Deutscher Staat und Deutsche Parteien: Beiträge zur deutschen Parteien- und Ideengeschichte [Neudruck. Reprint 2019 ed.] 9783486746976, 9783511008642


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German Pages 384 [388] Year 1922

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Inhaltsverzeichnis
Die weltanschaulichen Grundlagen der politischen Theorien
Malwida von Meysenbug und Theodor Althaus. Ein Beitrag zur Geschichte der vormärzlichen Demokratie
Glaubensbekenntnisse einer politischen Jugend. Beiträge zum Lebensbild Ludwig Aegidis und Eduard Laskers
Jakob Burckhardt und das öffentliche Wesen seiner Zeit
Aus der Geschidite der nationalliberalen Partei in den Jahren 1868 bis 1871
Der Staatsbegriff Heinrich v. Treitschkes
Ziel und Weg in der deutschen Frauenbewegung des XIX. Jahrhunderts
Stöckers Versuch, eine christlich-soziale Arbeiterpartei in Berlin zu begründen (1878)
Bismarcks Sturz und die Parteien
Deutsche und amerikanische Demokratie
Marxismus und auswärtige Politik
Weltanschauliche Motive im altkonservativen Denken
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Deutscher Staat und Deutsche Parteien: Beiträge zur deutschen Parteien- und Ideengeschichte [Neudruck. Reprint 2019 ed.]
 9783486746976, 9783511008642

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DEUTSCHER STAAT UND

DEUTSCHE PARTEIEN BEITRÄGE ZUR DEUTSCHEN PARTEI® UND IDEENGESCHICHTE

FRIEDRICH MEINECKE zum 60. Geburtstag dargebracht In Gemeinschaft mit

Hermann Bäditold, Hans Fraenkei, Siegfried Kaehier, Frances Magnus «Hausen, Alfred von Martin, Eduard Wilhelm Mayer < f W i l h e l m Mommsen, Peter Richard Rohden, Hans Rothfeis, Dora Wiegele, Otto Westphai herausgegeben von

Paui Wentzcke

M Ü N C H E N UND BERLIN 1922 DRUCK UND V E R L A G VON R. O L D E N B O U R G

Alle ReAte, einschließlich des Qbersetzungsredites, vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis Dr. P e t e r R i c h a r d R o h d e n , Berlin: Die weltanschaulichen Grundlagen der politischen Theorien

Seite

r — 35

D o r a W e g e l e , Dannstadt: Malwida v. Meysenbug und Theodor Althaus. Ein Beitrag zur Geschichte der vormärzlichen Demokratie 36 — 62 Dr. P a u l W e n t z c k e , Archivdirektor, Düsseldorf: Glaubensbekenntnisse einer politischen Jugend. Beiträge zum Lebensbild Ludwig Aegidis und Eduard Laskers 63 — 96 Dr. H e r m a n n B ä c h t o l d , o. Professor an der Universität Basel: Jakob Burckhardt und das öffentliche Wesen seiner Zeit . . 97—134 f Dr. E d u a r d W i l h e l m M a y e r : Aus der Geschichte der nationalliberalen Partei in den Jahren 1868 bis 1871 135—154 Dr. O t t o W e s t p h a l , München: Treitschkes

Der Staatsbegriff Heinrich von 155—200

Dr. F r a n c e s M a g n u s - H a u s e n , Jena: Ziel und Weg in der deutschen Frauenbewegung des X I X . Jahrhunderts 201—226 Dr. S i e g f r i e d K a e h l e r , Archivrat am Reichsarchiv in Potsdam, Privatdozent an der Universität Marburg: Stöckers Versuch, eine christlich-soziale Arbeiterpartei in Berlin zu begründen (1878) 227—265 Dr. W i l h e l m M o m m s e n , Berlin: Bismarcks Sturz und die Parteien 266—293 Dr. H a n s F r a e n k e l , Berlin: Deutsche und amerikanische Demokratie 294—307 Dr. H a n s R o t h f e l s , Archivrat am Reichsarchiv in Potsdam: Marxismus und auswärtige Politik 308—341 Dr. A l f r e d v. M a r t i n , a. o. Professor an der Universität Frankfurt a.M. : Weltanschauliche Motive im altkonservativen Denken . . . . 342—384

Die weltanschaulichen Grundlagen der politischen Theorien. V o n Peter Richard

Rohden.

I. Eine erschöpfende und völlig befriedigende Geschichte der politischen Theorie ist bisher ein Desiderat unserer Wissenschaft geblieben. Dieser Umstand findet seine Erklärung letzten Endes vielleicht weniger in der Fülle des zu bewältigenden Stoffes, als vielmehr in der eigentümlichen Unbestimmtheit und Dehnbarkeit, welche dieser Kategorie unserer geistigen Welt anhaftet. Schon der Begriff der Politik ist nicht inhaltlich, sondern nur formal aus ihrem spezifischen Mittel zu bestimmen1). Politische Probleme sind Machtfragen. Alles politische Wollen zielt darauf hin, auf die Verteilung und Verschiebung der Macht Einfluß zu gewinnen. Sollte sich dieser voluntaristische Grundcharakter der Politik nicht auch in der theoretischen Besinnung über die politischen Phänomene widerspiegeln? Mit anderen Worten: Haben wir in den politischen Systemen überhaupt rein theoretische Gebilde vor uns, welche Anspruch auf Wissenschaftlichkeit oder, — um den Ausdruck etwas zu dämpfen, — auf Richtigkeit erheben können ? Eine uneingeschränkte Bejahung dieser Frage würde die tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten der einzelnen Denker unerklärt lassen. Eine völlige Verneinung setzt uns anderseits dem Verdacht aus, die Denkarbeit des Theoretikers, die naturgemäß Anspruch auf Gültigkeit erhebt, nicht ernst zu nehmen, womit uns der logische Ariadnefaden, der alle diese widerspruchsvollen Äußerungen noch einigermaßen Zusammenhält, endgültig zu entgleiten droht. Jede geschichtliche Darstellung der politischen Gedankenwelt eines Zeitalters muß in ihrer Weise zu diesem Problem Stellung nehmen. Die primitivste Lösung dieses Dilemmas ist zweifellos der Weg, den Bluntschli 2 ) einschlägt. Er nimmt den Standpunkt seiner Zeit als Max W e b e r , 2)

Politik

J.C.

Gesammelte politische Schriften (München 1922), S. 396.

Bluntschli,

(2 Bde., München

M e i n e c k e , Festschrift.

Geschichte

des allgemeinen Staatsrechts

1864). I

und

der

2 normativen Maßstab und mißt daran die Denker der Vergangenheit. Neben die Darstellung der fremden Systeme tritt also ziemlich unorganisch eine Kritik, welche z. B. Hobbes' Gleichsetzung von Staat und Herrscher als »logischen Grundfehler«1) tadelt, und sich gerade noch herbeiläßt, derartige »Irrtümer« aus den mißlichen Zeitverhältnissen zu entschuldigen. — Die Naivität dieser größtenteils wohl unbewußten Normgebung tritt sogleich in Erscheinung, wenn man sich in der Phantasie einmal eine politische Diskussion zwischen Hobbes und Rousseau ausmalt2). Beider Denken wurzelt in demselben Grundbegriff, nämlich dem des »natürlichen Menschen«. Nur mit dem Unterschiede, daß Hobbes in dem homo naturalis ein reißendes Tier sieht, während Rousseau denselben zwar als asozial, aber doch als von Natur gut hinstellt. Gerade diese äußere Übereinstimmung der Terminologie enthüllt uns in voller Eindringlichkeit den inneren Gegensatz der beiden Weltanschauungen, zwischen denen es schlechterdings keinen goldenen Mittelweg gibt. Diese Gegensätzlichkeit zu überbrücken, dazu ist auch eine dialektische Behandlung des Problems nicht imstande. An sich stände ja nichts im Wege, auch den Werdegang der politischen Gedankenwelt in den Hegeischen Rhythmus von Thesis, Synthesis und Antithesis einzugliedern oder das allmähliche Auftauchen der einzelnen politischen Problemstellungen in derselben Weise herauszudestillieren, wie es Windelband3) für das allgemeine Denken versucht hat. Für bestimmte Epochen, etwa für den Zeitraum von der Renaissance bis zur Romantik, von Machiavelli bis Hegel läßt sich ein solcher dialektischer Rhythmus auch unschwer feststellen, sofern man nur von Nebenerscheinungen absieht und den Blick auf die Hauptträger der Entwicklung richtet. Für das Zeitalter des Absolutismus, das seinen theoretischen Ausdruck etwa in Machiavelli, Hobbes und Bossuet fände, könnte man das gemeinsame Grundproblem auf die Formel bringen: Wie ist Herrschaft möglich? Die Antithese dazu, vertreten von Locke, Montesquieu und Rousseau, würde dann lauten: Wie ist Freiheit möglich ? Und die Synthese beider Problemstellungen A. a. O. Bd. I., S. ioo. 2)

Rousseau nimmt übrigens selbst wiederholt auf die Theorie seines poli-

tischen Antipoden 3)

Wilhelm

Bezug.

Windelband,

(7. Aufl., München

1916).

Lehrbuch

der

Geschichte

der

Philosophie

3 würde die organische Staatstheorie der Romantik bieten, welche den Begriff des Volkes als Freiheit im Rahmen einer wesensgesetzlichen Gebundenheit zu erfassen sucht. — J a man könnte noch weiter gehen und innerhalb dieser drei Gruppen wieder eine Art von Quergliederung aufweisen. Jedesmal eröffnet ein Empiriker den Reigen: Machiavelli, Montesquieu, Burke. Diesem Auftakt folgt der Systematiker, welcher die Einzelbeobachtungen seines Vorgängers in einen allgemeinen Zusammenhang einstellt: Hobbes, Locke, de Maistre. Den Beschluß würden dann diejenigen Denker machen, welche den nunmehr induktiv wie deduktiv verarbeiteten Sachverhalt gefühlsmäßig beleben, also gleichsam die sentimentalen Naturen: Bossuet, Rousseau und Adam Müller. — Man sieht indes sogleich, daß alle diese Typisierungsversuche etwas Gewaltsames haben. Die chronologische Umstellung zwischen Locke und Montesquieu ist dabei vielleicht noch das geringste Übel 1 ). Auch über die Berechtigung der Auswahl und die Reduktion einer großen geistesgeschichtlichen Epoche auf einige Namen könnte man natürlich streiten. Schwerer wiegt schon die Nichtberücksichtigung des inneren Reichtums der einzelnen Doktrinen. So fügt sich z. B. Machiavelli in diese Konstruktion nur als Verfasser des »Principe« ein, während die »Discorsi« völlig aus dem Kreise der Betrachtung ausscheiden. Aber das wäre im Grunde eine Frage der Praxis. Jeder ideengeschichtlichen Konstruktion haftet eben eine gewisse Willkür an, und es würde sich nur fragen, ob der Vorteil des Grenzpfahlsteckens den Nachteil des damit verbundenen Schematismus nicht doch überwiegt. Die Geschichtsforschung arbeitet ja fortwährend mit solchen Grenzsetzungen, ohne darüber den Sinn für das Fließende der Ubergänge zu verlieren. Der Wert einer Gliederung bemißt sich an ihrer methodischen Fruchtbarkeit. Und hier liegt m. E. der eigentliche Grundfehler unseres Konstruktionsversuches: Er behandelt die politischen Systeme als frei in der Luft schwebende, rein gedankliche Gebilde und löst sie völlig von dem realen historischen Geschehen ihrer Zeit ab. Nun beruht aber der eigentümliche Charakter der politischen Doktrin gerade darauf, daß ihr Wesenszentrum gar nicht in der theoretischen Einkleidung hegt. Staatsdoktrinen sind niemals Erx ) Sie rechtfertigt sich vom geistesgeschichtlichen Standpunkt durch den Umstand, daß Lockes Einwirkung auf das europäische Denken im wesentlichen erst durch Voltaire vermittelt wurde.

4 Zeugnisse eines ausschließlich theoretisch gerichteten Erkenntniswillens. Daher versagt bei ihnen das nur-logische Normprinzip selbst in der abgeschwächten Form der Dialektik. Ehe der Denker überhaupt an die Aufgabe der theoretischen Formulierung herantritt, verfügt er schon über einen ganzen Schatz von »Vorurteilen«, Tendenzen und Wertgesichtspunkten, mittels deren er das chaotische Durcheinander der Außenwelt zu sichten trachtet. Das fertige System ist zumeist die nachträgliche begriffliche Rechtfertigung des apriori Gefühlten. Politische Theorien sind emotionale Gebilde, getragen und gespeist vom Willen zur Wirkung. Dieser voluntaristische Grundcharakter aller politischen Besinnung drückt nicht etwa nur den Schriften abgesetzter oder verunglückter Diplomaten seinen Stempel auf 1 ), sondern er zieht jeden Denker in seinen Bann, sobald er das Gebiet der Politik betritt. Mag sich der reine Theoretiker noch so sehr darauf versteifen, lediglich den objektiven Tatbestand begrifflich zu analysieren, mag er sich noch so entrüstet dagegen verwahren, irgendwelche Zielsetzungen geben zu wollen, — unbewußt verfällt auch er dem alogischen, dem emotionalen Charakter der politischen Doktrin. Denn er kann ja die verwirrende Fülle der auf ihn einstürmenden Eindrücke nur dadurch theoretisch bewältigen, daß er eine Ai swahl trifft. Diese Auswahl aber ist immer schon eine verkappte Wv.~+"ng. Selbst wenn der Denker eigensinnig auf dem Gebiet der Empirie verharrt, selbst wenn er jeden Anspruch aufgibt, irgend welche Regelmäßigkeiten, — von Gesetzen gar nicht zu reden, — in der politischen Entwicklung aufzuweisen, so erliegt er trotzdem dem Zwange, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Mögen die dazu benötigten Begriffe noch so vorsichtig gewählt sein, schon der Versuch, aus dem ungegliedert ablaufenden Strom der Geschehnisse so etwas wie »Grundlagen«, oder »herrschende Tendenzen« herauszuschälen, verstrickt den Theoretiker in die kategoriale Struktur des historischen Denkens. Zu diesem subjektiven Element aller geschichtlichen Forschung gesellen sich aber bei der politischen Theorie noch objektive Momente, die ihren alogischen Charakter verschärfen. Der politische Denker ist in weit höherem Maße als der reine Logiker auf Erfahrungsmaterial angewiesen, ist weit stärker als dieser mit der realen Umwelt ver1) Man braucht hier nur an die Flut von Memoiren und Rechtfertigungsschriften zu denken, mit denen uns die Nachkriegszeit überschüttet hat.

5 flochten. Selbst der Utopist formt nur die Anschauungsbilder, welche ihm seine Zeit liefert, nach seinen Wünschen um. Wie die Chimära der Griechen ein aus Löwe, Ziege und Drache zusammengeflicktes Spukwesen war, wie auch die tollste Märchenphantastik nie völlig von den Formen der Wirklichkeit loskommt, so ist selbst die ausschweifendste politische Utopie nur ein aus willkürlich aufgegriffenen Eindrücken und Erinnerungen zusammengekochter Sud. So wenig der Bildhauer den Marmor, der Maler die Farbe zur Gestaltung seiner Erlebnisse entbehren kann, so wenig kann sich der politische Theoretiker von den realen politischen Verhältnissen seiner Umwelt ablösen. — Sein Zeitalter bietet dem Denker vor allem eine konkrete historische Wirklichkeit, mit der er sich auseinandersetzen muß. Es ist dabei vom logischen Standpunkt aus ziemlich belanglos, ob er sich bejahend oder verneinend zu ihr stellt oder ob er einen Mittelweg wählt. Bejaht er seine Epoche, so wird er eine weitere Steigerung der in ihr liegenden Tendenzen anempfehlen; verneint er sie in jeder ihrer Äußerungen, so ist selbst diese Negation an dem vorhandenen Zustand orientiert. Denn Wirklichkeit und Idee sind zum mindesten durch das Begriffspaar: Verneinung und Bejahung miteinander verknüpft. Der Pazifismus ist das ideelle Korrelat des Imperialismus. Schiede die Machtpolitik plötzlich aus dem Kreise der geschichtlichen Wirklichkeit aus, so hätte die Forderung einer rechtlichen Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen jeden Sinn verloren. Der politische Theoretiker kann wohl gegen den Strom seiner Zeit schwimmen. Aus dem Strombett seiner epochalen Bedingtheit vermag er jedoch niemals völlig zu entweichen. Mit der mechanischen Wechselwirkung von Drinnen und Draußen, individueller Mentalität und kollektiver Bedingtheit ist jedoch das Verhältnis zwischen dem politischen Theoretiker und seiner Zeit nicht erschöpft. Denn die epochalen Momente wirken keineswegs nur als Druck von außen auf die Gestaltung einer Doktrin ein. Der Denker atmet vielmehr den Geist seiner Zeit beständig in sich ein, ihre Tendenzen gehen in seinen Blutumlauf über, so daß zwischen seinem Ich und seiner Umwelt eine Art von Exosmose und Endosmose stattfindet. So ist z. B. die soziale Stellung eines Theoretikers von grundlegender Bedeutung für die Erfassung seiner Doktrin. Es ist ein großer Unterschied, ob ein vorwiegend philosophisch, künstlerisch oder religiös gestimmter Denker aus einem gewissen Vollständig-

6 keitsbedürfnis sich bemüht, die politischen Probleme in sein Gedankensystem einzureihen, oder ob ein Mann der Praxis, z. B. ein Aristokrat, der wiederholt hohe Staatsämter bekleidet hat, zur Feder greift. Ein Schulbeispiel für den ersten Fall bildet die deutsche Romantik, während die französischen Traditionalisten überwiegend den zweiten Typus repräsentieren. Beide Teile kommen freilich inhaltlich zu demselben Endergebnis, nämlich zu einer organischen Auffassung des politischen Lebens. Sie unterscheiden sich aber grundsätzlich in der Art und Weise, wie sie argumentieren. Der deutsche Literat gewinnt den traditionalistischen Zentralwert der Dauer auf Umwegen, aus der Anschauung einer überindividuellen Kontinuität in den geistigen Leistungen seines Volkes. Dem französischen Traditionalisten dagegen sitzt das Gefühl für den Wert der Überlieferung unmittelbar im Blute. Wenn er den Gedanken, ein Glied in der Kette der Generationen, Wahrer und Mehrer einer ererbten Tradition zu sein, — dieses Beruhen in der Zeit und im Räume, das gleichzeitig eine gesteigerte Verantwortung und doch auch wieder eine gewisse Beschwichtigung bedeutet, — zum Eckstein seiner Theorie macht, so projiziert er lediglich sein aristokratisches Standesgefühl auf das politische Gebiet. Er verallgemeinert sein persönliches Lebensgefühl zum sozialen Gesetz. Und den gleichen Unterschied finden wir in der Stellung der deutschen Romantik und des französischen Traditionalismus zum katholischen Dogma wieder. Der französische Aristokrat war Katholik von Geburt. Die deutschen Romantiker waren fast ausnahmslos Konvertiten, d. h. sie waren in die katholische Geisteswelt auf dem Umwege über ästhetische und literarische Erlebnisse eingedrungen. Was für den französischen Traditionalisten eine immittelbare Gegebenheit darstellte, war für den deutschen Romantiker das Ergebnis eines langwierigen Einfühlungsprozesses. Auf demselben Begriff liegt mithin ein völlig anderer Gefühlston. Angesichts dieser Fülle von alogischen Momenten in den politischen Doktrinen und angesichts der Unmöglichkeit, denselben gerecht zu werden, solange man sich hartnäckig auf die Alternative: richtig oder falsch versteift, läge nun vielleicht der Gedanke nahe, als Wertmaßstab für die Geschichte der politischen Gedankenwelt die Wirksamkeit der einzelnen Staatsdoktrinen zu wählen. DieseS Prinzip wird noch verführerischer durch den Umstand, daß die politischen Systeme auf ihrem Wege zur Wirksamkeit einen höchst

7 komplizierten Umbildungsprozeß durchmachen. Zwischen dem subtilen Begriffsgebäude des Denkers und der Verdichtung und Vergröberung seiner wirklichen oder vermeintlichen Haupttendenz zum massenfaszinierenden Schlagwort des Agitators spannt sich eine fast unübersehbare Kette von Zwischengliedern. Es läge also durchaus im Bereich des Möglichen, den Kern einer Staatsdoktrin nicht in dem verschachtelten System, sondern in der brutal verdichteten Agitationsphrase zu suchen. Aber selbst wenn man dabei jeden Reduktionsversuch des Theoretischen ins Ökonomische, wie ihn der historische Materialismus fordert, von vornherein ablehnt und die Doktrinen als Doktrinen bestehen läßt, so führt doch die Wertung ausschließlich nach der Wirksamkeit in eine Sackgasse. Was versteht man denn unter »Wirksamkeit«? Den Augenblickserfolg? Das würde eine recht seltsame Hierarchie der politischen Denker ergeben. Hat doch ein Aristoteles die politische Haltung seiner Epoche so gut wie gar nicht beeinflußt, wohl aber dem ganzen politischen Denken des Mittelalters die entscheidende Wendung gegeben. Und Erscheinungen wie Plato, Thomas Morus und Campanella müßten dann folgerichtigerweise in einer geschichtlichen Darstellung der politischen Gedankenwelt ganz zurücktreten, während Hitzköpfe, deren abstruse Doktrinen sich infolge einer bestimmten Verkettung der Ereignisse realpolitisch irgendwie auswirken, an die erste Stelle rücken würden. Die reine Wirksamkeit ist also als Wertmaßstab einer politischen Doktrin ebenso unzureichend wie die logische Schlüssigkeit.

II. Dieser unfruchtbaren Alternative zu entrinnen, gibt uns nun m. E. die moderne philosophiegeschichtliche Forschung einen Fingerzeig 1 ). Ausgehend von der empirischen Tatsache, daß auch die philosophischen Systeme keine rein wissenschaftlichen Gebilde sind, sondern Gefühls- und Erlebnismomente in sich bergen, macht sie den Versuch, die systematische Formuüerung gleichsam zu erweichen und unterhalb des logischen Wahrheitsbedürfnisses gewisse Grundhaltungen aufzuweisen, welche das Verhältnis des Denkers zur Totalität des Seins apriori bestimmen. Sie strebt also in einer Art von ProsaVgl. z. B. Wilhelm D i l t h e y , Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (erschienen in dem vom Verlage Reichl herausgegebenen Sammelband »Weltanschauung«, Berlin 1911).

8 auflösung zur Philosophie ohne System, ähnlich wie wir uns ja auch daran gewöhnt haben, die Religion vom Dogma, den Ideengehalt eines Kunstwerks von seiner Form zu trennen. Dieses Verfahren wäre dann die ideengeschichtliche Methode nar ¿'ioyjjv, wobei das Wort »Idee« im genauen platonischen Sinne als direkter, kategorienloser Kontakt zwischen Bewußtsein und Erscheinungswelt zu verstehen wäre. Läßt sich nun diese Methode vielleicht auch für die Geschichte der politischen Theorie fruchtbar machen? Wir wiesen schon eingangs auf die emotionale Struktur des politischen Denkens hin, ohne uns jedoch genaue Rechenschaft darüber zu geben, worin denn eigentlich der spezifische Charakter dieser alogischen Elemente einer Staatsdoktrin besteht. Wir sahen lediglich, daß diese instinktive Denkund Gefühlsweise zeitlich vor allen theoretischen Formulierungen liegt, also gewissermassen die Untermauerung für den systematischen Aufbau abgibt. Versuchen wir nun diese Elemente des politischen Denkens näher zu bestimmen, so entpuppen sie sich als Wertungen. Die Gesamtheit dieser Wertungen, welche ihrerseits keineswegs ein Produkt der theoretischen Besinnung sind, sondern umgekehrt dieser erst Form und Farbe geben, macht dann die individuelle Mentalität des einzelnen Denkers aus. Aus der Mannigfaltigkeit der politischen Mentalitäten würde sich dann auch die Buntheit des Bildes erklären, welches uns die Geschichte des politischen Denkens darbietet. Denn die Grundprobleme der politischen Doktrinen sind in allen Zeiten und bei allen Völkern nahezu die gleichen, vorausgesetzt, daß die betreffende Epoche überhaupt in das Stadium der politischen Besinnung getreten ist. Man kann diese grundsätzlichen Fragen, ähnlich wie die poetischen Stoffe, auf ganz wenige Grundformen zurückführen: Ist ein Volk etwas Ursprüngliches oder etwas logisch und zeitlich aus den einzelnen Individuen Abzuleitendes? Welche Stellung kommt dieser besonderen Gemeinschaftsform im Vergleich mit anderen sozialen Gebilden wie Familie, Staat und Kirche zu? Ist der Mensch von Natur gut oder böse, gesellig oder ungesellig? — Das sind einige der wesentlichsten Fragen, welche jeder politische Theoretiker sich von neuem stellt. Mithin ergibt sich, daß die eigentliche Leistung einer Staatsdoktrin nicht in diesen Problemstellungen liegen kann, die alle Systeme mehr oder weniger gemeinsam haben. Charakterisiert wird ein politischer Denker viel-

9 mehr durch die Art, wie er diese Fragen aufgreift, wie er sie ordnet und wie er sie schließlich beantwortet. Die Art ihrer Bewältigung aber ist ihrerseits bestimmt von der structure intime des Denkers, d. h. von der Gesamtheit seiner Wertvorstellungen, mit denen er an diese Probleme herantritt. Diese structure intime, dieses irrationale und daher in seiner Totalität völlig indiskutable Element einer Staatsdoktrin bleibt zumeist im Unterbewußtsein, tritt also nicht in den Kreis der Reflexion ein und kommt unter Umständen in der systematischen Begründung nur sehr unvollkommen zum Ausdruck. Es ist dem Denker angeboren und erscheint ihm daher als so selbstverständlich, daß es einer logischen Fundierung nicht mehr bedarf. Gerade wegen dieser seiner Selbstverständlichkeit aber muß es das Zentralproblem der ideengeschichtlichen Analyse bilden. Denn diese Attidüde, — um hier ein Lieblingswort Simmeis1) einzuführen, — stellt den roten Faden dar, an dem sich der Denker durch das Labyrinth der politischen Phänomene hindurchtastet. Die praktische Anwendung dieser Methode würde sich demnach etwa folgendermaßen gestalten: Gegeben ist die fertige politische Theorie, bald aus einer Reihe empirischer Beobachtungen bestehend, bald zu systematischem Aufbau drängend. Diese Theorie zerfällt in einzelne Begriffe und Begriffskomplexe, welche der Denker aus der terminologischen Überlieferung seiner Umwelt übernimmt, genau so, wie der Dichter mit dem Sprachgut seines Volkes arbeitet. Aber wie die poetische Leistung darin besteht, die überlieferten Worte ihres konventionellen Charakters zu entkleiden und sie mittels des Rhythmus und Klanges wieder zum unmittelbaren Ausdruck eines Erlebnisses zu befähigen, so besteht die Leistung des Theoretikers darin, den Begriff mit dem Inhalt seines persönlichen Lebensgefühls zu erfüllen. Und da der Denker nur in den seltensten Fällen zu ganz neuen Wortbildungen seine Zuflucht nimmt, gilt es in den überlieferten Begriffen den spezifischen Erlebnisinhalt aufzuspüren. Dabei können sich nun mitunter die merkwürdigsten Spannungen und Widersprüche zwischen der tradierten Terminologie und dem individuellen Lebensgefühl des Denkers ergeben. Wir deuteten etwas Ähnliches schon an, als wir von der inhaltlichen Verschiedenheit des homo naturalis bei Hobbes und bei Rousseau sprachen. Georg S i m m e l , Hauptprobleme der Philosophie (4. Aufl., Berlin 1917).

10 Der »natürliche Mensch« im System des Absolutisten Hobbes ist gemäß der naturwissenschaftlichen Grundhaltung dieses Denkers ein Abstraktum. Man gewinnt diesen Begriff auf dem Wege der Subtraktion. Der homo naturalis ist der Deutsche ohne Deutschtum, der Franzose ohne Franzosentum, der Engländer ohne englischen Charakter. Diese reduzierende Methode findet bei Hobbes ihre Begründung u. a. auch in seinen persönlichen Lebensschicksalen. Den größten Teil seines Lebens hat der englische Philosoph als Verbannter in Frankreieh verbracht. Diese Entwurzelung, der schon ein leichter Hauch von Globetrottertum anhaftet, zwang ihm die Rolle des unbeteiligten Betrachters auf. Ein solches Außenstehen aber begünstigt die Anschauung, daß die völkischen Besonderheiten nur Kostüme sind, hinter denen sich das allen Menschen Gemeinsame verbirgt. — Diese Auffassung des homo naturalis hat sich dann die Aufklärung zu eigen gemacht. Allerdings ersetzte sie in der Menschenwertung den staatsmännischen Pessimismus Hobbes' durch eine optimistische Gleichsetzung von Natur und Vernunft. Und in dieser Fassung fand Rousseau den »natürlichen Menschen« als feststehendes Dogma vor. An sich war dieser abstrakte Begriff für seine gefühlsmäßige Art so inadäquat wie irgend möglich. Wohl ist auch für Rousseau die Natur die Norm aller Dinge. Aber sein »Naturmensch« ist keine Abstraktion, sondern ein Ich-Erlebnis. Er selbst ist dieser homo naturalis, der sich gegen die Verderbtheit des ancien régime wie aller Zivilisation überhaupt auflehnt und zur Ursprünglichkeit zurückstrebt. Das tägliche und stündliche Erlebnis dieses Gegensatzes zwischen seinem eigenen Lebensgefühl und den sozialen Konventionen seiner Umwelt bildet den Brennpunkt, an dem sich sein Denken entzündete. Dieses Erlebnis bestimmt die antithetische Struktur seiner Theorie und drückt seinen Gedankengängen den revolutionären Charakter auf, der sich gegen Ende seines Lebens ins Pathologische, d. h. bis zum Verfolgungswahnsinn steigerte. Rousseau hat immer dagegen angekämpft, ein »Original« zu sein. Als solches hätte ihn die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts gerne gelten lassen. Aber Rousseau wollte mehr sein als ein kostümierter Cato, als ein belächelter Wüstenprophet. Er machte sein Lebensgefühl zur Norm, empfand nur sich als natürlich und unverbildet und deutete seine eigene Gutmütigkeit und soziale Indolenz zur Theorie einer paradiesischen Vorzeit aus. Diese kontinuierliche krampfartige Spannung zwischen

11 der Bejahung seines Selbst und der Verneinung desselben durch jede Geste seiner Umwelt drückt dem Denken Rousseaus jenen eigentümlichen Zug des révolté auf, welcher dem soviel kühleren Hobbes völlig abgeht. Ähnliche Antinomien zwischen geistigem Inhalt und überlieferter Terminologie ließen sich in der Geschichte der Staatsdoktrinen noch in großer Zahl aufweisen. Wir wollen uns damit begnügen, als weiteres Beispiel den Begriff der Freiheit herauszugreifen. Die Aufklärung sieht in der Freiheit ein Menschenrecht. Für Locke z. B. ist Menschsein und Freisein, •— d. h. die unbehinderte Verfügungsgewalt über sein Eigentum zu besitzen, — schlechthin identisch. Dieses universale Freiheitsideal ist seinerseits wiederum die Säkularisierung jenes Anspruches des englischen Puritanismus, welcher dem »Auserwählten« das Recht zuschreibt, das Reich Gottes auf Erden auch gegen den Willen des Herrschers und, wenn nötig, mit Gewalt zu verwirklichen. Bei abweichender Begründung geht also hier die rationale Weltanschauung mit der religiösen inhaltlich konform. — Ein ganz anderes Lebensgefühl liegt dagegen dem Freiheitsbegriff Machiavellis zugrunde. Wenn er die republikanische Freiheit des italienischen Stadtstaates preist, so hat er dabei nicht ein universales Menschenrecht, sondern eine lokale, in sich abgestufte Freiheit im Auge. Die Freiheit ist für ihn ein Privileg, nicht ein Naturrecht. Es ist die lokal-begrenzte, bodenständige ständische Freiheit des seigneurs, der polis. Die politische Romantik verfuhr mithin nur folgerichtig, wenn sie dieses abgetönte System dadurch veranschaulichte, daß sie nicht mehr von Freiheit schlechthin, sondern von Freiheiten sprach. Denn der Wert einer solchen Freiheit ist kein absoluter. Er beruht im Gegenteil auf dem »Mehr«, das sie vor anderen Freiheiten voraus hat. — Dabei ergibt sich nun die merkwürdige Tatsache, daß diese romantische Deutung des ständischen Freiheitsbegriffes den historischen Tatbestand in einer gewissen Hinsicht schon dadurch fälscht, daß sie ihn zwangsläufig durch die rationale Brille sieht. Nichts aber lag dem mittelalterlichen Staatswesen in Wirklichkeit ferner, als diese durchdachte, scharf gegliederte Abgewogenheit aller sozialen Funktionen. Den Einrichtungen des Mittelalters haftet für unser Gefühl etwas Lückenhaftes oder, — um eine sehr glückliche Wortprägung Goethes zu gebrauchen, — etwas Läßliches an. Deshalb gibt die jeder rationalen Systematik abholde Theorie Machiavellis

12 den erlebnismäßigen Gehalt des ständischen Freiheitsideals im Grunde adäquater wieder als der Traditionalismus. Der universale Freiheitsbegriff der Aufklärung ist Machiavelli noch völlig fremd, so daß er sein Lob der städtischen Freiheit ganz naiv neben sein Tyrannenideal stellen kann. Das romantische Denken dagegen hat sich begrifflich an der Aufklärung geschult. Nur im Gegensatz zur rationalen Staatsdoktrin des 18. Jahrhunderts ist der bewußte Traditionalismus der Restaurationszeit überhaupt denkbar. Die Romantik bedient sich der rationalen Denkmethode, um die irrationalen Elemente des politischen Lebens begrifflich zu erfassen. Daher haftet dem traditionalistischen Denken von vornherein eine gewisse Stillosigkeit an, es leidet an einer ständigen Spannung zwischen Inhalt und Form, die niemals ganz zum Ausgleich kommt. Ehe wir jedoch diese eigentümliche Spannung in ihren Konsequenzen für den begrifflichen Ausdruck einer politischen Mentalität weiter verfolgen, müssen wir noch einen Augenblick bei dem Problem des politischen Lebensgefühls selbst verweilen. Lebensgefühl nannten wir die Gesamtheit der Wertungen, welche die eigentümliche Struktur eines Denkers ausmachen. Diese Wertungen, welche jeder politischen Theorie zugrunde liegen, brauchen nun aber ihrerseits nicht aus der Sphäre der Politik zu stammen. Nur ein Machiavelli durfte mit Recht von sich sagen, er müsse so zwangsläufig vom Staate reden wie der Wollhändler von seiner Wolle. Die Grundwerte seiner Theorie: virtù und fortuna sind daher auch spezifisch politische Werte 1 ). Den Gegenpol dazu würde dann ein Denker bilden, der von Natur im großen ganzen unpolitisch, erst im Verlauf seines Denkens zur begrifflichen Verarbeitung auch der politischen Phänomene gedrängt wird, wie z. B. Kant. Die Mehrzahl der politischen Denker dürfte jedoch in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen stehen, d. h. politische und apolitische Wertmaßstäbe unbedenklich miteinander verquicken. So spielt z. B. in der Staatsdoktrin des Traditionalismus das katholische Dogma eine große Rolle. Bonald geht sogar soweit, theologische und politische Begriffe wie Theismus und Monarchie, Deismus und Konstitutionalismus, Atheismus und Anarchie in Zusammenhang zu setzen. Handelt es sich hierbei nur um eine begriff*) Doch bedeutet der Begriff der »fortuna« bei Machiavelli mehr als die bloße »Gelegenheit«. E r birgt außerdem noch ein gewisses magisches Element, das noch schärfer bei Guicciardini zum Ausdruck kommt.

13 liehe Spielerei? Und werden die übernommenen dogmatischen Vorstellungen nicht durch die Anwendung auf politische Phänomene abgebogen und inhaltlich umgestaltet? So macht z. B. de Maistre das Dogma von der Erbsünde zu einem Eckpfeiler seiner politischen Doktrin. Sein Ausspruch: »Der Wille des Menschen ist von Grund aus verderbt«1) klingt zunächst sehr dogmatisch. In Wirklichkeit aber hat der Pessimismus des illusionslosen Menschenkenners mit dem kirchlichen Dogma wenig zu tun. Denn es fehlt in der politischen Gedankenwelt de Maistres das dogmatische Korrelat, die Gnade Gottes, wobei allerdings wieder zu bedenken wäre, daß der Nutzbarmachung einer derart rein metaphysischen Vorstellung für das politische Gebiet etwas schwer Vorstellbares anhaftet. — Und einem ganz ähnlichen Umwandlungsprozeß begegnen wir in der ästhetischen Umbiegung des Gedankens von der grundsätzlichen Schlechtigkeit des Menschen zum Weltschmerz, den alle Dichtungen Chateaubriands als Grundmotiv aufweisen. Diese blasierte Pose, die mit dem Gefühl des Epigonentums, der Greisenhaftigkeit, des Ekels vor der Sinnlosigkeit des Menschenlebens kokettiert, hat schon mit der Herbheit der staatsmännischen Menschenverachtung de Maistres nur den Namen gemein. Im Grunde ist der Weltschmerz ein Salonpessimismus, der sich mit dem Mantel des christlichen Dogmas drapiert. Oder mit anderen Worten: Die Religiosität Chateaubriands ist nicht Erlebnis, sondern Einfühlung und Literatur. Die Analyse einer politischen Gedankenwelt darf sich also nicht mit der Aufzeigung der Herkunft eines oder mehrerer Grundwerte zufrieden geben. Sie muß sich vielmehr bemühen, den erlebnismäßigen Gewichtsunterschied der einzelnen Begriffe festzustellen. Dazu kann es mitunter von Wert sein, die Ausprägung eines Lebensgefühles auch auf anderen Gebieten zu verfolgen und zum Vergleich heranzuziehen. Denn die Wahrscheinlichkeit für die innere Echtheit einer Grundattitüde ist immer dann am größten, wenn sie sich gleichmäßig auf den verschiedensten Kulturgebieten ausprägt. Das politische Lebensgefühl Ludwigs XIV. spiegelt sich nicht nur in der Staatsdoktrin Bossuets, es atmet auch aus den Predigten dieses Mannes, es lebt in den Bauwerken des Sonnenkönigs und in den Tragödien Corneilles. Wiederbelebungsversuchen einer früheren MenJoseph de Maistre, Du Pape, Buch II, Kap. i.

14 talität wird man besonders dann ein gewisses Mißtrauen entgegenbringen müssen, wenn sie sich lediglich literarisch ausdrücken. Denn die Literatur ist immer bis zum gewissen Grade ein Phantasieprodukt und leistet als solche der Verwischung der oftmals fast unmerklichen Grenzen zwischen Einfühlung und originalem Lebensgefühl Vorschub. Diese Methode muß man aber besonders gegenüber den abgeschlossenen politischen Systemen anwenden. Denn eine Staatsdoktrin entsteht nicht durch einfaches Hinausschreien eines Lebensgefühls. Sie ist und bleibt ein Begriffsgebäude, das sich aus verschiedenen Schlußfolgerungen zusammensetzt, hinter denen durchaus nicht immer die gleiche Erlebnisintensität steht. Nicht mit Unrecht hat ein so ausgeprägter philosophischer Charakter wie Nietzsche gegen jede Systematisierung ein starkes Mißtrauen geäußert. Denn jedes System strebt nach Vollständigkeit. Daher wird es immer brüchige, d. h. erlebnisarme Stellen aufweisen. Es handelt sich auch hierbei nicht etwa um die logische Schlüssigkeit der Beweisführung. Im Gegenteil, die zwingendsten Argumente sind oftmals die erlebnisfernsten1). Machen wir doch schon bei Diskussionen des täglichen Lebens die Erfahrung, daß uns eine logische Schlußfolgerung innerlich nicht mehr in dem Maße zugehört wie der Grundgedanke, von dem wir ausgingen. Nun ist jede Theorie eine verkappte Diskussion. Der Denker setzt sich darin beständig mit einem wirklichen oder gedachten Gegner auseinander. Entweder er widerspricht und wird durch diesen Widerspruch doch indirekt von seinem Gesprächspartner abhängig, oder er beugt sich dem fremden Gedankengang, übernimmt das gegnerische Argument, verwertet es für sich und gliedert es in sein System ein. Beides kann eine Verfälschung der ursprünglichen Attitüde, eine wenigstens zeitweilige Ablenkung von der eigenen Anschauung bedeuten. Dann wird vielleicht an einem späteren Punkte der Kontakt zwischen Lebensgefühl und begrifflichem Ausdruck desto intensiver wieder aufgenommen. Jedes System hat daher eine gewisse Ähnlichkeit mit einem mathematischen Beweise, der. ja auch auf weite Wegstrecken mit imaginären Größen arbeitet, um sich schließlich doch wieder zur Realität zurückzufinden. Deshalb darf sich die Analyse einer Doktrin nicht damit begnügen, Und umgekehrt! Piatos Beweise für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele sind logisch äußerst anfechtbar, wirken jedoch durch die unmittelbare Überzeugungswärme, von der sie durchglüht sind.

15 aus der Totalität des Systems einen oder mehrere Grundwerte herauszuschälen. Sie muß vielmehr jede begriffliche Formel auf ihre Erlebnisintensität, jede logische Schlußfolgerung auf ihre Gefühlswärme untersuchen. Erst wenn sie jede einzelne Schicht der umgekehrten Pyramide, die sich von der punktähnlichen apriorischen Mentalität zu dem fertigen Begriffsgebäude ausdehnt, genau auf ihren Erlebnisgehalt geprüft hat, darf sie ihre Aufgabe als erfüllt ansehen. Hat uns aber nun diese ganze verwickelte Betrachtung tatsächlich aus der Alternative: Richtigkeit und Wirksamkeit hinausgeführt? Wer sich die Lösung dieser Frage nur im Sinne einer allgemeingültigen prästabilierten Harmonie vorstellen mag, wird eine verneinende Antwort geben müssen. Aber ihm dürfte auch nichts anderes übrig bleiben, als sich rückhaltlos dem Hegeischen Panlogismus in die Arme zu werfen. Denn nur dort sind Richtigkeit und Wirksamkeit apriori identisch. Steckt man sich dagegen das Ziel niedriger und bescheidet man sich mit einer Annäherung der beiden Gesichtspunkte, so wird man vielleicht einräumen, daß uns die Zurückführung der politischen Systeme auf bestimmte intuitive Grundhaltungen zum mindesten der Lösung einen Schritt näher gebracht und einen gewissen Zusammenhang zwischen der Denkarbeit des Theoretikers und seiner Einwirkung auf seine Umwelt aufgedeckt hat. Denn der Begriff der Mentalität bildet den Kreuzungspunkt, in dem sich Individuum und Zeitgeist berühren. Schon die rein empirische Betrachtung kann uns ja darüber belehren, daß das begriffliche Gebäude eines Systems niemals restlos in das Bewußtsein einer Zeit übergeht. Was wirkt und was den einzelnen Denker zum Kristallisationspunkt der Tendenzen seiner Epoche macht, ist eben diese irrationale und niemals vollkommen zu analysierende Übereinstimmung seines persönlichen Lebensgefühles mit dem der ihn umgebenden Kollektivität. Restlos ist damit freilich die Antithese zwischen Wahrheit und Wirksamkeit nicht behoben. Eine leise, niemals ganz zu klärende Unstimmigkeit bleibt immer bestehen. Denn die Spannung zwischen der inneren Wahrheit und der äußeren Wirksamkeit liegt schon im Schöße des Denkens selbst verborgen. Und in die Beurteilung eines jeden geistigen Gebildes spielen zwei Wertreihen hinein: einmal seine Intensität und zum zweiten die formale Bewältigung derselben. Diese Intensität braucht nicht mit Originalität gleichbedeutend zu sein. Wenn wir z. B. die einzelnen Gedanken eines

16 Montesquieu auf ihre Herkunft verfolgen, so sehen wir, daß er u. a. stark von Vico beeinflußt worden ist. Aber in der Theorie Vicos gewannen diese Gedanken nicht die Prägnanz, welche sie bei Montesquieu atmen. Erst im »Esprit des lois« sind alle Einzelbeobachtungen über die Abhängigkeit der politischen Institutionen von geographischen, nationalen und sozialen Faktoren zu dem Gesamtbilde von der »balance des pouvoirs« verdichtet, das sich kraft seiner Eindringlichkeit dem politischen Denken der ganzen Folgezeit einprägte. Bei Montesquieu haben wir tatsächlich den ganz seltenen Fall vor uns, daß sich zu der genialen Intuition eines Problems die Fähigkeit der gedanklichen Formulierung gleichwertig gesellte. Und in diesem Falle gilt das Wort Charles Peguys, das die Polarität von Wahrheit und Wirksamkeit zwar nicht überwindet, aber doch in gewissem Sinne über sie hinausführt: »Eine große Philosophie ist nicht eine Philosophie, die unangreifbar dasteht. Es ist eine Philosophie, die etwas ergreift. Eine große Philosophie ist nicht eine Philosophie ohne Tadel, es ist eine Philosophie ohne Furcht. Eine große Philosophie ist nicht die, welche endgültige Urteile fällt, es ist die, durch welche eine Unruhe erregt wird, eine Erschütterung in die Welt kommt. Eine große Philosophie ist nicht eine Philosophie, die unbestritten ist, es ist eine Philosophie, die irgendwo siegt!« III. Wenn wir nun diese methodologischen Erwägungen mit Rücksicht auf das eingangs gesteckte Ziel einer Gesamtdarstellung der politischen Gedankenwelt prüfen, so hat es zunächst den Anschein, als wären wir der Erreichung dieses Zieles eher ferner gerückt als näher gekommen. Denn wir haben ja die festumrissenen Doktrinen aufgelöst in ein Netz von scheinbar wirren Fäden, deren Durcheinanderspielen das Gesamtbild mehr zu trüben als zu klären geeignet sein dürfte. Und es ist schließlich kein großer Trost, daß es der ideengeschichtlichen Darstellung der reinen Philosophie kaum besser gehen dürfte. Diesem Dilemma zu entgehen, dürfte es sich empfehlen, sich den Methoden der Weltanschauungslehre noch einen Schritt weiter anzuvertrauen und sich zu fragen, ob sich denn aus diesem Gestrüpp von Attidüden, Mentalitäten und Wertungen nicht auch für das politische Denken gewisse typische Formen herausschälen lassen,

17 die geeignet erscheinen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Dilthey 1 ) ist für die reine Philosophie auf diesem Wege vorangegangen, Simmel2) hat sich die Ergebnisse dieser Methode z. T. zu eigen gemacht, und Nohl3) hat schließlich versucht, die so gewonnenen Erkenntnisse auf die ästhetischen Probleme anzuwenden. Das Bestreben, die Fülle der Erscheinungen dadurch zu bewältigen, daß man gewisse, stets wiederkehrende typische Formen in ihnen aufweist, blickt auf eine lange Vorgeschichte zurück. Und gerade unsere Methode, hinter den Begriffsgebäuden der einzelnen Denker nach einem intuitiven Denkrhythmus zu fahnden, legt den Gedanken nahe, daß eine solche Gliederung der irrationalen Attitüden, die mit der panlogistischen Dialektik Hegels nur die äußere Form gemein hat, auch für die Geschichte der politischen Systeme fruchtbar zu machen sein müßte. Ist es denn überhaupt selbstverständlich, daß die politischen Phänomene in den Kreis der Reflexion eintreten, daß sich der Mensch über die »beste Staatsform« den Kopf zerbricht? Offenbar nicht. Denn schon der flüchtigste Blick belehrt uns, daß es in der Geschichte weite Epochen gibt, denen die politische Besinnung fremd war. Dem ganzen Mittelalter fehlt sogar der Begriff des »Staates« im modernen Sinne, d. h. der Gedanke eines rationell geordneten Zustandes. Das Wort »stato« ist eine Schöpfung der Renaissance. — Und in demselben Stadium der Blindheit für alle politische Problematik, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der Lage der Philosophie vor der Aufwerfung erkenntnistheoretischer Fragen aufweist, befand sich die homerische Welt, die wir daher mit einem gewissen Recht als das griechische Mittelalter ansprechen. Dieser Wechsel zwischen dem Fehlen und dem Auftreten der politischen Besinnung legt uns in dem Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft gleich zwei typische Haltungen bloß: eine traditionale, die sich dem gegebenen Rahmen ohne theoretische Auflehnung einordnet, und eine rationale, die sich der sozialen Umwelt reflektiv-abwägend gegenüberstellt. Comte hat denselben Sachverhalt im Auge, wenn er in der Geschichte »organische« und »kritische« Epochen unterscheidet. Die erstere Haltung umfaßt, ganz roh umrissen, die griechische Geschichte bis 1)

A. a. O.

2)

S i m m e l , a. a. O. und in dem Büchlein über »Kant und Goethe«, 3. Aufl.,

Leipzig 1916. 3)

Hermann N o h l , Stil und Weltanschauung, Jena 1920.

M e i n e c k e , Festschrift.

2

18 zum Auftreten der Sophisten und das germanisch-romanische Mittelalter.

Charakterisiert wird sie durch das fraglose Sicheinordnen des

Einzelnen in die Gesamtheit.

Der Gegensatz zwischen Individuum

und Gesellschaft ist überhaupt noch nicht in das allgemeine B e w u ß t sein übergegangen. — Und typisch können wir diese Haltung deshalb nennen, weil sie auch in die folgenden rationalen Zeiten als leiser, aber deutlich hörbarer Unterton hineinspielt. Der erste Versuch einer Revolutionierung der mittelalterlichen Gesellschaft

war

der Absolutismus.

Aber diese

sich noch in sehr engen Grenzen.

Revolution

Wohl brach der

hielt

Absolutismus

die politische Macht des Adels, wohl säkularisierte er die

Politik

und löste sie von den christlichen Werten. Aber er hütete sich sorglich, die ständische Gesellschaftsordnung in ihrem Kerne anzutasten. Vielmehr hat grade der Absolutismus vielfach eine förmliche Adelsrenaissance

heraufgeführt

und

auch

die kirchliche

Macht

seinen

Zwecken dienstbar zu machen versucht, wenn er sich davon eine E r höhung seines Ansehens versprach.

Und wo er mit den Tendenzen

der Neuzeit ein Bündnis einging, wirkte sich diese E n t e n t e doch nur in sehr begrenzter Weise aus.

Sie t r a t in einer Art v o n vegetativer

Dumpfheit in Erscheinung, wofür die latent-nationale französischen Königtums ein Beispiel bietet. Daher

Politik des

wirkt die abso-

lutistische Epoche für unser Gefühl oft widerspruchsvoll, ohne daß ihr jedoch diese innere Disharmonie selbst deutlich zum Bewußtsein gekommen wäre. E i n Franz I . und seine Nachfolger dünkten sich trotz ihres Bündnisses mit den Türken immer noch als allerchristlichste Könige.

Man führte zwar Begriffe, wie »Souveränität« und »Staats-

raison«, welche das politische Handeln autonom machten, in das allgemeine Denken ein, zog aber daraus nur für das Staatsoberhaupt die logischen Folgerungen und ging mit der Nivellierung der Standesprivilegien nur so weit, als es die politische Lage jeweils erforderte. Mit anderen W o r t e n : das traditionale und das rationale Staatsethos liegen in dieser Epoche noch ungeschieden beieinander. — Den grundsätzlichen Versuch, das politische Leben nach rationalen

Gesichts-

punkten zu ordnen, einen »vernünftigen« S t a a t zu schaffen, unternahm erst die französische Revolution. zur Revolution

HCCT

¿Boyrv.

Dieser Anspruch m a c h t sie

Doch auch ihr glückte es nicht,

die

Brücke zur Vergangenheit völlig abzubrechen, die traditionale Mentalität völlig zu unterbinden. U m sich klar zu machen, wie stark das

19 alte Ethos noch im 19. Jahrhundert war, braucht man nur an die nibelungenhaften Elemente im Staatsgefühl Bismarcks oder ganz allgemein an das Treuverhältnis des preußischen Offiziers zu seinem obersten Kriegsherrn, den »Portepeestandpunkt«, zu erinnern. Und eine ganz ähnliche Mentalität spricht sich in der Abneigung des Engländers aus, wichtige politische Akte mit rationalen Motiven zu begründen. Der englische Staatsmann zieht es bei weitem vor, bei solchem Anlaß seine Zuflucht zu Präzedenzfällen zu nehmen, ein Verfahren, welches der Politik eine starke Kontinuität gewährleistet und vielleicht eines der wichtigsten Erklärungsmomente für die beispiellose Kohärenz des britischen Weltreiches liefert. Im allgemeinen kann man vielleicht sogar behaupten, daß ein gesundes Volk in seiner politischen Mentalität immer ein Gran von Traditionalismus bewahren muß, und daß dieses Grundelement gerade in der Zeit der Gefahr aus dem Unterbewußtsein emporbricht und sich in Taten manifestiert. Die Größe eines Napoleon, eines Bismarck beruht zum Teil darauf, daß ihre Taten diesem völkischen Unterbewußtsein entsprangen. Was aber ist denn nun der Anlaß, durch den das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft in das Stadium der kritischen Besinnung tritt, welche sich zu einer politischen Theorie verdichtet? Offenbar genügt dazu nicht die äußere Bewegtheit einer Epoche. Denn an Ereignisreichtum stehen die traditional orientierten Zeiten den rationalen wahrlich nicht nach. Überhaupt wäre es ein großer Irrtum, zu glauben, daß sich das traditionale Staatsethos irgendwie als politische Stagnation bemerkbar machen müßte. Das Mittelalter ist erfüllt von den heftigsten Kämpfen zwischen den geistlichen und den weltlichen Machtfaktoren einerseits und zwischen der Zentralgewalt und den partikularen Kräften andererseits. Die Machtverschiebungen vollziehen sich gerade infolge des Übergewichts der personalen Momente oft in einer geradezu atemberaubenden Schnelligkeit. Der unerwartete Tod eines Fürsten machte mitunter die Arbeit ganzer Generationen mit einem Schlage hinfällig. Trotzdem hat sich keiner dieser Machtkämpfe zu einer politischen Theorie im modernen Sinne kristallisiert. Keine der zahlreichen mittelalterlichen" Staatsdoktrinen gibt eine adäquate Schilderung der wirklichen sozialen Verhältnisse, etwa der Lehensverfassung in ihrer Beziehung zu der agrarischen Wirtschaftsform. Sofern der mittelalterliche Mensch überhaupt von der propagandistischen Auswertung eines politischen Konfliktes



20 zu systematischer Durchdringung des ganzen Problemkomplexes fortschreitet, nimmt er seine Begriffe aus einer ganz anderen Sphäre: dem kirchlichen Dogma, der aristotelischen Philosophie oder dem römischen Recht, ohne die völlige Inadäquatheit dieser Begriffsgebilde für seine reale Umwelt zu argwöhnen. Die politische Theorie des Mittelalters ist die Magd des katholischen Dogmas und des römischen Rechts. Nicht jede politische Umwälzung gebiert also die theoretische Besinnung. Diese zu erzeugen, dazu bedarf es vielmehr einer Krisis des Staatsethos, d. h. einer elementaren Erschütterung aller politischen Werte überhaupt, eines fundamentalen Irrewerdens an der ganzen überlieferten Art, den Staat zu betrachten und ihn in den Rahmen der Kulturwerte einzureihen. Epochen, die ausschließlich im Banne eines einzigen Wertmaßstabes stehen, bleiben instinktsicher, kommen daher gar nicht in die Verlegenheit, gegenüber ihrer Umwelt eine distanziert-abwägende Haltung einnehmen zu müssen. Der politische Grundwert der mittelalterlichen Welt ist die Treue, die ihrem ganzen Wesen nach eine durchaus persönliche Bindung bedeutet. Treu sein kann man zunächst nur einer anschaulichen, lebendigen Person: der Lehnsmann dem Lehnsherrn, der Ritter seinem Kaiser, der Troubadour seiner Dame. Überträgt man das Treuverhältnis auf eine Sache oder auf eine Idee, so wird dieselbe dadurch fast automatisch personifiziert. Daher ist der Grund und Boden für den mittelalterlichen Menschen nicht eine Ware, sondern ein Teil seiner selbst, — eine Anschauung, die weit in die Neuzeit hineinreicht und ihren Ausdruck u. a. in der bekannten Forderung gefunden hat, den Landesbesitz »vom Zwange des römischen Rechtes zu befreien«. — Und ähnlich steht der mittelalterliche Christ zur Kirche. Sie ist für ihn in erster Linie eine geistige Gemeinschaft, nicht eine Zweckorganisation, so daß man die Rechtgläubigkeit vielleicht am ehesten als eine Form der Treue gegenüber der Person Christi auffassen könnte. Damit soll nun keinesfalls die absurde Behauptung aufgestellt werden, daß jeder mittelalterliche Bauer, Ritter oder Priester eo ipso treu war. Im Gegenteil, die Geschichte des Mittelalters wimmelt von Akten der Felonie. Die mittelalterlichen Dichter besingen die Treue gerade deshalb, weil Untreue eines der häufigsten Vorkommnisse war. Aber trotz aller Verstöße gegen diese sittliche Forderung bildete die Treue doch fraglos im Mittelalter den idealen Zielbegriff, neben dem kein anderer Wert in Frage kam.

21 Betätigungen, die ihrem ganzen Wesen nach ein anderes Lebensgefühl voraussetzten, spielten sich geduldet, gleichsam im Dunkeln ab. Als Beispiel sei hier nur an die Ausnahmestellung der Juden erinnert. Auf einem so werteinheitlichen Boden kann keine Staatsdoktrin erwachsen. Denn, wie alles Denken, so setzt auch die politische Theorie jenes &avfia£eiv, jenes Stutzigwerden voraus, das nach Aristoteles der Ursprung der Philosophie ist, und dessen Geschwisterkind der methodische Zweifel des Descartes ist. Solange der Träger eines anders gearteten Lebensgefühls sich ducken muß, falls er nicht wie Thersites unter dem Gelächter der Allgemeinheit eine Tracht Prügel riskieren will, so lange ist für politische und soziale Reflexionen kein Raum. Diese Wendung vom Anschaulichen zum Begrifflichen, vom Personalen zum Sachlichen, vom Traditionalen zum Rationalen vollzog in der Antike die Sophistik, im romanisch-germanischen Kulturkreis die Aufklärung. Den soziologischen Untergrund dieser geistigen Umwertung bildet beide Male das Emporkommen einer neuen Schicht, die mit dem Begriff »Bürgertum« nur sehr unvollkommen gekennzeichnet, aber durch ein gemeinsames Merkmal zusammengehalten wird: die Wurzellosigkeit, welche sie in der alten sozialen Gliederung als Sprengkörper wirken läßt. Tatsächlich ist diese neue Klasse ein äußerst kompliziertes Phänomen, dessen einzelne Bestandteile: Kapitalisten, Humanisten, Tyrannen, allerdings in beiden Epochen eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen. Und diese Verwandtschaft wirkt sich auch in den von ihnen geschaffenen politischen Formen: noXig und Reichsstadt, Tyrannis und Absolutismus, Demokratie und Bureaukratie, Imperium Romanum und europäisches Staatensystem aus, die samt und sonders, an der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung gemessen, den Geist einer nicht mehr nur gewordenen, sondern gewollten Regelung atmen. In der vulkanischen Atmosphäre dieses Kampfes der alten und der neuen Mentalität vollzog sich nun beide Male die Geburt der politischen Theorie. Die Erweiterung des äußeren Horizonts, welche die griechische Welt aus der Kolonisation des Mittelmeers, das Mittelalter aus den Kreuzzügen 1 ) heimbrachte, lieferte zux ) Welche Rolle die Anschauung der islamitischen Welt für das Erwachen der politischen Besinnung im Abendlande spielte, dafür ist u. a. auch das Urteil Luthers bezeichnend: »Es gibt kein feiner weltlich Regiment, denn bei den Türken«.

22 nächst einmal ein ganz neues Anschauungsmaterial und bot somit zum ersten Male die Grundlage für eine umfassende, vergleichende Methode. Dieses Verfahren aber basiert auf dem Gedanken, daß das überall Gleiche nun auch irgendwie das Wesentliche an den Erscheinungen darstellen müsse. So entsteht das Bestreben, die Totalität des Seins auf gewisse Grundphänomene zu reduzieren, hinter der Willkür (&éaig) eine feste Gesetzlichkeit (cpvoig) aufzuweisen, welche den Menschen zu gesellschaftlicher und staatlicher Vereinigung treibt. Sieht man dabei von der inhaltlichen Verschiedenheit der einzelnen Theorien ab, so ist die formale Parallelität zwischen Sophistik und Aufklärung mitunter wahrhaft verblüffend. J a , es ist vielleicht nicht zu viel behauptet, daß sich alle Grundgedanken der Aufklärung in nuce schon bei den Sophisten vorfinden. Ob die Staatenbildung von Protagoras auf die elementaren Triebe aìdcóg und dÌAtj oder von Machiavelli auf virtù und fortuna zurückgeführt, ob die Religion von Kritias als eine Erfindung kluger Staatskunst oder von Hobbes als staatlich konzessionierter Aberglaube gedeutet wird, — die Mentalität, der Denkrhythmus ist der gleiche. Es dominiert ein gewisser naturalistischer Tatsachensinn, der zur Reduktion aller Mannigfaltigkeit der Anschauung auf einfache Elemente drängt ; es dominiert ferner das Bewußtsein einer großen mechanischen Gesetzmäßigkeit, welches sich mitunter sogar bis zum Fatalismus, bis zur Resignation gegenüber jedem Ideal, ja bis zu fanatischerVerneinung desselben steigert. Mißt man Sophistik und Aufklärung inhaltlich aneinander, so kommt man zu dem Ergebnis, daß sich das Übergewicht der modernen Denker gegenüber den antiken im Grunde nur aus der größeren Fülle des ihnen zu Gebote stehenden Tatsachenmaterials herschreibt. Dieses Tatsachenmaterial bot ihnen die Möglichkeit verschiedenartigerer Kombinationen und damit eines vielgestaltigeren begrifflichen Ausbaus ihres Systems. Rein formal betrachtet dagegen kommt die ursprüngliche Mentalität grade infolge eines gewissen Stoffmangels bei den antiken Denkern schärfer zum Ausdruck als bei den modernen. Sucht man nun für diesen Typus der politischen Besinnung nach einem knappen Stichwort, so könnte man ihn vielleicht am besten als »naturalistisch« bezeichnen. Bei einigen dieser Theoretiker hegt ja die Beziehung zur Naturwissenschaft offen zutage. So stellt sich z. B. Hobbes ausdrücklich die Aufgabe, die mechanistische

23 Methode auf die politischen Phänomene anzuwenden. Aber selbst dort, wo sich eine direkte Beziehung nicht nachweisen läßt, besteht doch zum mindesten eine starke Parallelität zwischen der kosmischen und der politischen Problemstellung. Alle diese Doktrinen gehen ohne Ausnahme von der sinnlichen Erfahrung aus, in diesem Falle also von dem Faktum der Gesellschaft. Diesen Komplex trachten sie in seine einzelnen Teile zu zerlegen, genau so wie die mechanistische Naturwissenschaft den Körper in Atome auflöst. Und wie der Atomismus alle qualitativen Unterschiede in quantitative umrechnet, so begreift auch der politische Denker dieses Typus die kleinsten Teilchen seiner Welt, nämlich die Individuen, als wesensgleiche und von demselben Grundtrieb bewegte Atome. Welchen Namen dieser Grundtrieb dann bei den einzelnen Theoretikern erhält, ob er als Angst vor der Anarchie, als Vernunft oder als wohlverstandenes Eigeninteresse definiert wird, das hängt von der individuellen und epochalen Struktur des einzelnen Denkers ab. Auch wird natürlich die Analyse verschieden weit getrieben. Zu Anfang verharrt sie meist in der Sphäre des Personalen und läuft dann auf eine Psychologie der Herrscherpersönlichkeit hinaus. Sie kann aber auch noch wesentlich über das Individuum hinausgreifen und dasselbe wiederum als Produkt seines Milieus, also als Summe äußerer Einflüsse zu erfassen suchen. Alle diese Stockungen und Vorstöße geben der einzelnen Theorie ihre besondere Färbung, bleiben jedoch durchaus im Rahmen der naturalistischen Weltanschauung. Daß wir es hier wirklich mit einer typischen Haltung zu tun haben, dafür erübrigt sich im Grunde ein Beweis. Es dürfte sich in der ganzen Neuzeit kaum eine Epoche finden lassen, die nicht zum mindesten einen Träger dieser Mentalität hervorgebracht hätte. Von den Theoretikern des Absolutismus gehören Machiavelli und Hobbes hierher, aus den Kreisen der liberalen Staatsdoktrinäre seien Locke und Adam Smith genannt, und endlich fällt auch der Marxismus wenigstens in seiner Grundtendenz: der Zurückführung aller politischen Formen auf wirtschaftliche Momente, unter diesen Rahmen. Inhaltlich unterscheiden sich diese Theorien in tausend Einzelheiten. Was sie zusammenhält, ist die Methode, die ihrerseits wieder aus der Gleichheit der Mentalität entspringt. Diese Methode aber ist, — mag sie nun induktiv oder deduktiv, empirisch oder systematisch vorgehen, — ihrem ganzen Kerne nach unhistorisch.

24 Denn sie strebt ja gerade danach, die geschichtlichen Besonderheiten auszulöschen oder sie doch wenigstens in ihrer Bedeutung abzuschwächen und auf die Rolle von Maskengewändern herabzudrücken. J e konsequenter der einzelne Theoretiker diesen Weg beschreitet, desto energischer muß er alle historischen Inhalte aus seinem System ausschließen. Hobbes' Uhrwerkstaat und Lockes Vertragsstaat freier Eigentümer würden bei den Eskimos genau so gut funktionieren wie bei den Hottentotten. Hobbes' absoluter Monarch treibt ein Regieren-an-sich, Lockes Individuen sind Eigentümer-an-sich. Beide Begriffe entbehren jedes konkreten historischen Inhalts. Sie haben kein außer ihnen liegendes Willensziel. Was sie wollen, bleibt im Dunkeln. Sie wollen sich selbst, sie wollen sein. Und alle scheinbar inhaltlichen Zielsetzungen, wie »Glück« oder »Selbsterhaltung«, sind nur Paraphrasen dieses Existenzwillens. Nun kann sich allerdings kein Denker auf die Dauer dem Einströmen konkreter Zeitinhalte in seine Theorie völlig verschließen. Bewußt oder unbewußt nimmt schließlich jede Theorie epochale Elemente in sich auf. So füllt sich der »Principe« Machiavellis unmerklich mit dem Ideal der Befreiung Italiens, so weist der rechenhafte Staatenlenker Hobbes' gewisse Züge Richelieus auf, und so entpuppt sich sogar das nüchterne Vernunftwesen Lockes unversehens als englischer Gentlemen, der dem Ideal der respectability huldigt. Aber alle diese zeitgeschichtlichen Einflüsse sind doch Zumeist nicht stark genug, um die Struktureinheit des zugrundeliegenden Lebensgefühls zu sprengen. Sie bilden lediglich Fremdkörper, welche für die epochale und individuelle Bedingtheit der Doktrin bezeichnend sind, ohne jedoch die Attitüde von Grund aus zu gefährden. Um diesen Schritt zu vollziehen, dazu bedarf es des Bewußtwerdens einer Spannung, welche in der betreffenden Mentalität selbst begründet ist. Wir sahen die fast fanatische Ablehnung jeder Idealsetzung, welche gerade den konsequentesten Vertretern der naturalistischen Staatsdoktrin eignet. Diese mechanische Konstruktion schließt folgerichtig jede Zwecksetzung, jede Wertung und damit auch jede Entwicklung aus dem Kreis der Betrachtung aus. Denn Entwicklung bedeutet ja im Gegensatz zur bloßen Veränderung die Anerkennung eines Zieles oder doch wenigstens eines schöpferischen und somit unberechenbaren Elementes in der Natur und im Leben. Daher hat Machiavelli von seinem Standpunkt aus vollkommen

25 recht, wenn er der Geschichte nur einen zyklischen Ablauf, eine ewige Wiederkehr zuerkennt. Nur ist angesichts dieser letzten logischen Konsequenz nicht recht ersichtlich, welchen Sinn denn nun eigentlich das politische Denken, die Einsicht in die sozialen Zusammenhänge haben soll. Wenn sich die Weltgeschichte nach ewigen, unveränderlichen, mechanischen Gesetzen vollzieht, aller menschlichen Beeinflussung mithin entzogen ist, hat es doch für den Menschen gar keinen Zweck, sich über diese Gesetze den Kopf zu zerbrechen. Die Maschine läuft auch ohne, ja sogar gegen seine Zustimmung. Und lediglich zu konstatieren, daß sie läuft, dazu bedarf es doch nicht erst einer umständlichen theoretischen Besinnung. Hier stoßen wir tatsächlich auf den Punkt, an welchem der politische Monismus, wie jeder weltanschauliche Monismus überhaupt, zuletzt auseinanderbricht. Schon in dem Anspruch, die »eigentlichen« Zusammenhänge des politischen Lebens aufzudecken, schlummert immanent ein Zwiespalt, nämlich der Dualismus zwischen Schein und Sein. Und es bedarf nur einer ganz geringfügigen Änderung der Blickrichtung, um dem Sein ein Seinsollen zu substituieren. So mündet die reine Beschreibung und Zergliederung der Wirklichkeit schließlich doch in die anfangs verpönte Zielsetzung aus. Ganz entziehen kann sich dieser inneren Dialektik wohl kein Denker. Es bestehen daher im Grunde nur graduelle Unterschiede in der Intensität, mit der sich der einzelne Theoretiker diesem Prozeß überläßt. Der eine folgt ihm mit offenbarem Mißtrauen, so daß man mitunter den inneren Umbruch der Dialektik kaum merkt. Der andere wirft sich ihr ganz unbewußt in die Arme und argwöhnt nicht im geringsten, daß er den Boden der Wirklichkeit längst verlassen und sich zu Zielsetzungen verstiegen hat. So wird z. B. im Liberalismus der Mensch des wohlverstandenen Eigeninteresses, der eben noch als seiend vorausgesetzt wurde, plötzlich zum Zielbegriff der geschichtlichen Entwicklung umgedeutet. Die politische und soziale Wirklichkeit, wie sie uns vorliegt, erscheint unversehens als Werk der Unvernunft, der Leidenschaft. An ihre Stelle gilt es nun eine Gemeinschaft zu setzen, deren Gesetze in der Vernunft begründet sind. Diesen inneren Umschwung zu bewerkstelligen, dazu hat vielleicht außer der Doppeldeutigkeit, die gerade dem Begriff des Menschen

26 anhaftet 1 ), vor allem die uneingestandene, aber von Anfang an deutlich bemerkbare Tendenz der analytischen Theorie zur praktischen Anwendung beigetragen. Denn gerade die mechanistischen Staatsdoktrinen sind zunächst den Bedürfnissen der Praxis entsprungen, nämlich dem Willen, die politische Umwelt zu meistern. Schon die Lehre der Sophisten wollte ihren Jünger befähigen, das Volk auf der ayoQa durch Überredung zu lenken. Und dem »Principe« Machiavellis könnte man ohne Vergewaltigung des Inhalts den Untertitel geben: »Wie wird eine Herrschaft errungen und gesichert?« Am merkwürdigsten aber überschneiden und durchkreuzen sich Analyse und Zielsetzung im Marxismus. Denn in ihm steht ganz unvermittelt und unlogisch der erbarmungslose Analytiker des »Kapitals« neben dem begeisterten Seher des »Kommunistischen Manifests«. Alle politischen Erscheinungen werden als notwendige Ausdrucksformen bestimmter Wirtschaftsstufen dargestellt, die ihrerseits wieder nach einem genau bestimmten Rhythmus auseinander hervorgehen. Anderseits aber soll die Einsicht in diese Gesetzmäßigkeit doch wieder dazu dienen, den notwendigen Abschluß zu beschleunigen. Das Bewußtsein, •— selbst nur eine Spiegelung der ökonomischen Struktur einer Epoche, — soll also die Kraft in sich haben, das Rad der Geschichte in schnelleren Schwung zu setzen und so schließlich das tausendjährige Reich heraufzuführen, in dem alle Klassenkämpfe ein Ende finden. So verquickt sich in dieser Theorie vom Gottesreiche des Proletariats auf das engste ganz unlogisch Analyse und Prophetentum, Intellektualismus und chiliastische Eschatologie. Mit der Beschreibung dieser Zwittergebilde haben wir aber das Bereich der naturalistisch-monistischen Staatsdoktrin schon hinter uns gelassen und uns einem zweiten Typus des politischen Denkens genähert, der sich aus dem Erlebnis der Spannung zwischen Wirklichkeit und Ideal nährt und den man deshalb kurzweg als den »idealistischen« bezeichnen kann. Dieser Typus, dessen gesammeltsten Ausdruck Denker wie Plato und Fichte darbieten, macht den Dualismus zwischen Sein und Seinsollen zum Eckpfeiler seines Weltbildes. Er löst die Wertung völüg von der Wirklichkeit ab, macht das Geistige Dieselbe Mischung von Idealität und Realität weisen z. B. auch die Begriffe »Volk« und »Nation« auf. Goethe versuchte beide Elemente dadurch zu sondern, daß er, in Analogie zu den Worten »Person« und »Persönlichkeit«, den Begriff »Volkheit« prägte.

27 unabhängig von der physischen Kausalität und postuliert über dem Reich der Natur ein Reich der Ideen, dem die Individuen frei und doch im Banne einer sittlichen Norm angehören. Auf das politische Gebiet übertragen, führt diese Einstellung zu dem Postulat des Staates als des Trägers der sittlichen Idee. Die Politik wird so zur angewandten Ethik. Die Gliederung der sozialen Funktionen: Demiurg, Krieger und Herrscher, entspricht in Piatos TtoXvttia der Hierarchie der Werte: vital, heroisch und geistig. Dabei unterscheiden sich nun allerdings die einzelnen Vertreter dieses Typus wiederum nach dem Grade, in welchem sie sich um die Erfassung der Wirklichkeit bemühen. Zuweilen übernehmen sie zur Schilderung der Realität das politische Weltbild des Naturalismus: den Staat als Produkt und Kräfteresultante der Einzelegoismen, mit Haut und Haaren, werten aber dann diese Wirklichkeit als »radikal böse«, ihre Epoche als »Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit«. Den bestehenden Institutionen setzen sie schroff und übergangslos ihre unwandelbaren, absoluten Forderungen entgegen und rufen die Menschheit zu einer Umkehr und völligen Umwertung aller Werte auf. Dieser reine Idealismus nähert sich so mitunter sehr stark der Prophetie, wie ja auch einige seiner Hauptträger, die kalvinistischen Staatstheoretiker, einen alttestamentarischen Einschlag nicht verleugnen können. — Oder aber der Idealist schließt ein Kompromiß mit der Realität. Er erkennt dann die relative Berechtigung der bestehenden politischen Ordnung an und leitet ihre Notwendigkeit aus der Bosheit der menschlichen Natur her, deren anarchische Leidenschaften nur durch harten Zwang im Zaume gehalten werden können. Staat und Gesellschaft erscheinen als unvermeidliche Übel, als behaftet mit der ganzen Schwäche der menschlichen Natur, ja vielleicht gar als Werk des Teufels. Diesen Grundcharakter kann man den politischen Institutionen nicht nehmen. Man kann sie nur in ihrer Nichtigkeit und Belanglosigkeit für das Heil der Seele durchschauen oder sie bestenfalls den geistigen Inhalten unterordnen und äußerlich anpassen, ohne sie jedoch jemals mit ihnen völlig versöhnen oder gar durchdringen zu können. Man sieht also, daß auch im Rahmen dieser idealistisch-transzendenten Mentalität, welche die gegebene Wirklichkeit zugunsten einer geglaubten oder erlebten Idee verneint, die mannigfachsten Schattierungen und Tongebungen möglich sind. Zwischen der fana-

28 tischen Bußpredigt eines Savonarola, welcher Florenz von heute auf morgen mit Gewalt zur Gottesstadt erheben wollte, und der zuweilen fast an Quietismus streifenden Anerkennung der bestehenden sündhaften Gesellschaft, wie sie der staatsmännische, jeder Utopie abholde Pessimismus des katholischen Dogmas atmet, liegen ebenso zahlreiche Übergangsformen wie zwischen dem rastlosen kalvinistischen Gottesstreitertum eines Milton und der etwas indolenten Naturanbetung eines Rousseau, in welcher die innere Umkehr sich als einfache Kehrtwendung darstellt. Auch ist es für die formale Einheit dieses Denktypus ohne Bedeutung, welchen Quellen denn die Gewißheit von der Realität der Idee entspringt. Bei religiös gestimmten Denkern wie Augustinus äußert sich diese Gewißheit als »Bekehrung«, d. h. als plötzlicher Einbruch des Übersinnlichen in den Bezirk der Seele, bei diesseitig orientierten Theoretikern gibt ein Icherlebnis sozialer Natur den Grundton ab. Entscheidend für die Zugehörigkeit eines Denkers zu dem idealistischen Typus ist nicht der Inhalt seiner Lehre, sondern seine spezifische Haltung zur Totalität der politischen Welt, die negative Wertung des bestehenden Staates, der bestehenden Gesellschaft. Diese grundsätzliche Verneinung ermöglicht erst die Aufzeigung eines idealen Zielpunktes, der als rocher de bronze inmitten der Fülle der einzelnen Phänomene stabilisiert, diese zu überschauen und zu bewerten gestattet. Und aus dieser Verneinung entspringt auch der bald schärfer bald verschwommener ausgeprägte echatologisch-chiliatische Grundzug dieser Attitüde, der die Überwindung des gegebenen Zustandes von einem radikalen sittlichen Umschwung abhängig macht. Angesichts des wirklichkeitsfeindlichen Dualismus dieser Denkart könnte es nun zunächst scheinen, als müsse die praktische Bedeutung wenigstens ihrer extremen Ausprägungen sehr gering sein. Denn kann man sich zur Begründung eines Ideals einen bequemeren Ausweg denken, als die Forderung eines fundamentalen Gesinnungswandels ? Selbst wenn man einräumt, daß bei dem einzelnen Menschen eine Bekehrung nicht ausgeschlossen ist, — nimmt dieser Vorgang nicht sogleich den bedrohlichen Charakter einer Massensuggestion an, sobald man sich denselben auf einen weiteren Kreis ausgedehnt denkt ? Und in der Tat, wenn die Leistung eines so gearteten Denkers nicht wirkungslos verhallen soll, so muß er wie Rousseau und Fichte in eine Zeit hinein geboren werden, die an der Schwelle ganz neuer,

29 unwägbarer

Begebnisse

steht.

Sobald

die

Wogen

der

Erregung

abebben, tritt dieser D e n k t y p u s wieder in den Hintergrund.

Denn

so sehr alles menschliche Denken, Fühlen und Wollen auf der Spannung zwischen Geist und Stoff, S u b j e k t und O b j e k t beruht, so intensiv drängt es daraufhin, diesen Zwiespalt irgendwie zu

überbrücken.

U n d diesem Ausgleichsdrang m u ß auch der reinblütigste schließlich

Konzessionen

machen.

Selbst

der rabiateste

Idealist Wüsten-

prophet erliegt der Versuchung, die Spuren des Kommenden in der Gegenwart aufzuzeigen.

Der Aufforderung: »Tut B u ß e ! « folgt mit

eisernem Zwange die Verheißung: »Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen«. Und wenn ein moderner Schriftsteller 1 ) vor allen Prophezeiungen warnt, deren Keime sich nicht schon in der bemerkbar machen, so folgt er nur dieser allgemein

Gegenwart

menschlichen

Grundtendenz zur Auflösung des Dualismus zwischen Sein und Seinsollen in einer höheren Einheit, dem Werden. — W i e der einzelne Denker nun die Brücke v o m Heute zum Morgen, von der Wirklichkeit zum Ideal schlägt, das ist im einzelnen sehr verschieden.

Stets

handelt es sich darum, die Glaubwürdigkeit der idealen Forderung in irgendeiner A r t zu verstärken.

D a s naivste Verfahren ist dabei

wohl der Trick, das Geforderte in einer unfaßbaren Vorzeit schon einmal als verwirklicht hinzustellen.

Alle die sogenannten »Urstand-

lehren«, an denen die Geschichte der politischen Theorie so überreich ist, haben in diesem Verfahren ihre Wurzel. beflügelt

das

Vervollkommnungsstreben

des

D a s Christentum

Gläubigen

dadurch,

daß es an den Anfang der Geschichte einen Zustand paradiesischer Sündlosigkeit setzt, den sich der Mensch durch eigene Schuld verscherzt hat.

Stärker auf das Logische gestellt erscheint

derselbe

Grundgedanke bei Plato, dessen Ideenlehre die Präexistenz der Seele behauptet deutet.

und alle Erkenntnis

als

avcifxvrjOig dieser

Präexistenz

Und eine verfeinerte Form dieses Traumes v o m goldenen

Zeitalter ist schließlich auch der Vergangenheitskult, wie ihn der Protestantismus

mit dem Urchristentum,

das

Humanitätszeitalter

mit dem Griechentum, die Romantik mit dem Mittelalter trieb. Jedesmal wird dabei die ideale Forderung zu einer vergangenen

Wirk-

lichkeit umgedeutet, woraus naturgemäß sogleich der Gedanke erwächst: W a r u m sollte das, was einstmals möglich war, nicht auch heute wieder möglich sein? Walther R a t h e n a u , Von kommenden Dingen, S. 23.

30 Indes eine tragfähige Brücke zwischen Ideal und Wirklichkeit wird man selbst in diesen kultivierteren Abwandlungen des naiven Paradiesesglaubens kaum erblicken dürfen, zumal eine genauere Prüfung fast ausnahmslos zu dem Ergebnis führt, daß das Bild einer Epoche stets verzeichnet oder mißdeutet wird, sobald sie sich der Sphäre des sittlichen Zielbegriffs nähert. Daher gleichen manche Denker des idealistischen Typus die Spannung zwischen Sein und Seinsollen noch dadurch aus, daß sie einen Weg zu dem gesteckten Ziel zu weisen suchen. Damit betreten sie das Gebiet der politischen und sozialen Pädagogik. Welche Rolle diese pädagogischen Elemente in der Theorie eines Plato, eines Rousseau und eines Fichte spielen, ist allgemein bekannt. Ins Kosmische gesteigert, finden wir sie in der augustinischen Lehre von den Weltreichen wieder, welche alles historische Geschehen in den göttlichen Heilsplan einordnet. Diese Auffassung überwindet allerdings den schroffen Dualismus zwischen Ideal und Wirklichkeit und schaltet zwischen diese beiden Pole eine gewisse Entwicklung oder mindestens eine zielstrebige Bewegung ein. Sie geht aber noch nicht dazu über, den einzelnen Stufen dieser Entwicklung einen Eigenwert beizumessen. Der Wandel der politischen Formen, der Aufstieg und der Zusammenbruch der Weltreiche verharrt bei Augustin wie bei Bossuet in der empirischen Sphäre. Das Auf und Ab der einzelnen politischen Faktoren bleibt, an Absoluten gemessen, d. h. vor dem Auge eines allmächtigen und allweisen Gottes, ein letzten Endes sinnloses Spiel, dem sub specie aeternitatis nur eine verschwindend geringe Bedeutung zukommt. In dem Augenblick nun, wo diese transzendente Orientierung endgültig zugunsten eines pantheistischen Inrechnungstellens der geschichtlichen Bewegtheit aufgegeben wird, haben wir eine neue Attitüde vor uns, die man am treffendsten als die »historische« bezeichnen kann. Die ersten Ansätze dieses Lebensgefühls birgt schon die aristotelische Lehre von den Entelechien. Für diese Mentalität beruht die geistige Wesenheit jedes Gebildes, auch des politischen, auf seinem reAog, seinem »Sinn«. Staat und Gesellschaft sind nicht das Werk menschlicher Willkür oder auch nur des menschlichen Willens, sondern die Erfüllung einer natürlichen, jedem Menschen eingeborenen Anlage. Wie die Materie zur Formung drängt, u m sich zu verwirklichen, so drängt auch der Mensch, um seine inneren Möglichkeiten voll auszuschöpfen, zum Zusammenschluß in Familie, Gemeinde

31 und Staat. Im Sein schlummert das Seinsollen, in der Wirklichkeit ist der Wert schon vorgebildet. Alle Dinge tendieren »von Natur« zum Ideal. Der Geist steht also dem Stoffe nicht fremd oder gar feindlich gegenüber. Er tritt auch nicht von außen an ihn heran, sondern wirkt »organisch« von innen heraus. Totalität und Teilerscheinung werden so dem Rhythmus von Mittel und Zweck entrückt. Jeder Teil erhält seinen Wert durch den ideellen Bedeutungszusammenhang des Ganzen. Und auch die zeitliche Abfolge verwandelt sich so in eine unendliche Kette von sinnerfüllten, bewegten Gliedern. Jede Epoche ist nach der berühmten Formel Rankes »Gott gleich nahe«. Oder, um einen Ausspruch Diltheys zu zitieren: »Die Welt ist die Explikation Gottes; er hat sich in ihr in die grenzenlose Mannigfaltigkeit auseinandergelegt; jedes Einzelding spiegelt an seinem Ort das ganze Universum«1). — Den Wert und die spezifische Bedeutung dieser Mentalität darzulegen, ist bei der Intensität, mit der sie in das moderne Bewußtsein übergegangen ist, nahezu überflüssig. Indem sie darauf verzichtet, die politischen Phänomene auf Gesetze und Regeln zu reduzieren oder sie unter ein absolutes Ideal zu beugen, entgeht sie fast automatisch allen Schwierigkeiten des naturalistischen wie des idealistischen Lebensgefühls. Der ganze Fragenkomplex nach der Priorität von Individuum und Gesellschaft scheidet so aus dem Kreise der Betrachtung aus. Denn beide Faktoren stehen nicht mehr in dem Verhältnis von Mittel und Zweck zueinander, sondern jeder behält sein Eigengewicht, birgt einen Eigenwert. Damit wird auch die Frage nach dem »besten Staat« von selbst hinfällig. Denn wie jede Epoche, so hat auch jede Staatsform ihre eigene Existenzberechtigung, ihren »Eigensinn«. Die politischen Institutionen, die völkischen und epochalen Besonderheiten hören auf, Gebilde der Unvernunft oder gar der Sünde zu sein. Sie erscheinen als zeitlich bedingte Ausprägungen und Niederschläge des geschichtlichen Lebensstromes und haben als solche ihre spezifische Aufgabe, im geistigen Nexus der Begebenheiten zu erfüllen. Diese historische Auffassung hebt also gewissermaßen das primitiv-organische Staatsethos in die Sphäre der Bewußtheit und kehrt damit, den Ring schließend, in mancher Hinsicht zu dem Ausgangspunkt der Entwicklung zurück. Den einzelnen Ausprägungen dieser Mentalität nachzugehen, ihre Spiegelung in dem mystischen GemeinD i l t h e y , a. a. O. S. 45.

32 schaftsgedanken der Kirche, ihre begriffliche Erfassung durch die Romantik, die Dialektik Hegels und die Ideenlehre Rankes, schließlich das Einströmen naturwissenschaftlicher Elemente in ihren Entwicklungsgedanken zu verfolgen, das würde hier zu weit führen. Hingegen dürfte gerade die augenblickliche geistige Lage ein genaueres Eingehen auf die Begrenztheit und Einseitigkeit auch dieses letzten Typus rechtfertigen. Sonst könnte der Eindruck entstehen, als repräsentiere er einen absoluten Höhepunkt und lösche die anderen Typen in ihrer Eigenberechtigung aus. Wohl übertrifft die historische Betrachtung den Naturalismus und den Idealismus an innerer Weite gerade dadurch, daß sie die Erscheinungen an sich herankommen läßt, sich ihnen gegenüber gleichsam abwartend verhält und sie nicht in irgend eine antithetische Konstruktion hineinzwängt. Und der Vorwurf, den man den »Historismus« heute nur allzugern macht: das Alles verstehen ende notwendig in einem quietistischen Alles verzeihen, ist zumeist ebenso oberflächlich wie die zur Schau getragene Abneigung einer gewollten und angequälten Instinktsicherheit gegen die begriffliche Analyse. Die Sehnsucht manches Modernen nach einem neuen Wertabsolutismus entpuppt sich bei näherem Zusehen meistenteils als »Literatur«. Wir können nicht zur Einfalt eines Dogmas zurück, mag sich dasselbe nun kirchlich oder aufklärerisch gebärden. Das Erlebnis des Gestaltwandels der Kulturwerte ist heute in so hohem Maße zum geistigen Allgemeingut geworden, daß angesichts desselben jede gewollte Rückkehr zu festen, unwandelbaren Zielen eine fatale Ähnlichkeit mit den Schäfergelüsten des Rokoko aufweist. Trotzdem aber wird man nicht umhin können, in dieser Kritik einen berechtigten Kern anzuerkennen. Denn ganz abgesehen davon, daß der Pantheismus stets geneigt sein wird, die Bedeutung des Gewordenen gegenüber dem Gewollten, des Irrationalen gegenüber dem Rationalen auch bei der Betrachtung der politischen Phänomene zu überschätzen, liegt in jeder Analyse des Werdens eine gewisse Unzulänglichkeit. Unsere Begriffe sind darauf zugeschnitten, die Welt der Erscheinungen zu meistern. In Rechnung stellen aber kann man nur das Regelmäßige, das Gesetzliche, das Sichwiederholende. Daher kann alle Analyse das Wesen des Werdens, des Schöpferischen nur negativ bestimmen. Sie kann nur aussagen, daß das Leben mehr ist als eine Summe von Teilen, mehr als eine Zusammensetzung von

33 Mosaiksteinen. Worin aber dieses »Mehr« besteht, das liegt jenseits der Grenzen des begrifflich Bestimmbaren. Daher ist jede organische Staatsdoktrin im Grunde ein Versuch mit untauglichen Mitteln. Die Unzulänglichkeit des Begriffs führt zu einer beständigen Spannung zwischen dem erlebnismäßig Gefühlten und dem theoretischen Ausdruck. Wir stellen schon gelegentlich des ständischen Freiheitsideals fest, daß dasselbe durch den Versuch einer begrifflichen Festlegung, wie ihn die romantischen Staatstheoretiker unternahmen, eine gewisse Verfälschung erfuhr. Und dieses Einzelbeispiel gilt für fast alle Begriffselemente der organischen Staatsdoktrin. Von Geburt konservativ gestimmte Naturen haben deshalb von jeher ein tiefes Mißtrauen gegen den theoretischen Konservatismus empfunden. Selbst ein de Maistre galt in den Augen mancher seiner Standesgenossen als Jakobiner. Denn der gebürtige Konservative fühlt instinktiv, daß jede Staatsdoktrin, auch die organische, eben als Doktrin den rationalistischen »Sündenfall« mitmacht, selbst wenn sie dessen inhaltliche Konsequenzen verneint. Ein bewußter Traditionalismus setzt immer eine gewisse innere Loslösung von der Tradition voraus, schließt den grundsätzlichen Zweifel an ihr als Durchgangsstadium ein. Erhält diese Mentalität nun von einem außertheoretischen Moment her noch einen starken voluntaristischen Impuls, so erwächst gerade aus dem Gefühl des Konvertitentums, des Entwurzeltseins ein fanatischer Hang zur Rückwärtsorientierung, zur planmäßigen Reaktion. Die Liebe zur Vergangenheit schlägt in Verneinung der Gegenwart um. Der Grundwert des »Lebens« verliert seinen Elan und erstarrt zur einfachen Beharrung. Die Dauer wird aus einem dynamischen zu einem statischen Element. Aber selbst wenn die organische Staatstheorie diesen romantisierenden Vergangenheitskult glücklich entgeht, bleibt doch das allgemeine Täuschungsmoment bestehen, daß jede Betrachtung des Gewesenen eben als eines Gewesenen in sich birgt. Schon der zeitliche Abstand zwischem dem Einst und Jetzt erweckt die Illusion, als habe man es in der Vergangenheit mit einem in sich geschlossenen, und, an der Gegenwart gemessen, relativ geruhigem, problemlosen Zustand zu tun. J e weniger uns die Kämpfe und Nöte einer früheren Epoche noch unmittelbar berühren, desto mehr fühlen wir uns versucht, sie zu episieren, d. h. in ihnen ein Kräftegleichgewicht zu M e i a e c k e , Festschrift.

3

34 konstatieren, d a ß sie für den Mitlebenden nicht besaßen.

E i n Erleb-

nis, in dem wir noch mitten darin stehen, läßt sich nicht gestalten. E s hat Jahrhunderte gedauert, bis sich die Schimpfworte homerischer Helden z u leidlosen Hexametern verklärten.

W ä g t nun der Theo-

retiker im Banne dieser Täuschung die Gegenwart gegen die Vergangenheit ab, so wird sich die Schale fast zwangsläufig zugunsten der letzteren neigen.

Seine eigene Epoche, deren K o n f l i k t e

ihm

unmittelbar auf den Nägeln brennen, wird ihm als formlos, innerlich zerrissen, ziellos, j a womöglich als dekadent und hypermodern erscheinen.

E r wird an ihr die heitere Ruhe und Zielsicherheit ver-

missen, die ihm die abgeschlossene Vergangenheit vortäuscht. Keine

der

zahlreichen

organischen

Staatstheorien

ist

dieser

Gefahr ganz entgangen. Alle ihre Träger sind bis zu einem gewissen Grade Epiker. begünstigt,

daß

U n d diese Haltung wird noch durch den Umstand diese

pantheistische

Mentalität

ihre

volle

Blüte

tatsächlich vor allem am Ende großer geschichtlicher Perioden entfaltet.

Die

Staatsdoktrin

auf die jzcfag.

des Aristoteles ist ein

Schwanengesang

Alles was später kam und ihn in seinen Anfängen

schon umbrandete, schaltete er sorglich aus den Kreis seiner Betrachtung aus.

Thomas von Aquino bedeutet auch auf dem Gebiet des

politischen Denkens den Abschluß des Mittelalters.

Die

Dialektik

Hegels schließlich ist die Krönung der geistigen Entwicklungsperiode, welche sich im Zeichen des Humanitätsgedankens von d e j Renaissance bis zur Romantik erstreckt. In seine Worte dröhnt schon das Hämmern der Maschinen, klingt schon der R h y t h m u s eines Zeitalters hinein, das die Sonnenenergien vergangener Jahrtausende seinem Herrscherwillen dienstbar machen sollte. »Die Massen avancieren!« Mit diesem prophetischen W o r t hat noch Hegel selbst in das Dunkel der Z u k u n f t hineingeleuchtet, die aller Vergangenheit als etwas ganz Neues, völlig Inkommensurables

entgegentreten sollte, und deren

Zuckungen wir vielleicht erst heute deutlich spüren. aber

blieb

Hegels

Grundhaltung

doch

entscheidende L e t z t e n Endes

rückwärts gewandt.

Er

war sich der Tatsache bewußt, daß dieser Grad von theoretischer Hellsicht, den seine Doktrin verkörperte, stet? ein untrügliches Zeichen für das E n d e einer Epoche darstellt. »Die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug.« Damit haben wir den Kreis unserer Betrachtungen durchmessen. Wir sahen, daß sich auch in der Geschichte des politischen Denkens

35 bestimmte Grundhaltungen aufweisen lassen, die das Verhältnis des Theoretikers zur Gesamtheit der Erscheinungswelt apriori bestimmen. Aber wir stellten zugleich fest, daß diese Typen keine starren Schranken sind, sondern in den einzelnen Systemen ineinanderfließen. Was diesen Versuch der Aufweisung typischer Mentalitäten von dem Hegeischen Panlogismus unterscheidet, war der Umstand, daß sie nicht in rationalen Momenten, sondern im Gegenteil in den irrationalen Elementen des Denkens wurzeln. Typisch durften wir diese Haltungen deshalb nennen, weil sie gleichberechtigt nebeneinander stehen, und trotz aller Mischformen, die sich aus ihnen im systematischen Ausbau des Grunderlebnisses entwickeln, doch den Charakter letztmöglicher und daher indiskutabler Einstellungen zur Totalität des Seins tragen. Wir sahen ferner, daß alle Theoretiker erlebnismäßig von einer dieser drei Mentalitäten ihren Ausgangspunkt nehmen, daß sie aber zumeist im Fortgang ihres Denkens sich dem nächsten Typus nähern. Die ideale Staatsdoktrin wäre, rein theoretisch gesprochen, demnach diejenige, welche alle drei Impulse: Erkennen, Wollen und Einfühlen, harmonisch in sich vereinte, d. h. in der die Analyse und die Zielsetzung sich die Wage hielten. Erst eine solche Staatstheorie würde die Forderung Diltheys restlos erfüllen, im All die Explikation Gottes zu sehen. Sein und Werden, Beharren und Wandel gleichstark ergreifend, würde sie eine Art von absolutem Relativismus darstellen, der, ohne der Skepsis zu verfallen, sich doch das volle Bewußtsein von der Eigenberechtigung alles Lebendigen bewahrte.

Malwida von Meysenbug und Theodor Althaus. Ein Beitrag zur Geschichte der vormärzlichen Demokratie. Von

DoraWegele.

Malwida von Meysenbug und Theodor Althaus — der Name der Frau bekannt in weiteren Kreisen, vor allem durch ein historisch und menschlich wertvolles Memoirenwerk, das einen Nietzsche mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllte 1 ), der Name des Mannes verweht im Wirbel der Revolutionsjahre. Theodor Althaus, am 26. Oktober 18222) in der kleinen Residenz Detmold geboren als Sohn des dortigen Superintendenten Georg Friedrich Althaus und Enkel des liberalen Bischofs Dräseke, war ein Nachkomme des zu Anfang des 17. Jahrhunderts berühmten Rechtsgelehrten Johannes Althusius, der dem Prinzip der Volks Souveränität, bisher nur in französischen und englischen Flugschriften tendenziös ausgesprochen, in seiner »Politik« als erster die theoretische Begründung gab. So bereitete er dem Enkel schon die »Position« vor, in der der Demokrat und Republikaner von 1848 »festen Fuß faßte«3), die Volkssouveränität, als deren Organ sich die Revolution die deutsche Nationalversammlung schuf. Als Student der Theologie zu Bonn und Jena (1840—44) steht Althaus stark unter dem Einflüsse Gottfried Kinkels, begeistert sich für Hoffmann von Fallersleben und den alten Arndt, hört bei Dahlmann und lauscht begierig den Klängen des rheinischen Liberalismus, in den die ersten sozialistischen Töne sich zu mischen beginnen. Mit Eifer erwärmt er sich für Volksvertretung und Preßfreiheit, vor allem für die bedrohte Leipziger Zeitung, und äußert sich — nicht Fr. Nietzsche an Malwida von Meysenbug am 14. April 1876. Ges. Briefe, B d . 3, Berlin-Leipzig 1904/05, 2) Friedrich A l t h a u s , Theodor Althaus. Ein Lebensbild, 1888, S. 12 (die Angaben der Allgem. deutschen Biogr., 1. Aufl., 1875 und im »Neuen Nekrolog der Teutschen« sind unzutreffend). 3)

Diese wie die folgenden biographischen Angaben nach Fr. A l t h a u s a . a . O .

37 unkritisch, aber doch mit unverhohlener Sympathie für Herwegh, nachdem jene Audienz bei Friedrich Wilhelm IV. ihren unglücklichen Ausgang genommen hatte. Die ersten Predigtübungen des Seminaristen haben die bezeichnenden Themen: »Welche Gedanken sollen den Christen im Streben nach Freiheit leiten ?« und »Über den Wert eines öffentlichen Wirkens für das Gute«. In der letzteren mag schon ein ziemlich scharfer Luftzug geweht haben, denn Althaus' Lehrer, der weitherzige, aber fromme Nitzsch, scheint wenig damit zufrieden gewesen zu sein, und er selbst bekennt, daß sie »wenig spezifisch Christliches« gehabt habe. Die politische Leidenschaft hatte ihn schon damals im tiefsten Grunde gepackt; von einer Debatte über die politischen Poeten berichtend, erzählt er, »wo es sich um Dinge handle, wie Preßfreiheit, Volksvertretung usw., pflege er jetzt keine Gründe mehr anzuführen, was lange genug geschehen sei und nichts geholfen habe, sondern gleich derb zu werden«. Im April 1843 besteht er sein Kandidatenexamen. Die hierfür ausgearbeitete Predigt hält er in der Hauptkirche zu Detmold. Sein Großvater, der berühmte Bischof Dräseke1), spricht »dieser trefflichen Arbeit« seine volle Anerkennung aus; er lobt »die Genialität der Textauffassung, die Schriftmäßigkeit des Inhalts, die Durchsichtigkeit des Gedankens, die Einfachheit der Form . . .« und freut sich über »die angemessenen Blicke in die Zeit«! Von 1843 bis 1844 geht Althaus nach Berlin, um das Leben in größeren Verhältnissen kennen zu lernen. Dort verbinden »die alten freien republikanisch-christlichen Gedanken den Enkel mit dem Großvater. Es öffnen sich ihm die Kreise von Henriette Herz und Bettina v. Arnim, deren originelle Ungezwungenheit den aller Konvention Abholden sofort gewinnt. Gehört sie doch »zu den unbequemen Leuten, die die Wahrheit sagen«. Schon in Jena (1841—42) hatte er sich der Burschenschaft angeschlossen, »die nicht bloß eine große Zeit sklavisch nachleben, sondern in i h r e r Zeit, »und auf sie einwirkend leben« wollte. So sehen wir ihn auch hier lebhaften Anteil am studentischen Leseverein nehmen, in dem die politischen und sozialen Interessen der Studentenschaft zum Ausdruck kamen. Bei den anschließenden Kämpfen mit dem Ministerium Eichhorn und dem Senat zeigt er einen eigentümlichen Drang zur Entschieden*) Vgl. T r e i t s c h k e Deutsche Gesch. 5. Teil, S . 3 5 0 u. 354. Dräseke gehörte zu einer unbestreitbar kirchl. Mittelpartei.

38 heit, der sich über die Halbheit und Hinterlist des Senats, über das feige Zurückziehen eines in kleinlicher Mäkelei relegierten Studenten, über »diese armen Leute allzumal« erbittert, »die die Zeit nicht verstehen, nicht ahnden oder nicht wissen wollen, daß man nach 50 Jahren von ihnen reden wird als von solchen, die das Rad ohnmächtig aufhalten und eine naturgemäße Entwicklung verhindern wollten«1). Der oppositionelle Liberalismus, der sich mit schönen Empfindungen und Kritteleien an der Regierung begnüge, findet wenig Gnade vor seinen Augen — und als ihm ein Dozent, bezeichnend genug, die Unmöglichkeit von Debatten über anzuschaffende Zeitungen im Lese verein vorhält, da sie ja »gleich politisch werden« müßten und man von niemandem verlangen könne, ein quasi Glaubensbekenntnis abzulegen, namentlich nicht von denen, die noch um ihre Existenz kämpfen, bricht er in die leidenschaftlichen Worte aus: »Jawohl! Das ist der Conflikt des Fortschritts mit dem Recht der Persönlichkeit. Wir wissen recht wohl, daß über 50 Jahre ein großer Teil von dem, was wir wollen, erlangt sein wird, aber wir sind die Opfer, wir genießen die Segnungen nicht mehr, unsere Existenz müssen wir theilweise drangeben. Die Freiheit ist zu erstürmen, aber nur wie eine Festung, wenn der Graben mit den Leichen derer, die für sie kämpfen, gefüllt ist, über sie weg braust der Schlachtgesang der Jugend, die noch im Lockenhaar wandelt; man denkt ihrer mit Ehren, aber sie selbst haben nur das starre Bewußtsein: du mußtest unterliegen, wenn deine Sache siegen sollte. Dagegen sträubt sich die süße Gewohnheit des Daseins«2). Seltsames Vorgefühl eines kaum Zweiundzwanzig jähr igen für sein eigenes Schicksal und für das einer ganzen Generation! So verwandt diese leidenschaftliche, schroffe Natur voll heftiger innerer Spannungen eines starken Persönlichkeitsgefühls allem Radikalismus auch sein mußte, so entschieden fühlte er sich abgestoßen von dem Treiben der Berliner »Freien«3), der beiden Bauers, eines Buhl und Barons Böhm, die er in ihrer Kneipe in Gesellschaft von Hoffmann v. Fallersleben und Rutenberg gelegentlich einmal auf*) Th. A l t h a u s , Tageb. 10. Dez. 1843 (die noch ungedruckten Tagebücher — von 1843 bis 1850 — befinden sich jetzt im Besitz des Herrn Th. Althaus in London). 2 ) Fr. A l t h a u s , a. a. O. S. 87, und Tageb. 2 4 . 1 . 1844. 3 ) Über »die Freien« vgl. G. M a y e r : Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen, S. 42 ff. und 82 ff.

39 suchte. Nicht nur, daß sein reiner gesunder Sinn, das Erbe eines harmonischen Elternhauses, sich gegen die »gemeine Zotenwirtschaft« wehren mußte, wie sie sich damals unter ihnen herausgebildet hatte, — der Radikalismus, dem e r zustrebte, war vor allem der Gegenpol eines überreizten Subjektivismus, von dem e i n e n großen Drange geboren, eine geschichtliche Wirklichkeit hervorzubringen. Seine ursprünglichen Absichten auf eine akademische Laufbahn als Theologe wandeln sich schon am Ende seines Berliner Aufenthaltes unter dem Eindruck einer Verordnung, die jede Habilitation von der Erlaubnis des Kultusministers abhängig machte. Philosophie und Geschichte, die schon früh einen besonderen Reiz für ihn hatten, vor allem aber die Politik, bilden nun den Inhalt seiner Zukunftspläne. Sie auszureifen, kehrt er für drei Jahre in seine Heimatstadt, die kleine Residenz Detmold, zurück. Ein Brief, den er kurz vor der Heimkehr an den jüngeren Bruder schreibt, schlägt die Themen an, die von jetzt an immer reicher sich in ihm entfalten: »Bei jedem Buchstaben, den man gedruckt sieht, muß man sagen: Pereat die Censur und die Censoren; bei jedem ,Von Gottes Gnaden', das man vor einem fürstlichen Namen liest, muß man denken: wir sind alle von Gottes Gnaden; ihr nennt euch aber bloß so, weil ihr's durch eigenes Verdienst nie geworden wäret. Ferner muß man, so oft man auf die Karte von Deutschland sieht, nach Elsaß und Lothringen sehen und sagen: hätten sich die Deutschen anno 14 und 15 nicht betrügen lassen, so hätten wir unsere eigenen Länder wieder. Wenn man Marburg nennen hört, so muß man denken: da sitzt einer der besten deutschen Männer, Sylvester Jordan, ungerecht und ungesetzlich verurtheilt — und so kann man noch Vieles denken, aber das hilft alles nicht, sondern man muß auch sagen, überall und ohne Scheu, daß die Lumpenwirtschaft bald ein Ende haben muß . . . « Geistige und politische Freiheit, demokratische, naturrechtliche Gleichheit, gehalten von einem kräftigen Nationalgefühl, das sind die Grundelemente, die Theodor Althaus immer mannigfaltiger in sich verbindet und gestaltet. Die Enge der Detmolder Verhältnisse weiß er sich weit zu machen durch wache Teilnahme am politisch-kirchlichen Leben. So wird er von Ende 1844 1 ) an zum regen Mitarbeiter der Weserzeitung, dero Vereinzelte Art. schon 1843 in der Wes.-Ztg. und den Sächsischen Vaterlands-Blättern.

40 damaligen Hauptorgan des vormärzlichen norddeutschen Liberalismus. In einer Reihe von Artikeln gegen die pietistisch-katholisierende Bewegung, die in Hengstenbergs Kirchenzeitung ein eifriges Organ besaß, forderte er größere Lehrfreiheit, Gemeindefreiheit und vor allem Aussöhnung des religiösen Bewußtseins mit den Ergebnissen der Wissenschaft und Bildung der Zeit. •— Die Freiheit und selbständige, geistgetriebene Entfaltung des religiösen Lebens ist es, die ihm hier am meisten am Herzen liegt. Er ist ergriffen von dem Wunsche, der Kirche, die seit dem 18. Jahrhundert nach Sohms Ausdruck nur »ein Departement des allgewaltigen Staates« war, freien Raum in einem freien Staate zu verschaffen. War doch die Kirchenfreiheit die vornehmste Anwendung der Vereinsfreiheit und diese wieder das liebste Kind der Einzelfreiheit, von der sein »christlichrepublikanischer Sinn« ausging. Christlich vor allem ist sein Denken, von seltener religiöser Lebendigkeit mitten in einer Zeit, die — soweit sie nicht pietistisch-katholisierend oder katholisch war — sich zumeist mit einem faden Rationalismus begnügte, oder aber gerade die jungen fähigsten Geister alsbald in den Strudel der jüngst erwachten historisch-quellenmäßigen und philosophischen Kritik rettungslos hineinzog. Im Jahre 1835 war Strauß' Leben Jesu erschienen. Die wichtigsten Grundlagen allen Christentums schienen sich damit in einen bloßen Mythus der absichtslos dichtenden Phantasie zu verflüchtigen. Wie ein harter, scharfkantiger Körper eine gesättigte Lösung zur Scheidung ihrer Stoffe bringt, so hatte Strauß der Hegel'schen Schule getan, die Glauben und Wissen so glücklich versöhnt zu haben glaubte: sie war zerfedlen in eine Rechte und eine Linke. — Und diese Linke, die sich durch Rüge und Echtermeyer in den Halleschen Jahrbüchern ein Organ gegründet hatte, mehr dem »Seinsollenden« als dem »Seienden« zugewandt, öffnete ihre Reihen bereitwillig dem Manne der noch schärferen Waffen: Feuerbach. Feuerbachs »Wesen des Christentums« (1841) schien unerbittlich alle Religion in Anthropologie aufzulösen. Nicht Gott hat die Menschen nach seinem Bilde geschaffen, sondern die Menschen erdichteten sich ihre Götter nach ihrem Bilde. — Was das junge Deutschland und Strauß schon in den 30er Jahren bewegt hatte, was dieser romantischen, tatlos erschlaffenden Zeit heiligste Notwendigkeit werden mußte, das trieb auch Feuerbach in seinen politischen und sozialen

41 Radikalismus hinein — die Sehnsucht nach Weltwirklichkeit und Welttüchtigkeit, das Verlangen, aus aller Heuchelei herauszukommen, den inneren Menschen mit der äußeren Tatsächlichkeit seines Lebens in Einklang zu bringen. Mehr sozialistisch als materialistisch gesinnt, will er das Christentum vernichten, das »Gott vom Menschen trennt, und darum den Menschen von dem Menschen; denn Gott ist nichts anderes als der mystische Gattungsbegriff der Menschheit«1). Das Schicksal der Menschheit, kräftiges Wirken für sie, reinere, edlere Gestaltung all ihrer Lebensverhältnisse, der materiellen wie der geistigen, das ist's auch, was Althaus bewegt und drängt, wenn er in die kirchlichen Verhältnisse seines kleinen Ländchens streitbar eingreift2), wenn er hier im Gustav-Adolfs-Verein mit historischen Vorträgen und durch Begründung eines Lesevereins sich kräftig der Volksbildung annimmt, oder wenn er, zur deutsch-katholischen Bewegung und Zu der von Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin berufenen evangelischen Kirchenkonferenz Stellung nimmt; ja, wo er scheinbar mehr literarischen Interessen folgend, liebevoll, wenn auch durchaus nicht kritiklos, der politischen Poesie seiner Tage das Wort redet, bewegt ihn vor allem die kräftige Überzeugung eines wirklich Lebendigen, daß »gesunde Naturen es auf die Länge nicht werden aushalten können in dem Zwitterzustande der unfruchtbaren Sehnsucht, die nach einem Ziele hinstreben und doch noch vermitteln und parlamentieren möchte3). Mit dem feinen Instinkte hochgespannter und spezifisch religiöser Geistigkeit erkennt der erst Dreiundzwanzig jähr ige auf den ersten Blick das innerlich Wesenlose des Deutsch-Katholizismus. Klar sieht er, daß die Bewegung »darum noch so wenig innere Kraft entwickelt, so wenig bedeutende Persönlichkeiten in ihren Kreis gezogen« habe, weil sie »rein äußerlich« und nur »einig in dem, was sie nicht will«, sei. Aber nicht blind gegen »ihren Freiheitssinn, ihre Begeisterung und einen innerlichen Zug nach endlicher Entschiedenheit« erkennt er ihr wahre Bedeutung darin zu, daß sie frischweg den Schritt getan habe, den der Protestan*) L. F e u e r b a c h , Das Wesen des Christentums, herausgegeben von W . Bolin, Stuttgart 1903, S. 297. 2) Th. A l t h a u s , Der Heidelberger Katechismus und die kirchl. Kämpfe im Fürstentum Lippe, 1845. Für die folgenden Seiten waren grundlegend die Aufsätze und Artikel Th. As', in verschiedenen Zeitungen, insbes. in der Weser-Zeitung. 3) Theod. A l t h a u s , Freiligraths jahrsschr. 1845, 1. Bd., S. 306.

Glaubensbekenntnis. Wigands

Viertel-

42 tismus noch nicht gewagt hat: »Sie ist über ihn mit seinen Augsburgischen und sonstigen Konfessionen hinweggesprungen«, hat das höchst wichtige »Prinzip vom Fortschreiten des Bekenntnisses mit dem Zeitbewußtsein« aufgestellt und »zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums den Versuch gemacht, die Harrenden und Wartenden zu einer christlichen Kirche zu vereinigen«, der die »Einheit im Geiste« hinreichendes Band sein soll. »Es ist ein Versuch, der so durchaus der Masse der Gebildeten in unserer Zeit, ihrem Wesen, ihrer Unentschiedenheit und doch auf Einheit und Gewißheit leitenden Hoffnung entspricht, daß über kurz oder lang der Protestantismus nicht anders können wird als dieselbe Form für sich erwählen.« Schon hier zeichnet sich das Bild einer freien christlichen Kirche deutlicher ab, das in den Schriften des nächsten Jahres immer neue Gestalt annehmen sollte 1 ). Statt der Prediger des Glaubens sollen »Männer, die im Verein mit denen, welche sie bestellt haben, die Wahrheit s u c h e n « 2 ) , auf den Kanzeln stehen. Der »Knechtschaft des Staatsinstituts, welches man jetzt Kirche nennt«3), will er ein Ende machen, der Protestantismus soll kein »schwacher Affe Roms« mehr sein. — »Die Einheit, die wir wollen, ist eine Einheit der unsichtbaren Kirche im Geist, und unsere Kirche, sofern sie sichtbar ist, wird keine Kirche nach dem alten Stil des Zwangs, sondern eine neue nach dem neuen Stil der allgemeinen christüchen Freiheit werden. Unser Christentum besteht in dem Bekenntnis, daß wir Christen sind, unser Protestantismus in dem alten Protest und in unserer Freiheit«4). — Seltsam weitausschauende Pläne — getragen von dem grenzenlosen Glauben an die unsichtbare Macht des sieghaften Geistes, noch immer nur M ö g l i c h k e i t e n , anerkannt von den Wenigen, die einen eigenen Weg zu den letzten Dingen haben; aber, soweit man sie in ihrer Grundsätzlichkeit erfaßt, haben sie die tiefsten und edelsten Geister zu Fürsprechern und sind jedenfalls keine Unmöglichkeiten zu nennen. Ob Althaus trotz seiner »Anerkennung jener erhabenen Persönlichkeit, jener weltbewegenden Grundgedanken des Christentums« 1 ) In seiner Flugschr.: »Die preuß. Generalsynode und der Beruf der evang. Kirche«, Bremen 1846, und seinem ersten Buche: »Die Zukunft des Christentums«, 1846. 2)

Sonntagsblatt der Weser-Zeitung Nr. 64, .1845. Vgl. Sonntagsblatt der Weser-Zeitung Nr. #3. 4) »An die nach Berlin berufene evang. Konferenz.« A. a. O. Nr. 93, 1845. 3)

43 und trotz seines »Nichtlassenkönnens vom Christus, sei er Erlöser oder nur Freund«, das Recht hatte, sich »Christ« zu nennen, mag dahingestellt bleiben — Tatsache ist, daß er eine Hebung des Christentums mit Herzensglut erstrebt, und darin zugleich die Hebung der arbeitenden Klassen sieht. Der tägliche Fortschritt des Kommunismus in Deutschland ist seinem Auge nicht verborgen; so sehr er ihn ablehnt, erkennt er doch seine geschichtliche Notwendigkeit und Berechtigung. War doch das Jahr des nationalen Einheitsstrebens in der Kirche (1846) zugleich ein Hungerjahr; vorausgegangen war ein Jahr der Überschwemmungen und Mißernten, der Arbeitsstokkungen und Handelskrisen, die zu Tumulten im Frühjahr 1845 geführt hatten. Kein Wunder, daß das Programm eines Christen, der den Fähigkeitsnachweis für sein Christentum, für dessen Brauchbarkeit in dieser Welt, erbringen wollte, der zersetzenden Kritik eines Strauß und eines Bauer gegenüber lautet: »Nachdem das Christentum die Brüderlichkeit der Menschen, die Liebe, der Welt gebracht hat, nachdem diese zu einer bloßen Gleichheit vor Gott und einer anerkannt ungenügenden Privatwohltätigkeit verengt worden, ist auch kein anderer Fortschritt möglich, als mit der Liebe und Brüderlichkeit im großen und ganzen im Leben Ernst zu machen«1). Seine »Rheinfahrt im August«, eine kommunistisch gefärbte, predigende Prophetie in Versen, in der »das schwache Elend bittet, das trotzige Elend droht«, in dessen empörter Leidenschaftlichkeit die nahende Revolution wetterleuchtet, wurde, obwohl in der freien Reichsstadt Bremen erschienen, auf Antrag des preußischen Gesandten mit Beschlag belegt. Kein Wunder, daß der Herausgeber Schünemann, gleichzeitig der Verleger der Weserzeitung, seine Aufforderung zu geregelter Teilnahme an der Leitung des Blattes zurücknahm. Der oppositionelle Charakter des sozialistisch-demokratischen Theologen war zu ausgesprochen und wollte es sein2). Weder in der Kirche noch im politischen Leben schien in diesen gedrückten, vorrevolutionären Tagen 1) A. a. O. S. 18. ) Die kommunistische Tendenz der »Rheinfahrt« bestätigt Althaus noch 1850 in seinem Buche: »Aus dem Gefängsnis«, S. 33 (»Ja, ich war Phantast und Communist und träumte von Abschaffung des Geldes«), aber schon am 16. November 1847 bemerkt sein Tagebuch anläßlich seiner Auseinandersetzung mit einem Abgesandten der Bremer Zeitung, der ihn für die Redaktion gewinnen wollte; »Erzählte ihm ehrlich die Geschichte mit der .Rheinf.'« nämlich: »ich sei Communist gewesen, sei es jetzt nicht, sondern Politiker«. 2

44 Raum für ihn zu sein. So bleibt er, sich immer mehr in poetische und literarische Arbeiten vertiefend, in der heimatlichen Zurückgezogenheit, bis er im Jahr 1847 endlich ein freies Literatenleben in Leipzig beginnt. Trotz dieser scheinbaren Wendung nach »außen«, waren und blieben die religiösen, ja die christlichen Gedanken und Hoffnungen seines Lebens geheimste Triebkräfte. Im Anblick seiner zerrissenen Zeit, die frivol oder gleichgültig war, die das Leben, pietistisch abzirkelnd, ängstlich und geduckt ging, oder wieder in flacher Harmlosigkeit alles für »heilig« erklärte, weil sie nichts wahrhaft Heiliges mehr zu fassen imstande war, klagt der Dreiundzwanzigj ährige, sehnsüchtig der großen Erscheinung Luthers zugewandt: »Damals waren freilich die Zeiten, wo Glaube und Seligkeit Herzensangelegenheit und Lebensfrage waren, wo man sich um sie ängstigte, in ihrer Gewißheit alles hatte, und sie verdammte, Gewalt übte, starb — damals; und jetzt?« Mit sicherer Hand weist er die schwache Stelle an der Vernunft-Religion, die so rasch fertig zu werden glaubte mit den großen, historisch gegebenen, positiven Mächten der Kirche — fand doch dort die Frage: »wie soll ich selig werden?« eigentlich gar keine Antwort. Mit feinem historischen Sinn, den seine wachsend radikal-demokratische Stellungnahme in der Politik durchaus nicht beeinträchtigt, weiß er das »arme verhöhnte Mittelalter« vor der raschfertigen aufgeklärten Welt des Bourgeois in Schutz zu nehmen. Geist, Leben will Althaus — schöpferische Kraft; mitten im Leipziger Literatengetriebe ruft er die Dichtung seiner Zeit, die volle Kraft und Ursprünglichkeit kaum kannte, an diese Quelle: ». . . . das Pathos der christlichen Weltanschauung muß mit in den Kampf geführt werden, weil es im Leben in diesem Kampfe steht und weil der Dichter unsrer Zeit ihre kämpfenden Prinzipien mit aller Innerlichkeit in sich bewegen muß, sonst kann er als Lyriker nichts Neues leisten, noch auch das Leben in seinen tiefsten, bedeutendsten Gestalten wohl erfassen und darstellen«. J a , noch in seinem letzten Schriftchen »Aus dem Gefängnis« (1850) kleidet er den Glauben an sein sozial-republikanisches Ideal, dem er ein »Heidentum« der Konservativen gegenüberstellt, in die Worte: »der Galiläer siegt«. Und das ist trotz vieler Wandlungen seiner christlichen Idee doch mehr als ein Bild. *

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45 Diese religiösen Stimmungen und Entwicklungen sind es auch vor allem, in denen Althaus sich mit Malwida von Meysenbug begegnet; hier gibt er ihrem Leben den entscheidenden Anstoß. Am 28. Oktober 1816 wurde sie in Kassel geboren als Tochter eines Hugenottenabkömmlings Karl Philipp Rivaliers, der, 1825 mit Namen und Titel des ausgestorbenen Freiherrngeschlechtes von Meysenbug geehrt, bei dem hessischen Kurfürsten Wilhelm I. persönlicher Rat und Hofmarschall, dann unter Wilhelm II. Geheimer Kabinettsrat und Staatsminister wurde. Die Mutter, Ernestine Hansel, sorgte für eine einfach protestantische, keineswegs orthodoxe Erziehung. Reiche künstlerische und literarische Anregung wußte die ungewöhnlich gebildete und selbständig gesinnte Frau dadurch zu schaffen, daß sie allerlei »Theatervolk« ins Haus zog — ein tapferes Wagnis in einer damals noch konventionell streng beschränkten Gesellschaftssphäre. So entwickelt sich früh in Malwida die seltene Empfänglichkeit für Literatur und vor allem für Musik, die sie später Männern wie Nietzsche und Wagner wert machen sollte. Die Revolution von 1830 erlebt sie als leidenschaftliche Parteigängerin des geliebten Vaters, der als konservativer adliger Diener seines Herrn in eine allerdings nicht sehr gefährliche Mitleidenschaft gezogen wird; neue I d e e n trägt dieses Ereignis nicht in ihr Leben, wohl aber eine wichtige Veränderung: der Vater verläßt 1831 mit seinem Herrn Kassel, und auch die Familie verliert den festen Wohnsitz, bis sie endlich 1832 nach Detmold übersiedelt. Reisen und häusliche Einflüsse wecken wohl Malwidas lebhaften, wissenshungrigen Geist, ohne ihm aber Genüge zu tun. Irgendwie originelle geistige Regungen über den sie umgebenden konservativen Ideenkreis hinaus sind in dieser Zeit nirgends Zu spüren, wohl aber zeigt sich immer mehr eine ihr durchaus eigentümliche, etwas geradlinige Ernsthaftigkeit, mit der sie allen Dingen, die sie ergreifen, nachgeht. Einerlei, ob ihre musikalisch-kompositorischen Versuche oder ihre von Karl Morgenstern geleiteten Studien in der Malerei mehr als bloß dilettantischen Wert haben, wichtig an ihnen ist eine über das gewöhnliche Maß hinausgehende Fähigkeit, sich bei unpersönlicher, rein geistiger Arbeit zu konzentrieren. Aber ebenso bezeichnend: sie verliert darüber den rechten Zusammenhang mit der sie umgebenden Wirklichkeit, selbst mit den herzlich geliebten Angehörigen, die »doch ein wenig

46 gereizt« darüber werden1), denn sie lebt eben »in einer besonderen Welt«, die ihr »die allein wahre« zu sein dünkt. Und wenn auch scheinbar der reinen Kunstbegeisterung hingegeben, so drängt sich doch zugleich ihre stark moralisch gefärbte Art zu erleben hervor: sie fühlt, daß sie b e s s e r wird über der Arbeit, die ihr »endlich den wahren Weg zum Ideal zeigen« soll, und ist stolz darauf, sich das Glück der teuren Malstunden mit dem freiwilligen Opfer einiger Schmucksachen zu erkaufen. Es liegt eine naive Unterschätzung alles Persönlichen in ihren frühestenÄußerungen; sie ist »zu tief hingenommen von ihrem Studium, um nicht gänzlich abwesend zu sein bei Gesprächen, die nur an die alltäglichen Ereignisse anknüpfen, als wenn die der Hauptzweck des Lebens wären«, wie sie nicht ohne Selbstgefühl ausruft. Nicht als ob solche Abwehr gegen Menschen, deren Leben »dahingeht wie ein Geschwätz«, nicht berechtigt wäre, aber daß sie solche »Abwesenheit denen gegenüber, die sie zu lieben selber ernstlich glaubt, als eine Tugend preist, und das noch als die ausgereifte Verfasserin ihrer Memoiren, ist bezeichnend genug. Trotz dieses unharmonischen Widereinanders von Kräften und Fähigkeiten, die sich gegenseitig durchdringen und bedingen sollten, fehlt es ihr doch nicht ganz an Natürlichkeit; sie hat einen warmen Familiensinn und vor allem eine echte und ausgleichende Empfänglichkeit für die Natur. Sie durchstreift das Waldland, die blühenden Wiesen, glücklich durch ihren Schönheitssinn, aber auch hier nicht naiv, sondern bewußt, einen »Trost« Zu brauchen für ihr gestörtes Gleichgewicht. Ihre doch mehr spekulativ-abstrakte als künstlerisch-intuitive Geistesart wird zuerst durch den Konfirmandenunterricht bei dem Prediger Althaus, dem Vater Theodors, zu allerlei Versuchen angetrieben, sich das Unerklärliche zurechtzulegen. Bei ihrem exaltierten Zustande mußte diese Einführung in die Welt der christlichen Spekulation in einem Lebensalter, da jede junge Menschennatur sich in Gärung befindet, zu ernsten inneren Kämpfen führen. Das ewige Spiel des menschlichen Seins zwischen schmerzlichem Zwiespalt und stets neugeschenkter, neuentdeckter Einheit, für das die Religion den symbolischen Ausdruck der zwei Wesen im Menschen Die biographischen Zitate, soweit nichts besonderes bemerkt, nach den Memoiren einer Idealistin. Auf Einzelbelege kann an dieser Stelle verzichtet werden.

47 hat, ist ihr eine Sinnlosigkeit. Auch scheint der historische Christus damals kein lebendiges, greifbar nahes Bild vor ihrer doch sonst so lebhaften Phantasie geworden Zu sein. Und doch darf man ihr nicht alle ernstzunehmende religiöse Bewegtheit absprechen, selbst wenn man geneigt ist, von ihren Übertreibungen einiges abzuziehen. Eben der Hang zur Übertreibung der in ihrem Wesen ganz besonders begründet war, trieb ihre echte, ehrliche Natur, die immer konsequent sein wollte, in wahre Herzensnot. Schon als sehr junges Mädchen leidet sie fast unter Halluzinationen. Hört sie von Lastern und Verbrechen reden, so fürchtet sie, daß ähnliche unheimliche Möglichkeiten auf dem Grunde der eigenen Natur schlummern. Eine quälende Bewußtheit, die sie immer wieder lähmt, wo andere sich Freuden und Menschen unbefangen hingeben, wird durch die religiösen Grübeleien nur verstärkt, und es ist kein Zweifel, daß sie nach dem Abendmahle unter »der furchtbaren Verantwortung«, mit der man »ihre Seele beladen hatte«, wahrhaft litt. Noch später konnte sie niemals vom Sakramente des Altars reden hören, »ohne jedes innere Grauen vom Tage der Konfirmation wieder zu empfinden«. Die Energie, mit der sie all diese Gedanken ergreift, nicht die Art, wie sie dieselben gedanklich verarbeitet, ist es, was ihre unbestreitbare und gewiß über das Durchschnittsmaß reichende Eigenart ausmacht. Eben diese besondere Art religiöser Bestimmtheit ihres Innenlebens mußte sie zum praktischen Handeln als zu einer notwendigen Entspannung drängen. Sie wendet sich nicht feindselig vom christlichen Glauben ab, wohl aber läßt der Kampf um die Dogmen nach. Sie löst sich immer mehr von der Kirche, die sie nicht mehr regelmäßig wie früher besucht, und baut sich in aller Stille ihr eigenes »philosophisches System«. Tritt auch dadurch eine Entfremdung zwischen ihr und ihrem verehrten Lehrer Althaus ein, so glaubt sie doch durchaus noch auf dem Boden des Christentums zu stehen, für dessen »wahre Essenz« sie das Mitleid erklärt. Und praktisches Christentum will sie treiben, wenn sie nun endlich beschließt, einen Verein der Arbeit für Arme zu gründen, in dem Kleidungsstücke für eine Weihnachtsbescherung angefertigt werden. Der Verein wächst, auch die jüngere Schwester von Theodor Althaus gehört ihm an, mit der Malwida bald eine innige Freundschaft verbindet. Durch diese neugewonnene Verbindung mit der Familie Althaus bahnt sich bald die Beziehung an, die sie völlig aus ihrer bisherigen geistigen und persönlichen Sphäre lösen sollte.

48 Schon im Sommer 1843 hatte sie Theodor Althaus predigen hören. Wort und Person des damals einundzwanzig]ährigen Geistlichen hatten einen gleich starken Eindruck hinterlassen. Nun ist die gegenseitige Wirkung sofort eine ungewöhnliche —• lag doch in beiden sowohl Gemeinsames wie Ergänzendes reichlich bereit. Bald kommt es zwischen dem zweiundzwanzig jährigen Manne an der Schwelle des Lebens und der sechs Jahre älteren Frau 1 ), deren Intelligenz wohl nicht voll entfaltet, aber deren Charakter in der Stille sich fast bis zu e i g e n w i l l i g e r Selbständigkeit gebildet hatte, zum Verlöbnis. Von 1844 bis 1848, erst lange brieflich, dann in immer regerem persönlichem Verkehr, kommt es zu jenem Austausch des Geistes, der aus der Aristokratin der Kleinstadt schließlich eine flüchtige Demokratin macht, eine Weltbürgerin im wörtlichen Sinne, und der auch den Mann nicht ohne tiefere, wenn auch weniger greifbare Einwirkungen läßt. Lebhaft nimmt Malwida von Meysenbug mit ihrem Schönheits- und Kunstempfinden und mit ihrem klugen Erfassen aller Weltanschauungsfragen an seinen literarischen Arbeiten teil. Von ihrer Reise in die Provence, die sie 1844 bis 1845 kurz nach der folgenreichen Bekanntschaft machte, erzählt sie, daß sie, überwältigt von der großen Alpennatur, wie in einer Vision ihr Leben als einen Weg durch einsame, unfruchtbare Wüsten, als einen Kampf ohne Aufhören, vor sich gesehen habe, daß sie plötzlich hingekniet sei mit dem Gelöbnis, ihr Herz mit seinem ewig brennenden Durst nach Schönheit unaufhörlich Zu kreuzigen, nicht wanken zu wollen auf dem einsamen Pfad, »den d i e verfolgen, welche die Wahrheit suchen . . .« und »für das Ideal leben« wollen. In den I d e e n scheint hier durchaus schon eine Einwirkung »des jungen Apostels«, wie sie Althaus von Anfang an nannte, vorzuliegen, — im Leben »ein Werden« zu sehen, »kein Beharren«, die Wahrheit unaufhörlich zu s u c h e n und im Sinne des christlichen Opfers sich der Menschheit zu weihen. Die H a n d l u n g scheint mit all ihrer Überschwenglichkeit, die sich das überquellende Gefühl recht zum Bewußtsein bringen will, mehr aus Malwidas Charakter zu entspringen2). Die Angabe M a l w i d a s Mem. X., S. 180, ist unzutreffend. ) Vgl. hierzu Th. A l t h a u s , Eine Rheinfahrt im Aug., Bremen 1846, S. 12, und »Aus dem Gefängnis«, S. 31/2. 2

49 Dieser kleine Zug ist nicht nur charakteristisch für diese beiden Personen allein, sondern ein Beitrag zur Psychologie der Zeit. Dies sich selbst Berauschen, sich selbst in Situationen sehen, die lähmende Bewußtheit, die das ursprünglich echte Gefühl auf halbem Wege aufhält, noch einmal besieht — diese Menschen, die sich wohl o p f e r n , d. h. in bester Absicht alles aufs Spiel setzen, aber die sich nicht v e r g e s s e n konnten1). Die notwendige Folge solchen Wesens, innere Abspannung, macht auch das Althaussche Gedicht, die »Rheinfahrt«, das mit hoher Begabung wirklich bewegende Bilder menschlichen Elends, aus aufrichtiger Empfindung geboren, zeichnet, trotz allem so langatmig. An derselben Schwäche kränkelt sein großes Buch, das er im selben Jahre schreibt: »Die Zukunft des Christentums«. Wie sehr verrät alles, was Althaus in den aus dieser Zeit erhaltenen Briefen schreibt, die drängende Unruhe des Werdenden, der noch nicht ganz in dem enthalten sein kann, was er gibt, weil er sich selber noch nicht ganz hat und der auch nur so aufgenommen sein will. »Der Geist dieses Buches«, schreibt er im Frühling 1847, also vielleicht ein Jahr später, »ist mir da, wo es auf die Höhen sich schwingt, nicht fremd geworden, sondern vertraut wie einst; aber die ganze Gestalt hat sich von mir gelöst, und das Dauernde ist nicht, was ich geleistet und gegeben, sondern was ich durch diese Studie selbst empfangen habe. Und dies Dauernde ist nur als ein Werdendes zu schätzen«.. . »Es ist freilich eine lärmende Wirtschaft und wenig Harmonisches dabei zu hoffen, wenn einer, wie ich jetzt, alle halb Jahr ein altes Haus abbrechen, den Plan zu einem neuen ersinnen und mit Sack und Pack, ehe es noch fertig ist, den Umzug halten muß in das luftige Gedankengebäude. «2) So will auch seine »Zukunft des Christentums« beurteilt werden, deren politisch-soziale Konstruktionen allerdings »luftig« genug aufgeführt sind. Feuerbachs »Wesen des Christentums« in der ganzen Anlage folgend, aber kühn ihm widersprechend, gewinnt er nach Hegelscher Methode aus Satz und Gegensatz ein spekulativ-konstruktives Resultat, indem er das Christentum aus seinem Wesen heraus entwickelt, als Vgl. z. B . F r ö b e l s »Republikaner«, die an der Unkraft des »absichtlichen« Heldentums leiden. 2 ) B . S c h l e i c h e r , M. v. Meysenbug. 1916. S. 35/6. Meinecke, Festschrift.

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50 ursprüngliche voraussetzungslose Forderung erfaßt und seine Geschichte als einheitliche Entwicklung begreift, in der jede Phase ihre Notwendigkeit — ihre relative Berechtigung hat. Schließlich glaubt er den historischen Moment für die Wiedergeburt des Christentums gekommen, für eine Erneuerung, die den ganzen Menschen in allen seinen Betätigungen, den religiösen, künstlerischen, sozialen und politischen ergreifen und in schöner ungebrochener Kraft zur Einheit mit Gott, mit sich selbst und der Welt, der Menschheit, bringen soll. Durch Liebe und Freiheit entzündet, soll langsam fortschreitend eine große Gemeinschaft entstehen, die immer wachsend in praktischer, aufopfernder Betätigung allmählich alle von außen her zwingenden sozialen und politischen Bindungen überflüssig machen und »die Menschheit zum Körper des Geistes«, »die Erde von Pol / u Pol zum Körper der Menschheit« gestalten soll1). Hier ist also der Weg anarchistische Freiheit, das Ziel sozialistische Einheit: höchste Idealität, die viel zu vornehm und echt war, um nicht die strengsten Konsequenzen ziehen zu wollen, aber die eben mehr ein »Wollen« als das »Nichtanderskönnen« der ganz großen und der ganz einfachen Naturen war. An edlem Willen ließ es auch die tapfere, warmherzige junge Frau nicht fehlen. Schon aus eigenem inneren Antriebe war sie unbedenklich »von der Theorie zu den Konsequenzen derselben« übergegangen und hatte »die Religion aus ihrer metaphysischen Region herniedersteigen« lassen, indem sie »die Gleichheit der Brüderlichkeit unter den Menschen einführte« 2 ), •— oder einzuführen glaubte! Unter dem Einfluß des demokratisch-sozialistischen Theologen wendet sie sich immer mehr den sozialen Aufgaben zu, deren Lösung ihr wie ihm nur die Verwirklichung des christlichen Erbarmens bedeutet 3 ). Charakteristisch für die religiös-sozialen Ideale der beiden ist, neben den geäußerten Theorien und Meinungen, auch eine kleine Begebenheit, die Malwida in ihren Memoiren4) kurz erzählt, und die sich in Theodors »Märchen aus der Gegenwart 5 ) in verkleideter Gestalt wiederfindet. Althaus, seine Schwester und Malwida ersteigen Th. A l t h a u s , Die Zukunft des Christentums, Darmstadt 1847, S. 421. ) Mem. I., S. 164. 3 ) Mem. I., S. 170/71. *) Ebenda I, S. i 7 7 f f . 6 ) Th. A l t h a u s , Märchen aus der Gegenwart, S . 3 1 . Ein Idyll, schoni846 im Sonntagsblatt der Weser-Zeitung erschienen, Nr. 1 2 1 . 2

51 an einem schönen Pfingstmorgen die Grothenburg im Teutoburger Walde, um das werdende Hermannsdenkmal zu besuchen. Hier an der nationalen Stätte, bewegt von dem Zauber der Frühlingsnatur, die ihm Symbol wird, hält Althaus — und Malwidas Aktivität gibt in beiden Fällen bezeichnenderweise die Anregung dazu •— eine improvisierte Pfingstpredigt dem zufällig da oben versammelten Bauernund Handwerkervolke. Es ist ja das Volk, »an das du glaubst, das du liebst«, wie seine Schwester ihm ermunternd zuredet. Er spricht von Gott, »der nicht in Tempeln von Menschenhänden erbaut« wohne, führt sie über alle konfessionellen Spaltungen späterer Jahrhunderte zum Urchristentum zurück, um ihnen so sein N e u e s , den »Geist der Liebe und der Brüderüchkeit und Gleichheit« an Altes anzuknüpfen und verkündet dann, von der eigenen Begeisterung berauscht, ein hier auf Erden zu verwirklichendes G o t t e s r e i c h — die Idee des Fortschritts bis zur Vervollkommnung menschlicher Zustände auf Erden in ihrer reinsten Ausprägung. Die Gleichheit wird so weit getrieben, daß selbst g e i s t i g keiner mehr dem andern etwas voraus haben soll. Dann sei »die alte Weissagung erfüllt, deren Anbruch wir am Pfingstmorgen feiern: d a ß Gottes Geist ausgegossen werde über alles Fleisch und keiner mehr zum andern spreche: komm Bruder, ich lehre dich; hört mich, ich will euch predigen! — sondern, daß sie alle voll Geistes seien und einig in der Liebe, die ohne Ende ist«. Dies ist trotz aller religiösen Einkleidung keine r e l i g i ö s e Predigt, sondern eine p o l i t i s c h e . Die religiöse verweist den Menschen angesichts der ewig wechselnden historischen Verhältnisse und aller Verschiedenheiten äußerer und innerer Zustände und Schicksale auf seine eigene innerste Natur: hier soll er den Kristallisationspunkt finden, von wo aus er die Stoffe aus allem äußeren, ewig wechselnden Geschehen sammeln soll für den Aufbau der eigenen geistigen Gestalt. In Althaus' Predigt dagegen erscheint die Gestalt einer erträumten Gesellschaft, eines Idealstaates, einer Idealmenschheit — wenn auch in noch so ferneverschwommenen Farben. Gewiß predigt er Glauben, Gesinnung, Verwandlung des Geistes und Herzens — aber nicht den Glauben eines Luther, der Entdeckung und Erfahrung einer ewig lebendigen Kraft, eines unsichtbar allgegenwärtigen Gottesreiches war — sondern den Glauben an ein zukünftiges, in einer bestimmten Weise zu verwirklichendes Gottesreich auf Erden.

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52 Die sozialistischen Ansichten des jungen Demokraten, der die Berechtigung der hergebrachten Kirche und des Adels leugnete, brachten Malwida bald in Konflikt mit ihrer Familie, ja mit der ganzen kleinen Welt der Residenz. Und langsam beginnt sie sich loszulösen, »gewinnt klare Überzeugungen und fühlt das Recht der Freiheit, der Individualität«. Tapfer besteht sie den »Kampf der Freiheit gegen die absolute Autorität«. Die Freiheit macht sie zum Grunde, auf dem sie ihre Liebe baut. Und doch läßt Althaus bald schon von dieser Liebe, um sich volle Freiheit zu wahren1). Sollte sich doch eine verborgene Tyrannei in ihren Bund eingeschlichen haben? Das Jahr der politischen Katastrophe bringt auch hier den Bruch. Althaus, vom wilden Strudel des politischen Lebens ergriffen, wird Berichterstatter in der Frankfurter Nationalversammlung für die von Karl Andree redigierte, demokratische Bremer Zeitung. Schon im Juli 1848 übernimmt er ihre Redaktion. Als ihr Radikalismus in Bremen keinen Boden findet2), verlegt er sie unter dem Namen »Zeitung für Norddeutschland« nach Hannover3). Malwida hatte den Ausbruch der Revolution in Frankfurt persönlich miterlebt und sogar einmal Zutritt zum Vorparlament erhalten, für dessen republikanische Linke, vertreten von Hecker, Struwe, Blum und Fröbel, sie Partei ergreift. Nicht nur für Volk und Freiheit, auch für Einheit und Vaterland begeistert sie sich jetzt von ganzem Herzen, wenn sie auch natürlich die ziemlich allgemeine »Polenschwäche« eifrig teilt. Die Entfremdung zwischen ihr und Althaus, die ihr nach ihrer Rückkehr ins stille Detmold zur Gewißheit wird, verhindert sie nicht, sich seine Zeitungen zu halten. Aus ihnen schöpft sie mehr und mehr die politisch-radikalen Ideen, die sie zum großen Teile bis an ihr Lebensende vertritt, wenn auch ihrer im Grunde unpolitischen Natur die sozialen zeitlebens als die wichtigeren erscheinen4). Als Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone abgelehnt hatte und allenthalben im Volke Bewegungen entstanden, welche die Einführung 1) Vgl.. Fr. A l t h a u s , Th. Althaus, Ein Lebensbild, S. 2 i 9 f f . a ) Ihre Parteinahme für den Beschluß der Nationalversammlung gegen den Waffenstillstand von Malmö war den auf geordnete Friedensverhältnisse drängenden Bremer Kaufleuten lästig. 3 ) Hannoverscher Courier, Ztg. f. Norddeutschland, Hannoversche Anzeigen 1849—99. Festschrift zum 30jährigen Bestehen der Zeitung, Hannover 1899, von Dr. O. Kuntzemüller. 4 ) Mem. I, S. 247.

53 der Reichsverfassung erzwingen wollten, rief auch Althaus im Leitartikel vom 13. Mai seiner Zeitung für Norddeutschland zur Einsetzung eines Landesausschusses auf, der ihre Durchführung mit bewaffneter Hand betreiben sollte. Eine Anklage wegen Aufforderung zum Staatsverrat war die Folge, und das Urteil lautete schließlich auf 3 Jahre Gefängnis. Dem Manne, der furchtlos zur Tat drängte und die Treue seiner Überzeugung nun mit dem Verlust seiner Freiheit büßen sollte, folgt Malwidas warme Teilnahme ins Gefängnis, getreu i h r e r Überzeugung, daß »eine Liebe, die ebensowohl die Vereinigung zweier Intelligenzen wie zweier Herzen war, Freundschaft bleiben müsse, wenn sie aufhört, Liebe zu sein . . . .« Inzwischen wurde ihr Dasein in ihrer Familie durch den Konflikt der Anschauungen immer unhaltbarer; ihre Lektüre, ihr Verkehr mit demokratisch gesinnten Freunden, ihr selbständiges Urteil, das einer vierunddreißigj ährigen Frau noch nicht anstehen sollte, ihre Versuche, Armen und Dienstboten die Öde ihrer mechanischen Arbeit durch geistige Anregung zu verklären, ihr Bestreben, durch brieflichen Verkehr Deutschland mit einem Netz einer großen Frauenverbindung zu überziehen, deren Mitglieder Überzeugungsfreiheit und ökonomische Unabhängigkeit anstreben sollten, all diese Regungen ihrer Persönlichkeit, wie sie angeborener Charakter und freudig aufgenommene Einflüsse herangebildet hatten, stießen auf heftigsten und verletzenden Widerspruch. Um die Liebe zu den Ihrigen zu retten — und das konnte sie nur, indem sie ihrer Individualität den rechtmäßigen Spielraum verschaffte — beschließt sie endlich die Trennung und tritt im Oktober 1850 in die von Emilie Wüstenfeld und Bertha Traun gegründete und von Karl und Johanna Fröbel geleitete Hamburger Frauenhochschule ein1), mit der geheimen Absicht, von da aus den Weg in das gelobte Land der Freiheit »Amerika« zu nehmen. Diese Hochschule war im Zusammenhange mit der von Ronge in Hamburg gegründeten freien Gemeinde in einzigartiger Weise aus freiem Antriebe entstanden. Aus freiwilligen Beiträgen erhalten, entfaltete sie eine lebensvolle, vielseitige Tätigkeit zur dankbaren Begeisterung aller Teilnehmer. Hier konnten die Schülerinnen in Kindergärten und Elementarklassen nach Friedrich Fröbels System *) Vgl. hierüber C a m p e , Geschichte des Deutsch-Katholizismus und freien Protestantismus, Leipzig 1860.

54 ihre pädagogischen Fähigkeiten entwickeln. Vorlesungen der besten Gelehrten der Stadt, wöchentliche Abende, die gegenseitige Aussprache zwischen Lehrern und Schülern und allseitige Anregungen gewährten und manchen ausgezeichneten Fremden, manchen Literaten und Dichter 1 ) auf ihrem Wege durch Hamburg in ihren Kreis zogen, dienten ihrer geistigen Entfaltung. Auch zu sozialer Arbeit war hier Gelegenheit geboten in einem Armenverein, der nicht nur Almosen austeilen, sondern durch reichlich belohnte Arbeit das Ehrgefühl des Armen wachhalten, ihn durch persönliche Teilnahme aus seiner hoffnungslosen Verlassenheit zu neuer Lebenskraft und Tüchtigkeit befreien wollte. Diese Anstalt und die in enger Verbindung mit ihr lebende, von Weigelt geleitete freie Gemeinde mußte nicht nur Malwida, sondern ebenso dem nach einjähriger Haft 2 ) in Hannover und Hildesheim befreiten Althaus als willkommene Insel erscheinen in dem trostlosen Meere der Reaktion, das die noch vor kurzem so vielgestaltig bunt und lebendig sich regenden deutschen Länder langsam, aber stetig wachsend überflutete. — Von der freien Gemeinde ausgehend, war eine konfessionslose Gemeindeschule gegründet worden, die das an ihrem Teil wahr machen wollte, was in den versunkenen »Frankfurter Grundrechten« dem deutschen Volke versprochen worden war: auch dem Armen sollten hier, durch Erlassung oder Herabminderung des Schulgeldes, alle Vorteile einer guten Bildung zuteil werden. Literarische Tätigkeit war für Althaus unter der neugestrafften Zensur ebenso wie der Staatsdienst ausgeschlossen: so bewirbt er sich denn um die Stelle eines Lehrers an dieser Gemeindeschule, und Malwida ebnet ihm hier in wahrhaft tätiger Freundschaft den Weg. Aber schon nach einmonatlicher Tätigkeit wird der Mann, der »des Hochverrats angeklagt gewesen«, unter dem Druck des erwarteten preußisch-österreichischen Besuches3) ausgewiesen4). Eine schleichende *•) Wie Carl Schurz, Adolf S t r o d t m a n n , Jakob V e n e d e y usw., vgl. B. S c h l e i c h e r , M. M e y s e n b u g S. 42. 2) Vgl. Fr. A l t h a u s , Bio. a. a. O. S. 396. Brief Th's. an seinen Bruder v o m 15. Mai 1850: » . . . . und wußte nicht, daß ich ein Jahr und einen T a g im Gefängnis sein und dann ,vom Thurm niedersteigen' würde . . . . . . Die Angabe Mem. I, S. 321 ist also unzutreffend. 8) Anläßlich der Intervention des Bundestags in Schleswig-Holstein 1851. Vgl. Friedr. A l t h a u s , Th. Althaus a. a. O. S. 438. *) Malwidas persönl. Bemühungen beim Senat sind ohnmächtig; vgl. Deutsche Revue, 30. Bd., 1905 (4), S. 346. Briefe an die Mutter aus Hamburg und Mem. I, 332/3.

55 Krankheit, deren Keime schon durch die lange Gefängnishaft zu früher Entwicklung getrieben waren, kommt nun zum vollen Ausbruch. Durch schmerzliche Hoffnungslosigkeit geschwächt, sucht Althaus dennoch den Willen zum Leben mannhaft hochzuhalten. Doch kaum mehr als ein Jahr schleppt er sich mit dem qualvollen Leiden, dann erlöst den noch nicht Dreißigjährigen am 2. April 1852 ein allzufrüher Tod. Während seiner Kur in der Kaltwasserheilanstalt zu Stuer und um die Jahreswende 1851/52 im Krankenhause zu Gotha hatte Malwida den einsamen, schwer geprüften Freund aufgesucht, ihn mit nimmermüder Aufmerksamkeit umgebend — getreu der aufopfernden Liebe, die in den gemeinsamen enthusiastischen Entwürfen ihres jugendlichen Aposteltums eine so große Rolle gespielt hatte, und die dem Sterbenden das versöhnende Wort abrang, daß seine Liebe zu ihr »das beste Gefühl seines Lebens« und »die edelste Blüte seiner Jugend« gewesen sei. Wenn wir uns fragen, wie es möglich war, daß ein Verhältnis, so ganz auf Gemeinsamkeit des Besten und Höchsten in ihrer Seele gegründet, sich lösen konnte, so ist e i n e s ohne weiteres deutlich: sie im gewöhnlichen Sinne anzugreifen, dürfte nur dem Kleinsinne möglich sein. Beide gehören zur »Aristokratie des Geistes und Charakters innerhalb der Demokratie«1). An der Reinheit ihrer Ideale ist kein Zweifel. Ihre Idee von Liebe, sei es zwischen Mann und Frau oder von Mensch zu Mensch, ist die höchste; sie ist auf Freiheit, nicht auf äußeren Zwang gegründet. Beide folgen hierin nur dem Instinkte feiner Geistigkeit für das Geheimnis alles wahren inneren Lebens. Aber eine völlig unbefangene Äußerung Malwidas in einem Briefe an die Mutter verrät uns eine verborgene Spannung, in die beide so edel strebende Naturen notwendig geraten mußten. Sie schreibt: »So sehr ich ihn aber auch geliebt habe, so ist doch das eben ein Beweis, daß ich nicht so fanatisch war, um nicht auch in ihm zu unterscheiden, was eben verschieden in uns war und was ich bei ihm Schwäche nannte, während er es bei mir Fanatismus nannte. Er war eine passive, ich eine aktive Natur, das war der Unterschied, und darum gehörten wir gerade so sehr Zusammen, weil wir uns ergänzten «2). Julius F r ö b e l , Ein Lebenslauf, 1. Bd., 1890, S. 266. ) Deutsche Revue, 33. Bd., 1908 (1), S. 57. Brief an die Mutter aus London vom 22. Dezember 1852. 2

56 Malwida von Meysenbug verwechselte wohl zeitlebens ihre angeborene Geradlinigkeit, die, durch keine hemmende, überlegene Kritik gestört, fest werden konnte, mit Konsequenz. Eine kleine Stelle in der Althausschen Novelle »Die Herberge der Gerechtigkeit« spricht ihr, ob bewußt oder unbewußt, das Urteil. Da heißt es mit feinem Spürsinn: »Es ist komisch, wenn die Menschen, die sich mit der Verbesserung der Welt in Gedanken abgeben, sich einbilden: ihr Herz wäre so unendlich reicher an Liebe oder gar besser überhaupt als das der andern Menschenkinder, die ihre Familie, ihren Garten, ihre Liebhabereien und Wissenschaften lieben. Welch ein Begriff von Liebe! Lieben ist keine Theorie, Lieben ist That und Selbstverleugnung. Sie kann sich unendlich anders äußern, wie sie unendlich ist; aber für die echte Güte des Herzens geb' ich keine andern Kennzeichen als diese zu«1). •— Malwida unterschreibt dieses Urteil selber, wenn ihr »die heiligen Freuden«, die sie beim Malen genoß, zu egoistisch scheinen, wenn ihre Aktivität alle Religion in Soziologie auflösen wollte. Die verhängnisvolle »Prinzipseherei« der radikalen Demokratenwek, in der Malwidas Wesen damals noch rein aufging, während Althaus mit wenigen sich deutlich von ihr abhob, durchzieht all ihre Werke, auch die späteren, wenn sie sich auch einer reichen geistigen Erweiterung fähig erwies. An tätiger Liebe, ja an Selbstverleugnung ließ sie es nicht fehlen, und doch mischt sich in eben diese Aufopferung eine seltsame Art moralischer Selbstbespiegelung. Es ist nicht die landläufige, aber es ist der sie selbst befriedigende, sie in jeder Lage beruhigende Beweis, den sie sich und anderen erbringt, daß sie nach dem wahren Prinzip gehandelt habe, daß sie das könne — ja, daß m a n es könne, wenn man es so und nicht anders mache. Unwillkürlich klingen die Worte aus Herzens Einleitung zu seinen Erinnerungen hier an wie ein dunkelwehmütiger Ton über die Zeit, in der das Schicksal Malwida ihm zuführte als Helferin und mütterliche Freundin seiner Kinder: »Alle, mit denen ich in Berührung kam und die sich wieder von mir entfernten, die Menschen, denen ich begegnete, waren nur mit allgemeinen Interessen beschäftigt, ihnen lag nur das am Herzen, was die ganze Menschheit oder doch zum mindesten ein ganzes Volk angeht; der Verkehr mit ihnen trug einen mehr unpersönlichen Charakter. Es konnten Monate vergehen, ohne daß zwischen uns ein Märchen aus der Gegenwart, a. a. O. S. u / 1 2 .

57 Wort darüber fiel, wovon ich am liebsten gesprochen hätte« 1 ). In diesen Worten liegt eine völlig unbeabsichtigte, aber um so eindringlichere Kritik, als sie von der Seite eines politischen und persönlichen Freundes kommt. Diese Prinzipiengläubigkeit, die den Wert des Persönlichen, des Individuellen wenn auch nicht übersieht, so doch nicht annähernd in seiner dem Allgemeinen, Überpersönlichen ebenbürtigen Wichtigkeit fassen kann — ist es auch, was sie zu jener Offenheit treibt, die oft fast abstoßend wirken muß. Es ist, als würde ihr selbst das Eigenste, Persönlichste zum Beweis ihrer Ideen, der aus Altruismus nutzbar gemacht werden muß — ihr ganzes Leben eine mit Sorgfalt ausgearbeitete Anleitung zu einem vernünftigen, menschenwürdigen »seligen Leben« in Freiheit und Liebe! Althaus aber weiß schon früh 2 ) von dem Ungenügenden dieser Geistesart zu sagen. Es liegt uns fern, dem Urteil Walzeis widersprechen zu wollen3). Die Ideen von Freiheit und Liebe, die Malwida predigte und vor allem v e r l e b t e , waren vornehmer und echter Art. Aber das einfache großartige Wort der Rahel, das sie einmal anführt 4 ), »die Liebe ist Überzeugung«, steht in seltsamem Gegensatz zu ihrer wortreicheren Ausführung, in der sie die Summe ihrer eigenen schmerzlichen Erfahrung zieht: »eine Liebe, die ebensowohl die Vereinigung zweier Intelligenzen wie zweier Herzen war, müßte Freundschaft bleiben, wenn sie aufhört, Liebe zu sein, und die Befriedigung der Intelligenz würde die Leiden des Herzens mildern bei einer Frau, deren Geist ebenso entwickelt wäre wie ihr Herz« 5 ). Hier verrät sie die Grenze ihres Wesens, die Althaus mit strenger Hand zieht, wenn er ihr »eine gewisse Kraft der Natur« abspricht und sich über den »verdrehten Heiligenblick« erbittert, der über die Natur reflektiert 6 ). Den Zweifel an dem herben Ernst ihrer Selbstüberwindung verwandelt er wenig später in ehrerbietige Bewunderung, die in ihrer Handlungsweise »ein einfaches Konsequens« ihres Wesens, aber »für ein Weib das Ungeheuerste« erkennt und »jenes Äußerste und Tiefinnerste, jenen A . H e r z e n , Erinnerungen, i. Bd., S. 5. Im Sonntagsblatt der Weser-Zeitung 1845, Nr. 63ff. und Märchen aus der Gegenwart, 1847, S. 38. 2)

s ) O. W a l z e l , Vom Geistesleben des 18. und 19. Jahrhunderts, Lpz. 1911, S. 415. »Schon die .Memoiren' sollen nicht ihre Gestalt in hellste Beleuchtung rücken, sondern einer Lebensanschauung d i e n e n . . . «. 4)

Mem. I, S. 100. Mem. I, S. 252. 6) Tageb., 26. Dez. 1848.

6)

58 Gipfel des Charakters«1) in dieser Frau geschaut zu haben freudig eingesteht. So findet er die großen und reinen Maße wieder, mit denen das Wesen dieser seltenen Natur gemessen werden muß, ohne seine eigene Position aufzugeben, die er in den Worten ausspricht: »Wo ich aber enthusiastisch liebe, da bin ich g a n z , da teile ich mich nicht, reserviere mir nichts . . .«2). Was Bewußtsein und Vorsatz, was edler Wille, der seiner selbst nicht schonte, leisten konnten, das hat Malwida von Meysenbug wahr gemacht aus dem Drange ihres hochgestimmten Geistes und eines großmütigen und liebevollen Herzens heraus. — Die unbewußte Sicherheit, das tiefe Wissen genialer Leidenschaftlichkeit um die innersten Geheimnisse, die ewigen Gesetze persönlichen und seelischen Erlebens sind ihr versagt. So ist es vorwiegend der echte Eifer des Moralisten, der uns aus ihren Schriften anspricht, nicht die Kraft religiöser Unmittelbarkeit. Darum kann sie sich auch in der Atmosphäre der freien Gemeinde voll und ganz wohl fühlen. Von einer Gemeindeversammlung erzählend, schreibt sie an ihre Mutter (1850) beglückt: »Einer nach dem andern stand auf und sprach sich über bedeutende Gegenstände frei aus; es war eine wahre Lust, so' sollte alle Geselligkeit vernünftiger Menschen sein«3). Wie wunderlich verallgemeinert sie hier wieder und wie erstaunlich mutet in einer Frau diese Überschätzung der »Umwege über den Verstand« an, die Althaus schon zwei Jahre zuvor hinter sich läßt4). Sie ist eben in ihrem moralischen Utilitarismus befriedigt, Althaus, mit reicheren Möglichkeiten ausgestattet, sucht schmerzlich tastend in der Dämmerung einer um Klarheit ringenden Zeit, die nur ein Werden, aber kein Festes kannte nach einer »gefühlten wirklichen Gegenwart des Heiligtums«6), das sich selbst genügte in seiner Göttlichkeit. Doch fehlt auch ihm die Ganzheit des Wesens, die allein reine Lösungen möglich macht. Malwidas Urteil bestätigt sich in einem Briefe der von Althaus so heiß geliebten Mutter, der klugen, tatkräftigen Tochter Dräsekes, und eine frühe Tagebuchäußerung Theodors gibt ihr recht: »Ich habe !) 2 ) 3 ) *) B )

Tageb., 28. Okt. 1849. Tageb., 22. März 1850. Deutsche Revue, 30. Bd., 1905 (3), S. 222. Tageb., Juli 1848. Märchen aus der Gegenwart, a. a. O. S. 5.

59 eingesehen. . . daß mein Hauptfehler nicht Charakterlosigkeit, sondern Schwäche ist, und daß ich das ,mihi res, non me rebus subjungere conor' ganz unbefolgt lasse«. Nicht Charakterlosigkeit war es, was ihn veranlaßte, »eine schiefe Stellung aufzugeben, bloß weil sie schief ist, ein unwahres Verhältnis zu lösen, wenn es auch die Überzeugung und den Geist nicht gefangen nehmen sollte, bloß weil es unwahr ist«, wie er einmal noch ganz unbefangen von eigenem Erleben auf Freiligrath bezugnehmend schreibt 1 ). Überzeugung und Geist lähmte Malwida von Meysenbug, der nur eine unwürdige Kritik den Idealismus abstreiten kann2), gewiß nicht. — Aber das, was »er in ihr Fanatismus nannte«, mußte auf seine feine, vielseitige Anpassungsfähigkeit lähmend wirken, um so mehr, als ein ungewöhnlich gesammelter Wille dahinter stand. Auch wurde dem erst zu voller Männlichkeit Heranreifenden der Blick immer heller für »die ganze ungesunde Überschwenglichkeit und idealistische Sentimentalität«3) der Zeit, der Malwida reichlichen Tribut zollte. Aber weder die schöpferische Kraft seines mehr kritisch gestimmten Geistes, noch die seines Herzens war stark genug, um die Spaltung ihres Wesens in »Sinnlich« und »Geistig«, aus der sie selbst herausstrebte, zu überwinden oder mit jener strengen »Liebe, die vor allem Wahrheit wollte«4), aus der notwendigen Trennung für sich und die groß denkende Frau inneren Gewinn zu ziehen. Der Mangel wirklicher Hingebung, ganzer Leidenschaft, den er in seinen mannigfachen Kritiken der politischen und schöngeistigen Literatur seiner Tage immer wieder selbst an den Abgöttern der öffentlichen Meinung feinsinnig her ausspürte6), dieses »gefährliche Spielen mit dem eignen Herzen«, »die pure Freiheitslust« mit Bewußtsein und Reflexion ein leidenschaftlich erregendes Thema auf seinem Herzen zu variieren, x) Th. A l t h a u s , »Ferdinand Freiligrath« in Wigands Viertel]ahrsschr. 1845, I. Bd., S. 303. 2) Vgl. Friedr. S p i r o , »M. v . Meysenbug« in Bettelheims Biograph. Jahrb., 9. Bd., Berlin 1906. 3) Blätter f. Literar. Unterhaltung Nr. 161. Th. A l t h a u s , Heines »Atta Troll«, 1847, vgl. auch »Aus dem Gefängnis« (1850), S. 10, »gegen jenes ewig wiederholte Aufregen der Massen, jenes ziellose Vergeuden von Nerv und Phantasie, wie es eine Zeitlang getrieben war, schaudert noch jetzt alles Männliche in mir zurück. Thaten oder Ziele«. 4) Sonntagsblatt der Weser-Zeitung Nr. 158, 1847. dernen Poesie: Alfr. Meißner.

Zur Kritik der mo-

») Vgl. Bl. f. Lit. Unterhaltung a. a. O. über Heines A t t a Troll.

60 anstatt sein Herz einfach die Naturmelodie dieses Effektes singen zu lassen 1 ), diese Zeitkrankheit, die er fälschlich einem Gottfried Keller anzumerken glaubte, war für ihn selbst zum mindesten d i e große Gefahr. Kaum in den Strudel des Leipziger Literatengetriebes geraten, gesteht er seinem Tagebuch: »Wie bodenlos leichtsinnig der Poet spielt mit dem, was er erst nachher in der Wirklichkeit lastend fühlt; so ich2)«, und wenig später: »Meine Phantasie ist ein Schwelger, der seines zukünftigen Lebens Vermögen im voraus verzehrt« 3 ). Dasselbe Bild unwillkürlich noch einmal aufgreifend, fährt er strenger und eindringender fort: »Thor! So vergeudest du in einer halben Stunde vielleicht die Quintessenz eines Jahres! Als wenn man in 'nen Keller ginge, alle Champagnerflaschen springen Heß' und nur aus jeder den ersten schäumenden Tropfen in den Becher gösse und so mit einem Zug alles Berauschendste genösse«4). Und doch täten wir diesem seltenen Charakter unrecht, wenn wir hier nur von einer Art seelisch-geistiger Genußsucht sprechen wollten. Sich selbst ein unerbittlich-strenger Kritiker setzt er sein suchendes Sinnen in den Worten fort: »Es ist nicht Sinnlichkeit, nicht Lustverlangen; meine Freuden blühn noch in demselben Garten. Es ist der tiefe bittre Schmerz, vielleicht kein ganzer Mensch sein zu können, vielleicht ewig in der ernsten Welt der Ideen mich bewegen zu müssen. Alles hängt Zusammen. Eine bodenlos demokratische Natur, ich habe kein Auge als für den Geist — ach und doch kein Philosoph — (als) für den Hauch der Prinzipien« 6 ). Es klingt wie ein Schrei nach Leben, ursprünglichem, schaffendem Leben, nach der verlorenen »Gottnatur« aus diesen Worten. »So soll ich doppelt schaffen ? Soll aus den Blüthen, die mir über den Weg wehn, die rauschenden herrlichen Bäume phantasieren, soll aus dem flüchtigen Erröthen die aufschlagende Liebesflamme erkennen •— o Qual, wenn die sehnsüchtige Scheu vor der heiligen Lebensfülle in ihrer eigensten Herrlichkeit mir die kecke Hand zurückhält •— und ich starre auf die Farben und male nicht. Das Schaffen des Dichters ist ein Zusammen*) Sonntagsblatt der Weser-Zeitung Nr. 1847, Th. A l t h a u s ; Moderne Poesie: Gottfried Keller. 2 ) Tageb., 12. Juli 1847. 3 ) Tageb., 12. Dez. 1847. 4 ) Varia, Lpz. 1847/48 (handschriftl. Aufzeichnungen). 6 ) Varia, Lpz. 1847/48 (handschriftl. Aufzeichnungen).

61 stoß von Empfangen und Geben und selbst das, was er empfängt, soll ich erst erobern?«1) Eine »gewisse Kraft der Natur«, die den Menschen in den Strom der heiligen Lebensfülle hineinträgt, fehlt auch hier. Unfähig, ganz groß zu empfangen, weil unfähig, sich an gegebene Wirklichkeit tief eindringend und so sie gestaltend hinzugeben, war auch er des »einfach ewigen Charakters«2) bar, nach dem er sich mit seiner Zeit im geheimsten Innern sehnte, und wird sich selbst »Zu einer poetischen Gestalt, die er anschaut, anstatt daß er nur leben sollte und das Leben anschauen«3). Doch in dieser sehnsüchtigen Scheu vor der heiligen Lebensfülle des g a n z e n Menschen, in dem »tiefen, bittren Schmerz über die bodenlos demokratische Natur« seiner Zeit fühlt er über sie hinaus. So konnte der erst Sechsundi wanzig jährige noch im Sturm jähre mitten im politischen Drange, selbst täglich auf die Ereignisse einwirkend, seltsam frei aus dem Gewühle sich herausheben. Am 28. Dezember 1848 schreibt er einer Freundin: »Verschwenden Sie nicht zu viel an das Allgemeine dieser Tage! Der Strom ist nicht rein genug, er führt wenig Gold mit sich. Sie hören nur, was Ihre reine Seele bewegt, sein Rauschen, und von fern macht der Schaum sich herrlich. Aber was klar und edel ist, ruht noch zu allermeist fern in den Bergen. Viel Rhetorik, wenig schweigendes Ausharren, viel Pointen, wenig feste Charakterzüge; viel Gleichmuth und Frivolität und Schauspiel, aber wenig Drama, wenig Tragödie. Die Menschen sind aus den Fugen gerissen; hin- und hergestoßen, sind sie wachsweich geworden. Dazu haben sie ein relatives Recht: es ist eine Zeit des Zerstörens, es verlohnt der Mühe des Ernstes und der Konsequenz und der letzten Entschlüsse nicht, man möchte dann auch die neue bessere Zeit doch noch gern miterleben. Ich klage nicht eigentlich an, ich warne nur . . . .«4). Und wie persönliches und überpersönliches Erleben ihn weiter führte, bekennt er in einer seiner letzten Aufzeichnungen mit männlich klarem Blick: »In (Wagners Kunstwerk der Zukunft) trat mir die Fülle dessen, was zerstörungswürdig ist, überfluthend entgegen. Ich empfand es erschütternd, daß wir nicht geboren Varia, Lpz. 1847/48. ) Sonntagsblatt der Weser-Zeitung Nr. 180, 1847. 3 ) Ebenda Nr. 158, 1847. *) Bio. S. 321. 2

62 sind für das Glück. Ich freute mich, es schon in der Rheinfahrt (1846!) so ganz gewußt und bekannt zu haben: ich bin ein Kind des Volks, ich hab' für mich kein eigen Loos. — Dem G l ü c k zu entsagen, das bebte in alle Nerven. Viel ruhiger, viel ernster, nicht in jener schönen Emotion, wo dieses Entsagen nur zugleich höchste Lust der Begeisterung war. — «1) *

So verkörpern diese beiden ungewöhnlichen Menschen das Schicksal ihrer Generation — ihr Edelstes und ihre Tragik, die Althaus schon 1846 in seinem Gedichte »Weltleben«2) zu ergreifendem Ausdruck bringt, und die eine kurze Tagebuchnotiz vom 15. März 1848 in die Worte faßt: »Alles geht nur bis zur Sehnsucht und bleibt vor der Pforte des Lebens stehen, der alte Druck lastet überall und die Befreiung ist nur eine innerliche, gestaltet sich nur privat « *) T a g e b . , 26. A p r . 1850. 2 ) T h . A., Aus d e m Gef., S. 47/6.

Glaubensbekenntnisse einer politischen Jugend. Beiträge zum Lebensbild Ludwig Aegidis und Eduard Laskers. Von Paul W e n t z c k e .

Zweimal nur im Laufe eines langen, ereignisvollen Jahrhunderts war der deutschen Jugend vergönnt, aus eigener Kraft und in innerstem Erleben einzutreten in den Kampf um die Neugestaltung des deutschen Staates. Verlauf und Wesen der großen b u r s c h e n s c h a f t l i c h e n B e w e g u n g , die nach und nach alle Universitäten und Hochschulen des engeren Deutschland in ihren Bann zog, bezeichnen zugleich die erste Stufe innerpolitischer Neubildung des gebildeten Mittelstandes. Auf der Grundlage dieser „burschenschaftlichen Erziehung" erst konnten gesamtdeutsche politische Parteien erstehen. Jede Charakteristik und Ausdeutung deutscher Parteigeschichte muß mit dem großen Erlebnis der Befreiungskriege und der ihnen folgenden Enttäuschung einsetzen. In den Glaubensbekenntnissen der jugendlichen Schwärmer von 1817, die uns in überreicher Zahl durch die Akten der Demagogenverfolgungen erhalten sind, Hegt der Schlüssel vor allem zum Verständnis der e r s t e n d e u t s c h e n V o l k s r e v o l u t i o n und ihrer P a r t e i g r u p p i e r u n g . Weit schlechter steht es mit unserer Uberlieferung und unserem Wissen von den A n f ä n g e n der neuen P a r t e i b i l d u n g , die dann die Begründung des deutschen Kaiserreichs begleitete und bis zum Niederbruch von 1918 das parlamentarische Leben bestimmte. Mit Ausnahme weniger, völlig ungenügender Festschriften fehlt es ja nicht nur an ausreichenden Darstellungen dieser wichtigen Entwicklung, sondern vor allem auch an einheitlich durchgearbeiteter Quellenforschung. Das von mir begonnene mehrbändige Werk »Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks« muß sich unter dem Druck der Verhältnisse auf eine Auswahl bisher unbekannter politischer Briefe beschränken, wird aber in diesem engeren Rahmen, wie ich hoffe, der parteigeschichtlichen Forschung eine Fülle neuer

64 Anregungen bieten1). Nach der ganzen Anlage der Veröffentlichung mußte ich auf eine b i o g r a p h i s c h e Verwertung des reichen, von mir gesammelten Stoffes verzichten. Um so nachdrücklicher möchte ich an dieser Stelle auf die Notwendigkeit hinweisen, den Querschnitten parteigeschichtlicher Forschung Längsschnitte zur Seite zu stellen, die Leben und Wirken der einzelnen Parteiführer und Parteivertreter bis zu den Anregungen ihrer Jugend zurückverfolgen müßten. Dann erst wird man die tiefe Wirkung der Erfahrungen von 1848/51 auf die politische Bildung der akademischen Jugend auch dieser Jahre erkennen. Zwei einzelne Beispiele nur mögen hier zeigen, welch reicher Schatz hier noch ungehoben ruht und künftigen parteipolitischen Forschungen neue Aufgaben stellt. I.

Ein Zeugnis L u d w i g Aegidis sei vorangestellt, trotzdem das Lebenswerk gerade dieses preußischen Staatsmanns auf dem Höhepunkt seines Einflusses durchaus beschattet wird von der überragenden Persönlichkeit Bismarcks, dem sich der Staatsrechtler und Publizist zu williger Dienstleistung unterordnete. Auch er empfing noch in der Burschenschaft die erste politische Bildung und darf so gewissermaßen zwei Generationen der deutschen Studentenschaft verbinden. Als Dreiundzwanzigjähriger ward der »kleine Aegidi«, der bereits elf Semester Studitim und publizistischer Tätigkeit hinter sich hatte, dank seiner »demokratischen« Beredsamkeit und dank seiner stets hilfsbereiten Beweglichkeit mit einem Schlage Führer Die letzten Entscheidungen der derzeitigen Geschäftsleitung der Deutschen Volkspartei, auf deren Wunsch ich vor bald fünf Jahren das Erbe des f Eduard Wilhelm Mayer (s. u. S. 135) fortführte, lassen allerdings der Hoffnung auch auf spätere Veröffentlichung keinen Raum mehr. Ende 1920 schon, darauf muß ich daher auch an dieser Stelle hinweisen, war ein leistungsfähiger, gut eingeführter Verlag bereit, die Drucklegung des auf vier Bände berechneten Werkes ohne Zuschuß der Partei zu übernehmen, als die Parteileitung im Frühjahr 1921 ohne jeden stichhaltigen Grund ihre nur formell wünschenswerte Zustimmung versagte. Dieser Einspruch wurde erst nach monatelangem Drängen zu einer Zeit zurückgezogen, als die Preissteigerung die Grundlagen des Vertrags bereits völlig verändert hatte. Auch in diesem Falle zeigt sich wieder die ganze Verständnislosigkeit, die die politischen Parteien Deutschlands auch heute noch ihrer eigenen Geschichte entgegenbringen, selbst wenn umstürzende Wandlungen der Auffas sung bereits längst eine wissenschaftliche Behandlung ohne Gefährdung des Ansehens und der Parteitaktik auch den halbgebildeten Anhängern gegenüber ermöglicht.

65 der Berliner »Aula«. An der Spitze der Studenten, die König Friedrich Wilhelm IV. bei seinem berühmten Umritt durch Berlin begleiteten, trug er stolz die dreifarbige Fahne der Burschenschaft. Wenige Stunden zuvor war es ihm gelungen, durch einen kühnen Streich das Palais des Prinzen von Preußen vor der Zerstörung durch eine erzürnte, wilderregte Menge zu schützen1). Der Dank und die Anerkennung für dies entschlossene Vorgehen, das den jungen Politiker bereits vielen alten, radikaleren Freunden entfremdete, war die Berufung in den literarischen Dienst des Ministeriums Auerswald, das jetzt dem preußischen Staat die erste konstitutionelle Regierung gab. Wiederum ist in dieser Tätigkeit, die wir vorläufig nur an einzelnen Stellen genauer verfolgen können, die scharfe Absage an die Linke bezeichnend, die ihm gar zu häufig die Lebensnotwendigkeit innenund außenpolitischer Sicherung des Bestehenden verkannte. Auf dem zweiten großen Wartburgfest, das Pfingsten 1848 aufs neue Vertreter aller deutschen Hochschulen zu politischer Aussprache vereinte, setzte es Aegidi durch, daß eine äußerst gemäßigte Zuschrift an die Frankfurter Nationalversammlung die Mehrheit fand. Als sein ostpreußischer Landsmann Wilhelm Jordan der eigenen Partei in der Paulskirche ob ihrer Polenbegeisterung Fehde ansagte, entwarf der junge Ministerialhilfsarbeiter, der in den Märztagen noch die aus dem Gefängnis befreiten Polen namens der Berliner Studentenschaft feierlichst begrüßt hatte, die große Denkschrift, in der die preußische Regierung in Frankfurt nachdrücklich das Recht der deutschen Ostmark wahrte. Überaus bezeichnend aber ist doch, daß Aegidi dann trotz aller amtlichen Bitten ebenfalls ausschied, als die Berufung des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel die Hoffnungen der konstitutionellen Partei aufs schwerste erschütterte. Publizistische Tätigkeit als freier Schriftsteller, dessen Artikel von den angesehensten liberalen Zeitungen freudig aufgenommen wurden, mußte ihm über die schweren Monate innerpolitischer Kämpfe, die nun über Preußen und Deutschland hereinbrachen, hinweghelfen. Seine Gegenschrift vor allem gegen Heinrich Leos gesinnungstüchtige Kritik der Berliner Märztage, die als Signatura temporis einen Sturm der Zustimmung und Berichtigung hervorrief, zeigt Aegidi am Jahrestag des 17. März als Meister Vgl. m e i n e n Artikel: Das Palais des Prinzen von Preußen als »Nationaleigentum« im Roten »Tag« vom 8. Mai 1921. M e i n e c k e , Festschrift.

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66 des politischen Pamphlets, während eine zweite Broschüre vom Anfang Juli 1849 bereits zur neuen Parteibildung eines nationalkonstitutionellen »Reichsvereins« aufruft 1 ). Von der »schöpferischen Idee«, die den Gothaern in ihrem Kampf gegen die österreichische Fremdherrschaft zur Seite steht, erwartet er die Überwältigung des Chaos, das nun über Deutschland und Preußen hereinzubrechen droht. Versucht man aus diesen Flugschriften heraus die innere politische Entwicklung des Jünglings zum Manne zu verstehen, so sieht man überrascht, wie abgeklärt hier bereits Ansichten und Aussichten des Vierundzwanzigjährigen erscheinen. Nur wenige Wendungen lassen die ungeheure Erregung und die schweren Kämpfe durchschimmern, die auch Aegidi gerade damals im eigenen Herzen und in der eigenen Familie durchzumachen hatte. Voll banger Besorgnis suchten seine Angehörigen sein Lebensschifflein auf gebahntere Straßen zurückzulenken, auf denen er einer gesicherten bürgerlichen Zukunft entgegengehen konnte. Insbesondere eine Tante mag dem jungen Schriftsteller in dieser Zeit mit Vorwürfen und Seufzern arg zugesetzt haben, bis der Angegriffene selbst seinen Unmut und zugleich seine hoffnungsvollen Wünsche in einem umfangreichen Briefe zusammenfaßte, der als das p o l i t i s c h e G l a u b e n s b e k e n n t n i s ringender J u g e n d unter die ansprechendsten Selbstzeugnisse des Parteimanns zählt2). Auch mir, so schreibt er am 7. Februar 1849 aus Berlin, kommt die Lust in stillen Stunden, die politische Betätigung zurückzuschieben, bis ein praktischer Beruf mein persönliches Leben sicherstellt, »aber, ich versichere Dich: nur in schwachen Stunden.« »Prüfe, meine trautste Tante, ob ich die Sache nicht vielleicht dennoch richtig ansehe; Dir ist sie vielleicht von dieser Seite noch nicht vorgestellt: Ich habe meine Studien, wie Du weißt, längst beendigt; es war ein großer Fehler, daß ich in ihren Kreis vieles, d. h. vieles aus meiner Wissenschaft zu ziehen gedachte, was nach meinem Examen durchzuarbeiten rathsam gewesen wäre. Ich wollte doch aber nur promoviren; es war mein einziges Examen, dazu wollte ich nicht blos zur Noth vorbereitet sein, das sollte keine Ostentation x ) V g l . m e i n e Kritische Bibliographie der Flugschriften zur deutschen Verfassungsfrage 1848/51 m. 5 7 5 und 7 5 2 . 2 ) F ü r die Übermittlung einer Abschrift aus dem leider s e h r wenig ergiebigen Nachlaß habe ich der Witwe Ludwig Aegidis aufrichtig zu danken.

67 sein, sondern wirklich eine Anerkennung wirklichen und auffassenden Wissens. Mein Freund Meyer versuchte vergebens, mich dahin zu bewegen, rasch und in einer gewissen trefflichen Weise »oberflächlich« das ganze Gebiet zu durchstreifen, die Examenarbeiten sodann, zu denen allerdings Zeit und freierSinn gehört, zu absolviren, und nach der Promotion jene tieferen Excursionen in die Geheimnisse der wissenschaftlichen Welt anzutreten. Mir schien das damals unwürdig und mit meiner Ehrfurcht vor der Wissenschaft unvereinbar. Ich ahnte nicht, daß mir Bewegung so nahe bevorstand, welche für wissenschaftliche Forschungen so wenig Spielraum bieten würde, und daß dann Jeder mit dem zufrieden sein würde, was er sich bis dahin erwarb. Hätte ich 1847 im Sommer promovirt, so würde ich vielleicht oder wahrscheinlich dasselbe jetzt treiben, aber ich bedürfte dieser Rechtfertigung nicht. J a , es ist naheliegend, daß ich vom 22. März; bis zum heutigen Tage eine Karriere, was man so nennt und was ich (außer im Hinblick auf die gerechten Anforderungen meines lieben Vaters) gründlich verachte, gemacht haben würde, die vielleicht bei 23 Jahren in Deutschland wenigstens keiner vorgemacht hat. — Genug, die Bewegung traf mich unexaminirt. Die Arbeiten zur Promotion, die ganz speziellen, erfordern in Bausch und Bogen ein J a h r ; dieses Jahr habe ich mich bis jetzt noch nicht entschließen können, dran zu geben. Und zwar erstens aus einem richtig verstandenen Egoismus — ich kann zu jeder Zeit jene wissenschaftlichen Arbeiten aufnehmen, zu j e d e r Zeit und nach einem Jahr bin ich dann Dr. utriusque. Das, was der Mithandelnde, mit Leib und Seele Mitlebende von der Gegenwart stündlich lernt und nur lernt, wenn er mit ganzem Herzen dabei ist, das läßt sich niemals nachholen, niemals! Die politisch reifen und großen Nationen haben nur deshalb solche eminente Charaktere hervorgebracht, weil sie aufwuchsen mit einer gewaltigen Zeit und vom Leben lernten. Wir Deutsche waren das Volk der Bücher. Das ist die Hochschule des Lebens, die ich jetzt frequentire. Wenn ich über kurz oder lang meiner Wissenschaft mich wieder widme, dann mögen Diejenigen, welche inzwischen bei den Büchern und Akten gelebt, nur nicht meinen, sie hätten einen Vorsprung! Jene Monate und Jahre geben mir eine Kraft, wie sie nur der Sohn eines freien und mündigen Volks in sich trägt. Das war mein egoistischer Grund. Aber nun habe ich mir ein kleines Maas von Erkenntnis erworben; ich bemerke, wahrhaftig ohne mich zu

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68 überschätzen, wie die handelnden Personen entweder dieser Erkenntnis ermangeln, oder wie sie damit nicht durchdringen. Ich sehe mein Vaterland in Gefahr, bedroht von Unehrlichkeit, von der ich mich rein weiß, von Bornirtheit, die ich übersehe, von Ungeschicktheit, der ich überlegen bin — sage, theuerste Tante, aus Deinem weiblichen Gefühl heraus, kann ich wissen, ob ich jemals die dann allerdings noch vermehrten Kräfte zur Anwendung bringen werde ? ob nicht vielmehr die Gefahren so steigen, daß späterhin das Dreifache an Kräften nicht D a s vermögen, was jetzt meine, wenn auch geringen Fähigkeiten lösen helfen? Genug, das Vaterland ist in Gefahr; ich sehe mit klarem Auge, wo die g r ö ß t e Gefahr droht; ich erkenne, daß ich w e n i g , aber dieses w e n i g e sicher und gewiß leisten kann. — Muß man sich noch entschuldigen, daß man alles, alles an den Nagel hängt, und mit der Glut der Begeisterung, welche die Liebe zur Freiheit und zum Vaterlande eingibt, unter die Fahnen eilt? Wer hat es 1813 den jungen Leuten verdacht, die auf 2 bis 3 Jahre ihre Karriere unterbrachen ? Es waren auch nicht alles Feldherren; so entstand ein Heer. Es ist jetzt eine Campagne, wo noch mehr auf dem Spiele steht; die Unabhängigkeit von fremden Nationen, die Ehre des Volkes nach Außen; dann die ganze große Sache der Freiheit, für die das Herz geschlagen hat, solange das Hirn dachte, und für die das Herz schlagen wird, bis es ausgeschlagen hat; auch wenn man den Democraten und democratischen Constitutionellen, oder wie die ganzen und halben Gegner heißen mögen, männlich gegenüberstand zeitlebens. »Nun wirst Du sagen, ich hätte meiner innern Ausbildung wohl gedacht und auch meiner Pflichten gegen das Vaterland nicht vergessen, aber meiner nächsten Pflichten gegen den Vater, dem ich die Beruhigung gewähren mußte, mich in einer ehrenvollen Lebensstellung zu sehen. Du kannst Dir denken, daß es mir hart ankommt, das so dürr zu besprechen. Aber Ihr Lieben, ich bin Euch fremd geworden; ich muß Euch Alles sagen. Ich weiß von meinem Vater, daß ihm meine innere Ausbildung, mein wirkliches Wachsen und Gedeihen im Geist und in der Wahrheit über Alles geht. Doch, wie ich im März das Ding anfaßte, als ich meine Arbeiten mit des Vaters Zustimmung bei Seite legte, so war auch Aussicht, daß den Wünschen des Vaters vollkommen genügt würde. Ihr wißt, daß ich in das Ministerium eintrat. Meint nicht etwa, daß jene Aussicht, die nur im H i n b l i c k auf m e i n e k i n d l i c h e n P f l i c h t e n f ü r m i c h

69 Wert h a t t e , eitel war. Durchaus nicht! Statt eines flüchtigen Examens hatte ich Gelegenheit, t ä g l i c h ein Examen zu bestehen. Es ist albern, von ersten Versuchen zu reden; doch meine Denkschrift über Posen hat den Verhandlungen der Frankfurter Versammlung zu Grunde gelegen und ist nicht ohne Einfluß auf die günstige Entscheidung geblieben; es gehörte dazu doch mehr als eine Feder und Stylfertigkeit; Arnim (Freiherr) fand es gut, sie nach London, Paris, Brüssel übermitteln zu lassen — Genug!!! Fragt ihn aber, was diese Aussichten störte ? Der einfache Umstand, daß ich am 9. November meine sämtlichen Hoffnungen an den Nagel hing, auf allen Dank verzichtete, jede Aussicht zerstörte, indem ich aus dem Ministerium austrat. Ich war bereits vom Grafen Dönhoff im auswärtigen Ministerium warm empfohlen, als ich ihm für seine Gunst herzlich danken kam und jener Ehrenmann bedauerte, daß »Gesinnungstüchtigkeit« ein so verbrauchter Ausdruck war. Du kennst meine Ausfälle auf die Nationalversammlung; sie war mir ein Greuel. Und dennoch, weil die gegen sie angewandte Politik von der Art war, daß ich daran mich zu betheiligen unter der Würde fand, gab ich alles auf, was ich hatte. Da stand allerdings meine Kindespflicht auf harter Probe. Denn mein ganzes Wirken vom März bis November war ja nur ein Dienst um die Rahel und ich hatte noch kaum die Lea. Einen langen Weg hatte ich zurückgelegt und ging ihn zurück. Jetzt war ich wirklich ohne Aussicht — ein Zeitungsschreiber. Am 19. November wurden mir von Minister Manteuffel Propositionen gemacht, wieder ins Ministerium einzutreten. Was das sagen will, kann man nur ermessen, wenn man meine Correspondenzen in der Deutschen Zeitung gelesen hat und weiß, daß dem Minister in jenen Tagen darüber Rapport abgestattet ist. Ich kenne ungefähr die Stellung, die man mir zudachte, sie kommt dem bei, was ich »Lea« nannte; sie hat nachher ein General-Consul eingenommen, jetzt erhält sie ein Regierungsrat; ich war ihr vollkommen gewachsen. Der Vater war natürlich in einer trostlosen Stimmung, mich so ganz leer ausgehen zu sehen. Doch, was recht ist, verdient nicht Lob. Ich weigerte mich gegen den Unterhändler des Herrn v. Manteuffel und wies sogar die Zumutung einer Unterredung mit dem Minister zurück, worin er mit aller Offenheit auf Diskretion mir mittheilen wollte, was sie bezweckten. Ich ahnte, daß der ganze Plan auf die Schlechtigkeit der äußersten Linken, die Grundsatzlosigkeit der Partei Caspary (Rodbertus) und

70 die Charakterlosigkeit der Partei Riedel (Unruh) berechnet war und wollte es nicht von ihm selbst hören. — So kam ich um die äußerlichen Aussichten, so verletzte ich die Rücksicht auf meine Kindespflicht. Nun, liebe Tante Laura, denke Dir, welchen Eindruck jene Anspielungen von Onkel Gustav auf die versäumte Promotion machen mußten, als er schrieb: in Göttingen wären »so und soviel«, ging L(ouis Aegidi) hin, um zu promovieren, dann wären »soviel«! über den Werth Esmarchs, den wahrlich niemand höher stellen kann, als sein treuester und auch sein geliebtester Freund. »Daß ich damals, als auch Kurzsichtige wahrnahmen, in welcher Gefahr sich unser Preußen befand, nicht die Feder niederlegte und Promotionsarbeiten anfing, verdenkt mir schwerlich Jemand. Vor allem mein Vater nicht, so unsäglich schwer ihm jene Anspielungen es machten, das ohnehin drückende Gefühl der Aussichtslosigkeit und Sorge zu bemeistern. Wer im November die Berliner Berichte in der Deutschen Zeitung, in der Frankfurter Oberpostamts-Zeitung und in dem damals noch nicht militairisch redigirten Journal des Lloyd (seitdem er ein unfreies Blatt ist, schreib ich nicht mehr) nach einander gelesen hat, der wird mir Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das Entzücken, womit ein Mitglied von Rodbertus' Partei mir für jene Artikel dankte, war nicht ganz zu verachten; denn jener Mann w u ß t e , daß das ein Artikel eines unversöhnlichen Gegners der grundsatzlosen Partei war, zu welcher er gehörte. Ich habe in jener Zeit alle früher vielleicht mit zu großer Härte ausgesprochenen Urtheile bei genauer Anschauung bestätigt gefunden; der Nimbus um die Nationalversammlung entstand, als die extreme Partei sie ganz unterdrückte und ich sah täglich, je mehr sie sich emporhob, bis Waldeck gegen Unruh im Saal der Stadtverordneten die Faust ballte, den Nimbus schwinden und die Sache, der ich den Sieg wünschte, verloren. Verloren wäre die Sache konstitutioneller Freiheit auch gewesen, wenn die Krone erlegen wäre; die Democratie, welche dann gesiegt hätte, würde von der Krone nicht s o v i e l ü b r i g gelassen haben, als die Krone am 5. Dezember von der Democratie! Dieses allmähliche Auftauchen der Partei Waldeck gegen Unruh, der jenen Beschluß der Steuerdefraudation hintertreiben wollte, obgleich er selbst politisch so wenig gebildet war, nicht einmal zu wissen, daß das gar keine Steuerverweigerung sei!!, schilderte ich damals Schritt vor Schritt in jenen Blättern. — — Ich war in Brandenburg; ich sah das niederträchtige Benehmen

71 der Linken im Dom am i. Dezember, und am 3. Dezember saß ich an meinem Schreibtisch und schrieb an die Deutsche Zeitung, was ich meinte, daß geschehen müsse: Die Versammlung war in sich unmöglich geworden; nach jener Komödie und dem tollen Beschluß, die Stellvertreter einzuberufen, denn die dableibende Minorität hoffte, v o l l e n d s ; also Auflösung. Dann aber? Anordnung neuer Wahlen? Es existirte keine Constitution, keine Gewähr der Verheißungen, nichts als die Nationalversammlung. — Sie auflösen und tabula rasa lassen, das war unmöglich. Dann mußte ein ungeheures Geschrei von R e a k t i o n entstehen. Ferner, die Schuld des Mißlingens trug zwar größtentheils die Versammlung, aber weit weniger die Mitglieder einzeln, mit Ausnahme der schamlosen Wissenden auf der äußersten Linken (zu denen Kühr, wie mir scheint, nicht gehört), als das V e r h ä l t n i s der Versammlung, nämlich 1. daß der Staat C o n s t i t u t i o n e n ohne C o n s t i t u t i o n sein sollte, also ein unerklärlich wüstes und wirres Durcheinander von Absolutismus und Democratismus! 2. daß nur eine Versammlung einmal entschied. Ich kam daher darauf hinaus, daß mit Auflösung der Versammlung auch die inneren Gründe beseitigt würden, welche ihren Verfall herbeigeführt und eine Constitution gegeben würde, jedoch mit der ausnahmsweisen Anordnung, daß die Revision nicht wie in allen Verfassungen mit 2/3 Mehrheiten, sondern mit einfacher Mehrheit vorgenommen werde. Sollte die Willkür von Oben und von Unten aufhören, so mußten wir uns schleunigst auf einen festen Boden retten; der war gegeben, wenn der Entwurf der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g vom K ö n i g e verkündigt wurde und die Basis weiterer Reformen ausmachte. So schrieb ich am 3. Dezember, am 5. traf mich wie ein Donnerschlag das Geschehen dessen, was ich für die Rettung gehalten. Am folgenden Morgen war ich bei Alfred Auerswald, welcher zu vermitteln versucht hatte, jenen Aufruf der Rechten an das Volk nicht unterzeichnete und von allen Seiten zum Präsidenten der Versammlung nach Unruhs Verzicht bestimmt war. Wir sprachen über die sog. Oktröyirung; ich sagte, daß jetzt alles daran gelegen wäre, daß die Sache richtig aufgefaßt würde; nach Hamburg, nach Mecklenburg hatte ich schon geschrieben; im Rosenberger Kreise sollte ein Volksblatt herauskommen; ich sagte: dazu will ich Ihnen etwas über die Oktröyirung schreiben. Auerswald legt mir einen Bogen hin, ich sitze, schwatze, frühstücke und schreibe »Warum der König« etc. meine eigensten Gedanken für das R o s e n b e r g e r

72 Lokalblatt. Einen Tag darauf erfuhr ich, daß man zusammengelegt hatte und 30000 Exemplare davon abgezogen waren. Mir konnte es recht sein. Denn was ich am 3. Dezember für eine Rettung ansehe, das wird mir doch am 6. Dezember zu rechtfertigen, ja zu preisen nicht verdacht werden, wenn es am 5. Dezember von einem Ministerium, mit dem ich nichts zu teilen habe, in Ausführung gebracht ist ?! Doch da kommen wir auf die ganze Anschauungsweise der Zeit zu sprechen. Erlaube mir, daß ich eine dringende Arbeit mache und dann zu diesen Zeilen zurückkehre. Ich will aber für meine Parlaments-Corespondenz die Nothwendigkeit beweisen, zur ersten Kammer w a h r h a f t f r e i sinnige Männer (natürlich nur aus unserer Partei, keine Demokraten) zu wählen. Noch einmal, wie wählen wir zur ersten Kammer? den 8. Februar. »Ehrliche Leute werden jetzt Gegner, weil sie darüber uneins sind, von woher die Gefahr kommt. So geht es uns auch. Wenn Ihr so fest und unerschütterlich überzeugt wäret, wie ich es bin, daß alles Unheil, wozu auch die Reaktion gehört, nicht von Oben, sondern von Unten kommt, dann würdet Ihr es wohl bleiben lassen, Euch zu der sogenannten demokratischen Partei zu halten. Und wenn ich so davon durchdrungen wäre, daß alles Unheil, wozu auch Revolutionen gehören, nur von Oben nicht von Unten kämen, dann würde ich schwerlich mich zu der sogenannten reaktionären Partei halten, »sogenannt« sage ich beide Male, denn meine Partei ist ebensowenig reaktionär, als die E u r i g e demokratisch ist. Es stecken zwar unter meiner Partei die Reaktionairs und Ultras, und auch unter Eurer Partei die Anhänger der democratischen Republik, aber die echten Democraten sind unter Eurer Partei verhältnismäßig eben so wenig, als rothe Reaktionairs in der meinigen. Das Wort »Demoeratisch« bedeutet für die meisten jetzt ungefähr dasselbe, was unter dem ancien regime »liberal« hieß; es ist das Wort der Opposition geworden. Denn die wahre Democratie für einen Staat von der Größe, dem Bildungspunkt und den mannigfaltigen Bedürfnissen wie Preußen oder gar ganz Deutschland zu verlangen, wäre gar zu sehr abgeschmackt; als Republik kann ich mir Preußen und Deutschland denken, wenn es auch mein Ideal nicht ist, aber als Democratie kann ich mir kaum noch einen Staat Tilsit vorstellen! Genug, ich weiß was Ihr unter »democratisch« versteht, nicht einmal die Republik, noch viel weniger

73 die Democratie, sondern den m o d e r n e n Liberalismus. Nun, von diesem modernen Liberalismus bin ich d e r e r k 1 ä r t e G e g n e r, und diese Gegnerschaft steht so wenig mit meiner ganzen Lebensrichtung, so weit ich sie verfolgen kann, im Widerspruch, daß ich vielmehr alles, wofür ich je geglüht, und wonach ich heiße Sehnsucht in der Brust getragen, vergessen müßte, könnte ich auf der sogenannten demokratischen Seite stehen. Du erwähnst in Deinem Briefe, daß die democratische Partei bei Euch offen und ehrlich zu Werke gehe, dagegen meine Partei zu den allerverwerflichsten Mitteln greife. Meine liebe Tante, ich habe, wie ich Dich versichern kann, nie geglaubt, daß Du mir eine Schlechtigkeit zutrauen kannst, wenn ich auch wirklich meinte, Onkel Gustav wäre in der Parteileidenschaft soweit gegangen. Also wirst Du mir zutrauen, daß ich jene verwerflichen Mittel a u s g a n z e r S e e l e v e r a b s c h e u e . Deshalb, weil meine Partei sich in Eurer Gegend, in meiner lieben Heimath, so gemein beträgt, ist aber die Sache, die ich vertheidige, nicht um ein Haarbreit schlechter. Daß die Democraten dort offen und ehrlich auftreten, macht ihnen viel Ehre; so haben dieselben sich ihrer Genossen in Berlin, in Sachsen, in Schlesien, am Rhein, in Frankfurt, in Baden, in Thüringen, in Hessen, in Wien, in Paris und Rom ebenso zu schämen, wie ich meiner Genossen in Tilsit. Übrigens gewinnt die Sache der democratischen Partei, weil sie manche ehrliche und ehrenwerthe Anhänger hat, in meinen Augen nicht, denn diese ehrenwerthen Personen sind es durch eigenen, inneren Werth; ihre Sache ist entweder unklar oder verwerflich. Der alte Liberalismus in Preußen und im übrigen Deutschland trug ein sehr charakteristisches Gepräge. Er wollte die politische R e f o r m im Gegensatze zur R e v o l u t i o n , den sittlichen und gesetzlichen, keinen gewaltthätigen und verbrecherischen Fortschritt. Es ist nicht die Schuld des Liberalismus, wenn die Sittlichkeit im Volke so sinken konnte, daß der gesetzliche Fortschritt lächerlich wurde und wenn es später zur Revolution kam. Er hatte die Revolution niemals gewollt, wohl aber eine ihm nachdrängende Partei, die sogenannten R a d i k a l e n , die jetzt sogenannten Democraten. Meine politische Stellung, so lange ich denken kann, war auf liberalem Standpunkt; und mit Leidenschaft habe ich mich immer gegen den unwürdigen Verdacht erklärt, den mitunter die Eltern hatten, als huldige ich dem R a d i k a l i s m u s . Im Gegentheil, mitunter wußte ich kaum, ob ich die Gegner der ersehnten und erstrebten Freiheit oder

74 die falschen Freunde der Freiheit, die Radikalen, m e h r hassen sollte. Und jetzt will man von mir verlangen, ich sollte radikal oder, wie es nun heißt, demokratisch sein? das wäre doch wohl ungeheuer inkonsequent! — Der alte Liberalismus hatte, eben weil er Umwälzung und Anarchie nicht wollte, ganz bestimmte Ziele und politische Zwecke. Er wollte für Preußen, daß es eine Constitution erhielte, daß die dadurch begründete Repräsentation des Volkes wirkliche und wesentliche Rechte besitze, daß die Volksfreiheit in Rede, Presse, Vereinigung durch vernünftige und ehrliche Gesetze hergestellt werde, daß ein kräftiges Strafgesetz den Mißbrauch der Freiheit ahnde und nicht, wie damals, Censur und Verbote das Verbrechen v e r h ü t e t e n ; ferner, daß das Heerwesen im Geist und Sinn der Landwehr geordnet werde; daß die Allmacht und Willkür der Beamten gebrochen werde, daß eine vernünftige Vertheilung der Steuern nach dem Einkommen stattfinde und daß ernstlich daran gegangen werde, sowohl durch reelle und große Staatsbauten momentan als auch bleibend der sozialen Bedrängnis eines wachsenden Proletariats abzuhelfen. Endlich stellte der alte Liberalismus als Ideal auf, die feste Vereinigung von ganz Deutschland zu Einem Staat, Preußen an der Spitze. An das Gelingen dieses letzteren glaubten Wenige; niemals habe ich daran gezweifelt, selbst noch als Gervinus ungläubig das Haupt schüttelte. — Glaubst Du, liebe Tante, ich ließe mir auch nur einen einzigen Punkt von jenen Dingen streichen? Vielmehr sind jene Güter der Freiheit und Wohlfahrt, die ich bis ins feinste Detail weiter ausführen könnte, in meinen Augen himmelhoch im Werth gestiegen und meine Forderungen sind angesichts der lebendigen Praxis in vieler Hinsicht gestiegen, z. B. in Bezug auf das Wahlrecht und die Deutsche Verfassung. Du wirst mir entgegenhalten, die meisten dieser Dinge sind noch nicht erreicht. Ich höre nicht auf, nach dem V i e l e n , was uns fehlt, zu streben. Du schreibst etwas, das ich nicht recht verstehe, ich beriefe mich auf das h i s t o r i s c h e Recht und vergässe das N a t u r r e c h t ? Wenn Du mit »Naturrecht« gemeint hast, was eine Sekte der alten Liberalen, zu denen z. B. Welcker und Rottek gehörten, darunter begriffen, nemlich das Recht und die gerechten Forderungen der sittlichen Natur im Menschen und der sittlichen Ordnung des Staats und überhaupt in der bürgerlichen Gesellschaft, dann erwidere ich, daß ich dieses Naturrechts nie vergessen habe. Die Aufgaben und höheren Anforderungen des Volks,

75 der Nationalität, des Menschengeschlechts, werde ich nie aus den Augen verlieren. Ein historisches Recht, welches unsittlich, veraltet, tyrannisch auf der Gesellschaft lastete, würde ich mit allen Mitteln zu beseitigen trachten, freilich nur mit sittlichen und vernünftigen Mitteln. Denn griffe ich zu jedem p a s s e n d e n Mittel, so wäre ich Jesuit, und die Jesuiten der Freiheit sind die schlimmsten; sie verderben und vergiften uns die Freiheit. Ein wirkliches Gesetz, also insofern ein historisches Recht, kann nichtgleich ohne Weiteres deshalb u n g ü l t i g werden, weil es veraltet oder unvernünftig ist, sonst würde eine heillose Rechtsunsicherheit und Rechtsverletzung eintreten, weil Jeder das Recht des Andern, das ihm unbequem ist, für unvernünftig oder veraltet, also für abgeschafft erklären könnte und sodann der Mächtige Recht behielte, d. h. Gewalt für Recht gelte. Das kann mir also nicht zum Vorwurf gereichen, daß ich die ewig wahren Forderungen, welche Du »Naturrecht« nennst, nur in sittlicher und gerechter Art erfüllt wünsche? »Freilich ist jenes Programm der alten Liberalen lange noch nicht verwirklicht, und dennoch samt und sonders stehen sie jetzt auf der Rechten, oder wie man die Partei nennen will, welche der democratischen entgegengesetzt ist. Mich wundert, daß, wenn Ihr Lieben mir Inconsequenz und Untreue gegen frühere Grundsätze schuldgebt. Euch nicht aufgefallen ist, daß beinahe alle namhaften Männer der alten Opposition, nicht etwa bloß Aristokraten (!!) aufgehört haben, Opposition zu machen, daß dagegen viele verrottete Büreaukraten, Pietisten, Ultramontane (Waldeck) und Speichellecker (Mathematiker Jacobi) democratisch geworden sind. Wenn wir uns dies Räthsel auch verschiedentlich lösen, des Nachdenkens Werth ist die Erscheinung ganz gewiß. Also alle diese Männer, Gervinus, Welcker, Bassermann, Sylvester Jordan, Gagern, Lerchenfeld, Camphausen, Beckerath, Beseler, Dahlmann, Mevissen, Pfordten, Braun, Biedermann, Römer, Pfizer, Duvernoy, die meistentheils noch rüstige, ja, junge Männer sind, welche die Häupter der Deutschen Oppositionspartei, jetzt Gegner der Democraten — sie sollten alle treulos und v e r i r r t sein? Ich bin meinen stillen Weg für mich gegangen, in aller Selbständigkeit, aber was mir vorgeworfen wird, das müßt Ihr denen Allen Schuld geben! Und es sollte Euch wirklich schwer werden, eine Liste von Democraten anzufertigen, welche so sittenrein und so verdient um das Vaterland, ja, die Gründer der Deutschen Freiheit sind, wie Jene? Es muß denn doch einen Haken haben, warum jene

76 Männer seit dem März nicht mehr Opposition machen, sondern zur Rechten gehören. Und ich müßte ja geistesabwesend oder abhängig sein, wenn ich nicht wüßte, weshalb ich nicht zu meiner Partei halte. Das Große, was noch fehlt, damit unser liberales Programm erfüllt ist, also z. B. Beschränkung der Büreaukratie, Reorganisation des Heerwesens usw. könnten wir im Bunde mit den Democraten gewinnen. Gewiß. Doch ihre Gemeinschaft würde uns diejenigen Güter des öffentlichen Lebens entreißen, welche für uns einen hohen Werth haben und von denen die Democraten so wenig verstehen, daß es ihnen als Hindernis der Freiheit erscheint, so z. B. die nothwendigen Rechte der Krone, in welcher wir eine Bürgschaft für die Volksfreiheit erblicken, die der Republikanismus vermissen läßt. Wollten wir aber auch mit den Democraten gemeinsam weiter opponiren, so könnten wir doch nicht mit a l l e n Democraten gemeinschaftliche Sache machen. Z. B. würden wir uns in der Nationalversammlung mit Berg und Rodbertus vertragen haben, auch vielleicht mit Waldeck noch, so waren doch, wie Hr. Kühr zugeben wird, in seiner Partei Mehrere, welche ihr zur Vereinbarung einer Staatsverfassung für ein Königreich empfangenes Mandat zur Einführung der Republik mißbrauchen wollten. Mit diesen sich verbünden, wäre doch treulos gegen die politischen Grundsätze gewesen. Aber wie? Waldeck, mit dem man es noch halten wollte, stand ja in ein und derselben Partei mit den Republikanern. Diese hatten wieder ihren Anhang in den Klubs; ein Kollege von Kühr aus dessen Parthei präsidirte, als man im Klub den Mördern Auerswalds das »Verdient ums Vaterland« votirte; wie kann man mit denen gemeinschaftliche Sache machen? Ferner gibt es die mannigfachsten Schattirungen der Democratie bis weit über die Partei des Fallbeils h i n a u s . Es ist also unmöglich, mit der Linken gemeinschaftlich zu handeln, ohne ihren ganzen Anhang zu stärken und zu befestigen. Welche Güter stehn da auf dem Spiel! Wenn es mit der Republik getan wäre — doch welche Hoffnungen, welcher Wahnsinn knüpft sich an dies alterthümliche Wort! Unsere ganze Gesittung, Civilisation und Bildung ist verloren, wenn die Linke siegt. Denn ist sie selbst noch gesittet, civilisirt, so ist sie zu schwach, um dem nachdringenden Chaos Widerstand zu leisten. Und, beste Tante, w e n n sie nur Widerstand leistet, thut sie dann nicht dasselbe, was Du mir jetzt vorwirfst ? Es war ja auch ihr Anhang, wie die Radikalen unser Anhang waren, und sie bekämpft ihn dann? Wir haben aber nie

77 ein Bedürfnis mit den Radikalen gehabt; unsere Besten haben den Radikalismus stets bekämpft; die Deutsche Zeitung, das Organ der Liberalen, ist 1847 i m Juli hauptsächlich gegen den Radikalismus ins Leben gerufen. Sieh, dann müßte die jetzige Linke doch »Rechte« werden und unsern Bund suchen, um, nachdem sie geholfen hat, das Königthum zu stürzen, wenigstens die honnette Republik zu retten. — Nein, Gefahren, unbeschreibliche Gefahren dröhn uns von der democratischen Seite; Ihr Guten seid nur der vorgeschobene Keil Eurer Parthei; Ihr seid die kleine ehrliche H a u t , die auf einem s t ä d t i s c h e n S a h n e t o p f s c h w i m m t ; unten ist Milch und auf dem Grunde Schmutz und allerlei Beimischung! Man braucht nur Euer Organ, die Nationalzeitung, zu lesen, die übrigens, wie mir scheint, jetzt anfängt, unehrlich, d. h. bewußterweise republikanisch zu werden. — Wenn wir es übrigens unterlassen, oft Opposition zu machen, wo es uns ums Herz wäre, da ist uns das Vaterland viel zu theuer, als daß wir mit den Democraten, die schon genug opponiren, uns vermengen und so das Land und viel heiligere Interessen des Landes in Noth bringen sollen. Wäre die democratische Unzucht nicht im Lande, so wäre es weder zu einem Ministerium Manteuffel, noch zu einer Auflösung der Nationalversammlung gekommen, noch säße das Ministerium mit seinem Krieg im Frieden so fest! Aber der Teufel müßte uns plagen, wenn wir, um den geringeren Gegner, von dem sich auf die Dauer garnichts fürchten läßt, entfernen und den Verschwörern und Empörern Thür und Thor öffnen wollten! — — Die Hauptgrundsätze des Liberalismus sind soweit zur Geltung durchgedrungen, daß die notwendigen Staatsreformen im Wege der Gesetzgebung unweigerlich vor sich gehen, wenn nicht die democratische Parthei durch Verrätherei und Übergriffe eine Unterbrechung des Friedenswerks, neue Gewaltmaßregeln oder wol gar völligen Umsturz herbeiführt. Darum ist sie die Feindin der von uns so lange schon erstrebten Freiheit. Unsere Parthei des Liberalismus ist die herrschende seit dem März, auch wenn ein Manteuffel Minister ist und der Belagerungszustand die Regel bildet. Behindert ist die Freiheit nur durch Demagogen und Aufrührer. Sie bieten den für manche Freunde der Vorzeit erwünschten Vorwand zu Beschränkungen und Hemmungen. Diesen Vor wand gilt es zu entfernen. Darum kämpfen wir f ü r die F r e i h e i t auf Tod und Leben, indem wir die Democratische Parthei zu sprengen uns bemühen. —

78 »Und nun noch ein flüchtiger Blick auf die Vergangenheit. Ich habe in drei Ministerien gearbeitet und kenne die geheime Geschichte unserer Staatsverwaltung bis auf einen gewissen Grad aus dem Grunde. Da versieh're ich Dich auf mein Wort; es war durchgehends die r e d l i c h s t e , t r e u e s t e , r ü c k h a l t l o s e s t e B e m ü h u n g für die Volksfreiheit und Volksrechte. Man hat gleich von Anfang geschrien, daß nicht alle Beamten entfernt wurden! Vor allen Dingen, wo die Kenntnis n e u e r , z u v e r l ä s s i g e r Personen hernehmen? Ein Ledru Rollin'sches Nepotensystem einführen ? Und Literaten zu Regierungspräsidenten machen!! Ferner die alten Beamten brotlos machen? Oder woher die Staatsfonds nehmen? Es sind schon bei den nicht zahlreichen Veränderungen schreiende Ungerechtigkeiten vorgekommen ; so wurde an Stelle des freisinnigen und geistreichen General Cosel der Gelbschnabel Griesheim gesetzt, der nun Allen ein Dorn im Aug' ist. Und bot nicht scheinbar die Nationalversammlung die beste Gelegenheit, einige hundert fähiger Männer kennen zu lernen? Doch von denen freilich wäre keiner mit den Posten zufrieden gewesen, welche zu besetzen waren! — •— Wir reden im Vertrauen, ich habe Handbriefe des Königs gesehen in verschiedenen Zeiten, die den sichersten Beweis einer klaren Erkenntniß und einer ganz unerschütterlichen Treue an die neue Ordnung der Dinge lieferten; aber aus allen sprach die Klage über seine Bedrängniß, über die niederträchtigen Pläne der Democratie, über den ungewissen Ausgang, daß bei aller Gewissenhaftigkeit und Treue doch die Democraten siegen und seine Krone sinken würde. Diese Bedrängniß nahm mit jedem Monate zu. •— Die Zeit einer unbefangenen Prüfung ist noch nicht gekommen; ich will nur zwei Beispiele hervorheben, um zu zeigen, wie die bewußten Democraten die große Mehrzahl der unbewußten Democraten, ja, die ganze öffentliche Meinung beherrschten. Zuerst den C a m p h a u s e n s c h e n V e r f a s s u n g s e n t w u r f ; er hatte bedeutende Mängel; die Minister waren darüber völlig im Reinen; insbesondere die erste Kammer war nur ein andeutungsweiser Versuch der Lösung; daß auf die meisten Gesetze nur hingedeutet war, ging darauf, daß sobald als möglich die Arbeit der Nationalversammlung beendigt und die gesetzgebende Körperschaft berufen werden könnte, um diese Gesetze mit zahlreichen andern zu beschließen. Ein so v e r n i c h t e n d e s G e s c h r e i gegen die Verfassung ging von den Gegnern der Constitution überhaupt, von den Democraten aus, aber so groß war ihre

79 Herrschaft über die Gemüther, daß Alles, Alles einstimmte! Der Entwurf konnte leicht als Vorlage benutzt werden; nein, jetzt wurde er ganz beseitigt! — Ein zweites Beispiel solcher Unselbständigkeit der öffentlichen Meinung und ihres Servilismus gegen die Democratie bietet das Urtheil über die Frankfurter Versammlung. Die talentvollsten Democraten Deutschlands sind in Frankfurt auf der Linken. Sie kamen in die Minderheit. Es gelang ihnen weder, den preußischen Staat in seiner Kraft zu brechen, noch die republikanische Form in Deutschland einzuführen; der Reichsverweser war unverantwortlich; auch der Kaiser wird es sein, wenn die R e c h t e nicht durch österreichische Ränke gestürzt wird; endlich war der Aufstand ausgebrochen und das Parlament ergriff die nothdürftigsten Mittel zu ihrem Schutz. Die besiegte Democratie der Paulskirche füllte nun die ganze deutsche Welt mit Schmähungen und Schimpfreden über die Versammlung; daß alle Republikaner und Alle, die gern im Trüben gefischt hätten, einstimmten, das ist natürlich. Aber nein, die große Mehrzahl sprach gedankenlos all die höchst ungerechten Urtheile nach! gemäßigte Männer hatten dieselbe Verachtung gegen das Parlament, wie der Berliner Democratencongreß und der Busenfreund aller Gassenjungen, Arnold Rüge; das arme Parlament hatte nun auf einmal den Fürsten allein gedient; eine geistreich sein wollende Frau schrieb in der Nationalzeitung einen Spottbrief gegen die Reichsversammlung. — O die Deutschen werden sich schämen, daß sie solche Kinder gewesen sind. Ursache zur Unzufriedenheit hatten nur die Republikaner; aber alle Welt war unzufrieden. » So war der große Haufen in allen Dingen der Spielball der Democratie; nannte sich doch Alles »Democratisch«. Aber auf dem Democratencongreß, als die Frage aufgeworfen wurde, ob man ein Mitglied des Congresses und doch für das Königthum sein könne, diente zur Antwort ein allgemeines erschütterndes G e l ä c h t e r . Wie man Democrat sich zu nennen so kühn sein könne, ohne auch nur Republikaner zu sein, das fand man dort unter den entschiedenen Democraten, wo die äußerste Linke der Nationalversammlung äußerste Rechte war, zu sehr lächerüch. Die Mehrzahl der Nationalversammlung ging, ohne es zu ahnen, immerfort am Gängelbande der Democraten. Waldeck selbst war im Anfang ein bloßes Werkzeug; man meint, zuletzt sei er eingeweiht gewesen, ich weiß es nicht. Kühr

80 z. B. war ganz gewiß im Dunkeln; denn ich glaube nicht, daß er im Stande ist, sich zu verstellen. Die Versammlung bot dem achtsamen Beobachter den Anblick, als rutsche Jemand langsam und immer schneller einen Abhang hinunter — nach der entschiedenen Democratie. Mir ist es sehr erklärlich, daß meine Berichte in der Deutschen Zeitung Euch mißfielen, ja, daß die Deutsche Zeitung selbst mißfiel. Ich habe mich gewiß oft in den Ausdrücken versehen; Alles ist schnell und im ersten Aufwallen des Gefühls geschrieben; ich sah mein Vaterland täglich dem Abgrund näher; ich schrieb über die, deren Verblendung und Thorheit, j a deren I n t r i g u e das Verderben beschleunigte; da kann die Verzweiflung und der Unmut mir oft die Feder geführt haben. Es kommt noch Eins dazu: Die Reaktion, was man so nennt, war ohne M a c h t , trotzdem daß Dr. Jakoby von seinen Spionen am Hofe des Königs entweder log oder belogen wurde; denn ich war völlig au fait; doch die Reaktion wurde immer mächtiger; jede Frechheit, jeder Übergriff der Democraten, diese unaufhörlichen Hetzereien und Verschwörungen, was dem Minister kaum Minuten freigab zu den wichtigsten Arbeiten, verstärkte die Meinung und verstärkte die Zahl derer, die meinten, es müsse d r u n t e r g e s c h l a g e n werden; sonst wären bald K ö n i g u n d L a n d verloren. Die Linke von Frankfurt, deren Sendboten im August zu Wittenberg mit der berliner Linken (Jakoby, d'Ester, Reichenbach) Zusammenkunft hielt, war sicher, daß der preußische Staat ihren Plänen keinen Widerstand leisten könne; nur die Armee und der seltsame Umstand waren im Wege, daß selbst die Landwehr, die doch gewiß aus dem Volk ist, trotz aller Bearbeitung doch nicht gewonnen werden konnte. — J a , die gefährlichste Reaktion sah ich fürchterlich heranwachsen, die einzige, welche nicht zu besiegen i s t — i n den G e m ü t h e r n . Schon war die Freiheit, wegen der schändlichen Wirtschaft, die mit ihr getrieben wurde, den trefflichsten Menschen ein Greuel und zum Ekel. Ich habe damals an mir wol erprobt, daß ich von der Freiheit nicht lassen kann; in den letzten Septembertagen der Deutschen Zeitung stehen meine Worte gegen Blittersdorff wol als ein Beleg, daß ich einer Untreue gegen die Freiheit nicht fähig bin. — Wenn jene Reaktion in den Gemütern um sich griff, dann konnte es zu einem Despotismus kommen, den das Volk nicht nur duldet, sondern f o r d e r t , und zwar nicht bloß die Bourgeoisie, sondern das müd und matt gehetzte Volk selbst. Einige Leute dachten schon, es könnte nicht eher Ruhe

81 sein, als bis die Republik da wäre; also die Republik aus N i h i l i s m u s ! Eine Republik mit Diktaturen und Belagerungszuständen!! — Das sah ich; das war eine wahre Gefahr für die Freiheit. Und woher kam sie ? Von der Democratie. Und was that dagegen die Nationalversammlung. Sie drückte ein Auge zu. Auf Uhlichs Antrag wies sie den Schutz der Bürgerwehr zurück, den sie erst in den November tagen annahm. Das Tumultgesetz — ich war ja Zeuge des Doviat-Bauerschen Mordanfalls auf das Ministerhotel, wo nur die Geistesgegenwart und Kühnheit der Constabler uns rettete — schob die Versammlung auf die lange Bank. — Dafür ging sie aber mit Riesenschritten jene Bahn, welche die Nationalzeitung, als Affe, der die Kastanien holt, immer forderte — D i e S o u v e r a i n e t ä t der V e r s a m m l u n g festzustellen, d.h. die Vereinbarung zu vernichten, d. h. den König e i n s t w e i l e n , bis m a n ihm Rechte v e r l i e h e n haben würde, suspendiren. Als ob ein von einer Volksversammlung suspendirtes Königthum jemals wieder aufkommen kann! Mirabeau hat so warme Worte für das absolute Veto und andere n o t h w e n d i g e Rechte der Krone gesprochen; doch er selbst hatte die Krone gestürzt; es war zu spät, sie zu stützen; das Verderben ging seinen Gang. So sah ich es in der Nationalversammlung gehen. Ach und wieviel kleiner waren die Geister als 1789! Dieser Fant Rodbertus und Berg! Die einzig ächten Revolutionairs: W a l d eck, d'Ester, Bucher. »Am 7. September habt Ihr gewiß und unzählige Gute nichts Anderes gemerkt, und das einfältige Centrum hat nichts Anderes gewollt als gegen den »reaktionairen Geist« im Heer drunter zu fahre» und vielleicht das Ministerium zu stürzen. Zu dem Sturz trug BülowCummerow mit dem Junkerparlament, die Hansemanns wüste Reform-Idee haßten und die mit Reichenbach und Jakoby complottirten, das Meiste bei. — Doch die Linke, d.h. die E n t s c h i e d e n e n (nicht ihr Troß, nein, guter Kühr, ein nobler Gentiemann Rodbertus, nein) und a u c h wir wußten, worum es sich handelte. Das große Prinzip sollte durchgefochten werden, daß die Versammlung an der Regierung nicht b l o ß d u r c h K o n t r o l l e , sondern a k t i v sich betheiligt und der König nicht etwa bloß gegen Gesetze, sondern gegen j e d e n Beschluß der Nationalversammlung, auch in Regierungssachen, nur durch sein Veto sich wehren kann. Und auch hiermit, wie lange! Das war die Souverainetät der C o n s t i t u i r e n d e n . Bücher nannte es M e i n e c k e , Festschrift.

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82 damals »naiv«, an die V e r e i n b a r u n g und den Rechtsboden vom 8. April zu erinnern, den jetzt die Democraten vertheidigenü SchulzeDelitzsch sagte, daß wir noch gar nicht in einem constitutionellen Staat leben. Dennoch sollte das Heer Constitutionen sein und Jeder Unconstitutionelle hinaus! Gegen den König gab es schon den constitutionellen Staat, aber nicht f ü r ihn. Doch die Versammlung wollte ja nur a l l m ä c h t i g sein, bis die Verfassung fertig wäre ? Wohl, wenn aber die Versammlung schon das Königthum v o r f a n d , so konnte sie mit ihrer A l l m a c h t es nur s t ü r z e n ; aus ihrer A l l m a c h t konnte mit Naturnothwendigkeit dieses Königthum, das constitutionelle, das democratisch-constitutionelle, das demokratische Königthum (oder wie Ihrs nennt) niemals hervorgehn. Die Republik und eine unvorbereitete, eine d e s o r g a n i s i r t e mußte die Folge sein. Die Blinden und Tauben wären durch einen Handstreich republikanisch geworden. »Hätte die Regierung am 7. September die nöthige Macht gehabt, hätte sie nicht in dem redlichsten Vertrauen auf die W a h r h e i t s liebe und E h r l i c h k e i t der Nationalversammlung sich aller militairischen Mittel entblößt, so wäre die Nationalversammlung am 10. September a u f g e l ö s t worden. Ich weiß darüber kein Faktum; aber das ist meine Überzeugung. Und zwar von Rechts wegen. Keine Regierung, wie kein einzelner Mensch, braucht sich ruhig morden zu lassen. Das Recht der N o t h w e h r hat die Krone im Falle der Verzweiflung wie jeder Privatmann, wenn er räuberisch überfallen wird. Aber das ist eben der sichere Beweis, wie überaus thöricht es jjist, der Reaktion alle Schuld beizumessen; denn die Regierung war ja v ö l l i g u n v o r b e r e i t e t . Jetzt allerdings sah man ein, daß auch die gemäßigte Partei der Nationalversammlung im Dienste der Linken, völlig u n z u v e r l ä s s i g und ohne feste politische Grundsätze sei. Jetzt sah man sich danach um, die Krone zu retten, entweder die Krone mit der Nationalversammlung oder gegen die Nationalversammlung. Jetzt begann die Zusammenziehung von Truppen um Berlin. Ihr nennt das »Reaktion«; es wird dagegen g e t o b t , daß dasKönigthum nicht das Schaaf war, sich geduldig ans Messer zu liefern, sondern sich auf Bajonette stützte, weil die Geister, denen sie vertraut hatte, vom politischen Irrsinn befallen waren. Nennt es »Reaktion«. Eine solche Reaktion, die sich dann an den Volksrechten nicht im Mindesten vergreift, die nur rettet, eine solche Reaktion will ich vor dem

83 gerechten Gericht der Geschichte verantworten. Verantwortet Ihr, die nicht grundsätzlich das Königtum abgeschafft haben wollt, verantwortet Ihr Euren Zorn über die Rettung desselben •— wenn Ihr könnt! Ich verstehe diese Widersprüche nicht. Seit dem 7. September wurden die Truppen schlagfertig um Berlin herumgezogen. Warum das nicht o f f e n sagen? Ist denn das Blut von Menschen n i c h t s werth? Ein A u f s t a n d würde die Antwort gewesen sein. Und noch etwas. Das Ministerium, welches auf dies alles gefaßt sein mußte, hoffte noch eine Genesung der Versammlung. Ich selbst hoffte sie und habe oft dem Grafen Dönhoff, der mitunter verzagen wollte, zugeredet, es werde noch alles gut werden. Die Partei Rodbertus schien ganz mit der Partei Waldeck und Temme brechen zu wollen. Besonders als jene Partei keinen Unwillen über den Frankfurter Mord empfand, um nicht mit den Bundesgenossen vor der rothen Republik sich zu überwerfen. Während dessen rühmte die »Reform«, die sich ein Organ der Linken der Nationalversammlung nannte, und an der Viele mit arbeiteten, die Mörder. Nun dachten wir, es kommt zu keiner Auflösung, Unruh besonders war in fortwährendem Verkehr mit den Ministern; er ist ja ein so loyaler Mann, nur ohne Charakter und namentlich ohne feste politische Überzeugung und klare Einsicht, der auch das Königtum will und doch von dessen Lebensbedingungen, z. B. vom absoluten Veto, nichts hören mag und am 7. September für die Pflicht der Minister (also des Königs) zum Gehorsam gegen die Versammlung stimmte! — Der Armeebefehl war zwar n i c h t s weniger als eine Ausführung des Beschlusses vom 7. September, vielmehr buchstäblich eine Ausführung des Tamnauschen Antrages, der am 7. September verworfen worden war, wobei das f ü r denselben stimmende Ministerium Auerswald stürzte! Doch die Linke machte so, als ob sie siegte und alles war in Fried' und Freude. Wäre statt des altersschwachen Pfuel, der die ganze Sache im entscheidenden Moment, wo alles im besten Sinn ohne Schwertstreich sich gelöst hätte, schmälich verließ und so die Veranlassung zu Brandenburgs Berufung, zur Adoption des Kriegsplans und zum Zerhauen des Knotens durch sein Desertiren wurde, Bonin gleich Ministerpräsident gewesen, dann würde der Knoten nie zerhauen, sondern friedlich gelöst worden sein! Der democratische Congreß, dessen Ehrengäste Waldeck und Schlöffel usw. gewesen, hatte sich namentlich vor der heißblütigen unteren Bevölkerung

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84 Berlins, die auf ihn wie auf den Messias wartete, g r ü n d l i c h b l a m i r t , und meine flehendliche Verwendung an die Minister, i h n j a n i c h t zu v e r b i e t e n oder zu b e h i n d e r n , bereute ich auch da nicht, als die sogenannte Linke des Congresses, die »dunkelrothen«, mit einigem Geld einen Aufruhr machten, während Waldeck und Rodbertus in der Nationalversammlung wie die Verrückten für Wiens Befreiimg zeterten, wo die durch ungarischen Antrieb empörte G r u n d s u p p e der Bevölkerung eben die Stadt auf das entsetzlichste brandschatzte (wovon freilich Hr. Volkmar, ein Hauptarbeiter der Nationalzeitung n i c h t s w i s s e n , d. h. nichts e r f a h r e n wollte!). Freilich, das konnte ich nicht ahnen, daß mein ganzes Ministerium durch Pfuels Altweiberwankelmuth über Nacht kippen und statt eines eclatanten moralischen Siegs seine Entlassung nehmen sollte. Nun kam Brandenburg: Der Kampf gegen die Nationalversammlung mit ziemlich grotesken Mitteln begann; Ihr wißt das Übrige; Ihr wißt, daß ich den Schlachtplan, welchem sich Manteuffel u n t e r w o r f e n resp. zum Opfer brachte, mißbillige. Und zwar, weil er, auf die s c h l e c h t e n und s c h w a c h e n E i g e n s c h a f t e n der Menschen richtig berechnet, die Schwachen mit den Schlechten auf E i n e Seite drängte, das Centrum, dessen Fehler bloß die Charakterlosigkeit war, auf die Linke schob und so mit dieser Linken wirklich gute und sittliche Elemente sich mischen ließ, vielmehr den Anlaß zu solcher Mischung bot. Jeder gesunde Politiker mußte eine Politik verwerfen, wobei nicht die Linke gesondert von dem Centrum, Schlecht getrennt von Gut, behandelt wurde. Die Schwäche und die Schlechtigkeit der Gegner, die Treue und Hochherzigkeit des Volkes, das unwandelbar Steuern brachte und das sich in der Haltung der Landwehr (mit geringer Ausnahme) bewährte, endlich aber die an sich gerechte Sache der Krone gaben ihr den Sieg. — Du gibst es vielleicht schon auf, mich noch zu fragen, warum ich meine Mißbilligung der Regierung nicht offen an den Tag lege, warum ich scheinbar damit im Widerspruch mich sogar bemühe, die Wahlagitation der Rechten und des sogenannten Rechten Centrums zu fördern ? Die Antwort ist bei der Hand: Weil die Democratische Partei in ihrer Weise, mit der ihr eigenthümlichen Taktik und auch in ihrem Sonderinteresse dagegen opponirt und weit weniger Gefahr ist, wenn das Ministerium bleibt, als wenn die Democratische Sache Aufwasser erhält. Ich kann diesen Bundesgenossen nicht dulden. J a , wäre die Democratie m a c h t l o s , da fände sich vielerlei Grund, Opposition zu

85 machen. Doch, wenn das Haus brennt, läßt man nicht das Ciavier stimmen! — Ganz augenscheinlich aber war bei dem Conflikt im November, wie die ehemaligen Radikalen, jetzigen Democraten, unsre Freiheit zu Grunde richten. Im Anfang hatte die forttagende Mehrheit der Nationalversammlung alle Sympathien. Und Warum? Weil die unconstitutioneüe Parthei verstummte. Hätte die Nationalversammlung mit einem Protest im Schauspielhause geschlossen, es wäre völlig unmöglich gewesen, sie a u f z u l ö s e n . Das Militair wäre geblieben, das M i n i s t e r i u m wäre aufgelöst, Vincke hätte ein neues gebildet (oder sonst Einer) und, ohne daß die Krone erschüttert worden wäre, hätte die c o n s t i t u t i o n e l l e F r e i h e i t einen glänzenden Triumph gefeiert. Ich erwartete diesen Ausgang, denn mir schien, ebenso wie die Nationalversammlung die Krone geschwächt, werde jetzt die Krone den Faktor der Volksvertretung herabsetzen, und ich mußte das Gleichgewicht beider Gewalten der Gesetzgebung, ich mußte die ungeschmälerte Regierungsgewalt der Krone und das Recht der Controlle durch die Volksvertreter wünschen. Einen solchen friedlichen aber großen Sieg suchte — — ein Mitglied der e n t s c h i e d e n e n R e c h t e n herbeizuführen, das nie mit der Linken gestimmt, Grabow. Doch die Parthei Waldecks hatte sich um c o n s t i t u t i o n e l l e F r e i h e i t nie gekümmert: Als wir Alle tief betrübt waren, da strahlten die Gesichter der politischen Freunde Kührs (?) — denn nun ging es los! Und die Krone hatte angefangen! Sie hatten, was sie lange wünschten, und konnten doch ihre Hände in Unschuld waschen. Die Parthei Rodbertus war auch nur halb ehrlich, in Ministerhoffnungen getäuscht und sowohl sie als die Parthei Unruh v e r s t a n d nichts von constitutioneller Freiheit. So wurde durch Übertreibung und Unsitte unsere Sache mit Füßen getreten. Der thörichte Abge ordnete von Rodbertus' Parthei, der zu mir sagte, als ich aussprach, die Entscheidung werde das Land treffen: »Ja, möchten sich nur die Provinzen erheben und im Sturm auf Berlin marschieren«; ich antwortete ganz trocken, daß ich diese Romantik des Aufruhrs nicht im Sinn gehabt habe. Natürlich gab die Steuerdefraudation und die Verbindung mit den Ultra's der Democratie das ganze moralische Gewicht der Krone; sie m u ß t e siegen, wenn unser Volk nicht so gesunken und schlaff war als die Nationalversammlung. »Ebenso erbärmlich sind die Pläne der Opposition jetzt gegenüber der Verfassung und verfassungsmäßigen Revision. Dieselbe

86 Linke, welche die Vereinbarung nicht genug zu verspotten wußte, stellt sich jetzt auf den Rechtsboden. Den französischen Convent hat man travestirt, jetzt wird der Vereinigte Landtag mit den Vorbehalten ungeschickt und ohne Sinn parodirt. Nein, diese Parthei hat sich selbst gerichtet. »Dagegen kommt nun Alles darauf an, daß die Rechte den Sieg im wahren I n t e r e s s e der F r e i h e i t nutze, daß sie sich als die Parthei der p o l i t i s c h e n R e f o r m a t i o n , des gesetzlichen Fortschritts, bewähre und nicht herabsinke zu einer Fraktion des Rückschritts und Stillstandes. Die conservative Parthei und ihre Thätigkeit ist daher das Hauptaugenmerk eines jeden Freundes der Volksfreiheit. Aber nicht um zu kritisiren und zu verdächtigen und zu verläumden wie die Nationalzeitung (und sogar die Spenersche und Vossische Zeitung bisweilen!); sondern um s e l b s t Hand ans Werk zu legen. Die conservative oder constitutionelle Parthei hat also ihre Wahlagitation. I s t das ein V e r b r e c h e n ? Wer hat im Mai ganz allein agitirt? Die Democratie! Die constitutionelle Parthei schlief damals! — Ja, die Regierung soll fern bleiben. Der Meinung bin ich. Aber jedermann muß entweder links oder rechts (ein Centrum ist in der Regel nur der Beweis der Unklarheit, Unreife, wo nicht bloß E x t r e m e kämpfen) thätig sein, auf lebende Menschen oder auf die Presse wirken. Waren die Democraten u n t h ä t i g ? O gewiß nicht. Aber wohl uns, wenn wir sie überflügelt haben. B e r e c h t i g t sind wir wahrlich mehr als sie, die entweder nicht wissen, was sie wollen und den ärgsten Feinden der Gesellschaft und des Staats vorarbeiten oder selbst die Zerstörer sind. — Doch im Eifer konnte die Rechte zu weit gehen und ungerecht werden; sie konnte die Ideen des Jahrhunderts über dem Gegner, der sich damit prahlt, vergessen. Deßhalb mußten sich treue Freunde der Freiheit und aufrichtige Partheimänner an der Agitation betheiligen. Ich leitete daher die lithographirte Correspondenz der constitutionellen Parthei, die sogenannte P a r l a m e n t s c o r r e s p o n d e n z , wovon jede Nummer einen leitenden Artikel aus meiner Feder brachte, der in Zeitungen, Lokalblättern, Flugblättern verbreitet wurde, im ganzen Umfang der Monarchie und darüber hinaus. Ich darf mich dieser Agitation wahrhaftig nicht schämen. Nirgend hab' ich mein beßres Selbst darin verläugnet. Ich war vollkommen unabhängig; die Parthei vertraute mir, meiner Ehrlichkeit und meinen festen Grundsätzen; ich

87 entwarf mir selbst den Plan und theilte ihn keinem mit. Ich werde vielleicht, wenn es die Leute interessiert, künftig die Artikel in einem Heftchen als Beitrag zur Geschichte der Wahlagitation der Rechten drucken lassen; es wird weder mir noch der Parthei üble Nachrede machen. Und ich kann geduldig dem Gericht entgegensehen, ob die democratische Art, das Volk aufzuklären oder meine schlichte Manier mehr eine echte Volksbildung in öffentlichen Dingen fördern half. Sähen doch nur unsre lieben Preußen ein, daß wenn die Rechte sich nicht tüchtig, freisinnig und fest constituirt, wenn man noch immer nicht die Kinderschuhe der Opposition austreten will, oder höchstens g r a u in g r a u zum Centrum geht, daß dann niemals die freieren Grundsätze des Staatslebens h e r r s c h e n d werden. Denn die herrschende Parthei kann nur eine R e c h t e sein. — O w o bin ich hingerathen? Das heiß' ich, sich aussprechen! Mir war es inniges Bedürfniß. Möchtet Ihr Lieben mich jetzt ganz kennen und, wenn auch mißbilligen, wie auch ich so frei bin, zu thun, doch nicht e r k a l t e n in der alten L i e b e , die ich Euch Dank weiß. —« II. Als Ludwig Aegidi ein Vierteljahrhundert später das Neue Reich zu unerhörter Größe emporwachsen sah, hielt er selbst als Vertreter einer äußerst gemäßigt konservativen Parteianschauung den rechten Flügel gleichsam der Einheitsfront, die vom Fortschritt hinüber bis zur Reichspartei die Reihen des ersten deutschen Reichstags verband. Am linken Flügel der Nationalliberalen aber stand damals E d u a r d L a s k e r , der sich in schwerem Seelenkampfe unter den überwältigenden Erlebnissen des Jahres 1848 ebenfalls erst zum ruhigen Gleichmaß der Mittelpartei durchgerungen hatte. — In Jarotschin, einem kleinen vergessenen Landstädtchen der Provinz Posen, stand die Wiege des »kleinen Juden«, dessen Laufbahn und Wesen die in der Jugend empfangenen Eindrücke zeitlebens begleiteten. Der Gewinn aus dem Eisen- und Glasgeschäft des strenggläubigen Vaters, der täglich jede freie Stunde weit lieber dem Studium der jüdischen Philosophen widmete, genügte gerade, um dem Leben der Familie eine gewisse Wohlhabenheit zu sichern. Angeregt durch häuslichen Unterricht entwichen die beiden hochbegabten Söhne bald nach dem frühen Tod der Mutter schon dem Elternhaus, um in Breslau, dem Mittelpunkt aller geistigen Interessen dieser polnisch und

88 jüdisch durchsetzten preußischen Provinzen ihren Wissensdurst zu stillen. Nach schneller Versöhnung mit dem Vater nahm das alte Gymnasium Zu St. Elisabeth beide auf und entließ 1847 schon den knapp achtzehnjährigen Eduard Lasker zur Hochschule. Der Vergleich mit Ferdinand Lassalle, dessen Lebensweg ein Jahrfünft zuvor ebenfalls in den Hörsälen der Breslauer Universität mündete, liegt nahe genug. Auch weiterhin fand Lasker, ebenso wie Lassalle, recht wenig Befriedigung im Studium allein, das ihn wahllos fast von Philosophie und Mathematik zur Geschichte und Rechtswissenschaft führte. Immer stärker fesselte ihn der Anblick der großen sozialen und politischen Umwälzung, die sich in Schlesien gerade in diesen Hungerjahren deutlich ankündigte. Anfang 1846 schon erschien ja in Breslau als erstes sozialistisches Blatt des deutschen Ostens »Der Volksspiegel«, dessen Herausgeber Ferdinand Behrend sich in allen p o l i t i schen Fragen durchaus nur als Demokrat fühlte und sorglich Wirtschafts- und Verfassungsfragen zu scheiden suchte. Daß die Monatsschrift trotz »tötender Langeweile« mehr als tausend Abonnenten und unzählige Leser finden konnte, nennt Georg Adler mit Recht »den besten Beweis dafür, daß die Tendenz selber es war, welche in manchen Kreisen so sympathisch berührte«1). Bei den Wahlen zur deutschen und preußischen Nationalversammlung, die die Errungenschaften der Märztage von 1848 sichern sollten, sandte die Hauptstadt Schlesiens Heinrich Simon nach Frankfurt, während in das weit radikalere Berlin unter anderen der Universitätsprofessor Nees von Esenbeck als Sozialpolitiker einzog. In Breslau scharte sich unter dem Schutz der neuen Versammlungsfreiheit um den »Volksspiegel« eine demokratische »Arbeiterverbrüderung«, der sich jedoch bald eines neuen »sozialdemokratischen Arbeitervereins« mit einer eigenen Zeitschrift zu erwehren hatte. Nees von Esenbeck selbst vertrat weiter in den »Fliegenden Blättern« vor allem seine Lieblingsforderung eines »Ministeriums der Arbeit« und empfahl umfangreiche Staatsunterstützung für die neue genossenschaftliche Selbsthilfe. Als »sozialistisch« im engeren Sinne galt »Der Staatsbürger«, den der Georg A d l e r , Die Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf die einwirkenden Theorien. 1885. Das grundlegende Werk, das u. a. den sozialpolitischen Nachlaß Nees von Esenbecks verwertet, verdiente längst eine Neubearbeitung.

89 Literat Semrau mit Unterstützung bekannter Parlamentsgrößen wie des Grafen Eduard Reichenbach und Heinrich Simons leitete, während sich »Das Blatt des Volkes« und vor allem eine ganze Anzahl von politischen Witzblättern auf gelegentliche Sonderausgaben beschränkten 1 ). In diesen Kreis nun trat der junge Eduard Lasker sogleich mit einem eigenen Tageblatt, »Der Sozialist«, ein, von dessen Erscheinen wir bisher nichts wußten. Auch mir ist es trotz vielfacher Bemühungen nicht gelungen, eine der erschienenen Nummern selbst festzustellen. Wohl aber läßt sich aus Briefen im Nachlaß Laskers, die ich in dem von Karl Grünberg herausgegebenen Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung unverkürzt zum Abdruck bringe, mit einiger Sicherheit doch der Inhalt wenigstens dieses merkwürdigen publizistischen Versuchs umschreiben2). An erster Stelle spricht Nees von Esenbeck selbst dem jungen Literaten seinen wärmsten Dank und seine volle Anerkennung für den mit den beiden ersten Nummern übersandten Prospekt des »Sozialist« aus. Insbesondere rühmt er die »klare Einfachheit des Plans: Berichtigung des Begriffs des Sozialismus und Tatsächliches von Nah und Fern in strenger Beziehung auf diesen Begriff«. Lasker selbst, das geht aus den weiteren Gegenbemerkungen Nees von Esenbecks hervor, hat die Leitartikel geschrieben, die »die Forderungen der Jetztzeit« im sozialen Menschenstaat durchzuführen streben: »also die Wohlfahrt der Bürger unter einer der spekulativ notwendigen Staatsformen in ihrer Realisierung durch irgendeine bestimmte, zum Volk geeinte Menschengesellschaft«. Dem verehrten Meister der Sozialpolitik erschienen schon diese Anfänge wertvoll genug, um bereitwillig seinen Rat zur Ausgestaltung der Zeitung beizusteuern: Auch in den Verhandlungen der deutschen und preußischen Nationalversammlung müsse das Blatt »das soziale Element suchen und 1 ) Für diese Verhältnisse vgl. Leonhard M ü l l e r , Die Breslauer politische Presse von 1742—1861. Nebst einem Überblick über die Dekade 1 8 6 1 — 1 8 7 1 . 1908; Helene N a t h a n , Aus dem Leben eines Achtundvierzigers (Graf Eduard Reichenbach) in Zeitschrift des Vereins für Gesch. Schlesiens. Bd. 48. 1914 und L . K u s c h e , Schlesiens Anteil an der national-deutschen Entwicklung von 1840 bis 1848 und die schlesischen Abgeordneten im Frankfurter Parlament (ebenda Bd. 53. 1919). 2) Den Einblick in den Nachlaß danke ich der Vermittlung von Herrn Geheimrat Prof. Dr. Erich Brandenburg in Leipzig.

90 hervorheben: Vor allem möchte ich die Arbeiter- und Handwerkervereine und Kongresse, besonders die beiden Frankfurter Kongresse, empfehlen1). Da wollte etwas werden, scheint aber auch wieder an dem Zunftzopf der Philisterei zu scheitern. Spüren Sie aber dem nach. Neben dem Frankfurter Parlament ein vernünftiger, seiner bewußter, in dem Bewußtsein gemeinschaftlicher Interessen, Verluste und Vorteile geeinter und zur Tat gereifter Arbeiterkongreß aus alt und jung, reich und arm, Meister oder Gesell, gleich dem Parlamente gegliedert, an der Spitze ein Generalzunftmeister im rechten Sinne und mit der Energie, die das Leben liebt und den Tod nicht scheut — das wäre so etwas!« Ist es allzu kühn, wenn wir aus diesen Einwürfen und Vorschlägen Nees von Esenbecks zugleich schließen, daß sich ein ähnlicher Geist auch im »Sozialist« Laskers selbst lebendig zeigte? Auf alle Fälle wird in diesen beiden Nummern schon das Bedürfnis hervorgetreten sein, den neu aufkommenden Sozialismus sogleich zur Wissenschaft zu erheben: das Bedürfnis politischer und sozialer Philosophie, das auch für den Parteiführer der Siebziger Jahre besonders bezeichnend blieb. Freudig begrüßt jedenfalls Nees von Esenbeck den Gedanken an die Errichtung einer Professur für Sozialismus, zu deren Besetzung er Püttmann, den bekannten westdeutschen Sozialpolitiker, Ferdinand Crueger aus Königsberg und endlich den Frankfurter Abgeordneten Julius Fröbel aufs wärmste empfiehlt. Zeigt dieser eine Brief schon deutlich genug, daß das Unternehmen Laskers des Beifalls auch bewährter Führer sicher war, so bestätigt uns ein weiteres Schreiben aus Bunzlau, daß die Blätter durch den Buchhandel auch über Breslau hinaus Verbreitung fanden. Über die Persönlichkeit des Absenders war merkwürdigerweise in dem kleinen niederschlesischen Städtchen nichts zu erfahren; selbst der Name des Briefschreibers F. Zettrach, der zweifellos zu entziffern war, ist in der Überlieferung dort verschollen. Jedenfalls handelt es sich um einen sachkundigen Mann, der sich selbst schon auf literarischem Gebiete über soziale Fragen versucht hat. Bemerkenswert ist, daß auch er mahnt, beim Ausbau der Zeitung zu einem wissenschaftlichen Organ A m 15. Juli trat am Sitz der deutschen Nationalversammlung der Allgemeine Handwerker- und Gewerbekongreß zusammen, dem im folgenden Monat der Allgemeine Deutsche Arbeiterkonkreß folgte. V g l . V . V a l e n t i n , Frankfurt a. M. und die Revolution von 1848 bis 1849. 1908. S. 303ff.

91 des Sozialismus »alle republikanischen Tendenzen, was die Form der einzelnen deutschen Staaten betrifft«, streng auszuschließen, »da die demokratisch-konstitutionelle Richtung offenbar in Deutschland von der Mehrzahl der Nation geteilt wird. Eine derartige Tendenz sowie eitles Phrasenmachen, wo es sich um Taten, d. h. um das Finden neuer organischer Grundlagen für die Gesellschaft handelt, würde die Zeitschrift gleich untergraben«. Diesen allgemeinen Bemerkungen schließt der Schreiber gewichtige Ratschläge für die innere Gliederung einer solchen Wochenschrift an, um dann in einer herben Kritik über den bisherigen Inhalt des »Sozialist« zu enden. »Zunächst«, meint er, »vermisse ich an demselben, daß derselbe sich nicht gleich von vornherein auf den demokratisch-konstitutionellen Standpunkt frei und frank gestellt hat. Sodann hat das Blatt bis jetzt eine rein demokratische Färbung; von Sozialismus ist eigentlich bis dahin nichts zu finden, man müßte den (von Nees von Esenbeck ebenfalls rühmlich hervorgehobenen!) Aufsatz ,Adel und Kapital' ausnehmen. Auch die Korrespondenzen unterscheiden sich in nichts von gewöhnlichen Zeitungsartikeln, wie man sie in allen Zeitungen zu Dutzenden finden kann. Die beiden Blätter enthalten nur eine, sage e i n e statistische Nachricht!! —• Dabei sind sämtliche Aufsätze reich an Phrasen; eine Andeutung des eigentlichen Prinzips, wie die Lösung unserer gesellschaftlichen Wirren zu finden, vermisse ich überall.« — Im Rahmen der vorliegenden Skizze müssen solche Randbemerkungen genügen. So kärglich die Ausbeute ist, so erkennen wir doch den Kern wenigstens des ersten politischen Glaubensbekenntnisses, das dieser junge Enthusiast vor aller Welt hier ablegt: von Sozialismus im westlichen Sinne ist noch keine Rede; die konstitutionelle Demokratie, die unter dem Eindruck des in Schlesien herrschenden Notstandes rege Teilnahme für die unteren Klassen äußerte, beherrscht das Feld. Irgendwelche Einwirkungen auf die politische Meinung in Breslau hat Lasker mit seinem »Sozialist« nie gewonnen! Schon als das letzte Schreiben aus Bunzlau eintraf, war überdies die Zeit für die erfolgreiche Durchführung eines so gewagten Unternehmens bereits vorbei. Immer stärker mehrten sich die Nachrichten vom Ausbruch einer Gegenbewegung, die sich in den deutschen Hauptstädten wie am Sitz der Parlamente zum Entscheidungskampf rüste. Insbesonders aus Wien drang schneidend der Hilferuf der

92 Demokratie über die Grenzen Preußens nach Breslau hinüber. Aus der literarischen Gegenwehr erwuchs auch bei Lasker der Wunsch zu tätiger Hilfeleistung gegen die Heere der »schwarz-gelben« Reaktion. — Aus anderen Quellen wissen wir, wie die Märztage des Jahres 1848 auch hier im Osten der preußischen Monarchie die Schranken niederlegten, die die Friedensschlüsse des großen Friedrich ein Jahrhundert zuvor zwischen dem deutschen Österreich und dem deutschen Schlesien aufrichteten. Aus der Kaiserstadt an der Donau kamen ja die ersten Nachrichten vom Siege des Volkes; mehrere Tage später erst konnten die Blätter vom Umschwung auch in Berlin berichten. Ihre politische Auswirkung fand diese innere Umstellung in der stark vergröberten Mitteilung vom bevorstehenden Abfall Schlesiens, das sich erneut an Österreich anzuschließen strebe. Im August noch vermerkte die Breslauer Zeitung, daß sich die (halbamtliche) Allgemeine Österreichische Zeitung allen Ernstes damit beschäftige, in Schlesien für Österreich zu werben. Absichtsvoll wiederholte die demokratische »Reform« dies Gerücht, als die Wiener Reichsversammlung am 7. September durch die völlige Befreiung des Bodens in der Tat einen Erfolg errang, dem weder Berlin noch das Frankfurter Parlament Gleichwertiges entgegenzustellen vermochten. Im Juni schon hatte der Ausschuß der Bürgernationalgarde und der Studenten Wiens eine Adresse an die Männer Breslaus gerichtet, die das demokratische Gemeinschaftsgefühl mächtig wecken sollte. »Der Kampf der Dynastien", so hieß es da, „hat Euch Schlesier von uns getrennt, der Kampf der Völker für nationale Freiheit verbindet uns wieder und inniger als jede Krone.« Als Anfang Oktober dann die Entscheidung in diesem Ringen nahte, zogen in der Tat neben Kommilitonen aus Graz und Olmütz auch Breslauer Studenten den bedrängten Kampfgenossen der Wiener »Aula« zu Hilfe, ohne daß wir jedoch Näheres über Zahl und Zusammensetzung dieser Schar wüßten1). Wiederum versagten archivalische Nachforschungen, die in Wien von sachkundiger Seite angestellt wurden. Auf alle Fälle war auch Eduard Lasker unter diesen Studenten, die weder im Beratungszimmer noch auf den Barrikaden irgendwie hervortraten. Immerhin wollte sich Moritz Hartmann sechzehn Jahre später noch H. B. Oppen*) P. M o l i s c h , Die Wiener Akademische Legion und ihr Anteil an den Verfassungskämpfen des Jahres 1848 (Archiv für österreichische Geschichte, Bd. 160), 1922, weiß nichts von den Breslauern zu berichten.

93 heim gegenüber dieser ersten Bekanntschaft mit Lasker und insbesondere eines Zusammenseins mit Berthold Auerbach erinnern! Nach dem von Windischgrätz unter schweren Opfern errungenen Siege kehrte Lasker nach Jarotschin zurück und nahm erst im Sommer 1849 in Breslau, später in Berlin die juristischen Studien mit Feuereifer auf. Drei Jahre später sah sich der junge Auskultator nach dem Tode des Vaters mit einem Schlage auf sich selbst gestellt und fand nun erst Zeit zu eingehender Selbstberatung über die von ihm ersehnte Zukunft. Vergebens aber sucht man in den Aufzeichnungen, in denen Eduard Lasker damals als Arzt gleichsam der eigenen Seele jedem Pulsschlag seines Innern lauschte, nach irgendeinem Bekenntnis über seine Stellung zum Staat und zur demokratischen Anschauung, der er im Sommer und Herbst 1848 so viel Zeit und Kraft geopfert hatte. Banger Zweifel nur am eigenen Können erfüllt ihn in diesen Tagen, da er die »Schranken der Zukunft« überschreiten soll. Gedanken, die zwei Jahrzehnte später noch das kulturphilosophische Werk des gereiften Politikers »über Welt- und Staatsweisheit« (1873) erfüllen, finden auf diesen sorgfältig aufbewahrten Blättern ihren ersten Niederschlag. Deutlich spürt man, daß für Lasker der Abschluß der Studentenzeit in ganz besonderem Sinne »die Grenze, ein Ende und ein Anfang eines Lebensabschnitts« ist. Eine Aufzeichnung am Vorabend der ersten Staatsprüfung macht diese Stimmung deutlich: »Schaue ich«, so heißt es unterm 25. Mai 1851, »nach den einzelnen Richtungen des Lebensverhältnisses hin, so muß der Blick sich trüben: überall versagter Genuß und mehr noch als Entbehrung. Nirgend eine Befriedigung, die für die sonstigen Mängel entschädigte, und da ich den nicht durch die Erfahrung begründeten Hoffnungen entsagt habe, so läßt sich kein wirklicher Mangel durch gedachte Ergänzung ausgleichen. . . . Die Lebensstellung wird von morgen ab einen neuen Namen erhalten; sie wird mich in ein Gebiet einführen, wo der Erfolg von dem Angriffe abhängt. Der Kampf, den ich schon vor so langer Zeit gegen übermächtige innere Angriffe unternommen habe, fängt jetzt an, seine schädliche Ungleichheit Zu verlieren; die Festsetzung soll eine heilsame Ungleichheit hervorbringen. Mein Wissen erstreckt sich zwar in mehrere Gebiete, aber überall ist es nur Anfang und eine sofortige, unter allen Umständen nach Verhältnissen zu bemessende Verteilung der Tätigkeit wird mich hoffentlich dahin bringen, daß ich sie alle zu einem Einzigen und Ganzen vereinigen werde; meinen

94 vertraulichen Papieren kann ich es vertrauen, daß ich günstige Erwartungen hege, daß die Prophezeiungen, die den Knaben stolz gemacht haben, ihre wohltätigen Anregungen nicht nutzlos gespendet haben. Die Selbständigkeit des Mannes findet sich allmählich ein, und gerade in der beginnenden unmittelbaren Unterordnung soll sie sich stählen.« Dasselbe Zutrauen begleitete Lasker dann auch weiter, trotzdem ihm am Erlebnis einzelner Freunde und aus der amtlichen Mitteilung des Ministeriums klar wurde, daß er als Jude keine Staatsstellung zu erwarten hatte. Immer kehrt auch hier jedoch der Wunsch wieder, von vorn zu beginnen und im Studium der Naturwissenschaften und Medizin ein ganz neues, freies Dasein zu suchen. Nur mißliche Geldverhältnisse, die ihn zum Verdienen zwangen, gaben schließlich den Ausschlag in dieser letzten Frage, während gleichzeitig einsichtige Bekannte aus der Arbeit des Tages heraus auf den Wert volkswirtschaftlicher Betätigung für eine künftige journalistische Laufbahn hinwiesen. Verwandtschaftliche Beziehungen gaben in diesem Zweifel schließlich den Ausschlag. Ein mehrjähriger Aufenthalt in England erst, der den preußischen Juristen in das Getriebe der Weltstadt London und in das stille Heim deutscher Landsleute führte, schloß nun wirklich die Sturm- und Drangzeit Eduard Laskers ab. Über sein inneres und äußeres Leben in diesen letzten Jahren allerdings wissen wir kaum etwas. Nur ein einziger Briefwechsel mit Gottfried Kinkel, der im selben London das harte Brot der Verbannung aß, zeigt deutlich, mit welchem Eifer Lasker sich nun auch an einer Dichtung versucht, die er mit Kinkel durchsprechen darf. Der Stoff ist, das scheint bezeichnend, nach einigen Andeutungen wiederum der Philosophie entnommen als »Vision und Darstellung inneren dialektischen Gedankenkampfes«. Wiederum können wir nur mittelbar Inhalt und Form einigermaßen erkennen. »Was von System«, meint Kinkel, »Sie hier niederlegen, ziemt mir nicht zu kritisieren: doch will ich wenigstens meinen Unglauben an diese Persönlichkeit der verklärten Geister nicht verschweigen. Indessen in jener transzendentalen Nacht, wo alle Katzen grau sind, mag jeder Phantasie haben, wie er will: sie nutzen und schaden der Welt nicht. Von diesen, in meinem Urteil freilich sehr tiefgreifenden Ausstellungen abgesehen, finde ich viel Schönes in dem mitgeteilten Bruchstücke: am besten gefiel mir die Schilderung des Kampfes zwischen Leib und Geist, die vor allem

95 das Objektivste, am wenigsten Visionäre, und darum nach meinem Gefühl das Lebendigste ist. . . . Darf ich noch ein Wort hinzufügen, so möchte ich sagen: Wenden Sie Ihren Blick, und wenn der Blick scharf geworden ist, Ihre Dichtung auf die weltlichen Dinge, die außer Ihnen selbst und Ihren Träumen liegen. Es ist sehr angenehm, die Poesie zu einem Tagebuch unserer Selbstentwickelung zu machen, denn dem Individuum ist nichts so reizend als sich selber zuzusehen: aber wir können, wenn d a s Stoff unserer Poesie wird, freilich niemals hoffen, daß die Welt sich im mindesten um die Poesie bekümmern wird.« Auch diese rein literarische Beschäftigung aber war und blieb wiederum nur ein Versuch, dem Bedürfnis nach Mitteilung und Wirkung Raum zu schaffen. Die Hauptsorge der Londoner Jahre galt dem neuen Lebensberufe, den Lasker vergeblich in rein kaufmännischer Betätigung und dann in der Gründung einer internationalen Rechtshilfstelle suchte. Auf die Dauer konnte sich sein lebhafter Geist mit diesem Verzicht auf jede geistige Tätigkeit nicht abfinden. Trotz der Anlehnung, die er bei dem älteren Bruder fand, blieb diesem »kleinen Juden« aus den preußischen Ostprovinzen die Weltstadt Großbritanniens stets fremd. Dem Abschied aus dem Staatsdienst folgte sehr bald schon das dringende Gesuch um Wiedereintritt in die juristische Laufbahn. Zugleich regt sich der lebhafteste Wunsch, »einmal ein gewissenhafter Volksvertreter sein zu können«. »Wissenschaft, Belesenheit und Beobachtung, so schreibt er auf ein verschwiegenes Blatt, und, im persönlichen Charakter, Bescheidenheit, Pünktlichkeit und fester Wille sind die wesentlichen Erfordernisse und Hilfsmittel zu einem höheren Wirkungskreise. In wissenschaftlicher Beziehung hat das Berufsfach den Vorgang, und mit einer allgemeinen Übersicht in diesem Gebiet muß angefangen werden. Dazu gibt die preußische Heranziehung der Richter die beste Gelegenheit, indem bei den einzelnen Stationen die einzelnen Zweige der Wissenschaft zur Grundlage dienen. Wer einmal eine höhere Stellung einnehmen will, der muß sich früh daran gewöhnen, vor seinen Genossen vorteilhaft ausgezeichnet zu sein und die Auszeichnung zu verdienen; er muß zunächst von seinen Berufsgenossen als ein Tüchtiger des Faches betrachtet werden, damit er auch von den Kennern der einzelnen Zweige für tüchtig in andern, von ihnen nicht geübten Zweigen gehalten werde.«

96 Mit solchen Absichten und Anschauungen kam Eduard Lasker im Frühjahr 1856 zurück nach Berlin, wo er jetzt den Heimatboden dauernd finden sollte. Freudig berichtet er der Schwester und den vertrauten Freunden, daß er nicht mehr Ausländer zu sein brauche und nun fortwährend nur die deutsche Sprache hören dürfe: »Die Menschen sind schöner als ich mir gedacht habe, sie haben allgemein einen sehr geistreichen Ausdruck und sogar nationale Einheit auf dem Gesichte.« Die Zeit der politischen Prüfungen, so dürfen wir hinzusetzen, ist vorbei. Auch im Leben dieses Vorkämpfers für Freiheit und Einheit Preußens und Deutschlands hat die große Bewegung von 1848 dauernd nachgewirkt. Ihren Widerhall aber wird nur der finden, der im neuerschlossenen Nachlaß den »Glaubensbekenntnissen« nachgeht, die uns im Briefwechsel und in Tagebuchblättern deutlich entgegenklingen.

Jakob Burckhardt und das öffentliche Wesen seiner Zeit. Von Hermann

Bächtold.

Einleitung. Nur ganz wenige Menschen des 19. Jahrhunderts haben in einem so schroffen und aus dem Innersten aufsteigenden Gegensatz zu den vorwaltenden Kräften gestanden, die in diesem Zeitalter obenauf gekommen sind, wie Jakob Burckhardt. Wenige trugen das Bild ihrer Zeit so dunkel und düster in ihrer Seele. Und wo wäre einer, dem sich die Eindrücke der Gegenwartserscheinungen und Gegenwartsereignisse zu Zukunftsvisionen von gleicher Fruchtbarkeit, ja Grauenhaftigkeit zusammengewoben hätten? Jakob Burckhardt hat an keiner Stelle ein Gesamtgemälde des Geistes seiner Zeit hinterlassen, auch nirgends die Züge des öffentlichen Wesens, wie es sich aus den staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen formte, zu einem allseitigen Bild zusammengefaßt. Seine Beobachtungen und Urteile sind über sein ganzes Werk •— Bücher, Vorlesungen, Briefe •— an hunderten von Stellen weit zerstreut. In öffentlichen Äußerungen erscheinen sie scheu zurückgehalten oder, wenn kurz angerührt, gern in gelinder Manier und vorsichtig in »Baumwolle gehüllt«, aus Besorgnis, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen oder gar in öffentliche Polemik verwickelt zu werden. Und dazu: »Wenn man die Leute in Schrecken setzt, so gewinnt man sie nicht, und die Frecheren und Gescheiteren lachen einen aus«. Burckhardt hat sich oft und gern über öffentliche Dinge ausgesprochen, aber möglichst unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Da sind zunächst in den Briefen die »Hiebe auf die Gegenwart«, nie langatmig, sondern kurz und kräftig, manchmal sehr zugespitzt, gefallen. Und dann geschah die Aussprache noch offener und eingehender in der Konversation. Wie es in einem Briefe gelegentlich heißt: »Über unterschiedliche Torheiten dieser Welt . . . ließe sich nur mündlich verkehren.« Durch all die weit auseinander liegenden, in dem und jenem M e i n e c k e , Festschrift.

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98 Zusammenhang meist nur schmal sich öffnenden und schnell wieder verschließenden Ritzen seiner Äußerungen hindurch aber sehen wir doch in eine geschlossene Grundstimmung hinein. Sie hat im Laufe des Lebens leise Wandlungen durchgemacht. Die Belichtung der öffentlichen Welt, wie sie von seiner wertenden Stellung ausging, ist nicht ohne Verschiebungen geblieben; vieles ist vor 1850 — Burckhardt ist 1818 geboren — erst im Keime vorhanden und hat sich allmählich verschärft. Im ganzen genommen aber ist Jakob Burckhardt früh ausgereift, und dann liegt jene Grundstimmung Jahrzehnte durch dauernd in seiner Seele. ' Die Kritik Burckhardts an politischen und wirtschaftlichen Institutionen und Vorgängen faßt nicht das Technisch-Spezielle an. Sie ist nie fachmäßig. Er gehört in keine Geschichte weder der politischen und nationalökonomischen Lehrmeinungen, noch der politischen und volkswirtschaftlichen Praxis hinein. Wenn er, um ein Beispiel zu erwähnen, seinem Spott oder Ingrimm Lauf läßt gegenüber einer Staatswirtschaft, die sich in starkem Maße auf öffentliche Anleihen stützt, so wird man doch vergebens eine finanztechnische und finanzpolitische Begründung dieser Ansicht oder eine fachmäßige Äußerung über Ausmaß und Stellung der Anleihen im Finanzsystem des Staates bei ihm suchen. Und so wie er auch in seinen historischen Darstellungen früherer Zeitalter nie Systeme schildert, seien es Verfassungsund Wirtschaftssysteme, seien es Systeme politischer und wirtschaftlicher (oder auch philosophischer oder religiöser) Lehren und Theorien, so gibt er erst recht nirgends eine systematische Erfassung des Staates und der Volkswirtschaft seiner Zeit. Und wie seine kulturgeschichtliche Methode dort dem G e i s t e nachspürt, der in den Objektivationen von Ordnungen und Systemen sich auswirkt, so handelt es sich auch hier um seine Stellung zum G e i s t des öffentlichen Wesens, wie es sich namentlich in der modernen Demokratie und der kapitalistischen Wirtschaft ausgestaltete. Was er einmal vom Boulangerprozeß 1889 sagte, er bemühe sich, ihn »im kulturgeschichtlichen Sinne« zu verfolgen, das schwebt in gewissem Grade über aller seiner praktischen Beurteilung und Wertung der Gegenwartserscheinungen. Fragen wir nun, was in den Augen Jakob Burckhardts die erste Grundtatsache war, die die geistige Bilanz des 19. Jahrhunderts so ungünstig gestaltete, so wäre die H y p e r t r o p h i e des p o l i t i s c h e n (und w i r t s c h a f t l i c h e n ) I n t e r e s s e s bei den Menschen dieser Zeit

99 zu nennen. Burckhardt hat sich bekanntlich seinen historischen Blick besonders auch für die Erscheinung geschärft, wie innerhalb der Kultur die einzelnen Gebiete sich verdrängen, ersetzen und bedingen. Und so sieht er denn unter der Macht der Politik und des Erwerbsgeistes die »geistigen Dinge« in Not geraten und vor allem den großen Lichthorizont der Kunst in Verdunkelung. »Die Poesie erliegt der Politik,« die das Pathos unserer Zeit sei. Man könne nicht gleichzeitig in P o l i t i k , die die Völker zu ihrem Prinzip gemacht haben, und Kultur etwas bedeuten. Und noch weniger in E r w e r b und Kultur. Die Erwerbsgeschäfte »konsumieren den Menschen völlig und verhärten ihn gegen alles übrige«. Kunst und Poesie sind innerlich ohne Stätte in dieser rastlosen Welt. Und soweit äußerlich Raum für sie da ist, so wirkt die politische und geschäftliche Atmosphäre auf die »geistigen Dinge« ein. Es sei die Naivität aller geistigen Produktion ernstüch bedroht. Die geistigen Kräfte erliegen einer »allgemeinen Verfälschung«. Wie leicht geraten sie zwischen die Räder der jetzigen Zeit! »Andere Jahrhunderte haben das Ansehen von Strömen, Stürmen, Feuerflammen«, beim laufenden . . . fallen einem immer diese verwünschten Maschinen ein. »Unser Wesen in Staat, Kirche, Schule usw. wird völlig zum Zerrbilde dessen, was das Normale wäre.« Bei der Vertiefung in griechische Lektüre, heißt es in einem Brief aus dem Januar 1870, komme man leicht »in einen wahren Hohn gegen unser Säkulum und dessen Prätensionen«. Und wenn schon auf dem Menschendasein überhaupt Burckhardts Blick voll Pessimismus ruht und Schopenhauer in seinen Briefen zumeist als der Philosoph auftritt, so stellt Burckhardt doch für das späte 19. Jahrhundert ab und zu besonders fest: »Der Philosoph ist . . . von neuem im Kredit gestiegen,« oder bricht in den Ruf aus: »O was für gewaltige Lichter strahlt jetzt der Philosoph aus!« Und dann steigert er etwa sein Urteil über dies Jahrhundert zu der Bezeichnung: »Die Welt ist ein Narrenkäfig«; diese »Metze von Jahrhundert«; das »Ungetüm, welches man das moderne Leben nennt.« »Erbärmlich und heillos ist die Lage überall.« Und da er »die Torheit des Weissagens« nicht los wird und sich ein Bild machen muß von dem, worauf es hinauswühlt, so sieht er mit oft schreckhafter Bildkraft eine grauenhafte Zukunft aus dieser Gegenwart herauswachsen. »Es kann die Welt einmal von einem Tag auf den andern kurios neu angemalt sein.« Und er sieht die

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100 Wolken über dem Ausgang des Jahrhunderts hangen und spricht Ahnungen aus von der allgemeinen Nacht, die hereinbricht, von einer großen allgemeinen Flut. »Alle trieben vorwärts und sahen den gewaltsamsten Ausgang kommen; sie wußten nur nicht welchen. Manchen mochte einstweilen zumute sein: Wenn mich doch nur beizeiten die Erde verschlänge!« Das ist von den Athenern der Zeit nach dem peloponnesischen Kriege gesagt. Den Pinsel hat Burckhardt, wie noch so oft, als er die griechische Kulturgeschichte schrieb, in die Farben der Gegenwart getaucht. Und die Gründe hängen seiner Auffassung nach aufs engste zusammen mit dem demokratischen »Freiheitstaumel« (und der modernen wirtschaftlichen Erwerbsgier). Gewiß, Burckhardt sieht über das dunkle Land ab und zu auch hellere Hoffnungsfäden fliegen. »Mein ganzes Sehnen geht nach den großen Reaktionen in Geist und Gemüt der beiden Völker (d. h. der Deutschen und Franzosen). Ich weiß, das Wünschen wird uns mehr als einmal zum Narren halten und wir werden Licht zu sehen glauben, wo uns nur die Augen flimmern, aber kommen muß es doch . . .« Und gleich darauf fährt er fort: ». . . Und zwar um so gewisser und kräftiger, je weniger der Mensch in den beiden S t a a t s tümern seine H e i m a t f i n d e n wird.« Der demokratisierte Staat ist es zum Teil selbst, der die A p o l i t i e befördert. »Auf die Länge können sich die Besten und auch die Mittelguten nicht mehr in Ansehen behaupten, weil die wählende Kopfzahlmasse jede Art von Respekt gründlich verloren hat und namentlich für das Seltene und Hochbegabte gar keinen Maßstab besitzt.« Aber die Guten und Bedeutenden können auch selbst nicht mehr wie in andern Zeiten politische Menschen bleiben. So viele öffentliche Charaktere müssen »förtan gänzliche Privatcharaktere bleiben«. »Wie ist uns in tausend Beziehungen das äußere Handeln abgeschnitten, das in andern Zeiten und unter andern Menschen die Nerven stärkt und die Organe frisch hält.« So viele der besten Geister lösen sich bei diesem politischen Treiben vom Staat. Wir verstehen, warum Jakob Burckhardt in der griechischen Spätentwicklung der um sich greifenden Apolitie »der Ausgezeichneten« so große Aufmerksamkeit schenkte. »Die Politik soll mich nicht so bald wieder fangen.« •— »Die Politik ist für mich tot; was ich tue, das tue ich als Mensch«, schrieb er bereits Mitte der 40 er Jahre, als das Joch einer Zeitungsredaktion von ihm genommen

101 war. Aber wird man, auch wenn man sich jenseits des öffentlichen Wesens dieser Zeit hält, wirklich frei von ihm? Strahlt nicht der ökonomische und politische Geist überallhin seine Ansteckungen aus ? Da ist zwar für Burckhardt Mörike eine tröstliche Erscheinung, an der sich zeige, wie »eine für das Schöne geborene Natur auch in den mäßigsten Umgebungen und Umständen sich auf das Schönste und Glücklichste entfalten« könne. Doch es drängt sich ihm dann gleich wieder das Urteil auf, daß in den jetzigen Zuständen sich keine Natur mehr harmonisch entwickeln könne, und er fühlt sich selbst mit seinem Tun und Hoffen inmitten des Spottes der Zeit. Und so mag sich in ihm, diesem Wesen des Jahrhunderts gegenüber, jene resignierte Stimmung ausgebildet haben, die er zwar zunächst in Anwendung auf athenische Menschen des 5. Jahrhunderts, aber aus dem eigenen Herzen im Verhältnis zur eigenen Zeit kommend ausgesprochen: »So bildet sich — sagt er in der Griechischen Kulturgeschichte — so bildet sich diejenige Stimmung, wobei der Geist ganz im stillen eine Tür nach der andern und zuletzt auch die innerste zuschließt.« Und die Seele gewinnt den Felsen über den Fluten der Gegenwart und tritt dem ganzen Zeitwesen, wenn sie ihm auch unvermeidlichen passiven Tribut bezahlt, doch zugleich beschauend gegenüber. Er gewinnt jene individuelle Freiheit, die wir in ihrer ganzen zentralen Bedeutung auch für den Historiker Burckhardt, den großen Freimeister unter den zünftigen Historikern des 19. Jahrhunderts, nur verstehen können von seinem besonderen Verhältnis zu den Mächten seiner Zeit aus. Gegen diese sich abschließend, öffnete er sich dem a l t e n Schönen. Das große Vergangene konnte ihn nun um so mehr beschäftigen und beglücken. Und wiederum hat er seine Aufgabe in einer Zeit, die einer Lockerung der geschichtlichen Kontinuität entgegentreiben könnte, unvergleichlich schön — und nun weniger resigniert — zum Ausdrucke gebracht: » R ü c k w ä r t s gewandt zur Rettung der Bildung früherer Zeit, v o r w ä r t s gewandt zur heiteren und unverdrossenen Vertretung des Geistes in einer Zeit, die sonst gänzlich dem Stoff anheimfallen könnte.« Aber die B e t r a c h t u n g der politischen und wirtschaftlichen Dinge seiner Zeit hat er nun deshalb nicht versäumt; denn wir wollen doch »wissen, auf welcher Woge des großen Stromes wir treiben«. Und es war zugleich lebendiges Bewegtwerden durch diese Dinge; denn »wir selber sind jeder ein Stück des allgemeinen Schicksals«. Und

102 in diesem Schicksal geht es letztlich um das Kernstück des Geschichtsglaubens Jakob Burckhardts, um die Rettung der weltgeschichtlichen Kontinuität des Geistes. Gewiß sucht er den Blick auch wieder vom Störenden abzuwenden, »aber es gelingt ihm nicht recht«. Er möchte gern heiter bleiben, aber »sobald das Nachdenken über unsere Lage überhand nimmt, wird jeder recht ernst«. Und doch war es immer kein säuerliches Gesicht, das er dazu machte. I. Obwohl im Geschichtsbilde Jakob Burckhardts die große Dynamik der historischen Entwicklung wenig zur Geltung kommt, so gehört doch zu den Eigentümlichkeiten seiner Betrachtungsweise ein besonders geschärfter Sinn für das Tempo der Entwicklung und seine wechselnden Grade. So negativ da Burckhardts Urteil lauten kann, wenn es sich um stagnierende oder stillgestellte nationale Lebensläufe handelt, so unheimlich berührt ihn an anderen Zeitaltern die fiebrige Raschheit, vor allem an derjenigen Periode, in die Europa seit der Französischen Revolution eingetreten war und in der er selber lebte. Damit haben wir einen ersten Wesenszug der Gegenwart berührt, mit dem diese ihn zurückstieß. Wie wohltuend mutet ihn im Gegensatze dazu die »heilsame Verzögerung« an, die dem Lebensprozeß der abendländischen Menschheit im Mittelalter innewohnte. In der Jetztzeit, da hat alles drängende Eile hinter sich. »Der Pulsschlag wird mit jedem Monat ein wenig schneller.« »Unser liebenswürdiges Jahrhundert hat die Menschen derart an die Berechtigung jeder, auch der bedenklichsten Neuerung gewöhnt, daß jetzt, gegen das Ende hin, gar kein Haltgebieten mehr helfen wird.« Mode sei das ewige Ändern. Und so geschwind gehe heutigen Tages alles, daß Leute bei Jahren sich schwer und schwerer in dies Treiben finden könnten. Überall »eine Bereitschaft zu allen Änderungen«, das »Provisorischerklären von allem und jeglichem, dies Recht a priori zu jeder beliebigen Neuerung, dies Privilegium zu jeder Kupidität«, und hinter allem Bestehenden her die rücksichtslose Gewalt »endloser Generationen von Unzufriedenen«. Es vergehe kein Tag, daß unsere Nase nicht an . . . eine neue Einrichtung oder an das Provisorischgewordensein einer alten stoße. Es sei zu fürchten, daß die Vorwärtsbewegung noch alle Besinnung verliere. Und diese Lockerung, ja Entwurzelung alles historisch Erwachsenen, auf die Jakob Burckhardts abwehrendes Gefühl an hundert

103 zerstreuten Stellen seiner Briefe und Schriften reagiert — nun vor allem auf s t a a t l i c h e m Gebiete! Hier sei alles diskutabel, ja im Grunde verlange die Reflexion vom Staate beständige Wandelbarkeit der Form nach ihren Launen. »Das Volk« — und der Ausspruch kommt nicht nur für das griechische in Betracht, von dem er zunächst ausgesagt ist — »das Volk baut jetzt seinen innerlich ruhelosen Staat aus.« Burckhardt vergleicht das politische Wesen der gegenwärtigen Völker mit einer Wand, in die man wohl diesen oder jenen Nagel einschlagen könne: »der Nagel hält nicht mehr«. Von Deutschland meint er 1890, auch mit ihm sei nicht mehr zu spassen; bald könne auch es auf die Bahn von Revisionen, nicht nur der Verfassungen, sondern des ganzen bürgerlichen Zustandes geraten. Und wer vermöchte sich heute des Gedankens an nahe hinter uns liegende Ereignisse zu erwehren, wenn er in einem Briefe Burckhardts aus dem Jahr 1884 auf die unter dem niederschlagenden Eindruck der letzten Reichstagswahlen mit ihrer Verstärkung der sozialistischen Vertretung geschriebenen Worte stößt: »Ein eigentliches Aufgepaßt! wird es freilich erst geben, wenn bei irgendeinem Anlaß offenbar würde, daß schon ein Teil der Armee angefressen ist.« Doch wir haben hier nicht den Zukunftsvisionen Burckhardts nachzugehen. Schon in der Gegenwart sieht er den ganzen Staatsbegriff aus dem Zustand der Selbstverständlichkeit heraustreten, der Problematik und der Gärung verfallen. Auf seinen Felsen über den dahintreibenden Wogen sich rettend, blickt Burckhardt zurück auf den Anfang dieser Gärung, den Ausbruch der Französischen Revolution, blickt vorwärts auf die große Abschlußkatastrophe und siehe, alles ist ein Revolutionszeitalter. Um 1870 zählt er bereits 83 Jahre Revolutionszeitalter und »das Ärgste kommt noch nach«. Aber das fieberhafte Tempo des modernen Lebensprozesses erfaßt alle Gebiete des Lebens und wird zu wildem Jagen namentlich da, wo in der Mitte des Stromes der Entwicklung — auf naturwissenschaftlich-technisch-industriellem Gebiet •— eine Welle die andere atemlos jagt. Er meint einmal, das moderne abschätzige Urteil gegenüber dem Mittelalter beruhe mit darauf, daß es den Heutigen gerade mit diesen Dingen im Mittelalter zu langsam gegangen sei, und er verrät deutlich, daß er nicht zu denjenigen gehöre, denen es besonders pressiere mit dem jeweiligen Sieg der Naturwissenschaften, dem darauf beruhenden Verkehrsausbau und Industriewachstum.

104 »Hätte das Mittelalter schon die Steinkohlen ausgebeutet, wie es jetzt geschieht: Wo wären wir!« Burckhardt mag hinblicken wo er will, überall dieses Vorwärts jagen von technischem Fortschritt zu technischem Fortschritt, das unsinnige Vermehren und Vergrößern der Geschäfte, die rasende Industrialisierung der Länder, die Europa zu einem großen Raspelhaus macht, die Rastlosigkeit in diesem »räderschnurrenden Elend«. Auch hier alles provisorisch und in Bewegung! Alles wilde eilige Konkurrenz! Wie spürt er mit seinem noch von der verhältnismäßigen Stabilität menschlicher Dinge befangenen Gefühl — er mag in London, Paris, Italien, Deutschland oder zu Hause weilen — stetsfort die Aufwärtsbewegungen der Preise, bis diese Erfahrungen sich in ihm schließlich in ein »permanentes Gefühl der Überteuerung« niederschlagen. Aber vom Tempo der wirtschaftichen und politischen Entwicklung wird auch das Geistige in den Taumel mitgerissen. »Am unglücklichsten befindet sich in dieser Zeit Kunst und Poesie . . ., innerlich ohne Stätte in dieser rastlosen Welt.« »Die jetzige Literatur lebt fürchterlich schnell und konsumiert ein unglaubliches Kapitel von Reiz und Abwechslung.« »Nichts hat seine Zeit, nichts kann reifen, die ganze Existenz ist auf das Neueste, d. h. auf das Roheste der rohen Materie, auf die ersten, immer unklaren Ausbrüche jedes Phänomens gestellt.« »Alles will neu sein, aber auch weiter nichts.« Bei Anlaß seiner Erinnerungen aus Rubens charakterisiert er die Kunst im 17. Jahrhundert in deutlicher Kontrastierung mit der eigenen Gegenwart: Noch sei damals keine öffentliche Meinung gewesen, welche von beständiger Neuerung ihre Nahrung gezogen hätte, noch kein Roman mit »dem Programm beständiger Neuerfindung aus der Tageswelt«. Und angesichts des griechischen Mythos drängt sich die Reflexion über die eigene Gegenwart empor: Nichts sei für uns Heutige fremder als ein Volk, das nicht nach Tagesneuigkeiten frage. Das griechische Volk habe in seinem Mythos gewissermaßen lauter E w i g u n g e n gehabt, während wir von lauter Z e i t u n g e n umgeben seien. Man greife heute nach dem, was geeignet ist, die Zeit zu vertreiben, »die man doch kommen heißen und festhalten müßte«. Doch halten wir uns ans Gebiet des politischen Wesens. Steht da Burckhardts Schrecken vor dem Tempo der Entwicklung nicht der Glaube entgegen, daß das alles vorwärts eile zur Vervollkommnung

105 und schließlichen Vollendung? Und ist unter dieser Voraussetzung Burckhardts sozusagen systematische Feindschaft gegen den »Fortschritt« nicht unverständlich ? J a , wenn nicht eben diese Voraussetzung bei Burckhardt fehlte. Sie ist vielmehr ein neues Moment des Zeitgeistes, das er schroff, beinahe bedingungs- und vorbehaltlos als Illusion und nicht bloß als theoretisch falsche Illusion, sondern als praktisch verhängnisvolle Fiktion ablehnt. Zwar haben wir nun hier das Problem der allgemeinen pessimistischen Weltbetrachtung Burckhardts nicht ins Auge zu fassen; aber soweit es auch ein Element des öffentlichen Geistes und Wesens des 19. Jahrhunderts ausmacht, müssen wir ihm in Kürze unsere Aufmerksamkeit schenken. Immer wieder wendet sich Burckhardt gegen den modernen, namentlich seit der Aufklärung um sich greifenden optimistischen Fortschrittsglauben und Superioritätsdünkel, von dem die Anmaßung ausgehe, daß man sich das Recht zum Prozeß gegen die Vergangenheit herausnehme. Ein Revolutionszeitalter wie das gegenwärtige, so meint er, sei ja ohnehin erfüllt von einer »schrecklichen Unbilligkeit gegen alles Bisherige«, da in ihm, wie in den Revolutionen überhaupt, die Menschen sich durch das »brillante Narrenspiel der Hoffnung«, das »glänzende Phantasiebild der Zukunft« aufreizen lassen zum Sturm nach vorwärts. »Das große Unheil ist im vorigen Jahrhundert angezettelt worden hauptsächlich durch Rousseau mit seiner Lehre von der Güte der menschlichen Natur. Plebs und Gebildete destillierten hieraus die Doktrin eines goldenen Zeitalters, welches ganz unfehlbar kommen müßte, wenn man das edle Menschentum nur gewähren ließe.« »Die einzig denkbare Heilung wäre: daß endlich der verrückte Optimismus bei Groß und Klein wieder aus den Gehirnen verschwände.« Nur ganz vorübergehend glaubt er feststellen zu können, daß auch den selbstgerechtesten Philistern ihr odiöser optimistischer Blasebalg ausgehe. Wie bei dem wirtschaftlichen »Fortschritt« der geheime Vorbehalt des Superioritätsdünkels in der Möglichkeit unbedingten Geldverdienens und der Massenhaftigkeit des Geschäftes bestehe, so sei der offen zugestandene Wertmaßstab für die Beurteilung der Entwicklung auf politischem Gebiet die »Ausbreitung der politischen Berechtigungen auf größere Volksquoten«, die Demokratie. Er aber sieht in dem Umsichgreifen der modernen (kapitalistisch-industriellen und) demokratischen Bewegung nur K r ä f t e der A u f l ö s u n g , auch

106 in geistiger und sittlicher Hinsicht. Mit welcher Gewissenhaftigkeit, möchte man fast sagen, hat er die beweisenden Phänomene der Zersetzung seiner dauernden Beobachtung unterstellt, z.B. in criminalibus, wenn er in den Briefen die überhandnehmenden Verbrechen, Mordtaten, Brandstiftungen (Rachebrände und Einschüchterungsbrände) registriert (in einer Zeit, wo sogar »auf dem Guten und Tüchtigen ein Unsegen und eine Unkraft« liege) und die Geschäftsliquidationen und Bankerotte verzeichnet. Jeden Augenblick treffen wir in seiner Korrespondenz mit v. Preen auf Feststellungen dieser A r t : »Die meisten großen Geschäfte stehen so, daß sie jeden Augenblick liquidieren möchten, wenn sie könnten.« . . . »Es kracht . . . an allen Enden.« . . . Und dennoch der öffentliche Optimismus! Der nun seinen Hohn besonders reizt, wenn er in der Form der F e s t e r e i , diesem nicht nebensächlichen Stück des öffentlichen Wesens namentlich in Demokratien, zum Ausdruck kommt, diesem »allgemach« schreiend gewordenen Kontrast zu der öffentlichen allgemeinen Lage. »Es gibt einen Grad von Abstand zwischen Festen und Lage der Dinge, welcher gräßlich ist; Feste in unseren Tagen und mit der Aussicht auf die Tage, welche noch bevorstehen, sind ein Verbrechen gegen alles Gefühl und allen Geschmack zugleich. Man habe wirklich noch nötig, dergleichen zu tun, als könnte unser Leben in einen Freudensaal verwandelt werden.« Die Zeit sei, meint er 1886, nicht mehr fern, da dem Menschen die Festmucken vergehen werden. Allerdings: ».. . wenn der Menschheit eines ihrer kuranten Vergnügungs- und Zerstreuungsmittel nach dem andern sollte wegdekretiert und dieselbe völlig auf ihren inneren Fonds sollte angewiesen werden? Schauerlicher Gedanke!« Gerade in der Festfrage, diesem Ausdruck des zudringlichen Massenoptimismus im öffentlichen Geist, insbesondere im modernen Staat der Massenherrschaft, wurde er sich besonders eindringlich bewußt, wie »unerbittlich der Zwiespalt sei, in dem man sich gegenüber dem Geschmack der weitmeisten Zeit- und Ortsgenossen befinde«. Es ist also nicht Fortgang zur Perfektibilität, der jenem Tempo der Entwicklung innewohnt, vielmehr Auflösung und Zersetzung. Und dieser Auflösung und Zersetzung steht der Mann gegenüber, dem »die Größe unserer Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit« während seines Lebens mehr und mehr ins Zentrum seines Wesens gerückt, dem die h i s t o r i s c h e K o n t i n u i t ä t das Herzstück seines

107 menschheitsgeschichtlichen Glaubens geworden war: eine Art Konservativismus höherer Ordnung. Diesen Konservativismus, der wahlfrei auf das Große in allen Jahrhunderten greift und dem »die Verwandtschaft mit allem Geistigen der Vergangenheit über alles geht«, sehen wir nun aber doch verknüpft mit einem Konservativismus im engern Sinn, dem es um möglichste Erhaltung der u n m i t t e l b a r e n Vergangenheit zu tun ist. Denn — so war wohl Burckhardts Meinung — jener höhere, freiere, individuellere Konservativismus mit allgemein w e l t g e s c h i c h t l i c h e m Wurzelboden wird gesichert durch den gebundeneren, primitiveren Konservativismus der Verwurzelung in das Erbe der u n m i t t e l b a r e n Vergangenheit, so wie er wiederum diesen letzteren adelt. Gewiß: mit Jakob Burckhardts Kontinuitätsgedanken verträgt sich, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, das Phänomen des Bruches und Ruckes in der geschichtlichen Entwicklung; und Burckhardt weiß zum Lobe der Krisen und Revolutionen manches zu sagen, »wenn die weltgeschichtliche Bewegung sich periodisch und ruckweise freimacht von bloßen abgestorbenen Lebensformen«, wenn durch sie »eine wahre Erneuerung des Lebens erfolgt, d. h. die versöhnende Abschaffung des Alten durch ein w i r k l i c h l e b e n d i g e s Neues«. Eben hier liegt nun aber der Punkt, wo nach Burckhardts Überzeugung der moderne politische revolutionäre Geist versagt. Schon 1842 sprach er es Kinkel gegenüber aus, er werde nie ein Wühler und Umwälzer sein wollen, eine Revolution habe nur dann ein Recht, wenn sie u n b e w u ß t und u n b e s c h w o r e n aus der Erde steige. Die geistige Grundlage der modernen staatlichen Änderungen und Umwälzungen aber — so lautet seine Meinung — ist eine andere. In den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« spricht er von der » R e f l e x i o n und dem R ä s o n n e m e n t « , die (durch die Presse bis zu völliger Ubiquität verstärkt) die geschichtlichen Kräfte übertöne. Das ist vor allem auch von den politischen Kräften gemeint. Das moderne politische Vermögen ist durch die Reflexion hindurchgegangen. Die öffentliche Atmosphäre ist voll von Räsonnement. Und wie durch Reflexion und Räsonnement religiöse und künstlerische Kräfte zersetzt und zerschwatzt werden können, so auch die w a h r e p l a s t i s c h e p o l i t i s c h e K r a f t . Das ist es also, was u. a. den Pessimismus gegenüber dem modernen politischen Stürzen und Neubauen begründet: die neuen Formen sind nicht Schöpfungen einer wahren, d. h. naiv, unbewußt und »unbeschworen« schaffenden politischen

108 Kraft, sondern die auch mechanisch gemachten und konstruierten Produkte p o l i t i s c h e r R e f l e x i o n u n d T h e o r i e . Dieser Auffassung liegen allgemeine, Burckhardt eigentümliche, geschichtliche Auffassungen zugrunde, die wir an dieser Stelle nur andeuten können. Es handelt sich um vorwaltende Kategorien, mit denen Burckhardt die Entwicklungsverläufe von Völkern oder Völkerkreisen betrachtet und gliedert: Frühzeiten einerseits, wo die Kräfte naiv und organisch gestalten und Spätzeiten, abgeleitete Zeiten anderseits, wo das B e w u ß t s e i n überhand nimmt, wo es die naiv schaffenden Kräfte überwältigt, wo der Intellekt statt der erloschenen Seele die Führung übernimmt, wo die Formen und Gestaltungen des geschichtlichen Lebens nicht mehr der unmittelbare, notwendige Ausdruck der Seele sind, sondern rationalistisch errechnete und ausgedachte Erzeugnisse, Spätzeiten also, deren Gebilde nicht mehr der Ausfluß innerer Notwendigkeit, sondern äußerer Zweckhaftigkeit sind, wo schließlich über jedem Lebensgebiet die gesteigerte, übersteigerte Bewußtheit in einer Theorie, und gar noch in einer systematischen Theorie, abdunstet, wo die naiven Kräfte zurücktreten und nun eine Spaltung des Lebens eintritt, ein Schaffen überhand nimmt, das nicht mehr ein innerlich einheitliches Sichauswirken ist, sondern das einem Zweiten, Besseren, eben Regeln und Normen, Theorien und Ideen nacheifert, also heteronom bestimmt ist. Darin liegt für Burckhardt zunächst ein Moment der Unfreiheit und deshalb ein Verstoß gegen ein Hauptstück seiner geistigen Wertwelt. Darin liegt ferner ein Moment der Vereinfachung und damit ein Verstoß gegen einen zweiten Hauptwert, gegen die ästhetische Freude an der Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit der historischen Formenweit. Diese Auffassung gilt, wie gesagt, von allen menschlichen Kräften und Vermögen. Es scheint zwar wie ein Trost zu klingen, wenn Burckhardt vom vierten vorchristlichen Jahrhundert der griechischen Geschichte mit Bezug auf die Dichtung sagt: »Mit der Abwendung von der Praxis der Poesie in der damaligen Zeit habe man die Theorie erhalten: Aristoteles schafft seine Poetik.« Aber seine wahre Meinung kommt dann bei Gelegenheit der bildenden Kunst doch deutlich ans Licht, wenn er sagt, die allein unangegriffene Kunst im Leben des vierten Jahrhunderts sei die bildende Kunst gewesen, ihr habe die Rhetorik und die Philosophie nicht beikommen, sie nicht in Gerede, also Räsonnement auflösen können, und so habe sie ihre volle Naivität behauptet:

109 »unter den Schriften des Aristoteles . . . findet sich glücklicherweise keine Plastik und keine Graphik.« Hier haben wir es nun nur mit dieser Erscheinung auf p o l i t i s c h e m Gebiete zu tun. Burckhardt steht in Opposition zu dem naturrechtlichen und stß,atstheoretischen Denken, das die Entwicklung des modernen Staates begleitete und vor allem die Revolutionsära vorbereitete. Er wendet sich mit Schärfe gegen die rationalistische Willkür, die die historisch erwachsenen staatlichen Gebilde kritisch negiert, tabula rasa macht und die Welt auf Grund von allgemeinen Vernunftideen neu einrichten und aufbauen will. Er sieht das plastische politische Vermögen erschöpft und spricht das resignierende Urteil aus: »Einen wahren g e s e l l s c h a f t l i c h e n O r g a n i s m u s k n ü p f t man in dieses a l t e r n d e E u r o p a n i c h t mehr h i n e i n ; d e r g l e i c h e n ist seit 1789 v e r s c h e r z t worden.« Denn da sei die aus der Aufklärung stammende Pietätlosigkeit gegen das Bisherige und die Feindschaft gegen alles Traditionelle aufgekommen. Es ist klar, daß Burckhardt in dieser Richtung dauernd Auffassungen beibehalten hat, die dem Geist der Romantik und der historischen Rechtsschule entsprachen. Nur daß die scharfe Kälte, mit der er den neuen Staatsbegriff ablehnte, nicht begleitet war von derselben Wärme gegenüber früheren staatlichen Zuständen und der Vergangenheit überhaupt, wie die Romantik sie hegte. Denn die UnVollkommenheit menschlichen Daseins ist, wenn sie auch besonders stark Gegenwart und nächste Zukunft verdunkelt, doch über alle Jahrhunderte verstreut. So absolut Jakob Burckhardt die eigene Zeit verneint, die Zeit der Vorfahren wird doch immer nur relativ und nicht absolut bejaht: Im Zusammenhang mit jenem politischen Rationalismus (und darüber hinaus mit der staatlichen Praxis des Absolutismus) ist es nun vor allem dieser Charakterzug des modernen Staates, mit dem Jakob Burckhardt in Fehde liegt: die T e n d e n z zur V e r e i n h e i t lichung und Z e n t r a l i s i e r u n g von S t a a t s g e w a l t und S t a a t s v e r w a l t u n g , die die Demokratie vom »Despotismus« übernahm, fortbildete und vollendete. Zunächst handelt es sich um die dieser Tendenz zum Opfer fallenden politischen Sonderkörper, die im Rahmen des Feudalstaates — das Wort in dem weiteren von v. Below festgelegten Sinn genommen — Platz gefunden hatten. Burckhardt sieht zwar auch die dunkeln Seiten des Feudalstaates, seine Zerstückelung in »rohe Machtfrag-

110 mente«, die »furchtbaren Schranken des ausgearteten Zunftwesens« gegenüber der freien Persönlichkeit. Das alles aber scheint doch besser im Vergleich zu dem modernen E i n h e i t s s t a a t . Es war doch immer eine reiche Mannigfaltigkeit. Die nivellierende Gegenwart ist es, gegen die der Vorwurf sich richtet, wenn es bei Burckhardt heißt, daß die Zerstückelung und Kleinstaaterei des mittelalterlichen Lehnswesens »unserem machttrunkenen Jahrhundert« als Torheit und Unglück erscheinen würde. Der mittelalterliche Staat, resp. das Königtum habe einen sehr beschränkten Kreis der Tätigkeit gehabt, indem es von Kirche, Universitäten, Orden, Korporationen rings umgeben war. Heute habe der Staat alle Gewalt monopolisiert, das kleinstaatliche Dasein werde wie eine bisherige Schande perhorresziert; alle Tätigkeit für dasselbe genüge den treibenden Individuen nicht; man wolle zu etwas Großem gehören und verrate damit deutlich, daß die Macht das erste, die Kultur höchstens ein ganz sekundäres Ziel sei. Man könne den Zentralwillen gar nicht stark genug haben. Das Rechts des Staates breite sich immer weiter aus. »Die korporativen Rechte sind ohnehin tot; nichts besteht mehr, was geniert.« Es ist für Burckhardt eine sehr ernste Sache, dieses um sich greifende völlige Verzweifeln an allem Kleinen. »Wer nicht zu einem Dreißigmillionenreich gehört, der schreit: hilf, Herr, wir versinken! — Der Philister will mit Teufels Gewalt an einem großen Kessel essen, sonst schmeckt es ihm nicht mehr.« Jede Dezentralisation sei vorläufig zur Hoffnungslosigkeit verdammt, und auf freiwillige Beschränkung der Macht zugunsten des lokalen und Kulturlebens sei keine Aussicht. Als bloßes Gewimmer bezeichnet er es, wenn noch hier und da nach Dezentralisation und Selfgovernment gerufen werde. Wenn Jakob Burckhardt auch dem Großstaat in der Geschichte unter Umständen eine Mission, namentlich im Dienste weltgeschichtlicher Kulturkontinuität, zuerkennt, so steht er doch der nachmittelalterlichen Entwicklung zum Großstaats- und Großvölkertum innerlich verneinend gegenüber. Er sieht in dieser Entwicklung in erster Linie den Ausdruck von Macht und Machtstreben (und zwar in den sich demokratisierenden Staatswesen um nichts weniger wie in den monarchischen). Und dazu, wenn es sich um weltstaatliche oder weltvereinigende Tendenzen — wieder mit dem Zweck bzw. dem Resultat der Nivellierung und Ausgleichung — handelt, bloß »Stoff« und nicht geistige Interessen. Namentlich von Seiten der Wirtschafts-

111 und Erwerbsinteressen (und der weltwirtschaftlichen Solidarität) sah er das Programm auftauchen, welches »einen Staat und eine Sprache als das notwendige Ziel einer rein erwerbenden Welt postuliert«. »Das letzte Ende könnte doch wieder (freilich erst, wenn wir tot sind) ein Imperium romanum sein. . . Die heutigen Menschen haben allmählich in großen gesellschaftlichen Schichten schon unbewußt der Nationalität entsagt und hassen eigentlich jede Diversität. Sie opfern, wenn es sein muß, alle ihre speziellen Literaturen und Kulturen gegen »durchgehende Nachtzüge« auf. Man werde schließlich äußerst empfindlich gegen jeden Unterschied. »Die Vereinfachungen und Nivellierungen, welche der Großstaat garantiert, genügen nicht mehr; der Erwerbssinn, die Hauptkraft der jetzigen Kultur, postuliert eigentlich schon um des Verkehrs willen den Universalstaat.« Zu Anfang der 70 er Jahre hörte er aus einer Rede des amerikanischen Präsidenten Grant bereits das vollständige Programm solcher Tendenzen heraus: ein Staat und eine Sprache als das notwendige Ziel einer rein erwerbenden Welt. Wir können versucht sein einzuwenden, Burckhardt überschätze dieses Moment der Zeitbestrebungen und seine Furcht klinge wunderlich. Aber Burckhardt beharrt darauf: es sei doch gründlich wahr. — Aus seinen gedruckten und ungedruckten Vorlesungen tritt uns immer wieder seine wehmütige Klage entgegen über den Untergang des originellen, individuellen, lokalen Lebens, wenn angesichts eines rücksichtslos einherschreitenden Großstaates all dies Bunte, Reiche und Mannigfaltige versank, und er ist zur Sympathie geneigt für so viel geknickte Völkerphysiognomien, für so viel gebrochene Originalität und gehemmte Spontaneität, die etwa in einem Weltreich sich nun nach einem außer ihnen liegenden Zentrum zu richten hatten. Welcher seiner einstigen Zuhörer erinnerte sich nicht seiner Einleitung in die Vorlesung der Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts! Gegenüber der Gefahr, die von Seiten einer imperialistischen Hegemoniemacht und des modernen Internationalismus drohte, kann Burckhardt dann auch eine relative Schätzung der nationalstaatlichen Bewegung und des starken Nationalbewußtseins des 19. Jahrhunderts sich abringen. Sonst aber fallen auch die n a t i o nalen E i n h e i t s b e w e g u n g e n seiner Zeit, vorwiegend der deutschen und italienischen, unter sein Verdikt. Er betrachtete diese Vorgänge unter Gesichtswinkeln, die wohl nicht allen dabei wirksamen Kräften

112 und Zielen gerecht geworden sind. Unter anderem sah er sie schon in einem zu starken inneren Zusammenhang mit dem von ihm verneinten Prinzip der Volkssouveränität und der Demokratie, als daß er sie stärker positiv hätte einschätzen können, und dann eben unter dem Gesichtspunkt der oben berührten Zentralisations- und NivellierungsVorgänge. Für sein eigenes Land ist er natürlich für möglichste Beschränkung des eidgenössischen Zentralismus, und wir trauen fast unsern Augen nicht, wenn er (1871) doch, offenbar mit Bedauern, die Befürchtung ausspricht, »es könnte wohl kommen, daß das Beste und Notwendigste, nämlich die einheitliche Zivilgesetzgebung, mit dem ganzen übrigen Wust (nämlich von Bundesverfassungsbestrebungen) den Bach hinuntergeschickt würde«. Da es sich für Burckhardt, den Bürger des kleinen Stadtstaates, in erster Linie um Urbane Kultur handelt, kommt für ihn bei jenen Zentralisationsvorgängen vor allem das Schicksal der S t ä d t e als Herdstätten des geistigen Lebens in Betracht. Er wendet seine Aufmerksamkeit weniger den Verschiebungen zu, die zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung eingesetzt hatten, obgleich er auch hier Anlaß zu pessimistischen Betrachtungen findet und in der verhältnismäßigen Abnahme des Bauernstandes eine Abnahme der eigentlichen Volkssubstanz sieht. In der Hauptsache faßt er vielmehr die einerseits mit der neuzeitlichen Staats- und Verwaltungszentralisation, anderseits mit den volkswirtschaftlichen Wandlungen im Zusammenhang stehende H y p e r t r o p h i e der H a u p t - und G r o ß s t ä d t e und die verhältnismäßige Zusammenschrumpfung der Bedeutung provinzialer Stadtorte ins Auge. Was in diesen Großstädten an geistiger Produktion vor sich gehe, das habe, so urteilt er, im wesentlichen den Zusammenhang mit dem »nationalen Geist und der wahren Volksseele« verloren; den früheren kleineren Wirkungsstätten aber sei der Geist entzogen. Es seien zumeist — wie zum Teil das ganze zugrunde liegende Staatsgebilde — k ü n s t l i c h e Konzentrationen des Geistes und der Kapazitäten. »Alle kleinen Kreise, worin der deutsche Geist (neben dem deutschen Philisterium) warm saß, werden mit Eklat gesprengt, und das Große, was durch Konzentration entsteht, ist dann doch geistig medioker.« Es ist ja allerdings auch nicht gut, so sieht er ein, wenn die kleinen Winkel von Städten ganz ihrer Individualität überlassen bleiben, d. h.: nicht mehr geistige Tauschplätze sind. Aber die Großstädte mit

113 ihrem Zusammenstrom von Potenzen sind auch weniger wirkliche geistige Tauschplätze als Orte des »Geschwätzes moderner Salons«. »In den großen Städten . . . werden Künstler, Musiker und Poeten nervös.« »Die neueren großstädtischen Konzentrationen, unterstützt durch große, offizielle Aufgaben in Kunst und Wissenschaft, fördern nur die einzelnen Fächer, aber nicht mehr den Gesamtgeist, welchem nur durch Freiheit zu helfen ist.« Während die geistige Produktion in Kunst und Wissenschaft alle Mühe habe, um nicht zu einem bloßen Zweige großstädtischen Erwerbs hinabzusinken, gehe eben daneben her das Absterben des Lokalen mit seinen Vorteilen und Nachteilen und eine starke Abnahme — namentlich in den odiösen Riesenstädten, wie Berlin, London und Paris — selbst des Nationalen. Deutlich läßt Burckhardt erraten, was im ferneren auf diese Großstädte (und vielfach auch auf die kleineren) die schweren Schatten wirft: Sie sind in ihrer historisch erwachsenen, individuellen Einheit der Auflösung ausgesetzt, in ihrer baulichen, bevölkerungsmäßigen, wirtschaftlichen und politischen Individualität von der Zersetzung erfaßt. Zunächst: die Bevölkerung ist nicht mehr eine in langem Zusammensiedeln und Zusammenwohnen historisch zusammengewachsene Einheit, sondern ein mechanisches Massenaggregat. Diese Gegenwartserfahrung ist es, die ihn im Augenblick, wo er in der »Griechischen Kulturgeschichte« daran ist, das Athen des 4. Jahrhunderts zu schildern, in einem griechischen Redner das Auge auf den Satz fallen läßt: »Die Bürgerlisten füllten sich mit solchen, die die Stadt nichts angingen . . . E s ist aber nicht die Stadt glücklich zu preisen, welche von allen Enden her aufs Geratewohl viele Bürger anhäuft, sondern diejenige, welche die Rasse der von Anbeginn an Angesiedelten am besten erhält.« Dann trifft die bauliche Auflösung des Stadtbildes natürlich mit besonderer Wucht das ästhetische Empfinden Jakob Burckhardts. Wenn er schon überhaupt der Auffassung ist, daß der Zeitgeist von einer allgemeinen Demolierungswut gegen das Historische befallen ist, so tritt ihm das am baulichen Schicksal der Städte besonders sinnenfällig vor die Augen. Von da her stammt zum Teil der Zorn über die Schulpaläste, über die »scheußlichen Spekulationskasten«, die »infamen Zinskasten«, die Eisenbahnbrücken und Bahnhöfe, die Fabriken und ihre Schlote. J a auch ein Hauptstück des modernen Städtebauwesens, die öffentlichen M e i n e c k e , Festschrift.

8

114 Baulinien haben — wir möchten sagen als zerstörende, als rationalistische und dazu als amtliche Institution — sein Mißfallen und sind für ihn genügend charakterisiert, daß er sie zu den »Fortschritten« zählt. So ist für Jakob Burckhardt die Stadt, und nicht nur sie, sondern der Staat und das öffentliche Wesen überhaupt (auch Kirche und Schule) »völlig zum Z e r r b i l d e dessen, was das N o r m a l e wäre«, geworden. II. Die Quelle der um sich greifenden Auflösung im Bereich des öffentlichen Wesens aber sieht Burckhardt nun vor allem in der Massenherrschaft, der D e m o k r a t i e . Auflösung und demokratisches Nivellieren sind für ihn zwei Begriffe, die ganz nahe beieinander stehen. Die Pietätlosigkeit gegenüber dem Ererbten seitens der Demokratie sei es, was die Lage so bodenlos mache, eine Pietätlosigkeit, die auch gegenüber den vom Radikalismus selbst geschaffenen Gesetzen und Einrichtungen nicht halt mache, die Pietätlosigkeit dann derjenigen Bewegungen, die noch hinter dem Radikalismus vulgaris bürgerlicher Herkunft heraufbrausen, der sozialistischen (die dem radikalen Bürgertum ihre Geringschätzung nicht verhehlen, wie Burckhardt 1893 schreibt). Auch das Referendum, das ja zwar bisweilen von seiten des konservativeren Landvolkes den Ideen des städtischen Radikalismus gefährlich werde, gehöre dem Reich des Auflösenden an. Burckhardt hat gelegentlich grauenhafte Bilder gefunden, um den politischen Radikalismus, so wie er namentlich seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts wieder aufkam, zu kennzeichnen, jene Denkweise, welche alle Übel dem vorhandenen politischen Zustand zuschreibe und durch Umreißen und Neubau vom Boden auf nach abstrakten Idealen das Heil schaffen wolle. So heißt es in einem Brief: »Es graut einem, wenn man . . . sieht, wie der Radikalismus vergnüglich ins Gras hockt und alle Woche oder Monat irgend etwas Lebendigem das Genick durchbeißt oder den Kopf abreißt, weil es nicht war wie er . . ., wenn nur immer irgendeine Neuerung vor sich geht, wobei er die Kopfzahl für sich hat.« Und an einer andern Stelle: »Es gibt keine Lücken und Spalten mehr, in welche die Auflösungsgier ihre Krallen schieben könnte.« So ist denn in der Demokratie die eigentliche Kraft das Auflösende, nicht mehr die A u t o r i t ä t . J e mehr Burckhardt jene vorwärts-

115 schreiten sieht, um so höher steigt ihm die Autorität im Wert. Die a l t e n Institutionen und herrschenden Kreise übten diese Autorität aus. — Früher, da sei eine Zeit der selbstverständlichen Autorität gewesen, da habe alles Staatswesen auf der Autorität beruht, und auch wo Majoritäten entschieden hätten, da seien es doch nicht KopfZahlmajoritäten gewesen. Jetzt sei die Autorität als ein notwendiges Hauptmoment des öffentlichen Lebens verloren und, seit wilden Wogen der Majorität von unten herauf verfallen, nicht wieder zu gewinnen. Auf dem Boden der mit der Vergangenheit brechenden, abstrakt erdachten, nach abstrakten Rezepten konstruierten Staatsgebilde könne die Autorität nicht wieder erblühen. Burckhardt hält die wahre Autorität für ein menschlich-geistiges Verhältnis, das nur im wachsenden geschichtlichen Prozeß aus mannigfachen, auch geheimnisvollen Wurzeln heraufwächst, das man nicht durch abstrakten Gesetzesbefehl hervorrufen, nicht durch politischen Rationalismus erzeugen, wohl aber durch unhistorischen Rationalismus zerstören kann. Die Autorität ist ihm, wie er gern wiederholt, ein Mysterium. »Wie sie entsteht, ist dunkel, wie sie aber verwettet wird, das greifen wir mit Händen.« Da taucht jedoch dann die Frage auf, wie Burckhardt nun dieses politische Gut der Autorität mit seinem Freiheitsbegriff verrechnete. Man wird wohl sagen müssen •— und stößt dabei auf Stimmungen, die in der geistigen Aristokratie des 18. Jahrhunderts besonders stark herrschten •—•, daß Jakob Burckhardt die Macht der Autorität und damit des primitiveren, gebundeneren Konservativismus von seinem Pessimismus und Aristokratismus her wegen der »Vielen« jedenfalls für nötig hielt. Für die »Wenigen« blieb dann immer noch jener f r e i e Konservativismus höheren Ranges, von dem wir oben sprachen. Er bekennt (1876), daß es eine Wohltat sei, wenn jemand wenigstens die Zügel fest in der Hand habe, denn »er sei alt geworden und wisse, daß Unsicherheit und Richtungslosigkeit zwar nicht das Schlimmste an sich, wohl aber der Weg dazu seien «. Von da aus kommt er z. B. sogar zu einer relativen Schätzung der mächtigen Gestalt Bismarcks, dessen politische Wege er sonst nicht mitzugehen vermag. »Für Deutschland . . . war Bismarck geradezu Anhalt und Standarte jenes Mysteriums Autorität.« Bei Gelegenheit seines Sturzes schreibt er an einen deutschen Freund am 25. März 1890: »Und in diesen Zeiten .zerschmettert' man den Kanzler. Nicht als ob derselbe eine 8*

116 Mixtur gegen die großen Gefahren im Sack bei sich trüge, aber es wäre doch wohlgetan gewesen, wenigstens nach außen alles, was nach Autorität aussieht oder daran erinnert, nach Kräften zu schonen. Der Artikel möchte auf einmal ziemlich rar werden.« Burckhardt ist ja allerdings der Ansicht, man habe auch in Deutschland schon so lange mit Majoritäten regiert, daß es fraglich sei, ob man die Karte der Autorität noch beliebig ausspielen könne. Am 16. Juni 1888 bereits hatte er im Hinblick auf den Thronwechsel im Deutschen Reich einerseits und auf den wachsenden Radikalismus anderseits geschrieben: »Wir denken, . . . Bismarck nimmt noch einmal Handgeld und hilft weiter.« Es sei nun einmal das Schicksal des Reiches, daß es auf außergewöhnlichen, kräftigen und pflichttreuen Individuen beruhe. Schon 1881, als er im Hinblick auf das Deutsche Reich sich fragte, ob eine »starke, ernste Herrschaft« noch möglich sein werde, hatte er die Antwort bereit: »Jedenfalls würde der ganz rand- und bodenlose Mutwille, welchen das laisser aller in unseren städtischen Volksmassen großgezogen habe, sich zum Staunen der Welt größtenteils in alle Mauslöcher verkriechen, wenn einmal seriös dreingefahren würde.« Im Grunde glaubte er nicht mehr daran, daß in den modernen politischen Zuständen wieder eine w a h r e Autorität erwachsen werde. Allerdings, so deutete er die Zukunft, nach dem Durchgang durch die Massenherrschaft werde die Herrenlosigkeit und der gänzliche Mangel an Respekt wieder umschlagen in Autorität. A b e r was wird's f ü r eine sein! »Dann eröffnen sich jene Zeiten, da alle Stadien des Durcheinanders müssen durchlaufen werden, bis endlich irgendwo sich nach bloßer maßloser Gewalttätigkeit eine wirkliche Gewalt bildet, welche mit Stimmrecht, Volkssouveränität, materiellem Wohlergehen, Industrie usw. verzweifelt wenige Umstände macht. Die ist das unvermeidliche Ende des Rechtsstaats, wenn er der Kopfzahl und ihren Konsequenzen verfallen ist.« Da sieht er herankommen das »angenehme« 20. Jahrhundert, wo die Autorität wieder ihr Haupt erhebt — und ein s c h r e c k l i c h e s H a u p t . Wir wollen ihm aber nicht weiter in seine Zukunftsvorstellungen hinein folgen, sondern bei seinem Widerwillen gegen den zeitgenössischen demokratischen Geist stehen bleiben. Auf den ersten Blick möchte man annehmen, daß er die demokratische Doktrin, die den Staat von dem politisch freien und selbständigen I n d i v i d u u m her aufbaut, begrüßen müßte. Doch es ist ja klar, daß sein I n d i v i d u a l i -

117 t ä t s - und P e r s ö n l i c h k e i t s b e g r i f f g ä n z l i c h v e r s c h i e d e n ist von dem a b s t r a k t e n G l e i c h h e i t s b e g r i f f vom Menschen, der der r a t i o n a l i s t i s c h - d e m o k r a t i s c h e n T h e o r i e zugrunde liegt. An diesen rationalistischen Persönlichkeitsbegriff denkt er, wenn er sich gegen die »wahnsinnigen liberalen Theoretiker und Konsequenzmacher« wendet. Getröstet er sich auch gelegentlich der Hoffnung, daß die Ungleichheit einmal wieder zu Ehren kommen werde (allerdings wie!), so sieht er doch mit Schrecken, wie der G l e i c h h e i t s d ü n k e l über die modernen Menschen kommt. Und überall, nicht bloß heute, auch schon in der griechischen Geschichte meldet sich — so ist seine Meinung — dieser Gleichheitsdünkel dann, wenn es mit einem Weltalter bergunter geht. Er greift zu seinen ätzendsten Worten, wenn er dem Aberwillen gegen seine Zeit, wo nur noch das N i v e l l i e r e n Kraft habe, Ausdruck geben soll. Besonders die Hauptkonsequenz dieses Nivellierungsprozesses ist es, gegen die er seinen Spott und Zorn wendet: das a l l g e m e i n e W a h l r e c h t . Das allgemeine gleiche Wahlrecht, durch das der Staat zum bloßen K o p f z a h l s t a a t werde, zum Schauplatz der bloßen K o p f z a h l b e r e c h t i g u n g , wo alles K o p f z a h l b e s c h l ü s s e n ausgeliefert sei. Man habe die Demokratie ja nicht dafür, daß man auf die Vernunft höre; denn hätte man das gewollt, so hätte man das beschränkte Stimmrecht und den Respekt vor Respektspersonen nicht abzuschaffen brauchen. Er spricht von der »gottesjämmerlichen Majorität«, von »Wahlhuberei«, vom »Stimmpöbel« und drückt sich in einem Brief einmal folgendermaßen aus: »Hat man Ihnen geschrieben, daß sich bei der Volkszählung vorige Woche bloß für die Stadt (d. h. Basel), ohne die drei Dörfer, einundsechzigtausend sog. Seelen ergeben haben? Und alles was Hosen trägt und 20 Jahre alt und nicht Fremder ist, darf stimmen und uns das Gesetz machen . . .« Den Kelch des suffrage universel müssen wir, seufzt er, bis auf die Hefe leeren. Und die Volkssouveränität, so schreibt er bereits in den vierziger Jahren an Kinkel, habe er bis »hierher«, d. h. bis an den Hals, satt. Von dieser demokratischen Staatsidee aus nimmt seiner Auffassung nach vor allem jene Auflösung organisch erwachsener Staatsbildungen ihren Ausgang. Im einzelnen sind es dann eine ganze Reihe von Folgeerscheinungen, die sich an den Einzug der Demokratie hängen.

118 Da ist zunächst die K n e b e l u n g der M i n o r i t ä t e n , die V e r d r ä n g u n g der a l t e n F a m i l i e n und der b e d e u t e n d e n E i n z e l p e r s ö n l i c h k e i t e n aus dem öffentlichen Leben. Er spricht 1880 davon, daß die ganze Schweiz reich sei an hablichen, fähigen und opferwilligen Leuten, welche aber im günstigen Fall in den Minoritäten der kantonalen Räte permanent überstimmt werden; in die eidgenössischen Räte kämen sie — einige katholische Gegenden ausgenommen •— nicht mehr. Und von Basel im besonderen sagt er 1881, hier, »in unserem kleinen Kessel«, sei der Mutwille einiger ganz enorm miserabler Gassenbuben imstande, den besten Leuten, den Aufopferungsfähigen, die Amtsführung zu verleiden oder sie heimlich von deren Übernahme abzuschrecken. Und wenn er von den Demagogen einmal meint, sie müßten nicht Demagogen, sondern wahre Engel sein, wenn sie den Umstand, daß nun die ganze unreife Masse das Stimmrecht erhält, nicht benutzten, so fügt er bei: »Dasjenige Gefühl aber, was man am allerleichtesten aufregen kann, ist ja der Neid und das Mißtrauen gegen die .Herren'. Warnend ruft er »allen, die irgend etwas sind, vorstellen und besitzen«, zu, sich nur recht deutlich zu sagen, daß die Fürsten, auf welche man jetzt pirsche wie auf Jagdwild, die Vormänner von ihnen allen seien. 1887 sieht er in Frankreich da und dort bereits die Gefahr Tatsache werden, daß kein fähiger Mann mehr an irgendeiner entscheidenden Stelle stehe und daß es überhaupt keine Respektspersonen mehr gebe. Und wiederum: »Alle möglichen Rechte hat man, es bleibt nur noch übrig, die Minoritäten in allen Lebensbeziehungen durch Kopfzahlmajorität völlig stumm zu machen und allmählich zu vernichten.« Den Familien von geistiger und sittlicher Tradition, den Volkskreisen, die auch die geistige Kultur wesentlich trugen, wird allmählich der Lebensraum verengt; sie werden aus dem öffentlichen Wesen verdrängt und verlieren als bestimmende Faktoren des öffentlichen Geistes die Wirkungsmöglichkeit. Und das große Individuum verträgt die Demokratie schon gar nicht. Den Haß, der sich um 1890 in Frankreich gegen Ferry angesammelt hatte, kommt, so ist Burckhardts Deutung, »einzig davon her, daß er etwas, und noch gar nicht viel, über die Medokrität hinausragte«. — »Mittelmäßig muß man sein, sonst wehe!« Wenn die ganze Welt meint, schreibt er am 17. März 1888 an v. Preen, man könne es von unten herauf mit der Masse und mit den von Majoritäten Emporgehobenen genügend machen, dann protestiere ein solcher

119 Mann (er spricht von Kaiser Wilhelm I., der eben gestorben war) durch sein bloßes Dasein: »er war das Seltene, wie Sie sagen. Für das Seltene hat denn freilich die Demokratie keinen Sinn, und wo sie es nicht leugnen oder entfernen kann, haßt sie es von Herzen. Selbst eine Ausgeburt mediokrer Köpfe und ihres Neides, kann sie auch als Werkzeuge nur mediokre Menschen brauchen.« Diesen Briefstellen dürfen wir ein paar bekannte Sätze aus den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen « beifügen, wo er •— mit größerer Behutsamkeit in betreff der Anklagen gegen die Demokratie •— von einer Schicht von Leuten spricht, welche sich und die Zeit vom Bedürfnis nach großen Männern emanzipiert erkläre. Und wenn er auch zugibt, daß bisweilen heftiges B e g e h r nach großen Männern verlaute (namentlich im Staat, weil die Dinge in allen großen Ländern in eine Bahn geraten seien, daß man mit gewöhnlichen Dynasten und Oberbeamten nicht mehr durchkomme, sondern Extrapersonen haben sollte), so schlägt dann doch bei ihm wieder der Haupteindruck vor: »Wenn aber der große Mann käme und nicht gleich in seinen Anfängen unterginge, so ist noch die Frage, ob man ihn nicht zerschwatzen und durch Hohn über ihn Meister würde. Unsere Zeit hat eine zermürbende Kraft.« Wir wollen es unterlassen, auf die Partien der »Griechischen Kulturgeschichte« hinzuweisen, die in diesem Punkte einerseits mit beständigem Seitenblick auf die Gegenwart des Historikers geschrieben sind, anderseits wohl auch manchmal das Auge für die Kritik an der Gegenwart überschärft haben. Es überrascht uns nicht, wenn Burckhardt voll ist der Klage, daß die bisher herrschenden Kreise der demokratisch-radikalen Bewegung zu wenig W i d e r s t a n d s k r a f t entgegensetzten. Dabei blickt aus seinen Worten ab und zu der Wunsch hervor, daß durch die vordemokratischen Mächte von Staat zu Staat ein Solidaritätsempfinden gehen möchte, gleichgültig welche besonderen Verfassungsformen sie in den verschiedenen Ländern vor den andrängenden Kräften von unten herauf zu schützen haben. Er mißbilligt es, wenn er unter den Fürsten diese gegenseitige Solidarität vermißt und zusehen muß, wie die Untergrabung ihrer Autorität von ihnen selbst ausgeht, wie es namentlich in der italienischen Einigungsbewegung und in Deutschland 1866 geschehen sei. »Man wird eben nicht sicherer, wenn man seinesgleichen verjagt und die Länder erbt.« Es hänge ja sowieso nur noch von wenigen Umständen ab, wie lange

120 die Dynastien sich werden halten können. Als er um 1870 bei einem Sängerfest in Freiburg im Breisgau auf einer Hängetafel an einer Girlande die Verse las: »Der Fürst, der mit dem Sänger geht, kann nur ein edler sein; der Sänger für den Fürsten steht auch seinerseits dann ein«, da fiel ihm, Burckhardt, »ein ganzes Regiment von Nebengedanken ein«. Mit Schrecken sieht er, der aristokratisch gesinnte Republikaner, wie auch in Monarchien der republikanische Gedanke sich regt und wie ungeniert man zum Beispiel in Italien in den 70 er Jahren in Gesprächen von den Vorzügen der Republik redete. »Das erste Mal, in einem Gartenkonzert in Bergamo, standen mir die Haare zu Berge.« Mit deutlicher Solidaritätsmahnung schreibt er 1880: »Dabei können alle, die irgend etwas sind, vorstellen und besitzen, sich nur recht deutlich sagen, daß die Fürsten, auf welche man pirscht wie auf Jagdwild, die Vormänner von allen sind.« Wie empört ist er, wenn er sieht, wie sich das »unglückliche« Königspaar von Italien einmal gefallen lassen mußte, in Bologna die Rede des anerkannt republikanischen Carducci — »die von Fortschritt und Kulturkampf stank« — anzuhören (unter ungeheuer verbreitetem Applaus an den starken Stellen). Es erregt sein Bedenken, wenn er zusehen muß, wie die Staatsmänner auch in Monarchien die Demokratie nicht mehr bekämpfen, sondern mit ihr rechnen, um die Übergänge möglichst gefahrlos zu machen. Da fragt er sich dann, wie man noch darauf hoffen könne, die Autorität auszuspielen, nachdem man so lange mit Majoritäten regiert habe, und spricht (in den 80er Jahren) von der »gegenwärtigen Todesschwäche der Regierung vor irgendeiner Sorte öffentlicher Meinung«. Es ist gelegentlich reiner ungeschminkter Restaurationsgeist, der aus Burckhardts Worten spricht, und wir müssen es ihm auch hier überlassen, wie er seine theoretische Bereitwilligkeit zu gewaltsamer Niederhaltung der politischen Fortschrittsbewegung im einzelnen verrechnet mit seiner Auffassung von der Macht, die böse ist. Wie oft bedauert Burckhardt, daß man in der Heimat und anderswo so wenig Widerstand leiste, wenn die Massen in steigendem Maße die Dinge in die Hand nehmen, ja daß man den Kräften von unten herauf noch expreß das Messer in die Hand drücke. »Seit der Pariser Kommune ist überall in Europa alles möglich, weil gute, vortreffliche liberale Leute vorhanden sind, welche nicht genau wissen, wo Recht und Unrecht sich abgrenzen, und wo die Pflicht von Widerstand und

121 Gegenwehr beginnt. Diese sind's, welche überall den entsetzlichen Massen die Türen aufmachen und die Pfade ebnen.« Frankreich, meint er ein andermal, werde noch lange unten durch müssen, wie jede Nation, deren Gebildete entschlossen seien, sich gar alles gefallen zu lassen, »solange der einzelne Geld mache«. Dieser letztere Gedanke, daß die erwerbenden Kreise viel zu leicht zu politischen, verfassungsrechtlichen Konzessionen bereit seien, solange die Zustände ihrem Geschäft und ihrem Gelderwerb günstig seien, kehrt in Burckhardts Äußerungen mehrfach wieder. »Die erwerbenden und genießenden Franzosen sind fest entschlossen, sich auch ins widerwärtigste zu fügen, solange sie sich selber noch weismachen können, der ökonomische Zustand werde im ganzen unerschüttert bleiben. Daß dies möglich ist, wenn man ringsum alle übrigen Schutzwehren dem Boden eben machen läßt, gestehen sie sich nicht ein, weil es sie im Erwerb und Genuß stören würde. Wartet nur.« Neben dem, daß die Konservativen allzuleicht auf die demokratischen Methoden eingingen — die vornehmen Basler z. B. es schon 1879 verstanden, liberale Schützenfestreden zu halten — sei ihre ultimo ratio manchmal einfach: es komme doch, und es nutze nichts, sich dagegen zu sperren; die völlige Demokratisierung komme doch. J a auch Burckhardt selbst gibt dieser Resignation Ausdruck, wenn er etwa 1879 an einen Freund schreibt: »Was Sie von den Konservativen im schönen badischen Lande sagen: daß dieselben allen Zusammenhang mit der Vergangenheit verloren haben und von suffrage universel, Opportunismus und Haschen nach Vorteil angesteckt sind, das gilt, Gott sei's geklagt, auch von uns schweizerischen Konservativen. Aber wir können ja nicht mehr anders. Die Gewalttätigkeit des Radikalismus, solange er oben ist und tun kann, was ihm beliebt, ist derart, daß man auf seine Mittel eingehen muß« (wobei Burckhardt allerdings zunächst an das Referendum denkt, das dem Radikalismus selbst gefährlich werden könne). So sieht er denn mit größter Besorgnis, wie überall die Kräfte von unten im Steigen begriffen sind, »in ganz Europa nichts anders als eine unwiderstehliche Zunahme der Kräfte von unten herauf«. »In der ganzen Welt . . . geht's bei jeder miserablen Wahl immer deutlicher nach links, und wenn nicht irgendwo geneuert und zerstört wird, so ist das Pack unzufrieden. Irgendeine partielle Genesung hilft zu nichts mehr . . .« Und er mag das lächerliche Gerühm nicht

122 ausstehen, das neben dieser Demokratie herläuft. Man kennt den tiefen Pessimismus, der über den Schilderungen der Demokratie in der »Griechischen Kulturgeschichte« Burckhardts liegt. Um keinen Grad optimistischer sind seine Urteile über die Demokratie seiner eigenen Zeit, ja die Farben, mit denen er jenes furchtbare Gemälde griechischen politischen Niedergangs malte, besitzen ihre Frische zum Teil, weil sie aus dem Gegenwartserlebnis Burckhardts stammen. Burckhardt wird nicht müde, in immer neuen Wendungen seiner Auffassung von Volk und Volksherrschaft Ausdruck zu geben. Höhnisch spricht er von der Art, wie das »edle Volk« in allen Ländern von Westeuropa sich zu benehmen beginne. »Oh, welche Masse von Sterblichen würde zu ihrem eigenen Besten unter Kuratel gehören! Die alte Gesetzgebung und Verfassung war eine solche Kuratel, schlecht genug, aber es war eine.« Erbärmlich und heillos sei die Lage überall, wo von unten her (und durch die Presse) regiert werde. Und wenn Burckhardt sich gelegentlich gescheut hat, den modernen demokratischen und sozialdemokratischen Massen die schlimmsten Bezeichnungen direkt anzuhängen, wie »Pack« und »Kanaille«, so können wir sie doch in der »Griechischen Kulturgeschichte« lesen. Und fest steht sein Glaube, daß alles mit dem wachsenden Jakobinismus in immer schrecklichere Hände falle. »Man hat das Gefühl, als ob die Welt nach und nach in die unrechten Hände geriete.« Im Anschluß an die radikalen Bewegungen in der Schweiz in den vierziger Jahren schreibt er an seine Freunde in Deutschland in deutlichsten Worten: »Der ganze schweizerische Liberalismus mit all seinen Phrasen ist mir eine durchaus lächerliche Erscheinung.« Täglich wachse seine Verachtung gegen dies politische Geschmeiß, das sich den Mantel der Freiheit umschlagen möchte. »Das Wort Freiheit klingt schön und rund, aber nur der sollte darüber mitreden, der die Sklaverei unter der Brüllmasse, Volk genannt, mit Augen angesehen und in bürgerlichen Unruhen duldend und zuschauend mitgelebt hat.« Er spricht von dem »Liberalismus der Schwünge, Knoten und Dorfmagnaten«. »Ich weiß zuviel Geschichte, um von diesem Massendespotismus etwas anderes zu erwarten als eine künftige Gewaltherrschaft, womit die Geschichte ein Ende haben wird,« und an Kinkel schreibt er, die Deutschen sollten Gott danken, daß in Köln, Koblenz u. a. O. preußische Garnisonen liegen, so daß »Euch nicht über Nacht jede beliebige Schär kommunistisierter Knoten über den

123 Pelz kommen und Euch Eure Kisten und Kasten ausnehmen kann. Glaub mir, das politische Volk, an welches gewisse "Leute prahlend appellieren, existiert, wenigstens in Deutschland und in der Schweiz, noch nicht; statt seiner ist eine Masse vorhanden, in der eine Menge herrlicher Keime und Charaktere schlummern, die aber als Masse in den Händen jedes Schuftes wäre und sich dann als Bestie gerieren würde«. Und eben gegenüber diesen Führern fallen dann besonders liebenswürdige Komplimente. Er spricht gelegentlich von miserabeln Gassenbuben, die imstande seien, den besten Leuten, den Aufopferungsfähigen, die Amtsführung zu verleiden. 1875 schreibt er aus der Schweiz, es kämen immer mehr geringe und sogar recht schlechte Subjekte zu Ehren und Ansehen, und die Masse habe nichts dagegen weil dieselben ihren Geschmack noch lange nicht beleidigen. Oder: in der Schweiz könne schon der geringste Lausbube Begehrlichkeiten wecken und dadurch gefährlich werden. Und da stehen bei Burckhardt die Worte vom »gehirnerweichten Radikalismus«, von der »furchtbaren geistigen Nullität des Radikalismus«. Die Massenherrschaft erscheint ihm als der Nährboden des S t r e b e r t u m s , das da und dort, in rascher Abwechslung von Personen und Tendenzen, zum eigentlichen Streberfraß sich auswachse. Hat seine Auffassung von der Streberwirtschaft in der griechischen Demokratie mehr sein Urteil über die der eigenen Zeit verdüstert oder umgekehrt die Gegenwartserfahrungen mehr jene Auffassung? Einerseits stellt er fest, daß die Massen von den Wühlern in die Politik hineingezogen werden und nun mitreden — »es ist ein wahres Babel« •—, anderseits, daß die Massen auf ihre meneurs drücken und die Demagogen (denen der Staat anheimfalle) im Sinne der städtischen Massen regieren. Da klagt er einmal: Frankreich werde wie mehr oder weniger alle modernisierten Staaten von Strebern bis aufs Mark ausgefressen und... das Strebertum wird immer wieder Meister, endlich: »Die Länder fallen den Demagogen anheim«. Es vergehe kein Tag, daß die Nase nicht an irgendeinen neuen Kerl stoße. Hinter allen Kulissen stünden Streber bereit, um Ämter und Stellen vorkommendenfalls sofort in Besitz zu nehmen, Leute ohne Herkunft, Familie und Tradition. »Die Volksführer müssen . . ., um wiedergewählt zu werden, die geschreilustigen Schichten der Volksmassen für sich haben, und diese verlangen, daß stets etwas geschehe, sonst glauben sie nicht, daß .Fortschritt* vorhanden sei.«

124 Und nun sein Urteil über ein Hauptorgan, das von diesem demo kratischen, radikalen und Fortschrittsgeist als seine Trompete in Dienst genommen wird, die P r e s s e (die dann auch Kunst und Künstler in ihren Bereich und ihre Abhängigkeit ziehe). 1843 schrieb er aus Paris an Kinkel: »Die Journalistik und der unsägliche, furchtbare Druck, den sie hier auf Politik und Gesellschaft ausübt, gibt mir täglich zu denken. Sie glauben nicht, wie leichtsinnig und frivol hier diese entsetzliche Waffe gehandhabt wird! — Wenn ich nicht im Punkte der Preßfreiheit seit langer Zeit mit mir eins geworden wäre, so hätte P a r i s mich irre machen können. Der Mißbrauch der Presse ist ein v i e l größeres Ü b e l als man glaubt, und keine Tyrannei ist ärger als die der Zeitungsschreiber«, und 1893 noch lautet sein Urteil: »Was uns seit hundert Jahren nervös und des Teufels gemacht hat, ist vor allem die Presse, nicht sowohl durch ihre beständigen tatsächlichen Lügen, als durch die Über- und Unterschätzung, die falsche Beleuchtung, welche sie allen Dingen angedeihen läßt. Sie tut dies: 1. damit in Staat und Gesellschaft danach gehandelt werde und der sog. Fortschritt, d. h. das ewige Ändern Mode bleibe, 2. damit sie selber ein recht interessantes Geschäft und möglichst begehrt und abonnabel sei.« 1891 meint er einmal von der »Straßburger Post«, der »Münchener Allgemeinen Zeitung« usw., sie würden permanent durch eine Lügenbande bedient. Da nun die Maßstäbe, mit denen er die demokratische Umwandlung der politischen Verhältnisse Europas mißt, weniger in den vordemokratischen politischen Institutionen an s i c h als auf dem Gebiete geistiger Kulturwerte liegen, so ist Burckhardts Blick besonders darauf geheftet, in welchem Maße und in welchem Sinn dieser neue politische Geist auf den Geist der Kultur abfärbt und ihn in sich hinein zieht. Und da mit der modernen Demokratie die moderne a l l g e m e i n e S c h u l b i l d u n g und das moderne Volksschulwesen eng verbunden sind und als eine ihrer besonders gepriesenen Errungenschaften gelten, so ergibt die Betrachtung von Burckhardts Stellung zu diesem Schulbildungswesen von neuem, wie innerlich fremd und widerstrebend er dem ganzen modernen Geist gegenüberstand. E r spricht von diesem Stolz der modernen Zeit schon gleich mit ganz respektlosen Ausdrücken, wie »Schultum« und »Schulerei«. Fast peinlich genau verzeichnet er in seiner Heimatstadt die einzelnen Zeichen der »furchtbar anwachsenden Schulerei«, namentlich hinsichtlich der immer neu

125 erforderlichen Schulhausbauten. Wenn er etwa besonders beredt von dem politischen Elend um 1880 spricht, das in Basel en miniature wie zu Paris im großen regiere, dann fährt er beweisend fort: »Der große Rat hat wieder einmal eine Konzession an die Radikalen, einen jener abgeschmackten Fortschritte geboren, die gänzliche Abschaffung des Schulgeldes auch für die höheren Schulen ; wirklich talentbegabte Arme hatten schon bisher alles frei, aber jetzt hat's der mittelmäßige épicier auch für seine Brut legal ertrotzt. Und fortan deckt's der .Staat'.« Und eine andere Briefstelle, die gegen den öffentlichen Gratisunterricht gerichtet ist, sei anschließend zitiert : »Es ist nichts als eine Kette von Dingen derselben Art : Gratisunterricht, Zwangsunterricht, Maximalzahlen von Dreißig per Klasse, Minimum von soundsoviel Kubikmeter Raum per Schulkind, Überfüllung mit Fächern des Wissens, Nötigung der Lehrer zu oberflächlicher Vielseitigkeit usw.« Es ist zweifellos, daß ihm das Wachstum des öffentlichen allgemeinen Schulwesens widerwärtig war, weil es einmal einerseits eine Folge der Demokratisierung des Staatswesens war und weil anderseits umgekehrt die allgemeine Zugänglichkeit der Schule das politische und soziale Heraufsteigen der Masse wieder beförderte und dann aber zu einer allgemeinen Demokratisierung der Kultur führte. Er ist jedenfalls nicht der Meinung, daß »der Valor eines Menschen durch Schulsitzen ermittelt werden könne«, und er meint, es könne sein, daß künftige Zeiten einmal davon abkommen würden. Er findet es umgekehrt lächerlich, wenn man die Vergangenheit nach dem geschichtlichen Wertmaßstab der Verbreitung der Schulbildung beurteile. Unter den »maßlosen Staatsausgaben«, die ein modernes demokratisches Parlament beschließt, empören ihn jeweils vor allem die immer neu dekretierten Ausgaben für neue Schulhäuser, und in die Zukunft blickend meint er : »So wie schon dieser und jener Krach, so wird einmal der Schulkrach eintreten, da man dieses ganze Treiben plötzlich nicht mehr aushält. Aber es könnte in Verbindung mit schrecklichen andern Dingen kommen, an die wir lieber nicht denken. Es könnte sein, daß gegenwärtig das Schultum schon seinen Gipfel erreicht hätte und nun wieder sich seinem Niedergang näherte. « Bei Gelegenheit des Baues der Untern Realschule in Basel offenbart er, möchte man sagen, seine geheimsten Wünsche, wenn er schreibt: »Wenn's aber einmal mit dem jetzigen Schulwahnsinn kracht, dann kracht's auch gleich recht. Was dann aus diesen Schulpalästen

126 werden wird?« Aus der »Griechischen Kulturgeschichte« wissen wir, wie wenig sympathisch Burckhardt überhaupt das s t a a t l i c h e Schulwesen war und wie er Bildung und Erziehung eher als eine Aufgabe der Gesellschaft betrachtete, auch wieder ganz im Gegensatz zu modernen demokratischen Auffassungen. Im Zusammenhang mit dieser Gegnerschaft gegen die moderne Auffassung der staatlichen Schulbildung steht auch seine höchst skeptische und gelegentlich scharf ironisierende Einschätzung der a l l g e m e i n e n B i l d u n g überhaupt, namentlich eben im Hinblick auf das Eindringen der Massen in die Bildungswelt. Unser Jahrhundert werde dereinst, so meint er einmal Kinkel gegenüber, den Spottnamen des »gebildeten« tragen. »Heutzutage strömen nämlich einem jeden, er sei so dumm wie er wolle, so viele einzelne Funken der Bildung zu, daß er sich eben mit Haut und Haaren für gebildet hält. Vor Zeiten war jeder ein Esel auf seine Faust und ließ die Welt in Frieden, jetzt dagegen hält man sich für gebildet, flickt eine .Weltanschauung' zusammen und predigt auf die Nebenmenschen los.« Und um dieselbe Zeit (1844) schreibt er an Kinkel: »O diese verfluchte universelle Bildung, die man alle Tage in den Himmel erheben hört! Sie ist's die dem großen Haufen alle paar Wochen eine neue Mode von Begeisterung aufsalzt, die tagtäglich ein ganzes Gebäude von konventionellen Anschauungen, d. h. Täuschungen rund um uns herum aufbaut, in welchen sich dann ganz große Schichten der Gesellschaft bewegen.« Es ist kein Zweifel: er sieht in der allgemeinen Bildung vor allem eine D e m o k r a t i s i e r u n g der Bildung und ist der Ansicht, daß d a m i t nicht die g e i s t i g e A r i s t o k r a t i s i e r u n g der neu an dieser B i l d u n g T e i l h a f t i g e n h e r b e i g e f ü h r t w e r d e , sondern eine D e m o k r a t i s i e r u n g des B i l d u n g s s t a n d e s , der seinem Wesen nach nur a r i s t o k r a t i s c h sein kann. Es fällt uns hier die Stelle ein, die in den »Erinnerungen aus Rubens« steht: »Immer von neuem aber wird man sich, bis ins einzelne hinein, die damalige Welt der Besteller und Bestellungen in ihrem Gegensatz zur heutigen zu vergegenwärtigen haben. Vor allem ist der Boden, auf welchem die Kunst wächst, nicht der von modernen Großstädten, von beweglichem und damit auch sehr wandelbarem Reichtum. Keine öffentliche Meinung, welche von beständiger Neuerung ihre Nahrung zöge; keine Presse, welche als Organ einer solchen Meinung diente und auch die Kunst des Ortes in ihren Bereich, ja

127 sogar die Künstler in ihre Abhängigkeit zu bringen imstande wäre. Daneben kein Roman mit dem Programm beständiger Neuerfindung aus der Tageswelt, mit vorherrschender Verbildlichung der umgebenden Menschen und Hergänge, wie sie auch sein mögen. Kein plötzliches Pathos, welches über die von der sog. Bildung bewegten großstädtischen Schichten käme, um in Kürze einer andern Platz zu machen. Mit einem Worte: kein Publikum, von welchem alles und jegliches und also auch die Malerei abhinge, und keine Ausstellungen der heutigen Art.« Mit welcher Wärme hat er in der Vorlesung über das 17. und 18. Jahrhundert betont, daß damals noch für die Aristokratie (mit ihrer Muße und ihrem geistig belebten Verkehr) geschrieben, gedichtet, komponiert und gemalt wurde. Da war noch kein großes sog. Lesepublikum. Der Autor hatte bei seiner Produktion noch nirgends die Popularität oder Massenwirkung im Auge; das P u b l i k u m war noch ein r e l a t i v v o r n e h m e s und e x k l u s i v e s . Es war alles in allem eine vornehme Literatur. Man s c h r i e b noch v ö l l i g f ü r die höheren und h ö c h s t e n Stände. In Summa: lauter Protektion von oben (und nicht durch enrichis), wobei sich die Kunst doch besser befindet als bei der heutigen Parteinahme von unten. So sieht Burckhardt in der Tatsache, daß im Publikum und in dem Kreis der Patrone von Kunst und Literatur mit der Demokratisierung Europas eine grundlegende Wandlung eingetreten ist, ein höchst bedenkliches Moment für das Schicksal der Künste. »Das Schicksal der Künste . . . erscheint mir doch noch um einen Grad dunkler, nicht nur weil es auf die bedenklichste Weise ins allgemeine Weltschicksal möchte verflochten werden, sondern weil die möglichen Besteller und Abnehmer ein gar zu meliertes Korps geworden sind und Kirche und Vornehme nicht mehr den Grundton angeben . . .« Und blickt er schärfer in die Zukunft, so schwebt schon eine fast düster gewisse Antwort über der Frage: »Was aber die Kunst des 20. Jahrhunderts für Patrone und Mäzenaten haben wird? und ob sie nicht in einer großen allgemeinen Flut untertauchen?« Burckhardt sieht im Streben nach allgemeiner Bildung schon zum großen Teil überhaupt kein rein geistiges Bedürfnis. Die viele Bildungsgelegenheit in den modernen Städten schaffe bloß hinaufgeschraubte Mediokritäten, welche die vorhandenen Positionen durch Abwarten und gesellige Vorteile an sich reißen. »Der erwerbende Kulturmensch möchte gerne geschwind recht vieles mitlernen und mitgenießen.«

128 »Das Neueste in der Welt ist das Verlangen nach Bildung als Menschenrecht, welches ein v e r h ü l l t e s B e g e h r e n nach W o h l l e b e n ist.« Die Bildung, statt ein geistiges Medium zu sein, sei bei der großen mittleren Leuteschicht ein Vehikel des F o r t k o m m e n s und nicht mehr. Sie schaffe dem neuen Europa jene endlosen Generationen von Unzufriedenen, und das Resultat sei doch nur: Unzufriedenheit aller mit allem, Drängen nach höheren Lebensstellungen, welche aber ja doch nur in beschränkter Zahl vorhanden sind. »Eine Stadt« — so meint Burckhardt — »ist gegenwärtig ein solcher Ort, nach welchem unvermögende Eltern schon deshalb gerne übersiedeln, weil man ihnen dort die Kinder zu allen möglichen Prätensionen ausbildet.« So stecken in der modernen demokratischen Bewegung auch da, wo sie auf das geistige Gebiet übergreift, doch wesentlich niedrige materielle Motive und Begehrlichkeiten. Das ist nun aber nach Burckhardts Auffassung auch ganz unmittelbar der Fall. Mit Erbitterung hat er jeweils in heimischen wie in fremden Parlamentsund Volksbeschlüssen verfolgt und (neben den technischen und industriellen Neuerungen) mit Vorliebe mit dem ironisch gemeinten Ausdruck »Fortschritte« in seinen Briefen registriert: Das Anwachsen der Staatstätigkeit und das damit überhandnehmende Dekretieren von Ausgaben; Ausgaben vor allem im Interesse der politisch zur Herrschaft gelangten Massen, für Ämter, Stellungen und Institutionen und dann für staatliche Unterstützung ihrer wirtschaftlichen Interessen und ihrer Subsistenz. »Es tönt von oben und unten zugleich: das und das wollen wir haben! Es ist eine Schande, daß wir das und jenes noch nicht besitzen, dies und jenes müssen wir, weil andere es auch tun! usw.« So sei es dazu gekommen, schreibt er 1879, daß Staat und Gemeinde ihren natürlichen Pflichtenkreis längst überschritten und ihr Programm durch Wünschbarkeiten aller Art aufs gefährlichste ausgedehnt hätten. Wir sehen ihn immer wieder in seinen Briefen sich aufhalten über die ruinösen Vorlagen der Regierungsmänner. »Da man in unseren Verfassungen die möglichen Volksrechte bis auf den Sack aufgegessen hat, Neid und Begehrlichkeit aber einmal durch all die Reihe von Nachgiebigkeiten aufgestachelt sind, . . . so müssen zuletzt Hab und Gut herhalten.« Mit diesem Ausgabemachen werde unsere ganze Wirtschaft so weiter manischen, bis es eines Tages genug sein werde. Vorderhand könne der geringste Lausbube Begehrlichkeiten wecken

•129 und damit gefährlich werden. Burckhardt spricht mit Ingrimm vön der »höchst gewaltsamen Theorie, womit Staat und Gemeinde den einzelnen zu sog. »großen Zwecken« zusetzen, und an anderer Stelle von dem leichtsinnigen Ausgabendekretieren der jetzigen Majoritäten und dem Ausnutzen der Stimmung der »arbeitenden Massen«. »Enorme Bauten, beschlossen von Majoritäten, welche nichts daran zahlen, und Verbesserungen verschiedener Art, womit es sich ebenso verhält, seien an der Tagesordnung.« Deutlich tritt in Dutzenden von Briefstellen eines der Grundmotive zutage, die Burckhardts Opposition gegen die wachsende Staatstätigkeit zugrunde liegt: die daraus resultierende und auf die ökonomische Grundlage der Privatexistenz greifende F i n a n z p o l i t i k . Man weiß, mit welch beweglichen Worten er in seiner »Griechischen Kulturgeschichte« der griechischen Demokratie auf die Finger gesehen hat bei ihren r ü c k s i c h t s l o s e n Z u g r i f f e n auf d i e P r i v a t v e r m ö g e n . Die eigene Zeit hält er kaum für besser. »Das Traurigste ist, daß man bei allen Volksbeschlüssen noch gar keinen Boden sieht, d. h. noch gar nicht sagen kann, wie weit das Haftbarmachen der Besitzenden in solchen Fragen noch gehen kann und wird.« 1876 erklärt er, mit den Steueraussichten sehe es so aus, daß allmählich alle;: sonstige Sozialismus gar nicht mehr nötig sein werde, um den Ruin herbeizuführen. Wie oft hat er vor allem der Klage über das s t a a t l i c h e S c h u l d e n m a c h e n Ausdruck gegeben. Die Staatsschulden hat er das »große, jammervolle Hauptridikule des 19. Jahrhunderts« und den Staat den Großoberschwindler genannt, weil er den Kaufleuten und Industriellen das Ausbeuten des Kredits abgelernt habe. Ausnahmsweise kommt einmal ein Augenblick, wo er einen kleinen Zug zum Bessern zu entdecken glaubt, wenn auch Radikale anfangen, über die staatliche Verschwendung, resp. Steueraussicht zu heulen. »In solchem Katzenjammer hat neuerlich . . . der Große Rat einen Schulbau wenigstens um ein Jahr verschoben, und das war schon viel.« Da ist es dann die ganze Entwicklung der m o d e r n e n S o z i a l p o l i t i k , die in den Jahren, aus denen uns Äußerungen von Burckhardt besonders vorliegen, in den 70 er, 80 er und 90 er Jahren ihren Anfang nahm und seine zumeist schroffe Ablehnung findet. Wir kennen in dieser Beziehung bereits seine Gegnerschaft gegen die M e i n e c k e , Festschrift.

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130 allen Bevölkerungsschichten eröffnete allgemeine unentgeltliche Schulbildung, die er eben auch hauptsächlich unter der Rubrik: »Besserlebenwollen der Massen« registriert. Und wie die Entwicklung mit der G r a t i s s c h u l e geht, so, das ist seine Klage, steht es auch mit anderen Dingen. »In den letzten Wochen hat man ein G r a t i s - V o l k s b a d und die allgemeine G r a t i s b e e r d i g u n g dekretiert, und es ist lediglich keine Kraft mehr vorhanden, welche uns zwänge, auf dieser Bahn innezuhalten. Dabei haben wir 24 Millionen Franken Schulden. Wenn uns der Teufel holen will, so spute er sich, sonst findet er nur noch einen abgenagten Knochen. Auch die andern Ansätze zu sozialpolitischer Gesetzgebung verfolgt er nur mit Widerwillen, und er vermag die Freudenbezeugung nicht zurückzuhalten, wenn einmal ein solcher Ansatz mißlingt. Da »haben wir vorgestern hier«, schreibt er am 25. März 1890 an v. Preen, »einen letzten oder vorletzten Schein des Glückes gehabt: unser .Volk' . . . hat mit mächtiger Majorität das vom Großen Rat bereits aus Ermüdung angenommene K r a n k e n v e r s i c h e r u n g s pro j e k t bachab geschickt, welches von der empörendsten Demagogerei eingegeben und zugleich auf den schärfsten Despotismus des Staates (d. h. eines jeweiligen Departementschefs) über das Privatleben berechnet war.« Ein ähnüches »kleines Aufleuchten von Freude zwischen so vielem Ekel, den wir dulden« ist für ihn im November 1881 die Nachricht, daß die Einführung der neuen phosphorlosen Z ü n d h ö l z c h e n i n d u s t r i e in der Schweiz Aussicht habe zu scheitern; »nun müssen wohl die H. H. Philanthropen beider (eidg.) Räte ihren abgemachten .Fortschritt' nächstens wieder zurücknehmen.« Und im Juni des darauffolgenden Jahres ergänzte er dieses Urteil: »Das einzig Vernünftige, was in den letzten Tagen geschehen, ist, daß Nationalrat und Ständerat das abgeschmackte Zündhölzchengesetz den Bach hinabgeschickt haben . . . « Freudig bewegt spricht er auch (1890) vom Referendum gegen das P e n s i o n s p r o j e k t für die Bundesbeamten, das nun wohl jämmerlich bachab gehen werde (zwar fühle er hier fast ein menschliches Rühren, da er ja einst auch fünf Semester lang am eidg. Polytechnikum Bundesbeamter gewesen sei). Bei Gelegenheit der Erwähnung staatlicher Maßnahmen zur Festsetzung von H ö c h s t preisen äußert er sich tadelnd über diese Institution mit Worten, deren Berechtigung er wohl durch die Erfahrungen der Weltkriegszeit nur bestätigt finden würde: »Keine Maßregel wird von der jetzt herrschen-

131 den Ansicht stärker verdammt als die Maximumspreise, zu deren Behauptung bekanntlich der unausgesetzte Taktschlag der Guillotine gehört.« Eine Gruppe weiterer sozialpolitischer Forderungen, namentlich das Postulat, daß jeder »bei einer Arbeitszeit, die ihm für seine intellektuelle Ausbildung genügend Muße lasse, ein komfortables, menschenwürdiges Dasein« müsse führen können, fertigt er mit der (natürlich etwas billigen) Frage ab: »Wer soll aber hernach Mist laden ? « 1880 schrieb er, er fürchte nicht sowohl von plötzlichen Stößen, als vielmehr von einer allmählich sozialistisch werdenden Gesetzgebung das Schlimme —, es sei denn, daß irgendeine unerwartete und dennoch mögliche Umgestaltung der öffentlichen Dinge in irgendeinem Großstaat die Masse wieder zum Gehorsam bringe, und um dieselbe Zeit äußerte er, man habe bei der politisch-sozialen Treiberei das Gefühl, daß allgemach unser ganzes Dasein ins Oszillieren geraten sei. Es ist eben seiner Auffassung nach die unvermeidlich letzte Konsequenz jeder Demokratie, daß der Hader um den Besitz zu einem wahren Höllenleben führt; »immer wieder tritt der Kommunismus auf, und beide Parteien nehmen jede Allianz an, die zum Ziel führt, und erlauben sich alle Mittel«. Immerhin, so sehr er sich gegen den Staatssozialismus und »Raubkommunismus und das auf allgemeine Gleichheit des Besitzes dringende Räsonnement« wendet, und so sehr er schon den Ausdruck »Arbeiter« nicht ausstehen kann und meint, wenn man nur einmal diesen infamen ungerechten Terminus los würde: der K a p i t a l i s m u s in seiner herrschenden (privatwirtschaftlichen) Form ist ihm ebenfalls aufs höchste unsympathisch, ist ihm der »entsetzliche« Kapitalismus» Aber zu fürchten ist nun eben, daß dieser Kapitalismus aus der bereits verhängnisvollen individualistisch-liberalistischen Form in die noch unerträglichere des sozialistischen übergeht. »Ich habe«, lesen wir in einem Brief von 1872, »eine Ahnung, die vorderhand noch völlig wie Torheit lautete und die mich doch durchaus nicht loslassen will: der Militärstaat muß Großfabrikant werden. Jene Menschenanhäufungen in den großen Werkstätten dürfen nicht in Ewigkeit ihrer Not und ihrer Gier überlassen bleiben; ein bestimmtes und überwachtes Maß von Misere mit Avancement und in Uniform täglich unter Trommelwirbel begonnen und beschlossen, das ist's, was logisch kommen müßte.« Da haben wir also das Bild einer staatssozialistischen Organisation von noch ganz besonderer, militaristisch-herrschaftsmäßiger Form. 9*

132 Aber auch gegenüber der seit den 70 er Jahren wieder erstarkenden Tendenz zum staatlich regulierenden Eingriff in das Wirtschaftsleben überhaupt (auch ohne soziale Tendenz) verhielt er sich ablehnend. Er wird diese Entwicklung besonders deutlich empfunden haben, da sich sein Leben aus der Periode des relativ herrschenden individualistischen Wirtschaftsliberalismus der 50 er, 60 er und 70 er Jahre hinüberzog in die mit den 70 er Jahren anhebende neumerkantilistische Bewegung. Aus allen seinen geschichtlichen Darstellungen früherer Geschichtsperioden kennen wir seine Gegnerschaft gegen weitgehehde staatliche Wirtschaftsgesetzgebung, seine Ausfälle gegen staatliche Zwangs- und Schutzzollindustrien und staatliche Monopolbildungen. So wendet er sich auch gegen ähnliche Versuche seiner eigenen Zeit, im einzelnen gegen das Staatsnotenbankmonopol, gegen die Verstaatlichung der Eisenbahnen, gegen den Wunsch überhaupt, der Staat solle der Garant der Erwerbenden sein, gegen die Auffassung, die den Staat identifiziert mit dem erwerbenden Kapital und die überhaupt eine Grenze von Staat und Gesellschaft nicht mehr kennt, gegen einen Zustand, wo infolge der Staatstätigkeit die wahre Initiative in Gefahr kommt, abgeschnitten zu werden, kurz gegen eine Form des Verhältnisses zwischen Staat und einzelnen, wo »der S t a a t die P r o v i d e n z w i r d , die alle a n r u f e n « und wo man dem Staat in sein täglich wachsendes Pflichtenheft schlechtweg alles oktroyiert, wovon man weiß oder ahnt, daß es die Gesellschaft nicht tun werde«. Doch, wir haben uns hier nicht die Aufgabe gestellt, Jakob Burckhardts allgemeine Auffassungen von den »Grenzen der W i r k s a m k e i t des S t a a t e s « zu analysieren, und wollten nur nicht versäumen, von seiner Stellung gegenüber der Demokratie herkommend, einen schnellen Blick auf dieses Problemgebiet hinaus zu werfen. Wir sahen, wie Burckhardt mit größter Abneigung die Entwicklung verfolgte, die den Prozeß der Bildung des Staatswillens veränderte, namentlich durch die aktive Mitbeteiligung der unteren Volksschichten. Er ging von hier aus der weiteren Frage nach, welche Folgen diese Umwälzung in der E n t s t e h u n g und B i l d u n g des Staatswillens auch für R i c h t u n g und U m f a n g dieses Staatswillens hatte. Die Folgen waren nach Burckhardts Wertung, wie wir sahen, innenpolitisch, namentlich sozialpolitisch, nur ein weiteres Moment in dem Niedergang des modernen Daseins: H y p e r t r o p h i e der S t a a t s m a c h t

133 nach innen und auf keinen Fall Milderung derselben nach außen. Burckhardts Blick war in letzterer Beziehung illusionsfrei und realistisch genug, um sich nicht in der Überzeugung wankend machen zu lassen: »Machtsinn und demokratischer Sinn sind meist ungeschieden.« Der demokratische Staat will mindestens die ganze betreffende Nation und noch etwas dazu umfassen; auch er treibt den Kultus der Größe des Staatsumfanges. *

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Wenn Jakob Burckhardt schon an sich im Namen des fundamentalen Lebensinteresses der Kultur und des Geistes, nämlich der Freiheit und Spontaneität, von einer starken Zeitströmung sich abwendet, der »die Macht des Staates über den einzelnen nie groß genug« sein kann, so wird diese Abwendung, so sahen wir, verstärkt, weil diese Staatsmacht nun zunehmends in neue Hände gerät, den bisher herrschenden. sozialen Schichten seitens der untern Massen entwunden wird. Mit dieser D e m o k r a t i s i e r u n g werden, freiwillig und unfieiwillig, die Persönlichkeiten und Familien aus dem politischen Leben ausgeschaltet, die die Tradition vertraten, poli tische Begabung und Erbweisheit besaßen. Dieser Wandel in den politisch maßgebenden Schichten wirkt sich aber auch unheilvoll verflachend aus auf die K u l t u r , in dem Sinn, daß die aristokratischen Grundlagen von Bildung und Kunst untergraben werden. Haben wir es hier mit einer Nivellierung in vertikaler Richtung zu tun, wo eine falsche theoretisch-abstrakte Gleichheit in den politischen Rechten der Staatsbürger dem Staatsleben zugrunde gelegt wird, so ist es eine Nivellierung gleichsam in horizontaler Richtung, welche durch die wiederum rationalistisch-abstrakt begründete Vereinheitlichung und Zentralisierung des öffentlichen Lebens und der staatlichen Gewalt die reiche und mannigfaltige Gliederung zerstört, mit der sich die Vielheit lokaler und personaler Sonderkörper öffentlichen Rechts über das Land ausgebreitet hatte. Auch hier wirkte die »Reflexion, angeblich als Schöpferin neuer politischer Formen, tatsächlich aber als Allzersetzerin.« Wie durch die Demokratisierung die Träger und die Wirkungsmöglichkeit des »wahren plastischen politischen Vermögens« außer Kraft gesetzt werden, so werden durch die' mechanisch-rationalistisch ¿entralisierende Umwandlung der Struktur des Staatfekörpers selbst die historisch und »organisch« erwachsenen Produkte jener politischen

134 Vermögen resorbiert von der Staatseinheit, und so leicht übersehbare und damit persönlich und »individuell« gestaltete Beziehungszusammenhänge ersetzt durch den einen großen, nun mehr »sachlichen« und abstrakten Beziehungszusammenhang zwischen nationalem Einheitsstaat und ausgeebneter Staatsbürgerschaft bzw. Staatsuntertanenschaft. Und dieses Erlöschen einer bunten Mannigfaltigkeit lokaler, meist kleiner autonomer politischer Körper bedroht nun nach Burckhardts Auffassung auch die Wurzelhaftigkeit, Bodenständigkeit und die Vielartigkeit der Kultur und ihren Zusammenhang mit der wahren Volksseele. Diese innere Stellung zum öffentlichen Wesen der Gegenwart hat sich nun aber bei Burckhardt, wie wir bereits einleitend betonten, nicht ausgewachsen zu einer aktiven öffentlichen Kampfstellung. Er sah seine Mission nicht in negativer Bekämpfung der kultur- und geistesfeindlichen p o l i t i s c h e n (und wirtschaftlichen) Mächte, d. h. nicht in politischer T ä t i g k e i t und in politischem Weltverbesserungsstreben, wenn er sich auch einer stets lebendigen politischen Weltb e t r a c h t u n g befliß (schon weil die politischen Dinge die Macht haben, uns ans Fenster zu klopfen, auch wenn wir nicht hören, und weil sie ja »in die ganze Existenz hineinreichen«). Vielmehr war es mit der Welt nun so weit gekommen, daß für die Zukunft des Geistes nach Burckhardts Glauben alles darauf ankam, daß es Menschen gab, die jenseits des Politischen und Wirtschaftlichen die Kontinuität mit möglichst viel vom Höchsten der geistigen Vergangenheit sorglich pflegten. Denn nur dadurch kann dieses Erbe bewahrt werden vor Krisen und Katastrophen, der die politische und wirtschaftliche Welt, und was an Geistigem sich ihr ergeben hat, entgegeneilen. Darin sah (aber mit allergrößter Bescheidenheit) Burckhardt auch den Mittelpunkt seines Wirkens, und das gab ihm in allen Stürmen, die aus seiner Zeit in sein Inneres hereinschlugen, doch im Grunde seiner Existenz »Ruhe, Stille und Ergebenheit ins Schicksal«.1) 1 ) Wir haben unserer Darstellung, der auch der handschriftliche Nachlaß von Burckhardts Vorlesungen zugrunde liegt, insofern Grenzen gesetzt, als einerseits Burkhardts Stellung zu e i n z e l n e n politischen Ereignissen und Staaten außer Betracht gelassen und anderseits von den a l l g e m e i n e n Zügen seiner Staats- und Geschichtsauffassung nur das Unerläßliche aufgenommen wurde. So ist z. B. nicht erschöpft, was sich über Burckhardt hinsichtlich »Weltbürgertum und Nationalstaat«, eines der großen Themata Friedrich Meineckes, sagen läßt.

Aus der Geschidite der nationalliberalen Partei in den Jahren 1868 bis 1871. Von Eduard Wilhelm M a y e r f l ) .

l. Die Tagungen des Zollparlaments. Auf dem ersten Zollparlament hat die Sonderstellung der bayerischen Liberalen die Bildung einer geschlossenen Phalanx der nationalen und liberalen Parteien ganz Deutschlands verhindert. Die sechs hessischen und acht badischen Abgeordneten schlössen sich zumeist den norddeutschen Freunden an. Die zwölf bayerischen Liberalen verblieben für sich und unterhielten in gleicher Weise wie zu den Nationalliberalen auch zu ihren großdeutschen Landsleuten und zu den norddeutschen Fortschrittlern Beziehungen. Sie hielten es nicht für richtig, die süddeutschen Preußenfeinde im Zollparlament mit Hilfe der norddeutschen Mehrheiten zu majorisieren. Es geschah deshalb gegen ihren Rat, daß Metz und Bluntschli, von den übrigen Nationalliberalen unterstützt, den Antrag stellten, die Thronrede durch eine Adresse zu beantworten; man wollte in ihr den nationalen Hoffnungen und dem Wunsche, ihrer Erfüllung durch Kompetenzerweiterung des Zollparlaments näher zu kommen, Ausdruck geben. Der Antrag fiel, Partikularisten und Konservative, die bayerischen Liberalen und auch Roggenbach waren dagegen. Bismarck selbst wirkte in diesem Sinne auf die Konservativen ein, wie manche National*) Die folgenden Ausführungen wurden von der Witwe des allzu früh (1917) dahingeschiedenen jungen Historikers, Frau Dr. L i n a M a y e r - K u l e n k a m p f f in Freiburg i. B., im wesentlichen druckfertig dem Nachlaß entnommen und bereitwillig für unsere Zwecke zur Verfügung gestellt. Eine vollständige Veröffentlichung dieses ersten Halbbandes einer » G e s c h i c h t e d e r n a t i o n a l l i b e r a l e n P a r t e i « , dessen Fortsetzung von mir ebenfalls bereits weit fortgeführt war, hat die Entscheidung der derzeitigen Geschäftsleitung der Deutschen Volkspartei ebenso unterbunden wie die Drucklegung der als Prolegomena druckfertig vorliegenden »politischen Briefsammlung« zur Geschichte des deutschen Liberalismus im Zeitalter Bismarcks, auf die oben bereits verwiesen wurde. Der Herausgeber.

136 liberale meinten, um sich an ihnen zu rächen wegen ihrer Haltung in der Frage der Verantwortlichkeit der Behörde für die Bundesschuldenverwaltung. Tatsächlich hat Bismarck in diesen Tagen seiner Verstimmung gegen die Nationalliberalen deutlichen Ausdruck gegeben und hat ihnen sagen lassen, wenn sie in jener Frage nicht Opposition gemacht hätten, dann wäre die Thronrede noch viel entschiedener im nationalen Sinne ausgefallen — gleichsam als wenn er die Intensität seiner nationalen Politik von dem Wohlverhalten der Nationalliberalen abhängig machen wollte. Wenn die Haltung der Partei gegenüber der Regierung zuweilen in Gefahr war, schülerhaft zu erscheinen, so verfiel Bismarck wohl auch gelegentlich ins Schulmeistern. Er mochte ihnen also zu weiterer Besserung die Niederlage in der Adreßdebatte gönnen, — umsomehr, als diese Adresse zu jenen »Reden und Majoritätsbeschlüssen« gehört hätte, durch die die großen Fragen der Zeit doch nicht ensschieden wurden. Aber für die nationale Bewegungspartei in ganz Deutschland war dieser Mißerfolg eine schwere Enttäuschung, und das Zollparlament hätte einen völlig unbefriedigenden Ausgang genommen, wenn nicht einer der württembergischen Großdeutschen durch ängstliches Warnen vor der französischen Gefahr Bismarck und die Mehrheit zu einer machtvollen nationalen Kundgebung veranlaßt hätte, an der Volks Beredsamkeit so hervorragenden Anteil hatte: »Es ist Frühling geworden in Deutschland! Noch haben einige Leute Vergnügen daran, sich mit Schneeballen zu bewerfen; aber die Sonne wird mit wachsender Wärme ihnen das Material bald verzehren: ja, meine Herren, es ist Frühling geworden.« Man hoffte nun, daß der in den ersten Tagen des Zollparlaments vermißte Zusammenschluß der nationalen und liberalen Parteien ganz Deutschlands sich während der Tagung erreichen lassen werde. Von den Süddeutschen war namentlich Buntschli in diesem Sinne eifrig tätig. Marquard Barth, Volk, Bluntschli, Metz und Bamberger hielten drei lange Konferenzen mit den norddeutschen Freunden ab, und man hoffte, schon zum Ziele gekommen zu sein. Die Sache wurde aber schließlich von der Fortschrittspartei und den ihr nahestehenden liberalen Bayern hintertrieben. Die bayrische Fortschrittspartei ließ sich eben in das norddeutsche Parteisystem nicht einordnen, und ihr Organ gab den Norddeutschen die Schuld: »Die süddeutschen Parteifreunde stehen bei dem unseligen Zwiespalt der Liberalen

137 Preußens in der Rolle naher Angehöriger, welche bei einem zerrütteten Familienwesen keinem der streitenden Teile, wovon jeder Recht und das entschiedenste Recht zu haben glaubt, ganz Recht oder ganz Unrecht zu geben vermag.« Auf der zweiten und dritten Tagung des Zollparlaments in den Jahren 1869 und 1870 schlössen die liberalen Süddeutschen sich auf Volks Betreiben in einer eigenen Fraktion «Zur Mainbrücke« zusammen. Ihren Bemühungen war es vornehmlich zu verdanken, daß auf der dritten Tagung endlich eine Verständigung über die Zollfrage erzielt wurde. Die Fraktion unterhielt mit sämtlichen liberalen Parteien, einschließlich der altliberalen, Verbindungen und wahrte ihnen gegenüber die Parität. Die Bemühungen um einen festen organisatorischen Zusammenschluß der süddeutschen und der norddeutschen Abgeordneten beschränkten sich schließlich auf die Veranstaltung eines Festschmauses, auf dem Liberale aller Schattierungen mit der Fraktion zur Mainbrücke zugunsten der deutschen Einheit aßen und tranken. Die ausgesprochen national gesinnten Süddeutschen waren aber doch ein Faktor innerhalb der norddeutschen Partei: sie haben während der dritten Tagung des Zollparlaments ihren Einfluß für ein Kompromiß über das Strafgesetzbuch geltend gemacht 1 ). 2. Der Zusammenschluß der nationalen u. liberalen Landesparteien. Inzwischen war zu Beginn des Jahres 1870 von den nationalen und liberalen Landesparteien des Südens von neuem der Versuch gemacht worden, ein einheitliches Zusammenwirken anzubahnen. Die Bayern, denen im Jahre 1867 zu Stuttgart die Vollmacht erteilt worden war, eine weitere Versammlung anzuberaumen, hatten in den Jahren 1868 und 1869 keinerlei Anstalten dazu getroffen. Auf Betreiben der Württemberger fand am 8. und 9. Januar 1870 zu Karlsruhe unter dem Vorsitz Lameys eine neue Tagung statt 2 ), zu der zwanzig Württemberger und sieben Hessen erschienen, während die Bayern ihre Abwesenheit mit der Landtagseröffnung entschuldigteii. Man sprach sich aus über die Verhältnisse in den verschiedenen Staaten und gestand sich gegenseitig, daß man in allen Militärfragen doch viel staatlicher zu denken gelernt habe. Es wurde ein 1)

Forckenbeck an seine Gemahlin. Deutsche Revue Bd. 24, 1, S. 137. Kölnische Zeitung vom 10. Januar, 2. B l a t t ; Grenzboten, 1870 I, 141 bis 146. 2)

138 Neunerausschuß eingesetzt, doch nur zur Geschäftsvereinfachung und zur Erleichterung des persönlichen Verkehrs zwischen den Landesparteien, nicht eigentlich als Grundlage einer gemeinschaftlichen Organisation. Ein Festmahl, an dem auch die badischen Minister teilnahmen -— eine den ausländischen Gästen ungewohnte Freude — beschloß die Zusammenkunft. Die Karlsruher Tagung hatte eine Fernwirkung zur Folge, deren Ausgang den Absichten jener Versammlung kaum entsprach. Lasker stellte am 24. Februar im Norddeutschen Reichstag den Antrag, man möge der badischen Regierung und Bevölkerung die Anerkennung für ihre nationalen Bestrebungen aussprechen, der Reichstag erkenne darin den lebhaften Ausdruck der nationalen Zusammengehörigkeit und nehme mit freudiger Genugtuung den möglichst ungesäumtem Anschluß an den bestehenden Bund als Ziel derselben wahr. Bismarck, der diesem Antrag widersprach, hat vor versammeltem Reichstag die Vermutung ausgesprochen, es sei eine von der badischen Regierung bestellte Arbeit; später, als Jolly sich zur Wehr setzte und jede Beeinflussung Laskers bestritt, hat er seine Ansicht dahin modifiziert, daß die badischen Nationalliberalen durch Vermittlung Bambergers mit Lasker in Verbindung getreten seien1). Tatsächlich war Bamberger auf jener Karlsruher Konferenz anwesend und hat über sie am 7. Februar den norddeutschen Parteigenossen auf der Berliner Vertrauensmännerversammlung Bericht erstattet. Er erzählte in diesem Bericht, die badischen Parteimitglieder hätten angedeutet, daß, »wenn nicht aufgenommen wird, wer anklopft, die Gefahr vorliegt, daß die Ultramontanen mehr Boden gewinnen«2). Im persönlichen Gespräch mag er seine Eindrücke noch lebhafter geschildert haben. Inwieweit er Äußerungen der badischen Minister übermitteln konnte, steht dahin. Bekannt ist aber, daß der Minister des Auswärtigen, v. Freydorf, sich im Mai 1869 schon einmal mit den norddeutschen Nationalliberalen in Verbindung gesetzt hatte, um mit ihrer Hilfe auf Bismarck einen Druck auszuüben3). Ebenso hatte im Jahre 1867 die Karlsruher Regierung jene diplomatischen Schritte, die schon damals die Aufnahme Badens in den Norddeutschen Bund zum Ziele hatten, durch Verhandlungen mit Bennigsen vorbereiten ») B a u m g a r t e n - J o l l y , Staatsminister Jolly 1897, S. 163. *) National-Zeitung vom 7. Febr. Nr. 62. 3 ) Gneist an Freydorf. 30. Mai 69. Deutsche Revue Bd. 29, 3, S. 269.

139 lassen. Es würde sich also nur um die Anwendung einer wohlvertrauten Methode gehandelt haben, wenn sie auch zu Anfang des Jahres 1870 den süddeutschen Liberalen Winke gegeben hätte. Jedenfalls drängte die Regierung in der nationalen Frage noch mehr als die liberalen Parteiführer, von denen mehrere erklärten, der Eintritt Badens in den Norddeutschen Bund sei ihnen noch nicht erwünscht1). Als der Reichstag am 14. Februar eröffnet wurde, bestand zunächst in den Kreisen der Nationalliberalen und Freikonservativen der Plan, in einer Adresse die Thronrede zu erwidern und dabei den nationalen Wünschen Ausdruck zu geben und insbesondere auch der Badener Erwähnung zu tun. Die Regierung winkte ab. Innerhalb der nationalliberalen Fraktion regte sich nun der Wunsch, die badische Frage in anderer Weise zur Sprache zu bringen, und zwar bei der Beratung eines Vertrages über gegenseitige Rechtshilfe, der mit Baden abgeschlossen worden war. Es scheint, daß in der Fraktion selbst eindringliche Vorstellungen gegen die Opportunität des Antrages, den namentlich Lasker befürwortete, vorgebracht wurden. Die erste und zweite Lesung des Vertrags gingen vorbei, ohne daß eine Aktion erfolgt wäre. Schließlich bei der dritten Lesung — man nahm damals an, daß zuletzt von Seiten der badischen Freunde nochmals drängende Zuschriften nach Berlin gerichtet worden seien —• brachte Lasker seinen Antrag am 24. Februar ein. Die Nationalzeitung erklärte am Morgen dieses Tages, die nationale Partei, welche die nationale Agitation völlig unabhängig von der preußischen Regierung vorbereitet habe, werde dem Bundeskanzler nicht länger im Nichtstun zur Seite stehen. Es handle sich gar nicht um eine diplo-' matische Frage, sondern um Volkspolitik, rief Miquel dem Kanzler in der Sitzung zu. Noch immer war man überzeugt, daß vor dem Druck einer entschiedenen Volksströmung alle Hemmungen der Kabinettspolitik weichen würden. Man traute Bismarck die Absicht zu, die deutsche Frage zu verschleppen und glaubte, ihn mahnen zu müssen. Wenn es seirte Politik war, möglichst nicht einen der Südstaaten allein, sondern nur alle vereint in den Bund aufzunehmen und namentlich nicht durch den alleinigen Anschluß Badens »den Milchtopf abzurahmen«, so machte sich die Führung der nationalliberalen Partei nunmehr die Forderung zu eigen, daß jeder der Südstaaten, der bereit sei, in den Bund einzutreten, auch aufgenommen i) Baumgarten-Jolly, a.a.O. S. 159.

140 werden müsse. Damit setzte sie sich in Widerspruch mit jenem letzten Satze der Verfassung, der auf ihre eigene Veranlassung in den Entwurf eingefügt worden war, und trat auf den Boden des Antrags, den damals die Linke gestellt hatte: über den Zeitpunkt des Eintritts sollte nicht mehr das Bundespräsidium entscheiden, es sollte im Belieben jedes der süddeutschen Staaten stehen. Die Unzufriedenheit darüber, daß man nicht vorwärts kam, und der Rückgang der nationalen Bewegung in Bayern und Baden weckten das Mißtrauen gegen Bismarcks auswärtige Politik. Die »wachsame und loyale Opposition« machte sich nun auch auf diesem Gebiete geltend. Bismarck, der wußte, daß ein täppisches Übergreifen auf die süddeutschen Verhältnisse für Frankreich wie für Österreich einen zugkräftigen Kriegsgrund abgeben könnte, hat diesen Ansturm der nationalliberalen Partei schroff abgewiesen. Lasker zog schließlich seinen Antrag zurück, weil er in der Debatte schon seinen Zweck erfüllt habe. Aber der Ausgang der Aktion befriedigte doch die Wenigsten. Die offiziöse Presse schlachtete den Vorfall weidlich aus und stellte die Nationalliberalen, Lasker voran, als unkluge Heißsporne an den Pranger. Daß Bismarcks Zirkel in der auswärtigen Politik gestört worden seien, davon kann keine Rede sein. Aber die alte Erfahrung war wieder bestätigt, daß jene von Miquel gepriesene »Volkspolitik« doch immer mit der Diplomatie zusammenwirken, von ihr geleitet werden muß, wenn sie nicht zu Luftstößen führen soll. Von Bismarck läßt sich keineswegs sagen, daß er die Unterstützung gering geschätzt hätte, die eine tatkräftige Nationalpartei bei dem Einigungswerk hätte leisten können. Daß sie ihn selbst beaufsichtigen wollte, reizte ihn schwer. Aber dem Partikularismus der süddeutschen Regierungen gegenüber war ihm ihre Bundesgenossenschaft sehr willkommen. Die Nationalgesinnten im Süden waren ihm deshalb für seine deutsche Politik wichtiger als die Nationalliberalen des Nordens. Es war doch wohl eine Frucht der erregten Verhandlungen über die badische Frage, daß er am 3. März Moritz Busch den Auftrag gab, in der Presse dahin zu wirken, daß die »Süddeutschen, die zu uns wollen«, »sich vereint, nicht vereinzelt« dafür regen. Ein Südbund der Nationaldenkenden sei zu erstreben. »Die badischen Nationalen, die Deutsche Partei, die bayrische Fortschrittspartei sind nur verschiedene Namen für eine und dieselbe Sache. Sie imponieren in ihrer Vereinzelung wenig; sie müssen sich zu einer großen kompakten

141 und deutschen Nationalpartei zusammenschließen, wenn sie vorwärts kommen und ein Faktor werden wollen, mit dem man jenseits wie diesseits des Mains rechnen kann«1). Was Bismarck damit anregte, war seit der Karlsruher Konferenz im Werden, aber die Einigung ging doch nur sehr langsam von statten, da die bayrische Fortschrittspartei sich sehr zurückhielt2). Zwar trat auf ihre Veranlassung jener Neunerausschuß, den man in Karlsruhe gewählt hatte, am 3. April in Stuttgart zusammen3), und von den Bayern beteiligten sich M. Barth, Marquardsen und v. Staufenberg; man beschloß auch eine gemeinsame Organisation mit regelmäßig wiederkehrenden Konferenzen und einer eigenen autographierten Korrespondenz zu schaffen sowie eine Verbindung mit der großen Schwesterpartei im Norden zu suchen. Für diese Zwecke wurde ein Komitee eingesetzt. Als letztes Ziel der gemeinsamen Politik bezeichnete man die »Wiedervereinigung des Südens mit dem Norden«; auf eine nähere Bestimmung, namentlich auf eine Erwähnung Preußens, wollten sich aber die Bayern nicht einlassen. Sie behielten sich obendrein die endgültige Zustimmung ihrer Landespartei vor. Diese Ratifikation war noch nicht erfolgt, als auf der Sitzung des Landesausschusses der norddeutschen Nationalliberalen, die am 1. Mai zu Berlin stattfand, die übrigen Süddeutschen ihre Vereinigung mit der nationalliberalen Partei des Nordens erklären ließen. Daraufhin ermächtigte der Landesausschuß den Parteivorstand, mit den Liberalen von Hessen, Baden und Württemberg in Verbindung zu treten und eine Organisation zum Zwecke der Verständigung über gemeinsames Vorgehen herbeizuführen. Zugleich sprach er den lebhaftesten Wunsch aus, mit der nationalen Partei in Bayern nähere Beziehungen in der Weise herzustellen, wie sie derselben angemessen erscheine. Der Gegensatz zur Bismarckschen Politik wurde in einem weiteren Beschluß nochmals ausdrücklich betont: Jeder süddeutsche Staat, welcher zum Eintritt in den Norddeutschen Bund bereit sei, müsse in denselben aufgenommen werden. Der 1. Mai 1870 ist also recht eigentlich der Geburtstag der gesamtdeutschen nationalliberalen Partei! Ihr Zusammenschluß Adolf R a p p , Die Württemberger und die nationale Frage 1 8 6 3 — 1 8 7 1 ; 1910, S. 359. — M. B u s c h , Tagebuchblätter 1899; I, S. 9. 2 ) Näheres in Hölders Nachlaß Nr. 13. R a p p a. a. O. S. 361. 3 ) Kölnische Zeitung vom 5. April.

142 ist der staatlichen Einigung vorangegangen! Zwar war jene Bei r trittserklärung der hessischen Fortschrittspartei, der badischen Nationalliberalen und der deutschen Partei Württembergs zunächst nichts als ein formeller Akt, und die äußerlich begründete Gemeinsamkeit mußte ihren vollen Inhalt erst noch gewinnen. Aber in den Verhandlungen während des Krieges erinnerte man sich gern der Zugehörigkeit zu ein und demselben Partei verband, und namentlich die Württemberger betonten, daß sie, anders als die Bayern, ihm auch formell angeschlossen seien. Die Zeit war erfüllt. Die lebhaftere nationale Agitation, wie sie seit den ersten Monaten des Jahres 1870 von der nationalliberalen Partei betrieben worden war, erzeugte in den Gemütern die Ahnung, daß man kurz vor der Erfüllung der letzten Wünsche stehe. Der Norden fühlte sich politisch reif dazu. Im Rückblick auf die drei Jahre des Norddeutschen Bundes rühmte Bennigsen in einer Rede zu Hannover am 17. Juni 1870: »Die Verfassung hat sich so glänzend bewährt, daß man jetzt darüber einig ist, dieselbe für die demnächst zu gewinnende staatliche Form für Gesamtdeutschland zugrunde zu legen«1). Auf dem konstituierenden Reichstag hatte man es noch allerseits in der Partei als selbstverständlich angesehen, daß nach dem Zutritt des Südens Deutschland eine wesentlich andere Form empfangen müsse, als sie dem Norddeutschen Bund eigen war. Angesichts der Leistungen, die mit dieser Verfassung erzeilt worden waren, empfand jetzt auch ein Liberaler wie Bennigsen hohe Befriedigung. In seinem Munde klang der Satz, daß der deutsche Staat und die deutsche Freiheit zugleich und mit denselben Mitteln errungen werden müßten, viel selbstverständlicher als in dem seines Freundes Lasker. Mochten auch die Widerstände größer gewesen sein, als man erwartet hatte, der »Freiheit« war man doch um einen guten Schritt näher gekommen seit 1866. Desto mehr befestigte sich der Glaube, daß auch die Einheit Gesamtdeutschlands »demnächst« gewonnen werden würde. 3. Die Tätigkeit der Partei während der Reichsgründung im Jahre 1870. Als in der ersten Hälfte des Juli aus Paris die Berichte über die erregten Sitzungen des gesetzgebenden Körpers eintrafen, da begrüßten die Führer der nationalliberalen Partei diese Nachrichten Magdeburger Zeitung vom 20. Juni, Nr. 140.

143 als ein Zeichen, daß die große Stunde geschlagen hatte. Nachdem die Emser Depesche veröffentlicht war, hat der Parteivorstand am 15. Juli eine Adresse an den König gerichtet und ihn gebeten, die französischen Provokationen durch die Kriegserklärung zu beantworten — eine Aufforderung, die damals auch in der liberalen Presse nur die Antwort auslöste, daß man es lieber Frankreich überlassen solle, den Bruch zu vollziehen. Gleichzeitig erließ der Parteivorstand einen Aufruf an das deutsche Volk, der in den Worten gipfelte: »Vor allem aber hegen wir die feste und wohl begründete Überzeugung, daß das deutsche Volk, das ganze Volk, diesen letzten Krieg höchst ehrenvoll zu Ende führen, daß unter allen Umständen die volle deutsche Einheit daraus hervorgehen wird«. Der ganze Reichstag stimmte diesem Kriegsziel zu, indem er am 20. Juli die von Miquel entworfene Adresse annahm, in welcher der fast paradox anmutende Satz stand: »Das deutsche Volk wird endlich auf der behaupteten Walstatt den von allen Völkern geachteten Boden friedlicher und freier Einigung finden«. Der alte Traum der Liberalen, daß die Macht der Volksströmung genüge, um die deutsche Einheit friedlich zu erringen, hatte sich als unfruchtbar erwiesen; nur mit Blut und Eisen waren die widerstrebenden Kräfte zu überwinden. Wer an 1866 dachte, der empfand aber vor allem die beglückende Tatsache, daß die letzte Stufe der Einheit im Nationalkriege und nicht im Bruderkriege erklommen werden dürfte. Über das Maß von Einheit, das für Deutschland zu fordern sei, wurde in der Sitzung des Fraktionsvorstandes vom 21 Juli lebhaft verhandelt. Lasker, der sich noch am 19. Juli in München mit Marquard Barth besprochen hatte, mußte zwar berichten, daß dieser entschieden abgeraten habe, sogleich das Banner der deutschen Einheit zu entfalten, weil damit nur das Mißtrauen der Süddeutschen wach gerufen werden würde. Er selbst hatte ihm aber sofort widersprochen, und im Vorstand war es nun sein Bemühen, die Partei auf ein Programm festzulegen, das den meisten Mitgliedern zu unitarisch klang. Mit der bundesstaatlichen Lösung der nationalen Frage hatte sich Lasker im Grunde noch wenig ausgesöhnt, und er sah es immer noch als selbstverständlich an, daß, wer die Einheit ernstlich wolle, den Einheitsstaat meine1). Er vertrat damit nur eine *) Über Laskers unitarische Bestrebungen ist sein Brief an Bennigsen vom 23. Juli 1870 (Oncken, Bennigsen II, 171) mit der Erzählung Böttchers (vgl.

144 Anschauung von den Zielen der Einigung, die gemeinhin als die liberale galt. Der fürstliche Führer des Liberalismus, Kronprinz Friedrich Wilhelm, hat sie in den ersten Wochen auch mit Gewalt gegen die widerstrebenden Regierungen des Südens durchsetzen wollen, und Heinrich von Treitschke gar hätte es dankbar begrüßt, wenn die nationale Welle die Rheinbundkronen hinweggeschwemmt hätte. Daß Lasker so weit ging, ist sehr zu bezweifeln. Aber auch die von ihm vertretenen Forderungen fanden im nationalliberalen Fraktionsvorstand keine Mehrheit. Miquel bekämpfte sie auf das entschiedenste, und auch Bennigsen verwarf sie als zu weitgehend. Man einigte sich schließlich dahin, daß über die Form der Einheit im Augenblick überhaupt nicht zu sprechen sei. Der radikale Unitarismus, der oft als die Auffassung des gesamten Liberalismus hingestellt wird, ist in der nationalliberalen Partei, namentlich dank des Einflusses der Neupreußen, nicht zur Herrschaft gekommen. Mit der Forderung der nationalen Einheit verband sich bereits nach den ersten siegreichen Schlachten von Wörth und Spichern das Verlangen nach dem Rückerwerb Elsaß-Lothringens. Das Ineinanderwirken beider Bestrebungen vollzieht sich aber innerhalb der Partei in charakteristischer Verschiedenheit. Die erste Anregung zu einer größeren Aktion der gesamten nationalen und liberalen Partei Deutschlands ging von Württemberg aus, und zum Anlaß wurde hier die Annexionsfrage, nicht die Einigungsfrage genommen. Am 12. August beschloß man in der Deutschen Partei, nach der nächsten siegreichen Schlacht Massenkundgebungen für den Erwerb Elsaß-Lothringens zu veranstalten. Noch am gleichen Tage wandte sich Holder an Lasker und an die bayrischen und badischen Freunde mit der Frage, ob sie sich an einer derartigen Agitation beteiligen wollten. Zugleich erkundigte er sich auch, wie man in der F r . B ö t t c h e r , Eduard S t e p h a n i , Ein Beitrag zur Parteigeschichte, insbesondere zur Geschichte der nationalliberalen Partei 1887, S. 1 1 0 ) zu kombinieren. Lasker verschleiert in jenem Briefe den Gegensatz. Seine Erzählung: »Miquel war merkwürdigerweise am ängstlichsten, zunächst nicht auf die Einheit als Ziel des K a m p f e s hinzuweisen«, ist nur vertraulich, wenn wir Einheit im Sinne von Einheitsstaat verstehen; denn Miquel kann sich niemals gegen Herstellung der Einheit ausgesprochen haben. Hatte er doch in seinem Adreßentwurf ausdrücklich die »friedliche und freie Einigung« gefordert. Aber Lasker anerkannte im Grunde den Bundesstaat nicht als Verwirklichung dieses Zieles: Der Friede muß »nicht bloß den Bund unversehrt, sondern die volle staatliche Einheit der Nation bringen.«

145 nationalen Sache dächte. Aber im Augenblick wollte die Deutsche Partei die Tätigkeit für die Annexion voranstellen. Holder mochte diese Taktik gegenüber den widerstrebenden Großdeutschen und besonders gegenüber den mißtrauischen Bayern als empfehlenswert erscheinen. War doch die Sicherung der Westgrenze für die Süddeutschen eine jedem einleuchtende Lebensfrage! Anderseits konnte auch gerade von hier aus der Hebel an das Werk der vollständigen Einigung gelegt werden: Holder sah es als selbstverständlich an, daß die neu zu erwerbenden Gebiete an Preußen fielen, und auch Kiefer, der im übrigen wie die Bayern im Augenblick eine große Agitation für die Annexion ablehnte, wünschte, daß Preußen in ElsaßLothringen und damit in Süddeutschland festen Fuß fasse, weil auf diese Weise die Lösung der Bundesfrage am meisten gefördert werde. Den gleichen Standpunkt vertrat alsbald ein guter Teil der nationalen Presse, voran der Schwäbische Merkur. Genau umgekehrt war der Gedankengang der norddeutschen Parteifreunde! Kundgebungen zugunsten der Annexion lehnten sie ab und betonten, daß die Grenzerweiterung nicht der Hauptzweck des Krieges sei; er könne nur insofern diesem dienstbar gemacht werden, als die bayrische und württembergische Regierung sich vielleicht durch die Aussicht auf Landerwerb für die Sache der Einigung gewinnen ließen. Bei Forckenbeck ist sogar ein leichter Unterton demokratischer Bedenklichkeit gegen den Annexionsgedanken bemerkbar. Wenn Holder geschrieben hatte, die Abneigung der elsässischen Bevölkerung komme nicht in Betracht — »wir sind ja keine sentimentalen Politiker und keine doktrinären Naturen« — fühlte Forckenbeck sich durch »das unbedingte Verlangen, welches gar nicht berücksichtigte, was die betreffenden Bevölkerungen j e t z t sind und welches nur allein ohne Rücksicht auf die deutsche Einheit sich breit machte, gewaltig vor den Kopf gestoßen«. Zur nationalen Frage hatten die Württemberger die Erklärung abgeben lassen, daß es dem Vorstand der nationalliberalen Partei in Norddeutschland, »an welchen sich die nationale Partei inWürttemberg, Baden und Hessen angeschlossen hat«, zukomme, rechtzeitig die nötigen Einleitungen zu treffen. Die organisatorische Einheit, wie sie im Frühjahr zustande gekommen war, zeitigte ihre Früchte! Lasker stellte den Besuch norddeutscher Vertrauensmänner in Aussicht und warb unter den Freunden für eine Rundreise in den südM e i n e c k e , Festschrift.

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146 deutschen Staaten. Man wollte wahr machen, was die Partei immer vertreten hatte: daß die Herstellung der deutschen Einheit auch eine Aufgabe der Volkspolitik, nicht nur der Kabinettspolitik sei. Bennigsen wie Lasker hielten es für gut, daß man der Diplomatie auf die Finger passe und Bismarck darüber nicht im unklaren lasse, welche Aufgaben man ihm stelle. Bamberger, der im August im Hauptquartier weilte, mahnte die Freunde, für »Druck von unten« zu sorgen, damit dem Volke der hohe Siegespreis nicht verkümmert werde. Die »Nationalen«, wie man die Partei oft kurzweg nannte, glaubten Bismarcks immer noch nicht ganz sicher zu sein. Anderseits wollte Lasker, der mehr und mehr der Leiter in ganz Deutschland wurde und die Fähigkeiten des Generalstabsoffiziers der Partei, wie ihn Bamberger einmal nannte, hervorragend bewährte, wenn möglich in enger Verbindung mit . Bismarck operieren und hatte sich bereits am 15. August deshalb an ihn gewandt, ohne jedoch eine Antwort zu bekommen. Bismarck mochte damals noch einer Äußerung über die nationale Frage ausweichen und sich gerade mit Lasker nicht einlassen, wenn er auch Delbrück nicht verwehrte, mit ihm zu verhandeln. Er selbst hat seine Winke lieber an Bennigsen oder Bamberger ergehen lassen und hat es später auch vorgezogen, Bennigsen, nicht Lasker, ins Hauptquartier zu berufen. Miquel hielt sich zurück und warnte von Anfang an vor zu großer Geschäftigkeit. Zu der ersten energischen Willenskundgebung kam es aber erst, als Bismarck selbst sie wünschte, um sich gegenüber den Einmischungsgelüsten neutraler Mächte auf die öffentliche Meinung berufen zu können. Unter Laskers Einwirkung wurde eine Adresse aufgesetzt, die in einer von Nationalliberalen und Fortschrittlern einberufenen Berliner Notabelnversammlung am 30. August angenommen und dem König eingesandt wurde: Die Versammlung gelobte unbeirrt durch irgendwelche Einsprüche des Auslands treu auszuharren, bis ein dauerhafter, Einheit und Freiheit begründender Frieden errungen sei. Das ganze deutsche Volk wurde in einem besonderen Aufruf zur Unterzeichnung der Adresse eingeladen. Sie fand auch jenseits der Mainlinie Verbreitung. Die Deutsche Partei hatte ihrerseits am 3. September zu Stuttgart in einer großen Versammlung drei Resolutionen beschlossen, in denen die Intervention zurückgewiesen und der Erwerb Elsaß-Lothringens und der Bundesstaat gefordert wurden. Mit Zuschriften aus dem ganzen Lande versehen, sollten

147 sie den Königen von Württemberg und von Preuße n vorgelegt werden. Im Laufe des Septembers wurden im ganzen Lande die Unterschriften gesammelt und damit eine das ganze Volk durchdringende Bewegung ausgelöst. Die Stuttgarter Beschlüsse wurden auch von den Münchener Liberalen aufgenommen, die ihnen noch den Zusatz beifügten, daß Elsaß-Lothringen weder aufgeteilt werden dürfe, noch in dauernder Sonderstellung, bleiben könne; damit traten auch sie für die Überlassung an Preußen ein. Ein paar Tage, bevor diese Schlüsse gefaßt wurden, hatten schon der Magistrat und die Gemeindevertretung eine nationale Kundgebung an den König gesandt. Im übrigen kam in Bayern zunächst nicht eine so einheitliche Agitation zustande, wie sie die Württemberger zu entfalten wußten. Für die nationale Propaganda in Süddeutschland wäre es von Wert gewesen, wenn die norddeutschen Parteien dort geschlossen aufgetreten wären. Bennigsen hatte daher dem Unternehmen jedes Parteigepräge nehmen wollen, und Lasker hatte sich bemüht, auch Männer aus anderen politischen Lagern zur Teilnahme an der Rundreise im Süden zu bestimmen. Wie denn gerade Lasker in diesen Monaten nach allen Seiten Verbindungen anknüpfte und den größten Eifer darauf verwandte, über die Parteischranken hinweg eine geschlossene Gemeinschaft herzustellen. Aber die grundsätzlichen Gegensätze waren doch nicht zu überbrücken. Die Fortschrittspartei behielt sich vor, auf eigene Hand zu operieren und veröffentlichte Ende September ein Programm, das die Herstellung eines stramm zentralisierten Einheitsstaates und zu diesem Zweck die Berufung eines konstituierenden allgemeinen deutschen Parlaments verlangte; von da an war jede realpolitische Verständigung mit dem Süden unmöglich. Die Konservativen waren sachlich eher geneigt, mit den Nationalliberalen ein Stück weit zusammen zu gehen; eine Agitation im Volke war aber nicht nach ihren Geschmack, und die Kreuzzeitung höhnte daher über die Betriebsamkeit der Nationalliberalen in der nationalen Frage. Am wichtigsten wäre gerade für den Süden die Hilfe der Klerikalen gewesen; sie hätten sich durch Einwirkung auf ihre Gesinnungsgenossen im Süden ein großes Verdienst um die Einigung erwerben können. Peter Reichensperger hat wohl damals wie auch in einem späteren Stadium 1 ) die bayrische Opposition brieflich zu Marquardsen an Lasker am 2. Januar 1871.

Deutsche Revue Bd. 17, 4,

S. 190.

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148 beruhigen versucht, aber zu einer entschiedenen Propaganda für