zu unterrichten bzw. zu studieren ist (neben der Vergleichenden Regierungslehre die Innenpolitik, die Politische Theorie und die Internationale Politik). Nicht nur bei der Politikwissenschaft könnte sich die Forschung stärker auf eigenständige wissenschaftliche Institute und Spitzenuniversitäten verlagern, die Lehre hingegen vor allem an der Masse der Universitäten „hängen bleiben“. Die Identität des Faches darf nicht riskiert werden. Wer seinen Zweig separiert, schwächt die gesamte Disziplin, auch wenn zunächst der Eindruck von Profilierung aufkommen mag. Das gilt etwa für Teile der Internationalen Politik, die stärker „eingefangen“ werden müssen. Die Disziplin selbst sollte sich dazu um Einheit bemühen. Durch Kombination von Ansätzen aus den Teilgebieten erwächst ein Mehrwert, wie etwa normativ-analytische Studien im Bereich der liberalen Vertragstheorien in der Anwendung auf Innen- wie Außenpolitik zeigen. „Große“ Werke (in der amerikanischen Forschung beispielsweise von Samuel P. Huntington vorgelegt47), so „umstritten“ sie auch sein mögen, tragen zur Einheit des Faches bei. Sie sind in der deutschen Politikwissenschaft zu fördern – und nicht gänzlich der Philosophie zu überlassen.48 Ob dies gelingt?
46 Vgl. Katharina Rahlf/Franz Walter, Editorial, in: INDES, Heft 0/2011, S. 5–9. 47 Man denke etwa an folgende Publikationen: „Political Order Changing Societies“, „The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century“, „The Clash of Civilizations and the Remake of World Order“. Spezifische Begriffe haben dabei Breitenwirkung erlangt (wie etwa „Demokratisierungswelle“). 48 Jürgen Habermas’ Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ hat kanonische Züge angenommen.
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Es gibt mithin eine Diskrepanz zwischen Sein und Sollen. Das liegt in der Natur der Sache. Entfaltet die Politikwissenschaft mehr Sinn für politische Relevanz, packt sie wieder breite und dem Gemeinwohl dienliche Fragen an, rückt sie von jeder Form der Wagenburgmentalität ab, muss sie nicht bang in die Zukunft schauen. Daher bedarf eine zeitgemäße Politologie weniger Technizismus. Quantitative Studien – etwa aus der Spieltheorie – betreiben oft „Methodenhuberei“ und vernachlässigen ein klares Urteil. Das Peer-Review-System vieler Fachzeitschriften, das eine kleinteilige Spezialisierung fördert und Generalisten mit normativem Anspruch bislang eher zurückweist bzw. abschreckt, bedarf einer Reform. Eine von (gut finanzierten) Anwendungen unabhängige Grundlagenforschung hat es zunehmend schwer, sollte gleichwohl Chancen neuer Fragestellungen für sich nutzen. Gefragt sind Beratungsstudien für die öffentliche Hand oder für Unternehmen (Länderanalysen) – hier ist unabhängige Urteilskraft gefordert (um Gefälligkeitsgutachten zu entgehen). Die Absolventen finden in einem immer breiteren Spektrum Arbeit. Selbstbewusstsein überwiegt; es ist im Hinblick auf die erwartete Problemlösekompetenz jenseits von weiteren Cicero-Rankings nötig. Die Perspektiven sind gut, könnten freilich besser sein. Es geht allerdings nicht darum, die Politikwissenschaft anmaßend als „Königsdisziplin“49 zu proklamieren oder gar zu etablieren – dies wäre ohnehin ein vergebliches Ansinnen. Die Einheit der Disziplin bedarf der Stärkung. Das fängt bei der Einheit von Forschung und Lehre an und hört nicht bei der Absage an methodisches Raffinement und grenzwertiges Spezialistentum auf, will die Politikwissenschaft unter den „alten Fächern“ ankommen.50
49 So aber Lawrence M. Mead (Anm. 35), S. 129, 130, 133, 135. 50 Dieser Beitrag ist gemeinsam mit Sebastian Liebold (TU Chemnitz) abgefasst worden.
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Theodor Eschenburg und die deutsche Vergangenheit Die Abschaffung des Theodor-Eschenburg-Preises ist ein Armutszeugnis Die Auseinandersetzung um das – tatsächliche oder vermeintliche – Verhalten Theodor Eschenburgs zwischen 1933 und 1945 sowie seinen späteren Umgang damit schlug hohe Wellen. Der Entscheidung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, den nach Eschenburg benannten Preis für ein politikwissenschaftliches Lebenswerk abzuschaffen, lag mangelnde Urteilskraft zugrunde. War es wirklich zwingend, dem Ansehen eines der Gründungsprofessoren der deutschen Politikwissenschaft, der sich nicht mehr wehren kann, derart schweren Schaden zuzufügen?
Der Würfel ist gefallen. Der Vorstand und der Beirat der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) fassten am 26. Oktober 2013 – einstimmig – folgenden Beschluss, der es in sich hat: „Die DVPW verleiht ihren Lebenswerk-Preis nicht weiter. Begründung: Der Preis wurde eingeführt, um eine Kollegin/einen Kollegen für ihr/sein Lebenswerk zu ehren. Zudem sollte der Preis für das Fach bzw. die Vereinigung integrierend wirken. Wegen der aus guten Gründen geführten Kontroverse und der eingetretenen Polarisierung in Vereinigung und Öffentlichkeit um die Benennung des Preises kann er diese Funktionen nicht mehr erfüllen. Unbestritten sind die Verdienste Theodor Eschenburgs um den Aufbau der bundesdeutschen Politikwissenschaft, umstritten ist seine Rolle während der NS-Zeit und sein späterer Umgang damit. Eine abschließende Beurteilung Theodor Eschenburgs ist mit diesem Beschluss nicht verbunden.“1 Diese dürren Worte verlangen nach starken Worten des Widerspruchs. Der nach Theodor Eschenburg benannte Preis wurde 1999 ins Leben gerufen und 2003 an Gerhard Lehmbruch, 2006 an Helga Haftendorn, 2009 an Wilhelm Hennis sowie 2012 an Claus Offe verliehen. Alle Preisträger waren bzw. sind herausragende Wissenschaftler und zugleich in gewisser Weise „umstritten“ – aus welchen Gründen auch immer. Mit der Preisvergabe wollte und sollte das Fach stärker in die Öffentlichkeit hineinwirken. Claus Offe übte bei seiner Rede heftige Kritik an Eschenburg.2 Er stützte sich dabei auf einen Aufsatz von Rainer Eisfeld und auf ein Gutachten von Hannah Bethke. Eisfeld hatte die Causa Eschenburg mit seinem Beitrag von Anfang 2011 ins Rollen gebracht. Er lastete diesem insbesondere die Beteiligung an einer Kampagne gegen den linken Pazifisten Emil Julius Gumbel Mitte der 20-er Jahre
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Felix Wurm, Die DVPW verleiht ihren Lebenswerk-Preis nicht weiter, unter: www.dvpw.de (27. Oktober 2013); auch o. V., DVPW verleiht ihren Lebenswerk-Preis nicht weiter. Politologen ziehen Konsequenzen (Pressemitteilung), unter: www.dvpw.de (27. Oktober 2013). Vgl. Claus Offe, Rede anlässlich der Verleihung des Theodor-Eschenburg-Preises der DVPW, in: Politische Vierteljahresschrift 53 (2012), S. 601–606.
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sowie die Mitwirkung an einem Arisierungsfall 1938 an.3 Die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft nahm dies zum Anlass, um ein Gutachten in Auftrag zu geben. Die Politikwissenschaftlerin Hannah Bethke, eine Assistentin von Hubertus Buchstein, des damaligen Vorsitzenden der Vereinigung, kam nach fast einjähriger Recherche zu folgendem Schluss: „Auch wenn in der Auswertung des Aktenmaterials einige Fragen offen bleiben mussten, belegen die Akten doch eindeutig, dass Eschenburg – wenn auch vielleicht nur als ‚kleines Rädchen im Getriebe‘ – zur Funktionsfähigkeit des NSRegimes beigetragen hat und sich auch nach 1945 diesem Teil seiner Vergangenheit nicht gestellt hat.“4 Obwohl sie den Arisierungsfall des jüdischen Unternehmers Wilhelm Fischbein – anders als Eisfeld – so einordnet, dass Eschenburg „keine entscheidende Funktion bei der Enteignung hatte“5, kritisiert sie harsch Eschenburgs Tätigkeit „in der – das NS-Regime stabilisierenden – Industrie“.6 Ihr abschließendes Votum ergibt sich im Grunde nicht aus den von ihr ermittelten Fakten: „Wenn der Verdrängungsdiskurs der 1950er Jahre – einschließlich der bereits erwähnten Inanspruchnahme einer spezifischen ‚Sachlichkeit‘ bei gleichzeitiger (verschwiegener) eigener Verstrickung in die NS-Vergangenheit – nicht fortgesetzt werden soll, muss kritisch mit Theodor Eschenburg und selbstkritisch mit der Fachgeschichte der Politikwissenschaft umgegangen werden. Damit soll nicht unterstellt werden, dass die DVPW bei der Gründung des Theodor-Eschenburg-Preises im Jahr 2002 bewusst diese Traditionen der Geschichtsschreibung fortsetzen wollte, aber es wurde versäumt, diesen Kontext kritisch zu hinterfragen und mit einer Selbstreflexion des Fachs zu verbinden. Mit der Abschaffung des Preisnamens könnte die DVPW dieses Versäumnis nachholen.“7 Die Abgabe eines Votums zur Frage nach der Abschaffung des Preisnamens mutet merkwürdig an. War die Verfasserin zu einem solchen Aufruf legitimiert? Ist sie zu einem solchen Urteil eigens gebeten worden? In der Folge entbrannte eine heftige Kontroverse – in Büchern8, Zeitschriften und Zeitungen9. Udo Wengst, der wohl beste Kenner des Lebens von Theodor Eschenburg,
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Vgl. Rainer Eisfeld, Theodor Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen ... Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 27–44. Hannah Bethke, Theodor Eschenburg in der NS-Zeit. Gutachten im Auftrag von Vorstand und Beirat der DVPW auf Grundlage der Aktenrecherchen aus dem Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, dem Universitätsarchiv Tübingen, dem Militärarchiv Freiburg und dem Online-Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, unter: http://www.dvpw.de (1. Oktober 2013), S. 29. Ebd., S. 26. Ebd., S. 26. Ebd., S. 30. Vgl. einerseits Hans-Peter Schwarz, Ein Leitfossil der frühen Bundesrepublik – Theodor Eschenburg (1904–1999), andererseits Anne Rohstock, Kein Vollzeitrepublikaner, jeweils in: Bastian Hein u. a. (Hrsg.), Gesichter der Demokratie. Porträts zur deutschen Zeitgeschichte. Udo Wengst zum 65. Geburtstag, München 2012, S. 175–192, S. 193–210. Vgl. einerseits Rainer Eisfeld, Ein Diener des Dritten Reichs; andererseits Sibylle Krause-Burger, Wer stößt hier wen vom Sockel?, jeweils unter: http://stuttgarter-zeitung.de (18. September 2013).
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der 2015 eine umfassende Biographie vorlegt, verteidigte den Tübinger Gelehrten, während seine (ehemaligen) Kollegen vom Institut für Zeitgeschichte, Hans Woller und Jürgen Zarusky, für eine Revision des verbreiteten Eschenburg-Bildes eintraten.10 Die unterschiedlichen Positionen sind oft unversöhnlich. So kommt der Redakteur des „Schwäbischen Tageblatts“ und Lehrbeauftragte an der Tübinger Universität, HansJoachim Lang, der akribisch die Akten studiert hat, zu anderen Interpretationen als Eisfeld und Bethke. Lang kann enge (geschäftliche und private) Beziehungen Eschenburgs zu Juden im Dritten Reich nachweisen – auch nach deren Emigration.11 Kurz vor der Entscheidung des Vorstands und des Beirats der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft ging dort ein „offener Brief “ von über 100 Politikwissenschaftlern ein (darunter Ulrich von Alemann, Klaus von Beyme, Roland Czada, Hartmut Elsenhans, Iring Fetscher, Helga Haftendorn, Wolfgang Jäger, Max Kaase, Beate KohlerKoch, Dieter Nohlen, Reinhard Zintl). Wer bei den „Fronten“ eine differentia specifica auszumachen sucht, findet sie nicht in der politischen Richtung, sondern im Alter. Der Resolution traten überwiegend ältere Kollegen bei, die Eschenburg auf unterschiedliche Weise gekannt haben dürften. Der Kernsatz lautete: „Die Unterzeichnenden fordern den Vorstand auf, an der Benennung des Wissenschaftspreises festzuhalten.“12 Ein Wort in eigener Sache: Ich hatte zunächst die Bitte Gerhard Lehmbruchs, mich an der Unterschriftenaktion zu beteiligen, abschlägig beschieden – keineswegs deshalb, weil mir der Text der Resolution missfiel13, sondern ausschließlich deshalb, weil ich derartige Aktionen, denen etwas Selbstbespiegelndes und Kampagnenhaftes innewohnt, bisher stets abgelehnt hatte. Doch überzeugte mich das Anliegen. Jetzt können führende deutsche Politikwissenschaftler wie Klaus von Beyme, Jürgen W. Falter, Peter Graf Kielmansegg, Fritz W. Scharpf, Manfred G. Schmidt oder Hans-Peter Schwarz, um nur einige preiswürdige Kandidaten zu nennen, nicht mehr mit einem Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet werden. Was haben Vorstand und Beirat der DVPW da angerichtet! Vielleicht erkennt das eine oder andere Vorstands-
10 Vgl. Udo Wengst, Der „Fall Theodor Eschenburg“. Zum Problem der historischen Urteilsbildung; Hans Woller u. Jürgen Zarausky, Der „Fall Theodor Eschenburg“ und das Institut für Zeitgeschichte. Offene Fragen und neue Perspektiven, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 411–440, S. 551–565. 11 Vgl. Hans-Joachim Lang, War er Antisemit? Sympathisant der Nationalsozialisten? Eschenburg, das Dritte Reich und die Juden, in: Schwäbisches Tageblatt v. 23. Januar 2013; auch ders., Ein Freund geblieben. War der einflussreiche Tübinger Politologe Theodor Eschenburg ein Nazi? Wohl kaum – wie neu gesichtete Dokumente zeigen, in: Die Zeit v. 5. September 2013. 12 Offener Brief an den Vorstand der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft zum Streit über den Theodor-Eschenburg-Preis, S. 1. 13 Mit der folgenden Einschränkung: „Würde der Vorstand die vor nunmehr dreizehn Jahren beschlossene Benennung des Preises zurücknehmen, dann würde er nicht nur seine eigenen Vorgänger desavouieren.“ Dieser Satz ist problematisch, denn es kann sein, dass neue gravierende Fakten auftauchen, die eine Revision früherer Positionen nötig erscheinen lassen. Aber eben das ist bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht der Fall.
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bzw. Beiratsmitglied früher oder später seinen gravierenden Fehler, zeigt Mut und tritt von seinem Amt zurück. Die Entscheidung, die in der Öffentlichkeit fast durchweg auf geharnischt-bärbeißige Kritik gestoßen ist14, hat dem Fach schweren Schaden zugefügt. Die Rücktritte ehemaliger Vorsitzender der Vereinigung wie Christine Landfried (1997–2000) und Jürgen W. Falter (2000–2003) sowie des früheren Präsidenten der International Political Association Max Kaase (2003–2006) sind zwar menschlich verständlich, zugleich aber ein Zeichen von unangebrachter Resignation. Vorstände und Beiräte kommen und gehen, Vereinigungen bleiben bestehen. Es gab unter den 13 Personen im Vorstand – neben der Vorsitzenden Gabriele Abels und ihren beiden Stellvertretern Christopher Daase und Julia von Blumenthal gehören zu diesem Gremium Ralf Kleinfeld, Susanne Pickel, Carina Sprungk – und im Beirat – Hubertus Buchstein, Michael Hans, Friedbert W. Rüb, Michael Stoiber, Thorsten Thiel, Antje Wiener, Claudia Wiesner – keine einzige (!) Stimme gegen die Abschaffung des Preises. In einer pluralen Gesellschaft ist eine solche Einmütigkeit keineswegs ein Indiz für ein allen einleuchtendes Urteil, sondern ein Lehrstück der Theorie von der „schweigenden Mehrheit“. Für ein solches Votum braucht es in einer offenen Gesellschaft keine Zivilcourage, zumal eigens von Kontroversen die Rede ist. War Mauschelei im Spiel? Was für eine Leisetreterei, was für ein Lavieren, was für ein jämmerliches Bild! Diese merkwürdige Einmütigkeit, die Bunkermentalität erkennen lässt, ist ein Zeichen der Schwäche, nicht der Stärke. Der Beschluss suggeriert, er basiere auf einem Kompromiss. Das stimmt nicht. Was für ein verräterisches Demokratieverständnis spricht aus dem letzten Satz der eingangs erwähnten Erklärung! Erstens kann es eine „abschließende Beurteilung“ in einer pluralistischen Gesellschaft ohnehin nicht geben; zweitens stellt die Abschaffung des Preises unter dem Strich eine Demütigung Eschenburgs dar. Ohne Not wurde eine für das Selbstverständnis und die Außenwirkung des Faches wichtige Ehrung abgeschafft. Selbst Hubertus Buchstein und Tine Stein, zwei langjährige Vorstandsmitglieder der DVPW (Buchstein, von 2009 bis 2012 Vorsitzender, ist noch dabei), die sich dafür ausgesprochen hatten, sich vom Namenspatron Eschenburg beim Wissenschaftspreis zu trennen, stellen eine Frage, die sie schwerlich verneinen können: „Und hat die deutsche Politikwissenschaft nicht allen Grund, ihm durch die Namensgebung des Preises schon deswegen ein Denkmal zu setzen, weil er sich wie kaum ein anderer der Gründerväter für die Etablierung der Politikwissenschaft als Universitätsfach verdient gemacht hat, indem er sich für das Schulfach Gemeinschaftskunde in Baden-Württemberg eingesetzt, sich für Einrichtungen der Politischen Bildung auch jenseits der Schule stark ge-
14 Vgl. etwa Jürgen Kaube, Augenwischerei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29. Oktober 2013; Willi Winkler, Nicht sehr rühmlich, in: Süddeutsche Zeitung v. 29. Oktober 2013; Daniel Haufler, Mitläufer im weiten Sinn, in: Berliner Zeitung v. 30. Oktober 2013.
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macht hat und so überhaupt erst einen größeren Bedarf an professionell ausgebildeten Absolventen dieses Fachs mitgeschaffen hat?“15 So ist es! Die Argumente für die Aberkennung des Theodor-Eschenburg-Preises sind vielfältiger Natur gewesen: dessen Verhalten in der Weimarer Republik, sein Verhalten im Dritten Reich, sein Umgang in der Bundesrepublik mit dem Verhalten in der NS-Zeit, seine als apologetisch empfundene Verhaltensweise nach 1945 gegenüber Personen, die in die Politik des Dritten Reiches verstrickt waren, sowie sein konventioneller historisch-politikwissenschaftlicher Ansatz. Die Gegner dieser Namensgebung sind sich selber nicht einig darin, worauf sie ihre Argumente stützen. Vor allem: Die Fakten waren, bis auf Eschenburgs – augenscheinlich unbedeutende – Rolle im Arisierungsverfahren, allgemein bekannt. Claus Offe etwa nennt zwei Gründe dafür, den Preis fortan nicht mehr mit dem Namen von Theodor Eschenburg in Verbindung zu bringen. Die folgenden Auslassungen stammen von ihm. Seiner Kritik folgt eine Kritik der Kritik. (1) „Das Werk von E. hat, [...] wie ich ohne jede Herablassung feststellen möchte, den Charakter einer gleichsam ‚institutionenpflegerischen‘ politischen Publizistik, die auf Schritt und Tritt, fallbezogen und theoriefern, die Achtung staatlicher Autorität volkspädagogisch anmahnt [...]. Ich bin [...] dezidiert nicht der Meinung, dass der so zu kennzeichnende Typus akademischer Behandlung politischer Sachverhalte und Entwicklungen auch für die gegenwärtige Politikwissenschaft vorbildlich sein kann (und es ja auch für kaum einen unserer Zeit- und Fachgenossen tatsächlich ist).“16 – Was für eine arrogante Art spricht aus diesen Worten – als sei es nicht politikwissenschaftlich, „institutionenpflegerisch“ tätig zu sein. Von einem „volkspädagogischen“ Vorgehen kann bei Eschenburg wahrlich nicht die Rede sein. Und ist es nicht herablassend, im Jahre 2012 so despektierlich über Eschenburgs „politische Publizistik“ zu reden? Erfuhr sie nicht eine breite öffentliche Aufmerksamkeit? Zudem ist er mit einer Reihe wegweisender Studien, allerdings nicht zum Dritten Reich, in Erscheinung getreten.17 Monographien waren freilich seine Sache nicht. (2) „Auch die Person von E. ist nicht so sehr durch seine Tätigkeit in der Nazi-Zeit (eine kurze Mitgliedschaft in einer SS-Formation sowie eine aktive Involviertheit in zumindest einem Fall von „Arisierung“) in ihrer Vorbildfunktion beschädigt, sondern aus meiner Sicht vor allem dadurch, dass E. sich m. W. auch in seinem später entstandenen umfangreichen Memoirenwerk nie zu einer ernsthaften sozialwissenschaftlichen und/oder moralischen Beschäftigung mit seinem eigenen damaligen
15 Hubertus Buchstein/Tine Stein, Die „Gnade der späten Geburt“? Politikwissenschaft in Deutschland und die Rolle Theodor Eschenburgs, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 58 (2013), Heft 9, S. 101. 16 Claus Offe (Anm. 2), S. 603 (Hervorhebung im Original). 17 Angefangen mit dem ersten, heute überholten Buch zur deutschen Demokratie nach 1945: Staat und Gesellschaft in Deutschland, München 1956.
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Handeln und dessen Umständen hat durchdringen können oder wollen; statt dessen ergeht er sich in diversen publizistischen Lobpreisungen von [...] [Hans] Globke, als den Kommentator der Nürnberger Rassengesetze und späteren Leiter des Kanzleramtes unter Konrad Adenauer.“18 – Tatsächlich hatte Eschenburg von seiner kurzen Mitgliedschaft in der „Motor-SS“ bereits in den 1950-er Jahren an der Universität erzählt, schriftlich 1988. Wer die beiden Memoirenwerke studiert – „Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933“ (1995); „Letzten Ende meine ich doch. Erinnerungen 1933 bis 1999“ (2000) – kommt nicht um das folgende Urteil herum: Eschenburg erwähnt seine Wandlungen in der Weimarer Zeit vom Deutschnationalen zum Liberalen, stilisiert sich nicht zum Helden, gibt seine Angst wie Vorsicht in der Diktatur zu und präsentiert sich keineswegs als Widerstandskämpfer. Ist der Anspruch, den Offe erhebt, nicht einigermaßen lebensfremd? Haben ihm jene ansatzweise entsprochen, die zeitweilig als Linksextremisten dem demokratischen Verfassungsstaat den Kampf angesagt hatten? Aber danach fragt – fast – niemand. Wer war Theodor Eschenburg? Geboren 1904 in Kiel, studierte er Geschichtswissenschaft und Nationalökonomie in Tübingen und Berlin, später, nach der Promotion, noch Jura (ohne Abschluss). Er rief einen politischen Club, die „Quiriten“, ins Leben und baute schon früh ein Netzwerk auf. Der deutschnationalen Richtung hatte er sich schon vor dem Kennenlernen Gustav Stresemanns entfremdet. Dieser verfasste ein Vorwort zu seiner Dissertation über das „Kaiserreich am Scheideweg“.19 Eschenburg verließ die DVP und trat 1930 der neugegründeten Deutschen Staatspartei bei (in der die linksliberale DDP aufging). Seine Kandidatur zum Reichstag blieb erfolglos, das Engagement in der Politik nur ein Intermezzo. Durch die Bekanntschaft mit Alexander Rüstow führte ihn der Weg als Referent in die Grundsatzabteilung einer führenden Organisation der Maschinenbauindustrie. Im Dritten Reich fungierte Eschenburg als Geschäftsführer von Verbänden der „Kurzwaren“ (u. a. für Knöpfe und Reißverschlüsse). Er ging, wie etwa Dolf Sternberger, in die „innere Emigration“.20 Eschenburgs einzige Publikation in der Diktatur, so seine Aussage in den Memoiren, handelte von der Entstehungsgeschichte des Knopfes, publiziert in einem bulgarischen Periodikum. Nach 1945 versuchten ihn Repräsentanten der CDU, der SPD und der FDP für eine Kandidatur zum Ersten Deutschen Bundestag zu gewinnen. Dank Carlo Schmid nahm 18 Claus Offe (Anm. 2), S. 603 (Hervorhebung im Original). 19 Vgl. Theodor Eschenburg, Das Kaiserreich am Scheideweg. Bassermann, Bülow und der Block. Nach unveröffentlichten Papieren aus dem Nachlass Ernst Bassermanns, eingeleitet von Gustav Stresemann, Berlin 1929. 20 Vgl. Jens Hacke, Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen. Dolf Sternberger und Theodor Eschenburg als Nestoren der deutschen Politikwissenschaft, in: Friedrich Kießling/Bernhard Rieger (Hrsg.), Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre, Köln 2011, S. 209–228.
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Eschenburg im kleinen Bundesland Württemberg-Hohenzollern wichtige Funktionen wahr: zunächst als Flüchtlingskommissar, später als Stellvertreter des Innenministers. 1952 erwies sich für ihn als Schicksalsjahr: Zum einen entstand der von ihm propagierte Südweststaat, zum andern erhielt er eine der ersten Professuren für Politikwissenschaft. Der zuweilen barsch auftretende Tübinger Gelehrte, ein in der Wolle gefärbter Liberaler (nicht im engeren Sine parteipolitisch zu verstehen), avancierte zu einer Art „Praeceptor Germaniae“, wie es immer wieder respektvoll und spöttisch zugleich hieß. Seine politischen Kommentare in der „Zeit“, vor allem zwischen 1957 und 1972, hatten oft konkrete Streitfragen zum Ausgangspunkt und wurden dann politikwissenschaftlich eingeordnet, nicht politisch.21 Der mit vielen Auszeichnungen und Festschriften22 bedachte Eschenburg, wenige Monate vor seinem 95. Geburtstag gestorben23, fungierte nicht als Mann der Lagermentalität, auch wenn er jetzt die Lager spaltet. Keines der bisher ins Feld geführten Argumente von Claus Offe u. a. ist substantieller Natur. Der Antifaschismus klingt merkwürdig entkräftet. Die Abschaffung des Preises läuft darauf hinaus, Theodor Eschenburg die Ehre abzuschneiden und Rufmord an einem Toten zu begehen. Für eine Vereinigung, die dafür votiert, einen Preis nach einem großen Gelehrten und produktiven Publizisten zu benennen (in Frage gekommen wären auch – beispielsweise – Ernst Fraenkel oder Dolf Sternberger), verbietet es sich nachgerade, beim ersten Wind einzuknicken. Genau das haben Vorstand und Beirat getan. Wer dies ohne Wenn und Aber ausspricht, will keine weiteren Studien zum Werk und zum Leben Eschenburgs unterbinden. Wieso war es nicht möglich, die Entscheidung wenigstens zu verschieben? Es gibt in der Tat weiße Flecken im Leben des Tübinger Politikwissenschaftlers (ohne Soupçon formuliert). Aber wer hartnäckig und krampfhaft nach braunen Flecken sucht, darf sich über blaue Flecken nicht wundern. Die Heftigkeit des Streits rührt auch davon her, dass manche Kollegen wie Rainer Eisfeld die deutsche Politikwissenschaft nach 1945 partiell als „angebräunt“ erscheinen lassen (wollen).24 Kritiker, die Eschenburg Opportunismus und Feigheit vorwerfen, müssen sich fragen lassen, ob sie nicht selber diesen Schwächen erlegen sind – und zwar in einer freiheitlichen Gesellschaft.
21 Vgl. Theodor Eschenburg, Zur politischen Praxis der Bundesrepublik Deutschland. Kritische Betrachtungen, 3 Bde.: 1957 bis 1961; 1961 bis 1965; 1965 bis 1970, München 1964/1966/1972. 22 Vgl. bspw. Hermann Rudolph (Hrsg.), Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990. 23 Vgl. die einfühlsamen Würdigungen: Hans-Peter Schwarz, Nachruf auf Theodor Eschenburg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), S. 593–600; Gerhard Lehmbruch, Theodor Eschenburg und die Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft, in: Politische Vierteljahresschrift 40 (1999), S. 641–652. 24 Vgl. Rainer Eisfeld, Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920–1945, 2. Aufl., Baden-Baden 2013. Zwei Kapitel widmen sich Eschenburg (S. 98–103, S. 163–168). Hubertus Buchstein hat eine Art Nachwort beigesteuert.
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Ist der Würfel entgegen allem Anschein vielleicht doch noch nicht gefallen? Ein neuer Vorstand und ein neuer Beirat können diesen aberwitzigen Beschluss rückgängig machen. Sollte auch ein Teil derjenigen daran mitwirken, die sich jetzt so verrannt haben, wäre das kein Grund zur Häme, sondern einer zur Freude.
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Karl Dietrich Bracher (geboren 1922) Von 1959 bis zu seiner Emeritierung 1987 an der Bonner Universität lehrend, war Karl Dietrich Bracher der Begründer der Politikwissenschaft in der langjährigen Bundeshauptstadt – als „Demokratiewissenschaftler“ im Grenzgebiet von Politik- und Geschichtswissenschaft. Seine Leistungen verdienen das Prädikat „bahnbrechend“. Das gilt nicht nur für die Geschichte der Weimarer Republik, des Dritten Reiches und der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert sowie für die des politischen Denkens. Sein Name ist eng mit einer Kritik an der „Tabuisierung des Totalitarismusbegriffs“1 verbunden. Er hat die Auseinandersetzung zwischen „Demokratie und Diktatur“ 2, so der Titel der ihm gewidmeten Festschrift, in zahlreichen Publikationen herausgearbeitet, dabei Ideen-, Struktur- und Ereignisgeschichte verbindend. Eines seiner Hauptanliegen: die Verteidigung des demokratischen Verfassungsstaates. Was bleibt von Bracher?
1.
Vita
Geboren am 13. März 1922 in Stuttgart, entstammte Bracher einer angesehenen Familie aus dem evangelischen Bürgertum. Sein Vater, in der Weimarer Republik Mitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, war zunächst Gymnasiallehrer und wirkte später in herausgehobener Position im württembergischen Kultusministerium, ohne jemals Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Nach dem Abitur 1940 zum Reichsarbeitsdienst einberufen, später zum Kriegsdienst, war Karl Dietrich Bracher als Soldat beim deutschen Afrika-Korps im Mai 1943 bei Tunis in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten. Sie dauerte drei Jahre. Im US-Bundesstaat Kansas fand der musisch begabte Bracher viel Zeit zum Lesen – er konnte sogar in einer Art „Lager-Universität“ Latein unterrichten (darin Siegfried Landshut nicht unähnlich). Sein 1946 in Tübingen begonnenes Studium der Philosophie (u. a. bei Eduard Spranger) und der klassischen Philologie (u. a. bei Otto Weinreich) und vor allem der Geschichte (u. a. bei Rudolf Stadelmann) schloss er bereits im Dezember 1948 bei Joseph Vogt mit einer für die damalige Zeit ungemein gelehrten und umfangreichen Promotion über „Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit“3 ab, also in der atemberaubenden Geschwindigkeit von fünf Semestern. Das Thema „Fortschritt und Verfall“ wies schon über die Alte Geschichte hinaus. Später begründete Bracher die Präferenz für sein Forschungsgebiet pragmatisch4: Er 1 2 3
4
Dieser Topos kehrt in seinen Beiträgen seit Mitte der siebziger Jahre oft wieder. Auch der Titel seines ersten Aufsatzbandes lautete ähnlich: Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur. Beiträge zur neueren Politik und Geschichte, München u. a. 1964. Die Arbeit wurde wegen des seinerzeitigen Papiermangels erst 39 Jahre später gedruckt. Die Einführung stammt von dem österreichischen Historiker Adam Wandruszka, der sich mit Bracher während der Kriegsgefangenschaft angefreundet hatte. Vgl. Karl Dietrich Bracher, Zwischen Geschichte und Politik. Ein Gespräch mit Werner Link (1997), in: Ders., Geschichte als Erfahrung. Betrachtungen zum 20. Jahrhundert, Stuttgart/München 2001, S. 274.
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wollte sein Studium schnell abschließen, seine humanistische Bildung ließ ihn ein Thema aus dem Bereich der Alten Geschichte wählen, zumal die überschaubare Literatur ein zügiges Vorankommen ermöglichte. 1951 heiratete Bracher Dorothee Schleicher, die Tochter des von den Nationalsozialisten im April 1945 ermordeten Widerständlers Rüdiger Schleicher und Nichte Dietrich Bonhoeffers. Wer diese lebensgeschichtliche Erfahrung unterschlägt, erfasst eine wichtige Dimension seines Werkes nicht. Bracher, der viele Werke seiner Frau gewidmet hat, lag von Anfang an daran, gesellschaftliche Vorbehalte gegenüber dem NS-Widerstand abzubauen, auch durch die Beteiligung an zwei einschlägigen populärwissenschaftlichen Porträt-Bänden, herausgegeben von Annedore Leber, der Witwe des sozialdemokratischen Widerstandskämpfers Julius Leber.5 Nach einem einjährigen, ihn stark prägenden Aufenthalt in Harvard kam Bracher zunächst als Wissenschaftlicher Assistent, später (1953) als Abteilungsleiter an das Berliner Institut für Politische Wissenschaft unter der Ägide Otto Heinrich von der Gablentz’ und Otto Stammers. Dort entstand seine wegweisende Habilitationsschrift über „Die Auflösung der Weimarer Republik“ (1955), die nach wie vor als Standardwerk gilt. Beeinflusst von einem seiner „Habilitationsväter“6 Ernst Fraenkel, der lange in den USA gewirkt hatte, ist Bracher dessen Interpretation der Politikwissenschaft als „Integrationswissenschaft“ gefolgt. Mit seinem Mentor Fraenkel gab Bracher bereits 1957 das erste einschlägige Lexikon heraus („Staat und Politik“). Der junge Privatdozent lehrte Politische Wissenschaft und Neuere Geschichte an der FU Berlin. Der erste Ruf gestaltete sich nicht ganz einfach7: Auf der Ende 1956 gebildeten Liste für die Einrichtung eines politikwissenschaftlichen Lehrstuhles in Bonn standen Theodor Eschenburg und Otto Kirchheimer gleichrangig auf dem ersten Platz, Karl Dietrich Bracher und Ferdinand A. Hermens auf dem zweiten. Den Ruf erhielt 1957 der in Tübingen lehrende Eschenburg, der ihn 1958 ablehnte. Er erging dann schnell an Bracher, der am 1. Januar 1959 seine Tätigkeit in Bonn aufnahm. Dort gehörte er nicht nur der Philosophischen Fakultät an, sondern – als eine besondere Auszeichnung – auch der Rechts- und Staatswissenschaftlichen. Obwohl er mehrere Rufe an andere Universitäten im In- (FU Berlin [1961], Gießen [1965] und Hamburg [1965]) und Ausland (Harvard [1966] und Florenz [1975]) erhalten hatte, blieb Bracher Bonn bis zur Emeritierung 1987 treu. Dieser Umstand trug zu einer 5
6
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Vgl. Annedore Leber (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher, Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933–1945, Berlin/Frankfurt a. M. 1954; dies. (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher, Das Gewissen entscheidet. Bereiche des deutschen Widerstands 1933–1945, Berlin/Frankfurt a. M. 1957. Der andere war der Historiker Hans Herzfeld. Zu Fraenkel vgl. Karl Dietrich Bracher, Zwischen Zeitgeschichte und Politikwissenschaft – Erinnerung an Ernst Fraenkel, in: Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler (Hrsg.), Vom Sozialismus zum Pluralismus. Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels, Baden-Baden 2000, S. 115–124. Vgl. Ulrike Quadbeck, Karl Dietrich Bracher und die Anfänge der Bonner Politikwissenschaft, BadenBaden 2008, S. 89–97.
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gewissen Stellenexpansion bei. Die zweite, 1969 eingerichtete Professur (sie nahm Hans-Adolf Jacobsen wahr) ging auf die Ablehnung des Harvard-Rufes zurück. Dass Bracher 1961 nicht nach Berlin zurückkehrte, überraschte die noch junge Zunft. In Berlin wäre er primus inter pares gewesen, in Bonn fungierte er als „Primus“. Die Zahl der Bracher zuteil gewordenen Ehrungen und Auszeichnungen ist Legion: So erhielt er Ehrendoktorwürden von der Florida State University (1973), der Universität Graz (1975), der Freien Universität Berlin (1988) und des Pariser Instituts d’Études Politiques (1993). Das Große Bundesverdienstkreuz nahm er 1982 an, den Verdienstorden von Nordrhein-Westfalen 1993, die Verdienstmedaille von Baden-Württemberg 1994. In jenem Jahr wurde ihm der Ernst-Curtius-Preis für Essayistik zuerkannt, zuvor schon der Europäische Beninck-Preis (1981). Seit 1992 ist er Mitglied im Orden pour le Mérite für Wissenschaften und Künste.
2.
Forschungsschwerpunkte
Ulrike Quadbeck stuft Bracher unter Berufung auf Eberhard Jäckel als „systematischen Historiker“8 ein – 1962 wurde auf Brachers Wunsch die Bezeichnung des Lehrstuhls „Wissenschaft von der Politik“ ergänzt um „und Zeitgeschichte“. Engstirniges „Revierverhalten“ war dem Bonner Gelehrten stets fremd. Dies stieß in der Politik- wie in der Geschichtswissenschaft nicht nur auf Sympathien. Er versteht sich als Politikwissenschaftler und den Einzelfall prüfender Historiker zugleich. „Der Historiker Bracher und der politische Denker Bracher stehen in unaufhebbarem Bezug zueinander; das Gesamtwerk lebt nachgerade aus der Beziehung dieser beiden Pole, das heißt der historisch-zeitgeschichtlichen Betrachtung einerseits und der analytisch-ideengeschichtlichen Durchdringung der geistig-politischen Welt namentlich des 20. Jahrhunderts andererseits.“9 Diese Verbindung von Politik und Geschichte gab es in Bonn bereits im 19. Jahrhundert bei Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860), worauf Bracher anlässlich der Gedenkfeier zu dessen 100. Todestag hingewiesen hat.10 Der Bonner Wissenschaftler analysierte die Demokratie- und Diktaturproblematik am deutschen Beispiel: die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Bundesrepublik Deutschland. Zur SED-Diktatur fehlen originäre Forschungen aus seiner Feder. Hingegen legte Bracher zur Geschichte Europas von 1917 an eine voluminöse Monographie vor. In gewisser Weise das politikwissenschaftliche Pendant zu diesem Werk ist „Zeit der Ideologien“ von 1982 – das Buch bietet, so der Untertitel, eine „Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert“. Die Totalitarismusproblematik bewegte 8 Ebd., S. 207. 9 So Ludger Kühnhardt, „Wissenschaft für die Demokratie“. Zum 65. Geburtstag des Bonner Zeithistorikers Karl Dietrich Bracher, in: Zeitschrift für Politik 34 (1987), S. 109. 10 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Über das Verhältnis von Politik und Geschichte. Gedenkrede auf F. C. Dahlmann, Bonn 1961. Siehe auch Wilhelm Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biografie, München 2010.
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ihn ab Mitte der 1970er Jahre besonders. Dies schlug sich in einer Reihe von Aufsatzsammlungen nieder. Die Habilitationsschrift des 32-Jährigen machte Furore. Ihr ging eine explorative Studie voraus.11 „Die Auflösung der Weimarer Republik“12 gibt in einem ersten Teil einen systematischen Überblick zu ihrer „Machtstruktur“ (etwa zu den Parteien, den militanten Bewegungen, zur Ideologie und Sozialstruktur, zur Bürokratie, zur Wirtschaft), in einem zweiten eine stärker historisch gehaltene Analyse der „Stufen der Auflösung“. In diesem zweiten Teil, fast doppelt so lang wie der erste, unterscheidet Bracher die Phasen des „Machtverlustes“ (der Ära Brüning), des „Machtvakuums“ (der Ära Papen-Schleicher) und der „Machtergreifung“. Souverän wird das Ende multiperspektivisch eingefangen, wobei der Autor nicht mit fundierter Kritik an den alten Eliten spart, überhaupt an unverantwortlichen Verantwortungsträgern. Wer die Eingangssätze liest, erkennt schnell, wie wenig überholt das Thema nach wie vor ist: „Es gibt kaum eine Maßnahme, kaum eine Diskussion, kaum ein Werturteil im Bereich der gegenwärtigen Politik, die nicht auf das ‚Beispiel‘ der Weimarer Republik hin bezogen und an ihren ‚Lehren‘ gemessen werden.“13 Die ungemein materialreiche Untersuchung verknüpft auf vorbildliche Weise die politikwissenschaftliche mit der historischen Dimension – es gelingt, „spezifizierende und typologische Betrachtung zu verbinden“.14 Auch wenn sie in historischen Einzelheiten der einen oder anderen Korrektur bedarf, ist die Strukturanalyse in ihrer Differenziertheit nicht überholt. Die anfängliche Rezeption zumal in der historischen Zunft fiel aufgrund des neuartigen Zugangs zunächst reserviert aus, doch bald wurde dem Mammutwerk große Anerkennung zuteil. Heute gilt die Studie – und das ist nahezu communis opinio der Forschung15 – als wegweisend für die Wissenschaft, selbst für die Politik. Helmut Schmidt hatte seinerzeit das Buch gleich gelesen und später kommentiert: „Wenn Bracher sonst kein weiteres Buch geschrieben hätte [...], so hätte er verdient, in den Orden des Pour le mérite aufgenommen zu werden.“16
11 Vgl. ders., Auflösung einer Demokratie. Das Ende der Weimarer Republik als Forschungsproblem, in: Faktoren der Machtbildung. Wissenschaftliche Studien zur Politik, Berlin 1952, S. 39–98. 12 Vgl. ders., Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955 (6. Auflage, Düsseldorf 1984). 13 Ebd., S. XXI. 14 Ebd., S. XXII. 15 Vgl. etwa drei Würdigungen im Abstand von über einem Jahrzehnt: Peter Steinbach, Grundlegend als Problem, zeitlos als Analyse, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 9, Baden-Baden 1997, S, 269–273; Winfried Süß, Zeitgeschichte als Demokratiewissenschaft. Karl Dietrich Bracher und das Ende der Weimarer Republik, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 47–51; Volker Kronenberg, [Rezension des Bracher-Kritikers], in: Steffen Kailitz (Hrsg.), Schlüsselwerke der Politikwissenschaft, Wiesbaden 2007, S. 53–56. 16 Helmut Schmidt, Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen, Berlin 1996, S. 129.
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Fünf Jahre nach der „Auflösung“ folgte eine Anschlussstudie mit Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz zur „Machtergreifung“.17 Widmete sich Schulz der Verwaltungsund Wirtschaftspolitik des Dritten Reiches in seinen Anfängen, Sauer dem rüstungsund militärpolitischen Komplex, so Bracher insbesondere der Etablierung des Einparteienregimes. Ihm ging es insbesondere um den Nachweis des zielgerichteten Auf- und Ausbaus der Diktatur durch die aufgrund ihrer Legalitätstaktik in ihrer totalitären Dynamik unterschätzten Nationalsozialisten. Bracher gehört zu den „Intentionalisten“, im Gegensatz zu seinem Konkurrenten Hans Mommsen, einem „Strukturalisten“, was die Interpretation des Nationalsozialismus betrifft. Der gegenseitige Vorwurf der „Verharmlosung“ führt indes nicht weiter. „Die deutsche Diktatur“ folgte als nächste große Monographie Ende der 1960er Jahre.18 „Mit diesem Buch – Ergebnis und Fortführung langjähriger Spezialstudien – habe ich versucht, eine bislang noch fehlende deutsche Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus, seiner Voraussetzungen, des Herrschaftssystems und der Nachwirkungen zu schreiben. Gleichzeitig handelt es vom Problem eines autoritären Staats- und Politikverständnisses, das im 19. und 20. Jahrhundert die Entwicklung parlamentarischer und demokratischer Struktur- und Verhaltensformen blockiert, die deutsche Diktatur ermöglicht hat.“19 Mit diesen Eingangssätzen will Bracher keinem Determinismus huldigen, auch wenn eine Formulierung wie „die deutsche Disposition zur Diktatur“20 missverständlich sein mag. Diese griffige Darstellung, ebenfalls nicht auf den historischen Ablauf von Ereignissen fixiert, ist durch Systematik gekennzeichnet, der chronologische Aufbau von Rück- und Ausblicken durchbrochen. Was auffällt: Eingangs setzt Bracher kritische Akzente nicht nur mit Blick auf einen weitgedehnten Faschismusbegriff, sondern auch auf einen umfassenden Totalitarismusbegriff. Der Anspruch einer Gesamtdarstellung leidet etwas unter ihrer Gewichtung: Nur ein einziges von neun Kapiteln behandelt den Nationalsozialismus im Krieg. In der Folge erweiterte der Autor sein Blickfeld auf die Diktaturproblematik über Deutschland hinaus. So entstand 1976 als sechster Band der „Propyläen Geschichte Europas“ ein – großzügig bebildertes – Werk zur „Krise Europas“.21 Dem Begriff eines „dritten Weges“ konnte Bracher schon seinerzeit – im Gegensatz zu vielen anderen Autoren – nichts Positives abgewinnen. Die Synthese steht ganz unter dem Eindruck der Auseinandersetzung der Demokratien mit Diktaturen und umgekehrt. Das war für
17 Vgl. Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Sauer/Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitärem Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln 1960 (3. Auflage, Frankfurt a. M. 1974). 18 Vgl. ders., Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1969 (7. Auflage, Köln 1993). 19 Ebd., Vorwort, o.S. 20 Ebd. 21 Vgl. ders., Die Krise Europas. 1917–1975, Frankfurt a. M. 1976 (akt. Auflage 1993).
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Bracher die zentrale Frage von den 1970er Jahren an. Die Sorge trieb ihn um, der freiheitliche Westen werde den Herausforderungen kommunistischer Art nicht gewachsen sein. Umso größer ist seine Genugtuung über den Zusammenbruch des Sowjetkommunismus in der aktualisierten Auflage des Buches. Im ergänzten Kapitel „Europa zwischen Krise und Erneuerung (1975–1992)“ zieht er aufgrund der Erfahrung von 1918 und 1945 fünf „Renaissance“-Lehren: die „Renaissance der Demokratie“ mit Blick auf die Länder Osteuropas, die „Renaissance des Nationalstaates“, der die Gefahr des Nationalismus innewohnt; die „Renaissance von freier Wirtschaft und Gesellschaft“ mit dem Ziel einer Bürgergesellschaft; die „Renaissance Europas auch im Osten“ mit Hilfe des Westens; die „Renaissance des Föderalismus“ zum Schutz der Bürgerrechte.22 Ging es bei der „Krise Europas“ um Realgeschichte, so bei der „Zeit der Ideologien“ um Ideengeschichte, auch wenn die strikte Trennung nicht immer durchzuhalten ist. In diesem weit ausholenden Werk, das sich gleichermaßen auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bezog, auf die Zwischenkriegsjahre sowie auf die Gegenwart, stand die Verführbarkeit von Intellektuellen, die antidemokratischen Ideologien nicht widerstehen wollten bzw. konnten, im Vordergrund.23 Bracher war sich des Ausgangs nicht sicher, blieb also bei aller Sorge weniger pessimistisch als Jean-François Revel24 und bei allem Glauben an die Kraft freiheitlicher Ideen weniger optimistisch als Martin Kriele25. „Noch ist der Kampf zwischen den Weltprinzipien Freiheit und Knechtschaft (Tocqueville) unentschieden, nicht mehr und nicht weniger. Sein Ausgang hängt jedes Mal an der Bereitschaft, der ideologischen Verführung zum Totalitären zu widerstehen, und an der Fähigkeit, die Fehlbarkeit des Menschen und seiner Welt durch das fast immer erneute Bemühen um eine Ordnung der friedlichen Kompromisse auszugleichen – und darin nicht nur ein notwendiges Übel, sondern einen höheren Wert zu erkennen als in jenen Verheißungen eines Paradieses auf Erden, mit denen seit je menschenwidrige Gewalt gerechtfertigt und freie Gemeinwesen zerstört werden.“26 Dazu hat Bracher in seinen Studien einen Beitrag leisten wollen. Sein Engagement gilt der Verteidigung des demokratischen Verfassungsstaates. Insofern, aber nur insofern ist er durchaus ein „politischer“ Autor. In dem Bestreben, die Demokratie zu schützen, ist er nicht immer vor kulturpessimistischen Anwandlungen gefeit gewesen. Das gilt etwa für seinen großen Beitrag über „Politik und Zeitgeist – Tendenzen der siebziger Jahre“ in der „Geschichte der Bundes-
22 Vgl. ebd., S. 444 f. 23 Vgl. ders., Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982 (2. Auflage 1984). 24 Vgl. Jean-François Revel, Die totalitäre Erfahrung, Frankfurt a. M. 1976; ders., So enden die Demokratien, München/Zürich 1984. 25 Vgl. Martin Kriele, Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, München 1987. 26 Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 396.
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republik Deutschland“. Hier hat er problematische Wellen der Ideologisierung wohl über- und die Stabilitätsmechanismen der westdeutschen Demokratie unterschätzt.27 Die Bücher nach der „Zeit der Ideologien“ waren „nur“ Essaysammlungen größtenteils publizierter Beiträge.28 Bereits die Titel deuten den Wert der „Erfahrung“29 an, den Bracher ihr für Reflexion und Handeln von Intellektuellen und Politikern beimaß. In seinem letzten Werk blickt er auf das 20. Jahrhundert zurück. Das Scheitern rechtsund linksdiktatorischer Herrschaftssysteme samt ihrer Ideologien wird mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. So entschieden Bracher die Ablehnung antidemokratischer Positionen verficht: Er ist frei von einem rechthaberischen Triumphalismus, obwohl die standhafte Absage an utopische Verheißungen in der Vergangenheit gegen manche Zeitgenossen, die später zu einer Revision ihrer Ansichten gezwungen waren, durchgehalten werden musste. Ein Schwerpunkt Brachers war die Totalitarismusforschung.30 Zwar liegt von ihm keine einschlägige Monographie dazu vor, doch hat er in zahlreichen Abhandlungen die Herausforderung des demokratischen Verfassungsstaates durch totalitäre Ideologien, Bewegungen und Systeme hervorgehoben. In einem zentralen, mehrfach nachgedruckten Beitrag schlägt er ein Syndrom mit vier Merkmalen vor: offizielle Ideologie mit Ausschließlichkeitscharakter; zentralisierte und hierarchisch organisierte Massenbewegung; Kontrolle aller Massenkommunikationsmittel zwecks Indoktrination; bürokratische Kontrolle der Ökonomie und der sozialen Beziehungen.31 Obgleich ein Merkmal, der Repressionsapparat, fehlt, sind bei Bracher in gewissem Sinne „Friedrich, Arendt, Voegelin und Nolte in mehrfacher Hinsicht ‚aufgehoben‘ – gleichermaßen im Sinne von bewahrt, beseitigt und höhergeführt. So betont er neben der etatistischabsolutistischen Seite des Totalitarismus seine dynamisch-revolutionäre. Dem Konzept der politischen Religionen ist er ebenso wenig abhold, wie er die Wechselbeziehungen zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus nicht leugnet, ohne diese ins Zentrum zu rücken. Der ‚Integrationismus‘ bezieht sich zudem auf die Verbindung
27 Vgl. ders., Politik und Zeitgeist. Tendenzen der siebziger Jahre, in: Ders./Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt, Stuttgart 1986, S. 285–406, S. 466–473. 28 Vgl. ders., Die totalitäre Erfahrung, München/Zürich 1987; Wendezeiten der Geschichte. Historischpolitische Essays 1987–1992, München 1992 (2. Auflage, 1995); Geschichte als Erfahrung. Betrachtungen zum 20. Jahrhundert, Stuttgart/München 2001. Bereits zuvor ist eine Reihe von Aufsatzsammlungen publiziert worden: Karl Dietrich Bracher (Anm. 2); Das deutsche Dilemma. Leidenswege der politischen Emanzipation, München 1971; Zeitgeschichtliche Kontroversen um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München 1976 (5. Auflage 1984); Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin 1981. 29 Siehe auch ders., Die totalitäre Erfahrung (Anm. 27). 30 Bereits in der ersten Auflage des gemeinsam mit Ernst Fraenkel herausgegebenen Lexikons „Staat und Politik“ hatte er 1957 das Stichwort „Totalitarismus“ verfasst (ebenso u. a. „Diktatur“, „Faschismus“, „Nationalsozialismus“). 31 Vgl. ders., Der umstrittene Totalitarismus: Erfahrung und Aktualität, in: Ders., Zeitgeschichtliche Kontroversen (Anm. 28), S. 34–62.
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normativer und empirischer Elemente, auch auf die Synthese eines historischen und politikwissenschaftlichen Zugriffs.“32 Damit schließt sich der Kreis zu Brachers Verständnis der Politikwissenschaft als Integrationswissenschaft.33 Die scharfe Kritik am Faschismusbegriff war wesentlich von der Gefahr motiviert, auf diese Weise werde der zentrale Gegensatz zwischen Diktatur und Demokratie eingeebnet.34 „Als Allgemeinbegriff enthält der ‚nationale Sozialismus‘ mehr inhaltliche Bestimmung, ist eine Klassifizierung nach links- oder rechtsdiktatorischen kollektivistischen Bewegungen und Regimen treffender.“35 Daher warnte Bracher in den 1970er und 1980er Jahren (zu Recht) immer wieder vor der „Tabuisierung des Totalitarismusbegriffs“.36
3.
Schulgründung und Wissenschaftsmanagement
Wer 13237 Wissenschaftler (darunter u. a. die späteren Professoren Ulrich von Alemann, Wilfried von Bredow, Michael Th. Greven, Werner Müller, Emanuel Richter, Hans Karl Rupp, Theo Schiller, Hans Vorländer sowie den CDU-Politiker Friedbert Pflüger)38 promoviert und 12 (Wolfgang Bergsdorf, Wilfried von Bredow, Michael Buse, Erhard Forndran, Peter Hüttenberger, Hans-Adolf Jacobsen, Karl Kaiser, Paul Kevenhörster, Hans-Helmuth Knütter, Ludger Kühnhardt, Karlheinz Niclauß, Wolfgang Pfeiler) habilitiert hat, muss wohl eine Schule gegründet haben. Doch so einfach ist die Antwort auf die Frage nach der Schulbildung nicht.
32 Eckhard Jesse, Die Totalitarismusforschung und ihre Repräsentanten. Konzeptionen von Carl J. Friedrich, Hannah Arendt, Eric Voegelin, Ernst Nolte und Karl Dietrich Bracher, in: Aus Politik aus Zeitgeschichte B 20/1998, S. 15. 33 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Wissenschafts- und zeitgeschichtliche Probleme der Politischen Wissenschaft in Deutschland, in: Jürgen Fijalkowski (Hrsg.), Politologie und Soziologie. Otto Stammer zum 65. Geburtstag, Köln/Opladen 1965, S. 45–62. 34 Das kann so sein, muss es aber nicht. Für die Forschungen Ernst Noltes und Wolfgang Schieders zum Faschismus etwa trifft dieser Vorwurf nicht zu. Auch Kommunismusforschung hat ihre Berechtigung (ohne Bezugnahme auf den ideologischen Antipoden). 35 Karl Dietrich Bracher, Der Nationalsozialismus in Deutschland. Probleme der Interpretation, in: Ders./Leo Valiani (Hrsg.), Faschismus und Nationalsozialismus, Berlin 1991, S. 40. 36 Vgl. nur als Beispiel: Die totalitäre Erfahrung (Anm. 28), S. 34, S. 56, S. 85. 37 Diese Zahl muss wohl auf 131 reduziert werden. Die Universität Bonn erkannte Margarita Mathiopoulos 2012 ihre Doktorwürde wegen zahlreicher Plagiate ab, nachdem sie früher erste Plagiatsvorwürfe als nicht so gravierend angesehen hatte. Das Verwaltungsgericht Bonn bestätigte im selben Jahr die Rechtmäßigkeit der Entscheidung. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster steht aus. Seit nunmehr 25 Jahren wird über den Entzug des Doktorgrades gestritten. Die Dissertation (Amerika. Das Experiment des Fortschritts. Ein Vergleich des politischen Denkens in den USA und Europa, Paderborn u. a. 1987) erschien zwei Jahre nach ihrer Veröffentlichung auch in einer übersetzten Fassung in den USA. 38 Vier von ihnen (Bredow, Greven, Rupp, Schiller) lehrten, kurios genug, ausgerechnet in Marburg, ohne Apologeten Wolfgang Abendroths zu werden.
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Ulrike Quadbeck verneint diese Frage – wegen „des organisatorischen Mankos und der liberalen, dogmatische[.] Enge negierenden Grundhaltung“.39 Diese Frage ließe sich aber auch gerade deswegen bejahen. Denn eine „Schule“ ist nicht zwingend durch „dogmatische Enge“ gekennzeichnet. Der Begriff der „Schule“ muss in einer pluralistischen Gesellschaft ohnehin weit und weich gefasst werden.40 Die Verbindung der empirischen mit der normativen Vorgehensweise auf systematischer Basis – und die historischen Grundlagen der Politik berücksichtigend – stellt ein Charakteristikum der „Bonner Schule“ Karl Dietrich Brachers dar, der schließlich ein Jahrzehnt lang die Bonner Politikwissenschaft allein repräsentierte. Heute ist eine solche Position im Fach kaum mehr vorhanden. Das politisch breit gefächerte Spektrum der „Bracher-Schule“ reicht von Hans Karl Rupp über Ulrich von Alemann, Karlheinz Niclauß, Manfred Funke und Ludger Kühnhardt bis zu Hans-Helmuth Knütter. Was allerdings richtig ist: Der Lehrer, fixiert auf die eigene Forschung, baute für seine Schüler keine Netzwerke auf. Bracher wirkte in vielen wichtigen wissenschaftlichen Gremien an vorderer Stelle mit. Er hatte von 1962 bis 1968 den Vorsitz der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien inne, von 1965 bis 1967 den Vorsitz in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft41, von 1980 bis 1988 den Vorsitz im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Zeitgeschichte. Bei zwei bedeutenden politikwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Periodika kam ihm eine tragende Rolle zu. 1960, vor nunmehr bald 55 Jahren, rief Karl Dietrich Bracher die „Politische Vierteljahresschrift“, das Organ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, mit Gert von Eynern, Otto Heinrich von der Gablentz, Gerhard Leibholz und Dolf Sternberger ins Leben. Im Geleitwort der Herausgeber hieß es bescheiden: „Die Politische Wissenschaft ist in Deutschland aus dem Stadium des Experimentes herausgewachsen, in welchem sie sich an länger fundierte Wissenschaften anlehnen und von den Pionierleistungen verdienstvoller wissenschaftlicher Amateure zehren musste.“42 Das Gremium fungierte als Herausgeber bis 1969, ehe der Vorstand der Vereinigung an seine Stelle trat. Von 1978 bis 2007, drei Jahrzehnte lang, gab Bracher die „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ mit Hans-Peter Schwarz heraus, seinen Bonner Nachfolger, ab 1993 auch mit Horst Möller.43 Noch beim Aufbau der Politikwissenschaft in den neuen Bundesländern fungierte er als Mitglied in Berufungskommissionen (Dresden und Jena).
39 Ulrike Quadbeck (Anm. 7), S. 361. Siehe auch ebd., S. 343–362. 40 Vgl. das Kapitel „Akademische Schüler“ bei Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 336–346. 41 Aus dieser Vereinigung zog sich Bracher wegen der Politisierung in den 1970er Jahren zurück. Stattdessen gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der 1983 ins Leben gerufenen Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft. 42 Geleitwort, in: Politische Vierteljahresschrift 1 (1969), S. 2. 43 Vgl. die Würdigung durch Manfred Kittel, Karl Dietrich Bracher – ein Klassiker der Zeitgeschichtsforschung. Podiumsdiskussion anlässlich seines Ausscheidens aus dem Herausgeberkreis der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S.153–157.
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Wer in so vielen wichtigen Gremien tätig war, muss wohl ein Wissenschaftsmanager gewesen sein. Auch hier kann jedoch der erste Eindruck täuschen. Gewiss schlug Bracher nicht die an ihn herangetragenen repräsentativen und administrativen Aufgaben aus, aber sie bedeuteten ihm wenig. Bracher, weder ein „Menschenfischer“ (positiv formuliert) noch ein „Strippenzieher“ (pejorativ formuliert), zog sich gerne in die Schreibstube zurück und verfasste lieber ungestört seine Werke, zum Teil im Ausland während zahlreicher Forschungsaufenthalte, wovon mannigfaltige Danksagungen zeugen. Der Gründer einer „Schule“ (in Grenzen) war kein Wissenschaftsmanager.
4.
Kritische Würdigung
Karl Dietrich Bracher gehört zur zweiten Generation der deutschen Politikwissenschaft, die zwar nach 1945 studiert hat, aber nicht Politikwissenschaft, weil es dieses Fach noch nicht oder kaum gab. Er, der niemals einer Partei angehört hat, ist bei aller Zurückhaltung in tagespolitischen Fragen gleichwohl engagiert geblieben. Gehörte er in den 1950er und 1960er Jahren zu der Minderheit der „linken“ Strömung in Politikwissenschaft und Zeitgeschichte, so zählt er seit den 1970er und 1980er Jahren eher zu den Liberal-Konservativen (und löckt damit wieder wider den Zeitgeist). Zwei Gründe sind dafür verantwortlich zu machen. Zum einen war die politische Wetterlage massiv umgeschlagen (in der Politikwissenschaft mehr als in der Politik), zum andern orientierte sich Bracher in die andere Richtung um, wobei eine Wechselwirkung besteht.44 War er früher gern gesehener Gast bei SPD-Veranstaltungen, trat er nun häufiger bei der CDU auf. Helmut Schmidt und Helmut Kohl suchten öfter den Rat Brachers45, der freilich kein Politikberater sein wollte. Mit Wolfgang Bergsdorf zählte ein Schüler Brachers zum engsten Machtzirkel um Helmut Kohl. Der graduelle politische Wandel wirkte sich nicht auf die Qualität des Werkes aus, wohl auf die Ausrichtung der Themen. Der Nationalsozialismus trat in den Hintergrund, die Gefahr durch den Kommunismus und dessen Verharmloser in den Vordergrund. Bracher blieb seinem Äquidistanzgebot mit Blick auf antidemokratische Strömungen von rechts oder von links außen treu. Das galt für antidemokratische Positionen an der Macht ebenso wie für antidemokratische, die erst an die Macht gelangen wollten. Die Kanzlerdemokratie Adenauers wurde in den 1970er Jahren besser beurteilt als in den 60ern.46 Insgesamt überwiegt Kontinuität Wandel, wenngleich Horst Möllers apodiktisch formulierte Aussage in ihrem ersten Teil nicht haltbar sein dürfte: „Tatsächlich
44 Vgl. Riccardo Bavaj, Deutscher Staat und westliche Demokratie. Karl Dietrich Bracher und Erwin K. Schenck zur Zeit der Studentenrevolte von 1967/68, in: Geschichte im Westen 23 (2008), S. 149–171. 45 Vgl. Ulrike Quadbeck (Anm. 7), S. 269–272. Siehe auch Helmut Schmidt (Anm. 16), S. 127–133. 46 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Kanzlerdemokratie, in: Ders. (Anm. 2), S. 124–133; ders., Die Kanzlerdemokratie, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 179–201.
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hatte nicht er, sondern der Zeitgeist sich geändert, tatsächlich hielt und hält er strikt an demokratischen Grundprinzipien fest.“47 Den zweiten Teil der Aussage zieht ohnehin niemand in Zweifel. Der Anfang der 1980er Jahre erhobene Vorwurf des Berliner Politikwissenschaftlers Gert-Joachim Glaeßner, Brachers Ausführungen zum Totalitarismus seien „eher dem Bereich politisch-publizistischer Auseinandersetzungen zuzurechnen“48, war schon zu dem geäußerten Zeitpunkt ideologisch motiviert, ein „Haltet den Dieb“-Vorwurf. Bracher akzeptierte zu Recht nicht den Ansatz, antidemokratische Systeme an ihren Maßstäben zu messen. Diese immanente Sichtweise konnte ein in den Kategorien von Demokratie versus Diktatur denkender zeitgeschichtlich ausgerichteter Politikwissenschaftler nicht teilen. Noch heute ist von einer Bracher-Conze-Kontroverse die Rede49, obwohl sie über ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Bracher hatte in seiner Habilitationsschrift die Position des Historikers Werner Conze50 in Frage gestellt, wonach der „Parteienstaat“ bereits 1930 durch eigenes Verschulden gescheitert sei. Tatsächlich habe die politische Elite kein Interesse daran gehabt, die Demokratie aufrechtzuerhalten. Beide Seiten warfen sich vor, die Offenheit der historischen Situation herunterzuspielen. Vereinfacht ausgedrückt: Bei Bracher gilt Reichskanzler Heinrich Brüning als Gegner der Weimarer Republik, bei Conze als ihr Retter. Insofern (und aus weiteren Gründen) überzog dessen Kritik an Brachers monumentaler Studie.51 Diese Kontroverse, in den meisten Punkten wohl zugunsten Brachers ausgegangen, fand ihre Fortsetzung nach dem Erscheinen der Memoiren Heinrich Brünings.52 Die folgende Episode53 zeigt dreierlei: die Klarheit seiner Position, Konfliktscheu und Toleranz. Als im Jahre 1977 der Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische
47 Horst Möller, Karl Dietrich Bracher zum 80. Geburtstag, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 168. 48 So Gert-Joachim Glaeßner, Sozialistische Systeme. Einführung in die Kommunismus- und DDRForschung, Opladen 1982, S. 82. 49 Zwei Kapitel in Dissertationen widmen sich ausführlich dieser Thematik: Ulrike Quadbeck (Anm. 7), S. 192–202; Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie um die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009, S. 583–613. 50 Vgl. Werner Conze, Die Krise des Parteienstaates in Deutschland 1929/30, in: Historische Zeitschrift Bd. 178 (1954), S. 47–83; siehe dazu (mehr indirekt als direkt) Karl Dietrich Bracher, Parteienstaat, Präsidialsystem, Notstand. Zum Problem der Weimarer Staatskrise, in: Politische Vierteljahresschrift 3 (1962), S. 212–224; Werner Conze, Brünings Politik unter dem Druck der großen Krise, in: Historische Zeitschrift Bd. 199 (1964), S. 529–550. 51 Vgl. die Rezension des Werkes von Bracher durch Werner Conze, in: Historische Zeitschrift Bd. 183 (1957), S. 378–382. 52 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Brünings unpolitische Politik und die Auflösung der Weimarer Republik, in. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), S. 113–123; Werner Conze, Brüning als Reichskanzler. Eine Zwischenbilanz, in: Historische Zeitschrift Bd. 214 (1972), S. 310–335. 53 Sie stützt sich auf die Schilderung bei Udo Bermbach, Die siebziger Jahre, in: Jürgen W. Falter/ Felix W. Wurm (Hrsg.), Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. 50 Jahre DVPW, Wiesbaden 2003, insbes. S. 32 f.; ähnlich Ulrike Quadbeck (Anm. 7), S. 258 f.
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Wissenschaft, die seinerzeit starke marxistische Tendenzen aufwies, in Bonn tagte, soll Karl Dietrich Bracher sich für die Ausladung des als unwissenschaftlich geltenden Referenten Claus Offe ausgesprochen haben. Als der damalige Vorsitzende Udo Bermbach dies zurückgewiesen hatte, erklärte Bracher, er werde die Veranstaltung weder unterstützen noch anwesend sein. Eigens würdigt Bermbach das große Engagement Ulrich von Alemanns, eines Assistenten Brachers, bei dem Bonner Kongress. Offenbar untersagte dieser seinem Mitarbeiter nicht die vielfältigen Aktivitäten beim Kongress. Es ist eine gewisse Paradoxie: Bracher, der so immens viel geschrieben hat, wird oft mit der (eher beiläufig gefallenen) Wendung zitiert, die Bundesrepublik sei eine „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“. Als er sie 1976 das erste Mal am Ende der fünften Auflage der „deutschen Diktatur“ gebraucht hatte54, nahm wohl niemand Kenntnis davon. Und als er sie zehn Jahre später wiederholte55, fand sie gewisse Aufmerksamkeit, zumeist positive. Es ging Bracher um die Selbstanerkennung der Bundesrepublik. Nicht nur seine Phantasie reichte aus, um sich vorstellen zu können, dass Deutschland binnen kurzem unter freiheitlichen Vorzeichen (und unter Erhalt der Westbindung) wiedervereinigt sein könnte. Nach der deutschen Einheit setzte Kritik ein, war Bracher doch von der Geschichte „widerlegt“ worden. Diese Schelte mutet etwas selbstgerecht an.56 Allerdings hätte Bracher in Anlehnung an Dolf Sternberger verfassungspatriotisch argumentieren können, ohne deswegen die Zweistaatlichkeit indirekt zu rechtfertigen. Der Kerngedanke Brachers: Er wollte die Freiheit der Bundesrepublik Deutschlands sichern und keiner Neutralisierung Vorschub leisten. Allerdings fiel es ihm nach der deutschen Einheit schwer, seine Fehleinschätzung einzuräumen. In einem Gespräch mit Werner Link hieß es: „Wir haben die zweite deutsche Demokratie in einem gewissen Maße als eine postnationale Demokratie aufgebaut, immer natürlich mit der Forderung nach Wiedervereinigung, das heißt unter Vorbehalt. Wir haben ja gesagt: Die Bundesrepublik ist ein Provisorium.“57 Provisorium und Selbstanerkennung stehen aber in einem unauflöslichen Widerspruch. Das Plädoyer für die atlantische Wertegemeinschaft im Allgemeinen und die Westbindung im Besonderen bildete den Fluchtpunkt von Brachers Überlegungen. Er war niemals ein „Kalter Krieger“, sondern ein prinzipieller Unterstützer der neuen Ost- und Deutschlandpolitik Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, aber die relativierende Sicht auf Diktaturen und antidemokratische Positionen jeglicher Couleur stieß auf
54 Vgl. ders., Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, 5. Auflage, Köln 1976, S. 544. 1969 hatte er kryptisch davon gesprochen, Politik und Wissenschaft müssten das deutsche Dilemma „einer demokratischen und übernationalen Lösung näherbringen“. Ders., Das deutsche Dilemma (Anm. 27), S. 434. 55 Vgl. ders. (Anm. 26), S. 406. Siehe ausführlicher ders., Orientierungsprobleme freiheitlicher Demokratie in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1–2/1989, S. 6 f., S. 11–14. 56 Vgl. Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, 3. Aufl., Frankfurt a. M./Berlin 1994, S. 292–294, S. 375–377. 57 Karl Dietrich Bracher (Anm. 4), S. 297.
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seinen Widerstand. Der Begriff der „Berliner Republik“ taucht bei dem Bonner Wissenschaftler nicht auf. Die beiden folgenden Fragen sind rhetorischer Natur: „Sollen wir diese wirklich der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik gegenüberstellen oder gar nach der ersten und zweiten deutschen Demokratie gemäß französischem Brauch eine dritte Republik proklamieren? Wäre nicht eher von der erweiterten Fortentwicklung unserer erprobten Bundesrepublik zu sprechen, was ja sowohl dem Sinn wie auch der Realität deutscher Politik nach der Wiedervereinigung entspricht?“58 Bracher übte weniger durch seine Vorlesungen einen nachhaltigen Eindruck aus als durch seine Seminare. Er ließ, wohl Ausdruck von Liberalität und beschränktem Betreuungseifer zugleich, seinen Doktoranden viel Freiheit. Seine größte Wirkung erzielten die anregend geschriebenen Monographien, die sich von langatmigen Wälzern wohltuend unterschieden (weniger im Umfang). Insofern ist seine Kritik an der „Sprachmagie“ und „Sprachverwirrung“ im Fach Politikwissenschaft berechtigt.59 Folgerichtig schrieb Bracher Ende der 1970er Jahre einen Text zu „Schlüsselwörter[n] in der Geschichte“60, war ihm doch klar, wie mit ihnen Politik gemacht wird.
5.
Rezeption im Fach und in der Öffentlichkeit
„Die Zeit“ hat 1984 Brachers Habilitationsschrift „Die Auflösung der Weimarer Republik“ zu den 100 wichtigsten Sachbüchern gezählt.61 Bei Theodor Eschenburg, von dem die Würdigung stammt, heißt es: „Hier sind alle Elemente des politischen und gesellschaftlichen Machtkampfes in ihrer Problematik und Gegensätzlichkeit untersucht worden und die vielgestaltige Wirklichkeit anschaulich in einem klaren Begriffssystem eingefangen. Bracher zeigt mit aus intellektueller Redlichkeit bestimmten Distanz die die Republik stützenden und die entgegenwirkenden Kräfte auf.“62 Diese Anerkennung ist von Autoren dieses Schlages nur Hannah Arendt („Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“), Jürgen Habermas („Erkenntnis und Interesse“), Eugen Kogon („Der SS-Staat“), Karl R. Popper („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“) und Joseph A. Schumpeter („Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“) widerfahren. Und wohl von keinem zweiten deutschen Politikwissenschaftler sind so viele Werke in andere Sprachen übersetzt worden. „Ein Gelehrter von Weltrang“ (Cem Akalin), „ein idealer politischer Professor“ (Hermann Rudolph), „Meisterdenker der Freiheit“ (Wolfgang Bergsdorf ) – so lauteten einige Überschriften zu seinem 90. Geburtstag. Wer daraus 58 Ders., Der Fall Bonn-Weimar, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 10, Baden-Baden 1998, S. 321. 59 Ders. (Anm. 4), S. 300. 60 Vgl. ders., Schlüsselwörter in der Geschichte. Mit einer Betrachtung zum Totalitarismusproblem, Düsseldorf 1978. 61 Vgl. Fritz J. Raddatz (Hrsg.), ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher, Frankfurt a. M. 1984, S. 332–334. 62 Theodor Eschenburg, Die Auflösung der Weimarer Republik von Karl Dietrich Bracher, in: Die Zeit vom 20. Juli 1984.
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schließt, Bracher sei in der Profession durch und durch anerkannt, irrt wohl, wenngleich die Kollegenschaft ihn immer wieder auffordert, sich an Festschriften zu beteiligen. Dieser Aufgabe hat er sich nicht entzogen – das gilt für Politikwissenschaftler (u. a. Wolfgang Abendroth, Hans-Adolf Jacobsen, Hans Maier, Otto Stammer, Eric Voegelin) wie für Historiker (u. a. Max Braubach, Hans Herzfeld, Rudolf Morsey), ebenso wie für jene, die schwer einer der beiden Kategorien zuzuschlagen sind (wie Manfred Funke und Hans-Peter Schwarz). In der ihm zugeeigneten Festschrift haben sich neben vielen ausländischen Gelehrten (Gordon A. Craig, Alfred Grosser, Klemens von Klemperer, George L. Mosse, Adam Wandruszka) allein sieben der in diesem Band porträtierten Autoren beteiligt (Wilhelm Bleek, Karl Kaiser, Peter Graf Kielmansegg, Werner Link, Alexander Schwan, Hans-Peter Schwarz, Kurt Sontheimer). Zwar fasste Bracher seine Beiträge immer wieder in Aufsatzsammlungen zusammen, aber die Herausgabe von Abhandlungen anderer zu einem spezifischen Thema scheute er fast vollständig.63 Es gibt Autoren, bei denen sich der Ruhm im Abstand von Jahren mehrt, und solche, bei denen er innerhalb des Faches nachlässt. Bracher gehört wohl in die zweite Kategorie. Das ist bedauerlich. Der Hauptgrund: Sein Ansatz ist heute für die meisten Politikwissenschaftler zu historisch ausgerichtet. Die enge Verbindung von Politik- und Geschichtswissenschaft gilt vielen nicht als zeitgemäß.64 Er wurde in den letzten Jahren mehr ignoriert als kritisiert. 1986 kam Bracher bei der Abstimmung im Fach nach den wichtigsten Vertretern auf den vierten Rang und bei der nach den wichtigsten Vertretern im Forschungsfeld „Politische Geschichte/Zeitgeschichte“ mit weitem Abstand auf den ersten. Was die Reputation in der Öffentlichkeit betraf, landete er auf dem fünften.65 Anders war dies bei den Erhebungen 1996 und 2006. Bracher taucht in keiner Kategorie mehr auf. Zum einen war – bezeichnenderweise – „Politische Geschichte/Zeitgeschichte“ entfallen, zum andern ist dies mit dem Alter Brachers erklärbar. Es dürfte freilich auch ein Zeichen für den Bedeutungsverlust seines Forschungszweiges sein. Das ändert nichts an der imposanten Leistung aus mehr als einem halben Jahrhundert. Vielleicht heben spätere Generationen, die großen Linien der Geschichte und Politik vor Augen, den Nutzen von Brachers Werk wieder stärker hervor. Mit dem Buch von Ulrike Quadbeck liegt eine gründlich informierende und mit guter Urteilskraft verfasste Studie über Karl Dietrich Bracher und sein Bonner Institut vor. Der Leser hat freilich zuweilen den Eindruck, dass die Verfasserin sich nicht ganz entscheiden konnte, ob sie eine intellektuelle Biographie Brachers oder über das „Seminar 63 Zu den Ausnahmen zählt: Karl Dietrich Bracher (Hrsg.), Nach 25 Jahren. Eine Deutschland-Bilanz, München 1970. 64 Vgl. Alexander Gallus, Über das Verhältnis von Geschichts- und Politikwissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1–2/2012, S. 39–45. 65 Vgl. Harro Honolka, Reputation, Desintegration, theoretische Umorientierungen. Zu einigen empirisch vernachlässigten Aspekten der Lage der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, in: Klaus von Beyme (Hrsg.), Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungsprobleme einer Disziplin (= Sonderheft 17 der Politischen Vierteljahresschrift), Opladen 1986, S. 48–51.
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für Politische Wissenschaft in Bonn“ schreiben wollte. Eine wissenschaftliche Monographie, die das Werk vergleichend einordnet, steht somit noch aus. Obwohl kein „Medienmann“, wirkte Bracher in die Öffentlichkeit hinein, so durch zahlreiche Zeitungsartikel, etwa in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die später in seine Sammelbände Aufnahme fanden. Brachers Geltung ist stärker als sein Geltungsbedürfnis. Der Verpflichtung zu öffentlichen Auftritten kam er nach – so hielt er bei offiziellen Anlässen Reden, etwa zum Widerstand im Dritten Reich. Aus dem emotional geführten „Historikerstreit“ von 1986 hielt sich Bracher heraus, galt er für ihn doch als wissenschaftlich unfruchtbar.66 Dem vornehm-zurückhaltenden Gelehrten, Jürgen Habermas und Ernst Nolte gleichermaßen fernstehend, stieß wohl auch die persönlich gefärbte Art der Auseinandersetzung ab. Öffentlicher Streit war und ist seine Sache nicht. Er begreift sich als Repräsentant „einer auch praktisch verstandenen Politikwissenschaft auf geschichtlicher Basis, die mögliche Hilfestellungen für demokratische Politik leisten will und kann, ohne zur Magd der Politik zu werden.“67 Das ist fürwahr keine schlechte Maxime.
6.
Bibliographie
6.1. Primärliteratur68 Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit. Studien zum Zeitgefühl und Geschichtsbewusstsein des Jahrhunderts nach Augustus, ungedr. Dissertation Tübingen 1948 (Erstdruck Wien u. a. 1987). Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955 (6. Auflage Düsseldorf 1984). Staat und Politik, Frankfurt a. M. 1957 (Neubearbeitung 1964), hrsg. mit Ernst Fraenkel. Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34 (mit Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz), Köln 1960 (3. Auflage 1974). Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur. Beiträge zur neueren Politik und Geschichte, München 1964. Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1969 (7. Auflage 1993), auch auf Englisch, Französisch, Italienisch, Japanisch, Spanisch. Das deutsche Dilemma. Leidenswege der politischen Emanzipation, München 1971 (auch auf Englisch 1974). Die Krise Europas. 1917–1975 (= Propyläen Geschichte Europas, Bd. 6), Frankfurt a. M. 1976 (akt. Auflage 1993), auch auf Italienisch.
66 Vgl. den Leserbrief von Karl Dietrich Bracher, Das Gemeinsame wurde ausgeblendet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. September 1986. 67 Karl Dietrich Bracher (Anm. 4), S. 301. 68 Ein vollständiges Verzeichnis der bis 1987 publizierten Beiträge findet sich bei Manfred Funke u. a. (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1987, S. 614–635.
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Zeitgeschichtliche Kontroversen um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München 1976 (5. Auflage 1984). Schlüsselwörter in der Geschichte. Mit einer Betrachtung zum Totalitarismusproblem, Düsseldorf 1978. Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin 1981. Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982 (2. Auflage 1984), auch auf Englisch und Italienisch. Politik und Zeitgeist. Tendenzen der siebziger Jahre, in: Ders./Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt (= Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5/I), Stuttgart 1986, 285–406, S. 466–473. Die totalitäre Erfahrung, München/Zürich 1987. Wendezeiten der Geschichte. Historisch-politische Essays 1987–1992, München 1992 (2. Auflage 1995). Geschichte als Erfahrung. Betrachtungen zum 20. Jahrhundert, Stuttgart/München 2001.
6.2. Sekundärliteratur Bavaj, Riccardo, Deutscher Staat und westliche Demokratie. Karl Dietrich Bracher und Erwin K. Schenck zur Zeit der Studentenrevolte von 1967/68, in: Geschichte im Westen 23 (2008), S. 149–171. Decker, Frank u. a., Karl Dietrich Bracher zum 80. Geburtstag. Reden zum 80. Geburtstag von Karl Dietrich Bracher am 8. Mai 2002, Bonn 2002. Funke, Manfred/Hans-Adolf Jacobsen/Hans-Helmuth Knütter/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1987. Kühnhardt, Ludger, „Wissenschaft für die Demokratie“. Zum 65. Geburtstag des Bonner Zeithistorikers Karl Dietrich Bracher, in: Zeitschrift für Politik 34 (1987), S. 107–121. Kühnhardt, Ludger, Karl Dietrich Bracher und die Wissenschaft für die Demokratie. Beiträge aus der Politischen Wissenschaft, Jena 1992, S. 112–131. Möller, Horst, Karl Dietrich Bracher zum 80. Geburtstag, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 167–170. Quadbeck, Ulrike, Karl Dietrich Bracher und die Anfänge der Bonner Politikwissenschaft, BadenBaden 2008. Rupp, Hans Karl, Karl Dietrich Bracher. Von der Überlegenheit liberaler Demokratie, in: Ders./ Thomas Noetzel (Hrsg.), Macht, Freiheit, Demokratie. Die zweite Generation der westdeutschen Politikwissenschaft. Biographische Annäherungen, Bd. 2, Marburg 1994, S. 15–26. Schwarz, Hans-Peter, Geburtstagsbrief für Karl Dietrich Bracher, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 40 (1992), S. 163–168. Schwarz, Hans-Peter, Laudatio „Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft“ – Werk und Wirkung von Karl Dietrich Bracher, in: Karl Dietrich Bracher zum 80. Geburtstag, Bonn 2002, S. 24–41.
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Hans-Peter Schwarz (geboren 1934) Der Name von Hans-Peter Schwarz ist eng mit dem Konrad Adenauers verbunden. Er hat dessen Leben, Werk und Wirkung mit viel Empathie in einer Weise ausgeleuchtet, wie dies wohl für keinen anderen deutschen Politiker nach 1945 gilt. Schwarz, der Verfasser bedeutender Biographien über bedeutende Persönlichkeiten wie Axel Springer und Helmut Kohl, ist nicht nur ein „Generalist“ in der Politikwissenschaft (mit dem Schwerpunkt Internationale Politik), sondern auch Zeithistoriker, Publizist und Wissenschaftsmanager hohen Ranges. Sein Fluchtpunkt: die Orientierung am Westen. Die Produktivität seit über einem halben Jahrhundert, Ausfluss hoher Schöpferkraft und eiserner Disziplin, nötigt selbst dem schärfsten Kritiker des Liberal-Konservativen Respekt ab. Dank seiner packend-lebendigen Sprache sind viele Bücher weit über den Kreis der Politik- und Geschichtswissenschaft hinaus rezipiert worden. Was bleibt von Schwarz?
1.
Vita
Hans-Peter Schwarz, am 13. Mai 1934 im südbadischen Lörrach als Sohn eines evangelischen Schulrektors geboren, begann nach dem Abitur am humanistischen HebelGymnasium, wo er 30 Jahre später einen Festvortrag zum Thema „Politische Generationen im 20. Jahrhundert“ hält, 1953 in Basel das Studium der Geschichte, der Germanistik, der Romanistik und der Volkswirtschaftslehre.1 Im vierten Semester setzte er sein Studium 1954 in Freiburg fort: Neben Geschichte und Germanistik stand nun Politische Wissenschaft und Soziologie auf dem Programm. Noch keine 24 Jahre alt, wurde er 1958 bei Arnold Bergstraesser über „Das Werk Ernst Jüngers als Diagnose unserer Zeit“ promoviert. Der jüngste Schüler Bergstraessers (u. a. neben Manfred Hättich, Gottfried-Karl Kindermann, Hans Maier, Dieter Oberndörfer, Alexander Schwan, Kurt Sontheimer) übernahm eine Stelle als Tutor für das „Colloquium Politicum“ (1958– 1963), das zum Studium generale gehörte. „Im Colloquium Politicum tauchten im Lauf der Zeit viele Personen auf, die Rang und Namen hatten in der europäischen Politik und Wissenschaft, von Raymond Aron bis zu Henry Kissinger, von Wilhelm Grewe bis zu Michael Oakeshott, von Robert Schuman bis zu Bruno Kreisky.“2 An anderer Stelle ergänzt sein Studienkollege Hans Maier: „Hans-Peter Schwarz hat in dieser Zeit seine vielfältigen Kontakte zu politischen Akteuren aufgebaut, die ihm später bei der Darstellung der Zeitgeschichte wichtige Dienste leisten sollten.“3
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2 3
Für die Vita stützt sich der Verfasser u. a. auf den instruktiven Beitrag von Hanns Jürgen Küsters, Wissenschaftler aus Leidenschaft. Streifzüge eines Markgräflers über Hamburg und Köln nach Bonn, in: Peter R. Weilemann/Hanns Jürgen Küsters/Günter Buchstab (Hrsg.), Macht und Zeitkritik. Festschrift für Hans-Peter Schwarz, Paderborn 1999, S. 807–819. Hans Maier, Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff., München 2011, S. 96 f. Ders., Zum 70. Geburtstag von Hans-Peter Schwarz, in: Frank Decker u. a., Hans-Peter Schwarz zum 70. Geburtstag. Beiträge des Symposions am 13. Mai 2004 an der Universität Bonn, Bonn 2004, S. 81.
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Wie von Anfang an geplant, folgte 1960 das Staatsexamen in den Fächern Politikwissenschaft, Germanistik und Romanistik. Der Assistent Bergstraessers (1962/63), inzwischen mit der Studienassessorin Annemie Keller verheiratet (2011 fand die Goldene Hochzeit statt), nahm 1963 eine Professur an der Pädagogischen Hochschule Osnabrück an, noch vor seiner Habilitation. 1963 errang er einen mit 5.000 DM dotierten Preis der Wochenzeitung „Christ und Welt“, setzte sich doch sein Artikel über die Neugestaltung der Universitäten u. a. gegen die Konkurrenz von Waldemar Besson und Helmut Schelsky durch. Da Bergstraesser zu Anfang des Jahres 1964 verstorben war, habilitierte sich Schwarz 1966 in Tübingen bei Theodor Eschenburg, einem der Gründungsväter der deutschen Politikwissenschaft, und zwar mit einer Arbeit über „Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945–1949“. Der Lehrstuhl ließ nicht lange auf sich warten. Mit Blick u. a. auf den damals 32-jährigen Schwarz und andere junge Politikwissenschaftler hieß es seinerzeit im „Spiegel“: „Im Alter von 32 Jahren erreichen sie, was Bundesbürger als höchste Stufe sozialen Prestiges ansehen: Sie sind ordentliche öffentliche Universitätsprofessoren. [...] Ihre akademischen Blitzkarrieren verdanken die jungen Füchse einer Wissenschaft, die sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg an Deutschlands Universitäten etablieren konnte: der Politologie.“4 Von 1966 bis 19745 lehrte Schwarz an der Universität Hamburg als Nachfolger Siegfried Landshuts, von 1973 – anfangs klar mit dem Schwerpunkt Internationale Politik – bis 1987 an der Universität zu Köln als Nachfolger Ferdinand A. Hermens‘, jeweils im Fach Politikwissenschaft. Als Karl Dietrich Bracher 1987 in Bonn emeritiert wurde, kam für dessen Nachfolge nach Zuschnitt der Professur und nach der mit dem großen Namen von Bracher verbundenen Bürde eigentlich nur Hans-Peter Schwarz in Frage. Zwischen 1987 und 1999 unterrichtete er an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn – in einer Zeit, in der sich die weltpolitischen Ereignisse überschlugen und Bonn zu seinem Leidwesen den Regierungssitz verlor. Um den Umzug der Regierung nach Berlin hinauszuschieben, votierte Schwarz sogar für eine Volksabstimmung.6 Er hielt „bis an die Schwelle des dritten Jahrtausends vierstündige Vorlesungen ab – und dies zu allem hin auch noch morgens um 8 Uhr, wenn das Gehirn des Professors am besten tickt, während die Studenten gehalten sind, noch recht schlaftrunken die vermittelten Erkenntnisse widerstandslos in sich einsickern zu lassen“7 – so hieß es bei ihm spottlustig. Nach der Emeritierung Hans-Adolf Jacobsens 1990/91 setzte Schwarz gegen universitätsinterne Widerstände Karl Kaiser als dessen Nachfolger durch. Gehörten Landshut und Hermens zur ersten Generation der deutschen Politikwissen-
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So der Artikel: Politologie: Eine Art Tribunal, in: Der Spiegel vom 28. November 1966. Schwarz hatte sich in Hamburg zwei Semester noch selber vertreten. Das war damals keine Seltenheit. Vgl. Hanns Jürgen Küsters (Anm. 1), S. 818. Hans-Peter Schwarz, Replik und Dankeswort, in: Frank Decker u. a. (Anm. 3), S. 91.
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schaftler nach 1945, so zählt Bracher zur zweiten. Schwarz seinerseits war einer der ersten, der die Promotion im Fach Politikwissenschaft erlangt hatte. Schwarz zog schließlich ins beschauliche Gauting an den Starnberger See, wo er bis heute Muße zum unermüdlichen Schreiben findet. Dass er einen stattlichen Band über das 20. Jahrhundert im Spiegel des Polit-Thrillers mit Porträts zu 13 einschlägigen Autoren (u. a. Eric Ambler, Erskin Childers, Ian Fleming, Frederick Forsyth) verfasst hat, verrät etwas über seine Leidenschaft außerhalb der Politikwissenschaft und der Zeitgeschichte, wobei selbst dieses Werk einiges über die politische Wirklichkeit aussagt.8 Zwei kürzlich fertig gestellte dickleibige Memoirenbände sind für die Familie bestimmt, nicht für die Öffentlichkeit.
2.
Forschungsschwerpunkte
Die Forschungsgebiete von Hans-Peter Schwarz waren und sind breit gespannt. Sie berühren nahezu alle Teilbereiche der Politikwissenschaft und der Zeitgeschichte, wobei die Abgrenzung nicht immer leicht fällt. Seine nie nachlassende Produktivität ist neben der kreativen Begabung nur mit einem ungeheuren Maß an Selbstdisziplin erklärbar. Alle großen, auf einem intensiven Quellenstudium basierenden Arbeiten zeichnen sich – ungeachtet vieler Nuancierungen – durch klare Ergebnisse aus. Schwarz legt die Maßstäbe für seine Urteile stets offen: Die „westliche Wertegemeinschaft“ ist für ihn keine Phrase, ohne dass er deswegen Interessenkonflikte zwischen den westlichen Demokratien bestreitet. Im Folgenden ist lediglich ein Blick auf die Hauptwerke möglich. Die überarbeitete Dissertation unter dem paradox anmutenden Titel „Der konservative Anarchist“ ist eine vornehmlich ideengeschichtliche, um soziologische Perspektiven angereicherte Abhandlung. Auch wenn der Autor Ernst Jünger als einen der „großen Unzeitgemäßen unseres Jahrhunderts“9 wahrnimmt, so ist er doch weit von einer Apologie entfernt. Nicht jeder Gegner Hitlers und des Nationalsozialismus musste ein Demokrat sein, wie etwa die Analyse der bis dahin weithin unbekannten frühen Publizistik Ernst Jüngers erhellt. In der „Zeitfeindschaft des spiritualistischen Metaphysikers“10 sieht Schwarz den roten Faden bei Jünger – eine These, die dessen vielgestaltig-widersprüchlichem – und schillerndem – Werk eine gewisse Geschlossenheit unterstellt. Mit seiner quellengesättigten Habilitationsschrift „Vom Reich zur Bundesrepublik“, einer beeindruckenden außenpolitischen Synthese für die Zeit von 1945 bis 1949, fand Schwarz im Fach sofort positive Aufmerksamkeit. Sie analysiert in einem ersten Teil
8 Vgl. ders., Phantastische Wirklichkeit. Das 20. Jahrhundert im Spiegel des Polit-Thrillers, Stuttgart 2006. 9 Ders., Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i. Br. 1962, S. 16. 10 Ebd., S. 15.
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scharfsinnig die sich wandelnden Konzeptionen der vier Siegermächte (einschließlich der Alternativen alliierter Deutschlandpolitik), in einem zweiten, fast doppelt so langen Teil die in Deutschland zirkulierenden Konzeptionen, Jakob Kaisers Idee von der „Brücke“ zwischen Ost und West, Konrad Adenauers Plädoyer für uneingeschränkte Westintegration sowie die schwankenden Positionen der demokratischen Linken. Das Resümee sucht die Frage zu beantworten, wieso sich im Westen Deutschlands die Konzeption der Westbindung durchsetzen konnte. Das war angesichts der deutschen Traditionen eines dritten Weges seinerzeit keineswegs so selbstverständlich, wie es im Nachhinein erscheinen mag.11 In dieser Studie, welche die verschlungenen Stränge der Innen- und Außenpolitik verknüpft, kam bereits die prägende Kraft des ersten Bundeskanzlers zur Geltung: „Nur wenig maßgebende deutsche Politiker sind in den ersten Nachkriegsjahren so früh und so kompromisslos für die Gründung eines westdeutschen Bundesstaates und für dessen Westbindung eingetreten wie Konrad Adenauer.“12 Es dauerte 15 Jahre – erstaunlich für Schwarz und wohl bedingt durch seine Editionstätigkeiten und die vielfältigen Verpflichtungen an der Hamburger Universität – bis zum nächsten großen Wurf. Die Politik Adenauers von 1949 bis 1963 stand naturgemäß im Mittelpunkt der beiden von Hans-Peter Schwarz beigesteuerten Bücher zur fünfbändigen Reihe „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, herausgegeben von Karl Dietrich Bracher, Theodor Eschenburg, Joachim C. Fest und Eberhard Jäckel. Deren Vorbemerkung zu der repräsentativen wie aufwändig ausgestatteten Edition lautete: „Die Bundesrepublik Deutschland hat sich lange gewehrt, ein Staat im vollen Sinne des Wortes zu werden. Das Grundgesetz wurde mit der ausdrücklichen Einschränkung beschlossen, ‚um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben‘. Diese Ordnung galt als Provisorium oder mit den Worten von Theodor Heuss als Transitorium, als Durchgangsstadium zu einem wiedervereinigten Deutschland, das sich dann statt der des vorübergehenden Grundgesetzes eine ständige Verfassung geben sollte.“13 In dieses Muster passten die beiden Schwarz-Bände, die besten der Reihe nicht nur wegen neuer Quellenfunde, sondern auch wegen der Analysekraft und der bildhaft-anschaulichen Sprache. In den „Gründerjahren“ (Band 1) erweist sich der Autor als glühender Verteidiger von Adenauers Westpolitik, nicht so sehr wegen dessen Antikommunismus und wegen dessen Streben nach europäischer Einheit. Adenauer habe vielmehr eine weitsichtige innerwestliche Gleichgewichtspolitik betrieben, um eine (zu Lasten der Deutschen 11 Vgl. auch Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990, 2. Aufl., Düsseldorf 2006. 12 Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland und im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945–1949, 2. Aufl., Stuttgart 1980, S. 425 (Hervorhebung im Original). – Die Neuauflage enthält einen ausführlichen bibliographischen Essay (S. XXXI–LXXIV). 13 Karl Dietrich Bracher/Theodor Eschenburg/Joachim C. Fest/Eberhard Jäckel, Vorbemerkung, in: Theodor Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945–1949, Stuttgart/Wiesbaden 1983, S. 7.
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gehende) Verständigung des Westens mit dem Osten zu verhindern. Die vielschichtige Opposition gegen den Kurs der Westintegration, auch die des „Spiegel“, firmiert zum Teil als deutschnational. Die spätere Fehde mit Rudolf Augstein – beide haben sich nichts geschenkt – klingt hier bereits an. In einem umfassenden Kapitel fängt Schwarz den „Geist der fünfziger Jahre“ ein, wobei freilich eine Formulierung wie die vom „augusteischen Zeitalter des liberalen Kapitalismus“14 die damalige, von Muffigkeit nicht freie Atmosphäre aufhellt, so recht Schwarz mit seiner Kritik an der in den 1970er Jahren modisch gewordenen These von der „Restauration“ auch hat.15 Der „Epochenwechsel“ (Band 2), ebenso auf neuen Quellen fußend, analysiert die zweite Phase der Ära Adenauer weniger positiv, hebt freilich dessen deutschlandpolitische Flexibilität hervor. Souverän fängt der Autor die außenpolitischen Konstellationen ein, etwa Adenauers Regierungskunst beim Streit um das Berlin-Ultimatum von 1958. Für die Innenpolitik gilt das nicht gleichermaßen. So bleibt die Sicht auf die „Spiegel“Affäre eher blass. Schwarz, der die Adenauer-Ära als „Epoche des Übergangs“16 kennzeichnet, macht anhand eines acht Punkte umfassenden Kriterienkataloges deutlich (außenpolitische Rahmenbedingungen; wirtschaftliche Entwicklung; politische Kultur; Parteiensystem und Parlamentarismus; Verfassungsordnung; Gesellschaftsstruktur; Bürokratie, Justiz, Militär; politische Führung), dass „Bonn nicht Weimar“ sei, wobei den außenpolitischen Faktoren das größte Gewicht zukommt. Mit diesem Band hat sich Schwarz gleichsam „freigeschrieben“ und den Weg zu den folgenden AdenauerBänden geebnet – nach dem Essayband über die „gezähmten Deutschen“, dessen Untertitel durch Richard von Weizsäckers modifizierten Gebrauch17 weithin bekannt geworden ist. Der nüchterne Realist plädiert – ungeachtet der historischen Irritationen – für eine „verantwortliche Machtpolitik“18. Die mehr als 2.000 Seiten umfassende zweibändige Biographie zu Adenauer, vor und nach der deutschen Einheit publiziert,19 ist ein zeitgeschichtliches, weniger politik14 Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949–1957, Stuttgart/Wiesbaden 1981, S. 450. 15 Noch stärker jetzt Arnulf Baring, Der Unbequeme. Autobiografische Notizen, Berlin 2013, S. 129 f.: „Die fünfziger Jahre [...] sollten das meiner Meinung nach beste und erfolgreichste Jahrzehnt der Bundesrepublik werden.“ 16 So Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957–1963, Stuttgart/Wiesbaden 1983, S. 323. 17 Richard von Weizsäcker erinnerte an das Wort von Hans-Peter Schwarz über Deutschlands Weg „von der Machtversessenheit [!] zur Machtvergessenheit“: „Nach meiner Überzeugung ist unser Parteienstaat von beidem zugleich geprägt, nämlich machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgabe.“ So Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunther Hofmann und Werner A. Perger, Frankfurt a. M. 1992, S. 164. 18 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985, S. 13. 19 Vgl. ders., Adenauer. Bd. 1: Der Aufstieg: 1876–1952, Stuttgart 1986; ders., Der Staatsmann: 1952– 1967, Stuttgart 1991.
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wissenschaftliches Meisterwerk: quellengesättigt, die Person Adenauers in die Zeitumstände einordnend, fesselnd geschrieben. Auch von Schwarz, dessen hermeneutisches Vorgehen Kritikern vielfach als apologetisch gilt, fehlten frühzeitige Hinweise auf den Zusammenbruch des Sowjetkommunismus im Allgemeinen oder den Kollaps der DDR im Besonderen.20 Macht er es sich im Nachwort des „Staatsmannes“ mit den folgenden Sätzen daher nicht zu einfach? Er habe im ersten Band „in Aussicht gestellt, ‚ein endgültiges Fazit über Adenauers Wiedervereinigungspolitik‘ am Ende des zweiten Bandes vorzulegen. Die Geschichte hat mir diese Arbeit abgenommen. Das Buch ist im Jahre 1990 geschrieben worden, das die Befreiung der Deutschen in der DDR und gleichzeitig die staatliche Wiedervereinigung Deutschlands als Teil der westlichen Gemeinschaften gebracht hat. Dies wurde möglich in einer Konstellation westlicher Einigkeit und Stärke, doch auch sowjetischer Schwäche und vernünftiger Neubewertung der eigenen Interessen im Zeichen der Ost-West-Entspannung. Genau dies war nach dem Zeugnis zahlreicher Quellen [...] Adenauers langfristiger Kalkül seit 1952.“21 Die enge Verbindungslinie zwischen dem Wirken Adenauers und der deutschen Einheit wirkt konstruiert, und sie berücksichtigt eine Reihe anderer Faktoren nicht – wie die ökonomische Schwäche der Sowjetunion, die Gorbatschow auf den Plan rief. Gerechter wäre vielleicht das folgende Urteil: Weder die Westpolitik Adenauers noch die Ostpolitik Brandts hat die deutsche Einheit verhindert. Jens Hacke hat in dem Band „50 Klassiker der Zeitgeschichte“ auch dieses Zitat „aufgespießt“, und er wendet bei allem Lob ein, das Urteil über Adenauer könnte angesichts von dessen innenpolitischen Defiziten etwas kritischer ausfallen.22 In der Tat beschönigt Schwarz zwar die Fehler des „Alten von Rhöndorf “ nicht, doch fließen diese in sein sehr positives Adenauer-Urteil wenig ein. Ein weiteres (und wohl letztes?) Mal unterzog sich Schwarz der Aufgabe, „das Studium dieses nunmehr schon fern gerückten George Washington der Bundesrepublik“23 zu würdigen, nun stärker unter systematischen Gesichtspunkten. Bei dem Titel des Essays „Anmerkungen zu Adenauer“ und dem siebengliedrigen Aufbau – Leben – Leistungen – Außenpolitik – Verrat? – Modernisierung – Nachtseiten – Was bleibt? – ließ er sich von Sebastian Haffner inspirieren. Offenbar will Schwarz mit der Anlehnung an Haffners „Hitler“ zeigen: Adenauer verkörperte im Positiven das, was Hitler im Negativen war – ein großer Deutscher. Schließlich erwähnt er gleich eingangs die Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach: Adenauer rangiert bei der Frage 20 Selbst Zbigniew Brzezinski, der als einer der wenigen früh von einem „gescheiterten Experiment“ gesprochen hatte, sah die DDR als das zweitstabilste System innerhalb des Ostblocks an. Vgl. ders., Das gescheiterte Experiment. Der Untergang des kommunistischen Systems, Wien 1989, S. 267. 21 Hans-Peter Schwarz, Der Staatsmann (Anm. 18), S. 991. 22 Vgl. Jens Hacke, Die Faszination des Gründungskanzlers. Eine Adenauer-Biographie als bundesrepublikanische Identitätsstiftung, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 196–199. 23 Hans-Peter Schwarz, Anmerkungen zu Adenauer, München 2004, S. 8.
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nach dem größten Deutschen in der Geschichte ununterbrochen seit 1958 auf dem ersten Platz. Die Abschlussfrage ist rhetorischer Natur, obwohl das Urteil zu Adenauer in diesem Band etwas distanzierter ausfällt: „Soll man, darf man sich heute an der Spitze der dahinsiechenden Bundesrepublik eine Persönlichkeit wie Adenauer wünschen, die mit gelegentlich recht unkorrekten Methoden das blockierte Deutschland runderneuern?“24 Was an den vielen Adenauer-Studien und -Aufsätzen positiv auffällt: Schwarz wiederholt sich sprachlich nicht (inhaltlich naturgemäß schon), findet immer neue funkelnde Aperçus. Die beiden Texte über die „Zentralmacht Europas“ (1994) und die „Republik ohne Kompass“ (2005), jeweils über 300 Seiten umfassend und für die Maßstäbe von Schwarz damit „schmal“ ausgefallen, knüpfen in gewisser Weise an die „gezähmten Deutschen“ an. In diesen lebendig geschriebenen außenpolitischen Studien – zugleich vergangenheits- wie zukunftsorientiert – hat Schwarz mit Nachdruck die Notwendigkeit betont, angesichts mannigfacher Fährnisse „Macht“ entschlossen und besonnen zugleich wahrzunehmen.25 Der erstgenannte Band erinnert an die Zäsur des 1. September 1994 (den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland) und arbeitet die außenpolitischen Konstellationen des europäischen Staatensystems unter eingehender Berücksichtigung von Deutschlands Rolle heraus. Die Kernthese lautet: Es gibt nur ein europäisches Land, „das dank geographischer Lage, dank wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und kultureller Ausstrahlung, dank Größe und dank immer noch vorhandener Dynamik die Aufgabe einer Zentralmacht wahrnehmen muss – und das ist eben Deutschland.“26 Die leidvolle Geschichte gehöre zu den „Gespenstern der Vergangenheit“, so die Überschrift des zweiten Kapitels. Was Schwarz am Ende unter dem Titel „Deutsches Selbstgespräch“ bietet, ist süffisant geschrieben, deckt deutsche Traumata wie Neurosen auf. Wie seine „Bibliographie raisonnée“ erhellt, weiß Schwarz, wovon er spricht. War in dem vorherigen Buch die Sorge erkennbar, in einer instabilen Welt könne Deutschland dem Westen abtrünnig werden, so konkretisieren seine „Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik“ diese Gefahr (nicht nur) am Beispiel der rot-grünen Bundesregierung. Erneut plädiert der Autor für eine klare Wahrnehmung eigener Interessen. Darunter wird nicht eine deutsch-russische Affinität verstanden, wie sie jedenfalls zeitweise das Kabinett Schröder/Fischer betrieben hatte. Zu den vier Leitlinien deutscher Staatsräson zählt Schwarz die Akzeptanz der atlantischen Gemeinschaft, die Konsolidierung der Europäischen Union (gleichbedeutend mit einer Abkehr vom Traum eines europäischen Bundesstaates), maßvolles weltpolitisches Engagement, die 24 Ebd., S. 202. 25 Zur Einordnung vgl. jeweils unter dem Titel „Mentalitätsgeschichtliche Prägungen der deutschen Außenpolitik“ die Aufsätze von Werner Link (mit Fragezeichen) und Stefan Fröhlich (ohne Fragezeichen), in: Frank Decker u. a. (Anm. 3), S. 39–48, S. 49–57. 26 Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994, S. 8.
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Verbesserung der ökonomischen Eckdaten: „Viel zu wenig wird erkannt, dass Deutschland nur dann global und europäisch zur ersten Adresse wird, wenn es an die einstige wirtschaftliche Erfolgsgeschichte erneut anknüpfen kann.“27 Hans-Peter Schwarz gehört zu den wenigen Politikwissenschaftlern, die in ihre Analysen (angefangen bei der Habilitationsschrift) die wirtschaftlichen Faktoren intensiv einfließen lassen. Es gilt drei biographische Mammutwerke von zusammen fast 3.000 Seiten zu würdigen: „Das Gesicht des 20. Jahrhunderts“ lässt in neun Kapiteln politische Persönlichkeiten Revue passieren, die das Säkulum geprägt haben (u. a. Hitler, Lenin, Mussolini, Stalin), darunter weniger bekannte Namen wie Herbert Asquith und Stanley Baldwin. Den Vergleich der Rolle von Persönlichkeiten in der Geschichte und Politik hat die Politikwissenschaft vernachlässigt.28 Schwarz betritt damit Neuland. Die Porträtgalerie rahmen zwei stärker systematisierende Abschnitte ein. In der Neuauflage finden sich unter dem Titel „Im Übergang vom 20. Jahrhundert zum 21. Jahrhundert“ u. a. Skizzen zu Silvio Berlusconi, Tony Blair, Bill Clinton und – aktueller geht es kaum – Angela Merkel. Abermals ist ein pessimistischer Grundtenor nicht zu überhören: „Wer je erwartet hatte, der Beginn des 21. Jahrhunderts werde einen Zustrom von Zuversicht und neuen Impulsen bringen vergleichbar der berauschenden Aufbruchstimmung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, sieht sich enttäuscht. Alle Skeptiker haben recht behalten.“29 Wohl in keinem seiner Bücher schreibt Schwarz so schnoddrig-salopp (der Untertitel deutet das bereits an) wie bei diesen biographischen Essays, kleinen „Perlen“ der Schreibkunst. Detaillierter fallen die beiden großen Biographien über Axel Springer (2008) und Helmut Kohl (2012) aus.30 Gleich Adenauer stehen ihm die Porträtierten politisch nahe, doch ist das Ergebnis, erneut Ausfluss langjähriger Recherchearbeiten, keineswegs unkritisch. Wie Schwarz nachweist, ging der wohl umstrittenste und bedeutendste Verleger, der zeit seines Lebens an die Wiedervereinigung geglaubt hat, erst nach seinem gescheiterten Moskau-Besuch 1958, bei dem er nichts „bewegen“ konnte, auf Distanz zur Sozialdemokratie. Insgesamt kann der „Bonner“ Schwarz mit dem „Berliner“ Springer wenig anfangen, wenngleich ihre Positionen in der Ablehnung der „68er“ weithin konvergier(t)en. Abermals kommt „Spottvogel“ Augstein nicht gut weg, milde formuliert, auch nicht im Buch über Kohl, dem „Parteitier“. Schwarz hält Kohls politische Grund-
27 Ders., Republik ohne Kompass. Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik, Berlin 2005, S. 310. 28 Vgl. als eine Ausnahme: Jürgen Hartmann, Persönlichkeit und Politik, Opladen 2007. Mit Blick auf Schwarz: Xuewu Gu, Die Bedeutung der personenbezogenen Politikforschung für die Politikwissenschaft, in: Frank Decker u. a. (Anm. 3), S. 67–76. Siehe zusammenfassend Alexander Gallus, Politikwissenschaft (und Zeitgeschichte), in: Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart/Weimar 2009, S. 382–387. 29 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Das Gesicht des 20. Jahrhunderts. Monster, Retter, Mediokritäten, 2. Aufl., München 2010, S. 794. 30 Vgl. Axel Springer, Die Biografie, Berlin 2008; ders., Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012.
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entscheidungen prinzipiell für richtig (er habe als wichtigster Architekt das dritte europäische Nachkriegssystem31 – nach 1918 und nach 1945 – geprägt), meldet aber Bedenken gegenüber dem „Großprojekt“ der Europäischen Währungsunion an, keineswegs erst nach dem Finanzdebakel. Zudem habe Kohl den überdehnten und kostspieligen Ausbau des Sozialstaates nicht gebremst, ihn vielmehr auf die neuen Bundesländer übertragen. Gleichwohl sei die Eingliederung der DDR in den deutschen Gesamtstaat die größte gelungene Reform in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Beide Biographien sind für den Zeithistoriker aufschlussreicher als für den Politikwissenschaftler. Immerhin findet sich in der Kohl-Biographie am Ende eines jeden Kapitels eine Betrachtung eher struktureller Art: Die Generation von 1945 und die Parteien – Nach dem Wirtschaftswunder – Die kurzen achtziger Jahre – Der deutsche Kernstaat – Helmut Kohl und das dritte europäische Nachkriegsjahrzehnt – Am Ende des Tages. Wenigstens knapp sei auf vier von Schwarz (mit-)herausgegebene voluminöse Sammelbände hingewiesen, zwei zur internationalen Politik, zwei zur Bundesrepublik Deutschland. Das „Handbuch zur deutschen Außenpolitik“, das erste seiner Art, blieb lange ohne Konkurrenz, und Schwarz steuerte gleich vier akzentuierte Abhandlungen bei: zur Bundesregierung und zu den auswärtigen Beziehungen, zu den Ost-WestSpannungen als Rahmen deutscher Außenpolitik, zur westdeutschen Sicherheitspolitik sowie zur Entwicklungshilfe.32 Die mit Karl Kaiser editierte „Weltpolitik“, eine große Synthese, erfuhr drei Auflagen (1985, 1995, 2000), die wegen der Tektonik der weltpolitischen Konstellationen jeweils grundlegender Aktualisierungen bedurften. Trug die zweite Auflage dem Ende des Sowjetkommunismus Rechnung, so die dritte der voranschreitenden Globalisierung. Hans-Peter Schwarz widmet sich den weltpolitischen Perspektiven im Wandel der Zeiten.33 Wie oft bei ihm klingt düstere Skepsis an – „eine Reprise der Katastrophenepoche 1914 bis 1953“34 sei nicht auszuschließen. Die repräsentativen anderen beiden Werke kommen als opulente und interdisziplinär angelegte Bilanzen daher: zu 25 und 60 Jahren Existenz der Bundesrepublik Deutschland. In dem ersten Band, der nahezu alle wichtigen Exponenten aus den jeweiligen Gebieten versammelt, besonders der Politikwissenschaft35, analysiert Schwarz die außenpolitischen Grundlagen der Bundesrepublik und die künftigen Perspektiven.36 Bei der Zukunft war er wohl zu pessimistisch, bei der Vergangenheit realistisch. In der Bilanz zu deutschen 31 Der Begriff ist unglücklich: Schließlich hat es nur zwei Weltkriege gegeben – und einen Kalten Krieg. 32 Vgl. Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Handbuch der deutschen Außenpolitik, München 1975, S. 43–112, S. 465–479, S. 479–497, S. 723–739. 33 Vgl. ders., Weltpolitik im alten Jahrhundert: Drei Perspektiven – 1900, 1995, 1999, in: Karl Kaiser/ ders. (Hrsg.), Weltpolitik im neuen Jahrhundert, Baden-Baden 2000, S. 13–39. 34 Ebd., S. 37. 35 Darunter allein zehn der in diesem Band Porträtierten: Karl Dietrich Bracher, Ernst-Otto Czempiel, Thomas Ellwein, Theodor Eschenburg, Manfred Hättich, Wilhelm Hennis, Richard Löwenthal, Hans Maier, Hans-Peter Schwarz, Rudolf Wildenmann. 36 Vgl. Richard Löwenthal/Hans Peter Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 27–63, S. 927–959.
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Jubiläumsbilanzen heißt es abermals skeptisch: „Menschen, die einmal den Untergang erlebt haben, fühlen sich auch auf den schönsten Traumschiffen nie mehr ganz sicher.“37
3.
Schulgründung und Wissenschaftsmanagement
Eine Schule hat Hans-Peter Schwarz, obwohl einer der führenden Köpfe der deutschen Politikwissenschaft seit vier Jahrzehnten, nicht gegründet. Zum einen lehrte er nie übermäßig lange an einem Ort: acht Jahre in Hamburg, 13 in Köln, zwölf in Bonn. So fehlte örtliche Kontinuität – wohl eine Voraussetzung für eine Schulbildung. Zum andern war Schwarz stark auf seine Publikationstätigkeit fixiert, nicht so sehr darauf, Mitstreiter für die eigene Sache zu gewinnen. Ihm machte es wenig aus, wider den Zeitgeist „anzuschreiben“, im Gegenteil. Der engste Schüler dürfte Hanns Jürgen Küsters gewesen sein. Auch wenn Schwarz nicht schulbildend gewirkt hat, so ist von ihm dennoch Einfluss auf jüngere Wissenschaftler an anderen Universitäten ausgegangen, u. a. dank seiner Geradlinigkeit, die Opportunismus nicht guthieß, und seiner Absage an jegliche Formen „politischer Korrektheit“. Bei ihm wurden immerhin 37 Wissenschaftler promoviert (neun in Hamburg, sieben in Köln, 21 in Bonn), darunter die späteren Professoren Xuewu Gu, Ernst Kuper, Volker Matthias, Peter Reichel, und neun habilitiert (Jürgen Dennert, Helga Haftendorn, Heino Kaack in Hamburg, Jens Hacker, Lothar Rühl in Köln, Stefan Fröhlich, Hanns Jürgen Küsters, Georg Schild, Wolfgang Wessels in Bonn). Die meisten von ihnen gelangten auf eine Professur, in der Regel auf eine für Politikwissenschaft. Schwarz’ Wissenschaftsmanagement als Beirats- und Kommissionsvorsitzender bzw. -mitglied nahm viel Zeit in Anspruch. So war er von 1977 bis 1997 Fachgutachter für Politische Wissenschaft der Alexander von Humboldt-Stiftung, von 1978 bis 2012 (Mit-)Herausgeber der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“, von 1982 bis 2006 Vorsitzender des Direktoriums des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, von 1985 bis 1989 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik, von 1987 bis 2006 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Zeitgeschichte. Er hat von 1987 bis 2004 das umfassende Editionsprojekt „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ im Auftrag des Auswärtigen Amts als Hauptherausgeber betreut (mit insgesamt 36 Bänden). Noch heute ist er Mitglied der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (seit 1980), Vorstandsmitglied der Konrad-Adenauer-Stiftung (seit 1985) sowie Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste (seit 1993). Seit 1983 verantwortet er mit Rudolf Morsey die Editionsreihe „Adenauer – Rhöndorfer Ausgabe“.
37 Hans-Peter Schwarz, 100 Jahre deutscher Jubiläumsbilanzen, in: Ders. (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln u. a. 2008, S. 12.
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Der Verfasser hat miterlebt, wie Schwarz als Beirats- und später als Stiftungsratsvorsitzender der Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung von 2002 an mit Geschick und Diplomatie nicht immer leicht zu bewältigende Probleme meistern konnte, ohne andere zu verletzen und die eigenen Interessen zu vernachlässigen. Der unerbittlich, manchmal schroff urteilende Wissenschaftler Schwarz legt gegenüber Andersdenkenden betont zivile und faire Umgangsformen an den Tag. Verlässlichkeit ist für ihn selbstverständlich, und er erwartet sie auch. Insofern war Schwarz – auf Konsens bedacht – in vielen Gremien der gleichsam „ideale“ Vorsitzende, den selbst die „andere Seite“ akzeptieren konnte. Die Posten bezogen sich fast durchweg auf die (Zeit-)Geschichte, nicht auf die Politikwissenschaft. In der Politikwissenschaft mischte er in den Gremien nicht mit. Zwischen 1969 und 1971 im Beirat der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft aktiv, zog er sich wegen der dortigen Ideologisierung schnell zurück. Schwarz gehörte stattdessen zu dem zehnköpfigen Gründerkreis der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft im Jahre 1983, und oft finden sich in ihren Jahrestagungsbänden seine Aufsätze abgedruckt. Im Vergleich zu seinem Bonner Vorgänger Bracher – mehr Schulgründer als Wissenschaftsmanager – verkehrt sich damit das Verhältnis von Schulgründung und Wissenschaftsmanagement. Wie Bracher entzog sich Schwarz nicht der Hilfe beim Aufbau der Politikwissenschaft in den neuen Bundesländern. So gehörte er den Berufungskommissionen für das Fach Politikwissenschaft an den Universitäten Jena und Rostock an.
4.
Kritische Würdigung
Was ein französischer Besucher nach einem Gespräch mit Ernst Jünger 1953 notiert hat, gilt für Hans-Peter Schwarz erst recht: „Il ne cache pas sa sympathie pour le chancelier Adenauer.“38 Allerdings traf dies anfänglich nicht zu. „Als Adenauer auf dem Höhepunkt seines Schaffens war, war er mir, einem jungen Studenten, sehr fremd, schon vom Alter her. Ich kann nicht behaupten, ein Adenauer-Fan gewesen zu sein. Im Gegenteil. Wir alle haben ähnlich wie die heutigen Studenten unsere Montagabende damit vertan, den ‚Spiegel‘ zu lesen. Das war schon damals eine Quelle der Desinformation – zumindest in Bezug auf Adenauer.“39 Die Sympathie für Adenauer, den Schwarz noch persönlich kennenlernen durfte (1966), und dessen Konzeption der Westintegration lief nicht auf ein Verschweigen der Schwächen des Kanzlers hinaus. Mit der Vielzahl seiner aus den Quellen gearbeiteten Adenauer-Werke besitzt Schwarz weithin die Deutungshoheit. Die „posthume Adenauersche Linke“ (Heinrich August Winkler) hat längst ihren Frieden mit ihm gemacht, weil sie in ihm einen Überwinder des Nationalismus 38 Zitiert nach Hans-Peter Schwarz (Anm. 8), S. 173. 39 Warum sind Biographien schizophren, Herr Professor Schwarz? Ein Interview von Sebastian Turner, in: Frankfurter Allgemeine Magazin vom 6. Mai 1988, S. 102.
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sieht. Nur sein Berliner Kollege Henning Köhler hat sich in einer ebenfalls monumentalen Adenauer-Biographie an Schwarz kritisch abzuarbeiten versucht.40 Er wirft ihm vor, einen Adenauer-Kult zu pflegen, dessen politische Konzeptionen zu stilisieren und als geradlinig zu interpretieren, Widersprüche einzuebnen sowie seine zurückhaltendbremsende Wiedervereinigungspolitik herunterzuspielen. Tatsächlich differieren die beiden Interpreten nicht grundlegend. Während Schwarz Köhler ignoriert, sieht dieser in jenem ein Feindbild. Was Köhler in der Wissenschaft ist, war Rudolf Augstein in der Publizistik: Seine so ungewöhnlich langen wie harschen „Spiegel“-Kritiken mit vielen Invektiven zu der zweibändigen Adenauer-Biographie erhellen „Hassliebe“ gegenüber Schwarz.41 Dieser hat – keineswegs bloß im Blick auf die Politik Adenauers – weniger von (vermeintlichen) „verpassten Gelegenheiten“42 gesprochen, sondern mehr von der „ausgebliebenen Katastrophe“43. Ihm liegt daran, den Handlungsspielraum von Politikern realistisch einzuordnen und nicht nachträglich besserwisserisch Aspekte einzubringen, die den handelnden Personen nicht vor Augen gestanden hatten. Vor allem ist ihm eine spezifische Art der Vergangenheitsbewältigung zuwider. Sarkastisch heißt es mit Blick auf die „Rufmordkampagne“ gegen Theodor Eschenburg: „Der deutsche McCarthyismus ist immer noch nicht zu stoppen.“44 Seinen Habilitationsvater hat er als „verehrungswürdige[s] Leitfossil“45 charakterisiert. Bei Schwarz sind Zäsuren und Epochen für die Einordnung des Geschehens stets von Belang.46 Er lässt sich nicht zu jenen Politikwissenschaftlern rechnen, die methodisches Wassertreten betreiben und theoriebeflissen argumentieren. Davor schützt ihn seine handfeste historische Ausrichtung, die in dem zweibändigen Werk zur Ära Adenauer ebenso zur Geltung kommt wie in der zweibändigen Adenauer-Biographie.
40 Vgl. Henning Köhler, Adenauer. Ein politische Biographie, Frankfurt a. M./Berlin 1994. 41 Vgl. Rudolf Augstein, „Ein Hohenzoller oder meinetwegen auch Hitler“, in: Der Spiegel vom 29. September 1986, S. 273–291; ders., Powerplay im rheinischen Bonn, in: Der Spiegel vom 7. Oktober 1991, S. 84–103; hingegen fällt die überschwängliche Würdigung von Köhler durch Augstein eher schmal aus. Siehe ders., „Nix zo kriesche“, in: Der Spiegel vom 10. Oktober 1994, S. 252–257. 42 Vgl. etwa: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die Legende von der verpassten Gelegenheit. Die StalinNote vom 10. März 1952, Stuttgart/Zürich 1982. 43 Vgl. ders., Die ausgebliebene Katastrophe. Eine Problemskizze zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Hermann Rudolph (Hrsg.), Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 151–174. 44 Ders. in einem Brief an den Verfasser vom 29. Oktober 2013. 45 Ders., Ein Leitfossil der frühen Bundesrepublik – Theodor Eschenburg (1904–1999), in: Bastian Hein/ Manfred Kittel/Horst Möller (Hrsg.), Gesichter der Demokratie. Porträts zur deutschen Zeitgeschichte, München 2012, S. 192. 46 Vgl. u. a. ders., Die fünfziger Jahre als Epochenzäsur, in: Jürgen Heideking/Gerhard Hufnagel/Franz Knipping (Hrsg.), Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift für Gerhard Schulz, Berlin/New York 1989, S. 473–496; ders., Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 5–28.
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Seine Vorgehensweise hat ihn von Teilen der theorielastigen Politikwissenschaft etwa im Bereich der Internationalen Politik entfremdet. Umgekehrt gilt das ebenso. Wer dazu neigt, den Gelehrten weniger als Politikwissenschaftler einzuordnen, dem sei zur Lektüre des Bandes über die CDU/CSU im Deutschen Bundestag geraten. In fünf Beiträgen analysiert Schwarz den unterschiedlich hohen Einfluss der Bundestagsfraktionen auf Entscheidungsprozesse in der Union wie in der Regierung.47 Der Porträtierte ist nicht zuletzt ein glänzender Stilist, der Konstellationen anschaulich einfängt, Situationen eindringlich schildert und Persönlichkeiten facettenreich charakterisiert48 – leicht spöttisch mit einem gewissen Hang zum Sarkasmus, ohne aber verletzend zu sein. Seine Sottisen entspringen einer flotten Feder, seine Porträts weisen zuweilen eine „literarische Verdichtung“49 auf, auch wenn der manchmal herablassend-grimmige Tonfall gegenüber Personen mit anderen Positionen Kritiker stören mag. Die Mitgliedschaft in der CDU war für ihn kein Nachteil – im Gegenteil. So gelangte er früher als andere an Material der Partei, an Nachlässe und Privatarchive. Das ist die eine Seite. Die andere: Seine wissenschaftliche Unabhängigkeit hat darunter nicht gelitten. Stets schwingt bei ihm die Sorge mit, die Politik könne einen negativen Verlauf nehmen. Insofern ist auch er ein „Enkel Adenauers“ – eine Wendung, die gemeinhin ein anderer in Anspruch nimmt. Ein Manko: Schwarz hat es im Gegensatz zu seinem Bonner Vorgänger Bracher bisher versäumt, die vielfältigen Aufsätze, wahrlich nicht für den Tag geschrieben, in Sammelwerken zu bündeln. Darunter sind meisterhafte Abhandlungen auf den unterschiedlichsten Feldern der Politikwissenschaft und der Zeitgeschichte. Um nur einige zu nennen: zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, zur Zukunft der Demokratie, zu Fragen an das 20. Jahrhundert, zur Rezeption der Wiedervereinigungsgedankens vor der deutschen Einheit, zum demokratischen Verfassungsstaat in Deutschland, zu den internationalen Rahmenbedingungen nach dem Ende des Sowjetkommunismus, zur Rolle des Staates in der Krise.50 Wer diese und andere Aufsätze berücksichtigt,
47 Vgl. ders. (Hrsg.), Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute, München 2009, S. 9–37, S. 181–199, S. 201–226, S. 229–252, S. 277–314. 48 Insofern richtet sich der zynisch-despektierliche Ton in dem folgenden Text selbst: Gerhard Henschel, Bombenfest im Sattel. Über den Historiker Hans-Peter Schwarz, in: Merkur 68 (2014), S. 195–201. 49 So Horst Möller, Hans-Peter Schwarz zum 70. Geburtstag, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52 (2004), S. 564. 50 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die Politik der Westbindung oder: Die Staatsraison der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Politik 22 (1975), S. 307–337; Die Zukunft der Demokratie im 20. Jahrhundert, in: Manfred Funke u. a. (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher zum 65. Geburtstag, Düsseldorf 1987, S. 598–613; Fragen an das 20. Jahrhundert, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 1–36; Mit gestopften Trompeten. Die Wiedervereinigung Deutschlands aus der Sicht westdeutscher Historiker, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 683–704; Der demokratische Verfassungsstaat im Deutschland des 20. Jahrhunderts – Gründung und Niedergang,
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merkt schnell, wie wenig tragfähig der Vorwurf ist, Schwarz, politisch ein Konservativer, wirtschaftlich ein Liberaler (oft heißt es, die großzügige deutsche Sozialpolitik provoziere in der Zukunft Probleme), verabsolutiere eine personalistische Sichtweise der Politik, wenngleich er eine auf Strukturen fixierte Perspektive verwirft. Das war auch zu einer Zeit der Fall, als diese Forschungsrichtung dominiert hatte. Was Schwarz allein seit den 1980er Jahren publiziert hat, ist überwältigend.
5.
Rezeption im Fach und in der Öffentlichkeit
Eine der umfangreichsten politikwissenschaftlichen Festschriften in der Bundesrepublik Deutschland ist die Hans-Peter Schwarz gewidmete Gabe mit 853 Seiten aus der Feder von 64 Kollegen und Schülern. Der älteste Autor: Hans von der Groeben (Jahrgang 1907), langjähriges Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der jüngste (Jahrgang 1965) Carsten Giersch, seinerzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter des geehrten Gelehrten. Der Band spiegelt das breite wissenschaftliche Œuvre des Jubilars wider. Die Themen reichen von A bis Z – von der Außenpolitik Adenauers bis zum „Zeitgeist“ und zur Zeitkritik. Neun der in diesem Band Porträtierten sind in der Festschrift vertreten: Karl Dietrich Bracher, Helga Haftendorn, Wolfgang Jäger, Karl Kaiser, Peter Graf Kielmansegg, Werner Link, Hans Maier, Dieter Oberndörfer, Kurt Sontheimer, darunter also vier „Freiburger“. Schwarz hat es sich nicht nehmen lassen, an über 30 Festgaben von Politikwissenschaftlern, Historikern und Politikern (aus dem Umfeld der Union) mitzuwirken. Für vier Festschriften (Karl Dietrich Bracher, Kommissionsmitglied Hans von der Groeben, Hans-Adolf Jacobsen und Rudolf Morsey) fungierte er als Mitherausgeber. Internationale Anerkennung erfuhr er durch Gastprofessuren am St. Antony’s College in Oxford (1970), am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington (1975/76) sowie an der Johns-Hopkins Universität in Bologna (2000/01). In der deutschen Politikwissenschaft ist es dagegen weniger gut um sein Ansehen bestellt. Wurde er 1986 zum achtwichtigsten Vertreter der Politikwissenschaft gerechnet (sowie zum zweitwichtigsten im Feld Politische Geschichte/Zeitgeschichte – nach Bracher – und viertwichtigsten in der Internationalen Politik)51, so tauchte sein Name
Bewährung und Herausforderung, in: Klaus Dicke (Hrsg.), Der demokratische Verfassungsstaat in Deutschland. 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 50 Jahre Grundgesetz, 10 Jahre Fall der Mauer, Baden-Baden 2001, S. 11–26; Die deutsche Demokratie und die internationalen Rahmenbedingungen nach 12 Jahren: 1931, 1957 und 2002, in: Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Nach der Diktatur. Demokratische Umbrüche in Europa – zwölf Jahre später, Weimar 2003, S. 155–195; Der Staat im Notfall, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), Renaissance des Staates?, Baden-Baden 2011, S. 21–39. 51 Vgl. Harro Honolka, Reputation, Desintegration, theoretische Umorientierungen. Zu einigen empirisch vernachlässigten Aspekten der Lage der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, in: Klaus von Beyme (Hrsg.), Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland (= Sonderheft 17 der Politischen Vierteljahresschrift), Opladen 1986, S. 48, S. 50.
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1996 nur bei der Politikberatung auf dem sechsten und bei der öffentlichen Bedeutung auf dem achten Platz auf.52 2006 fehlt Schwarz ganz. Solche Rankings tauchen hier lediglich auf, um den Ansehensverlust einer historisch fundierten Politikwissenschaft zu demonstrieren. Was sein Bild in der Öffentlichkeit betrifft, hat Schwarz sich durch seine lebendig geschriebenen Studien einen Namen gemacht, ist seine Bekanntheit wie sein Einfluss gewachsen. So findet sich sein Name beim letzten „Cicero“-Ranking, das ausschließlich die öffentliche Sichtbarkeit von Intellektuellen misst, auf dem 117. Platz.53 Er rangiert von den Politikwissenschaftlern damit auf den fünften Platz. Zumal Biographien über prägende Gestalten finden ihre „Abnehmer“ weit über die Profession hinaus. Als Publizist ist Schwarz ohnehin seit Jahrzehnten aktiv. Hatte er Anfang der 1970er Jahre eine Kolumne in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ (dank der Bekanntschaft zu Wolfgang Wagner, dem Chefredakteur dieser Zeitung und zugleich des „EuropaArchivs“), schrieb er später, nach der deutschen Einheit, regelmäßig für die „Welt“ (1991 bis 1996), weniger häufig für den „Rheinischen Merkur“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sein Fazit: „Der Journalismus hat mir immer Spaß gemacht.“54 Die Ehrungen sind zahlreich: Schwarz erhielt 1988 den Historikerpreis der Stadt Münster, 1996 den Konrad-Adenauer-Preis der Deutschlandstiftung und 1999 den Ernst-RobertCurtius-Preis für Essayistik. 1992 war dem Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse (1984) die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg zuerkannt worden, 2003 das Große Bundesverdienstkreuz. Eine umfassende Studie zu seinem Leben und zu seinem Werk fehlt bisher. Wer diese Herkulesarbeit auf sich nimmt, darf nicht vergessen, dass Schwarz von der Soziologie kommt, wovon u. a. sein früher Beitrag zur Kooperation der Politwissenschaft mit der Soziologie zeugt.55 Hans Maier hat das Defizit der „Schwarz-Forschung“56 nachdrücklich angemahnt. Der junge Hans-Peter Schwarz soll als Erster die Politikwissenschaft als „Demokratiewissenschaft“ bezeichnet haben57 – und keiner der Gründungsväter des Faches.
52 Vgl. Hans-Dieter Klingemann/Jürgen W. Falter, Die deutsche Politikwissenschaft im Urteil der Fachvertreter. Erste Ergebnisse einer Umfrage von 1996/97, in: Michael Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens? 20. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Opladen 1998, S. 333. 53 Vgl. Die Liste der 500, in: Cicero, Heft 1/2013, S. 23. 54 So Hans-Peter Schwarz in einem Schreiben an den Verfasser vom 29. Oktober 2012. 55 Vgl. ders., Probleme der Kooperation von Politikwissenschaft und Soziologie in Westdeutschland, in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Traditionen und Theorie, Freiburg i.Br. 1962, S. 297–333. 56 Hans Maier (Anm. 3), S. 79. 57 In diesem Sinne Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 325.
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6.1. Primärliteratur58 Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg/Brsg. 1962. Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945–1949, Neuwied/Berlin 1966 (2. Auflage 1980). Zwischenbilanz der KSZE, Stuttgart 1977. Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik. 1949–1957, Stuttgart/Wiesbaden 1981. Die Ära Adenauer. Epochenwechsel. 1957–1963, Stuttgart/Wiesbaden 1983. Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985. Adenauer. Der Aufstieg. 1876–1952, Stuttgart 1986 (auf Englisch 1995, auf Spanisch 2003). Adenauer. Der Staatsmann. 1952–1967, Stuttgart 1991 (auf Englisch 1997, auf Spanisch 2003). Begegnungen an der Seine. Deutsche Kanzler in Paris, Zürich 1993. Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994. Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter, Mediokritäten, Berlin 1998 (erweiterte Neuauflage unter dem Titel: Das Gesicht des 20. Jahrhunderts. Monster, Retter, Mediokritäten, München 2010). Anmerkungen zu Adenauer, München 2004 (Neuauflage 2006; auf Englisch 2011). Republik ohne Kompass. Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik, Berlin 2005. Phantastische Wirklichkeit. Das 20. Jahrhundert im Spiegel des Polit-Thrillers, Stuttgart 2006. Axel Springer. Die Biografie, Berlin 2008. Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012.
6.2. Sekundärliteratur Decker, Frank u. a., Hans-Peter Schwarz zum 70. Geburtstag, Beiträge des Symposions am 13. Mai 2004 an der Universität Bonn 2004. Köhler, Henning, Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt a. M./Berlin 1994. Küsters, Hanns Jürgen, Wissenschaftler aus Leidenschaft. Streifzüge eines Markgräflers über Hamburg und Köln nach Bonn, in: Peter R. Weilemann/Hanns Jürgen Küsters/Günter Buchstab (Hrsg.), Macht und Zeitkritik. Festschrift für Hans-Peter Schwarz zum 65. Geburtstag, Paderborn 1999, S. 807–819. Möller, Horst, Hans-Peter Schwarz zum 70. Geburtstag, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52 (2004), S. 563–568. Wirsching, Andreas, Eine Institution – Zu Hans-Peter Schwarz‘ Abschied von den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 121–126.
58 Eine vollständige Bibliographie bis 1999 findet sich in der Festschrift für Hans-Peter Schwarz (Anm. 1), S. 825–842.
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Antifaschismus in der Ideokratie der DDR – und die Folgen. Das Scheitern (?) einer Integrationsideologie Der Antifaschismus war und ist immer noch eine verbreitete Weltanschauung. Er fand in der DDR bei politischen Eliten, bei der Masse der Bevölkerung und bei Oppositionellen Anklang – freilich in unterschiedlicher Intensität und Interpretation. Wer Antifaschismus propagierte, geriet in die argumentative Offensive, am Ende der SED-Diktatur allerdings nicht mehr so stark wie am Anfang. Eine Kernfrage lautet: Worin besteht die „Antifaschismusfalle“? Eine andere: Ist ein Anknüpfen an antifaschistische Denkmuster sinnvoll?
1.
Scharpings Frage
„Wie konnte aus Antifaschismus ein neues totalitäres System erwachsen?“1 Diese Worte des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping, die sich auf die Zeit nach 1945 und die DDR beziehen, erstaunen. Für Scharping steht Antifaschismus offenbar in einem Gegensatz zu Extremismus und Totalitarismus. Der folgende Text will nicht nur den Gründen für dieses Missverständnis nachgehen, sondern auch ansatzweise klären, wie stark der Antifaschismus in der DDR verankert war – bei der politischen Elite, bei der Masse der Bevölkerung und bei „alternativen“ Kräften, die gegen das kommunistische Regime in dieser oder jener Weise aufbegehrten – und ob sich dies im Laufe der Jahre gewandelt hat. Schließlich ist zu fragen, wie nach 1989 der Antifaschismus der DDR gesehen wird und wie die Nachfolgepartei der SED heute damit umgeht.
2.
DDR als Ideokratie
Bei Ideokratien, ideologiegeleiteten Autokratien oder Weltanschauungsdiktaturen (die Terminologie ist unterschiedlich) handelt es sich um solche Diktaturen, in denen der monistischen Ideologie, die einen „neuen Menschen“ und ein „neues Denken“ zu schaffen sucht, ein zentraler Platz zufällt.2 Die DDR war eine solche Ideokratie. Die SED-Diktatur basierte auf drei Säulen: der monistischen Ideologie, vielfältigen Integrationsmechanismen und der Repression.3 Die Ideologie soll eine Anleitung zum Handeln für 1 2 3
Rudolf Scharping, Trotz aller Zweifel ein Gewinn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11. Oktober 1995. Vgl. etwa Manuel Becker, Die Ideokratie als Herrschaftsform. Potentiale eines vergessenen Begriffs in der aktuellen Autokratieforschung, in: Zeitschrift für Politik 58 (2011), S. 148–169. Die Terminologie differiert in der Forschungsliteratur. So spricht Hermann Weber mit Blick auf die DDR von der Ideologie des „Marxismus-Leninismus“; von „Neutralisierung“, praktiziert von der politischen Führung, um den Bürgern zumindest Passivität abzuverlangen; sowie von Terror und „Zersetzung“ gegen Widerspenstige. Vgl. ders., Kommunistische Traditionslinien in der DDR, in: Detlev Brunner/Mario Niemann (Hrsg.), Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung, Paderborn u. a. 2011, S. 37–54, insbes. S. 41.
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die politische Elite sein, aber sie reicht nicht aus, um Massenloyalität herzustellen; und durch Repression allein kann sich auf Dauer keine Diktatur lange halten. Insofern bedarf es einer Klammer zwischen der Ideologie und der Repression. Dies leisten integrative Faktoren wie etwa bestimmte Maßnahmen im Bereich der Sozialpolitik oder Anknüpfungspunkte an Positionen und Personen der Vergangenheit. Das Thema „Antifaschismus“ gehört weithin zum Bereich der Integrationsmechanismen, wollte doch nach dem Ende des in jeder Hinsicht diskreditierten Nationalsozialismus keiner „mitgemacht“ haben und die Gegnerschaft gegen Holocaust und Rassenwahn sollte die politischen Mehrheiten schaffen, die mit der marxistischen Ideologie nicht zu gewinnen waren. „Antifaschismus“ konnte freilich auch eine ideologische und eine unterdrückende Funktion annehmen. Er stellte somit – ideologisch, repressiv und integrativ – eine tragende Säule des autokratischen Gefüges der DDR dar.
3.
Antifaschismus und die politische Führung
Antifaschismus war in der DDR Staatsdoktrin. In der Neuausgabe des „Kleinen Politischen Wörterbuches“ von 1988, dem kanonische Geltung zukam, gab es nicht nur den Begriff „Antifaschismus“, sondern auch die einschlägigen Stichworte „antifaschistischdemokratische Umwälzung“, „antifaschistisch-demokratische Verwaltungsorgane“, „Antifaschistische Aktion“, „antifaschistische Jugendausschüsse“, „antifaschistischer Schutzwall“, „antifaschistische Widerstandsbewegung“. Allein dieser Sachverhalt belegt die Relevanz, die der SED-Staat der Thematik zumaß. „Antifaschismus“ war stark auf die Vergangenheit bezogen – als Kampf gegen die „offene Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen und imperialistischen Kreise des Finanzkapitals“, so die berühmte Dimitroff-Definition. Nur knapp fiel der Blick auf die Gegenwart aus. „Der A[ntifaschismus] der Gegenwart ist wichtiger Bestandteil des internationalen Kampfes für Demokratie und Frieden sowie gegen die neofaschistischen Bewegungen. Seine stärkste Stütze hat er in den sozialistischen Staaten.“4 Die letzte Formulierung ließ offen, ob auch andere Länder Stütze des Antifaschismus seien oder „nur“ sozialistische Kräfte in diesen Staaten. Schnell verengte sich nach 1945 der zunächst überall anzutreffende Antifaschismus bei der SED auf die Durchsetzung kommunistischer Maßnahmen. Das galt nicht nur für die Bodenreform nach 1945, sondern auch für die Niederschlagung der Volkserhebung am 17. Juni 1953 („faschistischer Putsch“) und den Bau der Mauer am 13. August 1961 („antifaschistischer Schutzwall“). Der anfängliche antifaschistische Enthusiasmus, auch von idealistischen Motiven getragen, ließ bei der politischen Führung allmählich nach. Da die kommunistische Ideologie immer weniger nachhaltig wirkte, griff die Führung zunehmend auf antifaschistische Ideologieelemente zurück. „Der Antifaschismus
4
Stichwort „Antifaschismus“, in: Kleines Politisches Wörterbuch, 7. Aufl., Berlin (Ost) 1988, S. 43.
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mit seiner emotionalen Bindekraft wurde zur Legitimation sonst schwer zu rechtfertigender Handlungen und Tatbestände herangezogen.“5 Was die Erinnerungskultur betraf, so standen die ersten Jahrzehnte die kommunistischen Opfer klar im Vordergrund. Später schwächte sich die Hierarchisierung der Opfergruppen ab. Nicht zuletzt deshalb, weil Erich Honecker einen Staatsbesuch in den USA anstrebte, verbesserte sich in den achtziger Jahren das Verhältnis zu den in der DDR lebenden Juden. So trat die Rolle des Holocaust verstärkt in das Bewusstsein vieler Menschen. Als schließlich die Existenz der DDR auf dem Spiel stand, suchte die SED/PDS erneut im „Antifaschismus“ Zuflucht. Die Schmierereien am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow am 28. Dezember 1989, deren Urheber nie dingfest gemacht wurden, nahm die Partei zum willkommenen Anlass, am 3. Januar 1990 bei einer Großkundgebung von etwa 250.000 Menschen vor dem aufkeimendem „Neofaschismus“ zu warnen. Doch wurde dieser Protest gegen die Provokation von vielen selber als eine Provokation angesehen. Die Massendemonstrationen gegen die SED nahmen neue Fahrt auf. Der Missbrauch des Antifaschismus war überwiegend durchschaut.
4.
Antifaschismus und die Masse der Bevölkerung
Der von der SED propagierte Antifaschismus hatte für die Mehrheit der Bevölkerung einerseits eine limitierende Funktion (der Spielraum für gesellschaftliche Alternativen blieb eingeschränkt), andererseits eine legitimierende (es wurde nicht gefragt nach dem früheren Verhalten, sondern mehr nach dem gegenwärtigen). Diese entlastende Funktion trug zum teils freiwilligen, teils widerwilligen Arrangement der Bürger mit dem diktatorischen System bei. Der Antifaschismus wurde zunächst von demokratischem Aufbauwillen getragen, dann aber seine Instrumentalisierbarkeit vielfach erkannt. „Der Antifaschismus als offizielle Erinnerungskultur konnte nicht ohne eine gewisse Akzeptanz in der DDRGesellschaft Bestand haben, ebenso wie umgekehrt der lebensweltliche Antifaschismus ohne den staatlichen Antifaschismus nicht denkbar war. Die umstrittenen Attribute eines ‚verordneten‘ bzw. ‚aufrichtigen‘ Antifaschismus vermengen sich also eher, als dass sie einander ausschließen.“6 Die Wirkung des authentischen Antifaschismus ließ später freilich nach. Angesichts fehlender Meinungsumfragen auf einer stichhaltigen Grundlage ist der Analytiker auf Indizien angewiesen.
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So Bernd Faulenbach, Einführung, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Band III,1, Frankfurt a. M./Baden-Baden 1995, S. 107. So Anne Barnert, Die Antifaschismus-Thematik der DEFA. Eine kultur- und filmhistorische Analyse, Marburg 2008, S. 49.
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Der „Gründungsmythos der DDR“ (Herfried Münkler) war verblasst, ohne Lebenskraft. Die Menschen interessierten sich mehr für ökonomische und soziale Fortschritte des Landes. Ein Schüler hat anschaulich die Überfrachtung mit antifaschistischen Ritualen beschrieben. „Wenn man immer das Gleiche hört, reicht es einem irgendwann. Da schaltet man ab und will gar nichts mehr wissen [....]. Man hat ja auch in dem Alter noch andere Sachen im Kopf als den antifaschistischen Widerstand. Aber das musste rein in unsere Köpfe damals, auf Biegen und Brechen.“7 Gleichwohl: Die Strategie der DDR, einen strikten Antifaschismus zu forcieren, ging eine lange Zeit auf. Wer Kritik an Erscheinungen des DDR-Systems vorbrachte, stand in der Gefahr, als Gegner des Antifaschismus abgestempelt zu werden. Viele taten sich daher schwer mit antifaschistischer Kritik am grassierenden Antifaschismus, hatten sie doch Angst davor, als „rechts“ zu gelten – und damit nicht mehr als antifaschistisch. Der Antifaschismus erwies sich so als eine Art „Loyalitätsfalle“ (Annette Simon).
5.
Antifaschismus und die oppositionellen Kräfte
Der Antifaschismus in der DDR verfing bei den anfänglichen Regime-Gegnern nicht. Nicht nur Fundamentalkritik führte zu Haftstrafen. Die Gegner des Systems, bürgerliche Kräfte und selbst viele Sozialdemokraten, waren zunächst antikommunistisch eingestellt, auch antifaschistisch, aber nicht im Sinne der SED.8 Gegner des Nationalsozialismus und des Kommunismus mussten ihre Geradlinigkeit mit Haftstrafen büßen.9 Viele von ihnen stimmten „mit den Füßen“ ab und verließen die DDR. Nach dem Bau der Mauer setzte allmählich eine Wandlung bei den meisten Gegnern des Systems ein, die offen auftraten. Der Sozialismus als Idee wurde ebenso wenig in Frage gestellt wie der Antifaschismus als Idee – sei es aus Überzeugung, sei es aus strategischer Sicht. Bei den heterogenen „alternativen“ Kräften überwog eine Art „dritter Weg“. Der verordnete Antifaschismus der SED wurde gleichwohl eher skeptisch bewertet, nicht zuletzt deshalb, weil er nicht als authentisch galt und der SED-Staat die aufkommende Skinhead-Bewegung, die beides war: rechtsextremistisch und provokativ ausgerichtet, weithin ignorierte. Konrad Weiß hat im März 1989 in dem Samisdat-Organ „Kontext“ vor Rechtstendenzen gewarnt: „Eine neue Kultur des öffentlichen Dialogs muss erworben werden und gepflegt werden; unser
7
8 9
Zitiert nach Rüdiger Schmidt: Sieger der Geschichte? Antifaschismus im „anderen Deutschland“, in: Thomas Großbölting (Hrsg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 208–229, hier S. 223. Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984, S. 21–81. Vgl. Friedhelm Boll, Sprechen als Last und Befreiung. Holocaust-Überlebende und politisch Verfolgte zweier Diktaturen. Ein Beitrag zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur, Bonn 2001.
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Land braucht Gedanken- und Pressefreiheit und ein Spektrum unzensierter Medien.“10 Aber in dem Text hieß es auch, dass „bei uns faschistische Täter und Mitläufer konsequenter bestraft und geächtet“ wurden als in der Bundesrepublik. „Antifaschismus ist in der DDR Verfassungsauftrag und Staatspolitik.“11 Nach Ehrhart Neubert entstand in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein „alternativer Antifaschismus“, auch eine Reihe von Antifagruppen, die Skinheads den Kampf angesagt hatten. „Nach der Revolution 1989 gingen die Reste der Antifagruppen zumeist in den autonomen Szenen auf.“12 Wochen nach dem ersehnten Fall der Mauer hieß es in dem öffentlichkeitswirksamen Appell „Für unser Land“, den u. a. Oppositionelle wie Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer und Konrad Weiß unterschrieben hatten: „Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen waren.“13 Die empirische Studie über das politische Selbstverständnis der vor 1989 aktiven Oppositionellen von Christof Geisel hat auch deren Verständnis vom Antifaschismus abgefragt. Etwa zehn Prozent fühlten sich mit der DDR durch deren antifaschistischen Anspruch „sehr verbunden“, über 40 Prozent „mit Einschränkungen“, jeweils 25 Prozent „eher nicht“ und „gar nicht“ (ungefähr wie beim Komplex „soziale Sicherheit“). Diese Zahlen belegen eine gewisse Entkräftung des Antifaschismus, wenngleich gesellschaftliche Gleichheit wie sozialistisches Selbstverständnis deutlich dahinter rangierten.14 Gab es keine auffallenden Differenzen zwischen jüngeren und älteren Oppositionellen, so lagen die Werte für die Oppositionellen, die vor der friedlichen Revolution dem Osten den Rücken kehrten, deutlich niedriger.
6.
Der Antifaschismus der DDR im Spiegel der Kritik nach 1989
Nach dem Ende der diktatorischen DDR, das wohlgemerkt nicht mit dem Ende der DDR zusammenfällt, setzte eine unterschiedlich motivierte Kritik am Antifaschismus der SED-Diktatur ein – von Ost- und Westdeutschen gleichermaßen. Auch die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“
10 Konrad Weiß, Die neue alte Gefahr. Junge Faschisten in der DDR, zitiert nach: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989, Berlin 2002, S. 392– 404, hier S. 404. 11 Ebd., S. 399. 12 Ehrhart Neubert, Stichwort „Antifaschismus, alternativer“, in: Hans-Joachim Veen u. a. (Hrsg.), Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, München 2000, S. 49. 13 Zu den Hintergründen des Aufrufs: Konstanze Borchert/Volker Steinke/Carola Wuttke (Hrsg.), „Für unser Land“. Eine Aufrufaktion im letzten Jahr der DDR, Frankfurt a. M. 1994. 14 Vgl. Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren, Berlin 2005, S. 82.
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des Deutschen Bundestages nahm sich dieser Thematik intensiv an.15 Als kritikwürdig galt u. a. der Umstand, dass die DDR sich als „Hort des Antifaschismus“ verstand. Wer zu den „Siegern der Geschichte“ zählte, musste nicht kritisch über die Vergangenheit reflektieren, nicht über die eigene, nicht über die des Landes. „Hitler war gleichsam ein Westdeutscher geworden.“16 Die DDR hatte kein gesteigertes Interesse daran, systematisch die Strukturen des NS-Staates (z. B. „Gleichschaltung“ oder Aufbau der Jugendorganisationen) zu beschreiben und zu analysieren, bestand doch die Gefahr, manch einer könnte augenfällige Parallelen ausmachen. Die Schelte am Antifaschismus in der DDR fiel u. a. deshalb so heftig aus, weil sich bald herausstellte, dass sowohl der parteigebundene als auch der subkulturelle Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern stärker war als in den alten. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre sorgte eine Vielzahl an rassistisch bedingten Übergriffen im Osten17 – auf Asylbewerberheime, auf fremdländisch Aussehende – für große Empörung. Und die rechtsextremistische NPD schaffte später den jeweils wiederholten Einzug in zwei ostdeutsche Landtage (Sachsen 2004: 9,2 Prozent; 2009: 5,6 Prozent; Mecklenburg-Vorpommern: 2006: 7,3 Prozent; 2011: 6,0 Prozent). Das beste Ergebnis einer rechtsextremistischen Kraft errang die DVU Gerhard Freys in Sachsen-Anhalt 1998 mit 12,9 Prozent. Und in Brandenburg zog diese Partei 1999 (5,3 Prozent) und 2004 (6,1 Prozent) in den Landtag ein.18 Gewiss spielten dabei stets zwar stark situativ bedingte Gründe eine Rolle (u. a. Verunsicherung vieler Wähler durch den Umbruch, gesellschaftliche Desorientierung, Anfälligkeit für populistische Parolen aufgrund hoher Arbeitslosigkeit), aber eben auch sozialisationsbedingte: Die DDR war entgegen allen offiziellen Parolen keine weltoffene Gesellschaft, sondern eine – jedenfalls teilweise – fremdenscheue, weil fremdenunerfahrene (z. B. Vorurteile gegenüber den polnischen Nachbarn, verkrampfter Umgang mit abgeschotteten russischen Soldaten sowie vietnamesischen und afrikanischen „Gastarbeitern“). Eine offene Diskussion über Missstände und Misstrauen im Land und Missverständnisse zwischen den Völkern blieb aus. Das Wort von der „Völkerfreundschaft“ erwies sich als eine Chimäre. So ergibt sich die merkwürdige Paradoxie, dass der „Antifaschismus“ von oben einen „Faschismus“ von unten begünstigt hat. Hingegen wurde die DDR nicht müde, „Faschismus“ in der „BRD“ zu wittern und sich als das „bessere Deutschland“ zu gerieren. Dabei schreckte sie vor Fälschungen und gezielten Provokationen nicht zurück.
15 Vgl. das Protokoll der 30. Sitzung („Antifaschismus und Rechtsradikalismus in der SBZ/DDR“), in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (Anm. 5), S. 95–201 (mit Beiträgen von Roswitha Wisniewski, Bernd Faulenbach, Günter Fippel, Manfred Wilke, Karl Wilhelm Fricke, Konrad Weiß und Hansjörg Geiger). 16 Bernd Faulenbach (Anm. 5), S. 106. 17 Interpretationen, die in den neuen Bundesländern deswegen eine Art „Dunkeldeutschland“ sahen, waren klischeebehaftet und schossen weit übers Ziel hinaus. 18 Allerdings überwand die Partei auch in Bremen (1991: 6,3 Prozent) und in Schleswig-Holstein (1992: 6,3 Prozent) die Fünfprozenthürde.
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Im Kern standen und stehen sich in der Antifaschismusdebatte zwei Grundpositionen gegenüber, von exzentrisch-extremistischen Stellungnahmen abgesehen19: Die eine Richtung wirft dem Antifaschismus in der DDR Lug und Trug vor. Der DDR-Führung sei es unter Berufung auf wohlklingenden Antifaschismus bloß darum gegangen, ihr Machtmonopol aufrechtzuerhalten. Die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ 1945 war danach nichts als Fassade auf dem Weg zur Errichtung einer faktischen Einparteiendiktatur. Tatsächlich buhlte die SED vor allem um Zustimmung; das Verhalten im Dritten Reich stand dabei nicht im Vordergrund.20 Hier lautet das Fazit: Vom Antifaschismus der DDR ist für das vereinigte Deutschland nichts zu übernehmen.21 Die andere Richtung hingegen bestreitet zwar nicht den von oben verordneten Antifaschismus, sieht aber zugleich einen authentischen Antifaschismus, der Frieden sichern wollte und die Konsequenzen aus der leidvollen Vergangenheit zu ziehen suchte, etwa im Bereich des Erziehungssystems. Die Übertreibungen in der DDR, so diese Richtung, sind ohne die Versäumnisse im Westen Deutschlands nicht angemessen zu erklären. Der hohe Blutzoll deutscher und sowjetischer Kommunisten im Kampf gegen den Nationalsozialismus lasse sich nicht leugnen. Das Resümee dieser Position: Nicht alles war schlecht an der Idee des Antifaschismus in der DDR, und manches verdient es, übernommen zu werden.22
7.
Der Antifaschismus und die Partei Die Linke
Zu denjenigen, die vom Antifaschismus der DDR etwas retten wollten, gehörte von Anfang an die PDS.23 Die Partei wusste zu Beginn der neunziger Jahre, dass sie, diskreditiert, wie sie war, am ehesten durch ihre Antifaschismus-Kampagnen Anhänger mobilisieren konnte. Sie glaubte, ihre Existenzberechtigung nicht zuletzt mit dem Kampf gegen den Rechtsextremismus unter Beweis stellen zu müssen. So schrieb Gregor Gysi 1991 im Neuen Deutschland: „Ausländischen Beobachterinnen und Beobachtern ist klar, dass der zunehmende Rechtsradikalismus auf der einen Seite und die beabsichtigte Beseitigung solcher Parteien wie der PDS auf der anderen Seite eine 19 Vgl. Monika Zorn (Hrsg.), Hitlers zweimal getötete Opfer. Westdeutsche Endlösung des Antifaschismus auf dem Gebiet der DDR, Freiburg/Brsg. 1994; Detlef Joseph, „Antifaschismus war hier Staatsdoktrin“, Berlin 2009. 20 Vgl. Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005. 21 Vgl. die meisten Beiträge in dem Band von Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hrsg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg/Brsg. 2002. 22 Vgl. beispielsweise Thomas Ahbe, Der DDR-Antifaschismus. Diskurse und Generationen – Kontexte und Identitäten. Ein Rückblick über 60 Jahre, Leipzig 2007; Robert Erlinghagen: Die Diskussion um den Begriff des Antifaschismus seit 1989/90, Berlin 1997. 23 Vgl. etwa Klaus Kinner/Rolf Richter (Hrsg.), Rechtsextremismus und Antifaschismus. Historische und aktuelle Dimensionen, Berlin 2000.
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Einheit bilden. Und da es diese Einheit tatsächlich gibt, sollten wir alles tun, um zu bleiben. Eine freiwillige Aufgabe hätte zur Folge, sich den rechten Entwicklungstendenzen in der Bundesrepublik Deutschland zu beugen.“24 In Gysis unideologisch daherkommender Sprache versteckt sich das Antifaschismusbild der SED: Die Bundesrepublik als Hort „rechter Entwicklungstendenzen“ (früher hieß das „Hort des Faschismus“) und die PDS als einzig konsequentes Bollwerk des Antifaschismus. Mit anderen Worten: Wer die PDS bekämpft, macht sich zum Helfer der Rechtsextremen. Nach dieser kruden Logik hatte die SED politische Gegner denunziert und eingesperrt. Die Linke, hervorgegangen aus der SED, der SED/PDS, der PDS, der Linkspartei und dem Zusammenschluss von Linkspartei und WASG, ist negativ auf „Faschismus“25 fixiert. Der Begriff findet kanonische Geltung, um den Terminus des „Nationalsozialismus“ zu vermeiden, der daran erinnert, dass sich dieser als eine Form des „Sozialismus“ verstanden hat. Der Terminus „Kampf gegen rechts“, der oft auftaucht, erfüllt wohl zwei Funktionen: Zum einen kommt so der Terminus „Rechtsextremismus“, der indirekt an eine andere Variante des Extremismus erinnert26, nicht zur Geltung; zum anderen erlaubt es die unscharfe Formulierung „rechts“, auch konservative Positionen darunter zu fassen. Im Grundsatzprogramm der Partei vom Oktober 2011 heißt es. „Antifaschismus ist eine Grundhaltung der Partei DIE LINKE. Für uns bedeutet das: Zurückdrängen aller extrem rechten, rechtspopulistischen und rassistischen Ideologien, Parteien und Bewegungen, Bekämpfung aller althergebrachten und neuen Formen des Antisemitismus, die Auseinandersetzung mit Geschichtsrevisionismus und mit allen Ideologien, die von Ungleichwertigkeit der Menschen ausgehen, sowie die Pflege des politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erbes der antifaschistischen Bewegung.“27 Die Partei propagiert die Aufnahme einer antifaschistischen Klausel ins Grundgesetz und in die Landesverfassungen. Auf diese Weise könnte das Demonstrationsrecht für (tatsächliche oder vermeintliche) Rechtsextremisten (weiter) erschwert werden. Zugleich lehnt sie heftig die „Extremismusklausel“ als Zeichen von „Gesinnungsschnüffelei“ ab (etwa bei der Antragstellung von Mitteln im Kampf gegen den Rechtsextremismus). Die Linke macht sich das folgende Diktum zu eigen: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“ Damit versucht sie, die Verhinderung rechtsextremistischer Demonstrationen zu rechtfertigen. Die PDS hatte 1990 eine (bis heute
24 Gregor Gysi, Offener Brief an die Mitglieder, Sympathisantinnen und Sympathisanten der PDS, in: Neues Deutschland v. 25. November 1991. 25 Vgl. umfassend Tim Peters, Der Antifaschismus der PDS aus antiextremistischer Sicht, Wiesbaden 2006. 26 Allerdings wird dies nicht systematisch durchgehalten. Zuweilen sprechen die Repräsentanten der Partei auch von Rechtsextremismus. 27 Programm der Partei DIE LINKE, Erfurt 2011, Abschnitt „Neofaschismus und Rassismus bekämpfen“.
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bestehende) Arbeitsgemeinschaft „Rechtsextremismus/Antifaschismus“ ins Leben gerufen, die regelmäßig einen „Rundbrief “ herausgibt. Auf der einen Seite unterscheidet sich der Gebrauch des „Antifaschismus“-Begriffs dort deutlich von dem in der DDR (etwa durch die Aufgabe der „Dimitroff-Formel“), auf der anderen Seite rückt die Linke den Terminus des Antifaschismus in einen engen Zusammenhang mit dem positiv konnotierten Begriff des Antikapitalismus. Sie distanziert sich zwar vom „Stalinismus“, nicht jedoch vom „Kommunismus“. Folglich wendet sie sich gegen jeglichen „Antikommunismus“. Sie hat den Thälmann-Kult der DDR abgelegt, aber dafür Rosa Luxemburg als Ikone auf den Sockel gehoben. „Antifaschismus“ ist ein einigendes Band im Linksextremismus und läuft dabei nicht selten auf eine Absage an den demokratischen Verfassungsstaat hinaus. Die Linke arbeitet eng mit der von Kommunisten beherrschten „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) zusammen.28 Auch Parteien wie die DKP und die MLPD haben sich „Antifaschismus“ auf die Fahnen geschrieben. Und für Autonome ist beim „Kampf gegen den Faschismus“ sogar Gewaltanwendung legitim – sei es in der Form der Massenmilitanz, sei es in der Form klandestiner Aktionen. Dabei ist für sie „Faschismus“ nicht selten ein Synonym für das „Schweinesystem“, womit die freiheitlich-demokratische Grundordnung gemeint ist – ganz im Sinne des kommunistischen Antifaschismusbegriffes.
8.
Sinn und Unsinn des Antifaschismusbegriffs
„Der ‚Antifaschismus‘ hat nur dann eine Perspektive, wenn er seine eigene Geschichte und damit auch seine repressiv-herrschaftliche Indienstnahme aufarbeitet und – über das ‚Anti‘ hinaus – auf eine radikale Verteidigung universeller Menschenrechte verweist.“29 Diese These von Annette Leo und Peter Reif-Spirek hat auf den ersten Blick durch die Orientierung an universellen Menschenrechten etwas Bestechendes. Ebenso ließe sich dann der Begriff des „Antikommunismus“ dialektisch „aufheben“ – im dreifachen Hegel’schen Sinne – bewahren, auf eine höhere Stufe bringen und beseitigen. Was spricht dann dagegen, gleich den unverfänglichen, nicht missdeutbaren
28 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, „Antifaschismus“, „Antiglobalisierung“ und „Antirepression“: Handlungsfelder des Linksextremismus in Deutschland, in: Ulrich Dovermann (Hrsg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2011, S. 163–181; ders.: „Antifaschismus als Thema linksextremer Agitation, Bündnispolitik und Ideologie. Zu den ideologischen Hintergründen und politischen Implikationen eines Kampfbegriffs, in: Ders. (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/1010, Brühl 2010, S. 273–300; Bettina Blank, Gegen „Rechtsentwicklung“, „Militarisierung“ und „Sozialabbau“ – Für die Verteidigung der „demokratischen Grundrechte“: Die VVN-BdA und das Grundgesetz, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 22, Baden-Baden 2011, S. 165–175. 29 Annette Leo/Peter Reif-Spirek, Plädoyer für den genauen Blick, in: Dies. (Hrsg.), Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999, S. 10.
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Begriff des Antiextremismus als Maxime zugrunde zu legen? Das Plädoyer für einen reflektierten Anti-Antifaschismus und einen Anti-Antikommunismus mündet in einen wertgebundenen Antiextremismus. Wir benötigen einen antiextremistischen Konsens – keinen antifaschistischen, keinen antikommunistischen. Und vor allem: Wer sich zu einer pluralistischen Demokratie bekennt, die auf Liberalität und Toleranz basiert, kann weithin ohne „Anti-Begriffe“ auskommen. Diese eignen sich als Kampfbegriffe, nicht als Leitbegriff im legitimen Meinungsstreit. Der Begriff des Antifaschismus ist nicht nur wegen seiner Unklarheit ungeeignet, sondern auch wegen des ihm innewohnenden Subtextes. Der totalitäre Nationalsozialismus war bekanntlich kein „Faschismus“. Der Unterschied zum – autoritären – italienischen Faschismus ist beträchtlich. Die Vernichtung des europäischen Judentums – das Kernelement des Nationalsozialismus – wird dabei stillschweigend unterschlagen. Eben keineswegs in erster Linie ökonomisch bedingt, ist sie nicht durch marxistische Theoreme erklärbar. Aus diesen und anderen Gründen – etwa der Absage an das Äquidistanzgebot der streitbaren Demokratie – ist der Antifaschismus ein „vergifteter Begriff “30 – in einem doppelten Sinn: Er vergiftet – und er wurde vergiftet.
9.
Antwort auf Scharpings Frage
Nun steht noch die Antwort auf Rudolf Scharpings Frage aus. Nach der Argumentation dürfte sie nicht verwundern. Wer wie der Antifaschismus einen Alleinvertretungsanspruch erhebt, kann selbstverständlich andere Positionen nicht dulden. Die größten Antifaschisten firmierten zugleich als die größten Gegner des Antikommunismus. Unter dem antifaschistischen Deckmäntelchen sollte nach 1945 die politische Hegemonie der Kommunisten vorangetrieben werden. Die von der KPD erzwungene Vereinigung mit der SPD, unter der die SPD-Anteile massiv zu leiden hatten, am 20./21. April 1946 zur SED war antifaschistisch deklamiert, aber machtpolitisch motiviert und durch den Zwangscharakter totalitär. Scharping – und nicht nur er – sieht den Antifaschismus a priori als etwas Positives an, erkennt also nicht, dass ihm extremistische Implikationen innewohnen können, wie das vice versa für den Antikommunismus gilt. Jeder Demokrat ist ein Antifaschist, aber nicht jeder Antifaschist ein Demokrat. Jeder Demokrat ist ein Antikommunist, aber nicht jeder Antikommunist ist ein Demokrat. Immer wieder macht das Wort von Thomas Mann die Runde, und zwar nicht nur unter Kommunisten: „Der Antikommunismus ist die Grundtorheit unseres Jahrhunderts.“ Doch die Berufung auf eine Autorität wie den vielleicht bedeutendsten deutschen Dichter verfängt so nicht. Tatsächlich lautet das Diktum folgendermaßen: „Sie sehen, dass ich in einem Sozialismus, in dem
30 So Wolfgang Kraushaar, Die westdeutsche Linke und der Antifaschismus, in: Horch und Guck 44 (2003), Nr. 44, S. 41–43, hier S. 43.
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Antifaschismus in der Ideokratie der DDR
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die Idee der Gleichheit die der Freiheit vollkommen überwiegt, nicht das menschliche Ideal erblicke, und ich glaube, ich bin vor dem Verdacht geschützt, ein Vorkämpfer des Kommunismus zu sein. Trotzdem kann ich nicht umhin, in dem Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Wort Kommunismus, diesem Schrecken, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, etwas Abergläubisches und Kindisches zu sehen, die Grundtorheit unserer Epoche.“31 Wie das vollständige Zitat deutlich macht, sah Mann keinesfalls jeden Antikommunismus als schädlich an. Der ganze Thomas Mann ist jedenfalls nicht auf das Wort von der „Grundtorheit unserer Epoche“ zu reduzieren. Und aus dem Zitat ergibt sich eine aufschlussreiche Parallele. Wie der „Faschismus“ vom Schrecken des Kommunismus gelebt hat, so gilt das umgekehrt auch – sogar stärker. Dass der Kommunismus sich trotz seiner maroden moralischen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen so lange gehalten hat, basiert auch auf seinem Antifaschismus. Insofern besteht ein „kausaler Nexus“ zwischen der langen Dauer der kommunistischen Herrschaft und der Existenz des Nationalsozialismus. Ohne diesen wäre dem Antifaschismus nicht der Mythos zugewachsen, von dem sich lange zehren ließ. Immer wieder wurde der Leichnam zum Leben erweckt. „Denn damit der Antifaschismus in der Geschichte dieses Jahrhunderts überleben konnte, musste auch der ,Faschismus‘ seine faktische Niederlage und seinen Untergang überleben! Kein anderes diskreditiertes System fand in der Phantasie seiner siegreichen Gegner posthum so viele Nachahmer.“32 Die eine Ideologie benötigte die andere. Wobei sich folgender paradoxer Befund ergibt: Der Antifaschismus war – nicht nur in Deutschland – beträchtlich lebenskräftiger als der Antikommunismus, obwohl der Kommunismus weitaus länger an den Schalthebeln der Macht blieb als sein totalitäres Pendant. Dieser Umstand liegt wesentlich darin begründet, dass die (politische und gesellschaftliche) Mobilisierung gegen den Nationalsozialismus leichter gefallen ist als die gegen den Kommunismus. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil sich der Kommunismus zu universalistischen Prinzipien bekennt – im Gegensatz zum „Faschismus“. Beim Kommunismus war von „Deformationen“ in der Praxis die Rede, während beim Nationalsozialismus schon die Idee als „Deformation“ galt. Das DDR-Regime ist zum Teil dafür gelobt worden (und wird es zuweilen heute noch), es habe die Überbleibsel des Nationalsozialismus konsequent beseitigt – jedenfalls konsequenter als die Bundesrepublik. Tatsächlich ging es der kommunistischen Diktatur neben der Eliminierung des Nationalsozialismus um eine Ausschaltung missliebiger Positionen, mögen sie nun demokratisch oder antidemokratisch gewesen sein. Wer behauptet, die Nationalsozialisten hätten immerhin den Kommunismus unnachgiebig bekämpft (und dies positiv interpretiert), argumentiert absurd. Niemand wird
31 Zitiert nach Reimund Blühm, Antikommunismus, eine Grundtorheit? Über ein angebliches Zitat von Thomas Mann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. Juni 1995. 32 François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996, S. 210.
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ernsthaft dem Nationalsozialismus dessen vehement antikommunistische Haltung als Verdienst anrechnen. Die Gefahr einer „Antikommunismusfalle“ besteht also nicht, wohl aber die einer „Antifaschismusfalle“.
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„Extremistische Parteien“ – worin besteht der Erkenntnisgewinn? Die Frage nach den Erfolgsbedingungen extremistischer Parteien vermittelt aufschlussreiche Erkenntnisse – z. B. zu den Gefährdungen des demokratischen Verfassungsstaates. Demokratiewissenschaftler sind auf den Extremismusbegriff angewiesen. Stehen sich normative und empirische Ansätze unversöhnlich gegenüber? Oder ist die Kontroverse über den Erkenntnisgewinn extremismustheoretischer Positionen eher durch den Gegensatz zwischen einem antiextremistischen und einem antifaschistischen Vorgehen gekennzeichnet?
1.
Einleitung
In den siebziger Jahren lautete ein beliebtes Argument gegen den Totalitarismusbegriff – jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland, nicht in Frankreich, wo Solschenizyns Enthüllungen einen regelrechten Schock bei Intellektuellen hervorgerufen hatten –, dieser sei ohne (sonderlichen) Erkenntniswert. Nach dem so abrupten wie überraschenden, nahezu weltweiten Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ erlebte der Begriff jedoch eine ungeahnte wissenschaftliche Renaissance.1 Es sei verkehrt gewesen, die Analogien zwischen rechten und linken Diktaturen herunterzuspielen. Die Totalitarismuskonzeption erfasse die Opferperspektive oder die Rolle des entrechteten Individuums besser als jeder andere Ansatz. Selbst einstige kommunistische Spitzenpolitiker wie Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und Eduard Schewardnadse sprachen ganz unbefangen vom totalitären System des Sowjetkommunismus. Eine Paradoxie: In dem Moment, in dem der Totalitarismus fast völlig von der politischen Bildfläche verschwand, gewannen Totalitarismusansätze wissenschaftliche Reputation zurück, bei mannigfachen Modifikationen im Einzelnen. Wenn das Extremismuskonzept nicht in ähnlichem Maße reüssieren konnte, erscheint dies inkonsequent. Denn der Extremismusbegriff stellt eine Anwendung des Totalitarismus- bzw. Autoritarismuskonzepts auf diejenigen Kräfte innerhalb des demokratischen Verfassungsstaates dar, die diesem offen oder verdeckt den Kampf angesagt haben. Kommen sie an die Macht, so spricht vieles für den folgenden Sachverhalt: Sie schränkten die demokratische Ordnung ein oder beseitigten sie gar. Der Beitrag soll den wissenschaftlichen Wert des Extremismusbegriffs für die Parteienforschung erhellen. Wer Politikwissenschaft (auch) als Demokratiewissenschaft versteht, kommt nicht um die Extremismuskonzeption umhin, ohne deswegen die Plausibilität anderer Ansätze in Zweifel zu ziehen. Der Vergleich gegensätzlicher – und doch verwandter – Phänomene ist ein anspruchsvolles Unterfangen.
1
Vgl. etwa Abbott Gleason, Totalitarianism. The inner history of the Cold War, New York-Oxford 1995.
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2.
Extremismus und Demokratie
Extremismusforschung
Für die Extremismusforschung ist der Gegensatz zwischen extremistisch und demokratisch entscheidend. Extremismus stellt die Antithese des demokratischen Verfassungsstaates dar. Der Extremismusbegriff, der eine lange, bis auf Platon und Aristoteles zurückreichende Tradition aufweist2, ist damit nicht dem Selbstverständnis der höchst heterogenen – mehr oder weniger – antidemokratischen Kräfte entnommen. Er zielt auf strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den vielfältigen Formen des Rechts- und des Linksextremismus3: so die Ablehnung oder die Einschränkung tragender Elemente des demokratischen Verfassungsstaates wie Pluralismus, die Bejahung eines FreundFeind-Denkens, die Akzeptanz eines hohen Maßes an ideologischem Dogmatismus und an gesellschaftlicher Homogenität, die Ausrichtung an Verschwörungstheorien. Extremismus zeigt sich in vielerlei Varianten (mit fließenden Übergängen): So könnte man von einem aktions-, parlaments- und einem diskursorientierten Extremismus sprechen. Zur ersten Rubrik gehörten etwa „Autonome“ und Skinheads, auch alle terroristischen Bestrebungen. In die zweite fallen die Parteien, in die dritte intellektuelle Bestrebungen, die mit Begriffen wie „Neue Linke“ oder „Neue Rechte“ höchst unscharf umschrieben sind. Neben harten Formen des Extremismus gibt es zunehmend weiche, also solche, die nur einzelne Elemente des demokratischen Verfassungsstaates in Frage stellen. Die Forschung vermag dabei in Grenzfällen zu abweichenden Ergebnissen zu gelangen. Die Existenz von Grauzonen liegt in der Natur der Sache und kann nicht dem Extremismuskonzept an sich angelastet werden. Unterschiedliche Strömungen in einer Partei sind ebenso zu berücksichtigen wie Wandlungen. Die Kritik am Terminus des Extremismus ist weit verbreitet und schillernd.4 Er sei ein unwissenschaftlicher, ideologieträchtiger Kampfbegriff, identifiziere unkritisch „Rechte“ und „Linke“, idealisiere die Mitte. Dabei trifft die Behauptung, beide Flügel des politischen Spektrums würden gleichgesetzt, so nicht zu. Vereinfacht ausgedrückt: Setzen Rechtsextremisten die „Volksgemeinschaft“ oder die Nation absolut, so Linksextremisten soziale Homogenität. Vergleiche laufen keineswegs auf pauschale Gleichsetzungen hinaus. Es mutet irritierend an, wenn gerade (linke oder rechte) Kritiker des Extremismusbegriffs das Schlagwort vom „Extremismus der Mitte“ ausufernd gebrauchen.5 Auf diese
2 3 4
5
Vgl. das Grundlagenwerk von Uwe Backes, Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2006. Auch der Fundamentalismus, dem eine Einheit von Religion und Staat eigen ist, stellt eine Form des Extremismus dar. In plumper Form: Christoph Kopke/Lars Rensmann, Die Extremismus-Formel. Zur politischen Karriere einer wissenschaftlichen Ideologie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 45 (2002), S. 1451–1462; siehe dazu Uwe Backes/Eckhard Jesse, Die „Extremismus-Formel“. Zur Fundamentalkritik an einem historisch-politischen Konzept, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13, Baden-Baden 2001, S. 13–29. Vgl. etwa Wolf-Dieter Narr, Vom Extremismus der Mitte, in: Politische Vierteljahresschrift 34 (1993), S. 106–113.
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Weise wird der Extremismus nicht be-, sondern entgrenzt. Und Extremismusforschung rechtfertigt keineswegs unkritisch die „herrschende Politik“. Wer das Extremismuskonzept in Frage stellt, negiert damit auch die Konzeption der streitbaren Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik als Reaktion auf die leidvolle Vergangenheit gilt. Extremismus beginnt nicht erst bei der Bejahung oder gar Anwendung von Gewalt. Und: Der demokratische Verfassungsstaat ist vielfältig gefährdet. Jeder Rechtsextremist ist ein Antidemokrat, aber nicht jeder Antidemokrat ein Rechtsextremist. Extremistische Parteien sind somit solche, die den demokratischen Verfassungsstaat in Zweifel ziehen. Damit verwirft der Verfasser Typologien, die antidemokratische Positionen nur einer politischen Richtung zuschreiben. Ansonsten würde der zentrale Unterschied zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Parteien höchst eigenwillig interpretiert – vorsichtig formuliert. Für den Schutz des demokratischen Verfassungsstaates ist die Frage von entscheidender Bedeutung, ob die Parteien ihn bejahen oder ob sie es nicht tun – aus welcher Richtung immer. Dieser Frage kann und darf sich die Forschung nicht entziehen.
3.
Parteienforschung
Parteien lassen sich vielfältig typologisieren. Der Blick soll an dieser Stelle ausschließlich auf Demokratien gerichtet werden. Die Parteienforschung unterscheidet u. a. nach dem Organisationsgrad („Wählerpartei versus Mitgliederpartei“), nach der Stärke der Partei („Großpartei versus Kleinpartei“), nach dem politischen Einzugsbereich („Volkspartei versus Interessenpartei“). Eine andere Möglichkeit ist, die Frage nach der Stellung zum demokratischen Verfassungsstaat aufzuwerfen („demokratische Partei versus extremistische Partei“). Diese Typologisierung ähnelt der Giovanni Sartoris („Systemparteien“ und „Antisystemparteien“).6 Sigmund Neumann unterschied 1932, am Vorabend der „Machtergreifung der Nationalsozialisten, in seinem „Klassiker“ neben liberalen Repräsentationsparteien zwischen „demokratischen Integrationsparteien“ (SPD, Zentrum) und „absolutistischen Integrationsparteien“ (NSDAP, KPD). Während die demokratischen Integrationsparteien bei aller Bindung der Wähler an „ihre“ Partei innere Demokratie zuließen, zeichneten sich die absolutistischen Parteien – sie hatten bei beiden Reichstagswahlen 1932 eine „negative Mehrheit“ – u.a durch eine straffe und hierarchische Organisationsform aus. Scharfsinnig hatte Neumann beobachtet: „Für die absolutistische Integrationspartei ist jede ernstgemeinte und nicht nur taktische Parteien-Koalition unsinnig, sie kennt höchstens ein Parteien-Bündnis, sofern es eine Stärkung der eigenen Machtposition bedeutet. Im Grunde kann sie keinen Kompromiss schließen, kann sie keine gleichberechtigte Mitregierung neben sich dulden, oder sie muss an innerer Kraft verlieren.“7 Gewiss, heutzutage haben die meisten extremistischen Parteien einen teils taktisch, teils prinzipiell bedingten Wandel erfahren. Das bedeutet aber nicht, sie zu ignorieren. 6 7
Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems. A Framework for Analysis, 2. Aufl., New York 1993, S. 132 f. Sigmund Neumann, Die Parteien der Weimarer Republik (1932), 5. Aufl., Stuttgart u. a. 1986, S. 108.
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So könnten Parteien, denen eine (teil)extremistische Position nachgesagt wird, auf ihre Organisation, Ideologie und Strategie hin analysiert werden, um die drei wesentlichen Untersuchungsfelder für Parteien zu nennen. Das Ergebnis: Eine Partei wie die LINKE, die nach Meinung des Verfassers eine weiche Spielart des Extremismus verkörpert, steht dem demokratischen Verfassungsstaat deutlich näher als die NPD mit ihrer harten Variante des Extremismus ungeachtet ähnlicher Feindbilder (Kapitalismus, Globalisierung, USA). Manche Aussage lässt aufhorchen: Lothar Bisky, neben Oskar Lafontaine Vorsitzender der Partei DIE LINKE, traf im Jahre 2007 – auf der 3. Tagung des 10. Parteitages, einen Tag vor der Vereinigung der Linkspartei mit der WASG – in einer Grundsatzrede die folgende Aussage: „Ja, wir diskutieren auch und immer noch die Veränderung der Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, und auch das unterscheidet eine neue Partei links von der Sozialdemokratie in Deutschland von anderen. Kurz gesagt: Wir stellen die Systemfrage! Für alle von den geheimen Diensten noch einmal zum Mitschreiben. Die, die aus der PDS kommen, aus der Ex-SED und auch die neue Partei DIE LINKE – wir stellen die Systemfrage.“8 Solche Äußerungen, die sich ähnlich bei Oskar Lafontaine und Gregor Gysi finden, sind bei der NPD härter formuliert. Die Vergleiche zeigen somit nicht nur Divergenzen, sondern auch Konvergenzen. Weitere Analysefelder wären die Frage nach der Gefahr für die demokratische Verfassungsordnung (nicht nur auf die Größenordnung bezogen, sondern auch auf den Einfluss der Eliten und auf die „Mehrheitskultur“), die Frage nach den Erfolgsbedingungen (mit Blick auf die Angebots- und die Nachfrageseite, wobei das Abschneiden umso schwächer ausfallen dürfte, je mehr sich die Parteien an diskreditierten historischen Vorbildern orientieren), die Frage nach dem extremistischen Intensitätsgrad (dessen Abschwächung hängt stark mit populistischen Elementen der extremistischen Parteien zusammen), die Frage nach der Wechselbeziehung: Der Antifaschismus linksextremistischer Parteien hat auf die eigene Anhängerschaft weitaus mobilisierender gewirkt als der Antikommunismus rechtsextremistischer Parteien. Eine gegenseitige Aufschaukelung der beiden Lager ist in der Regel ausgeblieben. Allerdings gibt es Zusammenhänge: So erklären sich die Gewinne der rechtsextremistischen Front National in Frankreich offenkundig mit den Verlusten der Kommunisten (u. a. aufgrund des Autoritarismus bei Teilen der Arbeiterschaft)9; und die Schwäche des parteipolitischen Rechtsextremismus in Deutschland dürfte zumindest teilweise mit der Integrationskraft der LINKEN zusammenhängen. Die Überwindung der Separierungstendenzen fördert neue Ergebnisse zutage, wie z. B. die Studie Tom Thiemes zum parteipolitischen Extremismus in Osteuropa 8 9
Lothar Bisky, Wir sind gekommen, um zu bleiben, unter: http://www.lothar-bisky.de/kat_artikel_ detail.php?v=147 (31. März 2008). Vgl. allgemein: Seymour M. Lipset, Democracy and Working-Class Authoritarianism, in: American Sociological Review 24 (1959), S. 482–501; Daniel Scheuregger/Tim Spier, Working-Class Authoritarianism und die Wahl rechtspopulistischer Parteien. Eine empirische Untersuchung für fünf westeuropäische Staaten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 59 (2007), S. 59–80.
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erhellt.10 Hier vermengen sich herkömmliche Rechts-Links-Unterscheidungen bei den extremistischen Parteien. So gibt es internationalistische Parteien, die positiv auf den „Realsozialismus“ Bezug nehmen, mit rassistisch-ethnozentrischen Elementen ebenso wie nationalistische Parteien, die an rechte Autokratien anknüpfen, mit sozialistischantikapitalistischen Elementen. Diese Durchmischung trägt meistens zur Abschwächung des extremistischen Charakters bei. Parteiensysteme können nach bestimmten Eigenschaften untersucht werden, mit Blick auf die Fragmentierung, die Asymmetrie, die Volatilität, die Polarisierung und die Legitimität bei der elektoralen Dimension, mit Blick auf die Segmentierung und die Regierungsstabilität bei der gouvernementalen Dimension.11 Zumindest bei den Dimensionen „Polarisierung“, „Legitimität“ und „Segmentierung“ verspricht die Kategorie der extremistischen Parteien einen beträchtlichen Erkenntnisgewinn. Die Polarisierung misst die ideologische Distanz zwischen den Parteien, z. B. durch die Abstände zwischen dem linken Pol und dem rechten Pol. Auch bei der Legitimität kommen die extremistischen Parteien ins Spiel. Je mehr Stimmen die Wähler diesen geben, umso stärker gebricht es dem Parteiensystem an Legitimation. Der Legitimitätsentzug schlägt sich auch in sinkender Wahlbeteiligung nieder. Insgesamt ist die Stärke der extremistischen Parteien ein wesentliches Indiz für den Konsolidierungsstand des jeweiligen demokratischen politischen Systems.12 Schließlich ist mit Segmentierung der Anteil der politisch nicht möglichen Koalitionen gemeint. Dabei muss keineswegs jede Form einer „unmöglichen“ Koalition auf extremistischen Grundzügen eines Partners basieren. Die mangelnde Koalitionsfähigkeit von Union und Grünen auf Bundesebene hat andere Gründe als die strikte Ablehnung der SPD, sich auf ein Bündnis mit der PDS bzw. der LINKEN einzulassen. Allerdings gerät die SPD in Argumentationsnot, wenn sie in den Ländern zum Teil anders handelt. Für die Einordnung der jeweiligen Parteiensysteme ist die Rolle der extremistischen Parteien mithin von beträchtlicher Tragweite.
4.
Schlussfolgerungen
Die Frage nach der Existenz extremistischer Parteien vermittelt aufschlussreiche Erkenntnisse zu den Gefährdungen des demokratischen Verfassungsstaates, zu den Erfolgsbedingungen, zu dem extremistischen Intensitätsgrad, zu den möglichen Wechselwirkungen,
10 Vgl. Tom Thieme, Hammer, Sichel, Hakenkreuz. Parteipolitischer Extremismus in Osteuropa: Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen, Baden-Baden 2007. 11 Vgl. Oskar Niedermayer, Parteiensystem, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Demokratien des 21. Jahrhunderts im Vergleich, Opladen 2003, S. 261–288; ders., Die Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems, in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 114–135. 12 Vgl. Juan J. Linz/Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore-London 1996, S. 6; Wolfgang Merkel, Systemtransformation, Opladen 1999, S. 143–169.
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zu den Parteisystemeigenschaften „Polarisierung“, „Legitimität“ und „Segmentierung“. Parteien, deren Positionen zumindest in einem Spannungsverhältnis zu demokratischen Prinzipien stehen, sollten nicht als Rand- oder Flügelparteien firmieren; diese Etikettierungen sind formaler Natur und sagen nichts über die Haltung zum demokratischen Verfassungsstaat aus.13 Analoges gilt für die Wahrnehmung durch die „Mehrheitskultur“. Ob diese eine Partei als extremistisch angesehen wird, sagt nur bedingt etwas über die tatsächliche politische Position aus. Der verbreitete Eindruck, ein normativer Ansatz stünde einem empirisch-analytischen Ansatz gegenüber, ist nicht triftig. Gero Neugebauer und Richard Stöss warnen in ihrer instruktiven Studie über die PDS davor, den Begriff der Partei „mit einem normativen Demokratiegebot [zu] überfrachten“14; bei der Analyse des parteiförmigen Rechtsextremismus dagegen bekennt sich Richard Stöss zu einem normativen Gebot, dem des Antifaschismus – „als politische Norm und als pädagogisches Ziel“15. Tatsächlich – und das ist der Kern der Kontroverse – liegt der einen Auffassung ein antiextremistischer Ansatz zugrunde, der anderen ein antifaschistischer. Dies ist eine wesentliche Ursache für die Vielzahl der vergleichenden Studien zu rechtsextremistischen Parteien und zu rechtsextremistischem Einstellungspotential (auch und gerade mit Blick auf das Gefährdungspotential von Demokratien). Derartige Vergleiche sind ebenso legitim wie Vergleiche zwischen linksextremistischen Parteien und Vergleiche zwischen extremistischen Parteien in toto, ebenso zwischen extremistischen und demokratischen. Für den parteiförmigen Linksextremismus in seinen verschiedenen Schattierungen ist das Interesse nicht sonderlich groß. Und erst recht wird der übergreifende Vergleich vernachlässigt. Selbstverständlich darf ein extremismustheoretischer Ansatz nicht das Ergebnis vorwegnehmen. Forschung ist nur dann Forschung, wenn sie ergebnisoffen bleibt. Eine extremismustheoretische Vergleichsuntersuchung von Parteien kann also durchaus zum Resultat fehlender Schnittmengen führen. Gleichwohl: Wir erfahren durch Vergleiche mehr über Parteien, die den ideologischen Antipoden zwar bekämpfen, ihm jedoch strukturell in mancher Hinsicht ähneln. Die Stärke extremistischer Parteien – welcher Couleur auch immer – signalisiert Integrationsdefizite der etablierten Parteien. Insofern ist der parteiförmige Extremismus eine Herausforderung für den demokratischen Verfassungsstaat. Er kann damit wider Willen zu seiner Revitalisierung beitragen.
13 Missverständlich ist ebenso die Bezeichnung „extreme Rechte“, wenn damit keine rechtsextremistische Position verbunden ist. Vgl. Kai Arzheimer, Die Wähler der extremen Rechten 1980–2002, Wiesbaden 2008, S. 38 f. 14 Gero Neugebauer/Richard Stöss, Die PDS. Geschichte, Organisation, Wähler, Konkurrenten, Opladen 1996, S. 13. 15 So Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung – Ursachen – Gegenmaßnahmen, Opladen 1989, S. 244.
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Die NPD und die Linke. Ein Vergleich zwischen einer harten und einer weichen Form des Extremismus Ein wissenschaftlicher Vergleich zwischen der NPD und der Partei Die Linke ist rar. Das mutet unverständlich an, handelt es sich doch um Parteien an den Rändern des politischen Spektrums. Im Beitrag geht es einerseits anhand eines Kriterienkataloges um den Unterschied zwischen einer harten und einer weichen Variante des politischen Extremismus, andererseits um den Gefährdungsgrad für den demokratischen Verfassungsstaat. Während die Partei Die Linke als Repräsentantin eines weichen Extremismus gilt und die NPD als die eines harten, ist die Frage nach dem Gefährdungsgrad keineswegs so einfach zu beantworten. Gefährdet eine politische Kraft, die weniger klar antidemokratisch ist, die Demokratie unter Umständen mehr als eine offen verfassungsfeindliche Organisation?
1.
Einleitung
Wer einen Vergleich zwischen der NPD1 und der Linken2 in Betracht zieht, betritt vermintes Gelände. Ohne dass das Ergebnis abgewartet wird, ist der Soupçon in der Regel groß. Für viele aus Politik, Publizistik und Politikwissenschaft verbietet sich, aus methodischen wie aus normativen Gründen, eine derartige Gegenüberstellung. Sie gilt im besten Fall als wenig weiterführend, im schlimmsten Fall als Verteufelung hehrer antifaschistischer Prinzipien oder als eine Relativierung der menschenverachtenden Politik von rechtsaußen. Derlei Widerstände rühren aus einer gewachsenen (meist unwissenschaftlichen) Antipathie gegenüber dem Extremismusbegriff. Die Kritik an ihm ist weit verbreitet und schillernd.3 Er sei ein unwissenschaftlicher, ideologieträchtiger Kampfbegriff, idealisiere die Mitte, sei daher ohne (sonderlichen) Erkenntniswert, laufe
1
2
3
Vgl. exemplarisch Christoph Ruf/Olaf Sundermeyer, In der NPD. Reisen in die National Befreite Zone, München 2009; Fabian Virchow/Christian Dornbusch (Hrsg.), 88 Fragen und Antworten zur NPD. Weltanschauung, Strategie und Auftreten einer Rechtspartei – und was Demokraten dagegen tun können, Schwalbach/Ts. 2008; Uwe Backes/Henrik Steglich (Hrsg.), Die NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei, Baden-Baden 2007; Marc Brandstetter, Die NPD im 21. Jahrhundert. Eine Analyse ihrer aktuellen Situation, ihrer Erfolgsbedingungen und Aussichten, Marburg 2006; Lars Flemming, Das NPD-Verbotsverfahren. Vom „Aufstand der Anständigen“ zum „Aufstand der Unfähigen“, Baden-Baden 2005. Vgl. exemplarisch Georg Fülberth, Die Linke, „Doch wenn die Dinge sich ändern“, 2. Aufl., Köln 2009; Hubertus Knabe, Honeckers Erben: Die Wahrheit über DIE LINKE, Berlin 2009; Eckhard Jesse/Jürgen P. Lang, DIE LINKE – der smarte Extremismus einer deutschen Partei, München 2008; Michael Brie/Cornelia Hildebrandt/Meinhard Meuche-Mäker (Hrsg.), DIE LINKE. Wohin verändert sie die Republik?, Berlin 2007. In besonders simpler Weise: Christoph Kopke/Lars Rensmann, Die Extremismus-Formel. Zur politischen Karriere einer wissenschaftlichen Ideologie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 45 (2000), S. 1451–1462; siehe dazu Uwe Backes/Eckhard Jesse, Die „Extremismus-Formel“. Zur Fundamentalkritik an einem historisch-politischen Konzept, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13, Baden-Baden 2001, S. 13–29.
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letztlich auf eine Gleichsetzung hinaus. Aus antifaschistischer Perspektive verbietet sich daher ein Vergleich zwischen links- und rechtsextremistischen Parteien, aus antiextremistischer Perspektive ist er geboten.4 Politischer Extremismus stellt den Gegenpol zum demokratischen Verfassungsstaat dar. Er lehnt diesen ab, will ihn beseitigen, zumindest beschädigen. Alle Einstellungen, Verhaltensweisen, Institutionen und Ziele, die sich gegen die Demokratie richten, gelten als extremistisch.5 Der Terminus Extremismus dient dabei als Oberbegriff für verschiedene Extremismusvarianten. Rechts- und Linksextremismus sowie religiöser Fundamentalismus sind bekanntermaßen die Hauptformen. Kommen Extremisten an die Macht, so spricht vieles für den folgenden Sachverhalt: Sie schränken die demokratische Ordnung ein oder beseitigen sie gar. Wie es bei Diktaturen Unterschiede im Intensitätsgrad gibt, so gilt dies für Extremismen ebenso. Der Extremismusbegriff, der eine lange, bis auf Platon und Aristoteles zurückreichende Tradition aufweist6, ist nicht dem Selbstverständnis der höchst heterogenen – mehr oder weniger – antidemokratischen Kräfte entnommen. Er zielt auf strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den vielfältigen Formen des Rechts- und des Linksextremismus sowie des Fundamentalismus: so die Ablehnung oder die Einschränkung tragender Elemente des demokratischen Verfassungsstaates wie Pluralismus, die Bejahung eines FreundFeind-Denkens, die Akzeptanz eines hohen Maßes an ideologischem Dogmatismus und an gesellschaftlicher Homogenität, die Ausrichtung an Verschwörungstheorien. Wer vom Glauben an ein objektiv erkennbares und vorgegebenes Gemeinwohl beseelt ist und eherne Gesetzmäßigkeiten zu erkennen wähnt, kann die Legitimität unterschiedlicher Meinungen und Interessen innerlich nicht bejahen, allenfalls aus taktischen Gründen. Rechts- und links-extremistische Bestrebungen sind jeweils wieder in unterschiedliche Richtungen aufgespalten. Ist man sich zumeist über den extremistischen Charakter gewalttätiger Formen einig, so gehen die Auffassungen beim nicht gewalttätigen Extremismus weit auseinander. Derlei politische Extremismen sind nicht „glasklar“ zu definieren. Sie zeigen sich in vielerlei Varianten (mit fließenden Übergängen): So könnte man von einem aktions-, parlaments- und einem diskursorientierten Extremismus sprechen. Zur ersten Rubrik gehören etwa Linksautonome und rechtsextremistische Skinheads, auch alle terroristischen Bestrebungen. In die zweite fallen die Parteien, in die dritte intellektuelle Bestrebungen, die mit Begriffen wie „Neue Linke“ oder „Neue Rechte“ höchst unscharf umschrieben sind. Neben organisierten Formen des Extremismus gibt es mehr oder weniger unorganisierte, 4
5 6
Vgl. die unterschiedlichen Positionen: Richard Stöss, „Extremistische Parteien“. Worin besteht der Erkenntnisgewinn?, Eckhard Jesse, „Extremistische Parteien“. Worin besteht der Erkenntnisgewinn?, jeweils in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 47/2008, S. 3–7, S. 7–11. Vgl. Uwe Backes, Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989. Vgl. das Grundlagenwerk von dems., Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2006.
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Die NPD und die Linke.
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neben gewalttätigen Formen existieren gewaltfreie. Zu harten Formen des Extremismus gesellen sich zunehmend weiche, also solche, die nur einzelne Elemente des demokratischen Verfassungsstaates in Frage stellen. Die Forschung kann dabei in Grenzfällen zu abweichenden Ergebnissen gelangen. Naturwissenschaftliche Exaktheit ist nicht möglich. Unterschiedliche Strömungen in einer Partei sind ebenso zu berücksichtigen wie Wandlungen, filigranere Unterscheidungsmuster daher angebracht. Extremistische Parteien ziehen, wie erwähnt, den demokratischen Verfassungsstaat in Zweifel. Damit verwirft der Verfasser Typologien, die antidemokratische Positionen nur einer politischen Richtung zuschreiben. Ansonsten würde der zentrale Unterschied zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Parteien höchst eigenwillig interpretiert – vorsichtig formuliert. Für den Schutz des demokratischen Verfassungsstaates ist die Frage von entscheidender Bedeutung, ob die Parteien ihn bejahen oder ob sie es nicht tun – aus welcher Richtung immer. Dieser Frage kann und darf sich die Forschung nicht entziehen. Ist ein Vergleich zwischen einer Partei wie der Linken, die bei der Bundestagswahl 2009 11,9 Prozent erreicht hat und in weiten Teilen der Mehrheitskultur auf Akzeptanz stößt, mit einer Partei wie der NPD, die bei der letzten Bundestagswahl auf 1,5 Prozent gekommen ist und nicht nur in intellektuellen Kreisen geächtet ist, nach den obigen Hinweisen wirklich sinnvoll? Der Verfasser will zeigen, dass die Frage zu bejahen ist. Das Kernproblem lautet wie folgt: Gibt es Unterschiede zwischen dem Extremismus der Linken und dem der NPD? Wo liegen sie? Und wo gibt es Parallelen, die es rechtfertigen, beide Parteien prinzipiell als extremistisch zu klassifizieren? Nach diesen einleitenden Ausführungen folgt in skizzenhafter Form ein Kapitel zur Klärung der Begriffe „harter Extremismus“ und „weicher Extremismus“ – noch ohne Bezugnahme auf die beiden Parteien. Das nächste (Haupt-)Kapitel will den Kriterienkatalog auf die Linke und die NPD anwenden. Der Verfasser legt die in der Parteienforschung üblichen Untersuchungsmerkmale zugrunde: Ideologie, Strategie und Organisation. Hier soll die Tragfähigkeit eines differenzierten Extremismusbegriffs untermauert werden, ohne dass auch nur annähernd eine systematische Analyse von Ideologie, Organisation und Strategie erfolgt. Abschließend geht es nicht bloß um eine Zusammenfassung, sondern kurz auch um die Prüfung der Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der Art des Extremismus und der Art der Bedrohung des demokratischen Verfassungsstaates besteht. Führt ein schwacher Extremismus wirklich zu einer schwachen Bedrohung des demokratischen Verfassungsstaates, ein starker Extremismus zu einer starken Bedrohung?
2.
Bestimmungsmerkmale für harten und weichen Extremismus bei Parteien
Antidemokratische Parteien variieren nicht nur in ihrer Ausrichtung, sondern auch und vor allem in ihrem Intensitätsgrad, worauf der Verfasser vor über zehn Jahren bei der Analyse des europäischen Rechts- und Linksextremismus hingewiesen hatte, ohne
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aber genauere Kriterien zu entwickeln.7 Bereits 1978 hatte der hispano-amerikanische Politikwissenschaftler Juan J. Linz (Oppositions-)Parteien nach ihrer Einstellung zum demokratischen System in loyale, semiloyale und disloyale Kräfte eingeteilt.8 Die parallel gewachsene Relevanz einer international vergleichenden Erforschung des Extremismus (vor allem im Rahmen der EU-Staaten und der Europawahlen9) verstärkt die Notwendigkeit einer systematischen und kriterienorientierten Beschäftigung mit dem Maß an antidemokratischer Intensität. Diese bisher vernachlässigte Aufgabe wird zusätzlich erschwert, da in den meisten Staaten unterschiedlich (verfassungstheoretisch) geregelt und (politisch kulturell) wahrgenommen wird, was überhaupt als extremistisch bzw. demokratisch zu gelten hat. Bei der Differenzierung extremistischer Intensität geht es erstens nicht darum, einen weichen Linksextremismus von einem harten Rechtsextremismus (und von einem unter Umständen noch härteren religiösen Fundamentalismus) abzugrenzen, wie dies eine gängige Begriffsbildung („rechtsextrem“ versus „linksradikal“) suggeriert. Unterschiede kann es sowohl innerhalb der einzelnen Strömungen als auch aus vergleichender Perspektive geben. So ist, beispielsweise, der Linksextremismus der MLPD nicht mit dem der Linken auf eine Stufe zu stellen.10 Zweitens stellt der häufig missverständlich verwendete Terminus Populismus (sozusagen als Extremismus-light-Variante) nicht zwangsläufig eine weiche Extremismusvariante dar – er kann vielmehr demokratisch wie extremistisch ausgerichtet sein. Die Frage nach der Bejahung des demokratischen Verfassungsstaates steht beim Populismus nicht im Vordergrund. Gleichwohl dürften die meisten extremistisch-populistischen Kräfte zu weichen Extremismusformen zählen, da die (harte) Forderung nach einem radikalen und umfassenden Systemwechsel hin zu einer Diktatur kaum populistisch ist. Wie lässt sich nun die meist nur grob skizzierte Unterscheidung harter und weicher Extremismusvarianten, sofern dies überhaupt geschieht, analytisch fruchtbar machen? Um der Mehrdimensionalität des Extremismusphänomens Rechnung zu tragen, bieten 7 Vgl. Eckhard Jesse, Formen des politischen Extremismus. Westliche Demokratien Europas im Vergleich, in: Ders./Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, Baden-Baden 1997, S. 127–168. 8 Vgl. Juan J. Linz, The Breakdown of Democratic Regimes: Crises, Breakdown and Reequiliberation, Baltimore 1978. 9 Siehe Eckhard Jesse/Tom Thieme, Extremismus im europäischen Vergleich, in: Dies. (Hrsg.), Extremismus in den EU-Staaten, Wiesbaden 2011, S. 431–482. Siehe zu den Einstellungen EU-feindlicher bzw. EU-kritischer Parteien das Konzept des Euroskeptizismus von Paul Taggart/Aleks Szczerbiak (Hrsg.): Opposing Europe? The Comparative Party Politics of Euroscepticism, Bd. 1: Case Studies and Country Surveys, Bd. 2: Comparative and theoretical perspectives, Oxford 2008. Im Gegensatz zur „weichen“ Euroskeptizismusvariante, welche die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration immanent kritisiert, lehnen Vertreter des „harten“ Euroskeptizismus die Gemeinschaftsdemokratie und das Wertesystem der EU generell ab. Sie fordern den Rückzug des jeweiligen Landes aus dem europäischen Rechts- und Vertragsrahmen. 10 Vgl. dazu als Überblick Uwe Backes, 60 Jahre Extremismus in Deutschland, in: Ders./Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 20, Baden-Baden 2009, S. 13–44.
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sich, wie erwähnt, die klassischen Untersuchungsmerkmale der Parteienanalyse an – Ideologie, Organisation und Strategie. Daraus lassen sich Untersuchungskriterien ableiten, die wiederum zwei partiell gegenläufigen Ansprüchen genügen müssen: Gilt es einerseits den Mehrebenencharakter extremistischer Erscheinungen zu berücksichtigen (Form, Ziel und Mittel des Extremismus), darf die Differenzierung des Intensitätsgrades andererseits nicht zu einer Zerfaserung und damit zu einer (mehr oder weniger) beliebigen Subtypenbildung innerhalb des Extremismuskonstruktes führen. Die Operationalisierung zweier (jeweils voneinander unabhängiger) Kriterien für die Merkmale Ideologie, Organisation und Strategie mag daher genügen. Die folgenden Überlegungen beziehen sich ausschließlich auf die Parteien. Eine Differenzierung des Kriterienkataloges im Vergleich zum subkulturellen Extremismus leuchtet unmittelbar ein. Hier kommt dem Element der Gewaltanwendung oder der Gewaltbejahung eine unterscheidende Relevanz zu. Eine Analyse des intellektuellen Extremismus, die den extremistischen Intensitätsgrad aufzufächern anstrebt, müsste ebenso auf andere Merkmale zurückgreifen. Gleiches gilt für den Terrorismus. Ideologie: Eine weltanschauliche Utopie der angestrebten Gesellschaftsform stellt den Kern antidemokratischen Denkens dar. Harte Extremismen lehnen den demokratischen Verfassungsstaat in toto ab und streben (mehr oder weniger offen) eine Diktatur an. Weiche Extremismen richten sich nur gegen bestimmte Bereiche demokratischer Verfasstheit, beispielsweise bürgerliche Freiheits- und Gleichheitsrechte, und laufen damit auf eine Abschwächung der Elemente des demokratischen Verfassungsstaates hinaus. Der zweite Aspekt betrifft die Frage, ob den jeweiligen Gesellschaftsvorstellungen überhaupt eine konsistente (Groß-)Ideologie zugrunde liegt (hart) oder ob nur einzelne Ideologieelemente aus den historisch gewachsenen Weltanschauungen von Nationalismus, Kommunismus und Klerikalismus übernommen werden (weich). Während es heute harte Extremismen im ersten Sinne nach wie vor gibt, ist vor dem Hintergrund einer breit verankerten gesellschaftlichen Ablehnung des Nationalsozialismus und der Delegitimierung des Kommunismus seit 1989/90 eine graduelle Deideologisierung extremistischer Parteien zu beobachten, die dem klassischen Extremismusbild nur bedingt entspricht. Wer auf einschlägige Großideologien setzt, ist isoliert. Strategie: Ein allgemeines Problem der Extremismusforschung besteht in der Zuordnung jener Parteien, die sich auf den ersten Blick nicht eindeutig als extremistisch einordnen lassen. Erschwert wird diese Klassifizierung dadurch, dass extremistische Parteien – teils aus Angst vor staatlichen Restriktionen, teils aus Pragmatismus bzw. Populismus – ihre Position verschleiern. Weiche Extremismusformen halten sich formal an die demokratischen Prinzipien. Harte Extremismen zielen dagegen (mehr oder weniger offen) auf den „Systemwechsel“, instrumentalisieren die Demokratie. Sie geraten dadurch offensichtlich in den Konflikt mit der demokratischen Rechtsordnung. Das Kriterium der Gewaltbereitschaft ist für die Analyse extremistischer Parteien nicht entscheidend. Anders sieht es bei der Frage nach Kooperationen mit militanten oder gar gewaltbereiten Kräften aus: Extremistische Parteien nutzen solche Szenen häufig
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als Basis, Unterstützung und Rückzugsraum ihrer außerparlamentarischen Aktivitäten. Während beim weichen Extremismus eine klare Distanzierung von militanten oder gewalttätigen Gruppen vorliegen muss, fehlt es den harten Extremismusformationen daran; sie suchen bisweilen sogar Zusammenarbeit. Organisation: In extremistischen Parteien sind häufig unterschiedliche Strömungen beheimatet, um ein möglichst breites Spektrum potentieller Sympathisanten zu erreichen und so den eigenen politischen Einfluss steigern zu können. Als Kriterium für die Einschätzung kann daher gefragt werden, ob die antidemokratische Gesinnung innerhalb der jeweiligen Organisation eine Mehrheits- (harter Extremismus) oder Minderheitenposition (weicher Extremismus) darstellt. Nicht nur die Größen-, sondern auch die Machtverhältnisse spielen eine Rolle. Die Spitzen einer Organisation können gemäßigter auftreten als ihre aufbegehrenden Flügel oder umgekehrt – eine radikale Führungsgruppe kann von eher moderaten Pragmatikern umgeben sein. Die innerparteilichen Kräfteverhältnisse sind mitentscheidend für die Zuordnungen als „hart“ oder „weich“ extremistisch: Besitzen die Vertreter eines extremistischen Anspruchs organisationsintern eine entscheidende Position? Ist das Machtzentrum im Kern antidemokratisch? Tabelle 1: Kriterienkatalog für harte und weiche Extremismusformen Ideologie Strategie
Organisation
Gesellschaftsmodell
Wird eine Diktatur angestrebt?
Weltanschauungsmodell
Liegt eine „klassische Großideologie“ vor?
Legalitätsverständnis
Wird die Demokratie instrumentalisiert?
Pluralismusverständnis
Gibt es eine Zusammenarbeit mit anti demokratisch militanten oder gewaltbereiten Kräften?
Größenverhältnisse
Ist der Extremismus eine Mehrheitsposition?
Kräfteverhältnisse
Ist das Machtzentrum extremistisch ausgerichtet?
Obwohl die Differenzierung extremistischer Intensität auf der normativen Extremismustheorie fußt, widerspricht sie entscheidend der Annahme von einer Nichtsteigerbarkeit des Extremen. Streng genommen kann es demnach – nicht nur sprachlich – keine „extremeren“ bzw. „extremsten“ Parteien geben; entweder sie sind demokratiefeindlich (und damit extremistisch) oder nicht. An dieses Argument dürften (unterschiedlich motivierte) Vorwürfe anknüpfen, mit einer abgestuften Beurteilung extremistischer Qualität „hart“ gesottene Kräfte zu stigmatisieren, „weich“ gespülte Akteure zu relativieren. Begriffe wie „kommode Diktatur“ (so Günter Grass mit Blick auf die DDR) oder „smarter Extremismus“ (so der Verfasser mit Blick auf die Linke) rufen denn auch Kritik hervor. Die Nichtsteigerbarkeit des Extremismusbegriffs steht nicht zwangsläufig im Gegensatz zu der Unterscheidung „hart“ versus „weich“. Die Differenzierung des Intensitätsgrades darf nicht zu einer Verwässerung des Extremismusbegriffs und zu einer Erosion der Abgrenzung von Extremismus und Demokratie führen. Es gilt zunächst (eindeutig) zu klären, ob eine Organisation demokratisch oder extremistisch verfasst ist. Eine Klassi-
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fizierung extremistischer Organisationen macht nur aus immanenter Perspektive Sinn. Egal, ob es sich um weiche oder harte Extremismusformen handelt, bleiben es im Kern antidemokratische bzw. verfassungsfeindliche Kräfte. Die Auffächerung ermöglicht jedoch eine bessere Unterscheidung extremistischer Positionen. Sie will plausibel machen, dass eine Gleichsetzung eben nicht angestrebt ist, dieser Vorwurf somit ins Leere zielt.
3.
Untersuchungsmerkmale für NPD und Linke
3.1. NPD 3.1.1. Ideologie Zu Beginn der 1990er Jahre befand sich die „alte NPD“ in einer „Traditionsfalle“. Während die Kontrahenten mit einem neuen, ideologisch „leichtfüßigen“ Rechtsextremismus erfolgreich soziale und kulturelle Protestpotentiale bedienten, reduzierte ihr Kurs die Partei auf einen harten Wählerkern.11 Die ideologische Neuausrichtung unter der Führung von Udo Voigt (ab 1996) radikalisierte die NPD einerseits und verlieh ihr andererseits ein wählerwirksameres Auftreten. Früher eher besitzbürgerlich-antikommunistisch orientiert, agiert die Partei nun aggressiv antikapitalistisch-nationalrevolutionär, bisweilen klassenkämpferisch. Sie propagiert einen „nationalen Sozialismus“, wendet sich vehement gegen die Globalisierung, gegen die USA, gegen „den“ Kapitalismus. So umfasst der außenpolitische Komplex des NPD-Aktionsprogramms u. a. die Punkte: „Nationalismus sichert Frieden“, „Die ‚neue Weltordnung‘ der US-Ostküste“, „Die Erscheinungsformen des US-Imperialismus“, „Die Welt der tausend Völker“.12 Die NPD begründet ihren Rassismus kulturell, argumentiert ethnopluralistisch. Menschenwürde ist in ihren Augen abhängig von der völkischen Zugehörigkeit, kein universeller Wert. Im geistigen Fahrwasser neurechter Theoretiker fordert sie staatliche und kulturelle Vielfalt, deutet die „Globalisierung als Angriff auf die Volksgemeinschaft“.13 Eine „ethnisch homogene Volksgemeinschaft“14 ist primäres Ziel und tragendes Element ihrer Ideologie. Ihr völkischer Kollektivismus bzw. Nationalismus negiert dabei individuelle Rechte und gesellschaftlichen Pluralismus. Der geforderte Ausschluss aller Nicht-Deutschen aus einer „deutschen Volksgemeinschaft“ steht für Vertreibung und
11 Für die frühe Zeit: Uwe Hoffmann, Die NPD. Entwicklung, Ideologie und Struktur, Frankfurt a. M. 1999. 12 Vgl. NPD-Parteivorstand, Aktionsprogramm für ein besseres Deutschland , o.O. o.J., S. 48–55. 13 So Mathias Brodkorb, Die Globalisierung als Angriff auf die Volksgemeinschaft, in: Ders./Volker Schlotmann (Hrsg.), Provokation als Prinzip. Die NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 2006, S. 155–195; vgl. auch Florian Hartleb, Gegen Globalisierung und Demokratie. Die NPD als eine neue soziale Bewegung im europäischen Kontext?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 96–108. 14 NPD-Parteivorstand (Anm. 12), S. 14.
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Enteignung.15 Die Partei ist dezidiert fremdenfeindlich. So warb die NPD im Bundestagswahlkampf 2009 mit „Gute Bildung durch weniger Ausländer“, „Heimreise statt Ausreise“ oder „Arbeit zuerst für Deutsche“. Im sächsischen Landtagswahlkampf 2009 plakatierte sie „Poleninvasion stoppen!“, „Grenzen sichern! Kriminalität stoppen!“ und „Touristen willkommen, Asylbetrüger raus!“ Ihre Ausländerfeindlichkeit mündete in rassistische Kampagnen, etwa beim Landtagswahlkampf in Thüringen 2009. Gleichwohl ist die NPD keine überwiegend neonationalsozialistische Partei. Sie knüpft nicht offen an den historischen Nationalsozialismus an, kritisiert ihn jedoch auch nicht direkt. Sie selbst spricht regelmäßig von einem „nationalen Sozialismus“ oder einem „sozialen Nationalismus“. „Sozialstaat geht nur im Nationalstaat! Eine Solidargemeinschaft kann es nur in einer Volksgemeinschaft geben. Wer diese Einsicht nicht teilt, wird die soziale Frage nicht lösen, sondern im Gegenteil verschärfen. [...] Deshalb, wer die Situation von Geringverdienern und Arbeitslosen hierzulande verbessern will, muss gegen den Internationalismus und für den Nationalstaat sein. Der muss für geschlossene Grenzen und gegen Zuwanderung sein.“16 Angesichts der Weltwirtschaftskrise propagierte die Partei mit Protektionismus, Einfuhrzöllen und einer nationalen Konjunkturpolitik ihr Konzept einer „raumorientierten Volkswirtschaft“. Fazit: Die NPD vertritt zwar nicht die Ideologie des Nationalsozialismus, distanziert sich von ihr aber auch nicht. Hingegen richtet sie sich mit ihrer Programmatik klar gegen den demokratischen Verfassungsstaat an sich. Was sie verficht, läuft auf die Errichtung einer Diktatur hinaus. 3.1.2. Strategie Udo Voigt17 initiierte einen Strategiewechsel. Er proklamierte als Ziel, „seine“ Partei aus ihrem „politischen Eremitendasein“18 herauszuführen. Die strategische Verjüngungskur bescherte der NPD einen „zweiten Frühling“19, radikalisierte sie aber erkennbar. Voigt predigt den Kampf gegen die demokratische Ordnung. So erklärte er nach dem (ersten) sächsischen Wahlerfolg seiner Partei vollmundig: „Es ist unser Ziel, die BRD ebenso abzuwickeln, wie das Volk vor 15 Jahren die DDR abgewickelt hat. Dies geht offen-
15 Vgl. Steffen Kailitz, Wohlfühldiktatur ohne Mischlinge, in: Süddeutsche Zeitung v. 16. Oktober 2008. 16 Rede von Frank Schwerdt zum Landesparteitag der NPD-Thüringen am 7. Februar 2009, unter: http://www.frankschwerdt.de/ (3. März 2009). 17 Vgl. Eckhard Jesse, Biographisches Porträt: Udo Voigt, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 18, Baden-Baden 2006, S. 207–219. 18 So Harald Bergsdorf, Die Vier-Säulen-Strategie der neuen NPD, in: Deutschland Archiv 41 (2008), S. 14–19; Armin Pfahl-Traughber, Der „zweite Frühling“ der NPD. Entwicklung, Ideologie, Organisation und Strategie einer rechtsextremistischen Partei, Sankt Augustin/Berlin 2008. 19 Das erkannte frühzeitig Armin Pfahl-Traughber, Der „zweite Frühling“ der NPD zwischen Aktion und Politik, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 11, BadenBaden 1999, S. 146–166.
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sichtlich auch über die Wahlurne.“20 Im Zentrum steht das auf dem Bundesparteitag 1998 verabschiedete „Drei-Säulen-Konzept“. Damit, so Voigt, „nimmt die NPD von der althergebrachten Rolle einer reinen Wahlpartei Abschied und stellt für den mittelfristigen politischen Kampf nunmehr drei Agitationsfelder gleichrangig nebeneinander“21: die ideologische „Schlacht um die Köpfe“, die mobilisierende „Schlacht um die Straße“ und die „Schlacht um die Wähler“.22 Die Partei appellierte: „Alle Mitglieder, insbesondere die Amtsträger der NPD sind aufgefordert, je nach eigenen Stärken und Schwächen den Schwerpunkt ihres Einsatzes innerhalb dieses Dreiecks zu wählen“.23 Voigt erachtet den Erfolg beim „Kampf um die Straße“ als Bedingung für den „Kampf um die Parlamente“.24 Daher kooperiert die Partei beim „Wiederaufbau der Volksgemeinschaft“25 mit Neonationalsozialisten und Skinheadgruppen. Sie nutzt in dieser – pointiert formuliert – „Querfrontstrategie“ den neuen Bewegungscharakter des deutschen, speziell ostdeutschen Rechtsextremismus, dessen dynamisierte Organisations- und erweiterte Aktionsformen. Dabei gerät sie in ein strategisches Dilemma. Bindet sie sich zu eng an aktivistische Kader und martialisch auftretende Mitglieder der neonationalsozialistischen Szene, beschränkt sie ihre Wählbarkeit und generiert einen Zielkonflikt mit dem „Kampf um die Parlamente“.26 Umgekehrt fördert die Abgrenzung der Partei von den „Freien Kräften“ einen möglichen Wahlerfolg, erzeugt aber einen Zielkonflikt mit der „Schlacht um die Straße“. Im „Kampf um die Köpfe“ ist neben der inhaltlichen Neuausrichtung ein wesentliches Merkmal die provokative „Übernahme linksextremistischer Agitation und Rhetorik“.27 Nach dem Erfolg in Sachsen ergänzte Udo Voigt auf dem NPD-Bundesparteitag im Oktober 2004 das Drei-Säulen-Konzept um den „Kampf um den organisierten Willen“.28 Damit ist die Bündelung aller Kräfte des „nationalen Lagers“ in einer „Volksfront von 20 „Ziel ist, die BRD abzuwickeln“. Der NPD-Vorsitzende Udo Voigt über den Wahlerfolg seiner Partei und den Zusammenbruch des liberal-kapitalistischen Systems, in: Junge Freiheit v. 24. September 2004, S. 3. 21 Udo Voigt, Mit der NAPO auf den Weg in das neue Jahrtausend, in: Holger Apfel (Hrsg.), Alles Große steht im Sturm. Tradition und Zukunft einer nationalen Partei. 35 Jahre NPD – 30 Jahre JN, Stuttgart 1999, S. 469. 22 Vgl. Das strategische Konzept der NPD, in: Ebd., S. 359. 23 Ebd., S. 360. 24 Vgl. Udo Voigt (Anm. 21), S. 470. 25 Das strategische Konzept der NPD (Anm. 22), S. 360. 26 Vgl. Lazaros Miliopoulos, Strategische Ansätze, Potentiale und Perspektiven der NPD, in: Uwe Backes/ Henrik Steglich (Anm. 1), S. 121–141. 27 So treffend Rudolf van Hüllen, Das Rechtsextreme Bündnis: Aktionsformen und Inhalte, Sankt Augustin/Berlin 2008, S. 37. Lazaros Miliopoulos spricht von einer „Kreuzungsstrategie“. Vgl. ders. (Anm. 26), S. 133. 28 Vgl. Ansprache des NPD-Vorsitzenden Udo Voigt auf dem NPD-Bundesparteitag am 30./31. Oktober 2004 in Leinefelde – Arbeit – Familie – Vaterland, dokumentiert in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 17, Baden-Baden 2005, S. 126–141.
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rechts“ gemeint – von der Deutschen Volksunion (DVU) bis zu den „Freien Kameradschaften“. Eine Zersplitterung soll verhindert werden, ein Kampf der rechtsextremistischen Parteien um das überschaubare Wählerpotential ebenfalls. Am 15. Januar 2005 bekräftigten und konkretisierten NPD und DVU ihren Willen zur Zusammenarbeit in einem großspurig klingenden „Deutschland-Pakt“, in dem sie Wahlabsprachen bis ins Jahr 2009 trafen. Der Pakt wurde 2009 vorzeitig außer Kraft gesetzt. Bei der thüringischen Landtagswahl trat entgegen der Vereinbarung die NPD an, und in Brandenburg kandidierte diese gegen die DVU. Die „Freien Kräfte“ haben sich nur teilweise in das parteieigene Bündniskonzept einbeziehen lassen. Das neonationalsozialistische Lager ist gespalten in seiner Haltung gegenüber der NPD – das moderne ostdeutsche dabei weniger als das tradierte westdeutsche.29 Vielen gilt sie als zu lasch, nach ihren Erfolgen gar als Teil des politischen Establishments. Die NPD-Parteiführung hat sich zum Ärger eines Teils der „Freien Kräfte“ 2007 von den „Autonomen Nationalisten“ und ihrem „Schwarzen Block“ distanziert – wohl mehr aus taktischen Erwägungen als aus prinzipieller Überzeugung, wie die spätere partielle Rücknahme der Abgrenzung zeigt.30 Insgesamt lässt die starke Anbindung der Partei an die „Freien Kräfte“ die demonstrativ nach außen gekehrte gewaltaversive Haltung der NPD als wenig glaubwürdig erscheinen. Fazit: Die Partei nimmt mit Blick auf ihr Legalitätsverständnis kein Blatt vor den Mund. Sie macht aus ihrer Ablehnung des „Systems“ keinen Hehl. Und sie ist bestrebt, möglichst viele Richtungen um sich zu versammeln, wie die enge Zusammenarbeit mit den militanten „Freien Kräften“ zeigt. Selbst die Abgrenzung gegenüber dem (braunen) „Schwarzen Block“ fällt nicht prinzipiell aus. 3.1.3. Organisation Die Frage nach dem innerparteilichen Verhältnis von extremistischen und demokratischen Strömungen stellt sich für die NPD nicht ernsthaft. Es gibt zwar unterschiedliche Strömungen in der Partei, aber die Konflikte verlaufen nicht zwischen demokratischen und extremistischen Kräften. Im Zuge ihrer strategischen Wende hatte sich die NPD verstärkt für Personen aus dem nationalsozialistischen Spektrum geöffnet, entweder durch Mitgliedschaft oder durch eine Anbindung der eigenständigen Kameradschaften an die Partei. Einigen Neonationalsozialisten, etwa der Gruppe um Christian Worch, ist die Partei nicht radikal genug. Andere führende Aktivisten der „Szene“ wie Thorsten Heise, Jens Pühse, Thomas Wulff oder Steffen Hupka stießen zur NPD. Ihre Parteieintritte hatten Signalwirkung und dienten als Brückenfunktion zum neonationalsozialistischen Lager. 29 Vgl. Martin Thein, Wettlauf mit dem Zeitgeist. Der Neonazismus im Wandel, Göttingen 2009, S. 328. 30 Vgl. Marc Brandstetter, Feinde im Alltag, Brüder im Geiste – Autonome Nationalisten im Vergleich zu den linksextremen Autonomen, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Anm. 10), S. 199–201.
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Zuletzt wurde der Rassist Jürgen Rieger 2007 zum Vorsitzenden des Hamburger NPD-Landesverbandes und 2008 zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt. Er vertritt bedeutsame Teile der NPD-Anhänger- und Mitgliederschaft. Die NPD kompensiert so ihre personellen Schwächen. Sie vereint einen Großteil des rechtsextremistischen Milieus. „Voraussetzung hierfür war weniger ein fein ziselierter Plan und erst recht nicht ein charismatischer Führer, sondern eher ein lethargisches, wenig inspiriertes Spektrum, das von zielgerichteten, relativ jungen Rechtsextremisten politisch und strategisch ,modernisiert‘ worden ist.“31 In ihren inneren Strukturen verschoben sich 2009 durch die handstreichartige Verbannung von Holger Apfel, Peter Marx und Andreas Molau aus dem Führungszirkel der Bundespartei die Kräfteverhältnisse vom gemäßigten hin zum radikalen Flügel. Im Zuge der Finanzaffären der NPD 2007/08 war der Führungsstreit eskaliert.32 Voigt galt als zu lange an der Macht sowie als involviert in die finanziellen Ungereimtheiten. Als Gegenkandidat präsentierte sich zunächst der moderatere, von Holger Apfel und Peter Marx hofierte Andreas Molau, der sich jedoch Mitte Februar 2009 zurückzog. Der stattdessen angetretene Schweriner Fraktionsvorsitzende Udo Pastörs unterlag Voigt auf dem Bundesparteitag im April 2009 in einer Kampfabstimmung.33 Stellvertreter des wiedergewählten, aber geschwächten Parteivorsitzenden wurden Frank Schwerdt, Jürgen Rieger und Karl Richter. Neben Schwerdt und Rieger ist der NPD-Bundesvorstand durch Claus Cremer, Thorsten Reise, Jens Pühse, Andreas Thierry und Thomas Wulff nun auffallend mit ausgesprochenen Hardlinern besetzt. Die NPD verfügt als einzige rechtsextremistische Partei über relativ aktive Unter und Nebenorganisationen, etwa den „Ring Nationaler Frauen“ oder die Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“. Deren Mitglieder dienen der Partei als Rekrutierungsund Mobilisierungspool. Die „Jungen Nationaldemokraten“ sind radikaler als ihre Mutterpartei, die Beziehungen durchaus spannungsgeladen. Der Versuch, sich über die parlamentarische Ebene zu etablieren, gilt vielen jungen Kräften als Verleugnung des Widerstandsziels. Dabei schlagen die „Jungen Nationaldemokraten“ eine wichtige Brücke zu den „Freien Kameradschaften“. Fazit: Die vielfältigen Kontroversen innerhalb der NPD-Organisation gehen neben anderen Faktoren in der Tat auf Zwistigkeiten zwischen „Tauben“ und „Falken“ zurück. Beide Richtungen stehen allerdings fest im extremistischen Umfeld. Dies signalisieren die Größen- wie die Kräfteverhältnisse. Die NPD ist ein Beispiel für eine Partei, bei der der innere Zirkel insgesamt „härter“ auftritt als die breite Basis.
31 Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) als Gravitationsfeld im Rechtsextremismus, Bonn 2006, S. 8. 32 Vgl. Christoph Ruf/Olaf Sundermeyer (Anm. 1), S. 17–23. 33 Allerdings kann Pastörs nicht zum gemäßigten Flügel der Partei gerechnet werden.
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3.2. Die Linke 3.2.1. Ideologie Einen Tag vor dem Vereinigungsparteitag 2007 traf Lothar Bisky, neben Oskar Lafontaine Vorsitzender der Partei Die Linke, auf der 3. Tagung des 10. Parteitages in einer Grundsatzrede die folgende Feststellung: „Kurz gesagt: Wir stellen die Systemfrage! Für alle von den geheimen Diensten nochmal zum Mitschreiben. Die, die aus der PDS kommen, aus der Ex-SED und auch die neue Partei DIE LINKE – wir stellen die Systemfrage. Das tun wir nicht in der Plattheit, wie es unsere politischen Gegner gern darstellen – zurück zum gescheiterten Realsozialismus, so wie er war – und indem wir alles verstaatlichen wollten oder keinen Platz für erfolgreiche, ökologisch und familienorientierte Unternehmen in unserem Denken hätten.“34 Diese Aussage, getroffen vom Parteivorsitzenden auf einem Parteitag, ist starker Tobak. Wer die „Systemfrage“ stellt, lehnt die Grundlagen des Systems ab. Eine andere Interpretation scheint schwer möglich. Lothar Bisky, ebenso Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, die den Begriff der „Systemfrage“ in einem ähnlichen Sinn gebrauchten, 35 ist zu glauben: Die Äußerung bedeutet in der Tat keine Rückkehr zum Realsozialismus der DDR – ebenso freilich keine Hinwendung zum demokratischen Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland. Damit nimmt die Linke eine Verschärfung der eigenen Position gegenüber früher vor. Allerdings stellt die Partei, die den undemokratischen „demokratischen Zentralismus“ der SED ablehnt, in der praktischen Politik nicht die „Systemfrage“, wohl aber in ihren Äußerungen. Sie eint Antifaschismus36, Antikapitalismus37 und Antiamerikanismus38. Der Gemeinplatz, der Kapitalismus sei nicht das letzte Wort der Geschichte, kommt oft aus dem Mund ihrer führenden Repräsentanten. Die Partei sieht in der kapitalistischen Klassengesellschaft mehr oder weniger die Wurzel allen Übels, spricht in ihren „Programmatischen Eckpunkten“ von einer „Entdemokratisierung“ durch einen „neoliberalen Kapitalismus“. Das Feindbild „Kapitalismus“ dient ihr mehr denn je als Basis für eine Überwindung der – angeblich – damit verbundenen Gesellschaftsform. Die Feststellung von Viola Neu, die PDS erachte die „herrschenden Verhältnisse“ für antidemokratisch, weil kapitalistisch, und versuche sie durch eine „sozialistische Demokratie“ zu ersetzen39 , gilt für die Linke ungeschmälert fort. Ihr Plädoyer für eine
34 Lothar Bisky, Wir sind gekommen, um zu bleiben, unter: http://www.lothar-bisky.de/kat_artikel_ detail.php?v=147 (31. März 2008). 35 Vgl. Eckhard Jesse/Jürgen P. Lang (Anm. 2), S. 262. 36 Vgl. Tim Peters, Der Antifaschismus der PDS aus antiextremistischer Sicht, Wiesbaden 2006. 37 Vgl. zum Antikapitalismus der PDS Viola Neu, Das Janusgesicht der PDS. Wähler und Partei zwischen Demokratie und Extremismus, Baden-Baden 2004, S. 172 f. 38 Vgl. Manfred Wilke/Udo Baron, „Die Linke“. Politische Konzeptionen der Partei, Sankt Augustin/ Berlin 2009, S. 23–34. 39 Viola Neu, Das neue PDS-Programm aus dem Jahr 2003, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 16, Baden-Baden 2004, S. 167.
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andere Gesellschaftsordnung ist im Ganzen unverkennbar, im Einzelnen jedoch vage. Die in den „Programmatischen Eckpunkten“ sowie im Bundestagswahlprogramm 2009 enthaltene zuweilen utopische Sozialstaatsideologie verleiht selbst den offen linksextremistischen Bestrebungen in der Partei eine gewisse Salonfähigkeit. So offenkundig das Gesellschaftsmodell der Linken extremistische Ansätze erkennen lässt40, so prinzipiell ist die Absage an die Großideologie des Marxismus-Leninismus. Sie distanziert sich entschieden vom „Stalinismus“, freilich nicht vom „Kommunismus“, ohne ihn aber plakativ zu propagieren. Wertet die in den „Programmatischen Eckpunkten“ vertretene Aussage nicht den „realen Sozialismus“ auf? „Als mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion das größte Gegengewicht wegfiel, konnten sich die zerstörerischen Tendenzen des ungehemmten kapitalistischen Marktes immer mehr entfalten.“41 Die Auseinandersetzung mit der DDR (das auf sie gemünzte Wort Diktatur unterbleibt) erfolgt gewollt halbherzig. Die Partei will an das Engagement jener anknüpfen, die „sich für die Beseitigung der Ursachen des Faschismus eingesetzt haben und einsetzen.“ Eine „kritische und solidarische Auseinandersetzung mit der Geschichte linker Praxis in der DDR und der BRD“ sei nötig. Die Partei bezieht gegen „antikommunistische Vorurteile“ Stellung. Antikommunismus wird angeprangert, keineswegs, wie erwähnt, der Kommunismus. Die Linke verurteilt nicht diesen, sondern den „Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus“.42 Die Schelte wirkt scharf, ist im Kern jedoch apologetischer Natur. „Die Linke trennt sich von der Praxis [...], aber sie trennt sich nicht von der theoretischen Grundlage – dem realen Sozialismus. Anders formuliert: Sie kritisiert zwar die praktische Umsetzung dieses Menschenexperiments, versucht aber, dessen Theorie schadfrei zu halten, um auf ihr bei einem zweiten Anlauf aufbauen zu können.“43 Sie nennt ihre Stiftung nach einer Revolutionärin, die 1918/19 die erste deutsche Demokratie mit Gewalt zu beseitigen gesucht hatte und bekennt sich zu ihr.44 Dabei ist die Nähe von Luxemburg zu Lenin ungeachtet mancher Abweichungen beträchtlich.45 Die Linke hat ihre Anleihen bei den ideologischen Vorläufern der SED wohl stark abgeschwächt, aber nicht völlig gekappt.
40 Vgl. auch Jürgen P. Lang, Die Linke, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 21, Baden-Baden 2009, S. 161–179. 41 Programmatische Eckpunkte – Programmatisches Gründungsdokument der Partei DIE LINKE. Beschluss der Parteitage von WASG und Linkspartei.PDS am 24. und 25. März 2007 in Dortmund, S. 3. 42 Ebd., S. 3. 43 Manfred Wilke/Udo Baron, „Die Linke“. Entstehung – Entwicklung – Geschichte, Sankt Augustin/ Berlin 2008, S. 25. 44 Vgl. Jürgen P. Lang, Heilige Rosa? Die Luxemburg-Rezeption in der Partei „Die Linke“, in: Deutschland Archiv 42 (2009), S. 900–907. 45 Vgl. Ulla Plener, Rosa Luxemburg und Lenin. Gemeinsamkeiten und Kontroversen. Gegen ihre dogmatische Entgegenstellung, Berlin 2009.
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Fazit: Die Ideologie weist viele Elemente auf, die nur schwer mit dem demokratischen Verfassungsstaat in Einklang zu bringen sind, auch wenn dieser nicht in seiner Gesamtheit abgelehnt wird. Hingegen gibt es eine deutliche Distanz zur Großideologie des „realen Sozialismus“, wiewohl manche Traditionsstränge in die Gegenwart reichen. 3.2.2. Strategie Der Ansatz der Linken ist außerparlamentarischer und innerparlamentarischer Opposition sowie der Regierungspolitik verpflichtet. In dem sogenannten „strategischen Dreieck“ der PDS hieß es 2004: „Für sozialistische Politik nach unserem Verständnis bilden Widerstand und Protest, der Anspruch auf Mit- und Umgestaltung sowie über den Kapitalismus hinausweisende Alternativen ein unauflösbares strategisches Dreieck.“46 In den „Programmatischen Eckpunkten“ der Linken tauchen ähnliche Formulierungen auf. So ist von einer „Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse“ gegen die „herrschende Klasse“ die Rede. Die „parlamentarische Arbeit“ sei derart zu „gestalten, dass sie der Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Kräften der Linken, der öffentlichen Darstellung eigener Reformvorschläge und der Einbringung alternativer Gesetze“47 diene. Ist die Annahme eine Überinterpretation, dass die parlamentarische Tätigkeit „außerparlamentarischen Kräften“ günstige Möglichkeiten der Einflussnahme bieten soll?48 Die rein rechnerisch „linke Mehrheit“ spiegele sich derzeit weder in einem „gemeinsamen Projekt“ noch in den Parteienkonstellationen wider.49 Das ist richtig. Offenbar will die Linke aus einer arithmetischen Mehrheit eine politische Mehrheit machen. Sie zielt damit auf die durch den Regierungskurs der Sozialdemokraten (Agenda 2010) aufgerissene „Gerechtigkeitslücke“ – offenbar mit Erfolg. Das Legalitätsverständnis der Partei ist folglich unklar. Es wird nicht immer deutlich, ob die Strategie die Demokratie zu reformieren oder auszuhebeln sucht. Das Pluralismusverständnis erscheint erst recht unausgegoren. War in der SED eine Abweichung von der Parteilinie Häresie, so versteht sich die Linke als eine Strömungs-
46 Zitiert nach Disput 11/2004, S. 50 f. 47 Programmatische Eckpunkte (Anm. 41), S. 18. 48 Vgl. etwa das im Umfeld der Linken sich vielfältig etablierende Netzwerk an wohlklingenden Vereinen, das von der Forschung kaum zur Kenntnis genommen wird und auf die Delegitimierung des demokratischen Verfassungsstaates zielt (z. B. die „Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde“ oder die „Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung“. Siehe zur Kritik der Position dieser Vereine: Norman Bock, Postkommunistischer Geschichtsrevisionismus. Die Verklärung der SED-Diktatur, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 58 (2009), S. 377–386. 49 Vgl. Michael Brie, Der Kampf um gesellschaftliche Mehrheiten, in: Ders./Cornelia Hildebrandt/ Meinhard Meuche-Maker (Anm. 2), S. 13–45.
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partei, die sich nach links keineswegs abgrenzt, da sie jeder Form des Antikommunismus nicht Vorschub leisten möchte. Der demokratische Verfassungsstaat wird auf diese Weise nicht glaubwürdig gestärkt. Die Partei arbeitet mit militanten Demokratiegegnern zusammen. Ein Beispiel: In Niedersachsen zog im Januar 2008 mit dem DKP-Urgestein Christel Wegner zum ersten Mal ein aktives Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei in einen deutschen Landtag ein – und zwar auf der Liste der Linken. Der Fall Wegner wurde zum Politikum, als die Abgeordnete in einem Fernsehinterview u. a. das revolutionäre Ansinnen ihrer Partei gerechtfertigt und den Mauerbau als ostdeutsche Schutzmaßnahme verteidigt hatte. Der Bundesvorstand der Linken reagierte nach öffentlichen Protesten scharf und schloss die Abgeordnete aus der Landtagsfraktion aus. Konsequent erschien dies freilich nicht, war doch Wegners kommunistischer Habitus bereits zum Zeitpunkt ihrer Kandidatur auf der freien Liste der niedersächsischen Linken offenbar. Auf ihrem 1. Parteitag am 24./25. Mai 2008 fasste die Partei den Beschluss, dass auf ihren zukünftigen Wahllisten, ausgenommen bei Kommunalwahlen, allein Mitglieder und Parteilose kandidieren dürfen. Die „Kommunistische Plattform“ kritisierte dies als Ausdruck eines „linken Antikommunismus“.50 Gleichwohl distanziert sich die Linke nicht ideell von der orthodox-kommunistischen DKP. So sei die Entscheidung mehr oder weniger durch die neue Gesetzeslage vorgegeben. Selbst die Grenzziehung gegenüber Gewaltbefürwortern fällt der Partei schwer. Wiewohl sie die Gewalt bei den Protesten gegen den G8-Gipfel im mecklenburgischen Heiligendamm vom Juni 2007 ablehnte, verwahrte sich die stellvertretende Parteivorsitzende Katja Kipping vor „pauschalen Distanzierungen gegenüber dem schwarzen Block“51, einer militanten linksautonomen Formation. Das Verhältnis der Linken zur gewaltbereiten autonomen Szene ist ambivalent – speziell dann, wenn es gegen „Faschisten“ geht. Sie lehnt autonome Militanz ab, nicht die linksextremistische Szene an sich. Ähnliches gilt für gewaltsame Proteste am 1. Mai. Fazit: Die Partei laviert in ihrem Legalitätsverständnis. Nicht die gesamte Strategie läuft auf eine Instrumentalisierung der Demokratie hinaus. Sie nimmt gegenüber militanten Gegnern der Demokratie nur eine halbherzige Abgrenzung vor. Gewalt wird zwar nicht als Mittel der Politik gerechtfertigt, doch erfolgt die Distanzierung gegenüber einer antidemokratischen Richtung, die der Linken nahesteht, keineswegs ohne Wenn und Aber.
50 Es gibt keinen linken Antikommunismus. Diskussionsbeitrag von Ellen Brombacher auf dem 18. Parteitag der DKP in Mörfelden-Walldorf, unter: http://die-linke.de/partei/zusammenschluesse/ kommunistische_plattform_der_partei_die_linke/mitteilungen_der_kommunistischen_plattform (7. September 2009). 51 Vgl. Katja Kipping, Gipfelproteste 2007 – ein gelungener Start für DIE LINKE, in: André Brie/ Cornelia Hildebrandt/Meinhard Meuche-Mäker (Anm. 2), S. 99.
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3.2.3. Organisation Die Fusion von Linkspartei.PDS und WASG zur Linken vollzog sich im Juni 2007. Auch und gerade nach dem Zusammenschluss sind extremistische Kräfte innerhalb der Partei keineswegs schwächer geworden. Orthodoxe Kommunisten, Trotzkisten und radikale Linke wurden gestärkt und sind mehr denn je ein innerparteilicher Machtfaktor. Offenkundig ging durch den Zusammenschluss keine Mäßigung einher, sondern eher eine Radikalisierung, etwa durch neue sektiererische Gruppierungen. Die interne und externe Verzahnung von extremistischen und demokratischen Strukturen ist bei der Partei äußerst komplex. Dies hängt zum einen mit deren Größe zusammen, zum anderen mit ihrer innerparteilichen Heterogenität. Der in ihrer Satzung verankerte Pluralismus bietet auch Extremisten Raum. Nicht zuletzt deshalb verabschiedete die Partei bisher kein Programm. Offenbar fürchtet die Linke Grundsatzkonflikte zwischen den verschiedenen Kräften. Vier innerparteiliche Strömungen sind in der Partei präsent. Auf Seiten der ExLinkspartei zählen dazu erstens die „Reformer“ und, zweitens, die „Pragmatiker“. Auf Seiten der Ex-WASG sind, drittens, die „Sozialstaatsfraktion“ und die „Strömungslinken“ zu nennen. Viertens schlossen sich aus beiden Parteien oder von außerhalb kommende orthodoxe Kommunisten, Trotzkisten und andere radikale Linke in neuen Plattformen zusammen.52 Während die ersten drei (Mehrheits-)Fraktionen den bisherigen Kurs ihrer Parteien weiterführen oder sich in Auseinandersetzungen zwischen den eher pragmatischen Ost-Landesverbänden und dem sozialpopulistischen und ideologisierten „Lafontainismus“53 ergehen, versammelt die vierte (Minderheits-)Strömung Repräsentanten dezidiert antidemokratischer Positionen. Der mit rund 1.000 Mitgliedern stärkste extremistische Zusammenschluss in der knapp 76.000 Mitglieder starken Linken ist weiterhin die „Kommunistische Plattform“. Sie hält unbeirrt am Kommunismus marxistisch-leninistischer Prägung fest, dringt auf Systemüberwindung und tritt Reformtendenzen in der Partei rigoros entgegen. Ihre Bedeutung ist für das antikapitalistische Selbstverständnis der Partei sowie für deren Binnenintegration beachtlich. 54 Ihre Protagonistin, die Kommunistin Sahra Wagenknecht, die seit 2009 dem Bundestag angehört, wurde auf dem Bundesparteitag am 24./25. Mai 2008 mit 70,5 Prozent der Delegiertenstimmen in den Parteivorstand gewählt. Sie reüssierte nicht trotz, sondern wegen ihrer fundamentalistischen Grundhaltung. Andere Zusammenschlüsse sind ebenfalls offen verfassungsfeindlich: z. B. das „Marxistische Forum“, die „Sozialistische Linke“, die „Arbeitsgemeinschaft Cuba Si“. Die trotzkistische Organisation „Linksruck“ ist inzwischen unter dem Namen „marx21“ Teil der „Sozialistischen Linken“. Sie will den Aufbau einer „politischen Alternative 52 Vgl. Eckhard Jesse/Jürgen P. Lang (Anm. 2), S. 97–108. 53 Vgl. Andre Brie, Der Lafontainismus, in: Der Spiegel v. 8. Juni 2009, S. 40 f. 54 Vgl. Patrick Moreau, Politische Positionierung der PDS – Wandel oder Kontinuität?, München 2002, S. 188–197.
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zum entfesselten Kapitalismus und zu den etablierten, neoliberalen Parteien“. Die „Politischen Leitsätze“ des Netzwerkes dringen auf eine „Überwindung“ des Kapitalismus durch eine revolutionäre „Selbstbefreiung der arbeitenden Menschen“.55 Unterstützung erfährt das marxistische Netzwerk u. a. von den beiden ehemaligen „Linksruck“-Mitgliedern und heutigen Parteivorstandsmitgliedern Janine Wissler und Christine Buchholz. Die Basis der Partei teilt oft solche Vorstellungen. Gleichwohl handelt es sich bei den genannten Kräften klar um Minderheitspositionen. Wer auf die dominierende Linie abstellt, kommt erst recht zum Ergebnis, dass offen antidemokratische Positionen nicht „das Sagen haben“. Nur: Es fehlen Versuche, sie aus der Partei auszuschließen. Und selbst die Kritik wird betont halbherzig vorgetragen. Offenbar weiß die Führungsspitze, dass sie diese Strömungen benötigt. Fazit: Es gibt in der Linken Kräfte, die eindeutig den demokratischen Verfassungsstaat ablehnen. Wer die Größen- und die Kräfteverhältnisse betrachtet, erkennt freilich, dass sie nicht den Kurs der Partei bestimmen. Gleichwohl gelangen sie in führende Positionen, erfahren also auch von jenen Unterstützung, die jedem Fundamentalismus abgeschworen haben wollen.
4.
Schluss
Wie die kurze Analyse gezeigt haben sollte, gibt es bei der NPD wie bei der Linken Extremismus – mit Blick auf die Ideologie, die Strategie und die Organisation. Die Beispiele mussten nicht „gesucht“ werden, sondern lagen klar auf der Hand. Das ist die eine Seite. Die andere zeigt: Die NPD erfüllt fast sämtliche Kriterien für einen harten Extremismus. Es fehlt eine klare Distanzierung vom Nationalsozialismus. Hingegen ist die Linke eher im Bereich des weichen Extremismus einzuordnen. Die Abwendung von der SED-Diktatur bedeutet – wie gezeigt – nicht zwingend eine Hinwendung zum demokratischen Verfassungsstaat. Lässt diese Diagnose die naheliegende Schlussfolgerung zu, dass die NPD für die Demokratie eine größere Gefahr bedeutet als die Linke? Das muss ganz und gar nicht der Fall sein. Wer eine Risikoanalyse vornähme, käme wohl zu einem anderen Ergebnis. Denn die Kriterien, die für einen höheren Grad des Extremismus sprechen, sind nicht dieselben, die für einen höheren Grad der Gefährdung sprechen56, etwa die Bündnispolitik, die Wahlerfolge, die Koalitionspolitik oder die Akzeptanz bei den 55 Vgl. Politische Leitsätze. Beschlossen von der marx21-Gründungsversammlung am 1. September 2007, unter: http://marx21.de/content/view/194/93/ (7. September 2009). 56 Es gibt eine augenfällige Parallele bei der Diktaturforschung. Wer zur Auffassung käme, die DDR habe ein höheres Maß an Totalitarismus als das Dritte Reich besessen (aufgrund der massiven gesellschaftlichen Durchdringung der Ideologie), kann deswegen nicht die Konsequenz ziehen, die DDR sei das „inhumanere“ System gewesen. Dabei wird der Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus ausgeblendet.
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Medien.57 Eine Partei wie die NPD ist bekanntermaßen gesellschaftlich geächtet. Das gilt für die Linke nicht annähernd im gleichen Maße. Die Erfolge der NPD in ihrer Hochburg Sachsen (2004: 9,2 Prozent; 2009: 5,6 Prozent), wo sie in Teilen des Landes eine gewisse Verankerung besitzt58, sowie in Mecklenburg-Vorpommern (2006: 7,3 Prozent) waren vorrangig das Resultat günstiger Gelegenheitsstrukturen. Die Angebotsstrukturen blieben jeweils schwach entwickelt. Die Partei ist mit der „Besetzung von Begriffen“ nicht vorangekommen. So beschwört der NPD-Vorsitzende Udo Voigt seit Jahren eine „Volksfront von rechts“.59 Erst recht vollmundig argumentiert der NPD-Theoretiker Jürgen Gansel: „In Mitteldeutschland findet eine geräuschlose völkische Graswurzelrevolution statt. Mit einem moderaten Ton, zivilen Auftreten und alltagsnahen Themen gelingt es Nationalisten vielerorts zum integralen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens zu werden, während sich die Systemkräfte dem Volk immer mehr entfremden.“60 Auch der Begriff der „Dresdner Schule“ gaukelt einen öffentlichen Einfluss der NPD vor, der so nicht besteht. Die Effektivität dieser Strategie ist bescheiden. Sie beeinflusst die politische Willensbildung in Deutschland nicht nennenswert, schweißt freilich die heterogenen Gegner zusammen. Alle tragenden gesellschaftlichen Kräfte lehnen rechtsextremistische Denkmuster ab. Die NPD ist kein Machtfaktor im deutschen Parteiensystem.61 Ihre „Volksfront von rechts“ ist ebenso weitgehend Autosuggestion wie ihr Slogan „Aus der Mitte des Volkes“. Die NPD verfährt nach einer „Strategie der fingierten Größe“. Ihre Eigendarstellung ist so großspurig wie realitätsfern. Sie will mächtiger erscheinen, als sie ist. Die partielle Absage an das „System“ der Bundesrepublik Deutschland durch die Linke ist in großen Teilen der Öffentlichkeit kaum bemerkt, geschweige denn kritisiert worden. Extremistische Tendenzen der Partei werden wenig benannt, nicht deren einliniges Geschichtsbild, nicht die Sympathie für die kubanische Diktatur, nicht die Verklärung von Rosa Luxemburg, einer Verfechterin der Diktatur des Proletariats. So konnte sie allmählich immer mehr Reputation erlangen. Wer eine Koalition mit der
57 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Extremistische Gefährdungspotentiale im demokratischen Verfassungsstaat. Am Beispiel der ersten und zweiten deutschen Demokratie, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 3, Bonn 1991, S. 7–32. 58 Vgl. Toralf Staud, Moderne Nazis. Die neuen Rechten und der Aufstieg der NPD, Köln 2005. 59 Dies ist bar jeder Realität, wie nicht nur die Studien von Andreas Klämer zeigen. Vgl. ders., Zwischen Militanz und Bürgerlichkeit. Selbstverständnis und Praxis der extremen Rechten, Hamburg 2008; ders., „Zwischen Militanz und Bürgerlichkeit“. Tendenzen der rechtsextremen Bewegung am Beispiel einer ostdeutschen Mittelstadt, in: Ders./Michael Kohlstruck (Hrsg.), Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Hamburg 2006, S. 44–67. 60 Jürgen Gansel, Die Neugierde wecken. Im Gespräch mit Jürgen Rieger, in: Deutsche Stimme, Nr. 10/2006. 61 Vgl. Lazaros Miliopoulos, Die NPD als Machtfaktor im deutschen Parteiensystem, in: Uwe Jun/ Henry Kreikenbom/Viola Neu (Hrsg.), Kleine Parteien im Aufwind. Zu Veränderungen der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt a. M. 2006, S. 223–245.
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Linken ablehnt, führt meistens das Argument an, sie sei (noch) nicht politikfähig, nicht aber, sie sei nicht demokratiefähig. Der Zusammenschluss von PDS und WASG zur Linken hat bei manchen Wählern den Eindruck einer Mäßigung der Partei aufkommen lassen. Tatsächlich ist eher das Gegenteil eingetreten. Kaum einer erwähnt Vereine im Umfeld der Linken, die das DDR-System verklären: die „Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrechten und Menschenwürde“, die „Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung“, die „Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR“ (Isor). Die Linke strebt Regierungsbeteiligungen an – offenkundig mit großen Chancen. Die bis zur Bundestagswahl 2009 durch die Sozialdemokraten durchgehaltene Ablehnung einer Zusammenarbeit auf Bundesebene schloss ihre Regierungsbeteiligung bislang aus. Auf Landesebene ist die Segmentierungslinie beinahe vollständig verschwunden. Solche Kooperationen finden immer mehr Akzeptanz, nicht nur im Osten des Landes. Die erste rot-rot-grüne Koalition ist wohl bloß eine Frage der Zeit. So gelingt es der Linken, das politische Koordinatensystem in ihrem Sinne zu verschieben. Sie hat von den partiellen Erfolgen der NPD profitiert, diese nicht von den massiven Erfolgen der Linken.
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Nicht-Akzeptanz wegen extremistischer Positionen? Politik, Wahlniederlagen und Wahlerfolge der NPD Die Geschichte der 1964 ins Leben gerufenen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands ist die Geschichte ihres Misserfolges, ungeachtet einiger guter Ergebnisse bei Landtagswahlen in den 1960er Jahren und im letzten Jahrzehnt (Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern). Das unterstreicht das Abschneiden der NPD bei den Bundestagswahlen 2009 mit 1,5 Prozent. Die Perspektiven sind für die Partei, die im Osten etwas bessere (nicht: gute) Ergebnisse erzielt als im Westen, geradezu verheerend. Die – systemfeindliche – politische Kraft ist gesellschaftlich geächtet. Könnte sie nach der Ära von Udo Voigt unter einem weniger verfänglichen Kurs reüssieren? Oder würde dies nichts nützen?
1.
Einleitung
Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ist in einer schweren Krise. Ihre Finanz- und Führungskrise hat sich zu einer Identitäts- und Existenzkrise ausgewachsen.1 Sie steht nach dem „Superwahljahr“ 2009 programmatisch, strategisch und organisatorisch vor großen Problemen. Dies muss selbst die Führungsspitze der Partei einräumen. „In Krisenzeiten hätte die NPD sicherlich mehr punkten können“, sie sei „nicht optimal aufgestellt“2 gewesen. Eine Strategiekommission solle den Problemen nachgehen. Wird sich der „deutsche Weg“ des Parteivorsitzenden Udo Voigt durchsetzen oder der „sächsische Weg“, den etwa Holger Apfel verficht, der Fraktionsvorsitzende der sächsischen NPD und deren dortiger Landesvorsitzender? Während der „deutsche Weg“ scharfmacherisch ist, weist der „sächsische Weg“ weniger Aggressivität auf. Extremistisch sind sie beide. Ein Beitrag zur NPD in einem Band über die Bundestagswahl 2009 bedarf der Rechtfertigung. Diese Partei hat mit 1,5 Prozent 45 Jahre nach ihrer Gründung wahrlich nicht gut abgeschnitten (trotz der Großen Koalition und der mangelnden Bindungskräfte der Volksparteien) und weniger erreicht als die erst kürzlich ins Leben gerufene Piratenpartei (2,0 Prozent). Die öffentlich geächtete Kraft ist ohne jeden Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs. Gleichwohl mag es sinnvoll sein, den Gründen für den politischen Misserfolg der größten rechtsextremistischen Partei, des Rechtsextremismus generell, detailliert nachzugehen, ebenso den begrenzten Erfolgen. Die Partei ist ungeachtet aller Schwierigkeiten im „nationalen Lager“ die
1
2
Vgl. Reiner Burger, Die Existenzkrise einer Partei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31. Oktober 2009, S. 4; ders., Kameraden in der Doppelkrise, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4. Dezember 2009, S. 3. Zitiert nach ebd., S. 3.
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größte Kraft, wenn auch keine große. Der Superlativ bedeutet in diesem Fall weniger als der Positiv. Zunächst wird die Politik der Partei seit ihrer Gründung vor 45 Jahren nachgezeichnet, der „alten“ NPD und der „neuen“ NPD. Der Wandel von einer deutschnationalen Kraft zu einem aggressiven Nationalismus vollzog sich in den 1990er Jahren. Danach gilt es, die Wahlergebnisse der NPD vor und nach der deutschen Einheit zu präsentieren, bezogen auf die Wahlen zum Bundestag, zum Europäischen Parlament und zu den Landtagen. In beiden Phasen gab es Ausschläge nach oben. Schließlich folgt ein detaillierter Blick auf die beiden letzten Bundestagswahlen, den Wahlkampf und die -resultate. Überlegungen zu den wenig rosigen Perspektiven der in sich zerstrittenen Partei schließen den Beitrag ab. Wie zuletzt 19983 kandidierten 2009 alle drei Rechtsparteien: die Republikaner (REP), die Deutsche Volksunion (DVU) und die NPD. 2002 und 2005 war die DVU nicht angetreten. Diesmal erreichte sie nur 0,1 Prozent der Zweitstimmen; der Partei der REP, die allerdings schon seit einigen Jahren nicht mehr als rechtsextremistisch bezeichnet werden kann, erging es mit 0,4 Prozent nicht viel besser. Die DVU, die nach dem Rücktritt von Gerhard Frey schwächer denn je dasteht, konnte in zwölf Bundesländern die für eine Kandidatur nötigen Unterschriftenquoren zusammenbringen (nicht in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und im Saarland), die Partei der Republikaner in elf (nicht in Hamburg, Niedersachsen, im Saarland, in Sachsen-Anhalt und in Schleswig-Holstein). Kandidaten der Republikaner traten in 15 Wahlkreisen an, solche der DVU nirgendwo. Insofern erübrigt sich aus Gründen der Relevanz eine Auseinandersetzung mit diesen Parteien. „Die NPD hat sich zum Gravitationsfeld im Rechtsextremismus entwickelt. Voraussetzung hierfür war weniger ein fein ziselierter Plan und erst recht nicht ein charismatischer Führer, sondern eher ein lethargisches, wenig inspiriertes Spektrum, das von zielgerichteten, relativ jungen Rechtsextremisten politisch und strategisch ‚modernisiert‘ worden ist.“4 Ungeachtet aller Krisensymptome: Die NPD ist mit 7.000 Mitgliedern und mit zwei Landtagsfraktionen – in Sachsen und in Mecklenburg-Vorpommern – die weitaus stärkste Kraft im „nationalen Lager“ – „die stärkste“, aber keine starke. Aufgrund der Last der Vergangenheit wird dieser Thematik zuweilen eine Relevanz eingeräumt, die ihr so nicht zukommt. Auch im Ausland sind der deutsche Rechtsextremismus im Allgemeinen und die NPD im Besonderen in aller Munde.5
3
4 5
Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Die rechtsextremen Parteien nach der Bundestagswahl 1998: Stehen sie sich selbst im Wege?, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 1998, Opladen 1999, S. 141–157. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) als Gravitationsfeld im Rechtsextremismus, Köln 2006, S. 8. Vgl. zuletzt Gerard Braunthal, Right-Wing Extremism in Contemporary Germany, Basingstoke 2009.
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2.
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Politik der NPD
Der Nationalsozialismus hatte – und hat! – durch seine verheerende Politik den größten Anteil an der Schwäche des parteipolitischen Rechtsextremismus. Die Deutsche Rechtspartei war dank ihrer niedersächsischen Hochburg in den Ersten Deutschen Bundestag eingezogen – die Fünfprozentklausel galt nur landesweit. Aus ihr gingen die 1949 gegründete und bereits 1952 wegen neonationalsozialistischer Tendenzen verbotene Sozialistische Reichspartei6 sowie die 1950 ins Leben gerufene Deutsche Reichspartei7 hervor, die einen Rechtsextremismus deutsch-nationaler Observanz verfocht. Bei den Bundestagswahlen 1953 bis 1961 pendelte ihr Anteil um ein Prozent der Wählerstimmen. Mehrfach nahm sie mit Blick auf die Westintegration und die Neutralisierung Deutschlands einen Kurswechsel vor. Entstanden am 28. November 1964 als Sammelbecken des „nationalen Lagers“ unter Einschluss kleiner national-konservativer Kreise, trat die NPD8 die Nachfolge der erfolglosen Deutschen Reichspartei an, die den organisatorischen Kern der neuen Partei bildete. Fiel das Ergebnis bei der Bundestagswahl 1965, gemessen an den hohen Ansprüchen, mit 2,0 Prozent der Stimmen eher bescheiden aus, setzte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, wesentlich bedingt durch eine wirtschaftliche Rezession und die erste Große Koalition, ein bemerkenswerter Aufwärtstrend ein. Unter Fritz Thielen (1964–1967), Adolf von Thadden (1967–1971) und Martin Mußgnug (1971–1990) repräsentierte die NPD mit gewissen Unterschieden eine deutschnationale Variante des Rechtsextremismus. Ihr erster Vorsitzender der Partei – Fritz Thielen – war aus der Deutschen Partei zur NPD gestoßen. Das konservative Aushängeschild konnte sich gegen die Übermacht der Ex-Mitglieder der DRP nicht behaupten und verließ nach heftigen internen Konflikten die NPD im Mai 1967. Thielens Nachfolger Adolf von Thadden ist der führende Kopf im „nationalen Lager“ gewesen.9 Maßgeblich auf ihn ging die Gründung der NPD zurück. Er war bereits Mitglied des Ersten Deutschen Bundestages und Vorsitzender der DRP (1961– 1964). Unter ihm besaß die NPD zeitweilig fast 30.000 Mitglieder. Seine turbulente Zeit als Vorsitzender war vom Aufstieg und Abstieg der Partei gleichermaßen geprägt.
6 7 8
9
Vgl. Henning Hansen, Die Sozialistische Reichspartei. Aufstieg und Scheitern einer rechtsextremen Partei, Düsseldorf 2007. Vgl. Oliver Sowinksi, Die Deutsche Reichspartei 1950–1965. Organisation und Ideologie einer rechtsradikalen Partei, Frankfurt a. M. 1998. Zur Geschichte der Partei in ihrer ersten Phase vgl. Uwe Hoffmann, Die NPD. Entwicklung, Ideologie und Struktur, Frankfurt a. M. 1999; Horst W. Schmollinger, Die Nationaldemokratische Partei, in: Richard Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. II, Opladen 1984, S. 1892–1994; zum Selbstverständnis: Holger Apfel (Hrsg.), „Alles Große steht im Sturm“. Tradition und Zukunft einer nationalen Partei. 35 Jahre NPD – 30 Jahre JN, Stuttgart 1999. Vgl. Eckhard Jesse, Biographisches Porträt: Adolf von Thadden, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 2, Bonn 1990, S. 228–238.
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1971 legte von Thadden den Vorsitz nieder, weil die NPD nicht mehr „führbar“ sei, 1975 folgte sein Austritt (u. a. wegen Gerhard Freys Aufnahme in den Parteivorstand). Der Rechtsanwalt Martin Mußgnug leitete die NPD fast 20 Jahre, ohne sie zu prägen. Er setzte sich gegen den radikalen bayerischen Landesvorsitzenden Siegfried Pöhlmann durch, der daraufhin die Partei verließ und im Januar 1972 eine radikale „Aktion Neue Rechte“ ins Leben rief. Als die organisatorisch stark geschwächte NPD bei der ersten Wahl im vereinigten Deutschland, das die Partei angestrebt hatte (seit 1982 unter neutralen Vorzeichen), lediglich 0,3 Prozent der Stimmen bekam, erklärte Mußgnug seinen Rücktritt. Gemeinsam mit anderen focht er im Anschluss für eine Fusion des „rechten Lagers“ in der „Deutschen Allianz – Vereinigten Rechten“ (später der „Deutschen Liga für Volk und Heimat“) – ohne jeden Erfolg. Günter Deckert, welcher der Partei von 1991–1995 vorstand (Mußgnugs Protegé Jürgen Schützinger hatte gegen ihn verloren), suchte eine national-revolutionäre Ausrichtung der NPD herbeizuführen, forcierte sein Engagement für den „Revisionismus“, u. a. die faktische Leugnung der Existenz von Gaskammern in Auschwitz. Deckert, der inzwischen zu einer Strafe wegen Volksverhetzung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener verurteilt worden war, wurde im Herbst 1995 entmachtet – wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten und wegen zahlreicher Strafverfahren. Unter Udo Voigt, der 1996 in einer Kampfabstimmung (mit 88 gegen 83 Stimmen) gegen ihn sein Nachfolger wurde, stabilisierte sich die Partei, eine Art „zweiter Frühling“10 setzte ein. Die Zahl der Mitglieder und der Aktivitäten wuchs. Es trat eine Hinwendung zu einem „nationalen Sozialismus“ ein. Die Radikalisierung wurde nicht zuletzt durch den Zulauf von Mitgliedern verbotener rechtsextremistischer Vereinigungen begünstigt.11 Damit öffnete die NPD sich vermehrt Kräften des Neonationalsozialismus. Voigt sorgte mit seinem strategischen Konzept von 1997, abgesegnet auf dem Parteitag 1998, für beträchtliche Aufmerksamkeit, inner- wie außerhalb der Partei. Es fußt auf drei Säulen: „Wenn die NPD ihre Ziele in Deutschland erreichen will, muss sie – im übertragenen Clausewitzschen Sinne gesprochen – drei große Schlachten schlagen: die Schlacht um die Köpfe, die Schlacht um die Straße und die Schlacht um die Wähler“.12 Mit der „Schlacht um die Köpfe“ ist die Programmatik gemeint, mit der „Schlacht um die Straße“ die Massenmobilisierung, mit der „Schlacht um die Wähler“ die Wahlteilnahme. „Keine von ihnen ist ohne die anderen sinnvoll oder auch nur möglich. Alle Mitglieder, insbesondere alle Amtsträger der NPD sind aufgefordert, je nach eigenen Stärken und Schwächen den Schwerpunkt ihres Einsatzes innerhalb des Dreiecks zu 10 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Der „zweite Frühling“ der NPD zwischen Aktion und Politik, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Anm. 9), Bd. 11, Baden-Baden 1999, S. 146–166. 11 Vgl. Julia Gerlach, Auswirkungen der Verbote rechtsextremistischer Vereine auf die NPD, in: Uwe Backes/Henrik Steglich (Hrsg.), Die NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei, Baden-Baden 2007, S. 233–260. 12 Das strategische Konzept der NPD, in: Holger Apfel (Anm. 8), S. 356–360, hier S. 359.
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wählen, das von diesen drei Säulen aufgespannt wird, ohne jedoch eine einzelne Säule je aus den Augen zu verlieren.“13 Auf dem Parteitag in Leinefelde im Oktober 2004 fügte Voigt dem Drei-Säulen-Konzept eine neue Säule hinzu: den „Kampf um den organisierten Willen“. Mit dem „organisierten Willen“ ist die Bündelung aller Kräfte des „nationalen Lagers“ gemeint – von der Deutschen Volksunion bis zu den „Freien Kameradschaften“. „Wir lassen es nicht zu, dass jeder, der sich als ‚Nationaler Sozialist‘ begreift, als ‚Neo-Nazi‘ diffamiert wird.“14 Diese Konzeption ist keineswegs widerspruchsfrei.15 Eine Partei etwa, die massiv den „Kampf um die Straße“ propagiert, muss beim „Kampf um den Wähler“ scheitern. Und eine, die den „organisierten Willen“ konsequent anwendet, hat bei der Wahlteilnahme zugunsten einer anderen Kraft aus dem „nationalen Lager“ hier und da zurückzustecken. Der von seinen Vorgängern nach außen hin an den Tag gelegten Verfassungstreue (dies war schon bei Günter Deckert anders) folgt Udo Voigt16 nicht. Er macht keinen Hehl daraus, die Verfassungsordnung in Deutschland stürzen zu wollen. „Die heutige NPD stellt das liberalkapitalistische System der BRD, welches materialistische Werte über den Wert des einzelnen deutschen Menschen erhebt, an sich in Frage und will dieses nicht fortsetzen, sondern auf seinen Trümmern ein neues Deutschland errichten.“17 Vieles soll martialisch klingen, doch sieht die Wirklichkeit bescheidener aus. Die Partei führt großsprecherische Parolen im Munde, die provozieren und Aufmerksamkeit finden sollen wie Voigts Propagierung einer „Volksfront von rechts“. Am 15. Januar 2005 schlossen DVU und NPD einen „Deutschland-Pakt“, so der pompöse Ausdruck. Frühere Absprachen innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums hatten angesichts der programmatischen Unterschiede und der personellen Eifersüchteleien nicht lange gehalten. So war es auch diesmal. Die beiden Parteien wollten bis Ende 2009 bei Wahlen nicht mehr gegeneinander antreten. Doch nach dem katastrophalen Abschneiden der DVU bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (0,4 Prozent) kandidierte die NPD in Brandenburg gegen die DVU – in einem Land, in dem laut Vereinbarung die Kandidatur der DVU vorbehalten war. Damit ging der „DeutschlandPakt“ am 26. Juni 2009 zu Ende.18 13 Ebd., S. 360. 14 Zitiert nach der Dokumentation der Ansprache von Udo Voigt auf dem NPD-Bundesparteitag in Leinefelde, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Anm. 9), Bd. 17, Baden-Baden 2005, S. 126–141, hier S. 135. 15 Vgl. etwa: Harald Bergsdorf, Die Vier-Säulen-Strategie der neuen NPD, in: Deutschland Archiv 41 (2008), S. 14–19; Marc Brandtstetter, Die vier Säulen der NPD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 51 (2006), S. 1029–1031; Eckhard Jesse, Das Vier-Säulen-Modell der NPD, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung, Brühl 2008, S. 178– 192. 16 Vgl. Eckhard Jesse, Biographisches Porträt: Udo Voigt, in: Uwe Backes/ders. (Anm. 9), Bd. 18, BadenBaden 2006, S. 207–219. 17 So Udo Voigt, Vorwort des NPD-Vorsitzenden, in: Holger Apfel (Anm. 8), S. 12. 18 Vgl. Marc Felix Serrao, NPD kündigt Pakt mit der DVU, in: Süddeutsche Zeitung v. 29. Juni 2009, S. 3.
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Die Radikalisierung der Partei unter Voigt rief deren Gegner auf den Plan. Im Jahre 2001 reichten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beim Bundesverfassungsgericht Verbotsanträge ein. Ein Verbotsantrag gegen die NPD wurde bereits 1968 erwogen, im Frühjahr 1969 jedoch verworfen. Die Argumentationslinien der Anhänger und Gegner eines Verbots verliefen seinerzeit nicht zwischen links und rechts, sondern kreuzten sich. Die Politik entschied nach einigem Hin und Her, die NPD politisch zu bekämpfen – nicht zuletzt deshalb, weil über den Ausgang eines solchen Verbotsprozesses Unklarheit bestand. Anders war dies jetzt. Voigt beauftragte Horst Mahler – früher führender Aktivist in der Studentenbewegung, dann Linksterrorist, später KPDMitglied, vom Jahre 2000 an Mitglied der NPD – mit der Rechtsvertretung der Partei vor dem Bundesverfassungsgericht im Verbotsverfahren. Das Bundesverfassungsgericht entsprach nicht dem Ansinnen der Antragsteller: Für drei der sieben Verfassungsrichter (dieses Quorum genügte) stellte die Beobachtung der Partei durch V-Leute in deren Vorständen ein nicht behebbares Verfahrenshindernis dar.19 In der Folge kam aus der Politik – nur die FDP votierte und votiert klar gegen einen Verbotsantrag – und der Publizistik, weniger aus der Wissenschaft, immer wieder die Forderung, die NPD aus dem politischen Willensbildungsprozess auszuschalten, auch vor und nach der Bundestagswahl 2009 – sei es wegen der Erfolge der Partei, sei es wegen der staatlichen Teilfinanzierung. Wer diese Position nicht teilt, hegt keine Sympathie für die rechten Antidemokraten, sondern will sie politisch bekämpfen. Das entspricht eher dem Gebot der Offenheit wie dem der Effizienz. Eine streitbare Demokratie20 muss nicht mit „Kanonen auf Spatzen“ schießen. Grassierende Verbotsreflexe sind ein Indikator für mangelnde demokratische Streitkultur. Zeichneten sich die Grundsatzprogramme der NPD durch verschleiernde Formulierungen aus und spielten sie für die praktische Politik nur eine marginale Rolle, so ist dies bei der „Deutschen Stimme“ anders. Das monatliche Parteiorgan, das die „Deutschen Nachrichten“ (1965–1973) und den „Deutschen Kurier“ (1974–1975) abgelöst hat, ist gegenüber früher anspruchsvoller und zugleich radikaler geworden. Die Mitgliederund Anhängerschaft soll so auf den Kurs der Partei eingeschworen werden. Hier tauchen deutlichere Äußerungen im Sinne einer klar verfassungsfeindlichen Haltung auf. Das Periodikum hat sich in gewisser Weise zu einem Theorieorgan der Partei entwickelt.21 Die Partei tritt heute nahezu klassenkämpferisch auf und bezieht vehement gegen die
19 Vgl. Lars Flemming, Das NPD-Verbotsverfahren. Vom „Aufstand der Anständigen“ zum „Aufstand der Unfähigen“, Baden-Baden 2005; Eckhard Jesse, Der gescheiterte Verbotsantrag gegen die NPD. Die streitbare Demokratie ist beschädigt worden, in: Politische Vierteljahresschrift 44 (2003), S. 292– 301. 20 Siehe zur Aktualität der streitbaren Demokratie durch die NPD die Schrift von Christoph Weckenbrock, Die streitbare Demokratie auf dem Prüfstand. Die neue NPD als Herausforderung, Bonn 2009, S. 149–183. 21 Vgl. Florian Hartleb, Zeitschriftenporträt: Deutsche Stimme, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 17, Baden-Baden 2005, S. 218–235.
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Globalisierung, gegen die USA und gegen den Kapitalismus Stellung.22 Die Idee der „Volksgemeinschaft“ nimmt bei ihr einen breiten Raum ein. Für die neue NPD spielt der Antikommunismus als Klammer – im Gegensatz zur Zeit ihrer Gründung vor 45 Jahren – kaum mehr eine Rolle, wohl aber der Antikapitalismus, anders als seinerzeit. Es gibt bei der Partei nicht nur ausländerfeindliche, sondern auch rassistische Tendenzen. Gerade in den neuen Bundesländern arbeitet sie mit „Freien Kameradschaften“ zusammen.23 Gleichwohl ist sie deswegen entgegen manchen Behauptungen partout keine neonationalsozialistische Partei. Auf diese Weise wird sie dämonisiert. Wer die NPD „auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft“24 sieht und von „Reisen in die National Befreite Zone“25 spricht, macht sich eine alarmistische Sicht zu eigen. Auch wenn die Partei etwa in Teilen von Sachsen eine gewisse organisatorische Festigkeit aufweist26, ist die NPD weithin gesellschaftlich isoliert, ihr Verhältnis zu den „autonomen Nationalisten“ ist trotz der Meinungsverschiedenheiten nicht nur durch strikte Ablehnung gekennzeichnet.27 Einerseits benötigt die Partei eine Anbindung an diese „Szene“, andererseits schreckt dies die Wählerschaft massiv ab. Udo Voigt ist in der NPD längst nicht mehr unumstritten. Wurde er im Mai 2008 auf dem Parteitag in Bamberg noch mit einer Mehrheit von über 90 Prozent gewählt (als einer der Stellvertreter gelangte neben Holger Apfel und Sascha Roßmüller der mit dem Nationalsozialismus sympathisierende Rechtsanwalt Jürgen Rieger in das Parteiamt), so sah dies bald anders aus. Für das Jahr 2009 musste angesichts der Finanzaffären um den Bundesschatzmeister Erwin Kemna, der Parteigelder veruntreut hat, und der Streitigkeiten wegen des Verhaltens gegenüber den „Freien Kameradschaften“ 22 Vgl. Uwe Backes/Henrik Steglich (Anm. 11); Harald Bergsdorf, Die neue NPD. Antidemokraten im Aufwind, München 2007; Marc Brandstetter, Die NPD im 21. Jahrhundert, Marburg 2006; Armin Pfahl-Traughber, Der „zweite Frühling“ der NPD. Entwicklung, Ideologie, Organisation und Strategie einer rechtsextremistischen Partei, Sankt Augustin/Bonn 2007; Toralf Staud, Moderne Nazis. Die neuen Rechten und der Aufstieg der NPD, Köln 2005; Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 2005; Fabian Virchow/Christian Dornbusch (Hrsg.), 88 Fragen und Antworten zur NPD. Weltanschauung, Strategie und Auftreten einer Rechtspartei – und was Demokraten dagegen tun können, Schwalbach/Ts. 2008. 23 Vgl. etwa Martin Thein, Wettlauf mit dem Zeitgeist – der Neonazismus im Wandel. Eine Feldstudie, Göttingen 2009. 24 Vgl. Andrea Röpke/Andreas Speit (Hrsg.), Neonazis in Nadelstreifen. Die NPD auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft, Berlin 2008. 25 Vgl. Christoph Ruf/Olaf Sundermeyer, In der NPD. Reisen in die National Befreite Zone, München 2009; differenzierter hingegen Uta Döring, „National befreite Zonen“. Zur Entstehung und Karriere eines Kampfbegriffs, in: Andreas Klärner/Michael Kohlstruck (Hrsg.), Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Hamburg 2006, S. 177–206. 26 Vgl. die Studien von Henrik Steglich, Die NPD in Sachsen. Organisatorische Voraussetzungen ihrer Wahlerfolge 2004, Göttingen 2006; Rechtsaußenparteien in Deutschland. Bedingungen ihres Erfolges und Scheiterns, Göttingen 2010. 27 Vgl. Christian Menhorn, „Autonome Nationalisten“. Generations- und Paradigmenwechsel im neonationalsozialistischen Lager?, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Anm. 9), Bd. 19, Baden-Baden 2007, S. 213–235.
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ein Sonderparteitag einberufen werden. Erst sollte der als gemäßigter geltende Andreas Molau28 gegen Voigt antreten, doch zog er, der bereits im Oktober 2008 aus dem Bundesvorstand ausgetreten war, seine Kandidatur nach heftigen Auseinandersetzungen zurück; er verließ die Partei und ging zur DVU. Udo Voigt setzte sich schließlich Anfang April 2009 in Berlin mit einer knappen Zweidrittelmehrheit (136 gegen 72 Stimmen) gegen Udo Pästors überraschend klar durch, den Fraktionsvorsitzenden der NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Die Partei einigte sich auf dem Parteitag, unterstützt von der DVU, darauf, den Sänger Frank Rennicke für das Amt des Bundespräsidenten zu präsentieren. Da der sächsische Fraktionsvorsitzende Holger Apfel nicht wieder als Stellvertreter kandidiert hatte, sind im Bundesvorstand keine Kräfte mehr aus den beiden erfolgreichsten Landesverbänden vertreten, stattdessen der neue Chefredakteur der „Deutschen Stimme“ Karl Richter, Jürgen Rieger und Frank Schwerdt, der thüringische Landesvorsitzende. Aus Udo Voigts Kommentar lässt sich die Uneinigkeit der Partei entnehmen: „In den 41 Jahren meiner Mitgliedschaft war dies wohl der längste und hinsichtlich persönlicher Attacken der dramatischste Bundesparteitag, den ich bislang miterlebte. [...] Nur Einigkeit macht stark und wir alle sind gehalten, den deutschen Weg zu gehen.“29 Doch von Einigkeit kann nicht die Rede sein. Dem von Holger Apfel direkt nach dem Parteitag ausgerufenen „sächsischen Weg“ setzte der neue Parteivorstand den radikalen „deutschen Weg“ entgegen. Auch die finanzielle Situation ist für die Partei in höchstem Maße prekär. Zum einen sind weitere Unregelmäßigkeiten bekanntgeworden.30 Spenden wurden zu hoch ausgewiesen, um auf diese Weise an mehr staatliche Mittel zu gelangen. Diese Manipulationen führen zu drastischen Nachzahlungen an die Bundestagsverwaltung. Zum anderen ist mit dem Tod von Jürgen Rieger im Oktober 2009 eine wichtige Finanzquelle versiegt, zumal die Partei im Testament nicht bedacht wurde. Die immensen Finanzprobleme der NPD dürften ihre Aktivitäten bei Wahlen nachhaltig beeinflussen.
3.
Die NPD und ihre Wahlerfolge vor der Einheit
Die überwiegend deutschnationale Partei zog zwischen 1966 und 1968 in sieben Landesparlamente ein. Scheiterte sie noch im März 1966 mit 3,9 Prozent in Hamburg an der Fünfprozenthürde, setzte danach – bis 1969 – eine Siegesserie ein: im November 1966 in Hessen (7,9 Prozent) und in Bayern (7,4 Prozent), im April 1967 in Rheinland-Pfalz (6,9 Prozent) und Schleswig-Holstein (5,8 Prozent), im Juni 1967 in Niedersachsen (7,0 Prozent), im Oktober 1967 in Bremen (8,8 Prozent). Das beste Ergebnis erzielte die Partei in Baden-Württemberg (9,8 Prozent) nach den „Osterunruhen“ der Außerparla28 Vgl. Elmar Vieregge, Biographisches Porträt: Andreas Molau, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/ Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 21, Baden-Baden 2009, S. 197–214. 29 Udo Voigt, Zum vergangenen Bundesparteitag, in: http://www.udovoigt.de (15. Oktober 2009). 30 Vgl. Hans Leyendecker, NPD soll Staatszuschüsse erschwindelt haben, in: Süddeutsche Zeitung v. 22. Dezember 2009, S. 6.
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mentarischen Opposition (APO) 1968 im Gefolge des Attentats auf Rudi Dutschke. Die NPD sog ein beträchtliches Protestwählerpotential auf. Bei der Arbeiterschaft, der einst klassischen SPD-Klientel, gewann die Partei überproportional an Stimmen.31 Offenbar begünstigte ein autoritäres Syndrom die Präferenz für die NPD. Die NPD war besonders in evangelisch dominierten Gebieten mit ausgeprägt mittelständischer und landwirtschaftlicher Struktur vertreten. Die Gründe für den Erfolg der Partei waren vielfältig: insbesondere die wirtschaftliche Rezession, die Reaktion auf die Große Koalition und die linke APO.32 Das Votum für die NPD basierte folglich in der Regel nicht auf einem festen rechtsextremistischen Weltbild.33 Der Protest kam der „Opposition zum System“34 zugute, nicht der „Opposition im System“, der FDP. Mit 4,3 Prozent der Stimmen verfehlte die NPD 1969 relativ knapp den Einzug in das Bundesparlament. Wäre sie im Bundestag repräsentiert gewesen, so hätte es nicht für eine sozial-liberale Koalition gereicht. Die Gründe für das Scheitern liegen u. a. an der verbesserten ökonomischen Lage, Fehlern der NPD sowie der vehementen Kritik an der Partei, der es nicht gelang, sich als Kraft von „Law and Order“ zu profilieren35. Nach der Bundestagswahl 1969 folgte ein schneller und langwieriger Niedergangsprozess. Durch das Ende der Großen Koalition, die Wiederbelebung der Wirtschaft und die kompetitive Oppositionstätigkeit der Union stieg die NPD ebenso schnell ab, wie sie aufgestiegen war. Die Wahlniederlage rief innerparteiliche Querelen hervor: So verließ der radikale Flügel um den bayerischen Landesvorsitzenden Siegfried Pöhlmann die Partei. In den 1970er und 1980er Jahren kassierte die NPD unter Mußgnug eine Niederlage nach der anderen. Ihre Stimmenanteile rangierten im Promillebereich. Gleichwohl war die NPD lange Zeit die einzige Rechtsaußenkraft, die zu Bundestagswahlen antrat. Unter Thaddens Nachfolger Martin Mußgnug (1971–1990) blieb sie ein „braver Haufen“ Ewiggestriger ohne jede Ausstrahlung bei Wahlen, auch dann nicht, als sie Anfang der 1980er Jahre einen national-neutralistischen Kurs einschlug. Damit gab die NPD die Orientierung am atlantischen Bündnis auf. Dieses stehe der Wiedervereinigung entgegen. Bei den Bundestagswahlen 1972 erreichte die Partei nur noch 0,6 Prozent. Das hing wesentlich damit zusammen, dass die Union als konservative Kraft die Unzufriedenheit bündeln konnte, zumal sich die NPD mit ihrem „Wertheimer Manifest“ von 1970 in 31 Vgl. Klaus Liepelt, Anhänger der neuen Rechtspartei. Ein Beitrag zur Diskussion über das Wählerreservoir der NPD, in: Politische Vierteljahresschrift 8 (1967), S. 237–271. Die These vom „working class authoritarianism“ stammt von Seymour M. Lipset. 32 Weitere Gründe finden sich bei Heino Kaack, Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971, S. 308–311. 33 Vgl. Lutz Niethammer, Angepasster Faschismus. Politische Praxis der NPD, Frankfurt a. M. 1969. 34 Vgl. Vera Gemmecke/Werner Kaltefleiter, Die NPD und die Ursachen ihrer Erfolge, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Jahrbuch 1967, Teil 1, S. 23–45. 35 Selbst Adolf von Thadden muss dies indirekt zugeben. Vgl. ders., Die verfemte Rechte. Deutschland-, Europa- und Weltpolitik in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus der Sicht von rechts, Preußisch Oldendorf 1984, insbes. S. 148–181.
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gewisser Weise der Union anzudienen suchte.36 Die von der NPD abgewanderten Wähler gingen vornehmlich zur Union, weniger zur SPD und zur FDP, etwa im Verhältnis von 3:1.37 Der Ausgang der Bundestagswahlen zwischen 1976 und 1987 war für die Partei nicht weniger deprimierend: Sie erreichte 1976 ganze 0,3 Prozent, 1980 und 1983 jeweils 0,2 Prozent, 1987 0,6 Prozent. Damit konnte sie bei Bundestagswahlen nur 1972 und 1987 die für die staatliche Teilfinanzierung wichtige Hürde von 0,5 Prozent überwinden. Nicht viel besser sah es bei den Direktwahlen zum Europäischen Parlament aus. Während die NPD 1979 und 1989 erst gar nicht antrat, erreichte sie 1984 0,8 Prozent der Stimmen. Die Landtagswahlen in den 1970er und 1980er Jahren brachten der NPD enttäuschende, von Wahl zu Wahl schwächere Ergebnisse. In keinem Land38 gelang ihr der Wiedereinzug ins Parlament. Immerhin fielen die Resultate noch respektabel aus: mit 3,4 Prozent (Saarland 1970), 3,2 Prozent (Niedersachsen 1970), mit 3,0 Prozent (Hessen 1970), 2,9 Prozent (Bayern 1970), 2,8 Prozent (Bremen 1979), 2,7 Prozent (Hamburg 1970 und Rheinland-Pfalz 1971), 1,3 Prozent (Schleswig-Holstein 1971) und 1,1 Prozent (Nordrhein-Westfalen 1970). Bei den nachfolgenden Wahlen gingen die Resultate weiter zurück: auf 1,1 Prozent (Bayern 1974, Bremen 1975 und Rheinland-Pfalz 1975), 1,0 Prozent (Hessen 1974), 0,9 Prozent (Baden-Württemberg 1976), 0,8 Prozent (Hamburg 1974), 0,7 Prozent (Saarland 1975), 0,6 Prozent (Niedersachsen 1975), 0,5 Prozent (SchleswigHolstein 1975), 0,4 Prozent (Nordrhein-Westfalen 1975). Der nächste Zyklus führt zu einer erneuten Schwächung: 0,7 (Rheinland-Pfalz 1979), 0,6 Prozent (Bayern 1978), 0,4 (Hessen 1978, Niedersachsen 1978 und Bremen 1979), 0,3 (Hamburg 1978), 0,2 Prozent (Schleswig-Holstein 1979), 0,1 Prozent (Baden-Württemberg 1980). In NordrheinWestfalen (1980) und im Saarland (1980) war die NPD nicht mehr angetreten. Bei 25 Landtagswahlen in den 80er Jahren trat die NPD ganze sieben Mal an. Sie war sozusagen in der Versenkung verschwunden. Nur bei den beiden Wahlen 1988 erreichte sie Ergebnisse über einem Prozent (Schleswig-Holstein: 1,2 Prozent; BadenWürttemberg: 2,1 Prozent).39 Seinerzeit kam es zu einer Annäherung zwischen der NPD und der 1987 in eine Partei umgewandelten DVU, auch vereinzelt zu Wahlabsprachen wie in Baden-Württemberg. Die dürftigen Ergebnisse gehen nicht auf eine besondere Aggressivität der NPD zurück. Im Gegenteil: Sie machte sich in der Öffentlichkeit kaum bemerkbar, „tauchte“ geradezu ab.
36 So hatte die NPD bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg 1972, ihrer Hochburg, auf eine eigene Kandidatur verzichtet und ihren Sympathisanten die Wahl der CDU nahegelegt. 37 Vgl. Ludolf Eltermann/Helmut Jung/Werner Kaltefleiter, Drei Fragen zur Bundestagswahl, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 46/1973, S. 3–23, hier S. 18. 38 In Berlin verboten die Westalliierten der NPD die Teilnahme an Wahlen. 39 Zur zeitweise relativ starken Rolle der NPD in diesem Land auch nach 1968 vgl. Peter M. Wagner, NPD-Hochburgen in Baden-Württemberg. Erklärungsfaktoren für die Wahlerfolge einer rechtsextremistischen Partei in ländlichen Regionen 1972–1994, Berlin 1997.
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Tabelle 1: Zweitstimmenergebnisse der NPD bei den Bundestagswahlen seit der deutschen Einheit 1990 (in Prozent)* 1990
1998
2002
2005
2009
Schleswig-Holstein
0,3
0,2
0,3
1,0
1,0
Hamburg
0,3
0,1
0,2
1,0
0,9
Niedersachsen
0,3
0,1
0,3
1,3
1,2
Bremen
0,4
0,3
0,5
1,4
1,1
Nordrhein-Westfalen
0,2
0,1
0,2
0,8
0,9
Hessen
0,6
0,3
0,4
1,2
1,1
Rheinland-Pfalz
0,3
0,2
0,4
1,3
1,2
Baden-Württemberg
0,6
0,2
0,3
1,1
1,1
Bayern
0,2
0,1
0,2
1,3
1,3
Saarland
0,3
0,3
0,7
1,8
1,3
Berlin-West
0,1
0,2
0,3
1,1
1,2
Berlin-Ost
0,1
0,8
1,1
2,3
2,2
Berlin
0,1
0,4
0,6
1,6
1,6
Mecklenburg-Vorpommern
0,3
1,0
0,8
3,5
3,3
Brandenburg
0,2
0,8
1,5
3,2
2,6
Sachsen-Anhalt
0,2
0,3
1,0
2,5
2,2
Thüringen
0,3
–
0,9
3,7
3,2
Sachsen
0,3
1,2
1,4
4,8
4,0
Bundesgebiet West (inkl. Berlin-West)
0,3
0,1
0,3
1,1
1,1
Bundesgebiet Ost (inkl. Berlin-Ost)
0,2
0,7
1,2
3,6
3,1
Bundesgebiet
0,3
0,3
0,4
1,6
1,5
*
Die NPD nahm an den Bundestagswahlen 1994 nicht teil. Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
4.
Die NPD und ihre Wahlerfolge nach der Einheit
Kurz nach der deutschen Einheit erreichte die NPD bei der Bundestagswahl nur 0,3 Prozent, damit die Hälfte weniger als beim letzten Wahlgang (vgl. Tabelle 1). In jenem Jahr hatte sie die Konkurrenz der gemäßigteren REP abzuwehren. 1994 verzichtete die Partei gar auf eine Wahlteilnahme. Der Erfolg blieb weiter aus: Sie erreichte bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002 nur 0,3 bzw. 0,4 Prozent der Stimmen, schaffte so nicht einmal die für die Wahlkampfkostenerstattung wichtige Marke von 0,5 Prozent. Die NPD erreichte 2002, zu einer Zeit, als über ihr das Damoklesschwert eines Verbots hing, in den alten Bundesländern 0,3, in den neuen 1,2 Prozent der Stimmen. In jedem neuen Bundesland schnitt sie besser ab als in dem „erfolgreichsten“ westlichen Bundesland (Saarland: 0,7 Prozent). Dass die NPD mit 1,5 Prozent in Brandenburg (und nicht
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in Sachsen: 1,4 Prozent) ihr bestes Ergebnis zu erzielen vermochte, mag auf die fehlende Kandidatur der „Republikaner“ zurückzuführen sein. Die Parteiführung kommentierte das Ergebnis positiv – mit einer Begründung, die aufhorchen lässt: „Das Parteipräsidium begrüßt aus gesamtpolitischer Sicht die Wählerentscheidung für Bundeskanzler Schröder, der unter dem Eindruck neuer Forderungen für eine deutsche Friedenspolitik, deutsche Souveränität und einen Deutschen Weg vielfach Grundpositionen der NPD vertreten und damit gesiegt hat. [...] Sollten die Schröder-Argumente wieder einmal Wählertäuschung gewesen sein, wird die Tatsache, dass er Jahrzehnte alte NPDPositionen salonfähig gemacht hat, für einen weiteren Aufschwung jener authentisch nationalen Opposition sorgen, die heute allein noch die Interessen aller Deutschen vertritt.“40 Der NPD war in ihrer Außendarstellung nahezu jedes Mittel recht. Bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 konnte die Partei mit 1,6 Prozent und 1,5 Prozent wenigstens ein Wahlergebnis oberhalb der Ein-Prozent-Hürde aufweisen.41 An den Wahlen zum Europäischen Parlament nahm die NPD nach der deutschen Einheit dreimal teil: 1994, 1999 und 2004 (vgl. Tabelle 2). Das Ergebnis von 1994 mit 0,2 Prozent war ernüchternd. Kein Wunder, dass die Partei bei den Bundestagswahlen im gleichen Jahr auf eine Kandidatur verzichtete. 1999, nach dem Strategiewechsel, fiel das Ergebnis mit 0,4 Prozent nicht viel besser aus. In dem Europa-Programm („Arbeit für Millionen statt Profite für Millionäre! Volksgemeinschaft statt EU-Diktatur!“) warnte die Partei vor „einer Spielwiese des internationalen Finanzkapitals und des die Lebensgrundlagen zerstörenden Verdrängungswettbewerbs“.42 Zu den Spitzenkandidaten der Partei, die inzwischen einen „nationalen Sozialismus“ propagierte, gehörte mit Michael Nier ein früherer Hochschullehrer für Marxismus-Leninismus. Die Partei schnitt in den neuen Bundesländern deutlich besser als in den alten ab. Das war auch 2004 bei einem Gesamtergebnis von 0,9 Prozent der Fall (mit dem Spitzenergebnis von 3,3 Prozent in Sachsen). Ihr Europawahlprogramm stand unter dem Motto „Europäische Freiheit statt US-Imperialismus“. Die NATO-Osterweiterung bezwecke die Eingliederung Osteuropas in den US-Herrschaftsbereich. Im Jahre 2009 musste die NPD mit ansehen, wie die inaktive DVU, die gemäß des „Deutschland-Paktes“ „an der Reihe“ war, mit 0,4 Prozent der Stimmen ein klägliches Ergebnis erreichte. Voigt deutete die künftige Richtung an. „Die Wähler werden verunsichert, wenn mit unterschiedlicher Präsenz mal die eine Partei, dann wieder die andere zur Wahl antritt.“43
40 Rot-Grüner Wahlerfolg durch Deutschen Weg. Stimmenzuwachs bei der NPD, in: Pressemitteilung der NPD v. 23. September 2002. 41 Vgl. das Kapitel 5 in diesem Beitrag. 42 Europa-Programm der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, Stuttgart 1999, S. 7. 43 Udo Voigt, Die NPD ist dauerhaft die soziale und nationale Alternative, in: http://www.udovoigt.de (15. Oktober 2009).
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Tabelle 2: Ergebnisse der NPD bei den Wahlen zum Europäischen Parlament seit der deutschen Einheit 1990 (in Prozent)* 1994
1999
2004
Schleswig-Holstein
0,2
0,3
0,5
Hamburg
0,2
0,3
0,4
Niedersachsen
0,2
0,3
0,7
Bremen
0,3
0,4
0,8
Nordrhein-Westfalen
0,2
0,3
0,6
Hessen
0,4
0,3
0,8
Rheinland-Pfalz
0,2
0,2
0,7
Baden-Württemberg
0,2
0,3
0,6
Bayern
0,1
0,2
0,6
Saarland
0,1
0,3
1,7
Berlin-West
0,2
0,4
0,5
Berlin-Ost
0,2
1,4
1,6
Berlin
0,2
0,7
0,9
Mecklenburg-Vorpommern
0,3
0,6
1,7
Brandenburg
0,3
1,2
1,8
Sachsen-Anhalt
0,3
0,7
1,6
Thüringen
0,3
0,6
1,7
Sachsen
0,2
1,2
3,3
Bundesgebiet West (inkl. Berlin-West)
0,2
0,3
0,6
Bundesgebiet Ost (inkl. Berlin-Ost)
0,3
0,9
2,2
Bund
0,2
0,4
0,9
*
Die NPD nahm an den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 nicht teil. Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Die NPD nahm unter der Ägide von Günter Deckert nur an den folgenden Landtagswahlen teil: Baden-Württemberg 1992 (0,9 Prozent), Bayern (0,1 Prozent) Mecklenburg-Vorpommern (0,1 Prozent), Niedersachsen (0,2 Prozent), jeweils 1994 und Hessen 1995 (0,3 Prozent).44 Die Partei konnte in der Ära von Udo Voigt durch ihre Radikalisierung zwar den Anteil ihrer Mitglieder innerhalb weniger Jahre auf 6.000 verdoppeln, blieb jedoch bei den Landtagswahlen zunächst erfolglos (vgl. Tabelle 3), nicht nur im Westen. In den 1990er Jahren schnitt die Partei am besten in Sachsen ab (1999: 1,4 Prozent) sowie unter der Wahlkampfleitung von Holger Apfel in Mecklenburg-Vorpommern 44 Immerhin zogen auf der Liste der DVU bei der Wahl zur Bürgerschaft in Bremen 1991 zwei NPDMitglieder ins Parlament ein. Die DVU hatte 6,2 Prozent der Stimmen erreicht. Vgl. Eckhard Jesse, Wahlen 1991, in: Uwe Backes/ders. (Anm. 9), Bd. 4, Bonn 1992, S. 89–100, hier S. 97.
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(1998: 1,0 Prozent). Sie hofft(e) zumal im Osten auf Gefolgschaft von „Vereinigungsverlierern“ und auf „nationale Sozialisten“. Im Jahr 2000 erreichte sie in SchleswigHolstein 1,0 Prozent. Sonst blieb sie, die bei jeder zweiten Landtagswahl erst gar nicht angetreten war, bis zum Jahr 2004 stets unter der Marke von einem Prozent. Die NPD war damit vor ihrem Wandel wie zunächst danach eine gänzlich erfolglose Partei. Das gescheiterte Verbotsverfahren zu Anfang des Jahres 2003 machte sie zwar in der breiten Öffentlichkeit bekannter, aber nicht populärer. Die Partei trat 2003 bei keiner der vier Landtagswahlen an, und sie vermied es bei den folgenden Wahlkämpfen, das Verbotsverfahren offensiv anzusprechen.45 Tabelle 3: Ergebnisse der NPD bei den Landtagswahlen seit der deutschen Einheit 1990 (in Prozent)* Schleswig-Holstein
1992: −
1996: −
2000: 1,0
2005: 1,9
2009: 0,9
Hamburg
1991: −
1993: −
1997: 0,1
2001: −
2004: 0,3
Niedersachsen
1994: 0,2
1998: −
2003: −
2008: 1,5
Bremen
1991: −
1995: −
1999: 0,3
2003: −
2007: −
Nordrhein-Westfalen
1995: −
2000: −
2005: 0,9
Hessen
1991: −
1995: 0,3
1999: 0,2
2003: −
2008: 0,9
Rheinland-Pfalz
1991: −
1996: 0,4
2001: 0,5
2006: 1,2
Baden-Württemberg
1992: 0,9
1996: −
2001: 0,2
2006: 0,7
Bayern
1990: −
1994: 0,1
1998: 0,2
2003: −
Saarland
1994: −
1999: −
2004: 4,0
2009: 1,5
Berlin-West
1990: −
1995: −
1999: 0,4
2001: 0,5
2006: 1,7
Berlin-Ost
1990: −
1995: −
1999: 1,6
2001: 1,6
2006: 4,0
Berlin
1990: −
1995: −
1999: 0,8
2001: 0,8
2006: 2,6
MecklenburgVorpommern
1990: 0,2
1994: 0,1
1998: 1,1
2002: 0,8
2006: 7,3
Brandenburg
1990: 0,1
1994: −
1999: 0,7
2004: −
2009: 2,6
Sachsen-Anhalt
1990: 0,1
1994: −
1998: −
2002: −
2006: −
Thüringen
1990: 0,2
1994: −
1999: 0,2
2004: 1,6
2009: 4,3
Sachsen
1990: 0,7
1994: −
1999: 1,4
2004: 9,2
2009: 5,6
2008: −
2009: 0,9
2008: 1,2
* Sofern das Land ein Zweistimmensystem hat, wird die Zweitstimme zugrunde gelegt. Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Im Jahre 2004 stoppte die Erfolglosigkeit. Während die radikalisierte NPD bei den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft am 29. Februar 2004 mit 0,3 Prozent der Stimmen zunächst nicht vom Niedergang der Schill-Partei profitieren konnte (also ein Jahr nach
45 Vgl. Lars Flemming (Anm. 19), S. 239.
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dem „geplatzten“ Verbotsverfahren), bekam sie bei der Landtagswahl in Thüringen am 13. Juni, dem Tag der Europawahl, 1,6 Prozent und bei der Landtagswahl im Saarland am 5. September 4,0 Prozent: ihr bestes Ergebnis seit der Bundestagswahl 1969. Peter Marx, die „Allzweckwaffe der Partei“, setzte ganz auf den Kampf gegen „Hartz IV“ und stellte eine Prognose auf, die, anders als sonst bei der NPD, bald Wirklichkeit geworden wäre: „Selten war der Einzug in den Landtag eines westdeutschen Bundeslandes so nah wie jetzt an der Saar, da insbesondere keine rechte Konkurrenz in Sicht ist.“46 Dies ließ die NPD auf ihre sächsische Hochburg hoffen.47 Bei der Landtagswahl in Sachsen 14 Tage später erzielte sie ein Aufsehen erregendes Resultat: 9,2 Prozent. Damit zog die NPD das erste Mal seit 1968 wieder in einen Landtag ein. Sie erreichte fast das Ergebnis der SPD (9,8 Prozent) und verhinderte die Bildung einer schwarz-gelben Koalition. Der sächsische Höhenflug der Partei erklärt sich neben ihrer relativ guten Organisation im Lande wesentlich mit der aggressiven Kampagne gegen „Hartz IV“48, die jene der PDS in den Schatten gestellt hatte. Die NPD stellte im Wahlkampf offen ausländerfeindliche und rassistische Parolen zurück, schürte aber Ängste vor einer Osterweiterung der EU („Grenzen dicht!“). Schließlich suchte sie mit diffusem Protest zu punkten („Schnauze voll!“). Diese Agitation stieß in einem bestimmten (Unterschichten-)Milieu auf gewisse Unterstützung. Die NPD-Wählerschaft war vor allem in der Arbeiterschaft und bei den Arbeitslosen überrepräsentiert. Wie die repräsentative Wahlstatistik zeigt, schnitt die NPD bei Männern (12,6 Prozent) deutlicher besser ab als bei Frauen (5,9 Prozent), bei Jüngeren (18- bis 24-Jährige: 16,0 Prozent) weitaus besser als bei Älteren (ab 60 Jahre: 4,3 Prozent). Die NPD schnitt mit 20,0 Prozent bei den 18- bis 24-jährigen Männern am besten ab, am schlechtesten bei den über 60-jährigen Frauen (2,7 Prozent).49 Allerdings haben wegen der Überalterung der Gesellschaft und der niedrigen Wahlbeteiligung der Jungwähler – in absoluten Zahlen – mehr über 60-jährige Frauen die NPD gewählt als 18- bis 24-jährige Männer. Im eher konservativ geprägten Sachsen ist der NPD unter der Ägide von Voigt in einigen Gebieten, vor allem in der Sächsischen Schweiz, eine gewisse soziale Verankerung gelungen.50
46 Zitiert nach dem Artikel: Im Westen was Neues!, in: Deutsche Stimme, Heft 7/2004, S. 3. 47 Vgl. Eckhard Jesse, Die rechtsextremen Parteien in Sachsen, in: Christian Demuth/Jakob Lemp (Hrsg.), Parteien in Sachsen, Dresden/Berlin 2006, S. 205–222. 48 Vgl. Uwe Backes, Der NPD-Wahlerfolg in Sachsen vom September 2004 und die Erfolgsbedingungen rechtsextremer Parteien in Deutschland, in: Gerhard Besier/Katarzyna Stoklosa (Hrsg.), Lasten diktatorischer Vergangenheit – Herausforderungen demokratischer Gegenwart. Zum Rechtsextremismus heute, Berlin 2006, S. 137–148; Eckhard Jesse, Die NPD – eine rechtsextreme Partei nach den gescheiterten Verbotsantrag im Höhenflug?, in: Politische Studien 56 (2005), Heft 2, S. 69–81. Henrik Steglich, Die sächsische NPD und der Landtagswahlerfolg vom 18. September 2004, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Anm. 9), Bd. 17, Baden-Baden 2005, S. 142–159. 49 Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.), Wahlen im Freistaat Sachsen 2004 – Sächsischer Landtag. Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik, Kamenz 2004, S. 27. 50 Vgl. Toralf Staud (Anm. 22); Sven Braune u. a., Die Politik der NPD in den Kommunalvertretungen Sachsens, in: Uwe Backes/Henrik Steglich (Anm. 11), S. 175–207.
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Allerdings darf dieser Befund nicht überschätzt werden: Die Partei besitzt im Freistaat, ihrem Stammland, nicht einmal 1000 Mitglieder, wenngleich sie hier über eine gewisse organisatorische Festigkeit verfügt. Der Erfolg in dieser Größenordnung hing auch mit der alleinigen Kandidatur der NPD als Partei des „nationalen Lagers“ zusammen. Hatte sie zugunsten der für die DVU erfolgreichen Landtagswahl in Brandenburg (6,1 Prozent) am gleichen Tag auf eine Wahlteilnahme verzichtet, so war dies bei der DVU umgekehrt in Sachsen. Hier trug zum Erfolg der von der Bundespartei nicht gewünschte Rückzug der REP von der Wahlteilnahme bei. Sie hatten mit 3,4 Prozent bei der Europawahl im Freistaat 0,1 Punkte mehr erzielt als die Nationaldemokraten. Die sächsische NPD-Fraktion wies trotz interner Konflikte (z. B. zwischen „Tauben“ und „Falken“, zwischen Ost- und Westdeutschen) einen größeren Zusammenhalt auf als manche andere Fraktion rechtsextremistischer Parteien.51 Allerdings blieben Zerfallserscheinungen nicht aus. So verließen zum Jahreswechsel 2005/06 Klaus Baier, Mirko Schmidt und Jürgen Schön die Fraktion, gaben ihr Mandat aber nicht auf. Im November 2006 wurde Klaus-Jürgen Menzel ausgeschlossen (wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten). Damit bestand die Fraktion nur noch aus acht Abgeordneten. Im gleichen Monat legte Mathias Paul sein Mandat nieder. Die größte Schwächung erfuhr die Partei wenige Monate zuvor – durch den Unfalltod ihres Parlamentarischen Geschäftsführers Uwe Leichsenring, der in der Sächsischen Schweiz gut verwurzelt war.52 Im Vergleich zur DVU im Landtag von Brandenburg erwies sich die NPD-Fraktion einerseits als radikaler (z. B. durch die Inszenierung von Skandalen), andererseits als professioneller (z. B. durch besser präparierte Gesetzesvorlagen). Die anderen Parteien bildeten nicht nur eine geschlossene Barriere gegen sie, sondern stimmten sich im Vorfeld von Debatten ab.53 Das ist aus einem doppelten Grund nicht unproblematisch: Zum einen wird dadurch das Wettbewerbsprinzip des parlamentarischen Systems beschädigt, zum anderen der antiextremistische Konsens (durch Einbeziehung der PDS bzw. der Linken in die Vereinbarungen). Die NPD verkündete mehrfach, mit dem Einzug in Sachsen sei ihr der Durchbruch geglückt. „Die nationale Zeitenwende ist eingeläutet“54 – so lautete die Schlagzeile in einer Sonderausgabe der „Deutschen Stimme“. Doch wurde sie bald eines Schlechteren belehrt. In Schleswig-Holstein erreichte sie im Februar 2005 immerhin 1,9 Prozent der Stimmen, in Nordrhein-Westfalen im Mai desselben Jahres nicht einmal die für die 51 Vgl. etwa das Auseinanderbrechen der DVU-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt (1998–2002). Siehe Everhard Holtmann, Die angepassten Provokateure. Aufstieg und Niedergang der rechtsextremen DVU als Protestpartei im polarisierten Parteiensystem Sachsen-Anhalts, Opladen 2004. 52 Vgl. Marc Brandstetter, Die sächsische NPD: Politische Struktur und gesellschaftliche Verwurzelung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 38 (2007), S. 349–367, hier S. 363 f. 53 Vgl. Sebastian Rehse, Die Oppositionsrolle rechtsextremer Protestparteien. Zwischen Anpassung und Konfrontation in Brandenburg und Sachsen, Baden 2008. 54 Vgl. Frank Hölder, Die nationale Zeitenwende ist eingeläutet. Nach dem NPD-Triumph bei der sächsischen Landtagswahl ist die BRD nicht mehr, was sie war, in: Deutsche Stimme, Sonderausgabe Wahlen 2004, S. 1.
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Wahlkampfkostenerstattung wichtige Hürde von einem Prozent (0,9 Prozent). Bei den Wahlen in Baden-Württemberg (0,7 Prozent) und Rheinland-Pfalz (1,2 Prozent) im März 2006 übertraf sie mit 0,5 (Baden-Württemberg) und 0,7 Punkten (Rheinland-Pfalz) das letzte Landtagswahlergebnis. Ein Grund: Sie blieb im Wahlkampf fast unbemerkt. Mehr Erfolg versprach sich die Partei bei den Septemberwahlen in Berlin und vor allem in Mecklenburg-Vorpommern. In Berlin trat die NPD im Wahlkampf unter ihrem Vorsitzenden Udo Voigt besonders aggressiv auf.55 Sie schnitt mit 2,6 Prozent der Stimmen dreimal besser ab als bei der letzten Wahl – und im Ostteil (4,0 Prozent) weitaus besser als im Westteil (1,7 Prozent). Allerdings blieb sie damit unter dem Anteil der radikalen WASG (2,9 Prozent), die sich von der Regierungspartei PDS losgesagt hatte. Was in Berlin scheiterte, glückte der NPD in Mecklenburg-Vorpommern mit einem Stimmenanteil von 7,3 Prozent (2002: 0,8 Prozent). Damit ist sie in einem zweiten Landesparlament vertreten. Ob der Erfolg wirklich „das Ergebnis einer jahrelangen Aufbauarbeit [ist], die rechtsextreme Akteure gezielt im Land vorangetrieben haben“?56 Wer von einer „guten strukturellen Verankerung [der Partei] im Land“ spricht, kann nicht zugleich plausibel belegen, wieso die NPD „in der Mehrzahl der Gemeinden [...] nicht präsent“57 ist. Die vor allem sozialpopulistisch argumentierende Partei, die auch bei diesem Wahlkampf Anklänge an neonationalsozialistische Parolen weitgehend mied, stattdessen gegen „die da oben“ mobil machte, wurde tatkräftig von „Freien Kameradschaften“ unterstützt. „Dabei ähnelten die Plakate mit rot-schwarz-weiß farblich früheren PDS-Plakaten und zeigten nur wenige Parolen wie ‚Wehrt Euch‘ oder ‚Was lange gärt, wird endlich Glut: Deshalb NPD!‘ Nicht nur einzelne Sprüche, sondern auch Forderungen der Linken wurden übernommen – zum Beispiel die Ablehnung von Hartz IV.“58 Die günstige bundespolitische „Großwetterlage“ (im Bund gab es eine Große Koalition, im Land eine rot-rote) kann nicht der einzige Faktor für das gute Abschneiden der Partei gewesen sein, denn in Berlin vermochte sie unter derselben Konstellation nicht zu reüssieren. Sie war im nordöstlichen Bundesland mit großer Perspektivlosigkeit zumal jüngerer Menschen in einer komfortablen Situation. Die Angebotsstrukturen
55 Vgl. Oskar Niedermayer/Richard Stöss, Die Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 17. September 2006: Ein „Weiter so“ trotz herber Verluste des Koalitionspartners, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 38 (2006), S. 84–100, hier S. 91. 56 So Gudrun Heinrich/Arne Lehmann, Zwischen Provokation und Systemfeindschaft. Die NPD, in: Steffen Schoon/Nikolaus Werz (Hrsg.), Die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 2006. Die Parteien im Wahlkampf und ihre Wähler, Rostock 2007, S. 67–77, hier S. 67. 57 So ebd., S. 68f. Zur Rolle der Partei in den Kommunen vgl. Katharina Beier u. a., Die NPD in den kommunalen Parlamenten Mecklenburg-Vorpommerns, Greifswald 2006; Hubertus Buchstein/Benjamin Fischer, Die NPD in den kommunalen Parlamenten Mecklenburg-Vorpommerns; Dierk Borstel, Rechtsextreme Strukturen, Szenen und Umfelder, jeweils in: Uwe Backes/Henrik Steglich (Anm. 11), S. 143–168, S. 261–281. 58 Nikolaus Wertz/Steffen Schoon, Die mecklenburg-vorpommersche Landtagswahl vom 17. September 2006: Ein halber Regierungswechsel und das Ende des Dreiparteiensystems, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 38 (2007), S. 67–83, hier S. 72.
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spielten für ihren Erfolg eine geringere Rolle als die Gelegenheitsstrukturen. Die NPD schnitt in Vorpommern (9,4 Prozent) deutlich besser ab als in Mecklenburg (6,8 Prozent). Auch im nordöstlichen Bundesland war die Partei bei Arbeitslosen und Arbeitern stark überrepräsentiert.59 Bei der Bürgerschaftswahl 2007 in Bremen musste die Partei gemäß der Vereinbarung im „Deutschlandpakt“ ebenso die Kandidatur der DVU überlassen wie in Hamburg 2008. Die NPD hielt sich mit deren Unterstützung auffallend zurück; die DVU ihrerseits ging zum Teil auf Distanz zum Umfeld der Nationaldemokraten mit ihrer „Kameradschaftsszene“. Bei den drei anderen Landtagswahlen 2008 blieben der radikalen Kraft nennenswerte Erfolge versagt60, wiewohl sie in Niedersachsen (1,5 Prozent) und Bayern (1,2 Prozent) die für die Parteienfinanzierung wichtige Hürde von 1,0 Prozent der Stimmen überwinden konnte (nicht in Hessen: 0,9 Prozent). In Niedersachsen verblüffte die NPD mit einem für ihre Verhältnisse maßvollen Programm „Sozial geht nur national“, das auf Andreas Molau zurückging. Radikaler war das Programm der NPD in Bayern unter Sascha Roßmüller angelegt („Heimat statt Globalisierung“). Die „nationale Opposition“ trat flächendeckend an – in allen 91 Stimmkreisen. Dieser Umstand ließ auf eine verbesserte Organisationsstruktur schließen. Der stellvertretende Parteivorsitzende Uwe Meenen stellte wohlweislich weniger auf das eigene Ergebnis ab als auf die CSU-Verluste – unfreiwillig komisch: „Zwar hat das erwachsene Bayern der strauchelnden CSU diesmal noch nicht den wohlverdienten Todesstoß, aber doch schon einen entscheidenden Hieb versetzen können. Damit gelang insgesamt ein großer Schlag gegen die politische Kirche, gegen die schwarzen Ajatollahs, denen somit in Deutschland die Speerspitze gebrochen wurde.“61 Das Abschneiden der NPD bei den sechs Landtagswahlen im Jahre 2009 ist unterschiedlich zu bewerten, je nachdem ob es sich um den Ost- oder den Westteil des Landes handelt. Das schlechteste Ergebnis im Osten (Brandenburg: 2,6 Prozent) fiel für die Partei günstiger aus als das beste im Westen (Saarland: 1,5 Prozent). In Hessen und Schleswig-Holstein blieb sie sogar unterhalb der Marke von 1,0 Prozent; im Saarland verlor sie unter Peter Marx, der dezidiert die Richtung um Holger Apfel repräsentiert, 2,5 Punkte gegenüber der letzten Wahl, obwohl die konjunkturelle Entwicklung wie die wirtschaftliche Lage im Vergleich zu anderen Bundesländern eher schlechter als 2004 eingeschätzt wurde – freilich bei fehlender Proteststimmung.62
59 Vgl. ebd., S. 80. 60 Vgl. für Einzelheiten Eckhard Jesse, Wahlen 2008, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Anm. 28), S. 101–114. 61 Uwe Meenen, Stellungnahme zum bayer. Wahlergebnis, 28. September, unter: www.npd-bayern.de (20. Januar 2009). Meenen gab nach der Niederlage bei der Wahl des Landesvorsitzenden das Amt des Stellvertreters auf. Der Vorsitzende der Bayerischen „Jungen Nationaldemokraten“ gar kehrte der Partei den Rücken. 62 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Wahl im Saarland. Eine Analyse der Landtagswahl vom 30. August 2009, Mannheim 2009, S. 26 f.
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Ein wesentlicher Grund für die Verluste dürfte in den massiven Stimmengewinnen der Linken zu suchen sein.63 In Sachsen gelang der NPD am 30. August 2009 mit 5,6 Prozent der Wiedereinzug in den Landtag. Das Ergebnis ist ein Zeichen für Stärke und Schwäche der Partei im Freistaat zugleich. Einerseits kehrte sie trotz mannigfacher Turbulenzen und Eskapaden in den Landtag zurück (zum ersten Mal in ihrer Geschichte), und zwar ohne ein dem Protest anheizendes Thema wie „Hartz IV“, andererseits verlor sie 40 Prozent ihres bisherigen Wähleranteils und blieb so deutlich unter ihrem Ziel „10 Prozent + x“. Die NPD, die, wie bereits erwähnt, in ihrem „Stammland“ eine gewisse soziale Verankerung genießt (Erststimmenanteil: 5,0 Prozent), hatte im Landtagswahlprogramm „Arbeit – Familie – Heimat“ zum Teil auf rabiate, nicht aber polemische Töne verzichtet und sachsenspezifische Probleme benannt. Die etablierten Parteien firmierten als „Blockparteien“, als „Systemparteien“ und „die sogenannten ‚demokratischen‘ Fraktionen im Dresdner Landtag“.64 Die NPD als „antiimperialistische und befreiungsnationalistische Partei“ sei „der organisierte Blockadebrecher der volksfeindlichen und antideutschen Politik aller etablierten Parteien“.65 Sie prangerte den „Sozialabbau“ an, geißelte die Verantwortlichen der Finanzkrise, forderte die Nationalisierung der mit staatlicher Hilfe geretteten Banken ebenso wie den Wegfall von „Hartz IV“. Die etablierten Parteien seien dabei, „den Nationalstaat abzuwickeln. Deutschland wird vorsätzlich in eine unselbständige Provinz der Brüsseler Bürokratie und gleichsam systematisch in einen multikulturellen Vielvölkerstaat umgewandelt.“66 Bei den Wahlmotiven rangierte die Parteienkompetenz klar vor der Parteibindung und vor der Orientierung am Spitzenkandidaten Holger Apfel.67 Die Wähler der NPD votierten für sie wegen der Einwanderungs- und Integrationspolitik (43 Prozent, fünf Punkte mehr als 2004), der Arbeitsmarktpolitik (30 Prozent, 27 Punkte weniger als 2004) und der Thematik „soziale Gerechtigkeit“ (30 Prozent, zwei Punkte mehr als 2004).68 NPD-Wähler empfanden zu 43 Prozent ihre wirtschaftliche Lage als schlecht (Durchschnitt: 16 Prozent).69 Wie bei der Landtagswahl 2004 waren die jungen Wähler stark überrepräsentiert, die Männer, die Arbeiter und die Arbeitslosen.70 Gemäß der Wählerwanderungsbilanz gehen die Verluste der NPD etwa im gleichen Maße auf Nichtwähler zurück wie auf Abwanderer 63 Das müssen selbst Repräsentanten der Linken einräumen. Vgl. Gerd Wiegel/Fritz Burschel, Die extreme Rechte bei den Landtagswahlen vom 30. August 2009, in: Rundbrief AG Rechtsextremismus/ Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE, Nr. 3–4/2009, S. 8–10, hier S. 10. 64 Landtagswahlprogramm der NPD für Sachsen. Arbeit – Familie – Heimat, o.O. o.J. (2009), S. 4f., S. 20. 65 Ebd., S. 14, S. 4. 66 Ebd., S. 12. 67 Vgl. Infratest dimap Wahlanalyse. Landtagswahl Sachsen, Berlin 2009, S. 16 f. 68 Vgl. ebd., S. 18 f. 69 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Wahl in Sachsen. Eine Analyse der Landtagswahl vom 30. August 2009, S. 28 f. 70 Vgl. ebd., S. 34 f.
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zu den anderen Parteien, mehr zur FDP als zur CDU.71 Eine Konsequenz des erneuten Parlamentseinzugs könnte der Erhalt staatlicher Gelder für ihr „Bildungswerk für Heimat und Nationalstaat“ sein.72 In Thüringen, dem einzigen ostdeutschen Bundesland ohne jemalige Repräsentanz einer rechtsextremistischen Kraft im Landesparlament, erreichte die NPD unter ihrem Landesvorsitzenden Frank Schwerdt beachtliche 4,3 Prozent (damit 2,7 Punkte mehr als 2004). Das gute Abschneiden bei den Erststimmen (4,5 Prozent) deutet auf ein Potential oberhalb der Fünfprozenthürde hin. Nach dem „Deutschland-Pakt“ von 2005 sollte hier eigentlich die DVU antreten, doch diese, organisatorisch überaus schlecht „aufgestellt“, gab dem Drängen der NPD nach und verzichtete auf eine Kandidatur. In Thüringen dominierte ungeachtet mancher interner Zwistigkeiten der Flügel um Udo Voigt. Die Partei trat im „Straßenwahlkampf “ in Erscheinung und provozierte u. a. mit einer Attacke gegen einen farbigen CDU-Politiker. „Schließlich hatte man von den erfolgreichen Kameraden im benachbarten Sachsen gelernt, dass erst der kalkulierte Skandal republikweite Aufmerksamkeit und damit vielleicht den gewünschten Zulauf bringt.“73 Allerdings gibt es bisher noch keine hinreichend plausiblen empirischen Erkenntnisse zur Frage, ob die „Skandalisierung“ durch die NPD (und dann durch die Medien) der Partei nützt oder schadet. Anders als in Thüringen stellte sich die Situation in Brandenburg dar. Hier war die DVU von 1999 an im Potsdamer Landtag vertreten. Gemäß der Übereinkunft im „Deutschland-Pakt“ mit der NPD war ausschließlich – wie erwähnt – eine Kandidatur der DVU vorgesehen. Nach deren kläglichem Abschneiden bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wollte die NPD sie in Brandenburg beerben. Da diese nicht verzichtete, traten beide Parteien zur Wahl an74, und der „Deutschland-Pakt“ lief vorzeitig aus. Wie nicht anders zu erwarten, schnitt die im Land besser verankerte NPD (sie stellte in 7 der 44 Wahlkreise Kandidaten auf ) mit 2,6 Prozent auf Anhieb besser als die (ohne Wahlkreisbewerber antretende) Parlamentspartei DVU ab (1,2 Prozent). Nach der Wahl wechselten vereinzelt Repräsentanten der DVU („Der Osten wählt deutsch“) zur rechtsextremistischen Konkurrenz75, die im Wahlkampf als „die echte Rechte“ firmierte. Die DVU scheint gut 20 Jahre nach ihrer Gründung als Partei keine Rolle mehr zu spielen.
71 Vgl. Infratest dimap Wahlanalyse (Anm. 67), S. 6 f., S. 10. 72 Vgl. Daniel Schulz/Andreas Speit, NPD erschließt neue Einnahmequelle, in: die tageszeitung v. 1. September 2009, S. 5. 73 Forschungsgruppe Wahlen, Wahl in Thüringen. Eine Analyse der Landtagswahlen vom 30. August 2009, Mannheim 2009, S. 17. 74 Vgl. Frank Jansen, Rechte gegen Rechte, in: Der Tagesspiegel v. 18. Juni 2009, S. 15; Konrad Litschko, Rechte machen sich gegenseitig fertig, in: die tageszeitung v. 26. August 2009, S. 22. 75 Vgl. Tomas Sager, Führungsanspruch, in: Blick nach rechts v. 1. Oktober 2009, S. 2 f.
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5.
Wahlkampf und Wahlergebnis der NPD bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009
Die Bundestagswahlen 2005 fanden ein Jahr nach dem NPD-Erfolg im Freistaat Sachsen statt, die des Jahres 2009 nach dem Erfolg in Mecklenburg-Vorpommern und unmittelbar nach dem erneuten Einzug der Partei in den Landtag von Sachsen. Insofern durfte sie einen gewissen Rückenwind erwarten, der freilich nicht zum Einzug in das Bundesparlament ausreichen würde. Doch die Ergebnisse mit 1,6 Prozent (2005) und 1,5 Prozent (2009) erfüllten die hochgesteckten Ziele der Partei keineswegs (vgl. Tabelle 4). Berlin knüpfte damit nicht an die „nationale Achse“ von Dresden und Schwerin an. Tabelle 4: Erst- und Zweitstimmenergebnisse der NPD bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 (in absoluten Zahlen und in Prozent) Erststimmen 2005 absolut Prozent
Zweitstimmen 2005 absolut Prozent
Erststimmen 2009 absolut Prozent
Zweitstimmen 2009 absolut Prozent
SchleswigHolstein
17.497
1,0
17.061
1,0
17.139
1,1
15.848
1,0
Hamburg
10.135
1,1
9.463
1,0
9.181
1,0
7.679
0,9
Niedersachsen
62.313
1,3
59.744
1,3
60.811
1,4
53.909
1,2
Bremen
5.513
1,5
5.341
1,4
4.626
1,4
3.612
1,1
NordrheinWestfalen
97.166
0,9
80.512
0,8
112.709
1,2
88.690
0,9
Hessen
51.499
1,5
41.380
1,2
44.260
1,4
35.929
1,1
RheinlandPfalz
36.481
1,5
31.012
1,3
34.514
1,6
26.077
1,2
BadenWürttemberg
92.847
1,6
66.644
1,1
89.204
1,6
61.575
1,1
126.059
1,8
95.196
1,3
111.662
1,7
87.591
1,3
Saarland
10.920
1,7
11.459
1,8
8.033
1,4
7.399
1,3
Berlin
33.508
1,8
29.070
1,6
34.488
2,0
27.799
1,6
MecklenburgVorpommern
32.944
3,3
34.747
3,5
29.801
3,4
28.223
3,3
Brandenburg
51.389
3,3
50.280
3,2
46.792
3,4
35.396
2,6
SachsenAnhalt
40.324
2,8
36.970
2,5
30.183
2,5
26.584
2,2
Thüringen
57.464
4,0
52.988
3,7
43.588
3,5
39.603
3,2
Sachsen
131.718
5,0
126.701
4,8
91.451
4,1
89.611
4,0
Bund
857.777
1,8
748.568
1,6
768.442
1,8
635.525
1,5
Bayern
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
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Die von der DVU unterstützte NPD trat 2005 in allen Bundesländern und mit 295 Wahlkreiskandidaten an. Im Wahlkampf warb sie u. a. mit folgenden Parolen: „Arbeit für Deutsche“, „Inländerfreundlich“, „EU abwählen“, „Schnauze voll – Lügner abstrafen“, „Quittung für Hartz IV“. Udo Voigt maß der Wahl „historische Bedeutung“ zu und behauptete, mit dem Einzug der NPD in den „Deutschen Reichstag“ gehe die Nachkriegszeit zu Ende: „Bei den künftigen Feierlichkeiten zum 8. Mai wird man nicht mehr unter sich sein, um den so genannten ‚Befreiern‘ zu huldigen. Die soziale Frage, die Familienpolitik, die Überfremdungsfrage und die Globalisierung werden von uns im Sinne einer nationalen Interessenvertretung des deutschen Volkes ausgesprochen werden.“76 In der Einleitung zum Aktionsprogramm der NPD, das aus zehn Komplexen bestand, hieß es, die Fehlentwicklungen spiegelten die „Folgen der Herrschaft des Kapitals und der Spekulanten“77 wider. Der Slogan „,Fremdarbeiter‘ stoppen“ stellte eine Anspielung auf Oskar Lafontaine dar, neben Gregor Gysi der Spitzenkandidat der Linkspartei. Da die Linkspartei offenkundig in einem Teil ihres Wählerreservoirs „fischte“, griff die NPD diesmal auch zu antikommunistischen Parolen. Der Text eines Wahlplakats mit Honecker und Lafontaine lautete: „Alles schon vergessen? – Nein zum Linksbündnis“. Gleichwohl überwog die antikapitalistische, sozialpopulistische Dimension, ergänzt um Ressentiments gegen Ausländer. So propagierte sie ein „Gesetz zur Ausländerheimführung“.78 Das Programm der NPD für die Bundestagswahlen 2009 rechnete mit der „jahrzehntelangen Versagerpolitik der etablierten Parteien“ ab; bei der NPD würden „nicht mehr fremde Interessen im Mittelpunkt stehen“.79 Die Partei sparte nicht mit großen Worten. Sie sei „die einzige authentische Oppositionspartei aller Deutschen“, die sich „nicht nur als Speerspitze des nationalen Widerstandes gegen den Ausverkauf deutscher Lebens- und Zukunftsinteressen [begreift], sondern auch als politische Handlungsplattform des deutschen Idealismus“.80 Heftige Kritik an der Globalisierung ging einher mit der Forderung nach Mindestlöhnen. Einen zentralen Platz nahm die „Ausländerpolitik“ mit dem „Ausländerrückführungsprogramm“ ein. Die NPD machte sich ebenso für die Rückkehr aller deutschen Soldaten aus dem Ausland stark wie für den Abzug aller fremden Truppen aus Deutschland. Die Mitgliedschaft in der NATO sei aufzukündigen. Gegenüber 2005 blieb damit eine andere Akzentsetzung aus. Das Ergebnis von 2005 mit 1,6 Prozent war das beste Ergebnis bei einer Bundestagswahl nach 1969. Trotz der Großen Koalition, die einer solchen Partei gemeinhin Zulauf einbringt, kam die NPD 2009 mit 1,5 Prozent nicht ganz an dieses Ergebnis
76 Udo Voigt, Glaubwürdige politische Alternative, in: Deutsche Stimme, Nr. 9/2005, S. 2. 77 Aktionsprogramm für ein besseres Deutschland, hrsg. vom NPD-Parteivorstand, Berlin 2005, S. 4. 78 Vgl. dazu Steffen Kailitz, Die nationalsozialistische Ideologie der NPD, in: Uwe Backes/Henrik Steglich (Anm. 11), S. 337–353. 79 Bundestags-Wahlprogramm NPD, hrsg. vom NPD-Parteivorstand, Berlin 2009, S. 4. 80 Ebd., S. 6.
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heran.81 Immerhin erreichte die Partei jeweils 1,8 Prozent der Erststimmen. Das ist ein Indiz für die Annahme, dass manche Wähler ihr die Stimme gegeben hätten, wäre sie verwertet worden. Für die Bewertung der Wahlergebnisse bieten sich zwei Varianten an. Einerseits ist das fast eine Vervierfachung gegenüber den Bundestagswahlen 1998 und 2002, andererseits hat die Partei damit noch nicht einmal ein Drittel der für die Überwindung der Fünfprozentklausel nötigen Stimmen erreicht. Hatte die NPD ihr Ergebnis 2005 als eine Art „Wahlwunder“ ausgegeben („Dass es die NPD trotz Medien-Nichtpräsenz und Diffamierung geschafft hat, fast 800.000 Stimmen auf sich zu vereinigen, kann schon fast als ein Wunder angesehen werden“82), war sie 2009 realistischer, aber nicht realistisch. Die Partei habe das Ergebnis „nicht wie erhofft weiter ausbauen“ können. Die „Verschleierungstaktik“ der großen Parteien mit Blick auf die Auswirkungen der Krise sei „vom Wähler noch nicht durchschaut worden“. Die NPD habe dem öffentlichen Druck „als einzige nationale Wahlpartei standgehalten“.83 Sie konnte schon deshalb nicht groß reüssieren, weil es 2005 und 2009 an einer Krisenstimmung mangelte. Sie fand kein Thema, bei dem sie die Unzufriedenheit hätte mobilisieren können, war so nicht kampagnenfähig und wurde im Wahlkampf kaum wahrgenommen. Bei der Wählerschaft der NPD sind Unterschichten über-, Personen mit hoher Bildung unterrepräsentiert. Die Unzufriedenheit mit der Demokratie ist überproportional hoch, die eigene wirtschaftliche Situation wird eher als schlecht eingeschätzt, die „Ausländerfrage“ im Vergleich zu Wählern anderer Parteien als wichtiger beurteilt.84 Die Unterschiede zwischen den beiden Wahlen sind minimal, die Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten hingegen auffallend. In den neuen Ländern kam die Partei auf 3,6 Prozent (2005) bzw. 3,1 Prozent (2009), in den alten Bundesländern dagegen nur auf jeweils 1,1 Prozent. Das schlechteste Landesergebnis im Osten (2005: Sachsen-Anhalt 2,5 Prozent; 2009: Sachsen-Anhalt: 2,2 Prozent) übertraf das beste Ergebnis im Westen (2005: Saarland 1,9 Prozent; 2009: Bayern und Saarland je 1,3 Prozent). Die Extremwerte haben sich ein wenig eingeebnet: Die NPD schnitt in ihrer sächsischen Hochburg mit 4,8 Prozent (2005) und 4,0 Prozent (2009) sechsmal bzw. viermal besser ab als in Nordrhein-Westfalen (2005 0,8 Prozent; 2009: 0,9 Prozent). Lediglich in Nordrhein-Westfalen legte die Partei 2009 um 0,1 Punkte leicht zu (in absoluten Zahlen freilich nicht). Selbst das Land Berlin spiegelt das unterschiedliche Wahlverhalten wider, wiewohl in etwas abgeschwächter Form. Kam die NPD 2005 81 Im Gegensatz zu 2005 (seinerzeit kandidierten bei der Linkspartei auch Repräsentanten der WASG) durfte die NPD durch eine Änderung des Wahlgesetzes keine Mitglieder der DVU mehr auf ihre Landeslisten nehmen. 82 So Andreas Molau, 850.000 für Erneuerung, in: Deutsche Stimme, Nr. 10/2005, S. 1. 83 Präsidium der NPD, NPD – einzige ernstzunehmende nationale Kraft!, unter: www.npd.de (5. Oktober 2009). 84 Vgl. Dieter Roth, Potential und Struktur extrem rechter Wählerschaften, in: Einsichten und Perspektiven, Heft 2/2006, S. 108–119.
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und 2009 in Berlin-West auf 1,1 bzw. 1,2 Prozent, so erhielt sie im Ostteil der Stadt, wo Voigt agi(ti)ert(e), 2,3 bzw. 2,2 Prozent. Die NPD schneidet nicht nur im Osten besser ab, sondern auch bei den Männern und bei den Jüngeren, wie die repräsentative Wahlstatistik zuverlässig belegt. Die NPD ist eine ausgesprochene Männerpartei. Bei den Männern erreichte sie 2005 2,2 Prozent, bei den Frauen: 0,9 Prozent. Noch stärker weichen nicht nur bei der Bundestagswahl 2005 die Altersgruppen voneinander ab (18–24 Jahre: 3,8 Prozent; 25–34 Jahre: 2,5 Prozent; 35–44 Jahre: 1,7 Prozent, 45–49 Jahre: 1,3 Prozent; ab 60 Jahre: 0,7 Prozent).85 Von diesem Befund (starke Überrepräsentanz des Ostens, der Männer und der Jüngeren) gibt es keine einzige Ausnahme. So erreichte die NPD 2005 ihr bestes Ergebnis bei den 18- bis 24-jährigen Männern in den neuen Bundesländern mit 9,5 Prozent, ihr schlechtestes bei den über 60-jährigen Frauen in den alten Bundesländern mit 0,4 Prozent. Die Ergebnisse für 2009 weisen dieselbe Tendenz auf.86 Die Gründe für das überproportionale starke Votum der Männer für die NPD (ungefähr im Verhältnis von 2:1) sind unterschiedlicher Natur. Die (harten) Themen, die die Partei in den Vordergrund rückt (wie Ausländerpolitik) sprechen eher Männer als Frauen an. Das traditionalistische Familienbild der Partei dürfte Frauen stärker abschrecken. Radikale Parteien ziehen generell mehr Männer als Frauen an.87 Auch die Linke ist vor allem im Westen bei Männern überrepräsentiert, wiewohl nicht so stark wie die NPD. Wäre die These von Richard Stöss richtig, „Männer wählen die NPD eher aus Überzeugung, Frauen eher aus Protest“88, so hieße das: Immer dann, wenn Wähler für die NPD eher aus Protest denn aus Überzeugung votieren, müsste der Frauenanteil steigen. Davon kann keine Rede sein. Dieses Spezifikum nach dem Geschlecht galt für die „alte“ NPD, wie es für die „neue“ zutrifft. Hingegen traf die Überrepräsentation jüngerer Wähler nicht auf die „alte“ NPD zu. Die NPD unter Voigt spricht den Aktivismus jüngerer Leute an, während sie früher in ihrem starken Traditionalismus auf Wähler dieser Altersgruppe keine Anziehungskraft auszuüben vermochte. Die Bereitschaft, einer Partei wie der NPD im Osten (bei Bundestags- wie Landtagswahlen) eher die Stimme zu geben als im Westen, hängt mit vielen Faktoren zusammen: der geringeren Parteiidentifikation, der schwächer ausgeprägten Zivilgesellschaft, der demokratisch weniger guten Konsolidierung und dem höheren Ausmaß an
85 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wahl zum 16. Deutschen Bundestag am 18. September 2005. Heft 4: Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Männer und Frauen nach Altersgruppen, Wiesbaden 2006, S. 80 f. 86 Vgl. dass. (Hrsg.), Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009. Heft 4: Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Männer und Frauen nach Altersgruppen, Wiesbaden 2010, S. 80 f. 87 Vgl. Ute Molitor, Wählen Frauen anders? Zur Soziologie eines frauenspezifischen politischen Verhaltens in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1992, S. 25, S. 121. 88 Richard Stöss, Rechtsextremismus, Sexismus und Gender Gap, in: Steffen Kühnel/Oskar Niedermayer/Bettina Westle (Hrsg.), Wähler in Deutschland. Sozialer und politischer Wandel, Gender und Wahlverhalten, Wiesbaden 2009, S. 261–310, hier S. 300.
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Demokratieunzufriedenheit wie an ökonomischer Instabilität.89 Zwei spezifische Großursachen erklären das dort bessere Abschneiden der Partei: zum einen die arbitärtotalitäre Erblast des „realen Sozialismus“ (sozialisationsbedingte Faktoren), zum andern der gesellschaftlich-ökonomisch schwierige Transformationsprozess (situativ bedingte Faktoren). Die DDR war keine weltoffene Gesellschaft, die den Umgang mit „Fremden“ eingeübt hatte. Im Gegenteil: Der Staat schirmte die Bevölkerung vor Ausländern zum Teil ab. Toleranz und Liberalität gegenüber anderen Kulturen konnten so nicht gedeihen. Die Auseinandersetzung der DDR mit der NS-Vergangenheit ließ in mannigfacher Weise zu wünschen übrig. Die DDR blieb das „deutschere“ Deutschland, brachte wenig liberale Lebensformen hervor. Manche Ostdeutsche sehnen sich, desorientiert, nach einem Staat, der Arbeitsplätze schafft und soziale Sicherheit verbürgt sowie für Egalisierung in vielen Bereichen sorgt. Der Kommunismus rechnete sich zu den „Siegern der Geschichte“, sah es also nicht als nötig an, den vielfältigen Ursachen für Antisemitismus und nationalistische Überheblichkeit nachzugehen. Bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verschafften sich rechtsextremistische Kräfte rabiat Gehör. Die These, sie seien eine originäre Folge des Kapitalismus gewesen, war offenbar unhaltbar. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie produzierte „Vereinigungsverlierer“ und Identitätsverluste. Er verbindet sich mit Perspektivlosigkeit, Verödung von Landstrichen, Zukunftspessimismus, schwach ausgeprägter Religionsbindung sowie Entbürgerlichungstendenzen im Osten des Landes. Im Westen fallen der NPD angesichts einer stärkeren Parteiidentifikation und besserer ökonomischer Bedingungen Erfolge wesentlich schwerer. Ihre Erfolge erklären sich im Osten wesentlich mit ihrer Funktion als „Denkzettel“-Partei. Daher ist die Bereitschaft, einer radikalen Protestpartei die Stimme zu geben, höher entwickelt als im Westen. Die starke Säkularisierung hemmt nicht die Wahl rechtsextremistischer Parteien. Die Linke, die vielfach als „Systempartei“ firmiert, fällt für manche Wähler als Ventil aus. Eine rechtsextreme Partei wie die NPD ist antikapitalistisch ausgerichtet, findet folglich Anknüpfungspunkte, bedient zudem rechtsextremistische Einstellungsmuster.
89 Vgl. beispielsweise Uwe Backes, Polarisierung aus dem Osten? Linke und rechte Flügelparteien bei der Bundestagswahl 2005, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, Wiesbaden 2006, S. 157–176; ders., Rechtsextreme Wahlmobilisierung und Demokratiekonsolidierung im östlichen Deutschland, in: Totalitarismus und Demokratie 4 (2007), S. 17–43; Lazaros Miliopoulos, Die NPD als Machtfaktor im deutschen Parteiensystem, in: Uwe Jun/Henry Kreikenbom/Viola Neu (Hrsg.), Kleine Parteien im Aufwind. Zur Veränderung der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt a. M./New York 2006, S. 223–245; Robert Philippsberg, Die Strategie der NPD. Regionale Umsetzung in Ost- und Westdeutschland, Baden-Baden 2009; Henrik Steglich, Die NPD in den neuen Bundesländern: Eine Partei auf dem Vormarsch?, in: Martin H. W. Möllers/Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2008/2009, Frankfurt a. M. 2009; S. 235–249.
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Situative Faktoren dürften sozialisationsbedingte überlagern. So dauerte es fast ein Jahrzehnt (von der friedlichen Revolution 1989 an gerechnet), ehe rechtsextremistische Parteien in den neuen Bundesländern zu reüssieren vermochten. Und die junge Wählerschaft ist im Elektorat der NPD klar überrepräsentiert. Das spricht ebenso eher für ein situatives Wählerverhalten. Die NPD hat einen wichtigen Teil ihrer Kader in den Osten geschickt, weil sie sich dort mehr Zuspruch erhofft. Der Demokratieaufbau (mit hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Verunsicherung) steht hier nicht unter so guten Vorzeichen wie der nach 1945 im Westen. Wie die Wahldaten zeigen, schwächen sich die Unterschiede zwischen Ost und West, was die Präferenz für die NPD betrifft, leicht ab.
6.
Perspektiven der NPD
„Das Superwahljahr 2009 findet jetzt eine motivierte handlungs- und kampagnefähige NPD in vollem Wahleinsatz. [...] Die greifbaren nahen Erfolge werden einen ungeahnten Auftrieb zur Bundestagswahl am 27. September verursachen und bei der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl in Brandenburg unserer NPD zum vierten Einzug in ein weiteres Landesparlament verhelfen. Nachdem das Jahr für uns sehr bescheiden begonnen hat, glaube ich heute, dass der Parteivorstand mit dem ‚Deutschen Weg‘ ein richtungsweisendes Fundament für weitere Erfolge gelegt hat und dass wir am Ende des Jahres vom ‚Jahr der NPD‘ sprechen werden.“90 Diese Aussage Udo Voigts war mehr Autosuggestion denn Realität. Bis auf den Wiedereinzug der NPD in den Landtag von Sachsen (wenn auch auf einem bescheideneren Niveau) dominierte Stagnation, ist die vom NPD-Theoretiker Jürgen Gansel propagierte „Graswurzelrevolution“91 ausgeblieben. Das gilt ebenso für den in diesem Beitrag ausgeklammerten kommunalen Bereich. Immerhin ist die Partei nun im „nationalen Lager“ mehr oder weniger die einzige Kraft. Im Gegensatz zum weichen Linksextremismus der Partei Die Linke stellt der harte Rechtsextremismus der NPD kein Massenphänomen dar.92 Seit der deutschen Einheit hat es in Deutschland sechs Bundestagswahlen, vier Wahlen zum Europäischen Parlament und 76 Landtagswahlen gegeben, insgesamt also 86 Wahlen (ohne Kommunalwahlen). Die NPD hat an fünf Bundestags-, drei Europaund 44 Landtagswahlen teilgenommen, zusammen an 52 Wahlen. Die Wahlabstinenz der Partei liegen in ihrer Schwäche begründet: Entweder sah sie keinerlei Aussichten auf einen Achtungserfolg, oder sie musste der DVU wegen des „Deutschlandpaktes“ 90 Udo Voigt, Die echte Rechte: NPD wählen!, unter: www.udovoigt.de/ (15. Oktober 2009). 91 So Jürgen W. Gansel, Angst vor der „völkischen Graswurzelrevolution“, in: Deutsche Stimme, Nr. 7/2006, S. 11. 92 Zum Vergleich und zu den Begriffen „weich“ und „hart“ mit Blick auf die Organisation, die Ideologie und die Strategie vgl. Eckhard Jesse, Die NPD und die Linke. Ein Vergleich zwischen einer harten und einer weichen Form des Extremismus, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/ders. (Anm. 28), S. 13–31.
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den Vortritt lassen. Bei 18 Wahlen (zwei Bundestagswahlen, einer Wahl zum Europäischen Parlament, 15 Landtagswahlen) erreichte die Partei das für die staatliche Parteienfinanzierung nötige Quorum von 0,5 Prozent (bei Bundestags- und Europawahlen) bzw. 1,0 Prozent (bei Landtagswahlen). Bei drei Landtagswahlen überwand sie die Fünfprozenthürde (Sachsen 2004 und 2009, Mecklenburg-Vorpommern 2006). Nur in drei weiteren Fällen konnte die Zwei-Prozent-Marke erreicht werden: in Thüringen 2009 (4,3 Prozent), im Saarland 2004 (4,0 Prozent) und in Berlin 2006 (2,6 Prozent). Diese Ausbeute ist kläglich. Der rechte Rand profitiert von der Schwäche der großen Parteien bisher kaum. Die Last der Geschichte ist durch das verheerende Beispiel des Nationalsozialismus so stark, dass eine Partei wie die NPD nicht reüssieren konnte und in absehbarer Zeit keine Chance hat, bundesweit die Fünfprozenthürde zu überwinden. Auch wenn sich in den neuen Bundesländern die Situation weniger günstig ausnimmt: Eine geächtete Partei wie NPD findet keine gesellschaftlich geachteten Repräsentanten. Die Angebotsstrukturen sind damit für die Partei noch schlechter als die Gelegenheitsstrukturen, wenngleich, wie das Beispiel zeigt, ein enger Zusammenhang zwischen beiden besteht.93 Im Vergleich zur DVU besitzt die NPD eine handlungsfähige Organisation, verfügt sie über eine gewisse Kampagnenfähigkeit. Nach dem faktischen Ende der DVU verkörpert sie mehr oder weniger alleine den „organisierten Willen“ im Parteimilieu des Rechtsextremismus. Diese Partei stellt angesichts ihrer gesellschaftlichen Isolation, ja Ächtung, gleichwohl keine Gefahr für die demokratische Ordnung dar. Wer die NPD nicht als eine Gefahr für den demokratischen Verfassungsstaat ansieht, leugnet deswegen nicht deren durch und durch antidemokratische Positionen. Darüber können zeitweilige Erfolge – in den neuen Bundesländern – nicht hinwegtäuschen. Die einstige „Westpartei“ ist seit über einem Jahrzehnt eine „Ostpartei“ geworden. Im Gegensatz zur linken ostdeutschen Milieupartei (PDS, Linkspartei, Die Linke) handelt es sich bei der NPD in erster Linie um eine Protestpartei ohne größeren Wählerstamm. Von einigen Gegenden in den neuen Bundesländern abgesehen, besteht bis jetzt keine enge Bindung an die Partei, die vor allem mit Protest Stimmen sammelt und weithin spezifisch landespolitische Themen vernachlässigt. Insofern sind ihre Aussichten nicht rosig, zumal alle gesellschaftlichen Eliten die Positionen der NPD und diese selbst entschieden ablehnen, nicht aus strategischen, sondern aus prinzipiellen Gründen. Wenn die NPD weiter ihren aggressiven Kurs fährt (und ein glaubwürdiger Wandel in die Ära vor Voigt ist schwerlich möglich), dürfte sie nicht reüssieren. Die Partei hat ihre – begrenzten – Erfolge nicht wegen, sondern trotz ihres aggressiven
93 Hingegen gibt es keine Verbindungen zwischen den Wahlerfolgen der NPD und rechter Gewalt, wohl aber zu linker „Konfrontationsgewalt“. Vgl. Uwe Backes/Mathias Mlatzko/Jan Stoye, NPDWahlmobilisierung und politisch motivierte Gewalt, Köln 2010.
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Kurses erreicht. Sie wird als Protestpartei wahrgenommen, jedoch schadet ihr der offen systemfeindliche Charakter selbst bei einem großen Teil der unzufriedenen Bevölkerung. Das scheint auch ein Teil der Partei erkannt zu haben, der in Sachsen gewisse Erfolge aufzuweisen hat: „Dieser ‚sächsische Weg‘ steht für einen gegenwartsbezogenen und volksnahen Nationalismus, der die soziale Frage in den Mittelpunkt der Programmatik stellt und der sich von unpolitischer Nostalgiepflege, ziellosem Verbalradikalismus und pubertärem Provokationsgehabe abgrenzt.“94 Wenige Wochen danach, am 26. April 2009, proklamierte der NPD-Vorstand den „deutschen Weg“, gab er eine (indirekte) Antwort auf den „sächsischen Weg“, ohne diesen Namen zu nennen. „Die Zeichen stehen auf Sturm – so offensichtlich wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Da wäre es das falsche Signal, gerade jetzt den radikalen Weg einer nationalen und sozialen Erneuerung zu verlassen, um Zugeständnisse an gewisse, für uns derzeit erst in zweiter Linie erreichbare Wählerschichten zu machen.“95 Es spricht viel für die Vermutung, dass nach der nächsten Vorstandswahl im Jahr 2011 der Bundesvorsitzende nicht mehr Udo Voigt heißen, sondern aus den Reihen der relativ erfolgreichen Landesverbände Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommerns kommen wird. Voigt hat die NPD in eine Sackgasse geführt. Vielleicht gelangt sein früherer Ziehsohn Holger Apfel an die Spitze der Partei. Wie bei Voigt liegt dessen Stärke im organisatorischen Bereich.96 Sein „sächsischer Weg“ ist weniger abschreckend als Voigts „deutscher“. Die Überlegung des früheren Generalsekretärs und stellvertretenden Vorsitzenden Peter Marx, die Partei nach dem linken Pendant als „Die Rechte“ zu bezeichnen, lehnt Apfel ab. „Die NPD ist seit 45 Jahren eingeführtes Markenprodukt“97 – freilich ein mehr erfolgloses als ein erfolgreiches. Die Geschichte der NPD ist anders als die der PDS bzw. der Linken keineswegs die Geschichte eines Siegeszuges.
94 Holger Apfel, Konzentration auf Sachsen und Werben für den sächsischen Weg. Das Modell eines politikfähigen Weges, unter: http://www.holger-apfel.de/?s=7 (1. Dezember 2009). 95 Der DEUTSCHE Weg, unter: http://www.deutsche-stimme.de/ds/?p=1547 (1. Dezember 2009). 96 Vgl. Karsten Goll, Biographisches Porträt: Holger Apfel, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Anm. 9), Bd. 20, Baden-Baden 2008, S. 226–236. 97 Zitiert nach Reiner Burger, Kameraden in der Doppelkrise (Anm. 1).
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Die Diskussion um ein neuerliches NPD-Verbotsverfahren – Verbot: kein Gebot, Gebot: kein Verbot Unbeschadet ihrer antidemokratischen Ziele, die sie zudem aggressiv-kämpferisch vorträgt, stellt die NPD keine Gefahr für den demokratischen Verfassungsstaat dar. Was sie vollmundig verkündet, hat mit der Realität wenig gemein. Ein Nicht-Verbot ist ein Gebot: zum einen deswegen, weil durch die Existenz einer solchen Partei der demokratische Verfassungsstaat die Möglichkeit besitzt, sie zu beobachten und ihr Abschneiden bei Wahlen ein nützlicher Seismograph für die Stärke rechtsextremistischer Positionen darstellt; zum anderen deswegen, weil es die Liberalität verbietet, gegen eine solche Kraft – durch und durch isoliert – derart schweres Geschütz aufzufahren. Schließlich ist das Parteiverbot ein gravierender Eingriff in die Offenheit der politischen Willensbildung. Wer mit Kanonen auf Spatzen schießt, führt das für den Rechtsstaat konstitutive Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel ad absurdum. Haben sich die demokratischen Parteien mit der forcierten Verbotsdiskussion einen Gefallen getan?
1.
Das Problem
„Verboten gefährlich“ – so doppelsinnig lautete die Titelgeschichte des „Spiegel“ im Februar 2012 über die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD).1 Ist die Partei „verboten gefährlich“ oder das Verbot eine Gefahr? Der „Spiegel“ ließ an der durch und durch antidemokratischen Ausrichtung der NPD keine Zweifel erkennen, hingegen große Zweifel am Sinn eines Verbotsantrages. Nach dem Bekanntwerden von neuen Morden an Migranten und an einer Polizistin sowie zahllosen Banküberfällen durch eine kriminelle Gruppe Thüringer Rechtsterroristen, die sich als „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ausgab, lebte ein bekannter Reflex wieder auf, mehr in der Politik und in der Publizistik als in der Wissenschaft2: der Ruf nach einem NPDVerbot. Hatte die Innenministerkonferenz am 9. Dezember 2011 beschlossen, die Chancen für ein NPD-Verbotsverfahren auszuloten, so kam eine neue Dynamik in die Diskussion, als auch CDU und CSU sich Mitte März 2012 bereitfanden, die V-Leute aus den Reihen der NPD abzuziehen und damit eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Antrag zu erfüllen. Die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder verständigte sich am 29. März 2012 darauf, am 6. Dezember desselben Jahres zu einer Entscheidung nach einer Materialsammlung durch die Innenministerien der Bundesländer zu gelangen – und zwar mit Blick auf die Gebote der „Staatsfreiheit“ (Abzug der V-Leute aus den Vorständen der Partei), der „Verfassungsfeindlichkeit“ (im Sinne einer aggressiv-kämpferischen Haltung der Partei) und der Verhältnismäßigkeit der Mittel (Gefahr der Partei 1 2
Vgl. Jürgen Dahlkamp u. a., Eine unerträgliche Partei, in: Der Spiegel v. 13. Februar 2012, S. 32–41. Vgl. den Überblick bei Uwe Backes, NPD-Verbot: Pro und Contra, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 18–19/2012, S. 9–15.
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für die demokratische Ordnung). Im bejahenden Fall stünde einem Verbotsantrag nichts entgegen. Etwa zwei Drittel der Deutschen sind ohnehin für ein NPD-Verbot.3 Dieser Beitrag sucht drei Fragen zu klären: 1. Ist ein Verbot gegen die NPD möglich? 2. Ist ein Verbot gegen die NPD nötig? 3. Ist ein Verbotsverfahren wahrscheinlich? Im ersten Fall geht es um die deskriptive Ebene, im zweiten um die präskriptive, im dritten um die prospektive. Wer die Fragen beantworten will, kommt zunächst nicht umhin, den Komplex der streitbaren Demokratie mit Blick auf Parteiverbote auszuleuchten. Schließlich geht es kurz um einen historischen Abriss zur NPD-Verbotsdiskussion – erstmals in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, dann in den Jahren 2000–2003. Aus den Antworten auf die drei Fragen ergeben sich einige Schlussfolgerungen, die der deutschen Demokratie keinen Ruhmeskranz flechten.
2.
Streitbare Demokratie und Parteienverbot
Das Grundgesetz ist der Prototyp einer durch Wertgebundenheit und Abwehrbereitschaft gekennzeichneten Verfassung, wiewohl der Begriff der streitbaren Demokratie nicht eigens vorkommt. Diese Konzeption will die Hilflosigkeit der relativistisch geprägten Demokratie des Weimarer Typs überwinden. Ihr zentraler Gedanke: die Vorverlagerung des Demokratieschutzes in den Bereich legalen politischen Handelns. Der demokratische Verfassungsstaat soll sich seiner Gegner nicht erst dann erwehren können, wenn sie Strafgesetze übertreten.4 Es gibt nicht nur extremistische Methoden, sondern auch extremistische Ziele. Zu den Instrumenten der streitbaren Demokratie gehören neben dem Vereinigungsverbot (Art. 9 Abs. 2 GG) und der Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG) das Parteienverbot. Gemäß Art. 21 Abs. 2 GG steht es ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht zu („Parteienprivileg“) – auf Antrag der Bundesregierung, des Bundestages oder des Bundesrates. In dem Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die rechtsextremistische Sozialistische Reichspartei 1952 taucht der Begriff der streitbaren Demokratie nicht auf, ist jedoch sinngemäß enthalten.5 Das Gericht erörtert durch die Begriffsbestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung indirekt die streitbare Demokratie, ohne sie näher zu entfalten. Im KPD-Urteil von 1956 rechtfertigt das Bundesverfassungs-
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5
Vgl. u. a. den Artikel: Bürger für NPD-Verbot, in: Süddeutsche Zeitung v. 23. April 2012, S. 6. Vgl. Gregor Paul Boventer, Grenzen politischer Freiheit im demokratischen Staat. Das Konzept der streitbaren Demokratie in einem internationalen Vergleich, Berlin 1985; Markus Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie. Beiträge über die Regelungen zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, Tübingen 2003; Eckhard Jesse, „Demokratieschutz“, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Demokratien des 21. Jahrhunderts im Vergleich. Historische Zugänge, Gegenwartsprobleme, Reformperspektiven, Opladen 2003, S. 451–476. Vgl. Henning Hansen, Die Sozialistische Reichspartei (SRP). Aufstieg und Scheitern einer rechtsextremen Partei, Düsseldorf 2007, S. 223–270.
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gericht das Prinzip der streitbaren Demokratie im Allgemeinen und das der streitbaren Demokratie im Besonderen. Es führt die Schutzbestimmungen nicht zuletzt auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und der von ihm verfolgten Legalitätstaktik zurück. „Das Grundgesetz hat also bewusst den Versuch einer Synthese zwischen dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen politischen Auffassungen und dem Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten der Staatsordnung unternommen. Art. 21 Abs. 2 GG steht somit nicht mit einem Grundprinzip der Verfassung im Widerspruch; er ist Ausdruck des bewussten verfassungspolitischen Willens zur Lösung eines Grenzproblems der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung, Niederschlag der Erfahrungen eines Verfassungsgebers, der in einer bestimmten historischen Situation das Prinzip der Neutralität des Staates gegenüber den politischen Parteien nicht mehr rein verwirklichen zu dürfen glaubte, Bekenntnis zu einer – in diesem Sinne – ‚streitbaren Demokratie‘. Diese verfassungsrechtliche Entscheidung ist für das Bundesverfassungsgericht bindend.“6 Der „Hüter der Verfassung“ hebt eigens hervor, bei der Schutzbestimmung von Art. 21 Abs. 2 GG handele es sich um eine „Präventivmaßnahme“7. Ein Verstoß der betreffenden Partei gegen Strafgesetze sei keine conditio sine qua non für ein Verbot. Dafür genügt der Nachweis, dass deren Ziele der Verfassung widerstreiten. Freilich müsse dies in einer „aktiv kämpferische[n], aggressive[n] Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung“8 geschehen. Der Staat gehe nicht offensiv gegen Gruppen vor, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnen. „Schon diese gesetzliche Konstruktion des Tatbestandes schließt einen Missbrauch der Bestimmung im Dienste eifernder Verfolgung unbequemer Oppositionsparteien aus.“9 Die freiheitliche Demokratie wolle die Würde des Menschen gegenüber totalitären Bewegungen verteidigen. Insofern bekenne sie sich zur Formel: „Keine unbedingte Freiheit für die Feinde der Freiheit“10. Das Bundesverfassungsgericht bedient sich zu Recht nicht der so griffigen wie verführerischen jakobinischen Formel „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“. Es hat in dem KPD-Urteil eine behutsame Abwägung eines „Grenzproblems der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung“ vorgenommen sowie skrupulös das Spannungsverhältnis zwischen dem Grundrecht der politischen Meinungsfreiheit und der Schutzbestimmung von Art. 21 Abs. 2 GG interpretiert.
6 BVerfGE 5, 139. An dieser Stelle hat das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal den Terminus der „streitbaren Demokratie“ verwendet. Es ist ein Kuriosum, dass dieser Begriff das erste Mal von dem Übersetzer eines Buches (Fritz Blum) von Karl Mannheim stammt: Ders., Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen, Zürich u. a. 1951, S. 17. Im Original hatte Mannheim wie Karl Loewenstein, dem eigentlichen Begründer der streitbaren Demokratie, von „militant democracy“ gesprochen. 7 BVerfGE 5, 142. 8 BVerfGE 5, 141. 9 BVerfGE 5, 141. 10 BVerfGE 5, 138.
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Die Bundesrepublik Deutschland war seinerzeit eine „Schönwetterdemokratie“, fühlte sich jedenfalls so. Das SRP-Verbot 1952 und, mit gewissen Abstrichen, das KPD-Verbot 1956 galten als selbstverständlich, lösten jedenfalls keine großen Kontroversen aus. Heute ist die Bundesrepublik eine gefestigte Demokratie, die durch eine antidemokratische Partei wie die NPD offenkundig nicht destabilisiert wird. Das Institut des Parteienverbots ist im Gegensatz zur Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung für einzelne Personen11 in der Tat ein sinnvolles Element der streitbaren Demokratie12, diese sollte von ihm aber nicht in einer Weise Gebrauch machen, die den Verdacht nährt, es gehe in erster Linie um Symbolpolitik. Die Vielzahl der Vereinigungsverbote13 im rechtsextremistischen Bereich seit der deutschen Einheit erweckt diesen Eindruck und hat die NPD eher gestärkt.
3.
Die frühere Diskussion um ein Verbot der NPD und das gescheiterte Verbotsverfahren
Die Forderung nach einem Verbot der 1964 gegründeten, weithin aus der Deutschen Reichspartei hervorgegangenen NPD ist fast so alt wie diese Partei selbst. Die erste intensive Verbotsdiskussion wurde Ende der sechziger Jahre geführt.14 Zwischen 1966 und 1968 war der zu Recht als rechtsextrem eingestuften NPD der Einzug in mehrere Landesparlamente gelungen. Immer wieder erscholl der Ruf nach einem Verbot, insbesondere – aber nicht nur – aus linken Vereinigungen und Kreisen. Bereits die ersten größeren Erfolge im November 1966 bei den hessischen und bayerischen Landtagswahlen lösten in der Öffentlichkeit entsprechende Forderungen aus. Eher zurückhaltend äußerten sich 1967/68 führende Politiker zu diesem Thema. Mehr als sein Vorgänger Paul Lücke schien sich Innenminister Ernst Benda für ein Verbot stark zu machen. Viele Politiker der „etablierten“ Parteien lavierten und wollten sich nicht festlegen. Die NPD selber trat die Flucht nach vorn an und forderte die Bundesregierung mehrfach auf (im Dezember 1967, im Herbst 1968 und im Frühjahr 1969), einen Verbotsantrag zu stellen.15 So könne sich erweisen, ob die Anschuldigungen zuträfen.
11 Die Gefahr für den demokratischen Staat geht von einer organisierten Kraft aus, nicht von einzelnen Personen. Hier genügen die Strafgesetze. Vgl. Eckhard Jesse, „Grenzen des Demokratieschutzes in der offenen Gesellschaft – Das Gebot der Äquidistanz gegenüber politischen Extremismen“, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Gefährdungen der Freiheit. Extremistische Ideologien im Vergleich, Göttingen 2006, S. 493–520. 12 Zur Kritik aus der Sicht einer wertrelativistischen Position vgl. Horst Meier, Parteiverbot und demokratische Republik. Zur Interpretation von Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, Baden-Baden 1993. 13 Vgl. Julia Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie. Verbieten oder Nicht-Verbieten?, Baden-Baden 2012, insbes. S. 146–194. 14 Vgl. Lars Flemming, Das NPD-Verbotsverfahren. Vom „Aufstand der Anständigen“ zum „Aufstand der Unfähigen“, Baden-Baden 2005, S. 88–94. 15 Vgl. die Belege bei Peter Dudek/Hans-Gerd Jaschke, Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur, Bd. 1, Opladen 1984, insbes. S. 345.
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Das Damoklesschwert eines Verbots schwebte 1967/1968 ständig über der NPD. Dieser Umstand konnte weitreichende Folgen zeitigen, sei es dadurch, dass die Partei sich in ihrer Agitation betonte Zurückhaltung aufzuerlegen hat, sei es dadurch, dass ihre Anhängerschaft verunsichert ist. Im April 1969 erst gab die Bundesregierung bekannt, sie beabsichtige vom Instrument des Parteienverbots keinen Gebrauch zu machen – jedenfalls nicht mehr vor der Bundestagswahl 1969. Nachdem die NPD mit 4,3 Prozent an der Fünfprozentklausel gescheitert war und in der Folge ein rapider Niedergang eingesetzt hatte, erübrigten sich weitere ernsthafte Verbotsüberlegungen. Peter Dudek und Hans-Gerd Jaschke weisen zu Recht auf die „Verselbständigungstendenz des linken Antifaschismus“16 hin. Dieser ritualisierte Antifaschismus, häufig nicht aus der Sorge um den Bestand des demokratischen Verfassungsstaates geboren und keineswegs antiextremistisch ausgerichtet, diente vielfach der Propagierung prokommunistischen Gedankengutes. Das Urteil der beiden Autoren zur Strategie der „etablierten“ Parteien fiel ebenso nicht schmeichelhaft aus: „Die Verbotsdrohung ist politischer Opportunismus, der machtpolitische Motive hat, zudem aber auch als außenpolitisches Feigenblatt benutzt wurde.“17 Das ständige Wachhalten der Verbotsdiskussion brachte die NPD in eine schwierige Situation. Offenkundig war seinerzeit bei demokratischen Politikern die Angst vor ausländischen Reaktionen mindestens ebenso groß wie die Besorgnis vor einer Renaissance des Rechtsextremismus.18 Eine besondere Schwäche vieler Verbotsforderungen bestand darin, dass sie das extremistische Moment der NPD nicht erfassten, wenn diese kurzschlüssig als Partei des „Neonazismus“ firmierte. Die Große Koalition hatte 1968 Kommunisten der DDR-Couleur eine „goldene Brücke“19 zur Gründung einer Partei gebaut. Insofern wäre eine andere politische Strategie als der Verzicht auf einen Verbotsantrag gegen die NPD unglaubwürdig geworden. Konnte die Regierung doch nicht einerseits den parteiförmigen Extremismus politisch bekämpfen (die extremistische Variante von links) und ihn andererseits rechtlich ausschalten (die extremistische Variante von rechts), zumal NPD und DKP sich in der Intensität des Extremismusgrades nicht wesentlich voneinander unterschieden. Außerdem erschien der Ausgang eines solchen Verfahrens höchst ungewiss. Die Ablehnung eines Verbotsantrages durch das Bundesverfassungsgericht – weil die Partei nicht in aggressiv-kämpferischer Weise die Verfassung attackiere – hätte einen Reputationsgewinn der NPD in der Öffentlichkeit nach sich gezogen.
16 Ebd., S. 349. 17 Ebd., S. 353. 18 In Berlin hatte der Regierende Bürgermeister den Alliierten den Antrag auf ein Verbot der NPD unterbreitet, dem später stattgegeben wurde. 19 Rudolf Schuster, Relegalisierung der KPD oder Illegalisierung der NPD? Zur politischen und rechtlichen Problematik von Parteiverboten, in: Zeitschrift für Politik 15 (1968), S. 414.
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Eine Sonderstellung in der Diskussion nahm seinerzeit Golo Mann20 ein, der nach der baden-württembergischen Landtagswahl 1968 – die NPD erreichte mit 9,8 Prozent der Stimmen ihr bestes Ergebnis – nur zwei erfolgversprechende Strategien gegenüber der Partei sah: „Die eine ist, sie zu verbieten. Die andere ist, sie an die politische Mitverantwortung heranzubringen; und zwar sofort, augenblicklich, dort in Stuttgart.“21 Der dritte Weg – jener der Dämonisierung – führe nur zu einem weiteren Anstieg der Zahl der NPD-Anhänger. Der Autor, der sich eigens als „blutiger Laie“22 in der Politik zu erkennen gab, mochte Recht haben mit seiner Kritik an der Dämonisierung. Seine Schlussfolgerung war jedoch keineswegs zwingend. Eine argumentative Auseinandersetzung mit verfassungsfeindlichen Positionen hätte der Intention der streitbaren Demokratie besser entsprochen. Anders verlief die Verbotsdiskussion gegen die NPD zu Anfang des letzten Jahrzehnts. Sie kam jäh nach dem Sprengstoffanschlag in Düsseldorf am 27. Juli 2000 gegen eine Gruppe jüdischer Immigranten und nach dem Brandanschlag auf eine Synagoge am 2. Oktober desselben Jahres in derselben Stadt auf. Bundeskanzler Gerhard Schröder propagierte danach den „Aufstand der Anständigen“; schnell entfaltete sich eine Eigendynamik, die zu einer Phalanx von drei übereilt eingereichten Verbotsanträgen (der Bundesregierung, des Bundestages und des Bundesrates) gegen die NPD führen sollte. Zwar hatte es in den Jahren zuvor eine Vielzahl fremdenfeindlicher Übergriffe gegeben, doch galt das eben nicht für die erwähnten Anschläge in Düsseldorf. Die NPD wurde für ein fremdenfeindliches Klima verantwortlich gemacht. Oft genug nahmen die Anträge die propagandistischen Verlautbarungen der Partei für bare Münze, ohne hinlänglich deren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Der (damalige) bayerische Umweltminister Günter Beckstein von der CSU und der (damalige) Bundesumweltminister Jürgen Trittin von den Grünen erwiesen sich als die Promotoren eines solchen Verbotsantrages. Ihre Motive, wiewohl jeweils von populistischen Intentionen getragen, fielen jeweils unterschiedlich aus. Ging es Beckstein um die Rechtfertigung einer Law-and-Order-Politik, wollte sich Trittin beim Thema „Antifaschismus“ profilieren. Der Ausgang des Verbotsverfahrens, gegen das von den etablierten Kräften nur die FDP Stellung bezogen hatte, ist hinlänglich bekannt: Drei der sieben Richter sahen in der publik gewordenen Existenz von V-Leuten des Verfassungsschutzes auf der Vorstandsebene der NPD (etwa 30 von 200) ein nicht behebbares Verfahrenshindernis. Für die Fortführung des Verfahrens wäre nach den Bestimmungen des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht eine Zweidrittel-Mehrheit nötig gewesen.23
20 Vgl. Golo Mann, „Das Kaninchen baut die Schlange auf “, in: Der Spiegel v. 20. Mai 1968. Der Artikel ist in folgendem Band nachgedruckt: Peter Dudek/Hans-Gerd Jaschke (Anm. 15), Bd. 2, S. 159–161. 21 Ebd., S. 160. 22 Ebd., S. 160. 23 Vgl. Martin H. W. Möllers/Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.), Parteiverbotsverfahren, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2011.
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Das Bundesverfassungsgericht setzte sich couragiert gegen drei andere Verfassungsorgane durch.24 Die Antragsteller hatten die Verfassungsfeindlichkeit mit Aussagen von Personen untermauert, deren „Doppelspiel“ ihnen unbekannt war. Der Verfassungsschutz trug durch seine Praktiken dazu bei, den Glauben an den Schutz der Verfassung in Frage zu stellen: zum einen durch die Gewinnung von V-Leuten auf Vorstandsebene, zum anderen durch den fehlenden Abgleich innerhalb der Behörden. Die Politik leistete mit ihrer Hektik dem Vorschub. Medien schließlich übten Druck aus. Der streitbaren Demokratie wurde mit den Verbotsanträgen und dem gescheiterten Verfahren eine schwere Niederlage zugefügt. Einzig die Entscheidung des Gerichts, das nicht dem Zeitgeist Tribut zollte, fiel überzeugend aus.25 Die NPD ihrerseits trat dreist auf: Ausgerechnet Horst Mahler, der einstige Linksterrorist, der sich zu einem rabiaten Rechtsextremisten gewandelt hatte26, fungierte als ihr Rechtsvertreter vor Gericht, um ein Verbot zu verhindern, obwohl er an anderer Stelle Jahre zuvor getönt hatte: „Ich bin für ein Verbot der Parteien.“27 Nach dem Ende des Verbotsverfahrens verließ er, der überaus bizarre Stellungnahmen verschwörungstheoretischer Natur vorgelegt hatte, die rechtsextremistische Partei. Diese feierte das Nichtverbot als Sieg für sich, wenngleich ihr mit der Sachentscheidung (nicht: Prozessentscheidung) keineswegs ein Persilschein ausgestellt worden war. Die Hauptunterschiede gegenüber der NPD-Verbotsdiskussion in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre liegen auf der Hand: War die NPD seinerzeit eine antikommunistische, eher proamerikanische Kraft des deutschnationalen Rechtsextremismus28, so nahm sie nunmehr eine antikapitalistische, rassistische, klar antiamerikanische Position ein. Sie sagte dem Verfassungsstaat offensiv den Kampf an.29 War sie damals in sieben (von zehn) Landesparlamenten vertreten und stand möglicherweise vor dem Einzug in den Bundestag, so sah das im Jahre 2000 völlig anders aus. In keinem der 16 Landesparlamente repräsentiert, hatte sie bei den Bundestagswahlen 1998 ganze 0,3 Prozent und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 1999 0,4 Prozent erreicht. Nur bei den Landtagswahlen in Sachsen (1999: 1,4 Prozent), in Mecklenburg-
24 Hingegen knickte es bei der Beurteilung der unechten Vertrauensfragen – gestellt durch Helmut Kohl 1982 und durch Gerhard Schröder 2005 – gegen die Phalanx von Bundestag, Bundesregierung und Bundespräsident jeweils ein. 25 Vgl. Lars Flemming (Anm. 14); Eckhard Jesse, „Der gescheiterte Verbotsantrag gegen die NPD – Die streitbare Demokratie ist beschädigt worden“, in: Politische Vierteljahresschrift 44 (2003), S. 292–301. 26 Vgl. Martin Jander, Horst Mahler, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1, Hamburg 2006, S. 372–393. 27 Franz Schönhuber/Horst Mahler, Schluss mit deutschem Selbsthass. Plädoyers für ein anderes Deutschland, Berg am Starnberger See 2000, S. 65. 28 Vgl. Uwe Hoffmann, Die NPD. Entwicklung, Ideologie und Struktur, Frankfurt a. M. 1999. 29 Vgl. Uwe Backes/Henrik Steglich (Hrsg.), Die NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei, Baden-Baden 2007.
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Vorpommern (1998: 1,1 Prozent) und Schleswig-Holstein (2000: 1,0 Prozent) konnte sie überhaupt die für die Parteienfinanzierung wichtige Marke von einem Prozent überwinden. Hatte die heikle Frage der V-Leute Ende der sechziger Jahre keine Rolle gespielt, war dies anfangs des letzten Jahrzehnts anders – nicht zuletzt deshalb, weil die Verfassungsorgane Anträge vor dem Bundesverfassungsgericht gestellt hatten. Die Situation 2011/12 unterscheidet sich von der 1966 bis 1968 wie von der im Jahre 2000. Eine Serie von zehn Morden in den Jahren 2000 bis 2007, ausgeübt von kriminellen Rechtsterroristen, erschüttert(e) die Republik. Dies löste einerseits die Forderung nach einem Verbot der NPD aus, zumal eine Verwicklung von (ehemaligen) NPD-Mitgliedern in die Aktionen zu bestehen schien, andererseits legte die Politik größere Sorgfalt an den Tag, überstürzte ungeachtet forscher Bekenntnisse nichts, vermied so Aktionismus und wollte das Votum von einer Prüfung der Erfolgsaussicht eines Verbotsvorhabens abhängig machen. Schließlich stand den Politikern das gescheiterte Verbotsverfahren des Jahres 2003 vor Augen. Die NPD hat in den letzten Jahren zwar keine Wahlerfolge in der Größenordnung wie zwischen 1966 und 1968 erreicht, aber immerhin ist sie nicht zuletzt dank ihrer sozialpopulistischen Kampagnen (z. B. gegen die Hartz-IV-Gesetzgebung) mittlerweile in zwei Landesparlamenten vertreten, und das jeweils zum zweiten Male (Sachsen 2004 und 2009: 9,2 und 5,6 Prozent; MecklenburgVorpommern (2006 und 2011: 7,3 und 6,0 Prozent). Bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 kam die Partei, deren Professionalisierung durch ihre – oft provokativen – parlamentarischen Aktivitäten gewachsen ist, auf 1,6 bzw. 1,5 Prozent.
4.
Ist ein Verbot der NPD möglich?
Wer die heutige NPD analysiert, kommt zu dem Schluss, dass es sich eindeutig um eine verfassungsfeindliche Partei handelt. Hier besteht Konsens in der Politik, in der Publizistik und der Politikwissenschaft. Die NPD hatte sich mit ihrer Vier-Säulen-Strategie (Kampf um die Köpfe, Kampf um die Straße, Kampf um die Parlamente, Kampf um den organisierten Willen) unter Udo Voigt30 zu einer Partei des harten Rechtsextremismus entwickelt – im Hinblick auf Ideologie, Strategie und Organisation.31 Sie propagiert eine ethnisch homogene „Volksgemeinschaft“, kooperiert in ihrer „Volksfront von rechts“ mit „Freien Kameradschaften“ und hat sich für Personen aus dem nationalsozialistischen Spektrum geöffnet. Voigt predigt(e) den Kampf gegen die demokratische Ordnung. So erklärte er nach dem ersten sächsischen Wahlerfolg vollmundig: „Es ist unser Ziel, die BRD ebenso abzuwickeln, wie das Volk vor 15 Jahren die DDR abgewickelt
30 Vgl. Marc Brandstetter, Die NPD unter Udo Voigt. Organisation, Ideologie, Strategie, Baden-Baden 2013. 31 Vgl. Eckhard Jesse, Die NPD und die Linke. Ein Vergleich zwischen einer harten und einer weichen Form des Extremismus, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 21, Baden-Baden 2009, S. 13–31.
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hat. Dies geht offensichtlich auch über die Wahlurne.“32 Das Postulat aller Nichtdeutschen aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ steht für Vertreibung und Enteignung.33 Der Wahlkampf der NPD unter der Führung des damaligen NPD-Vorsitzenden Udo Voigt bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September 2011 ist ein markantes Beispiel für den aggressiven Stil der Partei. So wurde in einem Kreuzworträtsel nach einem Namen gesucht, der mittlerweile aus der Mode gekommen sei („Adolf “). Plakate warben mit dem – zurückhaltend formuliert – geschmacklosen Slogan „Gas geben“ oder wünschten zynisch „Guten Heimflug“. In ihrem „Landesaktionsprogramm für ein deutsches Berlin“ warnte die Partei vor „Überfremdung“. „Der Berliner NPD geht es um die geistige Überwindung der Grundlagen der Zerstörung des deutschen Volkes. [...] Täter sind die etablierten Blockparteienpolitiker und ihr gleichgeschaltetes Medienkartell als Handlanger der Großkapitalisten und der imperialistischen überstaatlichen Organisationen. Sie verdrängen ihr maßloses Profitstreben mit pseudoideologischen Phrasen und verfolgen repressiv alle Menschen. [...] Die NPD fordert den Widerstand gegen den Ungeist der Anpassung der Lüge, der Selbstverleugnung und Unterwerfung.“34 Entsprechen solche Aussagen demokratischen Prinzipien? Die Frage ist rhetorischer Natur. Das „Schlucken“ der Deutschen Volksunion, einer Phantompartei, hat die NPD ebenso wenig gemäßigt wie die Ablösung Voigts im Parteivorsitz durch Holger Apfel im November 2011, auch wenn dessen „sächsischer Weg“ etwas weniger plump sein mag als Voigts „deutscher“. Insofern erfüllt die NPD, deren Strategie offenkundig aggressiv-kämpferisch ausfällt (dieser Nachweis ist ohne die Hilfe von V-Leuten möglich), die Voraussetzungen für ein Parteiverbot. Die NPD knüpft an die NS-Ideologie der Volksgemeinschaft an. Sie vertritt zwar nicht offen Positionen des Nationalsozialismus, distanziert sich von ihnen aber auch nicht. Für das Parteiverbot ist es nun weder notwendig, eine Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus nachzuweisen, noch die Anwendung oder Bejahung von Gewalt. Die streitbare Demokratie stellt auf antidemokratische Maximen ab, nicht auf antidemokratische Methoden. Allerdings steckt der Teufel im Detail. Ein Rechtsstaat verlangt ein faires Verfahren, das eben nicht auf einen „Schnellschuss“ hinausläuft. So hat der Antrag „wasserdicht“ zu sein. Das aggressiv-kämpferische Vorgehen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung muss detailliert belegt werden. Kontaminiertes Material darf keine Berücksichtigung finden. Der Abzug der V-Leute aus den Vorständen der NPD, wie er nun erfolgt sein dürfte, ist eine conditio sine qua non. Das „Abschalten“ der V-Leute wirft 32 „Ziel ist, die BRD abzuwickeln“. Der NPD-Vorsitzende Udo Voigt über den Wahlerfolg seiner Partei und den Zusammenbruch des liberal-kapitalistischen Systems, in: Junge Freiheit v. 24. September 2004, S. 3. 33 Vgl. Steffen Kailitz, Die nationalsozialistische Ideologie der NPD, in: Uwe Backes/Henrik Steglich (Anm. 39), S. 337–353. 34 NPD-Landesverband Berlin, „Wir sagen, was Sie denken.“ Landesaktionsprogramm für ein deutsches Berlin, Berlin 2011, S. 4.
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freilich mitunter Probleme auf und kann länger dauern als gemeinhin vermutet („Nachsorge“).35 Die „Rechtsprobleme beim Verbot politischer Parteien“36 sind vielfältig. So ist laut Gesetz über das Bundesverfassungsgericht das Hinzutreten weiterer Richter nach Beginn der Beratung nicht möglich, eine Beschlussunfähigkeit des Gerichts bei einer zeitraubenden Verhandlung daher keineswegs ausgeschlossen. Ungeachtet dessen: Die mehrfach aufgestellte Behauptung von Hans-Peter Bull, im NPD-Verbotsverfahren der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung, ist nicht haltbar: Wegen der hohen Hürden (Verzicht auf V-Leute bei Verfahrensbeginn), die das Gericht aufgebaut habe, sei jeder Verbotsantrag von vornherein zum Scheitern verurteilt.37 Schließlich hängt der Beleg für die aggressive Kampfansage an die Demokratie nicht in erster Linie von V-Leuten ab. Offenbar will Bull die Gründe für die seinerzeitige Niederlage vor Gericht nicht bei Fehlern der Bundesregierung suchen. Fazit: Wer die streitbare Demokratie nicht als eine unverbindliche façon de parler ansieht, gelangt zu dem Urteil, die NPD erfüllt die Voraussetzungen für ein Verbot. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt schließlich nicht die Prüfung der Frage nach dessen Opportunität. Die Frage, ob eine Partei, die verboten werden soll, eine Gefahr für den demokratischen Verfassungsstaat bildet, ist für das Votum des Gerichts ebenso wenig entscheidend.38 In einem Rechtsstaat, der auf Gewaltenteilung basiert, kann es allerdings keine absolute Sicherheit für das „Durchgehen“ eines Verbotsantrages geben.
5.
Ist ein NPD-Verbot nötig?
Das Mögliche muss sich nicht mit dem Nötigen decken, das Nötige aber mit dem Möglichen. Anhänger eines Verbotsantrages bringen höchst verschiedene Gründe vor: Die eine Richtung betont eher die symbolische Seite, die andere hebt stärker auf die Gefahr der NPD für die Demokratie ab. Da sich die Argumentationsmuster vermengen, wird auf Autorennamen verzichtet. Das Spektrum der Verbotsbefürworter ist weitgespannt und keinesfalls nur einer politischen Strömung zuzuordnen.39
35 Vgl. beispielsweise Sebastian Haak, Abschalten geht nicht per Knopfdruck, in: Südthüringer Zeitung v. 21. Juni 2012, S. 1. 36 Vgl. Eckart Klein, Ein neues NPD-Verbotsverfahren? Rechtsprobleme beim Verbot politischer Parteien, Baden-Baden 2012. 37 Vgl. Hans-Peter Bull, Warum die NPD nicht verboten werden kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27. Januar 2009, S. 7. 38 Allerdings spielt dieser hier nicht näher zu erörternde Gesichtspunkt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine stärkere Rolle. Insofern könnte die NPD mit ihrer Klage vor diesem erfolgreich sein. Vgl. Seyda Emek, Parteiverbot und Europäische Menschenrechtskonvention, München 2007. 39 Vgl. beispielhaft nur je einen Beleg aus der Wissenschaft und aus der Politik: Christoph Weckenbrock, Die streitbare Demokratie auf dem Prüfstand. Die neue NPD als Herausforderung, Bonn 2009; Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.), Verfassungsfeind NPD, Magdeburg 2009.
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Zunächst zur Symbolpolitik: Da bereits antidemokratische Ziele, aggressiv vorgetragen, für ein Verbot genügen, ist es ein Gebot der Selbstachtung des demokratischen Staates, gegen eine Partei wie die NPD „Flagge“ zu zeigen und „Zeichen“ zu setzen, zumal Deutschland angesichts seines Zivilisationsbruches im 20. Jahrhundert eine besondere Verantwortung zukommt. Die Bundesrepublik müsse daher eine Partei, die offenkundig rassistisches Gedankengut verficht, nicht nur ächten, sondern auch verbieten. „Nazismus“ sei keine Meinung, sondern ein Verbrechen – so die gängige Parole mittlerweile nicht nur im Antifa-Milieu. Es könne nicht sein, dass eine Partei vom Demonstrationsrecht Gebrauch macht, obwohl sie es darauf anlegt, eben dieses abzuschaffen, wenn sie die Macht besäße. Außerdem sei es schizophren, auf der einen Seite eine Partei an der Wahlkampfkostenerstattung partizipieren zu lassen und auf der anderen Seite finanzielle Mittel für die Zivilgesellschaft zur Verfügung zu stellen, damit das Gedankengut eben dieser Partei bekämpft wird. Tragen solche Maximen dazu bei, die Notwendigkeit eines NPD-Verbots zu untermauern? Wohl kaum! Die Außenwirkung der NPD ist tatsächlich verheerend. Aber dies stellt kein ernsthaftes Argument für ein Verbot dar. Eine Partei muss schließlich darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Der Verfassungstext ist unmissverständlich. Wer die NPD verbieten will, damit sie nicht mehr demonstriert und keine staatlichen Gelder wie die anderen Parteien erhält, vergisst, dass Freiheit ihren Preis hat. Schließlich zur Gefahr für die Demokratie: Die Partei schafft ein Klima, heißt es, im dem Hetze und Gewalt gedeiht. Durch das Verbot der NPD, der weitaus stärksten Kraft im „nationalen Lager“, würde die Infrastruktur der rechtsextremistischen „Szene“ geschwächt. Die NPD zündele und provoziere Gewalt. Sind diese Argumente schlagender? Wäre auch nur um ein Opfer fremdenfeindlicher Gewalt ohne die Existenz der NPD weniger zu trauern? Und: Lässt sich von der Propaganda so leicht auf die Tat schließen? Im Übrigen hat die NPD das geringste Interesse, ob taktisch motiviert oder nicht, „geistiger Brandstifter“ zu sein, weil sie um die negativen Wirkungen auf die Wähler weiß. Der NPD als Gesamtorganisation ist schwerlich anzulasten, wenn Einzelne aus ihren Reihen gewaltaffinen Kräften helfen. Sie ist deswegen nicht der politische Arm des Terrors. Jedenfalls gibt es dafür keine plausiblen Anhaltspunkte. Hätten führende Mitglieder der Partei die Morde des NSU unterstützt oder auch „nur“ gebilligt, wäre das pflichtgemäße Ermessen der Antragsteller nahezu auf null geschrumpft. Das ihnen zustehende Opportunitätsgebot darf schließlich nicht in ein Gebot des Opportunismus umschlagen.40
40 Anders ist die Frage zu bewerten, ob ein Mitglied der NPD in den öffentlichen Dienst kommen oder in ihm verbleiben darf. Gewiss, im bejahenden Fall würde die Demokratie nicht erfolgreich unterwandert, aber nach den Beamtengesetzen gilt, dass jeder Bewerber für den öffentlichen Dienst die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu bejahen hat. Insofern ist das Urteil eindeutig: Kein Mitglied der NPD hat im öffentlichen Dienst (Verfassungstreue ist Voraussetzung) etwas zu suchen.
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Zudem ist leicht erkennbar, dass ein Verbot in vielen Fällen keineswegs das geeignete Mittel ist, den betreffenden Missstand zu beheben. Zwei Beispiele: Wenn es stimmt, dass die NPD „auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft“41 angekommen ist und dass rechtsextreme Einstellungsmerkmale in der „Mitte“ weit verbreitet sind42: Welchen Sinn hat dann ein NPD-Verbot? Dies liefe auf ein bloßes Kurieren an Symptomen hinaus. Subkulturelle Aktionen der „rechten Szene“ sorgen für Unruhe, tragen zur Verunsicherung bei und münden mitunter in Gewalt. Nur: Ein Verbot der NPD reduziert das Gewaltrisiko nicht. Eher dürfte es umgekehrt sein. Die gewaltaffine Szene könnte dadurch gestärkt werden. Die NPD, wahrlich gesellschaftlich nicht geachtet, politisch geächtet, stellt keine ernsthafte Gefahr für die gefestigte demokratische Ordnung dar. Zwar wird beständig von einer Gefährdung durch die NPD gesprochen, doch unterbleibt die Aufstellung eines einschlägigen Kriterienkataloges.43 Dann dürfte sich schnell zeigen, dass weder von den Angebotsstrukturen der NPD (u. a. Aktivisten und Ideologie) noch von den meisten Gelegenheitsstrukturen (u. a. politische Kultur, Stabilität der politischen Ordnung) Gefahren ausgehen. Allerdings gibt es ein wie hoch auch immer zu bezifferndes rechtsextremistisches Einstellungspotential, das bei wirtschaftlichen Problemen und nachlassendem Glauben in die Kraft der politischen Klasse ein Einfallstor für die Agitation der NPD darstellt, wie gewisse Erfolge der Partei in Teilen der neuen Bundesländer belegen. Gegner eines neuen NPD-Verbotsverfahrens treten eigentümlich defensiv auf. Die Hauptargumente sind taktisch-strategischer Natur. Die Chancen für ein Verbot gelten aus unterschiedlichen Gründen als schlecht; schließlich heißt es, ein Verbot lenke von anderen gesellschaftlichen Problemen ab und löse die mit „Alltagsrassismus“ verbundenen Probleme nicht. So zutreffend viele dieser Argumente sind: Freiheitliche Bezüge kommen in der Regel nur wenig zum Ausdruck. Nicht bloß unter dem Gesichtspunkt der Effizienz, sondern auch unter dem der Liberalität ist ein solches Verbot kontraproduktiv. Dieses scharfe Schwert stellt einen schweren Eingriff in die organisierte Willensbildung eines freiheitlichen Staates dar. Eine offene Gesellschaft tut gut daran, bei ihrer Abgrenzung von Extremisten Dämonisierungen zu meiden. Ein Beispiel: Sollte es statt
41 Vgl. Andrea Röpke/Andreas Speit (Hrsg.), Neonazis in Nadelstreifen. Die NPD auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft, Berlin 2008. 42 Vgl. die zahlreichen empirischen Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung: Oliver Decker/Elmar Brähler, Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006; dies., Bewegung in der Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2008, Berlin 2008; Oliver Decker/Katharina Rothe/Marliese Weissmann/Oliver Brähler, Ein Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und demokratischer Einstellungen in Deutschland, Berlin 2008; Oliver Decker/Marliese Weissmann/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Berlin 2010. 43 Vgl. dazu (nicht eigens auf die NPD gemünzt) Uwe Backes/Eckhard Jesse, Extremistische Gefahrenpotentiale im demokratischen Verfassungsstaat. Am Beispiel der ersten und zweiten deutschen Demokratie, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 3, Bonn 1991, S. 7–32.
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stereotyp „Aufmarsch von Neonazis“ nicht weniger verfänglich heißen: „Demonstration von Neonationalsozialisten“? Die „Zivilgesellschaft“ stellt sich mit einem Verbot, einem nicht eben „zivilgesellschaftlichen“ Mittel, ein Armutszeugnis aus. Das Abschneiden der Partei bei Wahlen ist vielmehr ein guter Seismograph für die Stärke des (parteiförmigen) Rechtsextremismus. Man muss schon lange suchen, um eine Position wie die des Mainzer Staatsrechtlers Uwe Volkmann zu finden, der umwunden feststellt: „Wie es um die Befindlichkeit einer politischen Gemeinschaft bestellt ist, lässt sich immer auch daran ablesen, wie sie mit denjenigen umgeht, die sie bekämpfen.“44 Der Autor verweist auf die Vielzahl der Mechanismen, wie sich die Demokratie vor dem Rechtsextremismus schützt, auf „ein ebenso feingliedriges wie diskret arbeitendes Räderwerk der Selbstverteidigung, im Vergleich zu dem das Parteiverbot in seiner Plumpheit und Direktheit heute wirkt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit“.45 Er spricht von „eine[r] politische[n] Einfärbung des Strafrechts“46. Volkmann wirft die Frage auf, ob der demokratische Verfassungsstaat „die beständige Gegenwart des Anderen“47 benötige. Um die Legitimität der demokratischen Ordnung wäre es schlecht bestellt, träfe dies zu. Leider überlassen mit wenigen Ausnahmen Anhänger der streitbaren Demokratie den Verfechtern einer Konzeption das Feld, für die ausschließlich das Gewaltkriterium die staatliche Eingriffsschwelle bildet. Die Argumente, die etwa Claus Leggewie und Horst Meier vorbringen48, können auch Anhänger der streitbaren Demokratie teilen, teilweise jedenfalls. Besonders Horst Meier wird nicht müde, die als verfehlt angesehene Strategie der Politik gegenüber der NPD sarkastisch „vorzuführen“. Etwa: „Eine merkwürdige Mischung aus Antifa-Rhetorik, Gesinnungshuberei und Alarmismus dient vor allem der Selbstbeweihräucherung: Wir sind das bessere Deutschland! Nazis raus!“49 Seine Kritik an der streitbaren Demokratie und am Parteiverbot zielt freilich nicht auf die als militant empfundene Praxis, sondern auf die Konzeption selbst. „Das im Grundgesetz statuierte Parteiverbot, hierzulande leicht mit demokratischer Normalität verwechselt, ist ein autoritärer Systembruch.“50 Dies läuft im Kern auf die Absage an eine wertgebundene Demokratie hinaus. Fazit: „Wenn gegen eine bei Wahlen erfolgreiche nationalsozialistische Partei kein Verbotsverfahren eingeleitet wird, muss dann nicht die Möglichkeit eines Parteiverbots
44 So Uwe Volkmann, Feind und Freund, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 1. Dezember 2011, S. 7. 45 Ebd., S. 7. 46 Ders., „Kampf gegen die Hydra? Der Staat und der Rechtsextremismus“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 18–19/2012, S. 19. 47 Ders. (Anm. 44), S. 7. 48 Claus Leggewie/Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe zur Verteidigung der Demokratie. Mit zwei Exkursen von Alexander Molter und Wolfgang Stenke, Reinbek bei Hamburg 1995; dies. (Hrsg.), Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben? Die Positionen, Frankfurt a. M. 2002. 49 Horst Meier, Protestfreie Zonen? Variationen über Bürgerrechte und Politik, Berlin 2013, S. 123. 50 Ebd., S. 122.
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aus dem Grundgesetz gestrichen werden?“51 Unabhängig davon, ob die NPD tatsächlich „nationalsozialistisch“ und „erfolgreich“ ist: Die streitbare Demokratie hat stets eine Güterabwägung zwischen Freiheit und Sicherheit vorzunehmen. Ein Automatismus im Sinne eines Aktivwerdens wohnt ihr nicht inne. Die Auffassung, der Verzicht auf einen Verbotsantrag gegen die NPD hebele die streitbare Demokratie aus, stimmt so nicht. Richtig wäre dies bei einem prinzipiellen Verzicht auf ein Verbot. Allein die Existenz der Parteiverbotsbestimmung im Grundgesetz ermöglicht der Politik eine Handhabe, wie sich umgekehrt eine extremistische Partei darauf einstellen muss. Das Institut des Parteienverbotsantrages ist nicht notwendigerweise ein stumpfes Schwert. Nur besteht gegenwärtig kein Anlass, davon Gebrauch zu machen.
6.
Wird ein Verbotsantrag gegen die NPD gestellt?
Die Parteien des Verfassungsbogens – am wenigsten gilt dies für die FDP, am stärksten für die SPD (die Union liegt näher mehr bei der SPD, Bündnis 90/Grüne näher bei der FDP – haben sich weit herausgelehnt und den Willen bekundet, abermals ein Verbotsverfahren gegen die NPD einzuleiten – der Zusammenhang zur Mordserie der ehemaligen Mitglieder des „Thüringer Heimatschutzes“ liegt auf der Hand. Selbst Winfried Hassemer, der als Senatsvorsitzender 2003 das Verfahren gegen die NPD maßgeblich zu Fall gebracht hatte, ließ unter dem Eindruck der Morde die Notwendigkeit erkennen, einen neuen Versuch zu unternehmen.52 Hingegen warnte Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, die Parteien, aufgrund der – scheinbaren – Verquickung von Gewalt und Politik in eine „unsägliche Falle“53 zu tappen. Statt die rückhaltlose Aufklärung dieses ungeheuerlichen Vorgangs in den Vordergrund zu rücken, geriet das Verbots-Gebot der NPD ins Zentrum der Debatte: als ein Alibi für Aktivismus? Zur Beruhigung der Gemüter? Zur Ablenkung von fatalen Fehlern? Die Äußerungen zur Notwendigkeit eines Verbotsantrages beim Bundesverfassungsgericht sind mittlerweile deutlich leiser geworden. Eine Aussage wie die des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich auf einer Extremismuskonferenz am 20. Juni 2012 in Riesa ist eher eine Ausnahme: „Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, in Karlsruhe ein Verbot der NPD zu erwirken.“ Das bedeutet, ein Verbotsantrag wird gestellt. Über die NPD heißt es bei Tillich insinuierend: „Sie hat den Boden bereitet für antidemokratische Exzesse wie die erschreckende Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes.“54 Der lancierte Hinweis auf den Europäischen 51 Steffen Kailitz (Anm. 33), S. 353. 52 Der Staat muss reagieren, in: Süddeutsche Zeitung v. 22. März 2012, S. 5. 53 „Die Politik läuft in eine unsägliche Falle“. Interview mit Hans-Jürgen Papier, in: Die Welt v. 5. Dezember 2011. 54 Die beiden Zitate stammen aus der folgenden Quelle: Ministerpräsident Tillich ist bei ExtremismusKonferenz zuversichtlich: NPD-Verbot kommt, unter: LVZ-Online v. 20. Juni 2012.
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Gerichtshof für Menschenrechte, bei dem das Prinzip der Verhältnismäßigkeit für eine Verbotsentscheidung eine große Rolle spielt, kann so gedeutet werden, als wolle die Politik „zurückrudern“.55 Hierfür sind mehrere Gründe namhaft zu machen: Zum einen scheint sich herauszustellen, dass NPD und NSU nicht miteinander verzahnt sind, zum anderen gelten die Pannen beim Verfassungsschutz im Bund und in den Ländern im Zusammenhang mit dem NSU als so gravierend, dass einerseits eine Reform an Haupt und Gliedern angestrebt wird und dass andererseits das volle Vertrauen in die Arbeit des angeschlagenen Verfassungsschutzes inzwischen fehlt. Die Politik will nicht den Kopf für eine – mögliche neue – V-Mann-Panne hinhalten. Die von den Innenministern Niedersachsens – Uwe Schünemann (CDU) – und Nordrhein-Westfalens – Ralf Jäger (SPD) – angeregte, von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich zunächst zurückgewiesene Idee, das einschlägige Material vor einer Entscheidung einem unabhängigen Fachmann mit der Bitte um Prüfung zu über-geben56, ob es für einen Verbotsantrag ausreiche, lässt mangelnde Führungs- und Verantwortungsbereitschaft erkennen. Die Politik sucht sich offenkundig aus der Affäre zu ziehen. Gleichwohl: Sie „hat sich allein durch diesen Prüfauftrag in ein Dilemma gebracht. Kommt die Expertenrunde zu dem Ergebnis, das Material reiche nicht aus, einen Antrag auf Verbot der NPD zu stellen, könnte die Behauptung der Verfassungswidrigkeit schwerlich ständig weiter gegen diese Partei aufrechterhalten werden. Kommt die Expertenrunde aber zu dem Ergebnis, das Material reiche für einen Verbotsantrag aus, wird sich angesichts des öffentlichen Drucks die Innenministerkonferenz kaum mehr anders entscheiden können.“57 Allerdings spricht viel für die Annahme, dass die etablierten Parteien zwar nach wie vor behaupten dürften, ein Verbot wäre für die politische Hygiene förderlich, aber zugleich kleinlaut kundtun, dessen Erfolg sei nicht garantiert. Um die NPD nicht aufzuwerten, müsse ein solcher Antrag daher ausbleiben. Die immer wieder zu hörende Aussage, dieser werde nur gestellt, wenn das Bundesverfassungsgericht ihm stattgibt, ist verräterisch, lässt mangelnden Respekt dem „Hüter der Verfassung“ gegenüber erkennen. Das Gericht ist selbstbewusst, unabhängig und an rechtliche Maßstäbe gebunden. Jedem Verfahren wohnt nun einmal ein Restrisiko inne. Die Hoffnung, die Politik werde aus prinzipiellen Gründen von einem Verbotsantrag Abstand nehmen und dies offensiv vertreten – sei es, weil die NPD keine Gefahr für den demokratischen Verfassungsstaat bedeutet, sei es, weil Feinde der Demokratie bei Wahlen die verdiente Niederlage hinnehmen sollen –, dürfte trügen. Die Angst, dies könne so ausgelegt werden, als sei damit eine Verharmlosung rassistischer Maximen verbunden, führt zum unehrlichen Lavieren. Die streitbare Demokratie jedenfalls 55 Vgl. statt vieler Belege den Artikel: NPD-Verbotsverfahren steht auf der Kippe, in: Focus v. 23. April 2012, S. 19. 56 Vgl. Susanne Höll, Externer Experte gesucht. Vor neuem NPD-Verfahren soll Fachmann Material prüfen, in: Süddeutsche Zeitung v. 2. Juni 2012, S. 9. 57 Eckart Klein (Anm. 36), S. 30, Anm. 75.
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gebietet in dieser Lage keinen Verbotsantrag – im Gegenteil. Wer dies in der gebotenen Klarheit herausstreicht, setzt sich dem Soupçon aus, er sei auf dem rechten Auge blind. Es war weithin kein Ruhmesblatt, wie die deutsche Demokratie ab dem Jahre 2000 in puncto NPD reagiert hat. Kein Geist der Freiheit sprach aus dem Verhalten „der“ Politik. Bei allen möglichen rechtsextremistischen Vorfällen, ob nun unter Beteiligung der NPD oder nicht, glaubten Politiker mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit eines NPD-Verbots Punkte zu sammeln, obwohl der konkrete Sachverhalt – um nur zwei Beispiele herauszugreifen: der Überfall auf den damaligen Passauer Polizeipräsidenten Mannichl, die als fremdenfeindlich charakterisierten Vorgänge im sächsischen Mügeln – mit der NPD ersichtlich nichts zu tun hatte. Es sollte überlegt werden, ob es hinfort notwendig ist, eine solche Partei mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu beobachten. Zwielichtige V-Leute, sie kommen aus dem Milieu der Partei, haben bisher für Ärger gesorgt, weniger für Aufklärung.58 Sie sind, plakativ formuliert, Teil des Problems, nicht Teil der Lösung. Es versteht sich, dass die Verfassungsschutzberichte die Nationaldemokraten, ihrerseits weder national noch demokratisch, weiter gebührend „würdigen“59 und der Verzicht auf die V-Leute nicht für eine subkulturelle – rechtsextremistische, linksextremistische und islamistische – gewaltaffine Szene gilt. Allerdings ist die Frage der Beobachtung von Parteien durch den Verfassungsschutz grundlegend zu überdenken. Was ist gestattet, was nicht? Was darf die Partei von der Beobachtung wissen? Welche Möglichkeiten hat sie, um deren Rechtmäßigkeit nachprüfen zu lassen?60 Dass das Ergebnis bei der NPD anders auszufallen hat als bei der Linken, liegt auf der Hand. Fazit: Die Parteien sprangen voreilig auf den „Verbotszug“ auf. Abermals grassierte eine Verbotsmentalität. Anders als 2000/2001 dürfte es ihnen aber gelingen, ihn zu stoppen. Gleichwohl nimmt die Politik unter diesem Hin und Her Schaden. Ein klares Bekenntnis, sich mit der gesellschaftlich marginalen Partei politisch auseinanderzusetzen, fehlt bisher. Die neuerliche Diskussion hat die Notwendigkeit gezeigt, über die Art und Weise der Beobachtung verfassungsfeindlicher Parteien nachzudenken und gegebenenfalls zu ändern (Verzicht auf nachrichtendienstliche Observierung).
58 Freilich erfährt die Öffentlichkeit längst nicht alles, und das liegt in der Natur der Sache, was V-Leute unter Umständen Positives geleistet haben. 59 Vgl. zuletzt: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2011, Berlin 2012, S. 62– 85. 60 Überlegungen dazu finden sich bei Lars Oliver Michaelis, Politische Parteien unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Die Streitbare Demokratie zwischen Toleranz und Abwehrbereitschaft, Baden-Baden 2000; ferner Uwe Backes, Probleme der Beobachtung und der Berichtspraxis der Verfassungsschutzämter – am Beispiel von REP und PDS, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), 50 Jahre Verfassungsschutz in Deutschland, Köln 2000, S. 213–231.
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7.
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Schlussfolgerungen
Das Verbot der Partei – wie der NPD – ist eine ultima ratio. Dieser Hinweis ist nicht so zu verstehen, als sei es angängig, die NPD mit behördlichen Tricks auszumanövrieren und ihre angemeldeten Demonstrationen, sofern sie gesetzliche Bestimmungen einhalten, stören oder gar verhindern zu lassen. Der Rechtsstaat ist unteilbar. Im „Kampf gegen rechts“ gilt manches Illegale als legitim, weit über Antifa-Kreise hinaus. Der Vorschlag, die NPD zwar nicht zu verbieten, wegen ihrer Verfassungsfeindlichkeit aber von der Parteienfinanzierung fernzuhalten, ist wenig überzeugend. Eine entsprechende Verfassungsänderung hätte wohl kaum Bestand vor den Augen des Bundesverfassungsgerichts, weil auf diese Weise bestimmte Parteien sich einen Wettbewerbsvorteil verschafften und den Sinn der Parteienfinanzierung umfunktionierten. Demgegenüber stellt ein Parteiverbot einen sauberen, rechtlich einwandfreien, wiewohl – gegenwärtig – politisch unangemessenen Weg dar. Wer als Reaktion auf den öffentlichen (besser: veröffentlichten) Druck flugs in den populistischen Ruf nach einem Parteienverbot einstimmt, zeigt Hilflosigkeit. Rechtsextremistische Umtriebe bleiben dadurch erhalten; das Gedankengut ist nicht verschwunden. Die Fixierung auf ein NPD-Verbot löst kein gravierendes Problem, provoziert vielmehr eine Reihe neuer Gravamina und Imponderabilien. Nimmt dadurch der subkulturelle Rechtsextremismus nicht zu? Wird unter Umständen ein Teil des harten Rechtsextremismus in den Untergrund gedrängt? Öffnet ein Verbot der NPD nicht die Büchse der Pandora und bereitet dem Erfolg einer rechtspopulistischen Kraft den Boden? Wenn Deutschland bisher von parteiförmigem Rechtspopulismus im größeren Umfang verschont geblieben ist und die elektoralen Erfolge des Rechtsextremismus eher bescheiden ausgefallen sind61, hat das u. a. mit der nachwirkenden bitteren historischen Erfahrung zu tun und damit, dass die NPD, die eine Art Märtyrerstatus erlangte, durch ihre wüste Agitation jede rechtspopulistische Position diskreditiert. Hingegen wertet sie indirekt den politischen Antipoden auf. Schließlich kämpft die PDS, die Linkspartei und die Linke, ungeachtet der Wandlungen in der Tradition der SED stehend, seit jeher massiv gegen den „Faschismus“62 und ist beim „Kampf gegen rechts“ mittlerweile mehr oder weniger integriert. Bekanntlich richtet Antifaschismus sich nur gegen eine Variante des Extremismus. Es ist paradox: Gerade deshalb, um die streitbare Demokratie zu sichern, müssten sich deren Anhänger verpflichtet sehen, darauf hinzuweisen, dass ein solches Vorgehen gegen die NPD den hiesigen Demokratieschutz, der eben nicht auf Militanz basiert, massiv schwächt und jenen Auftrieb gibt, die mit der wertgebundenen Demokratiekonzeption nichts anfangen können und sie für schädlich erachten. Diese Position
61 Vgl. u. a. Gideon Botsch, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland: 1949 bis heute, Darmstadt 2012. 62 Vgl. Tim Peters, Der Antiextremismus der PDS aus antiextremistischer Sicht, Wiesbaden 2006.
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unterscheidet sich damit grundlegend von der Horst Meiers, der – wie gezeigt – als Gegner der streitbaren Demokratie mit bedenkenswerten Argumenten vor einem Verbot der NPD warnt, dabei aber das Kind mit dem Bade ausschüttet, indem es heißt: „Freiheit für die Feinde der Freiheit“.63 Streitbare Demokratie zeigt sich nicht zuletzt darin, dass deren Repräsentanten den Protagonisten einer extremistischen Partei massiv entgegentreten. Dazu gehört Überzeugungsarbeit, Engagement und das Vertrauen auf die Überlegenheit des demokratischen Verfassungsstaates. Der „Spiegel“ schließt in seiner eingangs erwähnten Titelgeschichte damit, das Scheitern eines Verbotsverfahrens könnte die NPD aufwerten. „Eine Stärkung der NPD? Das wäre nun wirklich verboten.“64 Tatsächlich ist eine Stärkung der Demokratie geboten – und zwar durch das Nicht-Verbot einer krass antidemokratischen Partei, deren Wahl durch die Bürger sich gleichsam selbst verbietet bzw. verbieten sollte.
63 Horst Meier (Anm. 49), S. 94. 64 Jürgen Dahlkamp u. a. (Anm. 1), S. 41.
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Fundamentalkritik an der Konzeption der streitbaren Demokratie und am Extremismusbegriff. Auseinandersetzung mit differenzierter und plumper Kritik Kritik am Konzept der streitbaren Demokratie und am Extremismusbegriff ist verbreitet. Sie fällt höchst unterschiedlich aus. Für eine simple Form der Kritik steht die „antifaschistische“ Vorgehensweise des Berliner Historikers Wolfgang Wippermann, der in einer Art „Haltet den Dieb“-Reaktion der Extremismusforschung politische Intentionen unterstellt. Für eine differenzierte Form der Kritik steht die „radikal-demokratische“ Vorgehensweise des Politologen Claus Leggewie und des Juristen Horst Meier. Nach diesen Autoren ist staatliche Intervention an Gewaltanwendung bzw. Gewaltandrohung gebunden. Laufen die Vorbehalte damit im Kern auf einen Rückfall in den Werterelativismus der Weimarer Republik hinaus? Und: Sind V-Leute verzichtbar?
1.
Nach der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrundes“
Die Rechtsterroristen des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ hatten zwischen 2000 und 2006 neun Morde an Kleinunternehmern ausländischer (türkischer und griechischer) Herkunft sowie 2007 einen Mord an einer Heilbronner Polizistin verübt, ferner 14 Banküberfälle sowie zwei Anschläge begangen. In der Folge stellten sich schwerwiegende Ermittlungspannen und Versäumnisse der Sicherheitsbehörden heraus.1 Untersuchungsausschüsse im Bund sowie in Bayern, Sachsen und Thüringen sind dabei, diese schonungslos aufzuklären, ohne Rücksicht auf Verantwortliche.2 Die spätere Konsequenz: ein vermutlich grundlegender Umbau der Sicherheitsstruktur. Derartige – schlimme – Vorgänge eignen sich zur Instrumentalisierung. Wer ohnehin für die Abschaffung des Verfassungsschutzes ist und wer der These anhängt, „die Gesellschaft“ sei auf dem rechten Auge blind, sah sich bestätigt. Insofern durfte die massive Kritik, keineswegs stets von Sachkenntnis getragen, nicht verwundern. Solche nicht für möglich erachteten Geschehnisse lösen allerlei Verschwörungstheorien unterschiedlicher Couleur aus. An ihnen sind nicht nur extremistische Richtungen beteiligt. Das gesellschaftliche Klima fördert zum Teil Andeutungen, Unterstellungen und Halbwahrheiten. Schroffe Kritik richtet sich mehr gegen den Verfassungsschutz, weniger gegen die für Strafverfolgung zuständigen Polizeibehörden.
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2
Die meisten einschlägigen Publikationen sind recht vordergründiger Natur. Vgl. Maik Baumgärtner/ Marcus Böttcher, Das Zwickauer Terror-Trio. Ereignisse, Szene, Hintergründe, Berlin 2012; Christian Fuchs/John Goetz, Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland, Reinbek 2012; Patrick Gensing, Terror von rechts. Die Nazi-Morde und das Versagen der Politik, Berlin 2012; Olaf Sundermeyer, Rechter Terror in Deutschland. Eine Geschichte der Gewalt, München 2012. Vgl. exemplarisch den Bericht über die Arbeit des Untersuchungsausschusses im Bundestag von Peter Carstens, Den Opfern schuldig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3. November 2012, S. 3.
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Die Kernfrage lautet: Ist das Konzept der streitbaren Demokratie durch die Mordserie ad absurdum geführt worden, und muss das auf ihm basierende Extremismusverständnis ad acta gelegt werden? Der Beitrag will in prinzipieller Form eine Antwort auf diese Frage geben. Zunächst werden das Konzept der streitbaren Demokratie und das des Extremismus vorgestellt. Schließlich ist beabsichtigt, Fundamentalkritik zur Sprache zu bringen. Sie ist – im Gegensatz zu Detailkritik – dadurch gekennzeichnet, dass sie das jeweilige Konzept prinzipiell verwirft. Eine Fundamentalkritik kann, wie Detailkritik, eher differenziert oder eher plump sein. Die differenzierte Kritik bezieht sich auf die Negierung des Prinzips der streitbaren Demokratie durch Claus Leggewie und Horst Meier, die plumpe Kritik auf die Negierung des Extremismuskonzepts durch Wolfgang Wippermann. Die beiden Kapitel zu den Argumentationsmustern von Leggewie/ Meier einer- und Wippermann andererseits sind analog angelegt. Nach einem biographisch-bibliographisch angelegten Abschnitt folgt ohne jede Wertung – u. a. durch eine Vielzahl an Zitaten, um dem Vorwurf der verzerrten Wiedergabe zu begegnen – eine Herausarbeitung der charakteristischen Merkmale der Kritik, ehe sich jeweils eine Kritik der Kritik Punkt für Punkt anschließt. Wie der kurze Vergleich zwischen beiden Positionen deutlich machen soll, fällt selbst eine Fundamentalkritik vom Niveau höchst unterschiedlich aus. Es ist die Erkenntnis des Autors, weder die Konzeption der streitbaren Demokratie noch die der (vergleichenden) Extremismusforschung ist ad acta zu legen. Wer normativ argumentiert, muss die Empirie nicht vernachlässigen.
2.
Streitbare Demokratie und Extremismuskonzept
Die im Grundgesetz verankerte Konzeption der streitbaren Demokratie sucht die relativistisch geprägte Demokratie Weimarer Typs zu überwinden.3 Dazu dient die Vorverlagerung des Demokratieschutzes in den Bereich des legalen politischen Handelns. Die Legalitätstaktik von Extremisten bedarf in dieser Sicht einer Illegitimierungsstrategie des demokratischen Verfassungsstaates. Jenen extremistischen Bewegungen, die die Legalordnung mit Gewalt bekämpfen, sei es in der Form systematischer Gewaltanwendung (Terrorismus), sei es in der Form punktueller Aktionen oder Aufstände, kann die moderne Demokratie in aller Regel wirksam begegnen. Vielfältige Facetten der Legalitätstaktik von Extremisten stellen demgegenüber neuartige Herausforderungen dar: Während extremistische Kräfte in der Weimarer Republik ihre Legalitätstaktik noch mit einer unverhohlenen Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates verbanden, entwickel(te)n manche extremistischen Organisationen rechts und links in der Bundes-
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Vgl. Markus Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie. Beiträge über die Regelungen zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, Tübingen 2003; Eckhard Jesse, Demokratieschutz, in: Ders./Roland Sturm (Hrsg.), Demokratien des 21. Jahrhunderts im Vergleich. Historische Zugänge, Gegenwartsprobleme, Reformperspektiven, Opladen 2003, S. 451–476.
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republik Deutschland eine spezifische Form politischer Mimikry – offenkundig auch eine Reaktion auf Theorie und Praxis der streitbaren Demokratie. Der demokratische Staat der Gegenwart muss daher nicht bloß Verstöße von Extremisten gegen die Strafgesetze ahnden, sondern ebenso die Legalitätstaktik in den beiden genannten Formen konterkarieren. Wer nur verbale Bekenntnisse berücksichtigt, läuft Gefahr, der Anpassungsstrategie extremistischer Kräfte auf den Leim zu gehen. Er nähme die Äußerungen der betreffenden Organisation für bare Münze. Für den demokratischen Verfassungsstaat liegt eine besondere Schwierigkeit darin, im Einzelnen herauszufinden, welche Organisationen extremistisch ausgerichtet sind. Naturgemäß ist die Unterscheidung bei jenen Gruppierungen am schwersten, welche die demokratische Ordnung nicht offen ablehnen, sondern Mimikry betreiben. Einerseits muss der demokratische Verfassungsstaat großzügig im Umgang mit „Abweichlern“ sein und gegebenenfalls zugunsten der betreffenden Organisationen entscheiden, andererseits deutlich die Grenzen zu antidemokratischen Richtungen markieren, auch wenn diese sich in das Renommiergewand einer demokratische Zuverlässigkeit heuchelnden Sprachstrategie hüllen. Für die Beurteilung kommt es auf Programmatik und politische Praxis gleichermaßen an, auf die Vorstellungen der Anhänger und die Strategien der Führungsspitze. Diese Aufgabe wird häufig erschwert, weil sich manche Organisationen im Grenzbereich zwischen Demokratie und Extremismus bewegen. Der präventive Demokratieschutz ist in vielen demokratischen Verfassungsstaaten unbekannt. Wer sich nur gegen die offenen Feinde wendet, erfasst nicht die Strategie jener Kräfte, die den demokratischen Staat delegitimieren wollen. So heißt es bei Karl R. Popper, einem der markantesten Verteidiger der „offenen Gesellschaft“: „In einer Demokratie sollte sich der volle Schutz der Minoritäten nicht auf jene erstrecken, die das Gesetz verletzen, und insbesondere nicht auf jene, die andere zur gewaltsamen Abschaffung der Demokratie anstiften.“4 Diejenige Organisation, die den demokratischen Verfassungsstaat auf einem nicht gewaltsamen Weg zu schwächen sucht, kann ebenfalls nicht den vollen Schutz in Anspruch nehmen. Wer von dem Glauben an das freie Spiel der politischen Kräfte und Ideen beseelt ist und dies als die Vollendung des demokratischen Verfassungsstaates betrachtet, findet keine Rechtfertigung für ein Vorgehen wider jene extremistischen Gruppierungen, die innerhalb des Rahmens der Legalität agieren. Nach 1945 war in Deutschland die Auffassung verbreitet, die demokratische Ordnung sei vor ihren Gegnern zu schützen. Die Verfassungsgebung in den Ländern hatte die Arbeit des Parlamentarischen Rates in der Frage des Demokratieschutzes durch zahlreiche „Vorgaben“ wesentlich beeinflusst.5 Waren die Verfassungsberatungen in den Ländern stärker durch eine anti-
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Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1944/45), Bd. 2, 2. Aufl., Bern 1970, S. 198. Vgl. Armin Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945. Frankfurt a. M. 1987, S. 186–248.
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faschistische Ausrichtung gekennzeichnet, überwogen im Parlamentarischen Rat Maximen des Antiextremismus.6 Alle Varianten der streitbaren Demokratie sind durch charakteristische Elemente gekennzeichnet: die Wertgebundenheit, die Abwehrbereitschaft und die Vorverlagerung des Demokratieschutzes. Die Wertgebundenheit erklärt bestimmte Prinzipien für unabänderbar (gemäß Art. 79 Abs. 3). Die Abwehrbereitschaft sieht Schutzmechanismen vor: u. a. die Möglichkeit des Vereinigungsverbots (Art. 9 Abs. 2 GG), die Möglichkeit des Parteienverbots (Art. 21 Abs. 2) sowie die Möglichkeit der Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG). Gemäß der Vorverlagerung des Demokratieschutzes erfolgen staatliche Eingriffe nicht erst bei der Verletzung der Gesetze. Die streitbare Demokratie sieht sich vielfältiger Kritik ausgesetzt, sei es bereits wegen der Theorie, sei es erst wegen der Praxis.7 In einem engen Zusammenhang zum Konzept der streitbaren Demokratie steht das des politischen Extremismus.8 Extremismus ist der Begriff für die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaats. Darunter fallen alle Bestrebungen, die sich gegen den Kernbestand des Grundgesetzes beziehungsweise der freiheitlich-demokratischen Grundordnung insgesamt richten. Der Begriff ist folglich eine Sammelbezeichnung für antidemokratische Bestrebungen und hat sich gegen verwandte Begriffe durchgesetzt: „Radikalismus“, in der Bundesrepublik von staatlicher Seite bis 1974 stärker als „Extremismus“ verwendet (etwa in den Verfassungsschutzberichten), wurde aufgrund seiner unklaren, ja missverständlichen Konnotation fallengelassen. Schließlich stellt nicht jeder, der „radikale“ Positionen verficht, den demokratischen Verfassungsstaat in Frage. Mit Populismus ist eine politische Strategie gemeint, die gegen „die da oben“ zu Felde zieht und mehr emotional als rational motiviert ist. Es gibt demokratischen ebenso wie antidemokratischen Populismus. Insofern ist der Gebrauch des Begriffs Populismus in diesem Zusammenhang ungeeignet. Extremismen, welcher Richtung auch immer, lehnen gesellschaftlichen Pluralismus ab. Sie sind sich einig in dem, was sie nicht wollen, aber nicht in dem, was sie wollen. So gut wie alle Formen des Extremismus sind durch Freund-Feind-Stereotypen geprägt, durch Heilslehren, durch Verschwörungstheorien, auch durch Missionseifer. Gewaltanwendung ist dagegen kein unerlässliches Kennzeichen für Extremismus. Der Terrorismus, durch systematische Ausübung von Gewalt gekennzeichnet, ist nur eine, freilich besonders bedrohliche Unterform des Extremismus. Jeder Terrorist ist ein
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Vgl. Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, 3. Aufl., Berlin 1999. Vgl. etwa die Darstellung bei Hans-Gerd Jaschke, Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit. Grundlagen, Praxis und Kritik, Opladen 1992. Vgl. die Grundlagenstudie von Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989.
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Extremist, aber nicht jeder Extremist ein Terrorist. Der Extremismus lässt sich u. a. nach seinen Zielen, seinem Intensitätsgrad und nach Varianten unterscheiden. Zu den Zielen: Mit Linksextremismus ist jene Spielart des Extremismus gemeint, die alle gesellschaftlichen Übel auf die kapitalistische Klassengesellschaft zurückführt (Kommunismus) oder die generell jede Form der Herrschaft ablehnt (Anarchismus). Unter Rechtsextremismus fallen umgekehrt jene Strömungen, die strikt antiegalitär sind – entweder stärker rassistisch oder stärker nationalistisch ausgerichtet. Der religiös geprägte und in den letzten Jahren bedrohlicher gewordene Fundamentalismus – gerade in Form des Islamismus – gilt als eine eigenständige Spielart des Extremismus, die sich der gängigen Rechts-Links-Dimension entzieht. Beim extremistischen Fundamentalismus soll die geistliche und weltliche Herrschaft in einem „Gottesstaat“ zusammenfallen (Theokratie). Der „heilige Krieg“ zielt vor allem gegen die westliche Welt. Zum Intensitätsgrad: Zwar ist – von der Wortbedeutung her – der Extremismus ein nicht steigerbarer Superlativ; gleichwohl gibt es im antidemokratischen Intensitätsgrad Unterschiede, wie dies ebenso für Diktaturen gilt. Bei Parteien bieten sich als Bestimmungsgründe die klassischen Kriterien an (Ideologie; Strategie; Organisation). So ließe sich etwa zwischen einem harten Extremismus der NPD und einem weichen Extremismus der Linken differenzieren.9 Bei subkulturellen Formen ist diese Unterscheidung ebenso möglich. Hier ist das Verhältnis zur Gewalt ein wichtiges Kriterium. Dabei besteht kein enger Zusammenhang zwischen dem Intensitätsgrad des Extremismus und seiner Gefährlichkeit. Schließlich spielt eine Reihe weiterer Faktoren eine Rolle – wie etwa der Erfolg bei Wahlen, die Mitgliederstärke einer Partei oder Gruppe, das intellektuelle Potential, die Akzeptanz bei den Eliten, die Infiltration in die demokratische Mehrheitskultur. Zu den Varianten: Während Parteien gut organisiert sind und in aller Regel keine Gewalt anwenden, ist dies bei den Formen des – rechten wie linken – subkulturellen Extremismus häufig umgekehrt. Zu den Randformen des Extremismus gehören auf der einen Seite Intellektuelle, die, weder organisiert noch gewaltaffin, dem demokratischen Staat mit Worten den Kampf angesagt haben, wie Terroristen, gut organisiert und gewaltbereit, die ihm mit gewaltsamen Taten begegnen. Rechts- und linksextremistische sowie fundamentalistische Kräfte bekämpfen sich oft untereinander. Es gibt keine Homogenität des Rechts- und Linksextremismus wie des islamistischen Extremismus. Dies ist Ausdruck eines hohen ideologischen Dogmatismus, strikter Abgrenzungsbemühungen und der Orientierung an der „reinen Lehre“. Wissenschaft und Politik sind gut beraten, wenn sie den vergleichenden Aspekt nicht vernachlässigen.10 Auf diese Weise können die Spezifika des Rechts- wie des
9 Vgl. Eckhard Jesse, Die NPD und die Linke. Ein Vergleich zwischen einer harten und einer weichen Form des Extremismus, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 21, Baden-Baden 2009, S. 13–31. 10 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005.
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Linksextremismus erfasst und von anderen extremistischen Formen abgegrenzt werden. Erst der Vergleich ermöglicht es, Unterschiede herauszuarbeiten und Gemeinsamkeiten zu ermitteln. Gewiss gibt es beträchtliche Abweichungen, ja Gegensätze im Argumentationshaushalt von Links- und Rechtsextremisten. Linksextremisten bejahen – jedenfalls verbal – die „Ideen von 1789“, während Rechtsextremisten gegen das Axiom menschlicher Gleichheit anrennen. Trotzdem darf dieser fundamentale ideengeschichtliche Unterschied nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Strömungen dem demokratischen Verfassungsstaat ablehnend gegenüberstehen: Sie sind aufgrund ihrer Heilsgewissheit und ihres Absolutheitsanspruchs von der Konzeption einer gewaltenteilenden, rechtsstaatlichen, pluralistischen, repräsentativen Demokratie weit entfernt. 11 Daher ist es nicht angängig, unter dem Gesichtspunkt der Abwehrbereitschaft zwischen beiden eine Differenzierung vorzunehmen. Viel Schindluder wird bei der Forschung nach extremistischen Einstellungspotentialen betrieben. Zum einen geht es fast ausschließlich um die Ermittlung rechtsextremistischer Einstellungen (als sei dies die einzige Form des Extremismus), zum anderen sind die Fragen oft missverständlich gestellt, so dass die Quote der Rechtsextremisten nach oben schnellt. Auf diese Weise kann vor dem grassierenden Rechtsextremismus gewarnt werden. So kommt die neueste einschlägige Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung – die vierte – zum Ergebnis, 9,0 Prozent der Deutschen hätten ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild, 15,8 Prozent der Ost- und 7,3 Prozent der Westdeutschen. Erneut wird rechtsextremistisches Denken in der Mitte der Gesellschaft gesichtet – was immer damit gemeint ist. 38,7 Prozent der Ostdeutschen seien ausländerfeindlich, 21,7 Prozent der Westdeutschen.12 Die Existenz von Extremismen bedeutet nicht nur eine Bedrohung für die freiheitliche Demokratie, sondern auch eine Herausforderung für demokratische Kräfte, die offensiv ihre Werte begründen müssen. Es reicht eben keineswegs aus, Extremismen zu bekämpfen, ohne sich auf den demokratischen Verfassungsstaat zu beziehen. So paradox es klingen mag: Auf diese Weise können extremistische Gruppierungen wider Willen das freiheitliche Gemeinwesen stärken. Der antiextremistische Konsens ist allerdings heute in Deutschland nicht mehr derart selbstverständlich wie früher. Das Schlagwort vom „Extremismus der Mitte“, das sich zum Teil großer Beliebtheit erfreut, verdeutlicht diesen Befund. Dass ihn auch – und vor allem – Gegner des Extremismusbegriffs verwenden, ist eine Paradoxie insofern, als damit der Nutzen des Begriffs „Extremismus“ indirekt eingeräumt wird. Aber in dieser Verwendung ergibt der Begriff keinen Sinn,
11 Das wird von manchen Autoren entschieden geleugnet. Vgl. Helga Grebing, Linksradikalismus gleich Rechtsradikalismus. Eine falsche Gleichung, Stuttgart u. a. 1971; Christoph Butterwegge, Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Erklärungsmodelle in der Diskussion, Darmstadt 1996; Forum für Kritische Rechtsextremismusforschung (Hrsg.), Ordnung. Macht. Extremismus, Wiesbaden 2011. 12 Vgl. Oliver Decker/Johannes Kless/Elmar Brähler, Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012, S. 38.
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denn „Mitte“ ist eine unscharfe Kategorie – offen wird häufig die Frage gelassen: die Mitte wovon? Die unterschiedlich – oft politisch – motivierte Kritik am Extremismusbegriff ist verbreitet.
3.
Eher differenzierte Kritik – Claus Leggewie und Horst Meier als Beispiel
3.1. Personen und Werke Claus Leggewie, Jahrgang 1950, ist einer der bekanntesten und produktivsten Politikwissenschaftler Deutschlands. Er war Wissenschaftlicher Assistent bei Bassam Tibi in Göttingen und lehrt seit 1989 in Gießen. 2007 avancierte der Mitherausgeber der Periodika „Transit“ und „Blätter für deutsche und internationale Politik“ zum Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Leggewie, der Gastprofessuren in New York, Paris und Wien wahrgenommen hatte, äußert sich zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen in vielen Medien, etwa zur Globalisierung, zum aufkommenden Islamismus, zur Erinnerungskultur, zur Klimapolitik. Die Themenkreise seiner Veröffentlichungen reichen weit über herkömmliche der Politikwissenschaft hinaus, wovon die ihm zu seinem 60. Geburtstag gewidmete Festschrift eindrucksvoll Zeugnis ablegt.13 Die fünf Felder, zu denen Kritiker auf Schlüsseltexte Leggewies antworten, lauten wie folgt: Erinnerungskulturen, Demokratiekulturen, Multikultur, Generationenkonflikte, Wissenschaftskulturen. Horst Meier, Jahrgang 1954, ist einer der scharfsinnigsten Gegner des Konzepts der streitbaren Demokratie. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen fungierte Meier zunächst als Strafverteidiger. Mit dem Abschluss seiner Promotion14 Anfang der neunziger Jahre gab er den Anwaltsberuf auf. Seither ist er als freier Publizist tätig: für den Rundfunk, für überregionale Tageszeitungen und für den „Merkur“, in dem viele seiner Essays zur Kritik an der streitbaren Demokratie Aufnahme gefunden haben. Bereits vor 20 Jahren veröffentlichten Leggewie und Meier im Periodikum „Blätter für deutsche und internationale Politik“ einen „vorgezogenen Nachruf auf die freiheitliche demokratische Grundordnung“15, in dem sie die streitbare Demokratie des Grundgesetzes für obsolet erklärt hatten. 1995 kam von beiden eine Grundsatzkritik der streitbaren Demokratie unter dem Titel „Republikschutz“ heraus.16 In dem Band entfalteten sie 13 Vgl. Christoph Bieber/Benjamin Drechsel/Anne-Kathrin Lang (Hrsg.), Kultur im Konflikt. Claus Leggewie revisited, Bielefeld 2010. 14 Vgl. Horst Meier, Parteiverbote und demokratische Republik. Zur Interpretation und Kritik von Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, Baden-Baden 1993. 15 Vgl. Claus Leggewie/Horst Meier, Die Berliner Republik als Streitbare Demokratie? Vorgezogener Nachruf auf die freiheitliche demokratische Grundordnung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 37 (1992), S. 598–604. 16 Vgl. dies., Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie, Reinbek bei Hamburg 1995. Zur Kritik: Eckhard Jesse, Der Streit um die streitbare Demokratie. Fundamentalkritik an der Schutzkonzeption des Grundgesetzes und an der Praxis, in: Politische Vierteljahresschrift 38 (1997), S. 577–583.
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„Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie“, so der Untertitel. Dazu gehörten die Orientierung an den „Standards des demokratischen Verfassungsstaats“17, der Verzicht auf eine „innerstaatliche Feinderklärung“18 sowie die Ausrichtung des Republikschutzes am Gewaltkriterium als „eine politisch neutrale, das heißt unideologische Grenze des politischen Kampfes“19. Im Zuge der NPD-Verbotsdiskussion und des Verfahrens gaben sie 2002 einen kleinen Sammelband heraus, in dem sie entschieden vor einem Verbot der NPD warnten20 – es sei „mit dem Druck von rechts auf diskursive Weise und im offenen Wettbewerb der Meinungen und Parteien zu Rande zu kommen“.21 Die Stellungnahme ist eindeutig: „Gegen eine Fundamentalopposition, die ‚nationalen Widerstand’ predigt und Fremdenhass schürt, bleibt eine erprobte Waffe: freie Wahlen. Sie haben in der Geschichte der Bundesrepublik noch jede politische Sekte wenn schon nicht auf den Boden des Grundgesetzes, so doch wenigstens auf den der Tatsachen zurückgeführt.“22 Die Mordserie des NSU nahmen die beiden Autoren zum Anlass, in einem neuen Band dem Verfassungsschutz den Garaus zu machen.23 „Dass der Verfassungsschutz dem spezifischen Kern seiner Sache nach überflüssig ist“, erfährt laut eigener Lesart ebenso eine Begründung wie der Vorschlag, diese Institution „binnen fünf Jahren behutsam und sozialverträglich“ abwickeln und „wie ihre besser befähigten Personenreste in den polizeilichen Staatsschutz integriert werden können“.24 Mit dem jüngsten Beitrag über den „Verfassungsschutz“ aus dem Jahre 2012 in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ wird der Bogen zum erwähnten Aufsatz von 1992 geschlagen. Die Autoren sprechen, so der Untertitel, „über das Ende eines deutschen Sonderweges“25. „Das Ende der Extremistenausspähung wird ein Zugewinn an Freiheit, also ein Gewinn für die Bürgerrechte sein.“26 Während Leggewie sich (früher) in einigen Studien mit unterschiedlichen (Vor-)Formen des Rechtsextremismus befasste27, gibt es von ihm keine weiteren Darlegungen zur Kritik an der streitbaren Demokratie. Hingegen hat dieses Thema Horst Meier nicht ruhen lassen. Jüngst sind seine einschlägigen Beiträge gesammelt vorgelegt worden.28 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
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Claus Leggewie/Horst Meier (Anm. 16), S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Vgl. dies. (Hrsg.), Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben?, Frankfurt a. M. 2002. Dies., Das NPD-Verbot in der Diskussion, in: Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Vgl. dies., Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik, Berlin 2012. Ebd., S. 12. Vgl. dies., „Verfassungsschutz“. Über das Ende eines deutschen Sonderweges, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 57 (2012), Heft 10, S. 63–74. Ebd., S. 64. Vgl. Claus Leggewie, Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende, Berlin 1987; Die Republikaner, 4. Aufl., Berlin 1990; ders., Druck von rechts. Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1993. Vgl. Horst Meier, Protestfreie Zonen? Variationen über Bürgerrechte und Politik, Berlin 2012.
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3.2. Referierte Argumentationsmuster Die Beiträge Leggewies und Meiers in den letzten zwei Jahrzehnten zum Komplex der streitbaren Demokratie zeichnen sich durch ein hohes Maß an Konsistenz aus. Wer den Autoren bescheinigt, keine Adepten des Zeitgeistes zu sein, irrt nicht. Sie verfolgen ihr Anliegen seit der deutschen Einheit konsequent. Das vereinigte Deutschland gilt als „Berliner Republik“ – eine Kennzeichnung, die zumindest dann schief ist, wenn sie als „Dritte Republik“29 gilt. Die Einwände gegenüber der streitbaren Demokratie sind vielfältig. Erstens: Der Fluchtpunkt der Überlegungen besteht in der Unterscheidung zwischen Gedanken und Tat, zwischen Zielen und Mitteln. Nur wer zu Gewalt aufruft oder solche anwendet, kann zur Rechenschaft gezogen werden. „Diese Grenzziehung ist klar, berechenbar und politisch neutral, weil das gewaltsame Mittel ausnahmslos jede Politik als illegal disqualifiziert.“30 Die streitbare Demokratie mit ihrer Vorverlagerung des Demokratieschutzes wird entschieden verworfen, weil sie die Freiheit nicht sichert, sondern gefährdet. Die präventive Überwachung von Extremisten ist der „zentrale Konstruktionsfehler“31. Es verbietet sich, von „geistiger“ Brandstiftung auf tatsächliche zu schließen. Bis heute konnte „nirgendwo der direkte ursächliche Zusammenhang zwischen Worten und Brandsätzen je empirisch nachgewiesen“32 werden. Zweitens: Die einzige Ausnahme von der Ablehnung des Konzepts der streitbaren Demokratie besteht in einer „nachholende(n) Ächtung des Nazismus.33 Folgender Parteiverbotsartikel könnte in die Verfassung aufgenommen werden: „Parteien, deren Mitglieder systematisch die Regeln des friedlichen Meinungskampfes verletzen, sind zu verbieten. Die Neugründung der NSDAP in jeglicher Form ist verboten. Das gilt für Parteien, die ausdrücklich an die Ziele der NSDAP anknüpfen, insbesondere deren Antisemitismus propagieren (Nachfolgeorganisationen).“34 Damit ist nicht ein Plädoyer für die antifaschistische Politik verbunden und keineswegs eine Ausgrenzung anderer Positionen von rechtsaußen. Die Autoren sprechen eigens von einem „rigorosen Ausnahmeartikel“.35 Drittens: Deutschland hat mit der streitbaren Demokratie nach 1945 – im Vergleich zu anderen demokratischen Verfassungsstaaten – einen illiberalen unrühmlichen Sonderweg eingeschlagen. „Es ist daher höchste Zeit, diesen Sonderweg zu verlassen und den herkömmlichen Weg der Demokratie einzuschlagen: ohne Naivität und Illusionen, doch auch ohne Furcht vor den Risiken, die normale demokratische Verhältnisse nun einmal 29 30 31 32 33 34 35
So Claus Leggewie/Horst Meier (Anm. 15), S. 604. Dies. (Anm. 16), S. 257. Dies. (Anm. 25), S. 70. Horst Meier (Anm. 28), S. 75. Claus Leggewie/Horst Meier (Anm. 16), S. 317. Ebd., S. 316 f. (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 319.
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mit sich bringen.“36 Republikschutz – ohne jede Form staatlicher Gängelung – ist anstrebenswert. Dazu gehört Verfassungspatriotismus. „Er markiert keinen deutschen Sonderweg, sondern ein modernes Konzept des demokratischen Nationalstaats westlicher Prägung, eben weil seine republikanische Emphase in die Frage nach der Verfassung der politischen Freiheit mündet. Dabei gelangen Nation und Republik zur Deckungsgleichheit.“37 Viertens: Das Konzept der streitbaren Demokratie ist ein Ausdruck von Illiberalität. In einer gefestigten demokratischen Ordnung ist ein solcher Schutzmechanismus fehl am Platz. Eine offene Gesellschaft kommt ohne jede Verbotsmentalität aus. Die Praxis sieht aber anders aus: „Eine merkwürdige Mischung aus Antifa-Rhetorik, Gesinnungshuberei und Alarmismus dient vor allem anderen der Selbstbeweihräucherung: Wir sind das bessere Deutschland! Nazis raus!“38 Die Parole „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ kann nicht das Motto einer freiheitlichen Demokratie sein, wohl aber, gerade umgekehrt, der Slogan: „Freiheit für die Feinde der Freiheit“.39 Fünftens: Die gesamte Sicherheitsarchitektur bedarf einer grundlegenden Umgestaltung. Der Verfassungsschutz, dessen Legitimität eng mit dem Konzept der streitbaren Demokratie zusammenhängt, muss abgeschafft werden. Er hat entweder Schaden angerichtet oder – bestenfalls – nichts bewirkt. Der polizeiliche Staatsschutz soll sich dagegen auf die Aufklärung politisch motivierter Straftaten beschränken. Für ein erfolgreiches Parteienverbot ist der Verstoß der Partei gegen das staatliche Gewaltmonopol nötig. Für eine Grundrechtsverwirkung gibt es keine Rechtfertigung. Daher ist Art. 18 GG ersatzlos zu streichen. „Was die deutsche Demokratie heute ist, wurde sie nicht wegen, sondern trotz des Verfassungsschutzes.“40 Sechstens: Die staatlichen Versuche, die NPD zu verbieten, sind weder effektiv noch von freiheitlichem Geiste getragen. „Gegen eine Fundamentalopposition, die ‚nationalen Widerstand‘ predigt und Fremdenhass schürt, bleibt eine erprobte Waffe: freie Wahlen. Sie haben in der Geschichte der Bundesrepublik noch jede politische Sekte wenn schon nicht auf dem Boden des Grundgesetzes, so doch wenigstens auf den der Tatsachen zurückgeführt.“41 Die „national befreiten Zonen“, von denen die Anhänger eines Verbotsantrages sprechen, existieren so nicht.42 Die tatsächliche Gefahr für die Demokratie – in Deutschland und anderswo – liegt im „Nationalpopulismus“.43
36 37 38 39 40 41 42 43
Horst Meier/Claus Leggewie (Anm. 25), S. 66. Dies. (Anm. 16), S. 332 (Hervorhebung im Original). Horst Meier (Anm. 28), S. 123. Ebd., S. 94. Claus Leggewie/Horst Meier (Anm. 23), S. 171. Dies. (Anm. 21), S. 13. Vgl. Horst Meier (Anm. 28), S. 98. Vgl. beispielsweise Claus Leggewie, Nationalpopulisten auf dem Vormarsch oder: Der wirkliche Druck von rechts, in: Ders./Horst Meier (Anm. 20), S. 169–175.
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Siebtens: Das Extremismusschema, das als Grundlage der streitbaren Demokratie dient, ist wissenschaftlich unbrauchbar und höchst ideologieanfällig. „Der im westlichen Maßstab selbst extreme ‚Antiextremismus‘ fußte auf einem Freund-Feind-Schema, das den Antagonismus des Kalten Krieges ins Innere der Bundesrepublik hineinversetzte und prolongierte. Eine latente Bürgerkriegssituation, wie sie in der Staatslehre und politischen Theorie etwa Carl Schmitts vorherrscht, wird allen anderen Konzeptualisierungen des politischen Meinungskampfes vorgezogen.“44 Wer nicht auf das Gewaltkriterium abstellt, leistet Subjektivismus Vorschub. Die Frage, ob eine politische Kraft als extremistisch gilt (und entsprechend stigmatisiert wird), hängt am allerwenigsten von wissenschaftlichen Kriterien ab. „Der Eiertanz um Republikaner oder PDS und später Die Linke zeigt, dass die Frage des Extremismus eine unbestimmte Variable aus Definitionsmacht und politischem Zeitgeist ist. Extremist ist, wer vom Verfassungsschutz dafür ausgegeben wird; das Nähere regelt die Konferenz der Innenminister.“45
3.3. Kritisierte Argumentationsmuster Wer die Argumente Revue passieren lässt, muss einräumen, dass sie ein hohes Maß an Konsistenz aufweisen. Die Position der beiden Autoren weist wenige Widersprüche auf, die rigorose Sichtweise wird durchgehalten. Dass je nach Aktualisierungsbedarf mal das eine, mal das andere Argument in den Vordergrund tritt, liegt auf der Hand und ist kein stichhaltiger Einwand. Allerdings verdient die fundamentale Kritik an der streitbaren Demokratie ihrerseits eine fundamentale Kritik. Erstens: Die Trennung zwischen Zielen und Mitteln führt nicht weiter. Horst Meier etwa macht die Grenzziehung zwischen verfassungsgemäß und verfassungsfeindlich von der Frage abhängig, ob jemand zum „Einsatz gewaltsamer Mittel“46 greift. Jeder Befürworter von Gewalt ist ein Extremist, nicht jeder Extremist aber befürwortet Gewalt. Der Vorteil der größeren Berechenbarkeit und Transparenz – in der Tat ist relativ leicht zu entscheiden, ob eine Gruppierung Gewalt anwendet oder Gewalt verkündet – wird mit dem Nachteil erkauft, dass die Orientierung an der Gewaltgrenze gegen die geläufigste Form des politischen Extremismus überhaupt nicht „greift“. Allerdings wirft die Vorverlagerung des Demokratieschutzes für die zu gewährleistende Liberalität des Staates gravierende Fragen auf: Wird nicht gerade dadurch, dass die Legalität des Verhaltens keineswegs der einzige Maßstab für die Beurteilung ist, die Demokratie unterminiert? Wie kann sich eine im Ruch der Verfassungsfeindlichkeit stehende Organisation überzeugend gegen den Vorwurf wehren, sie tarne sich? Fördert die streitbare Demokratie, wenn auch unbeabsichtigt, McCarthyismus? 44 Claus Leggewie/Horst Meier (Anm. 16), S. 223. 45 Dies. (Anm. 23), S. 114. 46 Horst Meier, Parteiverbote und demokratische Republik. Verfassungspolitische Perspektiven eines radikalen Pluralismus, in: Merkur 43 (1989), S. 722.
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Zweitens: Wegen ihres Vorschlages, die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch eine „antinazistische Grundordnung“47 zu ersetzen, müssen sich Leggewie und Meier den Vorwurf mangelnder Konsequenz gefallen lassen. Sie fördern – wider Willen – gerade dadurch eine Antifa-Rhetorik, gegen die sie sich ansonsten wenden. Diese „antinazistische Grundordnung“ ist schwerlich mit der von ihnen vielberufenen offenen Gesellschaft vereinbar. Die beiden Wissenschaftler dürften dies gemerkt haben, denn sie haben später ein solches Plädoyer nicht mehr vorgetragen und es allenfalls halbherzig gerechtfertigt.48 Drittens: In der Tat weicht der hiesige Demokratieschutz von dem in anderen Staaten ab – jedenfalls in der Theorie. Nirgendwo gibt es ein derart ausgeklügeltes System an Schutzmechanismen. In der Praxis hat sich jedoch längst eine Angleichung vollzogen – und zwar beiderseitig.49 Der Begriff vom deutschen Sonderweg ist nicht haltbar. Die Gesetze in EU-Ländern, die es als strafbar ansehen, wenn Völkermord geleugnet wird50, kommen bei Leggewie und Meier nicht kritisch zur Sprache. Hingegen verdient mit Blick auf Verfassungspatriotismus der Hinweis auf die Aussöhnung von „Nation und Republik“ Aufmerksamkeit. „Nation“ und „Republik“ stehen in der Tat in keinem Gegensatz, wie dies manche Anhänger und manche Gegner von Verfassungspatriotismus behaupten.51 Viertens: Den Autoren ist beizupflichten, was die Notwendigkeit betrifft, Liberalität zu stärken. Hier liegt in der Tat einiges im Argen. Aufgeregtheit wie Alarmismus grassierten beim Thema Demokratieschutz, insbesondere vor dem Rechtsextremismus. Zu Recht wenden sie sich gegen die jakobinischen Geist atmende Formel „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“, aber ihr Slogan „Freiheit für die Feinde der Freiheit“ müsste modifiziert werden: „Keine Freiheit zur Abschaffung der Freiheit“. Die Autoren trennen bei ihrer Kritik am Konzept der streitbaren Demokratie unzureichend zwischen der Theorie und der Praxis. Lassen sie Urteilskraft erkennen, wenn es heißt: „Die Berliner Republik kann den Weg ins Freie gehen und nach der Einheit endlich auch die Freiheit Deutschlands ‚vollenden‘“?52
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Claus Leggewie/Horst Meier (Anm. 16), S. 308. Vgl. Horst Meier (Anm. 28), S. 260–267. Vgl. Eckhard Jesse (Anm. 3). Vgl. Hannes Hofbauer, Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung. Rechtsprechung als politisches Instrument, Wien 2011. 51 Vgl. für Einzelheiten Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden 2006. 52 Claus Leggewie/Horst Meier (Anm. 25), S. 74.
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Fünftens: Wer die Forderung aufstellt, die Ämter für Verfassungsschutz könnten „binnen fünf Jahren geordnet abgewickelt und die talentierten Personalreste in den polizeilichen Staatsschutz eingegliedert werden“53, argumentiert zynisch – als seien die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes mehr oder weniger „Dumpfbacken“ mit einer Bunkermentalität.54 Die Autoren legen keine angemessene Rechenschaft darüber ab, ob ihre Alternative zum Verfassungsschutz – der polizeiliche Staatsschutz – in der Praxis ein höheres Maß an Liberalität gewährt. Die deutsche Demokratie hat sich positiv entwickelt – durch die Konzeption der streitbaren Demokratie ist kein gegenteiliger Effekt eingetreten. Sechstens: Die Ablehnung eines NPD-Verbots geschieht um die Sorge der Demokratie. Es wird nicht, wie bei den meisten Kritikern eines Verbotsverfahrens, auf die Unmöglichkeit eines Verbots verwiesen, sondern auf dessen Unsinnigkeit. Die Kritik fällt insgesamt überzeugend aus. Ein NPD-Verbotsverfahren hat in erster Linie eine symbolische Funktion. Mancher Anhänger der streitbaren Demokratiekonzeption – wie der Verfasser55 – sieht die Schelte der Autoren an den fortdauernden Versuchen, die einflusslose rechtsextremistische Kraft aus dem politischen Willensbildungsprozess auszuschalten, nicht anders. Siebtens: Die Absage an den Extremismusbegriff überzeugt nicht. Ist es logisch, diesen Begriff zu verwerfen und dann wie selbstverständlich davon zu reden, diese oder jene Partei sei antidemokratisch? „Antidemokratisch“ ist schließlich ein Synonym für „extremistisch“. Von Anklängen an die Antifa sind Leggewie/Meier weit entfernt. So heißt es bei Meier, die Äquidistanz-Position verfechtend: „Die streitbare Demokratie des Grundgesetzes ist antiextremistisch, nicht aber exklusiv gegen Neonazis ausgerichtet.“56 Der oft vorkommende Hinweis auf das Freund-Feind-Denken Carl Schmitts zielt ins Leere. Zum einen fußt der Antiextremismus auf normativen Maßstäben (er ist also nicht dezisionistisch orientiert), zum anderen kommt ein Denken in Freund-Feind-Kategorien nicht in Frage – gerade dieses ist ein Charakteristikum extremistischer Positionen. Die Tatsache, dass zuweilen die Einordnung einer Partei schwerfällt, spricht nicht gegen die Extremismuskonzeption, sondern ist der Komplexität der Wirklichkeit geschuldet.
53 Dies. (Anm. 23), S. 172. 54 Dass sich massive Wandlungen vollzogen haben, belegt etwa der folgende Band: Thomas Grumke/ Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Offener Demokratieschutz in einer offenen Gesellschaft. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des Verfassungsschutzes, Opladen 2010. 55 Vgl. Eckhard Jesse, Die Diskussion um ein neuerliches NPD-Verbotsverfahren – Verbot: kein Gebot, Gebot kein Verbot, in: Zeitschrift für Politik 59 (2012), S. 296–313. 56 Horst Meier, Sonderrecht gegen Neonazis? Über Meinungsfreiheit und Konsensbedarf in Deutschland, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Extremismus und Terrorismus als Herausforderung für Gesellschaft und Justiz. Antisemitismus im Extremismus, Brühl 2011, S. 107.
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4.
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Eher plumpe Kritik – Wolfgang Wippermann als Beispiel
4.1. Person und Werk Wolfgang Wippermann, Jahrgang 1945, wurde nach einem Studium der Geschichtswissenschaft 1975 über den „Ordensstaat als Ideologie“ an der Freien Universität Berlin promoviert – und zwar bei Ernst Nolte, als dessen langjähriger Assistent er fungierte. Die Habilitationsschrift erörterte die „Bonapartismustheorie von Marx und Engels“. Schon früh – 1972 – hatte sich Wippermann mit einem immer wieder überarbeiteten Buch über „Faschismustheorien“ einen guten Namen gemacht.57 Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf dem Thema „Faschismus“.58 Allerdings ist seit den neunziger Jahren eine beträchtliche Radikalisierung eingetreten, bedingt u. a. durch heftige Polemik. Die Vielzahl der Publikationen, die in immer kürzerem Abstand auf den Markt kommen, stehen oft in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer Qualität – dies gilt etwa für die unkritische Goldhagen-Verteidigung, die Kritik am „Schwarzbuch des Kommunismus“ und die Kritik an Antikommunismus.59 Der letzte Satz in seinem letzten Buch lautet: „Kommunismus ist ein Ideal, Antikommunismus war eine abzulehnende Ideologie.“60 So manche Publikation ist ein Machwerk. Das trifft u. a. auf die Schrift „Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich“ zu. In ihr warnt Wippermann vor einem Vergleich zwischen der DDR und dem Dritten Reich, wobei er einen Popanz aufbaut. „Die DDR bzw. der ‚SED-Staat‘ soll genauso totalitär wie der NS-Staat, Honecker wie Hitler, die Stasi wie die Gestapo, das berüchtigte DDR-Gefängnis Bautzen gewesen sein und so weiter und so fort. Dies erinnert an die ‚Neusprech‘ genannte Sprachregelung in George Orwells utopischen Roman 1984. Und alle – oder fast alle – plappern ihn ungeprüft nach, ohne die Stichhaltigkeit all dessen zu hinterfragen.“61 Wippermann behauptet, das nachholen zu wollen, aber zugleich heißt es, er werde auf einen umfassenden Vergleich verzichten. „Ich halte einen derartigen Vergleich [...] für grundsätzlich problematisch und paradox, weil er nur dann angestellt werden könnte, 57 Vgl. Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, 7. Aufl., Darmstadt 1997. 58 Vgl. ders., Zur Analyse des Faschismus. Die sozialistischen und kommunistischen Faschismustheorien 1921–1945, Frankfurt a. M. u. a. 1981; ders., Europäischer Faschismus im Vergleich 1922–1982, Frankfurt a. M. 1982; ders. (Hrsg.), Kontroversen um Hitler, Frankfurt a. M. 1986; Michael Burleigh/ders., The Racial State. Germany 1933–1945, Cambridge 1991; Werner Loh/ders. (Hrsg.), „Faschismus“Kontroverse, Stuttgart 2002; ders., Faschismus. Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Darmstadt 2009. 59 Vgl. ders., Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse, Berlin 1997; Jens Mecklenburg/ders. (Hrsg.), „Roter Holocaust“? Kritik des Schwarzbuches des Kommunismus, Hamburg 1998; ders., Heilige Hetzjagd. Eine Ideologiegeschichte des Antikommunismus, Berlin 2012. 60 Ders., Heilige Hetzjagd (Anm. 59), S. 128. 61 Ders., Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich, Berlin 2010, S. 8 (Hervorhebung im Original).
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wenn man vom Unvergleichbaren schweigt.“62 Das „Unvergleichbare“ ist mithin schon vor einem Vergleich bekannt! Und ein Vergleich ist nur ohne das „Unvergleichbare“ überhaupt möglich! Noch 1985 hieß es, Standardwerke über die Sowjetunion und das Dritte Reich seien von der Totalitarismustheorie beeinflusst worden, „ohne dass dies zu einer Verfälschung der historischen Wirklichkeit geführt hätte. Dies ist von einigen Autoren nicht gesehen worden, die sich gegen die Totalitarismustheorie wandten und für die Verwendung von Faschismustheorien aussprachen.“63 Wippermann hat zwar eine Studie zu Totalitarismustheorien64 vorgelegt, in welcher Karl Dietrich Bracher überraschend positiv gewürdigt wird65, aber seine bärbeißige Kritik am Extremismusbegriff und an der Extremismusforschung fußt nicht auf einer eigenen Studie; sie findet sich verstreut in zahlreichen Streitschriften und Polemiken.66
4.2. Referierte Argumentationsmuster Die Zahl der Kritikpunkte Wippermanns am Extremismusbegriff aus den letzten Jahren ist Legion, die Tendenz dabei ähnlich. Dass wortwörtliche Übernahmen vorkommen67, liegt auf der Hand und ist nicht sonderlich kritikwürdig. Allerdings hat Wippermann bisher keine geschlossene Kritik am Extremismuskonzept vorgelegt. Sein Vorgehen ist recht eklektisch. Gleichwohl gibt es eine Vielzahl von Einwänden, die es lohnen, dargestellt zu werden. Erstens: Extremismus existiert in der Realität der Bundesrepublik Deutschland nicht. Die Forschung zu diesem Thema stellt eine „politologische Spielerei“68 dar. Hier wird der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Dabei handelt es sich um einen „Politologentrug“.
62 Ebd., S. 8. 63 Ders., Art. „Totalitarismus/Totalitarismustheorie“, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Pipers Wörterbuch zur Politik, Bd. 1/Teil 2, München/Zürich 1985, S. 1035. 64 Vgl. ders., Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997. 65 Vgl. ebd., S. 109. 66 Vgl. etwa ders., „Doch ein Begriff muss bei dem Worte sein.“ Über „Extremismus“, „Faschismus“, „Totalitarismus“ und „Neofaschismus“, in: Siegfried Jäger/Alfred Schobert (Hrsg.), Weiter auf unsicherem Grund. Faschismus – Rechtsextremismus – Rassismus: Kontinuitäten und Brüche, Duisburg 2000, S. 21–48; ders., Verfassungsschutz und Extremismusforschung. Falsche Perspektiven, in: Jens Mecklenburg (Hrsg.), Braune Gefahr. DVU, NPD, REP – Geschichte und Zukunft, Berlin 1999, S. 268–280; ders., Politologentrug. Ideologiekritik der Extremismuslegende, Berlin 2010 („Standpunkte“ der RosaLuxemburg-Stiftung). 67 So deckt sich beispielsweise das Unterkapitel „Abweichung von der gesellschaftlichen Norm“ im Band „Dämonisierung durch Vergleich“ (Anm. 61) weithin mit den entsprechenden Ausführungen im Aufsatz „Politologentrug“ (Anm. 66). 68 Wolfgang Wippermann, Amtlicher Verfassungsbruch, in: Ossietzky, Heft 22/2010.
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Es ist „ein in der Wissenschaft fast einmaliger Vorgang. Man muss schon weit zurückgreifen, um etwas Ähnliches zu finden. Mir fällt als Beispiel nur der ‚Hexenwahn‘ der frühen Neuzeit ein. ‚Hexen‘ gab es zwar genauso wenig wie ‚Extremisten‘, dennoch wurde ihre Existenz durch alle möglichen Tricks und Dokumente ‚bewiesen‘, und zwar ganz ‚wissenschaftlich‘.“69 Zweitens: Der unwissenschaftliche Begriff des Extremismus ist eine Erfindung „allein vom Verfassungsschutz und einigen seiner offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter“.70 Sie haben sich damit eine ihnen nicht zustehende Macht angemaßt. „Zusammen mit einigen anderen, wenn man so will, freien Politologen begründeten sie eine neue Sparte der Politikwissenschaft – die Extremismusforschung.“71 Tatsächlich handelt es sich nur um eine „sogenannte“. Von „Wissenschaft“ kann nicht die Rede sein – die Autoren befolgten die „Vorgabe des Verfassungsschutzes“.72 Drittens: Der Extremismusbegriff dient dazu, alle linken Strömungen zu diskreditieren und alle rechten zu verharmlosen. Er ist „eine politische Waffe der Rechten. Sie müssen sich nämlich nur als Mitte deklarieren, um sich von ihrem ‚rechtsextremen‘ Bundes- und Gesinnungsgenossen formal abgrenzen zu können, die von oben und aus eben dieser Mitte der Gesellschaft drohen.“73 Auf diese Weise wird die Demokratie nicht geschützt, sondern gefährdet. „Durch eine bloße Bezeichnung und Beobachtung von Personen und Parteien als ‚extremistisch‘ durch den Verfassungsschutz werden diese in ihren Grundrechten verletzt, was für sie mit schwerwiegenden politischen, rechtlichen und nicht zuletzt auch beruflichen Nachteilen verbunden sein kann.“74 Viertens: Der Vergleich zwischen „rechts“ und „links“ hat lediglich den Zweck, beide politischen Richtungen gleichzusetzen. Auf diese Weise wird das völlig unterschiedliche Politikverständnis der Richtungen unterschlagen – durch Bagatellisierung der einen Seite, durch Dämonisierung der anderen. Ein Vergleich ebnet die fundamentalen Unterschiede ein. Linke und rechte Parteien sollen „einen extremistischen Charakter haben, weil ihre Vertreter an den äußersten linken und rechten Rändern eines halbrunden Parlamentssaals sitzen.“75 Aber die Sitzordnung ist tatsächlich oft eine andere. Fünftens: Die Gefahr für die Demokratie geht maßgeblich von der „Mitte“ und von „oben“ aus. Die Geschichte der gescheiterten Weimarer Republik ist dafür ein Lehr69 70 71 72 73 74 75
Ders., Politologentrug (Anm. 66), S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 5. Ders., Verfassungsschutz und Extremismusforschung (Anm. 66), S. 269. Ders. Politologentrug (Anm. 66), S. 7. Ders. (Anm. 68). Ders. (Anm. 61), S. 29.
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stück. Sie wurde von den Nationalsozialisten und der Deutschnationalen Volkspartei gestürzt, nicht von der KPD. Der sogenannten „Extremismusforschung“ geht es darum, die Mitte zu idealisieren und sie von jeder Schuld freizusprechen. Rassistische und antisemitische Verhaltensmuster sammeln sich in der Mitte der Gesellschaft. Davon will dieser Forschungszweig, fixiert auf die gesellschaftlichen Ränder, nichts wissen. Sechstens: Wer von „Extremismus“ spricht und nicht von „Faschismus“, will die kapitalistischen Grundlagen faschistischer Systeme nicht zur Sprache bringen. „So gesehen ist der Faschismus- bzw. Antifaschismusbegriff wirklich eine politische Waffe, der mit der des Extremismus begegnet werden soll.“76 Die Verwendung des Begriffs „Extremismus“ legt nahe, dass es unterschiedliche Formen gibt. „Daher sollten Antifaschisten nicht von (Rechts-)Extremismus reden.“77 Die Debatte dreht sich nicht um Wissenschaft, sondern um Politik: „um die Staatsideologie der alten Bonner Republik, die wieder die Staatsideologie der neuen Berliner Republik geworden ist oder zumindest werden soll“.78 Siebtens: Die auf fragwürdigen Prämissen fußende streitbare Demokratie – die Weimarer Republik wurde nicht von rechts und links zerstört – ist primär antikommunistisch ausgerichtet. Dem Verbotsantrag gegen die KPD lag u. a. „die rein politisch geprägte Befürchtung [zugrunde], dass die KPD die Wiedervereinigung Deutschlands und die ‚Einführung eines ganz Deutschland umfassenden, der sowjetischen Besatzungszone entsprechenden Herrschaftssystems vorbereiten‘ wolle.“79 Das vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochene KPD-Verbot war unbegründet – u. a. deshalb, weil ein „von der Bundesregierung abweichender Kurs in der Deutschlandpolitik [...] als Indiz für die Verfassungsfeindlichkeit der KPD genommen“80 wurde. Die streitbare Demokratie ist damit ebenso politisch bedingt wie die Extremismuskonzeption.
4.3. Kritik der Kritik Die Argumente Wippermanns wiederholen sich tibetanischen Gebetsmühlen gleich. Der Autor zieht das Schrifttum der Extremismusforschung so gut wie nicht heran, allenfalls höchst selektiv. Häufig greift Wippermann vordergründige Sichtweisen auf und an – z. B. bei Wikipedia. Die Schelte gilt dann einer Karikatur der einschlägigen Forschung.
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Ebd., S. 35. Ebd., S. 33. Ebd., S. 33 f. Ders., Politologentrug (Anm. 66), S. 4. Ebd., S. 4.
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Erstens: Wer politischen Extremismus als reines Phantom ansieht, muss die gesamte einschlägige Literatur zur Makulatur erklären. Wer die Geschichte des Begriffs zur Kenntnis nimmt, erkennt seine lange Tradition.81 Extremismus stellt die Gegenposition zum demokratischen Verfassungsstaat dar. Dieser wird von seinen Gegnern herausgefordert – unabhängig davon, ob sie nun als Extremisten oder Antidemokraten gelten. Dass ein früherer Totalitarismusforscher diesen Sachverhalt leugnet, ist schwer nachvollziehbar.82 Schließlich handelt es sich bei extremistischen Kräften um solche, die ein totalitäres oder ein autoritäres System errichten würden, kämen sie an die Macht. Wenn es stimmt, dass viele der gegenwärtigen Demokratien „keineswegs gefestigt [sind], sondern ernsthaft bedroht“83, dann bedürfte es doch erst recht einer Warnung vor Antidemokraten. Zweitens: Die Behauptung, der Verfassungsschutz habe den Begriff des Extremismus eingeführt, ist unrichtig. In der Tat wurde in den siebziger Jahren vom „Radikalismus“ weithin Abschied genommen – in der Politik, in der Publizistik und in der Wissenschaft, weil dieser Begriff für die Kennzeichnung missverständlich war. Wie sähe die Kritik Wippermanns beim Festhalten an dem Terminus „Radikalismus“ wohl aus? Wer glaubt, der Verfassungsschutz habe die neue Terminologie dekretieren können, schreibt diesem eine Allmacht zu. Die Behauptung über die „offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter“, die bewusst auf die DDR anspielt, richtet sich selbst. Drittens: Der demokratische Verfassungsstaat hat Feinde – unabhängig davon, wie sie bezeichnet werden. Die zugrunde gelegten Maßstäbe gelten für alle Richtungen gleichermaßen. Diese Kräfte haben sich selbst „ausgegrenzt“ – und die „Ausgrenzung“ kann daher nicht „meist ziemlich willkürlich“ sein. Die Tatsache, dass „Extremismus“ kein Rechtsbegriff ist, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, eine Erwähnung einschlägiger Organisationen im Verfassungsschutzbericht verbiete sich. Freilich stellt die Beobachtung von Parteien in der Tat ein Problem für die offene Gesellschaft dar.84 Viertens: Die Extremismusforschung wendet sich energisch gegen den Vorwurf der Gleichsetzung und fordert, dass die Beurteilung der rechten und der linken Variante des politischen Extremismus nach denselben Kriterien zu erfolgen hat. Sie weist immer
81 Vgl. Uwe Backes, Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2006. 82 Damit liegt Wippermann auf der Linie der 2008 gegründeten „Initiative gegen jeden Extremismusbegriff “. Vgl. deren Gründungsdokument: „Gegen jeden Extremismusbegriff. Linke, antifaschistische Politik und Kultur sind nicht ‚extremistisch‘, sondern extrem wichtig“, unter: http://inex.blogsport.de (1. August 2012). 83 Wolfgang Wippermann, Verfassungsschutz und Extremismusforschung (Anm. 66), S. 275. 84 Vgl. dazu Lars Oliver Michaelis, Politische Parteien unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Die streitbare Demokratie zwischen Toleranz und Abwehrbereitschaft, Baden-Baden 2000; Christoph Junggeburth, Die Beobachtung politischer Parteien durch das Bundesamt für Verfassungsschutz im Lichte der V-Mann-Affäre des NPD-Verbotsverfahrens. Entwicklung eines rechtlichen Rahmens zur „Freiheit der Feinde der Freiheit“, Hamburg 2012.
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wieder auf höchst unterschiedliche Positionen von Rechts- und Linksextremismus hin. Dem Verfasser ist nicht bekannt, dass irgendein Extremismusforscher den extremistischen Charakter einer Partei mit der Sitzordnung am rechten oder linken Rand des Plenarsaals begründet hat. Und dass Extremismusforscher eine „Theorie vom ‚Bündnis der Extremisten‘ immer wieder mit dem Hinweis auf das Beispiel Weimar“85 stützen, stimmt so nicht. Diese Theorie vom „Bündnis der Extremisten“ existiert nur in den Augen Wippermanns. Fünftens: Die Extremismusforschung untersucht, ob politische Kräfte den demokratischen Verfassungsstaat bejahen oder nicht. Bei den beiden letzten Reichstagswahlen 1932 in der Weimarer Republik hatten NSDAP und KPD eine „negative Mehrheit“ – die beiden Kräfte waren sich einig in dem, was sie nicht wollten (die parlamentarische Demokratie), aber nicht einig in dem, was sie wollten. Auch die Deutschkonservativen stellten keine demokratische Kraft dar, jedoch die Sozialdemokraten. Die Auffassung Wippermanns, keineswegs alle Abgeordnete der SPD hätten sich „zu den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie bekannt“,86 ist unhaltbar. „Die Mitte“, gegen die Wippermann so zu Felde zieht, spielt in der von ihm gescholtenen Literatur keineswegs die behauptete tragende Rolle, in der Variante der „Mischverfassung“ schon. Sechstens: Der Vorwurf, der Extremismusbegriff sei politisch bedingt, ist eine „Haltet den Dieb“-Reaktion Wippermanns. Indem er „Antifaschisten“ davor warnt, den Begriff des „(Rechts-)Extremismus“ zu übernehmen, kommt die politische Sichtweise zur Sprache. Wer den Antiextremismus der deutschen Demokratie in Frage stellt und dies als „Staatsideologie“ verkleidet, darf sich nicht über scharfe Kritik der von ihm Denunzierten wundern. Eine an den Werten des Grundgesetzes ausgerichtete Position ist zwar normativ, aber keineswegs politisch – und schon gar nicht parteipolitisch. Anders als früher87 gibt Wippermann den Begriff des „(Rechts-)Extremismus“ preis. Siebtens: Das Beispiel des KPD-Verbots eignet sich schlecht, um den einseitig antikommunistischen Charakter der Bundesrepublik Deutschland zu untermauern. Wolfgang Wippermann erwähnt bezeichnenderweise nicht das ebenso auf der streitbaren Demokratie fußende Verbotsverfahren gegen die rechtsextremistische Sozialistische Reichspartei.88 Das Urteil gegen die KPD zeichnet sich durch Besonnenheit aus, ist keineswegs in scharfmacherischem Duktus verfasst89 – anders als Wippermann suggeriert. Hingegen gab es seinerzeit massive Formen der Illiberalität, wesentlich bedingt durch Alarmismus.90 85 86 87 88
Wolfgang Wippermann (Anm. 65), S. 277, Anm. 19. Ders., Politologentrug (Anm. 66), S. 6. Vgl. ders., Verfassungsschutz und Extremismusforschung (Anm. 66), S. 268. Vgl. Henning Hansen, Die Sozialistische Reichspartei. Aufstieg und Scheitern einer rechtsextremen Partei, Düsseldorf 2007. 89 Vgl. Hans Kluth, Die KPD in der Bundesrepublik. Ihre politische Tätigkeit und Organisation 1945–1956, Köln/Opladen 1959. 90 Vgl. etwa Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968, Frankfurt a. M. 1968.
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5.
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Vergleich
Die Kritik von Leggewie und Meier ist ebenso fundamentaler Natur wie die von Wippermann. Es wird kein gutes Haar an dem jeweiligen Konzept gelassen. Wenn die eine Kritik eher als „differenziert“ und die andere eher als „plump“ firmiert, so hat das nichts mit den jeweiligen Schwerpunkten zu tun. Während Leggewie/Meier vor allem die Konzeption der streitbaren Demokratie attackieren, so steht bei Wippermann die Abrechnung mit dem Extremismuskonzept im Vordergrund. Selbstverständlich gibt es auch eine plumpe Kritik an der streitbaren Demokratie und eine differenzierte am Extremismuskonzept. Vielmehr hängt das in mancher Hinsicht gegenläufige Urteil mit der prinzipiell wissenschaftlichen Vorgehensweise Leggewies und Meiers auf der einen Seite und der prinzipiell politischen Annäherung Wippermanns an den Untersuchungsgegenstand auf der anderen Seite zusammen. Dieser wird nicht müde, der Politik und der Wissenschaft „Rechtslastigkeit“ vorzuwerfen. Bei Leggewie und Meier fehlen solche Insinuationen. Während diese an der Sache orientiert sind und ihren Gegenstand intellektuell durchdringen, geht es Wippermann offenkundig mehr um (persönliche) Polemik, weniger um eine inhaltliche Auseinandersetzung. Seine Sichtweise ist stark plakativ, die von Leggewie/Meier hingegen prinzipiell. Ist deren Kritik am Konzept der streitbaren Demokratie ernst zu nehmen, so gilt das kaum für die Wippermanns.91 Leggewies und Meiers Überlegungen sind, wie erwähnt, „eher“ wissenschaftlicher Natur. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Argumentationsstereotypen. Das gilt etwa für die Behauptung, Anhänger der streitbaren Demokratie bewegten sich auf der Linie von Carl Schmitt, der eben nicht Wertorientierung das Wort geredet hat. Die größte Schwäche der Autoren: Sie unterscheiden zu wenig zwischen den Prinzipien und der Praxis der streitbaren Demokratie. Dass diese gravierende Mängel erhellt, muss nicht auf die Theorie zurückzuführen sein. Die Autoren selber werden nicht müde, immer wieder die Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit zur Sprache zu bringen – wenn es die Gegner des demokratischen Verfassungsstaates betrifft. Wippermanns Ausführungen sind „eher“, wie bereits gezeigt, als politisch anzusehen. Trotz aller derartigen Invektiven gibt es eine Reihe von diskussionswürdigen Punkten. So räumt er mit Blick auf Totalitarismuskonzepte zutreffend ein, entscheidend sei die empirische Triftigkeit einer Theorie, unabhängig von ihren politischen Intentionen. Die Befürchtung, die politische Freiheit sei bedroht gewesen, war nach Wippermann nicht „völlig unbegründet“ – wegen der Denunzierung „eindeutig demokratisch orientierter Personen und Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates als faschistisch!“92
91 Dessen Position wird in der Schärfe noch übertroffen von Markus Mohr/Hartmut Rübner, Gegnerbestimmung. Sozialwissenschaft im Dienst der „inneren Sicherheit“, Münster 2010. 92 Wolfgang Wippermann (Anm. 64), S. 113.
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Fundamentalkritik an der Konzeption der streitbaren Demokratie
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Bei allen Unterschieden zwischen Leggewie/Meier und Wippermann fallen Analogien, ja Gemeinsamkeiten auf. Die Kritiker können weder mit dem Konzept der streitbaren Demokratie noch mit dem des Extremismus etwas anfangen. Selbstverständlich ist eine solche Position in einer offenen Gesellschaft zu respektieren. Aber umgekehrt darf sich niemand wundern, wenn Anhänger einer antiextremistisch fundierten Demokratie bzw. dieser Kritik offensiv begegnen.
6.
Keine Widerlegung der Konzepte
Die Mordtaten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ widerlegen weder das Konzept der streitbaren Demokratie noch das des politischen Extremismus. Bei der streitbaren Demokratie geht es nicht um die Abwehr gewalttätiger Versuche von Extremisten, den demokratischen Verfassungsstaat zu bedrohen. Insofern stellen die Morde der NSU die streitbare Demokratiekonzeption des Grundgesetzes nicht in Frage. Allerdings hat es schwerwiegende Koordinierungsmängel gegeben (manche Kritiker sprechen gar von einem „Versagen“ der für die innere Sicherheit zuständigen Instanzen, obwohl die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind) – zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und den einschlägigen Landesbehörden; zwischen den Landesämtern für Verfassungsschutz; zwischen dem Verfassungsschutz und der Polizei; zwischen den Polizeibehörden der Länder. Hier sind Konsequenzen angebracht, welche die Aufklärung derartiger Taten erleichtern. Nur: Diese nötigen Reformen stellen nicht die streitbare Demokratie an sich in Frage. Das gilt etwa für die Frage nach dem Sinn des Einsatzes von V-Leuten in Organisationen, die weder zu Straftaten aufrufen noch welche begehen. Denn erstens sind die Informationen von V-Leuten keineswegs immer zuverlässig. Und zweitens ist es mit dem Gebot der Liberalität wohl nur schwer vereinbar, von derartigen Personen Informationen abzuschöpfen. Anders fällt das Urteil für Organisationen aus, die zu Gewalt aufrufen und eine Gewaltneigung erkennen lassen. Hier sind V-Leute ebenso unverzichtbar wie verdeckte Ermittler. Bei diesen handelt es sich um Personen, die für den demokratischen Staat arbeiten. Deren Informationen dürften zuverlässiger sein als solche von V-Leuten. Die Extremismuskonzeption ist entgegen einer weitverbreiteten Auffassung durch die Morde ebenso nicht erschüttert worden. Schließlich bedeutet diese keine Fixierung auf irgendeine Form. Mordtaten der einen extremistischen Seite werten schließlich die andere nicht auf. Das Extremismuskonzept dient dazu, alle Formen des Extremismus wissenschaftlich zu analysieren. Zugleich basiert die normativ ausgerichtete Extremismusforschung auf dem Konzept der streitbaren Demokratie. Die Schlussfolgerung von Mathias Brodkorb ist berechtigt: „Derzeit ist in Deutschland das Selbstverständliche leider noch immer nicht selbstverständlich: der allgemein-politische Konsens zur Verteidigung des demokratischen Verfassungsstaates. Statt sich dieser Herausforderung – bei aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Standpunkte – in historischer Verantwortung, Nüchternheit und Sachlichkeit zu widmen, wird diese Aufgabe mit staatspolitischem
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Vorrang immer wieder von parteipolitischen Tagesinteressen überlagert. Hierunter leidet nicht nur die politische Auseinandersetzung, sondern nicht zuletzt die wissenschaftliche Debatte. Diese ist häufig von einer bemerkenswerten Unkenntnis der theoretischen Schriften aus dem Umfeld der Extremismus-Theorie geprägt. Kaum einer der Kritiker bezieht sich bspw. auf die einschlägigen wissenschaftlichen Texte. Meist wird vielmehr in polemischem Gestus lediglich ein zuvor selbst gebauter Pappkamerad nach Herzenslust vermöbelt.“93 In der Tat leidet die Diskussion darunter, dass der „Konsens zur Verteidigung des demokratischen Verfassungsstaates“ brüchig ist. Ob allerdings die Heftigkeit des Streits um den Extremismusbegriff wesentlich auf die „Unkenntnis der theoretischen Schriften aus dem Umfeld der Extremismus-Theorie“ zurückgeht, mag bezweifelt werden. Es ist weniger „Unkenntnis“, sondern wohl „Unwillen“, sich auf das Extremismuskonzept und das damit verbundene Konzept der streitbaren Demokratie einzulassen. Würden die Prinzipien des normativen Extremismuskonzepts korrekt dargestellt, käme ein Teil der Kritiker in Argumentationszwänge. Vielen Kritikern passt die „ganze Richtung“ nicht. Das war beim Totalitarismusbegriff so, und das ist beim Extremismusbegriff nicht anders. Die Angst, durch dessen Akzeptanz die kulturelle Hegemonie zu verlieren, scheint übermächtig zu sein – als gehe es um eine politische Auseinandersetzung. Wer den demokratischen Verfassungsstaat bejaht, muss wissen, dass damit zugleich logischerweise eine Kritik an dessen Gegnern verbunden ist – wie immer man diese bezeichnet. Denn das normative Extremismuskonzept will nicht irgendwelche „Abweichler“ oder „Außenseiter“ bloßstellen, sondern diejenigen beim Namen nennen, die den demokratischen Verfassungsstaat missachten.94 Der Bezug zwischen dem Extremismusverständnis und dem Demokratieschutz ist unauflöslich, die Tabuisierung des Extremismusbegriffs daher unangebracht.
93 Mathias Brodkorb, Extremistenjäger!? Der Extremismus-Begriff und der demokratische Verfassungsstaat, in: Ders. (Hrsg.), Extremistenjäger!? Der Extremismus-Begriff und der demokratische Verfassungsstaat, Banzkow 2011, S. 9. 94 Vgl. auch Uwe Backes, Extremismus: Konzeption, Definitionsprobleme und Kritik, in: Uwe Backes/ Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 22, Baden-Baden 2010, S. 13–31.
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Feindbilder im Extremismus Extremismen bedienen sich vielfältiger Feindbilder, die nicht selten im Zentrum ihrer Geschichtsdeutungen und politischen Gegenwartsdiagnosen stehen. Sie bevorzugen das „Anti“, weniger das „Pro“. Bei einem Vergleich rechts- und linksextremer Konzeptionen treten Ähnlichkeiten („Amerikanismus“) wie Unterschiede und Gegensätze („Kommunismus“ bzw. „Faschismus“) in den Feindbildern zutage. Sie haben prägende Wirkung nicht nur auf Ideologien, sondern auch auf Organisationsstrukturen und Strategien. Können Feindbilder Extremismen nicht nur verschärfen, sondern auch abschwächen? Und: Macht sich der demokratische Verfassungsstaat ebenfalls Feindbilder zu eigen? Was ist der Unterschied zwischen einem „Feindbild“ und einem „Bild des Feindes“?
1.
Einleitung
Extremismen entfalten einen Teil ihrer Dynamik durch Feindbilder. Sie stigmatisieren ihre Gegner, dämonisieren sie oft und ideologisieren deren Positionen. Dadurch wollen sie einen Mobilisierungsschub erreichen und sich in ein günstiges Licht rücken. Es ist offenkundig einfacher, gegen etwas zu sein als für etwas, zumal dann, wenn es sich bei der Gegenideologie um eine Richtung handelt, die gesellschaftlich isoliert oder gar geächtet ist. Durch ein Freund-Feind-Denken versuchen Extremismen nicht nur die eigene Anhängerschaft einzuschwören; sie wollen auch demokratische Kräfte beeinflussen und so in die Offensive gelangen. Die Wissenschaft hat bisher zu wenig berücksichtigt, in welchem Ausmaß Extremismen sich auf Feindbilder stützen. Bei diesen handelt es sich auch um „Abwehr-Ideologien“.1 Das Feindbild stellt „einen essentiellen Bestandteil des eigenen ideologischen Konzeptes“ dar, „so dass man sozusagen in der Abwehr lebt und diese Abwehr so weit gehen kann, dass eine erfolgreiche Abwehr [...] zum Zusammenbruch der eigenen ideologischen Konzeption führen kann“.2 Ob diese Behauptung Tilman Mayers so stimmt, bedarf der Klärung. Weiterhin ist zu prüfen, welche Konsequenzen gleiche und gegensätzliche Feindbilder für Extremismen haben. Zunächst geht es darum, den Begriff des „Feindbildes“ nach verschiedenen Richtungen hin abzugrenzen, seine Funktionen und Strukturen zu umreißen. Schließlich muss die (doppelte) Frage beantwortet werden, ob demokratische Positionen sich Feindbilder bedienen und ob dies angemessen ist. Die Unterscheidung zwischen einem angemessenen „Bild vom Feind“ und einem ideologisierten „Feindbild“ ist zentral. Wer Feindbilder im Rechts- und im Linksextremismus untersuchen will, sieht sich vor die
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So Tilman Mayer, Abwehr-Ideologie, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.), Politik, Geschichte und Kultur. Wissenschaft in Verantwortung für die res publica. Festschrift für Manfred Funke zum 70. Geburtstag, Bonn 2009, S. 33–43. Ebd., S. 34 f.
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Frage gestellt, auf welche Feindbilder er sich beziehen möchte. Dem Verfasser kommt es darauf an, bei den Extremisten einerseits ein gegenläufiges Feindbild herauszuarbeiten („den Faschismus“ bzw. „den Kommunismus“) und andererseits ein gleiches („den Amerikanismus“).3 Antifaschismus huldigt, bedient sich eines Feindbildes, wenn er etwa jeden Missstand auf „Faschismus“ und „Kommunismus“ zurückführt und diese Ideologien dämonisiert. Es gibt aber auch einen begründeten rationalen Antikommunismus4 bzw. Antifaschismus. Anders verhält sich dies beim Antiamerikanismus. Ein solcher ist schwerlich argumentativ zu rechtfertigen. Insofern vermeiden selbst in der Wolle gefärbte Antiamerikaner den Terminus des „Antiamerikanismus“. Allerdings ist es nicht angängig, Kritik an der Politik der USA mit dem Schlagetotbegriff des „Antiamerikanismus“ zu denunzieren. Freilich sind die Grenzen hier fließend. „Aber ein einigermaßen deutliches inhaltliches Unterscheidungsmerkmal zwischen pauschalem Antiamerikanismus und informierter Amerikakritik gibt es doch: Jede verantwortungsbewusste und überlegte Amerikakritik wird sich auf konkrete Erscheinungen des politischen oder wirtschaftlichen Lebens der USA konzentrieren, wird sich dabei aber hüten, derartige Einzelbeobachtungen zu verallgemeinern. Der Antiamerikanismus hingegen [...] greift einen aus seiner Sicht verdammenswerten Aspekt US-Amerikas heraus und konstruiert aus diesem einen Aspekt, dann ohne weitere Umschweife ein umfassendes Feindbild der Vereinigten Staaten als der Verkörperung einer politischen Kultur im weitesten Sinne, die sich grundlegend von der politischen Kultur Europas unterscheidet.“5 Die Frage nach den Konsequenzen gleicher und gegensätzlicher Feindbilder wirft das Problem auf, ob sich dadurch das gegenseitige Verhältnis ändert. Verstärken gegensätzliche Feindbilder die Feindschaft zwischen den Extremismen, schwächen gleiche sie ab? Die zwei ausgewählten Feindbilder für den Rechts- und den Linksextremismus sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht decken. Schließlich steht der Kommunismus ebenso in einem Gegensatz zum Amerikanismus wie der Faschismus. Welche Konsequenz hat dies für die Überzeugungskraft von Feindbildern? Abschließend wird ein Resümee gezogen und auch auf offene Fragen hingewiesen.
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Vgl. aus der Fülle der Literatur u. a. Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, 2. Aufl., München 2003; Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hrsg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg/ Brsg. 2002; Gesine Schwan, Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, Baden-Baden 1999; Armin Pfahl-Traughber, „Antiamerikanismus“ und „Antiwestlertum“ von links und rechts. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Spannungsfeld von Demokratie und Extremismus, in: Eckhard Jesse/Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, Baden-Baden 1997, S. 193–217. Das wird im Kern geleugnet bei Jan Korte, Instrument Antikommunismus. Sonderfall Bundesrepublik, Berlin 2009. So Klaus Schwabe, Antiamerikanismus gestern und heute, in: Die politische Meinung 48 (2003), Heft 8, S. 57.
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Dieser Beitrag, der auf einen anderen Aufsatz des Verfassers zurückgreift,6 will nicht systematisch (tatsächliche oder vermeintliche) Feindbilder von extremistischen Parteien oder subkulturellen Bewegungen untersuchen. Beabsichtigt ist vielmehr, anhand ausgewählter Fälle die Rolle solcher Feindbilder zu verdeutlichen. Die Lückenhaftigkeit dieses Unterfangens zu einer derart komplexen Materie ist damit offenkundig.7 Vor allem wird die Thematik nicht ausgereizt, was die Verzahnung zwischen der theoretischen und der empirischen Ebene betrifft. Die nachfolgenden Überlegungen sind eher allgemein gehalten, behandeln also nicht alle Differenzierungen nach der jeweiligen Form des Extremismus. Ein Beispiel: Der religiöse Fundamentalismus in Gestalt des Islamismus wird ungeachtet seiner Aktualität wie Brisanz ausgespart, um die Thematik nicht zu überfrachten. Hier ließe sich am Beispiel des Rechtsextremismus zeigen, dass die Aufrechterhaltung zweier höchst gegensätzlicher Feindbilder (etwa des Islamismus und der USA) massive Zielkonflikte provoziert. Vereinfacht ausgedrückt: Die eine Variante entscheidet sich dafür, die „westliche Welt“ unter Führung der USA, die Israel unterstützen, als Hauptfeind anzusehen (das gilt etwa für die NPD); die andere Variante hingegen zielt auf den Islamismus und versteht sich als „Retter der westlichen Welt“. So heißt es bei dem Schweden Patrik Brinkmann, der früher zunächst die NPD, dann die DVU unterstützt hatte und nun augenscheinlich hinter der „Bürgerbewegung pro NRW“ bzw. hinter der „Bürgerbewegung pro Deutschland“ steht: „Wir brauchen [...] in Deutschland eine Rechte, die nicht Israel zum Feind erklärt, sondern den Islam.“8 Fast alle rechtspopulistischen Parteien in Europa, ob nun extremistisch oder nicht, zeichnet eine harte Haltung gegenüber dem Islam(ismus) aus, nicht eine Absage an den „American Way of Life“. Freilich gibt es auch Strömungen, die gegen den Islam und die „westliche Welt“ gleichermaßen agitieren. Bei diesem Thema reden die einen von legitimer Islamkritik und die anderen von illegitimer Islamphobie. Sehen die einen im Islam(ismus) einen Feind des demokratischen Verfassungsstaates, so sprechen die anderen davon, der Islam(ismus) werde als Feindbild aufgebaut.9 Die Grenzen zwischen Feind und Feindbild können fließend
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Vgl. Eckhard Jesse, Funktionen und Strukturen von Feindbildern im politischen Extremismus, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Feindbilder und Radikalisierungsprozesse. Elemente und Instrumente im politischen Extremismus, Berlin 2005, S. 5–22. So findet der Aspekt des Verschwörungsdenkens bzw. der Verschwörungstheorien, der eng mit den Feindbildern verbunden ist, keine Berücksichtigung. Vgl. Ute Caumanns/Mathias Niendorf (Hrsg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten, historische Varianten, Osnabrück 2001; Andreas Anton, Unwirkliche Wirklichkeiten. Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien, Berlin 2011. Zitiert nach Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2010, Düsseldorf 2011, S. 65. Vgl. etwa Thomas Naumann, Feindbild Islam. Historische und theoretische Gründe einer europäischen Angst; Jürgen Leibold, Fremdenfeindlichkeit und Islamphobie: Fakten zum gegenwärtigen Verhältnis genereller und spezifischer Vorurteile, jeweils in: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen verschwinden, Wiesbaden 2009, S. 19–36, S. 145–154.
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sein. Ausgeblendet wird ebenso die Thematik des äußeren Feindes. Nach dem plötzlichen Zusammenbruch des Sowjetkommunismus glaubte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama an das „Ende der Geschichte“.10 Samuel P. Huntington konterte und warnte vor dem „Kampf der Kulturen“.11 Dessen Kollege Robert Kagan zeigte sich in dem Buch „Die Demokratie und ihre Feinde“ ebenso realistisch: „Die moderne, demokratische Welt redete sich ein, das Ende des Kalten Krieges habe nicht nur einen, sondern sämtliche strategischen und ideologischen Konflikte beendet.“12 Dem war in der Tat nicht so. Damit wurde zugleich die Frage aufgeworfen, ob eine militärische Intervention gegen jene Staaten geboten sei, die sich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig machen. Das ist ein heikles Thema, das Politik und Wissenschaft gleichermaßen unterschiedlich beantworten13, auch wenn Kriterien für heutige UN-Einsätze formuliert sind. Herkömmliche Rechts-links-Unterscheidungen bleiben dabei auf der Strecke. So schrieb angesichts der zehnten Wiederkehr des Jahrestages von „nine/eleven“ der langjährige Bundestagsabgeordnete der Union Jürgen Todenhöfer, es sei für den amerikanischen Präsidenten George W. Bush schwierig gewesen, „nach dem Untergang der Sowjetunion wieder ein funktionierendes Feindbild zu finden“. Der Massenmörder Bin Laden sei da gerade recht gekommen. „Solch ein Feindbild lässt man sich nicht einfach nehmen.“14 Andere Motive, die Angst vor einem Feind der westlichen Welt, lässt Todenhöfer nicht gelten, obwohl die Fakten eine deutliche Sprache sprechen.
2.
Der Begriff „Feindbild“ und Freund-Feind-Stereotypen bei Extremisten
Wer den negativ konnotierten Begriff „Feindbild“ in einschlägigen deutschsprachigen Lexika aufspüren will, wird so gut wie nicht fündig. Man muss schon lange suchen, um ein Stichwort zu finden15, wie überhaupt die schlechte Erforschung der nicht in eine
10 Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. 11 Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996. 12 Robert Kagan, Die Demokratie und ihre Feinde. Wer gestaltet die neue Weltordnung?, München 2008, S. 7. 13 Vgl. Wolfgang Merkel, Demokratie „durch“ Krieg?, in: Gero Erdmann/Marianne Kneuer (Hrsg.), Externe Formen der Demokratisierung, Baden-Baden 2009, S. 75–102. 14 Jürgen Todenhöfer, Terror im Namen der Jugend, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. September 2011, S. 16. 15 Vgl. Manfred Schneider, Art. Feindbild. Die Emblematik des Feindes, in: Karl Dedecius (Hrsg.), Wörterbuch des Friedens, Mannheim 1993, S. 48–57; Ekkehard Lippert/Günther Wachtler, Art. Feindbild, in: Dies. (Hrsg.), Frieden. Ein Handwörterbuch, Opladen 1988, S. 78–83.
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spezifische Wissenschaftsdisziplin fallenden Thematik auffällt.16 Das dürfte wesentlich mit der verbreiteten geistigen Verdrängung der Existenz von Feinden zusammenhängen17, bedingt durch eine nicht auf Krieg gerichtete Politik. Das Wort „Verteidigung“ bekommt ernsthaften Gehalt. Allerdings ist von manchen nicht gesehen worden, dass die von Kommunisten propagierte „friedliche Koexistenz“ eine Form des Klassenkampfes war, nicht dessen Aufgabe. Auch ein Wunschbild ist ein Zerrbild, gehört Feindschaft18 doch zur politischen Realität wie Freundschaft. Feindbilder bei Extremisten sind ideologisch besetzt. Sie knüpfen an Stereotypen und Vorurteile an, gehen jedoch darüber hinaus, indem sie eine „andere Person“, ein „anderes Volk“, eine „andere Ideologie“ strikt und ohne jeden Kompromiss ablehnen und bekämpfen – auf einer Grundlage, die nicht rational geprägt ist. Extremisten machen sich fast immer ein Bild von einem Feind, das nicht der Wirklichkeit entspricht. Der „Feind“ gilt als eine Bedrohung nicht nur der eigenen Gruppe, sondern auch aller gutwillig denkenden Menschen. Die ihm zugeschriebenen Eigenschaften sind durchweg negativ. Er ist moralisch böse, aggressionslüstern, nicht vertrauenswürdig, stellt eine Gefahr dar (für den Frieden, für die eigene Gruppe). Feindbilder sind Zerrbilder. Freund-Feind-Stereotypen gehören zu den Strukturmerkmalen extremistischer Doktrinen.19 Das absolut Gute steht gegen das absolut Böse. Erich Mielke, der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR, sprach unumwunden davon, ein „Feindbild“ aufzubauen: „Die Vermittlung und Formung eines realen aufgabenbezogenen Feindbildes der inoffiziellen Mitarbeiter und seine ständige Vervollkommnung ist ein unabdingbarer Bestandteil der Entwicklung profilierter IM-Persönlichkeiten, die in der Lage sind, zielstrebig nach dem Feind zu suchen, ihn aufzuspüren und aufzuklären, ihn zu hassen und auf dieser Grundlage die notwendige Einsatzbereitschaft, Opferbereitschaft und andere wichtige Eigenschaften zur Erfüllung ihrer Aufgaben im Kampf gegen den Feind hervorzubringen.“20
16 Vgl. immer noch: Günther Wagenlehner (Hrsg.), Feindbild. Geschichte – Dokumentation – Problematik, Frankfurt a. M. 1989; Joseph Berghold, Feindbilder und Verständigung. Grundlagen der politischen Psychologie, Bielefeld 2005; Anne-Katrin Flohr, Feindbilder in der internationalen Politik, Bonn 1991; Sam Keen, Gesichter des Bösen. Über die Entstehung unserer Feindbilder, München 1993; Sybil Wagner, Feindbilder. Wie kollektiver Hass entsteht, Berlin 1989. Unter historischen Aspekten aufschlussreich: Franz Bosbach (Hrsg.), Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, Köln u. a. 1992; Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992; Christoph Jahr/Uwe Mai/Kathrin Roller (Hrsg.), Feindbild in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994. 17 Ein gutes Beispiel dafür ist der Beitrag von Horst Ehmke, Feindbilder und politische Stabilität in Europa, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 34 (1987), S. 1073–1078. 18 Vgl. Medardus Brehl/Kristin Platt (Hrsg.), Feindschaft, München 2003. 19 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 305 f. 20 Zitiert nach Sandra Pingel-Schliemann, Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 2002, S. 177.
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Wer Feindbilder verficht, ist in den Kategorien von Freund und Feind gefangen. Ein Freund-Feind-Denken zeichnet das Weltbild von Extremisten aus: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Tertium non datur. Extremisten kommen ohne – innere und äußere – Feindbilder nicht aus. Es kann zu einer merkwürdigen Verschiebung kommen, was das innere und äußere Feindbild betrifft. So kontrastiert die außenpolitisch eher positive Wahrnehmung des Islam bei Repräsentanten des Rechtsextremismus mit der negativen Perzeption im Land. Franz Schönhuber, der ehemalige Vorsitzende der „Republikaner“, bringt die Strategie „Der Feind meines (Haupt-)Feindes“ auf den Punkt: „Im Kampf gegen die amerikanisch-israelische Weltherrschaft sollten wir notfalls auch eine Zusammenarbeit mit jenen Islamisten nicht scheuen, die den Kampf gegen Amerika ohne terroristische Aktionen führen.“21 Freilich – und das ist die Kehrseite – wird durch diese Instrumentalisierung das antiislamistische Feindbild massiv geschwächt. Kurt R. Spillmann und Kati Spillmann haben ein auf sieben Merkmalen basierendes Feindbild-Syndrom herausgearbeitet: Misstrauen (der Feind hat unlautere Motive), Schuldzuschiebung (der Feind ist für die negativen Verhältnisse verantwortlich), negative Antizipation (der Feind bezweckt Negatives), Identifikation mit dem Bösen (der Feind ist auf Vernichtung des Guten aus), Nullsummendenken (der Vorteil des Feindes ist der eigene Nachteil), De-Individualisierung (jeder, der zur Gruppe des Feindes gehört, ist ebenso schlecht), Empathieverweigerung (der Feind verdient es nicht, dass man sich in seine Gedankenwelt hineinversetzt).22 Auch wenn nicht jede extremistische Kraft, die Feindbilder verficht, alle Merkmale teilen muss, so macht dieses Syndrom doch die Geschlossenheit eines solchen Denkens deutlich. Umgekehrt sind auch demokratische Positionen nicht frei davon, Feindbilder zu gebrauchen. Allerdings stehen sie hier nicht im Zentrum des Gedankengebäudes. Die Funktionen von Feindbildern sind vielfältig. Da es sich bei Extremisten in der Regel um Überzeugungstäter handelt, sind die Feindbilder meistens nicht simuliert. Ihnen wohnt also weniger eine Instrumentalisierungsfunktion inne als vielfach angenommen, auch wenn manche „Verschwörungen“ der Feinde augenscheinlich konstruiert sind.23 Allerdings spielen solche manipulativen Zwecken dienenden Instrumentalisierungen zuweilen eine Rolle. So heißt es in Adolf Hitlers „Mein Kampf “: „Es gehört zur Genialität eines großen Führers, selbst auseinander liegende Gegner immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen, weil die Erkenntnis verschiedener Feinde bei schlichten und unsicheren Charakteren nur zu leicht zum Anfang des Zweifels
21 Franz Schönhuber, Deutscher Selbstmord?, in: Nation & Europa 52 (2002), Heft 1, S. 55. 22 Vgl. Kurt R. Spillmann/Kati Spillmann, Feindbilder. Entstehung, Funktion und Möglichkeiten ihres Abbaus, in: Beiträge zur Konfliktforschung 19 (1989), Heft 4, S. 19–36. 23 Vgl. (mit unterschiedlichen Akzentuierungen) Armin Pfahl-Traughber, Der antisemitisch-freimaurerische Verschwörungsmythos in der Weimarer Republik und im NS-Staat, Weinheim 1993; Johannes Rogalla von Bieberstein, „Jüdischer Bolschewismus“. Mythos und Realität, 3. Aufl., Schnellroda 2003.
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am eigenen Recht führt. [...] Dabei muss eine Vielzahl von innerlich verschiedenen Gegnern immer zusammengefasst werden, so dass in der Einsicht der Masse der eigenen Anhänger der Kampf nur gegen einen Feind allein geführt wird.“24 Feindbilder dienen wesentlich dazu, sich nach außen abzugrenzen. So stärken sie die eigene Identität gegenüber dem als Feind wahrgenommenen Anderen. Dieser identitätsstiftenden Funktion kommt eine große Bedeutung zu. Die K-Gruppen, ein extremistisches Zerfallsprodukt der Studentenbewegung, mit ihrem Hass auf den westlichen Kapitalismus und östlichen „Staatskapitalismus“ schotteten sich in den siebziger Jahren von der Umwelt in einer Weise ab, die einem sektiererischen Rückzug glich.25 Bei dem kommunistischen Revolutionär Wladimir I. Lenin sah das Bedrohungsszenario in seiner Schrift „Was tun?“ folgendermaßen aus: „Wir schreiten als ein geschlossenes Häuflein, uns fest an den Händen haltend, auf steilem und mühevollem Wege dahin. Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen fast stets unter ihrem Feuer marschieren.“26 Feindbilder sollen die Bedrohungsgefühle steigern. Das kommt zuweilen in aggressiven Wendungen zum Ausdruck. Der Feind trägt diabolische Züge, gilt als „furchterregendes Monstrum, als Bestie, als Teufel in Menschengestalt“27, um einige Attribuierungen zu nennen. Zum Teil wird ihm gar das Menschsein abgesprochen (wie bei der Argumentation der RAF-Terroristen, für die Repräsentanten des Staates „Schweine“/ „pigs“ waren). Dann ist die Hemmschwelle bei der Gewaltanwendung stark gesenkt. Ulrike Meinhof sagte nach der Befreiung von Andreas Baader, der Geburtsstunde des deutschen Linksterrorismus: „Die Bullen sind Schweine, [...] der Typ in der Uniform [...] ist kein Mensch, [...] wir haben nicht mit ihm zu reden, [...] und natürlich kann geschossen werden. [...] Und wenn wir es mit ihnen zu tun haben, dann sind das eben Verbrecher, dann sind das eben Schweine, und das ist eine ganz klare Front.“28 In den „Kommandoerklärungen“ der „Roten Armee Fraktion“ kam das Wort „Schwein“ für Repräsentanten des Staates oft vor. Dem Feindbild „Schwein“ wurde das für die eigene Gruppe vorbehaltene Freundbild „Mensch“ gegenübergestellt.29 Für sich reklamierte man, zu den „wahren Menschen“ zu gehören. Ein wahrer Mensch könne nur sein, wer 24 Zitiert nach Armin Pfahl-Traughber, Freimaurer und Juden, Kapitalisten und Kommunisten als Feindbilder rechtsextremistischer Verschwörungsideologien vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, in: Uwe Backes (Hrsg.), Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart, Köln u. a. 2003, S. 193–234, hier S. 231. 25 Vgl. die Darstellung ehemaliger Mitglieder solcher K-Gruppen. Wir warn die stärkste der Partein ... Erfahrungsberichte aus der Welt der K-Gruppen, 2. Aufl., Berlin 1978; siehe auch die persönlich getönte Darstellung von Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine Kulturrevolution, Köln 2001. 26 Zitiert nach Uwe Backes (Anm. 19), S. 305. Siehe auch den letzten Artikel von Rosa Luxemburg, Die Ordnung herrscht in Berlin, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, 3. Aufl., Berlin 2001, S. 534–536. 27 Anne-Katrin Flohr (Anm. 16), S. 17. 28 Zitiert nach Veronica Biermann, „Metropolenguerilla“ contra „Schweinesystem“ – „Rechtsstaat“ contra „Baader-Meinhof-Bande“, in: Christoph Jahr/Uwe Mai/Katrin Roller (Anm. 16), S. 235. 29 Vgl. ebd., S. 235.
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die „Schweine“ bekämpfe. Im Namen der „Menschheit“ wurde der konkrete Mensch herabgewürdigt. „Die gegensätzlichen Formeln ,Schwein‘ und ,Mensch‘ kennzeichnen ein an Krassheit nicht mehr zu überbietendes Freund-Feind-Denken.“30 Terroristen waren so in Feindbild-Kategorien gefangen, dass sie sich untereinander in menschenverachtender Weise zerfleischten. Die Kassiber Andreas Baaders und Gudrun Ensslins sind inhumane Zeugnisse von Verwahrlosung, ja Verrohung.30 Die unterschiedlich konnotierte Charakterisierung als „Hitlers Kinder“31 trifft für die Ebene der Gewalt vollständig zu. Feindbildern kommt ferner die Funktion zu,32 den als negativ empfundenen Wandel oder den pejorativ bewerteten Status quo einer spezifischen Gruppe zuzuschreiben, etwa Fremden. „Während dem Inneren ein eminenter Wert verliehen wird, wird dem Außen geringerer Wert beigemessen.“33 Die Idealisierung der eigenen Richtung hat Konsequenzen. Wer wie Rechtsextremisten die eigene Nation pauschal überhöht, setzt automatisch andere Völker herab. Aus dem idealisierten Freundbild ergibt sich gleichsam automatisch ein perhorresziertes Feindbild. Um dies zu sichern, bedarf es der „Kontaktvermeidung“34 zum Antipoden. So tritt keine Auflockerung des Feindbildes auf, wird doch die Integration der eigenen Richtung gefördert. Nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer achteten die Terroristen strikt darauf, dass keine menschlichen Beziehungen zwischen ihnen und dem Repräsentanten des „Großkapitals“ aufkommen konnten, auch wenn sich angesichts widriger Umstände die Bewacherpersonen nicht beliebig auswechseln ließen.35 Wegen der als undurchschaubar und unübersichtlich geltenden Wirklichkeit dienen Feindbilder für den politischen Extremismus der Selbstvergewisserung, schlagen sie eine Schneise in das Dickicht komplexer Interaktionen. So lassen sich Anhänger gewinnen, die einen „Sündenbock“ brauchen. Der eigene Misserfolg kann mit der hegemonialen Haltung als feindlich geltender Strömungen erklärt werden. Feindbilder tragen zur – vermeintlichen – Klärung der „Fronten“ bei. Sie trüben die Wirklichkeitsperzeption und kehren sich damit unter Umständen gegen diejenigen, die sie ins Leben gerufen und mit ihnen hantiert haben. So war die Staatssicherheit beim Aufspüren der „politischen Untergrundtätigkeit“ (PUT) und der „politisch-ideologischen Diversion“ (PID) derart 30 Ebd., S. 236. 31 Vgl. etwa die Belege bei Gerd Koenen, Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003; siehe auch Kurt Oesterle, Stammheim. Die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck, Tübingen 2003. 32 Vgl. Jillian Becker, Hitlers Kinder? Der Baader-Meinhof-Terrorismus, Frankfurt a. M. 1978. 33 Hilde Weiss, Ethnische Stereotype und Ausländerklischees. Formen und Ursachen von Fremdwahrnehmungen, in: Karin Liebhart/Elisabeth Menasse/Heinz Steinert (Hrsg.), Fremdbilder – Feindbilder – Zerrbilder. Zur Wahrnehmung und diskursiven Konstruktion des Fremden, Klagenfurt 2002, S. 18. 34 So Anne-Katrin Flohr (Anm. 16), S. 30. 35 Vgl. Tobias Wunschik, Baader-Meinhofs-Kinder. Die zweite Generation der RAF, Opladen 1997, S. 287 f.
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in ihrem Feindbild gefangen, dass sie sich von Fehlwahrnehmungen leiten ließ. Nicht alle, die als „Feinde“ galten, waren solche. „Das Freund-Feind-Bild trug dazu bei, dass die MfS Mitarbeiter nicht erkannten, was wirklich vor sich ging. Opposition war das Produkt innerer struktureller Probleme und nicht das Ergebnis der zentralen Steuerung der ,PID‘.“36 Der beständige Gebrauch von Feindbildern bei Extremisten ist ein überzeugendes Indiz dafür, dass Extremismus nicht erst bei der Propagierung oder gar der Praktizierung von Gewalt anfängt. Die Verfassungsfeindlichkeit zeigt sich u. a. in den stereotypen Feindbilden, die weder zum Abbau von Konflikten noch zum Aufbau von Kompromissen beitragen. Extremisten kommen ohne solche nicht aus. Sie sind auf Feinde fixiert und benötigen dafür entsprechende Feindbilder. Die Struktur von Feindbildern steht in einem engen Zusammenhang zu ihren Funktionen. Diese können sie nur erfüllen, wenn ihre Struktur an bestehende (Vor-)Urteile anzuknüpfen vermag. Ist die Struktur besonders plump, verfangen Feindbilder in einer pluralistischen Gesellschaft nicht oder kaum. Sie sind so konstruiert, dass ein Kompromiss zwischen dem eigenen Leitbild und dem fremden Feindbild verbaut ist. Konflikte können nicht schiedlich-friedlich geregelt werden. Extremisten sind von einem WorstCase-Verständnis geprägt. Und: Das eigene, oft angstbesetzte Bild basiert darauf, der als Feind angesehene andere unterliege einem kollektivistischen Denken. Charakteristisch für die Struktur der Feindbilder bei Extremisten sind damit SchwarzWeiß-Kategorien. Dem Feind werden ausschließlich negative Eigenschaften zugeschrieben. Manichäische Weltbilder dominieren. Zugleich wohnt ihnen eine Beliebigkeit inne. „Gleiche Verhaltensweisen werden, je nachdem, ob der eigene Staat (und seine Verbündeten) oder feindliche Staaten (und ihre Verbündeten) sie vollziehen, nach unterschiedlichen Maßstäben beurteilt.“37 Die eigenen Motive gelten als selbstlos, die der anderen als egoistisch. Behält der „Feind“ seine Position bei, so gilt dies als Ausdruck von Starrsinn; ändert er seine Position, wird das als perfider Trick interpretiert. Der Feind firmiert als Angst-, Projektions- und Aggressionsobjekt zugleich.38 Freilich gilt das nicht nur für extremistische Ideologien. Die Feindbilder enthalten einen wahren Kern, wenn man etwa an das (frühere) antikommunistische Feindbild bei Rechtsextremisten denkt oder an das antifaschistische Feindbild bei Linksextremisten. Die Grenzen zwischen (ideologisch aufgeladenen) Feindbildern und rationalen „Bildern von Feinden“ können freilich fließend sein. Die Struktur der Feindbilder von Extremisten zementiert sich, wenn diese auch in demokratischen Kreisen Unterstützung finden. Sie fühlen sich bestätigt. In der Regel ist die Feindbildstruktur von Extremisten nicht mit der Abwehrbereitschaft des demokra-
36 So Sandra Pingel-Schliemann (Anm. 20), S. 123. – Auch das Dritte Reich betrieb „Gegnerbestimmung“ im starken Maße. Vgl. dazu Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998. 37 Anne-Katrin Flohr (Anm. 16), S. 64. 38 Vgl. ebd., S. 69 f.
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tischen Verfassungsstaates zu erklären. Die Interaktionsthese ist vielfach empirisch nicht triftig. Wenn die „Rote Armee Fraktion“ die Bundesrepublik Deutschland als „Schweinesystem“ apostrophiert hat, dann war dies keine Reaktion auf staatliche Schutzmaßnahmen, die in dem einen oder anderen Fall eine Überreaktion gewesen sein mögen. Feindbildern wohnt eine hochgradig ideologisierte Weltsicht und Sprache inne – man denke an „Konsumterror“ und „Klassenjustiz“. Die Struktur des Feindbildes ist zum Teil vage gehalten, so dass vieles hineinpasst. Das gilt etwa für die diffuse fremdenfeindliche „Szene“. „Es sind die mit biologistisch aufgeladenen Ungeziefernamen und Abartigkeitsbezeichnungen stigmatisierten Gruppen, die nach einem abstrakten Merkmalskatalog definiert werden, und denen konkrete Individuen dann im sozialen Nahraum zugeordnet werden. Die ‚Oberfeinde‘ sind ‚Kanaken‘ und ‚Zecken‘. Erstere sind phänotypische ‚Undeutsche‘, letztere ,Undeutsche nach Ideologie und Kultur‘. In jedem Fall ist ihre ‚Bekämpfung‘ in den Augen der Szenevertreter moralisch legitim, weil sie als apokalyptische Verderber des ‚Deutschen‘ gelten. [...] In den Feindbildkreis gehören weiter: Juden, ,Popen‘, ,Schwule‘, ,Kinderficker‘ und andere ,Abartige‘, ,Assis‘ oder ,Asseln‘, ,Mukus‘ (Multikulturelle), ,Politbonzen‘ und ,Systembullen‘, Freimaurer und ,Illuminaten‘. Auch ‚genotypisch Behinderte‘ finden als ,unwertes Leben keine Gnade‘.“39 Eine derartige Wahrnehmung ist deshalb so gefährlich, weil sie Ausdruck von Verrohung ist und solche weiter fördert. „Die meisten Arten dieser Ideologien haben die Tendenz gemein, ein doppeltes Feindbild zu entwickeln – gegen die äußere Bedrohung durch Juden, Moslems oder andere ethnische oder religiöse ,Fremde‘ und gegen Verräter im Inneren, die als Kollaborateure mit dem Feind gelten.“40 Dieses „doppelte Feindbild“ galt etwa auch für Kommunisten. So sind in der Sowjetunion mehr führende deutsche Kommunisten umgebracht worden als von den Nationalsozialisten.41 Das Feindbild kehrte sich gegen die eigene Richtung. Extremisten ziehen ihre Anziehungskraft vielfach nicht aus der eigenen Position, sondern häufig aus der massiven Kritik an der etablierten Ordnung. Je schlechter sie diese wahrnehmen, umso mehr Recht schreiben sie sich zu, deren Repräsentanten zu stigmatisieren. Extremisten projizieren in den Gegner alle negativen Eigenschaften hinein. Die selektive Wahrnehmung – bedingt durch Informationsverlust, Informationsverzerrung, Informationsfilterung – begünstigt ein Feindbild, das mit der Realität wenig gemein hat. Extremisten, freilich nicht nur sie, sind deshalb oft unzureichend in der Lage, gesellschaftlichen Wandel wahrzunehmen. Oder sie wollen ihn nicht wahr-
39 So Bernd Wagner, Rechtsextremismus und Schule, in: Wilfried Schubarth/Richard Stöss (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2000, S. 16 f. 40 Tore Bjørgo, Gewalt gegen ethnische und religiöse Minderheiten, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 991. 41 Vgl. dazu jetzt Hermann Weber/Andreas Herbst (Hrsg.), Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004.
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nehmen bzw. sehen ihn negativ. Wenn „das System“ Schwächen zeigt, begeben sie sich in die „Startlöcher“.
3.
Bilder von Feinden und Feindbilder
Von ideologisierten, grundsätzlich abzulehnenden Feindbildern müssen – grundsätzlich zu bejahende – realistische Bilder von Feinden unterschieden werden. „Die Rede von den Kontrahenten, Gegnern oder Konkurrenten ist möglicherweise als Maßnahme zur Volkserziehung nützlich, sie kann aber die Realitäten nicht verändern. Es gibt anerkanntermaßen innere Feinde in Gestalt von Verfassungsfeinden, die aufmerksam vom Verfassungsschutz beobachtet und – soweit es sich um politische Parteien nach dem Parteiengesetz handelt – ggf. vom Bundesverfassungsgericht verboten werden (können).“42 Der demokratische Verfassungsstaat tut sich – u. a. aus dem Glauben an die Menschheit und an die Kraft der Vernunft – zum Teil schwer damit, dies anzuerkennen. Antikommunismus, Antifaschismus und Antiislamismus können eine berechtigte Abwehrhaltung sein, ebenso jedoch ein Feindbild perpetuieren. Es kommt auf die Argumentationsgrundlage an. Für Gustav Radbruch, den einflussreichsten sozialdemokratischen Reichsjustizminister in der Weimarer Republik, war der Relativismus die „gedankliche Voraussetzung der Demokratie: Sie lehnt es ab, sich mit einer bestimmten politischen Auffassung zu identifizieren, ist vielmehr bereit, jeder politischen Auffassung, die sich die Mehrheit verschaffen konnte, die Führung im Staate zu überlassen, weil sie ein eindeutiges Kriterium für die Richtigkeit politischer Anschauungen nicht kennt, die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien nicht anerkennt. Der Relativismus mit seiner Lehre, dass keine politische Auffassung beweisbar, keine widerlegbar ist, ist geeignet, jener bei uns in politischen Kämpfen üblichen Selbstgerechtigkeit entgegenzuwirken, die beim Gegner nur Torheit oder Böswilligkeit sehen will: ist keine Parteiauffassung beweisbar, so ist jede Auffassung vom Standpunkte der gegnerischen zu achten. So lehrt der Relativismus zugleich Entschiedenheit der eigenen und Gerechtigkeit gegen die fremde Stellungnahme.“43 Die Plausibilität dieser Äußerung krankte daran, dass sich eben nicht alle gesellschaftlichen Kräfte zum Relativismus bekannten, sondern ihn durch einen Absolutismus, ein Freund-Feind-Denken, zu ersetzen gedachten. Wer die Auffassung verficht, das Seinsollende entziehe sich – im Gegensatz zum Seienden – einer Begründung und müsse daher der wissenschaftlichen Betrachtung entzogen bleiben, kapituliert indirekt vor Strömungen, die einem solchen Freund-Feind-Denken das Wort reden. Die von Radbruch vorgenommene Verabsolutierung des Relativismus
42 Rüdiger Voigt, Freund-Feind-Denken in der Welt des 21. Jahrhunderts, in: Ders. (Hrsg.), FreundFeind-Denken. Carl Schmitts Kategorie des Politischen, Stuttgart 2011, S. 30 f. 43 Gustav Radbruch, Vorwort des Verfassers (1932), in: Ders., Rechtsphilosophie, 8. Aufl., Stuttgart 1973, S. 82.
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kommt nahezu einer contradictio in adjecto gleich, führt doch ein konsequent zu Ende gedachter Relativismus zur Relativierung seiner selbst.44 Freilich, und das ist die Kehrseite, erscheint es abwegig, damit einem „Absolutismus“ das Wort zu reden. Die Bekämpfung der Feinde muss im Geist der Liberalität geschehen, ohne seinerseits Feindbilder in die Welt zu setzen. Auch Extremisten sind in einer pluralistischen Demokratie nicht vogelfrei (so muss das Folterverbot ebenfalls für sie gelten), sondern im Besitz elementarer Rechte – darunter dem Recht zur politischen Teilhabe. Zwar sieht die in der Bundesrepublik Deutschland verankerte streitbare Demokratie45 Mechanismen vor, die verhindern sollen, dass die demokratischen Freiheiten zur Abschaffung eben dieser Freiheiten missbraucht werden; diese unterliegen jedoch einer klaren Eingrenzung und belassen auch demjenigen, der grundlegende Werte und Spielregeln missachtet, einen gewissen Betätigungsraum. Die verbreitete Parole: „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!“ stellt mithin nicht die Maxime der streitbaren Demokratie dar. Der Position Radbruchs ist die Carl Schmitts schroff entgegengesetzt, wiewohl beide im Grunde den Wertrelativismus verfechten. Der umstrittene Weimarer Staatsrechtslehrer, der einem autoritären System ideologisch Vorschub leistete, stellte den Begriff für das politische Leben stark heraus. „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. Insofern sie nicht aus anderen Kriterien ableitbar ist, entspricht sie für das Politische den relativ selbständigen Kriterien anderer Gegensätze: Gut und Böse im Moralischen; Schön und Hässlich im Ästhetischen usw.“46 Schmitt leugnete ausdrücklich jede inhaltliche Norm zur Bestimmung des Feindes: „Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft und rentabel scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen.“47 Wie es für Schmitt „gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, dass entschieden werde, als wie entschieden wird“48, so gilt das ähnlich für die im Zentrum von Schmitts Politikverständnis angesiedelte Freund-Feind-Unterscheidung. Dass sie zustande kommt, ist maßgeblich – nicht: wodurch. Das Verständnis
44 Nach 1945 hat Radbruch seinen Positivismus revidiert und seine Rechtsphilosophie um naturrechtliche Elemente angereichert. Vgl. etwa zahlreiche Beiträge in seinem Sammelband: Der Mensch im Recht. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze über Grundfragen des Rechts, 3. Aufl., Göttingen 1957. 45 Vgl. u. a. Eckhard Jesse, Demokratieschutz, in: Ders./Roland Sturm (Hrsg.), Demokratien des 21. Jahrhunderts im Vergleich. Historische Zugänge, Gegenwartsprobleme, Reformperspektiven, Opladen 2003, S. 451–476. 46 So Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien (1927), Berlin 1963, S. 26 (Hervorhebung im Original). 47 Ebd., S. 27. 48 Ders., Politische Theologie, 2. Aufl., München/Leipzig 1934, S. 71.
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Schmitts eignet sich folglich nicht als Grundlage des demokratischen Verfassungsstaates: zum einen wegen seiner Fixierung auf den Freund-Feind-Begriff, zum anderen wegen seiner fehlenden Wertorientiertheit.49 Die Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus ist in der Bundesrepublik nicht immer von Liberalität durchdrungen (gewesen). Statt differenzierter Betrachtung und dem Bemühen um Gerechtigkeit gegenüber dem Kontrahenten tauchen manchmal grobschlächtige Formeln und Pejorativa auf, mit denen extremistische Gruppierungen mehr entstellt als dargestellt werden. In den fünfziger Jahren machten sich demokratische Politiker zuweilen antikommunistische Feindbilder zu eigen. Wahrlich nicht jede Regelung – etwa des politischen Strafrechts50 – und nicht jede staatliche Verhaltensweise atmete den Geist der Liberalität, sondern war von bänglicher Militanz gekennzeichnet. So wurden etwa Mitglieder der KPD nach deren Verbot für ihre politische Tätigkeit vor dem Verbot zur Rechenschaft gezogen.51 Heute wird rechtsextremistischen Gruppierungen mitunter voller Übereifer entgegengetreten. Nicht nur salopp-polemische Wendungen wie „Neonazis“ belegen dies. So ist es kein Zeichen der Liberalität (und keines von Zivilcourage!), wenn Demokraten ordnungsgemäß angemeldete Demonstrationen der NPD oder ihnen nahestehender Kräfte verhindern und auf diese Weise das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen. Zu wenig wird dieser für den demokratischen Verfassungsstaat zentrale Aspekt betont. So sinnvoll und unerlässlich eine entschiedene Bekämpfung des Extremismus auch ist, so darf dieser Kampf nicht in ein von Feindbildern beherrschtes Ritual ausarten. Es bedarf der viel beschworenen geistig-politischen Auseinandersetzung mit extremistischen Positionen. Manichäische Weltbilder sind fehl am Platz. Ein demokratischer Verfassungsstaat sollte ohne Feindbilder auskommen. Die Praxis sieht freilich mitunter anders aus. Vor allem: Im Gegensatz zum Extremismus, der auf „den“ Feind oder „die“ Feinde fixiert ist und daraus einen großen Teil seiner Anziehungskraft bezieht, legitimiert sich die demokratische Ordnung nicht in erster Linie durch die Abgrenzung von anderen Positionen. Ihr Leitbild – die offene Gesellschaft – ist von ihnen innerlich unabhängig. Demokratische Maximen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Legitimation der eigenen Werte in den Vordergrund rücken, nicht die der von Extremisten. Es wäre ein Armutszeugnis für den demokratischen Verfassungsstaat, würde sich dieser in erster Linie durch die Absage an extremistische Positionen auszeichnen. Die streitbare
49 Vgl. u. a. Reinhard Mehring (Hrsg.), Carl Schmitt – der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003. 50 Vgl. Reinhard Schiffers, Zwischen Bürgerfreiheit und Staatsschutz. Wiederherstellung und Neufassung des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1951, Düsseldorf 1989; Diether Posser, Politische Strafjustiz aus der Sicht des Verteidigers, Karlsruhe 1961. 51 Vgl. Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968, Frankfurt a. M. 1968; Diether Posser, Anwalt im Kalten Krieg, 3. Aufl., Baden-Baden 1999.
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Demokratie Deutschlands basiert auf einer „Positivliste“ an Werten, wie sie mit dem Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verbunden sind. Teilweise werfen Extremisten dem demokratischen Verfassungsstaat vor, seinerseits mit „Feindbildern“ zu operieren. Der Begriff des „Feindbildes“ ist also auch für sie negativ besetzt. So spricht Ludwig Elm von einem „verordneten Feindbild“ in der Bundesrepublik, womit der antitotalitäre Konsens gemeint ist.52 Und bei Jürgen Schwab, einem dezidiert rechtsextremistischen Intellektuellen, heißt es: Wer seine Gegner als „Feinde“ und als „Schurken“ apostrophiert, provoziert mit seinem „Kreuzzugsdenken“ furchterregende Reaktionen. „Bin Ladens Al-Qaida ist offenbar die adäquate Antwort auf die Strategien der One World, die dafür gesorgt haben, dass es neben den USA keine wirklich souveränen, sprich: kriegsfähigen, Staaten auf der Welt mehr gibt.“53 Das – behauptete – Feindbild der einen Seite dient damit als eine Art Rechtfertigung für die grausame Feindschaft der anderen Seite.
4.
Feindbilder im Rechtsextremismus
4.1. Die Vielfalt der Feindbilder Rechtsextremisten eint die Negierung demokratischer Grundpositionen, die sich u. a. in der Ablehnung der menschlichen Fundamentalgleichheit zeigen. Die starke Fremdenfeindlichkeit basiert oft auf rassistischen Elementen. Manche Rechtsextremisten verbreiten Verschwörungstheorien, manche leugnen die Verbrechen des Dritten Reiches, manche propagieren Antisemitismus. Die Unterschiedlichkeit rechtsextremistischer Positionen zeigt sich in der Unterschiedlichkeit ihrer Feindbilder. Auch deren Intensität differiert deutlich. So sind die Feindbilder der „Autonomen Nationalisten“ aggressiver als die der NPD-Repräsentanten – bei allen ideologischen Schnittmengen.54 Wer das neue Programm der NPD sichtet, erkennt eine Vielzahl an positiven Maximen („nationale Identität“, „nationale Souveränität“, „nationale Solidarität“, „sozialer National52 Vgl. Ludwig Elm, Das verordnete Feindbild. Neue deutsche Geschichtsideologie und „antitotalitärer Konsens“, Köln 2001. Tatsächlich war in der DDR, deren politisches System Elm so in Schutz nimmt, ein staatliches Feindbild gegenüber der Bundesrepublik verordnet. Siehe u. a. die Schrift: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Leit- und Feindbilder in DDR-Medien, Bonn 1997; Matthias Steinle, Vom Feindbild zum Fremdbild. Die gegenseitige Darstellung von BRD und DDR im Dokumentarfilm, Konstanz 2003. 53 Jürgen Schwab, Vom europäischen Staatenkrieg zum globalen Partisanenkampf, in: Alain de Benoist (Hrsg.), Die Welt nach dem 11. September. Der globale Terrorismus als Herausforderung des Westens, Tübingen 2002, S. 134 (Hervorhebung im Original). 54 Vgl. beispielsweise (mit unterschiedlicher Akzentsetzung): Christian Menhorn, „Autonome Nationalisten“ – Generations- und Paradigmenwechsel im neonationalsozialistischen Lager?, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 19, Baden-Baden 2008, S. 213–225; Thomas Sager, Freund oder Feind? Das widersprüchliche Verhältnis von ,Autonomen Nationalisten‘, NPD und neonazistischer Kameradschaftsszene, in: Jan Schedler/Alexander Häusler (Hrsg.), Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung, Wiesbaden 2011, S. 105–120.
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staat“). Als Feindbild Nr. 1 firmiert die „Globalisierung mit ihren verheerenden Folgen“.55 Das „Nein zur Globalisierung“ wird wie folgt begründet: „Der globalisierte Kapitalismus kennt keine politischen, sozialen und kulturellen Bindungen und führt auf den internationalen Kapitalmärkten ein asoziales Eigenleben. Dies führt dazu, dass Arbeitsplätze in Billiglohnländer exportiert und ausländische Lohndrücker importiert werden. [...] Die Globalisierung ist die Kampfansage an die nationalstaatliche Ordnung und damit an die Freiheit aller Völker. Die Globalisierung steht für die Weltdiktatur des Großkapitals, das die Völker kulturell gleichschaltet, politisch entmündigt, wirtschaftlich ausbeutet und ethnisch zerstört. Dieser Entwicklung gilt es kompromisslos entgegenzutreten.“56 Als weitere Feindbilder firmieren der Multikulturalismus, die Integrationspolitik, der Kapitalismus, das „EU-Europa“ und die „Genderpolitik“. Schließlich will die NPD der „einseitigen Vergangenheitsbewältigung“ ein Ende machen: „Wir Nationaldemokraten erteilen dem staatlich verordneten Schuldkult, der nicht zuletzt im Dienst fremder Finanzinteressen steht und deutschen Selbsthass, vor allem bei der Jugend, fördert, eine Absage.“57
4.2. „Kommunismus“ Die meisten Formen des Rechtsextremismus waren in der Vergangenheit auf den Kommunismus als den Antipoden fixiert – sei es aus Überzeugung, sei es aus Berechnung. Davon kann zumal nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus nicht mehr die Rede sein. Bereits vorher hatte die NPD ihre antikommunistische Position abgeschwächt und ihre antiwestliche verstärkt. Im Programm aus dem Jahr 2010 fehlt jede Spur von „Antikommunismus“. Auch ansonsten finden sich dafür keine Ansatzpunkte. Die Partei ist trotz ihres starken Antikapitalismus nicht prokommunistisch geworden, aber das Thema „Antikommunismus“ spielt so gut wie keine Rolle. Es interessiert schlicht nicht. Zum einen weiß die Partei, dass das Thema keine Wähler mobilisiert, zum anderen passt „Antikommunismus“ nicht mehr so recht in das eigene ideologische Konzept des nationalen Sozialismus. Gelegentlich kommen antikommunistische Topoi bei der NPD zum Tragen – etwa im Zusammenhang mit der Kritik an den umstrittenen Kommunismus-Äußerungen von Gesine Lötzsch zu Beginn des Jahres 2011. „Selten spricht ein Repräsentant der SED-PDS-Linkspartei so offen aus, welche tatsächlichen Ziele verfolgt werden.“58 Allerdings werden die anderen Parteien gewissermaßen in Mithaftung genommen – wegen der behaupteten Hofierung von kommunistischen Positionen. Eher als Kurio55 Arbeit. Familie. Vaterland. Das Parteiprogramm der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, Bamberg 2010, S. 5. 56 Ebd., S. 5. 57 Ebd., S. 14. 58 Kommunismus als Endziel der LINKEN offenbart, unter: www.npd-hessen.de/index.php (17. August 2011).
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sum ist der Versuch der NPD zu werten, auf einer englischsprachigen Website bei konservativen Amerikanern um Spenden für den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen (2010) zu bitten und sich dabei stark antikommunistisch zu gerieren 59 – wohl gemäß dem Motto: Pecunia non olet. Der subkulturelle Rechtsextremismus etwa in Form der „Autonomen Nationalisten“ orientiert sich in den Aktionsformen („Schwarzer Block“) und im Auftreten sogar an Linksextremisten, zum Teil selbst in der antikapitalistischen Ideologie.60 Allerdings ist die rechtsextremistische subkulturelle Szene durch Elemente von „Anti-Antifa“ gekennzeichnet. Das Wort „Antikommunismus“ spielt keine Rolle. Die Konfrontationsgewalt zwischen der linken und der rechten militanten Szene hat in den letzten Jahren zugenommen. Während die Gewalt der „Anti-Antifa“ eher durch expressive Merkmale gekennzeichnet ist, zeichnet sich die von „Antifa“ stärker durch eine instrumentelle Orientierung aus.61
4.3. „Amerikanismus“ Die NPD hat – parallel zur Abschwächung ihres Antikommunismus – den eigenen Antiamerikanismus massiv gesteigert. In ihrem Programm von 2010 heißt es an herausgehobener Stelle: „Nein zum Söldnerkrieg für die USA“.62 Unverblümt wird die folgende Forderung erhoben: „Deutschland darf sich nicht an den Kriegen der USA oder anderer Imperialmächte beteiligen.“63 Die NPD geht mit ihren Äußerungen weit über eine Kritik an der Politik der USA hinaus, auch wenn die Partei in ihrem neuen Programm für ihre Verhältnisse eher zurückhaltend formuliert. Die Kritik an den Reeducation-Maßnahmen der USA und der von ihr unterstützten Westbindung war bei der „alten“ NPD verbreitet, doch nahm sie nicht annähernd die scharfe Form der Ära von Udo Voigt an. Das Wort von der „westlichen Wertegemeinschaft“ wird nur voller Zynismus zitiert. Insgesamt hat der Antiamerikanismus von rechts außen („Kein Blut für Öl“) seit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus an Schärfe gewonnen.64
59 Vgl. Tilman Tzschoppe, NPD goes USA, unter: www.netz-gegen-nazis.de (17. August 2011). 60 Vgl. Marc Brandstetter, Feinde im Alltag, Brüder im Geiste – Autonome Nationalisten im Vergleich zu den linksextremen Autonomen, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 20, Baden-Baden 2008, S. 185–203. 61 Vgl. das Kapitel „Wechselseitige Rezeptionen militanter Szenen: Antifa und Anti-Antifa“, in: Uwe Backes/Matthias Mletzko/Jan Stoye, NPD-Wahlmobilisierung und politisch motivierte Gewalt. Sachsen und Nordrhein-Westfalen im kontrastiven Vergleich, Köln 2010, S. 160–183. 62 Arbeit. Familie. Vaterland (Anm. 55), S. 14. 63 Ebd., S. 14. 64 Vgl. Berndt Ostendorf, Rechter Antiamerikanismus: Kulturalistische Ausdeutungen der Globalisierungsangst, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 2 (2000), S. 163–184, hier S. 172 f.
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Zwei Beispiele: Vor dem Besuch des US-Präsidenten George W. Bush im Juli 2006 in Deutschland fuhr die NPD schweres Geschütz auf. Die Interessen der USA seien nicht die Interessen seiner Bevölkerung, sondern die „einer kleinen superreichen Oberschicht, der es in erster Linie um eine Vermehrung ihres eigenen Kapitals geht. Zur Durchsetzung dieser Interessen bedienen sich die USA der Strategie eines dreifachen Imperialismus: des militärischen Imperialismus, des wirtschaftlichen Imperialismus und des kulturellen Imperialismus.“65 Der Antiamerikanismus ist umfassend, nicht nur politisch bedingt. Der „militärische Imperialismus“ sei der wichtigste Pfeiler der US-Herrschaft, die Angriffsziele nach Interessenlage auswähle. Der „Wirtschaftsimperialismus“ zeige sich in der Globalisierung, die den heimischen Regierungen die Kontrolle über die Märkte entreiße. Der „Kulturimperialismus“ vernichte einheimische Kulturen und entziehe ihnen so die Grundlage zur Identifikation. Weder die deutsche Regierung noch die parlamentarische Opposition biete den „US-Imperialisten“ Paroli. Es werde „immer deutlicher, dass die Rolle der PDS in erster Linie darin besteht, US-kritisches Wählerpotential zu binden, damit dieses sich nicht einer wirklich antiimperialistischen Partei anschließt“. Die Forderung der NPD: „Auflösung der NATO! Der Träger des US-Imperialismus muss verschwinden, damit ein Europa der freien Völker entstehen kann.“66 Nach der Tötung Osama bin Ladens im Mai 2011 heißt es, dieser könne „noch mehr zur Ikone und nun gar zum Märtyrer vieler um Freiheit kämpfender Völker werden“. Die Zerstörungen am 11. September 2001 gelten als „sogenannte islamistische Anschläge“ und als „Inszenierungen“. Die Partei nimmt eine Gleichsetzung vor: „Osama wollte seinen Glauben weltweit verbreiten, war also ein religiöser Imperialist. Obama strebt dagegen wie alle seine Amtsvorgänger auch die weltweite Hegemonie des globalen Kapitalismus an – ist daher ein Wirtschafts-Imperialist. Die NPD lehnt Imperialismus jeglicher Couleur ab. Aber der Mord an Osama bin Laden war nicht, wie die Systemmedien heute landauf landab verkünden, ein Schlag gegen den internationalen Terrorismus, sondern lediglich ein Propaganda-Coup eines immer unbeliebter werdenden Krisen-Präsidenten.“67 Auch viele subkulturelle Rechtsextremisten höhnen etwa in Musiktexten über den „Weltfeind“: „ Jagt den Weltfeind aus jedem Land l Gegen Ausbeutung und Zinssklaverei.“68 Hingegen meiden rechtsextremistische Positionen, die im Islam(ismus) ihr zentrales Feindbild sehen – wie die eingangs erwähnte „Bürgerbewegung pro NRW“ – antiamerikanische Klischees. Sie sehen in den USA geradezu einen Beschützer vor der Islamisierung. Dies ist nicht in erster Linie strategisch bedingt.
65 Freiheit für Deutschland – Ami go home! Erklärung des NPD-Parteivorstandes zum Bush-Besuch in Stralsund, unter: www.npd-mv.de (7. August 2011). 66 Ebd. 67 Ronny Zasowk, USA feiern Mord an Osama bin Laden, unter: http://www.npd-in-rlp.de (3. Mai 2011). 68 Zitiert nach: Verfassungsschutzbericht 2010, Berlin 2011, S. 82.
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5.
Extremismus und Demokratie
Feindbilder im Linksextremismus
5.1. Die Vielfalt der Feindbilder Linksextremisten negieren die Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates und verabsolutieren das Gleichheitsprinzip. Der Kapitalismus wird für die meisten Übel der Welt verantwortlich gemacht. Allerdings gibt es ein breites Spektrum, das höchst unterschiedliche und höchst unterschiedlich intensive Feindbilder aufweist. So sind die der Partei Die Linke weniger aggressiv als die der Autonomen. In Deutschland gibt es – sage und schreibe – 20 trotzkistische Dachverbände mit 28 Sektionen69, die um die „reine Lehre“ ringen. Wer etwa die Verlautbarungen und Aktivitäten von Autonomen beobachtet, sieht das Urteil des Extremismusforschers Udo Baron bestätigt: „Das politische Selbstverständnis von Autonomen ist in erster Linie von Anti-Einstellungen geprägt. Sie verstehen sich vor allem als antifaschistisch, antikapitalistisch, antirassistisch, antimilitaristisch und antirepressiv. Damit greifen sie Themen auf, die auf breite Akzeptanz bis weit in die demokratische Mitte hinein stoßen und bei denen sie sich im Einklang mit der Mehrheitsgesellschaft wähnen können.“70 Zu ergänzen wäre: „antideutsch“. Die Antideutschen, wie sie sich selbst nennen, sind eine Erscheinung seit der sich abzeichnenden Wiedervereinigung im Jahre 1990.71 Obwohl selbst Deutsche, verstehen sie sich, und das ist paradox genug, als antideutsch. Ein Teil der Autonomen ist eher „antiimperialistisch“, ein anderer Teil eher „antideutsch“. Konflikte sind programmiert. So behaupten linksextremistische Antikapitalisten von den Antideutschen: „Logischerweise wird die nicht-antideutsche Linke [für sie] zum primären Feindbild.“72 Wer den Programmentwurf der Partei Die Linke sichtet, findet u. a. Plädoyers für eine demokratische Wirtschaftsordnung, für ein Recht auf Arbeit, für ein Leben in sozialer Sicherheit, für Frieden und Abrüstung.73 Erstrangiges Feindbild ist offenkundig der Kapitalismus, der nicht nur als Wirtschafts-, sondern auch als Gesellschaftsordnung firmiert. „Der Kapitalismus von heute ist räumlich und zeitlich entgrenzt; er hat sich die ganze Welt untertan gemacht. [...] Unter diesen entfesselten kapitalistischen Bedingungen schlagen immer rascher und weitreichender Produktivkräfte in Destruktivkräfte um. Zugleich werden Arbeitsplätze vernichtet, Wohlstand wird zerstört und an der Natur Raubbau betrieben. Auch Kriege werden in Kauf genommen, wenn auf diese Weise Profite gesteigert und gesichert werden können. Kriege werden auch unter dem 69 Vgl. ebd., S. 154. 70 Udo Baron, Die Militanz der Autonomen, in: MUT, Heft 9/2009, S. 49. 71 Vgl. zum frühen Selbstverständnis: Kongress der Radikalen Linken. Reden und Diskussionsbeiträge zum Kongress an Pfingsten 1990 und auf der Demo „Nie wieder Deutschland“ am 12.5.1990 in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1990. 72 Wo endet der Antifaschismus? Zur Auseinandersetzung mit der antideutschen Strömung, in: Antifaschistisches Infoblatt, Heft 62/2004, S. 5. 73 Vgl. Die Linke, Programmentwurf, Berlin 2011, S. 6–8.
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Deckmantel der humanitären Hilfe geführt.“74 An anderer Stelle heißt es: „DIE LINKE ist der Überzeugung, dass ein krisenfester, sozialer, ökologischer und friedlicher Kapitalismus nicht möglich ist.“75
5.2. „Faschismus“ Ein zentrales Feindbild ist für die Linke weiterhin der „Faschismus“.76 Der Begriff findet kanonische Geltung, um den Terminus des „Nationalsozialismus“ zu vermeiden, der daran erinnert, dass sich dieser als eine Form des „Sozialismus“ verstanden hat. Der Terminus „Kampf gegen rechts“, der oft auftaucht, erfüllt wohl zwei Funktionen: Zum einen kommt so der Terminus „Rechtsextremismus“, der indirekt an eine andere Variante des Extremismus erinnert77, nicht zur Geltung; zum anderen erlaubt die unscharfe Formulierung „rechts“ den Kunstgriff, auch konservative Positionen darunter zu fassen. Der sächsische Landesvorstand der Partei erwähnt bei der Programmdebatte eigens, der Gebrauch von „Rechtsextremismus“ sei „mehr als kontraproduktiv“. Allerdings: „Und um die Gesamtheit der Übergänge in die Mitte der Gesellschaft betrachten zu können, bietet sich der Begriff ‚Extreme Rechte‘ an.“78 Im Programmentwurf heißt es dezidiert: „Wir fordern [...] die politische und strafrechtliche Bekämpfung von Faschismus, Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus und setzen uns für ein Verbot aller faschistischen Organisationen ein.“79 Die Partei propagiert die Aufnahme einer antifaschistischen Klausel ins Grundgesetz und in die Landesverfassungen. Auf diese Weise könnte das Demonstrationsrecht für (tatsächliche oder vermeintliche) Rechtsextremisten (weiter) erschwert werden. Die Linke macht sich das folgende Diktum zu eigen: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“ Damit versucht sie die Verhinderung rechtsextremistischer Demonstrationen zu rechtfertigen. Die PDS hat 1990 eine (bis heute bestehende) Arbeitsgemeinschaft „Rechtsextremismus/Antifaschismus“ ins Leben gerufen. Sie gibt regelmäßig einen „Rundbrief “ heraus, der nicht nur agitiert, sondern auch informiert. „Antifaschismus“, der oft auf eine Absage an den demokratischen Verfassungsstaat hinausläuft, ist ein einigendes Band im Linksextremismus. Die Linke arbeitet eng mit
74 Ebd., S. 10. 75 Ebd., S. 22. 76 Vgl. umfassend Tim Peters, Der Antifaschismus der PDS aus antiextremistischer Sicht, Wiesbaden 2006. 77 Allerdings wird dies nicht systematisch durchgehalten. Zuweilen sprechen die Repräsentanten der Partei auch von Rechtsextremismus. 78 Die Linke.Sachsen, Programmdebatte des Landesvorstandes der LINKEN Sachsen und LAG Antifaschistische Politik Sachsen zum Ersten Programmentwurf DIE LINKE, Beschluss aus der Landesvorstandssitzung vom 25. März 2011. 79 Die Linke (Anm. 73), S. 34.
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der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) zusammen – einer „glasklar linksextreme(n) Organisation“80, die freilich längst nicht mehr alle Verfassungsschutzberichte auflisten.81 Auch Parteien wie die DKP und die MLPD haben sich „Antifaschismus“ auf die Fahnen geschrieben. Und für Autonome ist beim „Kampf gegen den Faschismus“ Gewaltanwendung legitim – sei es in der Form der Massenmilitanz, sei es in der Form klandestiner Aktionen. Die Zahl der Beispiele ist Legion.
5.3. „Amerikanismus“ Der Antiamerikanismus hat nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums eine lange, wiewohl keineswegs ehrwürdige Tradition, sondern auch auf der linken Seite.82 Gerade in der DDR war dieser verbreitet. Auch wenn die Linke von der Ideologie des SED-Staates in beträchtlichem Maße Abstand genommen hat, so wirkt das Feindbild des „Amerikanismus“ in abgeschwächter Form weiter fort. Im Programmentwurf überlagert Antifaschismus deutlich Antiamerikanismus. Bei der Kapitalismusschelte ist wohl auch der „Amerikanismus“ gemeint, gilt doch die USA als der Prototyp des Kapitalismus. Die folgende Formulierung fällt vergleichsweise zurückhaltend aus: „Das amerikanische Modell, sinkende Löhne durch steigende Schulden auszugleichen, war zugleich die Voraussetzung für die riesigen Exportüberschüsse anderer Länder, so der Bundesrepublik Deutschland. Auch die steigende Verschuldung des US-Staates zur Finanzierung von Rüstung und Kriegen hat zum Aufblähen der Finanzblase beigetragen.“83 An anderer Stelle des Entwurfs ist vom „illegalen Krieg der USA“84 die Rede. Wenn die USA Erwähnung finden, so geschieht das ausschließlich in pejorativer Konnotation. Die Partei fordert die Auflösung der NATO. Michael Brie, führender Kopf der Partei, hat 2003 zehn Thesen über Antiamerikanismus und Amerikanismus präsentiert. In diesem Grundsatzbeitrag versucht Brie zu zeigen, dass Kritiker des „Amerikanismus“ von vornherein in der Defensive sind. „Amerikanismus [...] ist vor allem eine Ideologie, die die unilaterale Weltmachtrolle
80 So Harald Bergsdorf/Rudolf van Hüllen, Linksextrem – Deutschlands unterschätzte Gefahr?, Paderborn u. a. 2011, S. 75. 81 Vgl. Bettina Blank, Gegen „Rechtsentwicklung“, „Militarisierung“ und „Sozialabbau“ – Für die Verteidigung der „demokratischen Grundrechte“: Die VVN-BdA und das Grundgesetz, in: Uwe Backes/ Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 22, Baden-Baden 2010, S. 165–175. 82 Vgl. u. a. Gesine Schwan (Anm. 3), S. 41–61. 83 Die Linke (Anm. 73), S. 15. 84 Ebd., S. 17.
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der USA als universales Menschheitsinteresse zu legitimieren sucht.“85 Die Ideologie von der „welthistorischen Mission der USA“ sei ebenso problematisch wie die von der historischen Mission der Arbeiterklasse. Brie kritisiert den „imperialen Amerikanismus“. Er zählt dazu vier Hauptelemente: USA als einziger Staat mit uneingeschränkter Souveränität; Reklamation eines globalen Gewaltenmonopols für die USA; alleiniges Recht der USA, Präventionskriege zu führen; offensive, unter Umständen auch gewaltsame Veränderungen anderer wirtschaftlicher und politischer Systeme. Die Folgen dieses imperialen Amerikanismus sieht er auf den unterschiedlichsten Feldern deutlich negativ. Mit Blick auf Aristoteles heißt es schief: „Imperialer Amerikanismus ist global nichts anderes als eine Tyrannis, die den Anspruch darauf erhebt, eine legitime Monarchie zu sein, die dem Wohl aller verpflichtet ist.“86 Brie konstruiert einen krassen Widerspruch zwischen Theorie und Wirklichkeit. Zu diesem Ergebnis kann er nur kommen, weil die von ihm perhorreszierte Wirklichkeit seine „Theorie“ ist. Noch schärfer argumentiert die Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz, die als Trotzkistin in den Reihen der Linken wirkt. Sie sagt dem „US-Imperialismus“ den Kampf an und setzt auf Widerstandsbewegungen überall in der Welt. „Für die Schwächung des Imperialismus ist der politische Charakter des Widerstandes aber unerheblich.“87 Die Gegenposition zu Buchholz nimmt innerhalb der Partei die nicht sonderlich einflussreiche „Shalom“-Gruppe ein, die eigens Antiamerikanismus verwirft und „Errungenschaften des Westens“ hervorhebt. Die Position von Buchholz und anderen Repräsentanten der Linken ist zwar „antiimperialistisch“ ausgerichtet, aber nicht antisemitisch.88 Insofern gehen einschlägige Vorwürfe fehl.89 Der Antiamerikanismus bei DKP und MLPD ist deutlich stärker entwickelt als bei der Linken. Was die autonome Szene betrifft, so muss zwischen der antiimperialistischen und der antideutschen Position unterschieden werden. Während die erste Position in den USA einen Hauptfeind sieht, so gilt das für die zweite ganz und gar nicht. Die Antideutschen machen sich bisweilen gerade die Positionen jener Amerikaner zu eigen, die besonders „national“ auftreten. Sie wittern nahezu überall Antisemitismus.90 85 Michael Brie, Über Antiamerikanismus und Amerikanismus – zehn Thesen, in: Disput, Heft 3/2003, unter: http://archiv2007.sozialisten.de (27. Juli 2011). 86 Ebd. 87 Christine Buchholz, Imperialismus und Widerstand im 21. Jahrhundert, in: Linksruck, Heft 227/2007, unter: http://www.linksruck.de (27. Juli 2011). 88 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Israelfeindschaft zwischen Antiimperialismus und Antisemitismus – eine Analyse zu Erscheinungsformen und Motiven im deutschen Linksextremismus, in: Ulrich Dovermann (Hrsg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2011, S. 163–181. 89 Vgl. aber Samuel Salzborn/Sebastian Voigt, Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit, in: Zeitschrift für Politik 58 (2011), S. 280–309. 90 Vgl. Carsten Koschmieder, Die Entstehung der „Antideutschen“ und die Spaltung der linksradikalen Szene, in: Ulrich Dovermann (Anm. 88), S. 183–200, insbes. S. 192–195.
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6.
Extremismus und Demokratie
Konsequenz von unterschiedlichen und gleichen Feindbildern
Wie die beiden herausgegriffenen Beispiele zeigen, handelt es sich auf der einen Seite um unterschiedliche Feindbilder („Kommunismus“ und „Faschismus“), auf der anderen Seite um gleiche („Amerikanismus“). Ein doppelter Vergleich der Feindbilder bietet sich an: zum einen zwischen den linksextremistischen und den rechtsextremistischen Positionen, zum anderen innerhalb des jeweiligen Lagers. Was den ersten Punkt betrifft, so hat der Antifaschismus eine weitaus größere Durchschlagskraft als der Antikommunismus. Während die Vitalität des Antifaschismus nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus links außen zugenommen hat, ist der Antikommunismus bei den meisten Richtungen rechts außen entkräftet, ja nahezu aufgegeben worden. Der Kommunismus eignet sich in dieser Perspektive nicht mehr als Feindbild. Gleichwohl: Rechts- und Linksextremisten brauchen vielfach einander. Letztlich sind die meisten von ihnen wohl gar nicht daran interessiert, dass die andere Variante des Extremismus, die sie bekämpfen, gänzlich von der Bildfläche verschwindet. Sie wollen vielmehr u. a. das hervorrufen, was sie so heftig attackieren. Denn je stärker der extremistische Antipode ist, umso mehr Resonanz versprechen sie sich für die eigene Richtung. In der Tat mag – beispielsweise – eine antifaschistische Aktion gegen eine Veranstaltung einer rechtsextremistischen Organisation diese zusammenschweißen und ihr unter Umständen neue Mitglieder zuführen, wie umgekehrt ein provokatives Auftreten von Rechtsextremisten die Zahl von „Antifaschisten“ vergrößern könnte. Insofern besteht eine merkwürdige Dialektik im Auftreten von Rechts- und Linksextremisten, die in gewisser Weise „Bundesgenossen“ und – wenn auch unfreiwillig – „Bündnispartner“ sind. Eine Spiegelbildlichkeit liegt für Parteien nicht vor. Die extreme Rechte sieht als Feind zunehmend die „liberale Gesellschaft“ an, weniger – wie gezeigt – den Kommunismus. Um auf die Eingangsthese Tilman Mayers zurückzukommen: Während rechtsextremistische Ideologien durch das Ende des Sowjetkommunismus, das freilich nicht von ihnen verursacht worden ist, ohne das Feindbild „Kommunismus“ auskommen (müssen), ist der Antifaschismus von Linksextremisten neben dem Antikapitalismus deren zentrale „Abwehr-Ideologie“. Sie erfährt bisweilen bei Demokraten eine gewisse Reputation. Mit Blick auf den „Amerikanismus“ gibt es ein analoges Feindbild, wobei dieses bei der Partei Die Linke schwächer entwickelt ist als bei der NPD. Wie es vor 1990 eine gewisse proamerikanische Haltung bei der NPD gab, so existiert heute eine solche bei kleinen Gruppen innerhalb der Partei der Linken. Die Annahme, ein gemeinsames Feindbild könne in gewisser Weise die unterschiedlichen Ideologien dekonstruieren, bestätigt sich nicht. Gewiss gab es von Rechtsextremisten mehrfach den Versuch zu gemeinsamen Aktionen („Querfrontstrategie“), doch wurden derartige Initiativen von links außen im Keim erstickt. Für Linksaußenpositionen ist der Links-rechts-Gegensatz stärker als die Affinität zum gemeinsamen Feind. Am rechten Rand gilt das nicht.
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Was den zweiten Punkt betrifft, so gibt es innerhalb der verschiedenen Strömungen jeweils zwei Feindbilder, die in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht gar in einem Gegensatz zueinander stehen („Kommunismus“ versus „Amerikanismus“ bzw. „Faschismus“ versus „Amerikanismus“). Beim Rechtsextremismus kann ein Loyalitätskonflikt schon deshalb nicht auftreten, weil der Kommunismus als Feindbild vorerst ausgedient hat und insofern den „Antiamerikanismus“ nicht ernsthaft beeinträchtigt. Allerdings sähe dies bei den Feindbildern „Islamismus“ und „Amerikanismus“ anders aus. Die NPD nimmt hier ein Problem wahr, das sie durch die Unterscheidung zwischen einem innen und einem außenpolitischen Feind zu umgehen sucht. So heißt es in der „Deutschen Stimme“, dem Organ der NPD: „[D]er Jude ist nicht plötzlich mein Freund, weil ich innenpolitisch gegen Moslems bin, und der Moslem ist nicht mein Freund, weil ich außenpolitisch gegen Israel bin. [...] Es kann kein Bündnis mit einem Feind Deutschlands gegen den anderen Feind Deutschlands geben.“91 Tatsächlich ist die „Feindesintensität“ gegenüber den USA deutlich größer als gegenüber dem Islamismus. Freilich gilt das nicht für alle rechtsextremistischen Richtungen, wie Warnungen vor einer „Islamisierung“ Deutschlands bzw. Europas belegen. Für die andere Seite des politischen Spektrums stellt sich das Dilemma ebenso: Die Feindbilder „Faschismus“ und „Amerikanismus“ lassen sich auf den ersten Blick schwerlich problemlos verbinden – es sei denn, der amerikanische Kapitalismus werde ebenso als „imperialistisch“, als eine Form der „bürgerlichen Herrschaft“ und damit des Faschismus angesehen.92 Tatsächlich ist fast jede Form des Linksextremismus stärker „antifaschistisch“ als „antiamerikanisch“ ausgerichtet. Das bedingt indirekt eine gewisse Abschwächung der extremistischen Intensität. Wer die Feindbilder im Rechts- und im Linksextremismus (Kapitel 4 und 5) mit den zuvor genannten Freund-Feind-Stereotypen sowie den Funktionen von Feindbildern vergleicht, erkennt durchaus gewisse Parallelen: Das „Anti“ ist stärker als das „Pro“. Dem als Feind betrachteten Antipoden wird eine Wandlung nicht zugebilligt und Böses unterstellt. Zugleich zeigt sich eine gewisse Zurückhaltung in den Parteiprogrammen, weniger in den militanten „Szenen“. Dieser Umstand hängt mit der Auswahl der Feindbilder zusammen. Es war nicht die Absicht des Beitrages, sämtliche Feindbilder von Rechts- und Linksextremisten zu analysieren. Erschwert wird der Vergleich zudem dadurch, dass angesichts unterschiedlicher Strömungen weder „der“ Rechts- noch „der“ Linksextremismus existiert (wie etwa beim Amerikanismus“ verdeutlicht).
91 Zitiert nach Verfassungsschutzbericht 2010 (Anm. 68), S. 66. 92 Vgl. Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Reinbek bei Hamburg 1976.
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7.
Extremismus und Demokratie
Resümee
Nun darf das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Extremismen sind nicht nur auf Feindbilder fixiert; sie, die einen mehr, die anderen weniger, operieren vielmehr auch mit Heilsversprechen und entwickeln utopische Vorstellungen von einer zukünftigen Gesellschaft, in der fundamentale Konflikte ihren Platz verlieren. Gleichwohl ist die Erkenntnis wichtig, dass Extremismen ohne Feindbilder schwerlich auskommen. Bei Rechts- und Linksextremisten sind diese auffallend asymmetrisch. Neben einem ähnlichen Feindbild (dem Westen und der Globalisierung) gibt es bei Rechts- und Linksextremisten unterschiedliche Feindbilder: Der Affekt gegen Kommunismus hat rechtsaußen zunehmend an Bedeutung verloren, der gegen „Faschismus“ linksaußen an Geltungskraft gewonnen. Die folgenden Punkte geben Antworten und werfen jeweils eine Frage auf. Erstens: Politische Extremismen haben teils gemeinsame, teils unterschiedliche Feindbilder. Diese gehen deutlich über mit Stereotypen angereicherte Vorurteile hinaus. Sie sind unterschiedlich stark entwickelt – je nachdem, um welche Varianten des Extremismus es sich handelt: Cum grano salis gilt: Je aggressiver der jeweilige Extremismus ist, umso aggressiver sind seine Feindbilder. Kommen Extremismen ebenso nicht ohne ideologisierte – zum Teil spiegelbildlich vertauschte – Freundbilder aus? Zweitens: Der demokratische Verfassungsstaat steht vor einer Gratwanderung, einem Dilemma. Einerseits muss er sich der Existenz von Feinden bewusst sein; andererseits darf er bei der Abwehr dieser Feinde seinerseits keinem ideologisch aufgeladenen Feindbild aufsitzen. Damit würde er nicht nur gegen die eigenen Prinzipien verstoßen, und Extremisten sähen sich in ihrem Feindbild bestätigt. Die Demokratie hat auf ein Feindbild zu verzichten und ist verpflichtet, das Feindbild von Extremisten nicht feindbildartig wahrzunehmen. Aber wieso sind demokratische Verfassungsstaaten nicht gefeit vor der Verwendung von Feindbildern? Drittens: Was Deutschland betrifft, so gibt es zwar ideologische Überlappungen (zum Beispiel beim Kampf gegen Amerika und die Globalisierung), aber es besteht keine Kooperation von rechts- und linksaußen bei der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates. Rechtsextremisten mutieren in der Regel nicht zu Linksextremisten – vice versa gilt das ebenso.93 Wieso erblicken Linksextremisten stärker in Rechtsextremisten einen Feind, während Rechtsextremisten diesen nicht in erster Linie im Linksextremismus sehen?
93 Eine schillernd-exzentrische Figur wie Horst Mahler ist eher eine Ausnahme.
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Viertens: Die Funktionen von Feindbildern sind mannigfaltig. Sie dienen u. a. dazu, die Identität von Extremisten zu festigen, die eigene Richtung zu mobilisieren und „zusammenzuschweißen“, den Feind zu dämonisieren. Sie erhöhen das Selbstwertgefühl. Extremismen benötigen Feindbilder nicht zuletzt, damit sie für das eigene Anliegen Gehör finden. Dies kommt eher wenig zur Geltung. Wieso ist bei ihnen das „Anti“ vielfach stärker entwickelt als das „Pro“? Fünftens: Die Struktur von Feindbildern nimmt die Realität nur grob verzerrt wahr, knüpft allerdings an Elemente der Wirklichkeit an. Feindbildern wohnt ein SchwarzWeiß-Muster inne. Der Feind wird als geschlossene Kraft perzipiert. Wer solche Bilder verwendet, immunisiert die eigene Position. Denn der als Feind angesehene Antipode rennt mit seinen Auffassungen, die oft das Gegenteil des Unterstellten besagen, ins Leere. Sie gelten als bloße Taktik des „Systems“. Wieso gehen Feindbilder oft mit Verschwörungstheorien einher? Sechstens: Um manche Feindbilder bei Extremisten abzubauen, besteht eine Möglichkeit darin, die Auseinandersetzungen mit ihnen zu suchen. Die Gefahr, dass Demokraten ihnen damit ein Forum geben und sie aufwerten, ist in der Regel geringer als die Gefahr, dass sich extremistische Bestrebungen weiter abschotten und ideologisieren. Angesichts der Festigkeit von Feindbildern bei politischen Extremisten sind Appelle zu ihrem Abbau freilich häufig nur gut gemeint, jedoch nicht sonderlich wirksam. Von großen Umbrüchen – etwa in anderen Staaten von Diktaturen zu Demokratien – zeigen sie sich zuweilen beeindruckt. Bilden Systemwechsel vielfach die Voraussetzung für den Abbau von Feindbildern? Siebtens: Die Prüfung der Frage, ob eine Partei, eine Vereinigung oder eine Person im demokratischen Verfassungsstaat systematisch Feindbilder produziert oder sich zu eigen macht, ist neben anderen Faktoren ein Lackmustest für die Frage, inwiefern von ihr eine extremistische Orientierung ausgeht. Die Intensität von Feindbildern lässt Rückschlüsse darauf zu, ob es sich bei der betreffenden Gruppierung eher um eine harte oder eine milde Form des Extremismus handelt. Gleiches gilt spiegelbildlich für „Freundbilder“ von tatsächlichen oder vermeintlichen Extremisten. Wer die Ideologie autoritärer oder totalitärer Staaten unterstützt und deren Herrschern zum Geburtstag gratuliert, muss sich nicht wundern, wenn seine Haltung zum demokratischen Verfassungsstaat in Zweifel gezogen wird.94 Leitet der Zusammenbruch von Diktaturen der eigenen Richtung zuweilen einen Läuterungsprozess ein?
94 Die Linke hat eigens eine Arbeitsgemeinschaft Cuba Sí, die sich zum Ziel setzt, Kuba zu unterstützen und das dortige – diktatorische – Regime zu rechtfertigen.
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Achtens: Extremisten haben innere und äußere Feindbilder. So sind sich alle drei Varianten des Extremismus – mit unterschiedlicher Akzentsetzung im Einzelnen – in der Ablehnung der westlichen Wertegemeinschaft einig.95 Amerika gilt neben dem damit in enger Verbindung stehenden Kapitalismus und der Globalisierung als „das“ Abzulehnende schlechthin, firmiert als Wurzel allen Übels.96 Das, so die Behauptung, nur dem „Mammon“ und dem Egoismus verpflichtete „One World“-Denken betrachten zumal Extremisten als dekadent, seelenlos, aggressiv-imperialistisch („Kapitalistenstaat“). Freilich gibt es zwischen Rechts-, Linksextremisten und Islamisten unterschiedliche Akzentsetzungen.97 Unter welchen Voraussetzungen können sich die Feindbilder gegenseitig dekonstruieren? Trifft die eingangs erwähnte Kernthese von Tilman Mayer zu, wonach eine „erfolgreiche Abwehr“ den „Zusammenbruch“ der eigenen Konzeption fördern kann? Die Antwort fällt unterschiedlich aus. Für den demokratischen Verfassungsstaat gilt dies nicht, weil er seine Legitimität nicht in erster Linie aus der Abwehr antidemokratischer Ideologien bezieht. Wenn er heute im Islamismus einen Feind sieht, so ist das eine Reaktion auf eine neue Herausforderung, in der Regel keine Islamophobie. Hingegen ist durch den Zusammenbruch des Kommunismus das Weltbild von Rechtsextremisten nachhaltig erschüttert. Eine ideologische Neuausrichtung in puncto Feindbilder ist weithin eingetreten. Bei Linksextremisten gibt es beides: Bestätigung und Verschärfung des Feindbildes mit Blick auf „Faschismus“, Abschwächung und Modifizierung des Feindbildes mit Blick auf „Amerikanismus“.
95 Vgl. Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, 2. Aufl., München 2003. 96 Das schließt nicht aus, dass in den USA selbst (unberechtigte) Feindbilder kultiviert wurden und werden. Vgl. etwa Thomas Meier, Die Reagan-Doktrin. Die Feindbilder – die Freundbilder: Afghanistan, Angola, Kambodscha, Nicaragua, Bern 1998. Im Bestreben, den islamistischen Feind auszuschalten, ist mitunter ein Feindbild hervorgerufen worden – mit schlimmen Konsequenzen, etwa der Folter von Gefangenen in Guantanamo. 97 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, „Antiamerikanismus“, „Antiwestlertum“ und „Antizionismus“. Definitionen und Konturen dreier Feindbilder im politischen Extremismus, in: Bundesministerium des Innern (Anm. 6), S. 23–41.
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Rechtsterroristische Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland – Vergangenheit und Gegenwart Die Morde der Kleingruppe des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) riefen in Erinnerung, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik schon mehrfach rechtsterroristische Kräfte und Strukturen gegeben hatte. Allerdings erreichten die Anschläge des NSU, deren Hintergründe zum Teil noch im Unklaren liegen, eine neue Dimension im Bereich des Rechtsterrorismus: durch jahrzehntelanges Untertauchen und durch vorsätzliches Töten von Angesicht zu Angesicht. Menschen mussten nur deshalb sterben, weil sie „Fremde“ waren. Ist der Terminus der „Braunen Armee Fraktion“ in Anlehnung an die „Rote Armee Fraktion“ aber einleuchtend? Und ist der Vergleich zum 11. September 2001 sinnvoll?
1.
Schock für die deutsche Gesellschaft
Die Anfang November 2011 bekanntgewordenen mörderischen Vorgänge um den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), mit denen wohl keiner gerechnet hatte, lösten schieres Entsetzen aus. Sie waren ein Schock – für die Politik, für die Publizistik, für die Wissenschaft, ja für die gesamte Gesellschaft. Auch wenn bisher längst nicht alle Hintergründe geklärt sind (z. B. was die Frage eines „Netzwerkes“ betrifft), so sind doch zwei Befunde klar: Erstens gibt es keinerlei haltbaren Anlass für Verschwörungstheorien (verantwortlich für die Mordserie sind Rechtsextremisten), zweitens handelt es sich um Rechtsterrorismus (ungeachtet der fehlenden Selbstbezichtigung), da die Gruppe die Verbrechen planvoll beging. Der folgende Beitrag soll vor allem auf zwei Fragen schlüssige Antworten geben: Handelt es sich bei dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ um ein neues Phänomen innerhalb des Rechtsextremismus? Und ist die Parallele zur „Roten Armee Fraktion“ der 1970er und 80er Jahre angebracht? Nach einer kurzen Erörterung einzelner Formen des Rechtsextremismus und -terrorismus geht es darum, vergangene rechtsterroristische Aktivitäten zu erfassen. Danach werden die Taten des NSU und dessen Hintergründe knapp geschildert. Beides ermöglicht abschließend ein Urteil über die beiden Kernfragen.
2.
Formen des Extremismus
Alle Formen des Extremismus lehnen den demokratischen Verfassungsstaat ab.1 Während der Extremismus von rechts das Prinzip der menschlichen Fundamentalgleichheit negiert, verabsolutiert der Extremismus von links das Egalitätsprinzip. Das Hauptfeindbild für
1
Vgl. die Grundlagenstudie von Uwe Backes, Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989.
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Extremismus und Demokratie
den Rechtsextremismus ist das sogenannte „Fremde“, das für den Linksextremismus der „kapitalistische Staat“. Der religiös ausgerichtete Fundamentalismus, etwa in Form des Islamismus, ist eine eigenständige Spielart des Extremismus, jenseits von rechts und links. Er strebt einen „Gottesstaat“ an. Ein weiterer Unterschied liegt in der ExtremismusIntensität: Es gibt eine harte und eine weiche Form des Extremismus, bei Parteien etwa mit Blick auf Organisation, Strategie und Ideologie.2 Rechtsextremisten sind sich zwar in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates einig, nicht jedoch in ihren Zielen und Mitteln. Jeder Neonationalsozialist ist – beispielsweise – ein Rechtsextremist, aber nicht jeder Rechtsextremist ein Neonationalsozialist. Wer die Vielfalt des Rechtsextremismus erfassen will, muss verschiedene Varianten unterscheiden: nach dem Organisationsgrad und der Gewaltanwendung. Trotz gewisser Schnittmengen zwischen den Varianten3 ist auf diese Weise eine Systematisierung möglich. Die erste Variante des Rechtsextremismus, fest organisiert und systematisch Gewalt anwendend, ist der Rechtsterrorismus, der den demokratischen Staat in Angst und Schrecken zu versetzen sucht. In den 70er und 80er Jahren gab es vereinzelte Gruppen mit rechtsterroristischen Strukturen4, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen sollen. Dabei kann der „bewaffnete Kampf “ unterschiedliche Formen annehmen. Der Rechtsterrorismus, teils rassistisch, teils nationalistisch orientiert, wendet sich insbesondere gegen Migranten, insbesondere solche türkischer Abstammung. Da der Staat sie zu schützten hat, stellt dies zugleich einen Angriff auf das staatliche Gewaltmonopol dar. Die kommunikative Ebene (z. B. Selbstbezichtigungs- und Rechtfertigungsschreiben) ist beim Rechtsterrorismus eher schwach entwickelt. Die zweite Variante, fest organisiert und keine Gewalt betreibend, ist der parteiförmige Rechtsextremismus. Hier ist in Deutschland an erster Stelle die NPD zu nennen. 1964 als „deutschnationale“ Kraft gegründet, war sie damals (zwischen 1966 und 1968 in sieben Landesparlamenten vertreten) ursprünglich zwar rechtsextremistisch, aber weitaus weniger aggressiv als heutzutage. Unter dem Vorsitzenden Udo Voigt, den im November 2011 Holger Apfel abgelöst hat, erfolgte in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine Radikalisierung.5 Der zunächst propagierten Drei-Säulen-Strategie (Kampf um die
2
3 4 5
Vgl. Eckhard Jesse, Die NPD und die Linke. Ein Vergleich zwischen einer harten und einer weichen Form des Extremismus, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 21, Baden-Baden 2009, S. 13–31. Auf dem neusten Stand ist die folgende, im Urteil freilich nicht immer überzeugende Arbeit: Gideon von Botsch, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland, Darmstadt 2012. Vgl. Bernd Rabert, Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, Bonn 1995, insbes. S. 231–330. Vgl. Marc Brandstetter, Die NPD unter Udo Voigt. Organisation, Ideologie, Strategie, Baden-Baden 2013. Siehe auch Henrik Steglich, Rechtsaußenparteien in Deutschland. Bedingungen ihres Erfolges und Scheiterns, Göttingen 2010.
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Köpfe, Kampf um die Straße, Kampf um die Parlamente) folgte 2004 eine vierte Säule: der Kampf um den organisierten Willen. Damit sollte das „nationale Lager“ geeint werden. Das gelang mit der Integration der DVU, weithin einer „Phantom-Partei“, weniger mit den „Freien Kameradschaften“. Die NPD zog 2004 mit 9,2 Prozent in den sächsischen Landtag ein, begünstigt durch die Hartz-IV-Gesetzgebung, 2006 mit 7,3 Prozent in den von Mecklenburg-Vorpommern. Diese Erfolge konnte sie 2009 (Sachsen: 5,6 Prozent) und 2011 (Mecklenburg-Vorpommern: 6,0 Prozent) auf abgeschwächtem Niveau wiederholen, nicht jedoch bei Bundestagswahlen (2005: 1,6 Prozent; 2009: 1,5 Prozent). Die knapp 6000 Mitglieder umfassende Partei, in den neuen Bundesländern stärker als in den alten, arbeitet mit militanten „Freien Kameradschaften“ zusammen und tritt aggressiv auf. Sie propagiert eine homogene „Volksgemeinschaft“, ist strikt antiamerikanisch, antikapitalistisch und stark fremdenfeindlich, zum Teil rassistisch orientiert. Die Pro-Bewegung (Pro Köln, Pro Nordrhein-Westfalen, Pro Deutschland) ist nicht antisemitisch orientiert, sondern antiislamisch. Sie argumentiert weitaus weniger aggressiv als die NPD. Die dritte Variante, gewaltorientiert und schwach organisiert, wird von subkulturell geprägten Rechtsextremisten repräsentiert. Sie umfassen nach den Angaben des Verfassungsschutzes etwa 9500 Personen größtenteils jugendlichen Alters. Ihre Gewalttaten – häufig gegen Fremde gerichtet – sind in der Regel spontan, geschehen zuweilen unter Alkoholeinfluss und werden von einer „Szene“ begangen, die ein geringes Reflexionsniveau aufweist. Zu dieser Gruppe zählen ca. 1000 Personen, die sich als „Autonome Nationalisten“ begreifen.6 Sie predigen einen militanten Antikapitalismus und imitieren Erscheinungsformen linksextremistischer Autonomer – im Kleidungsstil wie in den Slogans.7 Auch die gewaltbereiten Rechtsextremisten verfügen in den neuen Bundesländern über mehr Einfluss als in den alten – sozialisations(mangelnde Weltoffenheit der DDR-Gesellschaft) wie situationsbedingt (höhere Jugendarbeitslosigkeit). Die vierte Variante, weder gewaltbereit noch fest organisiert, sind Rechtsextremisten, die den demokratischen Verfassungsstaat delegitimieren wollen. Solche Intellektualisierungsbemühungen sind nicht sonderlich weit gediehen, liegen klar hinter denen des Linksextremismus. Zu den Periodika zählen u. a. „Deutsche Geschichte – Europa und die Welt“, zu den Verlagen u. a. der Arndt-Verlag. Einer der produktivsten rechtsextremistischen Publizisten ist Jürgen Schwab mit seiner Verhöhnung der westlichen
6 7
Vgl. Jan Schedler/Alexander Häussler (Hrsg.), Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung, Wiesbaden 2011. Vgl. Marc Brandstetter, Feinde im Alltag, Brüder im Geiste – Autonome Nationalisten im Vergleich zu den linksextremen Autonomen, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 20, Baden-Baden 2008, S. 185–203.
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Wertegemeinschaft.8 Horst Mahler9, einer der Begründer der „Roten Armee Fraktion“, hatte die NPD 2003 verlassen, weil sie ihm zu gemäßigt erschien. Er sitzt seit Jahren im Gefängnis, weil er wiederholt den Holocaust geleugnet hat. Sein Wandel von links außen nach rechts außen ist nicht typisch für den hiesigen Extremismus, sind doch die Grenzen zwischen den beiden Extremen trotz zum Teil analoger Feindbilder10 fest abgeschottet. Die gelegentlichen Versuche von Rechtsextremisten, eine Art „Querfront“ zustande zu bringen, stoßen beim politischen Pendant nicht auf Gegenliebe und ebenso keineswegs immer in den eigenen Reihen. Die streitbare Demokratie der Bundesrepublik ist eine Reaktion auf ihre leidvolle Geschichte und basiert auf dem Dreiklang von Wertgebundenheit, Abwehrbereitschaft und der Vorverlagerung des Demokratieschutzes. Nach Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes stehen bestimmte Prinzipien der deutschen Demokratie nicht zur Disposition des Gesetzgebers, so Art. 1 (Menschenwürde) und Art. 20 (Bundesstaat, Demokratie, Rechtsstaat, Republik, Sozialstaat). Diese Wertgebundenheit findet ihre sinnvolle Ergänzung durch Abwehrbereitschaft, etwa die Möglichkeit von Vereinigungsverboten gemäß Art. 9, Abs. 2 oder von Parteiverboten gemäß Art. 21 Abs. 2. Die Vorverlagerung des Demokratieschutzes zeigt, dass Extremismus nicht erst beim Überschreiten der Strafgesetze vorliegt. Es gibt extremistische Ziele, nicht bloß extremistische Mittel. Ob härtere oder mildere Mechanismen der streitbaren Demokratie eingesetzt werden, hängt u. a. von der spezifischen extremistischen Gefahr ab. Was die Praxis der Verbote gegen extremistische Vereine betrifft, so wurde in den letzten Jahrzehnten vor allem gegen solche aus dem rechten Spektrum vorgegangen.11 Symbolpolitik spielt dabei eine große Rolle. Für die Bekämpfung des Terrorismus ist die streitbare Demokratie, gedacht zur Bekämpfung des legalistischen Extremismus, nicht geeignet. Der Extremismus von rechts stellt – wie der von links und wie der Fundamentalismus – eine große Herausforderung für die freiheitliche Ordnung dar. Er ist antidemokratisch, in seiner gegenwärtigen Verfasstheit zwar keine ernstliche Gefahr für
8 Vgl. Jürgen Schwab, Die „Westliche Werte-Gemeinschaft“. Abrechnung, Alternativen, Tübingen 2007; Die Manipulation des Völkerrechts. Wie die „Westliche Wertegemeinschaft mit Völkermordvorwürfen Imperialismus betreibt, Mengerkirchen 2011; zur Kritik: Eckhard Jesse, Von den Linken lernen? Vier rechtsextremistische Intellektuelle im Vergleich, in: Uwe Backes (Hrsg.), Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart, Köln u. a. 2003, S. 261–288; Armin Pfahl-Traughber, Eine nationalrevolutionäre Kritik an der NPD. Der rechtsextremistische Intellektuelle Jürgen Schwab als Ideologe und Kritiker, in: Uwe Backes/Henrik Steglich (Hrsg.), Die NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei, Baden-Baden 2007, S. 383–397. 9 Vgl. Eckhard Jesse, Biographisches Porträt, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13, Baden-Baden 2001, S. 183–199; Martin Jander, Horst Mahler, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1, Hamburg 2006, S. 372–397. 10 Vgl. Eckhard Jesse, Feindbilder im Extremismus, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 23, Baden-Baden 2011, S. 13–36. 11 Vgl. Julia Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie. Verbieten oder Nicht-Verbieten?, Baden-Baden 2012.
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den demokratischen Verfassungsstaat, wohl aber eine Bedrohung für die Gesellschaft, speziell für das Individuum. Die Bundesrepublik, eine gefestigte Demokratie, keine Schönwetterdemokratie mehr, kann Gelassenheit an den Tag legen. Demokratische Politiker sollen Flagge zeigen, keineswegs reflexhaft reagieren. Aus Schnellschüssen erwächst zuweilen eine Eigendynamik mit fatalen Folgen. Das Beispiel des gescheiterten NPD-Verbotsverfahrens 2001 bis 2003 – die streitbare Demokratie erlitt schweren Schaden – sollte für die wieder aufgeflammte Diskussion Warnung genug sein.12
3.
Rechtsterroristische Strukturen in der Vergangenheit
Terrorismus wird in der Bundesrepublik gemeinhin mit der „Roten Armee Fraktion“ in Verbindung gebracht. Das ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen gab es neben der RAF eine Vielzahl an anderen linksterroristischen Gruppierungen (etwa die „Bewegung 2. Juni“ oder die „Revolutionären Zellen“), zum andern ist die Fixierung auf die linke Variante des politischen Spektrums nicht berechtigt. Schließlich sind rechtsterroristische Strukturen kein Phänomen der jüngsten Gegenwart, sondern ein solches vor allem der frühen 1980er Jahre.13 Die zwei bedeutendsten waren die „Deutschen Aktionsgruppen“ Manfred Roeders und die „Hepp-Kexel-Gruppe“. Die „Deutschen Aktionsgruppen“ hatten 1980 fünf Sprengstoff- und zwei Brandanschläge begangen, u. a. auf die Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in Zirndorf: Die Täter waren der Arzt Heinz Colditz, die medizinisch-technische Assistentin Sibylle Vorderbrügge sowie der Werkmeister Raymund Hörnle. Bei einem Brandanschlag auf ein Hamburger Wohnheim für Ausländer kamen zwei junge Vietnamesen ums Leben. Manfred Roeder, der Hintermann und der eigentliche Anstifter, ein unverfälschter Neonationalsozialist, dem Vorderbrügge ergeben war, erhielt 13 Jahre Haft. Für die beiden Tatausführenden Hörnle und Vorderbrügge, die schnell in die Fänge geraten waren, lautete das Urteil zunächst auf „lebenslänglich“; die Strafe wurde für Vorderbrügge später auf zwölf Jahre herabgesetzt.14 Das intellektuelle Niveau der wenigen Selbstbezichtigungsschreiben und Farbschmierereien („Ausländer raus“) fiel ausgesprochen dürftig aus, die Planungsintensität ebenso. Die Ideologie der „Deutschen Aktionsgruppen“ – der Begriff ist eine vollmundige Übertreibung – war schwammig: nationalistisch, ja neonationalsozialistisch, fremdenfeindlich und antikapitalistisch.
12 Vgl. Lars Flemming, Das NPD-Verbotsverfahren. Vom „Aufstand“ der Anständigen“ zum „Aufstand der Unfähigen“, Baden-Baden 2005. 13 Vgl. neben dem in Anm. 4 erwähnten Band von Bernd Rabert: Uwe Backes, Bleierne Jahre. BaaderMeinhof und danach, Erlangen u. a. 1991, S. 96–111; Armin Pfahl-Traughber, Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Analyse zu Entwicklung, Gruppen und Vergleich, in: Einsichten und Perspektiven 1/2012, S. 56–71. 14 Vgl. Frank Keil, Der blanke Hass, in: Die Zeit v. 23. Februar 2012, S. 20.
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Die Hepp-Kexel-Gruppe war von anderem Kaliber. Der Student Odfried Hepp (Jahrgang 1958) und der Elektroinstallateur Walter Kexel (Jahrgang 1961), schon vorher in rechtsextremistischen Organisationen tätig, verstanden sich als Nationalrevolutionäre. Die Gruppe verfasste mit Datum vom 30. Juni 1982 ein Manifest („Abschied vom Hitlerismus“). In ihm distanzierten sich die beiden Autoren vom „Hitler-Kult“, ebenso vom „bürgerlichen Nationalismus“, ferner vom „NS- und Uniformfetischismus“. Hingegen propagierten sie einen „antiimperialistischen Befreiungskampf “. „Bei diesem Kampf gegen den Amerikanismus ist uns jeder recht, der wie wir erkannt hat, daß nur, wenn die aktivistische Jugend, die es in linken und rechten Kreisen gibt, ihre Dogmen überwindet und sich zum Befreiungskampf zusammenschließt, wir eine Chance haben. Selbstverständlich heißen wir auch in der BRD lebende, ausländische Antiimperialisten, die sich an unserem Kampf beteiligen wollen, – herzlichst willkommen.“15 Diese Ideologie war so in der „Szene“ eher neu. Hepp und Kexel gewannen mit Helge K.W. Blasche, Hans-Peter Fraas, Dieter Sporleder und Ulrich Tillmann weitere Personen, und die Gruppe beging 1982 eine Reihe von Banküberfällen, bei denen sie viel Geld erbeuten konnte. Anschläge auf Autos amerikanischer Soldaten folgten. „Man wollte im Stil der RAF, aber in der Organisationsform der RZ vorgehen.“16 Es gab zwar keine Toten, aber Schwerverletzte. Im Februar 1983 wurde die Gruppe festgenommen – bis auf Hepp, der mit Hilfe der Staatssicherheit, zu der er bereits früher Kontakt aufgenommen hatte, in die DDR gelangen konnte. Von dort ging es nach Damaskus und später nach Paris, wo die französische Polizei ihn verhaftete. Während Kexel nach der Urteilsverkündung Selbstmord verübte, sagte sich Hepp später von seiner Ideologie der Gewalt los. Die Hintergründe seines Handelns bleiben voller Rätsel.17 Über die mögliche Verwicklung des Ministeriums für Staatssicherheit in den Rechtsterrorismus ist bisher wenig Substantielles bekannt.18 Weitere rechtsterroristische Aktivitäten gab es im Umfeld der Rechtsextremisten Friedhelm Busse („Volkssozialistische Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit“), Karl-Heinz Hoffmann („Wehrsportgruppe Hoffmann“)19 und Michael Kühnen („Aktionsfront Nationaler Sozialisten“). Alle hatten (später verbotene) Gruppierungen ins Leben gerufen, aus deren Umkreis schwere Gewalttaten begangen wurden, ohne dass sich diese der Gruppe als Ganzes zurechnen ließen. Alle drei „Führer“ verfügten über ein gewisses Charisma und hatten so eine gewisse „Gefolgschaft“.
15 Die unverändert wiedergegeben Zitate sind entnommen dem bei Bernd Rabert abgedruckten Faksimile. Vgl. ders. (Anm. 4), S. 397–400. 16 Ebd., S. 293. 17 Das gilt auch nach der Lektüre des folgenden Buches: Yury Winterberg/Jan Peter, Der Rebell. Odfried Hepp. Neonazi, Terrorist, Aussteiger, Bergisch Gladbach 2004. 18 Vgl. einige Ausführungen bei Bernd Rabert (Anm. 4), S. 320 f. 19 Vgl. Rainer Fromm, Die „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Darstellung, Analyse und Einordnung, Frankfurt a. M. 1998.
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Mitglieder von Kühnens Vereinigung hatten unter der Ägide von Lutz Wegener 1977/78 Überfälle begangen, um mit dem Geld eine bessere Struktur aufbauen zu können. Das Attentat beim Münchner Oktoberfest im September 1980, dem 13 Menschen, einschließlich des Urhebers, zum Opfer gefallen waren, ging auf Gundolf Köhler zurück, einen Einzeltäter, der zuvor der Wehrsportgruppe Hoffmann angehört hatte. Allerdings halten manche Kritiker die alleinige Urheberschaft nicht für erwiesen.20 Aus dieser Vereinigung ist Uwe Behrendt hervorgegangen. Dieser hatte den jüdischen Verleger Shlomo Levin und dessen Partnerin Frida Poeschke im Dezember 1980 ermordet. 1980/81 fielen Mitglieder der Busse-Bewegung durch Gewalttaten auf, darunter Frank Schubert, der – nach Auffliegen seines Waffenschmuggels – zwei schweizerische Beamte getötet hatte. Die Existenz von rechtsterroristischen Einzeltätern – dies ist ein Unterschied zum Linksterrorismus – deutet stark auf die gesellschaftliche Isolation von Rechtsextremisten hin. Die fremdenfeindlichen Vorkommnisse mit Tötungen zumal in der ersten Hälfte der 90er Jahre sind nicht als Terrorismus zu bewerten, u. a. deshalb, weil ihnen eine feste Gruppenstruktur samt Planungsintensität gefehlt hatte. Anders sah dies bei den Anschlägen des „Freikorps Havelland“ 2003/04 in Brandenburg aus. Die Schülergruppe hatte Brandanschläge gegen Imbissbuden von Asiaten verübt, um diese aus der Gegend zu verjagen. „Spektakulärer“ war ein geplanter Sprengstoffanschlag einer „Kameradschaft Süd“ in München gegen die Grundsteinlegung des jüdischen Kulturzentrums. Der als Neonationalsozialist bekannte Rädelsführer Michael Wiese erhielt eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren.21
4.
„Nationalsozialistischer Untergrund“
Die Existenz eines „Nationalsozialistischen Untergrundes“ war allen Beobachtern der rechtsextremistischen Szene verborgen geblieben, vor allem deshalb, weil die Täter ihr Anliegen nicht zu erkennen gegeben und keine Spuren auf Urheber in diesem Milieu hingewiesen hatten. Auf diese Terrorgruppe, die aus mindestens drei Personen – Uwe Böhnhardt (Jahrgang 1977), Uwe Mundlos (Jahrgang 1973), Beate Zschäpe (Jahrgang 1975) – bestand und zuletzt in Zwickau gelebt hatte, entfallen zehn Morde zwischen 2000 und 2007, 14 Banküberfälle und ein Nagelbombenattentat in einem mehrheitlich von Einwanderern bewohnten Viertel von Köln. Die Täter verübten die Morde an acht
20 Vgl. Ulrich Chaussy, Oktoberfest. Ein Attentat, Darmstadt/Neuwied; Hoffmann selber behauptet, der Anschlag gehe auf deutsche und israelische Geheimdienstaktivitäten zurück. So Karl-Heinz Hoffmann, Die Oktoberfest-Legende. Gezielte Verdächtigungen als politisches Kampfmittel im „demokratischen Rechtsstaat“, Riesa 2011. Kritisch dazu Ulrich Chaussy, Hoffmanns Erzählungen, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 24, Baden-Baden 2012, S. 325–330. 21 Vgl. Armin Pfahl-Traughber (Anm. 13), S. 63.
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türkischen Kleinhändlern, einem griechischen Kleinunternehmer und an einer deutschen Polizistin – im letzten Fall wohl deshalb, um in den Besitz ihrer Dienstwaffe zu gelangen. Nach dem letzten Banküberfall, bei dem die beiden Terroristen – Zschäpe scheint mehr Helfershelferin und Mitwisserin gewesen zu sein – in ihrem Wohnwagen ausfindig gemacht werden konnten, erschossen sich diese selbst. Beate Zschäpe zündete die gemeinsame Zwickauer Wohnung an (wollte sie Beweismaterial vernichten?) und stellte sich nach einer Odyssee von vier Tagen den Behörden. Seither verweigert sie, die die Morde, soweit bekannt, wohl nicht ausgeführt, von ihnen aber gewusst hat, jede Auskunft zur Sache. Die von ihr verschickten Videobotschaften („Taten statt Worte“) aus einem „Paulchen Panther“-Zeichentrickfilm sind in ihrem Zynismus kaum zu überbieten. Die Mörder zeigen Bilder ihrer Opfer und kommentieren dies süffisant. Aus dem Video spricht „Größenwahn und Eiseskälte“.22 Die Wirklichkeit hatte die schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Jetzt geht es um die Frage: Handelt es sich um ein größeres „Netzwerk“, wie die Täter behaupten, oder um eine streng von der Außenwelt abgeschottete kleine Gruppe, was die Tatausführung betrifft? Für die letzte Annahme scheint einiges zu sprechen. Exakte Einordnungen sind freilich erst nach Abschluss der kriminalistischen Ermittlungen möglich. So manches bedarf der Klärung. Beispielsweise ist kaum fassbar, dass eine solche Kleingruppe über ein Jahrzehnt lang aus dem Untergrund operieren konnte. Und: Auf der einen Seite werden nach dem „Auffliegen“ der Gruppe Brände gelegt, auf der anderen Seite Videos mit der Post verschickt. Die Gruppe, personell aus dem rechtsextremistischen „Thüringer Heimatschutz“ hervorgegangen, hatte sich ihrer bevorstehenden Festnahme (wegen des Besitzes von Sprengstoff ) entzogen und war dann – bereits 1998 – „abgetaucht“. Den Morden aus dem Untergrund folgten keine Selbstbezichtigungsschreiben. Da offenbar niemand die Richtung der Urheberschaft geahnt hatte, war diese nicht „selbsterklärend“, wie das bei manchen Anschlägen – etwa auf jüdische Einrichtungen – der Fall (gewesen) ist. Was die Mordserie der Thüringer Rechtsextremisten betrifft, so muss oberstes Gebot sein: Aufklärung. Nichts darf vertuscht werden: nicht die Hintergründe der mörderischen Machenschaften, nicht Fehler des Verfassungsschutzes, nicht Versäumnisse der Polizei. Vor allem ist es unerlässlich, den Aktivitäten (oder: den Nicht-Aktivitäten) des Verfassungsschutzes nachzugehen. Dies sollte auch im Interesse des geheimen Inlandsnachrichtendienstes sein. Wie ist es erklärbar, dass eine Gruppe wie der NSU 13 Jahre unbehelligt ihr Unwesen treiben konnte? Der Bundestag hat zur Klärung ebenso einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, wie dies die Landtage von Sachsen und Thüringen getan haben. Erst wenn die Defizite geklärt sind, ist ein sachkundiges Urteil und eine angemessene Therapie möglich. Vorverurteilungen verbieten sich. Zugleich darf durch die rechtsterroristischen Morde der antiextremistische Konsens nicht aufgehoben werden. Die Linke hatte dem Entschließungsantrag des Deutschen 22 Guntram Knecht, 15 Minuten Größenwahn, in: Die Zeit v. 24. November 2011, S. 9.
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Bundestages vom 22. November 2011 anlässlich der Mordserie zugestimmt und zugleich – eine Woche später – ein „5-Punkte-Programm zur Aufklärung des Versagens von Sicherheitsbehörden und Politik im Kampf gegen Rechtsextremismus“ nachgeschoben. Der letzte Punkt unter der Überschrift „Neue Strukturen im Kampf gegen Rechtsextremismus“ lautet wie folgt: „Die Programme gegen Rechtsextremismus müssen aufgestockt, dauerhaft abgesichert und zivilgesellschaftlich verankert werden. Zudem muss die unsinnige und schädliche Extremismusklausel sofort gestrichen werden. Mittel- und langfristig müssen die gesellschaftlichen und politischen Ursachen für das Entstehen von Rassismus ins Zentrum der Analyse und Politik gerückt werden.“23 Die „Extremismusklausel“ bzw. „Demokratieerklärung“ hält fest, dass die Empfänger von öffentlichen Mitteln gegen Extremismus sowie ihre Partner sich zum Grundgesetz zu bekennen haben – nicht mehr, nicht weniger. „Die hinter diesem ‚5-Punkte-Programm‘ stehende politische Stoßrichtung ist unübersehbar: In der Annahme, die öffentliche und veröffentlichte Meinung und somit die Mehrheitsgesellschaft bei ihrer Art der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus hinter sich zu haben, nimmt sie [die Linke] den Schock über die Verbrechen des NSU zum Anlass, um die antiextremistische Ausrichtung des Grundgesetzes in eine antifaschistische zu kehren und sich als der wahre Hüter des Grundgesetzes zu gerieren.“24 Jeder Antiextremist ist „Antifaschist“, aber nicht jeder „Antifaschist“ Antiextremist. In der Tat muss bei allem Entsetzen über die Morde der NSU daran erinnert werden, dass den demokratischen Staat nicht nur Rechtsextremisten in Frage stellen, sondern auch Linksextremisten und Fundamentalisten. Diese Binsenweisheit kommt öffentlich immer weniger zur Sprache. Die vergleichende Extremismusforschung ist nicht en vogue.25
5.
„Braune Armee Fraktion“? Neuer Rechtsterrorismus?
Ist deswegen die Parallele zur „Roten Armee Fraktion“ berechtigt, die etwa der „Spiegel“ gleich nach Bekanntwerden der Taten mit seiner Titelgeschichte „Die Braune Armee Fraktion“26 suggeriert? Wohl kaum! Das gilt für die Ideologie, die Organisation und die Strategie gleichermaßen. Die RAF sagte dem Staat den Kampf an, forderte ihn offen heraus, verfasste ellenlange Pamphlete und Traktate. Sie konnte sich auf eine beträchtliche Anzahl von Helfershelfern wie Sympathisanten stützen und setzte den Kampf gegen das „Schweinesystem“ aus dem Gefängnis fort (etwa mit Kassibern). Das ist bei 23 Die Linke, 5-Punkte-Programm der Fraktion DIE LINKE zur Aufklärung des Versagens von Sicherheitsbehörden und Politik im Kampf gegen Rechtsextremismus. Beschluss der Fraktion DIE LINKE im Bundestag vom 29. November 2011. 24 Udo Baron, Die Linke und der Rechtsterrorismus, in: MUT, Heft 4/2012, S. 61. 25 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005. 26 „Die Braune Armee Fraktion“. Die unheimlichen Bekenntnisse einer rechtsradikalen Terrorgruppe, in: Der Spiegel v. 14. November 2011, S. 66–75.
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dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ augenscheinlich alles nicht der Fall – trotz einiger Verhaftungen im „Milieu“. Es gibt über zehn Beschuldigte. Alexander Straßner hatte bei seiner Analyse der „dritten Generation“ der „Roten Armee Fraktion“ u. a. mit Blick auf Entideologisierung, Isolierung und technische Perfektionierung herausgearbeitet, hier sei das politische Element im Vergleich zur ersten oder zweiten RAF-Generation weniger klar zum Vorschein gekommen.27 „Die RAF der achtziger und neunziger Jahre tauschte ihren vermeintlichen Befreiungskampf gegen die pure Bereitschaft zum Töten.“28 Diese „pure Bereitschaft zum Töten“ trifft ebenso auf den NSU zu. Die Ideologie ist bis auf ein paar Schlagworte kaum auszumachen. Insofern gibt es wenigstens zur dritten RAF-Generation einige kleinere Analogien. Wer das „Paulchen Panther“-Video sieht, muss zum Schluss kommen: Der Zynismus zielt nicht darauf, bei möglichen Sympathisanten „klammheimliche Freude“ hervorzurufen. Unter kommunikativen Aspekten ist das Erscheinungsbild des NSU verheerend. Erst gibt die Gruppe ihre Motivation nicht zu erkennen, so dass kein Außenstehender von der Existenz einer solchen weiß. Dann, nach dem Ende, verschickt sie ein Video, das keine Rechtfertigung bietet, sondern nur Hohn und Spott. Allerdings ist unser Wissen über den NSU nach wie vor gering – fünf Monate nach Bekanntwerden der Mordserie. Hingegen ist die Frage zu bejahen, ob es sich um eine neue Form des Rechtsterrorismus handelt.29 Dass eine Gruppe 13 Jahre unerkannt im Untergrund lebt, gezielt Morde begeht, keine Selbstbezichtigungsschreiben verfasst, das stellt eine erschütternde Einmaligkeit dar. Und vorsätzliches Töten von Angesicht zu Angesicht gab es bisher nicht – jedenfalls nicht durch eine Gruppe. Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ermordeten ihre Opfer in einer Weise, die dem Rechtsextremismus jeder Couleur einen unermesslichen Schaden zugefügt hat. Menschen mussten nur deshalb sterben, weil sie „Fremde“ waren. Gleichwohl dürfte die folgende These übers Ziel hinausschießen: „Die NSU-Morde sind unser 11. September.“30 In diesem Sinne äußerte sich Generalbundesanwalt Range. Das mag zutreffen mit Blick auf die Arbeit der Bundesanwaltschaft, aber nicht mit Blick auf die politischen Folgen. Solche Vergleiche aus dem Munde der obersten Strafverfolgungsbehörde auf dem Gebiet des Staatsschutzes irren und irritieren. Sie irren, weil sie die Proportionen nicht wahren. Und sie irritieren, weil der Eindruck entsteht, als sei die zweite deutsche Demokratie in ihren Grundfesten erschüttert.
27 Vgl. Alexander Straßner, Die dritte Generation der „Roten Armee Generation“. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden 2003. 28 So ders., Die dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ zwischen „Phantom“ und Surrogat, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13, Baden-Baden 2001, S. 71. 29 Vgl. dazu Armin Pfahl-Traughber, Die Besonderheiten des „neuen“ Rechtsterrorismus. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ in vergleichender Perspektive, in: Gerhard Hirscher/Eckhard Jesse (Hrsg.), Extremismus in Deutschland. Schwerpunkte, Perspektiven, Vergleiche, Baden-Baden 2013, S. 113–129. 30 „Die NSU-Morde sind unser 11. September“. Generalbundesanwalt Range will mehr Macht. Gespräch mit Eckart Lohse und Markus Wehner, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 25. März 2012, S. 5.
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Mitte und Extremismus – eine Kritik an den „Mitte“-Studien einer Leipziger Forschergruppe Eine Leipziger Forschergruppe um Elmar Brähler und Oliver Decker publiziert seit 2002 über „Rechtsextremismus“ und „Mitte“ Studien, die empirisch auf wackligen Füßen stehen, da es manchen – suggestiv formulierten – Items an Trennschärfe gebricht. Die Analyse rechtsextremistischer Einstellungspotentiale leidet darunter. Seymour M. Lipsets Ansatz vom „Extremismus der Mitte“, der sich auf die soziale Schicht bezieht, vereinnahmen die Autoren für eine Kritik an der „Mitte der Gesellschaft“. Ihre Schelte der Extremismusforschung baut einen Popanz auf. Verteidigt diese tatsächlich die „Mitte“? Und: Messen die Studien zu rechtsextremistischen Einstellungspotentialen wirklich das, was gemessen werden soll?
1.
Einführende Überlegungen
„,Rechtsextremismus der Mitte – Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose‘ – unser Titel zitiert die einflussreiche Formulierung Seymour Lipsets vom ,Extremismus der Mitte‘. Diese zunächst paradox anmutende Verbindung zweier Begriffe bringt einen Widerspruch in der Sache selbst zum Vorschein: Das gesellschaftliche Zentrum kann zur Bedrohung der bestehenden Gesellschaftsordnung werden. Weil diese Formulierung lieb gewordene Irrtümer erschüttert, provoziert sie noch heute. Die gesellschaftliche Mitte ist nicht davor geschützt, selbst zur Bedrohung der demokratisch gefassten Gesellschaft zu werden. Die Demokratie ist kein Sockel, der, einmal errichtet, auf immer stabil bleibt.“1 Mit diesen Sätzen beginnt die neueste – übergreifende – Studie von Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler zum „Rechtsextremismus der Mitte“. Der nachfolgende Beitrag will klären, ob die Berufung auf den vor wenigen Jahren verstorbenen amerikanischen Soziologen berechtigt ist, wenn vor der aus der gesellschaftlichen Mitte hervorgehenden Gefahr für die Demokratie gewarnt wird. Insofern ist es notwendig, dessen oft missverstandene Position zu referieren und gegebenenfalls zu kritisieren. Bevor ein Blick auf die beeindruckende Fülle der „Mitte“-Einstellungsstudien unter der Ägide der Sozialpsychologen Elmar Brähler und Oliver Decker geworfen wird, erscheint es angezeigt, in einem Tour d’horizon rechtsextremistisches Verhalten in der Bundesrepublik zu erfassen. Wie ist dessen Schwäche im Vergleich zu der ermittelten Stärke in Einstellungsstudien, wie sie nicht nur die Leipziger Forschungsgruppe vorlegt, angemessen zu erklären? Anschließend wird die Vielzahl der von ihr erarbeiteten „Mitte“-Studien präsentiert, ehe danach das letzte Werk zum rechtsextremistischen Einstellungspotential eine exemplarische Kritik erfährt.
1
Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose, Gießen 2013, S. 7.
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Der Beitrag konzentriert sich bewusst auf die „Mitte“-Studien der Leipziger, klammert andere Konzepte wie das von der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ Wilhelm Heitmeyers aus, dessen „Deutsche Zustände“ bereits in zehnter Folge vorliegen.2 Die Wendung von der „Mitte“ und dem „Extremismus“ ist in aller Munde.3 Sie hat an Eigendynamik gewonnen.4 Bei vielen Themen wurden (Rechts-)Extremismus und Mitte in einen engen Zusammenhang gebracht: bei intellektuellen Diskursen (etwa der Bubis-Walser-Debatte), bei einer Einigung der staatstragenden Parteien in einer zentralen Frage Anfang der neunziger Jahre (Asylkompromiss), bei der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Renaissance „neu-rechter“ Ideen, bei den fremdenfeindlichen Ausschreitungen (in der ersten Hälfte der neunziger Jahre), bei Wahlerfolgen rechtspopulistischer bzw. -extremistischer Parteien Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre.5 Offenkundig verliert dadurch die ohnehin diffuse Kategorie der Mitte weiter an Trennschärfe. Sogar der jüngste sächsische Verfassungsschutzbericht greift dieses Thema auf. So heißt es in einem der Unterkapitel: „Extremisten zwischen Mitte der Gesellschaft und Gegenkultur“.6 In ihm wird – gesondert für Rechtsextremismus, Linksextremismus und Salafismus – ausführlich gezeigt, wie alle Couleurs sich darum bemühen, in die gesellschaftliche Mitte einzudringen, „tragfähige und dauerhafte Brücken dorthin zu schlagen, um ihren weltanschaulichen Positionen Normalität zu verteilen und ihre politischen Ziele schließlich dort wünschenswert zu machen“.7 Das darf nicht verwundern, denn es versteht sich, dass extremistische Kräfte ebenso wie demokratische Kräfte bemüht sind, in der „Mitte der Gesellschaft“ Anerkennung zu finden. Beim Rechtsextremismus, der im Vordergrund steht, geht es zum einen um die NPD, zum anderen um die subkulturelle Szene. Das Konzept des von Holger Apfel beschriebenen „sächsischen Weges“ bestehe darin, die NPD „in der Mitte des Volkes“, so die Terminologie der Partei, fest zu etablieren. Die Partei strebe daher eine kommunale Verwurzelung an. Um hier Erfolg zu haben, müsse sie im vorpolitischen Raum vorankommen. „Im Rahmen der Kampagnen rücken Rechtsextremisten Aussagen in
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Vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 1 bis Folge 10, Frankfurt a. M./Berlin 2002–2012. Vgl. etwa – auch im Blick auf den „Extremismus der Mitte“ – Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland und Europa. Rechts außen – Rechts ,Mitte‘?, Baden-Baden 2011. Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Extremismus der Mitte? – Kritik an einem modischen Schlagwort, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 7, Baden-Baden 2005, S. 13–26. Vgl. zu einigen dieser Themen zahlreiche Beiträge in dem Band Hans-Martin Lohmann (Hrsg.), Extremismus der Mitte. Vom rechten Verständnis deutscher Nation, Frankfurt a. M. 1994. Vgl. Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2012, hrsg. vom Sächsischen Staatsministerium des Innern und Landesamt für Verfassungsschutz, Dresden 2013, S. 213–231. Ebd., S. 213.
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den Vordergrund, die in der Mitte der Gesellschaft anschlussfähig sein sollen“8 – etwa beim Kampf gegen Islamisierung und Asylmissbrauch. Die Aktivität in Sportverbänden begünstige einen Brückenschlag in die gesellschaftliche Mitte. Rechtsextremisten innerhalb der subkulturellen Szene dagegen verzichteten – z. B. mit aggressiven Songs – auf diesen Brückenschlag. „Auf die Mitte der Gesellschaft beziehen sich diese Facetten des Rechtsextremismus nur mit Verachtung und nur mit dem Angebot, diese zu verlassen, um sich ihnen anzuschließen.“9 Diese subkulturelle Szene mit ihrer „Parallelwelt“ übt gewisse Anziehungskraft aus. „Das Original scheint aktuell attraktiver zu sein als die Mimikry.“10 Beim Linksextremismus wird gezeigt, dass der „Antifaschismus“, der gesellschaftlich weithin akzeptiert ist, sich bestens als Mittel zum Zweck eigne. So heißt es bei Autonomen: „Wenn wir heute zusammen mit vielen Menschen Nazis zurückdrängen, haben wir klassenkämpferische Linke mehr Raum, um unsere revolutionäre Organisierung voranzutreiben. Wir müssen nach wie vor das Ziel vor Augen haben, die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden.“11 Zu Recht lautet die Analyse des Verfassungsschutzes, bei dieser Strategie seien Erfolge zu verzeichnen – etwa bei den Aktionen gegen Rechtsextremismus am 13. Februar anlässlich der Bombardierung Dresdens. „Das eröffnet ihnen schließlich die Möglichkeit, ihren extremistischen Positionen Normalität zu verleihen und ihre politischen Ziele dort salonfähig zu machen.“12 Der Verfassungsschutz macht darauf aufmerksam, den Bemühungen der geächteten NPD in der Mitte seien kaum Erfolge beschieden. Dagegen seien die Rahmenbedingungen für Linksextremisten günstiger. Etwas sibyllinisch heißt es: „Ohne Frage ist eine breite Front gegen Rechtsextremismus notwendig. Die Gefahr solcher Bündnisse besteht aber darin, dass Linksextremisten nicht nur ein Bestandteil innerhalb der gesellschaftlichen Mitte werden, sondern auch linksextremistische Positionen darin Eingang finden und die Grenzlinie zwischen Demokraten und Extremisten zunehmend aufweicht.“13 Diese Informationen halten sich von Alarmismus und Verharmlosung gleichermaßen frei. Das Thema ist dem sächsischen Verfassungsschutz offenkundig ein besonderes Anliegen. So ist 2013 ein in Kooperation mit dem Innenministerium Brandenburgs einschlägiger Tagungsband veröffentlicht worden.14
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Ebd., S. 216. Ebd., S. 223. Ebd., S. 224. Zitiert nach ebd., S. 225. Ebd., S. 227. Ebd., S. 230. Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen in Kooperation mit dem Ministerium des Innern des Landes Brandenburg (Hrsg.), Rechtsextremismus zwischen „Mitte der Gesellschaft“ und Gegenkultur, Dresden 2013.
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2.
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Seymour Martin Lipsets „Extremismus der Mitte“
Kaum ein Begriff ist so oft missverständlich rezipiert worden wie der von Seymour Martin Lipset geprägte „Extremismus der Mitte“. Als der Beitrag 1959 unter dem wenig originellen Titel „Der ,Faschismus‘, die Linke, die Rechte und die Mitte“ erschien15, war wegen der Verschlungenheit der Argumentation und des zum Teil essayistischen Charakters zunächst nicht damit zu rechnen, die Wendung vom „Extremismus der Mitte“ könnte eine derartige Eigendynamik gewinnen. Die Kernthese des Aufsatzes lautet, in jeder sozialen Schicht seien neben demokratischen Positionen auch extremistische beheimatet. „Die extremistischen Bewegungen der Linken, der Rechten und der Mitte (Kommunismus und Peronismus, traditioneller Autoritarismus und Faschismus) wurzeln der Reihe nach in der Arbeiter-, der Oberund der Mittelklasse.“16 Es ist die Absicht des Autors, sich auf die Politik der Mitte zu konzentrieren. Lipset sieht einen engen Zusammenhang zwischen der Ideologie und der sozialen Schicht. Die demokratische Variante der Mittelklasse sei der Liberalismus, der „Extremismus der Mitte“17 der Faschismus. Die meisten Anhänger des Linksextremismus hingegen seien Kommunisten, die sich als soziale Basis auf die Arbeiterschaft stützten, die Befürworter des Rechtsextremismus wiederum stammten aus der Oberschicht („Thron und Altar“), die sich gegen eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse sträube. Der Faschismus stelle die „Bewegung der Mittelklasse“ dar, die sich „sowohl gegen den Kapitalismus als auch gegen den Sozialismus, gegen die Großindustrie und gegen die großen Gewerkschaften“18 richte. Hitler, „ein Extremist der Mitte“19, sei besonders von der von sozialen Ängsten heimgesuchten Mittelklasse unterstützt worden. Lipset versucht zu beweisen, dass der „Extremismus der Mittelklasse [sich] in Ländern beobachten [lässt], die sowohl durch Hochkapitalismus als auch starke Arbeiterbewegungen gekennzeichnet sind“.20 Dazu bedient er sich verschiedener Ländervergleiche. Seine Kernthese, die in der Tat nicht neu ist, wenn man die zeitgenössische Literatur heranzieht21, läuft unter Berufung auf wahlsoziologische Studien auf die These hinaus: Die NSDAP konnte vor allem von jenen Wählern der Mittelklasse profitieren, die
15 Vgl. Seymour M. Lipset, Der „Faschismus“, die Linke, die Rechte und die Mitte, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1959), S. 401–444. Der Text findet sich auch in dem Werk: Ders., Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962, S. 131–189 („Faschismus“ – rechts, links und in der Mitte). Dieses Buch ist eine geraffte Übersetzung des amerikanischen Originals. Im Folgenden wird der Aufsatz Lipsets zitiert nach dem Wiederabdruck in der Anthologie von Ernst Nolte (Hrsg.), Theorien über den Faschismus, 2. Aufl., Köln 1970, S. 449–491. 16 Ebd., S. 449. 17 Ebd., S. 459. 18 Ebd., S. 452. 19 Ebd., S. 456. 20 Ebd., S. 454 f. 21 Vgl. etwa Theodor Geiger, Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit 7 (1930), S. 637–654.
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zuvor für die liberalen Parteien votierten. „Im Jahre 1932 war der idealtypische Wähler der nationalsozialistischen Partei ein selbständiger protestantischer Angehöriger der Mittelklasse, der entweder auf einem Hof oder in einer kleinen Ortschaft lebte und der früher für eine Partei der politischen Mitte oder eine regionale Partei gestimmt hatte, die sich der Macht und dem Einfluss von Großindustrie und Gewerkschaften widersetzte.“22 Lipset fügt freilich hinzu, die Partei habe auch bei anderen Gruppen Erfolg gehabt (so bei Arbeitslosen). Der Autor überträgt seine Ergebnisse (teils mit Einschränkungen) auf Österreich, Frankreich (der Poujadismus firmiert im Gegensatz zum Gaullismus als eine Bewegung der Mittelkasse mit populistischem Impetus), Italien und die USA (McCarthyismus). Etwas aus dem Rahmen fällt die Untersuchung zum Peronismus in Argentinien. Dieser gilt aufgrund der massiven Unterstützung durch die Unterschichten als ein „Faschismus der Linken“.23 Lipset begründet seine Analyse, die in einer „dreifachen Unterscheidung“ der Extremismen mündet, abschließend wie folgt: „Wenn wir die parlamentarische Demokratie bewahren und ausweiten wollen, müssen wir wissen, von welcher Seite sie bedroht wird; und die Bedrohung durch die Konservativen ist anders als die Bedrohung durch die Mittelklasse oder durch den Kommunismus.“24 So berechtigt ein solches Ansinnen, so originell Lipsets freilich nicht sonderlich systematische Vorgehensweise sein mag, ist dennoch Kritik angebracht. Das fängt bereits bei der Terminologie an. Der Begriff des „Faschismus“ wird auf alle drei Extremismen angewendet. Schließlich ist der Ansatz stark von klassentheoretischen Prämissen geprägt, als neige eine bestimmte soziale Schicht in ihrer Gesamtheit einer bestimmten politischen Richtung zu. Das ist empirisch kaum haltbar.25 Nach Jürgen W. Falters fundierten Untersuchungen lässt sich die Wählerschaft des Nationalsozialismus keineswegs pauschal als eine Bewegung der Mittelklasse klassifizieren. Sie „war von der sozialen Zusammensetzung ihrer Wähler her am ehesten eine Volkspartei des Protestes oder, wie man es wegen des nach wie vor überdurchschnittlichen, aber eben nicht erdrückenden Mittelschichtanteils unter ihren Wählern in Anspielung auf die daraus resultierende statistische Verteilungskurve formulieren könnte, eine ‚Volkspartei mit Mittelstandsbauch‘“.26 Lipsets Ansatz leidet zudem an seiner Fixierung auf den Extremismus der Mittelklasse. Bereits die Zuordnung des Peronismus unter Linksextremismus macht die
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Seymour M. Lipset (Anm. 15), S. 463. Ebd., S. 481. Ebd., S. 482. Vgl. etwa die noch vorsichtige Kritik bei Heinrich August Winkler, Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 175–191. 26 So Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1993, S. 371 f.; sinngemäß ebenso S. 289. Der Begriff „Volkspartei“ für die NSDAP ist freilich nur auf die sozialstrukturelle Komponente anwendbar, ist mit ihm doch nach gängiger Lesart auch die Bejahung des demokratischen Verfassungsstaates verbunden.
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mangelnde Trennschärfe seines Konzepts deutlich; und die Konturen für die demokratische Variante der Oberschicht bleiben vage. Die eine Behauptung, in allen sozialen Schichten gebe es demokratische und antidemokratische Richtungen, ist im Grunde eine Banalität, die andere Behauptung, eine soziale Schicht präge eine spezifische Form des Extremismus aus, empirisch wenig tragfähig. Allerdings neigten bestimmte Schichten zu unterschiedlichen Zeiten zu unterschiedlichen Formen des Extremismus. So wählten Arbeitslose in der Weimarer Republik überproportional stark die Kommunisten.27 Lipsets Position ist so ausführlich referiert worden, um den Beweis dafür anzutreten, dass die These vom „Extremismus der Mitte“ sich berechtigterweise nur dann auf den amerikanischen Soziologen berufen darf, wenn sich „Mitte“ ausschließlich auf die soziale Schicht (Mittelstand, Mittelklasse) bezieht. Aber eben dieser Topos ist oft nicht gemeint. Er zielt – höchst unklar – auf eine begrifflich diffus bleibende Mitte der Gesellschaft, also losgelöst von der sozialen Schichtung. Lipsets Studie gibt ungeachtet mancher unklarer Formulierungen wenig Anlass zu diesem Missverständnis. Nicht selten dient die Vokabel vom „Extremismus der Mitte“ schlicht zur Delegitimierung der politischen Mitte bzw. sogar zur Delegitimierung des demokratischen Verfassungsstaates.28 In den „Mitte“-Studien nehmen die Autoren gleichfalls auf Lipset Bezug, freilich nicht immer in angemessener Weise. Das gilt für die Konzeption Lipsets wie für seine Kritiker. Mit Lipset lehnen die Autoren der „Mitte“-Studien den Satz ab: „Gemäß dieser Auffassung neigen die Extremisten [...] zur Diktatur, während die Gemäßigten in der Mitte die Demokratie verteidigen.“29 Hätten die Autoren die nachfolgenden Sätze zitiert, wäre klar geworden, dass Lipset in jeder sozialen Schicht, also auch im Mittelstand, Demokraten und Extremisten sieht. Lipsets spezifische Extremismuskonzeption wird demnach fälschlicherweise für eine Kritik an der Extremismuskonzeption in toto vereinnahmt. So argumentieren die Leipziger Wissenschaftler etwa, Lipsets „Verbindung von ,Mitte‘ und ,Extremismus‘ zielte ins Zentrum der bestehenden Gesellschaft und keinesfalls nur auf den soziologisch zwischen Unter- und Oberschicht angesiedelten sozialen Ort“.30 Aufgrund dieser Fehlinterpretation kann die Studie dann behaupten, Lipset provoziere „noch heute jene, die um den Zusammenhang sehr wohl wissen, aber ihr Klientel entweder aus Neigung oder aus Kalkül mit Ressentiment
27 Vgl. ders., Unemployment and the Radicalisation of the Gennan Electorate 1928–1933. An Aggregate Data Analysis with Special Emphasis on the Rise of National Socialism, in: Peter D. Stachura (Hrsg.), Unemployment and the Great Depression in Weimar Germany, London 1986, S. 187–208. 28 Vgl. etwa Wolf-Dieter Narr, Vom Extremismus der Mitte, in: Politische Vierteljahresschrift 34 (1993), S. 106–113. 29 Zitiert nach Oliver Decker/Marliese Weißmann/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Berlin 2010, S. 43. 30 Ebd., S. 43.
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geladener Rede bedienen wollen.“31 Die wissenschaftliche Kritik mutiert unter der Hand zu einer politischen. „Entwicklungen an den Flügeln des politischen Spektrums (gemessen an der Entfernung politischer Positionen vom Mainstream und vom verfassungspolitischen Grundkonsens) vollziehen sich in einer dynamischen Wechselbeziehung mit den systemprägenden Strömungen und dominierenden sozialen Kräften.“32 Wer dies einräumt, muss deswegen weder die Position der Leipziger Forschergruppe übernehmen noch die anders gelagerte Kritik Lipsets.
3.
Rechtsextremistisches Verhalten
In einer offenen Gesellschaft gibt es mannigfache Formen extremistischen Verhaltens. Wer ein realistisches Menschenbild hat, muss dies hinnehmen. Die Offenheit kann den Extremismus einerseits fördern (etwa weil die Anhänger des demokratischen Verfassungsstaates ihm nicht selbstbewusst entgegentreten oder ihn gar hofieren), ihn aber andererseits zugleich schwächen (etwa weil sie ihm seine Grenzen aufzeigen und klar die verfassungsfeindlichen Positionen zur Sprache bringen, ohne deswegen eine Bunkermentalität an den Tag zu legen). Wie ist es nun um das rechtsextremistische Verhalten in der Bundesrepublik bestellt? Es sollen jeweils drei wesentliche Bereiche aus dem nicht militanten und dem militanten Bereich herangezogen werden. Beabsichtigt ist weniger eine exakte Erfassung der einschlägigen „Szenen“, mehr eine grobe Skizze der Größenordnung über die Jahrzehnte hinweg.33 (1) Wahlerfolge: Weder vor noch nach der deutschen Einheit spielte der parlamentsorientierte Rechtsextremismus eine nennenswerte Rolle. Zwar war der Deutschen Konservativen Partei – Deutschen Rechtspartei mit 1,8 Prozent der Stimmen der Sprung in den ersten Deutschen Bundestag gelungen (die Fünfprozentklausel galt landesweit), doch in der Folge war dies keiner rechtsextremistischen Kraft mehr beschieden. Am knappsten scheiterte die NPD mit 4,3 Prozent bei der Bundestagswahl 1969 an dieser Hürde, nachdem die Partei zuvor sieben Mal in einem Landtag repräsentiert gewesen war (1966 bis 1968). Der radikalisierten NPD gelang im vereinigten Deutschland das beste Bundestagswahlergebnis 2005 mit 1,6 Prozent. Immerhin schaffte sie in zwei ostdeutschen Bundesländern (Sachsen
31 Ebd., S. 42. 32 So Uwe Backes, Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2006, S. 230. 33 Da es im Folgenden nur um eine geraffte Übersicht geht, wird auf detaillierte Belege verzichtet. Der Verweis auf folgende Studien soll genügen: Gideon Botsch, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik 1949 bis heute, Darmstadt 2012; Henrik Steglich, Rechtsaußenparteien in Deutschland. Bedingungen ihres Erfolges und Scheiterns, Göttingen 2010; Gerhard Hirscher/Eckhard Jesse (Hrsg.), Extremismus in Deutschland. Schwerpunkte, Vergleiche, Perspektiven, BadenBaden 2013.
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und Mecklenburg-Vorpommern) den Einzug in die Landesparlamente (2004/2009 sowie 2006/2011). In Thüringen (2009) und Sachsen-Anhalt (2011) scheiterte sie relativ knapp an der Fünfprozenthürde. Auch andere Parteien, wie die Republikaner (sie gelangten 1989 sogar in das Europäische Parlament) und die DVU, schafften dies zeitweilig: die Republikaner zweimal in BadenWürttemberg (1992/1996) und die DVU zweimal in Brandenburg (1999/2004). Das Spitzenresultat für eine rechtsextremistische Partei erhielt die DVU bei den Landtagswahlen 1998 in Sachsen-Anhalt mit 12,9 Prozent der Stimmen. Damit stimmte mehr als jeder Achte für diese Partei. Allerdings erwies sich dieser Erfolg, stark von Protest gegen etablierte Kräfte getragen, als Flugsand. Dies ist charakteristisch für rechtsextremistische Parteien. Insgesamt fallen die Erfolge für den organisierten Rechtsextremismus im Osten Deutschlands besser aus als im Westen. So erreichte die NPD bei den jüngsten Bundestagswahlen 2013 im Osten Deutschlands 2,8 Prozent und im Westen 1,0 Prozent (insgesamt 1,3 Prozent). Die politischen Strukturen sind im Osten weniger gefestigt als im Westen. Die gemäßigtere – islamfeindliche – Pro-Bewegung konnte bisher weder im Osten noch im Westen des Landes bei Wahlen reüssieren. (2) Was die Zahl der Mitglieder betrifft, so ist es um den parteiförmigen Rechtsextremismus nicht gut bestellt. Hatte die NPD auf ihrem Höhepunkt in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre um die 25.000 Mitglieder und die DVU (ebenso wie die Partei der Republikaner) in der ersten Hälfte der neunziger Jahre zeitweise ebenso viele, ist die Zahl der Parteimitglieder mittlerweile stark geschrumpft. Obwohl sich die immer schwächer gewordene DVU nach dem Rückzug Gerhard Freys unter Matthias Faust zum 1. Januar 2011 mit der NPD vereinigt hatte, verlor die NPD weiter an personeller Substanz. Sie hat heute keine 6.000 Mitglieder mehr, ist personell zerstritten, ideologisch, organisatorisch wie strategisch geschwächt und von einem Verbot bedroht. (3) Beim intellektuellen Diskurs ist Rechtsextremisten nicht annähernd der Durchbruch gelungen. Sie konnten so gut wie niemals einen Einfluss auf die Mehrheitskultur gewinnen und verblieben in ihrem abgeschotteten Milieu. Auch die Themen, die sie nach vorne zu rücken suchten, wurden keineswegs „salonfähig“ gemacht oder in einer Weise öffentlich erörtert, die Wasser auf die Mühlen rechtsextremistischer Propaganda trug. Repräsentanten einer sogenannten „Neuen Rechten“ und viele ihrer nicht nur demokratischen Kritiker spielten sich in gewisser Weise die Bälle zu, als sie beide einen starken Einfluss dieser Richtung behaupteten – die einen freuten sich über ihn, die anderen warnten vor ihm. Es handelte sich jedoch weithin um eine Chimäre. (4) Die Zahl der Personen, die in der rechtsextremistischen Szene als militant, als gewaltbereit gelten, ist seit der deutschen Einheit angestiegen. Sie liegt unter 10.000, ist damit höher als in der linksextremistischen Szene. Die Ursachen im Osten sind zum einen in den sozial-ökonomischen Folgen der deutschen Einheit zu suchen, zum anderen wohl auch in den Verhältnissen der wenig weltoffenen ostdeutschen
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Gesellschaft. Freilich bedeutet „gewaltbereit“ nicht notwendigerweise gewalttätig. Die große Bedeutung der Angebotsstrukturen (Präsenz extremistischer Kräfte; Gewaltaffinität bestimmter ideologischer Versatzstücke) ist augenfällig. (5) Die Zahl der jährlichen Gewalttaten mit rechtsextremistisch motiviertem Hintergrund liegt seit einiger Zeit unter 1000 und ist damit etwas niedriger als im linksextremistischen Spektrum. Wenige Jahre nach der deutschen Einheit gab es einen massiven Anstieg solcher Gewaltdelikte, unter denen Körperverletzungen dominierten. Auch hier sticht der Osten hervor, nicht in absoluten Zahlen, wohl aber prozentual. Die häufig unter Alkoholeinfluss begangenen Taten, die sich vor allem gegen „Fremde“ aus anderen Kulturkreisen richten, desgleichen gegen tatsächliche oder vermeintliche Linksextremisten, sind selten geplant. (6) Der Rechtsterrorismus spielte in der Bundesrepublik eher eine marginale Rolle (z. B. Anfang der achtziger Jahre). Durch das Bekanntwerden der gezielten Mordbrennereien eines „Nationalsozialistischen Untergrundes“, der sich nach den Taten nicht zu erkennen gab, ist die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Diese Morde stoßen kaum auf ein Sympathisantenumfeld. Manche Rechtsextremisten versuchen mit Hilfe von Verschwörungstheorien den Organen des Staates die Verantwortung für die Mordserie zuzuschieben. Die Parallelen zwischen einer „Roten Armee Fraktion“ und einer „Braunen Armee Fraktion“ sind wenig schlüssig: wegen der fehlenden Kommunikationsfunktion, der nur schwach ausgeprägten Organisationsstruktur sowie der weitaus weniger ins gesellschaftliche Umfeld reichenden Dimension. Wie dieser kursorische Überblick zeigt, kann schwerlich davon die Rede sein, rechtsextremistische Bestrebungen seien effektiv in die „Mitte der Gesellschaft“ vorgedrungen. Der Rechtsextremismus vermochte nirgendwo seine Salonfähigkeit unter Beweis zu stellen. Vereinzelte „Einbrüche“ dürfen nicht über den folgenden Sachverhalt hinwegtäuschen: Die gesellschaftliche Ablehnung ist stärker denn je. Das gilt für Parteien, Gewerkschaften, Unternehmen, Kirchen und Medien gleichermaßen. Eine „Erosion der Abgrenzung“ (Wolfgang Rudzio) lässt sich eher für die linke Variante des Extremismus als für die rechte konstatieren.34 Wer die Situation des deutschen Rechtsextremismus nach dem Zweiten Weltkrieg in all seinen Varianten mit den Thesen Seymour M. Lipsets abgleicht, kommt zu einem doppelten Ergebnis. Zum einen kann – bei extremistischem Verhalten – keine Rede 34 In den meisten der genannten sechs Bereiche sind linksextremistische Bestrebungen stärker als rechtsextremistische. Vor allem: Die gesellschaftliche Abgrenzung gegenüber linksextremistischen Bestrebungen ist weitaus löchriger als die gegenüber rechtsextremistischen. Siehe etwa die beiden vergleichend angelegten Studien von Lazaros Miliopoulos, Geschichte des Extremismus in Deutschland 1949–1990, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 24, Baden-Baden 2012, S. 42–71; ders., Parteiförmiger und subkultureller Extremismus seit der deutschen Einheit – Symmetrien und Asymmetrien, in: Gerhard Hirscher/Eckhard Jesse (Anm. 33), S. 371–396.
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davon sein, der Rechtsextremismus habe angesichts seiner randständigen Position in der wie immer zu bestimmenden „Mitte“ eine relevante Rolle gespielt. Im Gegenteil: Die „Mehrheitskultur“ ist bis heute durch eine vehemente Ausgrenzung jedweder Form des Rechtsextremismus gekennzeichnet. Dies veranschaulicht etwa der breite gesellschaftliche Konsens zum neuerlichen NPD-Verbotsantrag.35 Zum anderen ist gerade die Mittelschicht wenig anfällig für rechtsextremistische Bestrebungen (gewesen). Am ehesten galt dies noch für die NPD-Erfolge in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und für die Mitgliedschaft in der seinerzeit eher deutschnationalen Partei. Mittlerweile stoßen rechtsextreme Angebote der einschlägigen Parteien vor allem unter formal niedrig gebildeten Männern jüngeren und mittleren Alters auf Resonanz.36 Der militante Rechtsextremismus erfährt umfassende Ablehnung.
4.
Die „Mitte“-Studien der Leipziger Forschergruppe
Die Ergebnisse der ersten beiden Studien der Leipziger Forschergruppe um die Sozialpsychologen Elmar Brähler und Oliver Decker für die Jahre 200237 und 200438 wurden zunächst nur knapp in Aufsatzform vorgelegt. Die dritte Erhebung, gefördert von der Friedrich-Ebert-Stiftung, erschien 2006 als gesonderte Publikation: „Vom Rand zur Mitte“.39 Es folgte 2008 „Bewegung in der Mitte“40, 2010 „Die Mitte in der Krise“41 sowie schließlich 2012 „Die Mitte im Umbruch“.42 Die Kontinuität der Forschungen ist beachtlich43, die Aussagekraft wohl weniger. Das fängt bereits beim Titel an. Stets 35 Selbst seine Gegner stellen den Konsens nicht in Frage. 36 Vgl. etwa Kai Arzheimer, Die Wähler der extremen Rechten 1980–2002, Wiesbaden 2008; ders., Electoral Sociology – Who Votes for the Extreme Right and Why – and when?, in: Uwe Backes/Patrick Moreau (Hrsg.), The Extreme Right in Europe. Current Trends and Perspectives, Göttingen 2012, S. 34–50. 37 Vgl. Oliver Decker/Oskar Niedermayer/Elmar Brähler, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung, in: Zeitschrift für Psychotraumatologie 1 (2003), S. 65–77. 38 Vgl. Oliver Decker/Elmar Brähler, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 42/2005, S. 8–17. 39 Vgl. Oliver Decker/Norman Geißler/Elmar Brähler, Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006. Eine scharfe Kritik an dieser Studie übte: Klaus Schroeder, Expertise zu „Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland“, in: Politische Studien, Themenheft 1/2007, S. 83–119. 40 Vgl. Oliver Decker/Elmar Brähler, Bewegung in der Mitte. Rechtseinstellungen in Deutschland 2008, Berlin 2008. Im gleichen Jahr wurde von der Forschergruppe eine umfassende Studie zu Gruppendiskussionen vorgelegt, die bewusst nicht repräsentativ angelegt war: Oliver Decker/Katharina Rothe/ Marliese Weißmann/Norman Geißler/Elmar Brähler, Ein Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und demokratischer Einstellungen, Berlin 2008. 41 Vgl. Oliver Decker/Marlies Weißmann/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 29). 42 Vgl. Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Berlin 2012. 43 2013 ist eine Studie herausgekommen, die die bisherigen Erhebungen einzubetten versucht. Vgl. dies. (Anm. 1).
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kommt „Mitte“ vor, und der jeweilige Zusatz („Rand“, „Bewegung“, „Krise“, „Umbruch“) ist prinzipiell austauschbar. Die öffentliche Rezeption der Studien ist ebenso ein Politikum wie diese selber. Was den Fragebogen zum Rechtsextremismus betrifft, so übernahm die Forschergruppe das Ergebnis einer „Konsensusgruppe“44 zur Rechtsextremismusdefinition (sechs Dimensionen mit jeweils drei Fragen). Folgendes Begriffsverständnis wurde zugrunde gelegt: „Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen.“45 Diese Definition ist insgesamt schlüssig, und das gilt prinzipiell ebenso für die sechs Dimensionen, die ein rechtsextremistisches Einstellungssyndrom abdecken sollen: Befürwortung einer Rechtsdiktatur; Chauvinismus; Ausländerfeindlichkeit; Antisemitismus; Sozialdarwinismus; Verharmlosung des Nationalsozialismus. Jede der sechs Dimensionen wird durch je drei Items eruiert: – Rechtsdiktatur: „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform.“ – „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.“ – „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“ – Chauvinismus: „Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben.“ – „Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.“ – „Das oberste Ziel der deutschen Politik sollte es sein, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht.“ – Ausländerfeindlichkeit: „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen.“ – „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken.“ – „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.“
44 Ihr gehörten an: Elmar Brähler (Leipzig), Michael Edinger (Jena), Jürgen W. Falter (Mainz), Andreas Hallermann (Jena), Joachim Kreis (Berlin), Oskar Niedermayer (Berlin), Karl Schmitt (Jena), Siegfried Schumann (Mainz), Richard Stöss (Berlin), Bettina Westle (Erlangen), Jürgen Winkler (Mainz). Vgl. Oliver Decker/Elmar Brähler (Anm. 38), S. 20, Anm. 1. Siehe ausführlich dazu die Tagungsberichte der beiden „Expertenkonferenzen“ 2001 und 2004 zur „Ausarbeitung einer Empfehlung für die Messung von rechtsextremer Einstellung in Deutschland“ bei Joachim Kreis, Zur Messung von rechtsextremer Einstellung: Probleme und Kontroversen am Beispiel zweier Studien, Berlin 2007, S. 9–16, 17–25. 45 Vgl. beispielsweise Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 1), S. 199.
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Extremismus und Demokratie
– Antisemitismus: „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß.“ – „Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen.“ – „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns.“ – Sozialdarwinismus: „Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen.“ – „Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen.“ – „Es gibt wertvolles und unwertes Leben.“ – Verharmlosung des Nationalsozialismus: „Ohne Judenvernichtung würde man Hitler heute als großen Staatsmann ansehen.“ – „Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind in der Geschichtsschreibung weit übertrieben worden.“ – „Der Nationalsozialismus hatte auch seine gute Seiten.“46 Und hier steckt der Teufel im Detail: Obwohl diese 18 Items auf einer „Konsensuskonferenz“ basieren, besteht keineswegs Konsens darüber, dass sie tatsächlich das messen, was sie zu messen vorgeben: rechtsextremistische Einstellungsmuster. So steht die Validität keineswegs aller Items außer Zweifel. Der Satz „Wir sollten endlich Mut zu einem starken Nationalgefühl haben“ ist schwerlich generell im Sinne von Chauvinismus zu deuten. Das starke Nationalgefühl, das ja nicht per se Nationalismus ist, muss in keinem Gegensatz zu einer toleranten demokratischen Grundhaltung stehen. Und wer der Auffassung überwiegend zustimmt, die Bundesrepublik sei „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichem Maß überfremdet“, ist nicht zwangsläufig „ausländerfeindlich“. Die Frage nach der „Überfremdung“ kann unterschiedlich beantwortet werden. Diese Kritik an den Items richtet sich weniger an die Leipziger Forschergruppe, mehr an die Teilnehmer der „Konsensuskonferenz“. Allerdings muss eingeräumt werden: „Härtere“ Formulierungen, die „das Kind beim Namen nennen“, können leicht zu „sozial erwünschten“ Antworten führen. Wie die Tabelle 1 zeigt, liegt das „geschlossene rechtsextreme Weltbild“ nach den Leipziger Erhebungen bei allen Umfragen knapp unter zehn Prozent. War das „geschlossene rechtsextreme Weltbild“ bei den ersten Erhebungen im Westen stärker, so ist es bei den letzten drei im Osten höher. Vor allem bei der letzten Umfrage schnellte es in die Höhe. Es erfuhr eine Steigerung von über 50 Prozent: von 10,5 auf 15,8 Prozent. Die Begründung für diese und andere Schwankungen fällt nicht immer überzeugend aus. So hatte das Ausmaß der Zustimmung zu den Einstellungsmerkmalen des Sozialdarwinismus bei der ostdeutschen Bevölkerung 2004 ein Ausmaß von 9,3 Prozent erreicht, 2008 hingegen nur ein solches von 1,6 Prozent.47 Überspitzt formuliert: Liegt hier tatsächlich ein Wandel vor, oder sind solche Angaben nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind?
46 Zitiert nach ebd., S. 197–212. 47 Vgl. Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 42), S. 52.
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Mitte und Extremismus
Besonders augenfällig sind die Differenzen beim Vergleich zwischen den konfessionell Gebundenen und den Konfessionslosen. Waren Letztgenannte 2010 in allen sechs Dimensionen deutlich weniger rechtsextrem eingestellt als die evangelischen und katholischen Christen48, so ist es 2012 überall umgekehrt. Ein Beispiel: 2010 zeigten nur 3,5 Prozent der Konfessionslosen sozialdarwinistische Einstellungsmerkmale (Protestanten: 3,9 Prozent; Katholiken: 4,3 Prozent), dagegen kehrte sich das Verhältnis 2012 um: Der Anteil der „Sozialdarwinisten“ betrug bei den Konfessionslosen nun 10,9 Prozent (Protestanten: 2,5 Prozent; Katholiken 1,5 Prozent).49 Tabelle 1: Geschlossenes rechtsextremes Weltbild von 2002 bis 2012 (in Prozent) Geschlossenes rechtsextremist. Weltbild Ost West Gesamt
2002
2004
2006
2008
2010
2012
8,10
8,30
6,60
7,90
10,50
15,80
11,30
10,19
9,10
7,50
7,80
7,30
9,70
9,80
8,60
7,60
8,20
9,00
Quelle: Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012, S. 54.
In den „Mitte“-Studien kommen neben der gesellschaftlichen Verteilung rechtsextremer Ansichten im Kapitel „Politik und Leben in Deutschland“ weitere Aspekte zur Sprache, so die Frage nach der Anfälligkeit bestimmter Persönlichkeitstypen für Rechtsextremismus, nach dem Ausmaß an Islamfeindlichkeit, nach der Verbreitung des Antiamerikanismus, nach den politischen Einstellungen von Migranten. Hier gelangen die Autoren bisweilen zu aufschlussreichen Erkenntnissen. Da solche Komplexe weniger die zentrale Frage nach der Rolle der „Mitte“ betreffen, bleiben sie an dieser Stelle jedoch unberücksichtigt. Freilich soll der Hinweis nicht fehlen, dass ein Bezug zu linksextremistischen Einstellungspotentialen überall fehlt. Um nicht missverstanden zu werden: Kritikwürdig ist keineswegs deren Ausblenden, sondern die prinzipielle Leugnung linksextremistischer Einstellungspotentiale.
5.
Exemplarische Kritik an der letzten „Mitte“-Studie 2012
5.1. Kritik an der theoretischen Grundkonzeption „Rechtsextremes Weltbild erreicht Mitte der Gesellschaft“50 – so lautete eine von vielen Überschriften in Zeitungen, als die jüngste Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung „Die Mitte im Umbruch“ im Herbst 2012 herausgekommen war. Solche Untersuchungen 48 Vgl. Oliver Decker/Marliese Weißmann/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 28), S. 88. 49 Vgl. Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 42), S. 47. 50 So Johann Dörrien, Weit verbreitet. Rechtsextremistisches Weltbild erreicht Mitte der Gesellschaft, in: Mitteldeutsche Zeitung v. 14. November 2012.
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Extremismus und Demokratie
stoßen auf eine große Öffentlichkeit. Das galt zumal für diese Studie, bei der jeder sechste Bürger aus den neuen Bundesländern ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild aufwies. Derartige Befunde – ob sie nun stimmen oder nicht – eignen sich zur Skandalisierung. Der Fluchtpunkt der konzeptionellen Überlegungen ist eine Fundamentalkritik am Extremismuskonzept, wie sie weit verbreitet ist und auch in einem Band eines Leipziger „Forums für kritische Rechtsextremismusforschung“ Ausdruck findet, wobei personelle Überschneidungen bestehen.51 Es handelt sich um eine dreifache Kritik, ohne dass die Autoren willens sind, deren Inhalte immer korrekt wiederzugeben. „Erstens birgt der Rechtsextremismusbegriff eine Sprachproblematik. Extremismus verlangt einen Gegenbegriff, zum Beispiel ‚Normalität‘ [...]. Diese Konstruktion hat zur Folge, dass eine Mitte und ihr monopolisiertes Demokratieverständnis [...] idealisiert werden, ohne dieses Demokratieverständnis und diese Mitte selbst zu thematisieren. Die Bedrohung der Demokratie kommt in diesem Sinne also von den ‚Rändern‘ der Gesellschaft her, eben von ‚Extremisten‘. Die ‚Mitte-Studien‘ aber weisen regelmäßig darauf hin, dass dies ein Trugschluss ist: Gefahr droht aus der ‚Mitte‘ selbst, in der rechtsextreme Einstellung, autoritäre Phantasien und mangelndes demokratisches Bewusstsein weit verbreitet sind.“52 Der Gegenbegriff zu Extremismus ist für die normative Extremismusforschung Demokratie (nicht „Normalität“, ein vager Begriff ). Und „Mitte“ wird schon deshalb keineswegs idealisiert, weil dieser schwammige Begriff für die Analyse untauglich ist. Der Vorwurf bedient sich der „Haltet-den-Dieb“-Methode. Die Autoren konstruieren ein idealisiertes Bild von der Mitte – offenkundig deshalb, um der – falsch wiedergegebenen – Extremismusforschung den Garaus zu machen. Die Demokratie wird in der Tat von Extremisten bedroht, nicht von „Extremisten“. Die Autoren bauen bei ihrer Kritik am Extremismusbegriff einen weiteren Popanz auf: „Die Gleichsetzung von rechts und links ist ideologisch geleitet, analytisch irreführend und inhaltlich fragwürdig.“53 Sie berufen sich auf eine vom Berliner Politikwissenschaftler Richard Stöss heute nicht mehr so vertretene Definition: „Rechtsextremismus strebt die Beseitigung der Demokratie, der Sozialismus jedoch die Abschaffung des Kapitalismus an.“54 Im ersten Fall ist von der Demokratie/Extremismus-Dichotomie die Rede, im zweiten von der Kapitalismus/Sozialismus-Dichotomie. Im Übrigen ver-
51 Vgl. Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hrsg.), Ordnung, Macht, Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Wiesbaden 2011. 52 Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 42), S. 16. 53 Ebd., S. 16. 54 Zitiert nach Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik. Entwicklung, Ursachen, Gegenmaßnahmen, Opladen 1989, S. 18. – Diese Position ist stärker entfaltet in dem folgenden Beitrag von Richard Stöss, Einleitung: Struktur und Entwicklung des Parteiensystems der Bundesrepublik. Eine Theorie, in: Ders. (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. 1, Opladen 1983, S. 17–309.
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Mitte und Extremismus
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fechten heute viele Rechtsextremisten vehement antikapitalistische Ziele.55 Die Extremismusforschung operiert nicht mit der Dichotomie „extremistisch versus gesellschaftliche Mitte“, sondern mit der Dichotomie „extremistisch versus demokratisch“. Die Autoren halten es in der jüngsten Studie nicht für sinnvoll, auf gegnerische Positionen zu verweisen. Stattdessen berufen sie sich in diesem Zusammenhang zustimmend auf Gero Neugebauer: Danach verstehen sich die als „linksextrem“ Eingestuften als demokratisch und „akzeptieren zu 94 Prozent das Grundgesetz“56. Aber was besagt die Orientierung am Selbstverständnis? Die NPD-Führung behauptet ebenso, das Grundgesetz zu bejahen. „Außerdem wird die Gleichsetzung von ,rechts‘ und ,links‘ sowie die Konstruktion einer ,Mitte‘ mitunter von rechter Seite instrumentalisiert – ein Jugendprojekt gegen Rechts müsse auch gegen Linksextreme sein – argumentieren nicht nur lokale NPDPolitiker gerne [...]. Und nicht nur im ländlichen Raum und unter konservativen Kommunalpolitikern gelten Protestaktionen gegen rechts als mindestens so gefährlich und zu vermeiden wie marschierende Neonazis selbst.“57 Die Extremismusforschung redet einer Gleichsetzung von „rechts“ und „links“ keineswegs das Wort, und dem Verfasser ist nicht bekannt, dass ausgerechnet die NPD diese „Gleichsetzung“ instrumentalisiert oder gar akzeptiert. „Protestaktionen gegen rechts“ sind allerdings dann zu vermeiden, wenn sie sich über die Strafgesetze hinwegsetzen. Die Autoren wollen den Rechtsextremismusbegriff trotz der als problematisch empfundenen Konnotation „extremistisch“ gleichwohl verwenden. Wenn sie sich dabei auf Lipsets antithetisches Begriffspaar „Extremismus“ und „Pluralismus“ berufen: Wissen sie nicht, dass sie damit just das Konzept der Extremismusforschung übernehmen? „Anstelle der Dichotomie extremistisch vs. gesellschaftliche Mitte (oder der Konstruktion Links-Mitte-Rechts) operieren wir mit der Dichotomie rechtsextrem/antidemokratisch vs. demokratisch.“58 Der Unterschied besteht wohl darin, dass die eine Seite von einem antifaschistischen Konsens ausgeht, die andere Seite von einem antiextremistischen. Diese Differenz sollte offen ausgesprochen und nicht mit dem Hinweis auf eine diffuse Mitte verkleistert werden. Und: Ein antikapitalistischer Duktus durchzieht das Konzept der Leipziger Forschergruppe auf der Suche nach politischer Instrumentalisierung: „Die Krise gehört zur kapitalistischen Gesellschaft wie der Winter zu den Jahreszeiten“. Oder: „Für den Kapitalismus gilt: Nach der Krise ist vor der Krise.“59 Erklärt sich damit wesentlich die Aversion gegen die „Mitte“? Mit dem „Mitte“-Begriff lässt sich der Kreis der potentiell als Rechtsextremisten geltenden Personen enorm
55 Das räumen die Autoren auch ein, paradoxerweise unter Bezugnahme auf Richard Stöss. Vgl. Oliver Decker/Marliese Weißmann/Joahnnes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 29), S. 122–133. 56 Zitiert nach Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 42), S. 17. 57 Ebd., S. 17. 58 Ebd. 59 Zitate nach ebd., S. 18 f.
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ausweiten. Bei dieser Form „alarmistischer Zeitdiagnostik“60 besteht die folgende Gefahr: Das Bild der tatsächlichen Rechtsextremisten wird diffus.
5.2. Kritik an der Empirie und der Deutung Mit Hilfe der Tabelle 2 lässt sich die – tatsächliche oder vermeintliche – Verbreitung rechtsextremistischer Einstellungen einfangen. Vor allem anhand dieser Daten soll der eine oder andere problematische Befund beleuchtet werden. Allerdings kann das bei der Vielzahl der Daten nur in exemplarischer, nicht in systematischer Form geschehen. Tabelle 2: Rechtsextremismusitems (in Prozent) Rechtsextremismus
Lehne Lehne Stimme Stimme Stimme völlig überwie- teils zu, überwie- voll und ab gend ab teils gend zu ganz zu nicht zu
01
Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform.
56,9
20,3
15,8
6,2
0,8
02
Ohne Judenvernichtung würde man Hitler heute als großen Staatsmann ansehen.
51,4
20,2
17,8
8,6
2,0
03
Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.
39,4
20,8
23,7
12,7
3,5
04
Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.
58,8
16,1
15,1
7,6
2,5
05
Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen.
44,8
20,2
20,6
12,0
2,5
06
Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen.
16,8
16,9
30,4
21,7
14,3
07
Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß.
33,1
22,6
24,8
13,9
5,6
08
Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben.
16,1
14,9
29,7
26,0
13,2
09
Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen.
42,2
20,0
19,9
12,6
5,2
10
Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken.
22,8
18,1
27,5
18,4
13,2
60 Uwe Backes, Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft? Paradoxie und triste Banalität eines Gemeinplatzes alarmistischer Zeitdiagnostik, in: Landesamt für Verfassungsschutz (Anm. 14), S. 29– 42.
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Mitte und Extremismus
Rechtsextremismus
Lehne Lehne Stimme Stimme Stimme völlig überwie- teils zu, überwie- voll und ab gend ab teils gend zu ganz zu nicht zu
11
Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind in der Geschichtsschreibung weit übertrieben worden.
53,2
21,4
17,4
6,0
2,0
12
Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.
22,9
16,9
30,5
21,0
8,7
13
Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen.
41,9
21,6
21,1
11,6
3,8
14
Das oberste Ziel der deutschen Politik sollte es sein, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht.
24,6
18,5
29,6
20,6
6,8
15
Es gibt wertvolles und unwertes Leben.
58,2
15,3
16,0
6,9
3,7
16
Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.
19,4
16,2
27,2
22,3
14,9
17
Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns.
39,6
21,6
24,3
10,5
4,0
18
Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten.
49,3
19
21,5
7,3
2,9
Quelle: Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012, S. 29 f.
Für jede der sechs Dimensionen (z. B. Chauvinismus) sind, wie erwähnt, drei Items vorgesehen (z. B. „Das oberste Ziel deutscher Politik sollte es sein, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht“). Hierzu gibt es fünf Antwortoptionen: Lehne völlig ab – lehne überwiegend ab – stimme teils zu, teils nicht zu – stimme überwiegend zu – stimme voll und ganz zu. Die Antworten fielen für das genannte Item so aus: 24,6 Prozent, 18,5 Prozent, 29,6 Prozent, 20,6 Prozent, 6,8 Prozent. 27,4 Prozent stimmen überwiegend oder voll und ganz diesem Item zu (Ost: 32,1 Prozent; West: 26,2 Prozent). Bezogen auf alle drei Items gehören 19,4 Prozent zu den Chauvinisten (im Osten: 23,5 Prozent; im Westen: 18,4 Prozent). Die Autoren interpretieren Chauvinismus als eine „Form übersteigerten Nationalgefühls mit gleichzeitiger Fremdabwertung“, wenngleich die Items weder das eine noch das andere hergeben. Der hohe Anteil der „teils/teils“Antworten signalisiere teilweise eine versteckte bzw. latente Zustimmung zu den Aussagen, die nur wegen der sozialen Unerwünschtheit nicht klar zur Sprache komme. Aber ist der beträchtliche Anteil dieser „teils/teils“Antworten nicht eher ein Ausdruck einer undifferenzierten Antwortvorgabe? Folgerichtig lehnen nur 31,0 Prozent solche Aussagen ab.
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Extremismus und Demokratie
Manchen Items fehlt es an Trennschärfe – Extremisten anderer Couleur können ihnen ebenso zustimmen. Die Aussage „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ dürften auch jene teilen, die voller Verehrung an den Máximo Líder in Kuba oder – ohne Hochgefühl, aber wegen der weggebrochenen Arbeitsplätze wehmütig – an den Generalsekretär des ZK der SED denken. Insofern ist die überproportional hohe Zustimmung im Osten (12,4 Prozent; Westen: 9,5 Prozent) erklärlich, wenngleich der Begriff „Führer“ das Augenmerk auf eine rechte Diktatur lenkt. Erst recht gilt dies für die Antwortvorgabe: „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform“ (Zustimmung im Osten: 11,3 Prozent, Zustimmung im Westen: 5,9 Prozent). Hier könnte Zustimmung ebenfalls von Anhängern des Islamismus oder gänzlich anderen – gleichwohl marginalisierten – Varianten des politischen Extremismus kommen. Schließlich sind einige Items suggestiv bzw. in unzulässiger Absolutheit formuliert. Bei der Aussage „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ überliest mancher Bürger wahrscheinlich „die“ und „nur“, so dass 36,0 Prozent ihr überwiegend oder voll und ganz zustimmen (Ost: 51,9 Prozent; West: 31,4 Prozent). Der sehr hohe Anteil der „teils/teils“-Antworten (immerhin 30,4 Prozent) dürfte wesentlich auf die Absolutheit der Fragestellung zurückzuführen sein.61 Durch alle drei Monita wird das Ausmaß rechtsextremistischer Einstellungsmuster in die Höhe getrieben. Wie kommen die Autoren nun zu dem aufsehenerregenden Ergebnis62, 9,0 Prozent der Deutschen haben „ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild“ (15,8 Prozent der Ost-, 7,3 Prozent der Westdeutschen)? 2006, bei der ersten Studie, war dies umgekehrt: 9,1 Prozent der West- und 6,6 Prozent der Ostdeutschen mussten sich so charakterisieren lassen. Für die Antwortmöglichkeit „lehne ab“ gibt es einen Punkt, für „lehne überwiegend ab“ zwei Punkte, für „teils, teils“ drei, für „stimme überwiegend zu“ vier und für „stimme voll und ganz zu“ fünf. Wer im Schnitt bei den 18 Items mindestens 3,5 Punkte erreicht (bei den Antworten also in der Mitte zwischen „stimme überwiegend zu“ und „teils, teils“ liegt), habe ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild (mindestens 63 Punkte). Dieses Ergebnis ist neben den erwähnten Einwänden aus zwei Gründen unhaltbar: Erstens werden Befragte vorschnell als Personen mit einem geschlossenen rechtsextremistischen Weltbild ermittelt. Wer nämlich bei den drei Teilskalen zu einer der sechs Dimensionen zweimal „voll und ganz“ ankreuzt und einmal „lehne völlig ab“, kommt ebenso auf elf Punkte wie derjenige, der zweimal „überwiegend“ und einmal „teils, teils“ antwortet, oder derjenige, der zweimal „teils, teils“ ankreuzt und einmal „voll und ganz“. In diesen Fällen erzielen solche Personen 66 Punkte. Derartige Daten sprächen 61 Immerhin bei sechs der 18 Items dominierte als Antwort die Mitte-Kategorie (stimme teils zu, stimme teils nicht zu). Und bei drei der 18 Items sind Rechtsextremisten stärker als Nichtextremisten. 62 Allerdings sind solche Daten nicht neu. So löste 1981 eine SINUS-Studie große Aufregung aus. Danach hätten 13 Prozent der Deutschen ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild: Fünf Millionen Deutsche: „Wir sollten wieder einen Führer haben ...“ Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen, Reinbek bei Hamburg 1981.
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allerdings nicht für ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild, sondern allenfalls für ein äußerst inkonsistentes oder gar für „Non-Attitudes“. Offenkundig ist der Schwellenwert viel zu niedrig angesetzt. Angemessener wäre etwa ein solcher von wenigstens 72 Punkten (durchschnittlich 12 Punkte bei einer der sechs Dimensionen).63 Zweitens: Wer ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild zu ermitteln sucht, muss darauf achten, dass ein solches Einstellungssyndrom umfassend abgedeckt wird. Das trifft hier offenkundig nicht zu. Das als alarmierend bezeichnete Ergebnis kommt vor allem durch den hohen Anteil bei der Ausländerfeindlichkeit (24,7 Prozent) und beim Chauvinismus (19,3 Prozent) zustande. Die Zahl der Antisemiten liegt bei 8,7 Prozent, die der Befürworter einer Rechtsdiktatur bei 5,1 Prozent, die der „Sozialdarwinisten“ bei 4,0 Prozent und die der Verharmloser des Nationalsozialismus bei 3,3 Prozent. Offenkundig erfüllt lediglich ein sehr kleiner Teil der Befragten alle sechs oder selbst nur fünf rechtsextremistische Dimensionen. Das spricht dafür, dass die zuvor festgelegten und in dieser Weise operationalisierten Dimensionen doch nicht den gleichen theoretischen Sachverhalt abdecken (mangelnde interne Konsistenz des Indexes). Das Syndrom des geschlossenen rechtsextremistischen Weltbildes hängt also in der Luft. Tabelle 3: Rechtsextreme Einstellungen in Abhängigkeit von der Arbeitslosigkeit 2012 (in Prozent) Nie arbeitslos
Einmal arbeitslos
Mehrmals arbeitslos
bis 30 Jahre
31–60 Jahre
Ab 61 Jahre
bis 30 Jahre
31–60 Jahre
Ab 61 Jahre
bis 30 Jahre
31–60 Jahre
Ab 61 Jahre
Befürwortung Diktatur
2,8
3,1
4,6
1,5
1,7
2,5
10,3
3,3
10,9
Chauvinismus
13,8
20,1
24,0
9,9
13,6
17,7
21,1
19,0
34,8
Ausländerfeindlichkeit
16,2
24,1
30,2
13,6
19,8
30,4
35,9
31,0
43,5
Antisemitismus
5,5
6,8
13,2
1,5
7,4
7,6
13,2
6,0
26,1
Sozialdarwinismus
3,3
4,4
6,4
3,0
1,2
1,3
5,1
3,3
6,5
Verharmlosung des Nationalsozialismus
2,5
2,5
4,6
3,0
0,8
3,8
7,7
2,7
6,5
Geschlossenes rechtsextremes Weltbild (Grenzwert > 63)
6,1
8,2
12,9
4,6
4,1
11,4
16,2
6,6
26,1
Quelle: Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012, S. 67.
63 In der Studie von 2006 ist diese Differenzierung angedeutet. Hier wird unterschieden zwischen einer rechtsextremen Einstellung (63 bis 72 Punkte) und einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild (über 72 Punkte).
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Extremismus und Demokratie
Der kritische Leser spürt die Absicht und ist verstimmt. Das gilt ebenso für das Operieren mit dem „Mitte“-Begriff, den die Autoren als Gefahrenherd hartnäckig ins Zentrum rücken. Die eigenen Erkenntnisse widersprechen dem. Die Mittelschichten, anders als etwa 1932 (darauf fußt das verzerrt wiedergegebene Konzept Lipsets vom „Extremismus der Mitte“), stellen eben nicht die behauptete Gefahr für die Demokratie dar. Rechtsextremistische Potentiale sind dort besonders hoch, wo Bildung niedrig und Arbeitslosigkeit hoch ist, wie die Daten ergeben (vgl. – bezogen auf Arbeitslosigkeit Tabelle 3). Im Vergleich zu den Erwerbstätigen weisen die Arbeitslosen fast überall höhere rechtsextreme Einstellungen auf (mit Ausnahme der Dimension Antisemitismus).64 Tabelle 4: Anteil von Personen mit rechtsextremem Einstellungspotential unter den Parteianhänger/innen in Westdeutschland (in Prozent) CDU/ CSU
SPD
N=425 N=518
FDP
Grüne
Die Linke
Rechte Nicht- Piraten- Unentwähler/ partei schlosinnen sene
N=45
N=192
N=46
N=16
N=203
N=93
N=176
Befürwortung Diktatur
3,3
2,7
0,0
1,0
0,0
37,5
3,9
0,0
0,6
Chauvinismus
18,6
22,0
15,6
6,8
15,2
75,0
14,3
14,0
17,6
Ausländerfeindlichkeit
20,8
24,1
15,6
6,8
19,6
75,0
22,7
22,6
21,6
Antisemitismus
7,5
9,1
2,2
2,6
8,7
68,8
5,9
8,6
4,6
Sozialdarwinismus
2,1
3,3
0,0
1,6
6,5
18,8
3,9
1,1
0,0
Verharmlosung des Nationalsozialismus
2,1
3,3
0,0
1,0
0,0
31,3
3,45
0,0
2,3
Quelle: Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012, S. 44.
Ohne die (wenigen) Anhänger der Rechtsaußenparteien zu berücksichtigen: Wie die Tabellen 4 und 5 ausweisen, ist der Anteil von Personen mit rechtsextremem Einstellungsprofil bei den Wählern der SPD im Osten und im Westen am höchsten, bei denen der Grünen (im Westen) und der Liberalen (im Osten) am niedrigsten. Die der Linken weisen demgegenüber höhere rechtsextremistische Einstellungspotentiale auf. So seien 36,2 Prozent der ostdeutschen Wähler der Linken ausländerfeindlich.65 Nur bei den Sympathisanten der FDP und der „Piraten“ unterstützt kein Einziger eine rechte Diktatur und verharmlost niemand den Nationalsozialismus. Ein Grund dürfte in der 64 Vgl. Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 42), S. 41. 65 Dieser Anteil wird nur von den Anhängern der Grünen im Osten übertroffen. 37,5 Prozent von ihnen sollen ausländerfeindlich sein.
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Mitte und Extremismus
sozialstrukturellen Zusammensetzung der Wählerschaft zu suchen sein. Lipset hat früh auf das autoritäre Syndrom innerhalb der Arbeiterschaft aufmerksam gemacht.66 Allerdings: Die Zahl der Befragten ist so gering, dass eine Aufschlüsselung nicht seriös erscheinen mag. Tabelle 5: Anteil von Personen mit rechtsextremem Einstellungspotential unter den Parteianhänger/innen in Ostdeutschland (in Prozent) CDU/ CSU
SPD
FDP
Grüne
Die Linke
Rechte Nicht- Piraten- Unentwähler/ partei schlosinnen sene
N=111
N=89
N=13
N=32
N=58
N=4
N=66
N=14
N=52
Befürwortung Diktatur
5,4
5,6
0,0
3,1
1,7
75,0
4,6
0,0
3,9
Chauvinismus
22,5
30,3
15,4
37,5
24,1
75,0
20,0
7,1
7,7
Ausländerfeindlichkeit
47,8
48,3
23,0
37,5
36,2
75,0
39,4
21,4
9,6
Antisemitismus
7,3
13,6
8,3
18,8
12,1
0,0
3,1
7,1
5,8
Sozialdarwinismus
5,4
10,1
7,7
9,4
10,3
50,0
1,5
0,0
1,9
Verharmlosung des Nationalsozialismus
1,8
2,3
0,0
6,3
5,2
0,0
1,5
0,0
1,9
Quelle: Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012, S. 45.
Diese Ergebnisse kommen in den „Mitte“-Studien nur knapp zur Sprache, ebenso die Hinweise auf die hohe gesellschaftliche Legitimität der Demokratie als Idee, die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland gemäß der Verfassung und, schwächer, mit der Praxis der hiesigen Demokratie. Der ermittelte Befund ist offenkundig nicht so recht kompatibel mit den ubiquitären Attacken gegen die „Mitte“.
6.
Thesenartige Zusammenfassung der Kritik
An dieser Stelle ließ sich nur ein Teil der Vorbehalte gegenüber den „Mitte“-Studien vorbringen. Im Vordergrund stand eher prinzipielle Kritik; nur in einigen Punkten ging sie stärker ins Detail. Die folgenden, teilweise zugespitzten Thesen gehen über die Einwände gegenüber der Leipziger Forschungsgruppe hinaus. Schließlich stehen diese für eine weitverbreitete Perspektive. Wer das eingangs erwähnte Zitat analysiert, kann 66 Vgl. Seymour M. Lipset, Democracy and Working Class Authoritarianism, in: American Sociological Review 24 (1959), S. 482–501.
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Extremismus und Demokratie
diese Auffassung nicht teilen – sei es, weil sie nicht stimmig ist, sei es, weil sie einen Popanz aufbaut. Schließlich weiß die Extremismusforschung am besten, dass die Demokratie, einmal errichtet, nicht immer stabil bleiben muss. Und es kann sein, dass das „gesellschaftliche Zentrum“ zu einer Bedrohung für die Gesellschaftsordnung wird. Schließlich haben bei den beiden Reichstagswahlen 1932 Nationalsozialisten und Kommunisten eine negative Mehrheit gehabt67: Die Extremisten waren untereinander einig in dem, was sie nicht wollten, aber nicht einig, in dem, was sie wollten. Sie repräsentierten seinerzeit die Mehrheit, in gewisser Weise also die „Mitte“. Nur kann heute davon keine Rede sein. Die Urteilskraft gebietet eine nüchterne Bestandsaufnahme, niemals eine alarmistische. Erstens: Die Analyse extremistischer Einstellungspotentiale ist wichtig, um schon im Vorfeld und rechtzeitig auf Gefahren aufmerksam zu machen. Allerdings fristet die Forschung mit Blick auf linksextremistische und islamistische Dimensionen ein Schattendasein, die zu rechtsextremistischen Einstellungen ist von schwankender Qualität. Es gibt beides: Demokraten, die eine extremistische Partei wählen (z. B. Beispiel aus Protest) und Extremisten, die für eine demokratische Partei votieren (z. B. aus Abneigung gegen eine als „primitiv“ empfundene extremistische Alternative).68 Wer überall Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit und Sozialdarwinismus wittert, kann nicht angemessen tatsächlichen Rechtsextremismus (und, horribile dictu, Linksextremismus) aufspüren. Zweitens: Der Schwerpunkt der Einstellungsforschung auf Einstellungen überzeugt nur auf den ersten Blick. Fraglich ist, warum diese Einstellungspotentiale erfasst werden. Wenn damit die Gefahr für die Demokratie einerseits und die offene Gesellschaft andererseits in den Blickpunkt rücken soll, ist die politische Soziologie gut damit beraten, weniger die kurzlebigen Meinungen und Einstellungen aufzunehmen und stattdessen auf handlungsrelevante politische Orientierungen zu achten. Das wären – wie zahlreiche empirische Studien zur Genüge gezeigt haben – vor allem politische Wertorientierungen.69 Drittens: Vielen (nicht: allen) Untersuchungen liegt im Kern ein antifaschistisches Forschungsdesign zugrunde: Die Demokratie werde (nur) von rechts außen gefährdet, so der häufige Duktus. Damit erklärt sich auch, wiewohl nicht ausschließlich, die Fülle der Studien zu rechtsextremistischen Einstellungspotentialen und die fast zu vernachlässigende Zahl von Arbeiten zu linksextremistischen oder islamistischen Potentialen. Ein Vergleich, der manches relativierte, wäre dringend vonnöten.
67 Auch die DNVP unter Hugenberg, mit der die NSDAP eng paktierte, war keine demokratische Kraft. 68 Nicht zu vergessen: Demokraten wählen eine demokratische Partei, Extremisten eine extremistische. 69 Vgl. bereits Philip E. Converse, The Nature of Belief Systems in Mass Politics, in: David E. Apter (Hrsg.), Ideology and Discontent, New York 1964, S. 206–261.
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Mitte und Extremismus
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Viertens: Der Hinweis darauf, dass (vermeintlicher oder tatsächlicher) Rechtsextremismus aus „der Mitte der Gesellschaft“ komme, ist je nach Interpretation entweder eine Banalität oder eine Unterstellung. Eine Banalität ist es, wenn gemeint ist, er sei aus der Gesellschaft heraus entstanden (woher sollte er sonst entstehen?); der Befund läuft eine Unterstellung hinaus, wenn diese „Mitte der Gesellschaft“ gleichsam als das Übel gilt. Die Kritik richtet sich dann mehr gegen diese „Mitte“, nicht gegen den Extremismus. Fünftens: Sollte es tatsächlich so schlimm um die nach rechts driftende „Mitte der Gesellschaft“ bestellt sein, müsste doch das Integrationspotential der wenigen verbleibenden demokratischen Kräfte herausgestrichen werden, weil sie dafür sorgen, dass rechtsextremistische Einstellungen nicht in rechtsextremistisches Verhalten umschlagen. Davon ist wenig die Rede.70 Auf die Idee, ob das Messinstrument tatsächlich das misst, was gemessen werden soll, kommen die Verfasser von Studien zu rechtsextremistischen Einstellungspotentialen in der Regel nicht. Sechstens: Wer in Anlehnung an Aristoteles71 eine gemischte Verfassung ebenso schätzt wie Maß und Mitte, hat die Erfahrung der letzten knapp drei Jahrhunderte auf seiner Seite. Die Menschheit fährt gut damit, wenn sie die Politik an den drei Werten Freiheit, Gleichheit und Gewaltenkontrolle orientiert. Diese finden ihren institutionellen Ausdruck in der konstitutionellen Demokratie. Sie, nicht eine diffuse Konzeption der gesellschaftlichen Mitte, bildet den definitorischen Ankerpunkt für den politischen Extremismus. Siebtens: Rechtsextremisten dürften nicht böse darüber sein, durch Interpretationen, wie sie die Leipziger Forschergruppe bietet, in die „Mitte“ zu avancieren. Was ihnen im politischen Alltag nicht gelingt, schaffen Sozialwissenschaftler mit ihrer „ideologisch geleiteten“, „analytisch irreführenden“ und „inhaltlich fragwürdigen“ Vorgehensweise.
70 Siehe aber Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Anm. 42), S. 44 f. 71 Vgl. Uwe Backes (Anm. 32), S. 38–53.
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Das Parteiensystem des Kaiserreiches und der Weimarer Republik Obwohl das Kaiserreich im Gegensatz zur Weimarer Republik kein demokratischer Verfassungsstaat war, gibt es erstaunliche Parallelen zwischen dem Parteiensystem beider Gebilde – trotz eines Wahlsystems, wie es unterschiedlicher kaum sein konnte! Dem Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik lag kein Bruch zugrunde. Buntscheckigkeit dominierte – Tendenzen zur Parteienkonzentration blieben aus. Selbst die Tradition des Konstitutionalismus mit dem Dualismus von Parlament und Regierung lebte in der Weimarer Republik fort. Hat die im Kaiserreich fehlende Notwendigkeit zur Koalitionsbildung in der Weimarer Republik die Flucht der Parteien vor politischer Verantwortung begünstigt?
1.
Einführende Überlegungen
Deutschland hat im 20. Jahrhundert vier Systemwechsel erlebt: 1918/19, 1933, 1945/49, 1989/901. Die ersten beiden stellen das Ende des Kaiserreiches und das der Weimarer Republik dar, also jener Epochen, die hier im Vordergrund stehen. Der Beitrag2 ist chronologisch und systematisch zugleich aufgebaut. Chronologisch insofern, als die Entwicklung der Parteien seit 1871 abgehandelt wird, systematisch insofern, als übergreifende Probleme wie etwa die Funktionsweise des Parteiensystems in der jeweiligen Epoche zur Sprache kommen und ein Vergleich zwischen den Parteisystemen erfolgt. „Knotenpunkte“ der Entwicklung – die Anfänge und das Ende des jeweiligen politischen Systems – verdienen eine besondere Erwähnung, weil die Parteien als wichtige Kräfte des politischen Lebens dabei eine Schlüsselrolle gespielt haben. Es ist nicht immer möglich, die Rahmenbedingungen in jenem Umfang zu erörtern, wie es zur Verzahnung teils gegenläufiger, teils gleichgerichteter geistesgeschichtlicher, verfassungspolitischer und historischer Bedingungen eigentlich wünschenswert wäre. Nach einleitenden Überlegungen, die kurz auf den Forschungsstand verweisen, folgen die Kapitel über das Kaiserreich und die Weimarer Republik. Sie unterscheiden sich im Aufbau nicht voneinander, wiewohl der unterschiedliche Stellenwert der Parteien in diesen politischen Systemen berücksichtigt ist. Neben eigenen Abschnitten zu deren Beginn und Ende findet sich ein knapper Überblick zu den einzelnen Parteien sowie zum Parteiensystem. Danach folgt ein kurzes vergleichendes Kapitel, das Parallelen und Unterschiede in beiden Systemen hervorhebt. Die abschließenden Ausführungen werfen einen Blick über das Jahr 1933 hinaus.
1 2
Vgl. Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90, 2. Aufl., Köln u. a. 2011. Er knüpft an den folgenden Text an: Eckhard Jesse, Parteien in Deutschland. Ein Abriss der historischen Entwicklung, in: Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Opladen 2002, S. 41–88.
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Parteien und Wahlen
Eine umfassende neueste Gesamtdarstellung zur Geschichte des deutschen Parteiwesens aus einem Guss liegt nicht vor. Während die „klassische“, erstmals 1921 erschienene Studie von Ludwig Bergsträsser vornehmlich eine Art Parlamentsgeschichte darstellt3, ist die 1954 publizierte Arbeit von Walter Tormin breiter angelegt, wenngleich sie den eigenen Anspruch nicht voll einlöst: „Eine Parteiengeschichte kann heute nicht mehr Parlaments- und Fraktionsgeschichte sein, sondern sie muss die Organisation, die Institution und die Willensbildung innerhalb der Parteien untersuchen, Aussagen über die Zahl und die Zusammensetzung der Mitglieder und über die Tätigkeit der Parteien außerhalb des Parlaments machen.“4 Die Arbeiten von Hans Fenske5, Robert Hofmann6 und Peter Lösche7 geben jeweils einen guten Überblick zur Geschichte der deutschen Parteien. Angesichts der eher wenigen umfassenden Studien zur Parteiengeschichte sollte auch Ernst Rudolf Hubers dickleibiges Kompendium zur Verfassungsgeschichte herangezogen werden, da es, was man mitunter übersieht, umfangreiche Ausführungen zur Rolle der Parteien im Kaiserreich und in der Weimarer Republik enthält8. Ein alphabetisch gegliedertes „Lexikon zur Parteiengeschichte 1789–1945“, unter der Ägide von Dieter Fricke und anderen DDR-Autoren in mehrjähriger Forschungsarbeit erstellt9, fehlt in der Bundesrepublik. Es enthält eine Reihe von kleinen Monographien zu einzelnen Parteien. Was die Parteien im Kaiserreich betrifft, so gibt es wenig substantielle übergreifende Studien. Die Kernthese in Thomas Nipperdeys bedeutender Monographie zum Parteiwesen im Kaiserreich lautet, dass es bis zum Ende des Ersten Weltkrieges weitgehend aus Honoratiorenparteien bestand, von der Sozialdemokratie abgesehen. Erst danach änderte sich die Organisationsstruktur grundlegend, mögen sich auch schon vorher Wandlungen wenn nicht vollzogen, so doch schon angebahnt haben10. Die Massengesellschaft forderte ihren Tribut. Stellt Nipperdey mehr auf die Entwicklung des Parteiensystems ab, erörtert die amerikanische Historikerin Margaret L. Anderson die Auswirkungen des (damals unüblichen) allgemeinen (Männer-)Wahlrechts auf die politische Kultur und auf die Entwicklung der Demokratie11. Ihre Kernthese lautet, 3 Vgl. Ludwig Bergsträsser, Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 12. Aufl., München/ Wien 1970. 4 Walter Tormin, Geschichte der deutschen Parteien seit 1848, 3. Aufl., Stuttgart u. a. 1968, S. 7. 5 Vgl. Hans Fenske, Deutsche Parteiengeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn 1994. 6 Vgl. Robert Hofmann, Geschichte der deutschen Parteien. Von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart, München 1993. 7 Vgl. Peter Lösche, Kleine Geschichte der deutschen Parteien, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1995. 8 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. IV, Stuttgart 1969, S. 3–128; Bd. V, Stuttgart 1978, S. 993–1001, Bd. VI, Stuttgart 1981, S. 127–303. 9 Vgl. Dieter Fricke, u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). 4. Bde., Leipzig 1983–1986. 10 Vgl. Thomas Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961. 11 Vgl. Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2010.
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Das Parteiensystem des Kaiserreiches und der Weimarer Republik
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Demokratie konnte durch die Wahl unterschiedlicher Parteien eingeübt werden. Sie wendet sich gegen die weitverbreiteten Urteile vom monarchischen Obrigkeitsstaat. Wissenschaftsgeschichtlich Furore macht ein erstmals 1966 publizierter Beitrag von M. Rainer Lepsius zum Zusammenhang zwischen der Ausprägung der Parteien und soziokulturellen Milieus12. Nach Lepsius haben die deutschen Parteien, auf die Perpetuierung „ihrer“ voneinander scharf abgegrenzten Sozialmilieus (Katholizismus, Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus) fixiert, die Kompromissfindung und die Koalitionsfähigkeit erschwert. Bis Ende der 1920er Jahre hätten sich diese Milieus erhalten – eine aufschlussreiche These, die freilich nicht alle regionale Spezifika zu erklären vermag, zumal sie auch das Phänomen der „cross-pressures“ vernachlässigt. An die Forschungen von Lepsius knüpfte der Essener Politikwissenschaftler Karl Rohe mit seiner Theorie von den „Lagern“ an. Während Milieus durch bestimmte Lebensweisen gekennzeichnet seien, benötigen nach Rohe „Lager“ das Gegenüber. „Ein politisches Lager lebt in seinem Zusammenhalt im Unterschied zu einem Milieu stärker von der Abgrenzung gegen andere als von eigenen positiven Gemeinsamkeiten und kann deshalb im Prinzip sogar sehr heterogene Milieus enthalten [...]. Ein Milieu trägt sich u.U. aus sich heraus, ein Lager dagegen bedarf das Gegenüber.“13 Nach Rohe gab es viele Jahrzehnte lang drei „Lager“ – ein katholisches, ein sozialistisches und ein nationalliberal protestantisches. Dieses letztgenannte „Lager“ war sich zwar einig in der Ablehnung der beiden anderen, wies aber massive interne Spannungen auf14. Ein klassisches Werk zu den Parteien der Weimarer Republik stammt von Sigmund Neumann15. Erschienen am Ende der Weimarer Republik, nahm es eine Typologie der Parteien vor. Neumann unterscheidet die „absolutistischen Integrationsparteien“ (NSDAP, KPD) von den „demokratischen Integrationsparteien“ (SPD, Zentrum) und den „liberalen Repräsentationsparteien“. Die Gegenwart sei durch eine Hinwendung zur Entwicklung von „Integrationsparteien“ gekennzeichnet. Neumanns die Parteienforschung beflügelndes Werk – die Rezeption ließ allerdings Jahrzehnte auf sich warten – reiht sich ein in die Skala anderer „Klassiker“ zur Parteientheorie bereits zu Beginn des Jahrhunderts (wie denen von Moissei Ostrogorski und Robert Michels). Wissenschaftliche Gesamtdarstellungen zum Parteiensystem in der Weimarer Republik sind eher Mangelware. Es dominieren Studien zu einzelnen Parteien. Die dreibändige Arbeit von Heinrich August Winkler über die Arbeiterbewegung umfasst
12 Vgl. M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56–80. 13 Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992, S. 21. 14 Vgl. Peter Lösche/Franz Walter, Katholiken, Konservative und Liberale. Milieus und Lebenswelten bürgerlicher Parteien in Deutschland während des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 471–492. 15 Vgl. Sigmund Neumann, Die Parteien der Weimarer Republik, 5. Aufl., Stuttgart u. a. 1932/1986.
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Parteien und Wahlen
demgegenüber eine weite Perspektive16. Die Analyse von SPD und KPD, faktisch in die krisengeschüttelte Geschichte der Weimarer Republik eingebettet, zeichnet ein äußerst materialreiches wie nuanciertes Bild von „der“ Arbeiterbewegung. Immer noch das Prädikat „Standardwerk“ verdient der voluminöse Sammelband über das „Ende der Parteien“ aus dem Jahre 196017. Er schildert minutiös das Verhalten der Parteien in der Endphase der Weimarer Republik und deren jähen Auflösungsprozess im Jahre 1933.
2.
Kaiserreich
2.1. Rahmenbedingungen und Anfänge Die Anfänge der deutschen Parteien gehen auf die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 zurück. Die ersten Parteien begriffen sich überwiegend als Repräsentanten von Weltanschauungen, weniger als Interessenvertretungen, da sie von der Mitregierung ausgeschlossen blieben. „Für die deutsche Geschichte hat diese formative Phase unserer Parteien eine lange Nachwirkung gehabt: das politische Glaubensbekenntnis bleibt eine deutsche Figur; die Parteien neigen zum Doktrinären; der politische Konflikt tendiert leicht zum Kampf um letzte Überzeugungen.“18 Trotz des Scheiterns der Revolution war das organisierte Parteiwesen nicht aufzuhalten, wiewohl in den nächsten Jahren gegenrevolutionäre Bestrebungen zunächst ein retardierendes Element in diese Entwicklung brachten. Größtenteils noch vor (aber auch nach) der Bildung des Nationalstaates kam es in schneller Folge zu einer Reihe von Parteigründungen, sei es kurz vor 1871, sei es kurz danach. 1861 entstand die liberale Deutsche Fortschrittspartei, 1866/67 – als Reaktion auf den „Verfassungskonflikt“ – die mehr besitzbürgerlich orientierte Nationalliberale Partei, die Bismarcks Politik weithin unterstützte. „Die wesentliche Schwäche des deutschen politischen Liberalismus lag darin, dass er, im Gegensatz zum Zentrum und zur Sozialdemokratie, über keine eindeutige soziale bzw. konfessionale Basis verfügte und nicht in einer eigenen Subkultur verwurzelt war.“19 Diese These Gerhard A. Ritters mag zu relativieren sein, denn im bürgerlich-protestantischen Milieu verfügte der Liberalismus durchaus über einen beträchtlichen Anhang, ganz abgesehen davon, dass die unzureichende Verankerung in einem Milieu nicht unbedingt „die wesentliche 16 Vgl. Heinrich A. Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1918 bis 1924, Berlin/Bonn 1984; ders., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin/Bonn 1985; ders., Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin/Bonn 1987. 17 Vgl. Erich Matthias/Rudolf Morsey (Hrsg.), Das Ende der Parteien 1933. Darstellungen und Dokumente, 2. Aufl., Königstein/Ts. 1979. 18 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1806. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 378. 19 Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830–1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985, S. 65.
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Das Parteiensystem des Kaiserreiches und der Weimarer Republik
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Schwäche“ sein muss. Lag sie nicht vielmehr in der Aufsplitterung des politischen Liberalismus, der nach dem preußischen „Verfassungskonflikt“ (1862–1866) in wesentlichen Teilen seine liberalen Grundsätze preisgegeben hatte20? Auch bei den Konservativen kam es zu einer Ausdifferenzierung. Im Jahre 1867 wurde aus dem „Preußischen Volksverein“, einer Adelsgruppierung, die Freikonservative Partei ins Leben gerufen; die Deutsch-Konservativen formierten sich erst 1876. Diese Parteigründungen sind wesentlich eine Reaktion auf die Politik der Liberalen, verfügten Konservative doch über genügend andere Machtbastionen21. Allerdings gelang ihnen die Mobilisierung der eigenen Richtung nur in begrenztem Ausmaße, ein Manko, das sie durch ihren Rückhalt bei wesentlichen Kräften der Obrigkeit – sei es beim Hof, sei es beim Militär – zu kompensieren wussten. „Es war das Dilemma der Konservativen im Parteienstaat, dass sie sich, obwohl sie ihn ablehnten und beseitigen wollten, seinen Regeln unterwerfen mussten.“22 Komplizierter verlief die Entwicklung bei der Sozialdemokratie. Sie ist kaum vorstellbar ohne die Arbeiterbildungsvereine, die als Reaktion auf die tiefen Umwälzungen zumeist von Liberalen ins Leben gerufen wurden23 – zwecks Einbindung und „Vereinnahmung“ der Arbeiterschaft, wie das ja in anderen Ländern zunächst gelang. 1863 gründete der betont antiliberal orientierte Ferdinand Lassalle in Leipzig den gemäßigten und reformerisch eingestellten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ (ADAV), der insbesondere in Norddeutschland Einfluss gewann; 1869 bildete sich in Eisenach unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht, Anhängern von Karl Marx, der freilich der Gründung skeptisch gegenüberstand, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (SDAV). Auf dem Vereinigungsparteitag 1875 in Gotha nahm die Partei den Namen „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAP) an, seit 1891 firmiert sie als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Die auf Deutschlands Rückständigkeit zielende Behauptung von der „Verspätung“ (z. B. mit Blick auf den Nationalstaat oder die Parlamentarisierung) gilt somit nicht für die Gründung einer Arbeiterpartei. Der „Sonderweg“ lag eher in der umgekehrten Richtung. Der Liberalismus, stärker „realpolitisch“ orientiert als 1848/49, hatte sich in Deutschland zunehmend in eine „großbürgerliche“ Richtung hin entwickelt, so dass der Sozialismus in ihm keine angemessene Repräsentation sah, zumal er in der Schaffung eines Nationalstaates nur hinhaltend taktierte. Es kam vorübergehend, jedenfalls seitens der Lassalle-Richtung, hingegen sogar zu einer gewissen Annäherung an freilich betont paternalistische Kräfte des preußischen Staates.
20 Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988. 21 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893–1914, 2. Aufl., Bonn 1975. 22 Walter Tormin (Anm. 4), S. 60. 23 Vgl. Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreichs, München 1990.
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Parteien und Wahlen
Während die Liberalen, die Konservativen und die Sozialisten grosso modo mit den sozialen Hauptgruppen des Bürgertums, des Adels und der Arbeiterschaft identifiziert werden können, ist das Zentrum nicht durch eindimensionale soziale Interessen zu kennzeichnen. Die Anfänge des politischen Katholizismus, einer „gewaltige[n] untergründige[n] Macht“24, in Form der Zentrumspartei gehen auf das Jahr 1870 zurück: Katholische Vertreter im preußischen Abgeordnetenhaus schlossen sich in ihr zusammen. „Großdeutsch“ orientiert, fürchtete sie, der politische Katholizismus werde im neuen, stark protestantisch ausgerichteten Staat in eine Minderheitenposition geraten, wie dies der „Kulturkampf “ zu zeigen schien. Doch gerade aus dem „Kulturkampf “ – Bismarck zog mit den Liberalen an einem Strang – ging das Zentrum, zum Teil unterstützt von nationalen Minderheiten, unter seinem langjährigen Vorsitzenden Ludwig Windthorst gestärkt hervor. Der katholische Bevölkerungsteil rückte enger zusammen, und infolge des Drucks von außen ließ sich die Austarierung der Interessen besser vollziehen. Das Zentrum war, bei aller Orientierung am katholischen Bekenntnis, „keine klerikale Partei“25, der pauschale Vorwurf des „Ultramontanismus“ daher überzogen. Es wusste vielmehr zwischen den verschiedenen politischen Strömungen zu vermitteln. Bekanntlich entsprang die nationale Einigung Deutschlands im Jahre 1871 weder einer Volksbewegung noch Initiativen der Parteien. Sie war vielmehr eine Art „Revolution von oben“, das Werk von Fürsten und Militärs. Die Verfassung des Kaiserreiches blieb mithin obrigkeitlich gefärbt, wiewohl allmählich eine lebendige „Wahlkultur“ entstand26. Der Kanzler war vom Kaiser abhängig, nicht vom Reichstag, der ihn weder ernennen noch stürzen konnte. Galt Friedrich Julius Stahls programmatische Schrift über das „monarchische Prinzip“ vor der Reichsgründung in konservativen Kreisen als sakrosankt, so fand die Lehre vom „deutschen Konstitutionalismus“ fortan viele Anhänger. Er zeichnete sich durch eine Kombination zwischen monarchischem Absolutismus und parlamentarischer Monarchie aus. Wenn die Parteien auch noch längst nicht ihre heutige Bedeutung besaßen, förderte das allgemeine und gleiche Reichstagswahlrecht – in Preußen bestand bis zum Jahre 1918 das undemokratische „Dreiklassenwahlrecht“ fort27 – doch die Ausbildung der Parteiorganisationen, wie überhaupt die Unitarisierung dazu beitrug. Jedenfalls gingen partikularistische Bestrebungen zurück. Auch liberale und konservative Parteien mussten sich nun um einen gewissen organisatorischen Aufbau zwecks Mobilisierung der eigenen Anhänger bemühen. Vieles blieb infolge des absoluten Mehrheitswahlsystems, das die Perpetuierung von Hochburgen begünstigte, allerdings in den Anfängen stecken. Die Parteien, die im zweiten Wahlgang untereinander Absprachen trafen, waren nicht zu enger Kooperation im Parlament 24 25 26 27
Thomas Nipperdey (Anm. 18), S. 734. Gerhard A. Ritter (Anm. 19), S. 31. Vgl. Margaret Lavinia Anderson (Anm. 11). Vgl. Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867–1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994; ders., Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus 1867–1918, Düsseldorf 1994.
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Das Parteiensystem des Kaiserreiches und der Weimarer Republik
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gezwungen, da sie nicht die Macht im Staate besaßen. Es gab im Kaiserreich eine große Pluralität, aber keinen gesellschaftlich anerkannten Pluralismus. Der Begriff des „antidemokratischen Pluralismus“28 trägt aber nicht dem breit gefächerten Spektrum an Parteien Rechnung.
2.2. Einzelne Parteien Wie erwähnt, bestanden im Kaiserreich fünf große Parteiblöcke. Gewiss verschoben sich die Mehrheitsverhältnisse (während die Liberalen an Stimmen verloren, erhielten die Sozialdemokraten zunehmend Zulauf ), aber dieses „Fünfersystem“ hatte bis 1918 Bestand. Die Parteien der nationalen Minderheiten (die Polen, die Franzosen ElsaßLothringens und die nordschleswigschen Dänen) spielten zwar auch eine gewisse Rolle, fallen aber bei der folgenden Charakterisierung29 unter den Tisch. a) Die konservativen Parteien wollten ihre Vorrechte bewahren und machten sich noch für eine Monarchie „von Gottes Gnaden“ stark, kritisierten also den „Konstitutionalismus“. Während die – von antisemitischen Strömungen nicht freien – vor allem in Preußen beheimateten Deutsch-Konservativen großagrarische Interessen und Sozialprotektionismus befürworteten (ein Teil der Bauernschaft gehörte ebenfalls zu ihrer Klientel), organisierten sich in erheblichem Maße Industrielle und Repräsentanten der Bürokratie bei den „aufgeschlosseneren“, wenngleich nicht so einflussreichen „Freikonservativen“, deren Organisationsstruktur notorisch schwach blieb. b) Die Nationalliberalen, vor allem Interessen des Großbürgertums repräsentierend, begrüßten weitgehend den Machtstaat Bismarckscher Prägung. Sie propagierten in verstärktem Maße eine nationalistische Politik, mithin eine expansive Kolonialpolitik. Innenpolitisch wandten sie sich gegen eine Reform des Systems von 1871, verteidigten also das preußische Dreiklassenwahlrecht, wiewohl sie sich ansonsten als strikte Verteidiger des Rechtsstaates verstanden. Im Vergleich zur Gründungsphase verloren sie später an Einfluss. c) Die zum Teil in mehrere Richtungen gespaltenen und in wechselnden Verbindungen kandidierenden Linksliberalen (u. a. Deutsche Fortschrittspartei [bis 1884], Freisinnige Volkspartei [1893–1910], Fortschrittliche Volkspartei [seit 1910]), die ihr Wählerreservoir vorwiegend in den freien Berufen, Teilen des Handwerks und Handels besaßen, befürworteten in der Verfassungspolitik eine parlamentarische Monarchie nach britischem Muster, ohne aber entschieden auf eine Demokratisierung zu drängen. Ihre allmähliche Aufgeschlossenheit für soziale Probleme begünstigte – besonders
28 Vgl. Ulrich von Alemann/Jens Walther, Die Wurzeln des pluralen Parteiensystems in Deutschland. Antidemokratischer Pluralismus im Deutschen Kaiserreich, in: Nils C. Bandelow/ Simon Hegelich (Hrsg.), Pluralismus – Strategien – Entscheidungen, Wiesbaden 2011, S. 170–193. 29 Vgl. Gerhard A. Ritter (Anm. 19), S. 49–84.
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in den letzten Jahren des Kaiserreiches – ein punktuelles Zusammengehen mit den Sozialdemokraten, wobei sie jedoch gegenüber „Massenbewegungen“ Skepsis walten ließen. d) Das durch die „Klammer“ der katholischen Konfession zusammengehaltene Zentrum verfügte als Partei des politischen Katholizismus über einen festen Wählerstamm von etwa 20 Prozent30, mit leicht sinkender Tendenz. Es versuchte nicht ohne Erfolg, Adels-, Bürger-, Bauern- und Arbeiterinteressen gleichermaßen zu integrieren. Im Gegensatz zu allen anderen Parteien gehörten ihm relativ gleichmäßig Angehörige aller sozialen Schichten an. Ob aber die Zentrumspartei aufgrund ihrer konfessionellen Schranken, regionalen Verschiedenheiten und betont antiliberalen Ausrichtung als „erste Volkspartei in Deutschland“31 zu bezeichnen ist? Ihre Fixierung auf den katholischen Bevölkerungsteil löste sich nie auf. Das Zentrum hat unterschiedliche Phasen „durchlaufen“, operierte freilich meist in der „(rechten) Mitte“32. e) Die Sozialdemokratie nahm als sozialistische Opposition eine Sonderstellung ein. Diffamiert als Gemeinschaft „vaterlandsloser Gesellen“, wurde sie von der Obrigkeit isoliert, teilweise schikanös behandelt. Trotz staatlicher Sozialpolitik (die Sozialgesetzgebung war für die damalige Zeit vorbildlich) und kontinuierlicher Hebung des Lebensstandards für weite Teile der Bevölkerung – die „soziale Frage“ blieb gleichwohl ein Ärgernis – erhielt die SPD Zulauf. Nur langsam begann die Integration der Arbeiterschaft in den Staat. Obschon sich die Sozialdemokratie oft in revolutionärer Rhetorik übte, überwog in der Praxis zunehmend die reformorientierte Politik33. Der „Revisionismus“ Eduard Bernsteins, der marxistischen Dogmen (wie der Katastrophen- und Verelendungstheorie) eine Absage erteilte, gewann an Bedeutung. Punktuell versah die Partei August Bebels sogar Reformarbeit – wie im liberaleren Klima Süddeutschlands. Im Gegensatz zu den anderen politischen Kräften verstand sie sich nicht als Honoratiorenpartei.
30 Vgl. Winfried Becker (Hrsg.), Die Minderheit als Mitte. Die deutsche Zentrumspartei in der Innenpolitik des Reiches 1871–1933, Paderborn 1986. 31 Hans-Hermann Hartwich, Berlin – Weimar – Bonn. Zum Weg der deutschen Parteien vom Obrigkeitsstaat zur sozialstaatlichen Demokratie, in: Christian Graf von Krockow/Peter Lösche (Hrsg.), Parteien in der Krise, München 1986, S. 20–36, hier: S. 25. 32 Vgl. Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984. 33 Vgl. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. u. a. 1973.
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2.3. Parteiensystem Angesichts der fehlenden Parlamentarisierung der Exekutive im Kaiserreich bestand für die Parteien keine Notwendigkeit zu gedeihlicher Zusammenarbeit. Allerdings war in Deutschland, wie erwähnt, bereits das allgemeine (Männer-)Wahlrecht eingeführt, während in Großbritannien nur ein kleiner Teil der erwachsenen Bevölkerung das Wahlrecht erhalten hatte und sich erst schrittweise die Ausdehnung auf andere Wählerschichten zu vollziehen begann. Fehlte es in Deutschland an der Parlamentarisierung des Systems, so in Großbritannien an der Demokratisierung des Wahlrechts. Trotz des allgemeinen Männerwahlrechts blieben massive Ungerechtigkeiten nicht aus34. Die Wahlkreiseinteilung wurde bis zum Ende des Kaiserreiches nicht geändert, so dass infolge der unterschiedlichen Größe speziell die Konservativen von dieser „passiven Wahlkreisgeometrie“ profitierten, während sie die Sozialdemokraten benachteiligte. Das absolute Mehrheitswahlrecht – gewählt war, wer im Wahlkreis die absolute Mehrheit der Stimmen erhielt – wirkte sich durch das System der Stichwahl (es kam häufig zu Wahlabsprachen der nicht-sozialistischen Parteien) für die Sozialdemokratie ebenfalls ungünstig aus. Auch dadurch verzerrte sich das Verhältnis von Stimmen- und Mandatsanteil. Schon 1890 erreichte die SPD die meisten Stimmen, erst 1912 jedoch die meisten Mandate. Freilich bedarf dieser Sachverhalt insofern der Relativierung, als die anderen Parteien im Gegensatz zur SPD häufig auf reine Zählkandidaturen verzichteten. Die Apostrophierung als „Reichstreue“ (Konservative und Nationalliberale) und „Reichsfeinde“ (Linksliberale, Zentrum, Sozialdemokraten) kennzeichnet nur grobmaschig die Haltung der jeweiligen Regierungen zu den Parteien. Es gab auch Konstellationen, in denen Zentrum und Linksliberale die Regierung unterstützten (etwa im Bereich der Sozialpolitik), während Konservative und Nationalliberale opponierten. Nur die Sozialdemokratie blieb nahezu stets in Opposition, wobei die verbale Rhetorik, wie erwähnt, zunehmend von reformistischer Praxis überlagert wurde. Je heftiger die Regierung gegen die Sozialdemokratie – in den „Sozialistengesetzen“ (1878–1890) – und gegen das Zentrum – im „Kulturkampf “ (1871–1879) – Maßnahmen ergriff, umso mehr stärkte sie ihre Gegenspieler. Anders endete der „Verfassungskonflikt“, aus dem der Liberalismus geschwächt hervorging. Wer von einer „ingeniöse[n] Herausbildung dieser Herrschaftstechnik der negativen Integration“35 seitens der Obrigkeit spricht, unterstellt eine systematische Machtstrategie der Regierung, die so wohl nicht gegeben war. Die „Reichsfeinde“ wurden nicht künstlich „aufgebaut“, galten aus der Sicht der jeweiligen Regierung vielmehr als solche.
34 Vgl. Hans Fenske, Wahlrecht und Parteiensystem. Ein Beitrag zur deutschen Parteiengeschichte, Frankfurt a. M. 1972, S. 106–145. 35 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, 5. Aufl., Göttingen 1983, S. 99.
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Parteien und Wahlen
Tabelle 1: Wahlergebnisse bei den Reichstagswahlen von 1871 bis 1912 (in Prozent) Wahljahr
Wahlbeteiligung
SPD
Linksliberale Parteien
Zentrum
Rechtsliberale Parteien
Konservative Parteien
Minderheiten, regionale Gruppen
1871
52,0
3,1
9,3
18,7
37,2
23,1
6,6
1874
61,2
6,8
9,0
27,9
30,8
14,2
10,5
1877
61,6
9,1
8,6
25,0
29,7
17,6
9,8
1878
63,4
7,6
7,9
23,1
25,8
26,7
8,9
1881
56,3
6,1
22,9
23,2
15,0
23,7
8,8
1884
60,5
9,7
19,3
22,6
17,6
22,1
8,5
1887
77,5
10,1
14,1
20,1
22,6
25,1
7,7
1890
71,5
19,7
18,2
18,6
16,8
19,8
6,6
1893
72,4
23,3
14,3
19,1
13,2
22,8
7,1
1898
68,1
27,2
11,8
18,8
13,1
20,8
8,1
1903
76,1
31,7
9,5
19,5
14,2
17,4
7,1
1907
84,7
28,9
11,4
19,4
14,7
18,1
6,6
1912
84,2
34,8
12,8
16,4
14,1
15,3
6,3
Quelle: Alfred Milatz, Reichstagswahlen und Mandatsverteilung 1871 bis 1918, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, Düsseldorf 1979, S. 220 f.
Wie Tabelle 1 zeigt, waren im Jahre 1890 – am Ende der Bismarck-Ära, ungefähr in der Mitte des Kaiserreiches – alle fünf Gruppierungen etwa gleich stark, jedenfalls nach Stimmen. Nach Mandaten hatten jedoch die Parteien der rechten Mitte stets eine Mehrheit (unter Einschluss der Zentrumspartei). Die vom Kaiser eingesetzten Kanzler konnten mit wechselnden Mehrheiten regieren. Sie brauchten, um an der Macht zu bleiben, ohnehin keine parlamentarische Mehrheit. In der Spätphase begann sich ein Wandel abzuzeichnen. Die Unterstützung der Regierung durch die Parteien wurde wichtiger. Dominierte bis 1890 der Kanzler Bismarck, so prägte Wilhelm II. die nachfolgende Epoche, wenngleich das Schlagwort vom „persönlichen Regiment“ (Werner Frauendienst) die gewachsene Kraft der Parteien verkennt und die jeweiligen Kanzler indirekt zu Galionsfiguren herabwürdigt. Auch die nicht sozialdemokratischen Parteien mussten dem Eintritt der Massen in die Politik Rechnung tragen. Gewiss hatte sich die Organisationsdichte bei ihnen im Vergleich zur Bismarckzeit verbessert (am wenigsten bei den Konservativen), doch entwickelten sie sich nicht zu Massenparteien, die im ganzen Reichsgebiet vertreten waren. Hingegen existierte im 19. Jahrhundert, das man gar als ein „vereinsseliges Säkulum“36
36 Dieter Langewiesche (Anm. 20), S. 111.
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apostrophiert hat, ein blühendes Vereinsleben. Parteien hatten mithin keineswegs ein Monopol auf die politische Willensbildung im weitesten Sinne. Die Interessenverbände unterstützten sie, nahmen den bürgerlichen Parteien sogar teilweise die Mobilisierung der Sympathisanten ab, wirkten auf das Parlament ein, ohne dass man ihren Einfluss überschätzen darf. Selbst der größte Verband, der 1893 gegründete „Bund der Landwirte“, der eng mit den Deutschkonservativen verzahnt war, konnte viele seiner Vorstellungen bei der Regierung nicht durchsetzen. „Die Aufgabe, Massen zu werben und zu organisieren, Interessen zu integrieren, die innerparteiliche Meinungsbildung zu ordnen und die Anhänger daran in gewissem Maße zu beteiligen, sind von den Parteien verschieden gelöst worden. Die wichtigsten Kennzeichen einer Honoratiorenpartei aber, Unabhängigkeit der lokalen Instanzen bei der Aufstellung der Kandidaten, mindestens relatives Übergewicht der ‚natürlichen‘ Führer über die Geführten und Unabhängigkeit der Fraktion blieben in allen Parteien bis 1918 aufgrund des Wahlsystems, des Mehrparteiensystems und der gesellschaftlichen Struktur erhalten.“37 Anders war die Situation bei den Sozialdemokraten, einer Klassenpartei. Sie betreuten ihre Mitglieder – wie es hieß – „von der Wiege bis zur Bahre“. Die Milieugebundenheit löste sich kaum auf. Die einseitige Charakterisierung der Parteien (sie galten vielfach als Verfechter von egoistischen „Sonderinteressen“) sollte sich später ebenso negativ auswirken wie deren starre Kompromissunfähigkeit, gefördert durch den „Konstitutionalismus“, der die Parteien von der politischen Verantwortung weitgehend ausschloss. Gerade diese Machtlosigkeit der Parteien im Reichstag mag ihre Vielfalt und ihren Doktrinarismus begünstigt haben. Damit dürfte auch die Verantwortungsscheu in späterer Zeit zusammenhängen, ebenso wie die politische Abstinenz vieler Persönlichkeiten: „Das Parlament bot keine Karrierechance.“38
2.4. Die Rolle der Parteien am Kriegsende Die Parteien machten sich nur unzureichend für die Parlamentarisierung der Regierung stark. Proklamierten die Sozialdemokraten in erster Linie eine sozialistische Gesellschaftsordnung, vernachlässigten die Forderung nach Demokratisierung und entwickelten kein Konzept für ein demokratisches Regierungssystem, so hüteten sich die bürgerlichen Parteien vor entsprechenden Postulaten, weil sie ein Übergewicht der Sozialdemokratie befürchteten. Allein die Linksliberalen sowie der linke Flügel des Zentrums unter Erzberger engagierten sich für die Parlamentarisierung. Hinzu kam verfassungstheoretisches Unverständnis. Exekutive und Legislative galten als Gegen-
37 Thomas Nipperdey, Organisation der bürgerlichen Parteien in Deutschland, in: Gerhard A. Ritter (Anm. 19), S. 100–119, hier: S. 118. 38 Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 119.
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Parteien und Wahlen
spieler. Den Parteien genügte es vielfach, ihre Interessen beim Gesetzgebungsprozess zur Geltung zu bringen. Zunehmend wurde jedoch die Rolle der Parteien wichtiger; der jeweilige Kanzler hatte es immer schwieriger, ohne einen festen Parteienblock zu regieren. Das Gewicht des Reichstages nahm zu, das des von Preußen dominierten Bundesrates hingegen ab. In den letzten Jahren des Kaiserreiches schien sich trotz gegenläufiger Tendenzen eine Parlamentarisierung der Exekutive anzubahnen („stiller Verfassungswandel“). Wilhelm II. erklärte am 4. August 1914 im Reichstag: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Zwar stimmte die SPD den Kriegskrediten zu, doch der „Burgfrieden“ stand auf tönernen Füßen. Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges mit der Niederlage Deutschlands beschleunigten den Sieg der parlamentarischen Demokratie. Die Verfassungsänderung vom Oktober 1918 ging – jedenfalls auf den ersten Blick39 – „von oben“ aus, um den Forderungen des amerikanischen Präsidenten Wilson Rechnung zu tragen. Die Parlamentarisierung der Exekutive wurde vollzogen. Doch das Zugeständnis kam viel zu spät, als dass die Monarchie, Symbol des Obrigkeitsstaates, noch zu retten und die Revolution aufzuhalten gewesen wäre. Aber auch auf der politischen Linken kam es zu Änderungen. Von der Sozialdemokratie hatten sich 1917 die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) abgespalten, insbesondere wegen der Bewilligung der Kriegskredite durch die Partei. Diese befand sich im Verhältnis zu den anderen Parteien längst nicht mehr in der früheren Isolation. Wer die Weimarer Republik mit Blick auf die Initiative der „Obersten Heeresleitung“ als eine „improvisierte Demokratie“ (Theodor Eschenburg) ansieht, verkennt wohl den fortgeschrittenen Einfluss der Parteien des Reichstages am Ende des Kaiserreiches, so sehr auch die „Oktoberreformen“ überraschend vonstattengingen. Bereits im Sommer 1917 war ein „Interfraktioneller Ausschuss“ entstanden, dem Vertreter der SPD, des Zentrums und der Fortschrittlichen Volkspartei angehörten. Die spätere „Weimarer Koalition“ kristallisierte sich hier bereits heraus. Vieles spricht mithin für die These, dass sich in den letzten Jahren des Kaiserreiches eine Parlamentarisierung abzuzeichnen begann, die von den Verfechtern der kaiserlichen Prärogative auf Dauer nicht abzuwenden gewesen wäre. Die Form des „deutschen Konstitutionalismus“, sofern es sich überhaupt um einen eigenständigen Verfassungstypus handelte, hätte sich nicht behaupten können. Seine Lebenskraft war erschöpft. Durch die von außen indirekt herbeigeführten „Oktoberreformen“ konnte der zumindest teilweise irrige Eindruck entstehen, das „wesensfremde“ parlamentarische System sei Deutschland oktroyiert worden.
39 Wie die Vorgeschichte der Regierung Max von Badens zeigt, waren die Parteien keineswegs untätig. Vgl. Erich Matthias/Rudolf Morsey, Die Bildung der Regierung des Prinzen Marx von Baden, in: Eberhard Kolb (Hrsg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972, S. 63–76.
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3.
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Weimarer Republik
3.1. Rahmenbedingungen und Anfänge Der Systemwechsel vom Kaiserreich zur Weimarer Republik war in mancher Hinsicht nicht von zentraler Bedeutung. Gewiss, die Monarchie wurde gleichsam „hinweggefegt“ – nicht zuletzt durch die Niederlage im Krieg –, und es entstand eine parlamentarische Republik, die dem Gebot der Volkssouveränität in vollem Maße Rechnung trug. Jedoch gab es auch Kontinuität, insbesondere durch die Funktion des Reichspräsidenten als eine Art „Ersatzmonarch“. Die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Versuche zur revolutionären Umgestaltung des parlamentarischen Systems – in der Rätebewegung überwogen keineswegs kommunistische Gruppierungen – vereitelte maßgeblich die Sozialdemokratie, die ebenso von Bolschewismusfurcht befallen war40 wie andere gesellschaftliche Kräfte. Dabei musste sie sich allerdings der Freikorps bedienen und schuf so unfreiwillig eine Hypothek für die junge Demokratie.41 Dass der Wandel entgegen dem ersten Anschein nicht so fundamentaler Natur war – die Bürokratie jedenfalls konnte weiterwirken, ohne dass es zu einer „Blutauffrischung“ kam –, gilt auch für das Partei- und Parlamentswesen. Es zeigte sich nämlich eine beachtliche Kontinuität vom Ende des Kaiserreiches zum Beginn der Weimarer Republik42. Das Parteiensystem formte sich nicht grundlegend um – die Spaltung des Liberalismus ließ sich nicht überwinden43 –, setzte sich mehr oder weniger fort, obwohl ein ganz anderes Wahlsystem eingeführt wurde. Von den 14 Ministern der ersten Regierung der Weimarer Republik gehörten bereits sechs, darunter Scheidemann, Landsberg und Erzberger, dem „Interfraktionellen Ausschuss“ von 1917 an. Wie die Parteien keine Erwähnung in der Verfassung des Kaiserreiches fanden, so tauchten sie nicht in jener der Weimarer Republik auf, sieht man einmal von der negativen Wendung in Art. 130 ab, wonach Beamte Diener der Gesamtheit seien, nicht einer Partei. Dabei musste ihre Funktion in einem wesentlich von ihnen getragenen System eine weitaus bedeutendere sein. Aber die Parteien, vielfach in konstitutionellem Denken gefangen, perzipierten diese Wandlung ebenso nur unzureichend wie weite Teile der Bevölkerung, die obrigkeitlichen Vorstellungen huldigten. Die Rolle, die dem 40 Vgl. Peter Lösche, Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920, Berlin 1967. 41 In der Forschung wird seit längerem eine Diskussion darüber geführt, ob es sich hier um einen Geburtsfehler der Weimarer Republik handelt. Allerdings muss der Wahrnehmungshorizont der Zeitgenossen beachtet werden. Erst nach 1933 kam nämlich der Gedanke auf, die Sozialdemokratie habe ihren Handlungsspielraum leichtfertig nicht genutzt. Vgl. als Erster in diesem Sinne: Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik 1928–1935 (1935), 20. Aufl., Frankfurt a. M. 1981. 42 Vgl. Gerhard A. Ritter, Kontinuität und Umformung des deutschen Parteiensystems 1918–1920, in: Eberhard Kolb (Anm. 39), S. 244–275. 43 Vgl. Lothar Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Eine vergleichende Analyse der Deutschen Demokratischen Republik und der Deutschen Volkspartei, Düsseldorf 1972.
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Kaiser im obrigkeitlichen Regime zufiel, kam nun gewissermaßen dem vom Volk gewählten und mit zahlreichen Kompetenzen ausgestatteten Reichspräsidenten zu. Er ernannte den Kanzler, besaß ein Auflösungs- und Notverordnungsrecht. Auf diese Weise wurde die Parteiendemokratie durchbrochen, die Verantwortlichkeit der Parteien bei Konflikten geschwächt, erst recht bei schwierigen Mehrheitsverhältnissen. In Preußen, dem größten Land in der Weimarer Republik, funktionierte der Parlamentarismus besser44. Schon in der Verfassungskonstruktion war damit ein überparteiliches Präsidialregime angelegt, das durch die verfahrene Praxis am Ende der Weimarer Republik zum Durchbruch kam. Die „Weimarer Koalition“ (SPD, Zentrum, DDP) erhielt im Jahre 1919 zwar eine solide 75-Prozent-Mehrheit, doch in der Folge erreichten diese Parteien nicht einmal mehr die absolute Mehrheit, wie bereits die erste Reichstagswahl im Jahre 1920 zeigte. Krass formuliert: Die Wähler haben den demokratischen Parteien früh das Vertrauen entzogen. Diese wiederum wussten es nicht zurückzugewinnen, mag auch zeitweise eine gewisse Konsolidierung eingetreten sein.
4.2. Einzelne Parteien Die fünf Parteien, die im Kaiserreich tonangebend waren, sofern davon seinerzeit angesichts der Übermacht der Exekutive von Parteien überhaupt zu sprechen ist, spielten auch in der Weimarer Republik eine entscheidende Rolle, teilweise unter anderem Namen, wobei charakteristischerweise insbesondere eher konservative Parteien sich mit dem Epitheton „Volk“ schmückten (Deutschnationale Volkspartei, Deutsche Volkspartei, Bayerische Volkspartei). Hinzu kamen die extreme Rechte und die extreme Linke.45 Von den durch das Verhältniswahlsystem begünstigten kleinen Parteien wie der Wirtschaftspartei, dem Christlich-Sozialen Volksdienst und anderen46 ist im Folgenden nicht die Rede. a) Die Deutschnationale Volkspartei stellte zwar dem Namen nach eine Neugründung dar, doch sammelten sich in ihr überwiegend die Anhänger der konservativen Parteien des Kaiserreiches, deren Politik zunächst diskreditiert schien. Wie diese hatte sie ihre Unterstützung vor allem bei den Großagrariern Ostdeutschlands, aber auch bei anderen Gruppen, z. B. Angestellten in Großstädten. Nur selten gab sie ihre Frontstellung gegen das neue demokratische System auf, mochte sie auch zeitweilig – in der Mittelphase der Republik – an der Regierung beteiligt gewesen sein, und zwar in den Kabinetten von Hans Luther (1925) und von Wilhelm Marx (1927). 44 Vgl. Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985. 45 Sie machten keinen Hehl aus ihrer Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates. Da es nach dem Weimarer Verfassungsverständnis nur verfassungsfeindliche Methoden, aber keine verfassungsfeindlichen Ziele gab, war die Abwehrbereitschaft der Demokratie nur schwach ausgeprägt. 46 Vgl. Martin Schumacher, Zersplitterung und Polarisierung. Kleine Parteien im Weimarer Mehrparteiensystem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 31/1977, S. 39–46.
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Unter ihrem Parteivorsitzenden Alfred Hugenberg (1928–1933) kam es zu einer weiteren Verlagerung der DNVP nach rechts47 – die Absplitterung einer gemäßigtgouvernementalen Rechten unter Graf Westarp kennzeichnete den Prozess, verstärkte ihn aber auch –, und durch ihre spätere Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten („Harzburger Front“) ebnete sie diesen entscheidend den Weg zur Macht. b) Die Deutsche Volkspartei, zunächst organisatorisch schwach entwickelt, vertrat stark industrielle Interessen. Die Mehrheit der Nationalliberalen aus dem Kaiserreich setzte hier ihre Politik fort. Die DVP, deren Haltung zur Weimarer Republik schwankte, fand Unterstützung im neuen und alten Mittelstand. Nach dem Tode Gustav Stresemanns, ihres überragenden Staatsmanns, der die DVP in die politische Mitte geführt hatte, gewannen die rechtsstehenden, der parlamentarischen Demokratie nicht wohlgesonnenen Kräfte wieder die Oberhand48. Sie war, von der Anfangsphase abgesehen, stärker – vor allem einflussreicher – als ihr linksliberaler Widerpart, büßte in der Wirtschaftskrise aber auch das Hauptkontingent ihrer Wähler ein. c) Die Deutsche Demokratische Partei repräsentierte den Linksliberalismus. Klangvolle Namen wie der bereits im August 1919 verstorbene erste Vorsitzende Friedrich Naumann, Hugo Preuß, der eigentliche „Vater“ der Weimarer Verfassung, und Max Weber gehörten zu ihren Gründungsvätern. Um den zunehmenden Verlust der Wählerschaft zu stoppen, verband sich die DDP im Jahre 1930 – kurzfristig – mit dem „Jungdeutschen Orden“, einem nationalen Kampfbund unter der Führung von Arthur Mahraun, der allmählich zur demokratischen Staatsform ein positives Verhältnis gefunden hatte. Doch auch die „Deutsche Staatspartei“, so lautete der neue Name, konnte den Ver- und Zerfall des Liberalismus nicht aufhalten. In den wirtschaftlichen Krisenzeiten übten Ideen des Liberalismus auf die eigene Anhängerschaft – insbesondere das Bürgertum – keine Anziehungskraft aus49. d) Das Zentrum gehörte fast allen Regierungen der Weimarer Republik an, weil es noch am ehesten in der Lage war, unterschiedliche Interessen zu vereinen und damit auszugleichen, sosehr den linken und rechten Flügel auch gravierende Meinungsverschiedenheiten voneinander trennten. Wie schon im Kaiserreich konnte die Zentrumspartei beträchtliche Teile des katholischen Lagers aus allen Schichten an sich binden50. Vielleicht der bedeutendste Politiker des Zentrums (der ähnlich wie Joseph Wirth bei der politischen Rechten verfemte Matthias Erzberger war 47 Vgl. Thomas Mergel, Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928–1932, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 323–368. 48 Vgl. Lothar Döhn, Politik und Interesse. Die Interessenstruktur der Deutschen Volkspartei, Meisenheim am Glan 1970; vgl. Ludwig Richter, Die Deutsche Volkspartei 1918–1933, Düsseldorf 2002. 49 Vgl. Werner Stephan, Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918–1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei, Göttingen 1973. 50 Vgl. Rudolf Morsey, Die deutsche Zentrumspartei 1917–1923, Düsseldorf 1966.
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bereits 1921 einem Attentat erlegen) mag Wilhelm Marx gewesen sein (Parteivorsitzender von 1920 bis 1928), der mehrfach als Reichskanzler amtierte. Unter Prälat Ludwig Kaas kam es ab 1928 zu einem gewissen Schwenk nach rechts, wie auch die Kanzlerzeit Heinrich Brünings (1930–1932) gezeigt hat51. In Bayern vertrat die Bayerische Volkspartei, die sich 1920 vom Zentrum getrennt hatte, den politischen Katholizismus, mit einer deutlichen Rechtsorientierung und in einer betont föderalistischen, wenn nicht gar partikularistischen Variante. e) Die SPD gehörte eher zu einer Stütze der Republik, wenngleich sie ihr Verhältnis zum Staat nicht eindeutig zu bestimmen vermochte. Die aus dem Kaiserreich herrührende Kluft zwischen radikaler Ideologie und reformerischer Praxis wirkte fort, freilich in gemilderter Form. Allerdings oblag der Sozialdemokratie in Weimar Verantwortung, während sie im Kaiserreich von der politischen Willensbildung weitgehend ausgeschlossen blieb. Verschärft wurde dieses Dilemma durch einen „Zweifrontenkampf “, dem sich die SPD und ihre Führer Friedrich Ebert, Hermann Müller sowie Otto Wels ausgesetzt sahen: Viele bürgerliche Parteien wetterten gegen den Marxismus der SPD, während umgekehrt die Kommunisten ihr Verrat an dessen Prinzipien vorwarfen. Die bis zum Jahre 1932 stärkste Partei war die meiste Zeit in der Opposition – Symptom für den mangelnden Gestaltungswillen der demokratischen Arbeiterpartei, die allerdings in Preußen bis zum „PreußenSchlag“ vom 20. Juli 1932 in der Regierung blieb. f ) Die KPD wurde durch die Spaltung der USPD – der radikale Flügel wandte sich den Kommunisten zu, der gemäßigte ging zur Sozialdemokratie zurück – eine Massenpartei, die der Weimarer Republik den Kampf ansagte. Ihre Aufstandsversuche von 1921 und 1923 blieben erfolglos, trieben die Republik eher nach rechts. Zunehmend sah die KPD ihr Heil in Moskau, sie wurde unter ihrem Führer Ernst Thälmann ein linientreuer Befehlsempfänger sowjetischer Politik („Bolschewisierung“ der KPD). Abhängig von dieser in personeller, finanzieller, ideologischer und organisatorischer Hinsicht52 proklamierte die KPD von 1929 bis zum Ende der Weimarer Republik ihre von der Sowjetunion aus internen Gründen geförderte „Sozialfaschismus“-These. Für die KPD galt die SPD als der Hauptfeind, dessen Stimmenanteil sie niemals erreichte, wenngleich die Differenz in der Größenordnung zwischen den beiden Arbeiterparteien am Ende abnahm53. g) Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, aus einer völkischen Gruppe entstanden, verkündete einen fanatischen Antisemitismus und aggressiven Nationalismus, der sich mit sozialdarwinistischen Ideen verband. Sie proklamierte einen 51 Vgl. Karsten Ruppert, Die weltanschaulich bedingte Politik der Deutschen Zentrumspartei in ihrer Weimarer Epoche, in: Historische Zeitschrift 285 (2007), S. 50–97. 52 Vgl. Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stabilisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1969. 53 Vgl. Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996.
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unerbittlichen Kampf gegen Liberalismus und Kommunismus. Ursprünglich nur eine der vielen Splitterparteien, profitierte die Partei Adolf Hitlers – seit 1921 ihr Vorsitzender – von der Weltwirtschaftskrise und wuchs im Jahre 1932 zur weitaus stärksten Kraft, auch durch die Absplitterung des Straßer-Flügels im Jahre 1932 nicht sichtlich geschwächt. Nicht nur ein Teil des Mittelstandes, der seine Existenz gefährdet sah, sondern auch die Arbeiterschaft zeigte sich für demagogische Parolen empfänglich. Die Unterschätzung der nationalsozialistischen Dynamik war allgemein – sie reichte von den Deutschnationalen bis zu den Kommunisten. Die Öffentlichkeit sah in Hitler vielfach nur einen „Trommler“. Diese beiden Kräfte verbreiterten das „etablierte“ Parteiengefüge und belasteten die ohnehin ungefestigte Demokratie weiter. Beide bekämpften das „System“ unnachsichtig und rücksichtslos. Der politische Extremismus fristete in der ersten deutschen Demokratie kein Mauerblümchendasein, ganz abgesehen davon, dass bei den erwähnten Parteien auch antidemokratische Tendenzen bemerkbar waren, am stärksten bei der DNVP, die ihrer obrigkeitlichen Traditionen wegen die Weimarer Demokratie innerlich niemals akzeptieren konnte.
3.3. Parteiensystem Die Wahlen in der Weimarer Republik brachten niemals einer Partei eine Mehrheit, nicht zuletzt bedingt durch das 1918 eingeführte Verhältniswahlrecht, bei dem so gut wie keine Stimme verlorenging. Auf 60.000 Stimmen entfiel ein Mandat, sieht man von einigen Kautelen ab54, die aber für die größeren Parteien nicht zutrafen. Eine seit langem erhobene Forderung der Sozialdemokraten ging mit dem Verhältniswahlsystem in Erfüllung, aber auch die anderen Parteien waren in der Situation nach dem Ersten Weltkrieg von diesem Wahlmodus angetan, weil er eine (perzipierte) Mehrheit der Sozialdemokratie abblockte. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament (vgl. Tabelle 2) verliefen die Regierungsbildungen häufig kompliziert, und es ist charakteristisch, dass kein Reichstag die volle Legislaturperiode überstand. Fünf der 20 Weimarer Reichsregierungen leiteten Kanzler, die weder Parlaments- noch Parteimitglieder waren. Ungefähr 40 Prozent der Minister gehörten nicht dem Reichstag an und etwa 20 Prozent nicht einmal einer Partei. Eine Minderheitsregierung, von der Mehrheit des Parlaments toleriert, stellte ebenso keine Seltenheit des Weimarer Parlamentarismus dar wie ein – für ein parlamentarisches System an sich nicht vorgesehenes – „Kabinett der Fachleute“ oder ein „Kabinett der Persönlichkeiten“. Der „Parteienstaat“ hatte sich in Weimar nicht 54 Diese sind für kleinere Parteien beträchtlich gewesen. So blieben bei der Reichstagswahl 1928 1.548.762 Stimmen unverwertet. Vgl. Bernhard Vogel/Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze, Wahlen in Deutschland. Theorie – Geschichte – Dokumente. 1848–1970, Berlin/New York 1971, S. 151.
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durchgesetzt, was sich beispielsweise auch in der Vielzahl der als „Gegenkräfte zu den Parteien“ (Karlheinz Dederke) gedachten Bünden zeigte, obwohl diese teilweise selber eigene Bünde hervorbrachten: die Kommunisten den „Rotfrontkämpferbund“, die Deutschnationalen den „Stahlhelm“, die Parteien der Mitte das „Reichsbanner“, dessen 3,5 Millionen Mitglieder sich vor allem aus den Reihen der Sozialdemokratie rekrutierten. Parteien galten für Teile der Bevölkerung als Fremdkörper, die das Gemeinwohl gefährdeten. Tabelle 2: Wahlergebnisse bei den Reichstagswahlen von 1919 bis 1933 (in Prozent) Wahljahr
Wahlbeteiligung
1919
83,0
1920 1924 (Mai)
KPD USPD
SPD
DDP
Zentrum
BVP
DVP
37,9
18,5
19,7
–
4,4
DNVP NSDAP Sonst. Parteien
–
7,6
10,3
–
1,6
79,2
2,1
17,9
21,7
8,3
13,6
4,4
13,9
15,1
–
4,0
77,4
12,6
0,8
20,5
5,7
13,4
3,2
9,2
19,5
6,5
8,6
1924 (Dez.)
78,8
9,0
0,3
26,0
6,3
13,6
3,7
10,1
20,5
3,0
7,5
1928
75,6
10,6
0,1
29,8
4,9
12,1
3,1
8,7
14,2
2,6
13,9
1930
82,0
13,1
–
24,5
3,8
11,8
3,0
4,5
7,0
18,3
14,0
1932 (Juli)
84,1
14,3
–
21,6
1,0
12,5
3,2
1,2
5,9
37,3
3,0
1932 (Nov.)
80,6
16,9
–
20,4
1,0
11,9
3,1
1,9
8,3
33,1
3,4
1933 (März)
88,8
12,3
–
18,3
0,9
11,2
2,7
1,1
8,0
43,9
1,6
Quelle: Bernhard Vogel/Dieter Nohlen/Rainer O. Schultze, Wahlen in Deutschland. Theorie – Geschichte – Dokumente. 1948–1970, Berlin/New York 1971, S. 296 f.
Die ideologisch verhärteten Parteien besaßen nur ein unzureichendes Verständnis für die Funktionsbedingungen eines parlamentarischen Systems. Vorwiegend an der überkommenen Gewaltenteilungsdoktrin orientiert, fühlten sie sich vor allem zur Kontrolle der Regierung berufen. Zu den Grotesken des Weimarer Semi-Parteienstaates gehört, dass die Fraktionen manchmal selbst dann gegen eine Regierungsvorlage stimmten, wenn Minister der eigenen Partei in der Regierung saßen. So lehnte die SPD-Fraktion gegen das Votum der von SPD-Kanzler Hermann Müller geführten Regierung den Bau des Panzerkreuzers A 1928 ab. Müller musste sich als Abgeordneter entsprechend der Fraktionsdisziplin seiner Partei im Plenum anschließen. Die Parteien scheuten Verantwortung auch deshalb, weil die Lösung der drückenden Probleme unpopuläre Maßnahmen erforderte. Sie begriffen sich zuweilen als Gegengewicht zur Exekutive. Das Verständnis für eine durch das Gegenüber von parlamentarischer/n Mehrheitsfraktion(en)
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und parlamentarischer Opposition gekennzeichnete Parteiendemokratie fehlte, bedingt nicht zuletzt durch die historischen Vorbelastungen. Die Zusammenarbeit zwischen den systemloyalen Parteien funktionierte – mit einigen Ausnahmen55 – nicht sonderlich gut. Wer in erster Linie auf die radikalen Flügelparteien von rechts und links abstellt – sie spielten nicht nur im Reichstag eine destruktive Rolle56 – sowie die Parteienzersplitterung erwähnt, macht es sich zu einfach. Die Koalitionsregierungen brachen mehr wegen der Umorientierung von Parteien auseinander als durch ein destruktives Misstrauensvotum. Was schon bei der Gründung der Parteien angelegt war, sich im Kaiserreich fortsetzte, schwächte sich in der Weimarer Republik nicht ab – „die selbstzerstörerische Eigenart der deutschen Parteien, die ihren eigentlichen Daseinszweck nicht in der parlamentarischen Mehrheits- und Regierungsbildung, sondern in Sinnstiftung und Wahrheitsverkündung sehen, so dass jede Politik, die sich mit der eigenen nicht deckt, ohne weiteres feindlich ist“57. In Weimar aber bedurfte es der Mehrheitsbildung der Parteien. Insofern war der mangelnde Pragmatismus ein besonderer Strukturdefekt.
3.4. Die „Krise des Parteienstaates“ War das Ende des Weimarer „Parteienstaates“ geradezu zwangsläufig? Werner Conze hatte 1954 in einem programmatischen Aufsatz von einer tiefgehenden „Krise des Parteienstaats“ um das Jahr 1930 gesprochen. Nach Conze waren die Gegensätze zwischen der rechten (DVP) und der linken Regierungspartei (SPD) – mithin die zentrifugalen Kräfte – so stark, dass die parlamentarische Mehrheitsbildung – noch vor dem Aufstieg der NSDAP – habe scheitern müssen und der Übergang zum Präsidialsystem geradezu von innerer Notwendigkeit war58. Karl Dietrich Bracher hingegen wandte sich gegen den als deterministisch bezeichneten Ansatz Conzes, betonte demgegenüber immer wieder die vielfältigen Möglichkeiten zur Überwindung der „Weimarer Staatskrise“, gleichzeitig auf die Brüning’sche Präsidiallösung verweisend, die sich aus einem unpolitischen Denken scheinbarer Überparteilichkeit heraus ganz bewusst von einer parteiendemokratischen Politik abgewandt hatte. Die Notverordnungspolitik der
55 Vgl. Hartmut Schustereit, Linksliberalismus und Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. Eine vergleichende Betrachtung der Politik von DDP und SPD 1919–1930, Düsseldorf 1975. 56 Vgl. Jürgen Plöhn, Extremismus im Reichstag der Weimarer Republik. Zum Zusammenspiel der Kräfte, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 22, Baden-Baden 2010, S. 65–77; Marc Debus/Martin Ejnar Hansen, Die Dimensionalität der Reichstage der Weimarer Republik von 1920 bis 1932, in: Politische Vierteljahresschrift 51 (2010), S. 15–42. 57 Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982, S. 70. 58 Vgl. Werner Conze, Die Krise des Parteienstaates in Deutschland 1929/30, in: Historische Zeitschrift 178 (1954), S. 47–83.
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Regierung Brüning verschärfte die Krise der Parteien, erleichterte jedenfalls nicht die Bereitschaft der Parteien zur Kooperation59. Wie immer man diese ein großes Echo auslösende Kontroverse bewertet – Brünings Memoiren haben Bracher, wenn auch unfreiwillig, in weiten Teilen bestätigt –, die Weimarer Parteiendemokratie war bereits vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus in eine ernste Krise geraten. Durch ihn wurde ein – bereits angesichts der verfassungsrechtlichen und politischen Konstellationen nur eingeschränkt mögliches – parteiendemokratisch regiertes System aufgrund der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse geradezu verhindert. Freilich lässt sich dieser Sachverhalt nicht in dem Sinne deuten, als sei die Machtübernahme der Nationalsozialisten unabwendbar gewesen, so sehr auch deren Wahlerfolge (von 2,6 [1928] auf 18,3 [1930] und 37,3 Prozent [1932]) vor dem Hintergrund der erstaunlichen Kontinuität des deutschen Parteiensystems völlig überraschend gekommen waren. Die Radikalisierung schritt mit der Verschlechterung der ökonomischen Lage umso rapider voran. Im Jahre 1932 gewannen die beiden offen systemfeindlich operierenden Flügelparteien – die NSDAP und die KPD – die absolute Mehrheit der Mandate. Wurden die liberalen Parteien in der Endphase der Weimarer Republik fast gänzlich aufgerieben, so erwies sich die Wählerschaft der SPD und des Zentrums der nationalsozialistischen Propaganda gegenüber vergleichsweise immun.60 Allerdings lässt sich der Untergang der Weimarer Demokratie monokausal – in diesem Fall ökonomisch – nicht hinreichend schlüssig erklären, denn auch andere Demokratien (von freilich größerer Stabilität und tieferer historischer Verwurzelung) sahen sich ähnlichen Herausforderungen ausgesetzt und das „etablierte“ Parteiensystem wurde nur unwesentlich erschüttert. Es herrscht weitgehender Konsens in der Forschung, dass ein vielschichtiges Ursachenbündel zusammengekommen ist, wobei über die konkrete Gewichtung die Meinungen stark differieren. „Wie sich Stellung und Gewicht der Parteien in diesem Prozess bestimmen werden, ob ihr Ende gekommen ist, ob ihr Gesicht und Bestand trotz allem gewahrt bleibt oder ob sie gerade nun in einer Neuformierung an Gestalt, Gehalt und Kräfteeinsatz das zur Mitverantwortung aufgerufene Volk neu aktivieren werden – es sind Fragen an die Zukunft.“61 So urteilte Sigmund Neumann im Jahre 1932, das jähe Ende, das einerseits durch Preisgabe demokratischer Kräfte, andererseits aufgrund von Zerstörung durch diktatorische Kräfte erfolgte, offenbar nicht ahnend. In der Tat war die Situation selbst nach den beiden Reichstagswahlen des Jahres 1932 noch offen. 59 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Parteienstaat, Präsidialsystem, Notstand. Zum Problem der Weimarer Staatskrise, in: Politische Vierteljahresschrift 3 (1962), S. 212–224. 60 Wie jedoch die zahlreichen Untersuchungen von Jürgen W. Falter gezeigt haben, sind die Wahlerfolge der NSDAP nicht ausschließlich dem „Einbruch“ beim Mittelstand zuzuschreiben. Auch ein Teil der Arbeiterschaft wandte sich der NSDAP zu, wie diese überhaupt aus allen Schichten Zulauf erhielt. Vgl. ders., Hitlers Wähler, München 1991. 61 Sigmund Neumann (Anm. 15), S. 110.
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Das Parteiensystem des Kaiserreiches und der Weimarer Republik
4.
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Vergleich
Das Kaiserreich war keine Demokratie, die Weimarer Republik die erste deutsche Demokratie. Trotz dieser unterschiedlichen Grundstrukturen gibt es auffallende Ähnlichkeiten. Das gilt für die Parteien wie für das Parteiensystem. Obwohl sich das Wahlsystem grundlegend voneinander unterschied, wirkte sich dieser Umstand auf die Parteien und das Parteiensystem weniger aus. Gewiss, die „Reichweite“ der Partei im konstitutionellen System des Kaiserreichs war eine geringere als in der Weimarer Republik, doch in der ersten deutschen Demokratie fiel diese weit schwächer aus als später in der Bundesrepublik Deutschland. Der für den „Konstitutionalismus“ typische Dualismus von Regierung und Parlament sollte sich später, nach der Parlamentarisierung, zum Teil fortsetzen – mit negativen Folgen. Das sich während der 1848er Revolution in ersten Ansätzen herauskristallisierende Fünfparteiensystem (Konservative, politischer Katholizismus, Rechts- und Linksliberale, Sozialisten) entfaltete sich im Kaiserreich und setzte sich in der Weimarer Republik fort, wobei es durch eine rechts- und linksextreme Variante in Form der NSDAP und der KPD zu einer Vergrößerung des buntscheckigen Spektrums kam. Erst durch die Neugestaltung der Demokratie nach 1945 folgte ein grundlegender Wandel. Mit Blick auf die jeweiligen Anfänge überlagert Wandel Kontinuität. Zwar fungierten bereits vor dem Beginn des Kaiserreiches eine Vielzahl von Parteien im politischen Leben. Doch waren es mit Ausnahme der Sozialdemokraten Honoratiorenparteien, die bei der Entstehung des Kaiserreiches eine allenfalls marginale Rolle gespielt hatten. Dessen Gründung war das Werk Otto von Bismarcks, nicht das der Parteien. Sie erfolgte „von oben“, nicht „von unten“ – anders als die der Weimarer Republik. Sie ist das Produkt einer auch von Parteien vor allem des linken Spektrums getragenen revolutionären Bewegung. Die „Weimarer Koalition“ hatte bereits am Ende des Kaiserreiches miteinander kooperiert. „Die Friedensresolution des Reichstags vom Juli 1917 war eine Art Gründungspunkt jener Parteienallianz aus Linksliberalen, Zentrum und SPD, die als ‚Weimarer Koalition‘ – als Gründer und Träger der Weimarer Republik in die Geschichte eingehen sollte. Dies war die zweite Folge des Krieges für das Parteiensystem [nach der Radikalisierung und der Zersplitterung]: die Bildung eines mehrheitsfähigen Reformblocks, der auf parlamentarischer Ebene die soziokulturelle Fragmentierung des Kaiserreichs zu überwinden sich anschickte“62 – freilich wurde, wie sich bald zeigte, weder eine Mehrheitsfähigkeit erlangt noch die soziokulturelle Fragmentierung aufgelöst. Der Bruch 1918/19 ist mit Blick auf die Parteien weniger gravierend, als es den Zeitgenossen erschien.
62 Thomas Kühne, Parteien und politische Kultur in Deutschland 1815–1990, in: Andreas Kost/Werner Rellecke/Reinhold Weber (Hrsg.), Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 13–48, hier: S. 35.
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Parteien und Wahlen
Ein Blick auf die einzelnen Parteien lässt ein hohes Maß an Kontinuität erkennen. Die neuen Namen – bezogen auf die konservativen und liberalen Kräfte – lenken auf eine falsche Fährte. In der DNVP fanden sich weithin die Repräsentanten der beiden konservativen Parteien des Kaiserreiches zusammen, bei der DDP und der DVP die liberalen Kräfte des Kaiserreiches. Die Tradition war unverkennbar, wie das erst recht für die SPD und das Zentrum galt, die ihren Namen beibehalten hatten. Jede Partei, deren weltanschauliche Prägung sich fortsetzte, blieb in ihrem Milieu gefangen. Durch das Aufkommen der KPD und der NSDAP verbreiterte sich das Parteienspektrum – und es radikalisierte sich. Der Wahlkampf intensivierte sich in der Weimarer Republik. Er war länger, dramatischer, von Massenpropaganda bestimmt, stärker zentralisiert. „Reichstagswahlkämpfe der Weimarer Republik waren Multimediaereignisse ersten Ranges, welche die Aufmerksamkeit der politischen Öffentlichkeit periodisch voll und ganz auf sich zu ziehen versuchten. [...] Zwar markierten die Reichstagswahlkämpfe schon vor 1914 organisatorische Höhepunkte des freilich noch kaum institutionalisierten Parteilebens, doch erst durch die Demokratisierung von 1918 wurden sie zu Konkurrenzveranstaltungen um echte parlamentarische Machtteilhabe und neben den Parlamenten zur wichtigsten Arena der Selbstdarstellung der Parteien. Nicht zuletzt in der Wahlpropaganda spiegelten sich dabei zahlreiche Traditionsüberhänge vom kaiserlichen Deutschland zur Nachkriegszeit wider. So lässt sich die fast notorische Schwarzweißmalerei der Weimarer Parteien anlässlich von Reichstagswahlen durchaus in die Tradition der Polarisierungstechnik Bismarcks stellen.“63 Die Agitation der KPD und der NSDAP verstärkte die Polarisierung. Die beiden Kräfte waren weit voneinander entfernt und wiesen doch in ihrem Hass auf die Weimarer Republik Gemeinsamkeiten auf. Das Parteiensystem in der Weimarer Republik ist anders – und doch ähnlich. Die Interaktion zwischen den Parteien war stärker als im Kaiserreich – schon wegen der veränderten Struktur des Regierungssystems. Die Parteien wurden bei der Regierungsbildung benötigt. Die „Weimarer Koalition“ hatte schon bei der ersten Reichstagswahl 1920 ihre Mehrheit verloren und konnte sie niemals wieder erlangen. Das hatte verheerende Konsequenzen. Die drei praktizierten Koalitionsvarianten (Bürgerblock – Große Koalition – bürgerliche Minderheitsregierung, toleriert durch die SPD) – funktionierten mehr schlecht als recht. Zum einen fehlte es an Homogenität unter den beteiligten Kräften, zum anderen an einem angemessenen Verständnis für die Mechanismen eines parlamentarischen Systems. „Die Unfähigkeit der Parteien, den parlamentarischen Wirkungsraum durch stabile Mehrheitskoalitionen auszufüllen, resultierte bis zu einem gewissen Grade auch aus dem Erbe des Kaiserreiches. [...] Die Scheu, als Partei Regierungsverantwortung zu tragen, Kompromisse einzugehen und dadurch eventuell die eigene Klientel zu ent63 Dirk Lau, Wahlkämpfe der Weimarer Republik. Propaganda und Programm der politischen Parteien bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag von 1924 bis 1930, Marburg 2008, S. 436.
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täuschen, war meist stärker als die Bereitschaft, auch um den Preis erheblicher Abstriche an den eigenen Programmforderungen stabile Mehrheiten zusammenzubringen“64. Diese „stabilen Mehrheiten“ waren im Kaiserreich angesichts der starken Rolle des für die Ernennung (und Entlastung) zuständigen Monarchen keine unbedingte Notwendigkeit – anders als in der ersten Demokratie. So aber gewann der vom Volk gewählte Reichspräsident als Kriseninstanz eine tragende Rolle. Die Rolle der Parteien am Ende des Kaiserreiches und der Weimarer Republik fällt eher unterschiedlich aus. Während SPD, Zentrum und Linksliberale 1918/19 eine tragende und höchst konstruktive Haltung eingenommen hatten, galt dies für die Endphase der Weimarer Republik nicht. Das ist insofern eine Paradoxie, als das Kaiserreich im Vergleich zur Weimarer Republik weitaus weniger vom Gestaltungswillen der Parteien geprägt wurde. Allerdings verstanden sie es nicht, den neuen Staat auf eine feste demokratische Grundlage zu stellen. Die Weimarer Republik, nicht nur eine „unvollendete Demokratie“ (Horst Möller), sondern auch ein „unvollendeter Parteienstaat“ (Michael Stürmer), zeigte sich in ihrer Phase als Präsidialsystem in einem desolaten Zustand. „Die Konsequenz der präsidialen Lösung beruhte auf nichtparlamentarischen Entscheidungen, auf einer Ausklammerung des parteiendemokratischen Weges; eine Alternative wurde seit 1930 gar nicht mehr versucht. Der Zwang zur Koalitionsbildung entfiel; die Flucht aus einer Verantwortung, die unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise allen Parteien schwerfallen musste, hat der ständig mögliche Ausweg in die Präsidialregierung erleichtert. So wurde schließlich zwingend, scheinbar unausweichlich, was noch 1930 nur eine mögliche Option war: das autoritäre Experiment nach dem Wunsch des Reichspräsidenten und seiner Umgebung.“65 Karl Dietrich Bracher stellt mit dieser These stark auf die Verantwortlichkeiten (und Verantwortungslosigkeiten) der politisch Handelnden ab – zu Recht. Zugleich muss freilich der mangelnde Spielraum der Parteien betont werden. Sie sahen nicht die Notwendigkeit für einen antiextremistischen Konsensus. So nahm das „Schicksal“ seinen Lauf.
5.
Ausblick
Das Ende der Parteien kam für die Zeitgenossen überraschend schnell. Nach der Machtübernahme der NSDAP am 30. Januar 1933 – konservative Kreise glaubten, man könne Hitler „einrahmen“, dessen ungebrochenen Machtwillen und die Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung sträflich unterschätzend – drängte der „Führer“ auf Neuwahlen. Einen Tag nach dem Reichstagsbrand des holländischen Alleintäters
64 Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, 3. Aufl., München 1993, S. 73 f. 65 Karl Dietrich Bracher, Demokratie und Machtvakuum. Zum Problem des Parteienstaates in der Auflösung der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Erdmann/Hagen Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, Düsseldorf 1980, S. 109–134, hier: S. 121 f.
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Parteien und Wahlen
Marinus van der Lubbe vom 27. Februar 1933 wurde die Notverordnung „zum Schutze von Volk und Staat“ erlassen, die wichtige Grundrechte aufhob. Führende Funktionäre von KPD und der SPD kamen in Haft. Die Gleichschaltung66 nahm ihren Lauf: Die Reichstagswahl vom 5. März 1933 brachte der NSDAP bei einer extrem hohen Wahlbeteiligungsquote von 88,8 Prozent zwar beträchtliche Stimmengewinne, jedoch nicht die gewünschte absolute Mehrheit (43,9 Prozent); ihr Koalitionspartner, die DNVP, erhielt 8,0 Prozent der Stimmen. Ein weiterer bedeutsamer Schritt auf dem Wege zum Einparteienstaat nach der Inszenierung beim „Tag von Potsdam“, dem 21. März 1933, war das „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933, das auch mit den Stimmen der anderen Parteien zustande kam. Nur die SPD votierte dagegen, die KPD durfte bereits nicht mehr an der Reichstagssitzung teilnehmen. Ihre 81 Mandate wurden später „kassiert“. Mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat“, das auch die Reichsregierung zu Gesetzen ermächtigte, unterschrieben die Parteien ihr Todesurteil. Durch das missverständlich so bezeichnete „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 kam es zur Entlassung „rassisch“ und politisch nicht „einwandfreier“ Beamten, die häufig durch Nationalsozialisten ersetzt wurden. Die Entwicklung zum Einparteienstaat schritt schnell voran. Nach der Ausschaltung der Freien Gewerkschaften Anfang Mai 1933 lösten sich die bürgerlichen Parteien im Juni/Juli 1933 auf, der SPD wurde am 22. Juni 1933 jede Betätigung untersagt. Ihr nützte es nichts, dass die Reichstagsfraktion im Mai 1933 einer außenpolitischen Erklärung Hitlers beigepflichtet hatte. Das „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“ vom 14. Juli 1933 besiegelte den Einparteienstaat. Die NSDAP war, ohne auf große Widerstände zu stoßen, zur „Staatspartei“ avanciert, nicht einmal ein Jahr nach ihrem sensationellen Wahlerfolg. Bereits am 12. November 1933 fanden Neuwahlen zum Reichstag statt. Ihm gehörten fortan nur noch Abgeordnete der NSDAP an. Das „Gesetz zur Sicherung von Einheit von Partei und Staat“ vom 1. Dezember 1933 schloss die „Gleichschaltung“ ab. In ihm manifestierte sich die unauflösliche Verbundenheit zwischen Partei und Staat. „Nachträglich kann man nicht umhin, Hitlers Vorgehen gegenüber den Parteien von seinem Standpunkt aus als übereilt und kurzsichtig zu bezeichnen. Das Naziregime wäre trotz definitiver militärischer Niederlage im Mai 1945 nicht so vollständig ‚zusammengebrochen‘, von einem zum anderen Tag so total von gestern gewesen, hätte es nicht alle konkurrierenden Parteien zugunsten der einen Regimepartei samt und sonders ausgeschaltet.“67 Diese (richtige) Erkenntnis verkennt gleichwohl den Sachverhalt, dass die Ideologie der Nationalsozialisten die Existenz willfähriger Parteien verbot. 66 Der von den Nationalsozialisten geprägte Begriff wurde nicht im pejorativen Sinne gebraucht. Die beiden „Gleichschaltungsgesetze“ betrafen die Aufhebung der Ländersouveränität (31. März 1933) und die Entsendung von Reichsstatthaltern (7. April 1933). 67 Wilhelm Hennis, Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, in: Richard Löwenthal/ Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 203–243, hier: S. 206.
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Die NS-Führung ging ebenfalls gegen jene vor, die eine „zweite Revolution“ wünschten und mit der bisherigen, als halbherzig angesehenen Umgestaltung von Staat und Gesellschaft nicht zufrieden waren. Nach dem Tode Hindenburgs am 2. August 1934 übernahm der Reichskanzler auch das Amt des Reichspräsidenten und ließ die Reichswehr auf sich vereidigen. Die Gleichschaltung zum „Führerstaat“ hatte sich ohne merkbare Bestrebungen des Widerstands vollzogen. Viele Zeitgenossen ließen sich von der Legalitätstaktik des Nationalsozialismus blenden. Ähnlich wie 1933 bedeutete das Jahr 1945 für die Parteien – und nicht nur für sie – eine tiefe Zäsur68. Man kann in der Tat gewissermaßen von einer „Stunde null“ sprechen, wiewohl es etwa durch Kooperation im Widerstand Überlegungen für die Zukunft gab. Verschwand die NSDAP nach 1945 gleichsam vom Erdboden, so musste die radikale Ausschaltung der anderen Parteien im Jahre 1933 zu ihrer Nichtbelastung in den folgenden Jahren führen. „Nur“ der Makel der Zustimmung beim „Ermächtigungsgesetz“ lastete auf den bürgerlichen Parteien, während andere Organisationen und Institutionen in mannigfache Verstrickungen geraten waren. „Es ist für die Entwicklung des Bonner Staates und seines parlamentarischen Systems von gar nicht hoch genug einzuschätzender Bedeutung, dass einzig die politischen Parteien von diesem Korrumptionsprozess ausgenommen blieben. [...] Ob zu Recht oder nicht – die Parteien konnten nach 1945 den Eindruck erwecken, sie seien von Anfang an verfolgt gewesen.“69 Damit mussten die Parteien nicht die Verantwortung für das Geschehene übernehmen.70 Insofern unterschied sich die Ausgangslage völlig von der nach dem Ersten Weltkrieg. Und im Gegensatz zu damals verstanden sich die westlichen Besatzungsmächte angesichts des Ost-West-Konflikts sehr bald nicht mehr als Gegner der Deutschen. Die Parteien knüpften zum Teil an frühere Erfahrungen an (SPD, KPD), zum Teil gab es einen Neubeginn (Union, FDP). Die Kommunisten und die Sozialdemokraten stellten sich in ihre frühere Tradition, die alte Fehde brach wieder auf. Bald herrschte zwischen ihnen offene Feindschaft. Die Liberalen vereinigten sich – im Gegensatz zur Vergangenheit – in einer Partei, zunächst unter verschiedenen Parteinamen (DVP, LDP, FDP). Erst im Dezember 1948 schlossen sich in Heppenheim die liberalen Landesverbände zur FDP zusammen, womit die traditionellen Konflikte zwischen der „national-liberalen“ und der „links-liberalen“ Richtung aber keineswegs aufgehoben waren. Die CDU und die CSU waren Neugründungen, die freilich ältere Traditionen fortführten. Es ging den Gründungsvätern der Union um die Schaffung einer christlichüberkonfessionellen Partei. Sie wollten das Manko des ausschließlich auf den katholischen
68 Die Prägung durch die Jahre 1918/19 und 1989/90 ist demgegenüber deutlich schwächer. 69 Wilhelm Hennis (Anm. 67), S. 206. 70 Allerdings wirkten nach 1945 zahlreiche Politiker, die der NSDAP angehört hatten, in höheren politischen Positionen. Erst später wurde dieser Sachverhalt kritisiert.
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Parteien und Wahlen
Bevölkerungsteil orientierten Zentrums überwinden. Die Schwäche des (rechts)extremistischen Parteienspektrums nach 1945 ist weithin eine Folge der NS-Diktatur. Bei der notorischen Buntscheckigkeit des deutschen Parteiensystems konnte dessen spätere Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs vorausgesehen werden. Zu unsicher war die Zukunft angesichts der Zerstörungen, der Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, des materiellen Elends und der Arbeitslosen. Die erste Bundestagswahl 1949 war noch stark von Weimarer Einflüssen geprägt71.
71 Jürgen W. Falter, Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949 zwischen Weimar und Bonn, in: Politische Vierteljahresschrift 22 (1981), S. 236–263.
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Das „Parteiensystem“ der DDR Die DDR wies mehrere Parteien auf – und sie war doch faktisch ein Einparteienstaat, jedenfalls bis zum Herbst 1989. Die lange von der Sowjetunion abhängige SED, den Prinzipien des Marxismus-Leninismus wie dem „demokratischen Zentralismus“ verpflichtet, bestimmte die politische Willensbildung in der zweiten Diktatur auf deutschem Boden. Angst vor dem „Sozialdemokratismus“ in den eigenen Reihen grassierte, obwohl Kaderpolitik für Elitenrekrutierung sorgte. Die gleichgeschalteten Blockparteien wandelten sich nach der „Wende“ schnell, obwohl sie diese nicht mit herbeigeführt haben. War es, um die Diktatur zu retten, wirklich ein Fehler der SED, „reformunfähig“ geblieben zu sein?
1.
Einführende Überlegungen
Das Parteiensystem in der DDR war nur ein sogenanntes. Ein Wettbewerbscharakter zwischen den Parteien fehlte – jedenfalls bis Ende 1989. Das ist aber die Voraussetzung für ein Parteiensystem, das durch die Interaktion der Parteien gekennzeichnet ist. Erst im letzten Jahr der DDR entstand ein auf Konkurrenz basierendes Parteiensystem. Die Geschichte der Parteien in der DDR ist die Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Auf diesen Nenner lässt sich die Entwicklung angesichts des faktischen Monopols dieser Partei bei der politischen Willensbildung bringen, ohne dass man sich der unzulässigen Vereinfachung schuldig machte. Gleichwohl bedarf es einiger Differenzierungen: Zum einen gab es neben der „Einheitspartei“ weitere Parteien (wie in Bulgarien, Polen und der Tschechoslowakei), zum anderen muss die Vorgeschichte der Einparteienherrschaft ebenso berücksichtigt werden wie ihr rapider Auflösungsprozess. Nach den einleitenden Überlegungen (Kapitel 1) – sie verweisen knapp auf den Forschungsstand – geht es darum, die Anfänge des Parteiensystems in der SBZ einzufangen, die dank der machtpolitischen Verhältnisse sehr schnell zur Hegemonie der SED führten (Kapitel 2). Die folgenden Ausführungen (Kapitel 3) stellen den Kern des Beitrags dar. Sie zeichnen die Entwicklung zwischen 1949 und 1989 nach – unter besonderer Berücksichtigung des dominanten Einflusses der SED und der Rolle der Blockparteien.1 Im Herbst 1989 brach die DDR-Diktatur einem Kartenhaus gleich zusammen. Damit zerfiel die Herrschaft der SED; der Weg zu demokratischen Wahlen – und zur Einheit Deutschlands – wurde frei (Kapitel 4). Die abschließenden Überlegungen (Kapitel 5) fassen einerseits die Hauptlinien der Entwicklung zusammen und fragen andererseits danach, ob und wie die ostdeutsche Vergangenheit das gesamtdeutsche Parteiensystem beeinflusst hat.
1
Dieser gemeinhin verwendete Terminus ist nicht ganz korrekt, da es sich auch bei der SED um eine in den „Block“ eingebundene Partei gehandelt hat.
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Was den Forschungsstand betrifft, so sind durch den Zusammenbruch der DDR die Archive geöffnet und neue Einsichten gewonnen worden, wenngleich vieles Bekannte und Gemutmaßte im Lichte neuer Quellen bestätigt, bewiesen und erhellt werden konnte. Insbesondere für die Zeit zwischen 1945 und 1949 waren bereits vor 1989 kundige Untersuchungen angestellt und Quellen erschlossen worden, zumal im Umkreis der „Mannheimer Schule“ von Hermann Weber2. Das von Martin Broszat und Hermann Weber herausgegebene SBZ-Handbuch versammelte in einem umfassenden Kapitel zahlreiche Beiträge zu den Parteien, die auch heute – nach der neuen Aktenlage – im Kern noch Bestand haben3. Das 1985 in dritter Auflage vorgelegte „DDR Handbuch“ lieferte eine Reihe wertvoller Hinweise zum Herrschaftssystem der DDR im Allgemeinen wie zur SED und den anderen Parteien im Besonderen4. Die einschlägige Forschung ist in den 90er-Jahren durch zahlreiche Berichte, Expertisen und Gutachten der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“5 sowie der nachfolgenden Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“6 inspiriert worden. Viel ist über die Kernfrage gestritten worden, ob der Terminus „Zwangsvereinigung“ der Fusion von KPD und SPD zur SED im April 1946 gerecht wird. Auch wenn neueres Material zeigt, dass manche Mitglieder der SPD den Zusammenschluss freiwillig – freilich aufgrund von Täuschung über die wahren Absichten – vollzogen haben, führt kein Weg an folgendem Befund vorbei: Die KPD hat die SPD bald nach der Fusion gleich- und ausgeschaltet. Dies ist auch der Tenor der Arbeiten von Andreas Malycha7. Von diesem Autor stammen zudem grundlegende Studien zur SED8. Eine gute Übersicht
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3
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8
Vgl. Hermann Weber (Hrsg.), Parteiensystem zwischen Demokratie und Volksdemokratie. Dokumente und Materialien zum Funktionswandel der Parteien und Massenorganisationen in der SBZ/ DDR 1945–1950, Köln 1982; Siegfried Suckut, Blockpolitik in der SBZ/DDR 1945/1949. Die Sitzungsprotokolle des zentralen Einheitsfront-Ausschusses. Quellenedition, Köln 1986. Vgl. Martin Broszat/Hermann Weber (Hrsg.), SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone 1945– 1949, München 1990. Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, 2 Bde., 3. Aufl., Köln 1985. Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Frankfurt a. M./Baden-Baden 1995. Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Frankfurt a. M./Baden-Baden 1999. Vgl. Andreas Malycha, Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ. Eine Quellenedition, Bonn 1995; ders., Die Transformation des Parteiensystems in der SBZ 1945–1949, in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Hrsg.), Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, Berlin 2002, S. 21–45. Vgl. ders., Die SED. Geschichte ihrer Stabilisierung 1946–1953, Paderborn u. a. 2000; ders./Peter Jochen Winters, Die SED. Geschichte einer deutschen Partei, München 2009.
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auf dem neuesten Stand liegt mit dem Sammelband von Jens Gieseke und Hermann Wentker vor9. Die „befreundeten Parteien“ der SED sind vor 1989/90 lange von der Forschung vernachlässigt worden10. Das hat sich nach der „Wende“ – dieser verbreitete Terminus bringt den Zusammenbruch und den Sturz des kommunistischen Systems nicht angemessen zum Ausdruck – jedoch geändert11, wenngleich nach wie vor Forschungslücken bestehen, speziell zur CDU12. Ein Teil der Literatur zu dieser Thematik ist stark von politischen Erwägungen bestimmt: Wollen die einen den Nachweis führen, dass im Kern zur SED kein Unterschied bestand13, neigen die anderen dazu, von einer teiloppositionellen Haltung in weiten Teilen der Parteien auszugehen14. Gesamtdarstellungen zum politischen System der DDR räumen naturgemäß der SED und den Blockparteien breiten Raum ein15. Das mit fast 1500 Seiten umfangreichste Werk zu den „Parteien und Organisationen der DDR“ ist das von Gerd-Rüdiger Stephan u. a. herausgegebene Handbuch16. Es zeichnet sich einerseits durch hohen Materialreichtum und fundierte Kenntnis aus, ist andererseits freilich nicht von gewissen apologetischen Tendenzen frei, bedingt dadurch, dass eine Vielzahl der Autoren bereits in der DDR wissenschaftlich tätig war. Vergleichsweise am besten erforscht sind die Bürgerbewegungen, die dem herrschenden System den Kampf angesagt hatten17. Die DDR-Forschung ist nach dem Ende der DDR wahrlich nicht an ihr Ende gelangt. Aufgrund der neuen Quellenlage erschließen sich den Wissenschaftlern ganze Forschungsfelder, die früher (zwangsläufig)
9 Vgl. Jens Gieseke/Hermann Wentker, Die Geschichte der SED. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2011. 10 Vgl. allerdings Peter Joachim Lapp, Die befreundeten Parteien der SED. DDR-Blockparteien heute, Köln 1988. 11 Vgl. Rüdiger Henkel, Im Dienste der Staatspartei. Über Parteien und Organisationen der DDR, hrsg. von der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Baden-Baden 1994; Peter Joachim Lapp, Ausverkauf. Das Ende der Blockparteien, Berlin 1998; Jürgen Fröhlich (Hrsg.), „Bürgerliche“ Parteien in der SBZ/DDR. Zur Geschichte von CDU, LDP(D), DBD und NDPD 1945 bis 1953, Köln 1994; Thomas Koch, Die Parteien und Massenorganisationen als Sozialisationsinstanzen, in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 116–142. 12 Vgl. Ute Schmidt, Von der Blockpartei zur Volkspartei? Die Ost-CDU im Umbruch 1989–1994, Opladen 1997. 13 Vgl. Christian von Ditfurth, Blockflöten. Wie die CDU ihre realsozialistische Vergangenheit verdrängt, Köln 1991. 14 Vgl. Ehrhart Neubert, Ein politischer Zweikampf in Deutschland. Die CDU im Visier der Stasi, Freiburg u. a. 2002. 15 Vgl. Rainer Eppelmann (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Paderborn 1996; Klaus Schroeder, unter Mitarbeit von Steffen Alisch, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, Berlin 1998; Günther Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, München 2003; Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn u. a. 2003. 16 Vgl. Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7). 17 Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 1997; Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Organisation in den achtziger Jahren, Berlin 2005.
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brachlagen. Wie vor dem Schlüsseljahr 1989, so ist – neben „Horch und Guck“ (seit 1992) – das „Deutschland Archiv“ das wichtigste Periodikum über zentrale Fragen zur DDR im Allgemeinen und zu ihren Parteien im Besonderen (gewesen). Leider erscheint es seit 2013 nicht mehr in gedruckter Form. Das „Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung“ (seit 1993) widmet sich ebenfalls kontinuierlich der DDR und ihren Parteien, wenngleich nicht ausschließlich.
2.
Entwicklung 1945 bis 1949
Bereits am 10. Juni 1945, in ihrem berühmten „Befehl Nr. 2“, gestattete die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Bildung von Parteien. Es entstanden kurz darauf die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die Christlich Demokratische Union (CDU) und die LiberalDemokratische Partei Deutschlands (LDP). Für die westlichen Besatzungszonen sollte dieses Parteienspektrum Modellcharakter haben, aber nicht für die SBZ, wie sich bald drastisch zeigte. Die kommunistische Führung in der Sowjetunion war fest entschlossen, die Macht in ihrer Besatzungszone um jeden Preis beizubehalten und auszubauen. Dem diente die Transformation des Parteiensystems. Die „Gruppe Ulbricht“ – aus der UdSSR eingeflogene kommunistische Kader18 – hatte ein klares, mit der KPdSU abgestimmtes Konzept19. „Die politischen Handlungsspielräume, die die deutschen Akteure besaßen, waren von Anfang an keine deutschen Errungenschaften, sondern allein von der SMAD gebilligte Freiräume, die jeweils sowjetischem Kalkül entsprachen.“20 Der Gründungsaufruf der KPD vom 11. Juni 1945 war betont moderat gehalten, entsprechend der 1935 eingeleiteten Abkehr von der „Sozialfaschismus“-Theorie, die in der SPD den Hauptfeind sah. Die KPD erklärte, „dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen Deutschlands“21. Von den 16 Unterzeichnern des Aufrufs kamen wie Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht allein 13 Personen aus sowjetischer Emigration. Die Kommunisten setzten offenbar auf eine längere Übergangsphase22.
18 Das jüngste Mitglied, Wolfgang Leonhard (Jahrgang 1921), das sich 1948 vom Marxismus-Leninismus losgesagt hatte, lebt noch. Vgl. sein wirkungsmächtiges Memoirenwerk: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1955. 19 Vgl. Gerhard Keiderling (Hrsg.), „Gruppe Ulbricht“ in Berlin. April bis Juni 1945. Von der Vorbereitung im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentation, Berlin 1993. 20 Stefan Creuzberger, Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ, Köln u. a. 1996, S. 187. 21 Zit. nach Andreas Malycha, Die Transformation 2002 (Anm. 7), S. 27. 22 Vgl. Manfred Wilke, Konzeptionen der KPD-Führung 1944/45 für das Parteiensystem in der SBZ und der Beginn der Umsetzung, in: Deutschland Archiv 26 (1993), S. 248–255.
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Das „Parteiensystem“ der DDR
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Der Gründungsaufruf der SPD vom 15. Juni 1945 ging mit seinen wirtschaftlichen Neuordnungsvorstellungen über den der KPD hinaus. Die CDU mit Andreas Hermes an der Spitze erließ ihren Gründungsaufruf am 26. Juni. Ebenfalls von antifaschistischem Duktus durchdrungen, forderte er zwar den Schutz des Privateigentums, wollte aber den Wiederaufbau straff planen. Der auf Wilhelm Külz zurückgehende Gründungsaufruf der LDP vom 5. Juli 1945 strebte eigens die Erhaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln an. Am 14. Juli 1945 wurde die Bildung der „Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien“ beschlossen, nachdem zuvor schon ein gemeinsamer „Arbeitsausschuss“ aus Vertretern der KPD und der SPD entstanden war. Bereits der Gründungsaufruf der KPD hatte davon gesprochen, dass ein in ihm formuliertes Aktionsprogramm „als Grundlage zur Schaffung eines Blocks der antifaschistischen demokratischen Parteien [...] dienen kann“. Die Begründung lautete wie folgt: „Wir sind der Auffassung, dass ein solcher Block die feste Grundlage für die völlige Liquidierung der Überreste des Hitlerregimes und für die Aufrichtung eines demokratischen Regimes bilden kann.“23 Die Liquidierung des Hitlerregimes bedeutete damit zugleich die Liquidierung des gerade aufkeimenden demokratischen Lebens. Wenngleich die Gründung des „Blocks“ bzw. der „Einheitsfront“ erst nach den Gründungsaufrufen stattfand, bestand zwischen beiden ein enger Zusammenhang. Die „Einheitsfront“ konnte ihre Beschlüsse nur einstimmig fassen. Damit waren die bürgerlichen Parteien in eine Blockpolitik eingebunden worden und den machtpolitischen Bestrebungen der KPD bzw. später der SED unterlegen24. „Der Block wurde zu einem brauchbaren Instrument bei der Formung des Parteiensystems. Die Kommunisten wollten zunächst mit dem Block jede Koalitionsbildung ohne oder gar gegen die KPD ausschließen, später diente er ihnen zur Beherrschung des Parteiensystems.“25 In der Folgezeit entstand eine Reihe von Blockausschüssen auf Landes- und Gemeindeebene26. Die sowjetischen Kommunisten und in ihrem Gefolge die deutschen hatten nicht vor, das Votum der Bevölkerung zu akzeptieren. Das zeigt etwa die Verschmelzung von KPD und SPD zur SED. War die KPD nach Kriegsende zunächst gegen eine Vereinigung der beiden Parteien, änderte sie bald ihre Strategie. Mit Druck und Repression wurde die zögerliche SPD zum Zusammenschluss überredet, auch wenn es in ihren Reihen einige Landesvorsitzende wie Otto Buchwitz (Sachsen), Heinrich Hoffmann (Thüringen) und Carl Moltmann (Mecklenburg-Vorpommern) gab, die auf eine Fusion 23 Zit. nach Hermann Weber, DDR. Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1985, München 1996, S. 36. 24 Vgl. Kurt Schneider/Detlef Nakath, Demokratischer Block, Nationale Front und die Rolle und Funktion der Blockparteien, in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 78–102. 25 Hermann Weber, Herausbildung und Entwicklung des Parteiensystems der SBZ/DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 16–17/1996, S. 3–10, hier S. 4. 26 Vgl. Siegfried Suckut, Block-Ausschüsse, in: Martin Broszat/Hermann Weber (Anm. 3), S. 595–618.
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Parteien und Wahlen
drängten. Der Vereinigungsparteitag vom 21./22. April 1946 bildete keineswegs den Endpunkt einer Entwicklung. Schnell zeigte sich: Die vereinbarte (auch personelle) Parität stand nur auf dem Papier. Die beiden anderen Parteien – CDU und LDP – widersetzten sich zunächst kommunistischen Repressionsversuchen, verloren jedoch zunehmend ihre Eigenständigkeit und gerieten unter massiven Druck. Von einer völligen Gleichschaltung kann bis zum Jahre 1949 allerdings nicht gesprochen werden. Um das bürgerliche Lager einzubinden und zu zersplittern, wurden 1948 zwei weitere Parteien aus der Taufe gehoben: Die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Sollte die erste die Bauernschaft in das neue politische System integrieren, oblag der zweiten die Aufgabe, nationale, ja ehemals nationalsozialistische Kräfte einzubinden. Beiden Parteien – „Retortenprodukte der Kommunisten“27 – kam von vornherein kein eigenständiger Charakter zu. Ihre Vorsitzenden – Lothar Bolz von der NDPD und Ernst Goldenbaum von der DBD – gehörten vor 1933 der KPD an. Die Gründung von Massenorganisationen, die sich unter kommunistischer Regie vollzog28, Überparteilichkeit vortäuschend, war durch den „Befehl Nr. 2“ der SMAD ermöglicht worden. 1945 entstanden der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) und der Kulturbund (KB), 1946 die Freie Deutsche Jugend (FDJ) und 1947 der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD). Diese Organisationen – später kamen zahlreiche weitere hinzu – wurden mit Mandaten für die Parlamente bedacht. Sie besaßen ein Organisationsmonopol. Eine Konkurrenz unterschiedlicher Vereinigungen sollte von vornherein ausgeschlossen bleiben. Bereits frühzeitig zeigten sich bei den Massenorganisationen die Hegemonieansprüche der KPD bzw. der SED. Insofern war die ablehnende oder doch zumindest reservierte Haltung von CDU und LDP ihnen gegenüber verständlich. Die SMAD sah Gemeinde-, Kreis- und Landtagswahlen im September und Oktober 1946 vor. Angesichts vielfältiger Vorkehrungen galten die Aussichten für die SED als sehr gut. Gleichberechtigte Konkurrenz – bei der Wahlzulassung, der Zuteilung von Papier, im Wahlkampf – bestand nicht. Bei den Gemeindewahlen etwa durften CDU und LDP in einer Reihe von Gemeinden überhaupt nicht teilnehmen (z. B. wegen fehlender Lizenzen). Die Wähler konnten für eine der drei Parteien stimmen oder für die VdgB (in Sachsen noch für den Kulturbund und für die Frauenausschüsse). Die Aufstellung der VdgB sollte offenkundig dazu dienen, den bürgerlichen Parteien Stimmen von
27 Peter Joachim Lapp (Anm. 10), S. 15. 28 Vgl. Ulrich Mählert, Die Massenorganisationen im politischen System in der DDR, in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 103–115.
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Das „Parteiensystem“ der DDR
der Bauernschaft – eher eine Klientel von CDU und LDP als der SED – zu entziehen. Bezeichnenderweise stellten sich FDGB und FDJ nicht zur Wahl. Tabelle 1: Ergebnisse der Landtagswahlen vom 20. Oktober 1946 (in Prozent)
Wahlbeteiligung Ungültige Stimmen
Brandenburg
MecklenburgVorpommern
Sachsen
SachsenAnhalt
Thüringen
SBZ Insges.
91,5
90,0
92,5
91,6
87,5
91,0
4,6
5,5
6,5
5,8
4,4
5,6
SED
43,9
49,5
49,1
45,8
49,3
47,6
LDP
20,6
12,5
24,7
29,9
28,5
24,6
CDU
30,6
34,1
23,3
21,8
18,9
24,5
VdgB
4,9
3,9
1,7
2,5
3,3
2,9
Frauenausschüsse
–
–
0,6
–
–
0,2
Kulturbund
–
–
0,6
–
–
0,2
Quelle: Günter Braun, Wahlen und Abstimmungen, in: Martin Broszat/Hermann Weber (Anm. 3), S. 397.
Trotz einer Reihe von Schikanen für die bürgerlichen Parteien bekam die SED nicht das gewünschte Ergebnis29. Bei den Gemeinde- (57,1 Prozent) und Kreistagswahlen (50,1 Prozent) erreichte die SED die absolute Mehrheit (etwa zehn Prozent der Wähler gaben allerdings eine ungültige Stimme ab), nicht jedoch bei den Landtagswahlen am 20. Oktober 1946. Die SED erzielte 47,6 Prozent, die LDP 24,6, die CDU 24,5, die VdgB kam auf 2,9 Prozent, Frauenausschüsse und Kulturbund vereinigten nur jeweils 0,2 Prozent der Stimmen auf sich (vgl. Tab. 1). LDP und CDU errangen damit zusammen etwas mehr Stimmen als die SED. Die antisozialistisch auftretende LDP schnitt sogar ein klein wenig besser ab als die CDU, die einen christlichen Sozialismus propagierte. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt erreichten LDP und CDU zusammen die absolute Mehrheit, während dies der SED in keinem Land gelang. Angesichts der Blockpolitik war eine Koalition von LDP und CDU von vornherein ausgeschlossen. Die SED zog aus den Wahlergebnissen vom September und Oktober 1946 eine eindeutige Konsequenz: Fortan ließen die Kommunisten keine demokratischen Wahlen (mehr) zu. „Der Ausgang der Wahlen und die bevorstehende Konstituierung parlamentarischer Körperschaften stellten eine wichtige Zäsur in der Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone dar.“30
29 Vgl. Günter Braun, Wahlen und Abstimmungen, in: Martin Broszat/Hermann Weber (Anm. 3), S. 381–431; Stefan Creuzberger (Anm. 20), S. 44–110. 30 Ebd., S. 98.
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3.
Parteien und Wahlen
Entwicklung 1949 bis 1989
3.1. Grundlinien der Entwicklung Im Gegensatz zu demokratischen Verfassungsstaaten, in denen die Regierung und das Parlament als Volksvertretung ihre alleinige Legitimation durch freie Wahlen erhalten, bedurften die Herrschenden in einem kommunistischen System wie dem der DDR nicht der Legitimation des Volkes, obwohl nach außen hin ein solcher Eindruck erweckt wurde. Die SED beanspruchte bis zum Herbst 1989 die absolute Macht im Staat zur Wahrnehmung ihrer „führenden Rolle“. Insofern sind die Grundlinien der Entwicklung durch ein hohes Maß an Kontinuität gekennzeichnet. Als marxistisch-leninistische Partei verstand sich die SED im Sinne Lenins als Avantgarde des Proletariats, die die gesetzmäßige Entwicklung in Natur und Gesellschaft kennt und daher die weiteren Schritte auf dem Weg in den Kommunismus, d. h. in die klassenlose Gesellschaft bestimmte. Der Artikel 1 der DDR-Verfassung von 1968 kleidete das SED-Herrschaftsmonopol in folgenden Wortlaut: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-Ieninistischen Partei.“ An der „Suprematie der SED“ (Siegfried Mampel) bestand in Theorie und Praxis kein Zweifel. Hierzu gehörten die Gewaltenvereinigung, die Prinzipien des „demokratischen Zentralismus“, der unitarische Staatsaufbau, das sozialistische Eigentum an Produktionsmitteln, das unwiderrufliche Bündnis mit der Sowjetunion, der „proletarische Internationalismus“ sowie die „sozialistische Gesetzlichkeit“. Bereits von der ersten Hälfte der 50er-Jahre an erkannten die Massenorganisationen den Führungsanspruch der SED an und begriffen sich als deren Transmissionsriemen. Einerseits wurden ihre Mitglieder dazu verpflichtet, die Ziele der SED zu proklamieren und am Aufbau des Sozialismus teilzuhaben, andererseits bestand für die Massenorganisationen eine Art Rückkopplungsfunktion. Die SED erfuhr so, wo der Bevölkerung „der Schuh drückte“. Knapp zehn Millionen Bürger gehörten dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) an, über sechs Millionen der Gesellschaft für DeutschSowjetische Freundschaft (DSF), über vier Millionen dem Verband der Konsumgenossenschaften (VdK) und über drei Millionen dem Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) (vgl. Tab. 2). Mehrfachmitgliedschaften waren damit die Regel. Insgesamt existierten in der DDR etwa 35 Millionen „Organisationsbindungen“, wobei die Art der Vereinnahmung von Organisation zu Organisation schwankte und von dem Einbindungswillen der jeweiligen Person abhing, die der Organisation beigetreten war31. Vielfach wurde die 31 Vgl. Rainer Eckert, Zur Rolle der Massenorganisationen im Alltag der DDR-Bevölkerung, in: Deutscher Bundestag (Anm. 5), Bd. II/2, S. 1243–1300; Volkmar Schönburg, Die Parteien und Massenorganisationen im politischen System der SBZ/DDR, in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 143– 158.
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Das „Parteiensystem“ der DDR
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Mitgliedschaft in einer oder mehreren Massenorganisationen dazu benutzt, um das erwartete gesellschaftliche Engagement zu befriedigen, ohne dass der Mitgliedschaft eine Identifizierung mit den Zielen der SED und der Massenorganisationen zugrunde lag, und um an den (meist bescheidenen) Segnungen der Organisationen teilhaben zu können (z. B. gemeinsame Vergnügungsfahrten). „‚Massenorganisationen‘ übten in begrenztem Umfang eine zwischen Regime und Bevölkerung moderierende Scharnierfunktion aus und wirkten so systemstabilisierend. Im Alltag erschienen sie damit in einer Doppelfunktion als verlängerter Arm der SED und als Drehscheibe für pragmatische Arrangements.“32 Ihre begrenzte Prägekraft zeigt folgender Umstand: Nach dem Zusammenbruch der DDR hat sich kaum eine Massenorganisation „halten“ können. Die Volkssolidarität gehört zu den Ausnahmen. Tabelle 2: Mitgliederbestand ausgewählter gesellschaftlicher Organisationen (1988) Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB)
9.600.000
Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF)
6.400.000
Verband der Konsumgenossenschaften (VdK)
4.600.000
Deutscher Turn- und Sportbund (DTSB)
3.600.000
Freie Deutsche Jugend (FDJ)
2.300.000
Volkssolidarität
2.100.000
Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD)
1.500.000
Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter der DDR
1.500.000
Deutsches Rotes Kreuz (DRK)
705.000
Gesellschaft für Sport und Technik (GST)
650.000
Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB)
638.000
Freiwillige Feuerwehren
467.000
Kammer der Technik (KdT)
294.000
Kulturbund (KB)
277.000
URANIA
58.000
Domowina – Bund Lausitzer Sorben
14.600
Quelle: Peter Hübner (Anm. 32), S. 1729.
Entsprechend der Staatsideologie kam der Volksvertretung in der DDR eine diametral andere Funktion zu als in freiheitlichen Demokratien, trotz mancher formaler Übereinstimmungen33. Unter Berufung auf Lenin bzw. Marx sollte die Volkskammer laut Ver32 Vgl. Peter Hübner, Zur Rolle der „Massenorganisationen“ im Alltag des DDR-Bürgers, in: Deutscher Bundestag (Anm. 5), Bd. II/3, S. 1723–1769, hier S. 1769. 33 Vgl. Eckhard Jesse, Die Volkskammer der DDR: Befugnisse und Verfahren nach Verfassung und politischer Praxis, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Berlin/New York 1998, S. 1821–1844; Werner
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Parteien und Wahlen
fassung der DDR das Prinzip der Gewalteneinheit (Art. 48) verwirklichen: Sie hatte die Einheit von Beschlussfassung, Durchführung und Kontrolle zu gewährleisten und galt dem Selbstverständnis nach als das „oberste staatliche Machtorgan der DDR“. Tatsächlich aber hatten die in die Volkskammer gewählten 500 Abgeordneten (einschließlich der Berliner) keine Möglichkeit, Entscheidungen der SED zu beeinflussen oder gar zu verhindern; im Gegenteil verpflichteten sich die einzelnen Blockparteien und die Massenorganisationen in ihren Satzungen und Statuten zur Anerkennung des Führungsanspruches der SED. So hatte sich entgegen der Verfassungstheorie die Gesetzgebungskompetenz der Volkskammer nach und nach auf andere, von ihr gewählte und ihr „untergeordnete“ Organe wie den Staatsrat (das kollektive Staatsoberhaupt) und den Ministerrat verlagert. Die geringe Bedeutung der Volkskammer zeigte sich auch in ihrer notorisch niedrigen Sitzungsfrequenz: In den 70er-Jahren z. B. gab es insgesamt nur 34, zwischen 1980 bis 1986 sogar lediglich 19 Sitzungstage, an denen die Abgeordneten vollständig erschienen und den Beschlüssen der SED zustimmten. Tabelle 3: Ergebnisse der Volkskammerwahlen 1950 bis 1986 (in Prozent) Wahljahr
Wahlbeteiligung
Ja-Stimmen
1950
98,53
99,72
1954
98,51
99,46
1958
98,90
99,87
1963
99,25
99,95
1967
99,82
99,93
1971
98,48
99,85
1976
98,58
99,86
1981
99,21
99,86
1986
99,74
99,94
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Wenngleich das wesentliche Legitimationskriterium der politischen Herrschaft der SED aus der marxistisch-leninistischen Ideologie abgeleitet war, nämlich ihr Anspruch auf die „führende Rolle“ bei der Schaffung der sozialistischen Gesellschaft, verzichteten die Machthaber nach außen hin keineswegs auf eine Legitimation durch das Volk. Bei den Volkskammer- und Kommunalwahlen34 handelte es sich jedoch nicht um Wahlen
Patzelt/Roland Schirmer (Hrsg.), Die Volkskammer der DDR. Sozialistischer Parlamentarismus in Theorie und Praxis, Opladen 2002; Christian Thiem, Die Länderkammer der Deutschen Demokratischen Republik (1949–1958). Eine verfassungsgeschichtliche Darstellung von der Entstehung bis zur Auflösung, Berlin 2011. 34 Vgl. Herbert Graf/Günter Seiler, Wahl und Wahlrecht im Klassenkampf, Berlin (Ost) 1971; Oswald Unger (Hrsg.), Wahlsystem und Volksvertretung in der DDR, Berlin (Ost) 1988.
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Das „Parteiensystem“ der DDR
im freiheitlich-demokratischen Sinne, denn die führende Rolle der SED wurde nicht zur Disposition gestellt, sondern durch die möglichst 100-prozentige Stimmabgabe der Bürger für ihre Liste bestätigt. Die Auswahl der Kandidaten und ihre Aufstellung auf einer einheitlichen Liste der „Nationalen Front“ geschahen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Bereits Monate vor dem Wahltermin erfolgte der Wahlaufruf der „Nationalen Front“. In dieser Zeit zogen die „Volksvertreter“ eine Bilanz der bisherigen Politik und verpflichteten sich auf die weiteren Ziele der SED. Die werktätige Bevölkerung wurde zur Übererfüllung der Pläne angehalten. Insgesamt dienten diese Vorbereitungen zur Mobilisierung der Bevölkerung. In einem letzten Schritt vor den Wahlen stellten sich die Repräsentanten der Einheitsliste den Wählern. Eine derartige Kandidatenüberprüfung hatte mehr oder weniger eine Ventilfunktion, denn die Wähler konnten sich kritisch äußern und ihren Unmut über gewisse Mängel loswerden, Änderungen der Einheitsliste aber nicht bewirken. Der Kandidatenschlüssel war ja bereits festgelegt.
Wahlperiode
SED
CDU
LDPD
NDPD
DBD
FDGB
FDJ
DFD
VVN
KB
VdgB
SPD/ Ostberlin
Tabelle 4: Mandatsverteilung in der Volkskammer 1950 bis 1990 (einschließlich der Berliner Abgeordneten)
1. 1950–1954
110
67
66
35
33
49
25
20
19
24
12
6
2. 1954–1958
117
52
52
52
52
55
29
29
–
18
12
–
3. 1958–1963
117
52
52
52
52
55
29
29
–
18
12
–
4. 1963–1967
127
52
52
52
52
68
40
35
–
22
–
–
5. 1967–1971
127
52
52
52
52
68
40
35
–
22
–
–
6. 1971–1976
127
52
52
52
52
68
40
35
–
22
–
–
7. 1976–1981
127
52
52
52
52
68
40
35
–
22
–
–
8. 1981–1986
127
52
52
52
52
68
40
35
–
22
–
–
9. 1986–1990
127
52
52
52
52
61
37
32
–
21
14
–
Von 1954 bis 1963 sowie von 1963 bis 1986 jeweils die gleiche Zusammensetzung. Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Statistiken.
Der eigentliche Wahlakt war ein rein formeller Akt. Man ging „Zettel falten“ – mitunter geschlossen, in Hausgemeinschaften oder Arbeitskollektiven: Eine Entscheidungsmöglichkeit entfiel, da Streichungen auf dem Stimmzettel (Ja- und Nein-Felder gab es nicht) allenfalls bei Anwendung durch mehr als 50 Prozent der Wähler zu Konsequenzen geführt hätten. Selbst solche Maßnahmen unterblieben: Üblich war die offene Wahl als Vertrauensbeweis für die Kandidaten, tatsächlich aber, um nicht Misstrauen zu erwecken. Wahlkabinen wurden dementsprechend kaum benutzt. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Wahlbeteiligung immer über 98, die Zustimmungsquote für die Kandidaten
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Parteien und Wahlen
stets über 99 Prozent lag35. Wahlenthaltungen wären einer Entscheidung gegen die Einheitsliste und somit gegen den Sozialismus gleichgekommen. Wie die Tabelle 3 zeigt, betrug die Zustimmungsquote zwischen 99,46 (1954) und 99,95 Prozent (1963), die Wahlbeteiligung zwischen 98,51 (1954) und 99,74 Prozent (1986). Die Kandidatenaufstellung, die angesichts des feststehenden Wahlausgangs faktisch eine „Wahl“ bedeutete, ermöglichte dem Bürger keine Chance der Partizipation36. Es besteht an dem folgenden Befund kein Zweifel: Der SED-Staat konnte sich niemals auf eine Mehrheit seiner Bürger stützen. Ihm fehlte es an Legitimität. Die SED prägte in der DDR das politische Geschehen, wenngleich das in der parlamentarischen Repräsentanz nicht hinreichend zum Ausdruck kam (vgl. Tabelle 4). Entsprechend einem fixen Verteilungsschlüssel, der sich – jeweils nur unwesentlich – 1954, 1963 und 1986 geändert hatte, entfielen zuletzt auf die SED 127 Mandate von 500 (25,4 Prozent), auf die vier Blockparteien CDU, LDPD, DBD und NDPD je 52 (10,4 Prozent). Die übrigen Mandate erhielten die fünf Massenorganisationen FDGB (61 Mandate, 12,2 Prozent), FDJ (37 Mandate, 7,4 Prozent), DFD (32 Mandate, 6,4 Prozent), KB (21 Mandate, 4,2 Prozent) sowie – von 1986 an wieder – die VdgB (14 Mandate, 2,8 Prozent); in der ersten Legislaturperiode standen auch der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und der SPD Ostberlins37 Mandate zu.38 Da die Repräsentanten der Massenorganisationen in der Regel die Mitgliedschaft der SED besaßen, existierte selbst formal eine absolute Mehrheit der SED. Die Aufschlüsselung der parlamentarischen Zusammensetzung ist insofern wenig relevant, als die Abstimmungen in der Volkskammer einstimmig erfolgten. Die einzige Ausnahme betraf das Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung im Jahr 1972: Es gab – allerdings auf Grund einer informellen Erlaubnis der SED, die Rücksicht auf das C im Namen der CDU nehmen ließ – 14 Gegenstimmen und 8 Enthaltungen aus den Reihen der CDU-Abgeordneten.
3.2. SED Die SED wusste sich den Prinzipien des Marxismus-Leninismus verpflichtet. Ihr kam entsprechend der leninschen Parteitheorie als Repräsentant der „Arbeiterklasse“ eine Avantgardefunktion bei der Umsetzung der Klasseninteressen zu39. Das im Kommunismus
35 Vgl. Hans Michael Kloth, Vom „Zettelfalten“ zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die „Wahlfrage“, Berlin 2000. 36 Vgl. Hans-Jürgen Brandt, Die Kandidatenaufstellung zu der Volkskammer der DDR. Entscheidungsprozesse und Auswahlkriterien, Baden-Baden 1983. 37 Von 1981 an wurden auch die Abgeordneten aus Berlin (Ost) direkt gewählt. Die SED-Führung wollte so zeigen, dass der Viermächtestatus ihrer Ansicht nach nicht für ganz Berlin galt. 38 Vgl. Siegfried Heimann, Die SPD in Ostberlin 1945–1961, in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 402–425. 39 Vgl. Johannes L. Kuppe, Die SED: Avantgarde der Arbeiterklasse, Instrument der Parteiführung oder Teil einer deutschen Gesellschaft?, in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 269–283.
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Das „Parteiensystem“ der DDR
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angelegte Ziel vom „Absterben des Staates“ lief keineswegs auf eine Entmachtung der SED hinaus – im Gegenteil: Die SED sah keinen Widerspruch zwischen ihrer Funktion als Kaderpartei und ihrer Funktion als Massenpartei. Vom Jahre 1948 an entwickelte sie sich verstärkt zur „Partei neuen Typus“, bis auf dem III. Parteitag im Juli 1950 dieser Schritt offiziell vollzogen wurde. Damit war die Formierung als marxistisch-leninistische Kaderpartei im Sinne der Sowjetunion gemeint. In Louis Fürnbergs „Lied von der Partei“40, der auf diesem Parteitag erstmals gehuldigt wurde, hieß es eingangs: „Die Partei hat immer Recht. / Sie hat uns alles gegeben, / Sonne und Wind, und sie geizte nie. / Wo sie war, war das Leben, / was wir sind, sind wir durch sie.“ Der Kampf gegen den „Sozialdemokratismus“ in den eigenen Reihen stand fortan im Vordergrund der Säuberungen, Schauprozesse größeren Stils wie in anderen Ländern Osteuropas blieben allerdings aus. Während ihrer gesamten Existenz war die Angst der SED vor dem „Sozialdemokratismus“ inner- und außerhalb ihrer Reihen wegen der Gefahr ideologischer Diversion groß41. Umso schmerzlicher musste sie die legale Existenz der SPD in Ostberlin bis zum Bau der Mauer aufgrund des Viermächtestatus für ganz Berlin berühren42. Bekanntlich war die Urabstimmung vom 31. März 1946 unter den Berliner SPD-Mitgliedern für den Ostsektor verhindert worden. Obwohl die Wahlen in Berlin im Oktober 1946 einen klaren Wahlerfolg für die SPD brachten (Gesamt-Berlin: 48,7 Prozent für die SPD und 19,3 Prozent für die SED; Westsektoren: 51,7 Prozent für die SPD und 13,7 Prozent für die SED; sowjetischer Sektor: 43,6 Prozent für die SPD und 30,5 Prozent für die SED), sah sie sich in der Folgezeit im Ostsektor ständigen Schikanen ausgesetzt. Diese Sonderrolle wurde nach dem 13. August nicht von der Ostberliner Administration beendet, sondern vom Westberliner Landesverband der SPD, der die Lebensfähigkeit der ohnehin mannigfach geschwächten Ostberliner Organisation nicht mehr als gegeben und die Existenz ihrer Mitglieder als gefährdet ansah. Die Ostberliner SPD hatte zur Zeit des Auflösungsbeschlusses am 23. August 1961 nur noch 5327 Mitglieder. Der Mitgliederbestand der SED schnellte nach der Vereinigung von KPD und SPD – aus den Reihen der SPD kamen 53 Prozent, aus denen der KPD 47 Prozent – nach oben, fiel dann jedoch im Zuge der Bekämpfung des „Sozialdemokratismus“, des „Titoismus“ und des „Trotzkismus“ drastisch ab. Auch war man seinerzeit mit Blick auf die Entwicklung zur „Partei neuen Typs“ bestrebt, vorrangig „Aktivisten“ aufzunehmen.
40 Es war jahrzehntelang die Hymne der SED und erhellt deren Absolutheitsanspruch drastisch. Vgl. Joachim Kahl, „Die Partei, die Partei, die hat immer recht ...“ Kritik der marxistisch-leninistischen Partei. Eine ideologiekritische Analyse des Louis Fürnbergschen „Liedes von der Partei“, in: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10 (2005), S. 88–98. 41 Vgl. Hans-Joachim Spranger, Die SED und der Sozialdemokratismus. Ideologische Abgrenzung in der DDR, Köln 1982. 42 Vgl. Stefan Wolle, Die SPD in Ostberlin (1946–1961), in: Deutscher Bundestag (Anm. 5), Bd. II/4, S. 2941–2990; Vgl. Siegfried Heimann, Die Sonderentwicklung der SPD in Ostberlin 1945–1961, in: Deutscher Bundestag (Anm. 5), Bd. II/3, S. 1648–1688.
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Parteien und Wahlen
Von Anfang der 50er-Jahre an stieg die Zahl der Mitglieder kontinuierlich; Mitte der 70er-Jahre lag sie bei über zwei Millionen, mit leicht nach oben weisender Tendenz (vgl. Tab. 5). Die Parteiführung wünschte einen hohen Arbeiteranteil, der in den 70ern bei über 50 Prozent gelegen haben soll – wobei die Frage der Zuordnung (erlernter oder ausgeübter Beruf ) einerseits vielfältige Möglichkeiten der Manipulation geboten hat und andererseits nichts über die Ideologie der jeweiligen Person aussagt. Tabelle 5: Mitgliederentwicklung der SED 1946
1.298.000
1954
1.413.000
1976
2.044.000
1947
1.786.000
1957
1.473.000
1977
2.075.000
1948
ca. 2.000.000
1961
1.611.000
1980
2.131.000
1949
1.774.000
1963
1.680.000
1981
2.172.000
1950
1.750.000
1966
1.770.000
1984
2.238.000
1951
1.221.000
1971
1.910.000
1986
2.304.000
1953
1.230.000
1973
1.952.000
1989
ca. 2.300.000
Quelle: Robert Hofmann (Anm. 74), S. 311.
Zur Durchsetzung ihres Monopolanspruchs im Bereich der politischen Willensbildung bedurfte die SED eines geschlossenen Parteiapparates. Er war nach dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ organisiert: Die Wahlen zu den Parteieinheiten erfolgten von unten nach oben. Die von der Parteizentrale, dem Parteibüro und dem ZKSekretariat ausgehenden Entscheidungen – auch personeller Art – waren aber bindend, die jeweiligen Parteieinheiten den übergeordneten Instanzen rechenschaftspflichtig. Der Aufbau des Staatsapparates entsprach dem gleichen Schema, damit die allein herrschende Partei ihren Willen in den staatlichen und wirtschaftlichen Organen möglichst effektiv durchsetzen sowie die Ausführung kontrollieren konnte. Die Verzahnung aller von SED-Kadern besetzen Ämter und Behörden mit dem Apparat der marxistisch-leninistischen Partei sowie die Ausschaltung jeglicher gesellschaftlicher Konkurrenz durch die Schaffung bzw. Duldung SED-abhängiger bzw. -höriger gesellschaftlicher Organisationen und Parteien kennzeichneten das Machtmonopol der SED in der „sozialistischen Demokratie“. Sie sollte die Identität von Regierenden und Regierten symbolisieren. Das Herrschaftsmonopol der Partei blieb unangetastet. Allerdings sah sich die SED angesichts des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu Konzessionen an die wissenschaftliche Elite und zu gewissem Effizienzdenken gezwungen43. Freilich verlief dieser Prozess keineswegs geradlinig. Phasen der „Liberalisierung“ wechselten mit solchen der „Dogmatisierung“. Die von der SED hervorgehobene Identität von Regierenden 43 Vgl. Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, 3. Aufl., Köln 1970.
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Das „Parteiensystem“ der DDR
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und Regierten entsprach keineswegs der Realität. Die DDR war zwar zentralistisch organisiert, aber weit weniger monolithisch, als es die Parteispitze wahrhaben wollte. Die Partei sollte die staatlichen Instanzen anleiten, diese wiederum hatten die Aufgabe, die Weisungen der Partei umsetzen. In der Praxis kam es zu vielfältigen Verschränkungen. Spitzenpositionen im Staat wurden fast ausschließlich durch Mitglieder der SED besetzt. Oblag das Amt des Volkskammerpräsidenten früher Mitgliedern der Blockparteien (von 1949 bis 1969 präsidierte Johannes Dieckmann [LDPD], von 1969 bis 1976 Gerald Götting [CDU]), so übte dieses Amt später Horst Sindermann (SED) aus. Nach der Abberufung von Heinrich Toeplitz (CDU) vom Amt Präsidenten des Obersten Gerichts im Jahr 1986 verfügte kein Mitglied einer Blockpartei mehr über eine politische Spitzenstellung. Durch Kaderpolitik, die auf einem geheim gehaltenen Nomenklatursystem basiert, erfolgte nicht nur Elitenrekrutierung, sondern auch eine Steuerung der wichtigsten Prozesse in der Gesellschaft44. Die Nomenklatur enthielt Verzeichnisse, in die „Aktivisten“ aufgenommen wurden. Das Nomenklatursystem war mehrfach gestuft (Zentrale, Länder bzw. Bezirke, Kreise). Es galt nicht nur für die Funktionen in der Partei, sondern auch im Staat. So ließ sich sicherstellen, dass ausschließlich politisch zuverlässige (bzw. politisch zuverlässig erscheinende) Personen an wichtige Stellen vorrückten. „Bewährte man sich nach den Vorstellungen desjenigen, der den Nomenklatur-Kader vorgeschlagen oder bestätigt hatte, konnte man die soziale Stufenleiter hinaufklettern. Die Bürokratie bevorzugte allerdings zumeist Gehorsam und Mittelmaß. Wer sich in ihren Augen jedoch nicht bewährte, vielleicht zu kritisch war oder auf Neuerungen drängte, wurde sehr schnell zur Persona non grata. Sozialer Abstieg und gesellschaftliche Isolation, manchmal sogar Kriminalisierung, Verfolgung und ‚Sippenhaft‘ waren die Folge.“45 An der Bedeutung des Nomenklatursystems kann jedoch kein Zweifel bestehen. Der „demokratische Zentralismus“ war das grundlegende Leistungs- und Organisationsprinzip nicht nur des Staates, sondern auch der SED. Zu seinen unverbrüchlich geltenden Elementen zählten die Leitung der Partei von der Spitze aus, die Verbindlichkeit der Beschlüsse für die untergeordneten Instanzen und das „Fraktionsverbot“. So hieß es in Ziffer 32 des Statuts der SED: „Die Parteimitglieder haben die Pflicht, darüber zu wachen, dass die innerparteiliche Demokratie nicht von den Feinden der Arbeiterklasse dazu ausgenutzt werden kann, die Parteilinie zu entstellen, den Willen einer unbedeutenden Minderheit der Mehrheit der Partei aufzuzwingen oder durch die Bildung von fraktionellen Gruppierungen die Einheit der Partei zu zerstören und Spaltungsversuche zu unternehmen.“ Mit der Warnung vor „fraktionellen“ Gruppierungen ließ sich jede andere Meinung mundtot machen.
44 Vgl. Gert-Joachim Glaeßner, Herrschaft durch Kader. Leitung der Gesellschaft und Kaderpolitik in der DDR, Opladen 1977; Monika Kaiser, Herrschaftsinstrumente und Funktionsmechanismen der SED in Bezirk, Kreis und Kommune, in: Deutscher Bundestag (Anm. 5), Bd. II/1, S. 1791–1834. 45 Ebd., S. 1819.
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Parteien und Wahlen
Die SED war hierarchisch gegliedert. Die Grundorganisationen bildeten die unterste Organisationseinheit, danach kamen die Kreispartei-, schließlich die Bezirksparteiorganisationen, gegliedert jeweils nach dem Territorialprinzip und dem Produktionsstättenprinzip (Betriebe). Der hauptamtliche Parteiapparat bestand 1989 aus etwa 44.000 Personen. Die eigentliche Macht lag beim Politbüro des ZK der SED46, obwohl dies aus dem SED-Statut so nicht hervorging. Ihm gehörten etwa 20 hohe Partei- und Staatsfunktionäre an. Dort kam es kaum zu Aussprachen und ganz selten zu Abstimmungen; vielmehr entschied der Generalsekretär der Partei im Alleingang, zum Teil in Abstimmung mit Vertrauten, zum Teil unter Umgehung des Politbüros.
3.3. Die Blockparteien Jeder vierte erwachsene DDR-Bürger gehörte 1989 der SED an (2,3 Mio.), aber nur jeder 25. einer der vier Blockparteien (1989 knapp 500 000), wobei von den 70er-Jahren an eine Zunahme zu verzeichnen war (vgl. Tab. 6). Blockparteien durften im Gegensatz zur SED in den Betrieben keine Parteigruppen haben. Wie bereits ausgeführt, waren sie von den zentralen Entscheidungen ausgenommen, obwohl sie diese mittrugen47. In schwierigen politischen Situationen griff die SED gerne auf sie zurück – dann erhöhte sich auch ihr Handlungsspielraum. Für die SED firmierten sie „als Verbündete und als potenzielle Konkurrenten“48. Die CDU avancierte unter dem Parteivorsitz von Otto Nuschke (1948–1957) zu einer Partei, die die Entwicklung in der DDR mit gewissen Vorbehalten zu unterstützen begann. Es war beabsichtigt, Christen in das politische System zu integrieren. Teils vollzog sich der Prozess der Gleichschaltung unspektakulär, teils wurde er durch Repressionen (etwa durch Verhaftungen von Funktionären) forciert49. Unter Gerald Götting, der von 1949 bis 1966 als Generalsekretär fungierte und den Vorsitz von 1966 bis 1989 innehatte, vollzog sich ein weitgehender Angleichungsprozess an die SED. Die LDPD, die im Jahre 1951 ihrem ursprünglichen Namen (LDP) ein „Deutschland“ hinzugefügt hatte, um den gesamtdeutschen Anspruch herauszukehren, setzte sich nach dem Tod ihres Parteivorsitzenden Wilhelm Külz im Jahre 1948 vorübergehend stärker von der SED ab, doch Verhaftungen und Verfolgungen brachten die Partei „auf Linie“. In der Folgezeit wurde sie erfolgreich in den „Block“ eingebunden. Der
46 Ebd., S. 1819. 47 Die Staatssicherheit, die von den 70er-Jahren an ihre Methoden „verfeinerte“ – „Zersetzung“ löste offene Repression ab (vgl. Sandra Pingel-Schliemann, Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 2002) –, fungierte nicht als „Staat im Staat“, sondern ordnete sich als „Ideologiepolizei“ (Siegfried Mampel) prinzipiell den Direktiven der SED unter. 48 Vgl. Peter Joachim Lapp, Die Blockparteien und ihre Mitglieder, in: Deutscher Bundestag (Anm. 5), Bd. II/1, S. 290–300. 49 Siegfried Suckut, Die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung der Blockparteien, in: Deutscher Bundestag (Anm. 5), Bd. II/1, S. 282–290, hier S. 289.
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Das „Parteiensystem“ der DDR
Generalsekretär (1954–1967) und langjährige Parteivorsitzende (1967–1990) Manfred Gerlach hatte daran keinen geringen Anteil.50 Was für die CDU galt, traf ebenso auf die LDPD zu: So manche „einfache“ Mitglieder standen den politischen Vorstellungen der Spitzenfunktionäre nicht nahe. Tabelle 6: Mitgliederentwicklung der DDR-Blockparteien 1970
1977
1985
Sept. 1989
CDU
95.000
115.000
131.000
141.000
März 1990
DBD
84.000
91.000
110.000
125.000
99.000
LDPD
68.000
75.000
92.000
113.000
110.000
134.000
NDPD
81.000
85.000
98.000
112.000
ca. 50.000
Summe
28.000
366.000
431.000
491.000
ca. 393.000
Quelle: Dietrich Staritz/Siegfried Suckut (Anm. 66), S. 219.
Wie bereits erwähnt, waren die DBD51 und der NDPD52 1948 als Satelliten der SED ins Leben gerufen worden. Sie spielten diese Rolle bis ins Jahr 1989 hinein und machten jeden Schwenk der SED mit. Ernst Goldenbaum, Ernst Mecklenburg und Günther Maleuda53 waren führende Repräsentanten bei der DBD, Lothar Bolz und Heinrich Homann bei der NDPD. Ein Teil der Mitgliedschaft versuchte etwas andere Akzente zu setzen, z. B. bei der Kollektivierung der Landwirtschaft (DBD) und dem Kurswechsel der SED in der „nationalen Frage“ (NDPD). Besonders für die NDPD war es nicht leicht, ihre Unentbehrlichkeit zu begründen, da die SED den gesamtdeutschen Nationsbegriff Anfang der 70er-Jahre aufzugeben begann und die Partei sich um die gleiche Schicht kümmern sollte wie die LDPD (vornehmlich kleine Selbstständige). Nach Hermann Weber kamen den Blockparteien die folgenden Funktionen zu: „Sie hatten eine Alibifunktion (Verschleierung der kommunistischen Einparteienherrschaft und Vortäuschung demokratischer Verhältnisse), eine gesamtdeutsche Funktion (Kontakte zum Westen) sowie eine Transmissionsfunktion (Verbreitung der Vorstellungen der SED in anderen Bevölkerungsgruppen, z. B. durch die CDU in christlichen Kreisen).“54
50 Der Untertitel seiner Memoiren ist Hohn und Provokation zugleich. Vgl. ders., Mitverantwortlich. Als Liberaler im SED-Staat, Berlin 1991. 51 Vgl. Christel Nehrig, Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD), in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 343–365; Theresia Bauer, Blockparteien und Agrarrevolution von oben. Die Demokratische Bauernpartei Deutschlands 1948–1963, München 2003. 52 Vgl. Jürgen Fröhlich, Transmissionsriemen, Interessenvertretung des Handwerks oder Nischenpartei? Zur Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der NDPD, in: Deutscher Bundestag (Anm. 5), Bd. II/4, S. 1542–1578; Michael Walter, National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD), in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 366–401. 53 Er zog 1994 auf der offenen Liste der PDS in den Deutschen Bundestag ein. 54 Hermann Weber (Anm. 25), S. 8.
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Im Laufe der Jahre änderte sich die Gewichtung dieser Funktionen. So verlor die gesamtdeutsche Funktion völlig ihre Bedeutung (vielmehr versuchten die Blockparteien später – gerade umgekehrt – ihren Teil zur Eigenständigkeit der DDR beizusteuern, wenngleich ohne sonderlich großen Erfolg, da die Westparteien an einer Kontaktaufnahme nicht interessiert waren – mit einigen Einschränkungen bei der FDP in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre). Auch die Alibifunktion büßte an Relevanz ein, wurde doch eigens von der „führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse“ gesprochen. Hingegen oblag den Blockparteien die Transmissionsfunktion ununterbrochen bis in das Umbruchjahr 1989. Man könnte zusätzlich eine Integrationsfunktion nennen: Die Blockparteien sollten dazu beitragen, jenen Bürgern eine Heimstatt zu bieten, die der Politik der SED skeptisch gegenüberstanden. Diese Funktion kam einer Quadratur des Kreises gleich: Da sich die Blockparteien nicht von der SED distanzieren konnten und durften, war es ihnen kaum möglich, „Abweichler“ angemessen zu integrieren. Die Gründe, die jemanden bewogen, einer Blockpartei beizutreten, dürften – ähnlich wie bei der SED – von Person zu Person unterschiedlich gewesen sein, wobei sich über die Gewichtung streiten lässt: konstruktive Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus, Wille zu Veränderungen im Rahmen des Möglichen, Opportunismus, Schutz vor einer Vereinnahmung durch die SED, Steigerung der sozialen Kontakte. Wurde vor dem Umbruch in der DDR vor allem der affirmative Aspekt betont, so überwiegt bei den einstigen Mitgliedern seither der oppositionelle. Zwei Extrapositionen kommen wohl nicht infrage: klassenkämpferisches Engagement über die Postulate der SED hinaus und widerständiges Verhalten. Die Bedeutung der Blockparteien war nicht sonderlich groß, wenngleich keinesfalls irrelevant. Sie sollten als Transmissionsriemen der SED in jenen Bevölkerungsschichten dienen, die der herrschenden Politik (noch) fernstanden. Gewiss machten sie der SED keine Konkurrenz, aber sie gewährten den zu politischer Aktivität gedrängten Bürgern einen gewissen Schutz vor der Staatspartei, wiewohl sie in ihren Statuten deren Führungsrolle anerkannten. Viele Selbstständige sahen ihre Heimat in der LDPD, viele Christen in der CDU. Hingegen waren den beiden auf Bestreben der SED ins Leben gerufenen Blockparteien (DBD und NDPD) „die spezifischen Zielgruppen abhanden gekommen“55 – ehemalige NSDAP-Mitglieder waren ebenso (fast) nicht mehr vorhanden wie Einzelbauern. Die SED musste ein gewisses Interesse daran haben, dass in den Blockparteien Spielraum für eine begrenzte Eigenständigkeit erhalten blieb, besser: dass ein solcher Anschein aufkam. Auf diese Weise ließ sich eine effizientere Integration der abseits stehenden Bevölkerung in das Herrschaftssystem erreichen, wiewohl Eigenmächtigkeiten nicht vorkommen durften. Insofern bestand für die SED in der Existenz der Blockparteien ein Dilemma. Hätte sich Walter Ulbrichts 1963 proklamierte Konzeption der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ durchgesetzt, wäre den Blockparteien die Existenzgrundlage entzogen worden. Honecker rückte 55 Peter Joachim Lapp (Anm. 10), S. 149.
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jedoch bereits im Jahre 1971 von Ulbrichts Auffassung ab und betonte eigens die Notwendigkeit von Blockparteien in einer Gesellschaft, die gemeinsam den Sozialismus anstrebe, aber nach wie vor durch unterschiedliche Schichten gekennzeichnet sei. „Allein die Chance, einer anderen Partei als der allmächtigen SED beitreten zu können, wirkt auf manche DDR-Bürger anziehend. Zumindest in der CDU und LDPD existieren Kräfte, auch im unteren und mittleren Leitungsbereich, die im ‚allmählichen Übergang zum Kommunismus‘ (so das SED-Parteiprogramm von 1976) nicht die letzte Antwort der deutschen Geschichte sehen.“56 Als sich eine radikale Wandlung in der DDR vollzog, nahm sie ihren Ausgangspunkt weder im eigentlichen Machtzentrum – der SED – noch in den Blockparteien. Aber in der Tat zeigte sich die prinzipielle Richtigkeit des Zitats von Peter Joachim Lapp. Mitglieder aus den Reihen der CDU und der LDPD trugen die friedliche Revolution mit, auch wenn sie den Sturz des Ancien Regime nicht ausgelöst hatten.
4.
Friedliche Revolution 1989/90 und die Transformation der Parteien
Der revolutionäre Umbruch in der DDR im Herbst 1989 kam für wissenschaftliche und politische Beobachter völlig überraschend. Der Wandel in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow machte die mangelnde Stabilität der DDR-Diktatur deutlich. Die SED-Führung suchte mit Nachdruck den reformerischen Hoffnungen im Innern entgegenzuwirken – vergebens. Es bildeten sich schnell und vermehrt alternative Bürgerrechtsgruppen, Friedens- und Umweltinitiativen57 – „feindlich negative Kräfte“ im Verständnis der SED. Der „Freiheitsrevolution“ folgte unmittelbar die „Einheitsrevolution“. Selbst 40 Jahre nach ihrer Gründung vermochte es die SED nicht, ihren Bürgern den „Sozialismus in den Farben der DDR“ (Erich Honecker) attraktiv zu präsentieren. Dazu trug die fehlende demokratische Legitimation ebenso bei wie die desaströse ökonomische Bilanz. „Der“ Osten schaute auf „den“ Westen. Das Modell der Bundesrepublik Deutschland verhieß Attraktivität. Die Krise war für die politische Elite nicht mehr beherrschbar. Geraume Zeit konnte die SED misstrauisch mitverfolgen, wie die Politik Gorbatschows den so genannten „sozialistischen Bruderländern“ mehr und mehr Spielraum für politische Reformen zugestand. Dadurch geriet die SED unter massiven Druck58. Die unterschiedlich schnell voranschreitenden Demokratisierungsprozesse, insbesondere in Ungarn und Polen, sollten nach dem Willen von Parteiund Staatschef Honecker keinen Einfluss auf die eigene Bevölkerung erhalten. Das faktische Einparteiensystem in der DDR brach schnell zusammen, nachdem die 56 Ebd., S. 149 f., Hervorhebung im Original. 57 Vgl. Detlef Pollack, Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen der DDR, Opladen 2000. 58 Vgl. Alexandra Nepit, Die SED unter dem Druck der Reformen Gorbatschows. Der Versuch der Parteiführung, das SED-Regime durch konservatives Systemmanagement zu stabilisieren, BadenBaden 2004.
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Fluchtbewegung über Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei die im Lande verbleibenden Bürger zu friedlichen Massendemonstrationen ermuntert hatte. Das Zusammenspiel von „exit“ und „voice“ brachte die SED-Diktatur zum Einsturz59. Die Wortführerschaft übernahmen neue Gruppierungen wie das Neue Forum, die sofort auf großen Widerhall stießen. Vereinzelte Mitglieder der Ost-CDU und der LDPD forderten ihre Parteispitzen öffentlich auf, für Reformen einzutreten und innerparteiliche Demokratie zu üben. Anfang Oktober 1989 entstand eine „Sozialdemokratische Partei der DDR“ (SDP), die sich in der Tradition der SPD sah60. Ein Teil der SED wollte sich an die Spitze der Demonstrationsbewegung setzen, um ihr den revolutionären Charakter zu nehmen. Sie suchte die Staatssicherheit als „Sündenbock“ hinzustellen, als eine Art „Staat im Staate“61, eigene Verantwortlichkeit leugnend. Die Bevölkerung durchschaute diese Ablenkungsfunktion. Die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 markierte den Wendepunkt der krisenhaften Zustände: Eine blutige Auseinandersetzung mit der Staatsmacht blieb aus, die SED-Machthaber lenkten notgedrungen ein – nicht zuletzt deshalb, weil die in der DDR stationierte sowjetische Armee offenkundig nicht bereit war, einen Volksaufstand niederzuschlagen. 1989 war nicht mehr 1953! Das Ende des HoneckerRegiments erfolgte am 18. Oktober 1989: Der von 1971 an amtierende Staatschef und Generalsekretär des Zentralkomitees wurde gestürzt, seine Nachfolge trat (vorübergehend) Egon Krenz an. Jedoch führte der Wechsel der Staats- und Parteiführung in Ostberlin keineswegs zum Nachlassen der Massenproteste. Das von Krenz öffentlich angekündigte Demokratisierungsprogramm – eine „Politik der Erneuerung“, „mehr Demokratie für mehr und besseren Sozialismus“ – machte wenig Abstriche von der „führenden Rolle der SED“ und beeindruckte die Bevölkerung daher nicht, provozierte sie vielmehr. Die Demonstrationen gingen verstärkt weiter, die Ausreisewelle war so nicht zu stoppen. Der überraschende – so nicht vorgesehene – Fall der Berliner Mauer vom 9. auf den 10. November 198962 und der innerdeutschen Grenzen sollte der SED Luft verschaffen. Doch mit diesem Ereignis war nicht nur das Ende der kommunistischen Diktatur besiegelt, sondern auch das der eigenständigen DDR. Der freie Grenzverkehr der DDRBürger enthob die SED-Führung zumindest für eine begrenzte Zeit der Auseinandersetzung mit den politischen Forderungen der Demonstranten nach Zulassung der
59 Vgl. Albert O. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptionellen Geschichte, in: Leviathan 20 (1992), S. 330–350. 60 Vgl. Wolfgang Herzberg/Patrik von zur Mühlen, Auf den Anfang kommt es an. Sozialdemokratischer Neubeginn in der DDR 1989, Bonn 1993. 61 Auch wenn es gewisse Eigenmächtigkeiten bei der oft dämonisierten Staatssicherheit gab, fungierte sie doch als Instrument der SED. Vgl. etwa Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013. 62 Vgl. Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 2009.
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oppositionellen Organisationen und nach freien Wahlen. Der Ruf „Wir sind das Volk“ war nach der Maueröffnung in den Ruf „Wir sind ein Volk“ umgeschlagen. Die Bevölkerung wollte mehrheitlich nicht nur Freiheit, sondern auch Einheit. Am 1. Dezember 1989 strich die Volkskammer fast einstimmig den Passus von der führenden Rolle der SED aus der Verfassung. Die Konstituierung des Zentralen Runden Tisches – eines Gremiums mit Vertretern der verschiedenen Oppositionsbewegungen bzw. -parteien, der Blockparteien und Massenorganisationen sowie der SED – erfolgte am 7. Dezember 198963. Dieser forderte freie Wahlen. Allerdings taten sich die neuen politischen Gruppierungen schwer damit, die Wünsche der Masse der DDR-Bevölkerung zu akzeptieren. Sie strebten überwiegend einen dritten Weg an64 und waren auf den Erhalt der (demokratisierten) DDR fixiert. Die inzwischen umbenannte Ost-SPD (die ehemalige SDP) und ihre Schwesterpartei in Bonn hatten nach anfänglichem (westdeutschen) Zögern vergleichsweise ungestörte Beziehungen aufgenommen – ungeachtet unterschiedlicher Positionen in der Frage der deutschen Einheit65. Mitte Dezember 1989 wurden schließlich Kontakte zwischen den westdeutschen „bürgerlichen“ Parteien und ihren ostdeutschen, mit schweren Demokratiedefiziten belasteten Pendants (den Blockparteien) geknüpft66. Die in Bonn amtierende CDU suchte ihre Verbindungen zur Ost-CDU auszubauen – zu einer Partei, die sie bis in das Jahr 1989 hinein mit Verachtung gestraft hatte. Es gelang ihr nach einigem Hin und Her, die christlich-konservativen Strömungen – die CDU, den Demokratischen Aufbruch (DA) und die Deutsche Soziale Union (DSU), ein Pendant zur bayerischen CSU – zur „Allianz für Deutschland“ zu schmieden67. Die FDP engagierte sich bei der Organisation des „Bundes Freier Demokraten“, einem Zusammenschluss der LDP – so lautete wieder der Name – mit den neu gegründeten liberalen Parteien, der DDR-FDP und der kleinen Deutschen Forum Partei (DFP). Die SPD gewährte ihrer Schwesterpartei im Osten personelle und finanzielle Wahlkampfhilfe, wie schließlich alle Parteien, mit Ausnahme der Grünen. Diese taten sich schwerer bei der Unterstützung einer gleichgerichteten „alternativen“ Partei bzw.
63 Vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990. 64 Vgl. Thomas Klein, Die neuen politischen Vereinigungen des Herbstes 1989 und ihre Wendungen, in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 190–230; Christof Geisel (Anm. 17). 65 Vgl. Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006. 66 Vgl. Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteien und Wähler im Umbruch. Parteiensystem und Wahlverhalten in der ehemaligen DDR und den neuen Bundesländern, Opladen 1994; Gero Neugebauer, Die Transformation des ostdeutschen Parteiensystems seit 1989, in: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Anm. 7), S. 231–268; Dietrich Staritz/Siegfried Suckut, Strukturwandel des DDR-Parteiensystems, in: Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Deutschland, Opladen 1993, S. 211–226. 67 Vgl. Wolfgang Jäger/Michael Walter, Die Allianz für Deutschland. CDU, Demokratischer Aufbruch und Deutsche Soziale Union 1989/90, Köln 1998.
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Parteien und Wahlen
Bürgerrechtsbewegung in der DDR. „Neues Forum“, „Demokratie Jetzt“ und die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ schlossen sich im Februar 1990 zum „Bündnis 90“ zusammen68. Als basisdemokratische Bewegungen weigerten sie sich zunächst, eine „Partei“ zu werden.69 Die SED war zur PDS mutiert (vorübergehend zur SED-PDS) und wurde von einer Austrittswelle gigantischen Ausmaßes heimgesucht. Innerhalb weniger Monate hatte sie mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Sie geriet in eine schwere Existenzkrise. Der neue „starke Mann“ im Staat, Hans Modrow, fungierte nicht als Vorsitzender der Partei, sondern Gregor Gysi, dem die PDS maßgeblich ihr Überleben verdankt. Tabelle 7: Volkskammerwahl am 18. März 1990 Wahlberechtigte Wahlbeteiligung Gültige Stimmen
12.426.443 11.604.418 (93,39 Prozent) 11.541.155 Stimmen (Prozent) Mandate
CDU
Christlich Demokratische Union Deutschlands
4.710.598
(40,59)
163
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
2.525.534
(21,76)
88
PDS
Partei des Demokratischen Sozialismus
1.892.381
(16,32)
66
DSU
Deutsche Soziale Union
727.730
(6,27)
25
BFD
Bund Freier Demokraten: Deutsche Forum Partei, Liberaldemokratische Partei, Freie Demokratische Partei
608.935
(5,28)
21
Bündnis 90
Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte
336.074
(2,90)
12
DBD
Demokratische Bauernpartei Deutschlands
251.226
(2,17)
9
Grüne-UFV
Grüne Partei + Unabhängiger Frauenverband
226.932
(1,96)
8
DA
Demokratischer Aufbruch – sozial + ökologisch
106.146
(0,93)
4
NDPD
National-Demokratische Partei Deutschlands
44.292
(0,38)
2
DFD
Demokratischer Frauenbund Deutschlands
38.192
(0,33)
1
AVL
Aktionsbündnis Vereinigte Linke, Die Nelken
20.342
(0,18)
1
52.773
(0,45)
-
Sonstige Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
68 Vgl. Jan Wielgohs/Marianne Schulz/Helmut Müller-Enbergs, Von der Illegalität ins Parlament. Werdegang und Konzepte der neuen Bürgerbewegung, Berlin 1992. 69 Erst im September 1991 konstituierte sich die Partei Bündnis 90. Vgl. Werner Schulz (Hrsg.), Der Bündnis-Fall. Politische Perspektiven 10 Jahre nach Gründung des Bündnis 90, Bremen 2001.
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Das Ergebnis der ersten (und letzten) demokratischen Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 (Tab. 7) war indirekt ein Votum für den schnellen und direkten Weg zur deutschen Einheit – über den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 GG. Die christlich-konservativen sowie die liberalen Parteien in der Bundesrepublik und in der DDR hatten sich im Wahlkampf für diese Lösung ausgesprochen und in der DDR-Bevölkerung Hoffnungen auf eine zügige Einheit geweckt. Obschon viele Beobachter die Wahlchancen der „Allianz für Deutschland“ gegenüber denjenigen der unbelasteten SPD deutlich geringer eingeschätzt hatten, errangen die Parteien der Allianz in den ersten demokratischen Wahlen auf dem Boden der DDR einen klaren Sieg: Die CDU kam auf 40,6, die DSU auf 6,3 und der DA auf 0,9 Prozent. Die SPD schnitt mit „nur“ 21,8 Prozent der Stimmen dagegen schlecht ab, ebenso der „Bund Freier Demokraten“ (5,3 Prozent). Als eigentlicher Verlierer empfand sich das „Bündnis 90“ mit 2,9 Prozent; die Listenverbindung „Grüne Partei + Unabhängiger Frauenverband“ kam auf ganze 2,0 Prozent. Die PDS, Nachfolgepartei der SED, erzielte 16,4 Prozent der Stimmen, war isoliert und galt als nicht koalitionsfähig. Die DBD erreichte 2,2 Prozent der Stimmen, die NDPD ganze 0,4 Prozent – eine Kuriosität insofern, als damit die Zahl ihrer Mitglieder über der ihrer Wähler lag. Die NDPD ging in der LDP auf, die DBD in der CDU. Freilich vollzogen viele Mitglieder diese Entwicklung nicht mit. Das (natürliche) Ende (von unten) war in der (künstlichen) Gründung (von oben) angelegt. Über die Gründe für den überraschenden Wahlausgang ist heftig gestritten worden. Die Kernfrage lautet: War das Ergebnis von der aktuellen Situation70 bestimmt (der Frage der deutschen Einheit), oder hatten sich in der Vergangenheit Parteibindungen herausgebildet, die jetzt zum Tragen kamen71? Gerade in den früheren Hochburgen der SPD – Sachsen und Thüringen – schnitt die Partei schlecht ab. Die traditionellen Bindungen an die SPD waren nach fast 60 Jahren Diktatur gekappt worden. Als Konsequenz des Wahlausgangs wurde eine Koalition aus der „Allianz für Deutschland“, der SPD und dem „Bund Freier Demokraten“ gebildet – mit dem Ziel, die Einheit Deutschlands in die Wege zu leiten. Angesichts der sich überschlagenden Entwicklung kam sie weitaus schneller als erwartet. Gleiches galt für die Verschmelzung der Parteiensysteme. Die Christlichen Demokraten und die Liberalen im Osten schlossen sich flugs ihren Schwesterparteien im Westen an. Bei der SPD war die Vereinigung ohnehin nur eine Formsache. Nur bei den Grünen zog sich dieser Prozess hin.72 70 Vgl. Dieter Roth, Die Wahlen zur Volkskammer in der DDR. Der Versuch einer Erklärung, in: Politische Vierteljahresschrift 31 (1990), S. 369–393. 71 Vgl. Carsten Bluck/Henry Kreikenbom, Die Wähler in der DDR. Nur issue-orientiert oder auch parteigebunden?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 22 (1991), S. 495–502. 72 Die Ostgrünen fusionierten mit den Westgrünen am Tag nach der Bundestagswahl 1990. Erst 1993 vereinigten sich die Grünen mit dem ostdeutschen Bündnis 90. Es kam damit zu einer „doppelten Vereinigung“. So Jürgen Hoffmann, Die doppelte Vereinigung. Vorgeschichte, Verlauf und Auswirkungen des Zusammenschlusses von Grünen und Bündnis 90, Opladen 1998.
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Parteien und Wahlen
Nach der staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990 konnten die Bürger der neuen Bundesländer bereits zwei Monate später, am 2. Dezember 1990, den Deutschen Bundestag wählen. 1990 war für sie ein „Superwahljahr“. Neben der Volkskammer- und der Bundestagswahl fanden am 6. Mai Kommunal- und am 14. Oktober Landtagswahlen statt. Der Ausgang dieser Wahlen bestätigte im Kern die Ergebnisse der Volkskammerwahl vom 18. März 199073.
5.
Perspektiven
40 Jahre lang – von 1949 bis 1989 – herrschte die SED in der DDR dank der Sowjetunion unumschränkt. Die einflusslosen Blockparteien waren gleichgeschaltet. Die SED wusste, wie es um den geringen Grad ihrer Legitimität bestellt war. In dem Moment, in dem die Bevölkerung sich frei artikulieren konnte, erscholl der Ruf nach demokratischen Wahlen. Das Votum fiel nicht für das SED-System aus. Die PDS als mehr oder weniger reformierte Nachfolgepartei der SED erhielt nur jede sechste Stimme. In der Frühphase von 1945 bis 1949 vollzog sich mit einer Reihe von Schritten die politische Gleichschaltung; in der Spätphase 1989/90 wiederholte sich der Vorgang in eine andere Richtung, atemberaubend schnell: erst erzwungene Gleichschaltung von „oben“, dann erzwungene Gleichschaltung von „unten“. Dabei war die Entwicklung in gewisser Weise jeweils durch die Vorgehensweise der Sowjetunion bestimmt: Hatte sie in der zweiten Hälfte der 40er-Jahre das größte Interesse an einer Einverleibung ihrer Besatzungszone, so kam sie 40 Jahre später – in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre – nicht mehr umhin, sich den Realitäten zu beugen, auch im eigenen Interesse. Wer sich über „die elementare Reformunfähigkeit der SED“ wundert, „die sehenden Auges auf ihren Untergang zusteuerte“74, darf folgenden Umstand nicht verkennen: Eine reformfähige SED hätte erst recht den Untergang beschleunigt. Denn das SED-System war nun einmal nicht reformierbar. Durch die betonte Abkehr von der Linie Gorbatschows schuf sich Honecker eine Atempause. „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ – diese stereotype Devise machte sich die SED-Führung in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre nicht mehr zu eigen. Die diktatorische DDR ließ sich nicht mehr retten – nicht durch Reformen, nicht durch starres Festhalten an marxistischleninistischen Prinzipien. Das Ende der SED-Herrschaft war programmiert. Daran konnte auch der permanent propagierte „Antifaschismus“ als Legitimationsidee nichts ändern75. Der „Gründungsmythos“ (Herfried Münkler) des Antifaschismus hatte ausgedient. 73 Vgl. Jürgen W. Falter, Wahlen 1990. Die demokratische Legitimation für die deutsche Einheit mit großen Überraschungen, in: Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hrsg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte – Politik – Gesellschaft, Bonn 1992, S. 163–188. 74 Robert Hofmann, Geschichte der deutschen Parteien von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart, München 1993, S. 313. 75 Vgl. Eckhard Jesse, Antifaschismus in der Ideokratie der DDR – und die Folgen. Das Scheitern (?) einer Integrationsideologie, in: Horch und Guck 20 (2011), Heft 4, S. 49.
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Das „Parteiensystem“ der DDR
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Zunächst sprach vieles dafür, dass das gesamtdeutsche Parteiensystem sich aufgrund der reibungslos anmutenden Verschmelzung der ost- und westdeutschen Parteien wenig ändern würde. Doch konnte die PDS in den neuen Bundesländern reüssieren: Sie gelangte sogar in Länderregierungen (Mecklenburg-Vorpommern von 1998 bis 2006, Berlin von 2002 bis 2011, Brandenburg seit 2009). Die Partei „dient als Ansprechpartner für das antiwestliche Potential im Osten, sie repräsentiert die vernachlässigten Ziele und Werte im Parteiensystem und signalisiert Art und Ausmaß der Unzufriedenheit“76. Die Erfolge der Partei sind sozialisations- und situationsbedingt, Resultat der Zeit vor und nach 1990. Gleiches gilt für das bessere (nicht: gute) Abschneiden der rechtsextremistischen NPD im Osten. Sie erreichte bei den Bundestagswahlen 2005 (1,6 Prozent) und 2009 (1,5 Prozent) dort (2005: 3,3 Prozent; 2009: 3,1 Prozent) dreimal mehr Stimmen als im Westen (2005 und 2009: jeweils 1,1 Prozent). Ihr ist es gelungen, je zweimal in die Landtage von Sachsen (2004: 9,2 Prozent; 2009: 5,6 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (2006: 7,3 Prozent; 2011: 6,0 Prozent) einzuziehen. Die Partei der Grünen ist durch den Zusammenschluss mit dem weniger rigoros ausgerichteten Bündnis 90 verändert worden. Diese Tendenz – stärkere Abkehr von fundamentalistischen Positionen – zeichnete sich bei den Westgrünen allerdings Ende der 80er-Jahre ohnehin ab. Dass eine Partei des Postmaterialismus bei Wahlen im Osten schlechter abschneidet, liegt auf der Hand. Die Übernahme von je zwei Blockparteien bei der CDU und bei der FDP gestaltete sich relativ unkompliziert und bereitete weniger Probleme als innerparteilich befürchtet, da deren frühere Positionen nicht mehr vertreten waren. Im Gegenteil: Einstige Repräsentanten der Blockparteien zeichnen sich, sofern sie nicht ohnehin ausgeschieden sind, eher durch beflissene Anpassungsbereitschaft77 aus, nicht durch Orientierung an alten Leitbildern78. Verdrängung dominiert, nicht Aufarbeitung. Gleichwohl gibt es im Parteiwesen einige Akzentunterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Die Parteikohäsion ist in den neuen Ländern etwas weniger ausgeprägt als in den alten. Dagegen sind die interparteilichen Konflikte dank stärkerer konsensualer Mechanismen geringer. Die (Schein-)Polarisierung zwischen den Parteien fällt nicht zuletzt auf Grund gravierender Probleme, die alle betreffen, weniger stark aus als in den alten Bundesländern. Allerdings zeichnen sich mittlerweile starke Angleichungstendenzen ab.79 Das gilt jedoch nicht für
76 Gero Neugebauer/Richard Stöss, Die PDS. Geschichte – Organisation – Wähler – Konkurrenten, Opladen 1996, S. 286. 77 Alle drei CDU-Ministerpräsidenten (Sachsen: Stanislaw Tillich; Sachsen-Anhalt: Reiner Haseloff; Thüringen: Christine Lieberknecht) gehörten der Ost-CDU vor 1990 an. 78 Vgl. Ute Schmidt (Anm. 13). 79 Diese Entwicklung (z. B. Rückgang der Parteiidentifikation im Westen) ist weniger eine Reaktion des Westens auf den Osten, sondern eher eine Reaktion auf gesellschaftlichen Wandel, z. B. auf verbreitete Individualisierung. Vgl. Eckhard Jesse, Wahlen und Parteien: Ostdeutsche Spezifika und westdeutsche Annäherungen, in: Astrid Lorenz (Hrsg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, Opladen 2011, S. 99–119.
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Parteien und Wahlen
die Rekrutierungsfähigkeit der Parteien80. Sie liegt im Westen deutlich höher als im Osten (mit Ausnahme bei der Linken): „Gebranntes Kind scheut das Feuer.“ Repräsentanten der Bürgerbewegung spielen im politischen System der Bundesrepublik insgesamt keine herausgehobene Rolle. Matthias Platzeck81 ist seit 2002 Ministerpräsident von Brandenburg, Joachim Gauck seit 2012 Bundespräsident. Das Parteiengefüge in der gesamten Bundesrepublik ist durch die Parteien in der DDR nur begrenzt beeinflusst worden. Die Blockparteien haben keine tiefen Spuren in der Gesellschaft hinterlassen, und ihre Mitglieder – inzwischen bei CDU und FDP integriert, soweit sie nicht den Austritt vollzogen haben – wollen nicht an die unrühmliche Vergangenheit erinnern oder erinnert werden. Die SED ist in der PDS aufgegangen. Selbst in den neuen Bundesländern musste sie Anklänge an die SED tilgen, wollte sie nicht über kurz oder lang ein Schattendasein fristen. Diese Partei hat es verstanden, Ressentiments gegen den „Westen“ zu kultivieren – nicht ohne Erfolg. Die Geschichte der SED gehört der Vergangenheit an, nicht jedoch die Geschichte ihrer Nachfolgepartei, die ihren Namen mehrfach gewechselt hat und nach dem Zusammenschluss mit der WASG 2007 zur Linken eine fünfte Kraft im deutschen Parteiensystem ist82. Ob das Ergebnis von 11,9 Prozent (West: 8,3 Prozent; Ost: 28,5 Prozent) bei der Bundestagswahl 2009 (die Partei schnitt damit fünfmal besser ab als bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990) allerdings jemals zu wiederholen ist?
80 Vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2012, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 43 (2013), S. 365–383. 81 Das Gründungsmitglied der Grünen Liga, das in der ersten Jahreshälfte 1989 eine kurze Zeit der LDPD angehört hatte, war Vertreter dieser Gruppierung am Zentralen Runden Tisch und von Februar bis April 1990 Minister (als Repräsentant der Grünen Partei) unter Hans Modrow, von 1990– 1998 Minister im brandenburgischen Kabinett unter Manfred Stolpe. Als Mitglied von Bündnis 90 lehnte er die 1993 vollzogene Vereinigung von Bündnis 90 und den Grünen ab. 1995 trat der Parteilose der SPD bei, als deren Bundesvorsitzender er später eine kurze Zeit fungierte (von November 2005 bis April 2006). 82 Vgl. Eckhard Jesse/Jürgen P. Lang, DIE LINKE – eine gescheiterte Partei?, München 2012.
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Die koalitionspolitische Haltung der SPD gegenüber der SED, der PDS, der Linkspartei und der LINKEN Die SPD mit ihrer langen demokratischen Tradition hat in den ersten 20 Jahren seit der friedlichen Revolution gegenüber der PDS, der Linkspartei und der Linken immer mehr ihre einstige Position relativiert. War sie zunächst auf strikte Distanz gegenüber den Postkommunisten bedacht, so rückte sie sukzessive von dieser Position ab. Dem „Magdeburger Modell“ (Tolerierung einer von der SPD beherrschten Regierung durch die PDS) folgte das „Schweriner Modell“ (Koalition mit der PDS in einem Bundesland). Das „Wiesbadener Modell“ (Tolerierung einer von der SPD dominierten Regierung durch die PDS entgegen dem Wahlversprechen) scheiterte an „Abweichlern“ in den eigenen Reihen. Die Haltung der SPD ist nicht stringent, von Taktik bestimmt, keineswegs von Strategie: eine Koalition mit den Postkommunisten in den (neuen) Bundesländern in Erwägung zu ziehen, nicht aber im Bund. Leidet der antiextremistische Konsensus Schaden?
1.
Einführende Überlegungen
Die aus der SED hervorgegangene LINKE ist nach Herkunft und Programmatik, nicht zuletzt aufgrund ihrer Unterstützung von Diktaturen wie Kuba, ihrer halbherzigen Art der Geschichtsaufarbeitung (die DDR gilt für sie nicht als „Unrechtsstaat“), ihrer das politische System bekämpfenden innerparteilichen Strömungen (wie der „Kommunistischen Plattform“) keine Partei, die die offene Gesellschaft bejaht, sondern im Kern eine extremistische Kraft1, die die „Systemfrage“ (Lothar Bisky) stellt, auch wenn sie keinen harten Extremismus repräsentiert wie die NPD. Sie unterscheidet sich als allenfalls halb systemloyale Gruppierung insofern grundlegend von der SPD, einer erzdemokratischen Partei. Die Kernfrage des Beitrages lautet wie folgt: Welches koalitionspolitische Verhalten legt(e) die SPD gegenüber der LINKEN an den Tag? Welche Phasen lassen sich in den letzten 20 Jahren ausmachen? Wo liegen Kontinuitäten vor, wo Diskontinuitäten? Ist die Einstellung der SPD einleuchtend, zwischen der Bundes- und der Landespolitik zu differenzieren? Das Verhältnis der LINKEN zur SPD ist, was die Koalitionsfrage betrifft, taktisch bedingt. Sie wäre dazu bereit, auch auf Bundesebene, selbst wenn es bei Gregor Gysi heißt, die SPD müsse vor der Bildung einer Koalition erst wieder „sozialdemokratisch“ werden.2 Zunächst bietet der Beitrag einen knappen historischen Überblick zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Kommunismus. Im Anschluss daran wird ausführlich das
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Vgl. Eckhard Jesse/Jürgen Lang, DIE LINKE – der smarte Extremismus einer deutschen Partei, München 2008. „Wir setzen die Themen“. Gregor Gysi im Interview mit Sebastian Hille und Monika Plath, in: Das Parlament v. 13. Mai 2008.
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Verhältnis der SPD zur PDS, zur Linkspartei und zur LINKEN erörtert – mit Blick auf die Frage, ob die Partei ein Bündnis auf Bundes- oder Landesebene mit den Postkommunisten anzustreben gewillt war und ist. Der koalitionspolitische Wandel der SPD gegenüber einer anfangs oft und schnell totgesagten Partei3 wird nachgezeichnet. Abschließend folgen einige Thesen – unter deskriptiven (Wie ist es?), unter präskriptiven Gesichtspunkten (Wie soll es sein?) und unter prospektiven (Wie wird es?) Gesichtspunkten.
2.
Historischer Überblick zum Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus
Kommunisten haben die Sozialdemokraten ungeachtet der gleichen Wurzel immer als einen zu bekämpfenden Gegner angesehen – auch und nicht zuletzt in Deutschland. Zu Beginn der Weimarer Republik, der ersten deutschen Demokratie, entfachte die soeben erst gegründete KPD mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an der Spitze einen Aufstandsversuch und beschuldigte Friedrich Ebert, den Vorsitzenden der SPD und ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, als „rechter Arbeiterverführer“ die Revolution „verraten“ zu haben. In der Endphase der Weimarer Republik wurden die Sozialdemokraten von den Kommunisten, die schon bald ein Anhängsel der Sowjetunion geworden waren4, als „Sozialfaschisten“ diffamiert. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ist auf dem VII. Weltkongress der Komintern im Jahre 1935 der „ultralinke“ Kurs zugunsten einer „Volksfront“ aufgegeben worden. Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedingte zunächst eine gewisse Annäherung der beiden Seiten. Der „Bruderkrieg“ sollte beendet werden, doch bald zeigte sich, dass es dem Kommunismus darum ging, die SPD zu zernieren, soweit dies in seinen Möglichkeiten lag. Die Geschichte ist bekannt: Im April 1946 kam es im östlichen Teil zur Vereinigung von KPD und SPD unter dem Namen der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED), die zu Recht die Charakterisierung als Zwangsvereinigung verdient.5 Damit waren bis auf weiteres sozialdemokratische Positionen im Osten Deutschlands ausgeschaltet. Im westlichen Teil Deutschlands setzte sich in den fünfziger Jahren die antikommunistische Position Kurt Schumachers innerhalb der SPD durch. Die SED fürchtete das Gift des „Sozialdemokratismus“ wie der Teufel das
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Das gilt nicht für Karl Schmitt, der die PDS stets als Milieupartei mit einer festgefügten Anhängerschaft betrachtet hat. Vgl. ders., Politische Landschaften im Umbruch: Das Gebiet der ehemaligen DDR 1928–1990, in: Oskar W. Gabriel/Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Wahlen in Zeiten des Umbruchs, Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 403–441; ders., Im Osten nichts Neues? Das Kernland der deutschen Arbeiterbewegung und die Zukunft der politischen Linken, in: Wilhelm Bürklin/Dieter Roth (Hrsg.), Das Superwahljahr, Köln 1994, S. 185–218. Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1969. Vgl zum Beispiel Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945–1953, Bonn 1996.
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Weihwasser.6 Später – durch die Studentenbewegung einerseits und die Ostpolitik andererseits – kristallisierte sich eine gewisse Entspannung zwischen SPD einerseits und der DKP bzw. der SED andererseits heraus. Der SPD-Parteivorstand verabschiedete im Februar 1971 einen Grundsatzbeschluss „Zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Kommunismus“, der die Unvereinbarkeit der beiderseitigen Positionen festschrieb. „Wir leben in einer Welt, die wir mit den Kommunisten teilen müssen. Weil wir in Freiheit leben wollen, werden wir verhindern, daß uns die kommunistische Ideologie aufgezwungen wird.“7 Gewiss gab es auf Seiten des linken Flügels der SPD, dem dieser Abgrenzungsbeschluss nicht eben behagte, des öfteren Bündnisse mit kommunistischen Gruppierungen (in der Friedensbewegung, bei Aktionen gegen „Berufsverbote“ gegen links, nicht gegen rechts, und bei „Antifaschismus“-Kampagnen), aber die Parteispitze suchte in aller Regel die prinzipiellen Unterschiede nicht zu verwischen. In diesem Sinne sind auch die „Thesen zum Verhältnis von Kommunisten und Sozialdemokraten“ von Willy Brandt im Jahre 1986 zu verstehen, wenngleich in ihnen, weit stärker als in dem Grundsatzbeschluss von 1971, die – nur mit den Kommunisten mögliche – Sicherung des Friedens herausgestrichen wurde. „Die Bereitschaft zu einer zweiten Phase der Entspannungspolitik auf der Grundlage des Prinzips gemeinsamer Sicherheit setzt nicht außer Kraft, dass Sozialdemokraten und Kommunisten sich in grundlegenden Auffassungen voneinander unterscheiden.“8 Zum Teil trat im Rahmen der zweiten Phase der Entspannungspolitik das ein, was Wolfgang Rudzio als „Erosion der Abgrenzung“ beschrieben hat.9 Dem berühmten SPD-/SED-Papier von 1987 über den „Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ wohnte eine ambivalente Wirkung inne.10 Kritiker argwöhnten, die SPD habe die Position der SED im Westen salonfähig gemacht. Anhänger des Papiers meinten dagegen, die Haltung der SPD sei im Osten salonfähig gemacht worden. Die SPD hatte ihre Anti-SED-Haltung stark abgeschwächt.
3.
Das Verhältnis der SPD zur PDS 1989/90
Als die SED im Herbst 1989 zusammenbrach, entstand zunächst – am 7. Oktober 1989, auf den Tag genau vierzig Jahre nach Gründung der DDR – eine „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ (SDP), die sich später in SPD umbenannte und gemeinsam mit 6 Vgl. Hans-Joachim Spranger, Die SED und der Sozialdemokratismus. Ideologische Abgrenzungen in der DDR, Köln 1981. 7 Zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Kommunismus, in: Jahrbuch der SPD 1970–1972, Bonn 1972, S. 558. 8 Willy Brandt, Sechs Thesen zum Verhältnis von Kommunisten und Sozialdemokraten, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 33 (1986), S. 348. 9 Vgl. Wolfgang Rudzio, Die Erosion der Abgrenzung. Zum Verhältnis zwischen der demokratischen Linken und Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1988. 10 Vgl. Wolfgang Brinkel/Jo Rodejohann (Hrsg.), Das SPD/SED-Papier. Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit, Freiburg/Brsg. 1988.
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anderen Oppositionsgruppen den Monopolanspruch der SED bestritt.11 Diese Partei ohne „Blöckflöten“-Image verstand sich als dezidierter Gegner der SED, dann der SED/PDS (Dezember 1989), schließlich der PDS (Februar 1990). Die Nachfolgepartei der SED war bald keine kommunistische Partei mehr, deswegen wurde sie aber noch lange keine demokratische Partei. Eine Koalition auf Bundes- oder Landesebene zog die SPD im Osten nicht in Betracht, nicht einmal die Aufnahme ehemaliger Mitglieder der Staatspartei oder allenfalls in Ausnahmefällen. Die SPD konnte aus einer Reihe von Gründen – entgegen verbreiteten Annahmen – bei den ersten und letzten freien Wahlen zur Volkskammer in der DDR am 18. März 1990 mit 21,8 Prozent der Stimmen nicht reüssieren, später auch nicht bei den Landtagswahlen, von Brandenburg mit dem dortigen Spitzenkandidaten und Ministerpräsidenten Manfred Stolpe abgesehen, wenngleich sich die Ergebnisse insgesamt verbesserten. „Mit einem anderen, aufgeschlossenen, konstruktiven Kurs hätte die SPD 1989/90 eine wesentlich verbesserte Ausgangslage erzielt. Eine frühe Abkehr von der SED – nach dem Modell Eppler –, ein klares Ja zur ostdeutschen Sozialdemokratie – wie es Norbert Gansel aussprach –, eine Orientierung am ostdeutschen Wunsch nach Einheit – wie sie Willy Brandt besaß – und eine konstruktive Begleitung des Vereinigungsprozesses – analog zu Hans-Jochen Vogels Praxis – hätten der Sozialdemokratie in Ost wie West viel Sympathie eingehandelt. Sie wäre so in den neuen Ländern und damit in ganz Deutschland mehrheitsfähig geworden.“12 Mag die letzte Behauptung auch Spekulation sein: Vieles spricht für ein besseres sozialdemokratisches Abschneiden ohne den Kurs von Oskar Lafontaine, dem Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl 1990 – zumal dann, wenn die SPD sich entschlossen hätte, reformbewusste SED-Kräfte in die eigenen Reihen zu integrieren. Gewiss: Die ostdeutsche SPD kungelte nicht mit der PDS, blieb auf strikte Distanz zu ihr bedacht. Vor den Landtagswahlen in den neuen Bundesländern (14. Oktober) und vor der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 erklärte die Partei, es werde keinerlei Zusammenarbeit mit der PDS geben. Diese Position war nicht taktisch motiviert, sondern prinzipieller Natur. Trotzdem konnten die Ergebnisse nicht befriedigen. Nur in Brandenburg vermochte die SPD unter Manfred Stolpe in die Regierung zu gelangen – mit zwei Juniorpartnern (der FDP und dem Bündnis 90).
4.
Das „Magdeburger Modell“ und die Folgen
Im Juni 1994 kam eine Konstellation zustande, die vier Jahre zuvor keiner erwartet hatte – das sogenannte „Magdeburger Modell“. Die SPD stellte in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 1998 mit dem Bündnis 90/Die Grünen die Regierung, toleriert durch die PDS, obwohl vor den Wahlen ein solches Vorhaben eigens abgelehnt wurde. Möglicher11 Vgl. Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung 1989/90, Bonn 2006; Brigitte Seebacher-Brandt, Die Linke und die Einheit, Berlin 1991. 12 Daniel Friedrich Sturm (Anm. 11), S. 474.
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weise ist deswegen die Bundestagswahl 1994 von der SPD verloren worden. Die SPD erklärte ihr Vorgehen damit, dass SPD (34,0 Prozent) und Bündnis 90/Die Grünen (5,1 Prozent), die vor der Landtagswahl eine Koalition ins Auge gefasst hatten, zusammen über mehr Stimmen verfügten als die CDU (34,4 Prozent). Eine Koalition der beiden Parteien sei vertretbar, weil es dazu nicht der Stimmen der PDS bedürfe (19,9 Prozent) – aber eben um den Preis „der Aufgabe einer Abgrenzungsstrategie, die bisher von allen Parteien gegenüber linken und rechten Extremgruppierungen praktiziert worden war“.13 Die SPD-Führung versuchte vor der Bundestagswahl 1994 und den anderen Landtagswahlen des Jahres 1994 die Bedeutung der Magdeburger Entscheidung herunterzuspielen. In der vom Parteivorsitzenden der SPD Rudolf Scharping und führenden SPD-Politikern der neuen Länder unterzeichneten „Dresdner Erklärung“ vom 11. August 1994 wurde eigens jede Zusammenarbeit mit der PDS ausgeschlossen. „Die PDS ist ein politischer Konkurrent und Gegner der SPD. Eine Zusammenarbeit mit ihr kommt für uns nicht in Frage.“14 Nach der Bundestagswahl – am 5. Dezember 1994 – wiederholte der Parteivorstand der SPD unter Vorsitz von Rudolf Scharping diese Erklärung: „Koalitionen auf Landes- oder Bundesebene mit der PDS kommen nicht in Betracht. Wo die SPD an der Regierung beteiligt ist, ist die PDS in der Opposition, wo die SPD selber in der Opposition ist, gibt es keine Koalition in der Opposition.“15 Kritiker wandten demgegenüber ein, die Koalition regiere in Sachsen-Anhalt faktisch mit den Stimmen der PDS. Die CDU leitete beim Landesverfassungsgericht in Dessau ein Organstreitverfahren ein, um der PDS den Status einer Oppositionspartei abzuerkennen.16 Das Landesverfassungsgericht gab im Mai 1997 diesem Antrag nicht statt.17 Nach der knapp verlorenen Bundestagswahl 1994 und den Landtagswahlen war in Mecklenburg-Vorpommern eine Koalition mit der PDS im Gespräch. Der dortige SPDLandesvorsitzende Harald Ringstorff sollte mit Hilfe der PDS zum Ministerpräsidenten gewählt werden, doch die SPD-Spitze mit Rudolf Scharping und Johannes Rau bezog dagegen vehement Position. Eine solche Strategie hätte die aktive Inanspruchnahme der PDS bedeutet, wäre damit also ein Verstoß gegen die bisherigen Prinzipien der SPD gewesen. Schließlich wurde in Mecklenburg-Vorpommern wie in Thüringen eine große Koalition gebildet (jeweils mit dem Juniorpartner SPD). Im Herbst 1995 setzte sich Oskar Lafontaine auf dem Mannheimer Parteitag gegenüber Scharping durch. Auch wenn Lafontaine im Hinblick auf eine Zusammenarbeit 13 So Karl Schmitt, Die Landtagswahlen 1994 im Osten Deutschlands. Früchte des Föderalismus: Personalisierung und Regionalisierung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 26 (1995), S. 273. 14 Vgl. Dresdner Erklärung, Presseservice der SPD, 590/04 vom 11. August 1994, S. 2. 15 Zitiert nach: Presseservice der SPD, 910/94 vom 5. Dezember, S. 4. 16 Vgl.: Antrag im Organstreitverfahren der Fraktion der CDU im Landtag von Sachsen-Anhalt wegen Aberkennung des Oppositionsstatus einer Fraktion, Magdeburg 1996. 17 Die SPD behält Vorrechte einer Oppositionspartei. Organklage der CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt als unbegründet abgewiesen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30. Mai 1997.
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mit der PDS zunächst Zurückhaltung übte, allerdings das missverständliche Wort von der „linken Mehrheit“18 in den Mund nahm, wurde das personelle Revirement vielfach als vorsichtiger Kurswechsel in der Koalitionsfrage verstanden. Der mecklenburgische Landesvorsitzende Ringstorff unternahm 1996 einen Vorstoß zur Aufkündigung der Großen Koalition mit der CDU, nachdem es Konflikte bei der Sanierung der Werften zwischen der CDU und der SPD gegeben hatte. Doch Ringstorff wurde von der SPDSpitze im Bund zurückgepfiffen. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und stellvertretende Parteivorsitzende Rau hatte damit gedroht, von allen Ämtern zurückzutreten. Beim mecklenburgischen Parteitag Ende November, Anfang Dezember 1996 machte Ringstorff allerdings klar, die SPD werde 1998 den Partner nach sachlichen Kriterien aussuchen, was im Klartext nur heißen konnte, auf diese Weise einer Koalition mit der PDS den Weg zu ebnen. Ähnlich wie Ringstorff äußerte sich mehrfach der thüringische SPD-Landesvorsitzende Richard Dewes.19 Die SPD stand in einigen neuen Bundesländern vor einem Dilemma. Dieses erklärte wesentlich ihre Neigung, mit der PDS auf Landesebene zu kooperieren. Verfügte die CDU im Bundesland Sachsen über eine klare absolute Mehrheit (Landtagswahl 1994: 58,1 Prozent der Stimmen; SPD: 16,6 Prozent), so galt das Gleiche für die SPD in Brandenburg (Landtagswahl 1994: 54,7 Prozent; CDU: 18,7 Prozent). In den anderen Bundesländern hingegen – von Sachsen-Anhalt war bereits die Rede – hatte sich die CDU gegenüber der SPD durchgesetzt, so daß die SPD in Mecklenburg-Vorpommern (CDU: 37,7 Prozent; SPD: 29,5 Prozent; PDS: 22,7 Prozent) und in Thüringen (CDU: 42,6 Prozent; SPD: 29,6 Prozent; PDS: 16,6 Prozent) nur Juniorpartner innerhalb der Großen Koalition wurde. Mit der PDS hätte sie jeweils eine komfortable Mehrheit gehabt. Die „linke Mehrheit“ konnte aufgrund der Vorbehalte innerhalb der SPD damit nicht umgesetzt werden. Sie hatte nicht mit den hohen Stimmenanteilen für die PDS in den neuen Bundesländern gerechnet. War die PDS kurz nach der Einheit Deutschlands im linksdemokratischen Umfeld so isoliert wie die DKP Mitte der achtziger Jahre, so hatte sich dies schnell geändert. Der PDS war zwar noch nicht der „Durchbruch“ in die Mehrheitskultur geglückt, doch erschien sie nicht mehr als „Buhmann“ wie noch wenige Jahre zuvor. Der „Brückenbau“ machte beachtliche Fortschritte. Das zeigte eine Reihe von Initiativen und Erklärungen zu Ende des Jahres 1996 und zu Anfang des Jahres 1997 aus dem Umfeld der SPD.20
18 „Eine Mehrheit für das linke Lager“. Interview mit SPD-Chef Oskar Lafontaine über die Perspektiven seiner Partei, in: Der Spiegel v. 20. November 1995. 19 Vgl. die Beispiele bei Gerhard Hirscher, Kooperationsformen der Oppositionsparteien. Strategien und Positionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und ihr Verhältnis zur PDS, München 1997, S. 23–26. 20 Vgl. Axel Brückom, Jenseits des Magdeburger Modells, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 9, Baden-Baden 1997, S. 174–187.
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Obwohl kein akuter Handlungsbedarf bestand, startete der stellvertretende SPDVorsitzende Wolfgang Thierse eine interne, jedoch sofort publik gewordene Initiative zum Verhältnis der SPD zur PDS. Dabei wurde deutlich, dass sich die SPD in der Frage eines wie immer gearteten Bündnisses auf Landesebene mit der PDS nicht einig war. Das aus zehn Punkten bestehende Strategiepapier Thierses vom 15. Dezember 1996 anlässlich des Treffens der ostdeutschen Landesvorsitzenden unter dem Titel „Gesichtspunkte für eine Verständigung der ostdeutschen Sozialdemokraten zum Thema ‚Umgang mit der PDS‘“ stellte die folgenden Punkte heraus: Bundespolitische Verantwortung könne die PDS nicht übernehmen, da sie regionale Interessen vertrete. In den Ländern des Ostens sehe das anders aus: „Die SPD kann [...] in Ostdeutschland einer Zusammenarbeit mit der PDS nicht ausweichen, wenn und insofern sie damit den politischen Auftrag ihrer Wählerinnen und Wähler erfüllt.“ Das sei „ein selbstverständliches Gebot der Demokratie“.21 Thierse empfahl der SPD in der Frage einer Zusammenarbeit mit der PDS (Absprache, Tolerierung, Koalition) die Beachtung zweier Grundsätze: Erstens sollten Stellungnahmen möglichst erst nach dem Wahlergebnis erfolgen. So würde man potentielle Wähler nicht abschrecken und sich durch vorzeitige Handlungsoptionen nicht binden. Zweitens sollten die Stellungnahmen, sofern unvermeidbar, „geradezu zwingend argumentativ auf die jeweils eigene Landessituation abstellen und sich der kritischen Beurteilung anders gelagerter und begründeter Entscheidungen in einem anderen Bundesland oder gar auf Bundesebene enthalten.“22 Wolfgang Schwanitz, sächsischer Bundestagsabgeordneter und Sprecher der „Querschnittsgruppe Deutsche Einheit“ der SPD-Bundestagsfraktion, konterte wenige Tage später mit einer in elf Punkten gegliederten vehementen Entgegnung: Die Öffnung der SPD für Koalitionen mit der PDS auf Landesebene wäre eine politische Umorientierung der Partei von grundsätzlicher Bedeutung. Deutlich hieß es: „Die Frage nach Koalitionen der SPD mit der PDS auf Landesebene hängt nicht in erster Linie von den machtstrategischen Möglichkeiten und Bedürfnissen, sondern von der Koalitionsfähigkeit der PDS für demokratische Parteien selbst ab. Deshalb muss diese Frage zunächst eine Frage nach dem Zustand der PDS sein.“23 Das Urteil über die PDS fiel nicht schmeichelhaft aus. Sollte die SPD Koalitionen in den neuen Bundesländern mit der PDS ins Auge fassen, malte Schwanitz ein nicht eben optimistisches Szenario aus – „massenhafte Parteiaustritte bis hin zur Spaltung einzelner Landesverbände lägen durchaus im Bereich des Möglichen“.24
21 SPD kann Zusammenarbeit mit der PDS im Osten nicht ausweichen. Das Strategiepapier des Vizevorsitzenden Thierse, in: Frankfurter Rundschau v. 19. Dezember 1996. 22 Ebd. 23 Wolfgang Schwanitz, Entgegnungen zum Strategiepapier „Gesichtspunkte für eine Verständigung der ostdeutschen Sozialdemokraten zum Thema Umgang mit der PDS“, S. 2. 24 Ebd., S. 3.
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Martin Gutzeit, Stephan Hilsberg und Markus Meckel, drei Sozialdemokraten „der ersten Stunde“ in Ostdeutschland, pflichteten Schwanitz in einer Erklärung bei: Koalitionen mit der PDS würden die SPD zerreißen und ihr nichts nützen.25 Hingegen votierten bis auf den Sachsen Karl-Heinz Kunckel alle anderen ostdeutschen SPDLandesvorsitzenden in einem Brief an den Fraktionsvorsitzenden Rudolf Scharping für Thierses Strategiepapier. Dessen Hinweis auf das „strategische Dilemma der SPD“ sei wichtig. „Seine rationalen Vorschläge, wie wir mit den unterschiedlichen Positionen innerhalb der SPD im Verhältnis zur PDS umgehen sollen, finden unsere volle Unterstützung.“26 So durfte es denn nicht verwundern, dass die SPD im Frühjahr 1998 ihre Minderheitskoalition in Sachsen-Anhalt fortsetzte, toleriert durch die PDS. Die Landes-SPD bescheinigte ihr, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen.
5.
Das „Schweriner Modell“ und die Folgen
Im Schatten des rot-grünen Erfolgs bei der Bundestagswahl 1998 kam es nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern, die am gleichen Tag stattgefunden hatte, zur ersten rot-roten Koalition auf Landesebene, wie dies im Vorfeld bereits mehr oder weniger klargemacht worden war.27 Der Kanzlerkandidat Gerhard Schröder hatte vor der Wahl eigens Verständnis für die Haltung der SPD in Mecklenburg-Vorpommern gezeigt, jedoch klar gegen eine Kooperation mit der PDS auf Bundesebene votiert. Das „Schweriner Modell“ ging damit über Magdeburg hinaus. Die PDS wurde als Juniorpartner der SPD in die Verantwortung eingebunden. 63 von 91 SPD-Delegierten machten sich diese Position zu eigen. Von den ostdeutschen Landesverbänden lehnte nunmehr nur die sächsische SPD eine solche Koalition ab. Innerparteiliche Kontroversen zur Haltung gegenüber der PDS blieben fast gänzlich aus. 2001/2002 wiederholte sich im Land Berlin die Entwicklung im hohen Norden (mit gewissen Unterschieden). Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen wurde mit den Stimmen der SPD, der Grünen und der PDS wegen dubioser Bankgeschäfte des CDU-Landesvorsitzenden Klaus Landowsky abgewählt. Dessen Nachfolger Klaus Wowereit gelangte mit den Stimmen der PDS in sein Amt. Die von ihr tolerierte rotgrüne Minderheitsregierung votierte für schnelle Neuwahlen. Klaus Wowereit hatte sich vor der Wahl alle Koalitionsvarianten offen gelassen. Als eine Ampelkoalition an den Gegensätzen der potentiellen Partner gescheitert war, bildete die SPD mit der PDS eine Koalition – ausgerechnet in Berlin, dem früheren Zentrum des Kalten Krieges. Sie war damit halb im Westen „angekommen“. Man könnte von einem „kleinen
25 „Ost-SPD-Gründer warnen vor Bündnis mit der PDS“, in: Süddeutsche Zeitung v. 8. Januar 1997. 26 Brief von Steffen Reiche, Richard Dewes, Rüdiger Fikentscher und Harald Ringstorff an Rudolf Scharping v. 14. Januar 1997. 27 Vgl. für Einzelheiten Axel Brückom, Von Magdeburg nach Schwerin, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 11, Baden-Baden 1999, S. 167–179.
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Berliner Modell“ sprechen. Während in Sachsen-Anhalt die von der PDS tolerierte SPD-Minderheitsregierung im Frühjahr 2002 abgewählt wurde, erfuhr im Herbst desselben Jahres die rot-rote Koalition in Mecklenburg-Vorpommern eine Fortsetzung. Es gab in der SPD kaum eine ernsthafte Debatte darüber. Die unterschiedliche Entscheidung der SPD im Jahre 2006 (Fortsetzung der Koalition mit der Linkspartei in Berlin, Abkehr von einer solchen Koalition in Mecklenburg-Vorpommern) hing nicht von einer unterschiedlichen Einschätzung der demokratischen Qualität der Linkspartei ab, sondern ausschließlich von machtpolitischen Überlegungen der SPD. Die normative Kraft des Faktischen überlagerte die faktische Kraft des Normativen. Was Wolfgang Thierse in seinem vieldiskutierten Strategiepapier und nahezu die gesamte SPD nicht bedacht hatten, war folgender Umstand: Wenn die PDS als eine im Kern demokratische Partei gilt, müssen mit ihr nicht nur Koalitionen im Land, sondern auch im Bund möglich sein. Firmiert sie als eine nicht-demokratische Partei, dann kann weder im Bund noch in den (neuen) Bundesländern eine Koalition in Frage kommen. Tertium non datur. Differenzierungen zwischen den einzelnen Bundesländern und dem Bund lassen sich nicht rational begründen, es sei denn, man stellt ausschließlich auf den machtpolitischen Faktor ab. Die Führung der Partei hält bis heute daran fest, mit Blick auf die linke Konkurrenz zwischen der Bundes- und der Landesebene zu unterscheiden.
6.
Das ausgebliebene „Berliner Modell“ und die Folgen
Im Jahre 2005 kam es zur Stunde der Wahrheit. Nach den von der SPD und den Grünen klar verlorenen Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 (nicht zuletzt wegen der notwendigen, aber ungeschickt „verkauften“ Agenda 2010) trat Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem neuen Parteivorsitzenden Franz Müntefering die Flucht nach vorn an. Beide wollten vorgezogene Neuwahlen. Im Wahlkampf präsentierte sich die Regierungspartei als eine Art Oppositionspartei, die vor einer „schwarzen Republik“ warnte. Gleichwohl setzte sie sich klar von der Linkspartei ab. Eine Kooperation oder gar eine Koalition mit ihr komme bei der Bundestagswahl nicht in Frage. Hingegen erweckte die Union den Eindruck, die SPD werde mit den Grünen bereit sein, wenn es arithmetisch reiche, ein Linksbündnis einzugehen (folglich unter Einschluss der Linkspartei). Durch die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen hatte ein Teil der Linkskräfte (zumal aus dem gewerkschaftlichen Milieu) die SPD verlassen und – gemeinsam mit Postkommunisten – eine neue Partei ins Leben gerufen: die WASG. Durch den Überraschungscoup Münteferings und Schröders sahen sich die PDS und die (vornehmlich im Westen beheimatete) WASG zur Kooperation veranlasst. Bei den Bundestagswahlen trat die PDS unter dem Namen „Die Linkspartei“ an. Auf ihrer Liste kandidierten Mitglieder der WASG, darunter der frühere SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine. Der große Erfolg für die Linkspartei mit 8,7 Prozent (Ost: 25,3 Prozent;
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West: 4,9 Prozent) beförderte einen schnellen Zusammenschluss der beiden Parteien, zu dem es im Jahre 2007 unter dem Namen „Die LINKE“ kam. SPD, Grüne und Linkspartei verhinderten eine erwartete absolute Mehrheit für Union und FDP. Gleichwohl unternahm die SPD keine Anstalten, die Linkspartei in ein Regierungsbündnis einzubeziehen. Da sowohl eine „schwarze“ als auch eine „normale“ Ampel politisch nicht möglich waren, wurde eine Große Koalition unter Führung der Union gebildet. Ein wichtiges Ergebnis der Wahl lag darin, dass sich offenkundig ein Fünfparteiensystem herauszubilden beginnt.28 Dieser Sachverhalt dürfte Konsequenzen für das Verhalten der SPD haben. Lehnt sie auf Bundesebene weiterhin ein Bündnis mit der LINKEN ab, könnte sie strukturell in einen Nachteil geraten. Entweder müsste sie als Juniorpartner der Union vorlieb nehmen, oder sie geriete gar in die Opposition – sei es durch ein schwarz-gelbes Bündnis, sei es durch eine „schwarze Ampel“. Ob es arithmetisch überhaupt für ein (großes) „Berliner Modell“ reicht, ist ungewiss: Wer vor der Wahl sagt, eine Koalition mit der Linken sei ausgeschlossen, kann nach der Wahl nicht einfach die Mandate von SPD, Grünen und der LINKEN addieren. Von einer strukturellen Mehrheit für die drei Parteien ließe sich nur bei einer öffentlich vereinbarten Kooperation vor der Wahl sprechen (und einem entsprechend guten Ergebnis nach der Wahl). Diesen Aspekt vernachlässigen oft diejenigen, die einer Variante indirekt oder direkt den Vorzug geben. Es ist eine Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Oskar Lafontaine, der als sozialdemokratischer Parteivorsitzender die Kooperation mit der PDS vorangetrieben hat, stellt heute – noch – das entscheidende Hindernis für die SPD dar, eine Koalition mit jener Partei auf Bundesebene einzugehen, deren Vorsitz Lafontaine innehat. Die SPD hat bekanntlich, was die Bundestagswahl betrifft, eine Regierungsbeteiligung der LINKEN ausgeschlossen. Das ist, solange Oskar Lafontaine im Bund eine tragende Rolle bei der LINKEN spielt, durchaus glaubwürdig, also zumindest für 2009. Doch könnte das bereits bei der Bundestagswahl danach anders sein. Der Trend weist in diese Richtung.
7.
Das versuchte „Wiesbadener Modell“ und die Folgen
Vor der hessischen Landtagswahl im Januar 2008 hatte die SPD erklärt, sie strebe eine Ablösung der CDU-Alleinregierung mit den Grünen an, aber ohne die LINKE. Diese sei politikunfähig. Nicht zuletzt deshalb (und wegen strategischer Fehler der Allein-
28 Vgl. beispielsweise Oskar Niedermayer, Die Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems, in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 114–135; ders., Das fluide Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2005, in: Ders. (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2008, S. 9–36; Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, Wiesbaden 2006.
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regierungspartei CDU) schnitt die SPD überraschend gut ab. Sie lag mit 36,7 Prozent nur 0,1 Punkte hinter der CDU. Da die LINKE trotz des polarisierten Wahlkampfs knapp die Fünfprozenthürde überwand, reichte es weder für ein schwarz-gelbes noch für ein rot-grünes Bündnis. Die SPD gab nach einigem Hin und Her ihr Wahlversprechen auf und wollte eine rot-grüne Regierung anstreben, toleriert von der LINKEN. Der erste Anlauf scheiterte an der SPD-Abgeordneten Dagmar Metzger, die nicht zu einer solchen Kooperation mit der LINKEN bereit war, der zweite Anlauf an einer Reihe von drei weiteren SPD-Abgeordneten. Die Bundes-SPD war von dem Schritt der SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti nicht begeistert, sah dies wieder als Ländersache an, nachdem noch kurz zuvor der damalige Parteivorsitzende Kurt Beck (gegen Müntefering) eigens die Parole ausgegeben hatte, in den alten Bundesländern gebe es keine Zusammenarbeit mit der LINKEN.29 Seine (vergebliche) Hoffnung war, die LINKE werde nicht in den Landesparlamenten des Westens repräsentiert sein. Hätte im November 2008 Andrea Ypsilanti das Amt der hessischen Ministerpräsidentin mit Hilfe der LINKEN erreicht, dann wäre diese zum ersten Mal indirekt Partner einer Landesregierung im westlichen Teil Deutschlands geworden („Wiesbadener Modell“) – zehn Jahre nach der Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern – und indirekt an den Entscheidungen des Bundesrates beteiligt. Noch Ende des Jahres 2008, also vor den hessischen Neuwahlen, hatte Franz Müntefering, der neue (und alte) SPD-Vorsitzende, den Startschuss für das neue Wahljahr gegeben und Schadensbegrenzung angestrebt. „Wenn es uns gelingt, mehr sozialdemokratische Ministerpräsidenten zu stellen“, so Müntefering in einem Interview mit dem „Stern“, „würde uns das helfen, mehr als es uns schadet“.30 Damit nahm der Vorsitzende ohne Not eine für die eigene Partei unliebsame Diskussion wieder auf. Er gab grünes Licht für rot-rot – zum einen deshalb, weil er die Frage ein für allemal geklärt haben wollte, zum andern vielleicht deshalb, weil er sich unter dem Druck des linken Flügels in der eigenen Partei wähnte. Frank-Walter Steinmeier konterkarierte kurz darauf die Position Münteferings zwar nicht, relativierte sie aber: „Es gibt eine Reihe von Bundesländern, in denen ich der Linkspartei eine Regierungsbeteiligung nicht zutraue, weil dort politische Sektierer am Ruder sind.“31 Beide stimmten darin überein, die Landesverbände entscheiden selbst. Offenkundig liegt kein Spiel mit verteilten Rollen vor, sondern ein (verdeckter) parteiinterner Konflikt. Bereits bei den hessischen Landtagswahlen am 18. Januar 2009, kein Jahr nach dem letzten Gang in die Wahlkabinen, spürte die SPD die Konfrontation mit der für sie heiklen Materie. Die Partei, die eine rot-grüne Koalition anstrebte, schloss diesmal eigens kein Bündnis mit der LINKEN aus. So gab sie zu erkennen, es sei vor der Wahl
29 Vgl. Daniel Friedrich Sturm, Wohin geht die SPD?, München 2009, 350. 30 SPD-Chef Franz Müntefering spricht sich für rot-rote Bündnisses aus, in: Stern v. 23. September 2008. 31 Zitiert nach: Steinmeier widerspricht Münteferings rot-rotem Kuschelkurs, in: Spiegel Online v. 27. Dezember 2008.
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2008 ein Fehler gewesen, ein „Linksbündnis“ verworfen zu haben. Als Fehler galt nunmehr nicht eine Kooperation mit der LINKEN an sich. Verantwortlich für die drastische Niederlage der SPD (sie verlor 13,0 Prozentpunkte) war nicht so sehr ihr Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel, sondern Andrea Ypsilanti, die als frühere Spitzenkandidatin durch Machtpolitik um jeden Preis die Reputation der Partei beschädigt hatte. Eine Zusammenarbeit der SPD mit der LINKEN nicht nur in den östlichen, sondern auch in den westlichen Bundesländern ist nun möglich geworden, immer vorausgesetzt, die Arithmetik steht dem nicht im Wege. In Thüringen ließ Bodo Ramelow, Chef der dortigen LINKEN, sogar zunächst verlauten, die SPD dürfe selbst dann den Ministerpräsidenten stellen, wenn sie hinter der LINKEN rangiere. Aber später revidierte er diese Position. Damit wäre der Weg für ein „Erfurter Modell“ geebnet gewesen, hatte die SPD doch darauf insistiert, niemals als Juniorpartner mit der LINKEN eine Koalition einzugehen. Ebenfalls im Jahre 2009 stünde das „Saarbrücker Modell“ auf der Tagesordnung: die erste Koalition mit der LINKEN in einem westdeutschen Bundesland. Zwei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution ist der einst fest zementierte antiextremistische Konsens keine Realität mehr, jedenfalls nicht gegenüber links außen. Die Argumentation der SPD krankt an ihrer Inkonsequenz. Erst war nur eine Tolerierung durch die PDS im Osten legitim, später eine Koalition im Osten, dann eine Tolerierung im Westen, jetzt auch eine Koalition mit der LINKEN im Westen. Wie will die Partei dem Wähler glaubwürdig verständlich machen, dass die LINKE zwar in den Ländern als koalitionswürdig gilt, nicht aber im Bund? Die SPD handelt bloß taktisch, nicht strategisch.
8.
Abschließende Überlegungen
Erstens, zur deskriptiven Ebene: Ein wie immer geartetes Bündnis zwischen der SPD und den Postkommunisten schadet der SPD, nützt – trotz des demokratischen „Ritterschlags“ – aber nicht unbedingt der LINKEN. Diese würde einerseits zwar salonfähig gemacht, andererseits aber auch „entzaubert“. Bekanntermaßen schnitt die Partei als Regierungspartei schlecht ab. Sie konnte die hohen Erwartungen ihrer Wähler nicht erfüllen: Bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern verlor sie im Jahre 2002 8,0 Punkte (sie sackte von 24,4 Prozent auf 16,4 Prozent ab), bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 9,2 Punkte (sie fiel von 22,6 Prozent auf 13,54 Prozent). Wahlarithmetische Spielereien mit Blick auf eine „linke Mehrheit“ im Bund gehen schwerlich auf, erweisen sich wohl als Milchmädchenrechnungen. Die Ergebnisse für die einzelnen linken Parteien würden vermutlich bei einem vorher proklamierten Zusammengehen nicht so groß ausfallen. Zweitens, zur präskriptiven Ebene: Ein Bündnis zwischen einer demokratischen Partei und einer nur begrenzt systemloyalen Partei verstößt gegen den demokratischen
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Grundkonsens in der Bundesrepublik Deutschland. Auf diese Weise leidet der antiextremistische Konsens Schaden. Eine Abgrenzung von der LINKEN ist ein Gebot demokratischer Notwendigkeit. Unter Demokraten sollte darin Konsens herrschen, dass ein Bündnis mit einer Partei, der es offenkundig an demokratischer Zuverlässigkeit fehlt, nicht in Frage kommt. Das Prinzip der streitbaren Demokratie verdient es, ernst genommen zu werden. Es gilt, der Erosion der Abgrenzung Einhalt zu gebieten. Als die CDU 1992 in Baden-Württemberg mit der Partei der „Republikaner“ eine regierungsfähige Mehrheit gehabt hätte, war die Bildung einer solchen Koalition von vornherein ausgeschlossen – zu Recht. Was nach rechts hin funktioniert, muß für links gelten. Zudem: Lässt sich die SPD auf eine Verbindung mit der PDS ein, fördert sie nicht nur indirekt die Annäherung von „schwarz“ und „grün“, sondern schwächt auch die Möglichkeit für die Bildung einer Ampel-Koalition, da die Liberalen schwerlich eine Liaison der SPD mit der LINKEN unterstützen würden. Drittens, zur prospektiven Ebene: Die SPD wird im Kern zu Bündnissen mit der LINKEN bereit sein. In den ostdeutschen Ländern setzt sich dies weiter fort (dort gilt sie vielfach als „normale“ demokratische Kraft), in den westlichen Bundesländern vollzieht sich ein solcher Prozess, wenn die SPD den Eindruck hat, dass ihr dies nütze. Auf der Bundesebene wird der Wandel demnächst (vielleicht schon bei der nächsten Bundestagswahl nach 2009) nachgeholt. Die SPD hat zum Erfolg der LINKEN beitragen und damit einen Konkurrenten im linken Parteienspektrum stabilisiert. Was die SPD betreibt, ist Taktik, keine Strategie. Sie denkt kurz-, nicht langfristig. Ihr Vorgehen ist auf den jeweiligen Wahltag ausgerichtet, nicht koordiniert und zielgerichtet.32 Sonst hätte die Partei eine in sich schlüssige Vorgabe gemacht: weder in den Ländern noch im Bund eine Koalition mit der LINKEN! Für den Bund gilt diese als politik- und regierungsfähig, nicht als demokratieunfähig. Das Wort von den extremistischen Zügen bei der Partei nehmen nur noch Außenseiter innerhalb der SPD in den Mund. Die SPD möchte mit ihr in den Bundesländern kooperieren, allerdings, und das versteht kaum einer, nicht dann, wenn die LINKE als stärkste Partei den Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten erhebt. Wie kann die SPD dem Wähler glaubwürdig vermitteln, dass sie mit Hilfe der LINKEN den Bundespräsidenten stellen will, jedoch nicht den Bundeskanzler? Sie hat offenkundig keine angemessene Strategie gegen die linke Konkurrenz. Sie sähe folgendermaßen aus: Die Partei müsste ein Bündnis mit den Liberalen (und den Grünen) anstreben, der LINKEN hingegen eine Absage erteilen – zumal unter dem Parteivorsitzenden Franz Müntefering und dem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier. Sollte ein solcher Kurs der Mitte glücken, wäre der Union der „natürliche“ Koalitionspartner genommen, und diese säße in der Opposition mit der LINKEN. Aber da die SPD mit der LINKEN zu paktieren gedenkt, wird die FDP schwerlich geneigt sein, sich gegenüber der SPD zu öffnen. 32 Vgl. für Einzelheiten Daniel Friedrich Sturm (Anm. 29).
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Schwarz-Gelb – Vergangenheit und Gegenwart, aber Zukunft? Keine Koalition gab es im Bund so häufig wie die zwischen der Union und den Liberalen. In den 64 Jahren von 1949 bis 2013 kam eine solche Konstellation in der Hälfte der Zeit zustande. Schwarz-Gelb verkörperte das „bürgerliche“ Lager, anfangs ergänzt durch DP und GB/BHE. Die letzte schwarz-gelbe Koalition funktionierte mehr schlecht als recht. Nicht die Kanzlerpartei nahm Schaden, wohl aber der Juniorpartner. Die Diskussion um – tatsächliche oder vermeintliche – „Leihstimmen“ nützte diesem nicht. Ist Schwarz-Gelb damit auf absehbare Zeit „erledigt“? Welche Relevanz hatte in der Vergangenheit bei der schwarz-gelben Koalitionsbildung jeweils „policy seeking“, „vote seeking“, „office seeking“ und „identity seeking“?
1.
Große Ungewissheiten, widersprüchliche Diagnosen
„Die Sympathien für den Fortbestand der derzeitigen Koalition sind bemerkenswert gering. Nur 19 Prozent der Bürger sind überzeugt, dass eine Fortsetzung der schwarzgelben Koalition gut wäre. 33 Prozent votieren für eine Große Koalition, 27 Prozent für ein rot-grünes Bündnis, 14 Prozent für eine schwarz-grüne Koalition.“1 Zugleich wünschten, so Renate Köcher, Leiterin des Instituts für Demoskopie Allensbach, nur 35 Prozent einen Regierungswechsel, weniger als 1994 (52 Prozent), 1998 (59 Prozent), 2002 (36 Prozent), 2005 (46 Prozent) und 2009 (47 Prozent). Sie charakterisiert den paradox anmutenden Befund wie folgt: „So ist die Ausgangslage von der eigentümlichen Konstellation gekennzeichnet, dass die Bürger heute im Durchschnitt zufriedener sind als vor vier Jahren, deswegen auch nicht auf einen Regierungswechsel aus sind, gleichzeitig aber weniger dazu tendieren, Schwarz-Gelb eine Mehrheit zu verschaffen, als das Anfang 2009 der Fall war.“2 Deswegen sei der Ausgang der Bundestagswahl 2013 unsicherer als vor der Wahl 2009 zum gleichen Zeitpunkt. Die FDP büßt bei den Umfragen aller Meinungsforschungsinstitute seit 2009 mehr ein, als die Union gewinnt. Das ist augenscheinlich keine Momentaufnahme. Die Bundesrepublik Deutschland ist auf Bundesebene beides: eine Koalitionsdemokratie und eine Demokratie mit mehr oder minder festen politischen Lagern. „Koalitionsdemokratie“ bedeutet: Koalitionen sind der Regelfall des Regierungsmusters – sei es aus arithmetischen, sei es aus prinzipiellen Erwägungen. Nur bei der Bundestagswahl 1957 erreichte eine Partei – die Union – mit 50,2 Prozent die absolute Mehrheit der Stimmen, bei der Bundestagswahl 1953 kam auch eine – hauchdünne – Mehrheit der Mandate zustande.3 1 2 3
Renate Köcher, Keine Wechselstimmung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20. Februar 2013. Ebd. Die Union erreichte 244 der 487 Mandate. Über die Liste der Zentrumspartei war ein CDU-Mitglied in den Bundestag gelangt, da in einem Wahlkreis die CDU keinen Kandidaten aufgestellt hatte, um dem Zentrum durch den Gewinn eines Direktmandats den Einzug in den Bundestag zu ermöglichen. Dank dieser Alternativklausel erhielt das Zentrum mit 0,9 Prozent der Zweitstimmen drei Mandate.
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Parteien und Wahlen
Angesichts des buntscheckigen Parteiensystems der Vergangenheit war von einem „Wahlwunder“ (Dolf Sternberger) die Rede. Gleichwohl gab es lediglich einmal für eine kurze Zeit – 1960/61 – eine Einparteienregierung (nach dem Ausscheiden der DP). Angesichts des Wandels der politischen Kultur wären „übergroße Koalitionen“ heute wohl kaum mehr möglich (und auch nicht mehr nötig). Die Öffentlichkeit würde dies nicht akzeptieren, ebenso nicht der für die Mehrheitsfindung überflüssige kleine Regierungspartner. Bei einer Demokratie mit mehr oder weniger festen Lagern signalisieren die Parteien den Wählern vor der Wahl, wer mit wem eine Koalition einzugehen beabsichtigt, eine arithmetische Mehrheit immer vorausgesetzt. In der Bundesrepublik bestand zwischen den „Lagern“ nicht stets ein symmetrisches Verhältnis – im Gegenteil. Bis Ende der sechziger Jahre gab es eine Asymmetrie zugunsten des „bürgerlichen Lagers“, in den Siebzigern zugunsten der SPD und in den Achtzigern wieder zugunsten der Union. Erst in den Neunzigern4 entstand durch die sich stabilisierenden und gemäßigter gewordenen Grünen ein System aus zwei (etwa gleich großen) politischen „Lagern“. Doch das Aufkommen der PDS, später der Linkspartei und der Linken, konnte die Mehrheit eines herkömmlichen Lagers verhindern. Jedenfalls bestand eine solche Gefahr. 1990 und 1994 vermochte die Union mit der FDP eine Mehrheit zu bilden, 1998 und 2002 die SPD mit den Grünen. Alle vier Koalitionen waren damit „Lager“Bündnisse. Ging der Kelch einer Großen Koalition seinerzeit an den Parteien vorbei, so blieb 2005 nur dieser Ausweg.5 Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün besaß eine Mehrheit. Zwar gelang es 2009 der Union und der FDP, eine Koalition zu bilden, doch führt die Auffächerung des Parteiensystems6, bedingt unter anderem durch die Auflösung der Milieus, in absehbarer Zeit wohl auch zu einem Wandel der Art der Koalitionen. Die eine Frage lautet, ob die schwarz-gelbe Koalition, die auf Bundesebene lange prägend war, damit für längere Zeit ausgespielt hat.7 Die andere: Welche Rolle spielten für Union und FDP jeweils die Faktoren „policy seeking“, „vote seeking“, „office seeking“ und „identity seeking“ bei der Koalitionsbildung?
4 5
6 7
1983 und 1987 waren die Grünen weder regierungsfähig noch regierungswillig. Anders als 1949: Damals gab es zwei „bürgerliche“ Parteien (FDP, DP), mit denen die Union ein Bündnis eingehen konnte. In der Folge kam es zu einer arithmetischen Mehrheit einer großen mit einer kleineren Partei. Vgl. etwa Uwe Jun/Henry Kreikenbom/Viola Neu (Hrsg.), Kleine Parteien im Aufwind. Zur Veränderung der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt a. M. 2006. Der Beitrag bezieht sich nicht auf die Länderebene. Vgl. hierzu unter anderem Patrick Horst, Koalitionsbildungen und Koalitionsstrategien im neuen Fünfparteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 20 (2010), S. 327–408; Uwe Jun, Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern. Theoretische Betrachtungen, Dokumentation und Analyse, Opladen 1994; Thomas Schubert, Ein- und Zweiparteienregierungen als Auslaufmodell? Neuer Koalitionspluralismus in den Ländern seit 1990, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), „Superwahljahr“ 2011 und die Folgen, Baden-Baden 2012, S. 191–213.
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Schwarz-Gelb – Vergangenheit und Gegenwart, aber Zukunft?
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Nach einer Klärung des Begriffs „Lager“ geht es um eine kurze Beschreibung der zentralen Rolle der Union und der FDP auf Bundesebene. Die Zusammenarbeit der beiden Parteien wird für die Vergangenheit und die Gegenwart gezeigt – mit Blick auf die Koalitionsaussagen, ebenso mit Blick auf interne Auseinandersetzungen. Daraus leitet sich eine Prognose ab. Die unter dem Stichwort „Leihstimmen“ geführte Diskussion um den „echten“ Stimmenanteil der beiden Parteien ist durch die Existenz zweier wahlrechtlicher Spezifika bestimmt: das Zweistimmensystem und die Fünfprozentklausel. Sie weisen gravierende Mängel auf und bedürfen der Modifikation. Zum Schluss greift der Text die eingangs erwähnte Paradoxie von offenkundig fehlender Wechselstimmung und augenscheinlich fehlender Mehrheit für Schwarz-Gelb auf.
2.
„Lager“ und „Projekt“
Was ist mit dem Begriff des „Lagers“ und dem des „Projekts“ gemeint? Unter einem politischen „Lager“ sind Parteien gemeint, die viele Gemeinsamkeiten aufweisen und sich von anderen abgrenzen („Lagermentalität“), im Extremfall sogar eine Art „Projekt“ repräsentieren. „Ein politisches Lager lebt in seinem Zusammenhalt im Unterschied zu einem Milieu stärker von der Abgrenzung gegen andere als von eigenen positiven Gemeinsamkeiten und kann deshalb im Prinzip sogar sehr heterogene Milieus enthalten [...]. Ein Milieu trägt sich unter Umständen aus sich heraus, ein Lager dagegen bedarf des Gegenübers.“8 Die weitgehende Auflösung der Milieus, wie sie noch das Kaiserreich und die Weimarer Republik geprägt hatten,9 führt zwar zu einer Abschwächung der Lager, aber nicht zu ihrem Verschwinden, jedoch zu einer gewissen Neuausrichtung. Die sozioökonomische (mehr Staat versus weniger Staat) und die politisch-kulturelle Konfliktlinie (mehr Freiheit versus mehr Sicherheit) bestimmen maßgeblich die Lager.10 Dazu gehört ferner die Konfliktlinie zwischen systemloyal und systemoppositionell. Offenkundig stehen sich SPD und Grüne („linkes“ Lager) ebenso nahe wie Union und FDP („bürgerliches“ Lager). Allerdings gibt es bei der sozioökonomischen Konfliktlinie gewisse, allerdings nachlassende Spannungen zwischen der SPD und den Grünen, die insgesamt weniger „staatsbezogen“ auftreten. Und zwischen der Union und der FDP bestehen Unterschiede bei der politisch-kulturellen Konfliktlinie. Die Liberalen 8 Vgl. Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992, S. 21. 9 Vgl. den wissenschaftsgeschichtlich Furore machenden und oft wieder abgedruckten Beitrag von M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel u. a. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 371–393. 10 Tim Spier stellt nur auf die sozioökonomische Konfliktlinie ab. Vgl. ders., Das Ende der Lagerpolarisierung? Lagerübergreifende Koalitionen in den deutschen Bundesländern 1949–2009, in: Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2010, S. 298–319.
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räumen stärker als die Union den Werten der Freiheit ein größeres Gewicht ein. Neben diesen inhaltlichen Gemeinsamkeiten („policy seeking“) spielen habituelle eine nicht zu vernachlässigende Rolle („identity seeking“). Was die Konfliktlinie systemloyal versus systemoppositionell betrifft, so sind alle genannten Parteien klar demokratisch. Dies gilt nicht für die Linke11, die etwa in ihrem Programm 2011 einen „Systemwechsel“ propagiert. Parteien, die sich einem politischen Lager zurechnen, geben vor der Wahl ihre „Wunschkoalition“ bekannt. Der Begriff des Lagers wird jedoch zu weit ausgelegt, wenn eine Voraussetzung dafür ist, dass die Partner „lagerübergreifende Koalitionen explizit ausschließen.“12 Selbstverständlich muss es neben Wunschkoalitionen Alternativkoalitionen geben. Andernfalls käme es zu einer regelrechten Blockade. Und der Begriff „lagerinterne Koalition“ wäre ein „weißer Schimmel“, der Begriff „lagerexterne Koalition“ ein „weißer Rabe“. Die bipolare Struktur des Parteiensystems schlägt sich weithin auch im Wahlverhalten nieder. „Das Vorhandensein eines Lagersystems, das ein Mehrparteiensystem strukturiert, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die ‚Beweglichkeit‘ der Wähler innerhalb eines Lagers groß, zwischen den Lagern dagegen sehr gering ist.“13 Was Karl Rohe mit Blick auf das Kaiserreich und die Weimarer Republik festgestellt hat, gilt weithin auch für die Bundesrepublik, wie Wählerwanderungsbilanzen zeigen, wenngleich die Volatilität zwischen den politischen Lagern gewachsen ist. Der Begriff des „Projekts“ zielt über den des „Lagers“ hinaus. Gemeint ist damit ein von Parteien gemeinsam angekündigter bzw. initiierter „großer Wurf “, der auf eine „Wende“ zielt – in zentralen Bereichen der Politik. Bei einem „Projekt“ geht es weniger um Abgrenzung gegenüber dem anderen politischen Lager, mehr um eine konzeptionelle Neuordnung der bisherigen Politik, wie das etwa 1969, 1982 und 1998 propagiert war. Allerdings gibt es zwischen dem hochgestochenen Anspruch und der schnöden Praxis oft beträchtliche Diskrepanzen.14 Die Hoffnungen der Anhänger und die Befürchtungen erweisen sich daher häufig als gegenstandslos.
11 Vgl. Eckhard Jesse/Jürgen P. Lang, DIE LINKE – eine gescheiterte Partei?, München 2012, S. 286– 296. 12 So Oskar Niedermayer, Wahrscheinliche und unwahrscheinliche Koalitionen, in: Matthias Machnig/ Joachim Raschke (Hrsg.), Wohin steuert Deutschland? Bundestagswahl 2009 – ein Blick hinter die Kulissen, Hamburg 2009, S. 267–279, hier S. 275. 13 Rohe (Anm. 8), S. 22. 14 Vgl. Klaus von Beyme, Die schwarz-gelbe Koalition als ein „Projekt“? Vergleiche mit den Regierungserklärungen von 1969, 1982 und 1998, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Anm. 7), S. 175–190. Siehe auch Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Ende des rot-grünen Projekts. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002–2005, Wiesbaden 2007.
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Schwarz-Gelb – Vergangenheit und Gegenwart, aber Zukunft?
3.
Union und FDP als stärkstes politisches Lager im Bund
In der Vergangenheit war eine schwarz-gelbe Koalition auf Bundesebene am häufigsten gebildet worden (s. Tabelle 1). Es gab sie bekanntlich von 1949–1956 (unter Einschluss der DP [1949–1956] und des GB/BHE [1953–1955]), 1961–1966, von 1982 bis 1998, und es gibt sie seit 2009. In 32 von 64 Jahren bestimmten Union und FDP die Politik auf Bundesebene, darunter in entscheidenden Phasen – so bei der Etablierung der sozialen Marktwirtschaft, der Durchsetzung der Westintegration, der Abstimmung zum NATO-Doppelbeschluss und bei der deutschen Einheit. Tabelle 1: Union und FDP als Regierungs- bzw. Oppositionsparteien im Bund 1
Kongruente Konstellation: (beide Parteien in der Regierung = 32 Jahre)
1949–1956 (mit anderen) 1961–1966 1982–1998 seit 2009
2
3
Nicht-kongruente Konstellation:
1956–1961
(Union in der Regierung,
1966–1969
FDP in der Opposition = 12 Jahre)
2005–2009
Nicht-kongruente Konstellation:
1969–1982
(Union in der Opposition, FDP in der Regierung = 13 Jahre) 4
Kongruente Konstellation:
1998–2005
(beide Parteien in der Opposition = 7 Jahre) Quelle: Zusammenstellung des Verfassers.
In sieben Jahren wirkten die beiden Parteien gemeinsam in der Opposition (1998– 2005). Die FDP war zusätzlich 13 Jahre lang – in der Phase der sozialliberalen Ära (1969–1982) – an der Regierung beteiligt, die Union 12 Jahre lang (von 1956–1961 und in den beiden von ihr geführten Großen Koalitionen). Damit ist die FDP auf Bundesebene die – quantitativ gesehen – „regierungserfahrenste“ Partei, wenn auch nur als Juniorpartner. Für die Bundesländer gilt das wegen der vielen Einparteienregierungen in der Vergangenheit nicht. Während die Liberalen zwischen 1969 und 1982 den Sozialdemokraten den Vorzug gegeben hatten (die Union galt als zu verbraucht, um Reformen im Bereich der Außen-, Innen- und Rechtspolitik voranzubringen), stellt sich die dreifache Regierungsbeteiligung der Union ohne die FDP als komplizierter dar. 1956 hatten die Liberalen wegen eines konkreten Streits die von der Union dominierte Koalition ebenso verlassen wie
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Parteien und Wahlen
1966 – nicht wegen prinzipiell miteinander unvereinbarer Positionen. Allerdings fühlte sich die FDP 1956 wegen des geplanten und für sie ungünstigen „Grabenwahlsystems“ brüskiert. Ihr Mandatsanteil wäre halbiert worden. 2005 wollten Union und FDP ein Bündnis eingehen, konnten es aber aus arithmetischen Gründen nicht. Tabelle 2: Zweitstimmenanteil der Union (CDU und CSU) und der FDP bei den Bundestagswahlen 1949 bis 2009 (in Prozent) Union
Jahr CDU
CSU
FDP
zusammen
Insgesamt
1949*
25,2
5,8
31,0
11,9
43,9
1953
36,4
8,8
45,2
9,5
54,7
1957
39,7
10,5
50,2
7,7
57,9
1961
35,7
9,6
45,3
12,8
58,1
1965
38,0
9,6
47,6
9,5
57,1
1969
35,6
9,5
46,1
5,8
51,9
1972
35,2
9,7
44,9
8,4
53,3
1976
38,0
10,6
48,6
7,9
56,5
1980
34,2
10,3
44,5
10,6
55,1
1983
38,2
10,6
48,8
7,0
55,8
1987
34,5
9,8
44,3
9,1
53,4
1990
36,7
7,1
43,8
11,0
54,8
1994
34,1
7,3
41,4
6,9
48,3
1998
28,4
6,7
35,1
6,2
41,3
2002
29,5
9,0
38,5
7,4
45,9
2005
27,8
7,4
35,2
9,8
45,0
2009
27,3
6,5
33,8
14,6
48,4
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken. * Es gab nur eine Stimme.
Der Stimmenanteil von Union und FDP lag – abgesehen von der ersten Wahl 1949 und den letzten fünf Wahlen – stets über 50 Prozent (s. Tabelle 2). Dies belegt anschaulich das Stärkeverhältnis der „Bürgerlichen“. Dabei fiel die Differenz zwischen den Stimmenanteilen der beiden „bürgerlichen“ Kräfte noch nie so niedrig aus wie 2009. Die Union erreichte ihr zweitschlechtestes Resultat, die FDP ihr bestes. Ein Hauptgrund: Die Union fungierte als Regierungspartei und musste Kompromisse mit der SPD aushandeln, während die FDP programmatisch in die offene Flanke der Union stieß. Die Union war dreimal nicht die stärkste Partei (1972, 1998, 2002), die FDP dreimal nicht die drittstärkste (1994, 1998, 2002 lag sie jeweils knapp hinter den Grünen). Bei der Union ist durch die Wiedervereinigung die CSU, die lediglich halbherzig die mit ihr
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sympathisierende Deutsche Soziale Union unterstützt hatte, geschwächt worden. Gleichwohl rangiert sie über der Marke von fünf Prozent. Bei den 17 Bundestagswahlen schnitt sie zehnmal besser ab als die FDP, davon sogar dreimal im vereinigten Deutschland (1994, 1998, 2002). Die zeitweiligen Spannungen zwischen den Christsozialen und den Liberalen (etwa im Bereich der Sicherheitspolitik) stellten die CDU öfter vor die schwierige Aufgabe, zwischen der Schwesterpartei und der FDP zu vermitteln. Tabelle 3: Mandatsanteil der Union (CDU und CSU) und der FDP bei den Bundestagswahlen 1949 bis 2009 Jahr Sitze CDU
Union in CSU in Prozent Prozent insgesamt
in Prozent
FDP
zusamin in Prozent men Prozent
1949
402
115
28,6
24
5,8
139
34,4
52
12,9
191
47,3
1953
487
191
39,2
52
10,7
243
49,9
48
9,6
291
59,5
1957
497
215
43,3
55
11,1
270
54,4
41
8,2
311
62,6
1961
499
192
38,8
50
10,0
242
48,8
67
13,4
309
62,2
1965
496
196
39,5
49
9,9
245
49,4
49
9,9
294
59,3
1969
496
193
38,9
49
9,9
242
48,8
30
6,0
272
54,8
1972
496
177
35,7
48
9,7
225
45,4
41
8,3
266
53,7
1976
496
190
38,3
53
10,7
243
49,0
39
7,9
282
56,9
1980
497
174
35,0
52
10,5
226
45,5
53
10,7
279
56,2
1983
498
191
38,4
53
10,6
244
49,0
34
6,8
278
55,8
1987
497
174
35,0
49
9,6
223
44,6
46
9,3
269
53,9
1990
662
268
40,5
51
7,7
319
48,2
79
11,9
398
60,1
1994
672
244
36,3
50
7,4
294
43,7
47
7,0
341
50,7
1998
669
198
29,6
47
7,0
245
36,6
43
6,4
288
43,0
2002
603
190
31,5
58
9,6
248
41,1
47
7,8
295
48,9
2005
614
180
29,3
46
7,5
226
36,8
61
9,9
287
46,7
2009
622
194
31,2
45
7,2
239
38,4
93
15,0
332
53,4
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Wer den Mandatsanteil zugrundelegt,15 kommt zu einem noch deutlicheren Ergebnis mit Blick auf die „bürgerliche“ Dominanz (s. Tabelle 3). Lediglich bei den Wahlen 1949, 1998, 2002 und 2005 fehlte es der Union und der FDP an einer Mehrheit. Gab es nach
15 Die (kleineren) Diskrepanzen zwischen Stimmen- und Mandatsanteil resultieren zum einen aus den nicht verwerteten Stimmen für die an der Fünfprozenthürde gescheiterten Parteien, zum anderen aus den zeitweilig anfallenden Überhangmandaten für Union und SPD.
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Parteien und Wahlen
der ersten Wahl gleichwohl eine „bürgerliche“ Mehrheit, so führte das Ergebnis von 2005 zu einer Großen Koalition. Allerdings muss die sozialliberale Ära als Ausnahme angesehen werden. Nach den Wahlen 1969, 1972, 1976 und 1980 standen die beiden Parteien nicht im selben Lager. Es wäre für diese Zeit allerdings wohl keineswegs angebracht, von einem „sozialliberalen Lager“ zu reden. Das Bündnis zwischen der SPD und den Liberalen wurde vornehmlich durch Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit getragen, weniger durch weltanschauliche.
4.
Vergangenheit (1949–2009)
Mit der Gründung einer liberalen Partei nach 1945, zunächst unter verschiedenen Namen, wurde das Dilemma des Liberalismus, immer in zwei Parteien anzutreten, schließlich überwunden. Allerdings bedeutete das nicht das Ende unterschiedlicher liberaler Strömungen. Sie standen nun in einer Partei im Wettbewerb. Die Union war 1945 ebenso eine Neugründung. Die überkonfessionelle Ausrichtung sollte die Fixierung des Zentrums auf den Katholizismus überwinden. Trotz einer gewissen katholischen Dominanz konnte die Union auch den evangelischen Bevölkerungsteil ansprechen. Die Liberalen und die Union wiesen durch die Ablehnung „sozialistischer Experimente“ eine große Affinität auf. Diese Gemeinsamkeit überlagerte Unterschiede etwa in soziokultureller Hinsicht. Die Union attackierte oft die „Libertinage“ der FDP, diese deren „Klerikalismus“. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 waren sich Konrad Adenauer und Kurt Schumacher, die Spitzenkandidaten von Union und SPD, darin einig, keine Große Koalition anzustreben, auch wenn es in ihren Reihen andere Positionen gab.16 Die FDP, die im Frankfurter Wirtschaftsrat gut mit der Union zusammengearbeitet hatte, ließ als antisozialistische Kraft klar ihre Sympathien für ein Bündnis mit der Union erkennen, insbesondere für die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards, zumal der große Liberale Theodor Heuss das Amt des Bundespräsidenten übernehmen sollte. Das galt ebenso für die aus der Niedersächsischen Landespartei hervorgegangene Deutsche Partei. Auch sie hatte im Wirtschaftsrat positive Erfahrungen mit der Union gemacht. Diese bildete mit beiden Kräften eine Regierung, die zunächst nur über eine hauchdünne Mehrheit im Bundestag verfügte. Daher sah sie sich zu beträchtlichen Konzessionen gegenüber den Koalitionspartnern gezwungen. „Policy seeking“, „identity seeking“, „vote seeking“ und „office seeking“ bestimmten gleichermaßen das Votum für eine „bürgerliche“ Koalition. Vor der zweiten Bundestagswahl 1953 ließ die Union keinen Zweifel daran, die als erfolgreich empfundene Arbeit der Koalition fortzusetzen.17 Der Bundesvorstand der FDP fasste Ende Juli 1953 folgende Resolution: „Die Freie Demokratische Partei ist 16 Vgl. Franz Alt, Es begann mit Adenauer. Der Weg zur Kanzlerdemokratie, Freiburg/Brsg. 1983. 17 Sie stellte in 21 Wahlkreisen zugunsten der DP und der FDP keinen Wahlkreiskandidaten auf.
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entschlossen, die von ihr seit den Tagen des Wirtschaftsrates in Gang gesetzte und in der Folgezeit von ihr wesentlich bestimmte Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik mit ihren überzeugenden Erfolgen nach den Bundestagswahlen fortzusetzen und zu vollenden. Ein Richtungswechsel dieser Politik würde nach dem bisherigen Verhalten der Opposition bedenkliche Folgen für die innen- und außenpolitische Lage Deutschlands haben. Behauptungen, die Freie Demokratische Partei erstrebe eine Koalition mit der SPD, entbehren jeder Grundlage.“18 Die Union, die, wie erwähnt, mit 45,2 Prozent der Stimmen knapp die absolute Mehrheit der Mandate erreicht hatte, ging mit drei Parteien eine „unechte Koalition“19 ein. „Vote seeking“ überlagerte „office seeking“. Der Union war an einer verfassungsändernden Mehrheit gelegen (unter anderem mit Blick auf die Wehrpolitik), sie wollte zudem aus prinzipiellen Gründen für die von ihr geführte Regierung eine „übergroße“ Koalition, die durch den Austritt des GB/BHE 1955 und den der FDP 1956 aus dem Bündnis schrumpfte. Das Wahljahr 1957 stellte insofern eine Ausnahme dar, als zwei der drei Koalitionspartner von 1953 das Bündnis verlassen hatten. Deswegen lavierten diese beiden Parteien, nicht zu ihrem Vorteil. Die Liberalen suchten sich in ihrem Berliner Programm von 1957 als „dritte Kraft“ zu profilieren. „Zwar hatte sich die FDP mit der Absicht der Selbsterhaltung von ihrem bisher natürlichen Koalitionspartner CDU/CSU gelöst, aber als möglicher Bündnispartner der Sozialdemokraten auf der Bundesebene fühlte sie sich deshalb noch lange nicht. Noch immer lagen ihre koalitionspolitischen Präferenzen eindeutig bei der Union.“20 Da die FDP ihre ausweichende Position von 1957 als Fehler erkannt hatte, lief ihr Vorgehen im Vorfeld der Bundestagswahl 1961 auf „Doppelgleisigkeit“ hinaus: ein Ja zu einer Koalition mit der Union (allerdings nicht unter den Bedingungen einer absoluten Mehrheit für sie), ein Nein zu einer erneuten Kanzlerschaft Adenauers. Diese Strategie zahlte sich aus (12,8 Prozent), nicht aber ihr nachfolgender Wortbruch. Sie erklärte sich nämlich bereit, eine befristete Kanzlerschaft Adenauers mitzutragen, ohne dass ihr Vorsitzender Erich Mende ein Regierungsamt übernahm. Die Folge: Von nun an muss(te) sie mit dem Image einer „Umfall“-Partei leben. Die FDP unterstützte in der Koalition die vor allem in der CDU beheimateten „Atlantiker“ gegen die „Gaullisten“, vornehmlich aus den Reihen der CSU. Vor der Bundestagswahl 1965 erklärte sich die FDP zu einer Koalitionsaussage zugunsten der Union bereit, sofern diese keine absolute Mehrheit erringe: „Erstens befand sie sich im Gegensatz zu 1961 bereits in der Regierung. Zweitens hatte die Zusammenarbeit zwischen den Koalitionsparteien seit dem Amtsantritt Erhards besser funktioniert als in der krisenreichen Zeit vom Herbst 1961 bis zum Herbst 1963.
18 Zitiert nach Marco Michel, Die Bundestagswahlkämpfe der FDP 1949–2002, Wiesbaden 2005, S. 61. 19 So die Terminologie von Uwe Jun (Anm. 7), S. 32. 20 Jürgen Dittberner, Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 46.
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Parteien und Wahlen
Drittens galt Erhard weiterhin als ein Politiker ‚liberalen‘ Typs. Er schien der ‚Wunschkanzler‘ der FDP zu sein. Viertens wurde die Position der FDP durch die inneren Auseinandersetzungen der CDU/CSU gestärkt. So konnte die FDP, die gegen den CSU-Vorsitzenden Strauß Spitzen verteilte, mit gewisser Berechtigung behaupten, man müsse erst recht FDP wählen, wenn man Erhard und Schröder wolle.“21 Allerdings brach bald nach der Wahl 1965 und der erneuten Koalition das Bündnis auseinander – nicht wegen des zum Teil gespannten Verhältnisses zwischen der CSU und der FDP. Die Liberalen lehnten zum Ausgleich des Haushalts Steuererhöhungen strikt ab – im Gegensatz zur Union. Kompromisslösungen unterblieben auf beiden Seiten. Eine Koalitionsaussage für 1969 war für die FDP ebenso schwierig wie 1957 und 1961, weil sie aufgrund der 1966 gebildeten Großen Koalition die Oppositionsrolle innehatte. Die Partei legte sich zwar nicht fest, doch ließ sie mannigfach ihre Sympathie für eine Neuorientierung erkennen („identity seeking“ dominierte über „vote seeking“), also für ein Bündnis mit der SPD (etwa durch den Wechsel des Vorsitzes: vom national-liberal geprägten Erich Mende zum eher sozial-liberal ausgerichteten Walter Scheel oder durch die Unterstützung Gustav W. Heinemanns bei der Bundespräsidentenwahl im März 1969).22 Zudem machte Scheel wenige Tage vor der Wahl seine Präferenzen für die SPD deutlich. Er ließ sich nach dem Wahlausgang von einem großzügigen Koalitionsangebot der Union nicht beirren. Die Union hielt sich bedeckt, schloss vor der Wahl weder die Fortsetzung der Großen Koalition noch ein Bündnis mit den Liberalen aus, die SPD strebte das Kanzleramt an. Nachdem die sozialliberale Regierung die Jahre zuvor vor allem wegen der Ost- und Deutschlandpolitik heftig von der Union attackiert wurde und deren Konstruktives Misstrauensvotum gescheitert war, gab es für die FDP 1972 keinen Zweifel an ihrem Votum, vehement für die Fortsetzung der sozialliberalen Koalition einzutreten. Das Wort vom „historischen Bündnis“ (Ralf Dahrendorf ) zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus machte die Runde.23 Die Aussage, „die Wähler haben einen Anspruch darauf, vor der Wahl zu erfahren, was die Parteien nach der Wahl anstreben“,24 war in dieser Form neu. Wählerinitiativen, die den Liberalen nahe standen, starteten Zweitstimmenkampagnen. Die Union stand im Dreiparteiensystem ohne Unterstützung da, benötigte für die Regierungsbildung eine absolute Mehrheit. 1976 verfehlte sie diese mit 48,6 Prozent der Stimmen knapp. Der Anspruch Helmut Kohls als Spitzenkandidat der weitaus stärksten politischen Kraft auf das Kanzleramt 21 Heino Kaack, Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971, S. 289. 22 Vgl. Frank Decker/Eckhard Jesse, Mythos oder Realität? Die koalitionspolitische Signalfunktion von Bundespräsidentenwahlen, in: Dies. (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013. Parteiensystem und Regierungsbildung im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2013, S. 193–213. 23 Bis zum Jahre 1977 trat die FDP auf Landesebene in keine von der Union geführte Regierung ein. Die Bundespolitik schlug, anders als früher, voll auf die Landespolitik durch. 24 Zitiert nach Marco Michel (Anm. 18), S. 141.
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war nicht begründet, denn die Liberalen hatten vor der Wahl klar für ein Bündnis mit den Sozialdemokraten unter Helmut Schmidt votiert. Allerdings verhielt sich die FDP im Vergleich zu 1972 weniger konfrontativ gegenüber der Union. SPD und FDP erklärten, sie seien entschlossen, ihre Koalition fortzuführen. Bei der Werbung um Zweitstimmen richtete sich der „Genscherismus“ (Peter Lösche/Franz Walter) nicht nur an Wähler der SPD, sondern auch an solche der Union. Der (bald wieder rückgängig gemachte) Beschluss der CSU-Landesgruppe in Wildbad Kreuth, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU nicht fortzusetzen, galt als erster Schritt zur Gründung einer „vierten Partei“ – nach dem Motto: „Getrennt marschieren, vereint schlagen“. Im Jahre 1980 votierte die FDP erneut für ein Bündnis mit der SPD, wenngleich die Koalitionsaussage zurückhaltender ausgefallen war als zuvor, zumal der Vorrat an Gemeinsamkeiten (vor allem in der Wirtschafts- und Außenpolitik) allmählich nachgelassen hatte. In den Bundesländern war es zu ersten Koalitionen der Liberalen mit der CDU nach Ende der sechziger Jahre gekommen (in Niedersachsen und im Saarland). Und bei den Bundespräsidentenwahlen 1979 enthielten sich die Delegierten der FDP weithin der Stimme. Vereinzelt plädierten FDP-Politiker wie Josef Ertl sogar dafür, die Koalitionspräferenzen für die Bundestagswahl 1980 offen zu halten. Diese Strategie hatte schon deshalb keine Aussichten, weil Franz Josef Strauß, der zur Polarisierung der politischen Lager beitrug, zum Spitzenkandidaten der Union avanciert war. Strauß festigte wider Willen so vorübergehend die Präferenzen der FDP für die SPD. Der von der FDP im September 1982 forcierte Bruch der sozialliberalen Koalition fußte vor allem auf zwei Motiven – zum einen auf wirtschaftspolitischen, zum anderen auf außenpolitischen.25 Der Faktor „policy seeking“ rangierte vor allen anderen Theoremen, zumal vor „office seeking“. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1983, nach dem „fliegenden“ Wechsel der FDP von der SPD zur Union, sahen die Liberalen ihre Existenz als bedroht an, setzten sich für die Fortsetzung der neuen Koalition ein und warben um die Zweitstimmen von Wählern aus den Reihen der Union, die diese Strategie nur zurückhaltend konterte, benötigte sie doch die FDP für die Koalition. An einer Alleinregierung konnte jedenfalls die CDU kein gesteigertes Interesse hegen.26 Schließlich warnte die FDP vor einer rot-grünen Koalition, obwohl die Grünen sich eigens als „regierungsunwillig“ bezeichnet hatten. Vier Jahre später, 1987, bestand für die Liberalen keine Notwendigkeit, die Koalitionsaussage für die Union in Frage zu stellen. Otto Graf Lambsdorff erklärte: „CDU und CSU sind für die FDP politische Konkurrenten – unsere Gegner aber sind SPD und Grüne.“27
25 Die SPD selbst war gespalten. Bundeskanzler Schmidt hatte Mühe, seine Reihen geschlossen zu halten (in der Frage der Kernenergie und beim NATO-Doppelbeschluss). 26 Für die CSU, die der FDP ferner stand als die CDU, stellte sich dies anders dar. Franz Josef Strauß wäre bei einer Alleinregierung der Union vermutlich Außenminister geworden. 27 Zitiert nach Marco Michel (Anm. 18), S. 197.
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Parteien und Wahlen
Die FDP könne ihre Politik gegenwärtig am besten in einem Bündnis mit der Union verwirklichen. Die Union fasste die FDP ebenso als Koalitionspartner ins Auge, stellte dies als „Kanzlerpartei“ jedoch nicht so klar heraus. Die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen 1990 änderten trotz der sonstigen tiefen Einschnitte an den Koalitionsaussagen der Parteien im Kern nichts, zumal Union und FDP gemeinsam forciert die deutsche Einheit angestrebt hatten. Die Liberalen bejahten das Bündnis, das sich im Zuge der deutschen Einheit bestens bewährt habe, warnten jedoch vor einer absoluten Mehrheit der Union. Damit erinnerte diese Aussage stark an die vor der Bundestagswahl 1983, obwohl die Ausgangslage 1990 für die Liberalen weitaus günstiger war als 1983, wie das Ergebnis dann auch zeigten sollte. Auch bei den Bundestagswahlen 1994 blieb die bisherige koalitionspolitische Konstellation erhalten. Zwar steuerte die FDP in der Koalitionsfrage zunächst einen „ZickZack-Kurs“28, aber später legte sie sich klar zugunsten der Union fest, diese eindeutig auf die FDP. Beide Parteien warnten vor einem von der PDS erwogenen, von der SPD verworfenen „Magdeburger Modell“. Im Vorfeld der Bundestagswahl 1994 hatte sich in Sachsen-Anhalt gegen den Willen des SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping eine von der PDS tolerierte rot-grüne Koalition gebildet. Im Bundestagswahlkampf 1998 rückte die FDP ein wenig von der Union ab, ohne die Koalitionsaussage für diese in Frage zu stellen, auch wenn der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Jürgen Möllemann vorübergehend ein Bündnis mit der SPD (und gegebenenfalls den Grünen) ins Spiel brachte, weil er die Niederlage der Union antizipierte.29 Die Union hielt sich die Option einer Großen Koalition offen. Nach dem ersten ungefilterten Regierungswechsel auf Bundesebene 1998 standen 2002 auf der einen Seite die Oppositionsparteien Union und FDP, auf der anderen Seite die Regierungsparteien SPD und Grüne.30 Während die Union ein klares „Koalitionsbekenntnis“ für die FDP ablegte, dachte diese weniger in Koalitionskategorien. Die Partei, die mit Guido Westerwelle einen eigenen Kanzlerkandidaten gekürt hatte, zeigte übersteigertes Selbstbewusstsein („Projekt 18“) und legte sich eigens nicht fest, wiewohl ihre Nähe zur Union augenfällig war. Sie spekulierte unter Umständen auf ein „Ampelbündnis“. In einem gewissen Gegensatz dazu ließ Jürgen W. Möllemann, der nach der Wahl parteiintern attackiert wurde, rechtspopulistische Tendenzen erkennen. Der Wahlkampf zu den vorgezogenen Wahlen von 2005 wies im Vergleich zu dem vorherigen eine merkwürdige Verkehrung auf. Hatten seinerzeit die Grünen einen Lagerwahlkampf geführt und die Liberalen auf Eigenständigkeit gepocht, so fiel das Szenario diesmal umgekehrt aus. Der Grund: Der FDP war die Unglaubwürdigkeit ihrer Strategie klar geworden, und die Grünen wollten ihre absehbaren Verluste durch 28 Vgl. ebd., S. 232. 29 Vgl. Michel (Anm. 18), S. 250. 30 Vgl. Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002, Opladen 2003; Eckhard Jesse, Die wahrscheinlichen und die sinnvollen Koalitionen (vor) der Bundestagswahl 2002, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 33 (2002), S. 421–435.
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ein taktisch bedingtes Absetzen von der SPD minimieren. Eine andere Koalitionsoption war damit nicht verbunden. Die Union, offensiv argumentierend, setzte klar auf den liberalen Juniorpartner. Beide Oppositionsparteien betrieben im Grunde eine Art „Regierungswahlkampf “, beide Regierungsparteien eine Art „Oppositionswahlkampf “, ihre augenscheinliche Niederlage antizipierend. Durch den Coup Gerhard Schröders mit der vorgezogenen Neuwahl konnte sich die SPD in eine Große Koalition retten, freilich nur als Juniorpartner. Das forsche „identity seeking“ von Union und FDP hatte sich nicht ausgezahlt.
5.
Gegenwart (2009–2013)
Die Große Koalition war beides: ein Reform- und ein Blockadebündnis.31 Vor der Bundestagswahl 2009 ließen Union und FDP keinen Zweifel an ihrem Bestreben aufkommen, ein Bündnis einzugehen. Beide Parteien hatten eine „Jamaika-Koalition“ allerdings nicht eigens ausgeschlossen. Obwohl die eine Kraft in der Regierung und die andere in der Opposition war, hielten sich die Differenzen in Grenzen. Die FDP trat – aus der Opposition heraus – kantiger auf als die Union, die aus dem bescheidenen Ergebnis von 2005 gelernt hatte. Aus dem „halben“ Regierungswechsel von 2005 sollte – mit Zeitverzug – ein „ganzer“ werden. Zwar verlor die Union mit 33,8 Prozent 1,4 Punkte gegenüber 2005, doch die FDP steigerte ihr Ergebnis von 9,8 auf 14,6 Prozent. Der Stimmenanteil von 48,4 Prozent reichte für die absolute Mehrheit der Mandate. Unter dem Strich erwies sich der Linksruck der Union damit als Plussummenspiel. Was sie verlor, blieb der Koalition mehr oder weniger erhalten, und was sie von der SPD und den Grünen gewann, nützte ihr. Das „vote seeking“ erwies sich dank des Spiels mit verteilten Rollen als erfolgreich. Nach der klaren Mehrheit war die Legitimation der Regierung groß. Schließlich hatte sie ihren Wahlsieg nicht den zahlreichen Überhangmandaten (CDU: 21; CSU: 3) zu verdanken. Allerdings nahm sich die Ausgangsposition des Regierungslagers nicht einheitlich aus. Verlor die Union fast fünf Prozent ihrer Stimmen, so gewann die FDP fast 50 Prozent. Wer zwischen CDU und CSU differenzierte, konnte beträchtliche Abweichungen erkennen. Die Verluste der CDU lagen bei zwei Prozent, die der CSU bei zwölf Prozent. Das Selbstbewusstsein der Parteien fiel damit unterschiedlich aus, ebenso das Profilierungsbedürfnis – etwa das der CSU gegenüber der CDU. Zudem fehlte eine schwarz-gelbe Aufbruchstimmung. Die FDP konnte sich in der Frage der von ihr propagierten Steuersenkung im Kern nicht durchsetzen. Mit der Mehrwertsteuersenkung für die Hotellerie geriet sie in den Ruf einer Klientel-Partei. Die Konflikte zwischen Union und FDP waren teils inhaltlicher (z. B. Betreuungsgeld;
31 Vgl. Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die Große Koalition 2005–2009. Eine Bilanz der Regierung Merkel, Wiesbaden 2010.
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doppelte Staatsbürgerschaft; Vorratsdatenspeicherung), teils kommunikativer Natur.32 Die neue Koalition hätte angesichts großer Erwartungen ein Projekt benötigt, etwa im Sinne von „weniger Staat“. Was im Koalitionsvertrag ausgehandelt wurde, blieb weithin Makulatur – sei es wegen des mangelnden Handlungsspielraums der Regierung durch viele Vetospieler, sei es wegen mangelnden Mutes von Union und FDP.33 „Politikwenden“ blieben aus. Im Gegenteil: Die Regierungsparteien, die Unionschristen mehr als die Liberalen, nahmen „Politikwenden“ in eigener Sache vor – etwa bei der Kernenergie, der Wehrpflicht und dem gesetzlichen Mindestlohn. Bei der „HomoEhe“ hingegen sperrte sich die Union, vor allem die CSU, nach einigem Hin und Her gegen eine völlige Gleichstellung – jedenfalls vorerst. Der Markenkern der Union ist so kaum mehr zu erkennen. Immerhin hat sie gemeinsam mit der FDP die Euro-Krise gemeistert, ohne dass es zu größeren Verwerfungen gekommen ist. Insgesamt jedoch gilt: „Alle Politikwenden der christlich-liberalen Koalition haben diese a) näher an Mitte-Links-Positionen herangerückt und b) die FDP marginalisiert. Neben der pragmatischen Problemlösung erfüllten die Politikwenden aus der Sicht der Kanzlerin damit auch den Zweck, politischen Konkurrenten im eigenen Lager, aber vor allem im gegnerischen die bei Wahlen populären Themen zu nehmen. Langfristig öffnen sich so leichter Koalitionen mit den Grünen oder der SPD.“34 Bekanntlich wird die Hauptregierungspartei im Bund bei den Landtagswahlen oft „abgestraft“. Dies trifft vor allem dann zu, wenn die Landtagswahlen in einem gewissen zeitlichen Abstand zur Bundestagswahl stattfinden (midterm-Effekt). Daher hatte die Union bei fast allen Landtagswahlen nach der Bundestagswahl 2009 Einbußen erlitten. Dieser Umstand führte zu Regierungswechseln, zumal der kleine Koalitionspartner die Verluste nicht auffangen konnte – im Gegenteil.35 So verlor die Union innerhalb von knapp drei Jahren in Nordrhein-Westfalen (2010) – und damit auch die Mehrheit im Bundesrat –, in Hamburg (2011), in Baden-Württemberg (2011), in Schleswig-Holstein (2011) und in Niedersachsen (2013) das Amt des Regierungschefs. Noch gravierender fielen die Verluste des Juniorpartners FDP aus, der in vier der fünf genannten Länder in der Regierung saß. Sie gelangte nicht einmal (mehr) in die Landesparlamente von Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Bremen, MecklenburgVorpommern, Berlin und des Saarlands. Hier erreichte sie, wie die NPD, 1,2 Prozent – damit rangierte sie hinter der Familienpartei (1,7 Prozent). Auch in Berlin kam sie lediglich
32 Vgl. Christian Werwath, Die Regierungsbildung: Eine schwarz-gelbe Traumhochzeit?, in: Daniela Kallinich/Frauke Schulz (Hrsg.), Halbzeitbilanz. Parteien, Politik und Zeitgeist in der schwarz-gelben Koalition 2009–2011, Stuttgart 2011, S. 35–61. 33 Vgl. Timo Grunden, Ein schwarz-gelbes Projekt? Programm und Handlungsspielräume der christlichliberalen Koalition, in: Karl-Rudolf Korte (Anm. 10), S. 345–370. 34 So Roland Sturm, Eine Renaissance der Kanzlerdemokratie? Die Zwischenbilanz der Politik der christlich-liberalen Koalition, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Anm. 7), S. 257–282, hier S. 278. 35 Vgl. Eckhard Jesse, „Superwahljahr“ 2011 – ein Schlüsseljahr? Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, in: Ebd., S. 23–44.
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auf diesen deprimierend niedrigen Stimmenanteil. Allerdings zeigten die Ergebnisse bei den drei letzten Landtagswahlen (Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen) wieder nach oben, bedingt nicht nur durch bekannte Spitzenkandidaten wie Christian Lindner und Wolfgang Kubicki. Parteien neigen häufig dazu, die Landtagswahlen als Test für den Bund anzusehen – wenn sie Erfolg hatten. Im umgekehrten Fall verweisen sie auf regionale Besonderheiten. Tatsächlich beschränken sich die Wahlkampfthemen nicht auf landesspezifische Eigentümlichkeiten, sondern beziehen die Bundespolitik ein, zum Teil deshalb, weil die Landespolitik aufgrund ihres geringen Grades an Publizität sich weniger zur Mobilisierung von Wählern eignet, zumal die effektiven Unterschiede zwischen den Parteien als kaum wahrnehmbar erscheinen. Auf den „Abstrafungseffekt“ ist bereits hingewiesen worden. Aber in den letzten Jahren hat sich die Regionalisierung des Wahlverhaltens beträchtlich erhöht, sind die territorialen Effekte stärker geworden.36 So gehen die immensen Verluste der CDU bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft 2012 in Höhe von 20,7 Prozent wesentlich auf den Rückzug des früheren Ersten Bürgermeisters Ole von Beust zurück. Und die enormen Stimmengewinne der Grünen von 12,5 Punkten bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im Jahre 2011 sind neben personellen Faktoren (ein schwächelnder Regierungschef Stefan Mappus, ein selbst in „bürgerlichen“ Kreisen angesehener Spitzenkandidat der Grünen Winfried Kretschmann) offenkundig zu großen Teilen ein Resultat des Atomreaktorunfalls in Fukushima. So konnte Bündnis 90/Die Grünen zum ersten Mal den Ministerpräsident in einem Bundesland stellen. Die Union und die Grünen sind sich in einem Punkt einig. Die Union erklärt, die FDP stehe ihr näher als die Partei der Grünen. Ungeachtet vieler Konflikte zwischen den „bürgerlichen“ Kräften wurde niemals die „Machtfrage“ gestellt – es gab schwerlich eine andere erfolgversprechende Machtoption für die Union und die FDP. Wechselnde Mehrheiten blieben im Bundestag aus. Die Grünen wiederum werden nicht müde, deutlich herauszustellen, dass sie zur SPD eine größere Affinität aufweisen als zur Union. Allerdings lautet ihr Motto: „Inhalte vor Macht.“ Und etwas kryptisch heißt es, neue Bündnisse würden nicht im Parlament, sondern in der Gesellschaft beginnen. Die Grünen, das ist offenkundig, stehen der FDP ablehnender gegenüber als der Union. Sie haben eine „Jamaika-Koalition“, wie 2009, rigoros ausgeschlossen, dürften aber ein schwarz-grünes Bündnis nicht ausschließen, so bereits 2009. Die Liberalen ihrerseits wenden sich wie im Vorfeld der letzten Bundestagswahl heftig gegen eine „Ampel“.
36 Vgl. Oskar Niedermayer, Regionalisierung des Wahlverhaltens und des Parteiensystems auf der Bundesebene 1949 bis 2009, in: Rüdiger Schmitt-Beck (Hrsg.), Wählen in Deutschland (= Sonderheft 45 der Politischen Vierteljahresschrift), Baden-Baden 2012, S. 134–156.
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6.
Parteien und Wahlen
Zukunft
Die Äußerung der Bundeskanzlerin auf dem Bundesparteitag der CDU im November 2010, Schwarz-Gelb sei „alternativlos“ (dieses Wort wurde das „Unwort“ das Jahres 2010), stimmt so nicht. Denn selbstverständlich gibt es in einer parlamentarischen Demokratie andere Koalitionsmöglichkeiten: Große Koalition (entweder SchwarzRot oder Rot-Schwarz), Rot-Grün, Schwarz-Grün, Rot-Grün-Gelb, Rot-GrünRot, Schwarz-Gelb-Grün – als Mehrheits- oder Minderheitsregierung.37 Die Frage ist nicht nur, ob sie besser, sondern auch ob sie überhaupt politisch möglich sind. Verbreitete Vorbehalte gegen ein bipolares Parteiensystem leuchten vor dem Hintergrund der stark konsensdemokratisch ausgerichteten politischen Kultur Deutschlands (mit zahlreichen Vetospielern) nicht recht ein. Wir haben mit dem Bundesrat eine starke zweite Kammer, die selten die gleichen Mehrheitsverhältnisse wie im Bund aufweist: zum einen durch den Ausgang der Landtagswahlen, bei denen der Wähler häufig die im Bund regierenden Parteien „abstraft“ (wie besonders extrem zwischen 2010 und 2013), zum anderen durch einen bis heute nicht behobenen Konstruktionsfehler im Grundgesetz.38 Enthaltungen im Bundesrat wirken sich bei zustimmungspflichtigen Gesetzen wie ein Nein aus. Kann sich eine Landesregierung nicht einigen, enthält sie sich. Durch unterschiedliche Koalitionsmuster in den Ländern ist so eine Vetofunktion des Bundesrates gleichsam präjudiziert. Nicht einmal eine Große Koalition hätte nach der Bundestagswahl 2013 im Bundesrat eine Mehrheit. Wir haben einen „Staat der Großen Koalition“ (Manfred G. Schmidt). Diese Charakterisierung bezieht sich nicht nur auf die konkrete Regierungssituation im Bund und die Vetofunktion des Bundesrates, sondern auch auf andere stark konkordanzdemokratische Elemente. Ein Fünfparteiensystem im Bund, wie es sich für die nächsten Jahre weiter abzeichnet, macht die Koalitionsbildung hinfort nicht leichter. Wenn eine herkömmliche Zweierkoalition arithmetisch möglich ist (entweder Schwarz-Gelb oder Rot-Grün), bleiben die „Lager“ erhalten. Fehlt für eine derartige Koalition die Mehrheit, so gibt es verschiedene Varianten, die unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten allesamt problematisch sind: drei „Dreier-Koalitionen“ und zwei „Zweier-Koalitionen“, wobei Minderheitsregierungen ausgeklammert bleiben.39 37 Allerdings steht eine Minderheitsregierung nicht ernsthaft zur Debatte – entgegen manchen Spekulationen. Vgl. etwa Günter Bannas. So was gab es doch noch nie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 7. März 2013. 38 Vgl. u. a. Frank Decker, Regieren im „Parteienbundesstaat“. Zur Architektur der deutschen Politik, Wiesbaden 2011, S. 260 ff. 39 Eine Minderheitsregierung hat in Deutschland, nicht zuletzt wegen des wenig erhebenden Anschauungsunterrichts in der Weimarer Republik, kein gutes Renommee. Allerdings sind derartige Vorbehalte heute unbegründet. Nicht jede Minderheitenregierung muss prekär sein, wie ein Blick nach Skandinavien zeigt, vor allem nach Dänemark und Schweden. Das gilt zumal dann, wenn die Partei, die die Regierung stützt bzw. toleriert, zum Verfassungsbogen zählt. So ließe sich folgende Variante vorstellen. Für den Fall, dass es
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Erstens: Eine rot-grün-rote Koalition würde zwar das linke „Lager“ im umfassenden Sinne repräsentieren, aber sie wäre wegen der Einbeziehung der Linken höchst problematisch, weil diese Partei ungeachtet ihrer Abkehr vom Marxismus-Leninismus nun wahrlich kein Gralshüter des demokratischen Verfassungsstaates ist. Zum einen liefe das auf die Verletzung des antiextremistischen Konsensus hinaus, zum anderen dürfte eine solche Koalition angesichts der offenkundig auftretenden Konflikte wenig stabil sein. Zweitens: Eine lagerübergreifende „Dreierkoalition“ (Schwarz-Gelb-Grün bzw. RotGrün-Gelb) umginge die Bildung einer Großen Koalition, doch in abgeschwächter Form wäre es eine solche. Interne Konflikte könnten Geschlossenheit nach außen gefährden. Die Grünen sähen sich gegenüber ihren Koalitionspartnern Union und FDP vermutlich zu Profilierung gedrängt, die Liberalen ebenso gegenüber ihren Koalitionspartnern SPD und Grüne. Diejenige kleine Partei, die in einer solchen Koalition sich nicht genügend repräsentiert wähnte, legte unter Umständen ein Erpressungspotential an den Tag, weil sie um ihre Unentbehrlichkeit wüsste. Ein hohes Maß an Stabilität dürfte einem solchen Bündnis nicht beschieden sein.40 Drittens: Eine schwarz-rote Koalition bestünde zwar aus zwei durch und durch demokratischen Parteien, allerdings repräsentierte ein solches Bündnis die lagerübergreifende Koalition schlechthin. Auf diese Weise würde das konkurrenzdemokratische Element massiv gelähmt. Bei der nächsten Wahl könnten die Regierungsparteien – die beiden Volksparteien – weiter an Stimmen verlieren, wie dies 2009 bereits dramatisch eingetreten ist, mehr bei der SPD als bei der Union. Viertens: Eine lagerübergreifende schwarz-grüne Koalition41 wäre eine Art „BogenKoalition“. Ungeachtet einer gewissen Affinität bei der Akzeptanz des Subsidiaritätsprinzips sind die Gegensätze zwischen den Regierungsparteien auf zentralen Politikfeldern (und anderen Angleichungen etwa im Bereich der Energiepolitik) nach wie vor beträchtlich. Die „Basis“ der beiden Parteien wäre nicht erfreut, eine „Zerreißprobe“ unter Umständen programmiert. weder für eine schwarz-gelbe noch für eine rot-grüne Mehrheit reicht, könnte vor der Wahl folgender Konsens gelten. Wenn Schwarz-Gelb mehr Stimmen bekommen hat als Rot-Grün, müssten die Grünen bereit sein, eine solche Koalition zu stützen bzw. zu tolerieren. Im Fall einer relativen Mehrheit für RotGrün gilt das Gleiche für die Liberalen. Durch diese Vorkehrung erhielte eine Kraft, die nicht innerhalb des Verfassungsbogens agiert, keinen Einfluss auf die Regierung, und das konkurrenzdemokratische Koalitionsmuster bliebe erhalten. Allerdings: Für die kleinere Partei, die Tolerierung zu praktizieren hat, wäre dies nicht ganz einfach. Freilich ließe sich ihr weder Unglaubwürdigkeit vorwerfen, weil kein Bruch einer Koalitionsaussage vorliegt, noch Pfründewesen, da sie eine Regierungsbeteiligung meidet. 40 Vgl. Niko Switek, Unpopulär, aber ohne Alternative? Dreier-Bündnisse als Antwort auf das Fünfparteiensystem, in: Karl-Rudolf Korte (Anm. 10), S. 320–344. 41 Für eine rot-gelbe Koalition, die an dieser Stelle fehlt, weil sie nicht im Bereich des Wahrscheinlichen liegt, gilt das Gleiche.
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Parteien und Wahlen
Das Erwünschte muss sich nicht mit dem Wahrscheinlichen decken. Wenn SchwarzGelb (und Rot-Grün) keine regierungsfähige Mehrheit erreicht,42 kommen wohl nur zwei lagerübergreifende Koalitionen in Frage: eine schwarz-rote oder eine schwarzgrüne. Was wären die Konsequenzen für die Union und die FDP? Im ersten Fall würde vermutlich das schwarz-gelbe Lager nicht zerbrechen und die FDP könnte von einer Politik des Immobilismus, die einer Großen Koalition vermutlich innewohnt, beträchtlich profitieren. Im zweiten Fall wäre die Herausbildung eines schwarz-grünen Lagers denkbar, ebenso ein Zerbrechen eines derartigen Bündnisses. So ließe sich der Boden für eine „Ampel“ bereiten – unter der Ägide von Christian Lindner, dem als einzigen von den führenden FDP-Politikern ein solcher Schwenk zuzutrauen wäre.
7.
Das Ärgernis der „Leihstimmen“
Bei der niedersächsischen Landtagswahl am 20. Januar 2013 errang Rot-Grün ein Mandat mehr als Schwarz-Gelb. Die CDU erreichte 36,0 Prozent (54 Mandate), die SPD 32,6 Prozent (49 Mandate), die Partei der Grünen 13,7 Prozent (20 Mandate), die FDP 9,9 Prozent (14 Mandate). In der Tat lag dieses Lager nach Stimmen etwas vor den „Bürgerlichen“. Für das eine Überhangmandat der Union bekam die SPD ein Ausgleichsmandat. Jedoch: Ein weiteres Überhangmandat, das der CDU im Wahlkreis 21 (Hildesheim) knapp versagt blieb (ihr fehlten 334 Erststimmen), hätte zu einem Ausgleichsmandat für die FDP geführt und damit zu einer Mandatsmehrheit für SchwarzGelb. Wäre hingegen die CDU zusätzlich im Wahlkreis 69 (Wilhelmshaven) erfolgreich gewesen (hier fehlten ihr 406 Erststimmen), hätte Schwarz-Gelb ebenso viele Mandate gehabt wie Rot-Grün.43 Die Konsequenz: eine Große Koalition. Das Überraschende war weniger der knappe Wahlausgang, sondern vor allem das gute Abschneiden der FDP, die in den Wochen zuvor bei den Umfrageinstituten nahezu konstant unter fünf Prozent lag. Offenbar sah sich ein Teil von CDU-Erststimmenwählern zu einem FDP-Zweitstimmenvotum veranlasst, um eine schwarz-gelbe Mehrheit zu ermöglichen. Wer deshalb von „Leihstimmen“ für die FDP spricht, verkennt jedoch den Sachverhalt, dass die Stimmen den Wählern „gehören“ (diese können sie für eine Legislatur „verleihen“) und „Bürgerliche“ oft nicht auf eine Partei festgelegt sind. 42,6 Prozent der Wähler gaben ihre Erststimme der CDU und nur 3,3 Prozent der FDP. Nun wäre die Annahme verkürzt, die Liberalen verfügten lediglich über 3,3 Prozent „echte“ Anhänger. Schließlich gab es überzeugte Liberale, die ihre Erststimme der Union gaben, weil der Kandidat der FDP keinerlei Chance auf den Gewinn eines
42 Sollte dies doch der Fall sein, spricht vieles dafür, dass sich in der Opposition ein Linksbündnis herauskristallisieren könnte. Bei einem Wahlsieg von Rot-Grün (wenn etwa die FDP an der Fünfprozenthürde scheitert) sähe dies anders aus. Hingegen würde dann das schwarz-gelbe Bündnis gefestigt. 43 Einzelheiten unter http://www.wahlrecht.de/news/2013/landtagswahl-niedersachsen-2013.html (15. Mai 2015).
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Direktmandats besaß. Gewiss, durch das neue Wahlgesetz, das der Bundestag Ende Februar 2013 – endlich – verabschiedet hat, bleiben die Mehrheitsverhältnisse durch Überhangmandate wegen der Ausgleichsmandate unangetastet.44 Damit ist das Problem der „Leihstimmen“ etwas entschärft, aber nicht beseitigt. Wie Tabelle 4 zeigt, differiert auf Bundesebene die Höhe der Erst- und Zweitstimmen beträchtlich. Die Union schnitt bei den Erststimmen besser ab, die FDP hingegen deutlich schlechter, zumal bei den letzten Wahlen. Der offenkundige Hauptgrund: Deren Kandidaten haben keine Chance auf den Gewinn eines Direktmandats. Die einzige Ausnahme (1953) erklärt sich damit, dass die Union in 21 Wahlkreisen keinen Kandidaten aufgestellt und die FDP deswegen in acht Wahlkreisen das Direktmandat gewonnen hatte. Tabelle 4: Erst- und Zweitstimmen für Union und FDP bei den Bundestagswahlen 1953 bis 2009 (in Prozent) Jahr
Union Erststimmen
FDP Zweitstimmen
Erststimmen
Zweitstimmen
1953
43,7
45,2
10,8
9,5
1957
50,3
50,2
7,5
7,7
1961
46,0
45,3
12,1
12,8
1965
48,8
47,6
7,9
9,5
1969
46,6
46,1
4,8
5,8
1972
45,4
44,9
4,8
8,4
1976
48,9
48,6
6,4
7,9
1980
46,0
44,5
7,2
10,6
1983
52,1
48,8
2,8
7,0
1987
47,7
44,3
4,7
9,1
1990
45,7
43,8
7,8
11,0
1994
45,0
41,4
3,3
6,9
1998
39,5
35,1
3,0
6,2
2002
41,1
38,5
5,8
7,4
2005
40,8
35,2
4,7
9,8
2009
39,4
33,8
9,4
14,6
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Die Diskrepanz zwischen Erst- und Zweitstimme ist nirgendwo so groß wie bei den Liberalen, der „Partei der zweiten Wahl“ (Jürgen Dittberner). So erreichte die FDP
44 Bei der Bundestagswahl 2009 hätte die Union keine (!) einzige Zweitstimme benötigt und doch die gleiche Anzahl an Mandaten erzielt.
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Parteien und Wahlen
2005 lediglich 4,7 Prozent der Erst-, aber 9,8 Prozent der Zweitstimmen, 2009 9,4 Prozent der Erst- und 14,6 Prozent der Zweitstimmen. Handelt es sich um „echte“ Zweitstimmenwähler der Liberalen, die mit der ersten Stimme ihre Koalitionspräferenz (zugunsten des Kandidaten der Union) zum Ausdruck bringen wollten, oder um „Leihstimmen“ von Unionswählern, die der FDP helfen wollten? Der Verrechnungsmodus wird von einem beträchtlichen Teil nicht verstanden, zählt doch für die Mandatsverteilung nur die Zweitstimme. So gibt es Wähler, die glauben, mit Stimmensplitting einen Kompromiss zu begehen.45 Das sind einige der Tücken und Fallstricke des Zweistimmensystems. Das Problem fängt bereits bei der Terminologie an: Die erste Stimme ist zweitrangig, die zweite erstrangig. Das Zweistimmensystem – Wähler können mit der Erststimme für den Kandidaten der Partei A und mit der Zweitstimme für die Partei B votieren (Stimmensplitting) – hat sich nicht bewährt.46 Die Erststimme vermochte niemals eine Bedeutung als „Persönlichkeitsvotum“ zu gewinnen, weil die Bürger ihre Entscheidung nicht in erster Linie von dem (ohnehin meistens unbekannten) Wahlkreiskandidaten abhängig machen, wie die empirische Forschung zeigt. Trotzdem nimmt das Stimmensplitting zu. Das herkömmliche Zweistimmensystem ist abschaffungswürdig. Die Stimme des Bürgers ließe sich hinfort doppelt berechnen – als Votum für den Kandidaten und als Votum für die Partei, wie dies im Bund 1949 galt. Der Rückschritt entpuppte sich als ein Fortschritt. Die genannten Defizite schwänden, und in gewissem Umfang käme sogar das personelle Element zum Tragen. Wer einen als kompetent empfundenen Kandidaten der FDP wählt, obwohl er ihr nicht nahesteht, hülfe auch dieser. Mit einer Stimme verfügt der Wähler über mehr Einfluss als mit zwei Stimmen. Allerdings müsste der Bürger eine – andere – zweite Stimme erhalten. Sie käme dann zum Zuge, wenn er mit seiner (Haupt-)Stimme für eine Partei votiert, die keine fünf Prozent erreicht (wie unter Umständen die FDP). Diese gelangt zwar nicht in das Parlament, aber ihre Wähler bleiben mittels der Nebenstimme – immer vorausgesetzt, sie wird für eine Partei mit einem Ergebnis von mehr als fünf Prozent der Stimmen abgegeben – an der Entscheidung beteiligt. So ließen sich die Vorteile der Fünfprozentklausel (unter anderem Schutz vor Parteienzersplitterung) erhalten und die Nachteile (unter anderem Existenz von „Papierkorbstimmen“) vermeiden. Eine Verfälschung des Wählervotums ist gegenwärtig infolge des möglichen Scheiterns einer kleinen Partei an der Hürde naheliegend. Hätte die FDP bei der Bundestagswahl 1969 nicht die Fünf45 Vgl. Rüdiger Schmitt-Beck, Denn sie wissen nicht, was sie tun ... Zum Verständnis des Verfahrens der Bundestagswahl bei westdeutschen und ostdeutschen Wählern, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 24 (1993), S. 393–415. 46 Der Verfasser hat bereits vor drei Jahrzehnten dieses System moniert: Eckhard Jesse, „Sie haben am 6. März zwei Stimmen“. Entstehung, Auswirkungen, Verbiegungen des Bundeswahlrechts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Februar 1983; ausführlicher ders., Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1983, Düsseldorf 1985, S. 261–311.
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Schwarz-Gelb – Vergangenheit und Gegenwart, aber Zukunft?
prozenthürde genommen (sie erreichte 5,8 Prozent), wäre eine Alleinregierung der Union zustande gekommen – und eine Große Koalition bei einem Einzug der NPD in den Bundestag. Die Abschaffung und die Einführung einer zweiten Stimme gleichermaßen könnte mehr als eine kosmetische Reform sein. Der Dummenfang, den mitunter die Liberalen ebenso wie die Grünen („Joschka-Stimme ist Zweitstimme“) zu perfektionieren wussten, ließe sich nicht fortsetzen. Friedrich Karl Fromme hatte einst sarkastisch die Propaganda der FDP auf den Arm genommen. „Bestraft Genscher. Deshalb diesmal nur die Zweitstimme für die FDP.“47 Tabelle 5: Kombination der Erst- und Zweitstimmen für Union und FDP bei den Bundestagswahlen 1953 bis 2009* (in Prozent der Erststimmen) Wahl
Zweitstimmen
CDU/CSU
Erststimmen FDP
1953**
CDU/CSU FDP
87,1 9,7
5,6 85,3
1961**
CDU/CSU FDP
95,5 8,1
1969**
CDU/CSU FDP
1976**
Wahl
Zweitstimmen
CDU/CSU
Erststimmen FDP
1957**
CDU/CSU FDP
93,4 7,5
0,9 85,0
1,1 86,5
1965**
CDU/CSU FDP
93,9 20,9
1,4 70,3
93,4 10,6
1,1 62,0
1972**
CDU/CSU FDP
96,8 7,9
0,7 38,2
CDU/CSU FDP
97,1 8,0
0,8 60,7
1980**
CDU/CSU FDP
96,9 13,3
0,8 48,5
1983**
CDU/CSU FDP
96,0 58,3
1,0 29,1
1987**
CDU/CSU FDP
95,3 43,2
1,3 38,7
1994**
CDU/CSU FDP
91,9 29,4
2,9 50,6
2002
CDU/CSU FDP
92,2 36,1
3,0 47,7
2005
CDU/CSU FDP
90,9 60,2
3,5 29,0
2009
CDU/CSU FDP
87,6 45,8
4,8 44,8
* Bei den Bundestagswahlen 1949,1994 und 1998 gab es keine repräsentative Wahlstatistik. ** Ohne Stimmen der Briefwähler. 1953 war Briefwahl nicht möglich. Lesehinweis: Von den Wählern, die bei der Bundestagswahl 2009 mit der Zweitstimme FDP gewählt haben, gaben 45,8 Prozent ihre Erststimme der Union. Quelle: Zusammenstellung nach der amtlichen repräsentativen Wahlstatistik.
Strategisches Wahlverhalten ist auch bei einem Einstimmensystem möglich, indem etwa ein „sonstiger“ FDP-Wähler seine Stimme nicht „verschenken“ will und die CDU wählt oder – gerade anders herum – ein „sonstiger“ CDU-Wähler sie der FDP gibt, damit diese in das Parlament einzieht. Hingegen gibt es bei einem Einstimmensystem keinen Zweifel über die Absicht des Wählers. Versuche der Manipulation blieben 47 Friedrich Karl Fromme, Zweitstimme als Denkzettel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 1. Februar 1983.
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Parteien und Wahlen
wirkungslos. Die Rückkehr zum Einstimmensystem48 – ob mit oder ohne Nebenstimme – würde zwar Überhangmandate einschränken, weil dann das Stimmensplitting, eine (nicht die einzige) Ursache für sie, wegfiele, aber sie würde Überhangmandate keineswegs ausschließen (und auch nicht das negative Stimmengewicht). Die repräsentative Wahlstatistik ermöglicht aufschlussreiche Erkenntnisse über die Kombination der Erst- und Zweitstimmen (s. Tabelle 5). Die Affinität zwischen den Parteien lässt sich gut erkennen. So haben die FDP-Zweitstimmenwähler immer dann, wenn eine Koalition mit der Union angestrebt wurde, überproportional stark ihre Stimme der Union gegeben (und nicht der SPD).49 Im Jahre 2005 etwa votierten nur 29,0 Prozent der FDP-Zweitstimmenwähler mit ihrer Erststimme auch für den Kandidaten ihrer Partei, hingegen 60,2 Prozent für den der Union. Die FDP hatte – beispielsweise – 1980 10,2 Prozent der Zweitstimmen und lediglich 7,2 Prozent der Erststimmen erreicht. Die naheliegende Schlussfolgerung, 7,2 Prozent der Wähler hätten mit beiden Stimmen die FDP präferiert, ist irrig, weil von den Erststimmenwählern der FDP lediglich 72,2 Prozent „ihrer“ Partei die Stimme zukommen ließen. Die Liberalen sind bloß von 5,2 Prozent der Wähler mit beiden Stimmen bedacht worden. Und 12,6 Prozent der Wähler machten mindestens ein Kreuz bei ihnen. Das Beispiel zeigt einmal mehr die Komplexität des Zweistimmensystems. Der „Leihstimmen“-Effekt kann irrtümlicherweise auch in die andere Richtung gehen. Der demokratietheoretisch sinnvolle Verzicht auf das Zweistimmensystem (verbunden mit der Einführung einer Nebenstimme) würde der FDP wohl schaden. „Bürgerliche“ Wähler könnten nicht mehr den – scheinbar – bequemen Kompromiss wählen, die erste Stimme dem Kandidaten der Union, die zweite der FDP zu geben. Die größere Transparenz des Wahlverfahrens käme allerdings den Wählern zugute.
8.
Keine Wechselstimmung, aber (halber) Wechsel?
Nach der letzten Bundestagswahl fasste die „Forschungsgruppe Wahlen“ das Ergebnis als „Regierungswechsel ohne Wechselstimmung“50 zusammen. Der Regierungswechsel war „nur“ ein halber, denn der Juniorpartner SPD wurde durch den Juniorpartner FDP abgelöst. Diesmal ist die Ausgangslage nicht völlig anders: keine Wechselstimmung, aber ein schwächelnder Juniorpartner. Die Frage könnte lauten: Ersetzt die SPD oder Bündnis 90/Die Grünen die FDP als Juniorpartner?
48 Sie wird in letzter Zeit von Teilen der Wissenschaft und der Publizistik propagiert. Vgl. z. B. Frank Decker, Brauchen wir ein neues Wahlrecht?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 4/2011, S. 3–9, hier S. 8; ders., Die beste Wahl, in: Süddeutsche Zeitung v. 22. Oktober 2012. 49 Nur 1969, 1972, 1976 und 1980 erhielt die SPD von den Zweitstimmenwählern der Liberalen mehr Erststimmen als die Union. Die FDP ging jeweils eine Koalition mit der SPD ein. 50 Vgl. Matthias Jung/Yvonne Schroth/Andreas Wolf, Regierungswechsel ohne Wechselstimmung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51/2009, S. 12–19.
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Schwarz-Gelb – Vergangenheit und Gegenwart, aber Zukunft?
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Vielleicht ist die Parallele zur Bundestagswahl 2002 noch treffender: Die damalige rot-grüne Regierung, die programmatisch wenig bewegt hatte, schien ausgelaugt. Doch die Alternative (Schwarz-Gelb) überzeugte die Wählerschaft ebenso nicht, unter anderem wegen ihres Spitzenkandidaten. Peer Steinbrück könnte der neue Edmund Stoiber werden. Allerdings setzte sich Rot-Grün 2002 nur deshalb durch, weil die Linke an der Fünfprozenthürde gescheitert war (und ihr auch der Gewinn von drei Direktmandaten versagt blieb). Dieses Szenario gehört nicht in den Bereich des Realistischen. Selbst wenn die Linke keine fünf Prozent der Zweitstimmen erreichte, scheint der Gewinn von drei Direktmandaten im Osten Berlins durch Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Petra Pau – wie bisher – sicher zu sein. Hingegen dürfte die Fortsetzung der schwarzgelben Koalition in Betracht zu ziehen sein, sofern die „Alternative für Deutschland“ im „bürgerlichen Lager“ nicht „wildert“. Die Erinnerung an die Bundestagswahl 2005 bietet sich erst recht an: Es reichte seinerzeit nicht für Schwarz-Gelb und nicht für Rot-Grün. Der einzige Ausweg: eine Große Koalition. Anders als 2005 dürfte es diesmal eine Mehrheit für eine große und eine kleine Partei geben, also für eine kleine Koalition, allerdings eine lagerübergreifende: Schwarz-Grün.51 Sollten die Grünen der neue Koalitionspartner der Union sein, so stünde einer personellen Kontinuität (durch Angela Merkel) eine parteiförmige Diskontinuität gegenüber: nach Schwarz-Rot (2005–2009) und Schwarz-Gelb (2009–2013) nun SchwarzGrün (ab 2013). Einerseits wäre dies eine beachtliche Leistung der unprätentiös agierenden Bundeskanzlerin, andererseits wird die Union durch die Bündnisse mit unterschiedlichen Partnern programmatisch ausgezehrt. Dann hätte „vote seeking“ über „identity seeking“ triumphiert und „office seeking“ über „policy seeking“.
51 Kurioserweise hätte ein solches Bündnis nach der letzten Umfrage von Infratest dimap (12. April 2013) mit 57 Prozent (Union: 42 Prozent; Grüne: 15 Prozent) mehr Stimmen als Union (33,8 Prozent) und SPD (23,0 Prozent) bei der Bundestagswahl 2009.
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Verhältniswahl und Gerechtigkeit Bei dem klassischen Streit zwischen Anhängern der Verhältniswahl und denen der Mehrheitswahl spielt(e) das Argument der Gerechtigkeit eine zentrale Rolle. Dabei muss zwischen der Parlamentsebene (Proportionalität zwischen Stimmen- und Mandatsanteil versus gewollter Verstärkereffekt) einerseits und der Regierungsebene andererseits (Koalitionsregierung versus Einparteienregierung) unterschieden werden. Gegenwärtig spricht für eine „große Reform“ wenig (ungeachtet der schwieriger gewordenen Koalitionsbildung wegen der Auffächerung des Parteiensystems), viel hingegen für eine „kleine Reform“. Die Fünfprozenthürde sollte modifiziert, die Regelung zu den Überhangmandaten und zur Grundmandatsklausel abgeschafft werden. Erwiesen sich Überhangmandate bei der Regierungsbildung 2009 als entscheidend, käme auf die neue Regierung ein Legitimationsproblem zu. Eine Reform vor der Bundestagswahl wäre unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten überfällig gewesen.
1.
Fragestellung
Keine drei Monate vor der Bundestagswahl 2009 gab es um das Wahlsystem große Aufregung. Nach einer Simulationsstudie des Politikwissenschaftlers Klaus Behnke dürfte die Union wegen des großen Abstandes zur SPD sehr viele Überhangmandate erreichen, wodurch sich die Chance für eine schwarz-gelbe Koalition erhöhe.1 Der Bundestag lehnte in der letzten Sitzung den Gesetzentwurf der Grünen (BTDrucks 16/11885), der Überhangmandate ausschließen wollte2, am 3. Juli mit 391 Stimmen von 493 ab (bei 91 Nein-Stimmen und fünf Enthaltungen), obgleich die Mehrheit der Experten auf einer öffentlichen Anhörung (4. Mai 2009) des Innenausschusses (BT, A-Drs. 17[4]592 C) für eine umgehende Änderung votiert hatte. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber in seinem Urteil vom 3. Juli 2008 (BverfG, 2 BvC 1/07) Zeit bis zum 30. Juni 2011 eingeräumt, um einen „inversen Erfolgswert“ zu vermeiden (weniger Stimmen können zu mehr Mandaten führen, mehr Stimmen zu weniger Mandaten).3 Die SPD, die neben der Union und der FDP mehrheitlich dagegen gestimmt hatte, begehrte erst auf und lenkte dann ein, weil sie den Bruch der Regierungsbündnisses nicht provozieren wollte. Schließlich gilt nach dem Koalitionsvertrag ein Abstimmungsverhalten gegen den Koalitionspartner mit der Opposition als inakzeptabel, es sei denn, es gelte Abstimmungsfreiheit.
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2 3
Vgl. Joachim Behnke, „Das jetzige Wahlrecht ist das deutlich größere Übel“, unter: http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/bundestagswahl-das-jetzige-wahlrecht-ist-das-deutlich-groessere-uebel-a-633073. html (28. Juni 2009). Da die CSU eine eigene Landesliste besitzt, hätten auch nach der Verabschiedung des Gesetzesentwurfes der Grünen Überhangmandate zugunsten der CSU auftreten können. Der verbreitete Begriff des „negativen Stimmgewichts“ deckt damit nur die eine Seite der Paradoxie des Verteilungsmodus ab.
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Wie nicht bloß dieses Beispiel zeigt: Wahlrechtsfragen sind Machtfragen, jedoch keineswegs nur. Die Wissenschaft hat Sorge dafür zu tragen, dass gerade in einer so zentralen Frage, die über die Mandatsvergabe entscheidet, demokratische Legitimität gewahrt bleibt. Im Folgenden geht es darum, am Beispiel des Topos der „Gerechtigkeit“ wesentliche Argumente für oder gegen eine grundlegende Reform des deutschen Wahlsystems Revue passieren zu lassen – und zwar mit Blick auf die Parlaments- und die Regierungsebene.4 Um die Kontext- und Pfadabhängigkeit nicht aus den Augen zu verlieren, wird die Frage einer „kleinen Reform“ am Beispiel dreier spezifischer Eigentümlichkeiten des deutschen Wahlsystems erörtert: der Fünfprozentklausel, der Überhangmandate und der Grundmandatsklausel (jeweils unterschieden nach der Entstehung, den Auswirkungen, der Kritik und nach Reformmöglichkeiten). Die Konzentration auf diese drei Elemente heißt keineswegs, dass es nicht weitere sinnvolle Reformen gibt – wie die Abschaffung des Zweistimmensystems, die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre und die Stärkung personeller Bestandteile.5 Wer Politikwissenschaft auch als normative Praxiswissenschaft versteht, sieht es als ein Gebot an, zur Verbesserung des Wahlverfahrens beizutragen, damit dieses möglichst aus einem Guss ist und wenig Inkonsistenzen aufweist. Die Leitfrage lautet: Welche Reformnotwendigkeiten sind unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit angebracht?
2.
Gerechtigkeit als zentraler Topos in der Wahlsystemdiskussion
2.1. Gerechtigkeit als eine wichtige regulative Idee „Gerechtigkeit ist einer jener Begriffe, deren Eigenart gerade in ihrer Undefinierbarkeit liegt: Der Mensch fühlt sich eben ungerecht oder gerecht behandelt, ein objektives Urteil, ob dem tatsächlich so sei, ist häufiger unmöglich als möglich.“6 Rechtssicherheit ist notwendig für Gerechtigkeit, aber nicht hinreichend. Es geht an dieser Stelle nicht um die Erörterung von Gerechtigkeitstheorien. Obwohl Gerechtigkeit eine sub-
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6
Gerd Strohmeier unterscheidet zusätzlich zwischen der parlamentarischen Repräsentationsebene und der parlamentarischen Entscheidungsebene. Vgl. ders., Wahlsysteme erneut betrachtet: Warum die Mehrheitswahl gerechter ist als die Verhältniswahl, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 16 (2006), S. 405–425. Vgl. Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1983, Düsseldorf 1985; ders., Reformvorschläge zur Änderung des Wahlrechts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52/2003, S. 3–11; Heiko Franke/Andreas Grimmel, Wahlen mit System? Reformüberlegungen zur personalisierten Verhältniswahl, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 38 (2007), S. 591–602. Daniel Hildebrand, Gerechtigkeit in der Demokratie, in: Politische Bildung 41 (2008), Heft 3, S. 8–28, hier S. 8.
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jektive Dimension hat (daher schreibt das Recht sie nicht fest), gilt sie als wichtiger Maßstab für die Beurteilung, so auch bei der Wahlsystemdiskussion. Gerechtigkeit strebt Unparteilichkeit an, um keine Gruppe zu benachteiligen. Die berühmte „goldene Regel“, die im Christentum wie im Konfuzianismus eine tragende Rolle spielt, lautet wie folgt: „Was Du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Der Kategorische Imperativ Kants, der auf Verallgemeinerungsfähigkeit zielt, ist eine positive Umschreibung dieser Regel: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Mit Blick auf die Elemente des Wahlsystems bedarf es der Prüfung, ob eine sinnvolle Zuordnung von Stimmen- und Mandatsanteil vorliegt. Wenn das nicht der Fall ist (etwa bei dem inversen Erfolgswert), wird das Gerechtigkeitsempfinden des Bürgers provoziert. Zwei althergebrachte Grundsätze der Gerechtigkeit lauten: „Niemand darf Richter in eigener Sache sein“ (nemo iudex in causa sua). Und: „Es möge auch die andere Seite gehört werden“ (audiatur et altera pars). Was den ersten Punkt betrifft, so entscheidet der Gesetzgeber beim Wahlsystem mangels einer besseren Möglichkeit in eigener Sache. Gerade deshalb muss er sich eines Verhaltens befeißigen, das nicht den Verdacht einer manipulativen Vorkehrung nährt. Mit Blick auf den zweiten Punkt gilt es, jeglicher Form des Dogmatismus zu entsagen. Gerade im Bereich der Wahlsystemforschung gibt es Modelldenken, das der Erörterung konkreter Systeme ausweicht, weil die Entscheidung für ein bestimmtes Wahlverfahren bereits feststeht und nicht aus der Empirie gewonnen wird.7 Gerechtigkeit steht in einem engen Zusammenhang zur Gleichheit, wobei Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandelt zu werden verdient. Was die Wahlsystemthematik betrifft, so geht es dabei nicht nur um die Gerechtigkeit durch die Wahl des Parlaments, sondern auch um die Gerechtigkeit durch die (faktische) Wahl der Regierung. Die unterschiedlichen Präferenzen sind bekannt. Ein Anhänger der Verhältniswahl stellt bei der Parlamentsebene auf die Proportionalität von Stimmen- und Mandatsanteil ab, ein Anhänger der Mehrheitswahl auf den Verstärkereffekt zugunsten der großen Parteien. Ein Befürworter der Verhältniswahl plädiert für eine Mehrparteienregierung, ein Befürworter der Mehrheitswahl für eine Alleinparteienregierung. In der Wirklichkeit können sich die intendierten Wirkungen in ihr Gegenteil verkehren: Ein nach Proportionalsystem zusammengesetztes Parlament steht einer Alleinparteienregierung gegenüber, ein nach Mehrheitswahlsystem bestelltes Parlament einer Mehrparteienregierung. Diese möglichen Diskrepanzen bleiben im Folgenden unberücksichtigt.
7
Die Studien von Ferdinand A. Hermens, die sich über mehr als ein halbes Jahr erstrecken, sind dafür ein eindrucksvoller Beleg. Soll man mehr die beharrliche Konsequenz loben oder eher die ans Monomanische heranreichende Unverdrossenheit tadeln? Vgl. hierzu Ferdinand A. Hermens: Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Mehrheitswahl, 2. Aufl., Köln/Opladen 1968 sowie ders., Zwischen Politik und Vernunft. Gesammelte Aufsätze aus drei Welten, Berlin 1969.
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2.2. Gerechtigkeit durch die Wahl des Parlaments (Parlamentsebene) Von allen politischen Beteiligungsmöglichkeiten ist die Wahl diejenige, die die Bürger am meisten wahrnehmen. Auch wenn in der Bundesrepublik die Wahlbeteiligungsquote zurückgeht, lag sie bei allen Bundestagswahlen bei über 75 Prozent. Die Gerechtigkeit gebietet es, dass jede Stimme im Prinzip nicht nur den gleichen Zählwert, sondern auch den gleichen Erfolgswert hat. So kann der Bürger auf die Zusammensetzung des Parlaments angemessen Einfluss nehmen. Dieses soll das Spiegelbild der gesellschaftlichen Strömungen sein. Die Repräsentanz von (radikalen) Minderheiten im Parlament trägt meistens zu ihrer Integration bei, nicht zu ihrer Radikalisierung. Die einstige „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) der Grünen hat zwar die Gesellschaft verändert, aber diese mindestens ebenso die Partei, nicht zuletzt durch den parlamentarischen Betrieb. Die Legitimationsfunktion der Wahl ist bei einer starken Verzerrung von Stimmen- und Mandatsanteil nicht mehr erfüllt. Der Volkssouveränität kommt eine derart starke Bedeutung zu, dass es schwerlich angängig ist, Parteien wie die Liberalen, die Grünen oder auch die LINKE auf kaltem Weg mehr oder weniger auszuschalten. Das Wettbewerbssystem in der Bundesrepublik begünstigt ohnehin vielfach etablierte Parteien, etwa durch die Art der Parteienfinanzierung.8 Wer gezielt eine Mehrheitsbildung im Parlament anstrebt, relativiert das Prinzip der Volkssouveränität. Der Vorschlag von Ferdinand A. Hermens und Helmut Unkelbach, für die Mandatsverteilung nicht die für die Parteien abgegebenen Stimmen zugrunde zu legen, sondern deren dritte Potenzen9, zeugt von einer bemerkenswerten Geringschätzung der Volkssouveränität, die sich funktionalen Erfordernissen unterzuordnen habe.10 Damit wird auch die Legitimität der jeweiligen regierungsfähigen Mehrheit geschwächt. Manche Anhänger der Mehrheitswahl schütten das Kind mit dem Bade aus. Die Orientierung an der „Gerechtigkeit der Verteilung“, an „Gerechtigkeit der arithmetischen Zerlegung“ führe in letzter Konsequenz zu ihrer Aufhebung, wie es Dolf Sternberger mit Blick auf die Weimarer Republik zugespitzt formuliert hatte: „Fiat justitia, pereat mundus.“11 Die Fixierung auf das Wahlsystem spielt andere, gewichtigere Ursachen für den Untergang der ersten deutschen Demokratie herunter. Für den Autor läuft die Verhältniswahl damit auf eine Art Gerechtigkeitsfanatismus hinaus.
8 Vgl. Jan Köhler, Parteien im Wettbewerb. Zu den Wettbewerbschancen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2006. 9 Vgl. Ferdinand. A. Hermens/Helmut Unkelbach, Die Wissenschaft und das Wahlrecht, in: Politische Vierteljahresschrift 8 (1967), S. 2–22. 10 Die Verfasser begründeten ihren Vorschlag aber gerade damit, dass sie der stimmenstärksten Partei den Sieg sichern wollten und dass unter den Bedingungen der relativen Mehrheitswahl die Mandatsverteilung der Parteien in etwa dem Verhältnis des Kubus ihrer Stimmenzahlen entspricht („Kubusregel“). 11 Dolf Sternberger, Die große Wahlreform. Zeugnisse einer Bemühung, Köln/Opladen 1964, S. 141.
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2.3. Gerechtigkeit durch die Wahl der Regierung „Die Frage nach der gerechten Repräsentation der Parteien [...] ist auch – und sogar insbesondere – auf der Regierungsebene zu stellen, zu der in parlamentarischen Regierungssystemen die Parlamentsmehrheit und die aus ihr hervorgehende Regierung zu zählen sind.“12 Dies sieht in präsidentiellen Demokratien anders aus.13 Für die Anhänger des Verhältniswahlsystems erscheint eine Regierungspolitik gerechter, bei der mehrere Koalitionspartner die Verantwortung tragen (und in der Tat zuweilen die Verantwortlichkeiten verwischen). Mehr Vetospieler garantieren danach mehr Vielfalt, mehr Gerechtigkeit, freilich ebenso mehr „Reformstau“. Nicht wenige Autoren haben die Ebenbürtigkeit, wenn nicht sogar die Überlegenheit einer stark konsensuell geprägten Demokratie belegt.14 Auch in einem politischen System wie der Bundesrepublik wird die Regierung dank fester Koalitionsaussagen faktisch durch das Volk gewählt. Die erfolgreiche Kompromissfindung war möglich durch die Verhältniswahl, die eine Koalitionsbildung erforderte. Die Bundesrepublik ist ungeachtet mancher Reibungsverluste und sogar Blockaden im Entscheidungsprozess, die aber kaum auf die Verhältniswahl zurückzuführen sind, mehr auf föderalistische Hemmnisse, durch die Koalitionsregierungen nicht schlecht gefahren.15 Sie „verdient [...] höchstes Lob für die über alle Maßen erfolgreiche Machtaufteilung und Machtfesselung“16. Das Westminster-Modell, in puncto Innovation, Integration, Konfliktregulierung, Kontrolle, Legitimität, Leistungsfähigkeit und Stabilität oft idealisiert, kann für die hiesige politische Kultur aufgrund der Pfadabhängigkeit kein Vorbild sein.17 Der „semisouveräne“ Staat gewährleistet parastaatlichen Institutionen hohen Einfluss.18 Gerade Briten, von dem (inzwischen stark zurückgegangenen) politischen Zick-Zack-Kurs in ihrem Land enttäuscht, haben mitunter den „mittleren Weg“ (Manfred G. Schmidt) Deutschlands als „Modell“ angesehen19 und auf das hiesige Wahlsystem positiv verwiesen20.
12 Gerd Strohmeier, Ein Plädoyer für die „gemäßigte Mehrheitswahl“: optimale Lösung für Deutschland, Vorbild für Österreich und andere Demokratien, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 38 (2007), S. 578–590, hier S. 583. 13 Vgl. ders. (Anm. 4), S. 405–425. 14 Vgl. Gerhard Lehmbruch, Verhandlungsdemokratie. Beiträge zur vergleichenden Regierungslehre, Wiesbaden 2003. 15 Vgl. Thomas Darnstädt, Konsens ist Nonsens. Wie die Republik wieder regierbar wird, München 2006. 16 Manfred G. Schmidt, Das politische System Deutschlands. Institutionen, Willensbildung und Politikfelder, München 2007, S. 490 f. 17 Vgl. Ulrich von Alemann, Parteiensysteme im Parlamentarismus. Eine Einführung und Kritik von Parlamentarismustheorien, Düsseldorf 1973. 18 Vgl. Peter J. Katzenstein, Policy and Politics in West Germany. The Growth of a Semisovereign State, Philadelphia 1987. 19 Vgl. Gordon Smith, West Germany and the Politics of Centrality, in: Government and Opposition 11 (1976), S. 387–407. 20 Vgl. Samuel Finer (Hrsg.), Adversary Politics and Electoral Reform, London 1975.
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2.4. Keine Notwendigkeit für eine „große Reform“ Vielfach schreiben Kritiker der Verhältniswahl Wirkungen zu, die wenig empiriegesättigt sind. Dafür ist die mehr scharfe als scharfzüngige Kritik Hans Herbert von Arnims ein gutes Beispiel, wie sie (nicht nur) jüngst in seinem Bestseller „Volksparteien ohne Volk“ popularisiert worden ist. Kleine Parteien würden, sofern eine große Koalition unterbleibt, in aller Regel nach der Wahl entscheiden, „mit welcher der großen Parteien sie eine Koalition eingehen und die Regierung bilden“21. Von Anfang der sechziger bis Anfang der achtziger Jahre habe die FDP bestimmt, wer in Deutschland regiert, nicht die stärkste Partei. Es sei nicht gerecht, dass die Verhältniswahl kleinen Parteien einen weit überproportionalen Einfluss verschaffe. Der Wähler werde entmachtet. Angesichts der schwieriger gewordenen Konstellationen würden sich kleine Parteien viele Koalitionsoptionen offen lassen. Für die Beurteilung des Wahlsystems komme es angesichts der zentralen Rolle der Regierung nicht „auf die Gerechtigkeit der Mandatsverteilung im Parlament an“22. Mit Blick eigens auf das „Gerechtigkeitsargument“ heißt es, kleinere (und neue) Parteien seien schon wegen der Sperrklausel ohne Chance. Bei einer Mehrheitswahl würden nicht mehr Koalitionsabsprachen nach der Wahl über die Regierung entscheiden. „Das wäre nicht nur demokratischer, sondern auch gerechter.“23 Tatsächlich ist unter den Bedingungen der Verhältniswahl in der Bundesrepublik im Kern eine Entwicklung eingetreten, wie sie gerade viele Anhänger der Mehrheitswahl wünschen: Über viele Jahre hinweg gab es faktisch zwei Parteienblöcke. Die FDP war keineswegs das „Zünglein an der Waage“, wie Arnim meint. Der Bürger wusste vor der Wahl, was mit seiner Stimme geschieht, mit wem die Liberalen bzw. die Grünen eine Koalition einzugehen wünschen. Faktisch war die Wahl nicht nur die Wahl des Parlaments, sondern auch die Wahl der Regierung. Daher ist das Argument zwar formal richtig, aber inhaltlich irrig, die stärkste Partei habe nicht immer regieren können. Eine Verfälschung des Wählerwillens blieb ebenso aus wie Koalitionsgerangel nach der Wahl. Die jeweiligen Koalitionen zeigten ein hohes Maß an Stabilität. Regierungswechsel wurden zwar nicht erleichtert, aber eben auch nicht verhindert, wie die Szenarien 1969, 1982/8324, 1998 und 2005 gezeigt hatten. Freilich war der von 1998 der einzige ungefilterte.25 Die geargwöhnte Parteienzersplitterung trat bis jetzt nicht oder jedenfalls kaum ein. Die beiden Volksparteien entwickelten einen Kurs der Mäßigung; eine Radikalisierung des Parteiensystems fand so gut wie nicht statt. Arnim widerspricht sich mit
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Hans Herbert von Arnim, Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München 2009, S. 151. Ebd. S. 154. Ebd. S. 160. Der Bruch der sozialliberalen Koalition ging mindestens so sehr auf Konflikte innerhalb des großen Koalitionspartners zurück wie auf Konflikte zwischen der SPD und der FDP. 25 Wobei sich trefflich darüber streiten lässt, ob ein abgemilderter Regierungswechsel, bei dem ein früherer Partner in der neuen Koalition verbleibt, oder ein vollständiger Regierungswechsel der parlamentarischen Demokratie mehr nützt.
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Blick auf „Gerechtigkeit“ und „kleine Parteien“ fundamental: Einerseits geißelt er den Einfluss der Kleinparteien wie der FDP, anderseits bemängelt er die Machtlosigkeit noch kleinerer Parteien. Außerdem: Wäre denn bei dem von ihm propagierten mehrheitsbildenden Wahlsystem der Einfluss größer? Soll er es überhaupt sein? Allerdings ist bei der letzten Bundestagswahl 2005 aufgrund der Schwäche der Volksparteien und vielfältiger Erosionstendenzen eine Entwicklung eingetreten, wie sie nur bei der ersten Bundestagswahl zustande gekommen war: Es reichte nicht zu einer Koalition einer großen mit einer kleinen Partei. Während 1949 der Ausweg in der Bildung der Koalition einer großen Partei mit zwei kleineren Parteien gesehen wurde, war diese Möglichkeit wegen der Koalitionsfestlegungen der kleinen Parteien versperrt. Als besonders gravierend ist folgender Umstand anzusehen: Die LINKE, die (zu Recht) nicht als koalitionswürdig gilt, verhinderte ein herkömmliches Zweierbündnis (Schwarz-Gelb versus Rot-Grün). Wenn es künftig arithmetisch nicht mehr für eine solche Zweierkoalition reicht, müssen die kleineren Parteien wie die Liberalen und die Grünen eine größere strategische Offenheit an den Tag legen.26 Allerdings kann dies nicht heißen, Koalitionsaussagen vor der Wahl zu unterlassen. Die fast unausbleibliche Konsequenz: ein Anwachsen der ohnehin gestiegenen Parteienverdrossenheit. Die Alternative – eine Große Koalition oder eine Einbeziehung der LINKEN in ein Koalitionsbündnis – wäre wenig verheißungsvoll.27 Sollte hinfort die Zustimmung zu den Volksparteien weiter schrumpfen (Image-, Wähler-, Mitgliederverluste) und gerade deshalb die Notwendigkeit bestehen, Große Koalitionen fortzuführen, würde in der Öffentlichkeit eine Wahlsystemdiskussion aufkommen. Allerdings könnte der Eindruck entstehen, zwei Parteien, die um ihre Pfründe fürchten, wollen ihre Machtbastionen absichern. Überspitzt formuliert, gilt folgende Paradoxie: Eine Reform wäre möglich, wenn sie nicht nötig ist – und nötig, wenn sie nicht möglich ist. Wer ein Wahlsystem grundlegend ändern will, hat die Beweislast. Er muss plausibel machen, dass das neue Wahlsystem mehr Vorteile aufweist als das bisherige. Ein Vergleich hat auf derselben Ebene zu erfolgen: Theorie versus Theorie, Praxis versus (wahrscheinliche) Praxis. Wer die hehre Theorie der Mehrheitswahl (zwei gemäßigte Parteien stehen sich gegenüber und lösen sich regelmäßig in der Regierungsbildung ab) mit der perhorreszierten Praxis der Verhältniswahl (ein Vielparteienparlament legt sich lahm) konfrontiert, argumentiert nicht gerecht (und vice versa). Gegenwärtig weist das politische System zwar gewisse Strukturdefizite auf (z. B. beträchtliche Verdrossenheit
26 Vgl. Frank Decker, Die Bundesrepublik auf der Suche nach neuen Koalitionen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 35–36/2007, S. 26–33; Franz Urban Pappi, Regierungsbildung im deutschen FünfParteiensystem, in: Politische Vierteljahresschrift 50 (2009), S. 187–202. 27 Eine Minderheitenkoalition kann aufgrund der starken Sicherheits- und Stabilitätsorientierung, durch die die politische Kultur Deutschlands geprägt ist, ausgeschlossen werden. Sie wäre wegen ihrer Fragilität ohnehin nicht zu empfehlen.
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gegenüber den Parteien). Freilich haben sie ihren Ursprung nicht in erster Linie im Wahlsystem. So ist die mangelnde Zurechenbarkeit vieler politischer Entscheidungen mitsamt mangelnder Transparenz eine Schwäche unserer Demokratie. Sie geht stark auf konkordanzdemokratische Mechanismen zurück, die auch bei einem Wahlsystemwechsel erhalten blieben. Die Konfrontation Bundestag versus Bundesrat wäre dadurch nicht aus der Welt geschafft.28 Eine gewisse Verbesserung der Qualität des politischen Personals ließe sich wohl erreichen. Dies wäre allerdings auch bei einem proportionalen System möglich (z. B. durch die Etablierung einer begrenzt-offenen Liste statt der starren). Unter dem Strich überwiegen die Argumente für die Beibehaltung des gegenwärtigen Verhältniswahlsystems. Die Zahl der Befürworter einer grundlegenden Wahlsystemreform ist, anders als 1966/69, zur Zeit der ersten Großen Koalition im Bund29, heute in der Politik, der Publizistik und der Politikwissenschaft eher gering, wenn auch gewachsen im Vergleich zu den achtziger Jahren.30 Diese Tatsache ist allerdings kein überzeugendes Argument für den Status quo. Wer sich einer normativen Richtung der Politikwissenschaft verpflichtet weiß, muss nicht in den Kategorien des Machbaren denken. Außerdem kann die normative Kraft des Faktischen eines Tages in die faktische Kraft des Normativen umschlagen.
3.
Kritik an der Fünfprozentklausel und Reformvorschlag
Die Fünfprozentklausel, nachträglich durch die Ministerpräsidenten der Länder ins Wahlgesetz eingefügt, genießt heute eine relativ breite Akzeptanz. Zunächst – 1949 – war die Klausel auf Direktive der Alliierten nur auf ein Bundesland bezogen. Seit 1953 gilt sie bundesweit. Die fast überall anzutreffende Auffassung, dies sei eine Verschärfung, trifft in dieser Pauschalität nicht unbedingt zu. Für Hochburgenparteien gilt die Charakterisierung, ebenso für andere Parteien, die bundesweit unterhalb der Fünfprozenthürde bleiben, weil sie nach der alten Regelung in jenen Bundesländern an der Mandatsvergabe beteiligt wären, in denen sie die Hürde überwunden haben. Für Parteien jedoch, die bundesweit über der Fünfprozenthürde liegen, ist das ein Vorteil, 28 Ein wesentlicher Grund für die unterschiedlichen Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat geht darauf zurück, dass im Bundesrat Enthaltung wie eine Nein-Stimme zählt. Aufgrund der unterschiedlichen und verschiedenartigen Koalitionsmuster in den Ländern sind gleiche Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat schwierig zu erreichen. Selbst die Parteien der Großen Koalition haben seit der Hessen-Wahl 2009 keine Mehrheit im Bundesrat. Dass eine Reform noch nicht in die Wege geleitet ist, obwohl sie keine Kosten verursacht, ist ein Beleg für die mangelnde Reformfähigkeit des politischen Systems. Gleiches gilt für das überfällige Selbstauflösungsrecht des Bundestages mit einer Zweidrittelmehrheit. 29 Vgl. Rüdiger Bredthauer, Das Wahlsystem als Objekt von Politik und Wissenschaft. Die Wahlsystemdiskussion in der BRD 1967/68 als politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung, Meisenheim am Glan 1973; Eckhard Jesse (Anm. 5). 30 Vgl. Hans Herbert von Arnim 2009 (Anm. 21); Gerd Strohmeier (Anm. 13); ders. (Anm. 12).
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weil auch die Stimmen in den Bundesländern angerechnet werden, in denen sie unter fünf Prozent bleiben. Die Liberalen und die Grünen profitieren damit von einer bundesweiten Sperrklausel. Im Jahre 1949 gelang es einer Reihe von Parteien (Bayernpartei: 4,2 Prozent; Deutsche Partei: 4,0 Prozent; Zentrum: 3,1 Prozent; Wirtschaftliche Aufbauvereinigung: 2,9 Prozent; Deutsche Rechts-Partei: 1,8 Prozent; Südschleswigscher Wählerverband: 0,3 Prozent), die keine fünf Prozent der Stimmen erzielt hatten, in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Das lag an der Fünfprozentklausel, die seinerzeit, wie erwähnt, noch auf die Länderebene bezogen war. Die Zahl der aufgrund der Fünfprozentklausel unberücksichtigt gebliebenen Stimmen war bei den ersten und den jüngsten Bundestagswahlen hoch. Nur bei den Wahlen zwischen 1972 und 1987 lag sie nicht über 2,0 Prozent (vgl. Tabelle 1). Die Angaben in der Tabelle sind ungenau, da 1949 aufgrund der landesweiten Verrechnung Stimmen auch bei jenen Parteien unter den Tisch gefallen sind, die in den Bundestag gelangten, weil sie nicht in allen Ländern fünf Prozent der Stimmen erreichten. So erreichte die KPD bei 5,7 Prozent der Stimmen nur 3,7 Prozent der Mandate. Die höchste Quote (8,0 Prozent bei der Bundestagswahl 1990) erklärt sich mit dem Scheitern der West-Grünen an der Fünfprozenthürde (4,7 Prozent). Das entspricht bundesweit einem Stimmenanteil von 3,8 Prozent. Tabelle 1: Unberücksichtigt gebliebene Stimmen bei der Mandatsvergabe von 1949 bis 2005 (in Prozent) 1949:
5,9
1980:
2,0
1953:
6,5
1983:
0,5
1957:
6,9
1987:
1,4
1961:
5,7
1990:
8,0
1965:
3,6
1994:
3,6
1969:
5,5
1998:
5,8
1972:
0,9
2002:
7,1
1976:
0,9
2005:
4,0
Quelle. Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Bei diesen Angaben musste die psychologische Wirkung der Sperrklausel unberücksichtigt gelassen werden. Denn über die Zahl der Wähler, die für eine größere Partei nur deshalb votieren, um die eigene Stimme nicht zu „verschenken“, lassen sich nur Spekulationen anstellen. Mit Sicherheit haben einige Wähler nicht ihrer ersten Präferenz die Stimme gegeben. Insofern handelt es sich bei den Angaben um ein Minimum. Wer das Prinzip der Wahlgerechtigkeit zugrunde legt, kann durchaus akzeptieren, dass im Sinne der Funktionsfähigkeit des Parlaments ein bestimmter – nicht zu großer – Prozentsatz für die Mandatsvergabe erreicht sein muss. Die Fünfprozentklausel ist ein sinnvoller Kompromiss zwischen den beiden Kriterien „Bildung regierungsfähiger
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Mehrheiten“ und „Repräsentation der politischen Richtungen“, die in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen. Auch wenn es schwierig ist, den Anteil der Fünfprozentklausel bei der Konzentration des Parteiensystems genau zu erfassen, so herrscht doch überwiegend zu Recht die Auffassung vor, eine solche Kautele habe ihren wie immer zu beziffernden Anteil daran. Gleichwohl gibt es Kritik an der Sperrklausel, sei es an ihrer Existenz an sich, sei es an ihrer Höhe. Beispielsweise: „Die Sperrklausel fördert die geschlossene Gesellschaft der etablierten Partien. Infolge dieses Ausgrenzungseffektes kommt es zu Verfestigungen und Verkrustungen; neue Strömungen werden ausgeschlossen, wodurch die Gefahr der Resignation erhöht wird. Hierunter leidet auf Dauer die Akzeptanz des repräsentativdemokratischen Regierungsmodells in der Gesellschaft.“31 Dass gerade manche Anhänger der Mehrheitswahl wie Sternberger die Sperrklausel ablehnen, obwohl bei dem von ihnen propagierten System die Sperrwirkung weit höher liegt, ist Ausdruck von Wahlrechtsdogmatismus. „Die Sperrklauseln fungieren in der Gesetzgebung ungefähr nach dem Motto: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“32 Wer nur Verhältnis- und Mehrheitswahl gelten lässt, kann dann von „systemwidrigen Klauseln“33 sprechen. Die Grenzen zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahlsystem sind aber fließend.34 Das gilt bei der künstlichen Hürde wie bei der natürlichen Hürde. Die Senkung bzw. Anhebung der Sperrklausel kann ebenso zu einem Wahlsystemwechsel führen wie die Verkleinerung bzw. Vergrößerung der in einem Mehrmannwahlkreis zu vergebenden Mandate. Eine Wahl mit einer Zweiprozenthürde ist offenkundig Verhältniswahl, eine Wahl mit einer Zwanzigprozenthürde ebenso offenkundig Mehrheitswahl. Eine Wahl in Zweimannwahlkreisen ist ersichtlich Mehrheitswahl, eine Wahl in Zwanzigmannwahlkreisen ebenso klar Verhältniswahl. Eine Wahl mit einer Achtprozenthürde oder eine Wahl in einem Achtmannwahlkreis passt nicht einfach in eine der beiden Kategorien. Wer sich am jeweiligen Repräsentationsziel orientiert, kommt zum Ergebnis, dass es durchaus Mischwahlsysteme gibt35, unabhängig davon, wie das Verteilungsprinzip aussieht.36
31 Ernst Becht, Die 5%-Klausel im Wahlrecht. Garant für ein funktionierendes parlamentarisches Regierungssystem?, Stuttgart u.a 1990, S. 181. 32 Dolf Sternberger (Anm. 11), S. 143. 33 Ebd. S. 144. 34 Vgl. Hans Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung. Bedeutung und Grenzen wahlsystematischer Gestaltung nach dem Grundgesetz, Frankfurt a. M. 1973. 35 Vgl. Matthew S. Shugart/Mathew P. Watteberg (Hrsg.), Mixed-Member Electoral Systems. The Best of Both Worlds?, Oxford 2001. 36 Auch das Grabenwahlsystem, das 1956 zur Einführung anstand, ist im Ergebnis ein solches Mischwahlsystem. Die eine Hälfte des Parlaments kommt nach der relativen Mehrheitswahl zustande, die andere nach der Verhältniswahl. Würde bei dem deutschen Wahlsystem auf eine Verrechnung zwischen Erst- und Zweitstimme verzichtet, so läge ein solches Grabenwahlsystem vor.
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Verhältniswahl und Gerechtigkeit
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Alle Wahlsysteme sind nach denselben Prinzipien zu messen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der These von der „Systemtreue“ verbaut sich eine solche Einordnung. „Entscheidet sich der Gesetzgeber für das Verhältniswahlsystem, so unterwirft er sich damit dem prinzipiellen Gebot des gleichen Erfolgswertes jeder Wählerstimme als der speziellen Ausprägung, die die Wahlrechtsgleichheit unter dem Verhältniswahlsystem erfährt, und stellt sein Gesetz unter dieses Maß“ (BVerfGE 34,100). In der Konsequenz heißt dies: Bei einem Wahlsystem, das als Verhältniswahl firmiert, darf das Quorum von fünf Prozent nur überschritten werden, wenn „ganz besondere zwingende Gründe“ (BVerfGE 1,256) vorliegen; dass bei der relativen Mehrheitswahl die natürliche Hürde weit höher liegt, ist für das Gericht kein Widerspruch aufgrund seiner Lehre von der „Systemtreue“. So sinnvoll die Sperrklausel damit ist, so erscheint angesichts der erwähnten Stimmen, die unberücksichtigt bleiben, eine Reform angebracht – wegen der offenkundigen Ungerechtigkeit dem Wähler gegenüber. Dass die Stimmen einer beträchtlichen Anzahl von Wählern unter den Tisch fallen, ist ein offenkundiger Missstand. Denn die Gerechtigkeit gebietet die Verwertung jeder Stimme. Der Wahlakt ist das urdemokratische Prinzip schlechthin. Erhält der Wähler eine Nebenstimme, so kann er mit seiner Hauptstimme ohne Risiko für die Partei votieren, die ihm am sympathischsten erscheint. Sollte diese Kraft an der Fünfprozenthürde scheitern, käme die Nebenstimme zur Geltung.37 Auf diese Weise ginge das Votum des Wählers nicht verloren. Der positive Effekt der Fünfprozentklausel (Schutz vor Zersplitterung im Parlament) bliebe gewährleistet, die negative Wirkung verschwände (die fehlende Berücksichtigung von Stimmen). Dieser Reformvorschlag überfordert die Wähler nicht, schafft vielmehr Gerechtigkeit, ohne Pragmatismus außer Acht zu lasen. Er ist in Deutschland ohne Tradition, jedoch in anderen Ländern wie Australien bekannt („alternative vote“).
4.
Kritik an den Überhangmandaten und Reformvorschlag
Überhangmandate sind dem Wahlsystem für die Bundestagswahl inhärent. Parteien, die in den Bundesländern mehr Direktmandate erhalten haben, als ihnen nach den Zweitstimmen zustehen, behalten diese. Das hat die Konsequenz, dass es zu Überhangmandaten kommen kann, nicht kommen muss. Machtpolitische Strategien der Parteien standen in diesem Fall ursprünglich nicht Pate, allenfalls in dem Sinne, dass Ausgleichsmandate für die anderen Parteien nicht vorgesehen sind. Allerdings: Bei dem durch das Wahlgesetz von 1956 ermöglichten Zusammenschluss der Landeslisten
37 Für den Fall, dass der Wähler auch mit seiner Nebenstimme eine Partei mit weniger als fünf Prozent wählt, gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder bleibt seine Stimme dann unberücksichtigt (pragmatische Variante) oder (perfektionistische Variante) die Stimme fällt derjenigen Partei mit über fünf Prozent zu, die der Wähler bei seiner Reihung als Erste vermerkt hat.
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Parteien und Wahlen
einer Partei, um alle Stimmen auszuschöpfen, wurde die folgende Konsequenz vermieden: Überhangmandate kommen für eine Partei erst dann zustande, wenn alle Landeslistenmandate „aufgebraucht“ sind. Das wäre logisch gewesen: Die Parteien können ihre Landeslisten zusammenschließen, müssen dann aber die interne Verrechnung der Überhangmandate in Kauf nehmen. In diesem Fall würde es faktisch nicht zu Überhangmandaten kommen. Die Zahl der Überhangmandate hielt sich bis zur deutschen Einheit in Grenzen. Gab es in den elf Bundestagswahlen vor der deutschen Einheit 17 Überhangmandate (nach den vier Überhangmandaten in Schleswig-Holstein wurde die Größe der Wahlkreise aufgrund eines Urteils durch das Bundesverfassungsgericht angeglichen, mit dem Erfolg, dass erst 1980 wieder ein Überhangmandat auftrat), so sind in den seitherigen fünf Bundestagswahlen 56 Überhangmandate zustande gekommen, wobei 46 auf die neuen Bundesländer zurückgehen. Spielten die sechs Überhangmandate im Jahre 1990 zugunsten für die Regierungsbildung keine Rolle, so sah dies bei den nachfolgenden drei Wahlen anders aus: 1994 konnte die bürgerliche Regierung ihre hauchdünne Mehrheit von zwei Mandaten auf deren zehn aufstocken, da die CDU 12, die SPD 4 Überhangmandate bekommen hatte. 1998 besaß die rot-grüne Koalition ohne die 13 Überhangmandate nur eine Mehrheit von acht Sitzen. Bei der Bundestagswahl 2002 fiel das Ergebnis für die Regierung noch knapper aus: Ohne die Überhangmandate hätte sie lediglich 302 von 598 Sitzen gehabt. Wurde in diesen drei Fällen die jeweils stärkste Partei von den Überhangmandaten begünstigt, so war das 2005 anders: Die SPD erzielte neun, die CDU sieben Überhangmandate. Die SPD konnte mit diesem knappen Vorsprung bei den Überhangmandaten nicht ganz den Rückstand gegenüber der Union aufholen. Tabelle 2: Überhangmandate bei den Bundestagswahlen von 1949 bis 2005 Wahlperiode (Wahljahr)
Zahl der Überhangmandate
davon
im Bundesland
1. WP (1949)
2
1
Bremen
SPD
1
Baden
CDU
2
Schleswig-Holstein
CDU
1
Hamburg
DP
2. WP (1953)
3
Partei
3. WP (1957)
3
3
Schleswig-Holstein
CDU
4. WP (1961)
5
4
Schleswig-Holstein
CDU
1
Saarland
CDU
9. WP (1980)
1
1
Schleswig-Holstein
SPD
10. WP (1983)
2
1
Hamburg
SPD
11. WP (1987)
1
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1
Bremen
SPD
1
Baden-Württemberg
CDU
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Verhältniswahl und Gerechtigkeit
12. WP (1990)
13. WP (1994)
14. WP (1998)
15. WP (2002)
16. WP (2005)
6
16
13
5
16
2
Mecklenburg-Vorpommern
CDU
3
Sachsen-Anhalt
CDU
1
Thüringen
CDU
3
Sachsen
CDU
3
Thüringen
CDU
2
Mecklenburg-Vorpommern
CDU
2
Sachsen-Anhalt
CDU
2
Baden-Württemberg
CDU
3
Brandenburg
SPD
1
Bremen
SPD
1
Hamburg
SPD
2
Mecklenburg-Vorpommern
SPD
3
Brandenburg
SPD
4
Sachsen-Anhalt
SPD
3
Thüringen
SPD
1
Hamburg
SPD
2
Sachsen-Anhalt
SPD
1
Thüringen
SPD
1
Sachsen
CDU
1
Hamburg
SPD
3
Brandenburg
SPD
1
Saarland
SPD
4
Sachsen-Anhalt
SPD
3
Baden-Württemberg
CDU
4
Sachsen
CDU
Quelle: Zusammenstellung nach amtlichen Wahlstatistiken.
Generell kommen Überhangmandate zustande, wenn in einem Bundesland eine Partei im Vergleich zu ihrem Zweitstimmenanteil prozentual mehr als doppelt so viel Direktmandate erreicht hat. Die Ursachen für die Überhangmandate fallen höchst komplex aus38, ergänzen sich häufig, gehen in den wenigsten Fällen entgegen manchen Klischees nicht auf das Stimmensplitting zurück, sind mithin keine Folge des personalisierten
38 Vgl. Joachim Behnke, Ein integrales Modell der Ursachen von Überhangmandaten, in: Politische Vierteljahresschrift 44 (2003), S. 41–65; Florian Grotz, Die personalisierte Verhältniswahl unter den Bedingungen des gesamtdeutschen Parteiensystems. Eine Analyse der Entstehungsursachen von Überhangmandaten seit der Wiedervereinigung, in: Politische Vierteljahresschrift 41 (2000), S. 707–729.
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Parteien und Wahlen
Wahlverfahrens.39 Überhangmandate resultieren u. a. aus der geringen Wahlkreisgröße, der niedrigen Wahlbeteiligung, einer starken Drittpartei sowie aus einem hohen Anteil an Stimmen für Parteien, die nicht an der Mandatsvergabe beteiligt sind. Sie sind oft und schon lange in das Visier wissenschaftlicher Kritik geraten. Angesichts der Zufälligkeiten und Paradoxien blieb manche Schelte nicht frei von Sarkasmus.40 Vor allem der inverse Erfolgswert provoziert massive Proteste: Eine Partei kann mit weniger Stimmen mehr Mandate gewinnen und mit mehr Stimmen weniger Mandate. Einem größeren Kreis der Öffentlichkeit wurde dieses Phänomen bei der letzten Bundestagswahl durch die aufgrund des Todes einer Kandidatin nötig gewordene Nachwahl im Wahlkreis Dresden I vor Augen geführt. Der Wähler wusste: Wenn die CDU den Wahlkreis gewinnt und zugleich ein schwaches Zweitstimmenergebnis erreicht, steht ihr in Sachsen ein weiteres Überhangmandat zu. So geschah es dann. Dies hatte – rational kaum mehr nachvollziehbar – ferner personelle Konsequenzen für andere Landeslisten (nicht nur jener der CDU). Hatte das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit die Überhangmandate mit dem (falschen) Argument gerechtfertigt, sie seien Ausdruck der Entscheidung für ein personalisiertes Wahlrecht41, so revidierte es mit seinem Urteil vom 3. Juli 2008, wie erwähnt, die bisherige Rechtsprechung.42 Die Widersinnigkeit der Überhangmandate war nicht mehr zu übersehen. Die Grundsatzentscheidung ist stimmig, allerdings durch die Fixierung auf den inversen Erfolgswert nicht umfassend genug begründet. Dieter Nohlen schließt sich dem Ergebnis der Richter an, befürchtet aber, dadurch werde einer völligen Proportionalisierung der Weg geebnet. Er bedauert es, dass das deutsche Wahlsystem „eine mehrheitsbildende Komponente in Form von Direktmandaten [...] gerade in einer Zeit verliert, wo diese zur Mehrheitsbildung gut würden
39 Auch 1949, als der Bürger nur eine doppelt zu verrechnende Stimme hatte, gab es zwei Überhangmandate. Allerdings sah die Relation seinerzeit – auf Intervention der Ministerpräsidenten – so aus: 60 Prozent Direktmandate, 40 Landeslistenmandate. Diese Regelung begünstigte die Entstehung von Überhangmandaten. 40 Vgl. Hans Meyer, Der Überhang und anderes Unterhaltsames aus Anlass der Bundestagswahl 1994, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 77 (1994), S. 312–362. 41 Im Urteil vom 10. April 1997 (BVerfG, 2 BvF 1/95) hieß es widersinnig, die Zahl der Überhangmandate dürfe nicht mehr als fünf Prozent betragen. Die von der niedersächsischen Landesregierung angestrebte Klage, Überhangmandate für verfassungswidrig zu erklären, scheiterte denkbar knapp (mit einem Patt von 4:4). Die von der SPD und den Grünen vorgeschlagenen vier Richter schlossen sich dem Votum der Partei an, die anderen nicht. Hingegen gab es Einigkeit in einer anderen Frage: Bei einem Ausscheiden aus dem Bundestag werden die direkt gewählten Abgeordneten in den Bundesländern, in denen ihre Partei Überhangmandate errungen hat, nicht durch andere ersetzt, jedenfalls so lange nicht, bis die Überhangmandate „aufgebraucht“ sind. Da bei der CDU drei direkt gewählte Abgeordnete aus Bundesländern, in denen die Partei Überhangmandate gewonnen hatte, ausgeschieden sind, besitzt die CDU am Ende der Legislaturperiode nicht mehr Mandate als die SPD (jeweils 222). 42 Vgl. Dieter Nohlen, Erfolgswertgleichheit als fixe Idee oder: Zurück zu Weimar? Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das Bundeswahlgesetz vom 3. Juli 2008, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 179–195.
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Verhältniswahl und Gerechtigkeit
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beitragen können“43. Erstens ist dies nicht die Funktion von Überhangmandaten, zweitens wirken sich diese nicht unbedingt nur zugunsten der Mehrheitsbildung aus. Drittens überschätzt er damit deren Rolle: „Für den Verlust der Überhangmandate als mandatsrelevante Ressource der ‚vorgeschalteten Mehrheitswahl‘ verdient die personalisierte Verhältniswahl eine die parlamentarische Mehrheitsbildung fördernde Kompensation, um Regierbarkeitsprobleme wie in der Weimarer Republik nicht aufkommen zu lassen.“44 Bereits früher, als er die Überhangmandate noch gerechtfertigt hatte, sah Nohlen Gefahren in der Proportionalisierung des Wahlsystems. Es sei nicht angängig, mit dem Kriterium der parlamentarischen Funktionsfähigkeit kleine Parteien aus dem Parlament fernzuhalten und zugleich den reinen Proporz auf Parteien über fünf Prozent anzuwenden. „Damit würde dann in der Tat der Grundsatz der Gleichheit verletzt. [...] Dann müsste folglich auch die Fünfprozentklausel hinterfragt werden.“45 Diese Position leuchet unter Gerechtigkeitsgründen schwerlich ein. Geht es bei der Fünfprozentklausel um eine sinnvolle Zuordnung von Stimmen und Mandaten, so liegt diese bei der Regelung zu den Überhangmandaten eben nicht vor. Ihr stark zufallbedingtes Entstehen delegitimiert sie. Von den verschiedenen Reformmöglichkeiten, Überhangmandate zu vermeiden46 bzw. auszugleichen (u. a. Abzug von Direktmandaten; Senkung des Anteils von Direktmandaten; Einführung von Ausgleichsmandaten nach dem Muster der Bundesländer; Etablierung eines „Grabenwahlsystems“) dürfte eine bei weitem zu bevorzugen sein. Sie ist einfach und liegt in der Logik der Sache: Die Verrechnung der Direktmandate mit den von einer Partei errungenen Mandaten hat bereits bei der ersten Verteilung zu erfolgen (Oberverteilung), nicht, wie jetzt, bei der zweiten Verteilung (Unterverteilung). Eine Partei, die Überhangmandate errungen hat, erhält damit in anderen Ländern weniger Mandate als nach dem Zweitstimmenanteil berechnet. Das hat eine kleine Verschiebung zwischen den Landeslisten einer Partei zur Folge, und zwar zugunsten derjenigen Landeslisten, die Überhangmandate gewonnen haben. Darauf basiert der abgelehnte Gesetzentwurf der Grünen (BTDrucks 16/11885). Eine andere, in Erwägung zu ziehende Variante wäre die von Joachim Behnke vorgeschlagene „virtuelle Bundesliste“.47 „Virtuell“ heißt sie deshalb, weil sie nicht wirklich besteht und nach der Wahl erfolgt, um die Landeslistensitze einer Partei proportional zu verteilen (nach Abzug der Direktmandate). Auf diese Weise wäre auch die CSU einbezogen, könnte sie keine Überhangmandate geltend machen. 43 Ebd., S. 195. 44 Ebd. 45 Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie der Wahlsysteme, 4. Aufl., Opladen 2004, S. 325. 46 Sollte eine Partei bundesweit mehr Direktmandate erreichen, als ihr bundesweit Sitze zustehen, so müsste sie diese behalten. Aber das ist ein theoretisches, in der Praxis zu vernachlässigendes Problem. 47 Vgl. Joachim Behnke, Überhangmandate: Ein (behebbarer) Makel im institutionellen Design des Wahlsystems, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 13 (2003), S. 1235–1269.
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Parteien und Wahlen
„Wahlsysteme, die den Wählern Anreize zu taktischem Verhalten bieten, sind daher problematisch, da sie sich ihrer eigenen legitimatorischen Grundlage, der Erkundung des wahren Wählerwillens, berauben. Die mögliche Gewinnung von Überhangmandaten durch gezieltes Praktizieren von Stimmensplitting stellt [...] genau einen solchen Anreiz zu taktischem Verhalten her.“48 Dabei kommt es nicht darauf auf, ob ein solches Bestreben von Erfolg gekrönt ist oder überhaupt von Erfolg gekrönt sein kann. Überhangmandate sind ein „Makel“49, ein „grober Systemfehler“50 des deutschen Wahlmodus. Sie lassen sich mit den Prinzipien der Gerechtigkeit nicht vereinbaren. Es wäre längst notwendig gewesen, sie abzuschaffen – nicht nur wegen des inversen Erfolgswertes. Die Parteien haben die Entwicklung „laufen“ lassen und erst auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gewartet.
5.
Kritik an der Grundmandatsklausel und Reformvorschlag
Die Grundmandatsklausel geht bereits auf das erste Wahlgesetz von 1949 zurück. Wer ein Direktmandat erreichte, war in diesem Bundesland von der Fünfprozenthürde ausgenommen. Eine solche Grundmandatsklausel, aus dem Gerangel der Ministerpräsidenten hervorgegangen, war eher zufälligen Umständen geschuldet. 1953 wurde nicht nur die Fünfprozenthürde, sondern auch die Grundmandatsklausel auf das gesamte Bundesgebiet bezogen. Das bis heute gültige Wahlgesetz von 1956 hob die Grundmandatsklausel an: Von nun benötigt eine Partei drei Direktmandate, um die Fünfprozentklausel unterlaufen zu können. Die Institution der Grundmandatsklausel hat insgesamt viermal dazu beigetragen (vgl. Tabelle 3), dass eine Partei, die nicht in der Lage war, fünf Prozent der (Zweit-) Stimmen zu erreichen, in den Bundestag einziehen konnte: 1953 (zweimal), 1957 und 1994. Um der DP, dem Koalitionspartner der Union und der FDP, zu helfen, verzichteten die CDU und die FDP in jeweils acht Wahlkreisen auf die Nominierung eigener Kandidaten zugunsten der DP. Es bedurfte wegen ausgeprägter Hochburgen allerdings nicht der Unterstützung durch andere Parteien, damit die DP ihr Zweitstimmenquorum in Höhe von 3,3 Prozent der Zweitstimmen verwerten konnte. Hingegen war das Zentrum 1953 auf die Unterstützung der CDU angewiesen (Verzicht auf die Aufstellung eines Wahlkreiskandidaten), um den Stimmenanteil von 0,8 in drei Mandate umsetzen zu können. Gleiches gilt für die DP im Jahre 1957. Ohne die Wahlabkommen mit der CDU wäre die Partei an der Sperrklausel gescheitert. So konnte sie ihre 3,4 Prozent der Zweitstimmen in Mandate umrechnen lassen. Von der Bundestagswahl 1957 an
48 Ders., Von Überhangmandaten und Gesetzeslücken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52/2003, S. 21–28, hier S. 27. 49 Vgl. ders. (Anm. 47). 50 Hans Herbert von Arnim (Anm. 21), S. 133.
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Verhältniswahl und Gerechtigkeit
fanden Wahlkreisabsprachen nicht mehr statt, obwohl das problematische Zweistimmensystem sie geradezu begünstigt.51 Bei den Bundestagswahlen 1994 nützte die Grundmandatsklausel der PDS. Ihr gelang es, in vier Ostberliner Wahlkreisen das Direktmandat zu erringen.52 So konnte sie mit 30 Mandaten in den Deutschen Bundestag einziehen, obwohl sie nur 4,4 Prozent der Stimmen erreicht hatte. Der PDS war dieser Erfolg ohne Wahlabkommen mit anderen Parteien beschieden. Er wäre wohl gescheitert, wenn die CDU den Vorschlag der SPD aufgegriffen hätte, in den Ostberliner Wahlkreisen auf die Aufstellung eigener Kandidaten zu verzichten. Bei der Bundestagswahl im Jahr 2002 errang die PDS 4,0 Prozent der Stimmen und nur zwei Direktmandate, konnte also von der Grundmandatsregelung nicht profitieren. Hätte sie ein drittes Direktmandat erreicht, wäre der von ihr errungene Zweitstimmenanteil bei der Mandatsvergabe berücksichtigt worden. Die Folge: keine Fortsetzung der rot-grünen Koalition, wohl aber (vermutlich) Bildung einer Großen Koalition unter Gerhard Schröder. Tabelle 3: Bundestagsparteien dank der Grundmandatsklausel seit 1949 Wahlperiode
Partei
Wahlergebnis
Direktmandate
Alle Mandate
2. WP (1953)
DP
3,3
10
15
2. WP (1953)
Zentrum
0,8
1
3
3. WP (1957)
DP
3,4
6
17
13. WP (1994)
PDS
4,4
4
30
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Diese Grundmandatsklausel ist mit dem Gebot der Gerechtigkeit nicht zu legitimieren – unabhängig davon, ob die Partei ihre Direktmandate aus eigener Kraft gewinnt oder nur mit Hilfe einer anderen Partei. Man kann nicht erst eine bundesweite Fünfprozenthürde aus funktionalen Gründen vorsehen und dann eine Regelung in Betracht ziehen, die diese Klausel auszuhebeln vermag. Hochburgenparteien können unter den Bedingungen einer Verhältniswahl nicht repräsentationswürdiger sein als solche Parteien, die über das gesamte Wahlgebiet ihre Anhängerschaft besitzen. Unabhängig davon: Die drei Direktmandate müssen nicht in einem zusammenhängenden Wahlgebiet gewonnen werden. Grundmandate sind vor dem Hintergrund der ab 1953 auf das gesamte Bundesgebiet bezogenen Sperrklausel nicht zu rechtfertigen. Was ist von dem Argument zu halten, dass gerade der Anhänger der Verhältniswahl eine solche Regelung unterstützen müsste, da sie die Einschränkung des Proportionalprinzips durch die Fünfprozenthürde ihrerseits einschränkt? Formal gesehen stimmt
51 Vgl. Eckhard Jesse (Anm. 5), S. 261–311. 52 Zu den vier erfolgreichen Kandidaten gehörten zwei Parteilose (Stefan Heym und Manfred Müller).
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Parteien und Wahlen
dies, doch kann die Grundmandatsklausel im Erfolgsfall zu einer Schieflage führen. Paradoxerweise führt der Gewinn von Direktmandaten zu einem stärkeren Proportionalitätsgrad. Eine Partei wie die DP zog dank der Direktmandate bei der Bundestagswahl 1957 mit 3,4 Prozent in den Bundestag ein, der Gesamtdeutsche Block/Block der Heimatvertriebenen mit 4,6 Prozent nicht. Mit dem Prinzip der Gerechtigkeit unvereinbar ist eine solche Regelung, die der Willkür Tür und Tor öffnet. Die mehrfach modifizierte Argumentation des Bundesverfassungsgerichts (zuletzt: BverfG, 2 BvC 3/96 v. 10. April 1997) zur Verteidigung der Grundmandatsklausel vermag nicht zu überzeugen.53 Diese reizt zu Manipulationen, verzerrt das Verhältnis zwischen Stimmen und Mandaten, fördert damit Ungerechtigkeiten. Sie ist ersatzlos zu streichen. Allerdings soll die Partei alle direkt errungenen Mandate behalten können.
6.
Resümee
Um auf das Eingangsbeispiel der gescheiterten Reform vor der Bundestagswahl 2009 zurückzukommen: Der Deutsche Bundestag hat eine Chance vertan. Es wäre im Interesse der parlamentarischen Demokratie gewesen, rechzeitig vor der Wahl ein Wahlgesetz zu ändern, dem das Bundesverfassungsgericht 2008 attestiert hat, nicht verfassungsgemäß zu sein, wiewohl dieses – paradox genug – dem Parlament Zeit für eine Änderung bis 2011 einzuräumen gewillt war.54 Wenn nun die SPD einseitig der Union und der FDP die Schuld dafür zuschiebt, so ist das nur zum Teil berechtigt. Sie spielte nämlich zunächst auf Zeit, wohl in der Annahme, sie könnte von Überhangmandaten mehr als die Konkurrenz profitieren, eingedenk der drei letzten Bundestagswahlen. Zudem gab es bei der CDU mit dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Bosbach Abgeordnete, die eine Reform vor der Bundestagswahl angemahnt hatten. Das Argument, eine schnelle Reform erlaube nicht andere Inkonsistenzen des Wahlsystems zu beseitigen, dürfte stimmen. Doch bedeutet eine unverzügliche Revision der Bestimmungen zu den Überhangmandaten keineswegs, andere strittige Punkte später unberücksichtigt zu lassen. Freilich ist es mit der Vorhersehbarkeit von Überhangmandaten so eine Sache. Anderthalb Stunden nach Schließung der Wahllokale schien bei der Bundestagswahl 53 Vgl. Eckhard Jesse, Grundmandatsklausel und Überhangmandate. Zwei wahlrechtliche Eigentümlichkeiten in der Kritik, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1994, Wiesbaden 1998, S. 15–41. 54 Das Argument des Bundesverfassungsgerichts, eine Auflösung des 16. Deutschen Bundestages sei nicht zu rechtfertigen, leuchtet ein, nicht jedoch die Feststellung, dem Bundestag sei wegen der Komplexität der Regelung bis zum 30. Juni 2011 Zeit für eine Revision einzuräumen, zumal das Gericht selbst davon spricht, „dass ein neuer Bundestag möglichst auf verfassungsrechtlich einwandfreier Grundlage gewählt wird“ (BVerfG, 2 BvC 1/07, Nr. 143). Mit seiner – wohlwollend interpretiert – Großzügigkeit hat das Gericht die Verschleppung durch die Parteien in dieser heiklen Angelegenheit indirekt begünstigt. Die frühere Rechtsprechung zu den Überhangmandaten ist ohnehin kein Ruhmesblatt.
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Verhältniswahl und Gerechtigkeit
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2005 durch einen beträchtlichen Gewinn von Überhangmandaten zugunsten der SPD sogar die Fortsetzung der Kanzlerschaft Schröders möglich zu sein. „Kurz bevor der Kanzler gegen 19.30 Uhr das Büro in Richtung Öffentlichkeit verlässt, meldet das Info-Band im unteren Bildschirmteil ein einziges Mal das Unfassbare! Durch Überhangmandate könnte die SPD sogar mehr Sitze im Bundestag haben als CDU und CSU zusammen. [...] Schröder kann vor Kraft kaum laufen.“55 Die Fernsehzuschauer erlebten in der „Elefantenrunde“ wohl nicht zuletzt deshalb einen „aufgedrehten“ Kanzler. Vier Varianten sind denkbar, eine beträchtliche Anzahl von Überhangmandaten unterstellt: 1. Trotz für sie anfallender Überhangmandate erhalten Union und FDP keine regierungsfähige Mehrheit. 2. Die beiden Parteien erhalten auch ohne Überhangmandate eine regierungsfähige Mehrheit. 3. Erst durch Überhangmandate erhalten Union und FDP eine regierungsfähige Mehrheit. 4. Erst durch Überhangmandate, die für die SPD überproportional anfallen, verlieren Union und FDP ihre regierungsfähige Mehrheit.56 Nun bleibt eine doppelte Hoffnung: Mögen die Varianten 3 und 4 nicht eintreten. Dies würde bei der politischen Kultur in Deutschland, die stark von Gleichheit und Gerechtigkeit geprägt ist, ein schwerwiegendes Legitimationsproblem für die neue Regierung bedeuten.57 Und möge das Parlament nicht nur eine angemessene Regelung für die Abschaffung der Überhangmandate finden, sondern auch für die der Grundmandatsklausel. Die Zeit ist günstig, richtet sich doch die Reform bei der gegenwärtigen politischen Konstellation gegen keine bestimmte Partei. Eine Modifikation der Fünfprozentklausel wie im beschriebenen Sinne käme der Wahlgerechtigkeit ebenso entgegen. Solche Reformen wären „billig“, nicht in der pejorativen Konnotation von „primitiv“ und simpel, sondern in einem doppelten – positiven – Verständnis: Sie kosten (fast) nichts, und sie sind angemessen, ja berechtigt. Anders fällt das Urteil über die mögliche Änderung des Wahlsystems aus. Ist eine „kleine Reform“ nötig, so besteht für eine „große Reform“ zumal unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten momentan keine Notwendigkeit. Das parlamentarische System funktioniert, wiewohl aufgrund der komplizierten parteipolitischen Konstellationen 2005 nur eine Große Koalition der Ausweg aus der Blockade war. Eine Auflösung des Parlaments stand freilich ernsthaft zur Debatte. Noch haben sich nicht solche Defizite gezeigt, die eine Revision des Wahlsystems im Sinne stärkerer Mehrheitsbildung als unabweisbar erscheinen lassen. Es dürfte ein Kennzeichen der politischen Kultur Deutschlands sein, bei Krisensymptomen sofort nach institutionellen Änderungen 55 Eckart Lohse/Markus Wehner, Rosenkrieg. Die große Koalition 2005–2009, Köln 2009, S. 23. 56 Dieses Szenario ist nicht wahrscheinlich, jedoch angesichts der Zufälligkeit des Auftretens von Überhangmandaten nicht ganz von der Hand zu weisen. 57 In Großbritannien ist das anders. Als bei den Unterhauswahlen aufgrund des unterschiedlichen Hochburgenniveaus („bias“) die stimmenstärkste Partei nicht die mandatsstärkste Partei wurde (1951 und bei der ersten Wahl 1974), rief ein solches Ergebnis keine Legitimationskrise hervor.
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Parteien und Wahlen
Ausschau zu halten, statt der „lebenden Verfassung“ (Dolf Sternberger) zu vertrauen, wenngleich die Akzeptanz von Konflikten in der politischen Kultur gewachsen ist. Gleichwohl: Auch wenn der Verfasser einer grundlegenden Reform des Wahlsystems skeptisch gegenübersteht, befürwortet er die – lange eingeschlafene – Diskussion.58 Denn die Legitimation der parlamentarischen Demokratie hängt maßgeblich von den Wahlen ab – und der angemessenen Art der Mandatsverteilung.
58 Sie hat weit mehr Relevanz als die ausufernde Diskussion über das angemessene Stimmenverrechnungsverfahren. Sie steht in keinem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der hochgespielten Materie. War der Übergang von d’Hondt zu dem Hare-Niemeyer-Verfahren (1985) einsehbar, so ist die nunmehrige Ersetzung durch das komplizierte Sainte-Lague-Verfahren kein Fortschritt. Die Kritik von Dieter Nohlen an Mathematikern und Juristen ist vollauf berechtigt. Vgl. hierzu ders. (Anm. 42), S. 194. Siehe auch Gerd Strohmeier, Vergangene und zukünftige Reformen des deutschen Wahlsystems, in: Ders. (Hrsg.), Wahlsystemreform (= Sonderband 2009 der Zeitschrift für Politikwissenschaft), Baden-Baden 2009, S. 11–43.
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Der glanzlose Sieg der „Bürgerlichen“ und die Schwäche der Volksparteien bei der Bundestagswahl 2009 Die Bundestagswahl 2009 war nicht nur eine Wahl der Superlative (die drei „kleinen“ Parteien FDP, die Linke und Grüne erzielten 27,2 Prozent der Stimmen, also mehr als die SPD), sondern auch eine der Paradoxien (trotz eines Stimmenverlustes von 1,4 Prozentpunkten steigerte die Union ihren Mandatsanteil um 13). Wie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, verlief der „Machtwechsel“ über die Große Koalition. SPD und Grüne verloren auch deshalb die Wahl, weil ihnen eine Machtoption fehlte. Die beiden Parteien gehen ein hohes Risiko ein, wenn sie sich nach der Bundestagswahl gegenüber der Linken öffnen. Das Charakteristikum dieser Wahl waren die drastischen Stimmenverschiebungen von den Volksparteien zu den kleineren Parteien. Ist dies eine Reaktion auf die Große Koalition gewesen?
1. Einleitung Die Bundestagswahl 2009 war nicht nur reich an Superlativen (u. a. schlechtestes Ergebnis für die Volksparteien zusammen, katastrophales Resultat der SPD, bestes Abschneiden der nun mittelgroßen „Kleinen“, die alle zweistellig wurden, weitaus geringste Wahlbeteiligung, höchste Zahl an Überhangmandaten, höchste Zahl an Direktmandaten für eine „Drittpartei“), sondern auch reich an Paradoxien. Um nur zwei zu nennen: Zu den Siegern gehören zwei Verlierer (die CDU und vor allem die CSU), zu den Verlierern zwei Sieger (die Linke und die Grünen). Der Grund: Der massive Gewinn der FDP (sie erhöhte ihren Stimmenanteil um fast 50 Prozent) kompensierte die Verluste von CDU und CSU), der massive Verlust der SPD (sie verlor fast ein Drittel ihrer Wählerschaft) ließ sich durch die Gewinne der beiden anderen Partien nicht annähernd ausgleichen. – Die Union verlor 1,4 Prozentpunkte der Stimmen und erhöhte den eigenen Mandatsanteil um 13. Die Ursache lag weniger darin begründet, dass sechs Prozent der Stimmen der „Sonstigen“ unverwertet blieben, sondern geht vor allem auf die von der Union gewonnenen 24 Überhangmandate zurück. Hingegen blieben der Wählerschaft zwei Paradoxa erspart. Erstens: Mit Verlusten für die beiden großen Parteien, mit denen zu rechnen war, war die Fortsetzung der Großen Koalition wahrscheinlicher, zumal dann, wenn ein Dreier-Bündnis nicht in Frage kommt, wie das 2009 offenbar der Fall gewesen wäre. Eine Große Koalition blieb trotz der Stimmeneinbußen für die Union und SPD aus, weil die starken Zugewinne der Liberalen eine herkömmliche Zweier-Koalition ermöglichten. Für die deutsche Demokratie mit ihrem Übermaß an Konsenspolitik1 wäre eine solche Regierung ebenso wenig gut gewesen wie für jede der beiden großen Kräfte. Zweitens: Union und FDP hätten mit weniger Stimmen als SPD, Linke und Grüne mehr Mandate erreichen 1
Vgl. pointiert Thomas Darnstädt, Konsens ist Nonsens. Wie die Republik wieder regierbar wird, München 2006.
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können. Schließlich war eine Vielzahl an Überhangmandaten für die Union wahrscheinlich (nicht zuletzt wegen des zu erwartenden großen Abstands gegenüber der SPD).2 Das Erwartete trat ein. Gleichwohl entfiel auch ohne Überhangmandate eine Mehrheit auf die „bürgerlichen“ Kräfte. Im anderen Fall wäre die Regierung mit einem Legitimationsproblem konfrontiert worden, basierte doch bisher jede Mandatsmehrheit auf einer Stimmenmehrheit.3 Der Beitrag4 analysiert nach illustrierenden Bemerkungen zum Wahlkampf wesentliche Bestimmungsgründe für den Wahlausgang, die eklatante Schwäche der Volksparteien und die weitere Entwicklung des Parteiensystems, ehe abschließend einige Perspektiven zur Sprache kommen. Es ist die Kernthese, dass das Charakteristikum dieser Wahl weniger in der Ablösung der Großen Koalition durch eine „bürgerliche“ Mehrheit zu sehen ist als vielmehr in drastischen Stimmenverschiebungen zwischen großen und kleineren Parteien sowie zwischen Wählern und Nichtwählern.
2.
Wahlkampf
Die Große Koalition hatte passabel zusammengearbeitet, die Zahl der Arbeitslosen beträchtlich gesenkt und in der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkrieges Handlungsfähigkeit bewiesen. Zugleich wurde eine Reihe von Vorhaben auf die lange Bank geschoben, u. a. in der Sozial-, Finanz- und Gesundheitspolitik.5 Der Wahlkampf war für beide Seiten eine Gratwanderung, zumal Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, die überwiegend vertrauensvoll kooperiert hatten, um das Spitzenamt konkurrierten.6 Die Konsequenz: eine Art „Wohlfühlkampf “. Die Union operierte vorsichtig, anders als 2005. Pointiert formuliert: Der „NichtWahlkampf “ Angela Merkels war ihr Wahlkampf. Sie trat einerseits nahezu präsidial auf, andererseits pflegte sie einen „unprätentiösen Politikstil“.7 Ihr Ziel war es, durch ein hohes Maß an Unverbindlichkeit den politischen Gegner nicht zu provozieren und damit zu mobilisieren. Die Kehrseite dieser Strategie: Die CDU blieb eigentümlich 2 3 4
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Vgl. Joachim Behnke, Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2009. Einschätzung mit Simulationen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 620–636. Vgl. Eckhard Jesse, Verhältniswahl und Gerechtigkeit, in: Gerd Strohmeier (Hrsg.), Wahlsystemreform. Sonderband 2009 der Zeitschrift für Politikwissenschaft 2009, Baden-Baden 2009, S. 127. Er hat u. a. die Analysen von Infratest dimap (Wahlreport. Bundestagswahl 27. September 2009, Berlin 2009) ebenso berücksichtigt wie die der Forschungsgruppe Wahlen (Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 27. September 2009, Mannheim 2009). Vgl. Eckart Lohse/Markus Wehner, Rosenkrieg. Die große Koalition 2005–2009, Köln 2009; Roland Sturm, Die Politik der Großen Koalition: Strategien und Politikstile, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005. Voraussetzungen – Ergebnisse – Folgen, München 2010. Vgl. für Einzelheiten Frank Brettschneider/Marko Bachl, Die Bundestagswahl 2009 und die Medien, in: Politische Studien 60 (2009), Heft 6, S. 46–55. Forschungsgruppe Wahlen (Anm. 4), S. 25.
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blass, ihre inhaltliche Position nur schwer fassbar. Schädlich für die Union war das vielfach als populistisch empfundene Hin und Her der CSU und des Ministerpräsidenten Horst Seehofer mit Spitzen gegen die Liberalen, nützlich hingegen der erfrischend wirkende Stil des Wirtschaftsministers Karl-Theodor zu Guttenberg. Die SPD hatte kein „griffiges“, wählerwirksames Thema. Personell konnte sie ebenso wenig punkten, da ihr Spitzkandidat Frank-Walter Steinmeier im Wahlkampf weniger als populärer Außenminister wahrgenommen wurde, sondern als der Spitzenkandidat einer nicht einigen Partei. Nur halbherzig wurde die Agenda-2010-Politik Gerhard Schröders verteidigt. Die Partei schloss eine Koalition mit der Linken aus, nicht aber ein Bündnis mit dem „Schreckgespenst“ FDP. Das passte schwerlich zusammen und musste die eigene Anhängerschaft demotivieren. Die Grünen wünschten eine Koalition mit der SPD, obwohl sie selbst ein solches Bündnis als nicht sonderlich wahrscheinlich ansahen. Sie sprachen sich vor der Wahl kategorisch gegen eine Koalition mit der Union und der FDP aus, nicht jedoch gegen eine mit den Linken. Das ist schon deshalb schwer verständlich, weil die SPD, ihr angestrebter Bündnispartner, eigens ein solches Bündnis ausgeschlossen hatte. Auf diese Weise räumte die Partei indirekt ein, ihr Platz werde in der Opposition sein. Eine spezifische Schwäche bestand darin, dass alle wichtigen Funktionen doppelt besetzt waren, jeweils mit einem Mann und einer Frau: die der Partei- und der Fraktionsvorsitzenden ebenso wie die der Spitzenkandidaten.8 Ein „Joschka“ Fischer fehlte. Die FDP, die Guido Westerwelle ganz in den Vordergrund rückte, trat in der Frage des Koalitionspartners besonders offensiv auf. Sie machte sich für ein Bündnis mit der Union stark, schloss eine Koalition unter Hinzuziehung der Grünen allerdings nicht aus. Hingegen nahm sie geradezu schroff gegen eine Koalition mit der SPD und den Grünen Stellung. Aufgrund ihrer Kernbotschaften („Mehr Netto vom Brutto“) wirkte dies glaubwürdig. Die Union, die zwar keinen Koalitionswahlkampf betrieb, ließ gleichwohl keine Zweifel an ihrer Präferenz für die Liberalen aufkommen. Wie die FDP wandte sie sich bei einer fehlenden Mehrheit für die beiden Parteien nicht gegen die Hinzunahme der Grünen. Die Linke – ein glänzend gewählter Name – mit ihren beiden Spitzenkandidaten Gregor Gysi und Oskar Lafontaine hatte leichtes Spiel. Da die SPD mit ihr nicht regieren wollte, konnte sie sich auf einen „Oppositionswahlkampf “ konzentrieren. Hatte sie 2002 vor allem vor einer „Machtübernahme“ durch Edmund Stoiber gewarnt9, so griff sie 2005 in erster Linie die „unsoziale“ Politik von Bundeskanzler Schröder an. Diesmal attackierte sie die Spitzenpolitiker weniger, setzte erneut auf „ihr“ Thema – die
8 9
Allerdings war Renate Künast Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidatin in Personalunion. Das war ein schwerer strategischer Fehler, da sie so einen Teil der eigenen Anhängerschaft in die Arme der SPD und der Grünen getrieben hatte. Denn diese beiden Parteien wollten ihre Ablösung durch die Union und die FDP verhindern.
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„soziale Gerechtigkeit“, gefolgt vom Kampf gegen die „Rente mit 67“ und von der (populären) Forderung nach einem Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Bei der SPD und den Grünen stand im Laufe des Wahlkampfs zunehmend die Verhinderung einer „bürgerlichen Regierung im Vordergrund („negative campaigning“), angesichts der als deprimierend empfundenen Umfragedaten nicht mehr die Propagierung einer eigenen Koalition. Dies lief faktisch – und ausgesprochen – auf eine Große Koalition hinaus (unter der Ägide der Union). Die Angabe, dass bei den Koalitionspräferenzen nur 14 Prozent der Wähler eine Fortsetzung der Großen Koalition erwähnen10, ist nicht zum Nennwert zu nehmen, ohne spezifische Aussagekraft. Denn es liegt auf der Hand, dass Anhänger der Union eine Koalition mit „ihrem“ Wunschpartner (FDP) nennen, Anhänger der SPD eine solche mit „ihrem“ Wunschpartner (Grüne). „So“ unbeliebt war die Große Koalition nicht, zumal nicht angesichts der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Die beiden Regierungsparteien hatten sie, anders als 2005, auch nicht eigens ausgeschlossen, ohne sie deswegen zu favorisieren. Union und Liberale lagen bei den repräsentativen Meinungsumfragen mehr oder weniger stets in Führung, doch angesichts des Debakels der Demoskopie bei den Wahlen 200511 herrschte große Unsicherheit über die Plausibilität der Angaben vor, zumal die Institute nicht müde wurden, die Kurzfristigkeit der Entscheidung bei vielen Wählern hervorzuheben. So war Spannung vorhanden – trotz eines spannungslos geführten Wahlkampfs.
3.
Bestimmungsgründe des Wahlverhaltens
Wie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre (1966 und 1969), damals von der Union zur SPD, erfolgte der „Machtwechsel“ in zwei Schritten, zunächst über eine Große Koalition 2005 (durch das Ausscheiden der Grünen), ehe die Union mit der FDP ein Bündnis bilden konnte (durch das Ausscheiden der SPD).12 Zum ersten Mal kamen neben den beiden (unterschiedlich stark geschrumpften) „Großen“ drei Parteien über 10 Prozent. Ihr addierter Stimmenanteil lag erstmals über dem der stärksten Kraft. Die Liberalen (14,6 Prozent) erhielten allein fast zwei Drittel so viel Stimmen wie die SPD, die Linke (11,9 Prozent) und die Grünen (10,7 Prozent) zusammen beinahe das Ergebnis der SPD. Die FDP verfügte nun über mehr als doppelt 10 Vgl. Infratest dimap (Anm. 4), S. 61. 11 Vgl. Mario Paul, Warum überraschte das Votum der Wähler? Eine Antwort mit Hilfe eines integrativen Modells zur Erklärung des Wahlverhaltens, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005. Voraussetzungen – Ergebnisse – Folgen, Wiesbaden 2006, S. 189–210. 12 Die Parallele ist nicht ganz exakt, da die FDP, die 1966 die Koalition mit der Union verlassen hatte, 1969 ein Bündnis mit der SPD eingegangen war. Sie stimmt jedoch insofern, als die FDP zur Zeit der ersten Großen Koalition einen Kurswechsel vollzogen hatte – von einer stärker nationalliberalen zu einer eher sozialliberalen Kraft.
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so viele Mandate wie die „gerupfte“ CSU – ein Ergebnis, das es zuvor nicht annähernd gegeben hatte. Die Auffächerung des Fünfparteiensystems hat aber zu keiner neuen Lagerbildung geführt. Die Mehrheit für eine Koalition einer großen Partei mit einer kleinen reichte aus, anders als 1949 und 2005. Die Sozialdemokraten und die Grünen verloren auch deshalb die Wahl, weil ihnen eine Machtoption fehlte – für den absehbaren Fall, dass sie keine Regierungsmehrheit erlangen. Das Motto „Schwarz-Gelb verhindern“ war ein Armutszeugnis, kein Zeichen von Siegesgewissheit. Wer die wichtigsten Parteisystemeigenschaften13 nach der Bundestagswahl analysiert, erkennt weithin eine Fortsetzung des Trends der letzten Jahre. Die Fragmentierung ist durch die Verluste der beiden großen und die Gewinne der drei kleineren Parteien stark gestiegen. Die Asymmetrie14 ist massiv angewachsen auf 14,4 Punkte. Die Union allein ist knapp stärker als SPD und Grüne zusammen. Die Volatilität hat zugenommen – u. a. durch die beträchtlichen Verluste der SPD und die Gewinne der FDP. Die Polarisierung ist durch das Zusammenrücken von Union und SPD eher gesunken, die Segmentierung hat keineswegs abgenommen – nicht nur wegen der Linken, die für keine Koalition in Frage kamen, sondern auch wegen der Liberalen und der Grünen, die jeweils ein Bündnis unter Führung der SPD bzw. unter Führung der Union abgelehnt haben. Die Bundesrepublik erlebte aufgrund der geringeren Bedeutung sozialstruktureller Elemente „die wohl kandidatenlastigste Kampagne seit fast 40 Jahren“.15 Diese Strategie bevorzugte die Union. Sie machte sich so den Kanzlerbonus von Angela Merkel zunutze. Fast doppelt so viele Wähler sprachen sich für Merkel im Vergleich zu Steinmeier aus. „Unmittelbar vor der Bundestagswahl votierten 56% der Deutschen für Merkel, 33% wollten lieber Steinmeier als Kanzler – ein Vorsprung, der in den letzten 37 Jahren vor einer Bundestagswahl nur dreimal, 1972 in den Duellen Brandt gegen Barzel, 1980 bei Schmidt gegen Strauß sowie 2002 bei Schröder gegen Stoiber, übertroffen wurde.“16 Sie galt als glaubwürdiger, sympathischer, durchsetzungsfähiger und mit mehr Sachverstand ausgestattet, wobei bei manchen Eigenschaften (Glaubwürdigkeit, Sachverstand) immerhin die Hälfte der Befragten keinen Unterschied zwischen den Konkurrenten sah.17
13 Vgl. u. a. Oskar Niedermayer, Die Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems, in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 114–135. 14 Der Verfasser hält es für sinnvoll, die Differenz der Stimmenanteile der Parteiblöcke zugrunde zu legen, nicht die Differenz der Stimmenanteile zwischen der stärksten und der zweitstärksten Partei, um eine formale Betrachtungsweise zu vermeiden. 15 Forschungsgruppe Wahlen (Anm. 4), S. 23. 16 Vgl. ebd., S. 24. 17 Vgl. ebd., S. 40.
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Bei den Wahlmotiven sprachen sich 22 Prozent der Bürger für den Spitzenkandidaten aus, 55 Prozent für die Kompetenz der Partei, und 18 Prozent machten die Bindung an „ihre“ Partei geltend. Bei der Differenzierung nach Parteien fällt auf, dass die Unionswähler überproportional hohe Werte bei den Spitzenkandidaten nannten (32 Prozent). Unions- (40 Prozent) und SPD-Wähler (49 Prozent) maßen der Sachkompetenz im Vergleich zu den Wählern der anderen Partei eine geringere Bedeutung zu (FDP: 62 Prozent; Linke und Grüne: jeweils 74 Prozent). Die Parteibindung spielte die geringste Rolle bei der Linken (neun Prozent).18 Diese Partei ist längst nicht mehr die einstige Milieupartei, sondern weithin eine Protestpartei geworden. Diesmal entschied nicht der Osten die Wahlen (wie 2002 und 2005). Mittlerweile stammen nur noch 17,63 Prozent aus dem Wahlgebiet Ost – sei es wegen des Bevölkerungsrückgangs, sei es wegen der niedrigeren Wahlbeteiligung als im Westen. Nach wie vor sind SPD und Linke (46,6 Prozent) im Osten stärker als CDU und FDP (40,4 Prozent). Freilich war das Wahlverhalten bei der Union mit Blick auf den Osten und den Westen gegenläufig. Die CDU gewann im Osten 4,5 Punkte, im Westen verlor die Union dagegen 2,9 Punkte. In keinem Bundesland schnitt die CDU so gut ab wie in Sachsen. So driftet das Wahlverhalten zwischen Ost und West weniger auseinander als früher, auch durch die starken Gewinne der Linken im Westen. Mit ihrem Stimmenanteil von 8,3 Prozent hat sie besser abgeschnitten als bundesweit bei der Europawahl drei Monate zuvor (7,5 Prozent). Allerdings haben die im Westen ohnehin starken Liberalen und Grünen dort überproportional gut abgeschnitten. Die Unterschiede zwischen Erst- und Zweitstimmen sind leicht erkennbar, die Gründe für die Abweichungen hingegen schwer erklärbar. So hat die Union 5,6 Prozentpunkte mehr Erst- als Zweitstimmen, die FDP hingegen 5,2 Prozentpunkte weniger. Die repräsentative Wahlstatistik, die erst nach Monaten vorliegt, kann exakt belegen, wie viele Prozent der FDP-Zweitstimmenwähler mit ihrer Erststimme für die Union und wie viel Prozent der Erststimmenwähler der Union mit ihrer Zweitstimme für die FDP votiert haben. Damit ist aber die Kernfrage nicht geklärt, ob es sich bei den „Splitting“-Wählern um „eigentliche“ Wähler der Union oder „eigentliche“ Wähler der FDP handelt. Wollten überzeugte FDP-Wähler ihre Erststimme dem Kandidaten der Union zukommen lassen, oder wollten überzeugte Unionswähler mit ihrer Zweitstimme die FDP stärken? Oder handelt es sich um Wähler, die einen Kompromiss zwischen beiden Parteien einzugehen beabsichtigten? Auch wenn die FDP generell von einem Zweistimmensystem im Vergleich zu einem Einstimmensystem profitiert, ist diesmal davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Teil ihrer Wählerschaft der Union zu Wahlkreissiegen und unter Umständen zu Überhangmandaten zu verhelfen suchte.
18 Vgl. Infratest dimap (Anm. 4), S. 58.
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Die Linke hat wegen des Einbruchs der SPD im Osten 16 Direktmandate erreicht. Das zeigt die Verankerung der Partei in den neuen Bundesländern. Noch überraschender ist ein anderes Ergebnis. CDU und CSU konnten insgesamt 218 Direktmandate gewinnen, damit über 70 Prozent. Nach dem Zweitstimmenanteil standen ihr aber nur 215 Mandate zu. Um Überhangmandate zu vermeiden, wurde vorgeschlagen (auch vom Verfasser), die Direktmandate einer Partei mit den Mandaten zu verrechnen, die auf sie nach dem Zweitstimmenanteil entfallen (gemäß der Ober- und nicht erst der Unterverteilung). Wie das Wahlergebnis gezeigt hat, ermöglicht eine solche Regelung immer noch Überhangmandate (in diesem Fall drei). Der Gesetzgeber muss bei der nötigen Reform diese Lücke schließen und Ausgleichsmandate für andere Parteien vorsehen, um eine künstliche Erhöhung von Mandaten zu unterbinden. Tabelle 1: Bundestagswahlergebnis 2009 für die Wahlgebiete West, einschl. BerlinWest, und Ost, einschl. Berlin-Ost (in Klammern Unterschiede nach Prozentpunkten gegenüber 2005) Gesamt
West
Ost
Wahlbeteiligung
70,8 (–6,8)
72,3 (–6,2)
64,8 (–9,5)
CDU und CSU
33,8 (–1,4)
34,7 (–2,8)
29,8 (+4,5)
CDU
27,3 (–0,5)
26,7 (–1,7)
29,8 (+4,5)
CSU
6,5 (–0,9)
7,9 (–1,2)
–
SPD
23,0 (–11,2)
24,1 (–11,0)
17,9 (–12,5)
FDP
14,6 (+4,7)
15,4 (+5,2)
10,6 (+2,6)
Die Linke
11,9 (+3,2)
8,3 (+3,4)
28,5 (+3,2)
Grüne
10,7 (+2,6)
11,5 (+2,7)
6,8 (+1,6)
6,0 (+2,1)
5,9 (+2,4)
6,3 (+0,5)
Sonstige
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Gewiss kommt Wählerwanderungsbilanzen nicht die Präzision zu, wie das mitunter behauptet wird. Gleichwohl zeigen sie Tendenzen an, die den Parteien Hinweise geben, welche Positionen sie vernachlässigt haben. Das Ergebnis für die SPD ist ernüchternd. Wie ihr Wählerstromkonto zeigt19, hat sie per Saldo überall verloren: an die Union 870.000 Wähler, an die FDP 520.000, an die Linke 1.110.000, an die Grünen 860.000, an andere Parteien 320.000. Schließlich sind unter dem Strich 2.130.00 frühere SPD-Wähler nicht mehr zur Wahl gegangen, und bei dem Austausch mit Erstwählern und Verstorbenen fällt ein Minus von 490.900 Stimmen an. Offenkundig ist der SPD ihr Markenkern abhanden gekommen. Viele Wähler sehen nicht mehr ihre Identität. In
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Parteien und Wahlen
der Tat ist es ein „Paradox der SPD“20, dass sie sich der Linken anzunähern sucht, obwohl sie an Union und Liberale mehr Stimmen verloren zu haben scheint als an die Postkommunisten.
4.
Schwäche der Volksparteien
Die beiden Volksparteien sind aus der Wahl geschwächt hervorgegangen, die SPD deutlich mehr als die Union. Die Union (33,8 Prozent) erzielte das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte (nur 1949, als das Parteiensystem noch in einem flüssigen Aggregatzustand war, fiel das Resultat dünner aus), die SPD (23,0 Prozent) das schlechteste. Noch nie musste eine Partei bei einer Bundestagswahl einen derartig hohen Verlust (11,2 Punkte) hinnehmen. Mit 56,8 Prozent haben Union und SPD noch ihren Stimmenanteil bei der ersten Bundestagswahl unterboten (60,2 Prozent). Hatten bei den Bundestagswahlen 1972 und 1976 jeweils über 80 Prozent der Wahlberechtigten für die beiden Volksparteien votiert (1972 90,7 Prozent der Stimmen, 1976: 91,2 Prozent), so waren es diesmal weniger als 40 Prozent (genau: 39,66 Prozent). Wohl nichts verdeutlicht mehr den Einbruch der Volksparteien. Im Vergleich zu den Bundestagswahlen 2002 verloren sie über 20 Prozentpunkte ihrer Wähler. In der Tat sind die großen Parteien oft nicht konturiert genug aufgetreten, haben sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt und Themen, die Bürger umtrieben, links liegen gelassen. Mit ihrem Allzuständigkeitsdenken, das sie gar nicht einlösen können und sollen, provozieren sie Vorwürfe. Aber Kritik, die vollmundig vom „Versagen der Politik“ spricht, ist in dieser Pauschalität keineswegs berechtigt.21 Das desaströse Ergebnis ist nicht nur eine Reaktion auf die Große Koalition, sondern spiegelt auch vielfältigen gesellschaftlichen Wandel wider, den die großen Parteien nicht einzufangen vermögen. Festgefügte gesellschaftliche Milieus erodieren, herkömmliche Konfliktlinien verlieren an Intensität.22 Die Parteiidentifikation sinkt mit der Zunahme der Individualisierung und des Wertewandels. Auch andere Großorganisationen (wie Gewerkschaften) sind davon betroffen. Die Zahl der Parteimitglieder ist bei der CDU (Ende 1990: 789.609; Ende 2008: 528.972) und der SPD (Ende 1990: 943.402; Ende 2008: 520.969) permanent rückläufig. Fast die Hälfte von ihnen ist über 60 Jahre alt. 20 So Ulrich Pfeiffer, Das Paradox der SPD. Die Sozialdemokraten haben Wähler an die bürgerlichen Parteien verloren, rücken aber nach links, in: Handelsblatt v. 28. Oktober 2009, S. 6. 21 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München 2009. Siehe dagegen Antonius Liedhegener/Torsten Oppelland (Hrsg.), Parteiendemokratie in der Bewährung. Festschrift für Karl Schmitt, Baden-Baden 2009; Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft? Konzepte, Konkurrenzen und Konstellationen, Freiburg/ Brsg. 2009. 22 Vgl. etwa die Schriften von Franz Walter: Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung, Frankfurt a. M. 2008; Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld 2009.
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Vor allem in den neuen Bundesländern fällt das Repräsentationsdefizit auf. Die CDU hatte Ende 2008 dort rund 46.000 Mitglieder, die SPD gerade einmal 22.000.23 Die beiden Volksparteien schneiden im Osten Deutschlands weniger gut ab als im Westen des Landes. Bei der jüngsten Bundestagswahl blieben sie mit 47,7 Prozent unter der absoluten Mehrheit. Die mangelnde Mobilisierbarkeit der Wähler durch die Volksparteien zeigte sich auch in der stark gesunkenen Wahlbeteiligung (70,8 Prozent). Im Westen fiel sie „nur“ um 6,8 Punkte, im Osten um 9,5 Punkte. Dabei war 2005 das Jahr mit der bis dahin niedrigsten Beteiligungsquote bei Bundestagswahlen (77,6 Prozent). Die Nichtwähler, deren Motive seit jeher höchst unterschiedlicher Natur sind, stellen damit erstmals die stärkste „Partei“. Wer hätte im Jahr 1990 (damals erreichte die PDS bundesweit 2,4 Prozent, im Osten 11,1 Prozent, im Westen 0,3 Prozent) einen solchen Triumph der mehrfach umbenannten Nachfolgepartei der SED 20 Jahre nach der friedlichen Revolution vorherzusagen gewagt – nicht nur im Osten (28,5 Prozent), sondern auch im Westen (8,3 Prozent)? Die Frage ist rhetorischer Natur. Diese Partei profitiert vor allem von den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Einschnitten in das soziale Netz. Die SPD ist nicht ausreichend in der Lage, eine solche Protestklientel an sich (weiter) zu binden. Hingegen besteht am anderen Ende des politischen Spektrums auf absehbare Zeit nicht die Gefahr der Abspaltung einer nennenswerten Gruppe, die bei Bundestagswahlen erfolgreich sein könnte, freilich die Gefahr der Nichtwahl einstiger Stammwähler. Die leidvolle Last der Vergangenheit wirkt nach, der gesellschaftliche Druck ist zu groß, als dass Bürger von Reputation einer solchen Partei beitreten. Das schließt vereinzelte Erfolge einer Partei wie der NPD in (ostdeutschen) Ländern keineswegs aus. Sie bleibt geächtet.
5.
Perspektiven des Parteiensystems
In den letzten Jahren wurde angesichts des sich offenkundig verfestigenden Fünfparteiensystems über eine „Jamaika“-Koalition (Schwarz-Gelb-Grün) oder über eine „Senegal“Koalition (Rot-Grün-Gelb) viel geschrieben.24 Solche lagerübergreifenden Koalitionen schienen der einzige Ausweg zu sein, um einer für eine parlamentarische Demokratie
23 Zu diesen und den vorhergehenden Angaben vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2008, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 370–382. 24 Vgl. Frank Decker, Ankunft im Vielparteienstaat, in: Berliner Republik 10 (2008), Heft 2, S. 19–25; Uwe Jun, Parteiensystem und Koalitionskonstellationen vor und nach der Bundestagswahl 2005, in: Frank Brettschneider/Oskar Niedermayer/Bernhard Weßels (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2007, S. 491–515; Karl Rudolf Korte, Neue Qualität des Parteienwettbewerbs im „Superwahljahr“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/2009, S. 3–8; Oskar Niedermayer, Wahrscheinliche und unwahrscheinliche Koalitionen, in: Matthias Machnig/Joachim Raschke (Hrsg.), Wohin steuert Deutschland? Bundestagswahl 2009 – ein Blick hinter die Kulissen, Hamburg 2009, S. 267–269.
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prinzipiell nicht förderlichen Großen Koalition zu entgehen.25 Doch spricht vieles dafür, dass es sich auf absehbare Zeit um eine Art „Gespensterdebatte“ handelt, jedenfalls was den Bund betrifft. Die Zeichen stehen nicht auf lagerübergreifende Bündnisse, wie kurz nach der Bundestagswahl 2009 deutlich geworden ist. Die SPD wird einen Linkskurs vollziehen und zugleich eine Annäherung an die Linke einleiten. Ein Sozialdemokrat der Mitte wie der neue Parteivorsitzende Sigmar Gabriel ist dazu besser in der Lage als ein Repräsentant des linken Flügels. Er will der Partei so eine Machtoption sichern. Die Grünen, die schon diesmal, wie erwähnt, ein Linksbündnis nicht ausgeschlossen hatten, dürften einen solchen Kurs mittragen. Es wird im Deutschen Bundestag mehr oder weniger eine „Koalition in der Opposition“ entstehen, mit Abschwächungen und gewissen Abgrenzungen. Anders als noch 2005 könnte sich in der Opposition ein relativ homogenes Lager herausbilden. Die SPD dürfte mit ihrem sich abzeichnenden Koalitionskurs auf Bundesebene in Richtung der Linken nicht erfolgreich sein. Sie geht damit ein hohes Risiko ein, kann sie doch der sozialpopulistischen Überbietungsstrategie der Linken, einer demokratisch zweifelhaften Partei, kaum Paroli bieten. Wenn die Bürger vor der nächsten Bundestagswahl wissen, dass SPD und Grüne ein Bündnis mit der Linken anstreben, dann verweigern zumal im Westen Wähler aus dem sozialdemokratischen Umfeld einer solchen Konstellation ihre Stimme. Die Wahlen werden, das ist eine Binsenweisheit, und Angela Merkel hat sie verinnerlicht, in der Mitte gewonnen. Warum ist die SPD so verzagt und glaubt offenkundig nicht daran, mit Hilfe der Grünen mehr Stimmen zu erreichen als Union und FDP? Die Behauptung, in der Bundesrepublik gäbe es eine strukturelle linke Mehrheit, ist eine Schimäre. Gewiss haben SPD, Grüne und PDS bei den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 eine arithmetische Mehrheit gehabt, aber keine politische. SPD und Grüne schnitten gerade deshalb so gut ab, weil sie eigens einen Pakt mit der linken Konkurrenz aus guten Gründen ausgeschlossen hatten. Es ist mithin nicht angängig, von einer arithmetischen Mehrheit auf eine politische zu schließen. Die Annahme, nach den Bundestagswahlen werde in den Ländern, in denen es arithmetisch möglich ist, eine rot-rote bzw. rot-rot-grüne Koalition zustandekommen, erwies sich als voreilig. Bemerkenswert sind die neuen Koalitionskonstellationen nach den letzten Landtagswahlen. Offenbar spielten bundes- und landespolitische Motive ebenso eine Rolle wie personelle. In drei Ländern reichte es weder für Schwarz-Gelb noch für Rot-Grün. In Brandenburg kam es dort zur ersten rot-roten Koalition. Matthias Platzeck, der einstige Bürgerrechtler, ging ein Bündnis mit der Linken ein, obwohl die rot-schwarze Regierung im Land ein Jahrzehnt recht gut funktioniert hatte. Hatte er 25 Die Möglichkeit einer (in skandinavischen Ländern funktionierenden) Minderheiten-Koalition wurde kaum erörtert, weil dafür die Voraussetzungen in der hiesigen, auf Stabilität angelegten politischen Kultur fehlen.
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Schwäche der Volksparteien bei der Bundestagswahl 2009
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angesichts knapper Mehrheiten Angst davor, bei einer Koalition der SPD mit der CDU in geheimer Abstimmung nicht wiedergewählt zu werden? Noch 1999 war Platzeck vehement gegen ein rot-rotes Bündnis zu Felde gezogen – erfolgreich. Sein Hinweis auf die Notwendigkeit des inneren Friedens ist richtig, nicht aber seine Parallele zur Zeit nach 1945 im Westen Deutschlands.26 Damals wurden nicht rechtsextremistische Parteien integriert, sondern ehemalige Mitglieder der NSDAP. In Thüringen setzte sich der SPD-Landesvorsitzende Christoph Matschie gegen beträchtliche Widerstände aus den eigenen Reihen durch und führte die SPD als Juniorpartner in eine Koalition mit der CDU. Der ehemalige Bürgerrechtler wollte selbst dann nicht mit der viel stärkeren Partei der Linken unter Bodo Ramelow regieren, als dieser bereit war, auf das Amt des Ministerpräsidenten zu verzichten. Und im Saarland war es der grüne Hubert Ulrich, der – vor die Qual der Wahl zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot gestellt – ein Bündnis mit der CDU vorzog, nicht zuletzt wegen großer Animositäten gegenüber Oskar Lafontaine, dem vor der Wahl daran gelegen war, die Grünen aus dem Parlament zu „kegeln“. Einerseits wäre es verkehrt, die erste „Jamaika“-Koalition auf Landesebene als bundespolitisches Signal anzusehen (die grüne Parteispitze lehnt ein solches Bündnis vehement ab), andererseits schlägt der bundespolitisch sich ankündigende Schwenk zu einem linken Dreierbündnis somit nicht deckungsgleich auf die Länder durch. Das war nach 1969 anders, weitgehend auch nach 1982, als zunächst Rot-Gelb, später SchwarzGelb Länder „eroberte“. Insofern ist die heutige Segmentierung weniger festgefügt.
6.
Perspektiven
Die Aufbruchstimmung nach den Regierungswechseln 1969 und 1982 (das war bereits 1998 und 2005 anders) fehlt heute weithin, der Koalition mangelt es an einem „Projekt“. Das belegt u. a. der Koalitionsvertrag nachdrücklich.27 Die Überschrift „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“ besteht aus drei Worten, die keine übergreifende Idee verbindet. Offenkundig sind die Interessen der Parteien nicht klar auf einen Nenner zu bringen. Das ist kaum verwunderlich bei einer teils sozialdemokratisierten Union und einer auf einschneidende Reformen drängenden FDP. Die Erwartungen gegenüber dem Regierungslager sind groß, angesichts leerer Kassen freilich kaum erfüllbar. Die Oppositionsparteien wollen über den Bundesrat der Regierung ihr Geschäft erschweren. Der partielle Rückzug von Oskar Lafontaine, der als Oppositionsführer die letzte Kohl-Regierung über den Bundesrat weithin lahmgelegt hatte, in das Saarland als dortiger Fraktionsvorsitzender (und weiterhin Parteivorsitzender im Bund) ist ein
26 Vgl. Matthias Platzeck, Versöhnung ernst nehmen. Warum unser Land endlich inneren Frieden braucht, in: Der Spiegel v. 2. November 2009, 72 f.; siehe die Antwort von Richard Schröder, Versöhnung – mit wem? Warum die Linke nicht ausgegrenzt ist, in: Der Spiegel v. 9. November 2009, S. 32 f. 27 Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP. 17. Legislaturperiode, Berlin 2009.
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Signal an die SPD, eine solche Linkskoalition ins Auge zu fassen. Der bisher im Bund gewahrte antiextremistische Konsens bliebe damit auf der Strecke. Die Probe aufs Exempel folgt am 9. Mai 2010 bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl. SPD und Liberale scheinen ein Bündnis mit der Linken nicht auszuschließen. Sollte die Union die Koalition mit der FDP nicht fortsetzen können, wäre die Mehrheit im Bundesrat verloren. Die neue Koalition ist in einem Dilemma: Einerseits muss sie angesichts dieser Konstellation anfangs einige der notwendigen Maßnahmen schnell auf den Weg bringen, andererseits fürchtet sie, einen Teil ihrer Wählerschaft vor den Kopf zu stoßen und warnt vor einem sozialen „Kahlschlag“ (Jürgen Rüttgers). Bei der nächsten Bundestagswahl stünden den beiden „bürgerlichen“ Parteien die drei anderen gegenüber. Eine Große Koalition bliebe so ausgeschlossen. Für den Wahlausgang spielt gemeinhin die Leistung der Regierung eine wichtige Rolle. Bekanntlich wird eher die Regierung abgewählt, nicht die Opposition gewählt. 2013 könnte die Wahl aber durch die als abschreckend empfundene Alternative der Oppositionsparteien entschieden werden. Werner Kaltefleiter hat nach der Bundestagswahl 1994 in dieser Zeitschrift neben manchen Irrtümern (die PDS werde bei der nächsten Bundestag nicht mehr im Bundestag vertreten sein) zwei richtige Vorhersagen getroffen: Gemäß den Strukturmerkmalen der parlamentarischen Demokratie werde der Kanzler wieder antreten, jedoch nicht sein Gegenkandidat.28 Dieser Sachverhalt dürfte für die nächste Bundestagswahl ebenso gelten. Nicht bloß deshalb, weil eine kleine Koalition noch niemals nach nur einer Legislaturperiode abgewählt wurde, sondern auch deshalb, weil die SPD in einer verzweifelten Situation ist, spricht vieles für die Fortsetzung der „bürgerlichen“ Koalition.
28 Vgl. Werner Kaltefleiter, Strukturmerkmale des deutschen Parteiensystems nach den Wahlen von 1994, in: Zeitschrift für Politik 42 (1995), S. 20, S. 25.
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Nach allen Seiten offen? Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und mögliche Folgen für das Parteiensystem und das Koalitionsgefüge Die Bundestagswahl 2013 stellte keine politische Partei zufrieden. Die „bürgerlichen Parteien“ (Union, FDP, AfD) erhöhten ihren Stimmenanteil, verringerten aber ihren Mandatsanteil (durch das Scheitern der FDP an der Fünfprozentklausel). Bei den drei linken Parteien (SPD, Grüne, Linke) war es umgekehrt. Auch wenn die beiden Volksparteien Stimmen gewonnen haben, bestehen Krisensymptome fort. Bei der nächsten Bundestagswahl dürften lagerexterne Koalitionsoptionen nicht (mehr) ausgeschlossen werden. Eine Modifizierung wahlrechtlicher Spezifika (Zweistimmensystem, Fünfprozentklausel, Kompensation von Überhangmandaten durch übermäßig viele Ausgleichsmandate) ist im Interesse einer besseren Transparenz ein Gebot der Notwendigkeit. Welche Konsequenzen hat das Offenhalten von Koalitionsoptionen bis nach der Wahl? Wird der Wähler dadurch entmachtet?
1.
Nova, Paradoxien, Verkehrungen
War die Bundestagswahl 2009 reich mit Superlativen gesegnet (u. a. schlechtestes Resultat für die beiden Volksparteien mit zusammen nur 56,8 Prozent der Stimmen) und Paradoxien (die Union verlor zwar Stimmen, konnte aber ihre „Wunschkoalition“ mit den Liberalen bilden)1, so traf das diesmal erst recht zu. Zu den Nova: Zum ersten Mal wurde die FDP aus dem Bundestag herausgewählt – nach einem Rekordergebnis bei der Wahl zuvor. Zum ersten Mal avancierten die Postkommunisten zur drittstärksten Kraft. Und zum ersten Mal wurde eine kleine Koalition nach der Bundestagswahl nicht bestätigt. Zu den Paradoxien: Die Union steigerte sich um 7,7 Punkte, doch wäre bei einem etwas schlechteren Ergebnis – unter der Voraussetzung, die FDP hätte 0,2 Prozentpunkte mehr erhalten – die Fortsetzung der Koalition möglich gewesen. Die drei „bürgerlichen“ Parteien (unter Einschluss der Alternative für Deutschland2) erhöhten ihren Stimmenanteil, verringerten aber ihren Mandatsanteil. Bei den drei „Linksparteien“3 (also unter Einschluss der Partei Die Linke) fiel der Befund umgekehrt aus. Aus der „bürgerlichen“ Stimmenmehrheit erwuchs eine „linke“ Mandatsmehrheit.
1 2 3
Vgl. Eckhard Jesse, Der glanzlose Sieg der ‚Bürgerlichen‘ und die Schwäche der Volksparteien bei der Bundestagswahl 2009, in: Zeitschrift für Politik 56 (2009), S. 397–408. Diese Partei ist zwar dezidiert „bürgerlich“, aber erstens lehnten Union und Liberale eine Koalition mit ihr ab, und zweitens setzt sich ihr Elektorat auch aus ehemaligen Wählern linker Parteien zusammen. Die Linke ist zwar klar eine linke Partei, kann jedoch keineswegs mit der SPD und den Grünen zu einem „Lager“ gerechnet werden – nicht zuletzt wegen der Ablehnung der SPD, mit ihr auf Bundesebene eine Koalition einzugehen.
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Zu den Verkehrungen: Hatten 2009 die beiden Volksparteien jeweils verloren (zusammen 12,6 Punkte) und die anderen drei Parteien jeweils gewonnen (zusammen 10,6 Punkte), so trat 2013 eine Umkehrung ein: Die Volksparteien gewannen (zusammen 10,4 Punkte), die drei anderen verloren (zusammen 15,4 Punkte). Fielen die Verluste der Volksparteien 2009 höher aus als die Gewinne der „Anderen“, schlugen 2013 die Gewinne der Volksparteien schwächer zu Buche als die Verluste der „Anderen“. Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Koalitionsdemokratie, in der Parteien vor den Wahlen Bündnispräferenzen zu erkennen geben.4 Nach jeder Bundestagswahl wurde eine Koalition gebildet, selbst im Jahre 1957, als die Union eine absolute Mehrheit der Stimmen erreicht hatte.5 Mit einer Alleinregierung hatte vor dem 22. September 2013 wohl niemand gerechnet: Dabei verfehlte die Union die absolute Mehrheit der Mandate nur hauchdünn. Die Koalitionsstrategien der Parteien spielten daher im Wahlkampf eine beträchtliche Rolle. Das eine Lager setzte auf Schwarz-Gelb, das andere auf Rot-Grün. Warum kam es zu keiner Auffächerung der Koalitionsoptionen (Kapitel 2)? Das Wahlergebnis, das ein herkömmliches Bündnis ausschloss, stellte aus unterschiedlichen Gründen keine Partei zufrieden. Warum war nach der Wahl der Katzenjammer bei den Parteien so groß (Kapitel 3)? Anders als 2005 und 2009 konnten die beiden Volksparteien ihren Stimmenanteil erhöhen. Ist damit die vielbeschworene Krise der Volksparteien überwunden (Kapitel 4)? Nach der Wahl wurden drei wahlrechtliche Eigentümlichkeiten nur wenig beachtet. Inwiefern haben das Zweitstimmensystem, die Fünfprozentklausel und die Kompensation von Überhangmandaten durch Ausgleichsmandate das Wahlergebnis beeinflusst – welche Reformen erscheinen als unumgänglich (Kapitel 5)? Die mittel- und langfristigen Folgen der Bundestagswahl 2013, deren Ausgang schon wegen des Ausscheidens der FDP aus dem Parlament wohl das Prädikat „historisch“ verdient, dürften schwer vorhersehbar sein. Welche Konsequenzen für das Parteiensystem und für das Koalitionsgefüge sind wahrscheinlich (Kapitel 6)? Der Beitrag zielt damit weniger auf die Erklärung des Wahlverhaltens, vielmehr auf die Konsequenzen des Wahlausgangs für die Parteien. Wer die Rolle wahlrechtlicher Besonderheiten für das Abschneiden der Parteien untersucht, will das Augenmerk auf ein oft vernachlässigtes Thema lenken.
4
5
Vgl. Thomas Schubert, Vorstufe der Koalitionsbildung oder strategisch-taktische Wahlkampfinstrumente? Koalitionsaussagen vor Bundestagswahlen; Patrick Horst, Regierungsbildung als Erfolgsgeschichte? Eine empirische Analyse der deutschen Koalitionsdemokratie, jeweils in: Frank Decker/Eckhard Jesse (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013. Parteiensystem und Regierungsbildung im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2013, S. 97–113, S. 161–192. Lediglich 1960/61 war es (wegen des Übertritts der DP-Minister zur CDU) zu einer Alleinregierung der Union gekommen.
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Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und mögliche Folgen
2.
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Koalitionsstrategien der Parteien im Wahlkampf
Im unmittelbaren Vorfeld der Bundestagswahl (nicht schon ein Jahr vor der Wahl) galt eine rot-grüne Koalition arithmetisch, eine rot-rot-grüne hingegen politisch zunehmend als unrealistisch. Demgegenüber gab es drei realistische Varianten (jeweils mit Angela Merkel als Kanzlerin): ein schwarz-gelbes Bündnis, ein schwarz-rotes, ein schwarz-grünes. Was politisch gewünscht war, schien arithmetisch nicht möglich zu sein; und was arithmetisch möglich war, schien politisch nicht gewünscht zu sein.6 Die einzige Ausnahme: die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition. Zwischen 2010 bis 2012 war diese Variante für unrealistisch gehalten worden, doch in den Monaten vor der Bundestagswahl stiegen die Umfragewerte – deutlich – mehr bei der Union, weniger bei der FDP. Die Art der Koalitionsbildung, gleichsam eine „Wahl“ nach der Wahl, stand wegen der Unübersichtlichkeit des Parteiensystems7 nicht fest. Noch 2012 hatte es nach dem Einzug der Piratenpartei in die Landesparlamente des Saarlandes, von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein sowie zuvor in das Abgeordnetenhaus von Berlin so ausgesehen, als könne diese Partei die Erfolge bei der Bundestagswahl auf niedrigerem Niveau wiederholen.8 Die Koalitionsstrategien fielen dementsprechend unterschiedlich aus.9 Die Union, die sich im Wahlkampf auf die Popularität der gleichsam als „überparteilich“ präsentierten (und sich präsentierenden) Kanzlerin Angela Merkel stützte, setzte auf eine Fortsetzung des Bündnisses mit den Liberalen, ohne aber einen Koalitionswahlkampf zu führen. Anders als 200910 wollte sie der Opposition wenige Angriffsflächen bieten und nicht mit der vielfach als sozial „kalt“ geltenden FDP identifiziert werden. Zudem hielt sich die Union, bei der CDU und CSU (als unechte Regionalpartei) weitgehend an einem Strang zogen11, die Option einer schwarz-roten und einer schwarzgrünen Koalition offen – sie stellte diese Varianten jedoch nicht heraus. Die Liberalen unter ihrem Spitzenkandidaten Rainer Brüderle hingegen wollten indirekt vom Kanzlerbonus profitieren und legten sich ohne Wenn und Aber auf ein schwarz-gelbes 6 Vgl. Eckhard Jesse, Parteien, Parteiensystem und Koalitionsgefüge vor der Bundestagswahl 2013, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 11 (2013), S. 239–262. 7 Vgl. u. a. Frank Decker, Aktuelle Entwicklungen der Parteienlandschaft, in: Der Bürger im Staat 63 (2013), S. 141–148; ders., Veränderungen des Parteiensystems und mögliche Regierungskonstellationen, in: Politische Bildung 46 (2013), Heft 1, S. 32–45. 8 Vgl. u. a. Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Piratenpartei, Wiesbaden 2013; Holger Onken/Sebastian H. Schneider, Entern, kentern oder auflaufen? Zu den Aussichten der Piratenpartei im deutschen Parteiensystem, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 43 (2012), S. 609–625. 9 Vgl. Thomas Schubert, Politikfloskeln oder Bündnissignale? Koalitionsaussagen vor der Bundestagswahl 2013 zwischen Wahlkampfstrategie und Bündnispolitik, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2013. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, Baden-Baden 2014, S. 75–93. 10 Das ist insofern paradox, als 2009 die Union in einer Regierung mit der SPD und 2013 in einer Regierung mit der FDP war. 11 Vgl. Gerhard Hirscher, Tatsächliche Union oder Quasi-Zweierkoalition? Das Bündnis von CDU und CSU, in: Frank Decker/Eckhard Jesse (Anm. 4), S. 419–436.
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Bündnis fest. Wie 2005 und 2009 wurde in einem Wahlaufruf eine „Ampel“ rigoros abgelehnt, ja eigens ausgeschlossen. Nur so ergab ihre massive Zweitstimmenkampagne,12 zumal kurz vor der Wahl, einen Sinn. Die FDP warnte stärker vor den Gefahren eines rot-rot-grünen Bündnisses als die Union, um auf diese Weise ihre Unentbehrlichkeit für eine „bürgerliche“ Regierung zu untermauern. Beide Parteien grenzten sich ihrerseits von der euroskeptischen Alternative für Deutschland in der Endphase des Wahlkampfes strikt ab, während diese mit Bernd Lucke sich ein Bündnis durchaus vorstellen konnte, zumindest als Tolerierungspartner. Die Koalitionssignale waren mithin asymmetrischer Natur. Das galt in modifizierter Weise auch für die andere Seite des politischen Spektrums. SPD und Grüne strebten wie 2009 eine Koalition an. Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel war auf dem Parteitag der Grünen ostentativ aufgetreten, Claudia Roth, die Chefin der Grünen, auf dem der SPD. Der Schulterschluss lockerte sich im Wahlkampf jedoch: anfangs durch die Grünen, die sich, anders als die Sozialdemokraten, in einem elektoralen Hoch wähnten, zuletzt durch diese, die nicht vom sich andeutenden „Einbruch“ der Grünen in Mitleidenschaft gezogen werden wollten. Im Gegensatz zu 2009 machte die SPD der FDP keine Avancen. Die Grünen, die die Liberalen ohnehin mit Häme und Spott bedachten, konnten sie schon deswegen nicht in eine Koalitionsoption einbeziehen. Der sozialdemokratische Spitzenkandidat Peer Steinbrück schloss für sich einen Eintritt in eine Große Koalition aus, die Partei jedoch nicht, ohne deswegen diese Variante nach vorne zu rücken.13 Beide Oppositionskräfte propagierten bis zum Wahltag, wenngleich abgeschwächt, ein rot-grünes Bündnis, obwohl nach allen Umfragen ein solches Bündnis ohne realistische Chance war. Die Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt, der im Vorfeld des Wahlkampfes eine gewisse Neigung für Schwarz-Grün nachgesagt worden war, unterschied sich in diesem Punkt nicht von Jürgen Trittin, dem anderen Spitzenkandidaten. Es gab einen wichtigen Unterschied zwischen der SPD und den Grünen. Während die Sozialdemokratie eine Koalition mit der Partei Die Linke vehement ausgeschlossen hatte14 (wie bisher immer bei Bundestagswahlen), traf das nicht für die Grünen zu. Sie optierten deswegen freilich nicht für ein Bündnis mit der Linken. Gleiches galt für eine mögliche Koalition mit der Union. Die Partei hielt sich demnach mehr als ein Hintertürchen offen. Die Partei Die Linke, nach ihrem sensationellen Erfolg bei der Bundestagswahl 2009 (11,9 Prozent) in eine schwere Krise geraten, attackierte unter ihrem Spitzenkandidaten Gregor Gysi einerseits nicht nur die „bürgerliche“ Koalition, sondern auch
12 Vgl. etwa: Reiner Burger, Haste mal ne Zweitstimme?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18. September 2013. 13 Vgl. Günter Bannas, SPD will große Koalition nur ohne Angela Merkel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5. August 2013. 14 Die SPD brachte dabei nicht die extremistischen Züge der Partei Die Linke zur Sprache. Diese sei – hieß es – im Osten koalitionsfähig, nicht jedoch im Westen.
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den Anpassungskurs von Rot-Grün, propagierte andererseits aber ein Bündnis mit den beiden anderen Oppositionsparteien: Tatsächlich ging es ihr darum, die SPD als koalitionsunwillig „vorzuführen“. Das kam für die Partei einer Quadratur des Kreises gleich. Die Linke durfte sich nicht bloß auf die Regierung „einschießen“, weil die SPD und die Grünen diese ebenfalls abzulösen gedachten. Eine Tolerierung von Rot-Grün schloss die Partei aus. Das Koalitionsszenario vor der Wahl war in einem wesentlichen Punkt anders als 2009. Hätte es seinerzeit arithmetisch nicht für ein schwarz-gelbes oder für ein rotgrünes Bündnis gereicht, gab es nur die Alternative einer Großen Koalition (wie 2005). Diesmal hingegen bestand neben einer schwarz-roten Option noch eine schwarzgrüne. Die Koalitionsaussagen hatten sich zwar nicht wesentlich verändert, wohl aber die Mehrheitsverhältnisse. Diese Konstellationen verfügten bei allen Umfragen im gesamten letzten Jahr vor der Wahl über eine Mandatsmehrheit. „Koalitionssignale spielen [...] eine wichtige Rolle für das Wahlverhalten. Die Parteien vermögen dabei, die Unsicherheit der Wähler zu reduzieren und ihnen durch die Sendung klarer Signale eine rationale Wahlentscheidung zu erleichtern.“15 Doch nicht immer muss diese Strategie aufgehen. Die Parteien vermieden nicht zuletzt deshalb eine Auffächerung der Koalitionsoptionen, weil sie fürchteten, auf diese Weise ihre Stammwähler vor den Kopf zu stoßen.
3.
Wahlausgang ohne Sieger und schwierige Koalitionsfindung
Der Wahlausgang stellte keine politische Kraft zufrieden (vgl. Tabelle 1). Die Union schnitt unter Angela Merkel, anders als 2005 und 2009, sehr gut ab. 41,5 Prozent: So viel hatte sie zuletzt 1994 unter Helmut Kohl erreicht. Durch die absolute Mehrheit der CSU eine Woche zuvor bei der bayerischen Landtagswahl hatte die Union Auftrieb erhalten, zumal die Opposition es im Wahlkampf nicht verstand, in die argumentative Offensive zu gelangen. Eine Wechselstimmung wollte sich nicht einstellen. „Mehr denn je hat der Erfolg einen Namen. Mit herausragender Leistungsbilanz und lagerübergreifender Wertschätzung schafft Angela Merkel das beste Kanzlerimage nach 1990 und ist bei erneut gestiegener Kandidatenbedeutung zentraler Erfolgsfaktor: 68% sehen in Merkel und nur 21% in der Politik der Union den Hauptgrund für das sehr gute CDU/CSU-Abschneiden.“16 60 Prozent der Wahlberechtigten wollten sie im Bundeskanzleramt sehen, Steinbrück nur 31 Prozent. Einmal mehr verwies Angela Merkel auf die eigenen Erfolge – sie mied es weithin, die politische Konkurrenz zu attackieren.
15 Vgl. Evelyn Bytzek/Thomas Gschwend/Sascha Huber/Eric Linhart/Michael F. Meffert, Koalitionssignale und ihre Wirkungen auf Wahlentscheidungen, in: Rüdiger Schmitt-Beck (Hrsg.), Wählen in Deutschland (= Sonderheft 45 der Politischen Vierteljahresschrift), Wiesbaden 2012, S. 393–418 (Zitat: S. 415). 16 Forschungsgruppe Wahlen, Bundestagswahl 22. September 2013, Mannheim 2013, S. 1.
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Allerdings kann sich der Sieg der Union als Pyrrhussieg erweisen. Diese steht ohne „bürgerlichen“ Koalitionspartner da und sieht sich im Parlament ausschließlich von drei linken Parteien umringt. Tabelle 1: Bundestagswahlergebnis 2013 für die Wahlgebiete West, einschl. BerlinWest, und Ost, einschl. Berlin-Ost (in Klammern Unterschiede nach Prozentpunkten gegenüber der Bundestagswahl 2009) Gesamt Wahlbeteiligung
71,5
Ost
West
(+0,7)
67,6
(+2,1)
72,4
(+0,2)
CDU und CSU
41,5
(+7,7)
38,5
(+8,7)
42,2
(+7,6)
CDU
34,1
(+6,8)
38,5
(+8,7)
33,2
(+6,5)
CSU
7,4
(+0,9)
-
-
9,0
(+1,1)
SPD
25,7
(+2,7)
17,9
(0,0)
27,4
(+3,3)
FDP
4,8
(–9,8)
2,7
(–7,9)
5,2
(–10,2)
B 90/Gr.
8,4
(–2,3)
5,1
(–1,7)
9,2
(–2,3)
Die Linke
8,6
(–3,3)
22,7
(–5,8)
5,6
(–2,7)
Alternative für Deutschland
4,7
(+4,7)
5,9
(+5,9)
4,5
(+4,5)
Piratenpartei
2,2
(+0,2)
2,4
(+0,5)
2,1
(+0,1)
Sonstige
4,1
(+0,1)
4,8
(+2,3)
3,8
(–0,3)
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Die FDP, geradezu „abgestraft“, verlor mehr als zwei Drittel ihrer Wähler. Ihr Ausscheiden aus dem Parlament stellt nicht nur für sie, sondern auch für das gesamte Parteiensystem eine Zäsur dar: Keine Partei war im Bund so oft an der Regierung beteiligt wie sie, keine Partei hat alle drei zentralen Fragen der bundesdeutschen Politik positiv beeinflusst: die Westpolitik Konrad Adenauers, die Ostpolitik Willy Brandts sowie die Wiedervereinigungspolitik Helmut Kohls. Die vielfach als Klientel-Partei geltende FDP stellte 2013 für die Mehrheit der Wähler keine angemessene sachliche und personelle Alternative mehr dar. Innerhalb weniger Jahre hat die Partei beim Elektorat Kredit verspielt – vornehmlich durch eigene Versäumnisse, ebenso durch Schäubles strikten Sparkurs in der Frage von Steuersenkungen. Die Forschungsgruppe Wahlen spricht von einer „nie dagewesenen Zweiklassengesellschaft im Kabinett. Während die Regierungsarbeit der Union mit 1,3 klar positiv bewertet wird, stehen die Liberalen bei minus 0,7 heftig in der Kritik.“17 Ihre Kompetenz als führende Kraft bei zentralen Fragen der Politik war kaum messbar. „Bemerkenswert ist, dass der FDP erkennbar
17 Ebd., S. 2.
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Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und mögliche Folgen
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mehr Animositäten entgegengebracht werden als der AfD: 42 Prozent begrüßen das Scheitern der FDP ausdrücklich, nur 29 Prozent das der AfD.“18 Die Oppositionsrolle hatte sich für die drei linken Parteien nicht ausgezahlt: Die SPD legte gegenüber ihrem in der Geschichte der Bundesrepublik schwächsten Ergebnis von 23,0 Prozent im Jahr 2009 lediglich um 2,7 Punkte zu. Und Peer Steinbrück, dem im Wahlkampf anfangs eine Reihe von Pannen unterlaufen war, lag als Spitzenkandidat in fast allen Kompetenzwerten (nicht bei der „sozialen Gerechtigkeit“) deutlich hinter Angela Merkel.19 Sein „Kompetenzteam“ wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und fiel seinerseits durch Pannen auf. Die Partei vermochte die meisten Wähler nicht von ihrer eher schlechten Einschätzung der ökonomischen Lage zu überzeugen. Brillieren konnte sie bei der „sozialen Gerechtigkeit“ (hier rangierte sie vor der Union) sowie bei den Themenfeldern Familie, Steuern und Rente (jeweils knapp hinter der Union).20 Bündnis 90/Die Grünen musste sogar Verluste in Höhe von 2,3 Punkten hinnehmen. Dabei lag die Partei vor dem Wahlkampf in allen Umfragen deutlich im zweistelligen Bereich. Ihr Hauptfehler: Sie setzte nicht in erster Linie auf ihre Kernkompetenz, die Ökologie (35 Prozent der Wähler schrieben ihr beim Thema Energie die größte Leistungsfähigkeit zu)21, sondern vor allem auf Steuerpolitik, forderte rigide Steuererhöhungen. Damit „wilderte“ sie im Milieu der SPD und in dem der Partei Die Linke. So ließ sich schwerlich das rot-grüne Wählerpotential erhöhen. Die Linke ist zwar nun die „dritte Kraft“ im Parlament, aber mit einem Verlust von 3,3 Prozentpunkten verlor sie mehr als jeden vierten Wähler. Sie liegt sogar knapp hinter ihrem Ergebnis von 2005. Die Vereinigung zwischen der (vornehmlich ostdeutschen) Linkspartei und der (vornehmlichen westdeutschen) WASG22 führte zu einer Reihe von Friktionen, die sich 2011 und 2012 in schwachen Wahlresultaten im Westen Deutschlands niederschlugen. Zehn Prozent der Wähler räumten ihr die höchste Kompetenz beim Thema „soziale Gerechtigkeit“ ein.23 Ein Blick auf das von infratest dimap ermittelte „Wählerstromkonto“ der Parteien24 relativiert die These von der Lagerbildung der Wähler beträchtlich. Die Union konnte überall einen Zustrom verzeichnen. So gewann sie die Stimmen von 920.000 ehemaligen
18 Renate Köcher, Politischer Liberalismus ohne Zukunft?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. Oktober 2013. 19 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Bundestagswahl 22. September 2013 (Anm. 16), S. 1. 20 Vgl. ebd., S. 2. 21 Vgl. ebd., S. 2. 22 Vgl. Andreas Vollmer, Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative (WASG). Entstehung, Geschichte und Bilanz, Baden-Baden 2013. 23 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Bundestagswahl 22. September 2013 (Anm. 16), S. 2. Vgl. ebd., S. 2. 24 Vgl. infratest dimap, Wahlanalyse. Bundestagswahl am 22. September 2013, Berlin 2013, S. 8–23. Die folgenden Zahlen stammen aus den hier abgedruckten Tabellen.
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Parteien und Wahlen
SPD-Wählern, sie musste aber immerhin 710.000 Stimmen an die SPD abgeben. Der SPD gelang es, 580.000 Stimmen von der FDP zu erhalten (Abgänge an die Liberalen: 50.000). Die Liberalen gaben an die Grünen 190.000 Stimmen ab und gewannen von ihnen 20.000. Diese verloren an die Union 560.000 Stimmen und gewannen aus deren Reihen 140.000. Was die AfD betrifft, so erhielt sie 340.000 Stimmen von Wählern der Partei Die Linke. Das ist immerhin der zweitgrößte „Posten“. Die FDP musste 430.000 Stimmen abgeben, die Union 290.000, die SPD 180.000, Bündnis 90/Die Grünen 90.000. Unter dem Strich bedeutet dies: Die AfD bekam 720.000 Stimmen von früheren Unions- bzw. FDP-Anhängern und 610.000 von ehemaligen Wählern der drei linken Parteien. Der AfD war somit überall, nicht allein im „bürgerlichen“ Lager, Erfolg beschieden. Im Osten Deutschlands verzeichnete die AfD den größten Zustrom durch das Elektorat der Partei Die Linke. Die größte Wanderung vollzog sich – nicht überraschend – von der FDP- zur Unionswählerschaft. CDU und CSU verbuchten einen positiven Saldo von 2.110.000 Stimmen (Zugänge: 2.460.000; Abgänge: 350.000). Gleichwohl verläuft die Wählerwanderung nicht bloß innerhalb der politischen Lager. Das Wahlergebnis ermöglichte weder eine schwarz-gelbe noch eine rot-grüne Koalition. So kam nur ein lagerexternes Bündnis in Frage, da eine Minderheitenregierung im Bund – etwa aus historischen Gründen – ebenso ausschied wie eine Neuwahl. Das zuletzt genannte Szenario wäre bei allem Verdruss über das Wahlresultat ein Armutszeugnis für die Politik gewesen. Lagerexterne Bündnisse sind immer schwierig: zum einen wegen der Unzufriedenheit der eigenen Anhängerschaft, zum anderen wegen der teilweise schwer vereinbaren Positionen in der Regierungspolitik. Vor der Wahl war die Frage nach der Art der Koalition mit Blick auf office-seeking, policy-seeking, vote-seeking und identity-seeking25 unklar (entweder Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün), sollte es nicht für ein lagerinternes Bündnis reichen.26 Doch das Wahlergebnis ließ schnell erkennen, dass eine der verbleibenden Optionen sofort ausschied. Die Grünen konnten mit ihren so nicht erwarteten Verlusten schlecht aus einer Position der Schwäche eine Koalition mit der deutlich gestärkten Union eingehen. Und ein Bündnis wäre nur bei einem positiven Votum der linken Parteiströmung unter Jürgen Trittin, auch im Wahlkampf die dominierende Figur der Partei, möglich gewesen. Da diese Richtung wesentlich für das magere Abschneiden verantwortlich gewesen war, hatte sie danach „ausgespielt“, musste sie abdanken. Die zwei Sondierungsgespräche der Grünen mit der Union erfüllten diesmal eher eine Alibifunktion. 25 Vgl. hierzu Roland Sturm, Gebremster Neustart? Regierungsbildung in der Finanzkrise, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2009. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, München 2010, S. 511–527, hier S. 512. 26 Vgl. etwa die Kontroverse zwischen Eckhard Jesse („Eine neue Koalition. Warum Schwarz-Grün das wahrscheinlichere Regierungsbündnis ist“) und Frank Decker („Auf Nummer Sicher. Warum die Große Koalition das wahrscheinlichere Regierungsbündnis ist“), jeweils in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 62 (2013), S. 265–270, 271–276.
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Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und mögliche Folgen
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In dem Beschluss auf dem Berliner Parteitag im Oktober 2013 wurde zwar mehrfach die Kompromissbereitschaft der Union hervorgehoben, jedoch zugleich festgehalten: „Insbesondere zentrale Projekte, die unser Mitgliederentscheid als Regierungsprioritäten benannt hat, wären mit der CDU/CSU auf Grundlage dieser Sondierungsgespräche nicht realisierbar gewesen.“27 Tatsächlich stand vor den Sondierungsgesprächen bereits das Scheitern mehr oder weniger fest. Die Grünen konnten schwerlich erwarten, die fast fünfmal stärkere Union schwenke weithin auf ihren Kurs um. Auch der SPD fiel der Gedanke an eine Koalition mit der Union schwer, obwohl die Bevölkerung Schwarz-Rot mit 52 Prozent klar positiv bewertete (Schwarz-Grün: 26 Prozent; Rot-Rot-Grün: 19 Prozent).28 Zum einen wirkt die Erinnerung an das niederschmetternde Wahlergebnis 2009 massiv nach, zum anderen wissen die vielen SPDMinisterpräsidenten vom „Abstrafungseffekt“ einer schwarz-roten Koalition durch die Wählerschaft bei den folgenden Landtagswahlen. Gleichwohl steuerte die geschlossen auftretende SPD-Spitze nach einigen Tagen der Reserviertheit, die nur zum Teil taktisch bedingt war, auf ein schwarz-rotes Bündnis zu. Schließlich hatte die Partei in der Opposition kaum besser abgeschnitten. Der Außerordentliche Parteikonvent, das höchste Parteigremium der SPD zwischen den Parteitagen, beschloss am 27. September 2013 die Aufnahme von ergebnisoffenen Sondierungsgesprächen mit der Union. Nach drei Runden trat der Parteikonvent erneut zusammen und sprach sich auf Empfehlung der Parteispitze mit einer klaren Mehrheit (196 Ja-Stimmen, 31 Nein-Stimmen, zwei Enthaltungen) für Koalitionsverhandlungen aus. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes – wohl in Höhe von 8,50 EUR – gilt für die Partei als unverhandelbar. Die Führungsspitze bekannte sich dazu, den Koalitionsvertrag einem verbindlichen Mitgliederentscheid in Form einer Briefwahl zu unterziehen. Da auch Kritiker eines schwarz-roten Bündnisses wie die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft an den Koalitionsverhandlungen beteiligt sind, ist das Risiko, dass ein solches Votum keine Mehrheit bekommt, äußerst gering. Demokratietheoretisch ist ein derartiges Verfahren höchst problematisch. Es stellt eine Scheinpartizipation dar. Schließlich trachten die Mitglieder nicht danach, die Parteiführung zu stürzen. Das wäre bei einer Ablehnung der Fall. Insofern besteht faktisch ein Junktim zwischen einer Sach- und einer Personenfrage. Die Parteiführung will Stärke zeigen und lässt doch Schwäche erkennen. Die Einbeziehung der gesamten Mitglieder stellt das für die repräsentative Demokratie konstitutive Delegiertenprinzip in Frage. Konsequenterweise müssten die Mitglieder dann auch bei einem Scheitern der Koalitionsverhandlungen gefragt werden. Aber dieser Fall ist nicht vorgesehen. So unterscheidet sich die neue Große Koalition grundsätzlich von denen aus den Jahren 1966 und 2005. Hatte sich die SPD seinerzeit schwer damit getan, den jeweiligen 27 Bündnis 90/Die Grünen, Beschluss: Gemeinsam und solidarisch für eine starke grüne Zukunft, Bundesdelegiertenkonferenz Berlin, 18.–20. Oktober 2013, S. 6. 28 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Bundestagswahl 22. September 2013 (Anm. 16), S. 2.
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Parteien und Wahlen
Kanzler der Union zu akzeptieren, richteten sich die Vorbehalte diesmal generell gegen eine Große Koalition. Eine weitere Differenz: Gingen Auguren damals zu Recht davon aus, ein solches Bündnis werde nicht auseinanderbrechen, so ist die Unsicherheit nun weit größer, ob es bis zum regulären Ende der nächsten Legislaturperiode hält. Dieser Umstand hängt auch mit dem Katzenjammer nach der Wahl zusammen. Die Union wollte keine Koalition mit der SPD, diese keine mit der Union.
4.
Volksparteien im Aufschwung?
Die beiden Volksparteien besitzen zusammen 80 Prozent der Mandate. Das scheint ein eindrucksvolles Ergebnis zu sein. Schließlich hat die Union als stärkste Regierungspartei 7,7 Prozentpunkte hinzugewonnen, die SPD als stärkste Oppositionskraft 2,7 Punkte. Auch wenn der Abstand zwischen beiden Parteien erneut stieg (vgl. Tabelle 2): Ist mit dieser Renaissance der grassierende Abgesang auf die Volksparteien widerlegt? Die Antwort lautet: jein. Der große Mandatsanteil von Union und SPD ist mit Blick auf ihre Integrationskraft bei der Wahl relativierungsbedürftig. Erstens sind 15,7 Prozent der Stimmen nicht verwertet, zweitens die großen Parteien durch Überhang- und Ausgleichsmandate stark begünstigt worden, drittens ist die Wahlbeteiligung mit 71,5 Prozent für eine Bundestagswahl sehr niedrig. So haben nur 47,2 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung die beiden großen Parteien gewählt. Um die Extremwerte zu nennen: 1972 und 1976 lag dieser Anteil bei über 80 Prozent, 2009 unter 40 Prozent. Dies ist nach 1949 und 2009 das drittschlechteste Ergebnis (vgl. Tabelle 2). Die SPD kam mit 17,9 Prozent im Osten des Landes nicht über das Resultat von 2009 hinaus. Der prozentuale Stimmenanteil der beiden Volksparteien hat 2013 nicht den Anteil von 2005 erreicht (also vor der Großen Koalition). Auch die Landtagswahlen zwischen 2009 und 2013 zeigten in zehn von 13 Fällen für das zusammengerechnete Ergebnis der Volksparteien ein Minus, ungeachtet des „Einbruches“ der Liberalen bei den meisten Wahlen. Die gesellschaftliche Verankerung der großen Parteien ist nicht besser geworden. Im Zeitraum von 2009 bis 2012 verlor die CDU 45.000 Mitglieder (die CSU 11.000), die SPD 35.000. Das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt bei diesen Parteien, die für Jüngere offenbar nicht mehr sonderlich attraktiv sind, mittlerweile jeweils bei 59 Jahren. Die Zahl der unter Dreißigjährigen beträgt gerade einmal etwa fünf Prozent.29 Großorganisationen leiden im Zuge einer verbreiteten Individualisierung unter Mitgliederschwund.
29 Diese Daten finden sich bei Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2012, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 44 (2013), S. 365–383.
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Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und mögliche Folgen
Tabelle 2: Abschneiden der Volksparteien bei den Bundestagswahlen 1990 bis 2013, von 1990 an auch gesondert für West und Ost (in Prozent) Jahr
Wahlbeteiligung
CDU/CSU
SPD
zusammen
1949
78,5
31,0
29,2
60,2
1953
86,0
45,2
28,8
74,0
1957
87,8
50,2
31,8
82,0
1961
87,7
45,3
36,2
81,5
1965
86,8
47,6
39,3
86,9
1969
86,7
46,1
42,7
88,8
1972
91,1
44,9
45,8
90,7
1976
90,7
48,6
42,6
91,2
1980
88,6
44,5
42,9
87,4
1983
89,1
48,8
38,2
87,0
1987
84,3 [W] [O]
44,3 [W] [O]
37,0 [W] [O]
81,3 [W] [O]
1990
77,8 (78,6/74,5)
43,8 (44,3/41,8)
33,5 (35,7/24,3)
77,3 (80,0/66,1)
1994
79,0 (80,5/72,6)
41,5 (42,1/38,5)
36,4 (37,5/31,5)
77,9 (79,6/70,0)
1998
82,2 (82,8/80,0)
35,1 (37,0/27,3)
40,9 (42,3/35,1)
76,0 (79,3/62,4)
2002
79,1 (80,6/72,8)
38,5 (40,8/28,3)
38,5 (38,3/39,7)
77,0 (79,1/68,0)
2005
77,7 (78,5/74,3)
35,2 (37,4/25,3)
34,2 (35,1/30,4)
69,4 (72,5/55,7)
2009
70,8 (72,3/64,8)
33,8 (34,6/29,8)
23,0 (24,1/17,9)
56,8 (58,7/47,7)
2013
71,5 (72,5/67,6)
41,5 (42,2/38,5)
25,7 (27,4/17,9)
67,2 (69,6/56,4)
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Aber das ist nur die eine Seite. Die andere: 2009 sprach nicht nur Peter Lösche vom „Ende der Volksparteien“.30 Seine Schlussfolgerung: „Die guten alten Zeiten, in denen Stabilität und Kontinuität unser Parteiensystem charakterisierten und in denen es darauf ankam, welche von den beiden ‚Großen‘, die eine ‚Kleine‘ für eine Koalition zu gewinnen vermochte, sind endgültig vorbei.“31 Tatsächlich hätte es 2013 für die
30 Vgl. Peter Lösche, Ende der Volksparteien. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51/2009, S. 6–12. 31 Ebd., S. 6.
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Parteien und Wahlen
Koalition einer großen Partei mit einer kleinen gereicht. Weil Volksparteien unter Beibehaltung ihres „Markenkerns“, ihrer „Parteiidentität“32, sich für neue Koalitionspartner öffnen, verlieren sie nicht notwendigerweise ihre Integrationskraft.33 Das Konzept der Volkspartei mit starken Flügeln ist nicht überlebt, wiewohl sich politische Milieus auflösen. Wer etwa fordert, die Union habe christlicher, sozialer, konservativer und liberaler zu sein, widerspricht sich nicht, sondern verweist auf die Gefahr einer inneren Auszehrung. Eine Volkspartei, die nicht nur unterschiedliche Schichten zu integrieren hat, sondern auch unterschiedliche politische Positionen, muss eine hohe Integrationskraft entfalten. Wie ein Vergleich zwischen der Union auf der einen und der SPD auf der anderen Seite erhellt, hat die Union seit 1953 immer mindestens ein Drittel der Stimmen erreicht, die SPD hat dies von 1961 bis 2005, jedoch 2009 nicht einmal ein Viertel und 2013 nur ein gutes Viertel. Diese Partei steht wegen der Wählerstimmenkonkurrenz durch die Grünen und die Partei Die Linke weitaus stärker unter Druck als die Union. Insofern ist ohnehin eine Differenzierung zwischen beiden politischen Kräften angebracht. Häufig mischt sich die bärbeißige Kritik an den Volksparteien mit einem gewissen Anti-Parteien-Affekt.34 Und diesem wird Nahrung durch „Kungeleien“ der „Großen“ gegeben, z. B. dadurch, dass die beiden Volksparteien bei der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages am 22. Oktober 2013 für sich jeweils gleich zwei stellvertretende Bundestagsvizepräsidenten wählen ließen. Der Aufblähung des Parlaments folgte die Aufblähung des Präsidiums. Anhänger der Volksparteien müssen Krisensymptome zur Sprache bringen und keine Gesundbeterei betreiben, ihre Kritiker eine angemessene Alternative zu ihnen aufzeigen. Wer die deskriptive mit der präskriptiven Ebene vermengt, betreibt self-fulfilling prophecy. Und wer Momentaufnahmen verallgemeinert, begünstigt Irrtümer. Der folgenden Aussage wohnt Unbedachtheit inne: „Das Zeitalter der Volksparteien kommt zu seinem Ende, diese sind gesellschaftlich, politisch und historisch überholt.“35 Die Zukunft der Volksparteien, die sich für Reformen etwa im Bereich der Partizipation aufgeschlossen zeigen, ist vielmehr offen.
32 Vgl. Geoffrey K. Roberts, Ein Problem der Parteiidentität?, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Anm. 25), S. 305–320. 33 Vgl. Ulrich Eith, Volksparteien unter Druck. Koalitionsoptionen, Integrationsfähigkeit und Kommunikationsstrategien nach der Übergangswahl 2009, in: Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2009. Analysen der Wahl-, Parteien- und Kommunikations- und Regierungsforschung, Wiesbaden 2010, S. 117–129, hier S. 126. 34 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München 2009. 35 Peter Lösche, Ende der Volksparteien (Anm. 30), S. 6. Differenzierter Heinrich Oberreuter, Parteiensystem im Wandel. Haben die Volksparteien Zukunft?, in: Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.), Volksparteien. Erfolgsmodell für die Zukunft?, Freiburg/Brsg. 2009, S. 43–59.
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Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und mögliche Folgen
5.
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Wahlrechtliche Eigentümlichkeiten
Wer den Ausgang einer Wahl betrachtet, darf wahlrechtliche Eigentümlichkeiten nicht außer Acht lassen: das 1953 eingeführte Zweistimmensystem, die 1956 in dieser Form etablierte Fünfprozentklausel und die 2013 beschlossene Kompensation von Überhangmandaten durch Ausgleichsmandate. Diese drei Bestimmungen spielten bei der hiesigen Bundestagswahl eine entscheidende Rolle. Und in allen drei Fällen sind Reformen eine Notwendigkeit. Erstens: Das Zweistimmensystem soll dem Wähler die Möglichkeit bieten, zwischen der Wahl der Partei und der Wahl des Kandidaten zu unterscheiden (Stimmensplitting). Das Zweistimmensystem findet mittlerweile bei fast allen Landtagswahlen statt, obwohl sich der Zweistimmenmodus nicht bewährt hat. Die Erststimme vermochte niemals eine Bedeutung als „Persönlichkeitsvotum“ zu gewinnen, weil die Bürger ihre Entscheidung nicht in erster Linie von dem (ohnehin den meisten Wählern unbekannten) Wahlkreiskandidaten abhängig machen, wie die empirische Forschung zeigt. Trotzdem ist das Ausmaß des Stimmensplittings gestiegen. Die beiden großen Parteien sichern ihren Wahlkreiskandidaten in der Regel auf der Liste ab. Insofern spielt es häufig keine große Rolle, welcher Bewerber den Wahlkreis gewinnt. Ist der Kandidat der Partei A erfolgreich gewesen, zieht er als Wahlkreisabgeordneter in den Bundestag ein, während derjenige der Partei B (in der Regel) über die Landesliste in das Parlament gelangt (und umgekehrt). Die Diskrepanz zwischen Erst- und Zweitstimme war bei den meisten Bundestagswahlen nirgendwo so groß wie bei den Liberalen. So erreichte die FDP 2005 9,8 Prozent Zweitstimmen und 4,7 Prozent Erststimmen, 2009 14,6 Prozent Zweitstimmen und 9,4 Prozent Erststimmen. Bei der Bundestagswahl 2013 kam die Partei auf 4,8 Prozent der Zweitstimmen und auf 2,4 Prozent der Erststimmen (vgl. Tabelle 3). Handelt es sich um „echte“ Zweitstimmenwähler der FDP, die mit der ersten Stimme ihre Koalitionspräferenz (zugunsten der Union) zum Ausdruck bringen wollten, oder um „Leihstimmen“ von Unions-Wählern? Den Verrechnungsmodus versteht ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht36, zählt doch für die Mandatsverteilung nur die Zweitstimme. Die Kampagne der FDP zumal in der letzten Woche vor der Wahl um die Zweitstimme wurde von der Union heftig gekontert. Diese erinnerte an die Niedersachsen-Wahl im Januar 2013, einen Stimmungstest für die Bundestagswahl. Die FDP hatte mit 9,9 Prozent überraschend gut abgeschnitten, die Union mit 36,0 Prozent eher mäßig. Allerdings traf der von Teilen der Union vermittelte Eindruck nicht zu, dadurch
36 Vgl. etwa Rüdiger Schmitt-Beck, Denn sie wissen nicht, was sie tun ... Zum Verständnis des Verfahrens der Bundestagswahl bei westdeutschen und ostdeutschen Wählern, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 24 (1993), S. 393–415; Harald Schoen, Stimmensplitting bei Bundestagswahlen: eine Form taktischer Wahlentscheidung?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29 (1998), S. 223–244.
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Parteien und Wahlen
sei der Sieg für sie verspielt worden, handelte es sich doch um ein Nullsummenspiel. Was die Union verlor, gewann die FDP. Tabelle 3: Erst- und Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2013 im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 Erststimmen
Zweitstimmen
CDU und CSU
45,3
(+5,9)
41,5
(+7,7)
CDU
37,2
(+5,2)
34,1
(+6,8)
CSU
8,1
(+0,7)
7,4
(+0,9)
SPD
29,4
(+1,5)
25,7
(+2,7)
FDP
2,4
(-7,0)
4,8
(-9,8)
B 90/Gr.
7,3
(-1,9)
8,4
(-2,3)
Die Linke
8,2
(-2,9)
8,6
(-3,3)
Alternative für Deutschland
1,9
(+1,9)
4,7
(+4,7)
Piratenpartei
2,2
(+2,1)
2,2
(+0,2)
Sonstige
3,3
(+0,4)
4,1
(+0,1)
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Das herkömmliche Zweistimmensystem ist abschaffungswürdig. Die Stimme des Bürgers ließe sich hinfort doppelt berechnen – als Votum für den Kandidaten und als Votum für die Partei, wie dies im Bund 1949 galt. Die genannten Defizite schwänden, und in gewissem Umfang käme sogar das personelle Element zum Tragen. Wer einen Kandidaten wählt, obwohl er dessen Partei nicht nahesteht, hülfe auch dieser. Strategisches Wählen bliebe erhalten, aber es beruhte dann nicht auf Missverständnissen. Einer extremistischen „Phantompartei“ wie der inzwischen aufgelösten DVU, die kaum Direktkandidaten zu präsentieren vermochte, wäre der Einzug in Landesparlamente beträchtlich erschwert worden. Zweitens: Die 1949 von den Ministerpräsidenten der Länder nachträglich in das Wahlgesetz eingeführte Sperrklausel wurde 1953 und 1956 verschärft. Seit dem Jahr 1953 muss eine Partei, um Mandate zu erreichen, im gesamten Bundesgebiet fünf Prozent der Stimmen erreichen. Zuvor hatte für die parlamentarische Repräsentanz ein Stimmenanteil von mindestens fünf Prozent in einem Bundesland genügt.37 Wer ein Direktmandat gewann, war (wie bei der Bundestagswahl 1949) von der Sperrklausel 37 Allerdings war dies nicht in jedem Fall eine Verschärfung. Denn 1949 zogen Parteien nur in jenen Bundesländern in den Bundestag ein, in denen sie mehr als fünf Prozent der Stimmen erreicht hatten. So konnte die KPD mit 5,7 Prozent der Stimmen lediglich gut drei Prozent der Mandate erhalten. Hingegen profitierten die Bayernpartei (4,2 Prozent), die Deutsche Partei (4,0 Prozent), das Zentrum (3,1 Prozent), die Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung (2,9 Prozent) und die Deutsche Rechtspartei (0,8 Prozent) von der Regelung des Jahres 1949.
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Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und mögliche Folgen
ausgenommen. 1956 wurde diese Alternativklausel auf das Minimum von drei Direktmandaten verschärft. Erscheint eine solche Regelung wenig sinnvoll (schließlich ist eine „Hochburgenpartei“ nicht repräsentationswürdiger), so will die Fünfprozenthürde eine regierungsfähige Mehrheit erleichtern. Dieser Zweck leuchtet ein. Tabelle 4: Unberücksichtigt gebliebene Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 (in Prozent) 2009
2013
Piratenpartei
2,0
FDP
4,8
NPD
1,5
AfD
4,7
Tierschutzpartei
0,5
Piratenpartei
2,2
REP
0,4
NPD
1,3
ÖDP
0,3
Freie Wähler
1,0
Familienpartei
0,3
Tierschutzpartei
0,3
RRP
0,2
ÖDP
0,3
Bayernpartei
0,1
REP
0,2
DVU
0,1
Die Partei
0,2
Rentner
0,1
pro Deutschland
0,2
PBC
0,1
MLPD
0,1
BüSo
0,1
Volksabstimmung
0,1
Violetten
0,1
Bayernpartei
0,1
MLPD
0,1
Rentner
0,1
Volksabstimmung
0,1
Partei der Vernunft
0,1
Insgesamt:
6,0
Insgesamt:
15,7
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Wer für eine Partei votiert, die weniger als fünf Prozent erreicht, hat faktisch für den „Papierkorb“ gestimmt. Bei der Bundestagswahl 2013 blieben 15,7 Prozent der Stimmen unverwertet38 – knapp sieben Millionen Wahlberechtigte traten den Weg zur Wahlkabine „umsonst“ an. Die FDP scheiterte mit 4,8 Prozent an der Fünfprozenthürde, die AfD mit 4,7 Prozent (vgl. Tabelle 4). In einer parlamentarischen Demokratie sollte jedoch gerade das Wahlrecht als wichtigster Partizipationsakt so konstruiert sein, dass möglichst jede Stimme Berücksichtigung findet. Eine Möglichkeit bestünde darin,
38 Dieser Sachverhalt kam in der Öffentlichkeit vielfach zur Sprache. Vgl. etwa den Artikel von Melanie Amann/Thomas Darnstädt/Dietmar Hipp, Demokratischer Flurschaden, in: Der Spiegel v. 25. September 2013, S. 44 f.
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jedem Wähler eine Nebenstimme zu geben.39 Bekäme die Partei, für die sich der Wähler mit der Hauptstimme ausgesprochen hat, keine fünf Prozent der Stimmen, dann wäre die Partei zwar nicht im Bundestag vertreten, das Votum des Wählers schlüge aber durch. In diesem Fall zählt die Nebenstimme für eine andere präferierte Partei. Eine Verfälschung des Wählerwillens bleibt aus. Der Vorschlag besitzt weitere Vorteile. So kann der Wähler für die Partei votieren, die ihm am sympathischsten erscheint, weil kein Risiko vorliegt. Auf diese Weise kommt der viel berufene „Wählerwille“ besser zur Geltung, zumal es so nicht mehr möglich ist, dass die Stimmen für eine Partei, die knapp an der Fünfprozenthürde scheitert, verloren gehen, die Stimmen für eine Partei, die knapp die Fünfprozenthürde überwindet, hingegen zählen. Die „Strategie der Abschreckung“40 (durch Nichtwahl der präferierten Partei), die den Wähler mitunter in ein Dilemma bringt, büßte ebenso ihre Wirksamkeit ein wie die umgekehrte „Strategie der Hofierung“ (durch „Leihstimmen“ anderer Parteien). Der Vorschlag behielte die Vorteile der Fünfprozentklausel bei (vor allem: Sicherung einer regierungsfähigen Mehrheit) und vermiede deren Nachteile (vor allem: Verzerrung des „Wählerwillens“ durch Auftreten von „Papierkorbstimmen“).41 Vielleicht stiege sogar die Wahlbeteiligung, weil jeder weiß: „Meine“ Stimme kommt zum Zug. Allerdings: Die Volksparteien sehen dies anders – wohl aus Eigennutz. Drittens: Das 2013 verabschiedete Wahlgesetz ist eine Reaktion auf zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts von 2008 und von 2012.42 Das Gericht hatte zunächst das „negative Stimmgewicht“ bemängelt, später vor allem die Möglichkeit, Überhangmandate in beträchtlichem Ausmaß zu erreichen. Bis zu einer Zahl von 15 sah es diese als zulässig an. Die gebrandmarkten Parteien einigten sich auf ein höchst kompliziertes Verfahren, das Übergangmandate durch Ausgleichsmandate kompensierte, allerdings in einer Weise, die der Transparenz stark zuwiderläuft. Die Union erreichte 2013 vier Überhangmandate, doch kam es nicht zu fünf Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien, um die Proportionalität wiederherzustellen, sondern zu – sagen und schreibe – 29 Ausgleichsmandaten (vgl. Tabelle 5). Der Grund für diese Aufblähung: Die Zuteilung der Ausgleichsmandate beruht nicht auf den Überhangmandaten, sondern auf der Zuteilung nach festen Länderkontingenten und der Zahl der Wahlberechtigten wie der Zahl der verwertbaren Stimmen. Der CSU standen gemäß der bundesweiten 39 Vgl. bereits Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussionen und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1983, Düsseldorf 1985, S. 254–260. 40 So Wolfgang Hartenstein, Den Wählern auf der Spur, St. Ingbert 2002, S. 175. 41 Für den Fall, dass der Wähler auch mit seiner Nebenstimme eine Partei mit weniger als fünf Prozent präferiert, gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder bleibt seine Stimme dann unberücksichtigt (pragmatische Variante) oder (perfektionistische Variante) die Stimme fällt derjenigen Partei mit über fünf Prozent zu, die der Wähler bei seiner Reihung als Erste vermerkt hat. 42 Vgl. zusammenfassend Florian Grotz, Happy End oder endloses Drama? Die Reform des Bundestagswahlsystems, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Anm. 9), S. 113–140.
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Oberverteilung nur 53 Mandate zu, doch erhielt sie aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung und der höheren Anzahl unverwertbarer Stimmen in Bayern 56 Mandate.43 Es gibt eine dreifache Paradoxie. Erstens: Eine Partei wie die CSU, die keine Überhangmandate erzielt hatte, avancierte zum Urheber für Ausgleichsmandate an andere Parteien. Zweitens: Die CDU bekam zu ihren vier Überhangmandaten neun Ausgleichsmandate dazu. Drittens: Ausgerechnet die zahlreicheren Nichtwähler in Bayern sowie die Wähler von Parteien, die an der Fünfprozentklausel gescheitert sind, sorgen für eine Aufblähung des Deutschen Bundestages. Eine die Transparenz angemessen würdigende Reform des selbst für Experten kaum mehr begreifbaren Wahlsystems tut dringend not.44 Tabelle 5: Überhang- und Ausgleichsmandate bei der Bundestagswahl 2013 im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 2009 Überhangmandate CDU
21
2013 Überhangmandate 4
(–17) (–3)
Ausgleichsmandate 13
(–)
CSU
3
0
–
(–)
SPD
0
0
10
(–)
B 90/Gr.
0
0
2
(–)
Die Linke
0
0
4
(–)
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Der Gedanke, Überhangmandate auszugleichen, leuchtet ein. Schließlich können zufällig auftretende Überhangmandate das Verhältnis von Stimmen- und Mandatsanteil verzerren. Allerdings ist das Ausmaß an Ausgleichsmandaten, bedingt durch die komplizierte Verrechnungsprozedur, schwerlich legitimierbar. Würde der Gesetzgeber die Zahl der Wahlkreismandate auf 40 Prozent verkleinern, unterbliebe in der Regel der Gewinn von Überhangmandaten und entfiele die Notwendigkeit von Ausgleichsmandaten. Zwei Fragen sind zu beantworten: Wie wäre der Wahlausgang unter Berücksichtigung der erwähnten Reformen gewesen – und wie ohne die Reform des Wahlrechts von 2013? In dem einen wie in dem anderen Fall ist ein Gran Spekulation unvermeidlich.
43 Vgl. das Kapitel Berechnungsverfahren und Verteilung der Abgeordnetensitze nach § 6 Bundeswahlgesetz (BWG) bei der Bundestagswahl 2013, in: Der Bundeswahlleiter (Hrsg.), Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013, Heft 3, Wiesbaden 2013, S. 320–339. 44 Die Komplexität des Wahlverhaltens zeigt sich beispielsweise in der Zuweisung eines weiteren Ausgleichsmandates für die SPD nach der Bekanntgabe des endgültigen Wahlergebnisses, das nur geringfügig vom vorläufigen abwich.
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Schließlich führt ein anderes Wahlrecht zu einem anderen Ergebnis, schon deshalb, weil sich das Wahlverhalten ändert. Aber gleichwohl ist die Aussagekraft beträchtlich. Im ersten Fall hätte die Union durch das Einstimmensystem, das kleinere Parteien nicht begünstigt, und vor allem durch den Modus der Nebenstimme wohl eine klare absolute Mandatsmehrheit erreicht. So wäre die Mehrheit der FDP- und wohl auch der AfD-Wähler mit der Nebenstimme für die Union gewesen – und damit wäre die Verzerrung des vielbeschworenen Wählerwillens ausgeblieben. Im zweiten Fall hätte viel für das Zustandekommen einer schwarz-gelben Koalition gesprochen. Die Annahme, mit Hilfe des Stimmensplittings Überhangmandate zu erringen45, hätte manche Unionsanhänger zu einem Votum für die FDP veranlasst – und die Unionsspitze nicht zu einer derart schroffen Reaktion auf das Buhlen ihres Bündnispartners um Zweitstimmen. Damit wären die Liberalen in den Bundestag gelangt.
6.
Folgen für das Parteiensystem und das Koalitionsgefüge
Die Zukunft des bundesdeutschen Parteiensystems ist offen. An sich ist eine derartige Aussage eine Banalität. Doch in diesem Fall trifft der Befund wohl zu. Wer weiß schon, inwiefern es den nun gemeinsam koalierenden Volksparteien gelingt, sich wieder und weiter zu stabilisieren? Wer weiß, ob ihr Bündnis, das nicht einfach zu schmieden war, eine ganze Legislaturperiode hält? Wer weiß, ob die Partei Die Linke ihre internen, nicht nur zwischen den Ost- und Westverbänden angesiedelten Konflikte mildert? Wer weiß, ob die Grünen Konsequenzen aus ihrer gescheiterten Wahlkampfstrategie ziehen und sich „bürgerlichen“ Kräften öffnen? Wer weiß, ob sich die FDP mit ihrem designierten Vorsitzenden Christian Lindner von ihrer desaströsen Niederlage erholt, ihr Konzept der „Funktionspartei“ aufgibt und in das Bundesparlament zurückkehrt? Wer weiß, ob die Alternative für Deutschland die heterogenen Strömungen konstruktiv zu integrieren vermag und sich konsolidiert? Wer weiß, ob die Piratenpartei aus ihren Fehlern lernt und an die guten Ergebnisse aus den Landtagswahlen von 2012 anknüpfen kann? Und wer weiß, ob die Parteien bereit sind, das undurchsichtige Wahlsystem in wesentlichen Teilen zu verbessern? Alle diese Fragen sind keine rhetorischen. Ein Sachverhalt dagegen scheint sicher zu sein. Koalitionsoptionen werden künftig vor den Wahlen immer weniger ausgeschlossen. Die Grünen haben mit ihrer Eigenständigkeitsstrategie bereits den Anfang gemacht. Auf ihrem Berliner Parteitag im Oktober 2013 zogen sie die Konsequenzen aus der Tatsache, dass es zum dritten Mal hintereinander nicht für eine rot-grüne Koalition gereicht hat: „Andere Koalitionsoptionen müssen grundsätzlich möglich sein – sei es Rot-Grün-Rot oder SchwarzGrün. [...] In unserer Partei müssen wir die bestehende Blockade überwinden, damit 45 Tatsächlich resultieren viele Überhangmandate seit der deutschen Einheit weniger aus dem Stimmensplitting als aus anderen Umständen (z. B. niedrigere Wahlbeteiligung in den neuen Bundesländern bei geringem Erststimmenanteil für siegreiche Wahlkreiskandidaten).
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alle auch alle Optionen mittragen können. [...] Ob uns 2017 neue Koalitionsoptionen offen stehen, hängt jedoch nicht alleine an uns. Es hängt auch daran, ob die Union bereit ist, weitere Schritte in Richtung ökologischer und gesellschaftlicher Modernisierung, sozialer Gerechtigkeit, globaler Verantwortung und Anerkennung von Lebensrealitäten zu gehen, oder ob die Linkspartei sich ihren Konflikten – gerade in der Außen-, Finanz- und Europapolitik – stellt und 2017 nicht nur Regierungsfähigkeit vorgibt, sondern es auch ernst meint, sowie daran, ob die SPD davon abrückt, Koalitionsoptionen mit der Linkspartei auszuschließen.“46 Selbst wenn die Position der Grünen im Grunde nicht neu ist, so wurde sie doch mit einer nachwirkenden Vehemenz vorgetragen. Bündnis 90/Die Grünen dürfte hinter diese Position nicht mehr zurückfallen. Anhänger einer Koalition mit der Union haben einen Berufungstitel. Und die SPD sieht sich nach den drei Wahlen 2005, 2009 und 2013, bei denen es zweimal zwar zu einer arithmetischen, aber nicht politischen Mehrheit von Rot-Rot-Grün gereicht hatte, wohl bemüßigt, einen Kurswechsel gegenüber der Partei Die Linke einzuleiten. Das ist für sie als Partner der Union jedoch – euphemistisch formuliert – nicht ganz einfach: Ihre Glaubwürdigkeit kann auf dem Spiel stehen. Die SPD darf nicht vergessen, dass eine Einbeziehung der Partei Die Linke in eine Koalition nicht nur demokratietheoretisch problematisch ist, sondern auch strategisch riskant. Schließlich hat dies Konsequenzen für das Wahlverhalten. Wäre eine arithmetische Mehrheit für RotRot-Grün zustande gekommen, hätte die Wählerschaft vorher gewusst, dass die SPD ein Bündnis mit der Partei Die Linke nicht ausschließt? Wohl kaum? Die Sozialdemokraten hatten eine derartige Option nicht zuletzt aus taktischen Erwägungen wohlweislich verneint. Hingegen ist eine solche Öffnung für die FDP leichter zu vollziehen: zum einen, weil sie parlamentarisch nicht repräsentiert ist, zum anderen weil sie mit der SPD und den Grünen auf demokratische Partner stößt. Analoges gilt für die Grünen, die als parlamentarische Opposition mehr Flexibilität an den Tag legen können. Am Tag der Bundestagswahl fand auch die hessische Landtagswahl statt. Durch den Wiedereinzug der Partei Die Linke in das Parlament war weder eine schwarz-gelbe Koalition (wie bisher) noch eine rot-grüne möglich. Hingegen bieten sich nunmehr vier Varianten an, die nicht nur arithmetisch, sondern (jedenfalls in Hessen) auch politisch möglich sind: zwei Zweier- (Schwarz-Rot, Schwarz-Grün) und zwei Dreier-Koalitionen47 (Rot-Grün-Gelb, Rot-Grün-Rot). Die Situation ist für eine plausible Vorhersage zu verzwickt, wie die langjährigen Sondierungsgespräche belegen. In gewisser Weise könnte der Fall Hessen die künftige Entwicklung im Bund vorwegnehmen. Sie liefe auf eine Missachtung des Wählers hinaus, würde die Wahl der Parteien durch die Bürger später von der Wahl der Koalition durch die Parteien überlagert. Das wäre eine Konsequenz des „Offenseins“ aller Parteien nach (fast) allen Seiten. 46 Bündnis 90/Die Grünen (Anm. 27), S. 4. 47 Eine schwarz-grün-gelbe Koalition wäre eine „übergroße“ Koalition und scheidet in diesem Fall daher aus.
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Die Linke als dritte Kraft? Personal, Organisation, Programmatik, Koalitionsstrategien, Wahlergebnis Die Linke büßte bei der Bundestagswahl 2013 gegenüber 2009 zwar mehr als jede vierte Stimme ein, doch konnte sie, ohne jede Machtoption agierend, mit dem Ergebnis angesichts der vorherigen innerparteilichen Zwistigkeiten und der schwierigen Konstellation als Oppositionspartei neben der SPD und den Grünen zufrieden sein, zumal sie als „dritte Kraft“ zur stärksten Oppositionspartei avancierte. Dem Spitzenkandidaten Gregor Gysi kam eine integrierende Funktion zu – parteiintern wie parteiextern. Erschwert die parlamentarische Konstellation im Bund (die SPD in der Regierung) hinfort ein „Linksbündnis“? Erleichtert hingegen die parteiinterne Konstellation (nach dem bundespolitischen Rückzug Oskar Lafontaines) ein solches?
1.
Kein verheißungsvoller Verlauf nach der Bundestagswahl 2009
Die Linke hatte bei der Bundestagswahl im September 2009 mit 11,9 Prozent – zwei Jahre nach dem Zusammenschluss von Linkspartei und WASG – ein sensationelles Ergebnis erreicht, ein fünfmal besseres als die PDS bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 (2,4 Prozent). Von diesem Resultat, stark durch die Erfolge in den westlichen Bundesländern bedingt, konnte die Partei, der schon oft – und die Phrase trifft in diesem Fall zu – das Totenglöcklein geläutet worden war, 2013 nur träumen. Zwar war die Linke in allen ostdeutschen Bundesländern in den Landesparlamenten vertreten (bis auf Mecklenburg-Vorpommern jeweils als zweitstärkste Kraft, in Brandenburg gehörte sie als Juniorpartner der SPD seit 2009 sogar der Regierung an), aber sie stagnierte im Westen mit einer parlamentarischen Repräsentanz in nur vier Bundesländern (Bremen, Hamburg, Hessen und Saarland), nachdem sie 2012 aus dem nordrhein-westfälischen und schleswig-holsteinischen Landtag, 2013 aus dem niedersächsischen ausgeschieden war. Die Linke vermochte politisch offenkundig weder von der Banken- noch von der Eurokrise zu profitieren. Die Ergebnisse bei den Landtagswahlen zwischen den Bundestagswahlen 2009 und 2013 wiesen in ihrer Tendenz nach unten (vgl. Tabelle 1).1 Die erste Landtagswahl nach der Bundestagswahl (in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010), bei der die Partei – vorübergehend – in das Landesparlament gelangt war, bildete eine Ausnahme. Ihr mäßiges bis schlechtes
1
Vgl. etwa Viola Neu, Der gestoppte Aufstieg? Perspektiven der Linken, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), „Superwahljahr“ 2011 und die Folgen, Baden-Baden 2012, S. 133–151; Uwe Backes, DIE LINKE in der Zerreißprobe – Das „Superwahljahr“ 2011 und seine Folgen; Andreas M. Vollmer, Der Zerfall der Partei DIE LINKE im Westen – Die Gründe für die Erosion, jeweils in: Gerhard Hirscher/Eckhard Jesse (Hrsg.), Extremismus in Deutschland. Schwerpunkte, Vergleich, Perspektiven, Baden-Baden 2013, S. 169–187, S. 189–206.
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Abschneiden betraf die alten Bundesländer. In Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern, wo die Partei gegen CDU und SPD opponierte, verlor sie 2011 nur leicht bzw. konnte sie gar etwas zulegen. Weder in Sachsen-Anhalt, wo die Linke vor der SPD lag, noch in Mecklenburg-Vorpommern, wo die Reihenfolge umgekehrt war, machte die SPD Anstalten zur Bildung einer Koalition mit der Linken.2 In BadenWürttemberg und Rheinland-Pfalz erreichte diese bei den Landtagswahlen 2011 mit etwa drei Prozent nur die Ergebnisse der WASG 2006. Bei den letzten vier Landtagswahlen vor der Bundestagswahl (Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern) verlor die Partei überall mehr als jede zweite Stimme – die Ergebnisse zwischen 2,1 Prozent (Bayern) und 3,1 Prozent (Niedersachsen) fielen ernüchternd aus. Tabelle 1: Ergebnisse der Partei Die Linke bei den Landtagswahlen zwischen den Bundestagswahlen 2009 und 2013 im Vergleich zum vorherigen Wahlausgang (Unterschiede in Prozentpunkten) Nordrhein-Westfalen
(09.05.10)
5,6
(+4,7)
Hamburg
(20.02.11)
6,4
(0,0)
Sachsen-Anhalt
(20.03.11)
23,7
(–0,4)
Baden-Württemberg*
(27.03.11)
2,8
(–0,3)
Rheinland-Pfalz**
(27.03.11)
3,0
(+0,4)
Bremen
(22.05.11)
5,9
(–2,5)
Mecklenburg-Vorpommern
(04.09.11)
18,4
(+1,6)
Berlin
(18.09.11)
11,7
(–1,7)
Saarland
(25.03.12)
16,1
(–5,2)
Schleswig-Holstein
(06.05.12)
2,2
(–3,8)
Nordrhein-Westfalen
(13.05.12)
2,5
(–3,1)
Niedersachsen
(20.01.13)
3,1
(–4,0)
Bayern
(15.09.13)
2,1
(–2,3)
Hessen
(22.09.13)
5,2
(–0,2)
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken. * Bei der Landtagswahl 2006 erreichte die WASG 3,1 Prozent. In den amtlichen Statistiken wird dieses Ergebnis mit dem der Linken verrechnet. ** Bei der Landtagswahl 2006 erreichte die WASG 2,6 Prozent. In den amtlichen Statistiken wird dieses Ergebnis mit dem der Linken verrechnet.
2
Aus Sicht der SPD kam in Sachsen-Anhalt ein Bündnis mit der Linken nicht in Frage, da sie keinesfalls einen Ministerpräsidenten aus deren Reihen akzeptieren wollte. Obwohl in Mecklenburg-Vorpommern die Linke nur Juniorpartner gewesen wäre, blieb bei der SPD der Ruf nach einer dortigen Regierungsbeteiligung der Linken gleichwohl verhalten.
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Die Linke als dritte Kraft?
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Die Gründe für die negativen Wahlresultate der Linken nach der Bundestagswahl 2009 waren vielfältig, teils strukturell, teils situativ bedingt. Den Nachfolgern des erfolgreichen Gespanns Bisky/Lafontaine Klaus Ernst und Gesine Lötzsch gelang es nicht, die politischen wie persönlichen Querelen innerhalb der Partei beizulegen. Durch den Rückzug Lafontaines nach der Bundestagswahl 2009 verlor die Partei Rückhalt im Westen. Die überraschenden Gewinne der Piratenpartei bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen 2011 und bei den drei Landtagswahlen 2012 mit jeweils über sieben Prozent gingen auch auf Kosten der Linken. Cum grano salis gilt: Den zum Teil eher pragmatischen Landesverbänden im Osten standen Fundamentalisten im Westen gegenüber. Der erbittert geführte Streit zwischen beiden Richtungen entlud sich auf dem Göttinger Parteitag am 2./3. Juni 2012.3 Gregor Gysi machte seinem Ärger insbesondere über Oskar Lafontaine Luft. Zwar trat dieser nicht erneut für das Amt des Parteivorsitzenden an, da sein Konkurrent Dietmar Bartsch sich geweigert hatte, auf eine Kandidatur zu verzichten, doch Bartsch unterlag in einer Kampfabstimmung dem baden-württembergischen Landesvorsitzenden Bernd Riexinger, einem „Mann Lafontaines“. Nach dem turbulenten Parteitag kehrte zunehmend Ruhe in die Reihe der Postkommunisten ein, nicht zuletzt deshalb, weil die beiden neuen Vorsitzenden – neben Riexinger die Dresdnerin Katja Kipping – den Ernst der Lage erkannten und durch Protest gegen die anderen Parteien4 integrierend wirken konnten, ohne deswegen alle personellen und sachlichen Zwistigkeiten zu beenden. Das Ziel des Beitrages besteht darin, eine Erklärung dafür zu liefern, wie die Partei bei der Bundestagswahl 2013 – erstmals – im Bundestag als Fraktion den dritten Rang erreichen konnte. Lag dies eher an ihr – oder an den Schwächen der Liberalen und der Grünen? Um die Frage zu beantworten, ist eine Beschreibung wie Analyse des Personals, der Organisation, der Programmatik und der Koalitions- wie der Wahlkampfstrategie vonnöten.
2.
Personal
Auch und gerade bei einer Partei wie der Linken hängt das Abschneiden bei Wahlen stark vom jeweiligen Spitzenpersonal ab. Das Scheitern der Partei an der Fünfprozenthürde bei der Bundestagswahl 2002 mag viele – situative – Gründe gehabt haben: die strikte Absage des Bundeskanzlers Gerhard Schröder an ein militärisches Engagement im Irak; die Flutkatastrophe im Osten Deutschlands, die eine große Solidarität im ganzen Land ausgelöst hatte, wodurch die Strategie der Partei nicht verfing, den Ost-West-
3 4
Vgl. dazu Eckhard Jesse/Jürgen P. Lang, DIE LINKE – eine gescheiterte Partei?, München 2012, S. 13–18. Vgl. Viola Neu/Rudolf van Hüllen, Mobilisierung des größtmöglichen Protests, in: Die politische Meinung 57 (2012), Heft 10, S. 29–33.
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Parteien und Wahlen
Gegensatz zu kultivieren; taktische Fehler der PDS, in erster Linie die Politik des Spitzenkandidaten der Union Edmund Stoiber als „neoliberal“ aufs Korn zu nehmen und die SPD wie die Grünen eher zu schonen. Zu den Gründen für die Niederlage gehört ebenso der Rückzug Gregor Gysis vom Amt des Fraktionsvorsitzenden und der Lothar Biskys von dem des Parteivorsitzenden. Die wenig charismatischen Nachfolger Roland Claus und Gabriele Zimmer konnten weder Anhänger mitreißen noch neue Wähler mobilisieren.5 Hingegen erklärten sich die Erfolge der Partei bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 wesentlich mit dem charismatischen Doppelgespann Gysi/Lafontaine. Eine solche Doppelspitze kam 2013 wegen des Zerwürfnisses zwischen den beiden nicht mehr in Frage. Da weder der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi eine gleichberechtigte Führung im Wahlkampf mit Sahra Wagenknecht noch deren Anhängerschaft eine alleinige Spitzenkandidatur Gysis akzeptierte6, kam ein Kompromiss zustande: Ein achtköpfiges Team, dessen Mitglieder alle dem Bundestag angehörten, sollte die Politik der Partei nach außen im Wahlkampf vertreten.7 Die Landesvorsitzenden trugen die Personalvorschläge einhellig mit, im Vorstand gab es zwei Gegenstimmen und vier Enthaltungen. Am 21. Januar 2013 stellten die beiden Parteivorsitzenden dieses Team der Öffentlichkeit vor: Es bestand aus Gregor Gysi („Motor für den Politikwechsel“), Sahra Wagenknecht („Ein gerechter Weg aus der Krise“), Jan van Aken („Gewaltverzicht in den internationalen Beziehungen“), Dietmar Bartsch („Benachteiligungen im Osten abbauen, Erfahrungsvorsprung nutzen“), Klaus Ernst („Gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit“), Nicole Gohlke („Bildung ohne Grenzen und Gebühren“), Diana Golze („Soziale Sicherheit von Anfang an“) und Caren Lay („Energiewende geht nur sozial“). Gregor Gysi wurde zuerst genannt – vor Sahra Wagenknecht. Die weitere Reihenfolge war alphabetischer Natur. Gysi bezog Stellung „gegen Lohnraub, Rentenkürzungen, soziale Entrechtung und Krieg [...], ohne dabei das Werben für solidarische und machbare Alternativen zu vergessen“. Wagenknecht, für Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständig, prangerte die „entfesselten Finanzmärkte“ an und stand „für den Widerstand der LINKEN gegen eine falsche Politik der Krisenbewältigung auf dem Rücken der einfachen Leute“. Der stellvertretende Parteivorsitzende Jan van Aken vom „Forum Demokratischer Sozialismus“ warb „für ein Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr“ und machte sich für eine allseitige Friedenspolitik stark. Ungerechtigkeiten für den Osten prangerte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch an – er hob zudem „das Streiten für eine sozial gerechte Haushaltspolitik“ heraus. Der frühere WASG-Chef und 5 6 7
Vgl. Eckhard Jesse, Das Abschneiden der PDS und der Rechtsparteien bei der Bundestagswahl 2002, in: Zeitschrift für Politik 50 (2003), S. 17–36. Auch die führenden weiblichen Politiker wollten keine rein männliche Spitze. Vgl. DIE LINKE, Unser Team für soziale Gerechtigkeit, unter: http://www.die-linke.de/wahlen (17. September 2013). Die folgende Charakterisierung hinter dem Namen war der Slogan der Politiker für ihre Kernforderungen, mit dem sie in der Öffentlichkeit für sich warben. Die nachstehenden Zitate sind diesem Beitrag entnommen.
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Die Linke als dritte Kraft?
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ehemalige Vorsitzende Klaus Ernst versprach, „konkrete Vorschläge für mehr soziale Sicherheit am Arbeitsplatz und menschenwürdige Arbeitsbedingungen [zu] machen“. Für Nicole Gohlke von der fundamentalistischen „Sozialistischen Linken“ stellte „die enge Verbindung zu den studentischen Bewegungen“ einen Identitätskern der Partei dar. Die Brandenburgerin Diana Golze, Expertin für Arbeits- und Sozialpolitik, verstand sich als „Anwältin für die sozialen und politischen Rechte der jungen Generation“. Die stellvertretende Parteivorsitzende und Repräsentantin vom „Forum Demokratischer Sozialismus“ Caren Lay, der die Kompetenz für die Energiewende oblag, warb „für bezahlbare Mieten und Energiepreise“. Damit ließen sich alle politisch relevanten Strömungen der Partei einbinden: So standen den „Reformern“ Gysi und Bartsch die „Fundamentalisten“ Gohlke und Wagenknecht gegenüber. Die Partei versuchte aus der Not, sich beim Spitzenkandidaten nicht einigen zu können, eine Tugend der Gemeinsamkeit zu machen. Sie wolle, so Katja Kipping, „damit auch das Signal für einen anderen Politikstil setzen“8, doch das Unterfangen ging nicht auf. Sarkastisch spottete die linksalternative „tageszeitung“: „Gregor und die sieben Zwerge“.9 Und Lothar Bisky ließ dazu nicht weniger ironisch verlauten: „Ich finde, sie hätten elf nehmen sollen, dann könnten sie wenigstens Fußball spielen.“10 Dieses blasse, nach Geschlecht, Generationen, Region und politischer Richtung paritätisch besetzte Achterteam, das in gewisser Weise die dünne Personaldecke der Partei widerspiegelte, spielte fortan so gut wie keine Rolle. Obwohl offiziell kein Spitzenkandidat, avancierte Gysi, dessen Kraft zur Integration der eigenen Partei gut tat, im Laufe des Wahlkampfs faktisch dazu.11 Das im Februar 2013 gegen ihn eingeleitete, zunächst bedrohlich anmutende Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit einer „Stasi“-Kooperation (einmal mehr) war bald ohne große öffentliche Wirkung.12 Das Zugpferd Gysi, das eine „Doppelspitze“ mit Sahra Wagenknecht abwehren konnte, fungierte als das bundesweite „Gesicht“ der Partei. Vor allem im Osten kam der „David“ gegen den westdeutschen „Goliath“ gut an. Neben ihm wurde – etwas weniger – seine Rivalin Sahra Wagenknecht überregional plakatiert. Beide hatten nur einen gemeinsamen Auftritt im Wahlkampf, ohne dabei zusammen auf dem Podium zu stehen.13 Hingegen 8 Zitiert nach: Linkspartei geht mit Achter in die Bundestagswahl, unter: http://www.neues-deutsch land.de (21. Januar 2013). 9 Vgl. Stefan Reinecke, Gregor und die sieben Zwerge, in: die tageszeitung v. 21. Januar 2013. 10 Lothar Byski, „Ich vertraue Gysi“, in: Die Zeit v. 21. Februar 2013. 11 Vgl. u. a. Markus Deggerich, Ins Vorzimmer der Macht, in: Der Spiegel v. 26. August 2013, S. 38 f. 12 Vgl. Sven Felix Kellerhoff/Uwe Müller, Die Justiz ermittelt gegen Gregor Gysi, in: Welt am Sonntag v. 20. Februar 2013, S. 4; dies., Stasi-Vorwürfe: Druck auf Gregor Gysi wächst, in: Die Welt v. 11. Februar 2013, S. 1; Matthias Meisner/Matthias Schlegel, Schatten der Vergangenheit, in: Der Tagesspiegel v. 11. Februar 2013, S. 4; Daniel Brössler, Was wollt ihr?, in: Süddeutsche Zeitung v. 11. Februar 2013, S. 3; Jörg Eigendorf, Von „Kampagnen“ und „ollen Kamellen“, in: Die Welt v. 21. Februar 2013, S. 5. 13 Vgl. Lisa Caspari/Anne Fromm, Eine Partei – zwei Rivalen, unter: http://www.zeit.de/politik (19. September 2013).
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Parteien und Wahlen
hielt sich der 70-jährige Oskar Lafontaine aus dem Wahlgeschehen heraus (selbst im Saarland, weil die von ihm favorisierten Claudia Kohde-Kilsch, die frühere Tennisspielerin, und Yvonne Ploetz, die Bundestagsabgeordnete, nicht auf dem ersten Landeslistenplatz gelangt waren), wobei er Wahlveranstaltungen seiner Partnerin Sahra Wagenknecht – im Saarland wohnhaft, in Nordrhein-Westfalen kandidierend – mit Reden unterstützte. Das Gespann Gysi/Lafontaine war 2009 wirksamer als das „unechte“ Duo Gysi/Wagenknecht 2013.
3.
Organisation
Die Linke, aus der SED hervorgegangen, hat sich bekanntermaßen mehrfach gehäutet. Im Dezember 1989 in SED/PDS umbenannt, im Februar 1990 in „Partei des Demokratischen Sozialismus“, trug sie von Juli 2005 bis Juni 2007 den Namen „Linkspartei.PDS“. Seit der Fusion am 16. Juni 2007 mit der vor allem im Westen beheimateten WASG heißt sie „Die Linke“. Hatten die glücklosen Klaus Ernst und Gesine Lötzsch nicht an die erfolgreichen Vorsitzenden Lothar Bisky und Oskar Lafontaine herangereicht, so konnte sich die Partei unter Katja Kipping und Bernd Riexinger – wie erwähnt – nach dem turbulenten Göttinger Parteitag im Juni 2012 konsolidieren. Beide gehörten der SED ebenso nicht an wie ihre Stellvertreter Jan van Aken, Thomas Händel und Caren Lay – anders als Sahra Wagenknecht. Die einstige Wortführerin der Kommunistischen Plattform war im Mai 1989 der SED beigetreten. Durch das Zusammengehen mit der WASG radikalisierte sich die bei Wählern und bei Mitgliedern14 – im Osten stärker als im Westen – „überalterte Männerpartei“15 (2009 erhielt sie 13,3 Prozent bei den Männern und 10,6 Prozent bei den Frauen).16 Mehr als jedes dritte Mitglied in den neuen Bundesländern weist ein Alter von über 80 Jahren auf. Dort insgesamt pragmatisch-bodenständiger als in den alten auftretend, wird die Partei in einigen Bundesländern vom Verfassungsschutz beobachtet. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes von 2010 sah die Beobachtung des thüringischen Spitzenpolitikers Bodo Ramelow für rechtens an (wegen der Existenz verfassungsfeindlicher Kräfte), wogegen dieser beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde eingelegt hatte. Das Ziel der Partei: in den Verfassungsschutzberichten nicht mehr genannt zu werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Oktober 2013 erklärte anders als das Bundesverwaltungsgericht die Beobachtung Ramelows für nicht rechtens.17 Der Verfassungsschutz dürfe gemäß dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit nur Abgeordnete beobachten, die den demokratischen Verfassungsstaat aktiv und aggressiv bekämpften.
14 Vgl. Jesse/Lang (Anm. 3), S. 286–296. 15 Allerdings sind Differenzierungen bei diesem Begriff angebracht: Die „Männerpartei“ gilt vor allem für den Westen, die „Überalterung“ für den Osten. Das trifft auf Wähler wie auf Mitglieder zu. 16 Diese Daten, der repräsentativen Wahlstatistik entnommen, sind exakt. 17 Vgl. 2 BvR 2436/10.
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Der Sieg Ramelows ist vielleicht ein Pyrrhussieg. Er kann nach dieser Entscheidung, die ihm recht gibt, nun nicht den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen wie vorgesehen. Die Bundesregierung hatte erklärt, seit Ende 2012 werde auf Bundesebene nur eine Reihe „offen extremistischer Strukturen“ innerhalb der Partei beobachtet, nicht mehr die gesamte Linke. Forderte die Linke, ihre Beobachtung generell einzustellen, erklärte das Innenministerium, das Urteil verbiete im Einzelfall nicht jede Beobachtung von Abgeordneten.18 Insgesamt ist die Beobachtung einzelner Strömungen durch den Verfassungsschutz für die Partei ein Handicap. Sie hat sich dies selbst zuzuschreiben. Dass eine frühere langjährige und überaus aktive Mitarbeiterin der Hauptverwaltung der Aufklärung innerhalb der Staatssicherheit, Ruth Kampa, Gregor Gysi als Geschäftsführerin der Fraktion von den neunziger Jahren an zugearbeitet hatte und nach der Bundestagswahl 2013 zur Justiziarin der Fraktion bestellt wurde19, rief bei der Partei ebenso keine Proteste hervor wie das Engagement des neuen brandenburgischen Landtagsabgeordneten Norbert Müller für die linksextremistische Rote Hilfe.20 Die Linke kann sich dies leisten – sie gilt weithin als „normale Partei“, in den ostdeutschen Ländern mehr als in den westdeutschen. Zwar war der Zusammenschluss zwischen der Linkspartei und der „Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“ (WASG)21 am 16. Juni 2007 relativ reibungslos vollzogen worden, doch gärte es hinfort nicht nur unter der Oberfläche. Die Konflikte zwischen den stärker pragmatischen Ostverbänden und den radikalen Westverbänden flammten nach 2009 verstärkt auf, als Lafontaine, dem nicht zuletzt der Erfolg zumal im Westen zu verdanken war, sich aus der Bundespolitik zurückgezogen hatte – aus gesundheitlichen Gründen, wie es hieß. Das Paradoxe besteht nun darin, dass die einstigen SEDMitglieder eher gemäßigtere Positionen vertraten als die Mitglieder aus dem Westen. Extremistische Konzeptionen von Teilen der Partei, die diese sich als Ganzes zurechnen lassen muss, prangert kaum jemand mehr an. Umgekehrt sieht sich die Linke wirksamen Vorwürfen ausgesetzt, die so nicht stimmen, etwa die antisemitischen Ressentiments.22 Hier handelt es sich um „Antiimperialismus“, um in der Sprache der Partei zu reden.
18 Vgl. den Artikel: bib./cpm., Karlsruhe stoppt Beobachtung von Linke-Politiker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. Oktober 2013, S. 1. Siehe auch Ursula Knapp/Christian Tretbar, Kein Mandat zum Schnüffeln?, in: Der Tagesspiegel v. 10. Oktober 2013, S. 2. 19 Vgl. Matthias Meisner, Heikle Besetzung, in: Der Tagesspiegel v. 29. November 2013, S. 4. 20 Vgl. ders., „Rote Hilfe“: Ärger um Linkspolitiker, in: Der Tagesspiegel v. 28. November 2013, S. 15. Siehe dazu die als „Reformerin“ geltende Kerstin Kaiser, Rot-Rot und Rote Hilfe – Einigkeit und Differenz, in: Neues Deutschland v. 6. Dezember 2013, S. 12. Der „Verzicht auf die Extremismusthese als Staatsdoktrin“ sei notwendig. Sie kritisierte den SPD-Innenminister Ralf Holzschuher, der den Begriff „Linksextremisten“ nicht in Anführungszeichen gesetzt habe. 21 Vgl. Andreas M. Vollmer, Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative (WASG). Entstehung, Geschichte und Bilanz, Baden-Baden 2013. 22 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Israelfeindschaft zwischen Antiimperialismus und Antisemitismus – eine Analyse zu Erscheinungsformen und Motiven im deutschen Linksextremismus, in: Ulrich Dovermann (Hrsg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2011, S. 143–161.
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Die Zahl der Mitglieder war bei der PDS kontinuierlich gesunken23: von 281.000 (Ende 1990) auf 60.000 (Ende 2006), in den ersten Jahren wegen zahlreicher Austritte stärker als später. Durch den Zusammenschluss mit der WASG stieg deren Zahl Ende 2007 auf 72.000 Mitglieder, Ende 2008 auf 76.000 und Ende 2009 auf 78.000, doch setzte dann eine bis heute anhaltende rückläufige Entwicklung ein: 74.000 (2010), 69.000 (2011), 64.000 (2012) – bedingt durch eine „Bereinigung“ der Mitgliederstatistik und durch Austritte von „Glücksrittern“ wie von Desillusionierten sowie durch den „natürlichen“ Rückgang in den neuen Bundesländern. Damit hat die Partei fast den niedrigsten Stand von 2006 erreicht. In den alten Bundesländern wohnen heute nur 23.000 Mitglieder (ohne Berlin-West). Die junge Partei ist mit Blick auf die Mitglieder eine alte Partei: Durchschnittsalter 60 Jahre.24 Das schwächt nicht nur ihre Kampagnenfähigkeit. Die Organisation der Partei war 2013 schwächer als im Wahljahr 2009. Das gilt für die Größe wie für die Geschlossenheit.
4.
Programmatik
Die Linkspartei und die WASG hatten im März 2007 wohl „Programmatische Eckpunkte“ verfasst (ihnen lag eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zugrunde), doch verzichtete die Linke vor der Bundestagswahl 2009 weithin auf eine Programmdebatte, um nicht interne Konflikte zu provozieren.25 Erst im Oktober 2011 verabschiedete sie ihr erstes Grundsatzprogramm auf dem Parteitag in Erfurt. Es basierte maßgeblich auf einem von Oskar Lafontaine konzipierten Entwurf, den die Mitglieder öffentlich erörtern konnten. Das Ausbleiben von Zerwürfnissen dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass das Programm, wie bei Grundsatzprogrammen üblich, allgemein gehalten war. Gleichwohl hieß es eingangs unumwunden: „Wir wollen dazu beitragen, dass aus passivem Unmut aktive Gegenwehr wird. Wir setzen Lohndumping, Sozialraub und dem Ausverkauf öffentlichen Eigentums Widerstand entgegen. Wir wollen die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verändern und ringen um eine andere Politik. Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Internationalismus und Solidarität gehören zu unseren grundlegenden Werten. Sie sind untrennbar mit Frieden, Bewahrung der Natur und Emanzipation verbunden. Wir kämpfen für einen Systemwechsel, weil der Kapitalismus, der auf Ungleichheit, Ausbeutung, Expansion und Konkurrenz beruht, mit diesen Zielen unvereinbar ist.“26 Die Partei stehe für drei miteinander ver23 Vgl. für die folgenden – gerundeten – Zahlangaben Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2012, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 44 (2013), S. 365–383. 24 Allerdings ist das Durchschnittsalter auch bei den Mitgliedern der Volksparteien hoch: jeweils 59 Jahre (FDP: 53; Grüne: 48). 25 Diese Zurückhaltung steht in einem gewissen Gegensatz zur früheren „Programmfreudigkeit“ der PDS: 1990, 1993, 2003 wurden Grundsatzprogramme verabschiedet. 26 Programm der Partei DIE LINKE, Berlin 2011, S. 5.
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knüpfte Leitideen: gute Lebensbedingungen für alle, Unterordnung der Wirtschaft unter die solidarische Entwicklung, Überwindung der Vorherrschaft des Kapitals. Der „demokratische Sozialismus“, den die Partei im Programm propagiert27, deckt sich nicht mit dem von der SPD verfochtenen „demokratischen Sozialismus“.28 So heißt es etwa: „Demokratischer Sozialismus fördert die Entfaltung der zivilisatorischen Entwicklungspotentiale der Gesellschaft und zielt auf grundlegende Veränderungen der herrschenden Eigentums-, Verfügungs- und Machtverhältnisse. Er verbindet Protest und Widerstand, den Einsatz für soziale Verbesserungen und linke Reformprojekte unter den gegebenen Verhältnissen und die Überschreitung der Grenzen des Kapitalismus zu einem großen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung, der das 21. Jahrhundert bestimmen wird. [...] Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“29 Solche Formulierungen („herrschende Machtverhältnisse“, „Widerstand“, „Überschreitung der Grenzen des Kapitalismus“, „revolutionäre Tiefe“) stehen in einem deutlichen Gegensatz zur Programmatik der SPD. Unklar blieb, was die Linke genau unter dem abgelehnten „Kapitalismus“ und dem befürworteten „Sozialismus“ meint. Offenbar kann und will die Partei, deren Stiftung nach Rosa Luxemburg genannt ist, sich nicht zwischen „Reform“ und „Revolution“ entscheiden. Die Berufung im Programm auf Rosa Luxemburg30, der schärfsten Gegnerin des „Revisionisten“ Eduard Bernstein, ist die Berufung auf eine Person, deren Konzeption sich entgegen einem verbreiteten Mythos schwerlich mit den Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates deckt.31 Rosa Luxemburg hat weder den Eigenwert demokratischer Spielregeln noch ein pluralistisches System geschätzt, sondern die auf Massenspontaneismus fußende proletarische Diktatur gefordert. Die „Wahlstrategie der Partei DIE LINKE für das Wahljahr 2013“ vom Oktober 2012 nahm ebenso auf programmatische Überlegungen Bezug, auch wenn es hieß: 27 Vgl. etwa das Kapitel „Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert“ (ebd., S. 27–33). 28 Vgl. zu den Unterschieden Armin Pfahl-Traughber, Der „demokratische Sozialismus“ der Partei DIE LINKE. Eine Analyse aus demokratietheoretischer und ideengeschichtlicher Sicht, in: Hirscher/Jesse (Anm. 1), S. 207–220. 29 Programm der Partei DIE LINKE (Anm. 26), S. 28 f. 30 Vgl. Jürgen P. Lang, Heilige Rosa? Die Luxemburg-Rezeption in der Partei „Die Linke“, in: Deutschland Archiv 42 (2009), S. 900–909. 31 Vgl. Georg W. Strobel, Die Legende von der Rosa Luxemburg. Eine politisch-historische Betrachtung, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 28 (1992), S. 372–392; Eckhard Jesse, Demokratie oder Diktatur? Luxemburg und der Luxemburgismus, in: Uwe Backes/Stéphane Courtois (Hrsg.), „Ein Gespenst geht um in Europa“. Das Erbe kommunistischer Ideologien, Köln u. a. 2002, S. 187–212; Werner Müller, Bolschewismuskritik und Revolutionseuphorie. Das Janusgesicht der Rosa Luxemburg, in: Mike Schmeitzner (Hrsg.), Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 329–348; Armin Pfahl-Traughber, Die Berufung auf den Marxismus der Rosa Luxemburg. Zur demokratie- und extremismustheoretischen Einschätzung einer Klassikerin, in: Martin H. W. Möllers/Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2010/2011, Frankfurt a. M. 2010, S. 181–196.
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„Eine Wahlstrategie ist kein Wahlprogramm.“32 Die Partei stellte folgende fünf Punkte heraus: (1) „DIE LINKE steht für Umverteilung von oben nach unten und für eine deutliche Begrenzung und Besteuerung von Reichtum.“ (2) „DIE LINKE steht für eine neue soziale Idee.“ (3) „DIE LINKE schützt vor dem Abbau sozialer Rechte.“ (4) „Die LINKE steht für den konsequenten sozial-ökologischen Umbau.“ 5) „DIE LINKE sagt als einzige Partei immer konsequent NEIN zu Krieg.“33 Diese Schwerpunkte tauchten dann im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013 („100 Prozent sozial“) auf, das die Linke auf dem Bundestagswahlparteitag im Juni 2013 in Dresden verabschiedet hatte. Die „soziale Gerechtigkeit“ bildete das Herzstück des Programms, das wie folgt beginnt: „Soziale Gerechtigkeit ist das Programm der LINKEN. Vor der Wahl und nach der Wahl, in den Parlamenten und in Auseinandersetzungen in Betrieben, auf der Straße, in Initiativen, im Alltag: Wir wollen Armut beseitigen und Reichtum umverteilen.“34 Und der letzte Satz lautet folgerichtig: „Gerecht für alle.“35 In einer Kurzfassung wurden zehn Punkte „für eine „solidarische Politik“ genannt: flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro; monatliche Mindestsicherung von 1.050 Euro Einkommen; Anhebung des Rentenniveaus auf 53 Prozent; Angleichung der Löhne und Renten in Ostdeutschland auf westdeutsches Niveau; stärkere Besteuerung für Reiche; solidarische Gesundheitsversicherung; Förderung von Wohnungen mit Sozialbindung; Versorgung mit Strom und Wasser als Grundrecht; Kontrolle der Banken und Finanzmärkte; keine Auslandseinsätze der Bundeswehr.36 Das Wahlprogramm listete in sechs Kapiteln die Forderungen der Partei auf: „Solidarität neu erfinden: Gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ – „Die Krise überwinden. Demokratie und Sozialstaat verteidigen – hier und europaweit“ – „Friedlich und gerecht in der Welt. Nein zum Krieg“ – „Die Gesellschaft sozial, ökologisch und barrierefrei umbauen und die Wirtschaft demokratisieren“ – „Demokratische Teilhabe: für eine Demokratie, in der es etwas zu entscheiden gibt“ – „Gemeinsam das Land verändern“. Die Partei fordert einen Austritt aus der NATO, votiert immer wieder gegen die „Profitlogik“ sowie „gegen Sozialabbau und Überwachungswahn“. Hartz IV gilt, wie schon seit Jahren, als „Armut per Gesetz“. Eine antifaschistische Klausel sei im Grundgesetz zu verankern. „Es sind immer wieder Repräsentanten der ‚Mitte‘, die rassistische Ausfälle und Ressentiments gesellschaftsfähig machen.“37 Der hervorgehobene Imperativ
32 DIE LINKE, Wahlstrategie der Partei DIE LINKE für das Wahljahr 2013. Beschluss des Parteivorstandes vom 13. Oktober 2012, S. 5. 33 Ebd., S. 5 f. 34 Wahlprogramm der Partei DIE LINKE zur Bundestagswahl 2013, Berlin 2013, S. 6. 35 Ebd., S. 87. 36 Vgl. Die LINKE, 100% sozial. Damit soziale Gerechtigkeit eine Chance hat – 10 Punkte für eine solidarische Politik, Berlin 2013. 37 Wahlprogramm der Partei DIE LINKE zur Bundestagswahl 2013 (Anm. 34), S. 76.
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lautet: „Keinen Fußbreit den Nazis: Antifaschismus ist gelebte Demokratie.“38 Dazu heißt es: „Die LINKE blockiert gemeinsam in breiten Bündnissen Naziaufmärsche auf Straßen und Plätzen.“39 Einer der letzten Sätze ist so formuliert: „Unsere Politik des Widerstandes ist bunt, radikal und phantasievoll.“40 Ein Vergleich mit dem Grundsatzprogramm offenbart eine unterschiedliche Akzentsetzung. Sie bezieht sich allerdings nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form. Das Wahlprogramm ist konkreter und weniger historisch ausgerichtet als das Grundsatzprogramm. Dieser Umstand darf ebenso wenig überraschen wie das hohe Ausmaß an inhaltlicher Kontinuität. Wer zu leichter Übertreibung neigt, könnte der These zustimmen, die Linke mutiere „immer mehr zu einer Einthemenpartei“.41 Und wer zwischen den Zeilen liest und auch andere Texte heranzieht42, mag zumindest im Bereich der Europa- und Außenpolitik eine gewisse Flexibilität bei der Frage des NATO-Austritts und beim Verbot der Einmischung in kriegerische Auseinandersetzungen erkennen. Jedenfalls gilt das für solche Kräfte, die sich als „Reformer“ verstehen. Im Vergleich zu 2009, als die Linke noch kein Grundsatzprogramm verabschiedet hatte, war es für sie 2013 schwieriger, mit populistischer Programmatik zu punkten, und andererseits einfacher, Schnittmengen mit der SPD und den Gründen herauszustellen.43
5.
Koalitions- und Wahlkampfstrategie
Obwohl die SPD der Linken eigens eine klare Koalitionsabsage erteilt hatte, was eine Koalition nach der Bundestagswahl 2013 betraf, wurde diese nicht müde, der SPD Avancen zu machen – freilich unter Bedingungen: Ablehnung von Kampfeinsätzen der Bundeswehr; Verbot von Waffenexporten; Eurorettung nicht auf Kosten der sozial schwachen Schichten; Absage an prekäre Beschäftigungsverhältnisse; Abschaffung von Hartz IV; Abschaffung der Rente mit 67. Die neuen Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger waren darauf bedacht, das Verhältnis zur SPD zu verbessern, ohne deswegen von eigenen Positionen abzurücken und die „roten Linien“ aufzuheben. Bereits im Oktober 2012 hieß es in einem Papier des Parteivorstandes: „Wir nehmen zur Kenntnis, dass aus heutiger Sicht Politikwechsel und Kanzlerschaft für die SPD nur mit Hilfe der LINKEN möglich sind. [...] DIE LINKE und viele Mitglieder der SPD und der Grünen sind zu einem für die Gesellschaft so notwendigen linken Reformprojekt
38 39 40 41
Ebd. Ebd., S. 77. Ebd., S. 87. So Harald Bergsdorf, Partei „DIE LINKE“ während und nach der Bundestagswahl 2013, in: Politische Studien 64 (2013), Heft 6, S. 51. 42 Vgl. Stefan Liebich/Gerry Woop (Hrsg.), Linke Außenpolitik – Reformperspektiven, Potsdam 2013. Das Vorwort stammt von Gregor Gysi. 43 Vgl. Viola Neu, Wahlprogramm der Linken zur Bundestagswahl 2013, Berlin 2013, S. 4.
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bereit.“44 Und im Februar 2013 hatte Lothar Bisky – langjähriger PDS-Vorsitzender und erster Vorsitzender der Linken (gemeinsam mit Lafontaine), mittlerweile freilich politisch ohne Gewicht – in einem „Zeit“-Interview sogar die Wahl Peer Steinbrücks zum Kanzler in Erwägung gezogen.45 Ohne es im Wahlprogramm zu fixieren: Anders als 2005 und 2009 warb die Linke – etwa Gregor Gysi und Katja Kipping – um ein Bündnis mit der SPD und den Grünen, und zwar in dem Bewusstsein, ein solches sei nahezu ohne jede Aussicht auf Umsetzbarkeit – eine Tolerierung von Rot-Grün lehnte sie als verantwortungslos ab. Gregor Gysi beklagte die „Ausschließeritis der SPD“, womit diese „freiwillig darauf verzichtet, den Kanzler zu stellen“.46 Er habe keine Angst, dass die eigene Partei eine Koalition mit der SPD und den Grünen nicht mittrage.47 Und Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn lobte die „Kurskorrektur“48 bei der Konkurrenz. Dieser Umstand wirke sich aber noch nicht auf eine koalitionsstrategische Öffnung durch die SPD und die Grünen aus. Ein Linksbündnis propagierten vor allem „Reformer“, aber nicht nur sie. So hieß es bei Klaus Ernst, dem einst „starken Mann“ aus den Reihen der WASG: „Es ist nicht die Zeit, Möglichkeiten auszuschließen, sondern zu prüfen, ob es eine Mehrheit für eine andere Politik im Interesse der Bürger gibt.“49 Zur Minderheit gehörte die langjährige innenpolitische Sprecherin der Partei, die Repräsentantin der Antikapitalistischen Linken, Ulla Jelpke, vom nordrhein-westfälischen Landesverband. Ihrer Aussage ist eine klare Absage an eine Koalition nicht zu entnehmen, eher eine verkappte: „Die SPD gibt sich vor der Wahl sozial, wird es nach der Wahl aber nicht mehr sein. Zudem grenzt sie uns Linke konsequent aus. Entsprechend gibt es für eine solche Anbiederungspolitik an die SPD keinen Grund.“50 Die Koalitionssignale fielen asymmetrisch aus: Die Linke lehnte ein Bündnis mit der SPD nicht ab, wohl aber die SPD eines mit der Linken. Die Grünen nahmen eine Zwischenposition ein.51 Gesprächskreise mit Abgeordneten der SPD, der Grünen und der Linken suchten Gemeinsamkeiten auszuloten und zu stärken. Die Linke hatte mehrfach der SPD und den Grünen Avancen für ein Bündnis gemacht – immer unter der Voraussetzung, die SPD sei dazu bereit, etwa in der Frage der Bundeswehreinsätze 44 DIE LINKE (Anm. 32), S. 8. 45 Vgl. Bisky (Anm. 10). 46 Gregor Gysi, „Ich finde die Ausschließeritis der SPD aberwitzig“, in: Volksstimme v. 18. September 2013. 47 Ders., „Wenn es darauf ankäme, wären wir disziplinierter als die SPD“, in: Der Tagesspiegel v. 13. August 2013. 48 Matthias Höhn, „Es heißt: Merkel oder Die Linke“, in: Der Tagesspiegel v. 3. August 2013. 49 Zitiert nach Miriam Hollstein/Claudia Kade/Daniel Friedrich Sturm, Linke fordert SPD zu rot-rotgrüner Offenheit auf, in: Die Welt v. 1. Juli 2013. 50 Zitiert nach Björn Hengst, Koalitionsangebot der Linken. Vom Rambo zum Softie, unter: http:// www.spiegel.de (4. August 2013). 51 Sie hielten eine Koalition mit der Linken für unrealistisch, propagierten sie demzufolge nicht (schon deshalb, um die SPD nicht bloßzustellen), aber sie schlossen sie keineswegs aus.
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im Ausland ihre Haltung zu überdenken. Vielleicht diente die offensive Strategie dazu, die SPD als koalitionsunwillig „vorzuführen“. Diese hatte die Linke als „koalitionsunfähig“ bezeichnet. So konnte der „Schwarze Peter“ hin- und hergeschoben werden. Allerdings bekämpfte die Linke nicht nur die schwarz-gelbe Bundesregierung, sondern auch – aus ihrer Sicht konsequent – Rot-Grün als „neoliberale“ Gefahr. Bei einer Fixierung auf Schwarz-Gelb wäre ihr Alleinstellungsmerkmal verlorengegangen. Im Bundestagswahljahr 2002 hatte sie – wie erwähnt – vehement Schwarz-Gelb als Bündnis „sozialer Kälte“ denunziert und auf diese Weise indirekt einen Teil der eigenen Anhängerschaft ins rot-grüne Lager getrieben. Das wollte sie vermeiden, indem sie RotGrün Paroli bot, um ihre Unverwechselbarkeit nicht zu verlieren. Ein Dilemma für die Partei: Einerseits warf sie den anderen Parteien vor, diese übernähmen wesentliche Programmpunkte von ihr. Andererseits musste sie sich von der SPD und den Grünen deutlich absetzen. Ihr Hauptproblem war weniger der augenscheinlich zu erwartende Stimmenverlust, sondern die weiterhin fehlende Machtoption. Insofern konnte sie mit dem in den eigenen Reihen – ungeachtet aller Verstrickungen in die Machenschaften der Staatssicherheit – unumstrittenen Gregor Gysi nicht verdeutlichen, wie ihre Politik zu verwirklichen sei. Die Linke musste Interesse daran haben, ihre Salonfähigkeit unter Beweis zu stellen. Beispielsweise: Im NSU-Untersuchungsausschuss nicht auf „Krawall gebürstet“, hatte sie das Einvernehmen mit den anderen Parteien keineswegs gesprengt. An ihr wäre ein Bündnis mit der SPD und den Grünen wohl nicht gescheitert, unabhängig davon, ob die „gemäßigtere“ Kipping- oder die „radikalere“ Wagenknecht-Strömung künftig reüssiert, auch wenn von dort größere Skepsis anklingt. Übernimmt die Partei jedoch Regierungsverantwortung, wird sie anschließend „abgestraft“. Das war so in Mecklenburg-Vorpommern wie in Berlin und dürfte in Brandenburg, wo sie als Juniorpartner der SPD regiert, 2014 der Fall sein. Denn einem Teil ihrer Wählerschaft missfiel die mangelnde Umsetzung der – vollmundig verkündeten – Parolen. Insofern ist Regierungsbeteiligung für die Partei ambivalent. Auf der einen Seite wird sie aufgewertet, auf der anderen Seite beim Wort genommen. Die Diskrepanz zwischen radikaler Theorie und reformistischer Praxis schadet ihr. Das ist für die Linke eine Gratwanderung. Schließlich ist sie gezwungen, ihre Konzeption in grundlegenden Fragen zu überdenken. Der interne Streit konnte vorerst ausbleiben, weil die SPD auf Ab- und Ausgrenzung setzte. Die Probe aufs Exempel folgt bereits 2014. Am Europawahlprogramm dürften sich die Geister scheiden. Flügelkämpfe sind programmiert, etwa in der Frage der Ablehnung jeglichen Auslandseinsatzes der Bundeswehr ohne Wenn und Aber.52 Und was passiert nach den Landtagswahlen in Thüringen, wenn die Linke und die SPD alleine oder zusammen mit den Grünen eine absolute Mehrheit erreichen? Kommt dann eine Regierung unter einem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow von der Linken zustande, 52 Vgl. Markus Deggerich, Sonderweg aus Pankow, in: Der Spiegel v. 25. November 2013, S. 36 f.
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oder gibt es weiterhin eine schwarz-rote Koalition? Die Linke kann als vermutlich stärkste Kraft aus dem freilich gespaltenen linken Milieu einen Ministerpräsidenten einer anderen Partei kaum akzeptieren53, will sie nicht die Selbstachtung verlieren. Die Zeiten des Schmuddelimages sind offenkundig vorbei. Anders als 2009 erweckte die Linke 2013 den Eindruck, sie sei bereit (unter bestimmten Bedingungen) mit der SPD und den Grünen zu koalieren. Dieser Strategiewechsel hing auch mit der bundespolitisch unterschiedlichen Konstellation zusammen: Die anderen beiden Linksparteien agierten ebenfalls aus der Opposition heraus.
6.
Wahlergebnis
Die Umfragen unmittelbar vor der Wahl hatten für die Linke ein Resultat zwischen acht und zehn Prozent vorhergesagt, nachdem die Partei Monate zuvor zwischen sechs und acht Prozent gelegen hatte. Ihr Ziel: ein zweistelliges Resultat. Das Ergebnis von 8,6 Prozent lag zwar deutlich unter dem Wert von 11,9 Prozent (die Partei verlor damit 30 Prozent ihrer Wählerschaft), aber trotzdem konnte sie aus einer Reihe von Gründen zufrieden sein. Zum Ersten hatte sich der massive Abwärtstrend der letzten Jahre (in den alten Bundesländern) weniger stark niedergeschlagen. Wieder einmal zeigte sich die begrenzte Aussagekraft von Landtagswahlergebnissen für das bundesweite Votum. Die Westausdehnung der Partei ist damit nicht gescheitert. Zum Zweiten avancierte sie wegen des unerwartet schlechten Abschneidens der beiden Konkurrenzparteien (FDP und Bündnis 90/Die Grünen) – erstmals in ihrer Geschichte – zur drittstärksten Kraft auf Bundesebene. Wer hätte damit 1990 oder 2002 gerechnet? Niemand! Die Wählerwanderungsbilanz von infratest dimap zeichnet für die Partei kein günstiges Bild.54 Gewann sie von der FDP-Wählerschaft mehr Stimmen, als sie abgeben musste, so war dies sonst überall umgekehrt. Sie verlor besonders viele Stimmen an die SPD (im Saldo: 370.000), aber auch die AfD erhielt 340.000 Stimmen. Das war der zweithöchste Anteil, den diese Partei von einer anderen politischen Kraft gewonnen hatte. Die Schlussfolgerung, dieser Teil der Wählerschaft, ideologisch wenig gefestigt, sei stark von Protestmotiven geleitet, liegt nahe. Die Wählerschaft ordnete die Linke auf einer Skala von +5 bis -5 mit -1,4 schwach ein (2009: -1,5), freilich mit deutlichen Unterschieden zwischen Ost (0,0) und West (-1,7).55 Bei der Bewertung der Spitzenkandidaten lag Gregor Gysi mit 0,1 knapp vor Jürgen Trittin (-0,1) und klar vor Rainer Brüderle (-0,5).56 Nur bei dem als wichtig erachteten Thema „soziale Gerechtigkeit“ 53 Eine „politisch neutrale“ Person als Ministerpräsident ist demokratietheoretisch nicht zu rechtfertigen. Die folgende Frage zeigt die Unhaltbarkeit einer solchen Position: Für welche Partei soll diese Person das nächste Mal antreten? 54 Vgl. infratest dimap, Wahlanalyse. Bundestagswahl am 22. September 2013, Berlin 2013, S. 12. 55 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 22. September 2013, Mannheim 2013, S. 21. 56 Vgl. ebd., S. 27.
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konnte die Linke punkten, sprachen ihr doch zehn Prozent der Wähler hier die höchste Kompetenz zu.57 Die Partei schnitt bei den Arbeitern mit zwölf Prozent gut ab, ebenso bei den Gewerkschaftsmitgliedern (elf Prozent) und am besten bei den Arbeitslosen (21 Prozent).58 „Bei der Linken bestehen bei gesamtdeutscher Betrachtung keine nennenswerten Alters-, Geschlechts- oder Bildungsunterschiede.“59 Die hessischen Wähler schätzen die bundespolitische Kraft der Linken offenkundig höher ein als die landespolitische. So hatte die Partei bei der hessischen Landtagswahl am selben Tage nur 5,2 Prozent erreicht, bei der Bundestagswahl im Lande jedoch 6,0 Prozent (vgl. Tabelle 2). Die Unterschiede zwischen den Ergebnissen bei den letzten Landtagswahlen und denen bei den Bundestagswahlen fielen für die Linke noch deutlicher aus als in Hessen. Hatte die Linke 2009 in allen Bundesländern die Marke von 5,0 Prozent klar überwunden (das schlechteste Ergebnis lag in Bayern mit 6,5 Prozent), so war es ihr jetzt in immerhin 14 Bundesländern gelungen (das Land mit dem schlechtesten Ergebnis war erneut Bayern mit 3,8 Prozent; Baden-Württemberg: 4,8 Prozent), mehr als fünf Prozent zu erreichen. 2005 konnte sie lediglich in 12 Ländern über diesen Wert kommen. Trotz der Verluste: Die Linke ist keine bloße Ostpartei, auch wenn sie im Osten traditionell deutlich stärker als im Westen abschneidet (vgl. Tabelle 3). Der Vergleich zur letzten Bundestagswahl zeigt Verluste im Osten wie im Westen. Gegenüber 2009 ist die Partei weniger „westlastig“, gegenüber 2005 weniger „ostlastig“. Die Partei verlor 2013 im Osten 5,8 Punkte, im Westen 2,7. Prozentual gesehen fällt die Gewichtung anders aus: Die Verluste betragen im Osten 19,7 Prozent, im Westen 32,7 Prozent. Die Mehrheit der Wähler der Linken wohnt damit weiterhin im Westen (53,0 Prozent), allerdings nicht mehr so stark, wie das 2009 der Fall war (57,7 Prozent). Zuvor hatte der Osten das Hauptreservoir des Elektorats der Partei gebildet.60 In den Bundestag sind je 32 Abgeordnete aus den alten und den neuen Ländern eingezogen. Allerdings ist das von Miriam Hollstein zitierte Wort vom „Gleichgewicht des Schreckens“61 wenig treffend. Zum einen verlaufen die Konfliktlinien nicht nur zwischen Ost und West, zum anderen will eine Reihe von Abgeordneten wie Katja Kipping mit dem Plädoyer für einen dritten Weg sich weder der einen noch der anderen Richtung zuordnen lassen.62 57 Vgl. ebd., S. 33. 58 Vgl. ebd., S. 47 f. 59 Matthias Jung/Yvonne Schroth/Andrea Wolf, Angela Merkels Sieg in der Mitte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 48–49/2013, S. 16. Die repräsentative Wahlstatistik relativiert diese Aussage mit Blick auf Alter und Geschlecht etwas. Vgl. die Wahlanalyse von Eckhard Jesse in diesem Band. 60 Bei der Bundestagswahl 1998 hatte die PDS mit 21,6 Prozent im Osten fast den Anteil der Linken von 2013 erreicht (22,7 Prozent). Im Westen hingegen schnitt die Linke 2013 (5,6 Prozent fast fünfmal besser ab als die PDS 1998 (1,2 Prozent). 61 Zitiert nach Miriam Hollstein, Der Sturm nach der Ruhe, in: Die Welt v. 26. September 2013, S. 6. 62 Vgl. Mechthild Küpper, Frühling in Mittelerde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19. November 2013.
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Parteien und Wahlen
Tabelle 2: Ergebnisse der Partei Die Linke bei den Bundestagswahlen 2005, 2009 und 2013 in den Ländern (Zweitstimmen in Prozent) 2005
2009
2013
Baden-Württemberg
3,8
7,2
4,8
Bayern
3,4
6,5
3,8
Berlin
16,4
20,2
18,5
Brandenburg
26,6
28,5
22,4
Bremen
8,4
14,3
10,1
Hamburg
6,3
11,2
8,8
Hessen
5,3
8,5
6,0
23,7
29,0
21,5
4,3
8,6
5,0
Nordrhein-Westfalen
5,2
8,4
6,1
Rheinland-Pfalz
5,6
9,4
5,4
Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen
Saarland
18,5
21,2
10,0
Sachsen
22,8
24,5
20,0
Sachsen-Anhalt
26,6
32,4
23,9
4,6
7,9
5,2
26,1
28,8
23,4
Schleswig-Holstein Thüringen
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken
Tabelle 3: Ergebnisse der PDS, der Linkspartei und der Partei Die Linke bei den Bundestagswahlen 1990 bis 2013 (Zweitstimmen in Prozent) Gesamt
Ost
West
1990
2,4
11,1
0,3
1994
4,4
19,8
0,9
1998
5,1
21,6
1,2
2002
4,0
16,9
1,1
2005
8,7
25,3
4,9
2009
11,9
28,5
8,3
2013
8,6
22,7
5,6
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Hinter dem nahezu gleichen Resultat bei den Bundestagswahlen 2005 (8,7 Prozent) und 2013 (8,6 Prozent) verbergen sich erstaunliche regionale Unterschiede (vgl. Tabelle 3). Die Ergebnisse sind 2013 in den neuen Ländern schlechter, in den alten besser. 2005 war die Partei im Westen kaum konsolidiert. In den neuen Bundesländern gibt es keine Ausnahme, in den alten zwei: In Rheinland-Pfalz schnitt die Partei 2005 0,2 Punkte
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Die Linke als dritte Kraft?
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besser ab, im Saarland sogar 8,5 Punkte (dank des Lafontaine-Bonus, der 2013 nicht mehr wirkte). Im Vergleich zu 2009 fallen die Verluste in den alten Bundesländern überproportional hoch aus. Lafontaine fehlte „hinten und vorn“. Nach Prozenten und Prozentpunkten sind die Einbrüche am deutlichsten im Saarland. Die Linke verlor 11,2 Punkte und über 50 Prozent, schnitt damit sogar knapp schlechter als in Bremen ab. Der Hauptgrund – der Rückzug Lafontaines – ist bereits genannt. Dieser war nach dem Tod des Landesvorsitzenden Rolf Linsler im November 2013 aus Frust nicht einmal bereit, am Parteitag teilzunehmen. Dort geriet die „Aussprache zu einer Generalabrechnung mit der Ära Lafontaine“63. Die Partei erreichte durch Gregor Gysi in Berlin-Treptow-Köpenick (wie seit 1990) mit 42,2 Prozent (ein Minus von 2,6 Punkte im Vergleich zu 2009), Stefan Liebich in Berlin-Pankow (wie 2009) mit 28,3 Prozent (minus 0,5 Punkte), Gesine Lötzsch in Berlin-Lichtenberg (wie seit 1998) mit 40,4 Prozent (minus 7,1 Punkte) und Petra Pau in Berlin-Marzahn-Hellersdorf (wie seit 1998) mit 39,9 Prozent (minus 7,8 Punkte) vier Direktmandate. Damit konnte Gysi, der den größten Erststimmenanteil von allen Abgeordneten der Linken erreicht hatte, von Anfang an seinen Wahlkreis gewinnen. Bei der Bundestagswahl 2002 war er nicht angetreten.64 Im Vergleich zu den 16 Direktmandaten des Jahres 2009 ist das freilich ein Einbruch, der nicht so sehr auf überproportional hohe Verluste in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen zurückgeht, sondern auf dem allgemeinen Rückgang des Votums für die Linke fußt. Parteinahe Kommentatoren von der Rosa-Luxemburg-Stiftung sahen dies als einen „nicht völlig überraschenden, aber doch herben Wermutstropfen für die Partei“.65 Dagmar Enkelmann hatte mit 32,9 Prozent der Erststimmen zwar deutlich besser abgeschnitten als Stefan Liebich, doch konnte sie den Erfolg in ihrem Wahlkreis Märkisch Oderland – Barnim II nicht wiederholen (2009: 37,0 Prozent) – der Kandidat der CDU erhielt 34,0 Prozent. Da sie sich bewusst nicht auf der Landesliste „absichern“ ließ, schied sie aus dem Bundestag aus. Wer den Erst- und Zweitstimmenanteil der Linken bei der Bundestagswahl Land für Land vergleicht (vgl. Tabelle 4), erkennt nur einen geringfügigen Abstand zwischen der Erst- und der Zweitstimme. Da die Partei nicht als Koalitionspartner in Frage kam, konnte ihr Elektorat kein Interesse daran haben, den Kandidaten der im Westen aussichtsreichen SPD mit der Erststimme zu unterstützen. In allen neuen Bundesländern schnitt sie sogar mit der Erststimme besser ab als mit der Zweitstimme. Dort über
63 Oliver Georgi, Ohne Oskar, und was jetzt?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. November 2013. 64 Bei einer Kandidatur wäre er vermutlich der Sieger geworden. Die erste Konsequenz: drei Direktmandate für die PDS und damit Einzug der Partei in den Bundestag. Die zweite Konsequenz: keine Fortsetzung des rot-grünen Bündnisses, sondern Bildung einer Großen Koalition. Vielleicht hätte die Partei – aber das ist Spekulation – sogar Fraktionsstärke im Bundestag erreicht. 65 Horst Kahrs, Die Wahl zum 18. Deutschen Bundestags. Wahlnachtbericht und erste Analyse, Berlin 2013, S. 4.
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Parteien und Wahlen
trumpfte die Linke – bis auf Brandenburg – ihre linke Konkurrenz, die SPD. Wie die Tabelle verdeutlicht, gewinnt die Linke am meisten Stimmen in einem westdeutschen Bundesland (Nordrhein-Westfalen), dann in einem ostdeutschen (Sachsen) und schließlich in einem „gemischten“ (Berlin). Sie ist längst – es sei wiederholt – zwar keine Ostpartei mehr, aber im Osten und Westen unterschiedlich starke Kraft. Tabelle 4: Erst- und Zweitstimmenanteil der Partei Die Linke bei der Bundestagswahl 2013 in den Ländern (in absoluten Zahlen und in Prozent) Erststimmen
Zweitstimmen
absolut
in Prozent
absolut
in Prozent
Baden-Württemberg
236.251
4,2
272.456
4,8
Bayern
225.218
3,4
248.920
3,8
Berlin
333.148
18,7
330.507
18,5
Brandenburg
330.627
23,9
311.312
22,4
Bremen
28.521
8,7
33.284
10,1
Hamburg
66.995
7,5
78.296
8,8
Hessen
167.135
5,3
188.654
6,0
Mecklenburg-Vorpommern
204.479
23,6
186.871
21,5
Niedersachsen
189.645
4,3
223.935
5,0
Nordrhein-Westfalen
483.918
5,1
582.925
6,1
Rheinland-Pfalz
105.928
4,8
120.338
5,4
Saarland
48.977
8,7
56.045
10,0
Sachsen
500.300
21,5
467.045
20,0
Sachsen-Anhalt
299.032
25,4
282.319
23,9
66.183
4,1
84.177
5,2
298.821
24,3
288.615
23,4
3.585.178
8,2
3.755.699
8,6
Schleswig-Holstein Thüringen Bund
Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken.
Der dritte Platz für die Liste ist wesentlich mit dem Absturz der FDP und dem mäßigen Abschneiden der Grünen zu erklären. Die Linke, die dazu keinen Beitrag geleistet hat, verlor mit 3,3 Punkten mehr Stimmen als Bündnis 90/Die Grünen (2,3 Punkte), so dass ihr Vorsprung auf diese geschmolzen ist und nur 0,2 Punkte beträgt. Allerdings konnte die Linke ihre Verluste wegen ihrer Geschlossenheit im Wahlkampf in Grenzen halten. Sie hat aus dem Desaster auf dem Göttinger Parteitag im Juni 2012 gelernt. Nach den massiven Verlusten in den alten Bundesländern vor allem 2012/2013 nahm sich die Niederlage bei der Bundestagswahl 2013 wie ein gefühlter Sieg aus.
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Die Linke als dritte Kraft?
7.
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Verheißungsvoller Verlauf nach der Bundestagswahl 2013?
Eine Partei, die bei drei Bundestagswahlen hintereinander und bei unterschiedlichen Regierungskonstellationen (2005: Rot-Grün; 2009: Schwarz-Rot; 2013: Schwarz-Gelb) über acht Prozent der Zweitstimmen erringt und stets mindestens drei Direktmandate, ist etabliert. Nach der Bundestagswahl 2013 erneuerte die Linke ihr Koalitionsangebot an die SPD und die Grünen, obwohl sie genau wusste, dies werde nicht verfangen. Sie plädierte für einen Mitgliederentscheid über ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis, und sie schlug provozierend vor, im Bundestag mittels einer linken Mehrheit, solange noch keine Koalition gebildet ist, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes sowie die Abschaffung des Betreuungsgeldes zu beschließen. Das waren bloße taktische Finessen, denn die Partei wusste nur zu gut: Ein solches Bündnis hatte wegen des nur knappen Vorsprungs der drei linken Parteien und wegen der vorherigen Festlegung der SPD keine Aussicht realisiert zu werden. Und ein Votum im Parlament gegen den künftigen Koalitionspartner verbot sich für die SPD ohnehin, war für sie mithin keine Versuchung. Die Regierungsbeteiligung der Linken auf Bundesebene ist Zukunftsmusik. Nach der Bundestagswahl gehört sie zwar weiterhin dem Bundestag an, aber sie muss erneut auf den Oppositionsbänken Platz nehmen. Unter einer schwarz-gelben Koalition hätte sich ein „Linksbündnis“ am besten vorantreiben lassen, Schwarz-Rot erschwert dies. Durch die Regierungsbeteiligung der SPD spricht vieles für eine Steigerung des Stimmenanteils der Linken. Und da die SPD vor der nächsten Bundestagswahl – ob nun 2017 oder schon vorher – kein Bündnis mit ihr ausschließen dürfte, hat die Linke vielleicht sogar eine Machtoption in Reserve, zumal dann, wenn in einem westlichen Bundesland eine rot-grün-dunkelrote Koalition mehr recht als schlecht funktionieren sollte. Allerdings gibt es nach wie vor bei Teilen der linken Linken Vorbehalte gegenüber einer Koalition mit der SPD. So heißt es bei der Kommunistischen Plattform: „Unser politischer Weg muss darauf gerichtet sein, gute Oppositionsarbeit zu leisten, und nicht darauf, fit zu werden für eine Regierungsbeteiligung im Bund.“66 Wie das hessische Beispiel 2013 – nicht 2008 – gezeigt hat, machte die dortige Linke durch intransigentes Auftreten ein solches Bündnis zunichte. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hatte vor der Wahl zwischen einer insgesamt konstruktiven Ost-Linken und einer politikunfähigen West-Linken, die auf Lafontaine verzichten musste, einen Keil zu treiben versucht. Mit dieser Unterscheidung wurde indirekt bereits eine andere Strategie gegenüber der Linken vorbereitet, ein „Linksbündnis“ unter Einschluss der Linken – offenbar deshalb, um die eigenen Optionen zu verbreitern.
66 Zitiert nach Benjamin-Immanuel Hoff, Einige Schlussfolgerungen aus der Bundestagswahl 2013, Berlin 2013, S. 1.
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Parteien und Wahlen
Hatten die Grünen nach der Bundestagswahl im Oktober 2013 eine Öffnung der SPD gegenüber der Linken ebenso befürwortet wie eine tatsächliche, nicht nur behauptete Akzeptanz der Regierungsbeteiligung durch die Linke67, so trat die SPD nun die Flucht nach vorne an – sie zog die Konsequenz aus dem Abschneiden der linken Konkurrenz bei den letzten drei Bundestagswahlen: Sie verabschiedete auf ihrem Bundesparteitag am 14. November 2013 einen Leitantrag, der den folgenden Kernsatz enthielt: „Für die Zukunft schließen wir keine Koalition (mit Ausnahme von rechtspopulistischen oder -extremistischen Parteien) grundsätzlich aus.“68 Damit gibt die SPD – was die Bundesebene betrifft – ihre Ablehnung eines Regierungsbündnisses von SPD, Grünen und der Linken auf. Das ist für die Linke beides: Chance und Risiko gleichermaßen. Eine Chance deshalb, weil sie damit die Möglichkeit hat, auf Bundesebene mitzuregieren, Minister zu stellen und eigene Positionen durchzusetzen. Zudem wird sie damit weiter hoffähig gemacht. Ein Risiko deshalb, weil Teile der Partei aus prinzipiellen Gründen eine Regierungsbeteiligung im Grunde nicht wollen (aus der Angst heraus, dadurch verliere der Radikalismus an Kraft, mache sie sich unter Umständen überflüssig) und weil die Linke „entzaubert“ werden könnte. Die Linke hat den Wandel der SPD eher zurückhaltend kommentiert. Mit den Worten von Gregor Gysi: „Seit 1990 hatte die SPD immer nur ein Ziel: Sie wollte uns loswerden. Das ist nicht gelungen. Aber bis zum Beweis des Gegenteils ist die Öffnung für Rot-Rot-Grün erst einmal Taktik, vielleicht sogar ein vergiftetes Angebot“.69 Und Katja Kipping forderte sogleich ein „Gipfeltreffen“, das die SPD-Spitze zurückwies.70 In der Tat wohnt einer solchen Strategie ein beträchtliches Risiko inne – nicht nur für die Linke, sondern auch für Rot-Grün, ebenso für den demokratischen Verfassungsstaat. Der Stimmenanteil der drei linken Parteien, die bekanntlich kein annähernd geschlossenes „Lager“ darstellen, ist weniger groß als vielfach vermutet. 2005 erreichten sie 51,0 Prozent, 2009 45,6 Prozent, 2013 nur 42,7 Prozent.71 Tragen die Wähler der SPD und der Grünen diesen Kurswechsel nahezu geschlossen mit? Sie könnten ihren Parteien untreu werden, weil sie eine Mesalliance mit einer politischen Kraft verwerfen, die offenkundig nicht als Gralshüter des demokratischen Verfassungsstaates gilt. Und schließlich: Soll Deutschland, das mit dem antiextremistischen Konsens bisher fürwahr gut gefahren ist, diesen ohne Not aufgeben? Das liefe auf einen Konstellationswandel hinaus: weg von antiextremistischer Demokratie, hin zu antifaschistischer. Demokratietheoretisch böte sich allerdings zugleich ein Vorteil an. Ein „Linksbündnis“ begünstigte 67 Vgl. Bündnis 90/Die Grünen, Beschluss: Gemeinsam und solidarisch für eine starke grüne Zukunft. Bundesdelegiertenkonferenz Berlin, 18.–20. Oktober 2013, S. 4. 68 Beschluss: Leitantrag „Perspektiven. Zukunft. SPD!“, unter: www.spd.de (15. Mai 2015). 69 Gregor Gysi, „Wir sind bereit“, in: Der Spiegel v. 2. Dezember 2013, S. 34. 70 Vgl. Thorsten Denkler, SPD lehnt Kipping-Einladung ab, unter: http://www.sueddeutsche.de (16. November 2013). 71 Nur bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 lag der Stimmenanteil für die drei Linksparteien unter dem bei der Bundestagswahl 2013.
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Die Linke als dritte Kraft?
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eine klare Alternative und schwächte damit konkordanzdemokratische Mechanismen wie lagerübergreifende Koalitionen (Schwarz-Rot bzw. Schwarz-Grün). Der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi steht gefestigter denn je da. So fiel der Versuch linker Kräfte wie Diether Dehm und Andrej Hunko innerhalb der Linken, Sahra Wagenknecht gleichberechtigt an die Stelle des Fraktionsvorsitzenden Gysi zu stellen, nur halbherzig aus. Eine Zerreißprobe blieb der Partei erspart.72 Stefan Liebich erklärte, Gysi bleibe alleiniger Fraktionsvorsitzender – „solange er will, und ohne aufgeklebtes Verfallsdatum“.73 Offenbar hatte Gysi, der in Wagenknecht wohl Lafontaines „rechte Hand“ sieht, damit gedroht, im Falle dieser „Doppelspitze“, wie das die Fraktionsstatuten allerdings seit 2010 vorsehen, sein Amt niederzulegen.74 Er warnte beim ersten Zusammentreffen der Fraktion nach der Bundestagswahl vor Flügel- und Grabenkämpfen.75 Und später beklagte er sich über die mangelnde Kompetenz der eigenen Fraktion.76 Der wohl mehr Gysi als Wagenknecht begünstigende Kompromiss: Gysi wurde Fraktionsvorsitzender, Wagenknecht „Erste Stellvertreterin“.77 Er erhielt über 80 Prozent der Stimmen, sie lediglich 66 Prozent. Allerdings arbeitet die Zeit für Wagenknecht, da ihr der Fraktionsvorsitz künftig – nach Gysi – wohl zufällt, allerdings nur zur Hälfte. Ob sie sich damit auch mäßigt? Und ob sich die Linke dann insgesamt mäßigt? Die nächste Wahl des Fraktionsvorstandes steht 2015 an. Das Kernproblem der Partei: Für eine gemäßigtere Linke ist die Chance auf Mitregierung größer, zugleich auch die Gefahr ihrer „Entzauberung“. Wie auch immer: Unter der Ägide von Gysi, der in den letzten Jahren auf ein „breites linkes Bündnis“ hingearbeitet hat, dürfte eine solche Koalition keine Wirklichkeit werden. Das hat Gregor Gysi mit Oskar Lafontaine gemein. Ob dieser freilich auch – nur mit anderen Mitteln – ein solches Bündnis anstreben wollte? Wir wissen es nicht. Der Parteivorsitzende Bernd Riexinger sieht eine Chance für eine Regierungsbeteiligung der Linken auf Bundesebene nur durch Druck „von unten“. „Wir müssen Initiativen und Bewegungen befördern, um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nachhaltig zu verändern und nach links zu verschieben.“78 „Von oben“ gibt es ebenso Initiativen für ein Linksbündnis, die aus Mitgliedern der SPD, der Grünen und der
72 Vgl. Guido Speckmann, Debatte um linke Doppelspitze. Gysi und Wagenknecht warnen vor neuem Streit, in: Neues Deutschland v. 25. September 2013, S. 4. 73 Zitiert nach Mechthild Küpper, Neuer Glanz und alte Zerreißproben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26. September 2013, S. 4. 74 Vgl. Daniel Brössler, Doppelspitze Gysi, in: Süddeutsche Zeitung v. 9. Oktober 2013, S. 7. 75 Vgl. Martin Mühlfenzl, „Wir brauchen uns alle“, in: Süddeutsche Zeitung v. 25. September 2013, S. 6. 76 Vgl. Markus Deggerich, Hartes Kalkül, in: Der Spiegel v. 11. November 2013, S. 40. 77 Das war sie schon zuvor (vom November 2011 an), aber eben nicht alleinige „Erste Stellvertreterin“, sondern gemeinsam mit Cornelia Möhring. Im Oktober 2013 wurde Dietmar Bartsch zum zweiten stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. 78 Bernd Riexinger, Stärker werden, raus gehen. Projekt Parteienentwicklung: DIE LINKE verankern, verbreitern, verbinden, in: Disput, Nr. 12/2013, S. 4.
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Parteien und Wahlen
Linken bestehen: zum einen die „RZG-Gruppe“79, zu der etwa Stefan Liebich, Angela Marquardt (erst PDS, jetzt SPD) und Monika Lazar (Grüne) gehören; zum anderen die Parlamentariergruppe des Instituts „Solidarische Moderne“, die von Andrea Ypsilanti (SPD), Sven Giegold (Grüne) und Katja Kipping ins Leben gerufen wurde. Am Vorabend der Wahl Angela Merkels erklärte die „RZG-Gruppe“: „Unser Ziel ist es, dass einer möglichen rot-rot-grünen Machtkonstellation ein politischer Prozess vorausgeht, der tatsächliche politische Veränderungen ermöglicht.“80 Die Partei steht schlechter (wegen der Stimmeneinbußen) und zugleich besser (wegen der Machtoption) da als nach der Bundestagswahl 2009. Die parlamentarische Konstellation (die SPD in der Regierung) erschwert ein „Linksbündnis“, die parteiinterne (nach dem Abgang Lafontaines) erleichtert ein solches. Gewiss, die Linke ist die parlamentarisch dritte Kraft (und die stärkste Opposition), aber in der Praxis dürfte die Position den Grünen zufallen, da sowohl die Union als auch die SPD um diese Partei buhlen. Insofern übertrifft das Gewicht der Grünen, im Gegensatz zur Linken in allen Landesparlamenten vertreten und im Europäischen Parlament deutlich stärker, das der Linken.
79 Die Abkürzung bedeutet: Zweimal Rot, einmal Grün. 80 Zitiert nach Matthias Meisner, Alternative zur GroKo. Bundestagsabgeordnete loten Chancen für Rot-Rot-Grün aus, unter: http://www.tagesspiegel.de (17. Dezember 2013).
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Wie geht es mit der FDP weiter? Die Perspektiven der bei der Bundestagswahl 2013 erstmals im Bund an der Fünfprozentklausel gescheiterten FDP sind wenig erquicklich. Es spricht weniger für einen Wiedereinzug der Partei in den nächsten Bundestag als dafür. Da die Liberalen u. a. mit ihrer Kritik am Fürsorge-, Umverteilungs- und Steuerstaat über Alleinstellungsmerkmale verfügten, wäre dieses Szenario für die politische Kultur Deutschlands misslich. Welche Konsequenz zeitigt der Verzicht auf eine „Zweitstimmenkampagne“ für die FDP? Würde das parlamentarische Aus der Partei auch das Ende des Liberalismus in Deutschland bedeuten?
1.
Überraschende Entwicklung 2013
Womit kaum einer gerechnet hatte, trat bei der Bundestagswahl 2013 ein: ein Desaster für die FDP. Vermochte sie 2009 noch 14,6 Prozent zu erzielen, so verlor sie diesmal zwei von drei Wählerstimmen. Dem besten Ergebnis in ihrer Geschichte folgte das schlechteste. Aber nicht nur das: Mit 4,8 Prozent scheiterte sie zum ersten Mal bei Bundestagswahlen an der Fünfprozentklausel. Ein Novum: Eine kleine Koalition wurde nach einer Legislaturperiode abgewählt. Damit kam eine Fortsetzung des schwarzgelben Bündnisses arithmetisch nicht mehr in Frage.1 Hätte die Union 0,2 Prozent der Stimmen weniger und die FDP 0,2 Prozent mehr erhalten, wäre eine Mehrheit für ein „bürgerliches“ Bündnis zustande gekommen. Der politische Liberalismus ist eine Ideenströmung, die die Freiheit des Individuums – im Gegensatz zum Kollektivismus – in den Vordergrund rückt, bezogen auf die ökonomische, die rechtsstaatliche und die kulturelle Sphäre. In der deutschen Parteiengeschichte war der Liberalismus organisatorisch gespalten, in eine mehr wirtschaftsliberale und eine mehr sozialliberale Strömung. Diese Spaltung wurde nach 1945 zwar organisatorisch überwunden, doch blieben die unterschiedlichen Strömungen erhalten, jetzt in einer Partei. Friedrich August von Hayek (1899–1972) und Wilhelm Röpke (1999–1966) gehörten zu den führenden Repräsentanten zumal des ökonomischen Liberalismus, der weit über die FDP hinausreichte.2 Zwei Fragen stehen im Vordergrund des Essays: Wird die FDP scheitern? Und gerät damit auch die Idee des Liberalismus für die nächste Zeit in eine Krise? Als Kriterium für das Scheitern der FDP gilt ein erneutes Scheitern bei der nächsten Bundestagswahl an der Fünfprozenthürde, als Kriterium für das Scheitern des Liberalismus ein Verzicht
1
2
Vgl. Eckhard Jesse, Schwarz-Gelb – Vergangenheit und Gegenwart, aber Zukunft?, in: Frank Decker/ ders. (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der deutschen Bundestagswahl 2013. Parteiensystem und Regierungsbildung im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2013, S. 323–347. Vgl. Hans Jörg Hennecke, Die Angst vor der offenen Gesellschaft – Totalitarismus und Extremismus als wirtschaftlicher Kollektivismus, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 18, Baden-Baden 2006, S. 81–109.
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426
Parteien und Wahlen
der anderen Parteien, diesen in ihrer Programmatik und in der Praxis verstärkt aufzugreifen. Ist das erste Kriterium gut fassbar, gilt dies für das zweite weniger klar. Selbstverständlich wird sich die Partei der Liberalen nicht auflösen, und das nicht völlige Verschwinden der liberalen Idee liegt auf der Hand. Die Frage ist nur: Welche Relevanz kommt ihnen zu? Vier Varianten bieten sich an: (1) Sowohl die FDP als auch der liberale Gedanken ist weiterhin von Bedeutung; (2) die FDP wird wieder stärker, nicht aber die Idee des Liberalismus; (3) diese erhält Zulauf, ohne dass es der FDP zugute kommt; (4) weder die FDP noch der Liberalismus vermag zu reüssieren. Strukturelle und situative Faktoren spielen bei allen vier Szenarios eine Rolle. Insofern sind die nachfolgenden Überlegungen nicht frei von einem Gran an Spekulation, da die weitere Entwicklung von zahlreichen Faktoren abhängt, etwa personellen. Der Übertritt eines führenden CDU-Politikers wie Friedrich Merz wäre ein positives Signal für die Liberalen, der Rücktritt des Vorsitzenden Christian Lindner ein Debakel. Freilich spricht weder viel für das eine noch für das andere Szenario.
2.
Gegenwärtige Entwicklung
Das Scheitern der FDP 2013 basierte auf mannigfachen Gründen. Zum einen hatte die FDP nach der Bundestagswahl 2009 schwere Fehler gemacht. Fixiert auf Steuersenkung, war sie auf den anderen Gebieten nicht sonderlich präsent. So kritisierte sie die Haftung für die Schulden anderer Länder nur halbherzig, und die Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger konnte weder bei der Kritik an der Vorratsdatenspeicherung noch bei der Kritik an den Aktivitäten der NSA nachhaltige Akzente setzen. Die FDP hatte sich schnell das negative Image einer Klientelpartei erworben. Personelle Wechsel an der Spitze gingen nicht einher mit strukturellen inhaltlichen Änderungen. Die folgende Konstruktion rief, milde formuliert, öffentliches Erstaunen hervor: Zur Bundestagswahl 2013 gab es neben dem Parteivorsitzenden Philipp Rösler einen „Spitzenkandidaten“ Rainer Brüderle. Der bisweilen etwas markig-nassforsch auftretende Guido Westerwelle, der frühere Vorsitzende, erwies sich als ein guter Oppositionspolitiker und als ein weniger guter Regierungspolitiker. Sein Wort von der „spatrömischen Dekadenz“ empfanden viele Wähler als eine nicht hinnehmbare Provokation. Die enge Bindung an die Union dürfte schwerlich ein Fehler gewesen sein (wohl aber die gewisse Distanz der Union gegenüber der FDP), denn die Liberalen schnitten in der Vergangenheit meistens immer dann schwach ab, wenn sie sich um eine klare Koalitionsaussage herumdrückten (wie etwa 1957, 1969 und 2002)3, wobei weitere Faktoren wie das Auftreten der Konkurrenz eine Rolle spielten. Allerdings wirkte ihre Rolle als reine „Funktionspartei“ 2013 nicht überzeugend, da eine liberale Identität auf vielen Politikfeldern (z. B. Demographie; Digitalisierung; Klimawandel) 3
Vgl. Marco Michel, Die Bundestagswahlkämpfe der FDP 1949–2002, Wiesbaden 2005, S. 290–293.
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allenfalls schwach erkennbar war. Wie gering die Stammwählerschaft der FDP gewesen ist, zeigt etwa der niedrige Erststimmenanteil von 2,4 Prozent (halbierter Zweitstimmenanteil). Zum anderen hatten es ihr die Gegner schwergemacht, nicht nur die Oppositionsparteien (die Häme nach Bekanntgabe der Wahltagsbefragungen fiel heftig aus) und ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Meinung (für manche Medien war die FDP als Kraft des als kalt geltenden „Neoliberalismus“, des „Turbokapitalismus“, eine Art Prügelknabe), sondern auch die Union, der größere Koalitionspartner, frustriert über das vergleichsweise schlechte Ergebnis 2009, ließ kaum eine Profilierung zu (Philipp Rösler erzwang allerdings die Kandidatur Joachim Gaucks für das Amt des Bundespräsidenten), nicht in der Außenpolitik durch die dominierende Rolle der Kanzlerin, nicht in der Finanzpolitik durch Minister Wolfgang Schäuble, der einen strikten Antisteuersenkungskurs fuhr und so die Strategie der FDP ins Leere laufen ließ. Und manche Entscheidung wurde der Union zugeschrieben, so die Aussetzung der Wehrpflicht durch Verteidigungsminister Guttenberg, obwohl die FDP schon länger deren Abschaffung gefordert hatte. Das wenig selbstbewusste Werben um Zweitstimmen in der Woche vor der Bundestagswahl nach dem Scheitern der Partei in Bayern an der Fünfprozentklausel schreckte potentielle Wähler eher ab. Ebenso trug auch das geänderte Wahlsystem – Überhangmandate werden erstmals durch Ausgleichsmandate ausgeglichen – zum Scheitern der FDP an der Fünfprozenthürde bei. Schließlich war so der Reiz für ein Stimmensplitting deutlich geringer geworden, ließen sich doch nunmehr keine Überhangmandate herbeiführen. Das war ein wesentliches Motiv von Wählern aus dem Umfeld von Union und FDP für ein Stimmensplitting, unabhängig davon, dass sich dadurch in der Regel gar kein Überhangmandat erzielen ließ. Dass die führenden Politiker der FDP nach dem Scheitern bei der Bundestagswahl abtraten, war unvermeidlich, doch mussten sie auch gleich als Lobbyisten tätig sein wie die früheren Minister Daniel Bahr (als Generalbevollmächtigter der Allianz Private Krankenversicherung) und Dirk Niebel (beim Rüstungskonzern Rheinmetall AG)? Zum einen hat das ein Geschmäckle, zum andern wäre ein Zurück in die zweite Reihe glaubwürdiger gewesen, zumal die FDP gegen Versorgungsmentalität zu Feld zieht. Ist der Vorsitzende Philipp Rösler für das Weltwirtschaftsforum in Davos tätig, so haben sich andere führenden Köpfe wie Rainer Brüderle und Guido Westerwelle ebenso aus der aktiven Politik zurückgezogen. Die FDP gilt als ausgesprochene „Regierungspartei“. Bis zur Bundestagswahl 2013 war sie diejenige politische Kraft, die am meisten in der Bundesregierung vertreten war, meistens mit der Union (1949–19564, 1961–1966, 1982–1998, 2009–2013). Umso gravierender ist der Einbruch bei der letzten Wahl. Die FDP, früher wegen des zuweilen schlechten Abschneidens bei Landtagswahlen zuweilen als „Dame ohne Unterleib“ 4
In diesen Jahren bestand das „bürgerliche“ Bündnis aus mehreren Parteien. Die Deutsche Partei war stets mit dabei.
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tituliert, hatte verheerende Niederlagen bei Landtagswahlen kassiert (so zwischen 1991 und 1994 und im Jahre 1999), sich aber wieder „aufgerafft“, nicht zuletzt wegen ihrer tragenden bundespolitischen Rolle. Das ist nun anders – jetzt muss der Aufschwung aus den Ländern kommen. Selbst Anhänger der Liberalen räumen ein, die Existenz der FDP als parlamentarische Kraft im Bund stehe auf dem Spiel.5 Das Abschneiden im Jahr nach der Bundestagswahl fiel noch deprimierender für die Partei aus. Der „Wahlkalender“ meinte es nicht gut mit den Liberalen. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament erreichte sie lediglich 3,4 Prozent (2009: 11,0 Prozent), obwohl die Fünfprozentklausel weggefallen war. Der Niedergang ging bei den drei Landtagswahlen in den neuen Bundesländern im Spätsommer 2014 weiter: In Sachsen, wo sich die Liberalen unter Holger Zastrow von der als konturlos empfundenen Bundespartei stark abgrenzten („Sachsen ist nicht Berlin“), kam sie auf 3,8 Prozent (2009: 10,0 Prozent), in Thüringen bloß auf 2,5 (2009: 7,6 Prozent) und in Brandenburg gar nur auf 1,5 Prozent (2009: 7,2 Prozent). Die Selbstironie im Wahlkampf – in Brandenburg: „Keine Sau braucht die FDP“; in Thüringen: „Wir sind dann mal weg“ – verfing nicht.
3.
Vier Entwicklungsszenarien
Dem ersten Szenario (Erfolg der FDP, Erfolg des Liberalismus) liegt die Annahme zugrunde, die FDP werde wieder Fuß fassen und die Idee des Liberalismus gedeihen. Das könnte dann der Fall sein, wenn sie vor der nächsten Bundestagswahl einen spektakulären Erfolg bei einer Landtagswahl einfährt, bedingt z. B. durch den öffentlich wahrgenommenen „Stillstand“ der Großen Koalition, verursacht z. B. durch enge Zusammenarbeit von Politikern der Union mit denen der FDP6 oder auch durch Avancen der SPD und der Grünen. Und die Idee des Liberalismus ließe sich u. a. dann wieder mit Leben erfüllen, nähmen Paternalismus und Protektionismus im Bereich der (Wirtschafts-)Politik überhand. Der Erfolg der FDP vermag den liberalen Gedanken zu fördern, wie umgekehrt dessen Reüssieren der Partei des Liberalismus hilft. Dafür muss sich in Teilen der Öffentlichkeit die Auffassung durchsetzen, es sei notwendig, die Ideen des Liberalismus, die auf Freiheit und Eigenverantwortung basieren, stärker zu propagieren. Die negative Konnotation des Begriffs „Neoliberalismus“ steht dem gegenwärtig entgegen. Das zweite Szenario (Erfolg der FDP, Misserfolg des Liberalismus) läuft darauf hinaus, dass die FDP auf Kosten des liberalen Gedankens Fahrt aufnimmt. Sie gewinnt Stimmen gerade deshalb, weil ihr Kurs sich nicht so sehr an liberalen Strömungen orientiert,
5 6
Vgl. Jürgen Dittberner, Die FDP. Von der Regierung in die außerparlamentarische Opposition. Und zurück?, Berlin 2014. Vgl. Robin Alexander, CDU-Politiker wollen tote FDP wiederbeleben, in: Die Welt v. 24. September 2014.
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sondern an populistischen, indem sie etwa die gesellschaftspolitischen Positionen der Alternative für Deutschland (AfD) übernimmt. Dieser Schwenk, der ihr vorübergehenden Erfolg bescheren könnte, sofern die AfD wie die Piratenpartei zuvor schnell scheitert, wäre allerdings mit einer Aufgabe tragender Prinzipien des Liberalismus erkauft. Dieser würde sich aus dem öffentlichen Diskurs weithin verabschieden, da ihn keine andere politische Kraft belebt. Weithin „sozialdemokratisierte“ Parteien stünden rechtspopulistischen gegenüber. Die Strömung des Liberalismus fristete damit in der parteiförmigen Arena ein Schattendasein. Die Tendenz zu staatlicher Interventionspolitik fördert die Große Koalition, die alle Interessen bedienen will, statt sie zu stoppen. Das dritte Szenario (Misserfolg der FDP, Erfolg des Liberalismus) besagt, dass die FDP auf keinen grünen Zweig kommt, obwohl die Idee des Liberalismus gedeiht. Sie liefe auf eine gegenteilige Position zum eben genannten Szenario hinaus. Liberal gesinnte Wähler sehen ihre erste Präferenz in der parteipolitischen Konkurrenz: in den Grünen etwa, die sich teilweise linksliberaler Positionen befleißigen, um vom Verbotsimage wegzukommen; in der Union, die betont eine wirtschaftsliberale Klientel anspricht; in der SPD, die durch die Wirtschaftspolitik von Sigmar Gabriel einen Teil des sozialliberalen Milieus „einfängt“; und in der AfD, der Wähler als einer „frischen Kraft“ mehr als den Liberalen zutrauen. Es ließe sich das Argument vorbringen, die FDP habe sich „zu Tode gesiegt“. Schließlich sei der Liberalismus eine Weltanschauung, die mittlerweile in allen wichtigen Parteien mehr oder weniger salonfähig geworden ist. Ein paradoxes Ergebnis: Gerade deshalb, weil die Ziele des politischen Liberalismus als konsensfähig gelten, gerät die Kraft, die diese Richtung organisatorisch verkörpert, in die Defensive. Das vierte Szenario (Misserfolg der FDP, Misserfolg des Liberalismus) wäre das krasse Gegenteil zur ersten Variante. Die mangelnde Zukunftsfähigkeit trifft für die Partei wie für die hinter ihr stehende Idee zu. Die FDP, mit dem Verliererimage versehen, gilt als verbraucht, der Liberalismus, mit dem Image von Rücksichtslosigkeit ausgestattet, in einer Zeit staatlicher Interventionen als überholt. Eine solche Entwicklung wäre bei einer Spaltung der Partei programmiert. Die Vergrößerung der Zahl liberaler parteiförmiger Kräfte liefe auf eine Schwächung der Partei wie des Liberalismus insgesamt hinaus. Konflikte würden nicht mehr intern erörtert, sondern in aller Öffentlichkeit. So ist die Gründung der „Neuen Liberalen“ im Herbst 2014 in Hamburg eine Totgeburt – zugleich schwächt sie die dortige FDP bei der nächsten Wahl eines Landesparlaments (15. Februar 2015). Dabei war die FDP erst 2011 wieder ins Parlament eingezogen, das erste Mal nach 2001.
4.
Wahrscheinliche Entwicklung
Bisher sind vier mögliche Positionen erwähnt worden, ohne die Wahrscheinlichkeit prospektiver Positionen zu gewichten. Die folgenden Überlegungen kommen, wie erwähnt, angesichts der Vielzahl an Unwägbarkeiten wahrlich nicht ohne spekulative
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Elemente aus.7 Zunächst: Wie oft schon ist das Totenglöcklein für die PDS bzw. Die Linkspartei bzw. Die Linke geläutet worden, ohne dass es zum Verschwinden oder gar nur zur Schwächung des organisierten Postkommunismus gekommen ist. Die Volatilität des Wahlverhaltens ist angesichts der nachlassenden Bindungen an herkömmliche Milieus beträchtlich. Erst jüngst hat der Berliner Publizist und Historiker Paul Nolte die These vertreten, der Ideenhaushalt der Grünen sei erschöpft. „Wir schreiben das Ende des grünen Zeitalters.“8 Gewiss, die Partei der Grünen war nach der Bundestagswahl 1990 ebenso nicht im Parlament vertreten wie die PDS nach der Bundestagswahl 2002, doch seinerzeit waren klar die stark situativen Gründe erkennbar, im Fall der Grünen die Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung, im Fall der PDS die Strategie, in erster Linie Edmund Stoiber, den Kanzlerkandidaten der Union, zu bekämpfen und die dezidierte Ablehnung eines militärischen Einsatzes im Irak durch Bundeskanzler Gerhard Schröder. Diesmal jedoch dürften die strukturellen Faktoren stärker sein. Die FDP, von der öffentlichen Meinung größtenteils ignoriert, ist in keiner Landesregierung mehr vertreten, in keinem ostdeutschen Landesparlament, und sie spielt bei öffentlichen Debatten kaum eine vernehmbare Rolle (mehr). Mit der Alternative für Deutschland hat sie eine starke Konkurrenz bekommen, die nicht zuletzt in ihrem Milieu „wildert“. Die Union, lange ihr „natürlicher“ Koalitionspartner, scheint sie weithin abzuschreiben. Der Satz „Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg“ gilt umgekehrt auch. Insofern spricht mehr für ein Scheitern der Partei bei der nächsten Bundestagswahl an der Fünfprozentklausel als umgekehrt, nicht jedoch für ein Scheitern des politischen Liberalismus insgesamt, denn dieser findet über das Elektorat der FDP hinaus Unterstützung. Angebotsstrukturen und Gelegenheitsstrukturen entscheiden gleichermaßen über das Abscheiden der FDP. Allerdings besteht zwischen beiden ein enger Zusammenhang. Ein gutes Angebot bedeutet zugleich eine gute Gelegenheit für die Partei zur Profilierung; und schlechte Gelegenheitsstrukturen tragen nicht zu einem besseren personellen Tableau der Partei bei. Die Partei hat von Ende 2009 bis Ende 2013 mehr als 20 Prozent ihrer Mitglieder verloren (Ende 2013: 57.263)9 – sie besitzt so wenige wie vor mehr als 40 Jahren, wobei der Trend weiter nach unten zeigt. Die FDP, die den Wettbewerb fordert wie keine andere Partei, könnte mit ihren geringeren Ressourcen im Wettbewerb scheitern. Ende Oktober 2014 lag die FDP in den einschlägigen Meinungsumfragen der Institute viermal bei 3,0 Prozent, dreimal bei 2,0 Prozent.10 Gewiss, Umfragen sind keine Ergebnisse, 7 Vgl. Patrick Horst, Totgesagte leben häufig länger, manchmal lange. Zu den Überlebenschancen der Grünen vor dem koalitionspolitischen Erfahrungshintergrund der FDP, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 32 (2001), S. 841–860. 8 Paul Nolte, Verblüht, in: Cicero, Nr. 11/2014, S. 49. 9 Vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2013, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 45 (2014), S. 420. 10 Vgl. www.wahlrecht.de (31. Oktober 2014).
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aber es ist gegenwärtig eine Ursache für einen Wandel schwer erkennbar. Sollte die AfD angesichts interner Zerwürfnisse einbrechen – das Beispiel der „Piraten“ zeigt die enorme Fluktuation des Elektorats –, könnte dies eine Chance für die Liberalen bedeuten.
5.
Wünschenswerte Entwicklung
Bisher ist nur die prospektive Ebene berührt worden, nicht die präskriptive. Welche ist für eine offene Gesellschaft anstrebenswert? Das Wahrscheinliche muss nun nicht das Wünschenswerte sein. Wird eine Partei wie die FDP wirklich nicht mehr benötigt? Um einige Alleinstellungsmerkmale anhand rhetorischer Fragen aufzuzählen: Gibt es eine politische Kraft, die so stark gegen die kalte Progression zu Felde zieht wie die FDP (weil sie Leistung anerkannt sehen will), eine Partei, die derart entschieden den Solidaritätszuschlag ablehnt (handle es sich doch um eine versteckte Steuererhöhung), eine Partei, die dem Mindestlohn kritisch gegenübersteht (die FDP fürchtet eine Vernichtung von Arbeitsplätzen), eine politische Kraft, die nicht nur bei der „Energiewende“ der Subventionspolitik entgegentritt (um keine Verzerrungen des Wettbewerbes zu provozieren), eine Partei, die aus prinzipiellen Erwägungen keiner Verbotsmentalität das Wert redet, ohne das Prinzip der streitbaren Demokratie in Frage zu stellen (selbst ein Verbot der klar rechtsextremistischen NPD tue dem politischen Wettbewerb in einer freiheitlichen Demokratie nicht gut)? Und allgemein gesprochen: Wer für mehr Eigenverantwortung plädiert, das Leistungsprinzip hoch hält, für weniger Bürokratie streitet, die Konsolidierung der Haushalte fordert und gegen grassierende Ausgabenerhöhungen wettert, sich den Prinzipien des Rechtsstaates verpflichtet weiß, ist ein ernsthafter Wettbewerber. Er sollte unter der Konstellation einer Großen Koalition mindestens jeden 20. Wähler auf die eigene Seite ziehen können. Es ließe sich sogar sagen, die Bundesrepublik sei angesichts der Politikverflechtung ein „Staat der Großen Koalition“ (Manfred G. Schmidt), unabhängig von der jeweiligen Koalitionsfärbung. Nur: Die Partei hat ein notorisch negatives Image, an dem sie freilich nicht allein die Schuld trägt. Die FDP ist konsequent, was die sozioökonomische und die soziokulturelle Konfliktlinie anlangt: Sie fordert „weniger Staat“ in allen Bereichen der Politik, in der Sicherheitspolitik ebenso wie in der Wirtschaftspolitik. Hingegen gilt das so nicht für die beiden großen Parteien. Die Union betont „mehr Staat“ im Bereich der inneren Sicherheit, nicht aber in dem der Wirtschaft. Bei der SPD ist es umgekehrt. Würde die FDP hinfort im Bundesparlament fehlen, wäre eine wichtige politische Facette nicht mehr vertreten, Vielfalt reduziert. In einer Grundsatzrede auf dem außerordentlichen Parteitag im Dezember 2013 sprach sich Christian Lindner für eine „Lebenslaufhoheit“ der Menschen aus, um das Alleinstellungsmerkmal der Liberalen, den Individualismus, zu stärken. Wer die bisherige Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands Revue passieren lässt, kommt nicht um die Erkenntnis hin, dass der parteiförmige Liberalismus alle
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Grundlagenentscheidungen der „großen Politik“ mitgetragen hat: die Westbindungspolitik Konrad Adenauers, die Politik der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards, die Ostverbindungspolitik Willy Brandt, die Antiterrorismuspolitik Helmut Schmidts, die Wiedervereinigungspolitik Helmut Kohls. Und selbst als die FDP in der Opposition war, hat sie sich nicht gegen die Wehrpolitik gesperrt (in den fünfziger Jahren), nicht gegen die flexible Ostpolitik (in den sechziger Jahren), nicht gegen die Politik des Umbaus des Sozialstaates unter Gerhard Schröder (vor einem Jahrzehnt). Sie übernahm eine Scharnierfunktion, indem sie Regierungswechsel von der Union zur Union bzw. wieder zur Union ermöglichte. Heute ist sie in der größten Krise ihrer Existenz weit davon entfernt. Sie kann sich, da sie die Bindung an eine Partei hinfort zu vermeiden sucht, nicht mehr auf eine Zweitstimmenkampagne verlassen, sondern muss offensiv den „Fürsorgestaat“, den „Gefälligkeitsstaat“, den „Interventionsstaat“, den „Steuerstaat“, den „Schuldenstaat“ und den „Umverteilungsstaat“ mit ihrem Konzept von der freiheitlichen „Bürgergesellschaft“ herausfordern.
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Systemwechsel in Deutschland, Regierungswechsel im Bund – ein „Staat der Großen Koalition“? Regierungswechsel im Bund schlagen sich in der praktischen Politik aufgrund zahlreicher Vetospieler nur wenig nieder. Nur ein einziges Mal – 1998 – gab es einen ungefilterten Regierungswechsel. Das konkordanzdemokratische Element mit vielen Vetospielern nimmt in einem unguten Maße überhand. Die spezifische Art des deutschen Föderalismus, die die Zurechenbarkeit der Entscheidungen verwischt, ist dafür u. a. verantwortlich. Der „Staat der Großen Koalition“ benötigt mehr Wandel, um sich regenerieren zu können. Welche Reformmöglichkeiten bieten sich an? Geht das in Deutschland verbreitete Konsensdenken auch auf die teils leidvolle Vergangenheit mit ihren vielen Systemwechseln zurück?
1.
Einleitung
Deutschland erlebte im 20. Jahrhundert innerhalb von 71 Jahren immerhin vier Systemwechsel (1918/19, 1933, 1945/49, 1989/1990), die Bundesrepublik auf Bundesebene innerhalb von 63 Jahren nur sechs Regierungswechsel (1966, 1969, 1982, 1998, 2005, 2009). Damit liegt Deutschland, was die Zahl der Systemwechsel angeht, in Europa weit vorn, weit hinten mit Blick auf die Zahl der Regierungswechsel. Unter einem Systemwechsel ist der Wandel von einem autokratischen zu einem demokratischen System zu verstehen und umgekehrt. Der Wandel von einer Rechtsdiktatur zu einer Linksdiktatur (und umgekehrt) läuft ebenfalls auf einen Systemwechsel hinaus.1 Ein Regierungswechsel wird mit Manfred G. Schmidt, der allerdings von „Machtwechsel“ spricht, „im Sinn von bedeutsamer Veränderung der parteipolitischen Zusammensetzung von Regierungen“2 aufgefasst. Dies schließt den Wechsel des Seniorpartners oder des Juniorpartners ein – also auch eine Große Koalition, die zunächst von der einen Kraft, später von der anderen dominiert würde, obwohl es sich um dieselben Parteien handelt. Der Begriff Regierungswechsel fällt damit enger aus als jener der „Koalitionsveränderung“3, der jedes Ausscheiden und Hinzukommen eines Koalitionspartners berücksichtigt, und ebenso enger als ihn Michael Th. Greven interpretiert. Bei Greven4 findet zudem die intraparteiliche Ebene eine Berücksichtigung, etwa der Kanzlerwechsel von Konrad Adenauer auf Ludwig Erhard (1963) oder der von Willy 1
2 3 4
Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Aufl., Wiesbaden 2010; Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland. 1918/19, 1933, 1945/49, 1989/90. 2. Aufl., Köln u. a. 2011, S. 20. Manfred G. Schmidt, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Institutionen, Willensbildung, Politikfelder, 2. Aufl., München 2011, S. 197, Anm. 1. Eckhard Jesse, Koalitionsveränderungen 1949 bis 1994: Lehrstücke für 1998, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29 (1998), S. 460–477. Vgl. Michael Th. Greven, Regierungswechsel und Parteiensystem, in: Bernhard Blanke/Hellmut Wollmann (Hrsg.): Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel, Opladen 1991, S. 204–222, hier S. 204.
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Brandt auf Helmut Schmidt (1974). Regierungswechsel können zu systemerhaltendem Wandel führen. Dieser ist nötig für die Offenheit des demokratischen Verfassungsstaates und für die Lebendigkeit der Parteien. Der Beitrag fragt zum einen nach den Auswirkungen der Regierungswechsel auf das Parteiengefüge, zum anderen nach deren Auswirkungen auf die praktische Politik. Spielen Regierungswechsel bei der Binnenperiodisierung der Bundesrepublik eine Rolle? Wie kann sich das Wählervotum in der konkreten Politik stärker niederschlagen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen den früheren Systemwechseln und dem heutigen hohen Ausmaß an gesellschaftlichem Konsens? Ist die Bundesrepublik Deutschland ein „Staat der Großen Koalition“ (Manfred G. Schmidt) – und wenn ja: Ist dies positiv zu bewerten?
2.
Systemwechsel in Deutschland und die Parteien
Als das Kaiserreich im November 1918 zusammenbrach und der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die „deutsche Republik“ ausrief, spielten nach kurzen Wirren die drei parteiförmigen Kräfte, die 1917 im Interfraktionellen Ausschuss zusammengefunden hatten (SPD, Zentrum, Fortschrittliche Volkspartei), nach den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 die entscheidende Rolle. In gewisser Weise änderte sich bei den Parteien (wenngleich teilweise unter neuen Namen auftretend) nicht sonderlich viel. Aufgrund der obrigkeitlichen Bedingungen im Kaiserreich keineswegs gewohnt, Verantwortung zu übernehmen (der Kaiser setzte den Kanzler ein, den der Reichstag nicht absetzen konnte), orientierten sie sich vielfach an dem konstitutionellen Dualismus von Regierung und Parlament, obwohl dies in der Weimarer Republik ein Fehlverständnis erkennen ließ. Zudem setzte sich die weltanschauliche Rigidität aus dem Kaiserreich fort, Kompromisse galten gemeinhin als „faul“ und hinderlich für das Gemeinwesen. An den Rändern des politischen Spektrums lehnten mit der NSDAP und der KPD zwei Parteien von Anfang an das „Weimarer System“ heftig ab. Die „Weimarer Koalition“ (SPD, Zentrum und DDP) besaß anfangs eine satte Dreiviertelmehrheit, verlor diese jedoch aufgrund der „Erfüllungspolitik“ schon bei der ersten Reichstagswahl 1920 und konnte sie nicht wieder erlangen. Bei den beiden Reichstagswahlen 1932 erzielten die antidemokratischen Parteien eine „negative Mehrheit“: einig in dem, was sie nicht wollten, aber nicht in dem, was sie wollten. Das „Ende des Parteienstaates“ hatte sich angesichts der autoritär regierenden Kanzler im Präsidialsystem ohnehin faktisch vollzogen. Die Parteien, in der Verfassung nur mit einer abwehrend-negativen Formulierung erwähnt (die Beamten seien Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei), spielten in der Weimarer Republik ohnehin keine tragende Rolle im Bereich der Politikgestaltung (im Vergleich etwa zur Bürokratie). 1933 machten die Nationalsozialisten mit den Parteien „kurzen Prozess“. Am 14. Juli institutionalisierte ein „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“ den Einparteienstaat: Die NSDAP avancierte zur Staatspartei. Am 1. Dezember 1933 schloss das „Gesetz zur
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Systemwechsel in Deutschland, Regierungswechsel im Bund
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Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ die (damals positiv konnotierte) Gleichschaltung ab. Die NSDAP, die beträchtlichen Zulauf erhielt und innerhalb eines Jahrzehnts auf 6,5 Millionen Parteigenossen anwuchs, war wegen des Ämterchaos weniger monolithisch, als dies Parteigänger suggerierten und Gegner vermuteten. Das Dritte Reich stellte formal einen Einparteienstaat, doch lässt die polykratische Struktur des Systems, die in keinem Gegensatz zur totalitären Struktur stand, mannigfaches Ämterund Kompetenzchaos erkennen. Sie relativiert das Diktum vom „Einparteienstaat“. Für die anderen Parteien nahm sich ihre frühzeitige Ausschaltung im Nachhinein als ein „Glücksumstand“ aus – so konnten sie im Gegensatz zu vielen anderen Organisationen relativ unbelastet nach dem Ende der Diktatur an den Wiederaufbau der Demokratie gehen, weil sie sich nicht mit den Untaten gemein gemacht hatten. Allerdings wog die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz schwer. Nur die SPD – die KPD war bereits ausgeschaltet worden – votierte dagegen. 1945 kam für die Parteien ebenso einer Zäsur gleich wie 1933. Die NSDAP wurde verboten, und sie, die ihre Verantwortung schwerlich abwälzen konnte und aus der es zum Schluss keinerlei Absetzbewegungen von der Diktatur Hitlers gegeben hatte, verschwand gleichsam vom Erdboden. Die Situation der Parteien fiel damit und durch ihre Lizenzierung weitaus komfortabler aus als nach 1918. Auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 sprachen sich die Alliierten für die Zulassung demokratischer Parteien aus. Mit der KPD und der SPD kehrten zwei alte Parteien zurück, mit der CDU (der CSU in Bayern) und der FDP (die Bezeichnung schwankte zunächst) kamen zwei neue hinzu; neu insofern, als die Union überkonfessionell ausgerichtet war und die FDP alle Strömungen des Liberalismus zu vereinigen vermochte. Das buntscheckige Parteiensystem des Kaiserreiches und der Weimarer Republik wurde durch die Lizenzierungspraxis begrenzt. 1945/46 erwies sich als ein Scharnierjahr. In dem einen Teil Deutschlands bildete sich unter der Ägide der SED ein Pseudo-Mehrparteiensystem heraus – neben der LDP und der CDU wurden 1948 von oben zwei weitere Blockparteien – „Retortenprodukte“ (Peter Joachim Lapp) – ins Leben gerufen: die NDPD und der DBD. Die DDR war wegen der „Suprematie der SED“ (Siegfried Mampel) faktisch ein Einparteiensystem. Die Staatssicherheit fungierte nicht als Staat im Staate. In dem anderen Teil Deutschlands entstand allmählich ein pluralistisches Parteiensystem. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte wurde den Parteien verfassungsrechtlich die ihnen zukommende Rolle eingeräumt. Der „Parteienstaat“ entfaltete sich robust, Kritiker warnten sogar vor einer Allmacht der Parteien und ihrem Allzuständigkeitsdenken, zumal ihrer „Machtbesessenheit“ (Richard von Weizsäcker). Mit der friedlichen Herbstrevolution in der DDR, herbeigeführt durch das Zusammenspiel von „exit“ und „voice“5, verlor die SED, die sich nicht mehr auf die KPdSU stützen konnte, schnell ihre Hegemonie. Die Blockparteien, keineswegs Motor 5
Albert O. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptionellen Geschichte, in: Leviathan 20 (1992), S. 330–350.
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der revolutionären Vorgänge, emanzipierten sich allmählich, verließen die „Nationale Front der Deutschen Demokratischen Republik“ und suchten Kontakte zu „ihren“ Schwesterparteien in der Bundesrepublik. Am 1. Dezember 1989 sah sich die SED gezwungen, die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse aus Art. 1 der DDR-Verfassung zu streichen. Die SED, die den Reformkurs Michail Gorbatschows aus berechtigter Angst vor einer Destabilisierung ihres Regimes nicht mitgetragen hatte, trabte fortan der Entwicklung hinterher. Sie war – trotz Umbenennung („Partei des Demokratischen Sozialismus“) – bei den ersten und letzten demokratischen Wahlen zur Volkskammer isoliert. Scharenweise verließen die Mitglieder die Partei, die im Herbst noch 2,3 Millionen Genossen hatte. Bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 geriet die PDS mit 16,4 Prozent in die Opposition – sie musste mit ansehen, wie die Freiheitsrevolution in eine Einheitsrevolution überging. Anteil daran hatte sie nur insofern, als sie sich nicht mit Gewalt sperrte. So konnte sie sich ins neue System hinüberretten, wiewohl lädiert und nicht sonderlich glaubwürdig. Das Parteiensystem in den alten Bundesländern wurde schnell auf die neuen übertragen, freilich mit Unterschieden (größere intraparteiliche und kleinere interparteiliche Konflikte in den neuen Bundesländern). Unter dem Strich fiel die Rolle der Parteien bei den vier Systemwechseln – von 1933 abgesehen – nicht sonderlich stark aus: Am Ende des Kaiserreiches brach dieses, der Legitimitätsreserven beraubt, angesichts des verlorenen Krieges weithin zusammen. Die Sozialdemokraten stellten sich zwar an die Spitze der Massenerhebung, wollten aber die neue parlamentarische Demokratie nicht gefährden. Da ein System nach bolschewistischem Muster für sie unter keinen Umständen in Frage kam, sahen sie sich genötigt, mit Repräsentanten der alten Ordnung zusammenzuarbeiten. Daraus erwuchsen Belastungen für die junge Demokratie. Am Ende der Weimarer Republik wussten die geschwächten demokratischen Parteien der Dynamik der allseits unterschätzten Nationalsozialisten wenig entgegenzusetzen. Im Dritten Reich wirkte die NSDAP weitaus weniger gestaltend als die SED in der DDR. Wurde das blutige Ende der nationalsozialistischen Diktatur nicht im Geringsten durch eine Partei herbeigeführt, so ist das unblutige Ende der kommunistischen Diktatur auch mit dem Verzicht auf den Einsatz gewaltsamer Mittel durch die SED zu erklären. Schneller als diese erteilten die Blockparteien der Unfreiheit eine Absage, freilich erst nach Ausbruch der Volkserhebung. Die anfängliche Entwicklung der Parteien in der Bundesrepublik wurde maßgeblich durch die Lizenzierungspolitik der Alliierten geprägt. Die grundlegende politische Neuordnung, die sich mit einer generellen Modernisierung auf vielen Gebieten verband, ging wesentlich auf die Parteien zurück.
3.
Regierungswechsel im Bund und die Parteien
Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland hatte die überkonfessionelle Union als erste Volkspartei im Bund lange Zeit „das Sagen“, unterstützt durch kleinere
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„bürgerliche“ Kräfte, die sich, bis auf die FDP, nicht dauerhaft halten konnten. Gleichwohl ist der pejorativ gebrauchte Terminus des „CDU-Staates“6 nicht treffend, keineswegs bloß wegen der bösen historischen Assoziation an den „SS-Staat“ (Eugen Kogon). Schließlich prägte die Union nicht den ganzen Staat, in einigen Bundesländern dominierte außerdem die SPD. Im Jahre 1966 kam es zum ersten Regierungswechsel auf Bundesebene. Die Paradoxie: Die Liberalen schieden aus der schwarz-gelben Koalition aus und strebten nicht unbedingt in ein neues Bündnis, nicht mit der Union, nicht mit der SPD (aus arithmetischen und politischen Gründen gleichermaßen). Die geschwächte Union bildete mit der erstarkten SPD eine Große Koalition, wobei ein beträchtlicher Teil der SPD Reserviertheit erkennen ließ, weil er fürchtete, auf diese Weise trage die eigene Partei zur Stärkung der Konkurrenz bei. Die Große Koalition, von beiden Seiten bereits nach der „Spiegel“-Affäre 1962 ins Auge gefasst, scheiterte mit ihrem Versuch, ein Mehrheitswahlsystem zu installieren. Das lag wohl nicht zuletzt am Verhalten der SPD, welche die FDP für ein Bündnis gewinnen wollte. In der Tat ging die Rechnung der SPD nach der Bundestagswahl 1969 auf. Die Liberalen orientierten sich während der Großen Koalition um, wie nicht zuletzt die Wahl des Sozialdemokraten Gustav W. Heinemann zum Bundespräsidenten mit Stimmen der FDP im Frühjahr 1969 offenbart hatte, wobei das Votum der Liberalen zugunsten der SPD nur verdeckt ausgefallen war. In der Folge unterstützte die FDP als Juniorpartner die SPD wie vor den Wahlen 1972, 1976 und 1980 jeweils erklärt. Die als „historisches Bündnis“ (Ralf Dahrendorf ) zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus gepriesene Koalition zerfaserte nach Jahren guter Zusammenarbeit und einer Reihe wichtiger „innerer Reformen“ wie neuer deutschlandpolitischer Schritte allerdings immer mehr. Die Querelen zwischen den Parteien in ökonomischen und außenpolitischen Fragen konnte Bundeskanzler Helmut Schmidt, selbst unter Druck des linken Flügels der eigenen Partei stehend, Anfang der achtziger Jahre nicht mehr beilegen. Im Herbst 1982 kündigte die FDP die Koalition mit der SPD auf – sie bildete mit der Union ein konservativ-liberales Bündnis. Bekanntlich regierte Helmut Kohl mit der Union und den Liberalen acht Jahre vor und acht Jahre nach der deutschen Einheit. Die beiden Kräfte hatten vor den Wahlen 1983, 1987, 1990 und 1994 jeweils verkündet, ihr Bündnis fortsetzen zu wollen. Eine solch lange Parteienkooperation ist bislang einmalig. Vor der Einheit entstand mit den Grünen eine vierte parlamentarische Kraft (obwohl die SPD als Oppositionspartei fungierte), nach der Einheit eine fünfte, die PDS (obwohl mit der SPD und den Grünen zwei linke Parteien die Opposition repräsentierten). 1998 waren weniger die Gemeinsamkeiten zwischen der Union und der FDP verbraucht als vielmehr die Parteien selbst, auch in personeller Hinsicht. In jenem Jahr gab es den ersten (und bisher einzigen) ungefilterten Regierungswechsel auf Bundesebene: Die beiden Regierungsparteien mussten in die Opposition, 6
Gert Schäfer/Walter Euchner (Hrsg.), Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungsfeindlichkeit der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1969.
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zwei Oppositionsparteien gelangten in die Regierung. Der Wähler war sich dieser Konstellation bewusst, wenngleich die SPD einen klaren Koalitionswahlkampf vermied (im Gegensatz zu den Grünen). Trotz des Einzugs der PDS in den Bundestag gelang ein Regierungswechsel. Dieser blieb 2002 nur deshalb aus, weil die PDS den Einzug in den Bundestag verfehlt hatte. In der Folge setzte der SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit der „Agenda 2010“ eine einschneidende Arbeitsmarktreform durch. Sie sollte das Ende der Koalition beschleunigen. 2005 hatte die als koalitionsunfähig angesehene Linkspartei durch ihren Einzug in den Bundestag eine Mehrheit für das eine oder andere Lager verhindert. Da weder die Liberalen zu einer Koalition mit der SPD und den Grünen bereit waren noch die Grünen zu einem Bündnis mit der Union und den Liberalen, kam nur die Große Koalition als Regierungsbündnis in Frage, eine Art halber Lagerwechsel (von Rot-Grün zu Schwarz-Rot). Der andere halbe Lagerwechsel (von Schwarz-Rot zu SchwarzGelb) vollzog sich bei der Bundestagswahl 2009. Die rot-grüne Koalition wurde durch die schwarz-gelbe damit erst im zweiten Anlauf abgelöst. Sechs Regierungswechsel innerhalb von 63 Jahren auf Bundesebene sind im europäischen Maßstab nicht viel, doch zeigt der Befund, wie wenig realistisch jene Behauptung ausfiel, die vor rund einem halben Jahrhundert den „Verfall der Opposition“ (Otto Kirchheimer), das „Ende der Ideologien“ (Daniel Bell) und das „Ende des Parteienstaates“7 vorherzusagen glaubte. Regierungsparteien „scheinen durch Wahlen nicht mehr ablösbar zu sein“8. Sie besäßen ein Instrumentarium, das es ihnen gestatte, ernsthafte Krisen zu vermeiden. Angesichts dieser Wettbewerbsvorteile verblieben den Oppositionsparteien nur zwei Möglichkeiten: entweder Anpassung an das System (und damit faktische Aufgabe ihrer Existenzberechtigung) oder Kampf gegen das System – „vorausgesetzt, dass die gegebene Gesellschaftsordnung tatsächlich Klassen bevorzugt oder benachteiligt“9. Die Ablösung der Konservativen durch die Labour Party im Jahre 1964 widerlege seine These nicht, denn diese habe nur deshalb gewinnen können, weil „im Kern ein Klassenwahlkampf “10 geführt worden sei. Krippendorff und andere Autoren, die Konstellationen in den Bundesländern mit zahlreichen Regierungswechseln ohnehin keines Blickes würdigend11, hatten mit ihrem „Oppositionspessimismus“12 eine Momentaufnahme absolut gesetzt und Argumente der Neuen Linken vorweggenommen.
7 Ekkehart Krippendorff, Das Ende des Parteienstaates?, in: Der Monat 14 (1962), Heft 1, S. 64–70; ders., Ende des Parteienstaates?, in: Die Neue Gesellschaft 13 (1966), Heft 1, S. 3–10. 8 Ders. 1962 (Anm. 7), S. 64. 9 Ebd., S. 69. 10 Ders. 1966 (Anm. 7), S. 4. 11 Vgl. Patrick Horst, Koalitionsbildungen und Koalitionsstrategien im neuen Fünfparteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 20 (2010), S. 327–408. 12 Hans-Peter Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1974, S. 140.
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Zwei der sechs Regierungswechsel kamen während der Legislaturperiode zustande (1966, 1982), vier durch Wahlen (1969, 1998, 2005 und 2009). Sieht man von den Großen Koalitionen ab, Notbehelfe, keine Wunschbündnisse (das gilt zumal für 2005, weniger für 1966), konnte sich die jeweilige Koalition immer mindestens für zwei Legislaturperioden behaupten. Sollte das 2013 nicht der Fall sein, wäre zum ersten Mal eine kleine Koalition schnellstmöglich abgewählt worden. Das würde die Enttäuschung der Bürger über ein solches zunächst mit vielen Vorschusslorbeeren bedachtes Bündnis augenfällig demonstrieren. Die von der Regierung abgelösten Parteien akzeptierten stets ihre Niederlagen, zumal bei klaren (wie 1998 und 2009). Hingegen wollten die Parteien, die 1969, 1982 und 2005 in die Opposition bzw. nur als Juniorpartner in die Regierung mussten, dies zunächst nicht recht wahrhaben. Die Union tat sich unter ihrem Kanzler Kurt Georg Kiesinger 1969 schwer damit, das Überwechseln der Liberalen zur SPD hinzunehmen. Dieser ging es 1982 ebenso – sie schmähte die FDP, wie zuvor die CDU die FDP geschmäht hatte. Und Gerhard Schröder hatte 2005 in einem fulminanten Wahlkampf, scheinbar hoffnungslos abgeschlagen zurückliegend, mit der SPD sensationell gut abgeschnitten, nur knapp hinter der zunächst klar favorisierten Union. Daher gehöre der SPD als der stärksten Kraft (die Union bestünde aus zwei Parteien) das Amt des Kanzlers. Nach einiger Zeit musste Schröder diese öffentlich nicht vermittelbare Strategie aufgeben. Die wenigen Fälle sind zu unterschiedlich, als dass sich daraus verallgemeinerbare Erkenntnisse über die Gründe der Regierungswechsel ableiten lassen.13 Die Chancen für die Oppositionsparteien liegen vor allem in Fehlern bei den Regierungsparteien, weniger im Aufbau einer eigenen konsistenten Strategie. Das in politikwissenschaftlichen Lehrbüchern gepriesene Wechselspiel von Regierung und Opposition ist in Deutschland die Ausnahme, da stets eine Partei aus der alten Regierung auch der neuen angehört hat (bis auf 1998). Nur eine der drei vorgezogenen Bundestagswahlen endete mit einem (halben) Regierungswechsel. Eine positive Würdigung verdienen die Koalitionsaussagen der Parteien vor den Wahlen. Auf diese Weise wusste der Wähler in einer Koalitionsdemokratie wie der Bundesrepublik Deutschland gemeinhin, welchem Regierungsbündnis seine Stimme zugute kam. Der durch keine Wahl legitimierte Wechsel der Liberalen zur Union im Herbst 1982 wurde durch eine vorgezogene Bundestagswahl ein halbes Jahr später „geheilt“. Nun ist es aufgrund des Aufkommens der Linken, die eine Lager-Koalition verhindern kann, und unter Umständen der „Piraten“, nicht unbedingt einfacher geworden, ein Wunschbündnis in die Realität umzusetzen.
13 Vgl. Ludger Helms, „Machtwechsel“ in der Bundesrepublik Deutschland. Eine vergleichende empirische Analyse der Regierungswechsel von 1966, 1969 und 1982, in: Jahrbuch für Politikwissenschaft 1994, Halbband 2, S. 225–248.
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4.
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Praxis: begrenzter Niederschlag der Regierungswechsel in den politischen Inhalten
Ernst Fraenkel, einer der Begründer der deutschen Politikwissenschaft, hatte in einem Beitrag vor fast 50 Jahren „Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung“ beschrieben. Als Begründer des Neopluralismus forderte er einerseits einen nicht-kontroversen Sektor und andererseits die Notwendigkeit eines breiten gesellschaftlichen Pluralismus. Er sah seinerzeit die Gefahr, „den Leichnam von 1933 zu sezieren, anstatt den Patienten von 1964 zu kurieren“14. Aus der Angst vor gesellschaftlicher Desintegration komme die inhaltliche Auseinandersetzung zwischen den Parteien zu kurz. Seine Maxime lautete: „Die Konkurrenztheorie der Demokratietheorie wird den an sich zu stellenden Erfordernissen nicht gerecht, wenn sie in den Wahlen zum Parlament nichts anderes erblickt als ein Personalplebiszit zwischen zwei Persönlichkeiten, die sich um das Amt des Regierungschefs reißen. Ich glaube, dass eine Demokratie an einem Strukturdefekt leidet, der gar nicht ernst genommen werden kann, wenn diese Wahlen sich zu einer Art ‚beauty contest‘ entwickeln, bei dem es maßgeblich darauf ankommt, welcher der Kandidaten photogener ist, wer die einschmeichelndere Radiostimme besitzt, von welchem der Bewerber um das höchste Staatsamt am Fernsehschirm der stärkere ‚sex appeal‘ ausgeht, weil er entweder dank seines Alters dem Sekuritätsbedürfnis oder dank seiner Jugend dem Betätigungsdrang eines Großteils der Wählerschaft besser entspricht. Die richtig verstandene Konkurrenztheorie der Demokratie besagt vielmehr, dass durch die Wahlen nicht nur der künftige Regierungschef bestimmt, sondern auch eine Entscheidung über Alternativlösungen getroffen werden soll, ein Verdikt über die Politik, die die Mehrheitspartei befolgt, und zugleich ein Verdikt über die Politik, die die Minderheitspartei befürwortet hat. Denn eine Parlamentswahl, die nicht zugleich eine Fortsetzung einer Parlamentsdebatte ‚mit anderen Mitteln‘ ist, verfehlt ihren Zweck, die Repräsentationsverfassung mit jenem guten Schuss plebiszitären Öls zu salben, ohne die sie rostig wird.“15 Auch wenn diese harschen Worte vom angelsächsischen Demokratieverständnis geprägt sind und manche unvermeidlichen Probleme einer Koalitionsdemokratie ignorieren sowie spezifische Handlungszwänge von Regierungs- und Oppositionsparteien unterschlagen, fällt die Kritik im Kern treffend aus. Der Missstand ist ein doppelter: Auf der einen Seite wird im Vorfeld der Wahl oft eine „Polarisierung ohne Substanz“ (Richard Löwenthal) propagiert, auf der anderen Seite ist nach der Wahl eine substantielle Polarisierung nicht auszumachen. Schließlich ist es für eine innere Periodisierung der Bundesrepublik nicht sonderlich weiterführend, sich ausschließlich an den Regierungszeiten der Parteien zu orien-
14 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 11. Aufl., Baden-Baden 2011, S. 109 f. 15 Ebd., S. 110.
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tieren16. Dem Vorteil einer klaren Abgrenzung nach Phasen steht der Nachteil einer Betrachtungsweise gegenüber, die von vornherein Regierungswechsel als Einschnitte ansieht und gesellschaftlichen Wertewandel, ebenso gewisse Konstanzen, nicht angemessen einzufangen vermag. „Postmaterialismus“ etwa ist nicht in Verbindung mit einem spezifischen Regierungswechsel zu bringen. Sicher, die erste Große Koalition hat für grundlegende Reformen gesorgt. Und gewiss bedeutet das Jahr 1969 mit der Ablösung der Union von der Regierungsmacht im Bund auf zentralen Politikfeldern einen Einschnitt, im Bereich der Deutschland- und Ostpolitik, auch in der Innenpolitik dank zahlreicher Reformen, die nun gegen die oppositionelle Union durchgesetzt werden mussten und konnten. Allerdings förderte der Wechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt so manche „Reform der Reform“. Insofern ist ein Begriff wie „SPD-Staat“17 deplatziert. Als die Union die SPD 1982 von der Regierung ablöste, hofften ihre Anhänger auf eine grundsätzliche Änderung18, Gegner befürchteten sie19. Tatsächlich blieb, ungeachtet mancher Einschnitte (z. B. Aufstellung der Pershing-Raketen im „heißen Herbst“ 1983 und deutliche Reduzierung der Staatsquote bis zur deutschen Einheit), eine „Wende“ auf den meisten Politikfeldern aus. Vieles blieb Rhetorik: So sprach die konservativ-liberale Regierung von den „innerdeutschen Beziehungen“ (und nicht von den „deutsch-deutschen Beziehungen“) sowie von „zwei Staaten in Deutschland“ (und nicht von den „zwei deutschen Staaten“). Allerdings hat „die Art der symbolischen Politik“ auch „Signalwirkungen“20. Aber an der Kontinuität in der Deutschlandpolitik änderte sich nichts. Im Gegenteil: Die finanziellen Hilfen für die DDR nahmen zu, wobei diese freilich an Zugeständnisse der anderen Seite geknüpft waren, und selbst eine andere Rhetorik kann allmählich ein Umdenken einleiten. Für Hans-Peter Schwarz lief die konservativ-liberale Politik auf eine „halbe Wende“21 hinaus. Er zitiert in diesem Zusammenhang den für seine spitzen Aperçus bekannten Konservativen Johannes Gross: „Eine Regierung, vor der niemand Angst hat. Ihre Gegner hängen ihr eine Wende an, von der ihre Anhänger nichts merken. Sie sitzt im Regimente und fühlt sich trefflich wohl.“22 Bei beiden Regierungswechseln – 1969 und 1982 – blieb der 16 Vgl. Eckhard Jesse, 1945, 1949, 1955, 1968, 1989, 1990? Zäsuren deutscher Politik, in: Ders. (Hrsg.), Eine normale Republik? Geschichte – Politik – Gesellschaft im vereinigten Deutschland, BadenBaden 2012, S. 1–31. 17 Frank Grube/Gerhard Richter (Hrsg.), Der SPD-Staat. München 1977. 18 Vgl. Klaus Hornung, Mut zur Wende. Grundlagen und Auftrag einer Politik der Erneuerung, Krefeld 1985. 19 Vgl. Karsten Schröder/Günter Verheugen (Hrsg.), Halbzeit in Bonn. Die Bundesrepublik zwei Jahre nach der Wende, Köln 1985. 20 Manfred G. Schmidt, Machtwechsel in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1990). Ein Kommentar aus der Perspektive der vergleichenden Politikforschung, in: Bernhard Blanke/Hellmut Wollmann (Anm. 4), S. 179–203, hier S. 183. 21 Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 330. 22 Zit. nach Hans-Peter Schwarz (Anm. 21), S. 328.
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Juniorpartner: Die FDP sorgte dafür, dass das Pendel nicht weit ausschlug. Das ist freilich nur ein Grund. Als mindestens ebenso wichtig müssen die institutionellen Mechanismen gelten. Der einzige „glasklare“ Regierungswechsel 1998 führte einerseits zu Diskontinuität – in der Umweltpolitik (Ausstieg aus der Kernenergie; ökologische Steuerreform), der Innen- und Rechtspolitik (neues Staatsbürgerschaftsrecht sowie ein Gesetz über Lebenspartnerschaft), ebenso in der Bildungspolitik und in der Außenpolitik (zum Teil wider Willen), andererseits blieb Kontinuität erhalten, etwa im Bereich der Europa-, Sozial-, Gesundheits-, Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik.23 Etwas anders setzt Hans Jörg Hennecke24 die Akzente. Für ihn haben sich in der besagten Phase zentrale Veränderungen vollzogen: durch die Folgewirkungen der Einheit (in Ostdeutschland sei weder die transatlantische Verankerung der Bundesrepublik noch die Soziale Marktwirtschaft hinreichend akzeptiert), die Verschiebung des historischen Selbstverständnisses (die Fixierung auf den Nationalsozialismus habe nachgelassen), die zunehmende Globalisierung, Europäisierung und Interdependenz der Politik (mit der Konsequenz der Verringerung des nationalstaatlichen Handlungsspielraums) sowie schließlich durch die neue Außen- und Sicherheitspolitik (die Bundesrepublik könne sich nicht mehr ihrer Verantwortung entziehen). Diese Tendenzen sind zwar parteiübergreifender Natur, rechtfertigen aber nicht Henneckes Charakterisierung als „dritte Republik“. Was den letzten Punkt betrifft, so musste die rot-grüne Koalition durch ihr militärisches Engagement im Kosovo 1999 über ihren Schatten springen. Die zweite rot-grüne Koalition wiederum sah sich zu einer grundlegenden Reform in der Arbeitsmarktpolitik veranlasst, die eigentlich von der Konkurrenz erwartet wurde. Umso höher zu bewerten ist der Mut Schröders zu einem derartigen Schritt, der zwar der eigenen Koalition nicht, der Dynamik der Demokratie jedoch genützt hat. Die letzte Große Koalition, das lagerübergreifende Bündnis schlechthin, war beides: ein Reform- und ein Blockadebündnis25. Im Bereich der Familienpolitik wurde einkommensabhängiges Elterngeld eingeführt und die öffentliche Kinderbetreuung ausgebaut. In der Außen- wie in der Sicherheitspolitik normalisierte sich das angespannte Verhältnis zu den USA. In anderen Bereichen, etwa der Umweltpolitik, dominierten Politikblockaden oder halbherzige Maßnahmen – wie in der Gesundheitspolitik –, die dem Ziel dienten, spätere Optionen in einer politisch günstigeren Konstellation nicht zu verbauen. War das Regierungsbündnis zur Zeit der Großen Koalition politisch weithin heterogen und in seinem Gestaltungsspielraum nicht durch ein Veto des Bundesrates bedroht (jedenfalls nicht bis zur Hessenwahl im Februar 2009), so war das rot-grüne
23 Vgl. Christoph Egle/Tobias Ostheim/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998–2002, Wiesbaden 2003. 24 Vgl. Hans Jörg Hennecke, Die dritte Republik. Aufbruch und Ernüchterung, München 2003. 25 Vgl. Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die Große Koalition 2005–2009. Eine Bilanz der Regierung Merkel, Wiesbaden 2010.
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Bündnis von 1998 bis 2005 politisch ebenso homogen, wie es das schwarz-gelbe Bündnis seit 2009 ist, in seinem Gestaltungsspielraum aber durch den Bundesrat eingeengt (jedenfalls nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010). Hierunter leidet die Reformfähigkeit der Regierungspolitik. Die schwarz-gelbe Koalition hatte die Zeit bis zur Landtagswahl im größten Bundesland verstreichen lassen – trotz der Mehrheit im Bundesrat! Dieser Attentismus, bedingt durch die Angst vor „Abstrafung“ bei als unpopulär empfundenen Reformen, schadete der Union und der FDP beim ersten Wahlgang nach der Regierungsübernahme. Das lange herbeigesehnte „Projekt“ brachte so keinen Politikwechsel zustande26. Selbst der Ausstieg aus dem Ausstieg in Sachen Kernenergie wurde als Reaktion auf den Reaktorunfall von Fukushima rückgängig gemacht. Nach Regierungswechseln sind solche Kurskorrekturen eine Ausnahme. Vielmehr hat Manfred G. Schmidt auf „eine Regelmäßigkeit im Verhalten der großen Parteien [aufmerksam gemacht]: politische Neuerungen der Konkurrenz-Partei wurden oftmals akzeptiert, beibehalten und nicht selten ausgebaut – mit Verzögerung und nach einer Phase intensiven Konflikts zwischen den Parteien und in der ‚nachziehenden‘ Partei“27. Die Zahl solcher Beispiele ist Legion. Die Gründe für die normative Kraft des Faktischen dürften zum einen mit der Lernfähigkeit der neuen Regierung zusammenhängen, zum anderen mit den institutionellen Barrieren, die es erschweren, eine einmal getroffene Entscheidung komplett rückgängig zu machen. Wer auf die „Wende vor der Wende“28 verweist, will die fliegenden Übergänge benennen, die schließlich zur „Wende nach der Wende“ führten. Wenden bahnen sich an, kommen selten überraschend. Wie detailliert nachgewiesen29, ist die Ausprägung einzelner Politikfelder im Bund zum Teil von der jeweiligen Regierungspolitik abhängig, zum Teil weithin unabhängig davon. Manfred G. Schmidt hat für die westdeutschen Länder30 und in einer großen Grundlagenstudie am Beispiel der Wohlfahrtspolitik in 21 OECD-Ländern31 gewisse Unterschiede zwischen „bürgerlichen“ und sozialdemokratischen Regierungen herausgearbeitet. „Folglich erweist sich die Parteiendifferenztheorie, wonach die politische 26 Vgl. Roland Sturm, Eine Renaissance der Kanzlerdemokratie? Die Zwischenbilanz der Politik der christlich-liberalen Koalition, in: Eckhard Jesse/ders. (Hrsg.), „Superwahljahr“ 2011 und die Folgen, Baden-Baden 2011, S. 257–274; vgl. Franz Walter, Fehlende Wurzeln, mangelnde Narrative, ausgebliebener Politikwechsel, in: Daniela Kallinich/Frauke Schulz (Hrsg.), Halbzeitbilanz. Parteien, Politik und Zeitgeist in der schwarz-gelben Koalition 2009–2011, Stuttgart 2011, S. 11–33. 27 Manfred G. Schmidt, Regimewechsel und Politikwenden. Die Westzonen (1945–1949) und die Bundesrepublik Deutschland, in: Stephan von Bandemer/Göttrik Wewer (Hrsg.), Regierungssystem und Regierungslehre. Fragestellungen, Analysekonzepte und Forschungsstand eines Kernbereichs der Politikwissenschaft, Opladen 1989, S. 137–146, hier S. 141. 28 Ebd., S. 143. 29 Vgl. Klaus von Beyme, Politikfeldanalysen in der Bundesrepublik, in: Ders./Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1990, S. 18–35. 30 Vgl. Manfred G. Schmidt, CDU und SPD an der Regierung. Ein Vergleich ihrer Politik in den Ländern, Frankfurt a. M./New York 1980. 31 Vgl. ders., Wohlfahrtsstaatliche Politik unter bürgerlichen und sozialdemokratischen Regierungen, Frankfurt a. M./New York 1982.
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Couleur der Parteien in Regierung und Opposition einen Unterschied macht, auch als ein nützliches Instrument zur Erforschung der verschiedenen Demokratieformen und ihrer politischen Leistungsprofile. Zudem weist die Parteiendifferenztheorie einen für die Demokratietheorie besonders bedeutungsvollen Mechanismus nach: Der demokratische Akt des Wählens hat Konsequenzen für das Tun und Lassen der Gewählten. Auch Wählen macht demnach einen Unterschied. Wäre es nicht so, würde die Demokratie an einer entscheidenden Stelle leerlaufen.“32 Dieser Befund ist beruhigend, allerdings fallen die Wirkungen der Regierungswechsel im Bund – mehr Episoden, weniger Epoche – insgesamt eher bescheiden aus.
5.
Wunsch: stärkerer Niederschlag der Regierungswechsel in der Politik
Welche Möglichkeiten gibt es, damit die Regierungswechsel im Bund sich stärker in der realen Politik niederschlagen? Zunächst einmal ist die Sichtweise irrig, mit der Regierungsübernahme der einen politischen Kraft ändere sich alles von Grund auf. Das ist angesichts vielfältiger Vetospieler (z. B. Verfassungsgerichtsbarkeit, Rolle der Bundesbank) weder möglich noch im Interesse von Kontinuität überhaupt wünschenswert. Diese Politikverflechtung, von der „Kompetenzverflechtung“ über die „Ressourcenverflechtung“ bis zur „Entscheidungsverflechtung“33, ist im deutschen Bundesstaat immens. Die mangelnde Transparenz gilt zumal für die „Berliner Republik“34 mit ihren zahlreichen Kommissionen, Gremien und Runden Tischen, die nicht immer zu stärkerer Entscheidungsgewalt der politisch Verantwortlichen beitragen. Parteien sollten daher im eigenen Interesse vor der Wahl keine unrealistischen Perspektiven wecken. Der Vorschlag, ein mehrheitsbildendes Wahlsystem, insbesondere die relative Mehrheitswahl, einzuführen, spielte in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine tragende Rolle, ist freilich auch in den letzten Jahren wieder (modifiziert) aufgegriffen worden. Die Anhänger versprechen sich davon klare Mehrheiten einer Volkspartei im Parlament. Das dürfte der Fall sein, wiewohl bei einer Verdopplung der Wahlkreise unter den gegenwärtigen Verhältnissen mit einigen Direktmandaten für die Linke zu rechnen ist und so unter Umständen die absolute Mehrheit für eine Partei gefährdet ist. Der Haupteinwand ist jedoch ein anderer: Zum einen würde eine solche Reform zu Recht massive öffentliche Proteste wegen der als unfair empfundenen faktischen Ausschaltung von kleineren Parteien hervorrufen. Zum anderen ist mit der Regierungsmehrheit einer Partei im Bundestag – und das bringen Anhänger der Mehrheitswahl
32 Ders., Demokratietheorien. Eine Einführung, 5. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 369. 33 Ludger Helms, Die Institutionalisierung der liberalen Demokratie. Deutschland im internationalen Vergleich, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 204–222. 34 Rolf G. Heinze, Die Berliner Räterepublik. Viel Rat – wenig Tat?, Wiesbaden 2002.
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kaum zur Sprache – das Kernproblem der gegenläufigen Mehrheit im Bundesrat nicht gelöst. Der Vorschlag, stärker lagerübergreifende Koalitionen zu bilden, ist in den letzten Jahren nicht zuletzt deshalb aufgekommen, weil sich das Parteiensystem aufgefächert hat bzw. sich aufzufächern schien. Selbst wenn sich damit das Bundesratsproblem lösen ließe (was unwahrscheinlich ist), so wäre doch im Vorfeld eine Vielzahl an Kompromissen notwendig, die bei einem Regierungswechsel wohl kaum zu innovativen Lösungen beitrügen. Lagerübergreifende Dreier-Koalitionen (Schwarz-Gelb-Grün bzw. Rot-Grün-Gelb) könnten sich auf verschiedenen Ebenen gegenseitig blockieren. Die Erfahrungen allein in den Bundesländern (Saarland von 2009 bis 2012, Brandenburg und Bremen Anfang der neunziger Jahre) geben zu Optimismus keinen großen Anlass. Die Wurzel des Übels liegt in der spezifischen Art des deutschen Föderalismus. Den folgenden Überlegungen liegen keine Vorbehalte gegenüber dem Föderalismus an sich zugrunde, sondern Vorbehalte gegenüber einem missverstandenen. Der Bundesrat hat im Bereich der Gesetzgebung eine starke Rolle inne – bei zustimmungspflichtigen Gesetzen wie bei der Verfassungsänderung. Nun ist die Annahme zwar in der Theorie richtig, dass der Bundestag das Prinzip des „Parteienstaats“ repräsentiert und der Bundesrat das des „Bundesstaates“35. Tatsächlich aber verlaufen im Bundesrat die Fronten fast immer zwischen den Parteien. In gewisser Weise ist das Parteienprinzip damit in doppelter Weise verankert, der Begriff des „Parteienbundesstaates“36, der auf das Spannungsverhältnis zwischen Parteienstaat und Bundesstaat zielt, ausgesprochen verwirrend. Die zusätzliche Dominanz des Parteienstaates über den Bundesstaat ist ein Strukturdefekt der hiesigen parlamentarischen Demokratie, wiewohl der Vermittlungsausschuss in der Regel einen – meist intransparenten – Kompromiss zutage gefördert hat. Reformen bieten sich auf drei Ebenen an. Erstens müsste der Kompetenzbereich des Bundesrates begrenzt bzw. stärker nach Landes- und Bundesaufgaben getrennt werden. So ginge die Zahl der Zustimmungsgesetze zurück. Die Föderalismusreform der zweiten Großen Koalition, im Grunde eine Reform der Reform der ersten Großen Koalition, fiel nicht einschneidend genug aus. Zweitens wäre das Grundgesetz zu ändern: Enthaltungen müssen als Enthaltungen zählen und nicht wie gegenwärtig als Nein-Stimmen. Denn angesichts der größeren Parteienvielfalt und der damit verbundenen anderen Koalitionskonstellationen in den Bundesländern ist für eine Koalition im Bund bei zustimmungspflichtigen Gesetzen eine Mehrheit im Bundesrat kaum erreichbar. Zudem dien(t)en Landtagswahlen viel-
35 Vgl. Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Regelsysteme und Spannungslagen im Institutionengefüge der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Opladen/Wiesbaden 1998. 36 Frank, Decker, Regieren im „Parteienbundesstaat“. Zur Architektur der deutschen Politik, Wiesbaden 2011.
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fach dazu, die Hauptregierungspartei im Bund zumal in der Mitte der Legislaturperiode „abzustrafen“ (Midterm-Effekt). Drittens sollten die im Bund opponierenden Parteien den Bundesrat nicht als parteipolitisches Instrument gebrauchen. Dieser hat die Interessen der Länder zu vertreten, nicht die der Opposition im Bund. So könnte der Bundesrat seine genuine Funktion als Vertretung der Länder überzeugender wahrnehmen. Der Sinn des Bundesrates besteht nicht in einer robusten Gegnerschaft zum Bundestag. Auf diese Weise wüchse die Zurechenbarkeit der Entscheidungen an. Die Regierungsparteien erhielten einen größeren Handlungsspielraum. Skepsis ist angesichts verbreiteter Tendenzen der Beharrung jedoch angezeigt, was die Verwirklichung derartiger Reformen betrifft. Ein Regierungswechsel würde auf diese Weise stärker durchschlagen. Die Politikverdrossenheit, die auf viele Ursachen zurückgeht, schwächte sich wohl ab, die „Konsensfalle“37 dürfte nachlassen. Vor allem erfährt der Wahlakt eine Aufwertung. Die neue Regierung könnte sich nicht mit verhandlungsdemokratischen Zwängen herausreden. Kompromisse blieben nicht aus, aber sie gingen – wie für jedermann erkennbar – auf die Regierungskoalition selbst zurück. Deren Ausflüchte verfingen dann nicht mehr. Ein spezifisches Problem liegt in folgendem Umstand: Die beiden großen Parteien, die bekanntlich unterschiedlichen politischen Lagern angehören, sind gleichermaßen „Sozialstaatsparteien“38. Damit ist in gewisser Weise ein hohes Maß an Kontinuität festgeschrieben – unabhängig davon, ob die Union oder die SPD auf den Oppositionsbänken sitzt. Die dominierende Kraft in der Regierung: stets eine „Sozialstaatspartei“!
6.
Zusammenhang zwischen früheren Systemwechseln und heutigen Regierungswechseln?
Ein „Systemwechsel“, wie ihn die Partei Die Linke in ihrem Programm von 2011 mit Nachdruck fordert, ist weder wünschenswert noch erwartbar. „Die Bundesrepublik ist [...] insofern ein Staat der Mitte geworden, als extreme politische Programme sich nicht haben durchsetzen können bzw. erfolgreich bekämpft worden sind.“39 Der britische Parteienforscher Gordon Smith40 hob, den britischen Dualismus vor Augen, mehrfach die deutsche „Politics of Centrality“ positiv hervor: Die FDP habe als genuine Partei der Mitte schroffe Regierungswechsel abgefedert. Und wie kein zweiter hat Manfred G. Schmidt in zahlreichen Publikationen die Staatstätigkeit der Bundesrepublik als „Politik 37 Thomas Darnstädt, Die Konsens-Falle. Wie das Grundgesetz Reformen blockiert, München 2004. 38 Manfred G. Schmidt, Die Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition (2005 bis 2009), in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Anm. 25), S. 302–326, hier S. 302. 39 Jörn Ipsen, Der Staat der Mitte. Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2009, S. VIII (Hervorhebung im Original). 40 Vgl. Gordon Smith, West Germany and the Politics of Centrality, in: Government and Opposition 11 (1976), S. 376–407.
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des mittleren Weges“41 nicht nur beschrieben, sondern auch analysiert – als eines Weges jenseits des skandinavischen Wohlfahrtsstaates und jenseits des amerikanischen Kapitalismus. Das ist die eine Seite, die zumal ein Extremismusforscher zu goutieren weiß. Die Zeit der Systemwechsel, von der eingangs die Rede war, ist fern und nah zugleich: fern deshalb, weil der Neuanfang im Westen Deutschlands nach 1945 – begleitet durch alliierte Eingriffe und Hilfen – geglückt ist: ökonomische Aufwärtsentwicklung, starke soziale Abfederung, relativ entspanntes Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmen, insgesamt gefestigte demokratische politische Kultur, Schwinden konfessioneller Konflikte durch Säkularisierung, militärische, politische und kulturelle Westbindung, weithin isolierter Extremismus, stabiles Parteiensystem mit Tendenz zur Mitte. Der Bruch zur Vergangenheit ist offenkundig; nah deshalb, weil in der öffentlichen Perzeption die Folgen der Systemwechsel (1933 in ganz Deutschland, 1945 im Osten) weiterhin Prägekraft besitzen. Alarmismus ist bei – offenkundigen oder nur scheinbaren – krisenhaften Symptomen verbreitet. Die Chancen für eine Rechtsaußenpartei stehen in Deutschland aufgrund des Zivilisationsbruches durch den Nationalsozialismus im Gegensatz zu anderen Staaten wahrhaft nicht gut. Gleichwohl ist die negative Fixierung auf die Vergangenheit verbreitet – weniger ein Zeichen wacher Sensibilität, mehr das eines mangelnden Selbstvertrauens. Die Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung ist ein Politikum, weil auf diese Weise Chancen verspielt und neue Gefahren nicht erkannt werden können. Ein kleines Beispiel: Dass Deutschland immer noch über kein Selbstauflösungsrecht des Bundestages verfügt, ist zwar mit den historischen Erfahrungen zu erklären, aber nicht recht zu verstehen. Dieser Stabilitätsmechanismus wird in Kauf genommen, obwohl die Prozedur der Auflösung des Bundestages sich damit kompliziert und nicht eben glaubwürdig gestaltet (mittels der unechten Vertrauensfrage). Die andere Seite: Die deutsche Gesellschaft ist durch ein hohes Maß an Konsens gekennzeichnet, wie u. a. die wenigen Regierungswechsel auf Bundesebene zeigen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Eine geht auf die Systemwechsel im letzten Jahrhundert zurück, die mit ihren Erschütterungen im kollektiven Gedächtnis der Nation nachwirken. Das „Stabilitätstrauma“ (Kurt Sontheimer) ist angesichts der Vergangenheit mit Händen zu greifen, die „Suche nach Sicherheit“ (Eckart Conze) ebenso. Die Bundesrepublik, schon lange keine Schönwetterdemokratie mehr, verträgt nicht nur größere Kurskorrekturen nach Regierungswechseln, sie braucht sie auch auf vielen Politikfeldern, will sie Immobilismus begegnen. Die zum Teil von Auszehrung bedrohten Parteien, ob nun in der Regierung oder in der Opposition, erfahren so neue Lebenskraft.
41 Manfred G. Schmidt, Die Politik des mittleren Weges. Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 9–10 (1990), S. 23–31, hier S. 24.
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Parteien und Wahlen
Wer dafür plädiert, die Folgen der Regierungswechsel mögen in Deutschland stärker durchschlagen, möchte dem Wahlakt eine größere Bedeutung zumessen, Politikverdrossenheit eindämmen und einer blockierten Demokratie einen Riegel vorschieben. Durch Globalisierung und die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union42 wird der Gestaltungsspielraum der nationalen Politik ohnehin schon in einer Weise eingeschränkt, wie das Ernst Fraenkel vor bald einem halben Jahrhundert nicht für möglich erachtet hatte. Gleichwohl oder gerade deswegen ist seine Warnung keine façon de parler: „Wenn der Eindruck vorherrscht, dass die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition eine Spiegelfechterei darstellen, wird die Überzeugung wachsen, dass die Wahlen lediglich Routineabstimmungen sind, die bestenfalls zu einer Wachablösung zu führen vermögen, wenn nicht gar sich darin erschöpfen, leichte Korrekturen eines über- und zwischenparteilichen Patronage-Kartells zu bewerkstelligen.“43 Wird keine Abhilfe geschaffen, kann die Kritik sich zum Menetekel auswachsen. Manfred G. Schmidts Analysen geben dieser Diagnose indirekt Nahrung. Wohl keiner hat die Bundesrepublik Deutschland so nachdrücklich als „Staat der Großen Koalition“44 beschrieben wie er, nicht zuletzt aufgrund der spezifischen Form der föderalistischen Struktur, die faktisch ein „Durchregieren“ unmöglich macht. Allerdings unterscheidet sich diese Sichtweise grundlegend von jener, die wegen der Dominanz des kapitalistischen Systems Reformen von vornherein als wirkungslos ansieht45. Stattdessen hebt Schmidt „strukturelle Handlungssperren für grundlegende Wenden“46 hervor. „Insoweit ist die Bundesrepublik selbst dann ein ‚Staat der Großen Koalition‘, wenn im Bund eine kleine Koalition regiert.“47 Dieser Befund sollte – der Pfadabhängigkeit zum Trotz, allen Systemrestriktionen zuwider – abgeschwächt werden. Die Politik der jeweiligen Regierung ist nicht „alternativlos“. Das Paradoxe an dem Status quo besteht darin, dass im Gegensatz zu einem herkömmlichen Bündnis eine Große Koalition mehr zur Überwindung von Blockaden beitragen kann, weil sie diese zu blockieren vermag – vor allem dann, wenn die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien einen guten Faden spinnen, wie das zumal für die erste Große Koalition mit Rainer Barzel und Helmut Schmidt zutraf. Insofern fällt das Urteil über die beiden Großen Koalitionen keineswegs krass negativ aus.
42 Vgl. Roland Sturm/Heinrich Pehle, Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern, 3. Aufl., Wiesbaden 2012. 43 Ernst Fraenkel (Anm. 14), S. 111 f. 44 Manfred G. Schmidt, Germany: The Grand Coalition State, in: Josep M. Colomer (Hrsg.), Comparative European Politics, Milton Park 2008, S. 58–93. 45 Vgl. Wolf Dieter Narr (Hrsg.), Auf dem Wege zum Einparteienstaat?, Opladen 1977. 46 Manfred G. Schmidt (Anm. 27), S. 141. 47 Ders. (Anm. 2), S. 42.
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Ein Systemwechsel ist weder wünschenswert noch erwartbar, ein (systemerhaltender) Wandel, etwa durch Regierungswechsel, hingegen zwar wünschenswert, aber wohl nicht erwartbar. Auf diese Weise wird die Regenerationsfähigkeit der deutschen Demokratie samt der Parteien nicht hinreichend gesichert. Der „Staat der Großen Koalition“ – er benötigt mehr Wandel, weniger Systemstarre. Um Ernst Fraenkels erwähntes Diktum zu paraphrasieren: Wer den „Patienten“ von 2013 kurieren will, kann den „Leichnam“ von 1933 ignorieren. Die Vergangenheit ist nicht stets ein guter Ratgeber für die Zukunft.
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Zehn „goldene Regeln“ für Promovenden – Erfahrungen und Einsichten Welche Erfahrungen kennzeichnen das Dasein als Betreuer? Welche Probleme der Betreuten werden dabei sichtbar, und mit welchen regulativen Ideen lässt sich den meisten davon erfolgreich begegnen? Welche Ratschläge können Doktoranden gebrauchen?
1.
Vorab
Als Mitglied des Wissenschaftlichen Fachbeirats der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wurde ich vor einigen Jahren gebeten, den von der Stiftung geförderten Doktoranden im Rahmen eines Vortrages Ratschläge für das Gelingen ihrer Promotion zu geben. Ich kam dieser Bitte gerne nach, da mir zahlreiche Defizite im Rahmen des Promotionsstudiums aufgefallen waren. Viele dieser Missstände bedingten sich gegenseitig: etwa die ungenügende Förderung durch Betreuer (Engagement im Umgang mit Doktoranden ist wenig karrierefördernd), die viel zu lange Zeitdauer vom Beginn bis zum Ende der Arbeit (Durchschnittsalter: 34 Jahre!),1 die hohe Zahl der Abbrecher (zwei von drei geben auf ) oder die Perfektionssucht von Doktoranden (bedingt durch „Vollständigkeitswahn“). Zudem hat(te) mich das Engagement für Promovenden stets mehr erfüllt als die oft ermüdende Tätigkeit in (Universitäts-)Gremien. Von Anfang der neunziger Jahre an biete ich (neben den üblichen Magistranden- und Doktorandenkolloquien an der Universität) zweimal im Jahr Doktorandenkreise an, jeweils an einem gesonderten Ort für zwei Tage. Bei mehreren einwöchigen Treffen im Ausland ließ sich die inspirierende Atmosphäre nutzen – jenseits des universitären Alltags. Während der Diskussion des Vortrags kamen unterschiedliche Erwartungshaltungen der Doktoranden auf. Der eine wünschte, möglichst an die Hand genommen zu werden, der andere votierte für viel Freiraum. Mir wurde schnell klar, auch durch die Erfahrung mit den eigenen Doktoranden und als Leiter zweier Promotionskollegs: Wer jungen Wissenschaftlern sinnvoll helfen will, muss die Anregungen so fassen, dass sie nicht einengen. Umgekehrt schien es mir wichtig, einen klaren Weg vorzugeben, damit nicht Beliebigkeit triumphiert. Aus diesem Vortrag ging ein thesenartiger Artikel für die „Zeit“ hervor.2 Die Resonanz verblüffte: Eine Reihe von Kollegen übernahm ihn auf die eigene Homepage, auch die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.3 Der Text wurde „fächerneutral“ formuliert,
1 2 3
Allerdings sagt das Alter nicht zwingend etwas über die Promotionsdauer aus. Vgl. Eckhard Jesse, Schreibe und lebe!, in: Die Zeit v. 23. Juni 2005, S. 10 (Beilage). Eine Langfassung erschien später im „TU-Spektrum“, dem Magazin der TU Chemnitz. Vgl. Eckhard Jesse, Mit Leidenschaft und Pragmatismus zur Dissertation. Eine gute Promotion lässt sich planen. Zehn Anregungen für Doktoranden, in: TU-Spektrum 1/2006, S. 8 f.
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Hinweise zur Promotion
nicht spezifisch auf die Politikwissenschaft zugeschnitten. Der Aufbau der einzelnen zehn Ratschläge gestaltet sich ähnlich. Jede Anregung weist eine Überschrift im Sinne einer Aufforderung auf, die möglichst prägnant den Inhalt auf den Punkt bringen soll. Danach folgen jeweils zwei Abschnitte. Im ersten Absatz wird die Eingangsempfehlung ausführlicher begründet, im zweiten folgen Präzisierungen, Differenzierungen, Einschränkungen. Der letzte Satz variiert die Hauptthese, diesmal nicht in der Art eines Imperativs. Ich habe bei der Abfassung ein möglichst hohes Maß an Anschaulichkeit angestrebt. Wer den Text liest, soll nicht abgeschreckt werden – gerade deshalb, weil sich manche Passage trotz leichter Ironie als oberlehrerhafte Lebensweisheit deuten ließe. Etwa: „Wer die freie Zeit (sie ist Freizeit!) ohne ein schlechtes Gewissen genießt und sie sinnvoll nutzt (körperlicher Ausgleich; gesunde Ernährung; ausreichender Schlaf; Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen), kann erholt an den Schreibtisch zurückkehren und Geistreiches zu Papier bringen.“ Eine Promotion4 verlangt neben Geist und Gedankenreichtum Geduld wie Gelassenheit, nicht aber Genialität. Im Jahr 2007 durften sich 23.843 Personen mit dem Doktortitel (in der Regel nicht mehr mit dem „Doktorhut“) schmücken, davon über 30 Prozent Mediziner. Der Text soll für sich sprechen. Die Maximen erwuchsen aus der langjährigen Arbeit mit Doktoranden. Um einen Fehlstart zu vermeiden, lade ich „Schnupperdoktoranden“ zu Promotionstagungen ein, damit jeder einen authentischen Eindruck von dem gewinnt, was ihn erwartet. Bei solchen Treffen stellen Doktoranden ihre Texte in schriftlicher Form zur Diskussion. Auch die Kritik erfolgt zunächst so. Diese Vorgehensweise, die eine intensive Auseinandersetzung mit den Manuskripten vor den Treffen verlangt, ist, wie die Praxis zeigt, ertragreich. Durch die Korrektur fremder Texte sollen Doktoranden lernen,5 worauf es ankommt – inhaltlich, formal und sprachlich. Das Gefühl für sprachliche Prägnanz ist häufig unterentwickelt. Bei der späteren mündlichen Diskussion können die Teilnehmer die Plausibilität der eigenen Kritik nachvollziehen. Daher betone ich in den Ratschlägen eigens die Notwendigkeit, die Arbeitsergebnisse vor allem in schriftlicher Form zur Diskussion zu stellen. Bluff ist bei Vorlage einer schriftlichen Fassung weniger leicht möglich als bei mündlichen Beiträgen. Meine Ratschläge:
2.
Die zehn Anregungen
Erstens: Prüfe die Gründe für das Schreiben einer Dissertation! Vor der Anfertigung der Arbeit ist es wichtig, Klarheit über die eigenen Motive zu gewinnen. Der Mensch fängt nicht beim Doktor an. Insofern soll jeder mit sich ins Gericht 4 5
Vgl. Ingo von Münch, Promotion, Tübingen 2003. Leider sieht die Praxis etwas anders aus. Mancher Doktorand erkennt nur unzureichend den Vorteil für die eigene Arbeit, wenn er Teile einer fremden zu redigieren hat.
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gehen, ob Aufwand und Ertrag in einem angemessenen Verhältnis stehen. Für manche Positionen ist ein Doktortitel nötig, für einige nur schmückendes Beiwerk. Die einen wollen mit einer Dissertation den Berufseinstieg hinausschieben, die anderen streben sie an, weil sie keinen Berufseinstieg finden. In beiden Fällen ist Flucht das Motiv. Eine Dissertation ist kein „Kinderspiel“ und verlangt neben intellektuellen Fähigkeiten großes Durchhaltevermögen. Diese Eigenschaften besitzt nicht jeder. Es gibt Ehrgeiz, der in der Sache begründet liegt, und Ehrgeiz, der in weniger ehrwürdigen Motivationen wurzelt (z. B. „Titelsucht“). Mit dem Doktortitel etwas kompensieren zu wollen, verfängt nicht. Gefragt ist Ehrlichkeit, kein Selbstbetrug. Überforderungen treten bei großer Erwartungshaltung von außen schnell auf. Von der eigenen Leistungskraft Überzeugte begreifen schwierige Rahmenbedingungen als Herausforderung. Promovieren sollte nur, wer dies wirklich will. Zweitens: Achte auf ein vertrauensvolles Verhältnis zum „Doktorvater“! In der Regel handelt es sich um ein Plussummenspiel. Der Betreuer hofft ebenso auf eine überzeugende Arbeit in absehbarer Zeit. (Insofern sollte der „Doktorvater“ Interesse an einem guten Verhältnis zum Doktoranden haben.) Gleichwohl kann ein Spannungsverhältnis aufkommen (unter anderem aufgrund der unterschiedlichen Ansprüche). Offenheit ist ein wichtiges Gebot. Wer in einer Sackgasse steckt, sollte beizeiten den Kontakt zum „Doktorvater“ suchen und Beratungsresistenz meiden. Sinnvoll ist es, ihm nach Absprache einzelne abgeschlossene Teile (keine Provisorien) zu geben. Mit regelmäßigen Konsultationen „verrennt“ sich ein Promovend weniger leicht. Dieser soll sein Thema nach Rücksprache mit dem Betreuer selbst aussuchen. Er muss Vertrauen haben, daran glauben, dass der „Doktorvater“ an ihn glaubt und dessen (realistische) Kritik konstruktiv umsetzen. Die Motivation ist größer, wird die Arbeit mit Herzblut verfasst. Der Ratschlag des „Doktorvaters“ bei der Wahl des Zweitkorrektors verdient Beachtung. Manch ein Mimosenhafter trägt professorale Kontroversen über den besseren Ansatz auf dem schwachen Rücken des Doktoranden aus. Ein guter Draht zum „Doktorvater“ schafft Sicherheit. Drittens: Stelle frühzeitig eine Gliederung als Orientierungsrahmen auf! Mit einer (auch sprachlich) ausgefeilten, in den Ober- und Unterpunkten stimmigen Gliederung steht und fällt das Projekt. Eine detaillierte Inhaltsübersicht ermöglicht, ein wichtiges Zitat (bitte mit Quellenangabe!), eine kühne Eingebung oder eine fundierte Kritik sofort am richtigen Ort zu platzieren. Da dem Schreibprozess eine gewisse Eigendynamik innewohnt, entspricht die Gliederung am Ende nicht exakt der anfänglichen. Der Doktorand stößt auf neue Wege, erkennt alte als Irrwege. Mancher Umweg ist ein Königsweg. Eine Vorgehensweise von A–Z ist in der Regel wenig empfehlenswert. Ihr wohnt die Gefahr inne, dass eher hinführende Kapitel zu ausführlich geraten. Die Umfangsproportionen bedürfen ebenso der – ungefähren – Festlegung, um die „Kampfkraft“ nicht auf Nebenkriegsschauplätzen zu vergeuden. Die Einleitung (Pflicht:
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Hinweise zur Promotion
Problemstellung; Forschungsstand; Aufbau; Kür: Methodik; Untersuchungsgegenstand; Abgrenzung der Thematik) und die Schlussbetrachtung (Pflicht: Zusammenfassung; Kür: offene Fragen; Ausblick; Vergleich) sollten zusammen einen Anteil von zehn Prozent einnehmen. „Exkurse“ oder gar „Exkurse zu Exkursen“ stören. Entweder fügen sich die Passagen in die Gliederung, oder sie sprengen deren Rahmen. Tertium non datur. Eine Gliederung im Frühstadium wirkt disziplinierend. Viertens: Entwickle eine überzeugende Leitfrage! Wer den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, wandelt auf dem Holzweg. Eine klare Leitfrage ist unentbehrlich. Sie muss so zu beantworten sein, dass Neues, wissenschaftlich Weiterführendes herauskommt. Aus dieser erwächst eine Vielzahl von Unterfragen, die in einem engen Zusammenhang zur Hauptfrage stehen. Die Ausrichtung an einem roten Faden vermeidet deskriptive Breite. Der theoretische Bezugsrahmen, der zu einer anspruchsvollen Arbeit häufig dazu gehört, soll mit dem empirischen Teil eng verwoben sein. Er ist Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck. Eine gute Dissertation schlägt am Ende den Bogen zum Beginn. Abschließend ist zu prüfen, welche der Unterfragen tatsächlich beantwortet sind. Ignorierte Fragen entfallen, neue Fragen gehören in die Problemstellung hinein, sofern sie Relevanz für den Kern der Studie besitzen. Wer ungelöste Probleme am Ende benennt, ist selbstkritisch. Eine präzise Fragestellung ermöglicht analytische Tiefe. Fünftens: Schreibe, schreibe und schreibe! Eine Dissertation beruht in erster Linie auf einer gedanklichen, allerdings schriftlich umzusetzenden Leistung. Wer liest und liest, sammelt und sammelt, recherchiert und recherchiert, kommt nicht ans Ziel. Bei aufgeschobener Schreibarbeit ist es unvermeidlich, das Gelesene erneut heranzuziehen. Wer frühzeitig Texte eingibt (mindestens fünf Seiten pro Woche) und regelmäßig dabei bleibt, gelangt eher ans ersehnte Ziel. Durch den Motivationsschub wächst das Durchhaltevermögen. Die Angst vor dem leeren Blatt lässt nach. Verschiebungen einzelner Teile sind leicht(er) möglich. Wer mit den zentralen Teilen der Arbeit anfängt, hat genügend Muße für das Neue. Es ist besser, relevante Aspekte intensiv aufzugreifen als marginale. Der Doktorand soll dem zentralen Problemfeld erstrangiges Gewicht einräumen. Gleichwohl sind schöpferische Entspannungsphasen wichtig. Freitag (oder ein anderer Tag) ist ein freier Tag. Wer die freie Zeit (sie ist Freizeit!) ohne ein schlechtes Gewissen genießt und sinnvoll nutzt (körperlicher Ausgleich; gesunde Ernährung; ausreichender Schlaf; Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen), kann erholt an den Schreibtisch zurückkehren und Geistreiches zu Papier bringen. Die Zuversicht steigt. Entschleunigung fördert Beschleunigung. Es bedarf keiner „Tonnenideologie“; denn Quantität schlägt nicht immer in Qualität um. Und: Wer anfängt, muss aufhören (können). Kontinuierliches Schreiben gibt ein gutes Gefühl.
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Sechstens: Meide Perfektionismus! Eine Dissertation ist kein Fall für das Nobelpreis-Komitee. Man kann nicht alles und nicht jedes erforschen, hat aber Neuland zu betreten. Fast jeder Doktorand neigt zum Verzetteln und vergeudet damit Energie. Er nimmt sich bei seinem Erstlingswerk zu viel vor und unterschätzt die Tücken der Materie (Quellen und Materialprobleme etwa). Hingegen überschätzt er meistens das Gewicht des eigenen Themas. Wer es zu relativieren weiß, lässt Souveränität erkennen. Eine zu umfassende Arbeit schweift ab, grenzt nicht angemessen ein. Zum einen braucht der Schreiber länger bis zur Abgabe der Dissertation, zum anderen mehr Zeit bis zur Publikation (zum Beispiel durch Kürzungsauflagen). Der Mut zur Lücke ist kein Übermut, Pragmatismus eine Tugend. Allerdings: Der Doktorand muss Neugierde besitzen und sich an einer Fragestellung „festbeißen“. Große Langmut wird honoriert. Augenmaß und Leidenschaft führen zum Erfolg. Siebtens: Formuliere so verständlich wie möglich, so wissenschaftlich wie nötig! Eine gute Promotion besticht nicht nur durch inhaltliche Tiefenschärfe, sondern auch durch formale Exaktheit und sprachliche Eleganz. Das eine bedingt häufig das andere. Wer einen Sachverhalt intellektuell durchdrungen hat, kann einfach schreiben, ohne zu vereinfachen. Einfachheit ist nicht Simplizität. Leider neigen manche zu sibyllinischen Formulierungen, zu Geschraubtheit, einige zu Saloppheit und Polemik. Weder das eine noch das andere beeindruckt. Substantivstil und Passivkonstruktionen ermüden den Leser. Inhaltliche und formale Redundanzen, Banalitäten wie effekthascherische Sprachspielereien haben in einer Dissertation nichts zu suchen. Wirkung wie Qualität hängen häufig von der (unterschätzten) sprachlichen Präsentation ab. Floskeln („also“; „noch“; „hier“) und Modeworte („andenken“; „thematisieren“) trüben den Gesamteindruck. Auch kann man fast jedes „auch“ einsparen. Ausdrucksvolle Sprache und gediegen-schnörkelloser Stil bereiten Lesegenuss. Achtens: Setze das eigene Konzept öfter der Kritik aus! Der Doktorand soll die Studie in den unterschiedlichen Arbeitsphasen immer wieder zur kritischen Diskussion stellen (vor allem in schriftlicher Form). Selbst wer eine spezifische Kritik nicht oder nur zum Teil übernimmt, erfährt so etwaige Schwachpunkte. Eine Werkstattatmosphäre, zum Beispiel auf Doktorandenkolloquien, fördert Offenheit, ermöglicht fruchtbare Diskussionen, erlaubt Vergleiche. Engherziges Revierverhalten ist ein Zeichen von Unsicherheit und die Angst, eine andere Person könne das gleiche Thema erforschen, unbegründet. Selbst wenn: zwei ähnliche Themen, zwei unterschiedliche Ansätze! Abschottung leistet einer Bunkermentalität Vorschub. Ein Auf-sich-Zurückziehen führt zu Betriebsblindheit. Die Kritik aus einer Advocatus-diaboli-Perspektive konfrontiert den Doktoranden mit ungewohnten und ungewöhnlichen Perspektiven.
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Hinweise zur Promotion
Unkonventionelle Anregungen fordern und fördern die Originalität. Allerdings: Der Rückzug in die Gelehrtenstube ist ebenso nötig. Ständige Diskussionen halten von der Denk- und Schreibarbeit ab. Der Feind des Guten ist das Bessere. Neuntens: Wisse stets, wie die Zeit flieht! Deutsche Doktoranden sind bei der Abgabe ihrer Dissertation zu alt, oft über 30 Jahre. Das hat mannigfache Gründe (unter anderem schlechte Betreuung). Daher sollte der Promovend möglichst an seine Staatsexamens-, Diplom- oder Magisterarbeit anknüpfen. Vorausschauendes Denken ist gefragt. Leistung bedeutet, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne eine bestimmte Arbeit zu bewältigen. Ein zügiger Abschluss verbessert die beruflichen Aussichten. Die frühzeitige Orientierung an realistischen Zeit- und Arbeitsplänen (für jedes Kapitel!) hilft, Hektik zu vermeiden. Eine Dissertation wird eigenverantwortlich erstellt. Im Gegensatz zu einem Angestellten im Betrieb oder einem Beamten im Ministerium ist ein Doktorand in keine festen Strukturen eingebunden. Die freie Wahl ist für manchen eine Qual, Selbstdisziplin das A und O. Für „unvorhergesehene“ Pannen muss genügend Spielraum bleiben. Die redaktionelle Schlussdurchsicht ist wichtig und dauert (zum Beispiel für die formale Vereinheitlichung). Bekanntlich steckt der Teufel im Detail. Fast jeder Doktorand braucht länger als geplant. Wer in Zeitnot gerät, sollte abrüsten und das Thema zeitlich wie inhaltlich einschränken. Vertane Zeit ist vertanes Geld. Zehntens: Relativiere die vorhergehenden Anregungen! Diese Anregung, die die anderen Anregungen infrage stellt, scheint paradox. Aber es gibt kein Ei des Kolumbus, keinen Stein der Weisen. Allgemeingültige Maximen erwecken den (fälschlichen) Eindruck, als seien Patentrezepte angestrebt. Wohl alle Doktoranden kommen irgendwann an einen toten Punkt, haben mitunter Schreibhemmungen, kennen Phasen der Resignation. Jeder muss damit anders klarkommen. Ein hohes Maß an Frustrationstoleranz ist notwendig. Sklavisches Festhalten an Regeln anderer hilft nicht weiter. Der eine ist morgens und vormittags in einer guten Schreibverfassung, der andere abends und nachts. Was dem einen nützt, schadet dem anderen. Die eigenen Erfahrungen bei der Staatsexamens-, Magister- oder Diplomarbeit (positive wie negative) sind ein zuverlässiger Ratgeber. Diese Anregungen können daher lediglich als regulative Ideen dienen. Distanz zu starren Regeln fördert Eigenständigkeit.
3.
Nachsatz
Ohne dass es nach Selbstbespiegelung aussehen soll, mag ein Fazit erlaubt sein. Wer nach 15 Jahren rund 50 Dissertationen als Erstgutachter betreut hat, kommt zu dem
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nicht überraschenden Schluss: Jeder Doktorand ist anders. Insofern verbietet sich prinzipienfester Rigorismus. Im Umgang mit Doktoranden ist Flexibilität nötig. Trotzdem teile ich nicht die folgende Meinung von Kollegen: Wer eine Dissertation schreiben kann, brauche keine Regeln; sie nützten demjenigen nichts, dem es am intellektuellen Rüstzeug für eine Doktorarbeit fehlt. Denn häufig scheitern Promotionen nicht an mangelnder intellektueller Fähigkeit, sondern an anderen – misslichen – Umständen, auf die solche Maximen aufmerksam machen wollen. Meine Erfahrungen: Wer regelmäßig an Doktorandentagungen teilnimmt, kommt in der Regel besser voran. Er muss jedes Mal einen neuen Teil der Arbeit präsentieren, erhält Rückmeldungen – das berühmte Feedback – und sieht sich so zu kontinuierlicher Arbeit verpflichtet. Oft tragen wir im Doktorandenkreis einen „Rezensionswettbewerb“ aus. Jeder bespricht auf vier Seiten dasselbe Buch, in der Regel eine Dissertation. Das Erstaunliche: Wer eine solche Besprechung gut „hinbekommt“, hat selten Last bei einer Dissertation. Wer Mühsal dabei empfindet, gehört später oft zu den „Sorgenkindern“. Die durch die Werkstattatmosphäre geförderte große Offenheit bekommt nicht allen Doktoranden. Gerade Anfänger haben mit dem „offenen Visier“ zuweilen ein Problem – mit dem Kritisieren ebenso wie mit dem Kritisiertwerden. Abbrüche, die das Selbstbewusstsein nicht fördern, erfolgen meist in der Anfangsphase. Für das „Durchhalten“ ersichtlich irrelevant ist die Frage, ob der Doktorand in Universitätsnähe wohnt. Besondere Anforderungen an Energie und Selbstdisziplin sind an jene Promovenden gestellt, die einem „Brotberuf “ nachgehen. Nur wenige halten einer solchen Belastung stand. Die Erfolgsquote ist am größten bei denen, die sich mit Hilfe eines Stipendiums ganz ihrer Dissertation widmen können. Allerdings braucht fast jeder länger als zwei Jahre. Eine kritische Situation ist nach Ablauf des Stipendiums erreicht – wenn die Notwendigkeit besteht, eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen. Die einen kapitulieren dann, die anderen beißen sich durch. Meine Einsichten: Die Gründe für den Abbruch sind höchst unterschiedlich. Zuweilen liegen sie in der aufgeschobenen oder erst verspätet in Angriff genommenen Schreibphase. Manchmal ist eine Beziehung der Dissertationskiller, manchmal eine Dissertation der Beziehungskiller. Insgesamt hat bei mir mehr als jeder zweite Doktorand seine Arbeit erfolgreich beendet. Von den Stipendiaten des Promotionskollegs „Politischer Extremismus und Parteien“ konnten etwa 80 Prozent ihre Dissertation abschließen.6 Mittlerweile habe ich meine Überredungsversuche (aus der Sicht von Doktoranden) bzw. Überzeugungskünste (aus der eigenen Sicht) eingestellt, wenn jemand partout seine Arbeit nicht zu Ende bringen will bzw. kann. Hingegen ist es mir weiterhin eine Freude, einmal im Jahr ein verlängertes Wochenende mit den Doktoren (und ihren Partnern) an jeweils unterschiedlichen Orten zu verbringen, von beruflichem Fortkommen zu erfahren und soziale Kontakte zu pflegen. Ich weiß, auch andere Hochschullehrer pflegen solche 6
Vgl. die „Kostprobe“ zu den Dissertationen die Beiträge, in: Eckhard Jesse/Hans-Peter Niedermeier (Hrsg.), Politischer Extremismus und Parteien, Berlin 2007.
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Hinweise zur Promotion
Usancen. Von einer „Verschulung“ des Promotionsstudiums wie jetzt angestrebt. halte ich gar nichts. Die Dissertation ist eine eigenständige wissenschaftliche Leistung. Durch das Bachelor- und Masterstudium erleben wir ohnehin schon eine Gängelung. Gleichwohl sind viele Forschungsprojekte, etwa in der Medizin oder in den Naturwissenschaften, ohne universitäre Anbindung kaum praktikabel. Überschätzt wird von Doktoranden die politische Dimension ihres Projekts. Da es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt, spielt weitaus weniger die politische Position des Autors eine Rolle als angenommen. Entscheidend ist die stimmige Begründung der eigenen Position. Und erst recht tut es nichts zur Sache, ob die Auffassung des Doktoranden mit der (vermuteten) des Doktorvaters konvergiert.7 Politikwissenschaft ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, um ein Zitat Carl von Clausewitz’ zu paraphrasieren. Ein guter Hochschullehrer verkörpert Liberalität und Toleranz. Er verficht konsequent seine Position, verabsolutiert sie aber nicht und drängt sie anderen nicht auf. Die Sorgen von Doktoranden um ihre Note sind in der Regel unbegründet. Zum einen wird ein verantwortungsbewusster Betreuer nur solche Arbeiten einreichen lassen, die die Gutachter für dissertationswürdig befinden und nicht mit „non sufficit“ versehen. Zum anderen spielt die Benotung später so gut wie keine Rolle mehr, es sei denn, der Doktorand strebt eine Karriere an der Universität an. Rigorosum und Disputation halte ich nicht für notwendig. Der Verzicht auf diese Rituale stellt keine Entwertung der Promotion dar. Bei mir kann sich im Prinzip kein Doktorand verbessern oder verschlechtern, wenn die Noten der Gutachten übereinstimmen. Es wäre absurd, die Leistung in zwei Stunden höher – oder niedriger – zu würdigen als die von mehr als zwei Jahren Arbeit. Jedoch ist es wichtig, die Notenskala auszuschöpfen: „Summa cum laude“ muss ebenso erreichbar sein wie „rite“. Mich stört es, die eigenen „Schüler“ mit einem besonders guten Prädikat zu bedenken, als sei dies die Leistung des „Lehrers“. Unterschätzt wird von Doktoranden dagegen oft die Bedeutung des Verlages, in dem die Dissertation erscheinen soll. Ich rate zu einem Verlag, der einen guten Ruf hat und für das jeweilige Thema „passt“, auch wenn der Druckkostenzuschuss etwas höher ausfallen mag. Für die spätere berufliche Laufbahn des Doktoranden ist ein zügiger Abschluss wichtig. Wer mit Hilfe eines Stipendiums promoviert, sollte das dritte Lebensjahrzehnt nicht überschritten haben. „Trau keinem (Anfänger) über 30“ – das ist offenkundig die Devise mancher Arbeitgeber. Die kürzeste Zeitdauer betrug bei mir zwölf Monate (der Doktorand war „fix“ mit 24 Jahren „fertig“ – auch deshalb, weil er an seine Magisterarbeit anknüpfen konnte), die längste lag bei 15 Jahren (der Doktorand erwarb erst mit fast 50 Jahren den begehrten Titel – auch deshalb, weil er zuvor eine Reihe anderer Bücher geschrieben hatte).
7
Allerdings fördere ich keinen Doktoranden, der demokratische Prinzipien ablehnt und sich in einer entsprechenden Organisation engagiert.
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Die bei mir angefertigten Dissertationen aus dem Bereich der DDR-Forschung lassen nichts mehr von der erbitterten Auseinandersetzung vergangener Zeiten erkennen8 – ob man an Udo Barons Arbeit über den Einfluss der SED auf die Grünen denkt9, an Hans-Georg Golz’ Studie zur deutsch-britischen Freundschaftsgesellschaft10, an Helmut Müller-Enbergs’ nicht nur quantitative Ermittlung zu den inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit11, an Michael Ploenus’ Untersuchung zum Jenaer Institut für Marxismus-Leninismus12 oder an Kirstin Wapplers Vergleich zwischen den Schulen im Eichsfeld und im Erzgebirge13. Das gilt übrigens ebenso für Studien anderer Doktoranden aus dem Umkreis der DDR-Forschung14.
8 Siehe jedoch die heftige Kontroverse zwischen Jens Hüttmann und Klaus Schroeder/Jochen Staadt: Jens Hüttmann, „De-De-Errologie“ im Kreuzfeuer der Kritik. Die Kontroverse um die „alte“ bundesdeutsche DDR-Forschung vor und nach 1989, in: Deutschland Archiv 40 (2007), S. 671–681; Klaus Schroeder/Jochen Staadt, Geschichtsbegradigung – Die „systemimmanente DDR-Forschung“ soll besser gewesen sein als ihr Ruf. Zu Jens Hüttmanns Eloge auf die „De-De-Errologie“, in: Deutschland Archiv 40 (2007), S. 890–899. 9 Vgl. Udo Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei „Die Grünen“, Münster u. a. 2003. 10 Vgl. Hans-Georg Golz, Verordnete Völkerfreundschaft. Das Wirken der Freundschaftsgesellschaft DDR-Großbritannien und der Britain-GDR-Society – Möglichkeiten und Grenzen, Leipzig 2004. 11 Vgl. Helmut Müller-Enbergs, Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit – Teil 3 – Statistiken, Berlin 2008. 12 Vgl. Michael Ploens, „... so wichtig wie das tägliche Brot“. Das Jenaer Institut für Marxismus-Leninismus 1945–1990, Köln u. a. 2007. 13 Vgl. Kristin Wappler, Klassenzimmer ohne Gott. Schulen im katholischen Eichsfeld und protestantischen Erzgebirge unter SED-Herrschaft, Duderstadt 2007. 14 Vgl. Susanne Muhle/Hedwig Richter/Juliane Schütterle (Hrsg.), Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch, Berlin 2008.
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Zehn – strukturelle und sprachliche – Anregungen für das Schreiben einer Dissertation Doktoranden vernachlässigen oft sprachliche, stilistische und formale Aspekte. Das ist misslich, da der Wert einer wissenschaftlichen Arbeit auch davon abhängt. Was sind verbreitete Ungereimtheiten, was beliebte Schwächen, was ärgerliche Modewörter?
Erstens: Lege eine konsistente Gliederung vor Eine stimmige Gliederung ist wichtig, weil sie die logische Struktur der Arbeit auf den ersten Blick erkennen lässt. Wer sie zu Beginn erstellt, ist gezwungen, seine Analyse in groben Zügen vom Anfang bis zum Ende zu durchdenken. Er vermeidet so manche Sackgasse, in die jemand ohne ordnende Gliederung während der Analyse gerät. Eine weitgehend ausgereifte Konzeption gibt einerseits einen konkreten Plan vor und schafft andererseits frühe Erfolgserlebnisse. Allzu kurze Kapitel sind nicht tragfähig, allzu lange unübersichtlich. Eine gute Gliederung kommt ohne Exkurse und ohne detaillierte Vorgaben aus (möglichst nicht mehr als drei Ebenen: z. B. 4.1.1.). Ein überleitender Vorspann zwischen 4. und 4.1. ist ebenso überflüssig wie einer zwischen 4.1. und 4.1.1. Trennscharfe Systematik ist eine Conditio sine qua non: Jedes Kapitel sollte notwendig und hinreichend für die Analyse sein. Die Gliederungsebenen müssen stimmen, die Kapitelüberschriften dürfen sich nicht wiederholen.
Zweitens: Achte auf eine originelle, klare und komplexe Problemstellung Die Problemstellung hat originell, klar und komplex zugleich zu sein: konzeptionell originell, um die Relevanz des Themas sichtbar zu machen; sprachlich klar für die Nachvollziehbarkeit; inhaltlich komplex, damit neue Erkenntnisse entstehen. Mit der Güte der Hauptforschungsfrage, die aus der Problemstellung resultiert, steht und fällt die Qualität der Studie. Ihr entspringen Unterfragen. Da diese zu informationsgesättigten Antworten führen sollen, verbieten sich Fragen, die ein schlichtes Ja oder Nein provozieren. Das Vorgehen kann deskriptiv (Wie ist der Sachverhalt?), analytisch (Warum ist er so?) und/oder präskriptiv (Wie ist er zu bewerten?) sein. Nur wer möglichst ergebnisoffen die Materie sichtet, ist von wissenschaftlichem Ethos geleitet. Das schließt Thesen- und Hypothesenbildung keineswegs aus – im Gegenteil. Sie begünstigt eine transparente Arbeitsweise. Für die in der Dissertation entfaltete Antwort auf die Forschungsfrage gilt: Nur wer dem roten Faden folgt, trifft ins Schwarze.
Drittens: Wähle vielfältige und passfähige Methoden Die Qualität einer Dissertation hängt entscheidend von der Art und der Vielfalt der gewählten Methoden ab – bei der Erhebung der Daten wie ihrer Interpretation. Obwohl
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das Fehlen einer für jede Problemstellung geeigneten „Allzweckwaffe“ Capricen begünstigt, soll die Forschungsfrage die Methodik bestimmen, nicht die Methodik die Forschungsfrage. Verfahren, die ein bestimmtes Ergebnis präjudizieren, sind schlechte Verfahren. Da Stärken selten ohne Schwächen auskommen, führt Methodenmonismus in eine Sackgasse, Methodenpluralismus hingegen nach Rom. Die Wahl der Methode ist das eine, ihre Umsetzung das andere. Es gibt keine allgemeingültige „Faustregel“ außer der folgenden: Strebe nach Transparenz – nicht um ihrer selbst willen, sondern damit andere die Chance besitzen, die Resultate kritisch zu überprüfen. Der Leser soll erkennen, auf welche Weise die Doktorandin die Leitfrage zu beantworten sucht.
Viertens: Lass die Einleitung Dein Kompass sein Die Einleitung, das Aushängeschild einer wissenschaftlichen Arbeit, hat einführenden Charakter und soll den Leser nicht mit Literatur „erschlagen“ (Ausnahme: das Unterkapitel zum Forschungsstand), sondern Interesse für den Untersuchungsgegenstand wecken, z. B. durch Anknüpfen an ein aktuelles Problem. Der Forschungsüberblick präsentiert und strukturiert die Literatur zum ausgewählten Thema (und zwar „trichterförmig“: umso detaillierter, je stärker die Leitfrage davon betroffen ist), ordnet sie bewertend ein und arbeitet Forschungslücken heraus. Der Leser will erkennen, worauf die Studie hinausläuft, nicht aber immer an die Hand genommen werden. „Regieanweisungen“ gehören in die Einleitung (zum Unterkapitel „Aufbau“), nirgendwo anders hin. Eine durchdachte Einleitung kann während des Schreibens als Kompass dienen, damit der Verfasser sein Ziel im Auge behält und nicht das Thema verfehlt. Das schließt Modifikationen am Ende nicht aus.
Fünftens: Verbinde die „Mittelteile“ sinnvoll mit Anfang und Ende Kein Kapitel soll den Titel der Studie paraphrasieren oder gar übernehmen, weil es nur einen Teil der Arbeit abdeckt. Die „Mittelteile“ bestehen aus einer Reihe logisch aufeinander bezogener Kapitel (nicht aus einem Mammutkapitel). Zugegeben: Es ist angesichts der Buntscheckigkeit der Themen schwierig, für die „Mittelteile“ verbindliche Anregungen zu geben. Gleichwohl: Der eingangs (nach der Einleitung) entfaltete Bezugsrahmen dient als Orientierungspunkt für die weiteren Überlegungen. Diese müssen jenen aufgreifen. Schreibe „Schlüsselkapitel“ beizeiten. Wer andere Positionen referiert, hat sie korrekt wiederzugeben, nicht verkürzt. Und wer Kritik an ihnen übt, soll auf zentrale Argumente zielen. „Schlüsselsätze“ stehen am Anfang oder am Ende der Kapitel. Was nicht zum Thema gehört, ist entbehrlich, mag es für sich genommen noch so aufschlussreich sein. Eine spezifische Kunst: die Einleitung mit den „Mittelteilen“ angemessen zu verknüpfen wie die „Mittelteile“ mit dem Schluss.
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Sechstens: Formuliere den Schluss ergebnisorientiert Wer die Erkenntnisse einer umfangreichen Studie schnell und kompakt zu erfahren gedenkt, nimmt zuerst ihre Zusammenfassung (im Schlusskapitel) in Augenschein. Sie präsentiert die eigenen Ergebnisse (z. B. in thesenartiger Form), weniger erneut das Vorgehen. Die Quintessenz kann – bei vorherigen Zwischenfazits – kürzer ausfallen. Was (und warum es) neu ist, verdient eine ausführliche Würdigung. Ein Resümee – ebenso eine Visitenkarte der Studie wie ihre Einleitung – ist nicht der geeignete Ort für weiterführende Gedanken, wohl aber ein Unterkapitel innerhalb des Schlusses (z. B. „Ausblick“, „Prognosen“/“Perspektiven“, „Handlungsempfehlungen“, „offene Forschungsfragen“). Insofern bildet das Fazit nur einen Teil des Schlusses, freilich einen zentralen. Wem eine prägnante Zusammenschau nicht gelingt, der muss überlegen, ob er beim Schreiben den roten Faden aus der Hand verloren hat.
Siebtens: Reduziere Füll- und Modewörter Eine gute Arbeit verzichtet weitgehend auf überflüssige Wendungen. Füllwörter sind fast immer entbehrlich: also, an dieser Stelle, auch, doch, durchaus, eben, eigentlich, einigermaßen, einmal, gerade, gezielt, gewissermaßen, in der Tat, in diesem Zusammenhang, ja, letztlich, nämlich, natürlich („natürlich“ ist gar nichts), noch, nun, restlos, schlussendlich, sicherlich, sozusagen, sprich, überhaupt, unbedingt, völlig, ziemlich, zweifellos. Gleiches gilt für Modewörter: abarbeiten, absolut, abzielen, andenken, andeuten, außen vor, belastbar, breit aufstellen, definitiv, ergebnistechnisch, explizit (besser: eigens), Fokus, generieren, Highlight, (kritisch) hinterfragen, interessant, letzten Endes, Nulltoleranz, positionieren, Sinn machen, spannend, zeitnah, zielführend. „Tote“ Wörter sind sparsam einzusetzen: aufzeigen, beinhalten („bein-halten“), bezüglich, darstellen, das bedeutet, durchführen, erfolgen, mit Bezug auf, sich befinden, sich ergeben, Stellenwert, verorten. Anschauliches Deutsch ist gutes Deutsch – auch in der Wissenschaft.
Achtens: Schreibe präzise und verständlich Formuliere unprätentiös, reduziere den Passivstil, verzichte auf aufgeblähte und blutleere Wendungen, sei mit Anglizismen zurückhaltend. Schlichtes Deutsch ist selten schlechtes Deutsch. Verständlich Schreiben bedeutet nicht, den Sachverhalt zu vereinfachen, sondern löst das wissenschaftliche Postulat nach intersubjektiver Nachvollziehbarkeit ein – schwurbelige Sprache immunisiert gegen Kritik. Weder Substantivstil noch permanente Infinitivsätze tragen zu einer lebendigen Sprache bei. Beschließe, den Beschluss zu fassen, die Verwendung möglichst weniger Endungen auf „ung“ in Erwägung zu ziehen. Schachtelsätze erschweren den Sinnzugang, ein „abgehackter“ Sprachduktus hingegen ermüdet. Benutze keinen falschen Komparativ („Erstere“, „Letztere“), sei auf-
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merksam bei doppelter Verneinung, achte auf den richtigen Artikel (der/das Verdienst, der/das Schild), steigere keinen Superlativ („maximalste Leistung“), vermeide Pleonasmen („sein eigenes“, „hochstilisieren“, „vorprogrammieren“, „einfordern“, „soll angeblich“, „auseinanderdividieren“), falsche („unterprivilegiert“, „mehr als verdient“) und überflüssige Worte („bisher“), die unkorrekte Verwendung von „zu“ („zu extrem“), den fehlerhaften Gebrauch von Worten („vordergründig“ ist nicht „offensichtlich“, „scheinbar“ nicht „anscheinend“, „gleichzeitig“ nicht „zugleich“). Das Wort „man“ verwirrt, muss doch der Leser wissen, wer welche Position vertritt. Benutze einen Doppelpunkt, um (zu) viele „Dass“-Sätze zu reduzieren. Verbinde fremdsprachige Satzteile nicht mit deutschen.
Neuntens: Orientiere Dich an formaler Einheitlichkeit Eine gute Arbeit ist durch Übersichtlichkeit gekennzeichnet. Absätze sollen in einem Sinnzusammenhang stehen, Gedankensprünge gefährden ihn, und Redundanzen sind zwangsläufig. Da der Kerngehalt in den Hauptsatz gehört, entfällt ein stilistisch unschöner Vorspann wie „es ist zu befürchten, dass“. Die Korrektur am Computer provoziert Fehler – korrigiere das Korrigierte mehrfach mit der Hand. Die einheitliche und übersichtliche Gestaltung der maßvoll eingesetzten Fußnoten ist eine Selbstverständlichkeit, ebenso der Beleg für die Übernahme der Gedankengänge anderer. Nie ist ein Sachverhalt zu „unterschätzen“ oder zu „überschätzen“. Zu viele – störende – Querverweise sprechen für Schwächen in der Struktur. Die Titelüberschriften in der Gliederung müssen sich mit denen im Text decken. Quellen- und Literaturverzeichnis sind unabdingbar, Personen- und Sachregister wünschenswert.
Zehntens: Relativiere die strukturellen Anregungen Wer eine – z. B. politikwissenschaftliche – Dissertation schreiben will, muss beherzt sein und darf keineswegs starren „Regeln“ folgen. Meide Perfektionismus. Sprachlichstilistische Maximen zu beachten garantiert zwar nicht den Erfolg des Vorhabens, aber wer sie nicht beherzigt, kann keine überzeugende Studie zu Wege bringen. Die Erkenntnisse finden eher einen adäquaten Zugang in die wissenschaftliche Diskussion, wenn der Leser den Inhalten größere Aufmerksamkeit schenkt als der Sprache. Jeder hat seinen „Stil“ zu finden. Das läuft jedoch nicht auf die Pflege von Manierismen und Marotten hinaus. Inhaltliche Akkuratesse rangiert im Zweifel vor sprachlicher. Wichtiger als eine gute Sprache ist eine gute wissenschaftliche Konzeption. Jedoch: Schließt das eine das andere wirklich aus? Oder bedingt das eine das andere?
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Zehn „goldene Regeln“ für Doktorväter und -mütter Auch Doktorväter und -mütter sind keine weisen Halbgötter. Sie können nicht schalten und walten, wie sie wollen. Welche Fähigkeiten sollten sie mitbringen, welche Eigenarten unterlassen?
Erstens: Wähle sorgfältig aus! Wer Doktoranden annimmt, soll auf deren exzellente Leistungen beim ersten akademischen Abschluss achten, ein intensives Gespräch führen, dabei die Motivation der Bewerber eruieren und sie zunächst zur Teilnahme an einem „Schnupperdoktorandenkreis“ ermuntern. Das ist hilfreicher für die Aufnahme in die Reihe der Doktoranden als der Einblick in ein ausgefeiltes Exposé. Die Auswahl betrifft ebenso das Thema, das der Doktorvater nicht vorschreibt. Er wird Studien aus dem eigenen engeren und weiteren Arbeitsumfeld bevorzugt betreuen (ohne engstirnigem „Revierverhalten“ zu frönen), hingegen solche, zu denen er wenig „Sachdienliches“ beisteuern kann, in der Regel ablehnen. Universitäten, die Lehrstühle mit vielen Promovenden belohnen, erfüllen zwar die „Quote“, fördern aber keineswegs die intrinsische Motivation der Hochschullehrer. Masse macht es nicht.
Zweitens: Strebe ein Vertrauensverhältnis an! Wer eine Dissertation betreut, trägt eine große Verantwortung. Er traut dem Doktoranden selbständiges Arbeiten zu. Insofern ist ein reglementierendes Promotionsstudium ein Widerspruch in sich, eine Promotionsvereinbarung nicht der Weisheit letzter Schluss. Ein Doktorvater, der jungen Wissenschaftlern sein Ohr neigt und die Spielregeln konsequent handhabt, ist unersetzbar. Eine Kultur des Verdachts stört. Der Promovend, der etwas leistet, muss vorankommen, der sich etwas leistet, darf es nicht. Eine zweite Chance bleibt bei Betrug, etwa einem dreisten Plagiat, ein für alle Mal verwehrt. Ein interessierter Lehrer nimmt Anteil am weiteren Lebensweg seines Schülers und gibt, sofern erbeten, Ratschläge nach bestem Wissen und Gewissen. Kritische Gewogenheit zählt.
Drittens: Fordere und fördere! Wer eine Dissertation schreiben will, muss einerseits leistungsfähig und andererseits psychisch stabil sein. So kann der Doktorvater vom Doktoranden die Fähigkeit erwarten, ein unbearbeitetes wissenschaftliches Problem zu klären, mit Kritik umzugehen, auf einschlägigen Tagungen den eigenen Entwurf zu verteidigen und Schwierigkeiten allfälliger Art zu meistern. Der Betreuer seinerseits soll Hilfe anbieten – bei der Stipendiensuche wie bei der Konzeption des Unterfangens.
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Hinweise zur Promotion
Ein Ende mit Schrecken ist besser als ein Schrecken ohne Ende – für beide Seiten. Der Doktorvater, der rechtzeitig die Reißleine zieht, bewahrt manchen Promovenden vor Unbill. Zwischen der Scylla eines desinteressierten „Rabenvaters“ und der Charybdis einer fürsorglichen „Glucke“ führt der Weg zum Ziel. Nähe und Distanz gehören zusammen.
Viertens: Genieße jugendlichen Leistungswillen! Wer an den Massenuniversitäten unterrichtet, ist wegen der immer stärkeren Verschulung, die die Eigenständigkeit von Lehrenden und Lernenden untergräbt, zu Recht oft frustriert. Das verlässliche Engagement für Doktoranden ermöglicht es hingegen, Forschung und Lehre sinnvoll zu verbinden, und bereitet Freude. Das Leistungsvermögen junger Menschen, dem Klausurenstress und der Jagd nach „Creditpoints“ enthoben, zu verfolgen und zu forcieren, hat für den Betreuer etwas Erhebendes. Wissenschaftlicher Nachwuchs gedeiht in einer inspirierenden Atmosphäre der Ermutigung, der Offenheit und der konstruktiven Kritik. Das entschädigt für ödes, intellektuell wenig förderliches Gremienwesen an den Universitäten und hält den Hochschullehrer jung. Wissenschaft erquickt.
Fünftens: Übe sanften Druck aus! Wer eine Dissertation verfasst hat, weiß aus leidvoller Erfahrung, wie schnell die Zeit verstreicht. Ein Doktorvater spornt seinen Doktoranden deswegen an, dem roten Faden zu folgen, regelmäßig Text zu produzieren, Teile auf Promotionstagungen zu präsentieren, den (realistisch gehaltenen) Arbeitsplan zu beachten und das erfolgreiche Ende des Vorhabens anzustreben. Der Lehrer muss den „Quälgeist“ in anderer Hinsicht spielen und Druck wegnehmen: Es geht „nur“ um eine Promotion, keineswegs um den hochdotierten LeibnizPreis. Das Scheitern eines Perfektionisten liegt auch am manchmal nicht so gescheiten und perfekten Professor. Hartnäckige Konsequenz zahlt sich aus.
Sechstens: Sei souverän! Wer als Mentor eines jüngeren Menschen wirkt, soll weder erwarten noch darauf hinarbeiten, dass dieser ausschließlich in den argumentativen Bahnen seines Lehrers kreist. Unkonventionelle, auf den ersten Blick kühn anmutende Ideen erfrischen, bringen Erkenntnisgewinn. Ein weiser Doktorvater, beseelt von Empathie, fördert solche Kreativität. Blinder Corpsgeist steht in der Wissenschaft für etwas ridikül Anachronistisches. Eine „Schule“ kann durch Liberalität aufblühen und Weltoffenheit vermitteln, kooperatives
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Zehn „goldene Regeln“ für Doktorväter und -mütter
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Klima Konflikte konstruktiv klären. Nachbeterei langweilt, intellektueller Nonkonformismus beflügelt, Originalität provoziert. Engherziges Denken lähmt den Geist.
Siebtens: Betreue umfassend! Wer heute eine Doktorarbeit intensiv begleitet, ist morgen vor unliebsamen Überraschungen gefeit und schützt so Universitäten und Promovenden. Diese müssen ihr Vorhaben – am besten in Doktorandenseminaren – schriftlich präsentieren und kontinuierlich zur Diskussion stellen. Auf diese Weise bleiben sie motiviert, erfahren Hilfe und lernen die Bewertungskriterien kennen. Der Doktorvater gewinnt einen erhellenden Eindruck vom Fortgang der Arbeit (oder auch nicht) und kann nötigenfalls – inhaltlich, methodisch und formal – lenkend eingreifen. Vor dem offiziellen Einreichen der Dissertation liest jeder verantwortungsbewusste Lehrer im eigenen Interesse wie in dem des Doktoranden das Manuskript, um letzte Hinweise zu geben. Vertrauen ist gut, Kontrolle besser.
Achtens: Übernimm dich nicht! Wer aus wissenschaftlicher Ambitioniertheit oder aus Hilfsbereitschaft heraus – um bloß positive Motive zu nennen – zu viele Doktoranden annimmt, erweist ihnen einen Bärendienst. Unter den knappen Ressourcen des Mentors haben vor allem weniger Begabte und/oder weniger gut Organisierte zu leiden. So steigt die ohnehin hohe Zahl der Abbrecher. Damit ist keinem gedient. Manche Professoren publizieren zwar unaufhörlich („publish or perish“), vernachlässigen dabei aber den wissenschaftlichen Nachwuchs, weil die Betreuung von Promotionen ihnen bloß geringe soziale und wissenschaftliche Reputation verleiht. Dieser Typus ist wahrlich nicht besser. Überbeanspruchung schadet.
Neuntens: Begutachte gründlich, bewerte fair! Wer das Endprodukt beurteilt, muss die gesamte Notenskala vor Augen haben, darf nicht beständig das höchste Prädikat verteilen, als gehe es ihm um das Sammeln von Trophäen. Dies entwertet überragende Studien und verblendet weniger gute Doktoranden. Umgekehrt ist kaum souverän, wer „summa cum laude“ prinzipiell verwehrt. Der erste Gutachter soll mit dem zweiten keine „Do ut des“-Kameraderie pflegen und sein unabhängiges Urteil goutieren. Der Hochschullehrer, der Doktoranden erster und zweiter Klasse hat, unterminiert sein Berufsethos und führt die Ernsthaftigkeit der Prozedur ad absurdum. Durch die mündliche
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Prüfung kann der Promovend sein Gesamtergebnis weder nennenswert verbessern noch verschlechtern, zumal dann nicht, wenn die Noten der Gutachter übereinstimmen. Ansonsten verkehrte sich das Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Urteilskraft und Aufrichtigkeit sind wichtig.
Zehntens: Relativiere die Ratschläge! Wer sklavisch solche – hehren – Anregungen umsetzt, verfällt einem Dogmatismus und wird scheitern, weil er der Individualität seiner Schützlinge keinen angemessenen Respekt zollt. Zudem kommt es auf die spezifische „Fachkultur“ an. Ein erfahrener Hochschullehrer variiert seinen Kommunikationsstil, spürt, wo er „locker“ lassen kann und wo er „anziehen“ muss. Eine berufsbegleitende Dissertation etwa bedarf einer längeren Zeitspanne als eine auf ein Stipendium gestützte; ein selbstbewusster Promovend, der weiß, was er nicht will, benötigt weniger Beratung als ein leicht verunsicherter, der nicht weiß, was er will. Gleichwohl: Das Leistungsprinzip verbietet es, zweierlei Maß anzulegen. Last but not least: Ideale Doktoranden (und Doktorväter!) gibt es nicht, idealistische schon. Kein „Fall“ gleicht dem anderen.
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Verantwortung und Vertrauen – wider die verschulte Promotion Von den Vorteilen strukturierter Promotionen ist viel die Rede. Aber gibt es auch Nachteile? Begehen deutsche Universitäten einen Fehler, wenn sie die strukturierte Promotion verbindlich machen? Die Individualpromotion darf nicht verschwinden. Bologna auch für die Dissertation? Bitte nicht!
Die Promotion steht angesichts spektakulärer Plagiatsfälle gegenwärtig in keinem guten Ruf. Die Frage, was mehr deprimiert, ist nicht leicht zu beantworten: die Dreistigkeit von Doktoranden, sich auf billig-unlautere Art und Weise einen akademischen Grad erschleichen zu wollen, oder die mit Häme verbundene hektische Suche nach abgeschriebenen Textpassagen in Dissertationen von Prominenten, um diese „vorführen“ zu können? Das eine wie das andere stößt ab. Durch das gesunkene Ansehen der Promotion mögen junge Wissenschaftler vielfach nicht (mehr) die Mühen der Ebene auf sich nehmen. Die zwei ärgsten Missstände bei der Promotion in Deutschland – zu hohe Abbrecherquoten (exakte Angaben gibt es nicht – dass etwa jeder Zweite sein Unterfangen nicht beendet, ist weder für die Gesellschaft noch für die Promovenden von Nutzen) und zu lange Promotionszeiten (damit hängt das hohe Durchschnittsalter, deutlich über 30, beim Abschluss zusammen) – sind ein Puzzleteil für die Erklärung von Plagiaten. Zugleich haben sie den Trend zur strukturierten Promotion begünstigt, vor allen in Form von Graduiertenkollegs. Sie sehen sich ferner dadurch legitimiert, dass sie die – behaupteten – Abhängigkeitsverhältnisse vom Wohl und Wehe mächtiger „Doktorväter“ bzw. „Doktormütter“ beschneiden. Gegen die Etablierung von Promotionskollegs, welche die einzelnen Arbeiten in einen größeren Forschungsrahmen einbetten, ist prinzipiell nichts einzuwenden. Sie können etwa das verbreitete Phänomen der Prokrastination, die „Aufschieberitis“, durch beständige Leistungskontrollen lindern und Doktoranden mit ähnlichen Themengebieten zusammenbringen. Nur: Schlüsselqualifikationen in der Promotionsphase zu vermitteln, darf nicht Aufgabe solcher Graduiertenkollegs sein, zumal noch kein Wissenschaftler ist, wer gut „präsentiert“. Zuweilen entsteht gar der Eindruck, die Präsentation (zumal hübsch auf Powerpoint-Folien) sei wichtiger als die Analysefähigkeit. Und die Verantwortung für die Promotion muss bei einem Betreuer liegen. Ist ein ganzes Team verantwortlich, kümmert sich, je nach Interessengebiet, Kollege A um diesen Aspekt, Kollegin B hingegen um jenen, Kollege C um einen dritten. Ein interdisziplinärer „Betreuungspool“ ist kein Königsweg, sondern ein Holzweg. Wer über ein solches System spricht, das Kooperationen, Projekte und Verbünde, mithin „Stückwerkarbeit in den Vordergrund rückt, darf über kumulative Dissertationen nicht schweigen. Ich wäre dafür niemals zu gewinnen. Ein junger Wissenschaftler soll zeigen, dass er langen Atem hat und eigenständig zu einer größeren Forschungsleistung in der Lage ist, nicht bloß
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Hinweise zur Promotion
zu vielen kleinen, mögen sie auch zum selben Thema gehören – eine Dissertation stellt mehr als die Summe mehrerer Bachelorarbeiten dar. Eine Reihe von Vorteilen rechtfertigt den Bestandsschutz der Individualpromotion: So ermöglicht sie auch jenen den Abschluss, die bereits in Lohn und Brot stehen. Sie wirkt ferner der bei Graduiertenschulen bestehenden Gefahr der intellektuellen „Einförmigkeit“ entgegen, erlaubt eher Positionen abseits vom Mainstream zu vertreten. Wissenschaftlichen Einzelgängern und Außenseitern kommt dies entgegen. Die enge Bindung an den Betreuer, der zum Verlassen ausgetretener Pfade ermuntert, muss kein Nachteil sein. Freiraum und Flexibilität sind größer, da ein „Stundenplan“ entfällt. Um es an einem Beispiel in eigener Sache zu verdeutlichen: Nach einem sechssemestrigen Bachelor-Studium an der TU Dresden wurde einer meiner Doktoranden im Fach Politikwissenschaft mit gerade 24 Jahren an der TU Chemnitz 2012 promoviert (Note: 0,0) und mit 26 Jahren habilitiert. Solche Karrieren für „Überflieger“ dürften in streng strukturierten Kollegs schwerlich möglich sein. Daher gilt: Nicht alles, was neu ist, muss gut sein – und nicht alles, was gut ist, neu. Allerdings gibt es zwischen einer strukturierten und einer nicht strukturierten Promotion fließende Grenzen. Auch bei der letztgenannten finden oft Doktorandenkreise mit der Erörterung wichtiger Teilergebnisse und der offenen Kritik durch „Leidensgenossen“ wie den „Doktorvater“ bzw. die „Doktormutter“ statt. Ich plädiere daher nicht für das „stille Kämmerlein“, das ein „Verrennen“ begünstigt, wiewohl Rückzugphasen für das Schreiben unerlässlich sind. Wer die Individualpromotion als anachronistisch hinstellt, baut mithin einen Popanz auf. Vertrauen und Verantwortung stehen in einem engen Zusammenhang. Es handelt sich um ein Wechselspiel. Wer Vertrauen in den Doktoranden setzt und ihm Freiräume lässt, provoziert bei ihm Verantwortung. Und ein Betreuer, der Verantwortung an den Tag legt, ruft Vertrauen bei dem Betreuten hervor – in den Betreuer und in sich. Auch das spricht für eine Individualpromotion, weil Vertrauen und Verantwortung Freiräume voraussetzen. Es hat etwas mit geistiger Liberalität zu tun. Betreuungsvereinbarungen sind hinderlich, tragen zur Entmündigung, Verschulung und Bürokratisierung bei – durch lästige Berichtspflicht und vielfältige Kontrollmechanismen. Was für Vertrauen und Verantwortung zutrifft, gilt für Forderung und Förderung. Nicht nur der Doktorand wird gefordert (durch eigenständiges Arbeiten) und gefördert (durch vielfältige Hilfe), sondern auch der Betreuer. Es ist eine nicht immer leichte Aufgabe, den Betreuten über Hürden zu helfen, zugleich für den Betreuer, der Einblick in eine neue Materie gewinnt, eine Bestätigung nach dem erfolgreichen Abschluss des Verfahrens. Prinzipiell decken sich die Interessen zwischen dem Betreuer und dem Betreuten. Dieser will eine sehr gute Arbeit abliefern, jener eine solche abgeliefert sehen. Ich selbst habe niemals die intensive Betreuung von Promovenden als Last empfunden, im Gegenteil: Es ist eine Lust, die wissenschaftliche Entfaltung junger Persönlichkeiten individuell zu begleiten. In einem Fall muss der Betreuer die Zügel anziehen, in einem anderen sie locker lassen. Das dürfte bei einer Individualpromotion besser möglich sein
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Wider die verschulte Promotion
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als bei einer strukturierten. Sicher, die Wissenschaftskulturen gleichen sich nicht. Was in den Naturwissenschaften gang und gäbe ist, auch sinnvoll sein mag, muss nicht für die Sozial- und Geisteswissenschaften gelten. Insofern sind Individual- und strukturierte Promotion kein „Entweder-Oder“: Erst Pluralismus trägt den unterschiedlichen Fachkulturen und den spezifischen Bedürfnissen der Doktoranden Rechnung. Gerade deshalb darf es einen „Ausverkauf “ der Individualpromotion nicht geben. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der wissenschaftlichen Schulen. Heutzutage sind „Schulen“ im herkömmlichen Sinne angesichts starker Spezialisierung so nicht mehr möglich. Aber ist es denn schlimm, wenn eine Doktorarbeit die Handschrift des Betreuers, der Offenheit für unterschiedliche Herangehensweisen haben sollte, erkennen lässt und dieser den Promovenden geprägt hat? Wer dessen Selbstständigkeit fördern will, tut gut daran, ihn das Thema wählen zu lassen und ihm keines „aufzudrücken“, wie das bei Graduiertenkollegs zwecks thematischer „Vollständigkeit“ vorkommen kann. Die intrinsische Motivation lässt sonst nach. Was hat das alles mit den eingangs erwähnten Plagiatsfällen zu tun? Wo ein enges Vertrauensverhältnis besteht, sinkt die Gefahr eines Plagiats. Der Betreute geniert sich vor solcher Verantwortungslosigkeit gegenüber einem Betreuer, der ihm Vertrauen entgegenbringt – nicht das schwächste Argument für den Fortbestand der Individualpromotion.
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Publikationsnachweise Die erste Generation der deutschen Politikwissenschaft, in: Politische Bildung 47 (2014), Heft 3, S. 148–164. Politikwissenschaft in Deutschland. Trends, Herausforderungen, Perspektiven, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 21 (2011), Heft 3, S. 511–526. Theodor Eschenburg und die deutsche Vergangenheit. Die Abschaffung des Theodor-Eschenburg-Preises ist ein Armutszeugnis, in: INDES 2 (2013), Heft 4, S. 130–135. Karl Dietrich Bracher (geboren 1922), in: Eckhard Jesse/Sebastian Liebold (Hrsg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Wolfgang Abendroth bis Gerda Zellentin, Baden-Baden 2014, S. 143–157. Hans-Peter Schwarz (geboren 1934), in: Eckhard Jesse/Sebastian Liebold (Hrsg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Wolfgang Abendroth bis Gerda Zellentin, Baden-Baden 2014, S. 683–696. Antifaschismus in der Ideokratie der DDR – und die Folgen. Das Scheitern (?) einer Integrationsideologie, in: Horch und Guck 20 (2011), Heft 4, S. 4–9. „Extremistische Parteien“ – worin besteht der Erkenntnisgewinn?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 47/2008, S. 7–11. Die NPD und die Linke. Ein Vergleich zwischen einer harten und einer weichen Form des Extremismus, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 21, Baden-Baden 2009, S. 13–31. Nicht-Akzeptanz wegen extremistischer Positionen? Politik, Wahlniederlagen und Wahlerfolge der NPD, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2009. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, München/Baden-Baden 2010, S. 279–303. Die Diskussion um ein neuerliches NPD-Verbotsverfahren – Verbot: kein Gebot, Gebot: kein Verbot, in: Zeitschrift für Politik 59 (2012), Heft 3, S. 296–312. Fundamentalkritik an der Konzeption der streitbaren Demokratie und am Extremismusbegriff. Auseinandersetzung mit differenzierter und plumper Kritik, in: Gerhard Hirscher/Eckhard Jesse (Hrsg.), Politischer Extremismus in Deutschland, Schwerpunkte, Vergleiche, Perspektiven, Baden-Baden 2013, S. 505–576. Feindbilder im Extremismus, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 23, Baden-Baden 2011, S. 13–36. Rechtsterroristische Strukturen in Deutschland, in: Politische Studien 63 (2012), Heft 3, S. 24– 35. Mitte und Extremismus – eine Kritik an den „Mitte“-Studien einer Leipziger Forschergruppe, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 25, Baden-Baden 2013, S. 13–35. Das Parteiensystem des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden 2013, S. 685–710. Das „Parteiensystem“ der DDR, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden 2013, S. 711–737. Die koalitionspolitische Haltung der SPD gegenüber der SED, der PDS, der Linkspartei und der Linken, in: Antonius Liedhegener/Torsten Oppelland (Hrsg.), Parteiendemokratie in der Bewährung. Festschrift für Karl Schmitt, Baden-Baden 2009, S. 243–256.
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Anhang
Schwarz-Gelb – Vergangenheit und Gegenwart – aber Zukunft?, in: Frank Decker/Eckhard Jesse (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013. Parteiensystem und Regierungsbildung im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2013, S. 323–347. Verhältniswahl und Gerechtigkeit, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Sonderband 1, hrsg. von Gerd Strohmeier, Baden-Baden 2009, S. 105–131. Der glanzlose Sieg der „Bürgerlichen“ und die Schwäche der Volksparteien bei der Bundestagswahl 2009, in: Zeitschrift für Politik 56 (2009), Heft 4, S. 397–408. Nach allen Seiten offen? Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und mögliche Folgen für das Parteiensystem und das Koalitionsgefüge, in: Zeitschrift für Politik 60 (2013), Heft 4, S. 374– 392. Die Linke als dritte Kraft? Personal, Organisation, Programmatik, Koalitionsstrategien, Wahlergebnis, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2013. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, Baden-Baden 2014, S. 231–234. Wie geht es mit der FDP weiter?, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 63 (2014), Heft 4, S. 563– 569. Systemwechsel in Deutschland. Regierungswechsel im Bund – ein „Staat der Großen Koalition“?, in: Klaus Armingeon (Hrsg.), Staatstätigkeiten, Parteien und Demokratie. Festschrift für Manfred G. Schmidt, Wiesbaden 2013, S. 87–100. Zehn „goldene Regeln“ für Promovenden – Erfahrungen und Einsichten, in: Daniel Hechler/ Jens Hüttmann/Ulrich Mählert/Peer Pasternak (Hrsg.), Promovieren zur deutschen Zeitgeschichte. Handbuch, Berlin 2009, S. 124–134. Zehn – strukturelle und sprachliche – Anregungen für das Schreiben einer Dissertation, in: TUSpektrum 2/2014, S. 6 f. Zehn „goldene Regeln“ für Doktorväter und -mütter, in: TU-Spektrum 2/2011, S. 32 f. Verantwortung und Vertrauen – wider die verschulte Promotion, in: Forschung & Lehre 21 (2014), Heft 8, S. 620 f.
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Tabellenverzeichnis Kriterienkatalog für harte und weiche Extremismusformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
Zweitstimmenergebnisse der NPD bei den Bundestagswahlen seit der deutschen Einheit 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
Ergebnisse der NPD bei den Wahlen zum Europäischen Parlament seit der deutschen Einheit 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
Ergebnisse der NPD bei den Landtagswahlen seit der deutschen Einheit 1990 . . . . . . . . . .
144
Erst- und Zweitstimmenergebnisse der NPD bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 .
151
Geschlossenes rechtsextremes Weltbild von 2002 bis 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Rechtsextremismusitems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
250
Rechtsextreme Einstellungen in Abhängigkeit von der Arbeitslosigkeit 2012 . . . . . . . . . . . .
253
Anteil von Personen mit rechtsextremem Einstellungspotential unter den Parteianhänger/innen in Westdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
254
Anteil von Personen mit rechtsextremem Einstellungspotential unter den Parteianhänger/innen in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Wahlergebnisse bei den Reichstagswahlen von 1871 bis 1912 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270
Wahlergebnisse bei den Reichstagswahlen von 1919 bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
278
Ergebnisse der Landtagswahlen vom 20. Oktober 1946 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
Mitgliederbestand ausgewählter gesellschaftlicher Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295
Ergebnisse der Volkskammerwahlen 1950 bis 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
296
Mandatsverteilung in der Volkskammer 1950 bis 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
Mitgliederentwicklung der SED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
300
Mitgliederentwicklung der DDR-Blockparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
Volkskammerwahl am 18. März 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
308
Union und FDP als Regierungs- bzw. Oppositionsparteien im Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331
Zweitstimmenanteil der Union (CDU und CSU) und der FDP bei den Bundestagswahlen 1949 bis 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
332
Mandatsanteil der Union (CDU und CSU) und der FDP bei den Bundestagswahlen 1949 bis 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
Erst- und Zweitstimmen für Union und FDP bei den Bundestagswahlen 1953 bis 2009 . .
345
Kombination der Erst- und Zweitstimmen für Union und FDP bei den Bundestagswahlen 1953 bis 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
347
Unberücksichtigt gebliebene Stimmen bei der Mandatsvergabe von 1949 bis 2005 . . . . . . .
359
Überhangmandate bei den Bundestagswahlen von 1949 bis 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang
Bundestagsparteien dank der Grundmandatsklausel seit 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
367
Bundestagswahlergebnis 2009 für die Wahlgebiete West, einschl. Berlin-West, und Ost, einschl. Berlin-Ost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
377
Bundestagswahlergebnis 2013 für die Wahlgebiete West, einschl. Berlin-West, und Ost, einschl. Berlin-Ost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
388
Abschneiden der Volksparteien bei den Bundestagswahlen 1990 bis 2013, von 1990 an auch gesondert für West und Ost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
393
Erst- und Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2013 im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
396
Unberücksichtigt gebliebene Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
Überhang- und Ausgleichsmandate bei der Bundestagswahl 2013 im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
Ergebnisse der Partei Die Linke bei den Landtagswahlen zwischen den Bundestagswahlen 2009 und 2013 im Vergleich zum vorherigen Wahlausgang . . . . . . . . . .
404
Ergebnisse der Partei Die Linke bei den Bundestagswahlen 2005, 2009 und 2013 in den Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ergebnisse der PDS, der Linkspartei und der Partei Die Linke bei den Bundestagswahlen 1990 bis 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
418
Erst- und Zweitstimmenanteil der Partei Die Linke bei der Bundestagswahl 2013 in den Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenverzeichnis Abels, Gabriele 54 Abendroth, Wolfgang 13, 22, 24 f., 28 f., 32 f., 72 Adenauer, Konrad 27, 56, 68, 75, 78–82, 84–88, 90, 334 f., 388, 432 f. Akalin, Cem 71 Aken, Jan van 406, 408 Alemann, Ulrich von 9, 53, 66 f., 70 Alt, Franz 10 Ambler, Eric 77 Anderson, Margaret L. 262 Apfel, Holger 121, 131, 137 f., 143, 148 f., 158, 167, 226, 236 Arendt, Hannah 25, 31, 65, 71 Aristoteles 29, 106, 112, 219, 257 Arnim, Hans Herbert von 356 Aron, Raymond 75 Asquith, Herbert 82 Augstein, Rudolf 79, 82, 86 Augustinus 29 Baader, Andreas 205 f. Backes, Uwe 14 Bahr, Daniel 427 Baier, Klaus 146 Baldwin, Stanley 82 Baron, Udo 216, 461 Bartsch, Dietmar 405–407 Barzel, Rainer 375, 448 Bavaj, Riccardo 74 Bebel, August 265, 268 Beck, Kurt 323 Beckstein, Günther 164 Behnke, Joachim 365 Behnke, Klaus 351 Behrendt, Uwe 231 Behrmann, Günter C. 22 Bell, Daniel 438 Benda, Ernst 162 Bergsdorf, Wolfgang 66, 68, 71 Bergstraesser, Arnold 13, 22, 25, 28 f., 31–33, 75 f. Bergsträsser, Ludwig 262 Berlusconi, Silvio 82
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Bermbach, Udo 70 Bernstein, Eduard 268, 411 Besson, Waldemar 76 Bethke, Hannah 22, 51–53 Beust, Ole von 341 Beyme, Klaus von 32 f., 41, 53 Bin Laden, Osama 202, 212, 215 Bisky, Lothar 108, 122, 313, 405–408, 414 Bismarck, Otto von 264, 266, 281 Blair, Tony 82 Blasche, Helge K. W. 230 Bleek, Wilhelm 72 Blumenthal, Julia von 54 Böhnhardt, Uwe 231, 234 Bolz, Lothar 292, 303 Bonhoeffer, Dietrich 60 Bosbach, Wolfgang 368 Bracher, Karl Dietrich 13, 24, 27, 38, 59–74, 76 f., 78, 85, 87 f., 191, 279 f., 283 Brähler, Elmar 235, 244 Brandt, Willy 32, 80, 315 f., 375, 388, 432, 434, 441 Braubach, Max 72 Brecht, Arnold 25 Bredow, Wilfried von 66 Brinkmann, Patrik 201 Broszat, Martin 288 Brüderle, Rainer 385, 416, 426 f. Brüning, Heinrich 25–27, 62, 69, 276, 279 f. Bubis, Ignatz 236 Buchholz, Christine 127, 219 Buchstab, Günter 90 Buchstein, Hubertus 52, 54 Buchwitz, Otto 291 Bull, Hans-Peter 168 Buse, Michael 66 Bush, George W. 202, 215 Busse, Friedhelm 230 Childers, Erskin 77 Claus, Roland 406 Clausewitz, Carl von 134, 460 Clinton, Bill 82
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Colditz, Heinz 229 Conze, Eckart 447 Conze, Werner 69, 279 Craig, Gordon A. 72 Cremer, Claus 121 Czada, Roland 53 Daase, Christopher 54 Dahlmann, Friedrich Christoph 61 Dahrendorf, Ralf 336, 437 Decker, Frank 9, 48, 74, 90 Decker, Oliver 235, 244 Deckert, Günter 134 f., 143 Dederke, Karlheinz 278 Dehm, Dieter 423 Dennert, Jürgen 84 Dewes, Richard 318 Dieckmann, Johannes 301 Diepgen, Eberhard 320 Dimitroff, Georgi 94, 101 Dirks, Walter 26 Dudek, Peter 163 Dutschke, Rudi 139 Ebert, Friedrich 276, 314 Eisfeld, Rainer 21, 51–53, 57 Ellwein, Thomas 33 Elm, Ludwig 212 Elsenhaus, Hartmut 53 Engels, Friedrich 190 Enkelmann, Dagmar 419 Ensslin, Gudrun 206 Eppler, Erhard 316 Erhard, Ludwig 334–336, 432 f. Ernst, Klaus 405–408 Ertl, Josef 337 Erzberger, Matthias 273, 275 Eschenburg, Theodor 7, 13, 21 f., 24, 28, 31–34, 51–58, 60, 71, 76, 78, 86, 272 Eynern, Gert von 24, 31, 67 Falter, Jürgen W. 9, 22, 34, 48, 53 f., 239 Faust, Matthias 242 Fenske, Hans 262 Fest, Joachim C. 78 Fetscher, Iring 27, 53
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Anhang
Fischbein, Wilhelm 52 Fischer, Hans-Joseph („Joschka“) 81, 347, 373 Fischer-Baling, Eugen 24 Flechtheim, Ossip K. 22, 25, 28 f., 32, 38 Fleming, Ian 77 Forndran, Erhard 66 Forsyth, Frederick 77 Fraas, Hans-Peter 230 Fraenkel, Ernst 12, 21, 25, 28–33, 38, 57, 60, 73, 440, 448 f. Freund, Michael 21 f., 24 f. Frey, Gerhard 98, 132, 134, 242 Fricke, Dieter 262 Friedrich, Carl J. 25, 28–30, 32 f., 65 Friedrich, Hans-Peter 173 Fröhlich, Stefan 84 Fromme, Friedrich Karl 347 Fürnberg, Louis 299 Fukuyama, Francis 202 Funke, Manfred 67, 72, 74 Gablentz, Otto Heinrich von der 24 f., 28, 31, 34, 60, 67 Gabriel, Sigmar 380, 386, 421, 429 Gallus, Alexander 14 Galtung, Johan 47 Gansel, Jürgen 128, 156 Gansel, Norbert 316 Gauck, Joachim 312, 427 Geisel, Christof 97 Genscher, Hans Dietrich 347 Gerlach, Manfred 303 Giegold, Sven 424 Giersch, Carsten 88 Giesecke, Jens 289 Glaeßner, Gert-Joachim 69 Globke, Hans 56 Göring-Eckardt, Katrin 386 Götting, Gerald 301 f. Gohlke, Nicole 406 f. Goldenbaum, Ernst 292, 303 Golz, Hans-Georg 461 Golze, Diana 406 f. Gorbatschow, Michail 10, 41, 80, 105, 305, 310, 436 Grabowsky, Adolf 25
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Personenverzeichnis
Grass, Günter 116 Greven, Michael Th. 66, 433 Grewe, Wilhelm 75 Groeben, Hans von der 88 Grosser, Alfred 72 Grotz, Florian 9 Gu, Xuewu 84 Gumbel, Emil Julius 21, 51 Gurian, Waldemar 25 Gurland, Arcadius R. L. 24 f., 31 Guttenberg, Karl-Theodor zu 18, 373, 427 Gutzeit, Martin 320 Gysi, Gregor 99 f., 108, 122, 152, 308, 313, 349, 373, 386, 403, 405–409, 414–416, 419, 422 f. Habermas, Jürgen 71, 73 Hacke, Jens 80 Hacker, Jens 84 Händel, Thomas 408 Hättich, Manfred 10, 51, 75 Haffner, Sebastian 80 Haftendorn, Helga 22, 51, 53, 84, 88 Hagmann, Jonas 45 Hamburger, Ernst 25 Hassemer, Winfried 172 Hans, Michael 54 Hartmann, Jürgen 41 Hayek, Friedrich August von 425 Hegel, Georg Wilhelm 101 Heinemann, Gustav W. 336, 437 Heise, Thorsten 120 f. Heitmeyer, Wilhelm 236 Hennecke, Hans Jörg 442 Hennis, Wilhelm 22, 27, 38 Hepp, Odfried 229 f. Hermes, Andreas 291 Hermens, Ferdinand A. 13, 25, 28 f., 31, 33, 60, 76, 354 Herz, John H. 31 Herzfeld, Hans 72 Heuss, Theodor 78, 334 Hilsberg, Stephan 320 Hitler, Adolf 77, 80, 82, 98, 190, 204, 230, 238, 277, 284, 435 Hindenburg, Paul von 285 Hobsbawm, Eric 41
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Höhn, Matthias 414 Hörnle, Raymond 229 Hoffmann, Heinrich 291 Hoffmann, Karl-Heinz 230 f. Hofmann, Robert 262 Hollstein, Miriam 417 Homann, Heinrich 303 Honecker, Erich 95, 152, 190, 304–306, 310 Horn, Hannelore 12 Huber, Rudolf 262 Hüttenberger, Peter 66 Hugenberg, Alfred 275 Hunko, Andrej 423 Hupka, Steffen 120 Huntington, Samuel P. 48, 202 Jacobsen, Hans-Adolf 61, 66, 72, 74, 76, 88 Jäckel, Hartmut 12 Jäckel, Eberhard 61, 78 Jäckh, Ernst 25 Jäger, Ralf 173 Jäger, Wolfgang 53, 74, 88 Jelpke, Ulla 414 Jaschke, Hans-Gerd 163 Jelzin, Boris 105 Jünger, Ernst 75, 77, 85 Kaack, Heino 84 Kaas, Ludwig 276 Kaase, Max 32, 53 f. Kagan, Robert 202 Kaiser, Jakob 78 Kaiser, Karl 66, 72, 76, 83, 88 Kaltefleiter, Werner 382 Kampa, Ruth 409 Kant, Immanuel 353 Keller, Annemie 76 Kelly, Petra 354 Kemna, Erwin 137 Kevenhörster, Paul 66 Kexel, Walter 229 f. Kielmansegg, Peter Graf 8, 35, 53, 72, 88 Kiesinger, Kurt-Georg 439 Kindermann, Gottfried-Karl 75 Kipping, Katja 125, 405, 408, 413–415, 417, 422, 424
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Kirchheimer, Otto 25, 31, 60, 438 Kiss, Johannes 235 Kissinger, Henry 75 Kleinfeld, Ralf 54 Klemperer, Klemens von 72 Knütter, Hans-Helmuth 66 f., 74 Köcher, Renate 327 Köhler, Gundolf 231 Köhler, Henning 86, 90 Kogon, Eugen 25 f., 31, 71 Kohde-Kilsch, Claudia 408 Kohl, Helmut 68, 75, 82 f., 90, 336, 381, 387 f., 432, 437 Kohler-Koch, Beate 53 Korte, Karl-Rudolf 9, 48 Kraft, Hannelore 391 Kreisky, Bruno 75 Krenz, Egon 306 Kretschmann, Winfried 341 Kriele, Martin 64 Krippendorff, Ekkehart 438 Kubicki, Wolfgang 341 Kühnen, Michael 231 Kühnhardt, Ludger 66 f., 74 Külz, Wilhelm 291, 302 Küsters, Hanns Jürgen 84, 90 Kunckel, Karl-Heinz 320 Kuper, Ernst 84 Lafontaine, Oskar 108, 122, 152, 316 f., 321 f., 373, 381, 403, 405 f., 408–410, 419, 421, 423 f. Lambsdorff, Otto Graf 337 Lammert, Norbert 368 Landfried, Christine 22, 54 Landowsky, Klaus 320 Landsberg, Otto 273 Landshut, Siegfried 25, 28, 32, 38, 59, 76 Lang, Hans-Joachim 53 Lapp, Peter Joachim 305, 435 Lassalle, Ferdinand 265 Lay, Karen 406–408 Lazar, Monika 424 Leber, Annedore 60 Leber, Julius 60 Leggewie, Claus 9, 13, 15, 39 f., 48, 171, 177 f., 183–185, 188 f., 196 f.
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Anhang
Lehmbruch, Gerhard 22, 34, 53 Leibholz, Gerhard 67 Lenin, Wladimir I. 82, 123, 205, 294 f. Leo, Annette 101 Lepsius, M. Rainer 263 Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine 426 Levin, Shlomo 231 Liebich, Stefan 419, 423 f. Liebknecht, Karl 314 Liebknecht, Wilhelm 265 Liebold, Sebastian 13 Lindner, Christian 341, 344, 400, 426, 431 Link, Werner 70, 72, 74, 88 Linsler, Rolf 419 Linz, Juan J. 114 Lipset, Seymour M. 235, 238–241, 243, 254 Lösche, Peter 262, 337, 393 Lötzsch, Gesine 213, 349, 408, 419 Loewenstein, Karl 23, 25, 31 Löwenthal, Richard 21 f., 25, 28 f., 31 f., 440 Lubbe, Marinus van der 284 Lücke, Paul 162 Luther Hans 274 Luxemburg, Rosa 101, 123, 128, 314, 411 Machiavelli, Niccolò 29 Mahler, Horst 136, 165, 228 Mahraun, Arthur 275 Maier, Hans 72, 75, 88 f. Maleuda, Günther 303 Malycha, Andreas 288 Mampel, Siegfried 294, 435 Mann, Golo 164 Mann, Thomas 102 f. Mannichl, Alois 174 Mappus, Stefan 341 Marquardt, Angela 424 Marx, Karl 190, 265, 295 Marx, Peter 121, 145, 148, 158 Marx, Wilhelm 274, 276 Matschie, Christoph 381 Matthias, Volker 84 Mayer, Tilman 199, 220, 224 Mead, Lawrence M. 46 Meckel, Markus 320 Mecklenburg, Ernst 303
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Personenverzeichnis
Meenen, Uwe 148 Meier, Horst 15, 171, 176–178, 183–185, 187–189, 196 f. Meinhof, Ulrike 205 Mende, Erich 335 f. Menzel, Klaus-Jürgen 146 Merkel, Angela 82, 349, 372, 375, 380, 385, 387, 389, 424 Merkel, Wolfgang 9 Merz, Friedrich 426 Metzger, Dagmar 323 Meyer, Ernst Wilhelm 25 f. Michels, Robert 263 Mielke, Erich 203 Mitter, Armin 11 Modrow, Hans 308 Möllemann, Jürgen 338 Möller, Horst 67 f., 74, 90, 283 Molau, Andreas 121, 148 Moltmann, Carl 291 Mommsen, Hans 63 Morgenthau, Hans J. 25, 31 Morsey, Rudolf 72, 84, 88 Morstein-Marx, Fritz 25 Mosse, George L 72 Müller, Hermann 26, 276, 278 Müller, Norbert 409 Müller, Werner 66 Müller-Enbergs, Helmut 461 Münkler, Herfried 35, 39, 96, 310 Müntefering, Franz 321, 323 Mundlos, Uwe 231, 234 Mußgnug, Martin 133 f., 139 Mussolini, Benito 82 Naumann, Friedrich 275 Neu, Viola 122 Neubert, Ehrhart 97 Neugebauer, Gero 110, 249 Neumann, Franz L. 25, 31 Neumann, Sigmund 25, 31, 107, 263, 280 Niclauß, Karlheinz 66 f. Niebel, Dirk 427 Nier, Michael 14 Nipperdey, Thomas 262 Noetzel, Thomas 74
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Nohlen, Dieter 53, 364 Nolte, Ernst 65, 72, 190, 430 Nuschke, Otto 302 Oakeshott, Michael 75 Oberndörfer, Dieter 75, 88 Offe, Claus 21 f., 35, 51, 55, 57, 70 Oncken, Hermann 27 Orwell, George 190 Ostrogorski, Moissei 63 Papen, Franz von 62 Papier, Hans-Jürgen 172 Pastörs, Udo 121, 138 Patzelt, Werner 9 Pau, Petra 349, 419 Paul, Mathias 146 Pflüger, Friedbert 66 Pickel, Susanne 54 Pieck, Wilhelm 290 Platon 106, 112 Platzeck Matthias 312, 380 f. Ploenus, Michael 461 Ploetz, Yvonne 408 Pöhlmann, Siegfried 134, 139 Pöschke, Frida 231 Poppe, Ulrike 97 Popper, Karl R. 71, 179 Preuß, Hugo 275 Püse, Jens 120 f. Quadbeck, Ulrike 61, 67, 72, 74 Radbruch, Gustav 209 f. Ramelow, Bodo 324, 381, 408 f., 415 Rau, Johannes 317 f. Reichel, Peter 84 Reif-Spirek, Peter 101 Rennecke, Frank 138 Revel, Jean-François 64 Richter, Emanuel 66 Richter, Karl 121, 138 Rieger, Jürgen 121, 137 f. Riexinger, Bernd 405, 408, 413, 423 Ringstorff, Harald 317 f. Ritter, Gerhard A. 264
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Röder, Manfred 229 Röpke, Wilhelm 425 Rösler, Philipp 426 f. Rohe, Karl 263 Rosen, Edgar R. 25 Roßmüller, Sascha 137, 148 Roth, Claudia 386 Rousseau, Jean-Jacques 30 Rudolph, Hermann 71 Rudzio, Wolfgang xxx, 315 Rüb, Friedbert W. 54 Rühl, Lothar 84 Rüstow, Alexander 22, 33 Rüttgers, Jürgen 382 Rupp, Hans Karl 66 f., 74 Sartori, Giovanni 107 Sauer, Wolfgang 63, 73 Sauzay, Brigitte 10 Schäfer-Gümbel, Thorsten 324 Schäuble, Wolfgang 388, 427 Scharpf, Fritz W. 53 Scharping, Rudolf 93, 102, 317, 320, 338 Scheel, Walter 336 Scheidemann, Philipp 273, 434 Schelsky, Helmut 76 Schewardnadse, Eduard 105 Schild, Georg 84 Schiller, Theo 66 Schleicher, Dorothee 60 Schleicher, Kurt von 62 Schleicher, Rüdiger 60 Schleyer, Hanns Martin 206 Schmidt, Carlo 25, 31, 56 Schmidt, Helmut 62, 68, 337, 375, 432, 434, 437, 441, 448 Schmidt, Manfred G. 9, 17, 33, 342, 355, 431, 433 f., 443, 446, 448 Schmidt, Mirko 146 Schmitt, Carl 187, 189, 196, 210 f. Schön, Jürgen 146 Schönhuber, Franz 204 Schorlemmer, Friedrich 97 Schröder, Gerhard 81, 142, 164, 320 f., 336, 339, 367, 369, 373, 375, 405, 430, 432, 438 f., 442
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Anhang
Schubert, Frank 231 Schünemann, Uwe 173 Schützinger, Jürgen 134 Schulz, Gerhard 63, 73 Schumacher, Kurt 314, 334 Schuman, Robert 75 Schumpeter, Joseph A. 71 Schwab, Jürgen 212, 227 Schwan, Alexander 12, 72, 75 Schwan, Gesine 12 Schwanitz, Wolfgang 319 f. Schwarz, Hans-Peter 13, 53, 67, 72–90, 441 Schwerdt, Frank 121, 138, 150 Seehofer, Horst 373 Seidel, Bruno 25 Simon, Annette 96 Simons, Haus 25 Sindermann, Horst 301 Sinzheimer, Hugo 30 Smith, Gordon 446 Söllner, Alfons 25 Sontheimer, Kurt 34, 72, 75, 88, 447 Sorel, George 27 Spillmann, Kati 204 Spillmann, Kurt R. 204 Sporleder, Dieter Spranger, Eduard 59 Springer, Axel 75, 82, 90 Sprungk, Carina 54 Stadelmann, Rudolf 59 Stammer, Otto 24 f., 31, 60, 72 Stahl, Friedrich Julius 266 Stein, Erwin 23 Stein, Tine 54 Steinbrück, Peer 349, 386, 389, 414 Steinmeier, Frank-Walter 323, 372 f., 375 Stephan, Gerd-Rüdiger 289 Sternberger, Dolf 21, 25, 28 f., 31–33, 56 f., 67, 70, 328, 354, 370 Stöss, Richard 110, 154 Stoiber, Edmund 349, 373, 375, 406, 430 Stoiber, Michael 54 Stolpe, Manfred 316 Straßer, Gregor 277 Straßner, Alexander 234 Strauss, Leo 25
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Personenverzeichnis
Strauß, Franz Josef 336 f., 375 Stresemann, Gustav 56, 275 Stürmer, Michael 283 Sturm, Roland 9 Suhr, Otto 23, 25, 30 Thadden, Adolf von 133 f., 139 Thälmann, Ernst 101, 276 Thaysen, Uwe 12 Thiel, Thorsten 54 Thielen, Fritz 133 Thieme, Tom 108 Thierry, Andreas 121 Thierse, Wolfgang 319, 321 Tibi, Bassam 183 Tillich, Stanislaw 172 Tillmann, Ulrich 230 Tocqueville, Alexis de 64 Todenhöfer, Jürgen 202 Toeplitz, Heinrich 301 Tormin, Walter 262 Trittin, Jürgen 164, 386, 390, 416 Ulbricht, Walter 290, 304 f. Ulrich, Hubert 381 Unkelbach, Helmut 354 Voegelin, Eric 21, 25, 28 f., 32 f., 65, 72 Vogel, Hans-Jochen 316 Vogt, Joseph 59 Voigt, Udo 117–119, 121, 128, 131, 134–137, 142 f., 145, 147, 150, 152, 156–158, 166 f., 214, 226 Vorderbrügge, Sibylle 229 Vorländer, Hans 66
Wappler, Kirstin 461 Washington, George 80 Weber, Alfred 29, 44 Weber, Hermann 288, 303 Weber, Max 275 Wegener, Lutz 231 Wegner, Christel 125 Weilemann, Peter R. 90 Weinreich, Otto 59 Weiß, Konrad 96 f. Weizsäcker, Richard von 79, 435 Wels, Otto 276 Wengst, Udo 52 Wentker, Hermann 289 Wessels, Wolfgang 84 Westarp, Kuno Graf von 275 Westerwelle, Guido 338, 373, 426 f. Wiener, Antje 54 Wiese, Michael 231 Wiesner, Claudia 54 Wilhelm II. 270, 272 Windthorst, Ludwig 266 Winkler, Heinrich August 12, 85, 263 Wippermann, Wolfgang 15, 177 f., 190 f., 193, 195–197 Wirsching, Andreas 90 Wirth, Joseph 275 Wissler, Janine 127 Wolfers, Arnold 25 Woller, Hans 53 Worch, Christian 120 Wowereit, Klaus 320 Wulff, Thomas 120 f. Ypsilanti, Andrea 323 f., 424
Wagenknecht, Sahra 126, 406–408, 415, 423 Wagner, Helmut 12 Wagner, Wolfgang 89 Walser, Martin 236 Walter, Franz 9, 39 f., 46, 48, 337 Wandruszka, Adam 72
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Zarusky, Jürgen 53 Zastrow, Holger 428 Zimmer, Gabriele 406 Zintl, Reinhard 53 Zschäpe, Beate 231 f.
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Vita Eckhard Jesse Eckhard Jesse, geb. am 26. Juli 1948 in Wurzen bei Leipzig, studierte von 1971 bis 1976 Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft an der FU Berlin (Diplom-Politologe), gefördert von der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Grund- und Promotionsförderung. Von 1978 bis 1993 schloss sich eine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität Trier an, unterbrochen von einer Gastdozentur an der Universität Salzburg (1984/85): als Wissenschaftlicher Mitarbeiter (1978–1983), Hochschulassistent (1983–1989) und Hochschuldozent (1990–1993). Das Thema der Dissertation (1982) lautete: „Die Gestaltung des Wahlrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Analyse der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um Wahlsystem- und Wahlrechtsänderungen“, das Thema der Habilitationsschrift (1989): „Streitbare Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel des Extremistenbeschlusses von 1972“. Zwischen 1990 und 1993 folgten Lehrstuhlvertretungen und Gastprofessuren an den Universitäten München, Trier, Mannheim und Potsdam. In den Jahren 1993 bis 2014 hatte Eckhard Jesse an der Technischen Universität Chemnitz im Fach Politikwissenschaft den Lehrstuhl für politische Systeme, politische Institutionen inne. Von 2005 bis 2007 war er Stellvertretender, von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Der Vertrauensdozent der Hanns-Seidel-Stiftung ist seit über zwei Jahrzehnten Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Deutschlandforschung und seit fast zwei Jahrzehnten Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. 1989 wurde von Uwe Backes und ihm das Jahrbuch Extremismus & Demokratie ins Leben gerufen, das 2015 zum 27. Mal erscheint. Jesse ist Herausgeber der folgenden Buchreihen: „Extremismus und Demokratie“ (seit 2001, mit Uwe Backes), „Chemnitzer Beiträge zu Politik und Geschichte“ (seit 2009, mit Frank-Lothar Kroll), „Parteien und Wahlen“ (seit 2012, mit Roland Sturm). Zu den Publikationen in den letzten Jahren gehören: Diktaturen in Deutschland. Diagnosen und Analysen, Baden-Baden 2008; Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen, Köln u. a. 2008; Politikwissenschaft in Deutschland (Mithrsg.), Baden-Baden 2010; Politischer Extremismus in den EU-Staaten (Hrsg. mit Tom Thieme), Wiesbaden 2011; DIE LINKE – eine gescheiterte Partei? (mit Jürgen P. Lang), München 2012; Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013. Parteiensystem und Regierungsbildung im internationalen Vergleich (Hrsg. mit Frank Decker), Baden-Baden 2013; Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90, 4. Aufl., Bonn 2013; Politik in Sachsen (mit Thomas Schubert und Tom Thieme), Wiesbaden 2014; Bilanz der Bundestagswahl 2013. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen (Hrsg. mit Roland Sturm), Baden-Baden 2014; Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin (Hrsg. mit Sebastian Liebold), Baden-Baden 2014; Friedliche Revolution und Demokratie. Perspektiven nach 25 Jahren (Hrsg. mit Thomas Schubert), Berlin 2015.
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