Anna Siemsen (1882–1951) und die Zukunft Europas: Politische Konzepte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik 3515115161, 9783515115162

Was ist Europa? Die Fragen nach Europas Werten, seiner Kultur und seiner institutionellen Ausgestaltung prägen nicht nur

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German Pages 459 [462] Year 2017

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INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
I. DER FORTSCHRITT ZUR GEMEINSCHAFT. ANNA SIEMSENS WEG NACH EUROPA BIS 1933
1 VOM BILDUNGSBÜRGERTUM ZUM SOZIALISMUS. POLITISIERUNGSPROZESSE BIS 1921
1.1 AUSBILDUNGSWEGE
1.2 DER ERSTE WELTKRIEG
1.3 AUF DER SUCHE NACH GEMEINSCHAFT
2 VON DER BILDUNGSPOLITIK ZU EUROPA (1919 BIS 1927)
2.1 POLITISCHE ARBEIT UND KULTURPOLITISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN
2.2 DAS KULTURSOZIALISTISCHE EUROPA
2.3 AUF DER SUCHE NACH EUROPA
3 POLITISCHE KRISEN JAHRE UND EIN EUROPADER EINHEIT (1928 BIS 1933)
3.1 HEIMAT EUROPA
3.2 AUF DER SUCHE NACH DEUTSCHLAND
3.3 AUF DEM WEG INS EXIL
II. POLITISCHE ARBEIT FÜR EIN NEUES EUROPA.IM SCHWEIZER EXIL (1933 BIS 1946)
1 FÜR FRIEDEN, RECHT UND EIN DEMOKRATISCHES EUROPA (1933 BIS 1939)
1.1 FRIEDEN DURCH DIE VOLKSFRONT
1.2 EIN NEUES RECHT FÜR EUROPA
1.3 KAMPF UM DIE DEMOKRATIE. SPANIEN UND EUROPA
1.4 EUROPÄISCHE POLITIK IN DER KRITIK
2 DER ZWEITE WELTKRIEG UND EIN NEUES EUROPA
2.1 DIE POLITISCH-INSTITUTIONELLE EINIGUNG
2.2 DIE WIRTSCHAFTLICHE EINIGUNG
2.3 FRAUEN FÜR EUROPA UND DIE „SCHWEIZER EUROPA-UNION“
3 DEUTSCHLAND IN EUROPA. DIE 1940ER JAHRE
3.1 ANNA SIEMSENS DEUTSCH-EUROPÄISCHE LITERATURGESCHICHTE
3.2 DEUTSCHLAND-PLÄNE FÜR DIE NACHKRIEGSZEIT
III. POLITISCHE ARBEIT FÜR DIE EINIGUNGEUROPAS. DIE LETZTEN JAHRE IN DEUTSCHLAND (1946/1947 BIS 1951)
1 ERZIEHUNG FÜR EUROPA
1.1 EUROPÄISCHE AKADEMIEN
1.2 DIE „ANNA-SIEMSEN-GESELLSCHAFT“
2 IN DER EUROPA-BEWEGUNG
2.1 FÖDERALISMUS UND „DRITTE KRAFT“
2.2 SPD UND EUROPA-BEWEGUNG
2.3 DIE „SOZIALISTISCHE BEWEGUNG FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN VON EUROPA“
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
PERSONENREGISTER
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Anna Siemsen (1882–1951) und die Zukunft Europas: Politische Konzepte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik
 3515115161, 9783515115162

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Marleen von Bargen Geschichte

Studien zur modernen Geschichte – 62

Franz Steiner Verlag

Anna Siemsen (1882–1951) und die Zukunft Europas Politische Konzepte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik

Marleen von Bargen Anna Siemsen (1882–1951) und die Zukunft Europas

studien zur modernen geschichte Herausgegeben von Gabriele Clemens, Markus Friedrich, Frank Golczewski, Ulrich Mücke, Angelika Schaser, Claudia Schnurmann und ­Jürgen Zimmerer Band 62

Marleen von Bargen

Anna Siemsen (1882–1951) und die Zukunft Europas Politische Konzepte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Umschlagabbildung: Auszug aus Anna Siemsens Ausführungen zur „Geschichte der Literatur der deutschen Sprachgebiete in Europa I“, in: Schweizerisches Sozialarchiv, SozArch Ar 142 Siemsen, Anna (1882-1951); Ar 142.30.1 Literatur/Bildung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11516-2 (Print) ISBN 978-3-515-11517-9 (E-Book)

DANKSAGUNG Dieses Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich 2014 an der Universität Hamburg im Fach Mittlere und Neuere Geschichte einreichte. Eine Vielzahl von Personen hat mich während des Arbeitsprozesses unterstützt. Allen voran sei meiner Betreuerin Prof. Dr. Angelika Schaser und meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Rainer Nicolaysen herzlich gedankt. Von beiden habe ich viel gelernt. Angelika Schaser hat mit großem Engagement meinen wissenschaftlichen Weg und die Genese meiner Arbeit begleitet. Ihre fachliche Expertise und ihre Ratschläge waren mir über Jahre eine wertvolle Hilfe. Sie ermöglichte mir auch, die Dissertation im von ihr betreuten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt Nation und Europa schreiben. Else Frobenius (1875– 1952) und Anna Siemsen (1882–1951) als politische Publizistinnen von 1914 bis 1950 erarbeiten zu können. Rainer Nicolaysen stand mir mit seinem großen Wissen immer zur Seite und hatte stets ein offenes Ohr für meine Anliegen. Er vermochte es, seine Begeisterung für die Geschichtswissenschaft auf mich zu übertragen und mich dadurch immer wieder aufs Neue zu motivieren. Eine große Stütze waren mir meine Kolleginnen und Kollegen, die durch ihre konstruktive Kritik und ihre fundierten Anmerkungen wesentlich zum Gelingen der Arbeit beitrugen. Für den wissenschaftlichen Austausch und die freundschaftliche Verbundenheit kann ich nicht genug danken. Finanzielle Unterstützung erhielt ich von der Forschungs- und Wissenschaftsförderung der Universität Hamburg, die mir ein Abschlussstipendium gewährte. Die DFG stellte einen Druckkostenzuschuss für die Veröffentlichung der Arbeit zur Verfügung. Ohne die fachliche Mithilfe der von mir frequentierten Archive und Bibliotheken hätte dieses Buch kaum geschrieben werden können. Auch meinen Freunden und meiner Familie möchte ich an dieser Stelle für ihren Beistand in Wort und Tat danken. Ihre Anteilnahme und ihr Interesse haben mich immer wieder ermutigt, meinen Weg weiterzugehen. Ganz besonderer Dank gebührt meinen Eltern, die mich nicht nur in der Promotionszeit in aller nur erdenklichen Hinsicht unterstützten. Mit großem Vertrauen, mit Zuversicht und Optimismus gingen sie jeden meiner Schritte mit. Bremerhaven, im November 2016 Marleen von Bargen

INHALTSVERZEICHNIS Danksagung........................................................................................................ 5 Einleitung........................................................................................................... 11 Ziele und Leitfragen.................................................................................... 13 Thematische Leitlinien................................................................................ 17 Methodisches Vorgehen............................................................................... 20 Forschungsstand.......................................................................................... 25 Quellen und Archive.................................................................................... 32 Aufbau der Arbeit........................................................................................ 34 I.

Der Fortschritt zur Gemeinschaft. Anna Siemsens Weg nach Europa bis 1933......................................... 35 Aufbruch nach Europa.......................................................................... 40 Eine Politik der Einheit......................................................................... 44

1

Vom Bildungsbürgertum zum Sozialismus. Politisierungsprozesse bis 1921............................................................ 51 1.1 Ausbildungswege................................................................................. 54 1.1.1 Erste Lehrtätigkeit und Studium........................................................... 56 1.1.2 Erste Kritik am Bildungssystem........................................................... 61 1.2 Der Erste Weltkrieg.............................................................................. 64 1.2.1 Friedensbewegung und literarischer Aktivismus.................................. 68 1.2.2 Lebens- und Gesellschaftsreform......................................................... 75 1.3 Auf der Suche nach Gemeinschaft....................................................... 79 1.3.1 Menschheitsgemeinschaft zwischen Ost und West.............................. 84 1.3.2 Gemeinschaftserziehung und Schulreform........................................... 87 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2

Von der Bildungspolitik zu Europa (1919 bis 1927)............................ 99 Politische Arbeit und kulturpolitische Auseinandersetzungen............. 103 In Düsseldorf und Berlin...................................................................... 106 Rückschläge in Thüringen.................................................................... 110 Das kultursozialistische Europa............................................................ 119 Die europäische Gesellschaft................................................................ 125 Das deutsch-französische Europa......................................................... 134 Auf der Suche nach Europa.................................................................. 140 Europäisches Bewusstsein und europäische Kultur............................. 143 Das „demokratische“ Europa................................................................ 146

3 3.1 3.1.1

Politische Krisenjahre und ein Europa der Einheit (1928 bis 1933).... 157 Heimat Europa...................................................................................... 165 Ein Europa der Arbeiterschaft.............................................................. 171

8

Inhaltsverzeichnis

3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3

Ein Europa ohne Grenzen..................................................................... 177 Ein „weibliches“ Europa...................................................................... 181 Auf der Suche nach Deutschland.......................................................... 184 Das „europäische“ Deutschland........................................................... 187 Deutschland zwischen West und Ost.................................................... 192 Auf dem Weg ins Exil........................................................................... 200

II.

Politische Arbeit für ein neues Europa. Im Schweizer Exil (1933 bis 1946)...................................................... 205 Ankunft und Abwehr............................................................................ 212 Politische Repressionen........................................................................ 218

1 1.1 1.2 1.3 1.4

Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)..................................................................................... 227 Frieden durch die Volksfront................................................................ 233 Ein neues Recht für Europa.................................................................. 240 Kampf um die Demokratie. Spanien und Europa................................. 245 Europäische Politik in der Kritik.......................................................... 254

2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3

Der Zweite Weltkrieg und ein neues Europa........................................ 261 Die politisch-institutionelle Einigung................................................... 265 Die wirtschaftliche Einigung................................................................ 272 Frauen für Europa und die „Schweizer Europa-Union“....................... 279 Eine Politik der „Mütterlichkeit“.......................................................... 283 Die demokratische Aufgabe.................................................................. 287 Die karitative Aufgabe.......................................................................... 291

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2

Deutschland in Europa. Die 1940er Jahre............................................ 297 Anna Siemsens deutsch-europäische Literaturgeschichte.................... 300 Das abendländische Europa.................................................................. 303 Einheit durch Sprache und „Volksüberlieferung“................................ 309 Das „menschheitliche“ Deutschland.................................................... 316 Deutschland-Pläne für die Nachkriegszeit........................................... 320 Die „Union deutscher Sozialisten in der Schweiz“.............................. 323 Ein „neues“ Deutschland in einem „neuen“ Europa............................ 326

III.

Politische Arbeit für die Einigung Europas. Die letzten Jahre in Deutschland (1946/1947 bis 1951)................................................... 333 Remigration.......................................................................................... 339 Erneute berufliche Rückschläge........................................................... 343 1 1.1 1.2

Erziehung für Europa............................................................................ 353 Europäische Akademien....................................................................... 358 Die „Anna-Siemsen-Gesellschaft“....................................................... 363

Inhaltsverzeichnis

2 2.1 2.2 2.3

9

In der Europa-Bewegung...................................................................... 367 Föderalismus und „Dritte Kraft“.......................................................... 375 SPD und Europa-Bewegung................................................................. 382 Die „Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa“............................................................................. 388

Fazit.................................................................................................................... 393 Das „biographische“ Europa....................................................................... 394 Das „Konzept“ Europa................................................................................ 402 Quellen- und Literaturverzeichnis..................................................................... 409 1 Quellen................................................................................................. 409 1.1 Unveröffentlichte Quellen/Archive...................................................... 409 1.2 Gedruckte Quellen................................................................................ 411 1.2.1 Publikationen von Anna Siemsen......................................................... 411 1.2.2 Weitere gedruckte Quellen................................................................... 415 2 Literatur................................................................................................ 418 3 Internet-Verweise.................................................................................. 454 Abkürzungsverzeichnis...................................................................................... 455 Personenregister................................................................................................. 457

EINLEITUNG Am Ende des Zweiten Weltkrieges schrieb die Politikerin Anna Siemsen (1882– 1951) in ihrem Schweizer Exil eine deutsch-europäische Literaturgeschichte, in der sie Europa als „menschliche Hoffnung“ definierte.1 Mit dieser Definition formulierte sie das, was sich eine Vielzahl von Menschen nach 1945, gerade angesichts des jüngst geendeten Krieges, wünschte: eine neue internationale Ordnung, die Krieg und Gewalt unmöglich machen und zu einer dauerhaften Friedenssicherung führen sollte. Der Begriff „Europa“, so wie ihn auch Siemsen verwandte, avancierte zu einem politischen Schlagwort, das diesen Hoffnungen Ausdruck verlieh. Insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde „Europa“ zur „Projektionsfläche einer besseren Zukunft“ und zur „leuchtende[n] Vision, wie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angesichts einer als unzureichend empfundenen Gegenwart zu gestalten sein könnten“.2 In einer Zeit, als die Nation die maßgebliche Bezugsgröße politischer Ordnungsvorstellungen war und Europa „als politisch eigenständige Kategorie“ noch nicht existierte, konnte Europa, so die Historikerin Vanessa Conze, „ohne einen vorgegebenen politischen Rahmen alles sein“.3 Wenn heute die friedenspolitischen Errungenschaften Europas hervorgehoben werden, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges – zumindest in Westeuropa – dazu führten, dass es keine kriegerischen, zwischenstaatlichen Konfliktaustragungen mehr gegeben hat,4 so war das für die Zeitgenossen, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg erlebt hatten, nicht selbstverständlich. Gegenwärtig segeln 28 Länder unter der sternenbekränzten Flagge der Europäischen Union (EU) für „Frieden und Wohlstand“ und seit 2004 unter dem Motto „In Vielfalt geeint“.5 Doch bis heute ist nicht sicher, welche Gefilde sie erreichen werden. Die Fragen danach, was Europa sein oder werden soll, was seine Kultur und 1 2

3 4 5

SozArch, Ar 142.30.1.: Anna Siemsen: Kapitel: Europäische Literatur, im Manuskript: Deutsche Literatur in Europa I. Vanessa Conze: Vielfalt ohne Einheit. Deutsche Europaideen im 20. Jahrhundert, in: Ulrich Lappenküper und Guido Thiemeyer (Hg.): Europäische Einigung im 19. und 20. Jahrhundert. Akteure und Antriebskräfte (Wissenschaftliche Reihe der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Bd. 19), Paderborn u. a. 2013, S. 45–68, hier S. 45. Ebd., S. 48. Guido Thiemeyer: Europäische Integration. Motive – Prozesse – Strukturen, Köln und Stuttgart 2010, S. 221. Online-Ausgabe [7. August 2014]. Siehe dazu die offizielle Homepage der EU unter: http://europa.eu/about-eu/basic-information/ symbols/motto/index_de.htm [22. Mai 2014]. Seit etwa zehn Jahren sind vermehrt Überblicksdarstellungen entstanden, die sich mit der Geschichte des europäischen Integrationsprozesses bis in die jüngere Gegenwart beschäftigen. Vgl. beispielsweise Gabriele Clemens, Alexander Reinfeldt und Gerhard Wille (Hg.): Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Paderborn 2008; Jürgen Elvert: Die europäische Integration (Geschichte kompakt), Darmstadt 2006 und Jürgen Mittag: Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur Gegenwart, Münster 2008. Vgl. dazu auch den Forschungsbericht von Jost Dülffer: Europa

12

Einleitung

seine Werte ausmacht und welche institutionelle Ausgestaltung es haben soll, kennzeichnen nicht nur die aktuellen Debatten, sondern waren auch wichtiger Bestandteil der vergangenen. Europa ist bis heute ein emotionalisierter und politisierter Begriff. Mit Europa werden Selbstverständnisse ausgehandelt und Ordnungsvorstellungen legitimiert. Dies soll am Beispiel der Politikerin und Reformpädagogin Siemsen gezeigt werden. Im Begriff Europa als politisches Schlagwort bündelte sie von den 1920er Jahren bis zu ihrem Tod 1951 umfassende Ordnungs- und Wertvorstellungen, die über den Rahmen institutionalisierter Europa-Projekte hinauswiesen. Europa war für Siemsen stets Sinnbild einer erhofften neuen Politik- und Gesellschaftsordnung und damit, wie für viele ihrer Zeitgenossen, ein ‚Sehnsuchtsbegriff‘, der mit unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen gefüllt werden konnte.6 Politische und wirtschaftliche Einigungsideen im engeren Sinn entwarf Siemsen erst während ihrer Exilzeit in Auseinandersetzung mit dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg. Am Beginn ihrer politischen Laufbahn, in der Weimarer Republik, standen vielmehr politisch-philosophische Europa-Konzepte. Diese entstanden aus Leitideen, die Siemsen während des Ersten Weltkrieges entwickelt hatte. Als sie unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die offizielle politische Bühne als Erziehungs- und Bildungsreformerin betrat, glaubte sie, dass das europäische System der kapitalistischen Nationalstaaten den Krieg heraufbeschworen habe. Ausgehend von dem Wunsch, einen dauerhaften und umfassenden Friedenszustand zu etablieren, entwarf Siemsen die politische Utopie einer Menschheitsgemeinschaft, eine nicht näher beschriebene Form menschlichen Zusammenlebens, in der weder wirtschaftliche noch nationale Interessen, sondern allein der Gedanke der Solidarität das Handeln der Menschen bestimmen sollte. Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit, Herrschaftslosigkeit und Freiheit waren die Leitideen und zugleich die Schlüsselbegriffe, die Siemsen in verschiedenen Zusammenhängen zur Beschreibung ihrer Ordnungsvorstellungen anführte. Diese Leitideen bündelte sie in dem Begriff der „Gemeinschaft“, die zur zentralen politischen Bezugsgröße in ihrer Argumentation wurde. Siemsen vertrat die Ansicht, allein durch Erziehung könnten Gemeinschaftswerte vermittelt und das Bewusstsein der Menschen geändert werden. Sie forderte deswegen eine Erziehung zur Gemeinschaft, aus der sie seit ihrer Exilzeit Erziehungskonzepte für Europa ableitete. In den 1920er Jahren versuchte sie, in ihrer bildungspolitischen Arbeit entsprechende Reformen des Erziehungs- und Bildungswesens umzusetzen. Europa bildete bei Siemsen keine fest umrissene Größe, sondern einen variablen Bezugspunkt für die Formulierung politischer Forderungen. Europa kam in ihrer universalen und unkonkret gebliebenen Vorstellung einer Menschheitsgemeinschaft eine komplexitätsreduzierende Funktion zu: Es wurde genutzt, um komplexe Ordnungsvorstellungen auf einen Nenner zu bringen. Auf diese Weise konnte Siemsen auf einer scheinbar greifbareren Ebene und abseits staatlicher oder natio-

6

– aber wo liegt es? Zur Zeitgeschichte des Kontinents, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 524–564, hier S. 532. Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 48.

Ziele und Leitfragen

13

naler Parameter Forderungen nach einer neuen nationalen sowie internationalen Politik- und Gesellschaftsordnung legitimieren. Europa diente dabei nicht nur zur Legitimation für diese Forderungen, sondern wurde auch dafür funktionalisiert. Europa-Vorstellungen durchzogen Siemsens Politikverständnis von den 1920er Jahren bis zu ihrem Tod und waren Bestandteil verschiedener politischer Themenbereiche, denen sie sich widmete. ZIELE UND LEITFRAGEN Dieses Buch entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes Nation und Europa scheiben. Else Frobenius (1875– 1952) und Anna Siemsen (1882–1951) als politische Publizistinnen von 1914 bis 1950. Ziel des Forschungsprojektes war, anhand eines biographischen Ansatzes7 die beruflichen und politischen Möglichkeiten und Grenzen zweier politisch aktiver Autorinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichend zu untersuchen. Beide Frauen wurden etwa zeitgleich geboren, entstammten einem ähnlichen Milieu, vertraten aber gegensätzliche politische Ordnungsvorstellungen. Im Zentrum des Projektes standen Fragen nach Politisierungsprozessen und Handlungsstrategien, die beide Frauen entwarfen, um gesellschaftliche und politische Verhältnisse zu ändern.8 Ausgehend von diesen Fragen wurden in der Untersuchung über Siemsen die Genese der politischen Leitideen und die vielfältigen Deutungen über Europa herausgearbeitet, die ihren Europa-Konzepten zugrunde lagen. Auch Siemsens praktisches politisches Engagement für die Umsetzung ihrer Ideen, etwa in Europa-Organisationen, findet Erwähnung. Für die Analyse von Siemsens Europa-Vorstellungen wurden spezifische Erfahrungen und Ereignisse wie etwa der Erste Weltkrieg berücksichtigt, aber auch Vorbilder, Netzwerke und Mitgliedschaften, die sie bei der Entwicklung ihrer zentralen politischen Leitideen beeinflussten. Untersucht wurde ebenfalls, in welchen Zusammenhängen und in welcher Lebenssituation Siemsen über Europa schrieb, mit welchen Zielen dies geschehen ist, welche politischen bzw. wissenschaftlichen Ansätze sie verfolgte und wo sie Anregungen für die Entwicklung von Europa-Vorstellungen erhielt. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich über verschiedene politische Systeme hinweg, vom Kaiserreich bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik. Siemsens Europa-Konzepte waren Teil ihres Politisierungsprozesses, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzte, aber durch ihn beschleunigt wurde. Die 7

8

In den letzten Jahren sind in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen vielfältige Debatten zu methodisch-theoretischen Ansätzen zum Schreiben von Biographien angestoßen worden. Als Synthese dieser Debatten vgl. Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart und Weimar 2009. Zu Else Frobenius siehe Silke Helling: Schlaglichter auf eine frühe Journalistin und politische Lobbyistin: Else Frobenius (1875–1952), in: Ulrike Auga u. a. (Hg.): Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt und New York 2010, S. 141–156.

14

Einleitung

Arbeit soll deswegen auch Aufschluss über die politische Laufbahn einer Bildungsbürgerin geben, die zu den ersten Frauen ihrer Generation gehörte, die die erweiterten Bildungschancen und nach 1918 die erweiterten politischen Handlungsmöglichkeiten für Frauen in Anspruch nahmen und versuchten, Politik und Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu reformieren.9 Dabei werden auch scheinbare Widersprüche und Ambivalenzen offenbar. Obwohl Siemsen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) beitrat, sich selbst als Sozialistin verstand und die Werte jener Gesellschaftsschicht geißelte, der sie selbst entstammte, war sie eine Frau, die bildungsbürgerlichen Wertvorstellungen und Deutungstraditionen ihr Leben lang verhaftet blieb.10 Zentral für das bürgerliche Selbstverständnis, wie es sich im 19. Jahrhundert herausbildete und wie es auch Siemsen verinnerlicht hatte, war etwa die Wertschätzung eines humanistischen Bildungsideals und eines hohen individuellen Leistungsethos.11 Aufgewachsen in einem evangelischen Pfarrhaus als zweites von fünf Kindern im preußischen Westfalen, entstammte sie einer Familie, die zur „Kerngruppe“ des Bildungsbürgertums zählte.12 Zugleich übertrat sie jedoch auch die geschlechtsspezifischen Grenzen ihres bildungsbürgerlichen Milieus, indem sie ein Lebensmodell wählte, das für bürgerliche Frauen ihrer Generation nicht vorgesehen war: Sie blieb kinderlos und lange Zeit ledig, sie strebte in die politische Öffentlichkeit und war berufstätig.13 Als eine der wenigen Frauen besetzte Siemsen leitende Posten in der Bildungspolitik der Weimarer Republik. Nach mehreren beruflichen Stationen als Lehrerin wurde sie nach dem Ersten Weltkrieg Stadtverordnete in Düsseldorf und arbeitete als Bildungspolitikerin in Bildungsministerien in Berlin und Thüringen. Daneben 9

10

11 12 13

Von den neueren Arbeiten, die das Leben und Wirken von Frauen in einem vergleichbaren Zeitraum untersuchen, vgl. etwa Susanne Kinnebrock: Anita Augspurg (1857–1943). Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikationshistorische Biographie (Frauen in Geschichte und Gesellschaft, Bd. 39), Herbolzheim 2005; Angelika Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft (L’Homme Schriften, Bd. 6), 2. Aufl. Köln, Weimar und Wien 2010 und Annika Spilker: Geschlecht, Religion und völkischer Nationalismus. Die Ärztin und Antisemitin Mathilde von Kemnitz-Ludendorff (1877–1966) (Reihe „Geschichte und Geschlechter“, Bd. 64), Frankfurt am Main 2013. Zur Schicht des Bildungsbürgertums gehörten vor allem diejenigen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Bildungspatente an den Universitäten erworben hatten und dadurch als Beamte in privilegierter Stellung staatstragende Berufe ausübten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kamen die sogenannten freien Berufe wie Ärzte oder Rechtsanwälte hinzu: Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (Geschichte kompakt), Darmstadt 2009, S. 8 f. Grundlegend zur Bürgertumsforschung siehe auch: Jürgen Kocka (Hg.) unter Mitarbeit von Ute Frevert: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988. Budde: Blütezeit, S. 11 f. Ebd., S. 74. Ausführlich zu Pfarrersfamilien: Oliver Janz: Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850–1914 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 87), Berlin und New York 1994. Angelika Schaser hat diese, auf Siemsen übertragbare Beschreibung für die zentralen Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, Helene Lange (1848–1930) und Gertrud Bäumer (1873–1954), formuliert: Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 33.

Ziele und Leitfragen

15

gehörte sie zu den ersten und wenigen Frauen, die in der Weimarer Republik als Professorinnen tätig waren. 1923 wurde ihr eine Honorarprofessur an der Philosophischen Fakultät der Universität Jena übertragen.14 Zunächst Mitglied in der USPD, wechselte sie 1922 zur Sozialdemokratischen Partei (SPD) und saß für sie von 1928 bis 1930 als Abgeordnete im Reichstag. Nachdem Siemsen 1933 als Sozialistin und Pazifistin Deutschland verlassen musste und ins Schweizer Exil gegangen war, begann sie, sich in Europa-Verbänden wie der Schweizer EuropaUnion zu engagieren. Im Exil arbeitete sie als Chefredakteurin der Zeitschrift Die Frau in Leben und Arbeit und gründete die Zeitschrift Neues Deutschland im Neuen Europa. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland engagierte sie sich seit 1947 in der deutschen Europa-Union, im Exekutiv-Komitee des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung und wurde schließlich 1950 Vorsitzende der deutschen Sektion der Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa. Ferner setzte sie sich für die Errichtung von europäischen Lehrerakademien ein. Siemsen bestritt ihren Lebensunterhalt zunächst mit der Leitung eines von der britischen Militärregierung eingesetzten Notausbildungslehrganges für Volksschullehrer und seit 1947 mit ihrer Vorlesungstätigkeit. Seit 1948 hatte sie einen Lehrauftrag am Pädagogischen Institut der Hamburger Universität. Sie starb 1951 in Hamburg. Ein Großteil biographischer Untersuchungen folgt oftmals noch dem Muster eines männlichen Lebenslaufes, der als ein linearer, auf Erwerbsleben und öffentliches Wirken ausgerichteter Lebenslauf konzipiert ist. Eine Untersuchung des politischen und beruflichen Wirkens von Frauen, die etwa aufgrund bildungspolitischer Traditionen oder staatsbürgerlicher Exklusion keine geradlinigen Ausbildungs-, Berufs- und Karrierewege verfolgen konnten, muss daher andere Schwerpunkte verfolgen.15 Siemsen entwarf ihre Europa-Konzepte während der Weimarer Jahre nicht etwa in ihrer ministeriellen, beruflichen Arbeit, sondern in Monographien, zu denen beispielsweise ihre Reisebücher gehören und die gerade zu dem Zeitpunkt entstanden, als sie den Höhepunkt ihrer äußeren beruflichen Karriere bereits überschritten hatte. Europa-Politik und Europa-Ideen werden immer noch als genuin männliche Wirkungsfelder untersucht. Das mag daran liegen, dass die Spitzenpositionen in der 14 Ein Ordinariat hatten in der Weimarer Republik nur zwei Frauen inne, die Biologin Margarethe von Wrangell und die Pädagogin Mathilde Vaerting. Vgl. dazu Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945 (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd1 10), Göttingen 1996, S. 49. Siemsen gehörte neben ihrer Kollegin Vaerting zu den beiden einzigen Frauen, die einen Professorentitel im Fachbereich Pädagogik erhielten. Siehe die Auswertung bei Klaus-Peter Horn: Erziehungswissenschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert. Zur Entwicklung der sozialen und fachlichen Struktur der Disziplin von der Erstinstitutionalisierung bis zur Expansion, Bad Heilbrunn 2003, S. 172. 15 Dieses männliche Lebenslaufmodell wird kritisiert bei Angelika Schaser: Bedeutende Männer und wahre Frauen. Biographien in der Geschichtswissenschaft, in: Irmela von der Lühe und Anita Runge (Hg.): Biographisches Erzählen (Querelles, Bd. 6), Stuttgart und Weimar 2001, S. 137–152, hier S. 143. Vgl. auch dies.: Women’s Biographies, Men’s History?, in: Volker R. Berghahn und Simone Lässig (Hg.): Biography between Structure and Agency. Central european Lives in international Historiography, New York und Oxford 2008, S. 72–84.

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Einleitung

(Regierungs-)Politik und in entsprechenden Verbänden und Organisationen traditionell von Männern besetzt wurden. Nach Schätzungen stellten Frauen nur einen Anteil von nicht einmal zehn Prozent in der Europa-Bewegung der 1940er und 1950er Jahre dar.16 Über die Beteiligung von Frauen an den vielfältigen EuropaDebatten ist kaum etwas bekannt. Es sind vor allem die „großen Männer“ der Geschichte, die als „Gründerväter Europas“, als „Wegbereiter“, als Initiatoren und Entwickler der europäischen Idee oder des europäischen Einigungsprozesses vorgestellt werden.17 Europa-Ideen waren aber nicht nur Kennzeichen der „hohen Politik“ oder der Diplomatie, sondern wurden gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Vielzahl unterschiedlicher Personen und Gruppen entworfen. Entsprechend vielfältig waren die Deutungen, Zuschreibungen und Sinnstiftungen, die mit Europa verbunden wurden.18 Am Beispiel von Siemsen kann gezeigt werden, dass es auch politische, berufliche und persönliche Umbruchserfahrungen sein konnten, die eine Beschäftigung mit Europa einleiteten oder verstärkten. Über die Auseinandersetzung mit Europa thematisierte Siemsen etwa eigene geschlechtsspezifische Handlungsspielräume, wenn sie im Exil für einen verstärkten Einsatz von Frauen für ein „neues“ Europa plädierte und damit die volle politische Gleichstellung der Frauen mit den Männern einforderte. Constantin Goschler und Rüdiger Graf haben betont, dass eine Auseinandersetzung mit Europa stets „konkreten politischen Zwecken“ diente.19 Siemsens übergeordnetes Ideengebäude einer Menschheitsgemeinschaft verdeutlicht das und zeigt, wie umfassende neue Gesellschaftsentwürfe mit Europa verhandelt wurden.20 Damit sind Siemsens Europa-Konzepte auch in politisch übergreifende Diskussionszusammenhänge der 1920er und 1930er Jahre einzuordnen, wo das Gefühl, an einer Zeitenwende zu stehen, in bürgerlichen Kreisen zu oftmals radikalen Neuordnungs16 Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der europäischen Identität, Stuttgart 2008, S. 118. 17 Vgl. etwa Heinz Duchhardt (Hg.): Europäer des 20. Jahrhunderts. Wegbereiter und Gründer des „modernen“ Europa, Mainz 2002; Barbara Kobler: Die Europaidee. Von Pierre Dubios (ca. 1250/1260-ca. 1321) bis Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (1894–1972). Versuch einer Darstellung anhand ausgewählter Persönlichkeiten, Nordhausen 2003 und Mischa Meier (Hg.): Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen, München 2007. 18 Grundlegend dazu Conze: Vielfalt ohne Einheit. 19 Constantin Goschler und Rüdiger Graf: Europäische Zeitgeschichte seit 1945 (Akademie Studienbücher Geschichte), Berlin 2010, S. 13. Die Mehrzahl der politik- und geschichtswissenschaftlichen Forschungen zum Europa-Gedanken oder zur europäischen Einigung betont mittlerweile den Konstruktionscharakter von „Europa“, das nicht als festumschriebenes Gebilde definiert wird, sondern als Idee, die in verschiedenen historischen Kontexten anders konzipiert wurde. So auch Goschler und Graf: ebd. Vgl. weiterhin Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 15 und Michael Gehler: Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, München 2005, S. 11 f. 20 Lutz Raphael hat herausgestellt, dass die „gesellschaftliche Dimension“ bzw. die „Denkfigur einer europäischen Gesellschaft“ in der historischen Forschung zu Europa-Vorstellungen bislang kaum untersucht worden ist: Lutz Raphael: Ordnungsmuster und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.) unter Mitarbeit von Clelia Caruso: Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert (Industrielle Welt, Bd. 82), Köln, Weimar und Wien 2012, S. 9–20, hier S. 12.

Thematische Leitlinien

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vorstellungen für Politik und Gesellschaft führte.21 Die für diese politisch übergreifenden Neuordnungsvorstellungen zentralen Begriffe wie „Gemeinschaft“ oder „Einheit“22 prägten auch Siemsens europapolitische Vorstellungen. Heute noch werden diese Begriffe mit Europa verbunden, wenn etwa von „europäischer Einheit“ oder „europäischer Gemeinschaft“ die Rede ist. Siemsens europapolitische Vorstellungen machen somit die Dominanz von Ideen und Begriffen über Zeitläufte hinweg deutlich, bei näherer Untersuchung vor allem aber ihre Zeitgebundenheit und Wandelbarkeit. Dadurch kann die Gegenwart gerade durch die Darstellung von „Entwicklungen“ historisch verortet werden, „die scheiterten oder im Sande verliefen“.23 „Einheit“ bezeichnet in der vorliegenden Arbeit nicht nur einen historischen Begriff, der mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten gefüllt wurde. Der Begriff „Einheit“ wird zugleich als eine Analysekategorie verwendet, mit der gezeigt werden soll, wie Siemsen ihre europapolitischen Vorstellungen vermittelte. Daneben sind noch zwei weitere Kategorien für die Untersuchung der Europa-Konzepte zugrunde gelegt worden, die, ebenso wie der Begriff „Einheit“, zeitgenössisch anschlussfähig waren, aber auch heute noch im Zusammenhang mit Europa diskutiert werden. Das sind die Kategorien „Grenzen“ und „Nation“. THEMATISCHE LEITLINIEN Der Einheitsgedanke war eine zentrale Leitlinie, die Siemsens Ordnungsvorstellungen durchzog. Er wurde stets angeführt, um grundlegende Reformen zu fordern, mit der die aus Siemsens Sicht von widerstreitenden Interessen geprägte und gespaltene Gesellschaft umgestaltet werden sollte. Eng mit dem Einheitsbegriff verbunden war der Gemeinschaftsbegriff, unter dem Siemsen ihre politischen Forderungen subsumierte. Da sie Europa nutzte, um die von ihr geforderten Reformen zu legitimieren, wurde der Einheits- und Gemeinschaftsgedanke auf Europa übertragen. Er konnte dabei vielfältige Formen annehmen. Europa wurde von Siemsen als „Vorstellungs­ raum“24 konzipiert, in dem etwa ein einheitliches Wertesystem etabliert werden sollte. Um ihre Forderung nach einer Menschheitsgemeinschaft zu begründen, ent21 Grundlegend dazu: Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsan­ eignungen in Deutschland 1918–1933 (Ordnungssysteme, Bd. 24), München 2008 und Wolfgang Hardtwig (Hg.): unter Mitarbeit von Philip Cassier: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit (Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 56), München 2003. 22 Britta-Marie Schenk hat dies etwa am Beispiel des christlich-nationalen Bühnenvolksbundes (BVB) in der Weimarer Republik gezeigt, der über eine Reformierung des Theaters und der Kunst zugleich eine Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Lebens überhaupt einleiten wollte. Auch hier spielte der Gemeinschaftsbegriff eine zentrale Rolle: Britta-Marie Schenk: Das Theater der Zukunft? Theaterkritik und Reformvorstellungen des christlich-nationalen Bühnenvolksbundes in der Weimarer Republik (Kleine Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte e. V., Heft 45), Berlin 2011. 23 Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert (Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), München 2014, S. 16. 24 Susanne Rau: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen, Bd. 14), Frankfurt am Main und New York 2013, S. 174.

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warf sie eine einheitliche gesellschaftliche Entwicklungsgeschichte der europäischen Menschen, die eben dieser Menschheitsgemeinschaft zustrebe. Sie erwähnte in ihren Konzepten beispielsweise auch einheitliche Trägergruppen für politische Ideen, wie Arbeiter oder Frauen, denen sie aufgrund ihres gesellschaftlichen Status’ oder ihres Geschlechtscharakters eine zentrale Funktion für die Umsetzung ihrer Reformforderungen zuschrieb. Schließlich formulierte Siemsen im Exil und später in ihrer europapolitischen Arbeit in Deutschland nach 1946 institutionelle Einigungsideen und plädierte für eine Föderation der europäischen Länder. Siemsen differenzierte den Einheitsgedanken aus, indem sie etwa auf den Topos von der „Vielfalt in der Einheit“ zurückgriff. Dieser Topos ziert als Motto gegenwärtig das Banner der EU. Wenn heute Europa als „Hort“ einer unterschiedlichen Vielfalt, sei es national oder regional, begriffen und ihm eine einheitliche und alles überwölbende Grundstruktur zugeschrieben wird, die es gegenüber anderen Weltteilen als Einheit erscheinen lässt,25 so war das bei Siemsen grundsätzlich nicht anders. Sie wünschte sich eine neue Gesellschaftsordnung, die sich durch „Mannigfaltigkeit mit gegliederter Einheit“26 auszeichnen und in Europa entstehen sollte. Obgleich sie den Anspruch vertrat, über eine entsprechende Gesellschaftsordnung der Heterogenität der Menschen, der Kulturen und der Regionen in ihren europapolitischen Vorstellungen gerecht zu werden, waren auch Ausschlüsse damit verbunden. Ihre Europa-Konzepte zeigen, dass ihr auf Einheitlichkeit ausgerichtetes Politikverständnis nicht immer dem Plädoyer für eine integrative und als demokratisch bezeichnete Gesellschaftsordnung entsprach. Den Topos von der „Vielfalt in der Einheit“ führte sie vor allem seit ihrer Exilzeit zur Beschreibung ihrer europapolitischen Forderungen an. Siemsens Europa-Konzepte speisten sich nicht allein aus zeitgenössischen Diskussionszusammenhängen, sondern auch aus langfristigen Deutungstraditionen, die etwa seit der Aufklärung bestanden. Nicht nur die Denkfigur Europas von einer „Vielfalt in der Einheit“ geht auf das 18. Jahrhundert zurück.27 Der Entwurf von Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsdiagnosen war Kennzeichen von Debatten, die sich auf Europa bezogen, seit Europa als politisches Schlagwort um 1800 allmählich in den allgemeinen Sprachgebrauch Eingang fand. Europa als „Konzept“, so wie es auch heute noch diskutiert wird, entstand, als mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und der nationalstaatlichen Ordnung in Europa neue Begriffsbildungen erfunden wurden oder tradierte Begriffe eine neue Bedeutung gewannen. „Europa“, vorher in erster Linie ein geographischer Begriff, wurde nun im Zuge grundlegender politischer Veränderungen auch ein politischer Terminus. Europa avancierte „zu einer fundamentalen transnationalen Bezeichnung“ und zu einem Begriff, der „nicht nur zeitgenössische Meinungen und Erwartungen, sondern auch Erinnerungen umfasste“.28 Erst durch diese Eigenschaften 25 26 27 28

Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 21. SozArch, Ar 142.30.1.:Anna Siemsen: Abschluss, maschinenschriftliches Typoskript. Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 21. Pim den Boer: Konzept Europa, in: ders. u. a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte, Bd.1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, S. 59–74, hier S. 59.

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wurde er auch ein emotionalisierter Begriff, der zwischen Nostalgie und Zukunftshoffnungen changierte und mit dem die Zeitgenossen rückwärtsgewandte oder utopische Ideen verbanden.29 Obwohl Siemsen staatliche bzw. nationale Grenzen ablehnte, nahm sie selbst Grenzziehungen vor, die die kulturelle, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Ebene betrafen. In der Forschung ist darauf hingewiesen worden, dass die „Grenzen Europas […] zu allen Zeiten politisch umstritten“ gewesen seien. Dabei ergab sich stets die Frage nach den „Außengrenzen Europas“, aber eben auch die Frage nach Zugehörigkeiten oder „Mitgliedschaftsgrenzen“, die als „politische, wirtschaftliche oder soziale Beziehungsnetzwerke“ definiert werden können.30 Dazu gehören auch Vorstellungen über die „Mitte“ oder die „Peripherie“ von Europa sowie mögliche Binnendifferenzierungen, die sich aus bestimmten politischen Deutungen ergeben und deswegen ebenfalls eine politische Funktion erfüllen.31 In der vorliegenden Arbeit sollen daher nicht allein rechtliche, d. h. staatliche oder nationale Grenzen im Mittelpunkt stehen, sondern vor allem auch eben jene gedachten bzw. vorgestellten Grenzen. In- und Exklusionsmechanismen, die ein wesentlicher Bestandteil von Grenzziehungen sind, verweisen auf den dritten Aspekt, der zentral für Siemsens EuropaKonzepte ist: die Nation. Ähnlich wie dem Konzept Europa bei Siemsen, kam auch dem Konzept der Nation im 19. und 20. Jahrhundert eine komplexitätsreduzierende Funktion zu, um die Übersichtlichkeit des „modernen Lebens“ zu strukturieren. Dafür wurden unterschiedlich begründete Zuordnungen entworfen, die das Eigene und das Fremde definierten.32 Obwohl Siemsen das Konzept der Nation als politische Bezugsgröße ablehnte und mit Nationalstaatlichkeit jene Werte verband, die sie für eine neue gewünschte Gesellschaftsordnung überwinden wollte, spielten nationale Deutungen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung ihrer Ordnungsvorstellungen und in ihren Europa-Konzepten. Siemsen maß beispielsweise Deutschland stets eine besondere Funktion in ihren Europa-Vorstellungen bei, widmete aber auch Frankreich, der Schweiz und Spanien eine größere Aufmerksamkeit, so dass in der vorliegenden Arbeit ebenfalls danach gefragt wird, in welchen Erscheinungsformen das Nationale in den Europa-Konzepten auftaucht, mit welchen Deutungen es belegt wurde und schließlich auch, was für ein Deutschland-Bild Siemsen entwarf.33 29 Ebd., S. 60. 30 Goschler und Graf: Europäische Zeitgeschichte, S. 11 f. 31 Ebd., S. 13. Siehe dazu auch den Sammelband von Frank Bösch, Ariane Brill und Florian Greiner (Hg.): Europabilder im 20. Jahrhundert. Entstehung an der Peripherie (Geschichte der Gegenwart, Bd. 5), Göttingen 2012. 32 Christian Jansen und Henning Borggräfe: Nation – Nationalität – Nationalismus (Historische Einführungen, Bd. 1), Frankfurt am Main und New York 2007, S. 10 f. 33 Für die Zeit des Kaiserreichs hat Dagmar Günther anhand von Selbstzeugnissen gezeigt, in welch vielfältigen Erscheinungsformen das Nationale in der bürgerlichen Selbstthematisierung zu finden ist. Vgl. Dagmar Günther: Das nationale Ich? Autobiographische Sinnkonstruktionen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs (Studien zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 102), Tübingen 2004.

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Ute Frevert hat hervorgehoben, dass der Bezug auf Europa in unterschiedlichsten Auseinandersetzungen keine Negierung nationaler Vorstellung bedeutet habe. Vielmehr waren europäische und nationale Ideen eng miteinander verzahnt.34 Diese Verflechtung liegt schon in den Ursprüngen des „Konzept[s] Europa“ selbst begründet, das zugleich mit der Herausbildung der Nationalstaaten entstand. Nationalstaaten beriefen sich trotz gegenseitiger Abgrenzungsbemühungen auf ein gemeinsames europäisches „Fundament“, das auf christlichen und antiken Deutungstraditionen und der Vorstellung von „Zivilisation“ und „Fortschritt“ fußte, das dabei aber zugleich als Abgrenzung gegenüber der nichteuropäischen Welt verwandt wurde.35 Vor 1914 gab es die unterschiedlichsten gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen in Europa und es entstand eine europäische Öffentlichkeit,36 was sich etwa an der internationalen Zusammenarbeit von Sozialisten oder Mitgliedern der Friedens- und Frauenbewegung zeigt.37 In der Geschichtswissenschaft wurde jüngst wieder betont, dass „das 19. und das 20. Jahrhundert in Europa ohne die nationalstaatliche Perspektive nicht entzifferbar“ sei.38 Das spiegelt sich in Siemsens Europa-Konzepten wider. Nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil „persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Traditionen, politische Optionen, kulturelle Orientierung und Alltagsvertrautheit […] sich […] zuerst auf das Land [beziehen], aus dem man kommt und in dem man lebt“.39 METHODISCHES VORGEHEN Siemsens Europa-Konzepte werden in der vorliegenden Arbeit als politische Konzepte charakterisiert. Siemsen entwarf sie in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Verhältnissen und nutzte sie, um politische Botschaften zu vermitteln und dadurch Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen. Deswegen wurde der Untersuchung ein weiter Politikbegriff zugrunde gelegt, der es ermöglicht, politische Handlungen auch in den Bereichen zu untersuchen, die nicht im engeren Sinn zur Partei- oder Regierungspolitik zählen. Ein solcher, auf staatliches Handeln reduzierter, engerer Politikbegriff wie ihn die klassische Politikgeschichte nutzte, geriet in den 1970er und 1980er Jahren in die Kritik. Ausgehend von der Feststellung, 34 Ute Frevert: Europeanizing Germany’s Twentieth Century, in: History and Memory 17 (2005), Heft 1/2, S. 87–116, hier S. 88. 35 Boer: Konzept Europa, S. 60 f. Zitate auf S. 61. 36 Siehe dazu: Hartmut Kaelble und Martin Kirsch (Hg.): Selbstverständnis und Gesellschaft der Europäer. Aspekte der sozialen und kulturellen Europäisierung im späten 19. und 20. Jahrhundert (Komparatistische Bibliothek, Bd. 16), Frankfurt am Main 2008. Vgl. auch den Forschungsbericht von Hartmut Kaelble: Europabewußtsein, Gesellschaft und Geschichte. Forschungsstand und Forschungschancen, in: Rainer Hudemann, ders. und Klaus Schwabe (Hg.): Europa im Blick der Historiker (Historische Zeitschrift, Beiheft, Bd. 21, München 1995, S. 1–29, hier S. 14. 37 Frevert: Europeanizing, 93 f. 38 Herbert: Geschichte Deutschlands, S. 12. 39 Ebd., S. 11.

Methodisches Vorgehen

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dass politisches Handeln von Frauen in der Geschichte nicht berücksichtigt wurde, weil sie aufgrund rechtlicher und gesellschaftlicher Begrenzungen kaum in Entscheidungspositionen der hohen Politik gelangt waren, wollte die sich formierende Frauen- und Geschlechtergeschichte zeigen, „dass der Raum des Politischen nicht nur männlich geprägt“ sei.40 Aber auch die Alltagsgeschichte hat seit den 1980er Jahren dazu beigetragen, das Politische „zu entstaatlichen“ und die gesellschaftliche Dimension von Politik insbesondere bei jenen Gruppen und Personen zu zeigen, die nicht zu den staatlichen Akteuren wie Berufspolitikern oder politischen Funktionären zählen.41 Auch Siemsen entwarf ihre Europa-Konzepte in der Weimarer Republik nicht etwa im Rahmen ihrer ministeriellen Tätigkeit, sondern über den Bereich der Literatur, den sie nutzte, um politische Ideen zu vermitteln. Für die Weimarer Jahre stehen vier Publikationen im Mittelpunkt der Analyse, bei denen es sich um eine europäische Gesellschafts- bzw. Literaturgeschichte, um zwei Reisebücher und um einen Aufsatz handelt. 1925 veröffentlichte Siemsen das als Literaturgeschichte rezipierte Buch Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft, 1927 erschien der Artikel Ich suche Europa, ein Jahr später, im Jahr 1928, die Monographie Daheim in Europa und schließlich 1932 die Monographie Deutschland zwischen gestern und morgen. Diese Beispiele zeigen, dass Siemsen ihre Europa-Konzepte jenseits der klassischen Politikfelder entwarf und als studierte Literaturwissenschaftlerin den ihr vertrauten literarischen Bereich nutzte, um ihre politischen Forderungen zu propagieren. Siemsens Europa-Konzepten lagen Ordnungsvorstellungen zugrunde, die als „Leitideen“42 beschrieben werden können. Zentral für ihre Ordnungsvorstellungen ist der Begriff „Gemeinschaft“, in dem sie ihre Leitideen bündelte. Die Leitideen waren „ein mehr oder weniger stabiles Ensemble von sprachlich […] artikulierten Argumenten und Vorstellungen“,43 aus denen heraus Siemsen ihre Europa-Vorstellungen entwickelte. Ähnlich der Neuen Politikgeschichte hat auch die Politische Ideengeschichte dafür plädiert, politische Ideen „in Literatur und Kunst“ oder in 40 Ute Frevert: Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: dies. und HeinzGerhard Haupt (Hg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung (Historische Politikforschung, Bd. 1), Frankfurt am Main und New York 2005, S. 7–26, hier S. 13. 41 Ebd., S. 12. 42 Jens Hacke: Politische Ideengeschichte und die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Im Spannungsfeld historischer und politiktheoretisch geleiteter Absichten, in: ders. und Michael Pohlig (Hg.): Theorien in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis des historischen Forschens (Eigene und fremde Welten, Bd. 7), Frankfurt am Main und New York 2008, S. 147– 170, hier S. 155. Hacke fasst unter dem Begriff „Leitideen“ eben jene Ideen, die „in klassischer Weise als Gegenstände der politischen Ideengeschichte verstanden“ werden und auch in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt stehen. Dazu gehören „Leitideen wie Staat, Gemeinwohl, Solidarität, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc. oder Leitthemen wie z. B. Macht/Gewalt, Krieg, Frieden, Herrschaft“. Ebd. 43 Lutz Raphael: „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogramms, in: ders und Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte (Ordnungssysteme, Bd. 20), München 2006, S. 11–30, hier S. 23.

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„unterschiedliche[n] Teilöffentlichkeiten in Verbänden, Vereinigungen, Stiftungen sowie in identifizierbaren gesellschaftlichen Milieus“ zu untersuchen.44 Die Historiographie zur Europa-Idee hat schon in den 1950er Jahren verschiedene Europa-Ideen seit der Antike und Konzepte der Europa-Bewegungen in einer Zusammenschau vorgestellt und damit eine Tradition des Europa-Gedankens vor dem Hintergrund der beginnenden bzw. fortschreitenden Einigung Europas konstruiert.45 In der vorliegenden Arbeit soll es vielmehr darum gehen, einen „komplexen Wirkungszusammenhang von Ideen und Gesellschaft“ darzustellen sowie ‚Deutungssysteme und Denkstile‘ auszumachen,46 die Siemsens Europa-Konzepten zugrunde lagen. Da in der vorliegenden Untersuchung Leitideen und verschiedene Einflüsse sowie Vermittlungsstrategien und konkretes politisches Engagement für die europäische Idee herausgearbeitet werden sollen, wurde ein biographischer Ansatz gewählt. Es soll chronologisch Siemsens Politisierungsprozess und der Weg von der Genese ihrer Europa-Konzepte bis hin zu ihrem Engagement in EuropaOrganisationen im Exil und nach dem Zweiten Weltkrieg nachgezeichnet werden. Es sollen die Wechselbeziehungen von Persönlichkeit und politischen und gesellschaftlichen Strukturen gezeigt werden, über die sich Kontinuität und Wandel von politischen Ideen darstellen lassen.47 Da in der vorliegenden Arbeit der Schwerpunkt auf Siemsens Europa-Konzepten und ihrem europapolitischen Engagement liegt, werden viele, aber nicht alle Aspekte ihres Lebens und Wirkens Berücksichtigung finden können. Dennoch lässt die Untersuchung Rückschlüsse auf zeitgenössische, politisch übergreifende Diskussionszusammenhänge zu. Denn Siemsen entwickelte ihre Europa-Vorstellungen in Auseinandersetzung mit den jeweiligen politischen Verhältnissen und nahm auf sie Bezug, so dass in dieser Arbeit politische, kulturelle und gesellschaftliche Rah44 Hacke: Politische Ideengeschichte, S. 156. 45 Vgl. etwa Rolf Hellmut Foerster: Europa. Geschichte einer politischen Idee. Mit einer Bibliographie von 182 Einigungsplänen aus den Jahren 1306–1945, München 1967 und Heinz Gollwitzer: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951. Als neuere Veröffentlichung siehe: Wolfgang Geier: Europabilder. Begriffe, Ideen, Projekte aus 2500 Jahren, Wien 2009. Seit der sogenannten EU-Osterweiterung 2004 sind auch Europa-Ideen und Europa-Pläne in den südöstlichen und mitteleuropäischen Ländern aus dem 19. und 20. Jahrhundert untersucht worden: Wlodzimierz Borodziej u. a. (Hg.): Option Europa. Deutsche, polnische und ungarische Europapläne, Band 1: Essays, Göttingen 2005 und Heinz Duchhardt und István Németh (Hg.): Der Europa-Gedanke in Ungarn und Deutschland in der Zwischenkriegszeit (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 66), Mainz 2005. 46 Raphael: Ideen, S. 11. 47 Ulrich Raulff: Das Leben – buchstäblich. Über neuere Biographik und Geschichtswissenschaft, in: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart und Weimar 2002, S. 55–68, bes. S. 67 f. und Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart und Weimar 2009. Biographische Untersuchungen, in denen „die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Handlungsbedingungen“ berücksichtigt werden, haben sich in der Geschichtswissenschaft mittlerweile durchgesetzt: Wolfram Pyta: Geschichtswissenschaft, in: Klein: Handbuch Biographie, S. 331–338, hier S. 333.

Methodisches Vorgehen

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menbedingungen und damit größere historische Kontexte berücksichtigt worden sind. Vanessa Conze hat in ihrer Dissertation am Beispiel der Abendländischen Bewegung und der deutschen Europa-Union, deren Vertreter sie von den 1920er bis zu den 1970er Jahren untersucht, die langfristige Wirksamkeit von Europa-Vorstellungen analysiert und herausgestellt, dass diese auf „biographischer Prägung sowie ideeller und politischer Überzeugungen“ beruhten.48 Damit zeigt sie, dass bestimmte Ordnungsvorstellungen, die Europa-Ideen zugrunde lagen, die politikgeschichtlichen Zäsuren von 1933 und 1945 überdauerten und sich erst im Rahmen „gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozesse“ in den 1950er Jahren zu ändern begannen.49 In der Forschung wird zunehmend der Erste Weltkrieg als Zäsur innerhalb der vielfältigen Europa-Debatten angesehen. Nachdem vor allem „auf das Treibhausklima der dreißiger Jahre als einer Entwicklungszeit neuer Europaideen“ verwiesen worden ist,50 fokussieren neuere Arbeiten auf längere Entwicklungslinien und widmen sich verstärkt den 1920er Jahren.51 Jürgen Osterhammel hat in seiner Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts die 1920er Jahre als „Scharnierperiode“ zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert bezeichnet, in der es zu einer weltweiten Neuorientierung gekommen sei.52 Diese These scheinen die EuropaDebatten zu bestätigen. Denn nach 1918 intensivierten sie sich. Nicht nur friedenspolitische Ideen oder der weltpolitische Bedeutungsverlust Europas durch den Aufstieg der USA oder der Sowjetunion spielten eine Rolle. Der Rückgriff auf Europa bot sich insbesondere für gebildete Kreise in Deutschland an, den verlorenen Krieg

48 Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichs­tradition und Westorientierung (1920–1970) (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 69), München 2005, S. 6. 49 Ebd., S. 8. Auch Axel Schildt hat in seinem Aufsatz über den Europa-Gedanken im Westdeutschland der Nachkriegszeit darauf hingewiesen, dass „die Sozialgeschichte der Ideen anderen Veränderungsrhythmen unterliegt als die politische Geschichte, auf die sie gleichwohl zu beziehen ist“. Axel Schildt: Der Europa-Gedanke in der westdeutschen Ideenlandschaft des ersten Nachkriegsjahrzehnts (1945–1955), in: Michel Grunewald und Hans Manfred Bock (Hg.): Le discours européen dans les revues allemandes 1945–1955. Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften 1945–1955 (Convergences, Bd. 18), Bern u. a. 2001, S. 15–30, hier S. 15. 50 Kaelble: Europabewußtsein, S. 10. Hier sind besonders die Arbeiten von Walter Lipgens zu nennen. Vgl. Walter Lipgens: Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940– 1945. Eine Dokumentation (Schriften des Forschungsinstituts der deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V., Bd. 26), München 1968. Als neuere Veröffentlichung siehe dazu auch Schilmar: Der Europadiskurs im deutschen Exil. 51 Vgl. Christian Henrich-Franke (Hg.): Die „Schaffung“ Europas in der Zwischenkriegszeit. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konstruktionen eines vereinten Europas (Politik und moderne Geschichte, Bd. 19), Berlin und Münster 2014 und Mark Hewitson und Matthew D’Auria (Hg.): Europe in Crises. Intellectuals and the European Idea 1917–1957, New York u. a. 2012. 52 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), 5. Aufl. München 2010, S. 1300.

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zu kompensieren und aus der politischen Isolation herauszukommen.53 Die Debatten über Europa waren dabei so vielfältig wie die Personen und Gruppen, die an ihnen beteiligt waren.54 Beeinflusst durch die Verständigungspolitik des deutschen Außenministers Gustav Stresemann (1878–1929) und seines französischen Amtskollegen Aristide Briand (1862–1932) verstärkten sich seit Mitte der 1920er Jahre die Europa-Diskussionen und es entstand eine Gründungswelle proeuropäischer Organisationen.55 Siemsens Publikationen zu Europa korrespondieren mit den seit Mitte der 1920er Jahren verstärkt einsetzenden Europa-Debatten. Obgleich der Erste Weltkrieg eine zentrale Stellung in der Entwicklung von Siemsens politischen Leitideen zukam, wird gezeigt, dass sie bereits vorher vereinzelt Kritik an den zeitgenössischen gesellschaftlichen Zuständen übte und die Ursprünge ihrer politischen Leitideen in den kulturkritischen, lebensreformerischen Diskussionen um 1900 zu suchen sind. Für die vorliegende Arbeit erwies sich der Erste Weltkrieg dennoch als einschneidendes Ereignis. Demgegenüber stellten die Jahre 1933 und 1945 keine grundlegende Zäsur für Siemsens Ordnungsvorstellungen dar. Das Jahr 1933 war zwar für Siemsens persönliches Leben wegen der Emigration ohne Frage eine einschneidende Zäsur, nicht aber für ihre Europa-Konzepte. In ihrer Auseinandersetzung mit dem NS-Regime griff sie im Schweizer Exil zunächst noch auf europapolitische Ideen zurück, die sie bereits vor 1933 entworfen hatte. Erst im Laufe der 1930er Jahre gewannen ihre europapolitischen Vorstellungen schärfere Konturen. Nach dem Münchener Abkommen 1938 begann Siemsen schließlich, institutionelle Einigungsideen zu entwerfen. Sie ist damit in übergreifende Diskussionen des deutschen Exils einzuordnen, wo ebenfalls seit dieser Zeit konkrete europäische Einigungsideen für die Nachkriegszeit formuliert wurden.56 Im Exil änderte sich durch ihre Auseinandersetzung mit den weltpolitischen Entwicklungen lediglich das „äußere“ Europa-Konzept, das nun konkrete wirtschaftliche und politische Einigungsideen beinhaltete. Die den Europa-Konzepten zugrunde liegenden Leitideen änderten sich jedoch nicht. Siemsen betrachtete nach wie vor die Erziehung als maßgebliche politische Strategie, um ihre Gemeinschaftsvorstellungen umzusetzen. Dies blieb bis zu ihrem Tod der Fall. 53 Frevert: Europeanizing, S. 89 und 99. 54 Vgl. Conze: Vielfalt ohne Einheit. Deutsche Europaideen im 20. Jahrhundert, S. 45–68. 55 Vgl. Hans Manfred Bock: Europa als konkrete Utopie. Europapolitische Motive in den Intellektuellen-Diskursen der Locarno-Ära, in: Frank Baasner und Michael Klett (Hg.): Europa. Die Zukunft einer Idee, Darmstadt 2007, S. 53–79; Oliver Burgard: Das gemeinsame Europa. Von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm. Meinungsaustausch und Zusammenarbeit pro-europäischer Verbände in Deutschland und Frankreich 1924–1933, Frankfurt am Main 2000, S. 105; Antoine Fleury in Zusammenarbeit mit Lubor Jílek (Hg.): Le Plan Briand d’Union fédérale européene. Pespectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque international tenu á Genève du 19 au 21 septembre 1991, Bern u. a. 1998 und Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das deutsch-französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund (Studien zur internationalen Geschichte, Bd. 15), München 2005. 56 Zur Bedeutung der Ereignisse von 1938 für die Europa-Debatten des Exils siehe die Ausführungen bei Schilmar: Der Europadiskurs, S. 5 und 115.

Forschungsstand

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Diese Änderungen oder Konkretisierungen von Siemsens Europa-Vorstellungen, die von politisch-philosophischen bis hin zu politisch-institutionellen Konzepten reichen, verweisen auf den Einfluss, den übergreifende politische Entwicklungen, Diskussionszusammenhänge, persönliche Kontakte oder Mitgliedschaften auf die Entwicklung von Europa-Konzepten nahmen. Für die Weimarer Republik waren neben gesamtgesellschaftlichen Diskussionen auch berufliche Zäsuren wichtige Weichenstellungen für Siemsen, um sich mit Europa auseinanderzusetzen. Wenn diese auch mit politischen Ereignissen zusammenfielen, zeigt das doch die Bedeutung von persönlichen oder als persönlich empfundenen Brüchen im Lebenslauf, die eine verstärkte Beschäftigung mit politischen Ideen hervorrufen konnten. Siemsen hat ein etwa 800 Titel zählendes publizistisches Werk geschaffen, das erziehungspolitische, frauenpolitische, literarische und europapolitische Themenbereiche umfasst. Für die vorliegende Arbeit musste entsprechend der Fragestellung eine Auswahl getroffen werden. Dabei wurden nicht nur explizit europapolitische Schriften ausgewählt, sondern auch Quellen aus den anderen genannten Themenbereichen hinzugezogen, zu denen Siemsen schrieb. Denn ihre europapolitischen Vorstellungen waren zu je unterschiedlichen Zeiten eng verbunden mit ihren erziehungstheoretischen, frauenpolitischen und literarischen Auseinandersetzungen. Desweiteren wurden auch Publikationen berücksichtigt, die erst auf den zweiten Blick europapolitische Vorstellungen enthalten. Für die Zeit der Weimarer Republik sind vor allem Aufsätze oder Monographien von Siemsen analysiert worden. Für die Zeit der 1930er und 1940er Jahre konnten dann in größerem Umfang archivalische Quellen wie Redemitschriften, Fragmente ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte oder andere Ausarbeitungen verwendet werden. FORSCHUNGSSTAND Wenn in der Forschung vereinzelt der Ruf laut wurde, auch einzelne Personen, die sich um den Europa-Gedanken verdient gemacht haben, in den Blick zu nehmen, so bezog er sich meist auf den europäischen Integrationsprozess, der durch das politische Wirken einzelner verdeutlicht werden sollte.57 In diesem Zusammenhang gerieten auch Politiker in den Blick, die bereits vorher in der Europa-Bewegung der 1920er und 1930er Jahre eine prominente Rolle eingenommen hatten. Die vielfältigen und heterogenen Europa-Konzepte, die in dieser Epoche von Gruppen oder Einzelpersönlichkeiten unterschiedlichster Provenienz entworfen worden waren, sind dabei in der Regel in Sammelbänden untersucht worden, die einzelne Intellek-

57 Auf dieses Forschungsdesiderat machte Wilfried Loth bereits 2001 aufmerksam: Wilfried Loth: Beiträge der Geschichtswissenschaft zur Deutung der Europäischen Integration, in: ders. und Wolfgang Wessel (Hg.): Theorien europäischer Integration (Grundlagen für Europa, Bd. 7), Opladen 2001, S. 87–106, hier S. 104 f. Neben den bereits zitierten Arbeiten zu den „Gründervätern“ Europas siehe etwa noch: Wilfried Loth: Walter Hallstein. Der vergessene Europäer? (Europäische Schriften des Instituts für Europäische Politik, Bd. 73), Bonn 1995.

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tuelle bzw. ihre Schriften58 oder auch Europa-Debatten in bestimmten Zeitschriften59 in den Blick nahmen. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei etwa dem Österreicher Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (1894–1972) zuteil geworden, der in den 1920er Jahren die Paneuropa-Union gründete; eine Europa-Organisation, die die Einigung Europas vorantreiben wollte, international vernetzt war und einen hohen Bekanntheitsgrad genoss.60 Ausgehend von dem Konstruktionscharakter Europas ist mittlerweile eine Reihe interdisziplinärer Arbeiten entstanden, die sich etwa mit literarischen Europa-Konzepten oder bildlichen und ikonographischen Darstellungen von Europa beschäftigten und dadurch die kulturelle und politische Funktionalisierung Europas zu bestimmten Zeiten dargelegt haben.61 Der biographische Zugang stellt für dieses Forschungsfeld, abgesehen von einzelnen bekannteren Persönlichkeiten, noch weitestgehend ein Desiderat dar. Siemsens europapolitische Schriften, die – zumindest für die Weimarer Zeit – an der Schnittstelle von politischen und literarischen Texten angesiedelt sind, wurden nicht in den Kanon jener Quellen aufgenommen, die bislang für die Analyse von Europa-Ideen herangezogen worden sind. Wenn auch in der Geschichts- und Literaturwissenschaft die Quellenbasis für die Untersuchung von Europa-Vorstellungen um Texte von Schriftstellern allmählich erweitert wird, sind es bislang vor allem bekannte Persönlichkeiten und ihre literarischen, philosophischen oder politischen Texte, die im Mittelpunkt stehen.62 58 Vgl. dazu den Sammelband von Hewitson und D’Auria: Europe in Crises. Intellectuals and the European Idea und Adolf Schröder (Hg.): „Völker Europas, findet euch selbst!“ Beiträge zur Ideengeschichte der Europabewegung in Deutschland (Oldenburger Beiträge zur historischpolitischen Bildung, Bd. 9), Oldenburg 2007. 59 Für die untersuchte Zeitspanne siehe Hans Manfred Bock und Michel Grunewald (Hg.): Le discours européen dans la revues allemandes. Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften 1918–1933 (Convergences, Bd. 3), Bern u. a. 1997; dies. (Hg.): Le discours européen dans la revues allemandes. Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften 1933–1939 (Convergences, Bd. 11), Bern u. a. 1999 und dies (Hg.): Le discours européen dans la revues allemandes. Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften 1945–1955 (Convergences, Bd. 18), Bern u. a. 2001. 60 Zu Coudenhove-Kalergi vgl. etwa: Richard Codenhove-Kalergi [sic]. Umstrittener Visionär Europas (Persönlichkeit und Geschichte; biographische Reihe, Bd. 165), Gleichen und Zürich 2004; Anita Prettenthaler-Ziegerhofer: Botschafter Europas. Richard Nikolaus CoudenhoveKalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien u. a. 2004; dies.: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, Founder oft the Pan-European Union, and the Birth of a „new“ Europe, in: Hewitson and D’Auria: Europe in crises, S. 89–109 und AnneMarie Saint-Gille: La „Paneurope“. Un débat d’idées dans l’entre-deux-guerres (Monde germanique, histoires et cultures), Paris 2003. 61 Siehe dazu etwa Peter Hanenberg und Isabel Capeloa Gil (Hg.): Der literarische Europa-Diskurs. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 70. Geburtstag, Würzburg 2013; Anne Kraume: Das Europa der Literatur. Schriftsteller blicken auf den Kontinent 1815–1945 (MIME, Bd. 50), Berlin und New York 2010 und Almut-Barbara Renger und Roland Alexander Ißler (Hg.): Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund (Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst, Bd. 1), Göttingen 2009. 62 Vgl. beispielswiese Mark H. Gelber und Anna-Dorothea Ludewig (Hg.): Stefan Zweig und Europa (Haskala, Bd. 48), Hildesheim, Zürich und New York 2011 und Paul Michael Lützeler:

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Gerade am Beispiel einer Einzelperson wie Siemsen, die nicht zu den herausragenden Politikern oder Schriftstellern gezählt wird und deren Europa-Ideen bislang nicht in den Fokus von Untersuchungen gerückt worden sind, kann die von der Forschung betonte Wirkmächtigkeit der politischen Idee Europa im 20. Jahrhundert analysiert werden. Weil sie über knapp drei Jahrzehnte europapolitische Vorstellungen entwarf, lassen sich die Vielfältigkeit an Deutungen und Zuschreibungen sowie die unterschiedlichen Funktionalisierungen von Europa über politische und persönliche Zäsuren hinweg exemplarisch aufzeigen. Siemsen zählte zeitgenössisch in pro-europäischen Kreisen der 1930er und 1940er Jahre durchaus zu den bekannten Persönlichkeiten, die für eine Einigung Europas eintraten, und übernahm in der Europa-Bewegung zeitweilig führende Positionen. Aus diesem Grund wurde ihr europapolitisches Engagement in der einschlägigen Forschungsliteratur zur Europa-Bewegung der 1930er und 1940er Jahre erwähnt. Meistens taucht sie aber nur in Aufzählungen oder in Fußnoten auf.63 Darauf hat auch Francesca Lacaita aufmerksam gemacht, die erstmals Siemsens Europa-Konzepte ausführlicher beschrieben hat.64 Lacaita hat vier zentrale europapolitische Schriften von Siemsen, die sie im Schweizer Exil verfasste, ins Italienische übersetzt und selbst eine umfangreiche Einleitung geschrieben. Ihr Schwerpunkt liegt somit auf den publizierten Texten und den föderalistischen Konzepten, die Siemsen in ihrer Exilzeit entwarf.65 Lacaita stellt auch die von Siemsen publizierten europapolitischen Texte aus den 1920er Jahren vor. Vor allem aber eröffnet sie ein Panorama verschiedener Europa-Debatten, um die Diskussionszusammenhänge aufzuzeigen, in denen Siemsen sich bewegte. Lacaita hat die auch für die vorliegende Arbeit zentrale These formuliert, dass Siemsens Europa-Konzepte Teil ihrer kultur- und bildungspolitischen Arbeit seien.66 Lacaitas Ziel ist es, Siemsen als eine Vertreterin des Europa-Gedankens wieder in Erinnerung zu rufen, deren demokratischen und integrativen Europa-Vorstellungen den heutigen Ansätzen und Diskussionen um die Ausgestaltung Europas vorgegriffen hätten bzw. als Vorbild dienen könnten.67 Eine ausführliche geschichtswissenschaftliche Analyse wird jedoch zeigen, dass in Siemsens Europa-Konzepten durchaus Widersprüche

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Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Baden-Baden 1998. Vgl. etwa Walter Lipgens: Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik 1945–1950. Erster Teil 1945–1947. Mit zwei Beiträgen von Wilfried Loth, Stuttgart 1977; Frank Niess: Die europäische Idee – aus dem Geist des Widerstands, Frankfurt am Main 2001 und Boris Schilmar: Der Europadiskurs im deutschen Exil (Pariser Historische Studien, Bd. 67), München 2004. Francesca Lacaita: Anna Siemsen. Per una nuova Europa. Scritti dall’esilio svizzero, Mailand 2010, hier S. 15 und dies.: Anna Siemsen im Kontext der föderalistischen europäischen Bewegung, in: Alexander J. Schwitanski (Hg.): Anna Siemsen. Aspekte eingreifenden Denkens (Schriftenreihe des Archivs der Arbeiterjugendbewegung, Bd. 22), Essen 2016, S. 83–133. Vgl. auch Francesca Lacaita: L’itinerario di una federalista. L’europeismo di Anna Siemsen tra Repubblica di Weimar e secondo dopoguerra, in: Cinzia Rognoni Vercelli, Paolo G. Fontana und Daniela Preda (Hg.): Altiero Spinelli, il federalismo europeo e la Resistenza (Fonti e studi sul federalism e sull’integrazione europea. Ricerche si storia), Bologna 2012, S. 533–577. Lacaita: Anna Siemsen, S. 20 f. Ebd., S. 90 f. bes. S. 90.

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und exkludierende Elemente enthalten sind, die mit dem Inklusionsversprechen des gegenwärtigen westeuropäischen Demokratieverständnisses nicht korrespondieren. Bis in die jüngste Vergangenheit sind es erziehungswissenschaftliche Fragestellungen, die die Forschung zu Siemsen kennzeichnen. Seit 2011 sind drei erziehungswissenschaftliche Dissertationen zu Siemsen publiziert worden, die in biographischen Studien erstmals ausführlich Siemsens Bildungs- und Erziehungskonzepte untersuchen und dabei jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen verfolgen. Gemeinsam ist diesen Arbeiten der biographische Zugang und die übergeordnete Intention, Siemsen als vergessene Repräsentantin einer spezifischen demokratischen Bildungstradition wieder in Erinnerung zu rufen, die Impulse für gegenwärtige Erziehungs- und Bildungsdiskussionen geben könne.68 Die erziehungswissenschaftliche Forschung hat in den 1980er Jahren begonnen, sich mit Siemsen zu beschäftigen. Neben Würdigungen einiger Zeitgenossen69 erschienen in dieser Zeit die ersten Aufsätze, die Siemsen als Pädagogin vorstellten, aber auch ihr politisches Engagement in der Sozialdemokratie und in der Bildungspolitik thematisierten.70 Siemsen wurde vor allem als Reformpädagogin im Zuge einer thematischen Neuausrichtung innerhalb der Erziehungswissenschaft wiederentdeckt, wo in den 68 Alexandra Bauer: Das Leben der Sozialistin Anna Siemsen und ihr pädagogisch-politisches Wirken. Eine historisch-systematische Studie zur Erziehungswissenschaft, Frankfurt am Main u. a. 2012; Manuela Jungbluth: Anna Siemsen – eine demokratisch-sozialistische Reformpädagogin (Studien zur Bildungsreform, Bd. 51), Frankfurt am Main u. a. 2012 und Christoph Sänger: Anna Siemsen – Bildung und Literatur (Arbeit, Bildung und Gesellschaft, Bd. 22), Frankfurt am Main u. a. 2011. Die Ergebnisse der jüngsten Forschungen zu Anna Siemsens Erziehungs- und Europa-Konzepten sind auch in einem Sammelband erschienen: Alexander J. Schwitanski (Hg.): Anna Siemsen. Aspekte eingreifenden Denkens (Schriftenreihe des Archivs der Arbeiterjugendbewegung, Bd. 22), Essen 2016. 69 Rolf Italiaander: Tucholskys Lob: Eine der klügsten Frauen Europas, in: Die Welt Nr. 101 vom 30. April 1984, S. 22 und ders.: Für soziale Gerechtigkeit und ein geeintes Europa. Anna Siemsen, von Tucholsky bewundert, in: ders. (Hg.): Besinnung auf Werte. Persönlichkeiten in Hamburg nach dem Krieg, Hamburg 1984, S. 37–47; Marie Juchacz: Sie lebten für eine bessere Welt. Lebensbilder führender Frauen des 19. und 20. Jahrhunderts, [2. Aufl.] Hannover 1956, S. 138–142; Ludolf Mevius: Anna Siemsen. Eine sozialistische Berufspädagogin, in: Ursel Hochmuth und Hans-Peter de Lorent (Hg.): Hamburg: Schule unterm Hakenkreuz. Beiträge der „Hamburger Lehrerzeitung“ (Organ der GEW) und der Landesgeschichtskommission der VVN/Bund der Antifaschisten, Hamburg 1985, S. 285–290. 70 Heinz Abosch: Anna Siemsen 1882–1951. Zum Erkennen der Wahrheit befähigen, in: Dieter Schneider (Hg.): Sie waren die ersten. Frauen in der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1988, S. 231–239; Cornelia Amlacher: Anna Siemsen – eine Sozialistin zwischen den Stühlen, in: Gisela Horn (Hg.): Entwurf und Wirklichkeit. Frauen in Jena 1900 bis 1933, Rudolstadt und Jena 2001, S. 267–286; Paul Mitzenheim: Humanistische Erziehung als oberstes Gebot. Anna Siemsen (1882–1951), in: Mario Hesselbarth, Eberhart Schulz und Manfred Weißbecker (Hg.): Gelebte Ideen. Sozialisten in Thüringen. Biographische Skizzen, Jena 2006, S. 398–407 und ders.: Anna Siemsen als „politische Pädagogin“, in: Dietrich Hoffmann (Hg.): Politische Erziehung in sich wandelnden Gesellschaften. Plädoyers für eine Veränderung der Politischen Bildung, Weinheim 1991, S. 77–96. Eine Ausnahme bilden erste Veröffentlichungen, die Siemsen in literaturgeschichtliche Kontexte einordnen. Vgl. Hans J. Schütz: Siemsen, Anna, in: Hannelore Daubert und Klaus Doderer (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 3, Weinheim u. a. 1979, S. 396–397.

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1980er Jahren die durch die Nationalsozialisten verdrängten und als positiv bewerteten Traditionen der Reformpädagogik zunehmend ins Blickfeld gerieten. Neben einigen unveröffentlichten Diplom- und Staatsexamensarbeiten71 haben vor allem die Erziehungswissenschaftler Rudolf Rogler72 und Ralf Schmölders73 erstmals umfangreichere Recherchen zu Siemsen als Reformpädagogin angestellt, wobei der Zeit der Weimarer Republik die größte Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Schmöl­ders hat darüber hinaus eine erste vorläufige Biobibliographie über Siemsen erstellt, die von Alexandra Bauer erheblich erweitert worden ist.74 In den 1990er Jahren hat Siemsen schließlich auch als Schriftstellerin und Emigrantin Eingang in die Exilforschung bzw. in die sogenannte Frauenexilforschung gefunden, wobei ihr Name manches Mal lediglich in einer Auflistung genannt wird.75 In diesem Zusammenhang hat Sigrid Thielking, die Siemsens politische Handlungsspielräume im Exil thematisierte, erstmals darauf aufmerksam gemacht, dass auch Siemsens Europa-Schriften einer genaueren Analyse unterzogen werden sollten.76 71 Siehe dazu das Literaturverzeichnis bei Bauer: Das Leben der Sozialistin. 72 Rudolf Rogler: Anna Siemsen (1882–1951), Teil 1: Leben und literarisches Werk. Mit Anmerkungen zu ausgewählten Schriften, Berlin [Eigendruck] 1994 und ders.: Anna Siemsen. Leben und literarisches Werk mit Anmerkungen zu ausgewählten Schriften, in: Interventionen. Vierteljahresschrift. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart politischer Sozialisation und Partizipation (1995), Heft 5, S. 7–53. 73 Ralf Schmölders: Anna Siemsen – sozialistische Pädagogin in der Weimarer Republik, in: Ilse Brehmer (Hg.): Mütterlichkeit als Profession. Lebensläufe deutscher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts (Frauen in Geschichte und Gesellschaft, Bd. 4/1), Pfaffenweiler 1990, S. 110–124; ders.: Anna Siemsen (1882–1951): Sozialistische Erziehung und politische Jugendarbeit in der Weimarer Republik, in: Bundesvorstand der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken (Hg.): Klassiker der sozialistischen Erziehung. Kurt Löwenstein, Otto Felix Kanitz, Edwin Hoernle, Otto Rühle, Anna Siemsen, Bonn 1989, S. 110–127 und ders.: Anna Siemsen (1882–1951). Zwischen den Stühlen: eine sozialdemokratische Pädagogin, in: Peter Lösche, Michael Scholing und Franz Walter (Hg.): Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, Berlin 1988, S. 332–361. 74 Ralf Schmölders: Personalbibliographie Anna Siemsen (1882–1951) (Archivhilfe/Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick, Bd. 5), Bonn 1992. Siehe Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 303–349. 75 Siehe dazu: Hiltrud Häntzschel: Was ist politisches Handeln? Ein Panorama politischer Aktivitäten von Frauen im Exil, in: dies. und Inge Hansen-Schaberg (Hg.): Politik – Parteiarbeit – Pazifismus in der Emigration. Frauen handeln (Frauen und Exil, Bd. 3), München 2010, S. 13–35, hier S. 27; Claudia Schoppmann: Anna Siemsen, in: dies. (Hg.): Im Fluchtgepäck die Sprache. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im Exil, Berlin 1991, S. 88–100; Claudia Schoppmann: Anna Siemsen, in: Renate Wall (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933–1945, Band II, Freiburg im Breisgau 1995, S. 126–130; Frank Wende (Hg.): Deutschsprachige Schriftsteller im Schweizer Exil 1933–1950. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945/Der Deutschen Bibliothek (Gesellschaft für das Buch, Bd. 8), Wiesbaden 2002, S. 340. Hier ist Siemsen bei den ausführlichen Porträts ausgewählter Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht dabei, wird aber im Anhang unter der Rubrik Übersicht auf der genannten Seite aufgeführt. Siehe auch die Erwähnung von Siemsen bei Hermann Wichers: Im Kampf gegen Hitler. Deutsche Sozialisten im Schweizer Exil 1933–1940, Zürich 1994, S. 100. 76 Sigrid Thielking: Gute Europäerinnen. Anna Siemsen und Ruth Körner im Exil, in: Schriften des Essener Kollegs für Geschlechterforschung 1 (2001), Heft 3, S. 5–23, hier S. 10.

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Ebenfalls seit den 1990er Jahren entstanden Untersuchungen, die sich auf bestimmte Aspekte in Siemsens Leben und Werk konzentrierten. So wurde sie etwa als eine der ersten Studentinnen in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt.77 Auch einzelne literarische Werke78 und Aspekte ihrer Erziehungstheorie sind ausführlicher analysiert worden.79 Nachdem Siemsens Lebensweg unter geschlechterspezifischen Bedingungen behandelt worden ist,80 hat sich insbesondere Inge Hansen-Schaberg um einen analytischeren Blickwinkel bemüht und etwa Siemsens pädagogische Handlungsspielräume im Exil und im Nachkriegsdeutschland oder ihre Gedanken zur Koedukation untersucht.81 Nahezu alle Veröffentlichungen rück77 Valentine Rothe: „Wir sehen das Ziel. Wir suchen den Weg dorthin.“ Zur Lebensgeschichte Anna Siemsens, einer Bonner Studentin, in: Udo Arnold, Josef Schröder und Günther Walzik (Hg.): Aspekte der Geschichte. Festschrift für Peter Gerrit Thielen zum 65. Geburtstag am 12. Dezember 1989, Göttingen und Zürich 1990, S. 135–143 und dies.: Anna Siemsen (1882– 1951) – „Wir sehen das Ziel“, in: Annette Kuhn, dies. und Brigitte Mühlenbruch (Hg.): 100 Jahre Frauenstudium. Frauen an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn [Dortmund] 1996, S. 151–156. 78 Vgl. Wolfgang Kein: Die „europäische Katastrophe“ vor Augen. Anna Siemsens „Spanisches Bilderbuch“ und ihr Appell für Solidarität gegen Franco, in: Informationen. Studienkreis: Deutscher Widerstand 24 (1999), Nr. 49, S. 21–25. 79 Eva Borst: „Das einmal erworbene Bewusstsein bleibt unverlierbar“ – Annäherungen an Anna Siemsens Erziehungstheorie, in: Jürgen Eierdanz und Armin Kremer (Hg.): „Weder erwartet noch gewollt“. Kritische Erziehungswissenschaft und Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges, Baltmannsweiler 2000, S. 69–90; Manuel Rühle: Anna Siemsen (1882–1951). Erziehungstheorie als kritische Gesellschaftstheorie. Die politische Pädagogik Anna Siemsens, in: Sven Kluge und Eva Borst (Hg.): Verdrängte Klassiker und Klassikerinnen der Pädagogik (Pädagogik und Politik, Bd. 6), Baltmannsweiler 2013, S. 144– 159 und Edgar Weiß: Erziehung für eine „werdende Gesellschaft“ als „Gemeinschaft“ – Anna Siemsen und ihr Konzept sozialistischer Gesellschaftstheorie und Pädagogik, in: Archiv für Reformpädagogik 6 (2001), Heft 1, S. 3–25; Siehe auch Günther Wolgast: Anna Siemsen, in: ders. (Hg.): Biographisches Handwörterbuch der Erwachsenenbildung. Erwachsenenbildner des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn und Stuttgart 1986, S. 365–366. 80 Heidi Thomann Tewarson: Anna Siemsen (1882–1952) [recte:1951]. Im Kampf um einen demokratischen Sozialismus und um europäische Verständigung, in: Barbara Hahn (Hg.): Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas Salomé bis Hannah Arendt, München 1994, S. 110–122. Trotz der Erwähnung im Titel werden Siemsens Gedanken zur „europäischen Verständigung“ nicht ausführlich dargelegt. 81 Inge Hansen-Schaberg: Anna Siemsen (1882–1951). Leben und Werk einer sozialistischen Pädagogin, in: Gisela Horn (Hg.): Die Töchter der Alma Mater Jenensis. Neunzig Jahre Frauenstudium an der Universität Jena (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena, Bd. 2), Rudolstadt und Jena 1999, S. 113–136; dies.: „Mütterlichkeit“ und „Ritterlichkeit“? Zur Kritik der Ideen zur Koedukation in der pädagogischen Reformbewegung, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 36 (1996), Heft 4, S. 641–662; dies. und Christine Lost: Zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland. Pädagoginnen und ihr Exil, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 34 (1994), Heft 3, S. 441–458 und dies.: Rückkehr und Neuanfang. Die Wirkungsmöglichkeiten der Pädagoginnen Olga Essig, Katharina Petersen, Anna Siemsen und Minna Specht im westlichen Deutschland der Nachkriegszeit, in: Historische Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (Hg.): Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 1, Weinheim und München 1993, S. 319–338. Zum Thema Koedukation siehe auch: Bri-

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ten Siemsens Lebensgeschichte in den Mittelpunkt. Auch wenn ihre zentralen pä­ dagogischen und politischen Stellungnahmen benannt wurden, blieb ein Großteil der frühen Publikationen einem deskriptiven Charakter verhaftet. Sie verfolgten zunächst das Ziel, Siemsen einer breiteren Öffentlichkeit wieder in Erinnerung zu rufen, nachdem ihr jahrzehntelang keine Aufmerksamkeit zuteil geworden war. Mit Ausnahme der drei neueren Dissertationen, die Siemsens Lebensweg auf breiterer Quellenlage rekonstruieren, diente als Grundlage für frühere Untersuchungen über Siemsen hauptsächlich eine Biographie, die der Bruder August Siemsen in Buenos Aires kurz nach Siemsen Tod schrieb und die bereits Ende 1951 veröffentlicht wurde.82 August Siemsen, der bis zum Frühjahr 1936, bis zu seiner Emigration nach Argentinien, auch Siemsens langjähriger politischer Begleiter gewesen war, wollte dem Leben und Werk seiner Schwester ein Denkmal setzen. Neben vielen Informationen zu Siemsens Lebensweg ist das Buch in Form eines Bildungsromans aufgebaut und trägt zum Teil stark hagiographische Züge.83 Wie die Veröffentlichung von Francesca Lacaita zeigt, wird Siemsen zunehmend auch Gegenstand von Untersuchungen, die anderen wissenschaftlichen Disziplinen und Themenfeldern zuzuordnen sind als erziehungswissenschaftlichen. Obwohl die historische Friedensforschung Siemsen schon zu Beginn der 1980er Jahre als Pazifistin vorgestellt hat,84 ist sie nur vereinzelt explizit unter diesem Aspekt behandelt worden.85 Bislang sind es vorwiegend Einträge in Lexika mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen,86 die auf die mögliche Relevanz verweisen, die Untersuchungen über Siemsen für ganz unterschiedliche Themenfelder haben

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gitte Schmidt: Frauen- und Berufserziehung – Zum Problem der gemeinsamen Erziehung der Geschlechter bei Anna Siemsen und Olga Essig, in: Armin Bernhard und Jürgen Eierdanz (Hg.): Der Bund entschiedener Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik (Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, Bd. 10), Frankfurt am Main 1990, S. 117–133. August Siemsen: Anna Siemsen. Leben und Werk, Hamburg und Frankfurt am Main 1951. Zur Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte siehe die Autobiographie von August Siemsens Sohn Pieter Siemsen: Der Lebensanfänger. Erinnerungen eines anderen Deutschen – Stationen eines politischen Lebens: Weimarer Republik – Nazi-Deutschland – Argentinien – DDR – BRD (Reihe Autobiographien, Bd. 3), Berlin 2000, S. 21. Quellenkritisch zu August Siemsens Biographie über die Schwester: Thielking: Gute Europä­ erinnen, S. 6 f. Siehe auch die Einordnung der Quelle bei Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 19–21. Hans-Josef Steinberg: Anna Siemsen, in: Helmut Donat und Karl Holl (Hg.): Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, Düsseldorf 1983, S. 357–359. Vgl. Reinhold Köpke: Anna Siemsen – Pädagogin, Individualistin und Pazifistin, in: Elke Pilz (Hg.): Das Ideal der Mitmenschlichkeit. Frauen und die sozialistische Idee, Würzburg 2005, S. 145–156. Neben den bereits genannten Lexikon-Artikeln sei hier noch erwähnt: Christine Mayer: „Siemsen, Anna Marie Emma Henni, verheiratet Vollenweider“, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 381–383 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd11895783X. html [5. Juni 2014]; Johanna Rosenberg: Siemsen, Anna Marie (Ps. Friedrich Mark), in: Simone Barck u. a. (Hg.): Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945, Stuttgart und Weimar 1994, S. 438–439 sowie Claudia Schoppmann: Siemsen, Anna

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können. So hat etwa die Historikerin Gudrun Wedel Siemsen in ihr Lexikon über autobiographische Schriften von Frauen aufgenommen und damit gezeigt, dass Siemsen auch aus Perspektive der historischen Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung untersucht werden könnte.87 QUELLEN UND ARCHIVE Ein geschlossener Nachlass von Siemsen existiert nicht. Die Gründe, warum über Anna Siemsen erst in jüngerer Zeit umfangreiche Arbeiten geschrieben worden sind, mögen in der Quellenlage zu suchen sein. Lange Zeit bildete die Biographie von August Siemsen die nahezu einzige Informationsquelle zu „Leben und Werk“ seiner Schwester. Wenn auch darauf hingewiesen wird, dass insbesondere die Nachlässe von Frauen nur selten „den Weg in die Archive“ fanden,88 so kann im Fall von Siemsen belegt werden, dass von offizieller Seite nur wenige Jahre nach ihrem Tod Anstrengungen unternommen wurden, um ihren Nachlass zu sichern. 1955 bemühte sich das Bundesarchiv in Koblenz (BArch), Manuskripte und Korrespondenzen von Siemsen zusammen mit anderen Unterlagen von „Politikern“ und „Gelehrten“ für eine Archivierung zu gewinnen.89 Auf Nachfrage bei Siemsens Schwester Paula Eskuchen (1880–1965) berichtete diese, dass vieles „zerflattert“ oder „wohl in der Schweiz verblieben“ sei. Auch habe Siemsen ihre Notizen meistens selbst vernichtet.90 Ein Tagebucheintrag von Siemsens Schwager Karl Eskuchen (1885–1955) gibt aber Hinweise darauf, dass es noch einen größeren Fundus an Unterlagen gegeben hatte, der unmittelbar nach Siemsens Tod vernichtet worden war.91 Da Siemsen im Laufe ihres Lebens aus beruflichen und politischen Gründen öfters ihren Wohnort und ihren Lebensmittelpunkt wechselte, sind möglichweise auch dadurch viele Materialien verlorengegangen. Wahrscheinlich ist, dass sie bei ihrer Flucht aus Deutschland im März 1933 allenfalls wenige persönliche Dokumente mitnehmen konnte. Die vorliegende Arbeit basiert dennoch auf einem umfangreichen Quellenmaterial. Es umfasst sowohl publizierte Schriften von Anna Siemsen als auch unveröffentlichtes Archivmaterial, zu dem Personalakten, ein autobiographisches Typoskript, Thesenpapiere, Ausarbeitungen zu verschiedenen Themenbereichen, Vor-

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(Pseud.: Friedrich Mark), in: Manfred Asendorf und Rolf von Bockel (Hg.): Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten, Stuttgart und Weimar 1997, S. 594–596. Siehe den Eintrag über Anna Siemsen bei Gudrun Wedel: Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon, Köln, Weimar und Wien 2010, S. 794–795. Schaser: Bedeutende Männer, S. 141. BArch, B 198/2823: „Archivrat Dr. Mommsen“ an Paula Eskuchen, Koblenz vom 2. Dezember 1955. Ebd.: Paula Eskuchen an „Archivrat Dr. Mommsen“, ohne Ort und Jahr [Eingangsstempel vom 12. Januar 1956]. AAJB, PB Siemsen, Anna, Mappe 36: Tagebuch von Karl Eskuchen [in Kopie], Eintrag vom 4. Februar 1951.

Quellen und Archive

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tragsmitschriften und private Korrespondenz zählen. Erwähnt sei hier ein Bestand über Siemsen im Bundesarchiv in Bern (BAR), der im Rahmen der Forschungen zu Siemsen für die vorliegende Arbeit erstmals ausgewertet wurde. Der Bestand enthält vor allem Dokumente der Schweizerischen Bundesanwaltschaft und der Fremdenpolizei, die Siemsens politische Tätigkeit aufgrund der rigiden staatlichen Fremden- und Flüchtlingspolitik der Schweiz genau dokumentierten. Die Archivrecherchen haben ergeben, dass es vor allem Nachlässe anderer Personen sind, die Informationen über Siemsens Europa-Konzepte bzw. über ihre Tätigkeit in der Europa-Bewegung enthalten. Dazu gehören insbesondere die Nachlässe der SPD-Politiker Walter Auerbach (1905–1975) und Heinrich Ritzel (1893– 1971), die im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) liegen und die Materialien über die Schweizer Europa-Union und die Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa (MSEUE) enthalten. Ein Teilnachlass von Hermann Louis Brill (1895–1959), einem europapolitischen Mitstreiter von Siemsen, wurde im Bundesarchiv in Koblenz (BArch) gesichtet. Informationen über Siemsens Kindheit sowie ihren beruflichen und politischen Werdegang liefert nicht allein die Biographie von August Siemsen über seine Schwester, sondern auch das autobiographische Typoskript, das Siemsen selbst 1939/1940 im Schweizer Exil schrieb. Obwohl der maschinenschriftlich abgefasste Bericht von knapp 90 Seiten den Titel Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 193392 trägt, hat Siemsen die Jahre von 1933 bis zu dem Zeitpunkt, als sie den Bericht verfasste, nicht mehr behandelt. Der äußere Anlass zur Niederschrift ging zurück auf ein Preisausschreiben, das 1939 von der Harvard University in den USA initiiert worden war.93 92 Anna Siemsen: Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933, unveröffentlichtes, maschinenschriftliches Typoskript. Die Autobiographie befindet sich in der Houghton Library der Harvard Universität in Massachusetts/USA. Ein vervielfältigtes Exemplar ist im AAJB, Bestand PB Siemsen, Anna, Mappe 22 einzusehen. Die Autobiographie ist im Bestand „My Life in Germany contest papers, 1940: Guide“ unter der Signatur „MS Ger 91“ mit der Nummer 213 archiviert. Vgl. dazu den Link: http://oasis.lib.harvard.edu//oasis/deliver/ deepLink?_collection=oasis&uniqueId=hou01275 [31. Mai 2014]. Für die vorliegende Arbeit wurde das Exemplar aus dem AAJB verwendet. Vgl. auch: Harry Liebersohn und Dorothee Schneider (Hg.): „My Life in Germany before and after January 30, 1933“. A Guide to a manuscript Collection at Houghton Library, Harvard University (Transactions of the American Philosophical Society, Bd. 91,3) Philadelphia 2001. Siemsen schrieb nach 1945 noch eine weitere handschriftlich verfasste und offenbar unvollständig gebliebene Autobiographie, die der Verfasserin nur als Transkription vorlag. Darin werden die Jahre von 1919 bis zum KappPutsch 1920 behandelt, europaspezifische Themen sind nicht Gegenstand der Ausführungen. Da die Original-Version in Privatbesitz ist, wurde aus quellenkritischen Gründen auf eine Verwendung dieses Textes verzichtet. Siehe zu diesem Text auch Bauer: Das Leben der Sozialistin, S.  23 f. 93 Der Anlass zum Verfassen der Autobiographie sowie der genaue Fundort sind nach bisherigem Kenntnisstand nur bei Christl Wickert vermerkt: Christl Wickert: Unsere Erwählten. Sozialdemokratische Frauen im Deutschen Reichstag und im Preußischen Landtag 1919 bis 1933, Band 1, Göttingen 1986, Fußnote 13 auf S. 306. Wickert untersucht in ihrer Arbeit am Beispiel von 19 weiblichen Abgeordneten Sozialisation, Politisierungsprozesse und Tätigkeitsfelder von Frauen in der USPD und SPD.

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Einleitung

AUFBAU DER ARBEIT Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile, die jeweils die Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik, dann die Exilzeit und schließlich Siemsens letzte Lebensjahre in Deutschland ab 1946/1947 behandeln. Obgleich die politikgeschichtlichen Zäsuren von 1933 und 1945 in dieser Arbeit im Hinblick auf Siemsens Ordnungsvorstellungen kritisch hinterfragt werden sollen, boten sich für die Strukturierung der Untersuchung diese Eckdaten an. Denn für ihr persönliches Leben, für ihre politische Arbeit und für ihre Handlungsspielräume waren diese Zäsuren durchaus bedeutsam, sah sich Siemsen doch neuen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber, denen sie sich stellen musste. Deswegen wurde auch nicht direkt das Jahr 1945 in dieser Arbeit als Zäsur angelegt, sondern der Jahreswechsel 1946/1947, als Siemsen nach Deutschland zurückkehrte, dort versuchte, als Remigrantin wieder Fuß zu fassen und ihre europapolitischen Vorstellungen in der sich formierenden Europa-Bewegung durchzusetzen. Im letzten Hauptteil steht deswegen Siemsens europapolitisches Engagement in den Europa-Organisationen im Vordergrund. Dabei kann gezeigt werden, dass ihre Remigration im Hinblick auf ihr europapolitisches Engagement im Gegensatz zu ihren beruflichen Möglichkeiten sehr viel erfolgreicher verlief. Daneben werden auch ihre Erziehungskonzepte für Europa Erwähnung finden, die sie schon im Exil entwickelt hatte. Die Untersuchung von Siemsens Engagement in der Europa-Bewegung nach 1945 zeigt, wie ihre zentralen Deutungen über Europa, die bereits in den 1920er Jahren bestanden, in einem verdichteten Einigungskonzept für Europa zusammenliefen. Im Exil entwarf Siemsen nicht nur Erziehungskonzepte für Europa, sondern auch erste institutionelle Ideen und Föderationspläne für eine Einigung Europas. Darüber hinaus propagierte sie die Existenz eines „anderen“ Deutschlands, dem sie eine zentrale Rolle für Europas Zukunft beimaß. Ein weiterer Aspekt, der ihre Auseinandersetzung mit Europa im Exil beeinflusste, war die Forderung nach einer gleichberechtigten Mitwirkung von Frauen an dem Aufbau eines neuen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. All diesen Aspekten lagen Leitideen zugrunde, die Siemsen in der Weimarer Republik entwickelte und unter dem Begriff „Gemeinschaft“ subsumierte. Da hier auch ihre Ausbildungszeit und die Entwicklung ihrer Leitideen und Ordnungsvorstellungen dargelegt werden sollen, gilt diesem ersten Hauptteil die größte Aufmerksamkeit in der vorliegenden Arbeit. Insbesondere in der Weimarer Republik formulierte Siemsen in Auseinandersetzung mit Literatur bzw. ihren Reisebüchern grundlegende Vorstellungen über Europa, die einer differenzierten Analyse bedürfen, weil sie zentral für die weitere Ausgestaltung ihrer Europa-Konzepte waren. Durch diese Analyse soll gezeigt werden, dass die Auseinandersetzung mit Europa letztlich übergeordneten politischen Zwecken diente.

I. DER FORTSCHRITT ZUR GEMEINSCHAFT. ANNA SIEMSENS WEG NACH EUROPA BIS 1933

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„Ich suche Europa“, so betitelte Anna Siemsen ihren Artikel, den sie 1927 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte.1 Der Leserschaft dieses Artikels wurde dort ein Europa vorgestellt, das sich durch eine einheitliche gesellschaftliche Entwicklung auszeichnete, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktionierte. Siemsen fasste sie zusammen als das Streben nach Einheit und Gemeinschaft, das sie zugleich als „Schicksal“ und als „Aufgabe“ der Europäer betrachtete. Diese Entwicklung definierte Siemsen als eine Entwicklung zur Demokratie, von der sie hoffte, sie werde eines Tages die ganze Menschheit umfassen. Diese kurze Inhaltsangabe zeigt, dass Europa für Siemsen nicht etwa ein geographisches oder ein aus einzelnen Staaten zusammengesetztes Gebilde darstellte. Es war vielmehr ein vorgestellter Raum, der über die „Gesellschaft“ und politische Wertsetzungen an Kontur gewann. Siemsens Europa-Konzepte waren eine Folge ihres Politisierungsprozesses, der schon vor dem Ersten Weltkrieg einsetzte, aber durch ihn beschleunigt wurde. Der Krieg beförderte in ihrer Vorstellungswelt ein Verständnis für internationale Zusammenhänge und eine Rückbesinnung auf humanistische Ideen bzw. humanistische Wertsetzungen, auf deren Basis sie eine grundlegende Reformierung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse forderte. Siemsens Europa-Konzepte entstanden aus dieser Suche nach einem neuen politischen Ordnungsmodell, das in umfassender Weise ein Gegenmodell zu den Verhältnissen der Vorkriegszeit darstellen und einen dauerhaften Friedenszustand gewährleisten sollte. In ihren Überlegungen für eine politische Neuordnung stand zunächst Deutschland im Mittelpunkt, wobei sie Deutschland aber auch stets in Beziehung zu anderen Ländern setzte. Denn für Siemsen waren die Grundbedingungen wie etwa Nationalstaatlichkeit und Kapitalismus, die zum Ersten Weltkrieg geführt hätten, ein gesamteuropäisches Phänomen. Das neue Ordnungsmodell wollte sie durch eine Politik herbeiführen, die einen Ausgleich und eine Harmonisierung von gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und schließlich nationalen Gegensätzen und Spannungen schaffen sollte. Anstatt wirtschaftlicher oder nationaler Interessen, die geherrscht hätten, wollte sie für eine zukünftige Politik allein menschliche Interessen in den Mittelpunkt stellen. Siemsen fasste ihre politischen Leitideen unter dem Begriff „Gemeinschaft“ zusammen. Gemeinschaft bezeichnete in ihrer Vorstellungswelt eine bestimmte Gesellschaftsform, die sich auf politisch-ethischen Wertsetzungen, auf „Gemeinschaftswerten“, konstituieren sollte. Sie ging von einem menschlichen Emanzipationsprozess aus, der zu eben jener Gemeinschaft führen werde. In der Gemeinschaft sei schließlich die ganzheitliche Befreiung des Menschen von allen Hindernissen gegeben, die seiner Entfaltung entgegenstehen würden. Während Siemsen durch das Mittel der Erziehung das Bewusstsein für diese Entwicklung hervorrufen 1

Anna Siemsen: Ich suche Europa, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt [Abendblatt] Nr. 564 vom 1. August 1927, S. 4.

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wollte, enthielt der Sozialismus für sie bereits das entsprechende Wertesystem und lieferte das methodische Rüstzeug, mit dem diese angenommene Entwicklung vorangetrieben werden sollte. Die „Gemeinschaft“ blieb das oberste politische Ziel, das Siemsen ihr Leben lang verfolgte. Dabei sollte sich die Gemeinschaftsbildung auf einer gesellschaftlichen Ebene vollziehen, die für sie nicht deckungsgleich mit der nationalstaatlichen Ebene war. Denn die Nationalstaatlichkeit im umfassenden Sinn hatte sie mitsamt einer nach nationalstaatlichen Prämissen orientierten Politik neben einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung als die eigentlichen Ursachen für den Beginn des Ersten Weltkrieges betrachtet. Eng verbunden mit Siemsens Gemeinschaftsdenken war die Forderung nach „Einheit“. Dahinter standen Homogenitäts- und Ganzheitsvorstellungen, die auch von anderen Zeitgenossen vertreten wurden und die Siemsen für ihre Forderungen nach umfassenden politischen Reformen anführte. Diese Forderungen bezogen sich auf eine Neuorganisation der Gesellschaft nach einheitlichen ethisch-politischen Wertsetzungen, mit denen gesellschaftliche Ungleichheiten überwunden werden sollten. In Siemsens Vorstellungen sollte dabei der Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen oder auch der verschiedenen nationalen Kulturen Rechnung getragen werden, die sich aber erst innerhalb der erhofften Gemeinschaft frei entfalten und ihrer Bestimmung gerecht werden könnten. Der Fortschrittsoptimismus gehörte neben dem Gemeinschaftsdenken zu den Grundkonstanten ihrer politischen Ordnungsvorstellungen, die auch ihre Europa-Konzepte prägten. Siemsen glaubte, dass eine solche gesellschaftliche Entwicklung zur Gemeinschaft in den einzelnen Menschen selbst angelegt sei. Diese Entwicklung sollte über politische und wirtschaftliche Reformen, vor allem aber durch eine Erziehung im Gemeinschaftssinn beschleunigt werden. Wegen ihrer Ablehnung einer Politik, die sich an nationalstaatlichen Prämissen orientiert habe, avancierte Europa im Verlauf der Weimarer Republik zunehmend zu einem Begriff, mit dem Siemsen ihre Forderungen nach einer Reformierung der politischen Verhältnisse legitimierte. Europa bildete das Gegenmodell zur Nationalstaatlichkeit. Siemsen widmete sich Europa dabei auf verschiedenen Ebenen. Stand zunächst die Schaffung eines „neuen Menschen“ auf der politischen Agenda, den sie in Anlehnung an den Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900) auch als „guten Europäer“ definierte, galt ihre Aufmerksamkeit schon bald der „europäischen Gesellschaft“. Mit dem Erstarken antidemokratischer und national-konservativer Kräfte am Ende der Weimarer Republik rückte Europa schließlich als politischer Raum in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzungen. Er diente Siemsen dazu, alternative Politikentwürfe zu den herrschenden zeitgenössischen Verhältnissen zu vermitteln. Obwohl Siemsen den „guten Europäer“ selten wortwörtlich zitierte, ist von einem größeren Einfluss der Überlegungen Nietzsches zu Europa in Siemsens Konzepten auszugehen. Nietzsche, der im 20. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Ideengeber für kulturelle, politische und gesellschaftliche Reformdiskussionen wurde,2 hatte Ende des 19. Jahrhunderts auch vielfältige Überlegungen zu Europa 2

Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart und Weimar 2000, S. 1 und 11.

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angestellt, dabei Europa aber nicht als geographisches Gebilde, sondern, ähnlich wie Siemsen, als kulturelles Konstrukt behandelt. Im Zentrum von Nietzsches Überlegungen stand die Kritik an Europas Kultur, die durch Nationalismus, Wissenschaftsgläubigkeit und den Einfluss der Kirche bedingt sei.3 Diesen negativ bewerteten Zustand seiner zeitgenössischen Gegenwart, der nach Nietzsche zu einer „voll­ ständige[n] Barbarisierung des Lebens“4 führe, könne durch den „guten Europäer“ überwunden werden. Dieser Europäer war eine „Gestalt der Zukunft“, die ein neues Europa erst erschaffen sollte.5 Die Gestalt des „guten Europäers“, die bei Nietzsche ein ebenso offenes Konstrukt war wie Europa selbst,6 nutzte Siemsen, um es in ihren Konzepten mit eigenen Definitionen zu füllen. Siemsen hatte zwar schon kurz vor und während des Ersten Weltkrieges gesellschaftskritische Ansichten entwickelt, fügte die für ihre Europa-Konzepte zentralen Leitideen aber erst nach Ende des Ersten Weltkrieges in ihren Gemeinschaftsvorstellungen zusammen. Zu diesem Zeitpunkt begann auch ihre politische Karriere als Bildungspolitikerin und sie erweiterte ihre publizistische Tätigkeit erheblich: Das Ende des Ersten Weltkrieges war Siemsens Aufbruch nach Europa. Ihre Ordnungsvorstellungen waren durch längerfristige gesamtgesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst, die auch ihre Europa-Konzepte prägten. Siemsens Europa-Konzepte gehörten zu jenen „Suchbewegungen“7 des 20. Jahrhunderts, mit denen die Zeitgenossen auf die sogenannten Herausforderungen der Moderne reagierten.

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Grundlegend zu Nietzsches Europa-Philosophie: Ralf Witzler: Europa im Denken Nietzsches (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften; Reihe Philosophie, Bd. 307), Würzburg 2001, hier S. 13–15. Zu Nietzsches Kritik am Nationalismus siehe auch: Gert Mattenklott: Der „werdende Europäer“ als Nomade. Völker, Vaterländer und Europa, in: Andreas Urs Sommer (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin 2008, S. 125–148, S. 127 f. Damir Barbarić: „Wir Heimatlosen“. Nietzsches Gedanken zum Europäertum, in: Volker Gerhardt und Renate Reschke (Hg.): Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa (Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Bd. 14), Berlin 2007, S. 53–66, hier S. 63. Witzler: Europa im Denken Nietzsches, S. 19. Ebd., S. 18. Für die Vielfalt an Themen, die in der Forschung unter dem Begriff der Suchbewegungen verhandelt werden, siehe beispielsweise den Sammelband von Judith Baumgartner und Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hg.): Aufbrüche, Seitenpfade, Abwege. Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ulrich Linse, Würzburg 2004 und den Aufsatz von Anselm Doering-Manteuffel: Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert (Industrielle Welt, Bd. 73), Köln, Weimar und Wien 2007, S. 175–202. Auch die Volksbildungsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg oder Konzeptionen des sogenannten Neuen Menschen werden unter diesem Begriff zusammengefasst. Vgl. dazu: Alexandra Gerstner: Erlösung durch Erziehung? Der Topos „Neuer Mensch“ im völkischen Erziehungsdenken, in: Paul Ciupke u. a. (Hg.): „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik (Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd. 23), Essen 2007, S. 67–81, hier S. 68 sowie Alexandra Gerstner, Barbara Könczöl und Janina Nentwig: Auf der Suche nach dem Neuen Menschen. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.): Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt am Main u. a. 2006, S. VII–XIV, hier S. VIII.

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AUFBRUCH NACH EUROPA Im Oktober 1918 überschlugen sich die Ereignisse. Anfang des Monats hatte die Oberste Heeresleitung (OHL) des Deutschen Reiches ein Waffenstillstandsgesuch an die USA gerichtet. Kaiser Wilhelm II. floh ins belgische Spa. Aufstände von Matrosen der kaiserlichen Marine führten über Wilhelmshaven und Kiel zu aufständischen Erhebungen von Soldaten und Arbeitern in ganz Deutschland. Anfang November entstanden in vielen Teilen Deutschlands Arbeiter- und Soldatenräte, die die politische Macht übernahmen. Mit der Abdankung des Kaisers und der Ausrufung der Republik am 9. November durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann (1865–1939) in Berlin war das deutsche Kaiserreich zusammengebrochen.8 Mit ihm endete für die Deutschen auch der Erste Weltkrieg, ein vierjähriger, zermürbender Krieg, der in jedweder Hinsicht Ausmaße angenommen hatte, die kein Krieg zuvor je erreicht hatte und dessen Folgen die internationale Ordnung auf ein brüchiges Fundament stellen sollten.9 Der am 10. November 1918 als vorläufige Reichsregierung gebildete Rat der Volksbeauftragten beschloss zwei Tage später die politische Gleichstellung der Frauen. Die Frauen hatten damit erstmalig in Deutschland das Wahlrecht erhalten.10 Für viele Frauen, die schon vorher politisch engagiert waren oder, wie Siemsen, durch die Erfahrungen des Krieges einen Politisierungsschub erfahren hatten, war dies das Signal zum Aufbruch, erweiterte Handlungsmöglichkeiten zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte Siemsen 1919 ihren Aufruf „An die Frauen!“.11 In ihrem Appell an alle Frauen, sich politisch zu engagieren, warb sie für die Errichtung einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung, die vor allem von Frauen aufgebaut werden könne. Nachdem sich Siemsen während des Ersten Weltkrieges der Friedensbewegung angeschlossen und in verschiedenen Zeitschriften zu den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen kritisch Stel8

Zu den politischen Ereignissen in Deutschland für den hier behandelten Zeitraum siehe den Darstellungsteil bei Eberhard Kolb und Dirk Schumann: Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 16), 8. überarbeitete und erweiterte Aufl. München 2013, S. 1–11, bes. S. 4–8. 9 In der geschichtswissenschaftlichen Forschung wird über den Ersten Weltkrieg oftmals auch von der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts oder der „Urkatastrophe“ Deutschlands gesprochen. Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914–1918 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 17), 10. völlig neu bearbeitete Auflage. Erster Nachdruck der 10. Auflage, Stuttgart 2004, S. 14. Der Begriff „Urkatastrophe“ geht zurück auf George Frost Kennan: The decline of Bismarck’s European order. FrancoRussian relations 1875–1890, Princeton 1979. Siehe Mommsen, Urkatastrophe, S. 14. 10 Zum Frauenwahlrecht und seiner Geschichte siehe etwa: Birgitta Bader-Zaar: Zur Geschichte des Frauenwahlrechts im langen 19. Jahrhundert. Eine international vergleichende Perspektive, in: Ariadne 38 (2001), Heft 40, S. 6–13; Gisela Notz: „Her mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Mann und Frau!“. Die internationale sozialistische Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Kampf um das Frauenwahlrecht (Reihe Gesprächskreis Geschichte, Bd. 80), Bonn 2008 und Angelika Schaser: Zur Einführung des Frauenwahlrechts vor 90 Jahren am 12. November 1918, in: Feministische Studien 27 (2009), Heft 1, S. 97–110. 11 Anna Siemsen: An die Frauen!, in: Das Forum 3 (1919), Heft 10, S. 820–824.

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lung bezogen hatte, markiert dieser Artikel ihren offiziellen Eintritt in die Politik: Kurz vor der Veröffentlichung des Artikels, im März 1919, war sie der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) beigetreten.12 Der Artikel verweist zugleich auf zwei wesentliche Aspekte, die in Siemsens zukünftiger politischer Arbeit für eine umfassende Erneuerung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse grundlegend waren. Dazu gehörte vor allem die Annahme, als Frau mit neu erworbenen politischen Rechten eine besondere politische Verantwortung übernehmen zu müssen. Der Aufsatz gibt das Selbstverständnis wider für die folgende politische Arbeit, der sich Siemsen nicht nur beruflich als Lehrerin und Bildungspolitikerin widmete, sondern auch in ihrer publizistischen Tätigkeit und in ihrem Engagement für verschiedene Organisationen und Verbände. Sie machte an dieser Stelle auch deutlich, dass eine grundlegende Neuordnung von Politik und Gesellschaft nur durch den Sozialismus erfolgen könne. Siemsen erhob zu Beginn des Artikels zunächst „Selbstanklage als Frau“ und sprach damit aber auch alle anderen Frauen an. Sie warf sich selbst und allen anderen vor, nichts getan zu haben, den „Haß“, den „Kampf“ und die „Selbstzerfleischung unseres Volkes“ zu verhindern.13 „Feigheit“ sei es gewesen, so Siemsen, „die uns im Kriege stumm sein ließen […] für Gewalt und Mord.“14 Frauen seien „ebenso wie die Männer […] verseucht und krank“.15 Siemsen betonte im Rückgriff auf die politische Gleichstellung, die der Rat der Volksbeauftragten den Frauen zugesprochen hatte, nun bestehe „die erste Gelegenheit für uns Frauen unsere neuen politischen Rechte zu benützen, als Frauen zu benutzen“. Frauen treffe nun die „volle Mitverantwortung“.16 Sie hätten die Pflicht, „einmütig die sofortige innere Abrüstung“17 zu fordern, sich gegen Gewalt und „die alten Methoden des Militarismus“ aufzulehnen.18 Die politische Gleichstellung betrachtete Siemsen als Initialzündung für die Frauen, sich auf ihre weibliche Eigenart zu besinnen und einen entsprechenden Politikstil zu etablieren, mit dem Gewalt und Militarismus überwunden werden sollten. Sie betonte, „nicht zu den sozialistischen, nicht zu den revolutionären Frauen“ zu sprechen, sondern „zu allen für alle“. Denn „[k]eine Frau“, erklärte sie, „die diesen Namen mit Recht trägt und wäre sie kapitalistisch oder monarchisch bis in die Knochen, keine dürfte ihre Sache mit Blut verteidigen, keine über Leichen ihren Weg gehen wollen“.19 Hinter Siemsens Annahme, gerade Frauen seien befähigt, eine neue Politik und einen neuen Politikstil zu etablieren, stand der Gedanke von einem besonderen Geschlechtscharakter der Frau, der schon im Konzept der „Geistigen Mütterlichkeit“ in der bürgerlichen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts proklamiert worden 12 13 14 15 16 17 18 19

Siemsen: Mein Leben, S. 23. Siemsen: An die Frauen!, S. 820. Ebd., S. 821. Ebd., S. 822. Ebd., S. 824. Ebd., S. 821. Ebd., S. 824. Ebd., S. 823 f.

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war.20 Seit Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich in weiten Kreisen der Bevölkerung die Annahme von bipolaren Geschlechtscharakteren etabliert, durch die Frauen und Männern komplementäre Wesenseigenschaften und entsprechende Tätigkeitsfelder wie die private und öffentliche Sphäre zugeschrieben wurden.21 Diese Annahmen waren von der bürgerlichen Frauenbewegung argumentativ genutzt worden, um verbesserte Bildungsmöglichkeiten, Zugang zu pädagogischen oder sozialen Berufen sowie politische Einflussnahme für Frauen einzuklagen. Dabei wurde betont, der spezifisch weibliche Einfluss würde in Ergänzung zum männlichen der Gesamtgesellschaft zu gute kommen. Dem Konzept der „Geistigen Mütterlichkeit“ lag die Vorstellung zugrunde, Frauen hätten durch ihre biologisch bedingte Fähigkeit Kinder zu bekommen, auch eine entsprechende seelische oder geistige Veranlagung, durch die ihnen besondere pädagogische, fürsorgliche, pflegende und friedliebende Eigenschaften gegeben seien.22 Siemsen betonte wiederholt, die Frau sei „unmißverständlich hingewiesen auf Pflege und Erhaltung des menschlichen Lebens“.23 Die Vorstellung, spezifisch weibliche Wert- und Handlungsmaßstäbe könnten die nach männlichen Prämissen geprägte öffentliche Sphäre zum Besseren verändern, dominierte die Argumentation von einem Großteil der Frauen, die sich politisch engagierten. Hier wurde die politische Gleichstellung der Frauen aber nicht als Grundvoraussetzung, vielmehr als langfristiges Ziel betrachtet und eine „Politik der kleinen Schritte“ favorisiert.24 Daneben hatten sich seit den 1890er Jahren Frauengruppen formiert, die weitergehende Reformen formulierten und beispielsweise das „Wahlrecht für Frauen als elementare Voraussetzung für eine Umgestaltung der politischen Verhältnisse“ forderten. Hierzu gehörten Lida Gustava Heymann (1868–1943) und Anita Augspurg (1857–1943), die 1902 in Hamburg den Deutschen Verein für Frauenstimmrecht

20 Ute Gerhard, Christina Klausmann und Ulla Wischermann: Neue Staatsbürgerinnen – die deutsche Frauenbewegung in der Weimarer Republik, in: Ute Gerhard (Hg.): Feminismus und Demokratie. Europäische Frauenbewegungen der 1920er Jahre (Frankfurter Feministische Texte, Sozialwissenschaften, Bd. 1), Königstein/Taunus 2001, S. 176–209, hier S. 176. 21 Grundlegend dazu: Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: dies.: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 202), Göttingen 2012, S. 19–49 [zuerst 1976] und Ute Frevert: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge (Kritische Studien zu Geschichtswissenschaft, Bd. 77), Göttingen 1988, S. 17–48. 22 Ausführlich zum Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ und seiner Grundlagen: Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 81–85 und Angelika Schaser: Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933, Darmstadt 2006, S. 28 f. 23 Anna Siemsen: Leitsätze des Referates über „Die wirtschaftlich-geistigen Zeitnotwendigkeiten und die Frauenbildung“ auf der Tagung des Bundes Entschiedener Schulreformer „Frauenbildung und Wirtschaftsreform“ vom 30. September bis zum 2. Oktober 1921 in der Gemeindefesthalle Berlin-Lankwitz, in: Die Neue Erziehung 3 (1921), Heft 10, S. 306. 24 Schaser: Zur Einführung des Frauenwahlrechts, S. 99.

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gründeten.25 Siemsen vertrat mit ihrer Annahme eines spezifisch weiblichen Politikstils einen Differenzfeminismus, der durchaus zu den Grundüberzeugungen der bürgerlichen, politisch engagierten Frauen ihrer Zeit gehörte. Damit wurden aber auch jene Geschlechterstereotype reproduziert, aufgrund derer Frauen von politischer Betätigung und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen worden waren. Dass sich Politik und Gesellschaft durch das Frauenwahlrecht nicht im angenommenen Sinn verbessern würden, musste Siemsen bald erfahren. Obwohl Siemsen nicht allein zu sozialistischen Frauen sprechen wollte, machte sie deutlich, der Bruch mit der alten Ordnung könne nur über den Sozialismus erfolgen. Der Sozialismus bot für sie ein geeignetes Mittel, die „Frage[n] der Zeit“ nicht „durch Blut und Eisen“ zu lösen. Auch wollte Siemsen den Kapitalismus überwinden, den sie neben Gewalt und Militarismus als Kennzeichen des alten kaiserlichen Systems wertete und den sie ebenfalls für den Ersten Weltkrieg verantwortlich machte: „Ist Deutschland reif zum Sozialismus, reif nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im Bewußtsein seiner Arbeiter, so können alle Heere der Welt nicht die Ruhe in einem kapitalistischen Deutschland herstellen.“ Siemsen glaubte zu dem Zeitpunkt, als sie ihren Artikel schrieb, dass „die Räterepublik der Weg zu diesem Ziel des Sozialismus“ sei.26 Mit ihrem Votum für die Räterepublik sympathisierte Siemsen mit dem linken Flügel der USPD, der sie im März 1919 beigetreten war. Der rechte Flügel der Partei hatte die Wahlen zur Nationalversammlung begrüßt, die bald nach Erscheinen von Siemsens Aufsatz in Weimar tagte und am 31. Juli 1919 eine demokratische Verfassung für Deutschland beschließen sollte. Der linke Flügel der USPD wollte zwar die Errichtung einer Räterepublik, lehnte aber militante Aktionen ab und hoffte auf eine gewaltlose Revolutionierung der Wirtschaft durch die Arbeiter.27 Wie alle Parteien, die Frauen als neue Wählergruppe für sich gewinnen wollten, warb auch die USPD 1918/1919 um die Stimmen von Frauen, denn diese stellten unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einen Großteil der Wählerschaft.28 Die USPD gründete beispielsweise ein Reichsfrauenbüro und warb mit Frauenwochen und Kundgebungen um die politische Beteiligung von Frauen.29 Siemsen, die sich während des Ersten Weltkrieges der Friedensbewegung angeschlossen hatte, entschied sich aber vermutlich deshalb der USPD beizutreten, weil diese Partei während des Ersten Weltkrieges eine ablehnende Haltung zur Kriegspolitik der Reichsregierung eingenommen hatte. Die USPD war aus diesem Grund auch für andere Mitglieder der Friedensbewegung attraktiv geworden. Die Mehrheit derjenigen, die

25 Kirsten Heinsohn: Politik und Geschlecht. Zur politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Bd. 52), Hamburg 1997, S. 290 f. Zitat auf S. 290. 26 Siemsen: An die Frauen!, S. 823. 27 Kolb und Schumann: Die Weimarer Republik, S. 11. 28 Julia Sneeringer: Winning Women’s Votes. Propaganda and Politics in Weimar Germany, Chapel Hill und London 2002. 29 Karen Hagemann: Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 528.

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in der Sozialdemokratie organisiert waren, hatte sie seit 1917 „als pazifistische Partei [betrachtet], die in der Verhinderung von Kriegen ihre eigentliche Aufgabe erblickte“.30 EINE POLITIK DER EINHEIT Für die Durchsetzung einer umfassenden Politik- und Gesellschaftsreform, die Gewalt, Militarismus und Kapitalismus zu überwinden habe, hatte Siemsen deshalb auf die Frauen gezählt, weil diese für sie eine einheitliche Gruppe darstellten und daher auch ein gemeinsames Ziel verfolgen müssten. Siemsen begründete diese Einheitlichkeit mit einem spezifischen Geschlechtscharakter der Frauen und dem in formaler Hinsicht gleichzeitigen Eintritt in die Politik durch die Gewährung politischer Rechte. Dahinter stand die Vorstellung, dass es Frauen möglich sei, über Einzelinteressen hinaus eine gemeinsame Politik zu verfolgen. Diese Vorstellung wurde von der überwiegenden Mehrheit politisch engagierter Frauen nach dem Ersten Weltkrieg geteilt. In der Nationalversammlung 1919 beispielsweise waren die weiblichen Abgeordneten unterschiedlicher Parteizugehörigkeit eben unter diesem Vorsatz angetreten.31 Siemsen, die zwar von 1928 bis 1930 auch ein Reichstagsmandat innehatte, widmete sich allerdings kaum der Parteiarbeit, sondern der sozialistischen Kulturund der pädagogischen Reformarbeit. Sozialismus war für sie keine Parteiangelegenheit, sondern eine Welt- und Lebensanschauung, der ähnliche Prämissen zugrunde lagen wie Siemsen sie auch für Frauen insgesamt geltend machte. Der Sozialismus enthielt aus ihrer Sicht Werte, die ebenfalls Gewalt, Krieg und Kapitalismus ausschlossen. Er war für sie eine Politikform, die einem weiblichen Politikstil entsprach. Sie betrachtete für die Durchsetzung einer solchen Politik aber nicht allein die Frauen als politischen Machtfaktor, sondern auch die Arbeiter. Den Arbeitern schrieb Siemsen eine besondere Nähe zum Sozialismus zu. Diese gesellschaftliche Gruppe wurde in ihren politischen Ordnungsvorstellungen ebenfalls als einheitlich definiert, weil die Arbeiter aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung gemeinschaftliche Interessen und eine gemeinschaftliche Aufgabe zu verfolgen hätten. Ein Arbeitsschwerpunkt von Siemsen war deshalb auch, den Arbeitern dieses Bewusstsein in der sozialistischen Bildungs- und Kulturarbeit zu vermitteln. Während in der Weimarer Zeit vor allem die Arbeiterschaft eine zentrale Rolle in Siemsens politischen Konzepten einnehmen sollte, traten während ihrer Exilzeit Frauen vermehrt in den Fokus ihrer politischen Auseinandersetzungen mit Europa. Obwohl Siemsen der Parteipolitik gegenüber stets skeptisch eingestellt war, hatte sie sich nach eigener Aussage nach Ende des Ersten Weltkrieges für eine „Ei-

30 Lothar Wieland: Die Verteidigungslüge. Pazifisten in der deutschen Sozialdemokratie 1914– 1918 (Schriftenreihe Geschichte und Frieden, Bd. 9), Bremen 1998, S. 173. 31 Heide-Marie Lauterer: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949 (Aktuelle Frauenforschung), Königstein/Taunus 2002, S. 118 f.

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nigung der [sozialistischen, MvB] Parteien“ eingesetzt.32 Nachdem die SPD aufgrund interner Flügelkämpfe gespalten aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war, stand die Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) unmittelbar nach Ende des Krieges nicht nur der USPD, sondern auch der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gegenüber.33 Die „Einigung der Parteien“ war für Siemsen deshalb wichtig, weil sie ihnen als organisierte Interessensvertretung der Arbeiter eine wichtige politische Machtfunktion beimaß. Diese Forderung nach politischem Zusammenschluss für gleiche Ziele auf der Parteienebene sowie auch auf der Ebene ihres Adressatenkreises zeigt beispielhaft Siemsens Bestrebungen, in übergreifender Perspektive eine homogene Politik, eine Politik der Einheit zu etablieren. Mit ihren Forderungen nach einer einheitlichen oder ganzheitlichen Politik stand Siemsen nicht allein. Der „Hunger nach Ganzheit“34 wurde zu einem Signum in politischen, wissenschaftlichen, philosophischen und gesellschaftlichen Diskussionszusammenhängen in der Weimarer Republik. Die „Wiederentdeckung ganzheitlichen Denkens“35 hatte schon die vielfältigen Reformbewegungen gekennzeichnet, die um 1900 erstarkten. Zu diesen Reformbewegungen zählte nicht nur die Reformpädagogik, sondern auch die vielfältigen Bestrebungen der Lebensreformbewegung, zu der beispielsweise die Heimatschutzvereine genauso gehörten36 wie das „Nacktbaden als heimlicher Aufstand gegen wilhelminische Repressionen.“37 Diese Reformbewegungen entstanden Ende des 19. Jahrhunderts als kulturkritische „Gegenbewegungen“ zu der als krisenhaft empfundenen Industriegesellschaft. Industrialisierung, Urbanisierung und Bevölkerungswachstum trugen seit 32 Siemsen: Mein Leben, S. 23. 33 Walter Mühlhausen: Die Sozialdemokratie am Scheideweg – Burgfrieden, Parteikrise und Spaltung im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 649–671. Siehe auch Stefan Berger: Die Parteispaltung während des Ersten Weltkrieges, in: Bernd Faulenbach und Andreas Helle (Hg.): Menschen, Ideen, Wegmarken. Aus 150 Jahren deutscher Sozialdemokratie, Berlin 2013, S. 52–61. Siehe ferner Kolb und Schumann: Die Weimarer Republik, S. 43. 34 So das in Forschung oft zitierte Kapitel gleichen Namens bei: Peter Gay: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Neuausgabe, Frankfurt am Main 2004 [Erstauflage in deutscher Sprache, Frankfurt am Main 1970], S. 99–137. Vgl. auch den Aufsatz von Peter Gay, in dem insbesondere die Jugendbewegung unter diesem Thema behandelt wird: Hunger nach Ganzheit, in: Ulrich Herrmann (Hg.): „Neue Erziehung“ – „Neue Menschen“. Ansätze zur Erziehungs- und Bildungsreform in Deutschland zwischen Kaiserreich und Diktatur (Geschichte des Erziehungs- und Bildungswesens in Deutschland, Bd. 5), Weinheim und Basel 1987, S. 35–45. 35 Tobias Rülcker: Ganzheit, in: Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt (Hg.): Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933), Teil 1: Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse, Frankfurt am Main 2013, S. 407–424, hier S. 407. 36 Rülcker: Ganzheit, S. 407. Grundlegend zu den vielfältigen Strömungen der Reformbewegungen siehe das Handbuch von Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998. 37 Stephan Schaede: Vorwort, in: Ders., Gerald Hartung und Tom Kleffmann (Hg.): Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Band 2 (Religion und Aufklärung, Bd. 22), Tübingen 2012, S. V–XIX, hier S. V.

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Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Auflösung tradierter Ordnungen bei. Bislang geltende Bezugsgrößen, Werte und Normvorstellungen hatten in der Wahrnehmung breiter Bevölkerungskreise ihre Gültigkeit verloren und riefen das Gefühl von Orientierungslosigkeit hervor. Es hatten sich politische und soziale Interessensgegensätze herausgebildet, die eine steigende Pluralisierung und Politisierung der Gesellschaft mit sich brachten.38 Gerade diejenigen, die wie Siemsen um 1880 geboren worden waren, erlebten durch die technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklungen einen so rasanten Wandel aller Lebensbereiche, wie sie die Generationen zuvor nicht gekannt hatten.39 Die Naturwissenschaften boten durch ihre „mechanistische[n] Erklärungsmodelle“ keine übergreifende Orientierung mehr.40 Vor diesem Hintergrund tauchte die Forderung nach „Einheit“ überall auf. Ideen von „ganzheitlicher ‚Einheit‘ von Körper und Seele, Materie und Geist, Mensch und Natur“ prägten die bildungsbürgerlichen Debatten.41 Bei Vertretern linker wie rechter politischer Couleur fungierte „Einheit“ übergreifend „als Synonym für Ordnung, Harmonie, Gerechtigkeit [und] Glück“.42 Der Erste Weltkrieg verstärkte die Wahrnehmung, tradierte „Ordnungen“ befänden sich in einer „Krise“. Der Krieg hatte nicht nur „Rückwirkungen auf das politische System“ Deutschlands, sondern „auch auf die lebensprägenden Grundorientierungen“ der Menschen.43 Die Weimarer Republik konnte die Wahrnehmung eines fundamentalen Bruchs nicht kitten. Sie war aus Sicht breiter Bevölkerungskreise ein Produkt der Siegermächte, ein Symbol für die Niederlage, die die Deut-

38 Anselm Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91–119, hier S. 95 f. Zitat auf S. 96. Vgl. auch Diethard Kerbs und Ulrich Linse: Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Kerbs und Reulecke: Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 155–159, hier S. 156 f. Neben dem angestammten Wirtschafts- und Bildungsbürgertum hatten sich beispielsweise eine so genannte neue Mittelschicht der Angestellten und kleinen Beamten sowie eine stetig wachsende Industriearbeiterschaft formiert. Siehe dazu: Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21–63, hier bes. S. 31 und 45. Es änderten sich auch die sozialen und politischen Verhältnisse der gesellschaftlichen Gruppen untereinander. Dazu zählten beispielsweise die Geschlechterverhältnisse. Grundlegend dazu: Ute Planert: Kulturkritik und Geschlechterverhältnis. Zur Krise der Geschlechterordnung zwischen Jahrhundertwende und „Drittem Reich“, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933 (Ordnungssysteme, Bd. 22), München 2007, S. 191– 214. 39 Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit, S. 91. Vgl. auch Kerbs und Linse: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 156 f. 40 Rülcker: Ganzheit, S. 409. 41 Gunther Mai: Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart, Berlin und Köln 2001, S. 23. 42 Lothar Gall, Dirk Blasius und Krista Segermann: Einheit, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Band 2, Stuttgart 1975, S. 117–151, hier S. 151. 43 Wolfgang Hardtwig: Einleitung, in: ders.: Ordnungen in der Krise, S. 11–18, hier S. 11.

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schen am Ende des Krieges erlitten hatten.44 Die Republik entstand aus den unmittelbaren politischen Konstellationen der Nachkriegszeit und nicht, weil das Gros der Bevölkerung die republikanische Idee seit langem vehement verfochten hätte.45 Es hatte nach dem Ende des Krieges zwar eine politische Neuordnung Deutschlands gegeben, nicht aber eine gesellschaftliche.46 Die Gefühle der „‚Entwurzelung‘ und Heimatlosigkeit“47 waren offenbar auch gegen Ende der Weimarer Republik noch so mächtig, dass Siemsen sie als Legitimation für ihre Europa-Konzepte heranziehen konnte. In ihrem Buch Daheim in Europa, das programmatisch 1928, zehn Jahre nach Kriegsende erschien, nahm sie mit scheinbarer Nostalgie Bezug auf ihre eigene Kindheit, die sie als unwiederbringlich verloren beschrieb: „Es war eine friedliche Zeit […]. Heute sind die Fabriken und Zechen hineingewachsen in die Welt der Felder und Knicks. Heute sind die kleinen Fachwerkhäuser erdrückt von großen Mietkasernen. Sogar das Wasser fließt nicht mehr wie es einstens floß. […] Der alte Garten meiner Kindheit ist versunken. Wie viele Gärten sind versunken in dem alten Europa!“48

Durch diese Beschreibung und den Rückgriff auf die eigene Kindheit, verbunden mit Anspielungen auf die Folgen der industriellen Entwicklungen, wollte Siemsen keineswegs eine Rückkehr zu einer alten Ordnung propagieren. Sie kritisierte vielmehr die in zeitgenössischen kulturkritischen Diskussionen oftmals vorgebrachte Idealisierung der Vergangenheit. Der Krieg hatte für Siemsen eine Rückkehr zu dieser alten Ordnung unmöglich gemacht. „Heimat“ wurde ihren eigenen Zielvorstellungen entsprechend umgedeutet. Die Heimat lag nicht mehr in der Kindheit, sondern zukünftig in Europa. Diese Aufnahme kulturkritischer Deutungsmuster nutzte sie, um umfassende Reformen zu fordern, die durch die Arbeiterschaft umgesetzt werden sollten. Während Siemsens Lösung für die allgemeine Sinnkrise in der Weimarer Zeit Europa hieß, hieß sie für den Großteil der Deutungseliten jedoch Nation. Nach der Kriegsniederlage mit ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen suchten weite Teile der Bildungsschicht eine politische Neuorientierung für Deutschland, ähnlich wie Siemsen es formulieren sollte, in der „Gemeinschaft“ oder „Volksgemeinschaft“, die das kompensieren sollte, was auf der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebene vermeintlich verlorengegangen war. Die Gemeinschaft war für Siemsen nicht nur eine zukünftige Gesellschaftsform. Sie umschrieb mit diesem Begriff auch Wert- und Handlungsmaßstäbe, nach denen schon in der zeitgenössischen Gegenwart gehandelt werden müsse.

44 Doering-Manteufel: Mensch, Maschine, Zeit, S. 99. 45 Kolb und Schumann: Die Weimarer Republik, S. 1 f. 46 Thomas Mergel: High Expectations – Deep Disappointment. Structures of the Public Perception of Politics in the Weimar Republic, in: Kathleen Canning, Kerstin Barndt und Kristin McGuire (Hg.): Weimar Publics/Weimar Politics. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920s, New York und Oxford 2010, S. 192–210, hier S. 194. 47 Mai: Europa 1918–1939, S. 23. 48 Siemsen: Daheim in Europa, S. 170.

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Gemeinschaft, eigentlich ein Grundbegriff der Soziologie sowie der Sozialund Geschichtsphilosophie,49 wurde Teil von politisch übergreifenden Diskussionszusammenhängen innerhalb der intellektuellen Öffentlichkeit der Weimarer Zeit.50 Der Gemeinschaftsbegriff konnte dabei je nach weltanschaulicher Position unterschiedlich definiert werden. Durch die später übernommene Deutungshoheit des Begriffs „Volksgemeinschaft“ durch die Nationalsozialisten, die ihn durch die exkludierenden Kategorien „Rasse“ und „Blut“ im „organisch-biologistischen Sinn“51 propagierten, ist der Gemeinschaftbegriff in der Forschung dann vor allem national-konservativen und völkischen Gruppen zugeordnet worden.52 Er erlangte jedoch auch in allen anderen politischen Spektren eine große Popularität. Diese politisch übergreifende Popularität des Gemeinschaftsbegriffes hatte ihre Wurzeln im Kaiserreich. In der Weimarer Republik wurde oftmals auf die kurz vor Kriegsbeginn beschworene „Verteidigungsgemeinschaft“ von 1914 rekurriert, aus der sich die Volksgemeinschaftsidee entwickelt hatte.53 Die theoretischen Überlegungen zum Gemeinschaftsbegriff hatte zuvor der Soziologe Ferdinand Tönnies (1855– 1936) mit seiner ab 1912 breit rezipierten und bis in die 1930er Jahre mehrfach aufgelegten philosophisch-soziologischen Abhandlung Gemeinschaft und Gesellschaft54 geliefert. Vor dem Hintergrund tiefgreifender Modernisierungsprozesse wollte Tönnies die zeitgenössischen Verhältnisse erklären, die er wie viele seiner Zeitgenossen durch die Folgen von fortschreitender Industrialisierung in Auflösung begriffen ansah.55 Tönnies differenzierte Überlegungen wurden in der Weimarer Republik 49 Manfred Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft, in: Brunner, Conze und Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 2, S. 801–862, hier S. 801. 50 Thomas Mergel: High Expectations, S. 193. 51 Frank Bajohr und Michael Wildt: Einleitung, in: dies. (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009, S. 7–23, hier S. 10. 52 Siehe beispielsweise Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 3. Aufl. München 1992, S. 250–252. Auf die Übernahme des Gemeinschaftsbegriffs von rechten wie von linken Gruppen verweist explizit auch Gérard Raulet: Die Modernität der „Gemeinschaft“, in: Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1993, S. 72–93, hier S. 78 und 81. 53 Steffen Bruendel: Die Geburt der „Volksgemeinschaft“ aus dem „Geist von 1914“. Entstehung und Wandel eines „sozialistischen“ Gesellschaftsentwurfs, in: Zeitgeschichte online, Thema: Fronterlebnis und Nachkriegsordnung. Wirkung und Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, Mai 2004, URL: http://www.zeitgeschichte-online/md=EWK-Bruendel [12. Juni 2013]. Siehe auch: Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000. 54 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Culturformen, 1. Aufl. Leipzig 1887. Siehe auch: Klaus Lichtblau (Hg.): Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies, Wiesbaden 2012. Online-Ausgabe [25. November 2013] sowie Raulet: Die Modernität der „Gemeinschaft“, S. 81. 55 Raulet: Die Modernität der „Gemeinschaft“, S. 82 und Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 855.

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dann vielfach vereinfacht und „variiert“. Der Gemeinschaftsbegriff wurde zu einem emphatisch genutzten politischen Schlagwort umgewandelt.56 Zur Formulierung erhoffter politischer und gesellschaftlicher Idealzustände entwickelten viele von Siemsens Zeitgenossen einen kulturkritischen Gemeinschaftsbegriff, bei dem auf eine verklärte Vergangenheit rekurriert wurde, in der das gewünschte gemeinschaftliche Leben noch stattgefunden habe.57 Die Popularität der „Mittelalterbeschwörungen“ in der Weimarer Republik ist in diese Diskussionen einzuordnen.58 Die bereits im Kaiserreich von den Deutungseliten geforderte gesellschaftliche und politische Einheit schien sich zu erfüllen, als Kaiser Wilhelm II. am 4. August 1914, zwei Tage nach Beginn der Mobilmachung, in seiner viel zitierten Rede auf der außerordentlichen Sitzung des Reichstages erklärte, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.59 Intellektuelle Zeitgenossen werteten diese Burgfriedenspolitik, schon bald als „Geist von 1914“ bezeichnet, als „Beschreibung einer neuen, gemeinschaftsorientierten Haltung“, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung der Bildungseliten ein gesamtgesellschaftliches Phänomen war.60 Nicht nur die Fraktionen des Reichstages einschließlich der SPD, sondern auch ein Großteil der Bevölkerung betrachteten den bevorstehenden Krieg als Verteidigungskrieg der deutschen Nation und der deutschen Kultur,61 für die nun alle Partei- und Einzelinteressen zurückzustehen hätten. Aus dem „Geist von 1914“ entwickelten sich die „Ideen von 1914“, die in Abgrenzung zu den Ideen von 1789 die Werte „‚deutsche Freiheit‘, ‚Kameradschaft‘ und ‚Sozialismus‘“ enthielten. Daraus wurden praktische sozialpolitische Reformforderungen abgeleitet, durch die alle sozialen, politischen und konfessionellen Gegensätze der deutschen Gesellschaft aufgehoben werden könnten. Alle gesellschaftlichen Gruppen sollten auf diese Weise in die Volksgemeinschaft integriert werden, um eine neue nationale Einheit zu schaffen.62 Während des Kriegsverlaufes zeigten sich schnell die Grenzen der 56 Gangolf Hübinger: Individuum und Gemeinschaft in der intellektuellen Streitkultur der 1920er Jahre, in: Roman Köster u. a. (Hg.): Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 33), Berlin 2009, S. 3–13, hier S. 4. 57 Vgl. Raulet: Die Modernität der „Gemeinschaft“, S. 83 f. Zu dieser Rezeption von Tönnies in weiten Teilen der Reformpädagogik: Tobias Rülcker: Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Keim und Schwerdt, Handbuch der Reformpädagogik, S. 533–558, hier S. 539 f. 58 Siehe dazu: Otto Gerhard Oexle: Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach, in: Susanna Burghartz u. a. (Hg.): Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, Sigmaringen 1992, S. 125– 153, hier S. 131 f. 59 Bruendel: Die Geburt der „Volksgemeinschaft“, S. 1. 60 Bruendel: Die Geburt der „Volksgemeinschaft“, S. 6. 61 Wolfgang J. Mommsen: Einleitung: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg, in: ders. (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg (Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 34), München 1996, S. 1–15, hier S. 1 f. und Roger Chickering: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, 2. Aufl. München 2005, S. 163 f. Zur Haltung der SPD zum „Verteidigungskrieg“: Mühlhausen: Die Sozialdemokratie am Scheideweg, S. 652. 62 Bruendel: Die Geburt der Volksgemeinschaft, S. 6 f. Zitat auf S. 7.

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Volksgemeinschaftsidee. Geforderte Reformen blieben aus.63 Auch war aus der „Verteidigungsgemeinschaft“ keine „‚innere‘ Werte- und Reformgemeinschaft“ erwachsen.64 Eben diese forderte Siemsen nach dem Ersten Weltkrieg. Die sogenannte innere Wertegemeinschaft wollte sie durch eine sozialistische Erziehung zur Gemeinschaft erreichen, durch die zugleich die gesamte Gesellschaft reformiert werden sollte.

63 Gunther Mai: „Verteidigungskrieg“ und „Volksgemeinschaft“, Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900–1925), in: Michalka: Der Erste Weltkrieg, S. 583–602, hier S. 588 f. 64 Ebd., S. 591.

1 VOM BILDUNGSBÜRGERTUM ZUM SOZIALISMUS. POLITISIERUNGSPROZESSE BIS 1921 Anna Siemsen behauptete 1919, dass „man zum Sozialisten und zum Revolutionär geboren“ werde.1 Auch August Siemsen versuchte, in seiner Biographie über die Schwester eine Art natürliche Entwicklungsrichtung zu konstruieren, wenn er schrieb, schon Siemsens kindliche Parteinahme für die Schwachen und Entrechteten sei als Wegweiser für ihr späteres Engagement in der Sozialdemokratie zu werten: „[Wir] waren […] immer in völliger Einigkeit auf der Seite der Besiegten, der Schwächeren, gegen die triumphierenden Sieger; eine Eigenschaft, die uns geblieben ist, und die uns nicht an letzter Stelle zum Sozialismus und zu viel Leiden und Erfolglosigkeit in der äußeren Karriere geführt hat. Wir waren für Hektor, gegen Achilles; für die Trojaner, gegen die Griechen; für die Juden, gegen die Römer; für Hannibal, gegen Scipio.“2

Dabei war Siemsens Weg in die Sozialdemokratie keineswegs ohne Alternativen oder selbstverständlich, wie es Siemsen selbst und ihr Bruder im Nachhinein gerne betonten. Der Weg zum Sozialismus verlief vielmehr wie auch bei anderen bürgerlichen Frauen, die sich in der Sozialdemokratie engagierten, über mehrere „Zwi­ schenstufen“.3 Diese hätten bei Siemsen auch in eine andere Richtung führen können. Während die meisten Sozialdemokratinnen aus Arbeiterfamilien stammten und aufgrund ihres milieuspezifischen Hintergrundes von Haus aus Kontakte zur Arbeiterbewegung knüpften, war der Eintritt bürgerlicher Frauen in die Sozialdemokratie meistens durch einen Bruch mit ihrem Herkunftsmilieu gekennzeichnet und daher ungleich konfliktbeladener.4 Siemsens Sozialisation verlief in bildungsbürgerlichen Bahnen in einer Pastorenfamilie. Sie wurde als zweites von fünf Kindern in dem kleinen Dorf Mark bei der Stadt Hamm im damals preußischen Westfalen am 18. Januar 1882 nach ihrer Schwester Paula (1880–1965) geboren. Den beiden Schwestern folgten die Brüder August (1884–1955), Karl (1887–1968) und Johannes (1891–1969), der Hans genannt wurde. Die Mutter Anna Siemsen (1854–1931), geborene Lürßen, stammte aus einer Fabrikantenfamilie. Die Vorfahren des Vaters August Siemsen (1839– 1910) waren Kaufleute gewesen.5 Die Schilderungen des Bruders August Siemsen von einer geradezu paradiesischen Kindheit spiegeln in vielen Aspekten das klassi1 2 3 4

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Anna Siemsen: Was ist zu tun?, in: Der Föhn 1 (1919), Heft 13, S. 1–3, hier S. 2. August Siemsen: Anna Siemsen, S. 17. Dieses Zitat auch bei Rothe: Anna Siemsen, S. 152. Wickert: Unsere Erwählten, S. 53. Ebd., S. 48 f. Vgl. dazu die Lebenserinnerungen von Hedwig Wachenheim (1891–1969): Hedwig Wachenheim: Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie. Memoiren einer Reformistin (Historische Kommission zu Berlin. Beihefte zur Internationalen wissenschaftlichen Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), Bd.1), Berlin 1973. Ausführlich zu den familiären Verhältnissen siehe Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 32.

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sche bürgerliche Familienideal wider: Das Aufwachsen in freier Natur, die „eingeschworene Gemeinschaft“ der Kinder, Weihnachts- und Geburtstagsfeiern nach eigenen Ritualen oder das gemeinschaftliche Lesen klassischer Dramen zeugen vom bürgerlichen Selbstverständnis der Familie,6 das sich auch in der Wahrnehmung der Eltern äußerte. Die Mutter wurde sowohl von August als auch von Anna Siemsen als immer gegenwärtig und bedürfnislos geschildert. August Siemsen behauptete, sie habe „ein reiches, ein fünffaches Leben gehabt, da sie mit jedem ihrer Kinder lebte“.7 Ebenfalls rückblickend charakterisierte Siemsen ihre Mutter als „außerhalb der sonstigen Menschheit“ stehend. Sie war eine „Selbstverständlichkeit, an die man soviel Gedanken verwandte, wie der Durchschnittsfromme an den lieben Gott!“. Der Vater erschien Siemsen dagegen als „eine Naturkraft“, die sich „unberechenbar“ entladen konnte.8 Diese geschlechtsspezifische Rollenverteilung einer stets anwesenden Mutter, die hauptsächlich für die Kindererziehung verantwortlich war, und eines strengen, meist abwesenden Vaters findet sich in der Erinnerung vieler Zeitgenossen bürgerlicher Herkunft.9 Die Prägung durch den Vater wurde in Siemsens späteren Lebensjahren deutlich, als sie sich zunehmend in der politischen Öffentlichkeit bewegte. Väter, die zwar in die Erziehung weniger eingebunden waren als die Mütter, dienten dennoch oftmals als Vorbild für Töchter, die versuchten, ihre beruflichen Wünsche oder „ihre intellektuellen Ambitionen“ zu realisieren.10 Während der Mutter vor allem der häusliche Wirkungsraum zugestanden wurde, da sie im Gegensatz zu Arbeiterfrauen keinem Zwang zur Erwerbstätigkeit unterlag, hatte Siemsens Vater als Pastor und damit als öffentliche Person des (Dorf-)Lebens eine besondere Funktion inne. Als Pfarrer war er eine Autorität, er war „Person und Amt“11 in einem. Siemsens Auseinandersetzung mit Literatur, der sie zeitlebens nachging, war ebenfalls eine Prägung des Elternhauses. Wie auch bei anderen Bürgerfamilien üblich, war es der Vater, der eine besondere Liebe zu Büchern und klassischer Literatur hegte und sie seinen Kindern vermittelte.12 Siemsen berichtete rückblickend:

Vgl. dazu das Kapitel: Kindheit und Jugend in Mark bei: August Siemsen: Anna Siemsen, S. 9–19. Grundlegend zum Thema bürgerliche Kindheit: Gunilla-Friederike Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914 (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 6), Göttingen 1994. 7 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 111. 8 Anna Siemsen: Von Strafen und ihrer Wirkung, in: Paul Oestreich (Hg.): Strafanstalt oder Lebensschule? Erlebnisse und Ergebnisse zum Thema „Schulstrafen“. Allerlei Weckrufe und Denkhilfen für Lehrer, Eltern, „Sonstige“ und „Instanzen“, Karlsruhe 1922, S. 25–28, hier S. 26. Die Zitate finden sich auch bei Schmölders: Anna Siemsen. Zwischen den Stühlen, S. 334. 9 Yvonne Schütze: Mutterliebe – Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts, in: Frevert: Bürgerinnen und Bürger, S. 118–133, hier S. 126–128. 10 Ebd., S. 127. 11 Janz: Bürger besonderer Art, S. 258. 12 Budde: Auf dem Weg, S. 164. 6

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„Wir Kinder wuchsen auf, mit Homers Sagen und Horazischer Lebensweisheit, mit Shakespeare, Cervantes und den deutschen Klassikern und [mit den, MvB] Mas[s]-Stäbe[n] dieser europäischen Welt neben dem einer s[e]hr persönlichen und leicht pietistisch, d. h. asketisch gefärbten Frömmigkeit […].“13

Kontakte zu Kindern der unteren Schichten hatte Siemsen kaum. Das bildungsbürgerliche Selbstverständnis protestantischer Pfarrer war durch „Lebensstil und Sozialverhalten“ der „soziale[n] Distanz“ verpflichtet.14 Kontakte zwischen bürgerlichen Kindern und „Arbeiterkindern“ waren in der Regel selten.15 Die Geschwister Siemsen unterhielten in ihren frühen Kinderjahren zunächst freundschaftliche Kontakte zu benachbarten Dorfkindern. Wie August Siemsen berichtete, „hatten [wir] als Pastorskinder von selbst die Führung bei den Spielen und hießen bei ihnen Änne Pastor, August Pastor usw.“. Diese Kontakte hätten dann laut August Siemsen aber geendet, als die Geschwister die höheren Schulen besuchten.16 Nicht erst mit der unterschiedlichen Schulbildung änderten sich die Sozialisationsbedingungen von Bürgerkindern und Kindern der unteren Schichten. Diese erlebten von Beginn an eine völlig andere Kindheit, die unter gänzlich anderen Voraussetzungen ablief. Sie war in der Regel von finanziellen Sorgen geprägt, von beengten und spartanischen Wohnverhältnissen. Freiräume hatten die Kinder kaum, da sie oft schon mitarbeiten oder viel im Haushalt helfen mussten. Die Mutter war nicht zu Hause, sondern ging oftmals einer schlecht bezahlten und kräftezehrenden Lohnarbeit nach. Die Schule endete für diese Kinder in der Regel nach der Volksschule. Dann mussten sie sich eine Erwerbsarbeit suchen.17 Siemsens Ausbildungsweg, der in die akademische Lehrerinnenlaufbahn führte, war ein Weg, der vor allem bürgerlichen Frauen vorbehalten war. Insofern war ihre bildungsbürgerliche Herkunft eine wichtige Voraussetzung, die Siemsens zukünftige berufliche und politische Laufbahn überhaupt erst ermöglichte. August Siemsen, der selbst Sozialist wurde, nutzte rückblickend in der Biographie, die er über Anna Siemsen schrieb, den Sozialismus als Erklärungsstrategie für das Leben seiner Schwester, das von Brüchen, Unterbrechungen und Rückschlägen gekennzeichnet war. Ihre sozialistischen Ideen, die auch ihre Europa-Konzepte prägten, konnte Siemsen gesamtgesellschaftlich nicht durchsetzen. Tatsächlich bedingte Siemsens Eintreten für den Sozialismus auch die zentralen Brüche in ihrem Leben, wie etwa die faktische Amtsenthebung 1924 durch die rechts-konservative Regierung in Thüringen und nicht zuletzt die erzwungene Emigration 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Durch ihr Engagement für die Sozialdemokratie, die zu Beginn der Weimarer Republik gute Wahlergebnisse erzielte und auf Reichs- und Länderebene zeitweilig zu den Regierungsparteien zählte, war es Siemsen aber auch möglich, leitende Positionen in staatlichen Institutionen zu übernehmen und damit die Gelegenheit zu 13 14 15 16 17

Siemsen: Mein Leben, S. 12. Janz: Bürger besonderer Art, S. 258. Budde: Auf dem Weg, S. 329. August Siemsen: Anna Siemsen, S. 15. Zu den unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen siehe Wickert: Unsere Erwählten, S. 23.

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erhalten, für ihre Ziele in verantwortlicher Position zu arbeiten. Die von August Siemsen konstatierte und eingangs zitierte „Erfolglosigkeit in der äußeren Karriere“18 muss relativiert werden, wenn man bedenkt, dass Siemsen im Verlauf ihres beruflichen Werdegangs immerhin eine Honorarprofessur vorzuweisen hatte. Doch auch dieser Weg war zunächst nicht absehbar und er war außergewöhnlich für Frauen ihrer Generation. Siemsen konnte ihn gehen, weil sie politische Entwicklungen wie die erweiterten Bildungschancen für Frauen und die politische Gleichstellung der Frauen, die 1918 proklamiert worden war, genutzt hatte. 1.1 AUSBILDUNGSWEGE Das „bildungsaffine Elternhaus“19 war wohl ein zentraler Aspekt, der Siemsen eine für Frauen um 1900 noch ungewöhnliche Ausbildung ermöglichte. Als Siemsen in der kleinen Volksschule in ihrem Heimatdorf Mark ihre Schullaufbahn begann, fehlten die institutionellen Bedingungen dafür aber noch weitestgehend. Obgleich gerade auch die preußischen Pfarrersfamilien Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt in die Ausbildung der Töchter investierten,20 waren die Wege zu einer akademischen Ausbildung von Mädchen und jungen Frauen noch kaum befestigt. Die schulische Ausbildung für Mädchen war Ende des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zu der Ausbildung von Jungen nicht staatlich geregelt. In den meisten deutschen Ländern gehörte das Mädchenschulwesen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum „niederen, berechtigungslosen Schulwesen“.21 Als weiterführende Schule nach der Elementarschule kamen für Mädchen aus bürgerlichen Schichten nur die sogenannten höheren Töchterschulen infrage, deren Aufbau aber nicht einheitlich geregelt war.22 Auch Siemsen besuchte zusammen mit ihrer Schwester Paula eine städtische höhere Töchterschule in der nächstgelegenen Stadt Hamm. Hier wurden die Mädchen nun auf ihre spätere Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter mit den entsprechenden Lehrplänen vorbereitet, bei denen der Schwerpunkt auf künstlerischen, sprachlichen und hauswirtschaftlichen Inhalten lag.23 Siemsens vorhergehende Volksschulzeit war, wie August Siemsen berichtete, geprägt von „Hohenzollernlegende und [den] kriegerischen Ruhmestaten der Väter 18 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 17. 19 Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 50. 20 In den westfälischen Landstrichen hatten nach Oliver Janz in den 1880er Jahren 15 bis 20 Prozent der Pfarrtöchter eine Berufsausbildung zur Lehrerin durchlaufen. Der Prozentsatz stieg in ganz Preußen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts beständig an. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits 40 Prozent der Pfarrtöchter eine Ausbildung erhalten und arbeiteten als Volks- oder Mädchenschullehrerinnen oder auch als Lehrerin an höheren Schulen: Janz: Bürger besonderer Art, S. 480 f. 21 Karin Ehrich: Stationen der Mädchenschulreform. Ein Ländervergleich, in: Elke Kleinau und Claudia Opitz (Hg.): Geschichte der Frauen- und Mädchenbildung, Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Frankfurt und New York 1996, S. 129–148, hier S. 130. 22 Ebd., S. 129. 23 Schaser: Frauenbewegung, S. 25 f.

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vom Großen Kurfürsten bis zum neudeutschen Kaiserreich“.24 August Siemsen beschrieb damit Bildungsinhalte, die seine Schwester später in ihrer reformpädagogischen Arbeit kritisieren sollte: die „vaterländische Erziehung“ zur Herrschaftssicherung des wilhelminischen Staates. Seit etwa 1890 hatte sich zunehmend eine „obrigkeitliche Bildungspolitik“ durchgesetzt, die für die unteren Schulen „eine religiös durchtränkte nationale Bildung“ zur Folge hatte.25 Wohl wegen ihres eigenen Selbstverständnisses als Reformpädagogin kritisierte Siemsen in ihren Erinnerungen vor allem aber die Lehrer, die sich zunehmend „preußische[m] Drill“ und „Disziplin“ verschrieben hätten und deren „Zur-Schau-Stellen ihrer Leistungen vor immer häufiger inspizierenden Vorgesetzten, der Inbegriff der Erziehung“ gewesen sei. Besonders negativen Eindruck hatte „die Gestalt eines amtlichen Schulinspektors“ auf Siemsen gemacht, der in ihre Volksschulklasse gekommen war: „Dieser mit Schnurrbart, Kneifer, Nackenscheitel und schnarrender Korporalstimme versehene Herr drang in unsere friedliche und etwas schläfrige Schulstube, unterwarf uns einem Kreuzfeuer von Kommandofragen […] und trieb unseren guten und schon ältlichen Lehrer durch schnödestes Abkanzeln vor der Klasse in eine ausgesprochene Gemuetskrankheit.“26

Eine berufliche Ausbildung war für Mädchen zu Siemsens Schulzeit nicht vorgesehen. Dennoch ergriffen immer mehr junge Frauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Lehrerinnenberuf, der zunächst als einzige standesgemäße Tätigkeit für bürgerliche Frauen galt. Andere bürgerliche Berufe standen den Frauen auch kaum offen, da sie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von den entsprechenden Ausbildungswegen, die etwa über die Universitäten führten, ausgeschlossen gewesen waren. Die Debatten über eine verbesserte Mädchen- und Frauenbildung fanden statt, als in den 1860er Jahren durch Industrialisierung und Urbanisierung Veränderungen in den traditionellen Arbeits- und Lebensverhältnissen spürbar wurden. Die Mädchenbildung wurde Teil der sozialen Frage, wobei auch einsetzende liberale Reformen, etwa in den Bürgerrechten, die Debatten um eine verbesserte Ausbildung für Mädchen beförderten.27 Weite Teile des Bürgertums befürchteten den sozialen Abstieg der Töchter, sollte der erhoffte Ehemann ausbleiben. Aber auch die Ehe selbst, die im besten Fall eine lebenslange Versorgung ermöglichte, wurde zunehmend weniger als alleinige Perspektive betrachtet.28 Vor diesem Hintergrund sammelten sich erste Kritikerinnen der Mädchenbildung. Helene Lange (1848–1933), die zentrale Protagonistin der bürgerlichen Frauenbewegung, formulierte 1887 durch ihre Eingabe an das preußische Abgeordnetenhaus, in der sogenannten Gelben Broschüre, Kritik an den einseitigen Lehrinhalten der Mädchenschulen. Im Rückgriff auf das Konzept der „Geistigen 24 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 16. 25 Frank-Michael Kuhlmann: Schulen, Hochschulen, Lehrer, in: Christa Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, S. 179–313, hier S. 183. 26 Siemsen: Mein Leben, S. 12. 27 James C. Albisetti: Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2007, S. 115–118. 28 Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 32.

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Mütterlichkeit“ forderte sie eine den Jungen gleichwertige Ausbildung für Mädchen, durch die Frauen befähigt werden sollten, ihre vermeintlich naturgegebenen „mütterlichen“ Eigenschaften in Ergänzung zu den männlichen zum Wohle für Staat und Gesellschaft einzusetzen.29 In diesem Zusammenhang sollte auch die Lehrerinnenausbildung entsprechend reformiert werden, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Lehrerinnenseminaren erteilt wurde.30 Lange forderte für eine zu reformierende Mädchenbildung auch einen größeren Einfluss der Lehrerinnen, die bis dahin nur in Volksschulen oder in den unteren Klassen der höheren Mädchenschulen lehren durften und sowohl finanziell als auch sozial einen weitaus geringeren Status einnahmen als ihre männlichen Kollegen.31 Mit dieser Petition, die zunächst bei den preußischen Abgeordneten keine Beachtung fand, entfachte Lange aber eine breite öffentliche Debatte zum Thema Mädchenbildung, die bald zu einer größeren Aufgeschlossenheit weiter Bevölkerungskreise und schließlich zur Zulassung von Mädchen zum Abitur und zur langsamen Öffnung der Universitäten für Frauen führte.32 Als Siemsen Ostern 1905 mit 23 Jahren als Externe an einem Jungengymnasium in Hameln das Abitur ablegte, konnte sie daher bereits von den Errungenschaften der Frauenbewegung auf dem Gebiet der Mädchen- und Frauenbildung profitieren. 1889 war es Helene Lange in Berlin gelungen, mithilfe liberaler Kreise sogenannte Realkurse für Frauen einzurichten, die 1893 in Gymnasialkurse umgewandelt wurden. 1896 absolvierten mit dieser Vorbereitung erstmals sechs junge Frauen als Externe das Abitur an einem Jungengymnasium. Daraufhin folgten ähnliche Bestrebungen auch in anderen Städten.33 Der institutionelle Bildungs- und Ausbildungsweg blieb für Frauen trotz schrittweiser Erfolge steinig. Einige fortschrittliche Maßnahmen trugen provisorischen Charakter, andere waren zunächst lokal begrenzt. Bestimmungen wie etwa die Zulassung von Frauen an den Universitäten, die in der ersten Zeit auch vom Wohlwollen der einzelnen Professoren abhängig war, waren reichsweit nicht einheitlich geregelt. So ist es zu erklären, dass Siemsens Weg in die akademische Lehrerinnenlaufbahn alles andere als gradlinig verlief. 1.1.1 Erste Lehrtätigkeit und Studium Nach dem Besuch der höheren Töchterschule, die Siemsen allerdings wegen Krankheit nach drei Jahren wieder verließ,34 absolvierte sie zunächst nach privater Vorbereitung 1901 erfolgreich das Lehrerinnenexamen in Münster. Anschließend wid29 Ebd., S. 81–83 und Schaser: Frauenbewegung, S. 28 f. 30 Martina Nieswandt: Lehrerinnenseminare: Sonderweg zum Abitur oder Bestandteil höherer Mädchenbildung?, in: Kleinau und Opitz: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, S. 174–188, hier S. 175. 31 Schaser: Frauenbewegung, S. 28. 32 Ebd., S. 29–33. 33 Siehe dazu Kirsten Heinsohn: Der lange Weg zum Abitur: Gymnasialklassen als Selbsthilfeprojekte der Frauenbewegung, in: Kleinau und Opitz: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, S. 149–160. 34 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 16.

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mete sie sich der „Erkundung ihrer neuen Umwelt“ in Osnabrück, wohin die Familie aufgrund der Versetzung des Vaters im selben Jahr gezogen war.35 Erst 1903 entschied sich Siemsen „zur wirtschaftlichen Entlastung“ ihres Vaters eine Stelle an einer Privatschule in Wehrendorf, ebenfalls im preußischen Westfalen, anzutreten. Dort lehrte sie in einem konservativen Pfarrhaus, in dem ihr eigenes Zimmer zugleich als Unterrichtsraum herhalten musste.36 Unter diesen Arbeitsbedingungen hielt es Siemsen nur bis Ostern 1904 aus. Vermutlich entschied sie sich aufgrund dieser Erfahrungen zu einer Weiterqualifikation, die ihr andere Berufsaussichten ermöglichte: Siemsen wollte das Abitur machen und studieren. Nach einem Jahr Pause von der Lehrtätigkeit, in der sie sich auf das Abitur vorbereitete und dieses dann Ostern 1905 ablegte, begann sie im Sommersemester 1905 ein Studium der Germanistik, Philosophie und der Alten Sprachen zunächst in München, wohin sie auf Wunsch des Vaters vom Bruder August Siemsen begleitet wurde.37 Im Sommersemester 1906 wechselte sie nach Münster und im Wintersemester 1906/1907 nach Bonn. Im Mai 1909 wurde Siemsen dort mit einer Arbeit über die Verstechnik des mittelalterlichen Dichters Hartmann von Aue bei dem Germanisten Wilhelm Wilmanns (1842–1911) promoviert und erhielt die Note cum laude.38 Siemsen berichtete, es sei Wilmanns gewesen, der sie zur Promotion ermuntert habe.39 Er hinterließ einen nachhaltigen Eindruck auf sie. Und dies nicht nur durch seine Persönlichkeit, sondern auch durch seine wissenschaftlichen Forschungen, auf die Siemsen in ihren literarischen Europa-Konzepten zurückgreifen sollte. In ihren Erinnerungen würdigte sie ihren Doktorvater, „der mit blitzenden Augen vom Kampf der Göttinger Sieben gegen den verfassungsbruechigen König von Hannover erzählte“, als Persönlichkeit, die noch in der Tradition „der alten und freien Ueberlieferung“ gestanden habe. Er sei „nicht Wissenschaftsbeamter, sondern Forscher mit persönlichem Verantwortungsgefuehl“ gewesen. Trotz „Verstaatlichung der Wissenschaften und Entmenschlichung des Individuums“, die im Kaiserreich „voll entfaltet“ worden seien, habe Wilmanns noch zu jener kleinen Gruppe Gelehrter ihrer Studienzeit gehört, die Siemsen als „ein dem Untergang geweihtes Geschlecht“ bezeichnete.40 Wilmanns war 1877 als Ordinarius von Greifswald nach Bonn berufen worden und widmete sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit vornehmlich der mittelalterlichen deutschen Literatur und der Vereinheitlichung der deutschen Grammatik. Er soll sich großer Beliebtheit unter den Studentinnen und Studenten erfreut haben, weil er humorvoll gewesen und ihnen mit einer „Mischung von Strenge und Güte“

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Jungbluth: Anna Siemsen, S. 52. Ebd., S. 52 f. August Siemsen: Anna Siemsen, S. 24. Rothe: Anna Siemsen, S. 153. ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 26674, Bl. 9: Von Siemsen verfasster handschriftlicher „Bildungsgang“, o. O. und o. J. 40 Siemsen: Mein Leben, S. 14.

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begegnet sei.41 Zwei seiner Schwerpunkte lagen auf der mittelalterlichen Heldendichtung wie dem Nibelungenlied und der mittelalterlichen Lyrik von Walther von der Vogelweide.42 Wilmanns Ansicht, fremde Einflüsse seien für die Entstehung einer deutschen Literatur im Mittelalter konstitutiv gewesen sowie die Annahme, Literatur gebe Aufschluss über die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie entstanden sei,43 waren zwei wesentliche Aspekte, die Siemsen in ihrer Auseinandersetzung mit europäischer Literatur fortführen sollte. Schon vor seiner universitären Laufbahn hatte sich Wilmanns mit einer enormen Anzahl an Rezensionen zu Fachpublikationen hervorgetan.44 Möglicherweise übernahm Siemsen, die insbesondere während ihrer Exilzeit ebenfalls unzählige Rezensionen verfasste,45 die Vorliebe für diese Textgattung von Wilmanns. Ein knappes Jahr nach ihrer Promotion im Mai 1909 bei Wilhelm Wilmanns bestand Siemsen im Februar des Jahres 1910 auch die Staatsexamensprüfung mit einer Arbeit über Herders Auffassung des Spinozistischen Pantheismus. Sie schloss die Prüfung „mit Auszeichnung“ ab und erhielt die Lehrerlaubnis für die höheren Schulen.46 Siemsen hatte ursprünglich vor, ihre Prüfung schneller abzulegen, wurde aber von ihrem Arzt im heimatlichen Osnabrück im August 1909 wegen ‚Blutarmut‘ nach Bad Pyrmont zur Kur geschickt. Siemsen bat daraufhin den Prüfungsausschuss im September um zwei Monate Aufschub für ihre Prüfungen.47 Kurz nach ihrer Staatsexamensprüfung trat Siemsen Ostern 1910 eine Stelle als Lehrerin an einem Lehrerinnenseminar in Detmold an. Diese Stellung gab sie aber bereits ein Jahr später, Ostern 1911, wieder auf, um sich für eine Ergänzungsprüfung im Fach Religion an der Universität Göttingen vorzubereiten. Nach einem Jahr Vorbereitungszeit bestand sie die Prüfung im Juli 1912 mit dem „Prädikat Gut“.48 Damit hatte Siemsen ihre akademische Ausbildung beendet. Bereits vor ihrer Prüfung im Juli hatte sie Ostern 1912 eine neue Stelle angetreten. Siemsen war 41 Ein Kapitel über Wilhelm Wilmanns und seine wissenschaftliche Arbeit ist abgedruckt bei: Jens Haustein (Hg.): Karl Stackmann. Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I, Göttingen 1997, S. 381–399, Zitat S. 397. 42 Ebd., S. 391 f. 43 Ebd., S. 396. 44 Ebd., S. 384. 45 Siemsen schrieb in den 1930er und 1940er Jahren eine Fülle an Rezensionen insbesondere für die Zeitschrift Bildungsarbeit. Mitteilungsblatt der Schweizerischen Arbeiterbildungszentrale und hinterließ noch eine Vielzahl an maschinenschriftlich abgefassten Rezensionen, die in ihrem Teilnachlass im SozArch liegen: SozArch, Ar 142.30.3. (Manuskripte: Schweizerische Arbeiterbildungszentrale, Bern (SABZ)). Die rund 40 veröffentlichten Rezensionen in der Zeitschrift Bildungsarbeit hat Alexandra Bauer in ihrer Biobibliographie über Siemsen aufgelistet: Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 311–313. 46 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 26674, Bl. 8: Abschrift des Prüfungszeugnisses der Königlichen Wissenschaftlichen Prüfungs-Komission [sic], Bonn vom 5. Februar 1910. Siehe auch: Rothe: Anna Siemsen, S. 153. 47 Rothe: Anna Siemsen, S. 153. 48 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 26674, Bl. 7: Abschrift des Zeugnisses der Königlichen Wissenschaftlichen Prüfungskommision [sic] zu Göttingen vom 11. Juli 1912.

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30 Jahre alt und unterrichtete nun in Bremen an einem privat geführten Oberlyzeum als Oberlehrerin. Auffällig sind bis zu dieser Zeit die häufigen Unterbrechungen von Siemsens Lehrtätigkeit von einem Jahr und mehr, in denen sie meistens für Zusatzqualifikationen lernte. Offenbar erklärte sich die Familie bereit, Siemsens Ausbildungspläne finanziell zu unterstützen, da sie in diesen Zeiten wie auch während des Studiums nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen konnte. Nachdem aber 1910 der Vater gestorben war, waren der finanziellen Belastbarkeit der Mutter wohl Grenzen gesetzt, so dass Siemsen möglicherweise aus diesem Grund noch vor dem Ablegen ihrer Zusatzprüfung in Religion eine Anstellung angenommen hatte. Vielleicht holte Siemsen ebenfalls aus diesem Grund ihre Mutter zu sich nach Bremen und lebte fortan die meiste Zeit bis zum Tod der Mutter im Jahr 1931 mit ihr zusammen. Siemsens Studienzeit und ihre Tätigkeit als Lehrerin waren von häufigen Ortsund Stellenwechseln geprägt. Es liegen keine Quellen vor, die über die genauen Gründe Auskunft geben könnten. Wie bereits vermutet, war Siemsen wohl mit ihren Arbeitsstellen häufig unzufrieden und gab deshalb ihre Anstellungen auf. Ihr Studienbeginn in München 1905 lässt sich darauf zurückführen, dass zu dieser Zeit neben Baden und Württemberg nur das Königreich Bayern Frauen die ordentliche Immatrikulation an der Universität ermöglichte.49 Unter Umständen wollte Siemsen in die Nähe ihrer Familie zurück und wechselte deshalb 1906 an die preußischen Universitäten nach Münster und Bonn. In Bonn fand Siemsen familiären Anschluss bei ihrer „Lieblingstante Henni“, die die Schwester ihrer Mutter war.50 An der Universität in Bonn verringerte sich jedoch ihr Status. Sie konnte hier nur als Gasthörerin an den Vorlesungen teilnehmen. Siemsen gehörte damit zu den insgesamt 164 Frauen, die im Wintersemester 1906/1907 als Gasthörerinnen zugelassen worden waren.51 Als Preußen im Wintersemester 1908/1909 als vorletztes Land im Deutschen Reich Frauen als ordentlich Immatrikulierte zuließ,52 nutzte Siemsen diese Möglichkeit und schrieb sich im Oktober 1908 sogleich im Fach Germanistik ein.53 Siemsens Studienverlauf zeigt, wie schwer es für Frauen aufgrund rechtlicher und formaler Bestimmungen war, um 1900 einen gradlinigen akademischen Ausbildungsweg zu absolvieren. Siemsen selbst hat davon nicht berichtet, doch wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in ihrem Studienalltag auf große Widerstände gestoßen sein. Die geschlechtsspezifischen Vorurteile gegen studierende Frauen waren groß. Viele Frauen, die als Gasthörerinnen oder ordentlich Immatrikulierte um 1900 endlich die heiligen Hallen betreten durften, mussten erleben, dass sie dort eigentlich nicht gewollt waren. Nur wenige Professoren wie etwa Wil49 Ilse Costas: Von der Gasthörerin zur voll immatrikulierten Studentin: Die Zulassung von Frauen in den deutschen Bundesstaaten 1900–1909, in: Trude Maurer (Hg.): Der Weg an die Universität. Höhere Frauenstudien vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 191–210, hier S. 207. 50 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 27. Siehe auch Rothe: Anna Siemsen S. 152. 51 Rothe: Anna Siemsen, S. 152. 52 Das Schlusslicht bildete Mecklenburg-Schwerin 1909. Costas: Von der Gasthörerin, S. 209. 53 Rothe: Anna Siemsen, S. 152.

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manns begrüßten oder besser: duldeten Frauen in ihren Lehrveranstaltungen. Die Vorurteile der männlichen Studenten- und Professorenschaft bezogen sich allesamt auf den vermeintlichen Geschlechtscharakter der Frauen, durch den die Frau auf den häuslichen Bereich und in die Mutterschaft verwiesen wurde. Die herrschenden geschlechtsspezifischen Stereotype wurden in diesen Kreisen genutzt, um Frauen die Studierfähigkeit abzusprechen, eine Senkung des wissenschaftlichen Niveaus zu prognostizieren oder gar eine Gefahr für die gesamte Gesellschaft durch Vernachlässigung der Mutterschaft aufgrund wissenschaftlicher Studien zu formulieren. Man befürchtete nicht nur politischen Radikalismus bei Frauen, die studierten, sondern auch, dass die Anwesenheit von Frauen an den Universitäten dort zu „sexueller Freizügigkeit“ führen könnte.54 Bei allen Argumenten, die hier wie auch allgemein bei Gegnern einer höheren Frauenbildung angeführt wurden, ging es um die Angst, tradierte männliche Vorrechte zu verlieren und um die Angst, das eigene berufliche Feld könne einen Prestigeverlust durch den Eintritt von Frauen erleiden.55 Siemsen hat sich im Rückblick vor allem über die Bildungsziele der damaligen Universitäten, speziell der Geisteswissenschaften, vernichtend geäußert. „Spezialistentum“ und „Detailistenweisheit“ seien „der Karriere zuliebe“ gefördert und dagegen „Weisheit […] aus eigener Beobachtung“ und aus eigenem Quellenstudium vernachlässigt worden.56 Trotz dieser nachträglichen Bewertung macht Siemsens beruflicher Werdegang und ihr Ausbildungsweg deutlich, dass sie offenbar über einen ausgeprägten Wunsch nach Weiterbildung und Weiterqualifikation verfügte, den sie trotz längerer Krankheitsphasen realisieren konnte. Krankheitsphasen kennzeichneten auch ihren zukünftigen Lebensweg. Welche Ursachen dafür verantwortlich zu machen sind, ist aus den Quellen nicht direkt zu entnehmen. Für Siemsens spätere Lebensjahre während der Weimarer Republik liegt aber die Vermutung nahe, dass sie durch ihr hohes Arbeitspensum, das zeitweilige Ausfüllen zweier Posten zugleich und schließlich durch berufliche Probleme mit starker psychischer und physischer Überbelastung zu kämpfen hatte.57 Das Betreten traditionell männlich dominierten Terrains, das Siemsen als in Ministerien tätige Beamtin und Lehrende an einer Universität dann auch in der Weimarer Republik fortführte, sollte zu Widerständen und Konkurrenzkämpfen führen. Während Siemsen in den Weimarer Jahren ihre Haltungen mit Kompromisslosigkeit vertrat und einen unbedingten Glauben an die Richtigkeit und Durchsetzbarkeit ihrer Ansichten gewonnen hatte, der ihr manches Mal auch Konflikte einbrachte, schien sie diese Probleme bei ihren ersten Anstellungen nicht gehabt zu 54 Ausführlich zu den Gegnern der höheren Mädchenbildung und ihrer Argumente siehe Albisetti: Mädchen- und Frauenbildung, S. 200–226. Zitat auf S. 221. 55 Ebd., S. 201. 56 Siemsen: Mein Leben, S. 14. 57 Diese Vermutung wird durch Siemsens eigene Aussage gestützt, die erklärte, sie hätte seit 1925 unter „Erschöpfungszustände[n], heftige[r] Migräne, Schwindelanfälle[n], funktionelle[r] Taubheit“ zu leiden: ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 26674, Bl. 209: Siemsen an das Thüringische Volksbildungsministerium in Weimar, Chexbres vom 24. April 1934.

1.1 Ausbildungswege

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haben. Siemsen, die zu diesem Zeitpunkt noch keine führenden Positionen besetzte und in keiner Konkurrenzsituation stand, erhielt stets sehr gute Zeugnisse von ihren Vorgesetzten. Sie wurde etwa als „tüchtige und pflichttreue Lehrerin“58 bezeichnet, die „[m]it ihrem ausgesprochenen pädagogischen Takt, ihrem gleich freundlichen wie bestimmten Wesen […] vortrefflichen Einfluss auf die ihr anvertrauten Schülerinnen“ ausgeübt habe.59 1.1.2 Erste Kritik am Bildungssystem Der Lehrerinnenberuf war für Siemsen mehr als ein bloßer Broterwerb. Erst durch ihre Tätigkeit als Lehrerin habe „das Bewusstsein fuer die Zusammenhänge des gesellschaftlichen Daseins“ eingesetzt. Siemsen charakterisierte sich selbst rückblickend als „Philologin […] mit Freude an der Erkenntnis u[n]d mit einem schuechternen Gefuehl von Verantwortung gegenueber den Kindern, die mir anvertraut wurden“. Doch allmählich habe sich „die verwirrende Gewissheit“ eingestellt, „dass unsere Arbeit den Kindern keine rechte Bildung fuers Leben gab“. Siemsens Kritik galt zunächst den Bildungs- und Unterrichtsinhalten, mit der sie jedoch bei ihren „Kollegen“ und „Vorgesetzten“ auf Unverständnis gestoßen sei.60 Siemsen hatte Ideen zur Lehrplanänderung des Deutschunterrichtes entworfen, mit denen sie sich bald an eine breitere Öffentlichkeit wandte. In der Zeitschrift Frauenbildung, in der „die gesamten Interessen des weiblichen Unterrichtswesens“ vertreten werden sollten, veröffentlichte sie 1911 und 1914 jeweils einen Artikel, in denen sie sich mit dem Thema Literaturgeschichte und mit seiner bisherigen Vermittlung kritisch auseinandersetzte.61 Mit diesen beiden Artikeln begann nicht nur Siemsens publizistische Tätigkeit.62 Sie formulierte hier bereits gedankliche Schwerpunkte, die für ihre spätere Auseinandersetzung mit Literatur einen wichtigen Stellenwert einnehmen sollten. Für ihre Forderung, die „nachklassische Literatur“ im Unterricht stärker zu behandeln, betonte Siemsen, gerade „das moderne Drama“ zeige „eine solch gewaltige Entwicklung, ja Umwälzung“, dass es „ein abschließendes Bild der historischen Entwicklung“ gebe und daher auch eine Beziehung „zu den heute lebendigen Ideen“ gezogen werden könne.63 Die „Volksepen“, „Schillers philosophische Schriften“ oder „Romantik und Klassizismus in der Lyrik des 19. Jahrhunderts“ 58 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 26674, Bl. 5: Abschrift des Zeugnisses über Siemsens Lehrtätigkeit in Wehrendorf, Minden vom 21. März 1910. 59 Ebd., Bl. 4: Abschrift des Zeugnisses über Siemsens Tätigkeit an der Kippenbergschen Privatschule in Bremen, Bremen vom 9. März 1917. 60 Siemsen: Mein Leben, S. 16. 61 Anna Siemsen: Das nachklassische Drama im deutschen Unterricht der Lyzeen und Studienanstalten, in: Frauenbildung. Zeitschrift für die gesamten Interessen des weiblichen Unterrichtswesens 10 (1911), S. 415–422 und Anna Siemsen: Das Deutsche in den wissenschaftlichen Übungen des S-Jahres, in: Frauenbildung 13 (1914), S. 488–492. 62 Vgl. Jungbluth: Anna Siemsen, S. 58. 63 Siemsen: Das nachklassische Drama, S. 417.

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waren für Siemsen „Kristallisationsstellen […] für unendlich weit- und tiefreichende geistige Strömungen“, so dass sie sich mehr „Zeit zum wirklichen Vertiefen und Verweilen“ in ihrem Unterricht wünschte.64 Siemsen ging es in ihrem Unterricht daher nicht allein um Wissensvermittlung, sondern darum, „Schülerinnen den Übergang in das moderne Leben“ aufzuzeigen.65 Sie wollte ihre Schülerinnen zum „selbständigen Verstehen“ befähigen, damit sie in der Lage seien, sich über die Schule hinaus, „mit brennenden, sittlichen Fragen auseinanderzusetzen“.66 Die Beschäftigung mit Literatur „auf dem Wege selbständiger Forschung“ statt „streng wissenschaftliche[r] Methode“ konnte nach Siemsen nicht nur für die weitere universitäre Ausbildung von Vorteil sein, sondern auch für das gesamte Leben.67 Siemsen hatte bereits zu dieser Zeit die Idee entwickelt, über Literatur könnten in besonderem Maße allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen nachempfunden werden, die zu einem vertieften Verständnis der zeitgenössischen Gegenwart beitragen würden. Auch die wechselseitige Beeinflussung der europäischen Literatur, die später für Siemsens Europa-Konzepte zentral werden sollte, wurde hier bereits zum Thema gemacht: Siemsen forderte nämlich auch eine stärke Behandlung nichtdeutscher Schriftsteller wie beispielsweise Ibsen, da „[g]erade der deutsche Naturalismus […] stark vom Ausland beeinflusst“ gewesen sei.68 Mit diesen Ansichten beteiligte sich Siemsen an den Diskussionen um neue pädagogische und bildungstheoretische Ansätze, die in reformpädagogischen Kreisen debattiert wurden. Die reformpädagogische Bewegung hatte wie auch andere soziale Bewegungen, etwa die Frauenbewegung oder die Jugendbewegung, Ende des 19. Jahrhunderts gesellschaftlich und politisch erheblich an Einfluss gewonnen. Diese Bewegungen reagierten auf soziale und gesellschaftliche Veränderungen und Ungleichheiten, denen sie mit Reformarbeit zu begegnen suchten. Es bestanden auch personelle Verbindungen zwischen den einzelnen Bewegungen.69 Kernpunkt der Erziehungs- und Bildungsdebatten war die schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in intellektuellen Kreisen formulierte Kritik an der bestehenden Bildung, die sich durch eine zunehmende Verwissenschaftlichung, „Leere und Lebensfremdheit“ auszeichne.70 Reformpädagogische Anregungen kamen auch aus dem Ausland. Das „Konzept einer kindgemäßen ganzheitlichen Pädagogik“ der italieni-

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Siemsen: Das Deutsche in den wissenschaftlichen Übungen, S. 490. Siemsen: Das nachklassische Drama, S. 417. Ebd., S. 421. Siemsen: Das Deutsche in den wissenschaftlichen Übungen, S. 491. Siemsen: Das nachklassische Drama, S. 421. Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt: Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933) – zur Einführung, in: dies.: Handbuch der Reformpädagogik, S. 9–35, hier S. 12 und 27. Siehe auch Wolfgang Scheibe: Die reformpädagogische Bewegung 1900–1932. Eine einführende Darstellung (Pädagogische Bibliothek Beltz, Bd. 9), 10. erweiterte und neu ausgestattete Aufl. Weinheim und Basel 1994, S. 25. 70 Scheibe: Die reformpädagogische Bewegung, S. 23. Scheibe nennt als herausragende erste Kritiker der Bildung Paul de Lagarde (1827–1891), Julius Langbehn (1851–1907) und Friedrich Nietzsche (1844–1900). Siehe ausführlich dazu ebd., S. 6–23.

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schen Ärztin Maria Montessori (1870–1952) gehörte etwa dazu.71 Auch Ellen Key (1849–1926) wurde durch ihr 1902 in Deutschland erschienenes Buch Das Jahrhundert des Kindes in weiten Bevölkerungskreisen populär. Die schwedische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin plädierte darin für Erziehungs- und Schulreformen, die das Kind „als Ausgangs- und Beziehungspunkt aller Bildung und Erziehung“ betrachten müsse. Der Ansatz, pädagogische Reformen vom Kind aus zu entwickeln, blieb bei aller Vielfältigkeit der reformpädagogischen Bewegung in der Folgezeit ihr „Charakteristikum“.72 Siemsen nahm in ihren Ideen für eine Reform des Deutschunterrichtes die tradierten Kritikpunkte der Verwissenschaftlichung und Lebensfremdheit in der bestehenden Bildung auf. Ihre Ideen entsprachen den Forderungen, die in den Debatten um eine Reform der Mädchen- und Frauenbildung erörtert wurden. Es fanden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts etliche Gründungen von Zeitschriften statt, die sich insbesondere diesem Gebiet widmeten. Die 1902 erstmals erschienene Publikation Frauenbildung, in der Siemsen veröffentlichte, reihte sich hier ein.73 In der Zeitschrift wurde der Anspruch vertreten, allen Fragen, die sich mit einer verbesserten und den Jungen gleichwertigen Ausbildung von Mädchen stellten, Raum zu geben. Dabei sollte die Annahme, die „[e]thische und wirtschaftliche Selbständigkeit“ der Frauen könne dem „Kulturleben neue große und fruchtbare Werte“ bringen, richtungweisend sein.74 Siemsen entsprach mit ihren Forderungen, die auf eine erweiterte Persönlichkeitsbildung und eine Schulung für gesellschaftliche Belange zielten, auch den Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich seit den ersten Vereinsbildungen in den 1860er Jahren zunächst als „Frauenbildungsbewegung“ verstand.75 Helene Lange engagierte sich unter eben diesen Prämissen für eine Reform der Mädchen- und Frauenbildung, die ihr schließlich die entscheidenden politischen Impulse verdankte.76 In den Jahren kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges hätte Siemsens Weg daher in die Reihen der bürgerlichen Frauenbewegung führen können. Sie entsprach genau dem Profil der größten Gruppe innerhalb dieser Bewegung, die aus ledigen Lehrerinnen bestand. Diese entstammten wie Siemsen überwiegend dem protestantischen Bürgertum und hatten durch ihren Ausbildungsweg und durch ihre Lebensweise die ihnen gesellschaftlich zugeschriebene Rolle gesprengt.77 Siemsen hätte sich zu diesem Zeitpunkt deshalb auch den linksliberalen Parteien anschließen können. Der Liberalismus, der als eine dominierende politische Strömung im 19. Jahrhundert vor allem vom Bildungsbürgertum getragen wurde, 71 72 73 74

Keim und Schwerdt: Einführung, S. 24. Scheibe: Die reformpädagogische Bewegung, S. 51 f. Schaser: Helene Lange und Getrud Bäumer S. 34 f. Siehe hier bes. FN 21. Jakob Wychgram: Zur Reform des höheren Mädchenschulwesens I. Zur Eröffnung der Zeitschrift „Frauenbildung“ 1902, in: ders.: Vorträge und Aufsätze zum Mädchenschulwesen, Leipzig 1907, S. 106–113, hier S. 108 f. 75 Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 34. Hervorhebung im Original. 76 Ebd., S. 60 f. 77 Ebd., S. 33 und 35.

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strebte eine „gerechte, klassenübergreifende Bürgergesellschaft“78 an, in der politische und gesellschaftliche Partizipationschancen sowie Bildungsmöglichkeiten für jeden gewährleistet sein sollten.79 Diese Ideen bezogen sich aber vor allem auf den männlichen Bürger. Bürgerliche Frauen, die im 19. Jahrhundert für mehr Rechte, Bildung und Berufstätigkeit eintraten, taten dies vor dem Hintergrund „liberale[r] Wert- und Zielvorstellungen“, die sie nun auch für sich einforderten.80 Nachdem Frauen im Kaiserreich offiziell die politische Betätigung und der Eintritt in Parteien per Gesetz verboten waren, stand ihnen 1908 mit dem neuen Reichsvereinsgesetz dieser Weg nun offen. Viele Aktivistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung unterstützten etwa die politischen Ideen des liberalen Politikers Friedrich Naumann (1860–1919) und schlossen sich seinem Nationalsozialen Verein an, wie etwa Helene Lange und Gertrud Bäumer (1873–1954).81 Mit dem Ziel, das Nationalbewusstsein aller Bevölkerungsgruppen und damit die „Volkseinheit“ zu stärken, forderte er „sozialpolitische Maßnahmen“, mit denen die Milieugrenzen, die sozialen und konfessionellen Spaltungen der wilhelminischen Gesellschaft überwunden werden sollten. Nachdem Frauen 1908 der Eintritt in Parteien offiziell erlaubt worden war, zeigte er sich grundsätzlich offen für die Bestrebungen der Frauenbewegung, die er als politischen Faktor schließlich wahrnahm.82 Ob Siemsen mit Beitrittsgedanken spielte oder tatsächlich einer Lehrerinnenorganisation angehörte, ist nicht überliefert. Während des Ersten Weltkrieges kam Siemsen mit anderen Kreisen in Berührung: mit der Friedensbewegung und dem sogenannten literarischen Aktivismus. 1.2 DER ERSTE WELTKRIEG Über Siemsens Haltung zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges berichtete der Bruder August Siemsen nur, dass sie ebenso wie ihre Geschwister nicht in „den allgemeinen Hurrapatriotismus“ eingestimmt, aber zunächst auch „den ‚großen Betrug‘ des Krieges nicht durchschaut“ habe. Es seien „[d]ie Lügenpropaganda“ und „die Schamlosigkeit des Kriegsgewinnlertums“ gewesen, die Siemsen „schließlich zu 78 Angelika Schaser und Stefanie Schüler-Springorum: Einleitung. Liberalismus und Emanzipation. In- und Exklusionsprozesse im deutschen Liberalismus, in: dies. (Hg.): Liberalismus und Emanzipation im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus/Wissenschaftliche Reihe, Bd. 10), Stuttgart 2010, S. 9–22, hier S. 11. 79 Dieter Langewiesche: Liberalismus und Marxismus in Deutschland. Gegensätze und Gemeinsamkeiten in historischer Perspektive, in: Friedrich Lenger (Hg.): Dieter Langewiesche. Liberalismus und Sozialismus. Ausgewählte Beiträge (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 61), Bonn 2003, S. 232–245, hier S. 234. Siehe zum Liberalismus auch Dieter Langewiesche: Liberalismus und Bürgertum in Europa, in: Jürgen Kocka (Hg.) unter Mitarbeit von Ute Frevert: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3, München 1988, S. 360–394. 80 Schaser und Schüler-Springorum: Einleitung, S. 17. 81 Grundlegend dazu: Angelika Schaser: Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien (1908–1933), in: HZ 263 (1996), Heft 3, S. 641–680. 82 Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 131–132, Zitat auf S. 131.

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entschiedener Kriegsgegnerschaft“ geführt hätten.83 Unter dem Eindruck der „Ungerechtigkeit der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ sei „aus der gefühlsmäßigen Sozialistin […] durch Lektüre der grundlegenden sozialistischen Literatur die geschulte, wissende Sozialistin“ geworden.84 In dieser von August Siemsen geschilderten kohärenten Erzählung von Siemsens Politisierungsprozess, an dessen Ende das Eintreten für den Sozialismus stand, finden die Zwischenstufen, die die Entwicklung von Siemsens politischen Ordnungsvorstellungen seit Beginn des Krieges beeinflussten, keine ausführlichere Erwähnung. Welche Gründe oder Ereignisse genau dazu beitrugen, dass Siemsen zur Pazifistin und Sozialistin wurde, kann nur annäherungsweise rekonstruiert werden. Es waren verschiedene Aspekte und Einflüsse, die diese politische Entwicklung hervorriefen oder begünstigten. Mit Sicherheit war Siemsens Kritik an den Bildungs- und Lehrinhalten, die sie schon vor dem Krieg vertreten hatte, ein Fundament für weitergehende Kritikpunkte an Staat und Gesellschaft. Siemsens Kontakte zu expressionistischen Literaturzirkeln, die den sogenannten literarischen Aktivismus vertraten, führten schließlich zu einer oppositionellen Haltung zu den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Vor allem aber bestimmte der Eintritt in die Friedensbewegung Siemsens Politisierung während des Krieges. Siemsen schloss sich in der Darstellung ihres Bruders offenbar nicht jenen Gebildeten und Intellektuellen an, die von der „Mobilisierungseuphorie“85 im August 1914 mitgerissen worden waren. Die Forschung hat darauf aufmerksam gemacht, dass es auf die Mobilisierung und den Beginn des Krieges innerhalb der deutschen Bevölkerung unterschiedliche Reaktionen je nach regionaler und sozialer Herkunft gegeben hat. Begeisterung riefen die Ereignisse keinesfalls überall hervor. Die Mobilisierungseuphorie war vor allem ein Phänomen innerhalb „städtischer Bildungs­ eliten“86, die ihre eigene Haltung als „ein idealisiertes August-Erlebnis“ beschworen, unter dessen Eindruck sich ausnahmslos alle Deutschen unter dem Banner einer neuen nationalen Einheit zusammengefunden hätten.87 Die deutsche Kultur war dabei die Klammer, die in der Wahrnehmung der gebildeten Zeitgenossen die Einheit der deutschen Nation gewährleisten konnte. Die deutsche Kultur war im Kaiserreich das vorherrschende kollektive Deutungsmuster, das das Selbstverständnis der bürgerlichen Eliten maßgeblich geprägt hatte. Unter deutscher Kultur wurden nicht nur besondere wissenschaftliche, künstlerische und literarische Leistungen oder ein neuhumanistisches Bildungsideal verstanden, sondern auch als spezifisch

83 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 31 f. 84 Ebd., S. 32 f. 85 Bruendel: Die Geburt der „Volksgemeinschaft“, S. 5. Bruendel hält diesen Begriff für „präziser“ als den „gemeinhin gebrauchte[n] Terminus der ‚Kriegsbegeisterung‘“. Die nationale Gemeinschaft wurde nicht erst mit Kriegsbeginn, sondern bereits vorher mit der Mobilmachung beschworen. Ebd., S. 4 f. 86 Jens Wietschorke: Der Weltkrieg als „soziale Arbeitsgemeinschaft“. Eine Innenansicht bildungsbürgerlicher Kriegsdeutungen 1914–1918, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 225–251, hier S. 226. 87 Bruendel: Die Geburt der „Volksgemeinschaft“, S. 4 f., bes. S. 4.

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deutsch definierte Werte und Tugenden wie Ordnung, Fleiß und Disziplin.88 Es herrschte die Annahme von einem besonderen deutschen Nationalcharakter vor, dem eine Höherwertigkeit gegenüber anderen Nationen zugesprochen wurde. Das „Selbstbild“ weiter Teile der Bildungseliten definierte sich dabei über „die Einheit von deutschem Volk, deutscher Kultur und deutschem Militarismus“.89 Es waren vor allem die Intellektuellen, die den Ersten Weltkrieg vornehmlich als kulturellen Verteidigungskrieg wahrnahmen, der die künftige kulturelle Gestalt Europas grundlegend verändern werde.90 Die deutsche Kultur sollte gegenüber der westeuropäischen Zivilisation verteidigt werden, die sich in Frankreich und England manifestiert habe.91 Diese Annahmen bündelten sich in den „Ideen von 1914“, die von den Bildungseliten als Gegenmodell zu den „Ideen von 1789“ der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit konzipiert wurden. 1789, das Jahr der Französischen Revolution, wurde als Ausgangspunkt für die napoleonischen Eroberungskriege und den Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation betrachtet und damit auch als Ausgangspunkt für „den negativen französischen Einfluß auf die deutsche Geschichte“. Mit der Französischen Revolution hätten „Individualismus, Kapitalismus und Materialismus“ Einzug in die westlichen Gesellschaften gehalten; negative Werte, die durch den Einfluss der deutschen Kultur überwunden werden sollten.92 Auch Siemsen setzte sich in ihren Aufsätzen während der Kriegszeit mit der deutschen Kultur intensiv auseinander, sollte aber, wie noch zu zeigen ist, ein anderes Konzept der deutschen Kultur entwerfen. Siemsen selbst hat in ihren Erinnerungen nicht direkt über den Kriegsbeginn oder über ihre eigene Haltung dazu berichtet. Stattdessen wertete sie rückblickend in ihren Erinnerungen den Umzug von Bremen nach Düsseldorf als Wendepunkt ihres politischen Lebens. Am 1. April 1915 hatte sie erneut ihre Arbeitsstelle gewechselt, weil sie eine Anstellung als Oberlehrerin an der Luisenschule, einem städtischen Oberlyzeum in Düsseldorf, erhalten hatte.93 In Düsseldorf sollte Siemsen nun mit einigen Unterbrechungen bis 1923 bleiben. Siemsen erklärte rückblickend die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die sie in Düsseldorf vorfand, zu ihrem politischen Erweckungserlebnis. Hier habe sie erkannt, „dass der Kampf gegen das Regime, das uns in den Krieg und in die Katastrophe geführt […] von jetzt ab mein Schicksal sei“.94 Siemsen behauptete, nirgendwo sonst in Deutschland hätten sich „die sozialen Schichtungen, die wirtschaftlichen Spannungen, 88 Bollenbeck: Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007, S. 14 und Chickering: Das Deutsche Reich, S. 163 f. 89 Steffen Bruendel: Volkgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, S. 72. 90 Wolfgang J. Mommsen: Einleitung: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg, S. 1–15 und Helmut Fries: Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, in: Michalka: Der Erste Weltkrieg, S. 825–848. 91 Mommsen: Einleitung: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg, S. 1 f. Siehe auch Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 133. 92 Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 81. 93 Ausführlich zu Siemsens Stellenwechsel nach Düsseldorf: Jungbluth: Anna Siemsen, S. 71. 94 Siemsen: Mein Leben, S. 17. Das Zitat auch bei Jungbluth: Anna Siemsen, S. 81.

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Kriegsnot und Kriegspsychose samt den politischen Gegensätzen“ so scharf entwickelt wie hier „im Industriegebiet hinter der Westfront“. In Düsseldorf hätten sich für sie am Beispiel der „kriegsbejahenden Schwerindustrie“, der höheren preußischen Beamtenschaft und der überwiegend kriegsgegnerischen sozialdemokratischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung „die Gruende des Konflikts, der Deutschland zerriss“, besonders einprägsam hervorgehoben.95 In Siemsens Veröffentlichungen während der Kriegszeit wurden diese Aspekte nicht erwähnt. Hier stehen vor allem die Wert- und Normvorstellungen der deutschen Gesellschaft im Mittelpunkt. Eine Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen in wirtschaftlicher oder politischer Hinsicht oder gar eine Reflexion über die Kriegsursachen fand in ihren Publikationen jener Zeit nicht statt. Es ist davon auszugehen, dass sich Siemsens Haltungen dazu im Verlauf ihres Politisierungsprozesses während des Krieges langsam entwickelten. Diese nachträgliche Darstellung der politischen und sozialen Verhältnisse in Düsseldorf in ihren Lebenserinnerungen steht im Zusammenhang mit ihrer Intention, die politische Entwicklung Deutschlands vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus zu erklären. Dafür hatte Siemsen die ungebrochene bürokratische und politische Dominanz preußischer Strukturen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht, die allein durch die Arbeiter und den Sozialismus überwunden werden könne. Entsprechend dieser Intention waren es in Siemsens Schilderung auch die politische Lage und die Lebensumstände der Arbeiterschaft, die ihr Interesse für den Sozialismus geweckt hatten: „Es waren Männer und Frauen, die im Kriege ungeheuer gelitten hatten. Viele waren in Schutzhaft gewesen, alle hatten Mangel und äusserste Ueberanstrengung erfahren. Sie waren jetzt wie Gefangene, die an die frische Luft kommen, unsicher blinzel[nd] in dem helleren Licht und in sicherer Erwartung der Sonne.“96

Laut ihren Erinnerungen soll es der unabhängige Sozialdemokrat August Erdmann (1862–1938) gewesen sein, der Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates in Düsseldorf war97 und der Siemsen nach Kriegsende „die [ihr] unbekannten diplomatischen Berichte der Entente ueber die Kriegsursachen und Marx’ Kapital“ auslieh, woraufhin sie sich „mit dem Eifer völliger Unerfahrenheit in [die] Bewegung“ gestürzt habe.98 Siemsen berichtete ebenfalls, dass sie Erdmann bereits als Mitstreiter aus dem Bund Neues Vaterland (BNV) kannte. Der BNV war eine pazifistische Organisation, die 1915 gegründet worden war und der sich auch Siemsen angeschlossen hatte.99 Im BNV lernte sie neben Erdmann vermutlich auch ihren 95 Siemsen: Mein Leben, S. 17. 96 Ebd., S. 22. 97 Biographischer Eintrag über August Erdmann, in: Wilhelm Heinz Schröder: Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867–1933. Biographien, Chronik, Wahldokumentation. Ein Handbuch (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 7), Düsseldorf 1995, S. 428–429. 98 Siemsen: Mein Leben, S. 22 f. 99 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 32. Es liegen keine Quellen vor, aus denen das Jahr von Siemsens Eintritt zu entnehmen wäre. Siemsen muss dem BNV aber erst nach 1915 beigetreten

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späteren Mitstreiter, den Pädagogen Paul Oestreich (1878–1959)100 kennen, mit dem Siemsen im 1919 gegründeten Bund Entschiedener Schulreformer (BESch) zusammen arbeiten sollte. 1.2.1 Friedensbewegung und literarischer Aktivismus Mit ihrem Eintritt in den BNV war Siemsen erstmalig einer politischen Organisation beigetreten. Hier erfuhr sie vermutlich zum ersten Mal etwas über europapolitische Debatten, denn innerhalb der Friedensbewegung wurden seit Kriegsbeginn auch Ideen für einen Zusammenschluss Europas für eine zukünftige Friedenssicherung diskutiert. Viele neu gewonnene Mitglieder gehörten den sozialistischen Parteien an. Die Friedensbewegung stellte zugleich die Schnittstelle zu Siemsens Engagement in expressionistischen Literaturzirkeln dar, die überwiegend kriegsgegnerische Ansichten vertraten. Dafür sprechen personelle Überschneidungen mit der Friedensbewegung. In einigen Zeitschriften dieser literarischen Zirkel veröffentlichte sie die ersten Aufsätze, in denen sie weitergehende Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen formulierte. Die Friedensbewegung entstand in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts „als bürgerlich-liberale Reformbewegung“,101 nachdem auch schon in anderen europäischen Ländern sowie in den USA friedenspolitische Organisationen gegründet worden waren. Im Zentrum friedenspolitischer Überlegungen stand im Sinne des liberalen Fortschrittdenkens die These, dass in Anbetracht der kulturellen und gesellschaftlichen Fortentwicklung Kriege keine adäquate Konfliktaustragung mehr sein könnten. Friedenspolitisch engagierte Personen wie der Schriftsteller Alfred Hermann Fried (1864–1921) oder die Schriftstellerin Bertha von Suttner (1843–1914) teilten diese These und plädierten für eine Erneuerung der internationalen Beziehungen zur Verhinderung von Kriegen, die beispielsweise über internationale Schiedsgerichtsbarkeit erreicht werden sollte.102 Bereits bestehende friedenspolitische Organisationen im Deutschen Reich schlossen sich 1892 zur Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) zusammen. Fried prägte dann für die Ideen und Methoden, die in der DFG zur Friedenssicherung entworfen wurden, den Begriff Pazifismus, der sich seit 1900 im allgemeinen Sprachgebrauch etablierte.103 Der Beginn des sein, denn auf der Mitgliederliste von 1915 wird Siemsens Name nicht erwähnt. Siehe den Abdruck der Mitgliederliste des „Bundes Neues Vaterland“ vom Herbst 1915 in: Otto Lehmann-Rußbüldt: Der Kampf der Deutschen Liga für Menschenrechte vormals Bund Neues Vaterland für den Weltfrieden 1914–1927, Berlin 1927, S. 140–142. 100 Auf eine Mitgliedschaft von Oestreich im BNV verweist Wolfgang Keim: Politische Parteien, in: ders. und Schwerdt: Handbuch der Reformpädagogik, S. 39–83, hier S. 52. 101 Dieter Riesenberger: Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933, Göttingen 1985, S. 7 102 Ebd., S. 45 f. 103 Ebd., S. 7 Siehe zur Entwicklung des Begriffs Pazifismus auch: Karl Holl: Pazifismus, in: Brunner, Conze und Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 767– 787, hier S. 767.

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Ersten Weltkriegs traf die Friedensbewegung unvorbereitet, standen doch die internationalen Beziehungen aus der Perspektive vieler Zeitgenossen nicht im Zeichen eines drohenden Krieges.104 Die Friedensbewegung konzentrierte sich während des Kriegs vornehmlich auf Flüchtlingshilfen sowie auf soziale und demokratische Reformen, was zu einer Annäherung von Friedensbewegung und Sozialdemokratie führte.105 1914 wurden auf internationaler Ebene neue pazifistische Vereine gegründet, die neben den traditionellen Forderungen nach zwischenstaatlicher Organisation nun auch innenpolitische Reformen für eine zukünftige Friedenssicherung diskutierten.106 In Deutschland wurde 1914 der Bund Neues Vaterland (BNV) aus der Taufe gehoben. Er setzte sich für eine Demokratisierung der europäischen Staaten, insbesondere Deutschlands ein, die als elementare Voraussetzung zur Friedenssicherung betrachtet wurde. Ferner wurde auch „eine europäische Staatengemeinschaft“ gefordert. Im Gegensatz zur Friedensbewegung der Vorkriegszeit traten nun neben liberal-bürgerlichen Vertretern auch vermehrt Sozialisten den pazifistischen Vereinen wie dem BNV bei. 1922 wurde der BNV in Deutsche Liga für Menschenrechte (DLfM) umbenannt.107 In der DLfM gehörte Siemsen in der Folgezeit zu den Vorstandsmitgliedern.108 In enger Verbindung zum BNV stand der Publizist Wilhelm Herzog (1884– 1960), der 1914 die Zeitschrift Das Forum gegründet hatte. Herzog war USPDMitglied und Pazifist, seine Zeitschrift gehörte zu einem der wichtigsten Organe „des politisch engagierten Aktivismus“.109 Ähnlich der Programmatik des BNV wandte sich Herzog mit seiner Zeitschrift gegen Nationalismus, Militarismus und Kapitalismus, plädierte für eine Verständigung mit Frankreich und für ein geeintes 104 Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, S. 707. 105 Riesenberger: Geschichte der Friedensbewegung, S. 98 f. 106 Ebd., S. 100. 107 Lothar Wieland: Deutsche Liga für Menschenrechte (DLfM), in: Donat und Holl: Die Friedensbewegung, S. 76–80, hier S. 76–78. Zur Ausdifferenzierung der Friedensbewegung und ihrer Methoden zur Friedenssicherung nach 1918 siehe Karl Holl und Wolfram Wette (Hg.): Pazifismus in der Weimarer Republik. Beiträge zur historischen Friedensforschung (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn u. a. 1981. 108 Alexander Schwitanski datiert Siemsens Mitgliedschaft im Vorstand der DLfM auf die Zeit von 1924 bis 1933: Alexander J. Schwitanski: Die Freiheit des Volksstaats. Die Entwicklung der Grund- und Menschenrechte und die deutsche Sozialdemokratie bis zum Ende der Weimarer Republik (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen; Schriftenreihe A: Darstellungen, Bd. 39), Essen 2008. Siehe hier Anhang II: Tabelle über die Mitglieder des Vorstands und des politischen Beirats der Deutschen Liga für Menschenrechte 1924–1933 auf S. 464. 109 Armin A. Wallas: Wilhelm Herzog und die Publizistik des Aktivismus, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24 (1999), Heft 2, S. 161–179, hier S. 161 und 168. Zitat auf S. 161. Siehe zu Herzog und seiner Zeitschrift auch Carla Müller-Feyen: Engagierter Journalismus. Wilhelm Herzog und „Das Forum“ (1914–1929). Zeitgeschehen und Zeitgenossen im Spiegel einer nonkonformistischen Zeitschrift (Europäische Hochschulschriften, Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 699), Frankfurt am Main u. a. 1996.

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Europa.110 In Anlehnung an Nietzsche wollte Herzog in seiner Zeitschrift allen „guten Europäern“ eine Plattform bieten.111 In seiner Zeitschrift Das Forum veröffentlichte Siemsen ihren eingangs vorgestellten Aufruf „An die Frauen!“, mit dem sie für eine neue politische Ordnung durch das Engagement von Frauen plädiert hatte. Siemsens Aufsatz „An die Frauen!“ verweist noch auf eine andere pazifistische Organisation, zu der sie Kontakt fand: Die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF).112 Die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF), so der englische Name der Organisation, war aus einem Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag hervorgegangen, an dem zwischen 1400 und 2400 Frauen aus verschiedenen Ländern teilnahmen. Hier wurde über Möglichkeiten und Wege beraten, wie der Krieg möglichst schnell beendet werden könne. 20 Frauen waren aus Deutschland angereist.113 Die pazifistischen Frauen stellten in ihren jeweiligen Ländern eine Minderheit dar. Die internationalen Verbindungen, die zwischen bürgerlichen Frauenorganisationen bestanden hatten, wurden bei Ausbruch des Krieges unterbrochen. Die meisten Frauen entschieden sich dafür, ihr Land im Krieg zu unterstützen. In Deutschland wurde dafür 1914 der Nationale Frauendienst (NFD) gegründet. Durch Fürsorge- und Wohltätigkeitsarbeit wollte man den Männern an der Front einen gleichwertigen Einsatz an der sogenannten Heimatfront zur Seite stellen.114 Die Frauen, die sich in der IFFF engagierten, betonten, dauerhafter Friede könne nur durch Gerechtigkeit und Gleichheit errungen werden. Dafür müssten aber gerade Frauen gleichberechtigt an internationalen Angelegenheiten beteiligt sein, damit sie ihre spezifisch weiblichen, friedliebenden Eigenschaften auch in außenpolitischen Angelegenheiten einsetzen könnten. Die geforderte Gleichberechtigung von Männern und Frauen war dabei in der Argumentation Voraussetzung dafür, auch eine Gleichberechtigung zwischen den Staaten zu erreichen.115 Im deutschen Zweig der IFFF, der von den bereits erwähnten Frauenrechtlerinnen Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg maßgeblich geprägt war, betrachtete man den dominierenden negativen Einfluss der Männer auf die öffentliche Sphäre als die eigentliche Ursache von Kriegen.116 Hier wurde behauptet, „das weibliche aufbau110 Wallas: Wilhelm Herzog, S. 164 f. 111 Müller-Feyen: Engagierter Journalismus, S. 76. Unter Bezugnahme auf Müller-Feyen auch: Wallas: Wilhelm Herzog, S. 164. 112 Es liegen keine Quellen vor, die Siemsens Beitritt gegen Ende des Ersten Weltkrieges belegen. Von einer Mitgliedschaft kann aber ausgegangen werden, da sich Siemsen insbesondere während ihrer Exilzeit in dieser Organisation engagierte. Auch Kinnebrock verweist auf Siemsens Mitgliedschaft in der IFFF: Kinnebrock: Anita Augspurg, Fußnote 135 auf S. 478. 113 Erika Kuhlmann: The „Women’s International League for Peace and Freedom“ and Reconciliation after the Great War, in: Alison S. Fell und Ingrid Sharp (Hg.): The Women’s Movement in Wartime. International Perspectives, 1914–19, Basingstoke und Hampshire 2007, S. 227– 243, hier S. 232 und Riesenberger: Geschichte der Friedensbewegung, S. 103. 114 Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 158 f. Siehe auch Ingrid Sharp: Blaming the Women: Women’s „Responsibility“ for the First World War, in: Alison S. Fell und dies.: The Women’s Movement, S. 67–87, hier S. 74. 115 Kuhlmann: „Women’s International League for Peace and Freedom“, S. 232 und 240. 116 Ebd., S. 237.

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ende Prinzip der gegenseitigen Hilfe, der Güte, des Verstehens und Entgegenkommens“ müsse dem „männlichen Prinzip“, das mit „katastrophalen Machtausbrüchen“ wie Kriegen identisch sei, entgegengesetzt werden.117 Eine Verantwortlichkeit von Frauen am Krieg wurde aus diesem Grund ausgeschlossen.118 In diesem Punkt unterschied sich Siemsen von ihren pazifistischen Mitstreiterinnen. In ihrem Appell an die Frauen hatte sie explizit von einer Mitverantwortung der Frauen gesprochen und diese zusammen mit den neu erworbenen Rechten als Begründung dafür angeführt, eine besondere politische Verantwortung für die Errichtung einer neuen gesellschaftlichen und politischen Ordnung übernehmen zu müssen.119 Siemsen gehört zu den „prominenteren“ Mitgliedern der IFFF und schrieb auch Artikel für die von Augspurg und Heymann redigierte Zeitschrift Die Frau im Staat.120 In der Weimarer Republik galt Siemsens Hauptengagement jedoch zunächst ihrer reformpädagogischen und bildungspolitischen Arbeit. Erst im Schweizer Exil sollte sie sich verstärkt innerhalb der IFFF engagieren. In Zürich war bereits 1919 eine dauerhafte internationale Vertretung der IFFF eingerichtet worden.121 Siemsens Kontakte zur Friedensbewegung erfolgten vermutlich über ihre Verbindung zu den erwähnten literarischen Gruppen, die in der Forschung dem literarischen Expressionismus zugeordnet werden. Diese Kontakte kamen über ihren jüngsten Bruder Hans Siemsen zustande, der in München in diesen Gruppen verkehrte. Hans Siemsen arbeitete als freier Schriftsteller, schrieb Erzählungen, Feuilletons sowie Film- und Theaterrezensionen. Er genoss den Ruf eines scharfen Kritikers. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er bei verschiedenen Zeitschriften etwa bei der von Kurt Tucholsky (1890–1935) und Carl von Ossietzky (1889–1938) herausgegebenen linksintellektuellen Weltbühne.122 Nach einer Ausbildung als Buchhändler ging Hans Siemsen nach München, wo er Kunstgeschichte studierte und erste Kontakte zur dortigen expressionistischen Künstlerszene fand. 1913 trat er eine Reise nach Paris an. Dort erweiterte seine Künstlerbekanntschaften. Nach dem Ersten Weltkrieg begann Hans Siemsen als freier Schriftsteller zu arbeiten.123 Siemsen, die ihren Bruder in Paris besucht hatte,124 knüpfte dort wohl ebenfalls Kontakte zur Künstlerszene, denn seit 1915 begann sie, in expressionistischen Zeitschriften wie dem Zeit-Echo und den Weißen Blättern zu publizieren. Hier stieß Siemsen mit

117 Lida Gustava Heymann: Weiblicher Pazifismus, abgedruckt in: Gisela Brinker-Gabler: Frauen gegen den Krieg, Frankfurt am Main 1980, 65–68, hier S. 65. 118 Sharp: Blaming the women, S. 76 f. 119 Vgl. Siemsen: An die Frauen!. 120 Kinnebrock: Anita Augspurg, Fußnote 135 auf S. 478. Zitat auf S. 551. 121 Kuhlmann: „Women’s International League for Peace and Freedom“, S. 232. 122 Siehe zu dieser Zeitschrift Alexander Gallus: Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 50), Göttingen 2012. 123 Michael Föster: Vorwort, in: ders. (Hg.): Hans Siemsen. Schriften I. Liebe und andere Geschichten, Essen 1986, S. 7–12. Siehe ebd. auch „Daten zu Leben und Werk“, S. 251–259. 124 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 29.

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ihrer Ansicht, Literatur müsse eine lebenspraktische Rolle erfüllen und zu einem vertieften Verständnis für menschliche Belange führen, auf ein Echo. Der Begriff Expressionismus, der vor allem in den bildenden Künsten seit etwa 1912 eine internationale Kunstrichtung bezeichnete, wurde von dem Schriftsteller Kurt Hiller (1885–1972) in die Literatur eingeführt. Mit diesem Begriff wollten sich die jungen Literaten, die zumeist aus bildungsbürgerlichen Familien stammten und die sich in Berlin und München sammelten, von vorhergehenden Literaturrichtungen wie dem Impressionismus abgrenzen. Mit ihrer Literatur wandten sich die vorwiegend männlichen Literaten gegen die herrschenden bürgerlichen Wert- und Normvorstellungen der wilhelminischen Gesellschaft.125 Statt des Begriffs Expressionismus wurde zeitgenössisch bald der Begriff Aktivismus favorisiert.126 Beim Aktivismus ging es um das „Verhältnis von Literatur und Politik“. Die aktivistischen Literaten wollten mit ihrer Literatur zu politischer Tätigkeit und zu „ethischem Engagement“ aufrufen und dadurch Gesellschaft und Politik verändern. Für diese Literaturrichtung war ebenfalls Kurt Hiller prägend, der mit seinen Ziel-Jahrbüchern, die von 1916 bis 1924 erschienen, ein politisches Programm des Aktivismus entwarf.127 Siemsen verfolgte diese Diskussionen: Sie verfasste im Zeit-Echo eine kurze Stellungnahme zu Hillers erstem Ziel-Jahrbuch und bescheinigte seinen „Aufrufe[n] zu tätigem Geist […] eine ganze aufblühende Zukunft“.128 Auslöser für die Aktivismus-Debatte war der in der Zeitschrift Pan erschienene Aufsatz Geist und Tat von Heinrich Mann (1871–1950). Mann rief darin die deutschen Intellektuellen dazu auf, „politisch“ zu werden. Anstatt den politischen Vertretern des wilhelminischen Obrigkeitsstaates blindes Vertrauen entgegen zu bringen, sollten sie sich selber in die Politik einzumischen.129 Die Aktivistinnen und Aktivisten lieferten in ihren Veröffentlichungen keine differenzierten Politik- oder Gesellschaftsdiagnosen, sondern äußerten sich kulturkritisch gegen Technisierung, Materialismus und Kapitalismus. Diejenigen Literaten, die sich dem sogenannten Aktivismus anschlossen, waren in ihrer Mehrzahl linksorientiert, gehörten aber oft keiner sozialistischen Partei an. Emphatische „Aufrufe zur Erneuerung des Menschen und der Gesellschaft“, so wie Siemsen es auch in ihren Veröffentlichungen tat, standen im Mittelpunkt. Dabei wurden Werte wie „Brüderlichkeit“, „Gewaltlo-

125 Thomas Anz: Literatur des Expressionismus, 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart und Weimar 2010, S. 4–6 und S. 27 f. Zur Sozialstruktur der Gruppen siehe ebd., S. 31–36. 126 Armin A. Wallas: „Geist“ und „Tat“ – Aktivistische Gruppierungen und Zeitschriften in Österreich 1918/1919, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 8. Sonderheft: Literatur, Politik und soziale Prozesse. Studien zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik, Tübingen 1997, S. 107–146, hier S. 107. 127 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 131 f. Vgl. dazu ausführlich Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus. Zur Geistesgeschichte des politischen Dichters im frühen 20. Jahrhundert (Europäische Hochschulschriften; Reihe 1, Bd. 389), Frankfurt am Main und Bern 1981. 128 F[riedrich] M[ark]: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist, München und Berlin 1916, in: ZeitEcho: 2 (1915–1916), Heft 11, S. 170–173. 129 Wallas: Wilhelm Herzog, S. 164. Dazu auch Anz: Literatur des Expressionismus, S. 129.

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sigkeit“ oder die Idee „der europäischen Gemeinschaft“ beschworen.130 Wie auch andere Literaten und Künstler, die den Ersten Weltkrieg als Möglichkeit sahen, in Anbetracht der in verschiedene Richtungen zerfallenen Kunst nun zu einer „einheitlichen deutschen Nationalkultur“ zurückfinden zu können,131 begrüßten zunächst auch viele Vertreter des literarischen Aktivismus den Beginn des Krieges.132 Die meisten von ihnen fanden jedoch durch ihre Erfahrungen in den Schützengräben zu einer kriegsgegnerischen Haltung und in den expressionistischen Zeitschriften ein Forum für ihre Ansichten.133 Die Gruppe der expressionistisch-aktivistischen Literaten umfasste lediglich mehrere hundert Personen und war damit ein „Elitephänomen“.134 Die Zeitschriften des literarischen Expressionismus wie Die weißen Blätter oder Das Forum, in denen auch Siemsen veröffentlichte, hatten nur eine Auflage von ca. 3000 Exemplaren.135 Als ihr Bruder Hans Siemsen von 1915 bis zu seinem Kriegseinzug im Oktober 1916 die redaktionelle Leitung des zweiten Jahrgangs des Zeit-Echo übernahm, begann auch Anna Siemsen hier insgesamt neun Beiträge zu publizieren. Sie veröffentlichte überwiegend Rezensionen, die entsprechend der redaktionellen Tätigkeit ihres Bruders zwischen Herbst 1915 und Herbst 1916 erschienen. Die Zeitschrift, die von 1914 bis 1917 aufgelegt wurde, sollte durch den „fiktiv-intimen Charakter eines Tagebuchs“ die widersprüchlichen Haltungen einer ganzen Künstlergeneration zum Krieg widergeben.136 Unter der Leitung von Hans Siemsen rückte der Krieg als zentrales Thema aber in den Hintergrund. Eine Fokussierung auf „moderne expressionistische“ Literatur sollte die Zeitschrift mit dem „täglichen Leben enger […] verknüpfen“.137 Siemsens Literaturbesprechungen stellten sich nur vordergründig als Rezensionen dar. In ihrer Auseinandersetzung mit Schriftstellern wie Stendhal,138 Franz Werfel,139 Gilbert Keith Chesterton140 oder Dostojewski141 ging es weniger um den Inhalt der entsprechenden literarischen Werke, sondern vielmehr um die Wertorientierungen der deutschen Gesellschaft. Aus ihrer Kritik leitete sie dann alternative 130 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 129 f. und 139. Zitate auf S. 139. 131 Mommsen: Einleitung: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg, S. 8 f. 132 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 134. Siehe auch Paul Raabe: Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus Ein bibliographisches Handbuch in Zusammenarbeit mit Ingrid Hannich-Bode, 2. erweiterte Aufl. Stuttgart 1992, S. 3–11. 133 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 237 f. 134 Chickering: Das Deutsche Reich, S. 170. 135 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 42. 136 Vera Grötzinger: Der Erste Weltkrieg im Widerhall des „Zeit-Echo“ (1914–1917). Zum Wandel im Selbstverständnis einer künstlerisch-politischen Literaturzeitschrift (Berliner Studien zur Germanistik, Bd. 4), Bern u. a. 1994, S. 111. 137 Ebd., S. 138. 138 Mark, Friedrich: Lettres Intimes, in: Zeit-Echo 2 (1915/1916), Heft 3, S. 41. 139 F.[riedrich] Mark: Franz Werfel, Die Troerinnen des Euripides, in: Zeit-Echo 2 (1915/1916), Heft 3, S. 45–46. 140 Friedrich Mark: Apologie, in: Zeit-Echo 2 (1915/1916), Heft 4, S. 60–61. 141 Friedrich Mark: Bei Gelegenheit von Dostojewskis Jüngling, in: Zeit-Echo 2 (1915–1916), Heft 10, S. 153–154.

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Wertvorstellungen ab, die etabliert werden sollten. Die Tarnung von Siemsens Gesellschaftskritik in Form von Literaturbesprechungen war vermutlich eine der „Strategien indirekter Kriegskritik“, die von aktivistischen Literaten praktiziert worden waren.142 Denn die Veröffentlichung kritischer Beiträge wurde aufgrund der rigiden staatlichen Zensurbestimmungen streng geahndet. Die wenigen Herausgeber der Verlage, in denen kritische Beiträge veröffentlicht wurden, liefen beständig Gefahr, ihre Tätigkeiten einstellen zu müssen.143 Der Bund Neues Vaterland, dem Siemsen beigetreten war, geriet ebenfalls auf die schwarze Liste der Behörden. Ihm wurde Vaterlandsverrat unterstellt, es wurden Büroräume durchsucht und Mitglieder verhaftet.144 Auch Siemsen soll laut Aussage ihres Bruders ins Fadenkreuz der Zensurbehörden geraten sein.145 Sie veröffentlichte ihre Beiträge daher unter dem Pseudonym Friedrich Mark. Später sollte sie das Pseudonym als ihren „nom de guerre“ bezeichnen.146 Den Nachnamen ihres Pseudonyms leitete sie wohl von ihrer Heimatgemeinde Mark in Westfalen ab.147 Siemsens Beiträge zeigen, dass durch die Kriegserfahrung ein politischer Schwerpunkt erkennbar wurde, der ihr späteres Politikverständnis entscheidend prägte: die Annahme, politische Zustände könnten nur durch den einzelnen Menschen als Träger einer inneren Gesellschaftsreform verändert werden. Sie kritisierte in ihren Aufsätzen etwa die „stumpfe Ergebenheit“ der Menschen in die gegenwärtigen Umstände und betonte, dass Liebe und Mitgefühl die Lösungsstrategien zur „Schicksalsüberwindung“ seien.148 Sie appellierte an ein tieferes Bewusstsein für humane Werte und vor allem an ein verstärktes Verantwortungsgefühl jedes einzelnen, das es hervorzurufen gelte. Sie befand: „Und das ist dann wieder die schließliche Erkenntnis: wir werden nicht anders, auch durch diesen Krieg nicht. Nichts was von außen kommt, kann das bewirken. Nur in uns selber liegt alles Heil und Unheil beschlossen.“149 Siemsen propagierte damit eine Änderung gesellschaftlicher Wertund Handlungsmaßstäbe, die nur vom Einzelnen selbst erkannt und umgesetzt werden könnten. Sie forderte eine geistige Umwälzung, die nicht mehr Absonderung, sondern Selbstreflexion zum Mittelpunkt des Denkens erhob. Diese geforderte Selbstreflexion wurde aber wieder auf eine überindividuelle Ebene gehoben, wenn sie schrieb, das Gemeinwohl müsse an die Stelle der Einzelinteressen treten: „Der 142 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 141. 143 Mommsen: Die Urkatastrophe, S. 113. 144 Wieland: Deutsche Liga für Menschenrechte, S. 78. 145 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 32. 146 Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: EB 54 b/7 I, 1396: Teilnachlass Walter A. Berendsohn: Anna Siemsen an Walter Berendsohn, Düsseldorf o. J. 147 Grötzinger: Der Erste Weltkrieg im Widerhall, S. 145. Lange wurde unter diesem Pseudonym Friedrich Markus Huebner, der erste Schriftleiter des Zeit-Echo, vermutet. Vgl. ebd. S. 143. Durch Siemsens Brief an Berendsohn ist belegt, dass es sich bei dem Pseudonym um Anna Siemsen handelt. 148 Mark: Franz Werfel, Die Troerinnen des Euripides, S. 46. 149 F.[riedrich] Mark: Der deutsche Student im Felde und Walter Heymann, Kriegsgedichte und Feldpostbriefe, in: Zeit-Echo (1915/1916), Heft 4, S. 63–64.

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Krieg beweist, daß Einzelfreiheit und Einzelglück immer bedroht, also erschwindelt sind. Daß keiner sich, auch wenn er will, absondern kann. […] Damit keiner mehr imstande ist, frei zu atmen, solange er von solchen weiß, die ersticken, während er atmet.“150 In ihrer Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller Chesterton, den sie als „Tendenz- und Angriffsschriftsteller“ charakterisierte, forderte Siemsen, den Blickwinkel zu ändern: „Ein Mann, der gegen uns steht, kann gerade darum, wenn er nicht eine gänzliche Null ist, uns viele neue Erleuchtungen und Erkenntnisse geben.“ Was „Lebensanschauungen erschüttert und Lebenswillen zum Kampfe weckt“, konnte für Siemsen keine bloße „Literatenangelegenheit“ sein. Die Literatur sollte eine lebenspraktische Rolle erfüllen, „Erleuchtungen und Erkenntnisse“151 für die gegenwärtigen Zustände liefern. Sie interpretierte die von ihr besprochene Literatur als universale Lehrstücke und kritisierte die zeitgenössische Rezeption ausländischer Literatur, die vor allem auf das „‚Feindlicheʻ, auf das Typische, auf das Französische hin“ gelesen werde.152 Sie wandte sich mit dieser Forderung gegen eine tradierte Annahme, die in weiten Teilen der Bildungseliten schon vor 1914 Konsens war: die Befürchtung, französische Einflüsse würden sich zersetzend auf die deutsche Kultur und Kunst auswirken.153 Siemsen forderte stattdessen, Literatur nicht mit bestimmten Vorannahmen zu begegnen, sondern das eigene und individuelle Erleben in den Mittelpunkt zu stellen. 1.2.2 Lebens- und Gesellschaftsreform Die Ansicht, die Siemsen zuerst im Rahmen ihres Lehrkonzeptes vertreten hatte, Literatur könne gesellschaftliche Zustände widerspiegeln und Erkenntnisse für die zeitgenössische Gegenwart vermitteln, übertrug sie vom Bereich der Schule auf die gesamte Gesellschaft. Die Begriffe des Lebens und des Erlebnisses, die ebenfalls für ihre politischen Grundanschauungen wie für ihre Europa-Konzepte noch eine Rolle spielen sollten, wurden dabei zu einem zentralen Aspekt. Die Literatur diente für Siemsen deshalb dem Leben, weil sie menschliche Empfindungen wecke und damit Einsichten in überkulturelle oder universal-christliche Werte wie „Liebe und Mitgefühl“ ermögliche, die unter den zeitgenössischen Umständen nicht realisierbar schienen. Die zeitgenössischen Umstände verkörperten demnach das, was dem Leben eben nicht gemäß sei. Damit stand Siemsen in der Tradition von Nietzsches Lebensphilosophie, der alle Bereiche der Gesellschaft daraufhin bewertete, „ob sie dem Leben dienen“ würden.154 Unter Bezugnahme auf den Lebensbegriff forderte sie eine Befreiung von herrschenden Wert- und Normvorstellungen.

150 M[ark]: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist, S. 173. 151 Mark: Apologie, S. 61. 152 Mark: Lettres Intimes, S. 41. 153 Fries: Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, S. 830. 154 Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 205.

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Siemsen beteiligte sich damit an vor allem in bürgerlichen Kreisen seit Ende des 19. Jahrhunderts breit geführten Debatten, in denen der Lebensbegriff zu jenen populären Schlagworten der Kulturkritik zählte, mit denen die Deutungseliten auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft reagierten. Das „Leben“ sollte als Gegenpol zu den technischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen neu definiert werden.155 Der Lebensbegriff tauchte seitdem in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf, etwa in der Dichtung, in der Kunst oder in der Religion.156 Der Erste Weltkrieg, durch den Tod und Leben eine neue Bedeutung gewannen, beförderte die Auseinandersetzung mit dem Lebensbegriff zusätzlich.157 In der Lebensreformbewegung wurde beispielsweise auch gefordert, dass der Mensch sich „nach religiösem Vorbild“ zu ändern habe, um so die gesamte Gesellschaft verändern zu können.158 Der Rückgriff auf die Religion bot sich in den Debatten zum Lebensbegriff an, weil sie ein Konglomerat an Deutungsangeboten bereithielt, mit denen die für das Leben geforderten universalen Werte definiert werden konnten. Christliche Werte sollten als Handlungsanleitung dienen und dem Menschen „Selbstvergewisserung […] hinsichtlich seines sozialen und geschichtlichen Ortes“ bieten.159 In ihrer Auseinandersetzung mit Dostojewski plädierte Siemsen im Rückgriff auf religiöse Metaphern nicht allein für eine religiöse Änderung des einzelnen Menschen, sondern für eine religiöse Erneuerung ganz Deutschlands.160 Im Werk von Dostojewski meinte sie eben jene universalen Werte zu erkennen, die für eine innere Gesellschaftsreform etabliert werden müssten. Als „Blitzstrahl über der Dunkelheit“, als „Vorwärtsweisen auf Zukunftswege“, als ‚Geist Gottes über den Wassernʻ stand Dostojewski mit seinem Werk für das Christliche und Menschliche. „Hoffnung“, „Jugend“, „Zukunft“, „Leben“, „Liebe“ und „Erlösung“ waren die Schlüsselbegriffe, die Siemsen als richtungweisend für Deutschland betrachtete: „Und es ist schön und gut, daß wir an diesem allerrussischten Dichter […] spüren, daß alles ganz und gar und eingefleischt Nationale zugleich international, daß heißt menschlich ist.“161 Siemsen forderte eine Umdeutung des Nationalen. Das Nationale sollte sich nicht länger durch Abgrenzung auszeichnen, sondern dadurch, das Eigene im Fremden zu erkennen. Übergeordnete Wertigkeiten, die sie mit Lebens- und Religionsmetaphern umschrieb, kennzeichneten aus ihrer Sicht alle Nationen, Länder und Menschen. Daher war das Nationale für sie auch international und für alle Menschen gültig. Für diese These führte sie internationale Schriftsteller als Beleg an. Zugleich betonte Siemsen aber auch die Existenz nationaler Eigenarten, die sie 155 Schaede: Vorwort, S. V. 156 Ebd. 157 Georg Pfleiderer: Zum Lebensbegriff in der protestantischen Theologie um den Ersten Weltkrieg, in: Hartung, Kleffmann und Schaede: Das Leben, S. 185–219, hier S. 185. 158 Wolfgang R. Krabbe: Lebensreform/Selbstreform, in: Kerbs und Reulecke: Handbuch der deutschen Reformbewegungen, S. 73–75, hier S. 74. 159 Pfleiderer: Zum Lebensbegriff, S. 189 f. 160 Vgl. Mark: Bei Gelegenheit von Dostojewskis Jüngling, S. 153–154. 161 Ebd., S. 154.

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etwa im „allerrussischten Dichter“ Dostojewski und auch im „Stendhalsche[n] oder [im] Balzacsche[n] Held“162 zu erkennen glaubte. Auch betonte sie: „Wenn wir uns aber richtig und gründlich mit den andern vereinigen wollen, können wir gar nichts besseres tun, als möglichst stark, wir selbst sein.“163 In diesen Argumentationen kündigte sich bereits das Konzept von der „Vielheit in der Einheit“ an, das für ihre späteren Europa-Konzepte grundlegend wurde. Sie betonte die Vielgestaltigkeit des Nationalen, die sich unter der Einheit eines universalen bzw. überkulturellen Wertesystems zusammenfinden sollte. Dabei stand nicht die Höherwertigkeit einer Nation im Vordergrund, sondern die Aspekte der Gleichberechtigung und Anerkennung. Das machte Siemsen nicht nur inhaltlich, sondern auch durch literarische Stilmittel deutlich. Der positive Vergleich von zwei verschiedenen Autoren, wie beispielsweise Werfel und Shakespeare, oder auch das Stilmittel der Mehrsprachigkeit in einem Text zeigen, dass sie eine bewusste „Grenzüberschreitung“ vollzog,164 mit der sie eine kulturelle Zusammengehörigkeit der internationalen Literatur vermitteln wollte. Auch wenn Siemsen von „Vereinigung“ sprach und stets auf internationale Schriftsteller zurückgriff, ging es hier noch nicht in erster Linie um eine neue europäische oder internationale Ordnung, sondern um eine Erneuerung der deutschen Kultur. Es war Deutschland, das sie „menschlich“ umgestalten wollte. Damit grenzte sich Siemsen von den herrschenden Debatten während der Kriegszeit ab. Hier standen die Höherwertigkeit der deutschen Kultur und die Abgrenzung Deutschlands von anderen Nationen im Vordergrund. Trotz dieser Abgrenzungsbemühungen von herrschenden Deutungen war auch in Siemsen Ausführungen die Annahme von einer besonderen deutschen Kultur offensichtlich. In Siemsens Sicht zeichnete sie sich aber nicht durch Höherwertigkeit aus, sondern durch Empathiefähigkeit, Friedfertigkeit, Toleranz und Aufnahmebereitschaft fremder Einflüsse. Siemsen vertrat ebenso wie die Mehrheit der Bildungseliten die Annahme, der Krieg habe nicht allein Werte zerstört, sondern könne auch neue kulturelle Werte für Deutschland hervorbringen.165 Bereits 1917 erklärte sie, nur durch Erziehung könne das erreicht werden. Es sei nun „das Wichtigste“, anstelle „künftiger Gegner Brüder und Mitkämpfer heranzuziehen für den Tag, der vielleicht bald, vielleicht später, der aber sicherlich kommt“.166 Gegen Ende des Krieges benannte Siemsen das Ziel, das durch „eine völlige Umschaltung unseres Bewußtseins, durch eine Sinnesänderung […] im Sinne Jesu“ folgen müsse: „menschliche Gemeinschaft“. Diese „Umschaltung“ auf „Wahrhaftigkeit, Verantwortlichkeits- und Gemeinschaftsgefühl“ könne dabei im „zerspaltenen, ziellosen, an materiellen Interessen verkauften Deutschland“ nicht durch „äußere[n] Apparat“, sondern nur „als freie, 162 Mark: Lettres Intimes, S. 41. 163 Mark: Bei Gelegenheit, S. 154. 164 Manfred Schmeling: Die Entgrenzung der Nation im Literaturbegriff der Schriftsteller, in: Rainer Hudemann und Manfred Schmeling (Hg.): Die ‚Nationʻ auf dem Prüfstand (Vice Versa. Deutsch-Französische Kulturstudien, Bd. 3), Berlin 2009, S. 161–174, hier S. 161. 165 Bruendel: Volksgemeinschaft, S. 52. 166 Friedrich Mark: Der Gegner, in: Zeit-Echo 3 (1917), Heft 1/2, S. 26–27, hier S. 27.

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spontane Arbeit von Mensch zu Mensch erfolgen“.167 In dem Begriff der Gemeinschaft bündelte Siemsen in der Folgezeit all jene politischen und ethischen Aspekte, an denen es ihrer Gegenwart mangele und die es durch zeitgenössische Reformen zu etablieren gelte. Eng mit dem Gemeinschaftsbegriff verbunden war dabei die erwähnte Suche nach einer kulturellen Erneuerung Deutschlands und die Suche nach dem sogenannten neuen Menschen, der Träger dieser neuen deutschen Kultur und der Gemeinschaftsbildung sein sollte. Siemsens Suche nach Gemeinschaft steht auch für eine Erweiterung ihres publizistischen Feldes gegen Ende des Krieges: Von 1918 bis 1919 wurde sie Mitarbeiterin der Tat. Die Tat war eine Kulturzeitschrift, die bereits vor Beginn des Krieges trotz einer kleinen Auflage von 1.000 bis 3.000 Exemplaren monatlich zum bekannten Organ eines der Lebensreform nahestehenden Bildungsbürgertums avancierte.168 Die Tat war als hauseigene Zeitschrift des Diederich-Verlages maßgeblich durch ihren Verleger Eugen Diederichs (1867–1930) geprägt, der es verstand, alle kulturkritischen Richtungen in seinem Verlag zu versammeln.169 Überwogen in den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkrieges noch Themen der Lebensreform und der religiösen Reformarbeit, so dominierten den Inhalt der Monatsschrift nach 1914 auch sozialreformerische sowie kulturelle, politische und wirtschaftliche Pläne für eine Neugestaltung Deutschlands nach dem Krieg. Zudem nahm die Kritik am Kapitalismus einen breiten Raum ein, den Diederichs, so wie Siemsen, als die eigentliche Ursache des Krieges betrachtete.170 Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg standen Themen wie neue gemeinschaftsstiftende Kulturwerte, soziale Umgestaltung des Lebens, Erziehungs- und Volksbildungsfragen und die „Entwicklung des Nationalgefühls zum Menschheitsdienst“ im Mittelpunkt.171 Genau diesen Themen widmete sich Siemsen in ihren Artikeln, die sie für die Tat schrieb und in denen der Gemeinschaftsbegriff eine zentrale Rolle spielte. Über welche Verbindungen Siemsen zur Mitarbeiterin der Zeitschrift wurde, ist unbekannt. Diederichs selbst stand einer Mitarbeit von Frauen zunächst offen gegenüber. Er unterstützte die Anliegen der Frauenbewegung, nahm entsprechende Themen in sein Verlagsprogramm auf und ermöglichte Frauen, in seinem Verlag zu veröffentlichen.172 Siemsens Mitarbeit bei der Tat endete, als sich die Zeitschrift in eine rechts-konservative Richtung 167 Anna Siemsen: Die Aufgaben der Erziehungswissenschaft und ihre Gefahren, in: Die Tat 9 (1917/1918), Heft 7, S. 651–653, hier S. 652. 168 Edith Hanke und Gangolf Hübinger: Von der „Tat“-Gemeinde zum „Tat“-Kreis. Die Entwicklung einer Kulturzeitschrift, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag. Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 299– 334, hier S. 302. 169 Gangolf Hübinger: Eugen Diederichsʼ Bemühungen um die Grundlegung einer neuen Geisteskultur, in: Mommsen: Kultur und Krieg, S. 259–274, hier S. 259. 170 Hanke und Hübinger: Von der „Tat“-Gemeinde, S. 303–307. 171 Ebd., S. 309–312. 172 Meike G. Werner: Gruppenbild mit Mann: Der Verleger Eugen Diederichs, die Frauen… und deren Emanzipation, in: Justus H. Ulbricht und dies. (Hg.): Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900–1949, Göttingen 1999, S. 175–207, hier S. 184.

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zu entwickeln begann und als auch Diederichs zunehmend zum Gegner „weibliche[r] Emanzipationsforderungen“ wurde.173 Siemsen begründete ihren Eintritt in die expressionistische Literaturszene und in kulturkritische bürgerliche Kreise rückblickend mit ihrer damaligen Sympathie für „alle oppositionellen Strömungen in Kunst, Literatur, Ethik und Philosophie“. Das sei aber, so Siemsen in ihren Erinnerungen, „einem sektiererischen Individualismus“ geschuldet gewesen und habe in eine „Opposition“ geführt, „die keine Ziele, dafuer aber bittere Kämpfe und eine fast unvermeidliche Niederlage in Aussicht stellte“.174 Ihr Austritt aus diesen Kreisen, die Siemsen rückblickend als ziellos und oppositionell beschrieb, erfolgte durch ihr Eintreten für den Sozialismus. Ihre Mitarbeit bei der Tat war eine publizistische Übergangszeit, in der sie auch Kontakte zu reformpädagogischen Kreisen fand, die sozialistischen Ideen nahestanden. Ihre Forderungen nach Gemeinschaft erhob sie ab 1919 nicht mehr nur allein in der Tat, sondern zunehmend in sozialistisch-kulturpolitischen und bildungsreformerischen Zeitschriften. Siemsen entwickelte die Ansicht, dass zur Gemeinschaft erzogen werden müsse und dass nur dadurch eine umfassende Politikund Gesellschaftsreform erreicht werden könne. Im Sozialismus meinte sie das geeignete Instrumentarium gefunden zu haben, um ihre Gemeinschaftsforderungen umzusetzen. Diese Vorstellungen fasste sie schließlich 1921 in ihrer Broschüre Erziehung im Gemeinschaftsgeist zusammen. 1.3 AUF DER SUCHE NACH GEMEINSCHAFT Siemsen erhob ihre Forderung nach Gemeinschaft als Ziel und Handlungsanleitung für eine umfassende Gesellschaftsreform zuerst gegen Ende des Ersten Weltkrieges. Als der Krieg beendet war, hatte er in Siemsens Wahrnehmung einen fundamentalen Bruch mit tradierten Ordnungsvorstellungen hinterlassen: „Die alte Welt, die Welt, die wir kannten, an der sich unser Geist gebildet, und der sich unser Wille gefügt hat“ war für sie „zertrümmert“.175 „Herrschaft“, „Macht“, „Zwang“ und Materialismus wertete Siemsen als die Kennzeichen einer Politik- und Gesellschaftsordnung, die den Krieg hervorgerufen hatte und die nun durch den Gemeinschaftsgedanken überwunden werden sollte: „Ihr könnt Gemeinschaft sagen für Herrschaft, Wahrheit für Lüge, Recht und Gerechtigkeit für Gewalt und Unrecht.“ Siemsen forderte weiter: „Erkennt, daß ihr Menschen seid: Jeder von uns mit all seinen Kräften: Sinnen, Gefühlen, Erkenntnissen dem andern verwandt, auf ihn angewiesen, seiner Hilfe, seiner Anteilnahme, seiner Kameradschaft bedürftig.“176 Siemsen bewertete die zeitgenössischen Verhältnisse als inhuman und forderte immer wieder emphatisch eine Rückbesinnung auf das „Menschliche“, das sie mit „Gemeinschaft“, Wahrheit“, „Recht“ und „Ge173 Ebd., S. 199. 174 Siemsen: Mein Leben, S. 16. 175 Anna Siemsen: Der neue Tag, in: Die Tat 10 (1918/1919), Heft 10, S. 788–790, hier S. 789. 176 Ebd.

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rechtigkeit“ gleichsetzte. Sie rief zur „Gemeinschaftstat“177, zur „soziale[n] Tat“178 oder zur „menschliche[n] Tat“179 auf. Anstatt der Steigerung von „Rente und Profit“ sollte nun „Menschennot reichlicher“ gestillt „und Menschenleben“ freigemacht werden „für ein glückliches und edles Leben“.180 In den gegenwärtigen Verhältnissen, argumentierte Siemsen, sei der Mensch von seinen vermeintlich naturgegebenen Lebens- und Handlungsgrundlagen entfremdet. Sie betonte, „das Band zwischen dem Menschen und seinem Werk“ sei „zerrissen“ und der Mensch werde zur „Maschine“ degradiert. Sie kritisierte die „Wirtschaftsordnung“, die unter einer materialistischen „Weltanschauung“ stehe, die alles zur „Ware“ habe werden lassen.181 Arbeit müsse wieder zur „Schöpferfreude“ werden, zum „Dienst unter den freien Menschen“ und „zur freien Tat“.182 „Arbeit“ definierte Siemsen hier nicht als begrenzte Tätigkeit im Sinne von beruflicher Arbeit, Haushalts- oder Gartenarbeit, sondern als die Gesamtheit des Handelns eines Menschen, das sie daran messen wollte, aus welchen Motiven es geschah und ob es für den Mitmenschen geschehe. Sie glaubte, eben diese sogenannte Gemeinschaftstat werde sich durchsetzen, wenn der Mensch frei nach seinem Gewissen agieren könne. Siemsen beschrieb hier erstmals ihre Leitideen, die sie in ihrem Gemeinschaftsbegriff bündeln sollte. Die Leitideen Herrschaftslosigkeit, Recht, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität tauchten hier noch als normative Wertsetzungen auf. Siemsen sollte in ihren Europa-Konzepten stets auf sie zurückgreifen und sie in diesem Zusammenhang auch konkretisieren. Die Freiheit, nach dem eigenen Gewissen handeln zu dürfen, war ebenfalls eine jener Leitideen, die sie an dieser Stelle erstmals formulierte. Das menschliche Handeln aufgrund „freier Erkenntnis des sittlichen Gebotes“ sei jedoch in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung kaum möglich, wo „[d]ie Autorität der vorgesetzten Behörde, des befehligenden Offiziers [und] der verordneten Regierungen […] den schnellen und genauen Gehorsam“ finde.183 Die von Siemsen angeführte Entfremdung des Menschen von seinen vermeintlich natürlichen Lebensgrundlagen war Bestandteil jener „romantische[n] Ganzheitsvorstellungen“, die übergreifend in allen politischen Spektren formuliert wurden.184 Siemsen formulierte darüber eine kulturkritische „meta-politische Totalkonstruktion“, in der ein Idealzustand als „wertende Differenz“ den negativ gedeuteten 177 Anna Siemsen: Der Gott der Arbeit, in: Die Tat 11 (1919/1920), Heft 4, S. 252–257, hier S. 256. 178 Anna Siemsen: Tolstois Tagebuch, in: Die Tat 10 (1918/1919), Heft 5, S. 369–372, hier S. 371. 179 Ebd. 180 Siemsen: Der Gott der Arbeit, S. 256. 181 Ebd., S. 256 f. 182 Ebd., S. 254 f. 183 Anna Siemsen: Pflichttreue oder Disziplin, in: Die Tat 10 (1918/1919), Heft 6, S. 472–474, hier S. 473. 184 Mai: Europa 1918–1939, S. 21 f., Zitat auf S. 22. Siehe auch: Gilbert Merlio und Gérard Raulet: Einleitung, in: dies. (Hg.): Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität als Krisenbewußtsein (Schriften zur Politischen Kultur der Weimarer Republik, Bd. 8), Frankfurt am Main 2005, S. 7–21, hier S. 16.

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Verhältnissen der zeitgenössischen Gegenwart gegenübergestellt wurde.185 Das Harmonisierungsbestreben, alle Aspekte der Ordnungskrise in einem einheitlichen Konzept aufzulösen, konnte dabei nicht über eine differenzierte Gegenwartsanalyse erfolgen. Es mussten – wie etwa der von Siemsen gewählte Menschlichkeitsbegriff zeigt – normative, universal gültige Begrifflichkeiten gefunden werden, die scheinbar allgemeine Verbindlichkeit und Anschlussfähigkeit garantierten. Dieser Sachverhalt verweist auf einen Aspekt, der „das geistige Klima der Weimarer Republik bis in die Naturwissenschaften hinein“ prägte. In der Forschung ist dieser Aspekt als „Ausstieg weiter Teile der Bildungsschicht aus dem historischen Zeitmodell“ charakterisiert worden.186 Bei der Suche nach umfassenden neuen Politikentwürfen wie der Gemeinschaft erfolgte eine Abkehr vom Historismus hin zur Transzendenz. Historismus bedeutete im Sinne des liberalen Fortschrittsdenkens eine geistige Strömung, die die „Fortentwicklung des Gegebenen“ oder die „Tradition geschichtlicher Voraussetzungshaftigkeit von Erkennen und Handeln“ in den Mittelpunkt stellte. Da viele Intellektuelle tradierte Ordnungen bei ihrer Suche nach neuen Ordnungsmodellen überwinden wollten, sollten diese neuen Ordnungsmodelle eben nicht aus dem historisch Gewachsenen abgeleitet werden.187 Daher wurden andere „Bezugssysteme“ entworfen, die mit dem Transzendenten, mit vermeintlich zeitlich und räumlich übergreifenden Werten und Normen, ausgefüllt wurden.188 Für Siemsen war beispielsweise das „Gewissen“ als eine moralische Kategorie etwas „Transzendente[s]“189, das jedem Menschen gleichermaßen gegeben sei und ihn mit anderen verbinde, das aber durch die zeitgenössischen Verhältnisse unterdrückt werde. Der Bezug auf das Transzendente ermöglichte daher die „Vorstellung von uneingeschränktem Neugestalten, von Fortschritt ohne den Ballast überkommener Normen und Werte“.190 In ihren Forderungen nach neuen Wert- und Handlungsmaßstäben, die durch eine Rückbesinnung auf das „Menschliche“ und durch striktes Handeln unter der Prämisse des „sittlichen Gebotes“ des eigenen Gewissens erfolgen sollte, rekurrierte Siemsen auf die Überlegungen der Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814). Für Kant, der vom „christlichlutherische[n] Erbe der neuzeitlichen Ethik“ geprägt war,191 bedeutete Sittlichkeit „Übereinstimmung einer Handlung mit universal verbindlichen, weil rational begründbaren Normen, die frei anerkannt und nicht durch Anwendung von Zwang durchgesetzt werden sollen“.192 Diese so definierten menschlichen Handlungsmaß185 Georg Bollenbeck: Kulturkritik: ein unterschätzter Reflexionsmodus der Moderne, in: Marion Heinz und Goran Gretić (Hg.), Philosophie und Zeitgeist im Nationalsozialismus, Würzburg 2006, S. 87–99, hier S. 95. 186 Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit, S. 109. 187 Ebd. 188 Ebd., S. 111. 189 Siemsen: Tolstois Tagebuch, S. 371. 190 Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit, S. 111. 191 Karl-Heinz Ilting: Sitte, Sittlichkeit, Moral, in: Brunner, Conze und Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 5, Stuttgart 1984, S. 863–921, hier S. 894. 192 Ebd., S. 863.

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stäbe nach dem „Sittengesetz“ würden denn auch die „Gleichberechtigung und Freiheit aller anderen“ gewährleisten.193 Die sittlichen oder „moralische[n] Normen“, nach denen gehandelt werden sollte, lagen nach Kant „im Willen Gottes“ begründet, waren daher „unbedingt verbindlich“ und universal gültig. Durch diese Gottgegebenheit seien sie auch dem Menschen inhärent. Das Gewissen war für Kant an diese sittlichen Normen gebunden. Zu Freiheit und Gleichberechtigung konnte der Mensch in Kants Überlegungen nur dann gelangen, wenn er ausschließlich nach seinem Gewissen handle.194 Fichte nahm Kants Gedanken auf und erklärte, dass diese Freiheit aber auch auf dem menschlichen Willen basiere: Der Mensch müsse frei sein wollen. Der „subjektive Wille“ habe dann mit dem „vernünftigen Willen“, der universal Gültigkeit besitze, übereinzustimmen.195 Siemsen betonte in ihren Ausführungen offenbar im Rückgriff auf Fichte, eine „freie Gemeinschaft“ sei „eine Frage des Willens und des Glaubens“. Ähnlich wie Fichte argumentierte sie, das Gemeinschaftswollen sei dem Menschen naturgegeben und seine eigentliche Bestimmung: Bei Siemsen war es der „Gott der freien Tat, der Gott des Rechts und der Gerechtigkeit, der Gott der menschlichen Gemeinschaft“, der die Menschen „in die Gemeinschaft schuf zur gegenseitigen Hilfe“.196 Ihr Gemeinschaftsbegriff war dabei an Fichtes Gemeinschaftsidee angelehnt. Für den Philosophen stand nicht nur der einzelne Mensch, sondern die gesamte Gesellschaft unter „dem Gesetz der Freiheit und Übereinstimmung [mit dem vernünftigen Willen, MvB]“, so dass sich Fichte die Gesellschaft nur herrschaftslos vorstellen wollte. Grundlage seines Gesellschaftsbegriffs war „[d]ie sittliche Idee einer Gemeinschaft aller moralisch verantwortlich handelnden Personen“. Diese Gemeinschaft war dabei in Fichtes Überlegungen nicht mit dem Staat identisch.197 Siemsens Gemeinschaftsbegriff orientierte sich ebenfalls nicht an einem äußeren politischen Gemeinwesen wie dem Staat oder an regulierende Instanzen wie Institutionen, Behörden, Regierungen oder Verfassungen. Die Annahme, in dem Menschen als sozialem Wesen sei von Natur aus eine Gemeinschaftlichkeit angelegt, die als „ursprüngliche, ahistorische Form“ von einem konkreten „politischen Gemeinwesen“ abzugrenzen sei, war eine gedankliche Tradition, die seit der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein vertreten wurde.198 Sei eine Rückbesinnung auf das eigene Gewissen erfolgt, das für Siemsen Voraussetzung der Gemeinschaftsbildung war, dann, so betonte sie, seien auch keine Zugeständnisse mehr an gesellschaftliche und wirtschaftliche Notwendigkeiten vonnöten. Nicht die Forderungen des Staates, nicht der „Kulturfortschritt“ oder „nationale Lebensbedingungen“ könnten dann noch Parameter des persönlichen Handelns sein.199 193 Ebd., S. 893. 194 Ebd., S. 894. 195 Ebd. 196 Siemsen: Der Gott der Arbeit, S. 258 f. 197 Ilting: Sitte, Sittlichkeit, Moral, S. 895. 198 Lars Gertenbach u. a.: Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, Hamburg 2010, S. 21 f., bes. S. 21. 199 Siemsen: Tolstois Tagebuch, S. 370.

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In der Zeitschrift Völker-Friede, dem Organ der Deutschen Friedensgesellschaft, setzte sich Siemsen in einem Artikel explizit mit Fichte und seiner Staatsphilosophie auseinander. Zugleich wollte sie sich mit ihren Ausführungen von der bildungsbürgerlichen Fichterezeption abgrenzen. Die Ausführungen des Philosophen waren vor 1914 vielfach von den Bildungseliten für ihre Forderung nach einer deutschen Weltmachtstellung herangezogen worden.200 Siemsen erklärte nun aus ihrer Sicht, wie Fichte eigentlich verstanden werden müsse: Der Staat sei in Fichtes Überlegungen nämlich nicht das Ziel eines Volkes, „sondern ausschließlich Mittel zur Erreichung eines höheren Zweckes, der freien Menschheit“, in der „das gleiche Recht aller“ herrsche. Freiheit definierte Siemsen mit Fichte als das „sittliche[ ] Handeln[ ] aus innerer Ueberzeugung“ und dies sei nichts anderes, so Siemsen weiter, als „der Gedanke des Reiches Gottes“, der „zuerst durch Christus ausgesprochen und verwirklicht“ worden sei. Siemsen behauptete: „[D]ie ganze Weltgeschichte [ist] eine Entwicklung auf dieses Ziel hin […].“ Hätten „alle Staaten den gleichen Stand der Freiheit erreicht“, stehe schließlich die Auflösung des Staates bevor. Er werde einer „übernationalen und überstaatlichen Gemeinschaft“ weichen. Auch Kriege seien dann nicht mehr möglich. Für die Verwirklichung dieses Zieles habe der bestehende Staat zu sorgen, er sei mithin „nur ein notwendiger Uebergang“. Den „Wert“ eines Staates wollte Siemsen daran messen, welche „Bedeutung“ ihm bei der „Entwicklung zu diesem Reiche Gottes“ zukomme.201 In ihrer Auseinandersetzung mit Fichte machte Siemsen deutlich, warum sie die Existenz einer nationalen Kultur bzw. „die Einzelexistenz der Völker“ für dieses Konzept des Gottesreiches für grundlegend hielt. „Zur sittlichen Bildung“ könne der Mensch nämlich nur gelangen, wenn er in einer „Gemeinschaft“ lebe, die „sich selbst ihrer Einheit bewußt“ sei. Diese „Einheit“ komme zustande durch „Gemeinsamkeiten“, die für Siemsen aus „der Sprache, der sittlichen Anschauungen, des Rechtes und der Gesinnung“ bestanden. Diese Volkseinheit oder Volksgemeinschaft, die sie für „ein unentbehrliches Glied der allgemeinen Menschheits­ entwicklung“202 hielt, wollte sie nun in Deutschland vor allem durch Erziehungsarbeit verwirklichen. Der Rückgriff auf den „Fichtesche[n] Humanismus“ bot sich dafür an. Fichte hatte „die Menschlichkeit des Menschen“ als „totale Übereinstimmung seines Wollens mit seinem Handeln“ definiert und die „Pädagogik“ als Vermittlungsinstanz dafür erklärt.203

200 Vgl. dazu Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel und Stuttgart 1963, S. 200–202. Im Rückgriff auf Lübbe auch: José L. Villacan͂ as: „Ethischer Neu-Fichteanismus und Geschichtsphilosophie“. Zur soziopolitischen Rezeption Fichtes im 20. Jahrhunderts, in: Fichte-Studien 13 (1997), S. 193–219, hier S. 195 f. 201 Anna Siemsen: Der mißbrauchte Fichte, in: Völker-Friede. Organ der Deutschen Friedensgesellschaft 19 (1919), Heft 1, S. 3–4, hier S. 3 f. 202 Ebd., S. 4. 203 Lübbe: Politische Philosophie, S. 200.

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1.3.1 Menschheitsgemeinschaft zwischen Ost und West Während des Ersten Weltkrieges hatte Siemsen die Forderung nach einer deutschen Kultur erhoben, die „menschlicher“ gestaltet werden sollte. Sie wollte dafür die „Erkenntnis“ wecken, „daß wir ein Volk und eines Schicksals und eines Zieles sind“.204 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begann sie, die deutsche Kultur in eine spezifisch europäische Kultur einzuordnen und eine neue Ordnung menschlichen Zusammenlebens auf internationaler Ebene zu fordern. Es waren der Krieg und die verheerende Kriegserfahrung als gesamteuropäisches Phänomen, die Siemsen in ihrer Annahme bestärkten, gerade in Europa sei eine „sittliche“ Erneuerung notwendig und durch die umfassende Zerstörung, aus der Gemeinschaft erwachsen könne, auch möglich: „Wir stehen vor einer namen- und beispiellosen Vernichtung. Von dem Deutschland, in dem ihr geboren seid, das reich und mächtig war, das auf seine Heere und Flotten, auf seine Menschenmassen und seine Maschinen pochte, ist wenig mehr als der Name übrig. Und von Europa, dem stolzen und reichen, dem macht- und gier- und unrechttrunkenen, ist ein Chaos zurück, ein Trümmerhaufen, über dem der namenlose Schmerz der Beraubten, Verwaisten, Verlassenen stöhnt.“205

Die Analogie von Deutschland und Europa in diesem Zitat zeigt, dass Siemsen hier nicht etwa von einer politischen Zerstörung sprach, sondern von einer umfassenden. Hier wurde nicht die politische Niederlage des Deutschen Reiches betont, sondern die gesellschaftliche und kulturelle Niederlage ganz Europas. Der Erste Weltkrieg hatte für Siemsen keine Sieger hervorgebracht, sondern nur Verlierer, „Verwaiste“, „Verlassene“ und „Beraubte“. Diesen Verhältnissen stellte sie „die neuen Welten“ gegenüber, in denen „[d]ie alten Ziele: Macht, Reichtum, Herrschaft, diese alten Ziele der Völker und der Einzelnen nicht mehr [sein würden, MvB].“206 Aus Siemsens Sicht war die ganze europäische Kultur, von der Deutschland ein Teil war, durch den Krieg zerstört worden. Die zitierten Aspekte wie Macht, Herrschaft und Unrecht, die Siemsen für den Krieg verantwortlich machte, waren für sie Ausdruck politischer und gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse in ganz Europa vor Beginn des Krieges gewesen. Dennoch konzentrierte sie sich in ihren Ausführungen unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges aber noch nicht explizit auf eine Erneuerung der europäischen Kultur, sondern weiterhin auf eine Erneuerung der deutschen. Siemsen griff dafür auf eine zeitgenössisch beliebte Projektionsfläche zurück: Russland. Die Auseinandersetzung mit Russland, die teilweise schon während des Ersten Weltkrieges in ihren Aufsätzen stattgefunden hatte, prägte auch ihre späteren Europa-Konzepte. Siemsen zählte Russland aus verschiedenen Gründen nicht zu Europa. Aber gerade deshalb spielte es in ihren Ausführungen eine wichtige Rolle für Deutschland und Europa. Die Reaktionen in Deutschland auf die politischen Entwicklungen in Russland seit der Oktoberrevolution von 1917 zeichneten sich in bürgerlichen Kreisen zu204 Siemsen: Der Gott der Arbeit, S. 259. 205 Siemsen: Der neue Tag, S. 789. 206 Ebd.

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meist durch Ablehnung und Furcht vor dem bolschewistischen System aus. Zugleich übten die Ereignisse in Russland auf einige Teile der deutschen Bevölkerung aber auch eine „Faszination“ aus, weil dort eine neue gesellschaftliche Ordnung verwirklicht worden war,207 die aus Sicht der Bildungseliten in Deutschland gerade nicht stattgefunden hatte.208 Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg fehlten noch gesicherte Kenntnisse über den konkreten Ablauf der Russischen Revolution und die nachfolgenden politischen Entwicklungen. Vor allem Linksintellektuelle sahen in Russland zuallererst „ein großartiges Experiment, zu einer gerechteren Gesellschaft zu gelangen“.209 Der Rückgriff auf russische Literatur und die russische Philosophie wurde zu einem „Massenphänomen“, das in keinem anderen Land so verbreitet war wie in Deutschland.210 Im Rückgriff auf russische Autoren wie Dostojewski und Tolstoi wurden eigene Defizite thematisiert, aber auch eine besondere kulturelle Rolle Deutschlands in Europa diskutiert.211 Auch bei Siemsen stand nicht das leninistisch-marxistische System Russlands im Vordergrund, sondern „Russischer Geist“212 oder „Russische Menschen“.213 In der russischen Literatur und in russischen Autoren meinte sie ein „Urmenschentum“ zu erkennen, das für die zu erneuernde deutsche Kultur ein Vorbild sein solle. Für Siemsen strahlte „[a]us diesem reinen und urmenschlichen Menschentum […] die Kraft der Erneuerung über“. Es offenbarte sich für sie die „Forderung der neuaufsteigenden gewaltlosen Menschheit“, die die „Gewaltpolitik der alten Klassengesellschaften“ abzulösen habe.214 In dem „Geist, der heute von Osten her Europa neugestaltend durchweht“ sprach zu ihr nichts anderes als „der Geist einer neuen menschlichen Gemeinschaft“.215 Die russische Literatur stilisierte sie sogar zu ihrem politischen Erweckungserlebnis: Neben Dostojewski, mit dem Siemsen während des Ersten Weltkrieges für eine ethisch-religiöse Erneuerung Deutschlands plädiert hatte, hätten auch Gorki, Gogol, Tolstoi und Turgenjew etwa „das brennende Gefühl der Ungerechtigkeit“ in ihr entfacht. „[D]ie russische Dichtung“ sei nämlich „eine revolutionäre der Empörung und bitteren Anklage“. Für Siemsen war 207 Gerd Koenen: Der deutsche Russland-Komplex. Zur Ambivalenz deutscher Ostorientierungen in der Weltkriegsphase, in: Gregor Thum (Hg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 16–46, hier S. 24. 208 Mergel: High Expectations, S. 194. 209 Siehe dazu Werner Fritsch: Zum Rußlandbild linksdemokratischer Intellektueller in der Weimarer Republik, in: Erhard Hexelschneider, Manfred Neuhaus und Claus Remer (Hg.): Rußland und Europa. Historische und kulturelle Aspekte eines Jahrhundertproblems, Leipzig 1995, S. 245–253, hier S. 246 f. 210 Koenen: Der deutsche Russland-Komplex, S. 32 und S. 37. 211 Harald Bluhm: Dostojewski und Tolstoi-Rezeption auf dem „semantischen Sonderweg“. Kultur und Zivilisation in deutschen Rezeptionsmustern Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Politische Vierteljahresschrift 40 (1999), Heft 2, S. 305–327, hier S. 306. Bluhm verweist auch auf die bislang kaum untersuchte Wirkung dieser Rezeption auf das politische Denken in Deutschland. 212 Anna Siemsen: Russischer Geist, in: Proletarier-Jugend 1 (1920), Heft 14, S. 22–23. 213 Anna Siemsen: Russische Menschen, in: Der Sozialist 6 (1920), S. 437–440. 214 Ebd., S. 438 f. 215 Siemsen: Russischer Geist, S. 23.

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sie deshalb „politische […] und revolutionäre Dichtung“, weil sie immer die „Stimme [des] um seine Freiheit kämpfende[n] Volk[es]“ gewesen sei.216 In Siemsens Auseinandersetzung mit russischer Dichtung fand Tolstoi besondere Beachtung. Leo Tolstoi (1828–1910) selbst hatte eine fundamentale Kulturund Zivilisationskritik vertreten und eine friedliche staaten- und institutionslose Gesellschaft gefordert.217 Seine kriegsgegnerischen und gesellschaftskritischen Gedanken waren schon vor dem Krieg durch das 1903 in Deutschland erschienene Buch Dostojewski und Tolstoi als Menschen und als Künstler des russischen Autors Dimitri Mereschkowski populär geworden und standen einem kulturkritischen Bürgertum bei der Suche nach gesellschaftlichen und politischen Reformen Pate.218 An Tolstoi faszinierte Siemsen vor allem seine Forderung nach Gewissensfreiheit, die nichts als „menschliche Wahrheit“ sei, wie sie betonte. Tolstoi war für Siemsen vor allem auch Vorbild für den gewünschten zukünftigen deutschen Menschen, der zwar in seiner nationalen Kultur verwurzelt sein müsse, sich dabei aber nicht weniger anderen Menschen verbunden fühle: „Es gibt nichts Nationaleres wie einen großen Menschen, und es gibt keinen großen Menschen, der nicht über das Nationale hinauswüchse ins allgemein Menschliche; Lehrer, Freund und Bruder aller Völker.“219 Mit ihren Hinweisen auf die russischen Menschen oder das russische „Volk“ nahm Siemsen eine zeitgenössisch verbreitete Deutung auf. In der Russlandrezeption jener Jahre wurde oft auf das russische Volk rekurriert, das „eine Idee von allmenschlicher Bedeutung“ verkörpere.220 In dieser Sichtweise wurde der „bolschewistische Überbau“ in der Regel nicht näher thematisiert.221 Auch Siemsen entzog sich hier einer Stellungnahme: „Es wird heute so viel über Rußland gelogen und gefabelt. Wir haben keine Möglichkeit, dem allen auf den Grund zu gehen. Wir haben aber die Möglichkeit, in seinen Dichtern dies Land kennen zu lernen und aus ihnen zu sehen, wie unendlich reich an Möglichkeiten Rußland ist, wie viel wir von ihm zu lernen haben, und wie groß doch auch die Verschiedenheit ist zwischen ihm und uns.“222

216 Ebd., S. 22 f. 217 Zu Tolstoi siehe ausführlich: Edith Hanke: „Wo ist der Ausweg?“ Die Tolstoi-Gesamtausgabe im Eugen Diederichs Verlag, in: Ulbricht und Werner: Romantik, Revolution und Reform, S. 135–155 und dies.: Der Dichter als Prophet. Leo N. Tolstoi und Christian Wagner, in: Baumgartner und Wedemeyer-Kolwe: Aufbrüche, S. 71–80. 218 Bluhm: Dostojewski und Tolstoi-Rezeption, S. 310. Zur Dostojewski-Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. auch: William J. Dodd: Ein Gottträgervolk, ein geistiger Führer. Die Dostojewskij-Rezeption von der Jahrhundertwende bis zu den zwanziger Jahren als Paradigma des deutschen Rußlandbilds, in: Mechthild Keller (Hg.): Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von der Bismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg (West-Östliche Spiegelungen, Reihe A, Bd. 4), München 2000, S. 853–865. 219 Siemsen: Tolstois Tagebuch, S. 369. 220 Koenen: Der deutsche Russland-Komplex, S. 33. 221 Ebd., S. 37. 222 Siemsen: Russischer Geist, S. 22.

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In der Auseinandersetzung mit den russischen und den eigenen Verhältnissen entbrannte eine Debatte darüber, ob sich Deutschland, das als besiegtes Land zwischen West und Ost lag, an den kulturellen Werten und Ideen des Westens zu orientieren habe oder an denen des Ostens. „Rom oder Moskau“223 hieß dabei die Formel, die auf den Journalisten Alfons Paquet (1881–1944) zurückging. Paquet selbst sprach sich für eine Orientierung am Osten aus.224 Auch Siemsen plädierte zu Beginn der 1920er Jahre für eine Orientierung an dem „russischen Geist“ und den „russischen Menschen“, durch deren Vorbild die deutsche Kultur im Gemeinschaftssinn erneuert werden sollte. Im Lauf der 1920er Jahre trat die kulturelle Auseinandersetzung mit Russland in Siemsens Publikationen aber zurück. Wegen der politischen Entwicklungen in Russland betonte sie vermehrt die Unterschiede, die auf politischem und gesellschaftlichem Gebiet zu Europa bestehen würden. Dagegen wurde aber ein anderer Aspekt in der Auseinandersetzung mit Russland verhandelt, der an dieser Stelle schon angesprochen wurde und der Siemsens Europa-Konzepte über Jahrzehnte durchziehen sollte: Deutschland als Land der Mitte zwischen Westen und Osten. Deutschland kam in Siemsens Europa-Konzepten deswegen eine zentrale Bedeutung zu, weil sie glaubte, es sei prädestiniert, kulturelle und politische Werte aufzunehmen, zu einer Synthese zusammenzufügen, auf diese Weise einen politischen Ausgleich zwischen West und Ost herbeiführen und eine Funktion von „menschheitlicher“ Bedeutung zu erfüllen. 1.3.2 Gemeinschaftserziehung und Schulreform Das uneingeschränkte Neugestalten gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse wollte Siemsen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg über die Erziehung und eine umfassende Schulreform erreichen. Der neue Mensch oder der Gemeinschaftsmensch, der als Produkt dieser Erziehung entstehen sollte, werde auch die gesamte Gesellschaft im Gemeinschaftssinn verändern können. In ihrer 1921 erschienenen Schrift Erziehung im Gemeinschaftsgeist, die programmatisch in der Reihe Gemeinschaftskultur225 veröffentlicht wurde, betonte sie, dieser „neue Mensch“ stelle „eine sittliche Forderung“ dar, „wenn nicht Wirtschaft, Staat, unser ganzes Dasein in Fäulnis zerfallen sollen“.226 Mit diesen Überlegungen stand Siemsen nach dem Ersten Weltkrieg nicht allein: Der Erziehungsgedanke hatte Konjunktur. Die Vorstellung, eine nationale Erneuerung und dadurch eine Volksgemeinschaft durch Erziehung schaffen zu können, fand in der sich nach Kriegsende rasant ausbreitenden Volksbildungsbewegung ihren Widerhall. Durch diese gesellschaftlich und poli223 Alfons Paquet: Rom oder Moskau. 7 Aufsätze, München 1923. 224 Koenen: Der deutsche Russland-Komplex, S. 28. 225 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist. Teile der folgenden Ausführungen zu Siemsens Schrift Erziehung im Gemeinschaftsgeist finden sich auch in meinem Aufsatz: Marleen von Bargen: Menschheitsgemeinschaft Europa. Anna Siemsens Europa-Vorstellungen in der Weimarer Republik, in: Schwitanski: Anna Siemsen, S. 37–53, hier S. 41–45. 226 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 40.

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tisch heterogene Bewegung wurden etwa Volkshochschulen gegründet, Arbeitsgemeinschaften, Kurs- und Vortragsreihen sowie Bibliotheken aus der Taufe gehoben.227 Insbesondere Lehrerinnen und Lehrer wie Siemsen fühlten sich aufgrund ihrer Profession dazu berufen, Ideen und Konzepte für eine neue Erziehung zu entwerfen. Da in den verfassunggebenden Beratungen der Nationalversammlung auch die Reform des öffentlichen Bildungs- und Erziehungswesens auf die Tagesordnung kam,228 war die Hoffnung reformfreudiger Pädagoginnen und Pädagogen auf eine mögliche Durchsetzung ihrer Forderungen groß. Schon bald nach Ende des Krieges entstanden neben den bereits bestehenden konfessionellen oder berufsständischen Lehrer- und Lehrerinnenorganisationen, die die gesellschaftlichen und ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder vertraten,229 neue Vereinigungen, die eine radikale Reform des gesamten Bildungs- und Erziehungswesens forderten. Hier spielte der Bund Entschiedener Schulreformer (BESch) eine prominente Rolle. Obwohl der BESch erst am 18. September 1919 gegründet wurde, hatte schon Ende 1918 ein Zusammenschluss von akademisch gebildeten Lehrkräften um den Pädagogen Paul Oestreich stattgefunden, in dem über Schulreformen diskutiert wurde. Er war ein „heterogenes Sammelbecken“ für vielfältige reformpädagogische Themen und wurde dadurch „zur Plattform der politisch-pädagogischen Diskussion kultureller, gesellschaftspolitischer und erzieherischer Fragen“.230 Das Zeitschriftenorgan des Bundes, Die neue Erziehung, umfasste entsprechend vielfältige Themen, bei denen stets die Gemeinschaft als Erziehungsziel propagiert wurde.231 Siemsen stieß hier mit ihren Gemeinschaftsvorstellungen auf große Resonanz. Der BESch wollte durch eine völlige Umwälzung des bestehenden Schul- und Bildungssystems nicht nur die als hierarchisch, autoritär und lebensfremd bewertete bisherige Schule abschaffen, sondern vor allem eine umfassende Gesellschaftsreform durchsetzen.232 Er erreichte in seiner Konsolidierungsphase bis 1925 ca. 6000 Mitglieder. Darunter

227 Ciupke: Diskurse über Volk, Gemeinschaft, Demokratie, S. 14. 228 Grundlegend dazu: Ludwig Richter: Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 47), Düsseldorf 1996. 229 Sebastian Müller-Rolli: Lehrer, in: Dieter Langewiesche und Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5: 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 240–258, hier S. 250. 230 Armin Bernhard: Demokratische Reformpädagogik und die Vision von der neuen Erziehung. Sozialgeschichtliche und bildungstheoretische Analysen zur Entschiedenen Schulreform (Studien zur Bildungsreform, Bd. 36), Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 74. 231 Heinz-Elmar Tenorth: Erziehungsutopien zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich, in: Hardtwig: Utopie und politische Herrschaft, S. 175–198, hier S. 187. 232 Ausführlich zum BESch siehe auch Ingrid Neuner: Der Bund entschiedener Schulreformer 1919–1933. Programmatik und Realisation (Würzburger Arbeiten zur Erziehungswissenschaft), Bad Heilbrunn 1980. Zum Vorlauf und zur Gründung des BESch siehe ebd., S. 27–29 und den Sammelband von Armin Bernhard und Jürgen Eierdanz (Hg.): Der Bund der Entschiedenen Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik (Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, Bd. 10), Frankfurt am Main 1991.

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war der Frauenanteil relativ hoch.233 Die Mehrheit aller Mitglieder vertrat sozialistische Ideen oder sympathisierte mit ihnen.234 In den Debatten um Gemeinschaftserziehung trat Siemsen im BESch mit ihren Überlegungen „am intensivsten“ hervor.235 In ihrer Schrift Erziehung im Gemeinschaftsgeist fasste sie ihre theoretischen Grundannahmen über Gemeinschaft und Erziehung zusammen und entwarf ein erstes Grundkonzept, auf dem ihre praktischen Reformbemühungen fußten. Siemsen glaubte, „eine ganz bestimmte Entwicklung der Menschen“, nämlich hin zur Gemeinschaft, sei mit Sicherheit zu erwarten.236 Der menschliche Wille zur Gemeinschaft habe sich in der Geschichte „zu allen Zeiten bald hier, bald dort“ schon gezeigt.237 Dieser menschliche „Trieb der Selbstbehauptung“ sei für die gesellschaftliche Entwicklung ausschlaggebend. Das dem Menschen innewohnende Gemeinschaftswollen setzte Siemsen gleich mit dem „eingeborene[n] menschliche[n] Trieb nach völliger Entfaltung seiner Kräfte, der keine Hemmung von außen anerkennt, mag nun die Natur, mag die Gesellschaft das Hemmnis sein.“ Dieser Trieb bewirke denn auch „alle wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen“.238 Die Ziel- und Idealvorstellung der Gemeinschaft war in dieser normativen Sichtweise eine logische Konsequenz der gesellschaftlichen Entwicklung, deren freier Entfaltung aber in der zeitgenössischen Gegenwart noch enge Grenzen gesetzt waren. Zuerst mussten entsprechende Wert- und Handlungsmaßstäbe durch Erziehung etabliert werden. Aufgrund ihrer Annahme, die bestehende Gesellschaftsordnung befinde sich in einer Umbruchphase, glaubte Siemsen, der Zeitpunkt sei gekommen, das dem Menschen innewohnende Gemeinschaftswollen in das Bewusstsein zu rufen. Eine neue Erziehung sollte daher schon Werte der zukünftigen Gemeinschaft wie Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Frieden vermitteln und diese Werte zugleich als Handlungsgrundlage nehmen.239 Siemsen betonte, die bisherige Erziehung habe gerade dies nicht eingelöst. Sie habe den Menschen „zu einem kriegerischen Patrioten [und] zum Berufsspezialisten“ gemacht. Eine Erziehung im Gemeinschaftsgeist bringe dagegen den „internationalen Pazifisten und ‚guten Europäer‘“ hervor und sie befähige „zur freien Selbstverantwortung“.240 233 Jürgen Eierdanz und Armin Kremer: Der Bund Entschiedener Schulreformer – Eine soziale Bewegung der Weimarer Republik?, in: Bernhard und Eierdanz: Der Bund der Entschiedenen Schulreformer, S. 28–66, hier S. 50 und 52. Genaue Angaben zum Frauenanteil fehlen hier. 234 Bernhard: Demokratische Reformpädagogik, S. 76. 235 Armin Bernhard: Sozialität, Erziehung und Gesellschaft. Individuum und Gemeinschaft im Paradigma der neuen Erziehung des Bundes Entschiedener Schulreformer, in: Heike Neuhäuser und Tobias Rülcker (Hg.): Demokratische Reformpädagogik (Berliner Beiträge zur Pädagogik, Bd. 2), Frankfurt am Main u. a. 2000, S. 43–62, hier S. 54. Siehe auch: Bernhard: Erziehungsreform zwischen Opposition und Innovation, S. 568. 236 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 8. 237 Ebd., S. 39. 238 Ebd., S. 10 f. 239 Schmölders: Sozialistische Erziehung, S. 127 und Weiß: Erziehung für eine „werdende Gesellschaft“, S. 18. 240 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 8.

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Die Erziehung zum Pazifisten, „guten Europäer“ und zur Selbstverantwortung, die für Siemsen zugleich Erziehung „zum Menschen schlechthin“241 war, war eine Forderung, die auch im BESch erhoben wurde. Der Mensch sollte ganzheitlich gebildet werden und alle seine Fähigkeiten entwickeln dürfen, ohne den bisherigen Schwerpunkt auf eine als einseitig bewertete intellektuelle oder berufliche Ausbildung. Eine „Erziehung zu politischer und sozialer Verantwortung“ sollte dazu führen, den Staat „als einen lebenden Organismus“ zu begreifen.242 Durch die Verwirklichung dieser Erziehungsziele solle, so die Meinung der entschiedenen Schulreformer, „Menschheitsbewußtsein“ geschaffen und eine neue „Menschheitskultur“ begründet werden. Daher wandte sich der BESch auch gegen soziale und gesellschaftliche Ungleichheit, gegen Militarismus und setzte sich für die Völkerverständigung ein.243 So wie Siemsen griff auch der dominierende Kopf des BESch, Paul Oestreich, in seinem Konzept der Menschheitserziehung auf Fichte zurück. Mit Fichtes Gedanken zur ‚Nationalerziehung‘ untermauerte er seine Vorstellung, durch Erziehung zur Gemeinschaft eine Erneuerung des deutschen Volkes „im Dienste an der Menschheit“ zu vollbringen.244 Die Forderung, Menschheitsbewusstsein zu wecken und eine Menschheitsgemeinschaft zu erreichen, begründete Siemsen mit anthropologischen Gesetzmäßigkeiten und wirtschaftlichen Entwicklungen. Auch in diesen Argumentationen stimmte sie mit Oestreich überein. Sie betonte, die Grundbedürfnisse der Menschen seien „überall die gleichen“.245 Sie zählte „Nahrung, Kleidung und Wohnung“ dazu sowie „Licht, Luft, Sonnenschein, Sauberkeit und Bewegung“.246 Die Gemeinschaft habe vor allem ein Ziel zu verwirklichen, das „dauernd ist wie die Menschheit“. Sie solle „dem Menschen sein Leben auf Erden […] sichern, und zwar allen Menschen ein Leben, das ihnen gemäß“ sei.247 Ziel müsse es sein, diese Bedürfnisse durch gemeinsame Arbeit auf Grundlage von Solidarität und gegenseitiger Hilfe zu befriedigen, was nur in der Gemeinschaft möglich sei.248 Daher definierte

241 Ebd. 242 Neuner: Der Bund entschiedener Schulreformer, S. 57. 243 Armin Bernhard: Friedenserziehung in der Weimarer Republik – Zur Rekonstruktion der verdrängten friedenspädagogischen Ansätze im Bund Entschiedener Schulreformer, in: ders. und Eierdanz: Der Bund Entschiedener Schulreformer, S. 67–87, hier S. 69 und 72, Zitate auf S. 69. Vgl. dazu auch Scheibe: Die Reformpädagogische Bewegung, S. 319. 244 Winfried Böhm: Lehrer zwischen Kulturkritik und Gemeinschaftsutopie: Der Bund entschiedener Schulreformer, in: Manfred Heinemann (Hg.): Der Lehrer und seine Organisation (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Bd. 2), Stuttgart 1977, S. 191–200, hier S. 195. Der Hinweis auf Fichtes Nationalerziehung findet sich auch bei Bernhard: Erziehung zwischen Opposition und Innovation, S. 567. Ingrid Neuner verweist ebenfalls auf den engen Zusammenhang zwischen den pädagogischen Ideen Oestreichs, seinen Reformforderungen und Fichtes Philosophie: Neuner: Der Bund entschiedener Schulreformer, S. 70–72. 245 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 13. 246 Ebd. 247 Ebd., S. 39. 248 Ebd., S. 40.

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Siemsen Gemeinschaft auch als „freiwillige Vereinigung der Menschen zu gleichen Zielen“.249 Siemsen betonte, diese Vereinigung zu gleichen Zielen werde aber vor allem durch die zeitgenössische bestehende Wirtschaftsordnung gehemmt, weil diese „ein Chaos gegeneinander wirkender Einzelinteressen“ und damit einen „unmenschlichen und widersinnigen Zustand“ der Gesellschaft hervorgerufen habe.250 Die Wirtschaftsordnung zwinge die Menschen, nicht für den Mitmenschen und seine Grundbedürfnisse zu arbeiten, sondern allein für materielle und egoistische Interessen.251 Siemsen ging von einer absolut positiv gedeuteten Natur des Menschen aus, die sich unter entsprechenden, nicht-kapitalistischen Bedingungen auch voll werde entfalten können. Diese „Argumentationsfigur mit normativen Geltungsansprüchen“ hatte im Neuhumanismus ihre Wurzeln.252 Siemsen stand noch in der Tradition des liberalen Fortschrittsdenkens, als sie erklärte, diese menschliche Natur, wenn sie durch eine umfassende Erziehungsreform im Gemeinschaftssinn freigesetzt werde, führe daher auch „zur kulturellen Weiterentwicklung“.253 Die Überwindung der zeitgenössischen bestehenden Wirtschaftsordnung, die stellvertretend für widernatürliche und inhumane Lebensbedingungen stehe, war für Siemsen daher neben der Erziehung ein ebenso wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer solidarisch organisierten Gesellschaft, die sich schließlich in der Gemeinschaft manifestieren werde. Nicht nur aufgrund der anthropologischen Beschaffenheit des Menschen sei diese Aufgabe universal zu lösen. Siemsen betonte, gerade weil die „wirtschaftliche Verflechtung“ aller Länder so weit fortgeschritten sei, müsse „die Menschheit als ein Ganzes zu fassen“ sein und in die Gemeinschaftsbildung integriert werden.254 Oestreich hatte ähnlich argumentiert. Aufgrund der internationalen Wirtschaftsverflechtung und der internationalen Verbundenheit der Arbeiterklasse könne die Freiheit aller Völker nur gewährleistet sein, wenn nicht länger Profitstreben, sondern die Bedürfnisse der Menschen als wirtschaftliche Handlungsgrundlage genommen werde. Eine wirtschaftliche Umwälzung sei vonnöten, wenn dauerhafter Friede als Grundlage einer „neue[n] Menschheitskultur“ geschaffen werden solle.255 Die Arbeit des BESch konzentrierte sich neben theoretischen Überlegungen wie Siemsen sie formulierte auch auf die Erarbeitung praktischer Reformen. Für die gewünschten neuen Erziehungsziele forderte der BESch inhaltliche und institutionelle Reformen des Bildungs- und Erziehungswesens. Zunächst sollten demokratische Strukturen geschaffen werden, wie etwa Selbstverwaltungsgremien der Schüler und demokratisch gewählte Eltern- und Lehrervertretungen. Neben der Beschränkung des Berechtigungswesens, Lehrplanrevisionen und neuen Lehrmetho249 Ebd., S. 38. 250 Ebd., S. 39 f. 251 Ebd., S. 38. 252 Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 141. 253 Anna Siemsen: Reformgefahren, in: Die neue Erziehung 1 (1919), Heft 7, S. 241–244, hier S. 243. 254 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 39. 255 Bernhard: Friedenserziehung in der Weimarer Republik, S. 69 und 75.

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den wie Arbeitsgemeinschaften war die zentrale Forderung jedoch der einheitliche Aufbau des gesamten Schulsystems, die sogenannte differenzierte oder elastische Einheitsschule.256 Diese sollte koedukativ sein und alle Erziehungsstationen vom Kindergarten bis zur Hochschule in sich vereinen, dabei aber nicht unterteilt und abgeschlossen, sondern an den Anforderungen, Interessen und Veranlagungen der Schülerinnen und Schüler angepasst sein.257 Es wurde betont, dass diese Einheitsschule weltlich, also frei von konfessionell-weltanschaulichen Einflüssen zu sein habe. Der Einfluss der Kirche oder ihrer Vertreter auf die Erziehung wurde von den Schulreformern als hinderlich für ihre Erziehungsziele für eine frei entwickelte Persönlichkeit betrachtet. Die Kirche, so argumentierte Siemsen, leugne „die geschichtliche Entwicklung“ und fördere damit den „Verzicht auf eigenes Suchen und selbstständiges [sic] Erkennen“, weil sie „Bekenntnistreue zur reinen Lehre“ fordere.258 Neben der Einheitsschule wurde auch das Konzept einer Arbeitsschule diskutiert, in der in Ergänzung zum theoretischen Lernen vor allem mit praktischer Tätigkeit das Prinzip der Arbeitsgemeinschaft und der Wert handwerklicher Betätigung vermittelt werden sollte.259 In ihrer Forderung nach der Einheitsschule griffen die Mitglieder des BESch dabei auf das Schulprogramm zurück, das die SPD auf ihrem Mannheimer Parteitag 1906 beschlossen hatte. Hier waren bereits Einheitlichkeit, Weltlichkeit und Unentgeltlichkeit der Schule gefordert worden. Diese Grundsätze vertraten auch andere reformorientierte Gruppen und Vereine wie etwa der Deutsche Lehrerverein, in dem überwiegend Volksschullehrer organisiert waren, oder die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer.260 Als mit dem Ende des Kaiserreichs 1918 auch das bislang bestehende staatliche Erziehungswesen zur Disposition stand, erreichten die Diskussionen um Erziehungs- und Bildungsreformen eine neue Intensität.261 In der verfassunggebenden Nationalversammlung entzündeten sich die Reformdiskussionen an den genannten Forderungen nach Einheitlichkeit, Weltlichkeit und Unentgeltlichkeit des Schulsystems, die zwar von der MSPD, der USPD und der KPD erhoben worden waren,262 aber bei weitem nicht von allen politischen und gesellschaftlichen Gruppen unter256 Zu den schulpolitischen Reformforderungen: Neuner: Der Bund entschiedener Schulreformer, S. 29 sowie auch Eierdanz und Kremer: Der Bund Entschiedener Schulreformer, S. 51. 257 Scheibe: Die reformpädagogische Bewegung, S. 320. Scheibe betont ebd., es habe hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung, der „innere[n] Differenzierung und Elastizität“ der Einheitsschule, unterschiedliche Meinungen gegeben. 258 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 23 f. 259 Ulrich Herrmann: „Neue Schule“ und „Neue Erziehung“ – „Neue Menschen“ und „Neue Gesellschaft“. Pädagogische Hoffnungen und Illusionen nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: ders.: „Neue Erziehung“ – „Neue Menschen“, S. 11–32, hier S. 13. 260 Neuner: Der Bund entschiedener Schulreformer, S. 58. Siehe ausführlich zu den schulpolitischen Forderungen der SPD von 1906 auch: Richter: Kirche und Staat, S. 74 f. und Wolfgang Keim: Politische Parteien, S. 56–59. 261 Dieter Langewiesche und Heinz-Elmar Tenorth: Einleitung: Bildung, Formierung, Destruktion. Grundzüge der Bildungsgeschichte von 1918–1945, in: dies.: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5, S. 1–24, hier S. 16. 262 Keim: Politische Parteien, S. 65.

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stützt wurden. Die SPD und die Zentrumspartei, die als Interessensvertretung des katholischen Milieus den kirchlichen Einfluss auf die Schulen beibehalten wollte, bildeten dabei die „gegensätzlichen Positionen“, zwischen denen die Debatten geführt wurden.263 Weitreichende Reformambitionen, die gerade auch linksliberale Parteien hegten, scheiterten bereits 1919 vor Gründung des BESch am sogenannten Weimarer Schulkompromiss der Weimarer Koalition, die aus der Zentrumspartei, der MSPD und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bestand. Die Zentrumspartei hatte im Vorwege ihre Koalitionsbereitschaft mit SPD und DDP sowie die Zustimmung zum Versailler Friedensvertrag „vom Zugeständnis konfessioneller Bildungsprinzipien“ abhängig gemacht. Damit blieben nach den Artikeln 146 und 149 der Reichsverfassung die Möglichkeit, Konfessionsschulen einzurichten sowie Religionsunterricht als reguläres Fach, weiterhin bestehen. Grundlegende Reformen, die die linken Parteien und die linksliberale DDP per Gesetz festschreiben wollten, liefen ins Leere.264 Auch die Reichsschulkonferenz, die im Juni 1920 in Berlin stattfand und auf der etwa 700 Personen aus der Bildungspolitik, der Reformpädagogik und verschiedenen anderen Organisationen über „nahezu alle zentralen Fragen von Schule und Erziehung“ berieten, blieb ohne Auswirkungen auf die in der Verfassung festgeschriebenen Schulartikel.265 Wohl aufgrund des Weimarer Schulkompromisses und den Ergebnissen der Reichsschulkonferenz kam Siemsen zu dem Schluss, dass die von ihr gewollte Erziehung nicht in staatlichen Erziehungseinrichtungen praktiziert werden könne. Den Staat hielt Siemsen für eine „Organisation der herrschenden Klasse“.266 Er würde „die gesellschaftliche Ordnung […], die bestehenden Macht-, Besitz- und Arbeitsverhältnisse als ewiggültige, als gottgewollte Abhängigkeiten“ auffassen und sei daher als Träger der Erziehung nicht geeignet.267 Sie forderte daher freie Arbeitsgemeinschaften, „selbständige Siedlungen auf genossenschaftlicher Grundlage“ und „öffentliche Betriebe“, die „den Gedanken der Arbeitserziehung“ aufnehmen sollten.268 Siemsen, die 1919 der USPD beigetreten war, stellte in ihrer Broschüre heraus, die von ihr geforderte Erziehung zur Gemeinschaft könne nur über die Weltanschauung des Sozialismus realisiert werden. Daher bezeichnete sie ihre Abhandlung Erziehung im Gemeinschaftsgeist auch als „eine sozialistische Schrift“.269 Sozialismus war für sie eine „Geistes-, Gemüts- und Willensbeschaffenheit“, eine 263 Richter: Kirche und Schule, S. XVIII. 264 Langewiesche und Tenorth: Einleitung: Bildung, Formierung, Destruktion, S. 13. 265 Keim: Politische Parteien, S. 68 f. Es wurde dort lediglich die vierjährige „obligatorische Grundschule“ beschlossen: Langewiesche und Tenorth: Einleitung: Bildung, Formation, De­ struktion, S. 13 f. Vgl. zur Reichsschulkonferenz auch: Reichsschulkonferenz, Berlin (Hg.): Die Reichsschulkonferenz 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen (Deutsche Schulkonferenzen, Bd. 3), Glashütten im Taunus 1972 [unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1921]. 266 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 25. 267 Ebd., S. 34. 268 Ebd., S. 57. 269 Ebd., S. 5.

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Einsicht in die Notwendigkeit des Fortschritts aufgrund eigener Erkenntnis. Im Vorwort ihrer Broschüre betonte Siemsen, „Arbeit ist Sozialismus“.270 In ihrer Definition von Arbeit bedeutete dies, Sozialismus hieße nichts anderes, als Arbeit für den Mitmenschen und seine Grundbedürfnisse sowie ein Handeln auf Grundlage des sittlichen Gebotes des eigenen Gewissens. Siemsen rekurrierte mit ihrem Arbeitsbegriff auf eine philosophische Debatte, die im 18. Jahrhundert u. a. von dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) angestoßen worden war. „Die Idee der allgemeinen Arbeit“ wurde „als Pflichtdienst der Gesellschaft“ betrachtet. Im Frühsozialismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt die Verbindung von Arbeit und allgemeinen Bedürfnissen als Grundlage für soziale Gleichheit.271 Für Siemsen war Arbeit für die Befriedigung allgemeiner Grundbedürfnisse zugleich eine Forderung, die dem Wesen des Menschen gemäß sei und deshalb einen dauernden Wert darstelle. In dieser Tradition stehend, war eine sozialistische Einstellung für Siemsen nicht identisch mit sozialistischer Partei- oder Regierungspolitik. „[M]it der berühmten Parteibrille“272 wollte sie nichts zu tun haben, auch wenn sie „der politischen Macht“ eine wichtige Unterstützungsfunktion in diesem angenommenen gesellschaftlichen Prozess, der der Gemeinschaft zustrebe, zuerkannte.273 Im Rückgriff auf ihre eigene Expertise „als Schüler, Lehrer und Beamter“ wollte sie „andere veranlassen“, ihre Erkenntnisse „nachzuprüfen“. Andere Meinungen über Erziehungsziele oder -methoden ließ sie nicht gelten. Sie richtete ihre Abhandlung vor allem an „Gesinnungsgenossen“. Das sei, so Siemsen, „natürlich, denn wer mein Weiß für Schwarz und mein Gut für Böse ansieht, mit dem brauche ich mich nicht lange auseinanderzusetzen“.274 Mit ihren Forderungen nach freien Arbeitsgemeinschaften und genossenschaftlichen Siedlungen, wie sie es in ihrer Broschüre formuliert hatte, nahm Siemsen Aspekte auf, die bereits im Frühsozialismus etwa bei Robert Owen (1771–1858) oder Charles Fourier (1772–1837) diskutiert worden waren und nach dem Ersten Weltkrieg eine Neuentdeckung erlebten. Angesichts der vermeintlichen Individualisierung der bürgerlichen Gesellschaft und der fortschreitenden Industrialisierung, die tradierte Lebensräume und Lebensformen zerstöre, forderten die frühsozialistischen Gesellschaftstheoretiker freie Zusammenschlüsse wie selbstverwaltete „kleinräumige Solidargemeinschaften“. Das sollte zu „einer neuen sozialistischen Gesellschaftsethik“ führen, in der den Einstellungen und das Handeln der einzelnen Menschen ein größeres Gewicht zukam als der Macht einer politischen Organisation.275 Diese Ansätze fanden ihren Niederschlag bei kultursozialistisch ausgerichteten Personen wie Siemsen, aber auch innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung 270 Ebd. 271 Werner Conze: Arbeit, in: Brunner, ders. und Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154–215, hier S. 196 f. Zitat auf S. 197. 272 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 8. 273 Ebd., S. 57. 274 Ebd., S. 9. 275 Dieter Langewiesche: Fortschritt als sozialistische Hoffnung, in: Klaus Schönhoven und Dietrich Staritz (Hg.): Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag, Köln 1993, S. 39–55, hier S. 48.

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der Weimarer Republik selbst. Der Kultursozialismus avancierte zur „dritten“ Säule der Bewegung. Neben dem politischen und wirtschaftlichen Kampf für den Sozialismus wollte man auch den neuen sozialistischen Menschen erschaffen, der als ebenso wichtige Voraussetzung für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft erachtet wurde. Sozialistische Werte sollten über eine entsprechende Erziehung sowie über eine Reform des gesamten Alltagslebens von den Geschlechterbeziehungen bis hin zur Freizeitgestaltung vermittelt und verankert werden. Dabei spielte die Abgrenzung zur „gemeinschaftsfeindlichen“ bürgerlichen Kultur eine bestimmende Rolle.276 Siemsens gesamte politische Tätigkeit während der Weimarer Republik von ihren geforderten Erziehungsreformen bis hin zu ihren „Reisebüchern“ wie Daheim in Europa stand unter dem Zeichen einer übergreifenden kultursozialistischen Reformarbeit, mit der die bestehende Gesellschaftsordnung überwunden und die Weichen für eine neue Gesellschaftsordnung, die Siemsen als Gemeinschaft definierte, gestellt werden sollten. In Siemsens Gemeinschaftskonzept findet sich die bei vielen anderen Gemeinschaftsbegriffen ihrer Zeit zu beobachtende rückwärtsgewandte und vergangenheitsidealisierende Gemeinschaftsehnsucht nicht. Auch definierte sie Gemeinschaft nicht als Antithese zur Gesellschaft, wie es oftmals bei anderen kulturkritischen Gemeinschaftsvorstellungen üblich war. Die Gesellschaft war in ihrer Deutung mit Gemeinschaft untrennbar verbunden, da sich die Gesellschaft zur Gemeinschaft entwickeln werde. Im Gegensatz zum Großteil der Reformpädagogen, die mit der Gesellschaft allenfalls kulturkritische Verfallsdiagnosen verbanden,277 gehörte Siemsen zu jener kleinen Gruppe soziologisch und sozialistisch beeinflusster Reformpädagoginnen und Reformpädagogen, die wie etwa Oestreich oder der Bildungspolitiker Kurt Löwenstein (1885–1939) einen „positive[n] pädagogische[n] Gesellschaftsbegriff“ entwarfen und von einer ‚werdenden‘ oder ‚neuen‘ Gesellschaft sprachen.278 Siemsens Definition von Gemeinschaft orientierte sich an der marxistischen Entwicklungstheorie. Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) hatten die zwangsläufige Entwicklung hin zu einer Gesellschaftordnung prognostiziert, in der die Menschen in freier ‚Assoziation‘ zusammenleben würden. Damit seien schließlich auch die Arbeitsteilung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und die Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen aufgehoben. Diesen Zustand nannte Marx zunächst ebenfalls Gemeinschaft.279 Während aber in der marxistischen Theorie die gesellschaftliche Entwicklung nach Gesetzmäßigkei276 Michael Scholing und Franz Walter: Der „Neue Mensch“. Sozialistische Lebensreform und Erziehung in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Deutschlands und Österreichs, in: Richard Sage (Hg.): Solidargemeinschaft und Klassenkampf. Politische Konzeptionen der Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen, Frankfurt am Main 1986, S. 250–273, hier S. 254– 256, Zitat auf S. 255. 277 Rülcker: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 542. 278 Ebd., S. 544. 279 Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 851. Den Hinweis zu den „theoretischen Traditionsbeständen des Sozialismus“, die in Siemsens Gemeinschaftskonzept auftauchen, gibt Weiß: Erziehung für eine „werdende Gesellschaft“, S. 18.

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1 Vom Bildungsbürgertum zum Sozialismus

ten verlief, die sich aus dem Zusammenspiel von „Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ ergaben,280 war bei Siemsen gerade auch der menschliche „Trieb der Selbstbehauptung“ für die gesellschaftliche Entwicklung ausschlaggebend. Die Überwindung der Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit und seinem Handeln, die Siemsen immer wieder betonte, war ebenfalls zentraler Bestandteil der marxistischen Entwicklungstheorie. Auch hier stand nach dem angenommenen Zusammenbruch des Kapitalismus und der auf ihm beruhenden Produktionsverhältnisse die umfassende Emanzipation des Menschen, der neue Mensch im „Reich der Freiheit“, auf dem Programm.281 Siemsen verband mit ihrer Gemeinschaftsidee nicht zuletzt eine „soziale Heils­ vorstellung“.282 Diese Deutung des Sozialismus hatte Vorläufer. Seit dem Kaiserreich fungierte der Marxismus in der Sozialdemokratie als „Mischung aus Religionsersatz und Wissenschaftsanspruch“. Er wurde hier als Garant einer „objektiven gesellschaftlichen Entwicklung“ verstanden283 und bot auch Siemsen ein vermeintlich wissenschaftliches Fundament für ihre Fortschrittsthese einer gesellschaftlichen Entwicklung zur Gemeinschaft. Der Sozialismus diente ihr zur Legitimation bestimmter Wertsetzungen, die christlichen und neuhumanistischen und damit bildungsbürgerlichen Traditionen entstammten. Das pastorale Elternhaus hatte Siemsen möglicherweise das Grundgerüst gestellt, mit dem sie dem Sozialismus ein Erlösungsversprechen zuschreiben konnte, das von der theologischen auf die gesamtgesellschaftliche Ebene übertragen wurde. Sie hatte einen „intellektuellen Weg in die Arbeiterbewegung“ beschritten, bei dem die Prägungen des Elternhauses noch nachwirkten und in das Sozialismusverständnis integriert wurden.284 Unmittelbar nach Ende des Krieges sympathisierten viele von Siemsens reformpädagogischen Kolleginnen und Kollegen mit der linksliberalen DDP oder den sozialistischen Parteien, die für Schulreformen eingetreten waren.285 Mit ihrer Vorstellung, die gesamte Gesellschaft durch Bildungs- und Erziehungsreformen revolutionieren zu können, stießen Siemsen und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter schnell auf Widerstände, wie durch die Erwähnung des Weimarer Schulkompromisses schon angedeutet wurde. Siemens bildungspolitische Arbeit wurde seit 1919 beeinflusst von kulturpolitischen Auseinandersetzungen auf institutioneller und ge280 Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 850. 281 Zum Thema „Neuer Mensch“ bei Marx: Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt am Main 1997, S. 109–121, hier S. 113 f. 282 Rülcker: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 545. Gottfried Küenzlen hat betont, dass „die Suche nach einem Neuen Menschen eines der zentralen Kapitel der […] säkularen Religionsgeschichte“ darstelle. Der neue Mensch und die mit ihm verbundene neue Gesellschaft seien im 19. und 20. Jahrhundert zu einem „säkularreligiösen Heilsziel“ geworden, das, von „politischmessianischen Bewegungen“ getragen, Eingang in die unterschiedlichsten politischen Gruppen gefunden habe: Küenzlen: Der Neue Mensch, S. 93–100, Zitate auf den Seiten 93 f. und 95. 283 Stine Marg und Franz Walter: Von der Emanzipation zur Meritokratie. Betrachtungen zur 150-jährigen Geschichte von Arbeiterbewegung, Linksintellektuellen und sozialer Demokratie, Göttingen 2013, S. 54. 284 Wickert: Unsere Erwählten, S. 52. 285 Keim: Politische Parteien, S. 43 und 51.

1.3 Auf der Suche nach Gemeinschaft

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samtgesellschaftlicher Ebene, die die Durchsetzung ihrer politischen Forderungen erheblich erschweren sollte.

2 VON DER BILDUNGSPOLITIK ZU EUROPA (1919 BIS 1927) Anna Siemsens verstärkt einsetzende Beschäftigung mit Europa stand in engem Zusammenhang mit ihrer bildungspolitischen Arbeit ab 1919 in Düsseldorf, Berlin und schließlich in Jena, wo sie in verantwortlicher Position auf ministerieller Ebene für die Durchsetzung von Schul- und Bildungsreformen zuständig war. Ihre politische Zielvorstellung einer Menschheitsgemeinschaft, die durch Erziehung planmäßig vorbereitet werden sollte, blieb bestehen. Die Durchsetzungsmöglichkeiten entsprechender Reformen erwiesen sich jedoch als begrenzt. Ein wichtiger Grund dafür waren kulturpolitische Auseinandersetzungen, die sich nicht nur auf regierungspolitischer Ebene, sondern auch auf institutioneller und gesellschaftlicher Ebene vollzogen. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen kann am Beispiel von Siemsens bildungspolitischer Arbeit gezeigt werden, was charakteristisch für die Weimarer Republik war: die seit Mitte der 1920er Jahre zu beobachtende Zurückdrängung reformorientierter, sozial ausgerichteter Bestrebungen durch tradierte, wieder erstarkende national-konservative Ordnungsvorstellungen. Diese Entwicklungen, die auch ursächlich für Siemsens berufliche Rückschläge seit 1924 sein sollten, bestärkten sie in ihrer Ablehnung der herrschenden politischen Verhältnisse. Das Erstarken nationaler und antidemokratischer Ordnungsvorstellungen führte dazu, dass Siemsen zunehmend die internationale Perspektive in ihrer Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungen in den Blick nahm. Den vorherrschenden national-konservativen Ordnungsvorstellungen setzte sie sozialistisch-internationale Vorstellungen entgegen. Die u. a. von der Außenpolitik Gustav Stresemanns angeregten Debatten um europäische Einigungsideen und internationale Verständigung, die etwa zeitgleich mit dem Erstarken antidemokratischer Kräfte einsetzten, beförderten Siemsens Fokussierung auf internationale Zusammenhänge, die sich ab Mitte der 1920er Jahre in ihrer Auseinandersetzung mit Europa verdichteten. Sie nutzte Europa als Argumentationsstrategie, um politische Reformen, mit denen sie die als inhuman bewerteten nationalen und antidemokratischen Verhältnisse in Gesellschaft und Politik überwinden wollte, zu begründen. In diesem Zusammenhang wurde Europa angeführt, um eine internationale Zusammenarbeit der Arbeiterschaft zu fordern, von der Siemsen glaubte, sie allein würde die von ihr geforderten politischen Reformen umsetzen können. Diese Annahme speiste sich aus der tradierten marxistischen Überzeugung von einer über nationalstaatliche Grenzen hinausreichenden Verbundenheit der Arbeiter, die aufgrund ihrer gleichen Klassenlage ähnliche Interessen hätten und deswegen ähnliche politische Reformen fordern müssten.1 Im Gegensatz zu einer „bür1

Jürgen Bellers: Sozialdemokratie und Konservatismus im Angesicht der Zukunft Europas, in: ders. und Mechthild Winking (Hg.): Europapolitik der Parteien. Konservatismus, Liberalismus und Sozialdemokratie im Ringen um die Zukunft Europas (Demokratie, Ökologie, Föderalismus, Bd. 8), Frankfurt am Main u. a. 1991, S. 3–42, hier S. 8.

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2 Von der Bildungspolitik zu Europa (1919 bis 1927)

gerlichen“ Politik, die Siemsen mit nationalen und antidemokratischen Werten verband, symbolisierten die Arbeiter für sie einen entgegengesetzten Politikstil, den sie mit sozialistischen, internationalen und deshalb mit humanen Wert- und Handlungsmaßstäben gleichsetzte. Die Arbeiterschaft löste in Siemsens Argumentation die Frauen als politische Trägergruppe ab, auf die sie Ende des Ersten Weltkrieges noch all ihre Hoffnungen auf eine Humanisierung der öffentlichen Sphäre gelegt hatte. Der „Eintritt der Frauen in die Politik [habe keine] Ära der Gerechtigkeit und Güte“ anbrechen lassen, wie Siemsen resigniert bemerkte. Die politische Gleichstellung, die den Frauen 1918 zugesprochen worden sei, stelle bislang auf allen Gebieten weiterhin nur eine „ideelle Forderung“ dar, nicht jedoch „eine Tatsache“. Insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet seien „Ungleichheit der Gehälter und Löhne“ sowie der „Konkurrenzkampf der Geschlechter“ die Regel.2 Ihre Einschätzung der politischen Einflussnahme von Frauen fiel ernüchternd aus: Die Frauen, so Siemsen lapidar, seien entweder „gleichgültig“ oder „reaktionär“; seien sie in der Politik aktiv, kopierten sie lediglich „Männerpolitik“.3 Angesichts der enttäuschenden Ergebnisse der Reichsschulkonferenz von 1920 bedauerte sie, dass die Frauen „menschliche Freiheit [nicht] gegen bureaukratischen, politischen und sonstigen gleichmacherischen Zwang“ verteidigt hätten. Stattdessen seien kompromissbereit und angepasst die von Siemsen als männlich definierten „parlamenta­ rische[n] Sitten und Unsitten treulichst“ übernommen worden.4 Siemsen konzentrierte sich seit den 1920er Jahren deswegen vermehrt auf eine umfassende Änderung der Gesellschaft durch sozialistische Reformen, die auch jene Verhältnisse beseitigen sollten, die Frauen ihrer Meinung nach veranlasst hatten, Politik nach „männlichen“ Prämissen zu betreiben. Seit Mitte der 1920er Jahre versuchte sie deswegen, durch publizistische Aufklärungsarbeit Frauen für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Insgesamt stellten frauenpolitische Themen aber keinen dominanten Schwerpunkt in Siemsens politischer Arbeit dar. Das sollte sich erst im Exil ändern. Soweit bekannt ist, war Siemsen – von der IFFF abgesehen – in keinen Frauenvereinen aktiv, sondern vorwiegend in gemischtgeschlechtlichen reformpolitisch-sozialistisch ausgerichteten Organisationen und Verbänden.5 2 3 4 5

Anna Siemsen: Die Sozialdemokratie im Kampf um die wirtschaftliche und soziale Stellung der Frau, in: Sozialistische Monatshefte 28 (1922), Heft 13, S. 808–809, hier S. 808. Siemsen: Die Sozialdemokratie im Kampf, S. 808. Anna Siemsen: Die Reichsschulkonferenz, in: Die Frau im Staat 2 (1920), Heft 7/8, S. 10–12, hier S. 10 f. Ab Mitte der 1920er Jahre begann Siemsen, sich mit der gesellschaftlichen Stellung von Arbeiterfrauen zu beschäftigen. Sie veröffentlichte etwa Artikel in der Frauenwelt, einer Zeitschrift, mit der vor allem bislang nicht organisierte Arbeiterfrauen für die SPD gewonnen werden sollten. Wie Karen Hagemann herausgearbeitet hat, referierte Siemsen auch auf sozialdemokratischen Parteitagen, wie etwa auf dem Magdeburger Parteitag 1929, über frauenpolitische Themen. Siemsen leitete zudem mehrmals zwischen 1928 und 1932 sozialdemokratische Frauenkurse in Hamburg und war die „[b]eliebteste Referentin“: Hagemann: Frauenalltag, S. 537 und S. 542 f. Zitat auf S. 543. Siemsen publizierte gegen Ende der Weimarer Republik dann vermehrt zu frauenpolitischen Themen wie etwa in der Beilage Für die Frau der sozialdemokratischen Leipziger Volkszeitung. Schließlich war Siemsen auch Mitarbeitern bei der sozialdemokratischen Monatsschrift Die Frau und bei der Genossin, die vom SPD-Parteivorstand für

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Der friedenspolitische Aspekt verlor in Siemsens Ordnungsvorstellungen keineswegs seine zentrale Bedeutung, wurde aber nicht als eigenständiges Thema behandelt. In Siemsens politiktheoretischen Überlegungen war der Friedensgedanke vielmehr in ihrer Forderung nach Gemeinschaftsbildung inbegriffen. Sie vertrat in diesem Punkt die gleiche Ansicht, die auch im BESch, insbesondere von ihrem pazifistischen Mitstreiter Paul Oestreich, entwickelt wurde. In Oestreichs Erziehungskonzept war eine Erziehung zum „Menschheitsbewußtsein“ gleichbedeutend mit einer Erziehung zum Frieden. Auch eine neue wirtschaftliche Ordnung, die die Bedürfnisse aller Menschen zur Grundlage nehme, war für Oestreich Voraussetzung gewesen, um dauerhaften Frieden gewährleisten zu können.6 Diese Sichtweise war vermutlich der Grund dafür, warum Siemsen im Verlauf der Weimarer Republik kaum in Zeitschriften der Friedensbewegung publizierte. In den Jahren zwischen 1921 und 1923 nahm Siemsens publizistische Tätigkeit ab, was auf ihre umfangreiche Arbeit im Berliner Ministerium zurückgeführt werden kann, die ihr nicht mehr viel Zeit zum Schreiben ließ. Seit Ende des Jahres 1924, mit ihrem erzwungenen Eintritt in den „einstweiligen Wartestand“, stieg ihre schriftstellerische Arbeit schließlich wieder an. In ihrer gesamten publizistischen Tätigkeit in der Weimarer Republik konnte Siemsen von einer enormen Erweiterung der Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft profitieren. „Die intellektuellen Auseinandersetzungen“ wurden in den vielfach neu entstehenden „politisch-kulturellen Wochen- und Monatsschriften“ ausgetragen, die aber nur einen begrenzten Leserkreis hatten.7 Mit der Gründung von neuen Parteien hatten sich „Veränderungen“ in der „politische[n] Öffentlichkeit“8 ergeben, so dass die neu entstandene Parteipresse auch die „Pluralisierung der ideologischen Landschaft in der Weimarer Republik“ widerspiegelte. Im Umfeld der Zentrumspartei etwa zählt die Forschung annähernd 300 Zeitungen. Nur wenige Publikationsorgane wie die Frankfurter Zeitung verstanden sich als unabhängig.9 Für die sozialdemokratische Presse sahen die Zahlen ähnlich aus, wobei speziell die sozialdemokratischen Tageszeitungen 1925 nur 4,5 Prozent aller Tageszeitungen in Deutschland ausmachten.10 Siemsen veröffentlichte in den Weimarer Jahren allein in rund 50 Zeitungen und Zeitschriften, die hauptsächlich den Bereichen der sozialistischen Ju-

Funktionärinnen herausgegeben wurde. Für Informationen zur Zeitschrift Die Genossin siehe Hagemann: Frauenalltag, S. 539. 6 Bernhard: Friedenserziehung in der Weimarer Republik, S. 69 und 71. Zitat auf S. 69. 7 Erhard Schütz unter Mitarbeit von Thomas Wegmann: Medien, in: Langewiesche und Tenorth: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5, S. 371–406, hier S. 389. 8 Siehe den einleitenden Kommentar zur „Partei- und unabhängigen Frauenpresse in Weimar“ von Ruth-Esther Geiger, in: dies. (Hg.): Sind das noch Damen? Vom gelehrten FrauenzimmerJournal zum feministischen Journalismus, München 1981, S. 165–174, hier S. 165. Siehe auf diesen Seiten auch die Vorstellung der erwähnten frauenpolitischen Zeitschriften, in denen Siemsen publizierte. 9 Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 105 f. 10 Heinrich August Winkler: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, 2. Aufl. Berlin und Bonn 1988, S. 320.

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2 Von der Bildungspolitik zu Europa (1919 bis 1927)

gendarbeit, der sozialistischen Erziehungsreform oder der sozialistischen Kulturarbeit zugeordnet werden können.11 Einige dieser Zeitschriften widmeten sich u. a. auch europapolitischen Themen, wie etwa die Sozialistischen Monatshefte oder die linkssozialistische Kulturzeitschrift Kulturwille. Obwohl sich Siemsen nicht explizit in ihren dort veröffentlichten Aufsätzen zu den Europa-Diskussionen zu Wort meldete, zeigen diese Zeitschriften doch das Diskussionsumfeld auf, in dem sie sich bewegte. Die Zeitschrift Kulturwille war friedenspolitisch ausgerichtet und setzte sich für eine „Verständigung der Völker“ unter der Prämisse „einer sozial gerechteren Weltordnung“ durch die Zusammenarbeit der internationalen Arbeiterschaft ein;12 eine Forderung, die Siemsen in ihren Europa-Konzepten ebenfalls vertreten sollte. Die von Joseph Bloch (1871–1936) herausgegebenen Sozialistischen Monatshefte waren nicht nur eine Zeitschrift, die offen für reformpädagogische Themen war.13 Hier stand auch die Verständigung von Frankreich und Deutschland im Mittelpunkt; ebenfalls eine von Siemsen in den 1920er Jahren mehrfach erhobene Forderung. Der Herausgeber Joseph Bloch hatte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts europapolitische Vorstellungen entwickelt, die er auch nach dem Ersten Weltkrieg vertrat und auf die Siemsen gegen Ende der Weimarer Republik in ihren eigenen Europa-Konzepten zurückgriff. Obwohl Siemsen Bloch in den Weimarer Jahren nicht namentlich erwähnte, zeigen ihre Veröffentlichungen über ihn, die sie nach 1945 publizierte, wie prägend seine „Imperientheorie“ für sie gewesen war.14 Bloch glaubte, die wirtschaftlichen Entwicklungen weltweit würden zu bestimmten Gruppierungen einzelner Länder und Regionen führen, die eigene Wirt­ schafts­imperien und schließlich zusammen eine „Weltföderation“ bilden. Er meinte, in den USA, im russischen Einflussgebiet und im britischen Empire bereits eine Formierung von Wirtschaftsimperien zu sehen, denen jeweils eine asiatische und lateinamerikanische Imperienbildung folgen werde. Bloch forderte deshalb, Europa müsse sich zusammenschließen, um unter diesen weltweiten wirtschaftlichen Entwicklungen eigenständig bestehen zu können. Bloch wollte, wie Siemsen betonte, „die einzelstaatliche Isolierung und Zersplitterung“ in Europa überwinden. Er habe dem bis dahin „praktisch wirkungslosen Internationalismus“ der Sozialdemokratie eine politische Richtung vorgegeben, die auf eine Verständigung mit Frankreich

11 Vgl. dazu die Biobibliographie, die Alexandra Bauer erstellt hat: Das Leben der Sozialistin, S. 309–346. 12 Jürgen Schlimper: Der Kulturwille, Leipzig. Ein sozialistischer Förderer internationalen Zusammenwirkens des Proletariats, in: Grunewald und Bock: Le discours européen dans la Revues allemandes (1918–1933), S. 289–312, hier S. 312. 13 Keim und Schwerdt: Einleitung, S. 15. 14 Anna Siemsen: Der Europäer Josef [sic] Bloch, in: Rote Revue. Sozialistische Monatsschrift 28 (1949), Heft 11, S. 443–446 und [postum erschienen]: Anna Siemsen (Hg.): Ein Leben für Europa. In memoriam Joseph Bloch, Frankfurt am Main 1956. Siemsens Rezeption von Blochs Imperientheorie wird auch erwähnt bei Lacaita: Anna Siemsen, S. 43 f. und Francesca Lacaita: Anna Siemsen im Kontext der föderalistischen europäischen Bewegung, in: Schwitanski: Anna Siemsen, 83–133, hier S. 103 f.

2.1 Politische Arbeit und kulturpolitische Auseinandersetzungen

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„mit dem Ziel der kontinentaleuropäischen föderierten sozialistischen Republiken“ hingewiesen habe.15 Siemsen vermittelte ihre eigenen europapolitischen Vorstellungen in der Weimarer Republik zunächst über ihre Ideen zur „europäischen Gesellschaft“, die in ihrer 1925 veröffentlichten Monographie Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft16 im Mittelpunkt stand. Zwei Jahre später konkretisierte sie ihre Vorstellungen von einer europäischen Gesellschaftsentwicklung in ihrem Aufsatz Ich suche Europa in der Frankfurter Zeitung.17 Hier setzte sich Siemsen mit der von dem Schriftsteller Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi begründeten Paneuropa-Idee auseinander, die im Verlauf der 1920er Jahre eine enorme Popularität erfahren hatte. Konzeptionell können diese beiden Schriften von Siemsen als Vorstufe zu den Europa-Konzepten betrachtet werden, die sie dann ab 1928 vor dem Hintergrund der beginnenden „Desintegration des poltischen Systems“18 von Weimar entwarf. Im Folgenden soll zunächst Siemsens bildungspolitische Arbeit in Düsseldorf, Berlin und Jena sowie die kulturpolitischen Rahmenbedingungen geschildert werden, unter denen sie versuchte, ihre Reformideen zu verwirklichen und die sie veranlassten, sich nach ihren politischen und beruflichen Rückschlägen verstärkt mit Europa zu beschäftigen. 2.1 POLITISCHE ARBEIT UND KULTURPOLITISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN 1919 war Siemsen nicht nur dem BESch beigetreten, sondern auch dem Verband sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen Deutschlands und Deutsch-Österreichs (VsL). Ziel dieser Organisation war, das gesamte Erziehungs- und Bildungswesens durch den Sozialismus umzugestalten. Für dieses Ziel sollte insbesondere die Arbeiterschaft gewonnen werden.19 Siemsen hatte beim VsL nicht nur einen Vorstandsposten inne, sondern bis 1920 auch die Redaktion des Verbandsorganes Der Föhn.20 Der Föhn hieß ab 1920 Der sozialistische Erzieher.21 Der Verband war gegründet worden, um alle sozialistischen Kräfte zu sammeln, die sich für eine radikale Reform des Erziehungswesens engagierten. Diese Sammlung war eine Antwort auf die Gründung der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer, die 15 Siemsen: Der Europäer, S. 444. Vgl. zu Bloch und den Europa-Debatten in den Sozialistischen Monatsheften Peter Friedemann: „Frankophilie“ und „Europabild“. Grenzen der Wahrnehmung am Beispiel der Sozialistischen Monatshefte 1918–1933, in: Bock und Grunewald: Le discours européen dans la revues allemandes (1918–1933), S. 265–287. 16 Anna Siemsen: Literarische Streifzüge. 17 Siemsen: Ich suche Europa. 18 Kolb und Schumann: Die Weimarer Republik, S. 130. 19 Rainer Bölling: Volksschullehrer und Politik. Der Deutsche Lehrerverein 1918–1933 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 32), Göttingen 1978, S. 43 f. 20 Biographischer Eintrag über Anna Siemsen, in: Schröder: Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen, S. 702–703, hier S. 703. 21 Bölling: Volksschullehrer, S. 44.

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2 Von der Bildungspolitik zu Europa (1919 bis 1927)

vom SPD-Parteivorstand ins Leben gerufen worden war. Die SPD, die als Koalitionspartei auf demokratische Problemlösungen und Kompromissfindungen bei der Durchsetzung von Reformforderungen setzte, war bemüht, für ihre Ziele möglichst viele sozialdemokratische Lehrer in ihrer Organisation zu vereinen.22 Damit stand sie in Konkurrenz zu den linkssozialistischen Schulreformerinnen und Schulreformern, die einen kompromisslosen und revolutionären Reformkurs favorisierten.23 Siemsen zeigte sich entsprechend kompromisslos, als sie ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern erklärte, „was zu tun sei“,24 auf welche Haltung und welches Politikverständnis es ankomme, um die Ziele der „Bewegung“, den radikalen Reformkurs, durchsetzen zu können. Sie forderte zuerst „natürlich die Einigkeit“. Sie betonte dann, man könne andere von den eigenen Forderungen überzeugen, indem man ihnen etwa entgegenkomme oder „mit den jeweiligen Regierungen in freundschaftlicher Fühlung“ agiere, erklärte dann jedoch: „Das haben wir aber nicht nötig.“25 Siemsen kritisierte in ihren Ausführungen den Reformkurs der SPD, der nicht zu einer umfassenden Schul- und Bildungsreform, sondern zum Weimarer Schulkompromiss geführt hatte. Im Gegensatz dazu forderte sie „eine Bewegung, die wahrhaft revolutionär ist, d. h. die nicht mit Reformen und Quacksalbereien am kranken Körper unserer Gesellschaft und unserer Schule sich begnügt, […] die von Grund aus neu bauen will und daher auch das Zerstören nicht scheut“.26 Eine „entschlossene Angriffstellung“ müsse entstehen, „das herzhafte Bekenntnis zum Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung“ und die „unermüdliche Opposition gegen alle Halbheit, Lauheit und Kompromißlerei“.27 Mit ihren Forderungen nach einer radikalen Erziehungs-, Bildungs- und Schulreform, mit der die gesamte Gesellschaft im sozialistischen Sinn revolutioniert werden sollte, war Siemsen in kulturpolitische Auseinandersetzungen eingetreten, die die „Sollbruchstelle des Regierungsbündnisses“28 der Weimarer Koalition darstellte. Gerade in Schul- und Bildungsfragen zeigten sich die weltanschaulichen Grundannahmen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die die politischen Parteien als ihre Interessenvertretungen durchzusetzen versuchten. Bei den Interessensschwerpunkten handelte es sich je nach Sozialmilieu um die Sicherung tradierter Bildungsprivilegien oder um den erweiterten Zugang zu Bildung, mit denen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse verändert werden sollten. Die kulturpolitischen Auseinandersetzungen, wie sie im Bereich der Bildungsund Schulpolitik deutlich wurden, zeigten auch die politische Fragmentierung der Gesellschaft in der Weimarer Republik auf. Diese Auseinandersetzungen hatten ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert. Bildung stand zunehmend in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Erwerb von Qualifikationspatenten, die in staatlichen Bil22 Ebd. S. 43 f. 23 Zur parteipolitischen Haltung der SPD, USPD und KPD bei der Umsetzung von Schulreformen siehe: Keim: Politische Parteien, S. 59 f. 24 Siemsen: Was ist zu tun?, S. 1. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 1–2. 27 Ebd., S. 2. 28 Richter: Kirche und Schule, S. XIX.

2.1 Politische Arbeit und kulturpolitische Auseinandersetzungen

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dungsinstitutionen wie Gymnasien und Universitäten erworben wurden. Es waren die bildungsbürgerlichen Schichten, die durch ihre Bildungspatente Zugang zu staatstragenden Berufen und Ämtern fanden und die dadurch ein besonderes gesellschaftliches Ansehen genossen. Zum bildungsbürgerlichen Selbstverständnis gehörte weiterhin, durch Bildung besondere Leistungen für die Höherentwicklung von Gesellschaft und Kultur beizutragen. Vom Staat als oberster Instanz wurde im Gegenzug erwartet, diese Bildungsprivilegien zu schützen.29 Einen vergleichbaren Anspruch erhoben seit Ende des 19. Jahrhunderts auch „die besitzbürgerlichen Schichten“, die die „Garantie ihrer Eigentumsrechte“ und damit ihre privilegierte gesellschaftliche Stellung ebenfalls sichern wollten. Die gleiche Interessenlage der besitz- und bildungsbürgerlichen Schichten, die der Verfestigung der eigenen gesellschaftlichen „Reproduktionschancen“ galt, führte im Kaiserreich zum „Konnex von Bildung und Besitz“. Dieser richtete sich gegen eine „Demokratisierung von Bildungschancen“ und damit auch gegen die Ansprüche der organisierten Arbeiter­ bewegung,30 die schon im Kaiserreich entsprechende Reformen des Schulsystems gefordert hatte. Dieses Bündnis von Bildung und Besitz bestand nach dem Ersten Weltkrieg fort. Im Bereich der höheren Bildung verfestigte sich im Laufe der Weimarer Republik der Zusammenhalt national-konservativer und antidemokratisch eingestellter Gruppen, die sich vor allem aus „Gymnasialeltern und -lehrern“, aus Vertretern der akademischen Berufe und aus Universitätsangehörigen zusammensetzten.31 Durch den Weimarer Schulkompromiss waren die grundsätzliche Beibehaltung des Schulaufbaus, seiner konfessionellen Ausgestaltung und des Berechtigungswesens erhalten und die tradierten Bildungsprivilegien bürgerlicher Schichten weitestgehend unangetastet geblieben, doch beinhalteten die Weimarer Schulartikel Richtlinien und keine reichseinheitliche Regelung. Deshalb war es zunächst in den einzelnen deutschen Ländern durchaus möglich, eine ganze Reihe von Versuchsschulen aus der Taufe zu heben.32 Größere Reformprojekte für Bildung und Schule waren seltener, konnten aber in jenen Ländern, wie etwa in Thüringen, umgesetzt werden, wo sich die Sozialdemokratie in der regierungspolitischen Mehrheit befand. Siemsen begann ihre bildungspolitische Laufbahn zunächst in Düsseldorf und Berlin. Ihre bildungspolitische Arbeit brachte einen beständigen Ortswechsel zwischen diesen beiden Städten mit sich, bevor sie im Herbst 1923 in den Thüringischen Staatsdienst berufen wurde. Sie wurde bereits im März 1919 zur Stadtverordneten der Stadt Düsseldorf gewählt, wechselte dann aber ab Oktober 1919 für ein halbes Jahr nach Berlin, als sie vom sozialdemokratischen Kultusminister Konrad Haenisch (1876–1925) als sogenannte Hilfsarbeiterin ins preußische Ministerium 29 Hartmut Titze: Hochschulen, in: Langewiesche und Tenorth: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5, S. 209–258, hier S. 220. 30 Ebd. 31 Langewiesche und Tenorth: Einleitung: Bildung, Formierung, Destruktion, S. 14. 32 Ebd., S. 13. Siehe dazu auch den Sammelband von Ullrich Amlung u. a. (Hg.): „Die alte Schule überwinden“. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, Bd. 15), Frankfurt am Main 1992.

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2 Von der Bildungspolitik zu Europa (1919 bis 1927)

für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung berufen wurde. Vom Mai 1920 bis zum Oktober 1921 ging Siemsen wieder zurück nach Düsseldorf, weil sie zur Beigeordneten für das Fach- und Berufsschulwesen ernannt wurde. Ab November 1921 bis zum September 1923 hatte Siemsen dann für knapp zwei Jahre die Stelle einer Magistratsoberschulrätin für das Fach- und Berufsschulwesen in Berlin inne. 2.1.1 In Düsseldorf und Berlin Durch ihre Kontakte im BESch und im VsL war es Siemsen nach Ende des Ersten Weltkrieges offenbar schnell gelungen, sich einen Namen als engagierte Erziehungs- und Schulreformerin zu machen. Sie wurde am 16. März 1919 als Stadtverordnete der USPD in das Düsseldorfer Stadtparlament gewählt33 und beteiligte sich dort in den folgenden sechs Monaten zusammen mit dem Bildungspolitiker Kurt Löwenstein am Entwurf eines neuen Schulprogramms. Löwenstein war wie Siemsen Mitglied im BESch und während des Krieges zum Pazifisten geworden. Er galt als Verfechter einer „rätedemokratischen Gesellschafts- und Schulverfassung“ und wurde bereits nach Ende des Krieges „zu einem maßgeblichen erziehungs- und bildungspolitischen Sprecher der USPD“, später der SPD. Von 1920 bis 1933 war er Mitglied des Reichstages.34 Im mit Siemsen erarbeiteten Schulprogramm stand die Gemeinschafterziehung an oberster Stelle. Dafür sollte „ein selbstverwaltetes, weltliches, koedukatives, unentgeltliches und horizontal gegliedertes Einheitsschulwesen, bestehend aus Grund-, Ober- und Hochschule“ begründet werden, für dessen Umsetzung sich Siemsen im Düsseldorfer Stadtparlament einsetzte.35 Siemsen trat voller Optimismus ihre bildungspolitische Arbeit an. Doch bald schon musste sie feststellen, dass sich ihre Reformideen nicht ohne Widerstände würden umsetzen lassen. Nicht lange nach ihrem Amtsantritt klagte sie entnervt über „[e]ine unpolitische, gleichgültige oder direkt feindliche Kollegenschaft und die völlig konservativ-nationalistisch gesinnten Behörden“, die „allen politisch tätigen Lehrern das Leben weidlich sauer gemacht“ hätten.36 Schließlich befürchtete sie, erleben zu müssen, „daß deutschnationale und Zentrumslehrer ungehindert ihre Aufklärungsarbeit leisten und in den städtischen Kommissionen ihre Forderungen durchsetzen“ würden.37 Weil Siemsen die Arbeit in der Bildungspolitik trotz aller nervenzehrenden Begleitumstände wichtiger war als ihre Tätigkeit als Lehrerin, ließ sie sich von ihrer Stelle als Lehrerin in Düsseldorf beurlauben, als Kultusminis33 34 35

Jungbluth: Anna Siemsen, S. 98. Ferdinand Brandecker: Kurt Löwenstein, in: Neue deutsche Biographie 15 (1987), S. 104–106, URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118955853.html [15. Oktober 2013]. Jungbluth: Anna Siemsen, S. 99 f. Zitat auf S. 99. Ausführlich zu Löwenstein siehe auch Ferdinand Brandecker: Kurt Löwenstein und die Grundlagen einer sozialistischen Pädagogik in der Zwischenkriegszeit, in: Enzo Collotti (Hg.): L’Internazionale Operaia e Socialista tra le due Guerre (Annali Fondazione Giangiacomo Feltrinelli 1983/1984), Mailand 1985, S. 1029–1063. 36 Anna Siemsen: Die politische Tätigkeit der Lehrer und der neue Ministerialerlass, in: Die neue Erziehung 1 (1919), Heft 22, S. 726–728, hier S. 726. 37 Ebd., S. 728 f.

2.1 Politische Arbeit und kulturpolitische Auseinandersetzungen

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ter Konrad Haenisch sie als sogenannte Hilfsarbeiterin in das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung nach Berlin berief. Ein Versetzungsgesuch als Lehrerin nach Berlin war abgelehnt worden und so verzichtete Siemsen zugunsten der ministeriellen Tätigkeit auf ihr bisheriges Einkommen aus dem Schulamt.38 Siemsens Wechsel vom Düsseldorfer Stadtparlament in das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung nach Berlin im Herbst 1919 bedeutete ohne Zweifel einen Karrieresprung. Die Möglichkeit, Einfluss auf die Bildungspolitik des größten Landes im Deutschen Reich nehmen zu können, wird Siemsens Entschluss bekräftigt haben, dem Ruf des Ministers zu folgen. Vielleicht war es auch „die Enttäuschung über den Kompromisscharakter der Weimarer Schulartikel“, die Siemsen veranlasste, ihrer „begrenzte[n] Tätigkeit“ in Düsseldorf den Rücken zu kehren.39 Im Berliner Ministerium beschäftigte sich Siemsen vor allem mit Fragen der Koedukation, der gemeinsamen Erziehung und dem gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen. Sie war auch an den Vorbereitungen zur Reichsschulkonferenz beteiligt,40 für die sie selbst im eigens für die Konferenz herausgegebenen Handbuch einen Beitrag zum Thema Koedukation verfasste.41 Wie Siemsen rückblickend berichtete, fand sie im Berliner Ministerium jedoch kein konstruktives Arbeitsumfeld vor: „Ein halbes Dutzend Sozialisten, ein weiteres halbes Dutzend reformfreundlicher Fachleute fand sich an unerheblichen Stellen.“ Auch sei Minister Haenisch von „Vertreter[n] des Zentrums und der Demokraten“ kontrolliert worden und diese hätten „von Zeit zu Zeit ueberraschende Unruhe in das Arbeitsgetriebe“ gebracht.“42 Möglichweise wechselte Siemsen nach nur sechsmonatiger Tätigkeit im preußischen Ministerium aufgrund dieser von ihr beschriebenen Arbeitsumstände wieder zurück nach Düsseldorf, wo sie ab Mai 1920 eine Stelle als Beigeordnete für das Fach- und Berufsschulwesen erhalten hatte.43 Als „Stellvertreterin des Oberbürgermeisters“44 blieb sie in Düsseldorf aber nur für kürzere Zeit. Nach etwa eineinhalb Jahren, im November 1921, ging sie erneut nach Berlin zurück, um dort die Stelle einer Magistratsoberschulrätin für das Fachund Berufsschulwesen zu übernehmen. In Berlin sollte Siemsen bis zum Herbst 1923 bleiben. Für rund drei Jahre beschäftigte sich Siemsen auf ihren Posten in Berlin und Düsseldorf schwerpunktmäßig mit dem Thema Erziehung und Beruf. In Düsseldorf gelang es ihr etwa, Werkunterricht in den „oberen Volksschulklassen“ einzurichten. Weiterhin engagierte sie sich für ein „Arbeitsschulseminar“, in der Lehrkräfte mit 38 Jungbluth: Anna Siemsen, S. 101. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 101 f. 41 Anna Siemsen: Die gemeinsame Erziehung der Geschlechter, in: Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Berlin (Hg.): Die deutsche Schulreform. Ein Handbuch für die Reichsschulkonferenz, Leipzig 1920, S. 195–201. Zum Koedukationsgedanken bei Siemsen siehe HansenSchaberg: „Mütterlichkeit“ und „Ritterlichkeit“? sowie Schmidt: Frauen- und Berufserziehung. 42 Siemsen: Mein Leben, S. 53. 43 Ebd., S. 51 f. und Jungbluth: Anna Siemsen, S. 104. 44 Jungbluth: Anna Siemsen, S. 108.

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dem Prinzip der Arbeitsschule bekannt gemacht werden und dafür eine „landwirtschaftliche und handwerkliche Ausbildung“ erhalten sollten. Endlich bemühte sich Siemsen auch um eine „Mädchenberufsschule“, weil sie davon ausging, dass die gesellschaftliche Festschreibung der Frau zur Mutter, Haus- und Ehefrau weder den zeitgenössischen Verhältnissen Rechnung trage noch für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung wünschenswert sei.45 Obgleich sie als Beigeordnete in Düsseldorf und als Magistratsoberschulrätin in Berlin speziell für das Fach- und Berufsschulwesen zuständig war, blieb ihre Zielvorstellung bestehen, umfassende Schulreformen durchzusetzen, von der die Fach- und Berufsschule ein Teil war. Das entsprach nicht nur ihren Forderungen nach einer Einheitsschule, die sie als Ausgangspunkt einer umfassenden Gesellschaftsreform verstand, sondern auch ihrem Politikverständnis, das auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet war. Die Arbeit in Berlin wurde für Siemsen wegen der strukturellen und verwaltungstechnischen Anforderungen zu einer Mammutaufgabe, die ihr Zeit und Nerven abverlangte. August Siemsen berichtete, die Gesundheit seiner Schwester habe „unter dem Übermaß der Arbeit“ gelitten, weil „nur Raum für Essen und Schlafen“ übriggeblieben sei. Während sie sich allmählich Respekt bei „den ihr unterstellten mittleren und unteren Beamten“ verschafft habe, seien ihre „Erfahrungen mit der preußischen Ministerialbürokratie“ dagegen äußerst belastend gewesen.46 Siemsen selbst schrieb rückblickend dazu, diese Bürokratie sei „erfolgreich bemüht“ gewesen, „durch Gesetze, Verordnungen und durch finanzielle Hungerkuren die Gemeinden sich zu unterwerfen“ und habe auf diese Weise „aufbauende Arbeit […] zu einem völligen Stillstand“ gebracht.47 Dass sie selbst in diese von ihr so negativ bewertete bürokratische Maschinerie geraten war, schrieb Siemsen einem nicht näher beschriebenen Zufall zu: „Die Ereignisse führten mich hinter die Schalter ohne mein Zutun“, hätten ihr aber „Gelegenheit [gegeben,] Wesen und Wirksamkeit der hohen Bürokratie zu studieren und ihren entscheidenden Einfluss auf den Gang der Ereignisse kennen zu lernen“. Da sie in ihren Erinnerungen u. a. gerade diejenigen Beamten, „welche bemüht [sind,] hinter die Schalter zu dringen“, für die politische Entwicklung Deutschlands zum Nationalsozialismus verantwortlich machte,48 berichtete Siemsen nichts über ihre eigene Motivation, im Ministerium zu arbeiten. Stattdessen schrieb sie nur, dass die ministerielle Tätigkeit „eine sehr reizvolle Aufgabe“ dargestellt habe.49 Auch über die Entscheidung des Ministeriums, gerade sie an verantwortliche Stelle für das Fach- und Berufsschulwesen zu berufen, machte Siemsen keine Angaben und erwähnte nicht, dass es offenbar ihre Expertise gewesen war, weshalb ihre Arbeitskraft erwünscht war. Sie gehörte zum rar gesäten, akademisch gebildeten und über ministerielle Erfahrungen verfügendes Fachpersonal, das die SPD so dringend benötigte. Da die SPD nach dem Ersten Weltkrieg erstmals in der Regierungsverant45 46 47 48 49

Ebd., S. 110. August Siemsen: Anna Siemsen, S. 55 f. Siemsen: Mein Leben, S. 52. Ebd., S. 51. Ebd., S. 52.

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wortung stand, fehlten ihr zunächst Fachleute in der staatlichen Verwaltung. Die Mitglieder verfügten in der Regel nicht über die entsprechende akademische Ausbildung, um ministeriale Stellen besetzen zu können, so dass ehemals kaiserliche Beamte ihre Posten behielten.50 Eben dies kritisierte Siemsen in ihren zeitgenössischen Veröffentlichungen und auch rückblickend in ihren Lebenserinnerungen: Obwohl Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Verfassung bekommen hatte, waren die strukturellen und personellen Bedingungen in den öffentlichen Institutionen weitestgehend unverändert geblieben. Siemsen stieß in ihrer bildungspolitischen Arbeit auch auf geschlechtsspezifische Vorurteile. Sie sprach wohl aus eigener Erfahrung, als sie erklärte: „Gerät eine Frau in eine leitende Stellung, so wird es nicht nur den reaktionären Männern oft bedenklich schwer sie dort anzuerkennen oder nur zu ertragen.“51 Trotz anhaltender gesellschaftlicher und berufsinterner Widerstände stieg der Frauenanteil in der höheren Beamtenschaft, besonders innerhalb des höheren Schulwesens, seit 1919 langsam an und lag Ende der 1920er Jahre bei etwa 10 Prozent. Insgesamt blieb der Frauenanteil sehr gering.52 Frauen, die wie Siemsen in höhere beamtete Positionen kamen, blieben in der Weimarer Republik „Außenseiterinnen“.53 August Siemsen nahm an, seine Schwester sei „[w]ahrscheinlich […] in dieser großen bürokratischen Maschinerie mit ihren im Amt belassenen höheren und Subalternbeamten als einzige Frau und Mitglied einer oppositionellen Linkspartei auf allerlei Mißtrauen und Schwierigkeiten gestoßen“.54 Diese Schwierigkeiten traten vor allem in Thüringen zutage, wo Siemsen die groß angelegten Reformprojekte der sozialdemokratischen Regierung für Schule und Universität unterstützen sollte. Im Juni 1923 wurde Siemsen vom Thüringischen Staatsministerium in den „unmittelbaren Thüringischen Staatsdienst als Oberstudienrat“ berufen.55 Angesichts ihrer ministeriellen Erfahrungen in Berlin war die Berufung nach Thüringen für Siemsen eine „Erleichterung“, wie sie rückblickend schrieb. Sie fand an ihrer neuen Stelle besonders verlockend, „dass sie auch die Lehrerbildung mir anvertrauten und [dies] mit einem Lehrauftrag an der Universität verbunden war. Ich nahm also an.“56 Im Oktober 1923 hatte Siemsen schließlich als Oberstudienrätin und Leiterin des Jenaer Lyzeums mit Studienanstalt ihre Stelle im Thüringischen Staatsdienst angetreten und wurde mit „den Geschäften der mittleren Schulverwaltungs-

50 Franz Walter: Die SPD. Biographie einer Partei, Hamburg 2009, S. 57. 51 Siemsen: Die Sozialdemokratie im Kampf, S. 808 f. 52 Rainer Fattmann: Bildungsbürger in der Defensive. Die akademische Beamtenschaft und der „Reichsbund der höheren Beamten“ in der Weimarer Republik (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 145), Göttingen 2001, S. 89. 53 Ebd., S. 91. 54 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 45. 55 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26674, Bl. 28: Thüringisches Ministerium für Volksbildung an den Stadtdirektor von Jena, Weimar vom 23. Juni 1923. 56 Siemsen: Mein Leben, S. 52 f. Siehe auch Jungbluth: Anna Siemsen, S. 112. Zu Siemsens Tätigkeit in Thüringen und den Repressionen, denen sie dort ausgesetzt war, vgl. ebd., S. 113– 123.

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behörde für die Allgemeinwahlschulen im Schulgebiet I […] betraut“.57 Ebenfalls vom 1. Oktober 1923 an erhielt sie auch eine Vorlesungsberechtigung der thüringischen Landesuniversität Jena im Fachbereich Erziehungswissenschaften und wurde zur Honorarprofessorin der Philosophischen Fakultät ernannt.58 Das Thüringische Ministerium für Volksbildung in der Landeshauptstadt Weimar setzte den Stadtdirektor in Jena davon in Kenntnis, die Berufung Siemsens werde aufgrund ihres „grossen Rufes“ und ihrer „hervorragenden pädagogischen Fähigkeiten […] einen besonderen Gewinn“ für Thüringen bedeuten.59 2.1.2 Rückschläge in Thüringen In Thüringen war bereits im Oktober 1921 eine linkssozialistische Landesregierung aus SPD und USPD unter dem SPD-Politiker August Frölich (1877–1966) zustande gekommen, die von der KPD unterstützt wurde. Der Volksbildungsminister von der USPD, Max Greil (1877–1939), schöpfte den in den Weimarer Schulartikeln angelegten Handlungsspielraum für die Umsetzung von Schul- und Bildungsreformen „entschieden aus“.60 Greil plante, das weltliche Einheitsschulkonzept, das vom BESch, dem linksliberalen Deutschen Lehrerverband und der Freien Lehrergewerkschaft gefordert worden war, umfassend umzusetzen. Greil wollte einen einheitlichen Schulaufbau vom Kindergarten bis zur Universität erreichen. Ferner sollten Elternbeiräte und Schülerausschüsse als Selbstverwaltungsgremien gebildet werden. Die Volksschullehrerausbildung wurde erstmals von den nicht-akademischen Lehrerseminaren auf die Universität übertragen.61 Bekannte sozialistische und in der Reformpädagogik aktive Personen wurden nach Thüringen gerufen, um die Reformprojekte der Regierung zu unterstützen.62 Da57 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26674, Bl. 133: Thüringisches Ministerium für Volksbildung und Justiz an das Thüringische Staatsministerium, Weimar vom 13. Oktober 1924. 58 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26675, Bl. 5: Abschrift aus den Akten, betr. die Besetzung der erziehungswissenschaftlichen Lehrstühle vom 6. September 1923. 59 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26674, Bl. 28: Thüringisches Ministerium für Volksbildung an den Stadtdirektor von Jena, Weimar vom 23. Juni 1923. 60 Jürgen John und Rüdiger Stutz: Die Jenaer Universität 1918–1945, in: Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert (Hg.): Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, Köln, Weimar und Wien 2009, S. 270–587, hier S. 320. 61 Zur Greilschen Schulreform in Thüringen siehe Paul Mitzenheim: Die Greilsche Schulreform 1921 bis 1923. Wesentliche Ergebnisse und Schlussfolgerungen, in: Manfred Weißbecker (Hg.): Rot-Rote Gespenster in Thüringen. Demokratisch-sozialistische Reformpolitik einst und heute (Reihe Demokratischer Sozialismus, Bd. 1), Jena 2004, S. 79–100. Vgl. auch Steffen Kachel: Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, Bd. 29), Köln, Weimar und Wien 2011, S. 162. 62 Mitzenheim: Die Greilsche Schulreform von 1921, S. 92.

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her kamen neben Siemsen auch ihr Bruder August Siemsen sowie der Pädagoge Siegfried Kawerau (1886–1936) nach Thüringen, allesamt Mitglieder im BESch. Eine weitere Kollegin von Siemsen aus dem BESch, die Pädagogin Olga Essig (1884–1965), befand sich bereits seit 1922 dort.63 „Zu Greils sozialistischem Beraterkreis“ gehörte der Politiker und Lehrer Hermann Brill,64 der nach dem Zweiten Weltkrieg thüringischer Regierungspräsident wurde und zu Siemsens engeren europapolitischen Mitstreitern gehören sollte. Dem Volksgemeinschafts- und Volksbildungsgedanken verpflichtet, wollte Greil das Bildungsniveau der gesamten Bevölkerung heben und hielt dafür eine reformierte Lehrerausbildung für zentral.65 Siemsens bildungspolitische Arbeit in Thüringen wurde beschattet von den skizzierten kulturpolitischen Auseinandersetzungen, die sich im Bereich der Schulund Bildungspolitik offenbarten. Hinzu kam, dass sie als Beamtin und Honorarprofessorin in diesen Berufsfeldern ureigenes Männerterrain betrat. Sie gehörte zu jenen Lehrerinnen, die eine Konkurrenz für ihre männlichen Kollegen darstellten, die ebenfalls die begehrten Lehr- und Leitungsposten an den höheren Mädchenschulen einnehmen wollten. Ab 1908 war durch die Neuregelungen des höheren Mädchenschulwesens Widerstand der männlichen Lehrkräfte gegen die Besetzung von Leitungsposten mit weiblichen Lehrkräften laut geworden. Die in das offizielle Schulsystem integrierten Lyzeen, auf denen Mädchen durch eine angegliederte Studienanstalt eine den Jungen angeglichene Schulausbildung erhielten und das Abitur ablegen konnten, boten auch für Männer ein neues Berufsfeld.66 Philologenverbände etwa kämpften in der Weimarer Republik gegen weibliche Direktoren an höheren Schulen, da sie eine „Feminisierung“ und damit eine gesellschaftliche Abwertung ihres Berufsstandes befürchteten.67 An der Universität stieß die Einsetzung von Siemsen als Honorarprofessorin ebenfalls auf Widerstände. Die von Greil initiierten Schulreformen, die auch die Universität betrafen, wurden ohne Rücksicht auf die Ablehnung seitens der Professorenschaft in Angriff genommen. Die Universitätsreformen bezogen sich nicht allein auf die Übertragung der Volksschullehrerausbildung auf die Universität. Reformiert wurden zudem die tradierten hierarchischen Universitätsstrukturen wie etwa die Universitätsverfassung. Es wurden „Selbstverwaltung, Studenten-, Vertretungs- und Mitspracherechte“ eingeführt. Allerdings blieb „das Wissenschafts- und Disziplingefüge“ davon unberührt.68 So rief etwa die universitäre Volksschullehrerausbildung den heftigen Widerstand von Philologen und Professoren hervor, die eine Senkung ihres Berufsprestiges und ihrer tradierten Bildungsprivilegien gefähr63 Schmidt: Frauen- und Berufserziehung, S.124. 64 John und Stutz: Die Jenaer Universität 1918–1945, S. 319 im Rückgriff auf Manfred Overesch: Hermann Brill in Thüringen 1895–1946. Ein Kämpfer gegen Hitler (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 29), Bonn 1992, S. 69. 65 John und Stutz: Die Jenaer Universität, S. 318 und 320. 66 Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 128. 67 Fattmann: Bildungsbürger in der Defensive, S. 92. 68 John und Stutz: Die Jenaer Universität, S. 316.

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det sahen.69 Sie beriefen sich auf die „Hochschulautonomie“70 und kritisierten die Berufung neuer Kolleginnen und Kollegen, die allein durch die Regierung erfolgt worden war. Der Umstand, dass Siemsen ohne Habilitation eine Honorarprofessur einnehmen sollte, war mit dem tradierten Bildungs- und Ausbildungsverständnis der national-konservativ orientierten Professorenschaft, die die Habilitation als Voraussetzung für eine universitäre Laufbahn betrachtete, unvereinbar. Die Verleihung eines Professorentitels und die Lehrberechtigung an Siemsen durch das Volksbildungsministerium war für die Jenaer Universität vermutlich in ähnlicher Weise ein „doppelte[r] Tabubruch“ wie die Berufung Mathilde Vaertings (1884–1977) kurz zuvor.71 Vaerting war im Rahmen der Greilschen Schulreform 1923 ein Lehrstuhl für Pädagogik an der Jenaer Universität ohne die Zustimmung der zuständigen Fakultät übertragen worden.72 Die Tatsache, dass Siemsen ebenso wie Mathilde Vaerting nicht habilitiert und zudem noch eine Frau war, rief auch in ihrem Fall die Widerstände einer überwiegend politisch rechtsstehenden und antidemokratisch eingestellten Professoren- und Studentenschaft hervor.73 Die 1921 entstandene Linkskoalition stieß mit ihren Reformen nicht nur innerhalb der höheren Bildungsstätten auf Ablehnung, sondern auch bei einem Großteil der Bevölkerung in Thüringen, der „konservativ-monarchisch“ eingestellt war. Die Reformprojekte der Regierung zielten nicht nur auf Bildungs- und Schulreformen ab, sondern auf eine Reform der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse, die im Widerspruch zu den Ordnungsvorstellungen stand, die das überwiegend nationalkonservative Bürgertum vertrat.74 Zu den Reformen gehörte etwa die Abschaffung des Buß- und Bettages. Stattdessen wurden der Revolutionstag, der 9. November, und der Tag der Arbeit, der 1. Mai, als politische Feiertage eingesetzt.75 Mit der Einsetzung dieser Feiertage untermauerte die Regierung „Weltbilder und Leitideen“, denen in der politischen Öffentlichkeit Stabilität und Wirkmächtigkeit ver69 Ebd., S. 320. 70 Uwe Hoßfeld u. a.: „Kämpferische Wissenschaft“: Zum Profilwandel der Jenaer Universität im Nationalsozialismus, in: Ders. u. a.. (Hg.): „Im Dienst an Volk und Vaterland“. Die Jenaer Universität in der NS-Zeit, Köln, Weimar und Wien 2005, S. 1–126, hier S. 37. 71 Stefanie Marggraf: Sonderkonditionen. Habilitationen von Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus an den Universitäten Berlin und Jena, in: Feministische Studien 20 (2002), Heft 1, S. 40–56, hier S. 45. 72 Ebd., S. 43. 73 Zu den Umständen von Vaertings Berufung siehe ebd. sowie Theresa Wobbe: Aufbrüche, Umbrüche, Einschnitte. Die Hürden der Habilitation und die Hochschullehrerinnenlaufbahn, in: Kleinau und Opitz: Geschichte der Frauen- und Mädchenbildung, Bd. 2, S. 342–353, hier S.  350 f. 74 Guido Dressel: Der Thüringer Landbund – Agrarischer Berufsverband als politische Partei in Thüringen 1919–1933 (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Heft 12), Weimar 1998, S. 38. Siehe auch Helge Matthiesen: Das Gothaer Bürgertum und die Nationalsozialisten 1918–1930, in: Detlev Heiden und Gunter Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, Köln, Weimar und Wien 1995, S. 97–118, hier S. 104 sowie Kachel: Ein rot-roter Sonderweg?, S. 169. 75 Kachel: Ein rot-roter Sonderweg?, S. 162 f.

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liehen wurde.76 Der 9. November, der aus Sicht der Sozialisten für den Sturz der Monarchie durch die organisierte Arbeiterschaft und für die Ausrufung der Republik stand, war in den Augen antidemokratischer Gruppen dagegen Sinnbild für die Errichtung einer Republik, die sie ablehnten. Der 9. November wurde mit der nationalen Schmach der Kriegsniederlage in Verbindung gebracht und mit dem Sieg jener vermeintlich nationalfeindlichen Kreise, die auch für die „Dolchstoßlegende“ bemüht wurden.77 Die Widerstände gegen Siemsen speisten sich aus verschiedenen Quellen, die in der Argumentation der Gegner oftmals nicht klar zu trennen waren. Siemsen stellte nicht nur als Vertreterin sozialistischer Reformpolitik politische Ordnungsvorstellungen und das privilegierte bürgerliche Selbstverständnis rechts-konservativer Gruppen infrage, sondern eben auch als Frau in leitenden Positionen tradierte Geschlechternormen und -hierarchien, die durchaus Teil dieser rechts-konservativen Ordnungsvorstellungen waren. Die geschilderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen führten dazu, dass sie schon kurz nach ihrem Amtsantritt im Oktober 1923 erheblichen Repressalien ausgesetzt war. Nachdem die linkssozialistische Regierung bereits Ende 1923 abgesetzt worden war, standen damit aus Sicht der Gegner der sozialistischen Reformpolitik auch Siemsens Posten zur Disposition. Wie sehr die ideologischen Grabenkämpfe zwischen der linkssozialistischen Regierung und der größtenteils konservativ-monarchisch orientierten Bevölkerung zur „Polarisierung der politischen Kräfte“ in Thüringen führte,78 lässt sich an Siemsens beruflichen Rückschlägen beispielhaft nachvollziehen. Kurz vor Siemsens Amtsantritt hatte die KPD im September 1923 die aus SPD und USPD bestehende Regierung gestürzt. Mitte Oktober wurde dann eine Regierung aus KPD und SPD gebildet, die weitere politische Unruhen nach sich zog. Aus Angst vor Putschversuchen von der extremen Linken oder Rechten war die Reichswehr mit Billigung der Reichsregierung vor dem Landtag in Weimar aufmarschiert.79 Die sozialistische Landesregierung in Thüringen war damit faktisch im November 1923, kurz nach Siemsens Amtsantritten, abgesetzt. Die im Februar 1924 stattfindenden Landtagswahlen, von Siemsen als „Terror-Wahlen“80 bezeichnet, brachten eine neue Regierung bestehend aus rechten bürgerlichen Oppositions76 Wolfram Pyta: Monarchie und Republik. Zum Wandel des politischen Zeremoniells nach 1918, in: Andreas Biefang, Michael Epkenhans und Klaus Tenfelde (Hg.): Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871–1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 153), Düsseldorf 2008, S. 451–468, hier S. 451 f. 77 Horst Dreier: Die deutsche Revolution 1918/19 als Festtag der Nation? Von der (Un-)Möglichkeit eines republikanischen Feiertages in der Weimarer Republik, in: Rolf Gröschner und Wolfgang Reinhard (Hg.): Tage der Revolution – Feste der Nation (Politika, Bd. 3), Tübingen 2010, S. 145–189, hier S. 179 f. 78 Dressel: Der Thüringer Landbund, S. 38. 79 Ebd., S. 39; Kachel: Ein rot-roter Sonderweg?, S. 169 und Landeszentrale für politische Bildung und Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: Einleitung, in: dies. (Hg.): Quellen zur Geschichte Thüringens. 75 Jahre Freistaat Thüringen. Verfassungen und Gesetze 1920–1995, Erfurt 1995, S. 9–19, hier S. 10 f. 80 Siemsen: Mein Leben, S. 53.

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parteien hervor, die sich mit bürgerlichen Interessensorganisationen zum sogenannten Thüringer Ordnungsbund (TOB) zusammenschlossen.81 Dieser Ordnungsbund machte die von der Linksregierung angestoßenen Reformprojekte zum großen Teil wieder rückgängig.82 Kurz bevor die neue rechts-konservative Regierung durch ein „Notgesetz“ die mittlere Schulverwaltung zum 1. April 1924 aufheben sollte,83 beschloss ein Großteil von Siemsens Kollegium im Jenaer Lyzeum beim Ministerium einen Antrag auf ihre Entlassung aus dem Schuldienst zu stellen. Siemsen habe, so das Kollegium, durch ihre sechsmonatige Tätigkeit „eine solche Fülle von ungünstigen Vorurteilen gegen sich geweckt […], daß sie zu große Schwierigkeiten zu überwinden haben würde, um zu einer ersprießlichen Tätigkeit gelangen zu können“. Ein „Verbleiben der Frau Dr. Siemsen im Kollegium als Leiterin oder Lehrerin“ sei daher nicht „wünschenswert“.84 Die internen Schwierigkeiten, denen sich Siemsen ausgesetzt sah, hatten sich bereits im Sommer 1923 vor ihrem Amtsantritt abgezeichnet. Der Verwaltungsrat der höheren Schulen, der zugleich die Funktion des Schulvorstandes innehatte, bemängelte im Juli 1923 vor dem Volksbildungsministerium, dass Siemsen gegen den Willen des Kollegiums zur Schulleiterin ernannt werden sollte, obwohl das Kollegium für „Prof. Dr. Kleinschmidt“ als Schulleiter abgestimmt habe.85 Wie bei Siemsens Ernennung zur Professorin hatte sich das Ministerium auch in diesem Fall ohne Absprache mit anderen Gremien durchgesetzt. In seinem Antrag betonte das Kollegium im März 1924, Siemsen müsse wegen Aufrechterhaltung „der Disziplin und der ruhigen Fortentwicklung bei den Schülerinnen, im Interesse des harmonischen Zusammenarbeitens bei den Kollegen, und zur Beruhigung der Eltern“ entlassen werden.86 Der Elternbeirat des Lyzeums sah sich zur gleichen Zeit veranlasst, in einem vierseitigen Beschwerdebrief an das Ministerium gegen Siemsen zu opponieren.87 Elternbeirat und Lehrerkollegium hatten sich offenbar abgesprochen: Die Kritikpunkte glichen sich. Siemsen wurde u. a. kritisiert, weil sie eine Büste und ein Bildnis der Königin Luise von Preußen aus einem Klassenzimmer entfernt habe. Auch wurde ihr „Unkenntnis des höheren Schulwesens“ vorgeworfen, „da sie selbst keine Vollanstalt besucht“ habe. Ferner habe sie „das Lehrerkollegium, das früher ziemlich einheitlich war […] durch ihren 81 Dressel: Der Thüringer Landbund, S. 39. 82 Landeszentrale für politische Bildung und Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: Quellen zur Geschichte Thüringens, S. 11. Siehe auch Mitzenheim: Die Greilsche Schulreform, S. 93. 83 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26674, Bl. 133: Thüringisches Ministerium für Volksbildung und Justiz an das Thüringische Staatsministerium, Weimar vom 13. Oktober 1924. 84 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26676, Bl. 4: Eingabe des Kollegiums des Jenaer Lyzeums an das Ministerium für Volksbildung, Jena am 28. März 1924. 85 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 76674, Bl. 36: Stadtdirektor von Jena an das Thüringische Ministerium für Volksbildung, Jena vom 13. Juli 1923. 86 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26676, Bl. 3: Auszug aus dem Protokoll der vertraulichen Sitzung des Kollegiums des Jenaer Lyzeums vom 28. März 1924. 87 Ebd., Bl. 5 und 6: Elternbeirat des Lyzeums mit Studienanstalt zu Jena an das Thüringische Ministerium für Volksbildung, Jena vom 31. März 1924.

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Einfluss auseinandergerissen“. Siemsen wurde bescheinigt, zwar „über die verschiedensten Themata gewandt und anregend […] plaudern“ zu können, verbinde damit aber die Eigenschaften der „Zerfahrenheit“, „Vergeßlichkeit“, „Mangel an Voraussicht“ und „Unordentlichkeit“, die sie nicht befähigen würden, einer „praktischen Verwaltungstätigkeit“ nachzugehen. Außerdem habe Siemsens Einfluss zu einer „Lockerung der Disziplin“ geführt, was vor allem während „einer von Frau Dr. Siemsen geleiteten Feier [zum 9. November, MvB]“ durch eine „peinliche[] Demonstration“ mit „lauten Pfui-Rufen [seitens der Schülerinnen, MvB] beim Hoch auf die deutsche Republik“ deutlich geworden sei.88 Die antidemokratische und antirepublikanische Haltung der Schülerinnen, die aus diesen Schilderungen spricht, wurde auch an anderen Schulen beispielsweise am Verfassungstag, dem 11. August, „öffentlich artikuliert“ und war daher vor allem ein Ausdruck dafür, wie distanziert konservative bürgerliche Gruppen dem Weimarer Staat gegenüberstanden.89 Im Schreiben des Kollegiums wurde diese öffentliche Artikulation nun aber Siemsens Unfähigkeit, für Disziplin zu sorgen, zugeschrieben. Das Entfernen eines Königin-Luise-Bildes war in den Augen jener antidemokratischer Gruppen eine symbolische Handlung, mit der Siemsen nationale Werte infrage stellte. Königin Luise von Preußen90 galt als Symbol des preußisch-deutschen Nationalismus und wurde in den 1920er Jahren von Vertreterinnen und Vertretern völkischer und rechts-konservativer Kreise genutzt, um antirepublikanische Ideen zu propagieren.91 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in den meisten Schulen ein nationalistisch geprägtes Königin-Luise-Bild vermittelt, das in Deutung und Darstellung kaum einen Unterschied zum Kaiserreich aufwies.92 Für Siemsen hingegen war die Entfernung des Bildes eine konsequente Handlung, denn sie wollte in ihrer bildungspolitischen Arbeit ja gerade diese tradierten nationalen Wert- und Ordnungsvorstellungen überwinden. Der Vorwurf an Siemsen, sie habe keine Kenntnis des höheren Schulwesens, da sie selbst nie eine sogenannte Vollanstalt, also ein Lyzeum mit der Möglichkeit des 88 Ebd., Bl. 2 und 3: Auszug aus dem Protokoll der vertraulichen Sitzung des Kollegiums des Jenaer Lyzeums vom 28. März 1924. 89 Langewiesche und Tenorth: Einleitung: Bildung, Formierung, Destruktion, S. 14. 90 Luise Prinzessin zu Mecklenburg-Strelitz (1776–1810) heiratete 1793 den damaligen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm III. von Preußen (1770–1840). Siehe zur Rezeption der Königin die mediengeschichtliche Arbeit von Birte Förster: Der Königin Luise-Mythos. Mediengeschichte des „Idealbilds deutscher Weiblichkeit“ 1860–1960 (Formen der Erinnerung, Bd. 46), Göttingen 2011 sowie Luise Schorn-Schütte: Königin Luise und die Erinnerungskultur im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 14 (2010), Heft 2, S. 5–10. 91 So beispielsweise von völkisch-nationalen Politikerinnen, die 1923 den Bund Königin Luise, eine „Schwesterorganisation“ des Stahlhelm, gründeten: Eva Schöck-Quinteros: Der Bund Königin Luise. „Unser Kampfplatz ist die Familie …“, in: dies. (Hg): „Ihrem Volk verantwortlich“. Frauen der politischen Rechten (1890–1933). Organisationen, Agitationen, Ideologien, Berlin 2007, S. 231–270, hier S. 261. Siehe dazu auch das Kapitel bei Förster: Der Königin Luise-Mythos, S. 328–354. 92 Förster: Der Königin Luise-Mythos, S. 323 f.

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Abiturabschlusses, besucht habe, resultierte aus der Annahme, nur ein normierter Ausbildungsweg so wie er für Jungen bzw. Männer vorgesehen war, könne dazu befähigen, einen Leitungsposten zu übernehmen. Das Kollegium ließ dabei außer Acht, dass ein entsprechender Ausbildungsweg für Mädchen erst 1908 mit der preußischen Mädchenschulreform möglich geworden war und zu Siemsens Schulzeit nicht beschritten werden konnte. Bezeichnenderweise gab das Kollegium zu, über Siemsens „Erfolge als Lehrerin“ aus „Mangel an Unterlagen kein Urteil abgeben“ zu können.93 Diese Unmöglichkeit, eine „Vollanstalt“ zu besuchen, zählte hier im Kampf um berufliche Positionen aber nicht, ließ sich dieses Argument doch gut als Beleg für Siemsens angeblich mangelnde Befähigung heranziehen. Die verschiedenen Schreiben, die an das Ministerium gingen, sprechen dafür, dass Siemsens Kollege Kleinschmidt, der den Posten eines stellvertretenden Schulleiters innehatte, aber eigentlich selbst die Schulleitung übernehmen sollte, Siemsen in ihrer leitenden Funktion ablösen wollte. Nachdem die linkssozialistische Regierung gestürzt war, die Siemsen in die leitenden Positionen eingesetzt hatte, hoffte Kleinschmidt vermutlich, den Konkurrenzkampf mit Siemsen nun für sich entscheiden zu können, was ihm schließlich auch gelingen sollte. Siemsen versuchte, auf die Vorwürfe, die ihr nur durch das Ministerium mitgeteilt worden waren, sachlich zu reagieren und diese persönlich auf einer Lehrerkonferenz zu klären. Siemsen bedauerte hier, dass man sie ausgeschlossen, sie nicht sogleich persönlich über Probleme informiert und eine Aussprache gesucht hatte. Das Vorgehen des Kollegiums „hätte sie als eins [sic] der schlimmsten Dinge in ihrem Leben empfunden“.94 Siemsen versuchte dem Ministerium zu beweisen, dass sie Opfer einer Intrige geworden war, für die sie Kleinschmidt verantwortlich machte. Das Ziel sollte sein, so bemerkte Siemsen mehrfach, sie aus der Leitung des Lyzeums zu verdrängen, damit Kleinschmidt selbst ihren Platz einnehmen könne.95 Die gegenseitigen Stellungnahmen von Siemsen und Kleinschmidt entwickelten sich bald zu einem Kleinkrieg mit teils skurrilen Zügen. Kleinschmidt attestierte Siemsen etwa „Applausbedürfnis“96 und den „Übereifer“ eines „Till Eulenspiegel“.97 Obwohl er „durch eigene litterarische [sic] Tätigkeit einen geschärften Blick für sprachliche Eigentümlichkeiten“ zu haben glaubte, habe er „eine Anthologie ihrer [Siemsens, MvB] Schnitzer […] natürlich nicht zusammengestellt“. Trotzdem wollte Kleinschmidt auf „zwei Kleckse[]“ verweisen, die Siemsen auf ihrem letzten Schreiben hinterlassen habe und die ihre „Zerfahrenheit“ beweisen sollten.98 Um seine Einschätzung von Siemsens Charakter zu untermauern, zitierte Kleinschmidt vermeintliche Stellungnahmen anderer Kollegen, die Siem93 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26676, Bl. 3: Auszug aus dem Protokoll der vertraulichen Sitzung des Kollegiums des Jenaer Lyzeums vom 28. März 1924. 94 Ebd., Bl. 17: Protokoll der Konferenz vom 4. April 1924. 95 Vgl. ebd., Bl. 35 und 40: Siemsen an das Ministerium für Volksbildung, Jena vom 21. Mai 1924. 96 Ebd., Bl. 57: Kleinschmidt an das Ministerium für Volksbildung, Jena vom 26. Juni 1924. 97 Ebd., Bl. 61. 98 Ebd., Bl. 56.

2.1 Politische Arbeit und kulturpolitische Auseinandersetzungen

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sen als ‚falsche Katzeʻ bezeichnet hätten und nicht glauben könnten, ‚er hielte es mit der Siemsen [aus, MvB]ʻ.99 Für Siemsen muss die tägliche Arbeit in der Schule unter diesen Verhältnissen eine große Belastung bedeutet haben. Vom Kollegen Kleinschmidt vermutlich auf Schritt und Tritt überwacht, konnte Siemsen ihre Aufgaben wohl nur schwer bewältigen. Im Juli 1924 kam es schließlich zu einer offiziellen, vom Ministerium eingeleiteten Verhandlung, in der das Kollegium zur Klärung der verfahrenen Situation Stellung beziehen sollte. Eine Abstimmung darüber, ob Kleinschmidt als stellvertretender Schulleiter weiterhin das Vertrauen des Kollegiums genieße, wurde zugunsten Kleinschmidts entschieden.100 Siemsen musste die Leitung des Lyzeums abgeben.101 Nur wenige Monate später wurde sie auch ihres Amtes als Lehrerin enthoben. Mitte Oktober 1924 beantragte das Volksbildungsministerium beim Thüringischen Staatsministerium, Siemsen in den „Wartestand“ zu versetzen. Das Volksbildungsministerium erklärte, dass aufgrund ihrer „pädagogischen Sonderstellung“ keine Möglichkeit mehr bestehe, sie als Lehrerin am Lyzeum weiterhin zu beschäftigen.102 Der Antrag wurde positiv beschieden und Siemsen zum 1. November 1924 in den „Wartestand“ versetzt.103 Der sogenannte Wartestand bedeutete entgegen offizieller Stellungnahmen keine Überbrückungszeit, sondern in den meisten Fällen – so auch in Siemsens – eine endgültige Entlassung. Nur wenige in den „Wartestand“ versetzte Beamtinnen und Beamten durften ihren Dienst wieder antreten. Der „Wartestand“ war neben allen psychologischen Belastungen auch mit starken finanziellen Einbußen verbunden: Das sogenannte Wartegeld betrug maximal die Hälfte des letzten Diensteinkommens.104 Im Herbst 1924 hatte Siemsen, die gerade einmal 42 Jahre alt war, ihren Posten in der Schulverwaltung und als Lehrkraft am Lyzeum verloren. Geblieben war ihr vorerst nur die Honorarprofessur an der Jenaer Universität, für die sie jedoch keine Entlohnung erhielt. Siemsen ging an die Öffentlichkeit und publizierte in den Sozialistischen Monatsheften unter dem Titel „Neudeutsche Kleinstaaterei“105 eine scharfe Abrechnung mit den politischen Verhältnissen in Deutschland und insbesondere in Thüringen. Siemsen behauptete hierin, die thüringische Regierung würde „offenkundig“ alle „politisch Mißliebigen“ beseitigen.106 Sie beklagte den „heutigen unheilvollen Zustand“ Deutschlands, das „in seiner innern Struktur und im geistigen Habitus […] ein Haufe[n] feudal absolutistischer Kleinstaaten geblieben“ sei. Sie nahm ins99 Ebd., Bl. 64. 100 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26676, Bl. 94: Niederschrift über die Verhandlung Siemsen gegen Kleinschmidt in Jena vom 10. Juli 1924. 101 Das geht hervor aus: ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26674, Bl. 133: Thüringisches Ministerium für Volksbildung und Justiz an das Thüringische Staatsministerium, Weimar vom 13. Oktober 1924. 102 Ebd. 103 Siehe ebd. den Beschlussentwurf. 104 Fattmann: Bildungsbürger in der Offensive, S. 47. 105 Anna Siemsen: Neudeutsche Kleinstaaterei, in: Sozialistische Monatshefte 30 (1924), Heft 10, S. 629–633. 106 Ebd., S. 632.

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besondere die „Beamtenschaft“ als einen ausgeprägten „Bevölkerungstypus“ dieser Kleinstaaterei ins Visier. Thüringen stelle eine besondere „Spielart“ von „[k]lein­ staatliche[m] Feudalismus“ dar, weshalb sich Siemsen in ihren folgenden Ausführungen auch auf Thüringen und seine Beamtenschaft beschränkte. Schon „die Dürftigkeit fast aller Baulichkeiten, die schlechte Lebenshaltung, die körperliche Verkümmerung der Bevölkerung“ waren für Siemsen objektiver Ausdruck dafür, wie schlecht es um die politischen Zustände in Thüringen bestellt sei.107 Der Freistaat Thüringen war 1920 durch den Zusammenschluss verschiedener ehemaliger Fürsten- und Herzogtümer wie etwa Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Gotha, Sachsen-Meiningen und Schwarzburg-Sondershausen gegründet worden.108 Es sei, wie Siemsen betonte, die „Geschichte dieser Zwergstaaten mit ihrer patriarchalischen und absolutistischen Klüngelwirtschaft“, die „das geringste Gefühl für Gesetz und öffentliches Recht“ nicht habe aufkommen lassen.109 Denn durch diese staatliche Zersplitterung sei eine Beamtenschaft entstanden, die stets durch „Absonderung und Inzucht“ ihre eigene Reproduktion durch die „Beziehungen zum Hof“ verfolgt und deshalb Einflüssen aus dem „deutsche[n] Ausland […] feindlich gegenübergestanden habe. Diese Beamtenschaft machte Siemsen dafür verantwortlich, dass unter den isolierten wirtschaftlichen Bedingungen der Feudalstaaten der Typus des Kleinunternehmers, der „besonders bösartige Züge kleinlichsten Scharfmachertums“ trage, auf ein rückständiges Bauerntum getroffen sei. Auf diesem „Nährboden“ hätten „die politischen Hetzen und Verleumdungen […] fruchtbarer nicht“ sein können. Siemsen verwunderte es, dass sich unter diesen Umständen immerhin „eine sehr starke Industriearbeiterschaft“ entwickelt habe. Die Arbeiterschaft sei jedoch unterdrückt und deswegen „schwer zu erfassen und aufzuklären“ gewesen. Aus diesem Grund habe sie dazu beigetragen, „im Bürgertum einen blinden Arbeiter- und Sozialistenhaß zu wecken“, den Siemsen für die jüngsten politischen Entwicklungen in Thüringen verantwortlich machte.110 Staatliche Zersplitterung und wirtschaftliche Isolation waren in Siemsens Ausführungen über Thüringen die zentralen argumentativen Leitlinien ihrer Kritik, die schließlich auch ihre Europa-Konzepte prägen sollten. Diese beiden Aspekte machte sie dafür verantwortlich, dass ein moralischer Verfall eingetreten sei, der sich in herrschenden politischen Ordnungsvorstellungen und Handlungsmustern offenbare, unter denen sie selbst unmittelbar gelitten hatte. Politische und wirtschaftliche Verhältnisse wurden von ihr in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Herausbildung entsprechender Wert-, Norm- und Handlungsmaßstäbe in der Gesellschaft gebracht. Die von ihr als negativ bewerteten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der Zersplitterung und Isolation hätten etwa ein fehlendes „Gefühl für Gesetz und öffentliches Recht“ zur Folge gehabt. Diese Wert- und Handlungsmaßstäbe konnten in Siemsens Sicht nur dann umfassend geändert werden, wenn die politischen und wirtschaftlichen Grundbedingungen insgesamt geän107 Ebd., S. 629. 108 Steffen Raßloff: Geschichte Thüringens, München 2010, S. 79. 109 Siemsen: Neudeutsche Kleinstaaterei, S. 632. 110 Ebd., S. 630 f.

2.2 Das kultursozialistische Europa

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dert werden würden.111 Diese Sichtweise übertrug sie, wie der Beginn ihres Aufsatzes zeigt, auch auf Deutschland insgesamt, wo sie überall die gleichen negativen Beobachtungen zu machen glaubte. Eine entsprechende Annahme sollte sie im Folgenden nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf Europa übertragen, das aus ihrer Sicht ähnliche Strukturbedingungen aufwies wie Deutschland selbst. Da Siemsen seit dem Ersten Weltkrieg die Auffassung vertrat, die wirtschaftlichen Entwicklungen seien auf internationaler Ebene miteinander verflochten, konnte die Frage der wirtschaftlichen Isolation und damit auch die Frage der staatlichen Zersplitterung als Grundvoraussetzung dieser Isolation nur international gelöst werden. Diese Überlegungen führten dazu, dass sie schließlich am Ende der Weimarer Republik eine Einigung Europas auf sozialistischer Grundlage fordern sollte. Die Wichtigkeit, die Siemsen der Erziehung für eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse beigemessen hatte, blieb bestehen: Eine Aufklärung über die politischen Verhältnisse und eine Erziehung zu alternativen politischen Werten, die sie als Erziehung zur Gemeinschaft beschrieben hatte, sollten wirtschaftliche und politische Reformen vorbereiten und begleiten. Nach ihrer Versetzung in den „Wartestand“ begann Siemsen, sich verstärkt in der kultursozialistischen Arbeiterbildung zu engagieren. 2.2 DAS KULTURSOZIALISTISCHE EUROPA Nach ihrer Versetzung in den „Wartestand“ schrieb Siemsen ihre erste umfangreichere Monographie, die Literarischen Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft, die 1925 erschien. Im gleichen Jahr nahm die SPD die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa in das Heidelberger Parteiprogramm auf.112 Siemsens unsichere berufliche Situation, die mit starken finanziellen Einbußen verbunden war und auch aus diesem Grund vermutlich eine existentielle Erfahrung für sie bedeutete, nutzte sie nun, um ihre publizistischen Tätigkeiten zu erweitern. Ihr war zwar die Honorarprofessur an der Jenaer Universität geblieben, doch ihre Lehrtätigkeit hatte Siemsen von Anfang an kaum wahrgenommen. Ließ sie sich zu Beginn, vermutlich aufgrund ihrer beruflichen Mehrfachbelastung, manchmal noch beurlauben, reichte sie gegen Ende der Weimarer Republik vermehrt Krankmeldungen ein. Die Zeit seit ihrer Ernennung zur Honorarprofessorin 111 Eine ähnliche Argumentation nutzten deutsche Emigrantinnen und Emigranten nach 1933, um den Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären. Oftmals wurde betont, „[d]ie territoriale Uneinheitlichkeit habe die moralische Uneinheitlichkeit zur Folge gehabt“. Siehe: Thomas Koebner: Das „andere Deutschland“. Zur Nationalcharakteristik im Exil, in: Manfred Briegel und Wolfgang Frühwald (Hg.): Die Erfahrung der Fremde: Kolloquium des Schwerpunktprogramms „Exilforschung“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Forschungsbericht (Acta humaniora), Weinheim 1988, S. 217–238, hier S. 224. 112 Wilfried Loth: Von Heidelberg nach Godesberg: Europa-Konzepte der deutschen Sozialdemokratie zwischen Utopie und Politik, in: Gabriele Clemens (Hg.): Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Peter Krüger zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2001, S. 203–219, hier S. 203.

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von 1923 bis zum Entzug ihrer Lehrerlaubnis im Dezember 1932 umfasste insgesamt 18 Semester.113 Für mehr als die Hälfte der Zeit fiel Siemsen aus.114 Die beruflichen und politischen Erfahrungen, die Siemsen in Jena gemacht hatte, führten nicht etwa zu einer Infragestellung ihrer politischen Ordnungsvorstellungen, sondern vielmehr zu einer Verfestigung. Sie glaubte, „in einer Zeit des Überganges, der gesellschaftlichen Umschichtung und geistigen Neubesinnung“ zu leben.115 Und sie hatte „einen ziemlich unbeschränkten Glauben an die langsam erziehende Kraft wahrhafter Demokratie“.116 In ihren Literarischen Streifzügen wollte Siemsen deshalb aufzeigen, dass es eine menschliche Entwicklungsfähigkeit gebe, die zur Gemeinschaft führe, wofür sie die europäische Gesellschaftsentwicklung als Beispiel nahm. Die europäische Gesellschaft stand stellvertretend für Entwicklungsprozesse, die abseits staatlicher Grenzen ablaufen würden. Diese staatlichen Grenzen, die sie mit Zersplitterung und Isolation gleichsetzte, lehnte sie durch ihre beruflichen Erfahrungen in Thüringen stärker ab als zuvor. Siemsen nutzte die Darstellung einer europäischen Gesellschaftsentwicklung außerdem, um besondere deutsche Entwicklungsprozesse aufzuzeigen, die von der gesamteuropäischen Entwicklung abwichen. Auf diese Weise wollte sie die zeitgenössischen Zustände in Deutschland erklären und zugleich die Dringlichkeit von Reformen hervorheben, damit Deutschland wieder in die allgemeine europäische Entwicklung zurückfinden könne. Siemsen forderte in ihrer Monographie erstmals die Vereinigten Staaten von Europa, ein zu dieser Zeit auch in sozialistischen Kreisen populäres Schlagwort.117 Dieses Schlagwort von den Vereinigten Staaten von Europa definierte Siemsen allerdings nicht näher, sondern verwandte es, um ihre politischen Forderungen bzw. ihre Gemeinschaftsvorstellungen zu umschreiben. Die Literarischen Streifzüge entstanden im Rahmen von Siemsens kultursozialistischer Bildungsarbeit, der sie sich nach ihren beruflichen Rückschlägen verstärkt widmete. Wegen ihrer Erfahrungen mit den bürgerlichen Kräften in Thüringen, glaubte sie, eine umfassende Änderung von Politik und Gesellschaft könne nur von der Arbeiterschaft geleistet werden. Sie schrieb den Arbeitern aufgrund ihrer gesellschaftlichen Klassenlage eine besondere Aufgeschlossenheit für ihre politischen Ziele zu. Sie glaubte, „die Krise der gegenwärtigen Gesellschaft“ würde „am deut113 Die Zählung beginnt mit dem Wintersemester 1923/1924, für das Siemsen gleich einen Freistellungsantrag gestellt hatte, der auch bewilligt wurde: Vgl. UAJ, Bestand M, Nr. 630/1, Bl. 54. Das WS 1932/1933 ist in die Rechnung nicht mit eingeflossen, da Siemsen mitten im Semester, im Dezember 1932, die Lehrerlaubnis an der Universität Jena entzogen wurde. 114 Das ergab die Durchsicht der einzelnen Urlaubsgesuche bzw. Krankmeldungen, die sich im UAJ befinden. Vgl. UAJ, Bestand BA, Nr. 931, Bl. 131, 185 und 268; Bestand M, Nr. 633, Bl. 256, 258, 259, 262, 265 und 268; Bestand M, Nr. 630/1, Bl. 54 sowie Bestand D, Nr. 2738, Bl. 4. Manuela Jungbluth betont, dass sich „Siemsens tatsächliche Vorlesungszeit auf maximal vier bis fünf Semester“ belaufen habe. Jungbluth: Anna Siemsen, S. 123. 115 Anna Siemsen: Grundlagen des Aufbaus, in: Sozialistische Monatshefte 30 (1924), Heft 12, S. 756–759, hier S. 756. 116 Ebd., S. 759. 117 Willy Buschak: Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel. Arbeiterbewegung und europäische Einigung im frühen 20. Jahrhundert, Essen 2014.

2.2 Das kultursozialistische Europa

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lichsten in der Lage der Arbeiterschaft zum Ausdruck“ kommen.118 Denn bei den Arbeitern seien „Zwang und Einseitigkeit“ durch „Berufszwang und Berufsverarmung“ am deutlichsten ausgebildet.119 Die Arbeiterschaft avancierte in Siemsens Argumentation seit Mitte der 1920er Jahre verstärkt zu einem politischen Hoffnungsträger. Die konkreten Lebens- und Interessenlagen, die innerhalb der Gruppe der Arbeiter durchaus unterschiedlich etwa nach Berufstätigkeit, Lebensformen und regionaler Herkunft sein konnten, berücksichtigte Siemsen in ihrem Politikkonzept kaum.120 Sie erklärte nur an wenigen Stellen innerhalb ihrer Veröffentlichungen je nach Argumentationsstrategie, wen genau sie unter „dem Arbeiter“ verstand. Dabei wurde aber deutlich, dass sie sich durchaus über die Heterogenität ihrer Zielgruppe im Klaren war. Definierte sie „das Proletariat“ 1921 noch in einem „ganz weiten Sinne“ als alle Menschen, „die ihre Arbeitskraft verkaufen, Gelernte und Ungelernte, Angestellte und Beamte, Kopf- und Handarbeiter“,121 hatte sie 1924 diese Definition bereits eingeschränkt. Hier standen nun vor allem Bauern, das „Kleinbürgertum“ und die „proletarisierte Beamtenschaft“ sowie „Landarbeiter“ und „altorganisiertes Industrieproletariat“ im Mittelpunkt.122 Innerhalb ihres Politikkonzeptes aber blieben die Arbeiter ein politisches und rhetorisches Kon­ strukt. Sie wurden „zu einer normativen Instanz umgeprägt“, die in der Tradition des marxistischen Gedankengutes die sozialistische Gesellschaftsreform maßgeblich vorantreiben sollte.123 Siemsen hielt dafür die einheitliche Organisation der Arbeiter für unerlässlich. Ihre wiederholte Forderung danach wird verständlicher, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der Arbeiter nicht in der SPD organisiert war. Zudem war das Interesse an politisch-theoretischer Programmatik unter den Arbeiterschichten im Allgemeinen nicht weit verbreitet, auch nicht bei denen, die in der Partei Mitglied oder im vielfältigen Arbeitervereinswesen engagiert waren.124 Viele Menschen, die in der Heimarbeit tätig waren,125 Arbeiter im Bergbau oder aus dem Bäcker- und Textilgewerbe gehörten traditionell nicht zu den Gruppen, die in die SPD eintraten. Die 118 Anna Siemsen: Soziale Dichtung, in: Bücherwarte 1 (1926), Heft 5, S. 129–134, hier S. 134. 119 Siemsen, Anna: Menschentum und Erziehung, in: Die freie weltliche Schule 5 (1925), Heft 19/20, S. 150–152, hier S. 151. 120 Heinz-Elmar Tenorth hat diesen Sachverhalt bei „Erziehungsutopien“ in der Weimarer Republik betont. Es habe Erziehungskonzepte gegeben, die auf normative „Einheitsformeln“ gesetzt und dabei eine umfassende Lösung für gesellschaftliche und politische Probleme suggeriert hätten. Damit sei von den Vertreterinnen und Vertretern dieser Erziehungskonzepte die Heterogenität ihrer Zielgruppe und der gesellschaftlichen Verhältnisse kaum in den Blick genommen worden: Tenorth: Erziehungsutopien, S. 187. 121 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 37. 122 Anna Siemsen: Psychologische Voraussetzungen des Sozialismus, in: Otto Jenssen (Hg.): Der lebendige Marxismus. Festgabe zum 70. Geburtstag von Karl Kautsky, Glashütten im Taunus 1973 [unveränderter Nachdruck der Ausgabe Jena 1924], S. 383–393, hier S. 383. 123 Helmut Fleischer: Karl Marx und der Ausgang der proletarischen Revolution. Eine philosophische Geschichtsbetrachtung, in: Schönhoven und Staritz: Sozialismus und Kommunismus, S. 13–38, hier S. 13. 124 Walter und Marg: Von der Meritokratie, S. 38 f. 125 Walter: Die SPD, S. 64.

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2 Von der Bildungspolitik zu Europa (1919 bis 1927)

SPD schöpfte ihr Mitgliederpotential seit dem Kaiserreich aus den Bereichen des alten Handwerks und der metallverarbeitenden Industrie.126 Neben Zimmerleuten, Tischlern, Maurern und Industriefacharbeitern kam in der Weimarer Republik die Gruppe der kleineren Angestellten hinzu, bei denen die SPD Erfolge verbuchen konnte.127 Siemsen erreichte in ihrer kultursozialistischen Erziehungs- und Aufklärungsarbeit wohl kaum breitere Bevölkerungskreise. Sie schrieb hauptsächlich für Zeitschriften, die in der Regel an politisch-theoretisch interessierte Personen wie beispielsweise Parteifunktionärinnen und -funktionäre gerichtet waren. Siemsen entwarf in ihrer kultursozialistischen Arbeit ein theoretisches sozialistisches Bildungskonzept, über das der „Arbeiter“ befähigt werden sollte, seine politischen Aufgaben zu erkennen. „Aufgabe der sozialistischen Schulung“ sollte es demnach sein, dem Arbeiter zu einer „wissenschaftlich kritischen Betrachtung der Geschehnisse“ zu verhelfen. Diese Schulung müsse „in der proletarischen Bewegung“ durchgesetzt werden,128 denn für Siemsen waren, wohl aus eigener Erfahrung, „die Organisationsweisen der bürgerlichen Gesellschaft zur Umgestaltung eben dieser Gesellschaft schlechtweg“ nicht geeignet.129 In ihren Schulungskonzepten ging es Siemsen darum, „die psychologischen Voraussetzungen des Sozialismus“ zu etablieren, die sie als Dreieinigkeit von „marxistische[r] Erkenntnis, menschliche[r] Wertsetzung und revolutionäre[r] Willensrichtung“ definierte. Diese Voraussetzungen würden den Sozialisten ausmachen, den Siemsen dem „Bürger“ gegenüberstellte. Sie glaubte allerdings, dass diese Voraussetzungen auch grundsätzlich bei Menschen vorhanden sein könnten, die sie nicht zur Arbeiterschaft zählte. Sie selbst stammte ja auch nicht aus einer Arbeiterfamilie, so dass sie die beiden Gruppen „Sozialisten“ und „Bürger“ nicht ihrer sozialen Herkunft oder ihres gesellschaftlichen Status’ entsprechend definierte, sondern nach der „Wertsetzung“ und der „Richtung [des] Wollens“. Während der Bürger etwa „Wirtschaft, Produktion […], Zivilisation, Kultur [und] Nation […] über den Menschen“ stelle und er dadurch „die Erhaltung des Bestehenden“ verfolge, mache „[d]ie entgegengesetzte Wertung“ den Sozialisten aus: „das Streben geht auf Änderung der Welt. Das ist die revolutionäre Einstellung.“130 In dieser Definition war „Europa“ als Gegenmodell zu der von Siemsen abgelehnten „Nation“ Teil dieser „revolutionären Einstellung“ und damit ein sozialistisches Projekt, das bestimmte Wertsetzungen, wie die von Siemsen propagierten Gemeinschaftswerte, beinhaltete. Siemsen glaubte, diese Einstellung müsse durch Erziehung hervorgerufen werden, die zugleich Voraussetzung wirtschaftlicher und politischer Reformen sein bzw. diese unterstützen sollte. Sie bezweckte, wie schon zu Beginn der Weimarer 126 Siehe dazu Adelheid von Saldern: Wer ging in die SPD? Zur Analyse der Parteimitgliedschaft in wilhelminischer Zeit, in: Gerhard A. Ritter (Hg.): Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreichs (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien, Bd. 18), München 1990, S. 161– 183. 127 Walter: Die SPD, S. 69. 128 Siemsen: Psychologische Voraussetzungen, S. 393. 129 Ebd., S. 392. 130 Ebd., S. 390 f.

2.2 Das kultursozialistische Europa

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Republik, die Schaffung eines „neuen Menschen“, der die umfassende Änderung von Politik und Gesellschaft einleiten würde. In ihren Ausführungen, die sie zum 70. Geburtstag von Karl Kautsky (1854–1938) schrieb, grenzte sie sich von „einem aus mißverstandenem Marxismus stammenden Fatalismus“ ab, „der alles von der zwangsläufigen Entwicklung […] erwartet“ habe.131 Kautsky war im Kaiserreich zum „Chefideologen der Vorkriegssozialdemokratie“ geworden und hatte „eine geschlossene Konstruktion des Marxismus“ in der Arbeiterbewegung etabliert.132 Er ging davon aus, dass der Kapitalismus wegen vermeintlich objektiver Gesetzmäßigkeiten zwangsläufig zusammenbrechen müsse und dann die sozialistische Gesellschaft aufgebaut werde. Im sogenannten Revisionismusstreit innerhalb der Sozialdemokratie um 1900 stellte Kautskys ehemaliger Mitstreiter Eduard Bernstein (1850–1932) diese Weltanschauung infrage und trat dafür ein, unter den gegebenen zeitgenössischen Bedingungen Reformen für eine allmähliche Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Arbeiter anzustrengen. Bernstein konnte sich mit seinem Revisionismus, der darauf abzielte, Sozialismus „als einen Prozeß der demokratischen Transformation“ zu verstehen, in den Theoriedebatten um 1900 noch nicht durchsetzen.133 In der politischen Praxis der SPD hatten sich diese Grundsätze seit dieser Zeit jedoch bereits etabliert. Die SPD näherte sich damit der internationalen Sozialdemokratie an, die ebenfalls auf soziale Reformen und den Ausbau demokratischer Rechte im Rahmen des bestehenden Systems setzte.134 Siemsens Haltung entsprach damit nicht der offiziellen Politik der SPD. Wenn sie auch von einem schrittweisen Prozess zur umfassenden Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausging, so konnte dieser aus ihrer Sicht gerade nicht im Rahmen des als „bürgerlich“ bewerteten parlamentarischen Systems erfolgen, sondern nur über eine Erziehung der Arbeiter, die vor allem außerhalb der bestehenden staatlichen Organisationen erfolgen müsse. Ihre Vorstellungen entsprachen ganz den Konzepten, die von Theoretikern des Kultursozialismus entworfen worden waren. Diese lieferten das theoretische Rüstzeug für die aufstrebende Arbeiterkulturbewegung, die sich seit Mitte der 1920er Jahre ausdifferenzierte. Die entstehenden Vereine waren allerdings oftmals weniger an theoretischer Schulung interessiert als an Freizeitgestaltung, auch wenn darüber eine spezifische sozialistische Milieukultur etabliert werden sollte. Neben den seit dem Kaiserreich bestehenden sozialdemokratischen Bildungsorganisationen formierten sich Vereine für „Angler, Schützen und Schrebergärtner, für Sänger und Laienschauspieler“ sowie für Vegetarier

131 Ebd., S. 393 132 Thomas Meyer: Karl Kautsky im Revisionismusstreit und sein Verhältnis zu Eduard Bernstein, in: Jürgen Rohan, Till Schelz und Hans-Josef Steinberg (Hg.): Marxismus und Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung (Quellen und Studien zur Sozialgeschichte, Bd. 9), Frankfurt am Main und New York 1992, S. 57–71, hier S 57. 133 Ebd., S. 65. 134 Hans-Dieter Klein: Der späte Kautsky. Aspekte seines Wirkens nach dem Ersten Weltkrieg, in: BZG. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 33 (1991), Heft 6, S. 736–745, hier S. 738.

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und Nudisten.135 Dieser Anstieg der Arbeiterkultureinrichtungen resultierte aus einer zunehmenden politischen Einflusslosigkeit der SPD auf regierungspolitischer Ebene. Seit Mitte der 1920er Jahre begannen viele Sozialistinnen und Sozialisten daher, sich in die eigene „Milieukultur“ zurückzuziehen.136 In ihren kultursozialistischen Ansichten wurde Siemsen insbesondere vom Austromarxismus beeinflusst.137 „Austromarxismus“ bezeichnete die österreichische Variante des Kultursozialismus, der die Sozialdemokratie in Österreich mehr als in Deutschland geprägt hatte. Das lag an der Homogenität des Klassenmilieus – denn es gab kaum Kommunisten – und an einem weit verzweigten Organisationsnetz, das die meisten Arbeiter in ihrem Alltag begleitete.138 Daher war die österreichische Sozialdemokratie für viele deutsche Sozialistinnen und Sozialisten ein Vorbild. Insbesondere Wien avancierte nach dem Ersten Weltkrieg zu einem „Mythos“, weil es „die einzige von einer sozialdemokratischen Regierung geführte Millionenstadt Europas“ war.139 Führende Theoretiker des Austromarxismus wie Max Adler (1873–1937) oder Otto Felix Kanitz (1894–1940) betonten den Alleingeltungsanspruch der Erziehung als Mittel der Gesellschaftsveränderung, die als wichtiger eingestuft wurde als einzelne Reformen, die sich etwa auf Lohnfragen bezogen. Erziehung sollte dabei „im Dienste klar erkannter sozialer Entwicklungsnotwendigkeiten“ praktiziert werden.140 Unter dieser Prämisse veröffentlichte Siemsen auch in den von Max Adler herausgegebenen Schriftenreihen.141 Die Erziehungskonzepte des Austromarxismus waren geprägt von psychologischen oder auch psychoanalytischen Ansätzen, die für eine sozialistische Erziehung fruchtbar gemacht werden sollten.142 Mit der Übernahme psychologischer Theorien wollte man den wissenschaftlichen Anspruch des Kultursozialismus hervorheben, 135 Bernd Faulenbach: Geschichte der SPD. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2012, S. 50 f. Siehe dazu auch Walter: Von der Meritokratie, S. 40. 136 Walter, Die SPD, S. 61. 137 Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel bei Sänger: Anna Siemsen, S. 265–274, bes. 272–274. Francesca Lacaita verweist ebenso auf den Einfluss des Austromarxismus, der Siemsens Europa-Vorstellungen geprägt habe. Lacaita: Anna Siemsen, S. 30. Zum Einfluss des Austromarxismus auf die deutsche Sozialdemokratie siehe Gerd Storm und Franz Walter: Weimarer Linkssozialismus und Austromarxismus. Historische Vorbilder für einen „Dritten Weg“ zum Sozialismus? Mit einem Nachwort von Detlef Lehnert, Berlin 1984. 138 Scholing und Walter: Der „Neue Mensch“, S. 259. 139 Alfred Pfabigan: Das „Rote Wien“ als architektonisches Manifest des Austromarxismus, in: Francesco Saverio u. a. (Hg.): Das Österreich der dreißiger Jahre und seine Stellung in Europa. Materialien der internationalen Tagung in Neapel, Salerno und Taurasi (5.–8. Juni 2007), Frankfurt am Main u. a. 2012, S. 311–325, hier S. 311. 140 Scholing und Walter: Der „Neue Mensch“, S. 259–261. Zitat auf S. 261. 141 Dazu gehörte die „Jungsozialistische Schriftenreihe“, in der Siemsen 1927 „Politische Kunst und Kunstpolitik“ publizierte oder die Reihe „Neue Menschen“, in der Siemsens Buch: Beruf und Erziehung, Berlin 1926 herausgegeben wurde. Siehe dazu auch Storm und Walter: Weimarer Linkssozialismus, S. 13. 142 Vgl. Adolf Brock: Wege zum „Neuen Menschen“. Zum Einfluss des Austromarxismus auf die deutsche Arbeiterkultur und Arbeiterbildung siehe Ursula Apitzsch (Hg.): Neurath – Gramsci – Williams. Theorien der Arbeiterkultur und ihre Wirkungen, Hamburg und Berlin 1993, S. 52– 63.

2.2 Das kultursozialistische Europa

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indem etwa, wie bei der Psychoanalyse, geisteswissenschaftliche mit naturwissenschaftlichen Ansätzen verbunden wurden.143 Der von Siemsen und anderen Kultursozialistinnen und -sozialisten vertretene Ansatz, den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt einer Gesellschaftsreform zu stellen, wurde zeitgenössisch durch einen Anstieg sozialwissenschaftlicher Fragestellungen in der Wissenschaft unterstützt.144 Durch ein gesteigertes Bedürfnis nach Sinnstiftung versuchten die Sozialwissenschaften Orientierung über die Aufgabe des Menschen in der Gesellschaft zu bieten. Kultur und Gesellschaft erschienen dabei „den wahren menschlichen Zwecken und Bedürfnissen gemäß gestaltbar“. Dabei wurde betont, „durch Erkenntnis der wahren Gesetze der menschlichen Geschichte [könne] in empirisch-geschichtlicher Realisation die wirkliche Bestimmung von Welt und Mensch“145 gefunden werden. Unter diesen Prämissen schlug Siemsen als „Aufgabe unserer geistigen Arbeit“ vor, „eine Art Dynamik der menschlichen Gesellschaft aufzustellen und Gesetze zu finden, wie unter bestimmten Verhältnissen diese Kräfte wirken werden“.146 Eben dies versuchte sie in den Literarischen Streifzügen umzusetzen.147 2.2.1 Die europäische Gesellschaft Siemsens 1925 erschienene Monographie Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft erlebte 1929 und 1948 noch eine zweite und dritte Auflage.148 Das Buch wurde von ihrem Bruder August Siemsen als „soziologisch-literarisches Buch“ bezeichnet. Siemsen habe, „[i]ndem sie die marxsche soziologische Methode der Geschichtsforschung auf die Literatur“ angewendet habe, „die deutsche Literaturgeschichte aus den unfruchtbaren philologischen, psychologischen, ästhetischen Einzeluntersuchungen […] in die fesselnde und erregende Wirklichkeit des gesellschaftlichen Geschehens“ hinausgeführt.149 Siemsen selbst betonte im Vorwort, keine Literaturgeschichte schreiben zu wollen, sondern „die gesellschaftlichen Schichtungen und ideologischen Strömungen einer Zeit an einigen ausgeprägten Vertretern aufzuzeigen“. Sie wandte sich mit ihren Ausführungen „vorzugsweise an Arbeiter“, denen „die gesellschaftlichen Zusammenhänge der europäischen Literatur“ nahegebracht werden sollten. Siemsen for-

143 Marcella dʼAbbiero: Ein Weg in die Freiheit. Der Austromarxismus und die Psychoanalyse, in: Saverio: Das Österreich der dreißiger Jahre, S. 433–442, hier S. 434. 144 Küenzlen: Der neue Mensch, S. 91. 145 Ebd., S. 91 f. 146 Siemsen: Psychologische Voraussetzungen, S. 390. 147 Teile der folgenden Ausführungen zu den Literarischen Streifzügen finden sich auch in meinem Aufsatz: von Bargen: Menschheitsgemeinschaft Europa, S. 40 und 45–52. 148 Die im Folgenden zitierten Stellen entstammen, wenn nicht anders vermerkt, der ersten Auflage der Literarischen Streifzüge von 1925. 149 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 184.

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mulierte nicht aus, dass es ihr um die Legitimation einer politischen Idee, nämlich der Menschheitsgemeinschaft, ging. Stattdessen schrieb sie: „Die folgenden Blätter mögen willkürlich ausgewählt erscheinen. Sie sind gleichwohl nach einem festen Plan gesammelt.“150 Obwohl Siemsen keine Literaturgeschichte schreiben wollte, orientierte sie sich offenbar an dem Schriftsteller Franz Mehring (1846–1919), den sie fünf Jahre später in einem Aufsatz von 1930 als „Literarhistoriker“ würdigen sollte. Er habe, wie Siemsen erklärte, als erster „die marxistische Gesellschaftsbetrachtung auf die Literatur angewandt“. Die von Siemsen erwähnten „Literarhistorischen und Aesthetischen Streifzüge“, die Mehring geschrieben hatte,151 ähneln dem Titel von Siemsens Buch und zeigen, dass Mehrings Ausführungen für sie eine Vorbildfunktion bei der Konzeption ihres Buches übernommen hatten. Die Literarischen Streifzüge waren eine Porträtsammlung verschiedener Schriftsteller, die Siemsen für wichtige Vertreter ihrer jeweiligen Zeit hielt. Die Porträts gliederte sie in sechs Hauptkapitel, die sie jeweils mit einer Einleitung versah. Sie ging chronologisch vor, wobei die zeitlichen Übergänge zwischen den einzelnen Kapiteln fließend sein konnten. Das erste Kapitel Aus alter Zeit widmete Siemsen vorwiegend mündlichen Überlieferungen wie Märchen oder Bauerngeschichten. Das zweite Kapitel Erwachen und Kampf galt Autoren aus dem Mittelalter bis etwa zur Aufklärungszeit und das dritte dem 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Bürgertums. Die beiden folgenden Kapitel behandelten Europas Gesellschaft im Roman des 19. Jahrhunderts und Gesellschaftskritik im 19. Jahrhundert. Das sechste und letzte Kapitel nannte Siemsen Proletarier und Revolutionäre. Insgesamt stellte Siemsen rund 50 Schriftsteller jeweils auf etwa fünf Seiten vor. In den einzelnen Kapiteln lieferte sie keine ausführlichen Inhaltsangaben der einzelnen genannten Werke, sondern stellte die Persönlichkeit des Autors im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen er lebte und schrieb, ins Zentrum.152 Die von ihr angeführten Literaten zählten zum großen Teil zum tradierten bildungsbürgerlichen Literaturkanon wie etwa Shakespeare, Lessing oder Balzac. Daneben führte sie aber auch zeitgenössisch aktuelle Autoren wie Jack London oder Alfred Döblin an. Siemsen orientierte sich bei der Autorenauswahl an den „Favoriten der Buchgemeinschaften der Arbeiterbewegung“, zu denen ebenfalls etwa Balzac, Zola, London, Hamsun und Gorki zählten; allesamt Schriftsteller, die „der internationalen sozialrealistischen Literatur“ zugeordnet wurden.153 Für Siemsen war nicht nur die Literatur eine wichtige Quelle, um historische Prozesse nachvollziehen zu können, sondern auch das Leben des Schriftstellers selbst, der die Literatur verfasst hatte. Denn der Mensch als gesellschaftliches Indi-

150 Siemsen: Literarische Streifzüge, S. 5. 151 Anna Siemsen: Franz Mehring, der Literarhistoriker. Seine Aufgabe in unserer Zeit, in: Der Klassenkampf 4 (1930), Heft 4, S. 116–120, hier S. 117. 152 Zum Aufbau des Buches siehe: Sänger: Anna Siemsen, S. 172 f. 153 Schütz und Wegmann: Medien, S. 391.

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viduum, meinte Siemsen, schaffe die Gesellschaftsordnung und werde durch diese wiederum beeinflusst, sei aber dadurch auch in der Lage, diese Ordnung zu verändern. Mit diesem Argument konnte sie ihr Vorgehen begründen, einzelne Schriftsteller als Prototypen gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse herauszustellen: „Denn wie wir einzelne Menschen, ein jeder auf seine Weise, Durchgangs- und Kreuzungspunkte gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen sind, so ist die Dichtung, ist die Literatur nichts anderes als Ausdruck unseres Wesens, das ist Ausdruck dieser Entwicklung.“154

Siemsens Überzeugungen, die der Konzeption der Literarischen Streifzüge zugrunde lagen, waren nicht singulär. Schon im BESch war frühzeitig der bisherige Geschichtsunterricht kritisiert worden, in dem nur Kriege und Herrscher thematisiert worden seien, aber nicht die Entwicklung der Gesellschaft. Eben das war von den Mitgliedern des BESch gefordert worden, damit aus geschichtlichen Erkenntnissen heraus, „politische Handlungsanleitungen“ für die Gegenwart gezogen werden könnten. Insbesondere Siemsens Kollege Siegfried Kawerau hatte vorgeschlagen, neben soziologischen Ansätzen auch Literatur für diesen Erkenntnisgewinn hinzuzuziehen.155 Möglicherweise wurde Kawerau von Siemsen beeinflusst, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg den Aussagewert der Literatur zum Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge hervorgehoben hatte. Zu Beginn der Weimarer Republik betonte Siemsen, es sei ihre „unbeweisbare und unbesiegliche […] Überzeugung, daß Dichtungen allein uns die gesammelte Wahrheit über Menschen und gesellschaftliche Zustände geben können. Wissenschaft kann nur Analyse sein. Sie bedarf der Synthese durch eigenes Erlebnis oder durch den Brennspiegel der Dichtung.“156

Bei den von Siemsen vorgestellten Schriftstellern handelte es sich ausnahmslos um männliche Autoren.157 Dabei hatte sie in anderen Veröffentlichungen durchaus Frauen benannt, denen sie eine wichtige gesellschaftliche Funktion innerhalb einer bestimmten literarischen Epoche zuschrieb. Sie hielt beispielsweise Caroline Michaelis (1763–1809) für eine von jenen Frauen, von denen im 18. Jahrhundert „die erste literarische Bewegung“ ausging, „die um [die] Rechte der Frauen kämpfte“. Michaelis stehe für eine „Uebergangszeit, in der die Frauen zum erstenmal aus eng gebundener Häuslichkeit den Weg in das öffentliche Leben finden, Stellung zu den Tagesfragen nehmen und selbst mit eingreifen“.158 Siemsen setzte sich an anderer Stelle auch mit der Geschlechterphilosophie von Jack London auseinander und forderte die Frauen auf, Literatur kritisch daraufhin zu lesen.159 In den Literarischen 154 Anna Siemsen: Schöne Literatur als Zeitspiegel, in: Kulturwille 2 (1925), Heft 12, S. 245–247, hier S. 245. 155 Bernhard: Friedenserziehung, S. 79 und 82. Zitat auf S. 79. Siehe auch Lacaita: Anna Siemsen, S. 48. 156 Siemsen: Russische Menschen, S. 439. 157 Dies hat Christoph Sänger erstmals formuliert: Sänger: Anna Siemsen, S. 172. 158 Anna Siemsen: Ein Frauenleben vor hundert Jahren. Das 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Kulturwille 3 (1926), Heft 1, S. 2–3, hier S. 3. 159 Anna Siemsen: Jack London und wir Frauen, in: Für die Frau. Beilage der Leipziger Volkszeitung Nr. 154 vom 5. Juli 1929, o. S.

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Streifzügen erwähnte sie solche Aspekte nicht. Vermutlich war das deshalb der Fall, weil sie die Stellung der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung als einen Spezialfall betrachtete.160 Sie sollte 1929 gar von einer „besonderen Klassenlage der Frauen“ sprechen, da sie „gedrückter und unselbständiger“ als Männer seien.161 Möglicherweise hätte eine entsprechende geschlechterspezifische Erweiterung die Konzeption der Literarischen Streifzüge gesprengt. Denn Siemsen wollte hier die angenommene gesellschaftliche Entwicklung zu einer Menschheitsgemeinschaft aufzeigen. Dass diese Entwicklungsgeschichte, die alle Menschen betreffe, dabei nach einem männlich definierten Muster ablief, blieb offenbar unreflektiert. In der Konzeption der Literarischen Streifzüge setzte Siemsen vier Schwerpunkte, die im Folgenden erläutert werden sollen. Die angenommene Gesellschaftsentwicklung zur Gemeinschaft bildete die übergeordnete Struktur des Buches. Eine weitere Grundstruktur bestand darin, eine kulturelle Zusammengehörigkeit der europäischen Menschen deutlich zu machen, die sich aufgrund verschiedener Verflechtungs- und Austauschprozesse durch die gesellschaftliche Entwicklung hindurch ergeben und wieder auf diese Entwicklung zurückgewirkt hätten. Dabei vermischte sich in Siemsens Darstellung die kulturelle Ebene mit der wirtschaftlichen und politischen. Der Aufbau des Buches in Form einer Anthologie bzw. in Form verschiedener Essays, in denen unterschiedliche Autoren behandelt wurden und die jeweils für sich allein standen, verhinderte eine klare, stringente Struktur in der Darstellung der übergeordneten Schwerpunktsetzungen. Neben diesen übergeordneten Aspekten entwarf Siemsen eine spezielle Entwicklungsgeschichte Deutschlands, die von der gesamteuropäischen abgewichen sei und die dazu diente, die Wichtigkeit sozialistisch definierter Reformen gerade für Deutschland herauszustellen. In diesem Zusammenhang plädierte Siemsen als vierte Schwerpunktsetzung für eine deutsch-französische Verständigungspolitik, von der sie hoffte, sie werde zu den Vereinigten Staaten von Europa führen, die sie als einen ersten Schritt zur Menschheitsgemeinschaft betrachtete. In ihrer Darstellung der europäischen Gesellschaftsentwicklung orientierte sich Siemsen zunächst an einem menschlichen Entwicklungsprozess, den sie auf die europäische Gesellschaft insgesamt übertrug. In der Einleitung schrieb sie: „In uns allen schlafen die vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende. In jedem von uns sind alle unsere Ahnen beschlossen, durch die wir werden, deren Leben wir weiterführen. […] Schicksal des Menschen ist das Fortschreiten aus dem Unbewußten zum Bewußtsein, aus einfacher zu einer durchdachten Gesellschaftsform, von enger Abgeschlossenheit zur erdumfassenden Gemeinschaft.“162

Siemsen ging also von einer schicksalhaften Entwicklung aus, die alle Menschen in sich trügen. Diese Entwicklung wurde als einheitlich und gleich definiert, weil sie 160 In ihrer Geschichtensammlung über das Leben von Frauen in aller Welt betonte Siemsen im Vorwort, Frauen hätten „ganz andere Schicksale gehabt als der Mann“, womit sie den Schwerpunkt ihres Buches erklärte. Anna Siemsen: Buch der Mädel, 2. Aufl. Jena o. J. [1925?], S. 5. 161 Anna Siemsen: Zur Klassenlage der Frauen, in: Die Genossin 6 (1929), Heft 6, S. 230–232, hier S. 230 f. 162 Siemsen: Literarische Streifzüge, S. 12 f.

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allen Menschen gemeinsam sei. Sie führe von einer „unbewussten“, „einfachen“ Gesellschaftsform zu einer „bewussten“ Gesellschaft, an deren Ende eine „erdumfassende“, also universale Gemeinschaft stehen würde. Dieses als Ideal gesetzte Endprodukt der gesellschaftlichen Entwicklung wohne dem Menschen selbst inne, entspreche seiner eigenen Entwicklung und sei daher auch seine eigentliche Bestimmung. Alles was eine universale Gemeinschaft auszeichne, stimme mit dem Wesen des Menschen und wie er mit anderen Menschen zusammenleben müsse, überein. Die Bewusstseinserweiterung, die zur Menschheitsgemeinschaft führen sollte, stellte Siemsen damit als einzig wahren und schicksalhaften Entwicklungsprozess heraus. Durch die Gleichsetzung eines menschlichen Entwicklungsprozesses mit einem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess übernahm sie eine Darstellungsweise, die seit dem 18. Jahrhundert von Philosophen und Schriftstellern in der Universalgeschichtsschreibung genutzt wurde. Dabei legten sie in der Darstellung verschiedener Gesellschaften ein „Entwicklungsschema zugrunde, das dem mensch­lichen Lebenslauf abgeschaut war“.163 Bereits die Verwendung des Gesellschaftsbegriffs im Singular, wie er im Titel des Buches auftaucht, verweist darauf, dass die europäische Gesellschaft für Siemsen eine Einheit darstellte. Diese Einheit ergab sich, wie das obige Zitat deutlich macht, aus einem einheitlichen Ziel, der Menschheitsgemeinschaft. Wie Christoph Sänger schrieb, bildeten auch die vorgestellten Schriftsteller zusammengenommen selbst eine „Einheit“, weil sie in Siemsens Darstellung „die Umbrüche und Spannungen ihrer Zeit gespürt und kommende Veränderungen erahnt und vertreten“ hätten.164 Siemsen, die literaturgeschichtlich sehr bewandert war, griff bei der Konzeption ihres Buches vermutlich auf literaturtheoretische Überlegungen zurück, die Ende des 18. Jahrhunderts von Lessing und Möser formuliert worden waren. Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) hatte die Idee entwickelt, ein Kunstwerk müsse in „Form und Inhalt“ eine Einheit bilden, an der er den Wert eines Kunstwerkes messen wollte.165 Etwa zeitgleich übertrug der Jurist und Historiker Justus Möser (1720–1794) den Einheitsgedanken auf die Geschichtsschreibung. Möser kritisierte in den bisherigen Darstellungen die zufällig erscheinende Aneinanderreihung historischer Ereignisse. In seinem Plan, eine einheitliche deutsche Reichsgeschichte zu schreiben, plädierte er für einen „Fixpunkt“, von dem aus sich die verschiedenen „historischen Entwicklungsströme zu einer einheitlichen Gesamtentwicklung zusammenfassen ließen“.166 Siemsen beschrieb ihrerseits einen einheitlichen geschichtlichen Entwicklungsprozess der europäischen Gesellschaft, dessen Fix-

163 Ute Frevert und Margrit Pernau: Europa ist eine Frau: jung und aus Kleinasien. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=401 [8. Januar 2014], S. 2. 164 Sänger: Anna Siemsen, S. 177. 165 Gall, Blasius und Segermann: Einheit, S. 123. 166 Ebd., S. 124. Siemsen hat Lessing und Möser jeweils ein Kapitel gewidmet, ohne allerdings auf deren literaturtheoretischen Überlegungen einzugehen. Siemsen: Literarische Streifzüge, S. 114–121 (Lessing) und 129–133 (Möser).

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punkt, die erdumfassende Gemeinschaft, aber nicht in der Vergangenheit lag, sondern in der Zukunft. Mit ihrem Fokus auf die erdumfassende Gemeinschaft führte Siemsen den philosophischen Gedanken von einer „Weltgesellschaft“ fort, der um 1800 etwa von Kant propagiert worden war. Dieser Gedanke entstand vor dem Hintergrund einer „Neufassung des Gesellschaftsbegriffs“, der unabhängig von einer politischen Organisation verstanden wurde. Die Denker der Aufklärungszeit vertraten die Überzeugung von „weltweiter Interdependenz und Interrelation“, die Siemsen übernahm. Der Begriff korrespondierte mit ähnlichen Begriffen, die zeitgenössisch debattiert wurden, wie etwa Weltbürgergesellschaft oder Welthandel. Auch der von Goethe geprägte Begriff der Weltliteratur gehörte dazu.167 Goethe glaubte, die internationale Literatur bedinge einen „Austausch“ über „Raum und Zeit“ hinweg, durch den schließlich „Unterschiede von Jahrtausenden [und] die Differenzen von Rasse, Sprache und Kultur“ überwunden werden könnten. Diese Vorstellung prägte die „Europa-Essayisten“ späterer Jahrzehnte stark.168 In Siemsens Monographie blieb unklar, in welchem Verhältnis die europäische Gesellschaftsentwicklung zu einer „erdumfassenden Gemeinschaft“ stand, denn Siemsen bezog ihre Ausführungen ja vor allem auf den europäischen Raum bzw. auf die europäischen Menschen. Auch wenn sie in ihr Buch US-amerikanische Schriftsteller wie Walt Whitman oder russische Autoren wie Dostojewski aufnahm und damit eine kulturelle Verbundenheit Europas mit anderen Teilen der Erde hervorhob, machte sie mit ihrer Fokussierung auf die europäische Gesellschaft die Grenzen ihres Denkmodells einer Menschheitsgemeinschaft deutlich. Siemsen lag daran, anhand ausgewählter Autoren menschliche Emanzipationsbestrebungen aufzuzeigen, die sie zu Beginn der 1920er Jahre als Ausdruck eines Gemeinschaftswollens definiert hatte. Diese Emanzipationsbestrebungen waren in ihrer Sicht ein allgemeinmenschliches Phänomen, so dass sie deshalb eine erdumfassende Gemeinschaft forderte. Sie vermittelte aber, dass die von ihr beschriebene Gesellschaftsentwicklung zur Gemeinschaft insbesondere für Europa charakteristisch sei und hier ihren Anfang nehmen müsse. Siemsen nahm damit eine philosophische Deutungstradition auf, nach der der Fortschrittsgedanke zwar untrennbar mit Universalgeschichte verknüpft war, aber trotzdem als „stillschweigend vorausgesetzte[r] Hintergrund“ nur die abendländische Entwicklung thematisiert wurde. In den Universalgeschichten der Moderne war Europa stets Ziel „der als Fortschrittsprozeß gedachten Weltgeschichte“.169 Im deutschen Sprachraum gingen die Ursprünge dieser Deutungstradition auf das ausgehende Mittelalter zurück, wo die „Einheit des Abendlandes“ mit der „des Menschengeschlechts“ gleichgesetzt wurde.170 167 Rudolf Stichweh: Weltgesellschaft, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 486–490, hier Sp. 468 und 488. 168 Lützeler: Die Schriftsteller und Europa, S. 22. 169 Friedrich Rapp: Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992, S. 212. Siehe hier auch S. 160. 170 Gall, Blasius und Segermann: Einheit, S. 121.

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Wie tief in der Gesellschaft die Vorstellung eines Europas verankert war, das kulturell und wirtschaftlich eine herausragende Stellung in der Welt einnehme, zeigt schon ein Blick in Konversationslexika: Im Brockhaus von 1883 wurde zum Beispiel aus der geographischen Lage und Beschaffenheit Europas abgeleitet, es sei „Ausgangs- und Mittelpunkt aller Civilisation“. Europa sei „auserkoren […] zur vielseitigsten Entwickelung höherer Thatkraft nach allen Richtungen hin“.171 Knapp fünfzig Jahre später hatte sich diese Sichtweise nicht wesentlich geändert. Der Brockhaus von 1930 enthielt nun sogar einen Artikel namens „Europäisierung der Erde“, worunter „die Ausbreitung der europ. Kultur über die Erde und die daraus folgende wirtschaftl. und geistige Verbindung der außereurop. Länder mit Europa“ verstanden wurde.172 Siemsen bewegte sich daher im Rahmen weit verbreiteter Annahmen, wenn sie der europäischen Gesellschaft eine Pionierfunktion für die universale Durchsetzung ihrer Gemeinschaftsidee beimaß. Außereuropäische Entwicklungsprozesse spielten in Siemsens Ausführungen keine Rolle. Sie konzentrierte sich auf die Darstellung vermeintlich ähnlicher Lebensbedingungen der europäischen Menschen und daraus resultierender ähnlicher Wesenszüge. Auf diese Weise versuchte sie, die kulturelle Zusammengehörigkeit der verschiedenen europäischen Bevölkerungsgruppen aufzuzeigen. Die isländischen Sagen hatten Siemsen etwa gezeigt, wie ähnlich die Bauern in Island den Bauern in Deutschland seien: „Diese [isländischen, MvB] Bauern sind unseren niederdeutschen Bauern gleich, karg und besitzesfroh, hochmütig und mißtrauisch, schlau und gewalttätig, nachtragend und zähe. Sie sind ein hartes Geschlecht, Männer wie Frauen, und nicht zu bezwingen in ihrer Unbeugsamkeit im Guten wie im Bösen.“173

Siemsen versuchte nicht nur zu zeigen, wie ähnliche Lebensbedingungen zu gleichen Eigenarten führen würden, sondern nahm auch die Literaturproduktion selbst als Beispiel dafür, wie stark sich Verflechtungs- und Austauschprozesse in Europa bemerkbar gemacht hätten. Neben dem Aussagewert literarischer Zeugnisse waren für Siemsen die literarischen Austauschprozesse ebenso wichtig, um den internationalen Charakter der europäischen Gesellschaft zu beweisen. So seien etwa in die mittelalterliche Dichtung Parzival, die Siemsen als „Abenteuerroman in Versen“ charakterisierte, „Sagen und Ueberlieferungen […] eingegangen von einem Dutzend verschiedener Völker“.174 Daher sei das „glänzende französische Gedicht ebenso international wie es damals die ganze abendländische Gesellschaft war“.175 Um zu zeigen, in welcher Weise auch außereuropäische Einflüsse mit der europäischen Kultur verbunden seien, nahm Siemsen, wie bereits erwähnt, russische oder US-amerikanische Schriftsteller wie etwa Korolenko, Tolstoi, Whitman oder Jack 171 Europa (Erdteil), in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon, Bd. 6, 13. Aufl. Leipzig 1883, S. 432–444, hier S. 432. 172 Europäisierung der Erde, in: Der große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, Bd. 5, 15. Aufl. Leipzig 1930, S. 749–750, hier S. 749. 173 Siemsen: Literarische Streifzüge, S. 45. 174 Ebd., S. 29. 175 Ebd., S. 31.

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London in ihr Buch auf. Korolenko und Kropotkin verkörperten für Siemsen beispielsweise den ideellen Austausch zwischen West- und Osteuropa. Diese Schriftsteller hätten gezeigt, „[d]aß wir voneinander lernen, einander ergänzen, einander helfen können, daß wir Kameraden sind und Brüder in der großen Menschlichkeit“.176 Die kulturelle Verbundenheit der europäischen Menschen, die sich über den Aussagegehalt der europäischen Literatur offenbart habe, führte Siemsen auf wirtschaftliche Entwicklungen zurück, die zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und damit auch zu speziellen kulturellen Ausdrucksformen geführt hätten. Wirtschaftliche Wandlungen seien etwa für die „Zersetzung des Feudaladels“ verantwortlich gewesen und hätten „den Kaufmann […] an die erste Stelle in der Gesellschaft erhoben“.177 Im 18. Jahrhundert dann sei das Bürgertum „[w]ie jede aufsteigende Klasse […] tatbereit und entschlossen“ gewesen, „seine Ueberzeugungen in die Wirklichkeit zu übertragen“.178 Dies sei die Zeit des Gesellschaftsromans gewesen, „der zum wirksamsten Propagandamittel seiner Zeit“ geworden sei.179 Siemsen glaubte nun, dass es aufgrund dieser an marxistischen Ideen angelehnten Entwicklungslogik die Arbeiter seien, die das Bürgertum als aufstrebende Gesellschaftsschicht beerben würden und die bürgerliche Gesellschaft zugunsten einer sozialistischen Gesellschaft ablösen könnten.180 Zur kulturellen Verbundenheit der europäischen Gesellschaft gehörte für Siemsen auch die Übernahme bzw. der Austausch von politischen Ideen. Sie hielt beispielsweise den norwegischen Schriftsteller Ibsen für einen Vordenker von Bernhard Shaw,181 der „den jungen Pionieren der neuen Gesellschaft den Weg“ geebnet habe.182 Besonderes Gewicht legte sie indessen auf die Ideen der Französischen Revolution. Diese Ideen betrachtete sie als eine europäische Errungenschaft, die als Meilenstein für die Durchsetzung ihrer Gemeinschaftsidee dienen sollte. Siemsen zählte etwa Romain Rolland zu jenen, „denen die Ideen der menschlichen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit lebendige Forderungen und Maßstäbe ihres Handelns“ gewesen seien.183 Heinrich Heine wurde von Siemsen emphatisch als „Europäer“ beschrieben, weil er „ein unentwegter Verfechter deutsch-französischer Verständigung“ gewesen sei.184 Siemsen betonte allerdings, dass die Ideen der Französischen Revolution dauerhaft keine Wirkung in Deutschland hatten entfalten können. Dem deutschen Bürgertum als Träger dieser Ideen habe nämlich um 1800 „der Hintergrund der wirtschaftlichen Einheit und politischen Freiheit“ gefehlt. Dafür machte sie den „Zusammenbruch des Bauernkrieges“ nach der Reformation verantwortlich, die sie als „große revolutionäre Bewegung“ beschrieb. Durch das Ende des Bauernkrieges 176 Ebd., S. 271 f. Zitat auf S. 272. 177 Ebd., S. 49. 178 Ebd., S. 89. 179 Ebd., S. 149. 180 Sänger: Anna Siemsen, S. 178 f. 181 Siemsen: Literarische Streifzüge, S. 217. 182 Ebd., S. 226. 183 Ebd., S. 245. 184 Ebd., S. 236.

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und den folgenden Dreißigjährigen Krieg sei in Deutschland „jeder gesellschaft­ liche Fortschritt für Jahrhunderte unterbunden“ gewesen. Es sei ein „Miniaturabsolutismus“ entstanden, „der Deutschland zum wunderlichsten Staat Europas gemacht“ habe.185 Deshalb seien die Ideen der Revolution hier „unter der Wirkung der napoleonischen Kriege in Nationalismus und dann in kirchlich gebundenem Ueberlieferungstraum“ umgeschlagen.186 Die „Zeit eines bureaukratischen Militarismus“ sei eingetreten, die noch die zeitgenössische Gegenwart „vergiftet“ habe.187 Siemsen charakterisierte die Zeit ab 1800 in Deutschland auch als „Periode der abgebrochenen Entwicklungen“.188 Durch diese Deutung der Vergangenheit als „abgebrochene Entwicklung“ hob Siemsen die Besonderheiten, die sie in Deutschland zu erkennen glaubte, aus dem vermeintlich vorgesehenen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess heraus. Auf diese Weise konnte sie alle negativen Aspekte und Entwicklungen, die sie an Deutschland kritisierte wie etwa Militarismus und Nationalismus und die der von ihr propagierten Gemeinschaftsidee entgegenstanden, erklären. Sie konnte diese Darstellung einer Sonderentwicklung aber auch nutzen, um Forderungen nach politischen Reformen zu erheben. Die Literarischen Streifzüge waren, wie Siemsen im Vorwort betonte, „für die Gegenwart“ geschrieben.189 Die europäische Gesellschaft wurde von Siemsen als Vergleichsfolie herangezogen, um eben diese Annahme einer besonderen deutschen Entwicklung in Gegenüberstellung mit anderen Ländern zu belegen. Die idealisierte Vergangenheitsdeutung der vermeintlich international ausgerichteten deutschen Klassik, die sie als letzten kulturellen Höhepunkt vor Deutschlands „abgebrochener Entwicklung“ betrachtete,190 war scheinbarer Beweis, dass es eine Zeit gegeben hatte, an die in Deutschland nun wieder angeknüpft werden müsse, um nicht aus der europäischen Gesellschaftsentwicklung herauszufallen. Siemsen wollte vor allen Dingen eine umfassende Reformierung herrschender Wert- und Normvorstellungen erreichen, aus der dann auch politische Konsequenzen gezogen werden würden. Deutschland sollte wieder, im Sinne des Gemeinschaftsgedankens erneuert, in die gesamteuropäische Entwicklung zurückkehren und seine eigentliche Bestimmung wiederfinden, die Siemsen als international definierte. Dafür nutzte sie die europäische Gesellschaftsentwicklung als Folie und die Idee der erdumfassenden Gemeinschaft als Legitimation für ihre Forderungen.

185 Ebd., S. 50 f. 186 Ebd., S. 91. 187 Ebd., S. 246. 188 Ebd., S. 90. 189 Ebd., S. 5. 190 Ebd., S. 246.

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2.2.2 Das deutsch-französische Europa Eine zentrale politische Forderung, die Siemsen in den Literarischen Streifzügen erhob, war die der deutsch-französischen Verständigung. Deutschland sollte mit Frankreich zu einer „Einheit“ verschmelzen. Dabei ging es zunächst nicht um konkrete politische Einigungsideen, sondern um die von Siemsen propagierten „Wertsetzungen“. Frankreich und Deutschland stellten in ihrer Darstellung eine Art Herzstück des „neuen Europas“ dar. Deshalb müsse es wieder zu einer „Einheit“ von deutscher und französischer Kultur kommen, „die sich von altersher ergänzt und befruchtet haben“.191 Unter deutscher Kultur verstand Siemsen die bereits erwähnte „geistige Blütezeit“192 der deutschen Klassik, in der „die französisch-englischen Einflüsse immer reiner verarbeitet“ worden seien, wie es etwa bei Lessing zu beobachten sei.193 In der Einheit der Ideen der Französischen Revolution und der Ideen der deutschen Klassik, die Siemsen hier als Aufnahmebereitschaft internationaler Einflüsse definierte, sah sie auch die „Aufgabe in der Menschheitsentwicklung“.194 Die Wichtigkeit, die sie Frankreich und Deutschland in ihrem Konzept beimaß, wird auch dadurch ersichtlich, dass französische und deutsche Schriftsteller in den Literarischen Streifzügen den größten Raum einnehmen. Siemsens Forderung nach einer „Einheit“ von Deutschland und Frankreich korrespondierte mit den vielfältigen Verständigungsprojekten, die auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene seit Mitte der 1920er Jahren begonnen wurden.195 Mit den Literarischen Streifzügen steuerte Siemsen daher auch einen Beitrag zu zeitgenössischen Diskussionen bei, die sich um eine Neuordnung Europas und der internationalen Beziehungen drehten. Dass die deutsch-französische Verständigung für diese Neuordnung Voraussetzung sein müsse, war allgemeiner internationaler Konsens.196 Konkrete Initiativen für die deutsch-französische Zusammenarbeit wurden zunächst auf regierungspolitischer Ebene ergriffen.197 Es entstand eine Reihe von Organisationen, die sich unter verschiedenen Prämissen um eine Zusammenarbeit von Frankreich und Deutschland bemühten.198 Auf regierungspolitischer Ebene wurden bis zum September 1929, als der französische Außenminister Aristide Briand auf einer Versammlung des Völkerbundes in Genf erst191 Ebd., S. 246 f. 192 Ebd., S. 246. 193 Ebd., S. 90. 194 Ebd., S. 249. 195 Burgard: Das gemeinsame Europa, S. 105. 196 Mark Hewitson: The United States of Europe. The European Question in the 1920s, in: ders. und D’Auria: Europe in Crises, S. 15–34, hier S. 16 und Peter Krüger: Der abgebrochene Dialog, in: Fleury und Jílek: Le Plan Briand, S. 289–306, hier S. 292. 197 Siehe dazu: Andreas Rödder: Zwischen Besatzung und Besetzung: Möglichkeiten und Grenzen deutsch-französischer Verständigung zwischen den Weltkriegen, in: Franz J. Felten (Hg.): Frankreich am Rhein – vom Mittelalter bis heute (Mainzer Vorträge, Bd. 13), Stuttgart 2009, S. 199–216. 198 Guido Müller verweist auf die „verwirrend[e]“ Vielfältigkeit der Gruppen, die durch unterschiedliche Motivationen um eine europäische Gemeinschaft auf Basis der deutsch-französischen Zusammenarbeit bemüht waren: Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, S. 28.

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mals den Plan einer Union Europas vorschlug, keine konkreten Einigungspläne diskutiert. Wohl gab es aber vorher in der Verständigungspolitik zwischen Briand und seinem deutschen Amtskollegen Gustav Stresemann seit Beendigung des Ruhrkampfes 1923 einen „Dialog über Europa“.199 Zu den nichtregierungspolitischen Organisationen, die sich für eine Verständigungspolitik einsetzten, zählte etwa das Deutsch-Französische Studienkomitee (Comité franco-allemand d’Information et de Documentation), das 1926 in Luxemburg gegründet und von dem Industriellen Émile Mayrisch (1862–1928) und dem Journalisten Pierre Viénot (1897–1944) maßgeblich geprägt wurde.200 In Deutschland gehörte es zu den „wichtigsten deutsch-französischen Verständigungsorganisationen“. Neben industriellen und wirtschaftlichen Diskussionen über deutschfranzösische Zusammenarbeit sollten persönliche Beziehungen von „Elitenvertretern beider Länder“ vertieft werden,201 von denen eine Einflussnahme auf die jeweilige öffentliche Meinung erhofft wurde. Unter Beibehaltung der nationalstaatlichen Souveränität wurde von vielen Mitgliedern die Errichtung einer europäischen Zollunion favorisiert. In Frankreich entstand die Union Douanière Europénne mit der gleichen Zielsetzung.202 Auch der Europäische Kulturbund unter Federführung des österreichischen Schriftstellers Karl Anton Rohan (1898–1975) und die von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi begründete Paneuropa-Union begannen seit dieser Zeit erfolgreich, in Frankreich Fuß zu fassen. Rohan gründete in Frankreich etwa die Fédération des Unions Intellectuelles.203 Es gab bei all diesen Initiativen jedoch zwei gravierende Unterschiede zu Siemsens Konzept einer deutsch-französischen Verständigung. Während bei den oben genannten Verständigungs- und Einigungsprojekten nationale Interessen vorherrschten, versuchte Siemsen, die deutsch-französische Verständigung als universale, für die gesamte Menschheit gültige Forderung zu beschreiben: Die deutschfranzösische Verständigung sei schließlich eine „Aufgabe in der Menschheits­ entwicklung“,204 wie sie betonte. Siemsens Projekt einer Verständigungspolitik sollte zudem kein Elitenphänomen sein, so wie es bei den oben genannten Initiativen der Fall war, sondern ein Projekt der Arbeiter. Den Arbeitern, an die sie sich in ihren Literarischen Streifzügen wandte, widmete sie daher auch das letzte Kapitel, das sie Proletarier und Revolutionäre nannte. In diesem Kapitel nahm Siemsen keine Deutung der Vergangenheit vor, sondern gab einen zukünftigen Ausblick auf die von ihr erhoffte und erwünschte Gesellschaftsentwicklung in der Zukunft. Sie versammelte hier zeitgenössische Schriftsteller, aber auch Autoren des 19. Jahrhunderts, die entweder den „Aufstieg des Proletariats und die immer stärkere, über Völker- und Staatengrenzen reichende Verbundenheit der menschlichen Gesellschaft“ erkannt hätten, oder diejenigen, die 199 Krüger: Der abgebrochene Dialog, S. 289 und Hewitson: The United States of Europe, S. 17. 200 Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, S. 81. 201 Ebd., S. 85. 202 Ebd., S. 302 f. 203 Ebd., S. 303. 204 Siemsen: Literarische Streifzüge, S. 249

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vom „weltumfassenden Gemeinschaftsgefühl getragen sind“ und wüssten, „daß nicht im Besitz, nicht im Bewahren des Alten, nicht im Hüten von Grenzen und Vorrechten die Aufgabe“ der Zukunft liege.205 Zu diesen „Pioniere[n]“206 zählte Siemsen Heinrich Heine, Walt Whitman, Romain Rolland, Charles Louis Philippe, Alfred Döblin, Knut Hamsun, Wladimir Korolenko und Jack London. Sie alle nannte Siemsen die „kommenden Bürger Europas und der Welt“.207 Proletarier und Revolutionäre waren für sie Schriftsteller, in deren Werk sich universale, von der geschichtlichen Entwicklung enthobene Eigenschaften offenbaren würden. In Hamsuns Werk entdeckte sie etwa ein „zeitloses Weltgefühl“.208 Konkreter wurde sie bei dem Amerikaner Whitman. Er habe das „Gefühl des freien Arbeiters, […] das Gefühl der Kameradschaft, der gegenseitigen Hilfe, des Glücks, das menschliche Liebe und menschliche Brüderschaft gibt“ zum Ausdruck gebracht.209 Dies sei deswegen möglich gewesen, behauptete Siemsen, weil er in einem Land lebte, das seinerzeit „frei von Ueberlieferungen und geschichtlichem Aberglauben, ohne herrschende Klassen, ohne Militarismus“ gewesen sei. Vor allem sei Whitman ein Demokrat gewesen, da er „das gleiche Recht, die gleiche Freiheit“ für jeden propagiert habe.210 Revolutionäre und Proletarier waren auch diejenigen Autoren, die das Leben der unteren Schichten zu ihrem literarischen Thema gemacht hätten oder selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammten, wie etwa Philippe oder London. Sie konnten aber auch, wie Heine, der die „beginnende proletarische Bewegung“ habe heraufziehen sehen,211 bürgerlicher Herkunft sein. Eine weitere politische Forderung, die Siemsen in diesem letzten Abschnitt ihres Buches hervorhob, war die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa, die sie als einen Meilenstein auf dem Weg zu einer Menschheitsgemeinschaft betrachtete. In ihren Ausführungen war es wieder Heinrich Heine, der, als ein früher Anwalt des Internationalismus, das Fundament für jene vorbereitet habe, die in Siemsens Gegenwart „den Weg suchen zu den Vereinigten Staaten eines neuen Europas“.212 Mit dieser erstmals konkret formulierten Forderung nach einer Einheit Europas im Kapitel über Heine, verdeutlichte sie, dass diese Einheit nur auf Grundlage einer deutsch-französischen Verständigung erfolgen könne. Mit dem Hinweis auf die Vereinigten Staaten von Europa nahm sie einen Begriff auf, der nach dem Ersten Weltkrieg innerhalb verschiedener Europa-Debatten populär geworden war. Der Ursprung dieser Begriffsbildung ging auf den französischen Schriftsteller Victor Hugo (1802–1885) zurück, auf den sich Europa-Politiker und Europa-Begeisterte noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bezogen. Hugo hatte auf dem zweiten internationalen Friedenskongress 1849 in Paris eine viel beachtete Ansprache gehalten, in der er die 205 Ebd., S. 229. 206 Ebd. 207 Ebd., S. 230. 208 Ebd., S. 264. 209 Ebd., S. 242. 210 Ebd., S. 241. 211 Ebd., S. 236. 212 Ebd.

2.2 Das kultursozialistische Europa

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Vereinigten Staaten von Europa forderte.213 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Begriff dann von Coudenhove-Kalergi zur Beschreibung für sein Paneuropa-Projekt verwendet.214 Im Umfeld der SPD entstanden Mitte der 1920er Jahre einige Schriften, die den Begriff der Vereinigten Staaten von Europa im Titel trugen.215 Schließlich nahm die SPD die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa in das 1925 verabschiedete Heidelberger Programm auf. Sie war damit die erste deutsche Partei, die eine Einigung Europas „zum Parteiziel“ erhob.216 Einigungsideen für Europa gab es innerhalb der Sozialdemokratie bereits im Kaiserreich. Sie tauchten allerdings in den offiziellen Bekundungen der Partei nur sehr vereinzelt auf,217 intensivierten sich aber nach 1918.218 Die Debatten über Europa erfolgten vornehmlich vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Überlegungen. In Marx’ Schriften wurde Europa lediglich angeführt, um die über nationale Grenzen hinausreichende gleiche Interessenlage der Arbeiter zu betonen.219 Viele Sozialisten unterstützten im Kaiserreich etwa die von der Reichsregierung favorisierte wirtschaftliche Einigung Deutschlands, Österreich-Ungarns und anderer mitteleuropäischer Staaten, weil sie sich im Interesse der Arbeiterschaft einen „liberalisierte[n] Warenaustausch“ erhofften. Schließlich propagierte auch Karl Kautsky die wirtschaftlich gleichberechtigten Vereinigten Staaten von Europa.220 Nach dem Ersten Weltkrieg erschien die wirtschaftliche Einigung Europas vielen Mitgliedern der Sozialdemokratie als einzige Lösung, um sich gegenüber anderen aufstrebenden Wirtschaftssystemen der Welt, wie dem US-amerikanischen und russischen, noch behaupten zu können.221 Auch im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) begrüßte man eine wirtschaftliche Einigung, da diese zu besseren Löhnen und „zur kontinuierlichen Anhebung des Lebensstandards der Volksmassen“ führen könne.222 213 Lützeler: Die Schriftsteller und Europa, S. 172 f. 214 Conze: Richard Codenhove-Kalergi [sic], S. 17. 215 Bellers: Sozialdemokratie und Konservatismus, S. 18. Zu den zeitgenössischen Titeln vgl. etwa Hermann Kranold: Vereinigte Staaten von Europa. Eine Aufgabe proletarischer Politik, Hannover 1924. Kranold wollte u. a. einen europäischen Zollverein schaffen, dem Polen, die Tschechoslowakei, Deutschland, Österreich, Belgien, Luxemburg, Frankreich und die Schweiz beitreten sollten. Vgl. Willy Buschak: Der große Umbau der europäischen Wirtschaft: Die Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit und die europäische Einigung, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 42 (2009): Deutsche Gewerkschaften und europäische Integration im 20. Jahrhundert, S. 25–42, hier S. 38. 216 Loth: Von Heidelberg nach Godesberg, S. 203. 217 Jürgen Mittag: Europäische Profilbildung im Widerstreit: Der Haager Kongress 1948 und der Europagedanke in der deutschen Sozialdemokratie, in: Volker Depkat und Piero S. Graglia (Hg.): Entscheidung für Europa. Decidere l’Europa. Erfahrung, Zeitgeist und politische He­ rausforderungen am Beginn der europäischen Integration. Esperienza mentalità e sfide politiche agli albori dell’integrazione europea (Reihe der Villa Vigoni, Bd. 23), Berlin und New York 2010, S. 263–290, hier S. 271. 218 Buschak: Die Vereinigten Staaten, S. 10 f. 219 Bellers: Sozialdemokratie, S. 8. 220 Ebd., S. 10 f. Zitat auf S. 10. 221 Ebd., S. 15 und Buschak: Der große Umbau, S. 27. 222 Buschak: Der große Umbau, S. 31.

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Vor diesem Hintergrund wurde die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa in das Heidelberger Parteiprogramm der SPD aufgenommen.223 Neben der vorrangig gewünschten wirtschaftlichen Einigung wurden in der SPD aber auch kultur- und gesellschaftspolitische Aspekte mit der Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa verbunden. Prägend war etwa die Idee von Eduard Bernstein, der von einer „zivilisatorischen Einheit Europas“ ausging, die sich zur „Weltbürgergesellschaft“ entwickeln solle.224 Einige Sozialisten wie Max Cohen (1876–1963) betonten auch, für die Einigung Europas sei „die Entwicklung eines europäischen Gemeinschaftsgefühls“ unentbehrlich.225 Die Urheber des Heidelberger Programms wollten die Einigung Europas nicht machtpolitisch definieren, sondern sahen in ihr zunächst „eine gesellschafts- und wirtschaftspolitische Notwendigkeit zur funktionalen Bewältigung kapitalistischer Krisen und zur Reform der Gesellschaft überhaupt“.226 Wie diese Einigung im Einzelnen von statten gehen und ausgestaltet sein sollte, blieb allerdings ungeklärt.227 Ebenso unklar war, welche Länder einbezogen werden sollten. Wie es auch Siemsen propagierte, bestand aber Einigkeit darüber, dass die deutsch-französische Verständigung für die Vereinigten Staaten von Europa Grundvoraussetzung sei.228 Siemsen schaltete sich nur indirekt in diese zeitgenössischen Europa-Debatten ein und nutzte sie vor allem, um für eigene Ordnungsvorstellungen zu werben. Die in den Literarischen Streifzügen angeführten Vereinigten Staaten von Europa waren nicht näher definiert und wurden nur einmal erwähnt. Die Erwähnung im letzten Kapitel, in dem es gerade um die zukünftige Entwicklung Europas ging, zeigt aber die Wichtigkeit, die Siemsen dem Konzept der Vereinigten Staaten von Europa beimaß. Obwohl es ihr insbesondere um die Etablierung neuer Wertsetzungen ging, ist dennoch wahrscheinlich, dass sie dem wirtschaftlichen Aspekt, der den offiziellen Forderungen der SPD nach den Vereinigten Staaten von Europa zugrunde lag, offen gegenüberstand. In ihren Veröffentlichungen hatte sie mehrfach auf die europäische oder gar weltweite Verflechtung der Wirtschaft hingewiesen und wirtschaftliche Wandlungsprozesse als zentral für die Herausbildung politischer und kultureller Ideen betrachtet. Die Deutsche Liga für Menschenrechte, zu deren Vorstandsmitgliedern Siemsen gehörte, hatte etwa 1925 zusammen mit anderen pazifistischen Organisationen, wie beispielsweise der DFG, eine Petition an den Reichstag gerichtet, in der eine europäische Wirtschaftseinheit gefordert wurde, die zu einem weltweiten Freihandel führen sollte.229 Die Wichtigkeit einer internationalen Verständigung hatte Siemsen noch in anderen Schriften betont, die sie zeitgleich mit den Literarischen Streifzügen publizierte. In einem Aufsatz über europäische Schulbücher fasste sie ihre Zielsetzung 223 Loth: Von Heidelberg nach Godesberg, S. 203. 224 Ebd. 225 Buschak: Der große Umbau, S. 39. 226 Bellers: Sozialdemokratie, S. 16. 227 Loth: Von Heidelberg nach Godesberg, S. 205. 228 Ebd., S. 204 und Buschak: Der große Umbau, S. 29. 229 Buschak: Der große Umbau, S. 38.

2.2 Das kultursozialistische Europa

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zusammen, die sie bereits mit den Literarischen Streifzügen verfolgt hatte: Weil es „eine internationale europäische Wirtschaft“ gebe, sei auch „internationale europäische Kultur“ entstanden. Deshalb müsse jeder „auch die großen Schriftsteller, Philosophen, Dichter, Wissenschafter [sic] und Künstler der anderen Völker kennen“. Siemsen beklagte, dass gerade die Kinder und jungen Erwachsenen der unteren Schichten in der zeitgenössischen Gesellschaft weder zu Hause noch in der Schule von „dieser internationalen Welt etwas […] erfahren“ würden.230 Mit den Literarischen Streifzügen wollte sie einen Beitrag leisten, um diesen angenommenen Zustand zu verändern. In den meisten Rezensionen, die über die Literarischen Streifzügen erschienen, wurde allerdings bezweifelt, dass es Siemsen gelingen könnte, einen nicht vorgebildeten Leserkreis mit ihren Ausführungen zu erreichen. Ein Rezensent würdigte zwar ihr großes literarisches Wissen und ihren „tieferen Orientierungssinn“, gab aber zu bedenken, dass das Buch für literarisch Unkundige schwer verständlich sei: „Was für den Kundigen als geistiger Genuß des treffend Gesagten, als wahre und schöne Bilanz wirkt, ist nicht immer schon das Richtige für bisher Unbewanderte, denen es vor allem um [eine] Einführung zu tun ist.“231 Ähnlich äußerte sich eine andere Rezensentin: „[S]o manches Kapitel [wirkt] fast mehr wie eine Problemstellung für den gebildeten Leser, als wie eine Einführung für den gläubigen Neuling.“232 Siemsens bildungsbürgerlichen Hintergrund, der in ihren Ausführungen für die Zeitgenossen offenbar geworden war, wusste ein weiterer Rezensent in architektonischen Metaphern auszudrücken: „Sie lebt mit den Hochhäusern und liebt, gleich einer echten Deutschen, die gotischen Kathedralen. Darin aber ist ihr Werk ein europäisches […].“233 Bei der Vermittlung ihrer Ordnungsvorstellungen griff Siemsen stets auf philosophische und bildungsbürgerliche Deutungstraditionen zurück, die sie keineswegs immer benannte, weil sie ihr vermutlich selbstverständlich waren. Die Kenntnis der europäischen Literatur und der europäischen Klassiker, die sie in ihren Literarischen Streifzügen vermittelte, zeugen von ihrer bildungsbürgerlichen Erziehung, in der die Auseinandersetzung mit Literatur zentral gewesen war. Siemsen bediente mit den Literarischen Streifzügen daher noch am ehesten das Leseinteresse der „Arbeiterelite“, d. h. der Arbeiter, die etwa am Leipziger Seminar für freies Volksbildungswesen teilgenommen hatten und bei denen das Interesse an bürgerlichen Bildungsinhalten groß war.234 Siemsen reihte sich mit ihren sozialistischen Bildungs- und Erziehungskonzepten in die Gruppe jener Intellektueller ein, die schon seit den Anfängen der Arbei230 Anna Siemsen: Europäische Schulbücher, in: Sozialistische Erziehung 7 (1927), S. 39–42, hier S.  39 f. 231 Karl Henckell: Rezension zu Anna Siemsen: Literarische Streifzüge, in: Bücherwarte 1 (1926), Heft 10, S. 307–308, hier S. 307. Die Quelle zitiert auch Sänger: Anna Siemsen, S. 180. 232 Elena Dabcovich: Rezension zu Anna Siemsen: Literarische Streifzüge, in: Die neueren Sprachen 34 (1926), Heft 4, S. 320–321, hier S. 321. 233 R. S.: Rezension zu Anna Siemsen: Literarische Streifzüge [2. Auflage], in: GewerkschaftsZeitung 39 (1929), Heft 50, S. 800. 234 Winkler: Der Schein der Normalität, S. 132.

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2 Von der Bildungspolitik zu Europa (1919 bis 1927)

terbewegung versuchten, der Bewegung Deutungsangebote und programmatische Orientierung zu geben. Dabei ging es den sogenannten Parteiintellektuellen weniger darum, an konkreten „Problemlösungen der unteren Schichten“ mitzuwirken, sondern selbst Teil einer „historischen Mission“ zu sein. Die Deutungsmächtigkeit der eigenen Ideen schien vor allem dann besonders virulent zu werden, wenn in der Wahrnehmung der Intellektuellen ein besonders großer Unterschied zwischen den politischen Verhältnissen und den eigenen Ordnungsvorstellungen bestand.235 Siemsens Konzentration auf die „Arbeiter“ war Teil einer „kulturellen Logik der Volksfreundschaft im deutschen Bildungsbürgertum vor 1933“. In der Forschung wurde betont, die bildungsbürgerliche Hinwendung zu den unteren Schichten sei vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierungen einer unsicher gewordenen „Legitimationsbasis intellektueller Identität“ geschuldet gewesen. Es seien „vor allem randständige reformorientierte“ Personen gewesen, die „nach einem neuen Selbstverständnis als sozial engagierte, integrative, ihre gesellschaftliche Verantwortung wieder wahrnehmende Führungsschicht“ suchten.236 Die Arbeiter dienten Siemsen, wie anderen „Volksfreunden“, als „Kontrastfolie der eigenen Bildungs- und Kulturkritik“, über die „alternative Ideen, Konzepte und Selbstverständnisse reformerisch […] artikuliert und legitimiert“ werden konnten. Zugleich wurden die „Abgrenzung gegenüber konkurrierenden Deutungsinstanzen“ und der „Anspruch auf Deutungshoheit und Führungskompetenz“ für politische Reformen herausgestellt.237 Siemsens Europa-Konzepte der Weimarer Jahre waren Teil dieser kulturkritischen Strategie, mit der sie die eigene bildungsbürgerliche Deutungshoheit für die gewünschte Gesellschaftsveränderung hervorhob. Auch in ihrer folgenden Auseinandersetzung mit Europa stand diese Intention im Vordergrund. 2.3 AUF DER SUCHE NACH EUROPA Zwei Jahre, nachdem die Literarischen Streifzüge erschienen waren, veröffentlichte Siemsen 1927 den Aufsatz Ich suche Europa in der parteipolitisch unabhängigen Frankfurter Zeitung unter der Rubrik Für Hochschule und Jugend.238 Auch hier stand eine europäische Entwicklungsgeschichte im Vordergrund, die in diesem Fall zur „Demokratie“ führe. Siemsen hatte zu diesem Zeitpunkt also den Begriff Gemeinschaft durch den Begriff Demokratie ersetzt, ein politischer Wert, dessen Verwirklichung sie als „Aufgabe“ der Europäer betrachtete. Das Europa-Konzept, das Siemsen in diesem Artikel entwarf, war deshalb auch eine Auseinandersetzung mit der politischen Idee der Demokratie, die bislang in ihren Ausführungen zumindest rhetorisch eine untergeordnete Rolle gespielt hatte und hinter die Begriffe Gemein235 Walter und Marg: Von der Emanzipation, S. 50 f. Zitate auf S. 50. 236 Jens Wietschorke: „Ins Volk gehen!“ Zur kulturellen Logik der Volksfreundschaft im deutschen Bildungsbürgertum vor 1933, in: Historische Anthropologie 18 (2010), Heft 1, S. 88–119, hier S.  90 f. 237 Ebd., S. 116. 238 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4.

2.3 Auf der Suche nach Europa

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schaft und Sozialismus zurückgetreten war. Der Artikel Ich suche Europa wirft somit ein Licht auf Siemsens Demokratieverständnis, dessen Herausarbeitung helfen kann, ihre Charakterisierung als demokratische Sozialistin zu differenzieren. Ähnlich wie in den Literarischen Streifzügen nutzte Siemsen eine zeitgenössisch prominente Europa-Debatte, um ihre eigenen Ordnungsvorstellungen zu vermitteln. Sie bezog sich dieses Mal auf die Paneuropa-Bewegung, die von Nikolaus Coudenhove-Kalergi begründet worden war und Ende der 1920er Jahre über einen großen internationalen Bekanntheitsgrad verfügte. Coudenhove-Kalergi vertrat die Vorstellung, das bislang bestehende nationalstaatliche System Europas müsse durch einen wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss überwunden werden, um einen neuen Krieg zu verhindern. Er glaubte, auf diese Weise auch dem drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch Europas durch das übermächtig werdende amerikanische Wirtschaftssystem begegnen zu können. Zugleich hoffte er, den befürchteten Einfluss des russischen Bolschewismus, den er strikt ablehnte, auf Europa zu verhindern. Coudenhove-Kalergi teilte die Welt in fünf Mächtegruppen ein, die aus den amerikanischen, britischen, russischen, ostasiatischen und europäischen Kräftefeldern bestanden. Damit vertrat er im Grundsatz eine ähnliche Position wie Siemsen, die im Rückgriff auf die Imperientheorie von Joseph Bloch eine vergleichbare Entwicklung voraussah. Coudenhove-Kalergi glaubte, Europa könne sich in diesen weltpolitischen Strukturen nur behaupten, wenn es eine paneuropäische Union bilde, die alle kontinentalen Länder Europas inklusive der europäischen Kolonien vereinige. Dabei lehnte er sich mit seinem Konzept an die panamerikanische Idee an und plädierte für eine paneuropäische Verfassung nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweiz.239 Trotz dieser Rückgriffe blieb die politisch-institutionelle Ausgestaltung von Paneuropa vage.240 Seine zentralen Vorstellungen über Paneuropa hatte Coudenhove-Kalergi zunächst in seinem gleichnamigen, 1923 erschienenen Buch Pan-Europa veröffentlicht, das breit rezipiert wurde und mehrere Auflagen erlebte.241 Seit dieser Zeit widmete er sich dem Aufbau der Paneuropa-Bewegung und gründete die Paneuropa-Union. Obwohl er breite Bevölkerungskreise erreichen wollte, wandte er sich vor allem an internationale Politiker und Regierungsvertreter, um für seine Pläne zu werben. Selbst aus adligen Verhältnissen stammend, gelang es Coudenhove-Kalergi über seine Kontakte zum europäischen Adel schnell, eine Reihe bekannter und einflussreicher Persönlichkeiten für seine Europa-Pläne zu gewinnen. Er führte Gespräche, machte Vortragsreisen, gab das Monatsmagazin Paneuropa heraus und entwickelte eine geschickte Marketingstrategie, indem er etwa Paneuropa-Zigarren vertrieb. Bankiers wie Baron Louis Rothschild (1882–1955) oder Max Warburg (1867–1946) unterstützten ihn, ebenso Industrielle wie Robert Bosch (1861–1942) und internationale Regierungsvertreter wie der Präsident der Tschechoslowakei Tomáš Masaryk (1850–1937). Der französische Außenminister Aristide Briand wurde 1926 Ehrenpräsident der Paneuropa-Bewegung, die mittlerweile in fast allen 239 Prettenthaler-Ziegerhofer: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, Founder, S. 91 f. 240 Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 51. 241 Richard N. Coudenhove-Kalergi: Pan-Europa, Wien 1923.

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2 Von der Bildungspolitik zu Europa (1919 bis 1927)

europäischen Hauptstädten eine Dependance vorweisen konnte.242 Schon bald fand die „Paneuropabewegung“ Eingang in zeitgenössische Konversationslexika.243 Daher konnte Siemsen 1927 feststellen: „Paneuropa ist fast über Nacht ein Begriff unseres politischen Alltagslebens geworden.“244 Wie Siemsen wurde auch Coudenhove-Kalergi während des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten. Ebenso wie Siemsen hatte er Kontakte zu Vertretern des literarischen Aktivismus wie beispielsweise Kurt Hiller unterhalten, mit dem er in seiner Forderung nach einer geistigen Führung Deutschlands durch eine „Neo-Aristokratie“ übereinstimmte.245 Beeinflusst von Nietzsche, wollte Coudenhove-Kalergi, noch bevor er die Paneuropa-Bewegung begründete, den „neuen Europäer“ erschaffen, den er als Grundvoraussetzung eines neuen Europas betrachtete.246 Der neue Europäer sollte nicht mehr länger nationale Prämissen verfolgen, sondern international eingestellt sein. Von biologistischen und eugenischen Diskussionen beeinflusst, ging es Coudenhove-Kalergi im Gegensatz zu Siemsen jedoch darum, „das Fundament für eine neo-aristokratische Gesellschaft“ zu legen, um so „dem sittlichen Verfall des Abendlandes“ entgegenzusteuern.247 Coudenhoves Paneuropa-Bewegung galt bereits zeitgenössisch als ein elitäres Projekt.248 Am Beispiel von Siemsen und Coudenhove-Kalergi wird deutlich, welch unterschiedliche Europa-Konzepte von Menschen entworfen werden konnten, die eine ähnliche Politisierung durch die Kriegserfahrung und durch Kontakte zu gleichen Gruppen und Bewegungen erfahren, aber verschiedene politische Ordnungsvorstellungen daraus abgeleitet hatten. Siemsen musste sich von Coudenhove-Ka­ lergis Europa-Vorstellungen schon deshalb abgrenzen, weil sie keine elitäre Gesellschaftskonzeptionen vertrat, sondern die Gleichheit aller Menschen, die gesellschaftliche Entwicklungsfähigkeit und die Erziehung als Mittel der Gesellschaftsveränderung ins Zentrum ihrer politischen Vorstellungen gerückt hatte. Die Erziehung für Europa nahm bei Siemsen eine vorrangige Position gegenüber einer politisch-institutionellen Einigung Europas ein, die sie, abgesehen von der einmaligen Propagierung der Vereinigten Staaten von Europa, bis zu Beginn der 1930er Jahre gar nicht thematisierte. Diese Strategie von Siemsen, die eigenen Europa-Vorstellungen von anderen abzugrenzen, war ein übergreifendes Phänomen in den europapolitischen Debatten der Weimarer Republik. Teilweise führten diese Abgrenzungsbemühungen zu scharfen gegenseitigen Angriffen, die zeigen, dass „Europa“ nicht etwa zu einer „Solidarität mit anderen Europäern“ führte, sondern einen „politi-

242 Prettenthaler-Ziegerhofer: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, Founder, S. 97 f. 243 Paneuropabewegung, in: Meyers Lexikon, Bd. 9, 7. Aufl. Leipzig 1928, Sp. 310–311. 244 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4. 245 Alexandra Gerstner: Der „neue Europäer“. Richard Coudenhove-Kalergis Vision einer paneuropäischen Neo-Aristokratie, in: dies.: Köncöl und Nentwig: Der Neue Mensch, S. 55–70, hier S. 58 f. Vgl. auch dies: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008. 246 Gerstner: Der „neue Europäer“, S. 55 f. 247 Ebd., S. 62. 248 Prettenthaler-Ziegerhofer: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, Founder, S. 98.

2.3 Auf der Suche nach Europa

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schen Kampfplatz“ darstellte, „den es […] gegen andere Europäer zu verteidigen galt“.249 In ihrem Artikel Ich suche Europa setzte sich Siemsen kaum mit den entsprechenden Plänen und Ordnungsvorstellungen, die hinter dem Paneuropa-Konzept standen, auseinander. Sie stellte stattdessen ihr eigenes europäisches Konzept in den Mittelpunkt. Siemsen räumte zu Beginn ihres Artikels zunächst ironisch ein, dass „[d]ie wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, denen unsere europäischen ‚Nationalstaaten‘ im Duodezformat mit ihren so ungemein sinnvoll erdachten Grenzen und Zollschranken unterliegen, […] sogar den Realpolitiker“ hindern würden, den Begriff Paneuropa „als theoretischen Nonsens zu behandeln“. Siemsen unterstützte offenbar durchaus die zeitgenössisch debattierten wirtschaftlichen Pläne für Europa, stellte aber einen anderen Aspekt in den Vordergrund, den sie vorerst für wichtiger hielt. Sie betonte nämlich, „die große paneuropäische Katastrophe des Krieges“ sollte selbst „dem unterdurchschnittlichsten Durchschnittsbürger ein[ge]paukt [haben], Europa sei mehr als ein geographischer Begriff“. Zunächst wollte Siemsen ein „europäisches Bewußtsein“ wecken und über die spezifische „europäische Kultur“ aufklären, die sie als eine demokratische Kultur definierte.250 2.3.1 Europäisches Bewusstsein und europäische Kultur Siemsen betonte, dass es sich bei europäischem Bewusstsein um „ein Gebiet“ handle, „das sich strikter wissenschaftlicher Beweisführung“ entziehe. „Alles, was uns hier gegeben ist, ist nicht zähl-, meß- und wägbar, ist nicht auf eine wissenschaftliche Formel zu bringen.“ Dennoch nahm das europäische Bewusstsein bei Siemsen eine Vorrangstellung vor allen anderen Konzepten ein, mit denen Europa definiert werden könnte. Daher machte sie auch keine näheren Angaben, welche Länder sie zu Europa zählen wollte. Den Versuch, Europa etwa geographisch zu fassen, bezeichnete sie lediglich als „eine willkürliche technische Hilfsmaßnahme“. Dieser Versuch würde „Tatenscheu vor einer zu lösenden Aufgabe“ bedeuten, die Siemsen als die Verwirklichung der Demokratie beschrieb. Sie betonte, um diese Aufgabe erfüllen zu können, müsse Europa „erlebt“ werden. Erst dann könne europäisches Bewusstsein entstehen: „Europa als Idee ist ein Erlebnis und eine aus diesem Erlebnis geborene Forderung, sagen wir es ruhig: es ist eine Sache der Ueberzeugung und des Willens. Indessen sind […] Erlebnis, Ueberzeugung und Wille auch Wirklichkeiten, die sich nach ihren Gesetzen sehr wirksam auswirken, und durchaus nicht willkürliche Fiktionen. Ich suche Europa, das heißt, ich suche mir eines Erlebens bewußt zu werden, es einzuordnen in die Gesamtheit meines Lebens und in die Gesamtheit der Aufgaben, die dieses Leben mir stellt. Wie habe ich Europa erlebt?“251

249 Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 57. 250 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4. 251 Ebd.

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2 Von der Bildungspolitik zu Europa (1919 bis 1927)

Im Verlauf ihrer Ausführungen nutzte Siemsen verschiedene Strategien, um Europa zu beschreiben: Europa wurde emotionalisiert und pädagogisiert, es wurde politisiert, historisiert und schließlich auch christianisiert. Siemsen beschrieb Europa zunächst als ein Phänomen, als eine Idee und sogar als ein „Abenteuer“, das „erlebt“ werden müsse. Sie nahm in ihren Ausführungen den Gegensatz von Wissenschaft und Leben auf, der in der Lebensphilosophie diskutiert worden war und auch ihre reformpädagogischen Positionen geprägt hatte. Die Forderung, den Menschen nicht durch ein starres wissenschaftliches Instrumentarium zu schulen, sondern ihn zu eigenem, ganzheitlichen Erkennen zu befähigen und für das gesamte Leben zu bilden, übertrug Siemsen hier auf Europa. Damit entwarf sie ein pädagogisch fundiertes Europa. Diese Emotionalisierungsstrategie war Teil der kultursozialistischen Erziehungspraktiken zur Schaffung eines neuen Menschen. Über das emotionale Erleben sollte er Solidarität und Klassenbewusstsein sowie „Begeisterungsfähigkeit“ für das sozialistische Projekt einer neuen Gesellschaftsordnung entwickeln. In der Arbeiterkulturbewegung wurden zu diesem Zweck bisweilen Feiern und Theateraufführungen veranstaltet, in deren Mittelpunkt das Thema des sozialistischen Freiheitskampfes stand.252 Siemsens Charakterisierung der europäischen Gesellschaftsentwicklung als ein „auf der Erde bisher einzigartige[s] Abenteuer“253 weist in die gleiche Richtung. Neben dieser Pädagogisierung wurde Europa auch politisiert: Es wurde mit dem Begriff Demokratie gleichgesetzt bzw. darüber definiert. Die Entwicklung zur Demokratie betrachtete Siemsen als Kennzeichen der europäischen Gesellschaft und daher als ein Kennzeichen Europas selbst. Die Entwicklung zur Demokratie sei „die getrennt einsetzende, aber gleich verlaufende Entwicklung in allen Ländern, die von europäischer Entwicklung erfaßt sind. Der Versuch, vom einzelnen und seinen Forderungen aus, rein diesseitig, ohne Berufung auf metaphysische Gewalten, rein rationell ohne Ausweichen in Traditionen, die Gesellschaft aufzubauen kennzeichnet das, was wir europäische Entwicklung nennen.“254

Trotz ihrer eingangs zitierten Frage „Wie habe ich Europa erlebt?“, auf die der aufmerksame Leserkreis nun eine Antwort erwartet hätte, stellte Siemsen die Charakteristika heraus, die ihrer Meinung nach die europäische Entwicklung auszeichnen würden. Siemsen machte den Begriff des Erlebnisses nicht an konkreten Ereignissen wie etwa persönlichen Reiseeindrücken fest. Vielmehr trat das eigene, persönliche Erleben zugunsten einer durch das „Erleben“ erhaltenen Einsicht in eine europäische Entwicklungsgeschichte zurück, die im weiteren Textverlauf von einer individuellen auf eine scheinbar objektive, allgemein verbindliche Ebene gehoben wurde. Siemsen begann ihre Suche nach Europa im Mittelalter. Dadurch wurde Europa historisiert und christianisiert. Siemsen stellte heraus, in dieser Epoche habe zuletzt eine europäische Einheit bestanden. Diese Einheit sei durch die Kirche vorgegeben gewesen, die eine „einheitliche Ideologie und eine einheitliche Aufgabe“ hervorge252 Scholing und Walter: Der „Neue Mensch“, S. 257. 253 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4. 254 Ebd.

2.3 Auf der Suche nach Europa

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rufen habe. Diese Einheit fasste Siemsen zusammen als „die Verwirklichung der Civitas Dei, des Gottesreiches auf Erden“. Den Ausdruck dieser mittelalterlichen europäischen Einheit erkannte sie dabei „[i]m Prager Hradschin wie in der Kathedrale zu Saragossa, im Heliand wie in Dantes Göttlicher Komödie“.255 Durch diese Deutung datierte Siemsen den Beginn der gesellschaftlichen Entwicklung Europas ins Mittelalter. Sie betonte, dieses Mittelalter sei untergegangen, als wirtschaftliche Wandlungen zur Auflösung der ständischen Ordnung geführt hätten. Diesen Prozess beschrieb sie so, als ob es sich dabei um den biblischen Sündenfall aus dem Paradies gehandelt habe, durch den der europäische Mensch erstmals zum „Bewußtsein seiner selbst“ gekommen sei und seine „Selbstbehauptung“ habe erkämpfen müssen: „Dies alte Europa ging unter, als seine Wirtschaft sich umgestaltete, als seine Gesellschaft sich auflöste. […] Als in dieser europäischen Entwicklung die freiwerdende Wirtschaft den einzelnen in den Konkurrenzkampf zwang, der Zerfall der ständischen Ordnung zur sozialen Selbstbehauptung [führte], da erweckte sie in dem so auf sich selbst Gestellten das Bewußtsein seiner selbst.“256

Trotz dieser Analogie zum biblischen Sündenfall beschrieb Siemsen die mittelalterliche Ordnung nicht etwa als paradiesischen Idealzustand, an dem sie sich zeitgenössisch orientieren wollte. Sie betonte vielmehr, „dies Europa“ habe „nur einen Bruchteil der Europäer“ vereint. „Millionen“ seien „in unberührtem Barbarentum“ geblieben. „Seine Existenz war jederzeit ein Kampf gegen die Dämonen des Chaos, die die Engel seiner Kathedralen unter ihre Füße traten.“257 Den scheinbar verwirklichten Einheitsgedanken im Mittelalter durch die christliche Kirche nutzte Siemsen als Legitimation für eine europäische Entwicklungsrichtung, die nun ohne eine übergeordnete Autorität wie die katholische Kirche zu einer neuen, diesmal umfassenden Einheit Europas führen sollte. Die anschließend angeführten Charakteristika der gesellschaftlichen Entwicklung seit dem Mittelalter definierte Siemsen als europäische Kultur. Dabei griff sie auf die griechische Antike als kulturelle Quelle zurück und bezog sich explizit auf Zeus und Europa, ohne allerdings den Mythos um die phönizische Königstochter Europa, die vom Gottvater Zeus in Gestalt eines Stieres entführt und auf einen unbekannten Kontinent gebracht wurde, nochmals zu skizzieren.258 Siemsen setzte die Geschichte als bekannt voraus. Im Rückgriff auf die mythologische Europa stellte sie die Fähigkeit zum Scherz als wesentliches Merkmal des europäischen Menschen heraus. Die Fähigkeit zu scherzen verband Siemsen mit der „Erkenntnis der eigenen Grenzen“, Kritik an Autoritäten sowie überlieferten Traditionen und Werten. Diese Autoritätskritik sei „Ausdruck höchsten Selbstbewußtseins“, das sie 255 Ebd. 256 Ebd. 257 Ebd. 258 Zum Mythos Europa siehe den Sammelband von Renger und Ißler: Europa – Stier und Sternenkranz. Zur kritischen geschlechtergeschichtlichen Analyse der Rezeption dieses antiken Gründungsmythos in der europäischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert vgl. Frevert und Pernau: Europa ist eine Frau.

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wiederum mit der „Eigenheit der Ratio“, mit dem Verstand gleichsetzte. Die Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung bestanden für sie darin, dass der europäische Mensch sich nie „in einer Lage“ befunden habe, „die er als endgültige nehmen konnte“. Dabei hätten „die lebendigsten, die bewußtesten, die europäischsten Menschen auf diesen Zwang mit der Heiterkeit reagiert, die sich selbst nicht gänzlich ernst nimmt, weil sie sich selbst als Uebergang sieht“. Diese Merkmale, Scherz und Verstand, so hob Siemsen hervor, charakterisierten die europäische gesellschaftliche Entwicklung seit dem Mittelalter und hätten dem „was wir europäische Kultur nennen, ihr eigentümliches und wesenhaft revolutionäres Gepräge“ gegeben.259 Scherz und Verstand bildeten in Siemsens Ausführungen die Leitlinien menschlichen Handelns, an denen entlang die europäische Entwicklung seit dem Mittelalter verlaufen sei. Siemsens Europa-Konzept speiste sich damit aus ideellen Traditionsbeständen der Aufklärung, der die Begriffe Verstand und Vernunft zugeschrieben werden. Siemsen selbst bewertete die von ihr skizzierte Entwicklung Europas jedoch als „revolutionär“. In ihrem Politikverständnis wurde der Revolutionsbegriff als eine „revolutionäre Willensrichtung“ des Menschen definiert. Diese Willensrichtung würde zur „Aenderung der Welt“260 tendieren, zu einer ständigen Veränderung der Gesellschaft, die Siemsen sich als stetige Fortentwicklung zur Gemeinschaft vorstellte. In ihrem Artikel Ich suche Europa stand aber nicht mehr der Gemeinschaftsbegriff im Mittelpunkt ihrer Ausführungen, sondern die Demokratie: „Das Bewußtsein endlich der eigenen Leistung, das sich zum Persönlichkeitsbewußtsein erweitert und vertieft, führt zum Kampf gegen alle etwa noch bestehenden gesellschaftlichen Vorrechte und überlieferten Autoritäten, führt zur Demokratie.“261 2.3.2 Das „demokratische“ Europa In Siemsens Ausführungen waren die Forderungen nach einer „Erziehung zum ‚Sozialismus‘, zur ‚Demokratie‘ und zur ‚Gemeinschaft‘ […] letztlich gleichbedeu­ tend“.262 Ihr Demokratiebegriff enthielt im Grunde die gleichen Leitideen wie ihr Gemeinschaftsbegriff. Die europäische Entwicklung selbst war in Siemsens Vorstellungen noch keine demokratische, sondern zunächst eine revolutionäre, an deren Ende erst die Demokratie stehen werde. Entsprechend ihrer früheren Forderung, schon in der zeitgenössischen Gegenwart gemeinschaftliches Handeln einzuüben, um die kommende Gemeinschaft vorzubereiten, forderte sie auch in ihrem Artikel Ich suche Europa „Ernst [zu] machen mit den Grundsätzen der demokratischen Selbstverantwortung aller, und dadurch beginnen mit dem Aufbau einer frei259 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4. Francesca Lacaita betont, Siemsen habe bei der Erwähnung der Begriffe „Witz“ und „Verstand“ auf den Schweizer Dichter Carl Spitteler (1845–1924) zurückgegriffen. Lacaita: Anna Siemsen, S. 55. 260 Siemsen: Psychologische Voraussetzungen, S. 391. 261 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4. 262 Darauf hat Edgar Weiß hingewiesen: Weiß: Erziehung für eine „werdende Gesellschaft“, S. 15.

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organisierten Gesellschaft gegenüber der gebundenen autoritären Organisation früherer Zeit“.263 Die hier von Siemsen geforderte demokratische Selbstverantwortung bezeichnete das Gleiche wie die von ihr zuvor propagierte Idee des „sittlichen Gebotes des eigenen Gewissens“ oder die Idee des „freien Handelns aus innerer Überzeugung“, die sie in Auseinandersetzung mit Kant und Fichte entwickelt hatte. Mit der „gebundenen autoritären Organisation früherer Zeit“ meinte Siemsen den Staat, der für sie Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaftsverfassung war. In ihrer Broschüre Erziehung im Gemeinschaftsgeist hatte sie erklärt, Verpflichtung des Staates sei, „die Einheitlichkeit der Gesellschaft“ zu fördern.264 Daraus folgte: Wenn die Gemeinschaft und damit die gesellschaftliche Einheit erreicht sei, werde sich auch der Staat in seiner zeitgenössischen Gestalt selbst ad absurdum führen. Diesen Gedanken hatte Siemsen ebenfalls in Auseinandersetzung mit Fichte dargelegt und erklärt, Gemeinschaft könne nur überstaatlich verstanden werden. Die Gleichheit aller Menschen werde auch eine internationale Gleichheit bedingen, so dass sich der Staat schließlich zugunsten einer befreiten Menschheit auflöse.265 Die Vorstellung von Staat und Gesellschaft als getrennte Sphären, die Idee von der Auflösung des Staates und die Befreiung des Menschen von allen hemmenden Strukturen, war schon Teil der marxistischen Entwicklungstheorie gewesen. Hier lag der Schwerpunkt jedoch auf der Beseitigung kapitalistischer Strukturen.266 Mit ihrer Forderung nach dem „Aufbau einer freiorganisierten Gesellschaft“ nahm Siemsen acht Jahre später ihre vormals formulierten Gedanken wieder auf. Wie damals die Gemeinschaft war für sie nun die Demokratie mit der nationalstaatlichen Ordnung Europas nicht zu vereinbaren. Erst in einer frei organisierten Gesellschaft könne sich Demokratie entfalten, behauptete sie. Sie glaubte, die politische Idee der Demokratie sei eine Aufgabe des einzelnen Menschen und somit der Gesellschaft, aber keine Aufgabe des Staates, der lediglich eine unterstützende Funktion übernehmen dürfte. Dem Gedanken der Aufklärung verpflichtet, definierte Siemsen Demokratie als verstandesgemäße Weiterentwicklung des mittelalterlich-kirchlichen „Gottesreiches auf Erden“. Diesen Begriff hatte sie ebenfalls schon unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges im Zusammenhang mit ihrem Gemeinschaftskonzept verwendet.267 Der Demokratiebegriff übernahm damit wie sein Pendent der Gemeinschaftsbegriff eine säkularisierte Erlösungsfunktion. War der „gute Europäer“ des Mittelalters für Siemsen noch „der katholische Christ“,268 so erschien der gute Europäer in ihrer zeitgenössischen Gegenwart der weltliche Demokrat zu sein. War die Einheit Europas im Mittelalter aus einer gemeinsamen Aufgabe erwachsen, die 263 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4. 264 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 26. 265 Vgl. Siemsen: Der mißbrauchte Fichte, S. 4. 266 Vgl. dazu Joachim Hirsch, John Kannankulam und Jens Wissel: Marx, Marxismus und die Frage des Staates, in: dies. (Hg.): Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx (Staatsverständnisse, Bd. 18), Baden-Baden 2008, S. 9–22. 267 Vgl. Siemsen: Der mißbrauchte Fichte, S. 3–4. 268 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4.

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die Autorität der Kirche vorgegeben habe, sollte nun die frei entwickelte Persönlichkeit des europäischen Menschen die Einheit Europas in der Demokratie verwirklichen. Damit wurde der europäische Mensch zum Träger der demokratischen Idee erklärt. Mit dieser Deutung waren implizite Ausschlüsse verbunden: Nichteuropäer konnten in diesem Konzept keine Träger der Demokratie sein, da sie in Gesellschaftsformationen lebten, die nicht aus den skizzierten Entwicklungsparametern entstanden waren und daher den Weg zur Demokratie auch nicht beschreiten konnten. Siemsen setzte sich nur an wenigen Stellen in ihren Veröffentlichungen während der Weimarer Jahre mit dem Demokratiebegriff selbst auseinander. Die Quellen lassen darauf schließen, dass sie im Laufe der Jahre ihr Demokratieverständnis kaum änderte. 1920 formulierte sie: „Vollendete Demokratie […] bedeutet nicht Herrschaft einer Majorität, die denn doch immer die Minorität vergewaltigen muß, sondern vollendete Demokratie bedeutet Aufhören des Zwanges, Aufhören des Staates: Anarchie.“269 Unter Anarchie verstand Siemsen der altgriechischen Wortbedeutung nach Herrschaftslosigkeit und wie sie weiter schrieb, „die gewaltlose Freiheit innerhalb einer zur Vernunft gereiften Menschheit“.270 In Siemsens frühen Veröffentlichungen wurde der Begriff Demokratie in der Regel mit dem Begriff Freiheit in Verbindung gebracht. 1919 hatte sie dies explizit ausformuliert und in ihrem Porträt über den amerikanischen Schriftsteller Walt Whitman geschrieben, Sozialismus könne mit Gemeinschaft übersetzt werden und Demokratie mit Freiheit.271 1921 formulierte sie dann: „Freiheit und Gemeinschaft aber sind die beiden vornehmsten menschlichen Forderungen. Die ganze menschliche Geschichte ist der Versuch, sie zu verwirklichen.“272 Die Begriffe Freiheit bzw. Demokratie und Gemeinschaft wurden in diesen Ausführungen argumentativ nicht gleichgesetzt, aber aufeinander bezogen. Demokratie war für Siemsen ohne Gemeinschaft nicht denkbar und andersherum. Bezeichnete Gemeinschaft einen gesellschaftlichen Zusammenschluss, so bezeichnete Demokratie bzw. Freiheit den Zustand der Herrschaftslosigkeit und Gleichheit, in dem sich erst Gemeinschaft konstituieren könne. Etwa ein Jahr vor Erscheinen ihres Aufsatzes Ich suche Europa hatte sich Siemsen mit der Demokratie im Verhältnis zur Sozialdemokratie auseinandergesetzt und betont, Demokratie sei „ein erzieherischer Grundsatz“.273 Sie glaubte, Erziehung zur Demokratie, zur Freiheit des Menschen, könne nur in der organisierten Arbeiterschaft Anwendung finden, denn Demokratie setze „Gleichheit“ voraus. Gesamtgesellschaftlich könne eine demokratische Erziehung nicht greifen, denn einem „Großagrarier oder eine[m] Kohlensyndikatsherrn“ falle es nicht ein, „für 269 Anna Siemsen: Und wie steht’s um den Staat, in: Die weißen Blätter 7 (1920), Heft 2, S. 93–95, hier S. 93. 270 Ebd., S. 94. 271 Anna Siemsen: Walt Whitman, in: Freie Jugend 1 (1919), Heft 1, S. 11–13, hier S. 13. Der Text wurde wieder abgedruckt in der Rubrik „Proletarier und Revolutionäre“ in: Siemsen: Literarische Streifzüge 1925, S. 239–245, hier S. 245. 272 Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 38. 273 Anna Siemsen: Vom Geiste der Demokratie, in: Jungsozialistische Blätter 5 (1926), Heft 3, S. 91–93, hier S. 91.

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die Sozialisierung der Produktionsmittel einzutreten“.274 Eine Sozialisierung der Gesellschaft und Wirtschaft war daher für Siemsen unbedingt notwendig, um nach demokratischen Grundsätzen zu erziehen. Sozialismus und Demokratie gingen daher Hand in Hand. Der Sozialismus sollte die Vorbedingung für die Verwirklichung der Demokratie schaffen. Daher betonte Siemsen auch, „Sozialismus und Demokratie [würden] unauflöslich zusammengehören“.275 Die Demokratie war Teil eines komplexeren politischen Ordnungsmodells von Siemsen, das sich als Stufenmodell bezeichnen lässt, wobei die einzelnen Aspekte nicht aufeinander folgten, sondern einander bedingten und nur in Wechselwirkung miteinander funktionierten. Dem Sozialismus kam die Aufgabe zu, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Dabei sollte eine demokratische Erziehung diesen Prozess begleiten, da im einzelnen Menschen als Träger politischer Ideen die Notwendigkeit dieses Prozesses erst hervorgerufen werden müsse. Sozialismus und demokratische Erziehung würden schließlich zur Verwirklichung der Demokratie führen. Unter den entsprechenden Voraussetzungen der Freiheit und Herrschaftslosigkeit könne dann die Gemeinschaft entstehen. Die Arbeiterschaft, der Siemsen am ehesten die Erkenntnis und den Willen für diesen Weg zuschrieb, sollte ihn zuerst beschreiten. Siemsen war wegen ihres Demokratieverständnisses, das über Herrschaftslosigkeit und Ablehnung staatlicher Verfassungsinstitutionen definiert war, nur partiell eine Vertreterin des Konzepts, das die politik- und geschichtswissenschaftliche Forschung für die Weimarer Zeit als demokratischen Sozialismus beschreibt. Unter diesem Begriff wird ein Prozess innerhalb der Sozialdemokratie seit der Jahrhundertwende und besonders seit dem Ersten Weltkrieg verstanden, in der der „Wert individueller Freiheitsrechte“ im Zusammenhang mit Verantwortungsübernahme in Staat und Gesellschaft und unter Anerkennung „rechtsstaatlicher und parlamentarischer Spielregeln“ betont wurde.276 Als Erfolge des demokratischen Sozialismus in den 1920er Jahren werden etwa arbeitsrechtliche Bestimmungen wie Tarifverträge, die Errichtung eines Betriebsrätewesens oder Projekte des sozialen Wohnungsbaus gezählt.277 Dieter Langewiesche plädiert dafür, diesen Prozess eher als „Liberalisierung des Sozialismus“ zu bezeichnen, da auch die Sozialdemokratie nun wie zuvor die Liberalen, „den Rechts- und Verfassungsstaat als Garanten für eine demokratische Zukunft“ betrachtete.278 Ähnlich wie die Gewerkschaften, „die Sozialismus als einen langsamen, demokratisch zu legitimierenden Prozeß“279 begriffen, definierte auch Siemsen ihr Erziehungskonzept als einen demokratischen Prozess, der allerdings innerhalb der organisierten Arbeiterschaft beginnen sollte. Siemsens Ausführungen haben gezeigt, 274 Ebd., S. 92. 275 Ebd. 276 Langewiesche: Fortschritt, S. 52. 277 Walter Euchner: Die Herausbildung des Konzepts „Demokratischer Sozialismus“, in: Herfried Münkler (Hg.): Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, München 1992, S. 47–80, hier 70 f. 278 Langewiesche: Fortschritt, S. 52. 279 Ebd., S. 53.

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dass es gerade nicht die parlamentarischen Regeln waren, die sie für die Durchsetzung ihrer Ordnungsvorstellungen als zentral erachtete. Denn, wie sie 1924 geschrieben hatte, seien „die Organisationsweisen der bürgerlichen Gesellschaft zur Umgestaltung eben dieser Gesellschaft schlechtweg [nicht] zu benutzen“.280 Der Rechts- und Verfassungsstaat der Weimarer Republik war für Siemsen in erster Linie Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft und lediglich ein Übergangsphänomen für eine in der Zukunft zu errichtende „vollendete“ Demokratie. In ihrem Buch Auf dem Wege zum Sozialismus, in dem sie sich 1931 kritisch mit den Parteiprogrammen der SPD auseinandersetzte,281 formulierte sie, dass einzig die Arbeiterschaft Träger der Demokratie sei. In einer Gesellschaft, die von der kapitalistischen Wirtschaft geprägt sei, sei Demokratie nicht gegeben. Sie kritisierte die im Heidelberger Programm von 1925 festgeschriebene Behauptung, in Deutschland bestehe „durch die Schaffung der deutschen Republik“ bereits eine Demokratie, die lediglich erhalten und ausgebaut werden müsse. Dagegen zeige die gesellschaftliche Realität aber, dass „in einer kapitalistischen Gesellschaft nur demokratische Ansätze“ vorhanden seien, die „gegenüber den realen Machtfaktoren, welche antidemokratisch wirkten“, nur „sehr schwach“ ausgeprägt seien. Eben diese Diskrepanz zwischen der Behauptung, eine Demokratie sei errichtet worden, „und der dauernd empfundenen antidemokratischen Vergewaltigung“, habe „eine sehr verhängnisvolle Verworrenheit im Proletariat hervorgerufen“.282 Daher sei auch das Parlament kein Träger der Demokratie, weil die „Machtfaktoren“ wie „Militär, Bürokratie, Justiz, Polizei, Erziehungswesen und Wirtschaft“ einer „parlamentarischen Kontrolle“ mehr oder weniger in allen demokratischen Staaten entzogen seien. Auch die Presse stehe unter dem Einfluss der „kapitalistischen Wirtschaftsgruppen“. Siemsen behauptete, „[d]ie demokratische Verfassung“ habe unter diesen Verhältnissen „nicht viel mehr realen Wert als das Reklameschild eines Händlers“. Das Parlament könne nur dann „als demokratischer Faktor wirken“, wenn die Arbeiterschaft einen größtmöglichen Einfluss ausübe.283 Demokratie definierte Siemsen als Abwesenheit kapitalistischer Interessen und Einflüsse. Dafür müssten aber zunächst die „Mittel der Demokratie: Koalitionsfreiheit, Pressefreiheit, Wahlfreiheit aus Mitteln der bürgerlichen Diktatur in solche der proletarischen Revolution“ umgestaltet werden.284 Dies könne nur durch die Arbeiterschaft erreicht werden. Verwirklichte Demokratie bedeutete daher bei Siemsen im klassischen marxistischen Sinne zunächst „Machtergreifung des Proletariats“ und daran anschließend die „Aufhebung der Klassengesellschaft“.285 Durch die 280 Siemsen: Psychologische Voraussetzungen, S. 392. 281 Anna Siemsen: Auf dem Wege zum Sozialismus. Kritik der sozialdemokratischen Programme von Heidelberg bis Erfurt [sic] (Rote Bücher der „Marxistischen Büchergemeinde“, Bd. 4), Berlin o. J. [1931]. 282 Siemsen: Auf dem Wege, S. 73. 283 Ebd., S. 42 f. 284 Ebd., S. 76. 285 Ebd., S. 76 f. Der Terminus „Machtergreifung“ wird heute in der Regel im Zusammenhang mit Adolf Hitlers Amtsantritt als Reichskanzler 1933 in Verbindung gebracht. Wie Norbert Frei schon zu Beginn der 1980er Jahre belegen konnte, tauchte der Terminus in zeitgenössischen

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„Demokratisierung“ politischer „Macht- und Propagandamittel“ wie „Verwaltung“ und „Justiz“ sowie auch „Erziehung, Presse, Wissenschaft, Kunst und Literatur“ komme es zu einem vertieften „Klassenbewußtsein“ der Arbeiterschaft. „[D]er proletarische Mittelstand“ löse sich „von der bürgerlichen Ideologie“ und so wende sich die gesellschaftliche „Majorität“ schließlich „gegen den Kapitalismus“. Die „demokratische[n] Mittel“, also die Methoden, die zu diesem Wege führen sollten, sah Siemsen in der „Brechung der kapitalistischen Wirtschaftsdiktatur“, in der „Massenpropaganda, Massenorganisation und Massenselbstverwaltung“.286 Diese „demokratischen Mittel“ sollten der Arbeiterschaft als „Kampfmittel“ dienen, um für das Ziel der „soziale[n] Demokratie“, der Aufhebung der Klassengesellschaft, zu arbeiten.287 Mit diesem so definierten Demokratiebegriff stützte Siemsen nicht das politische System von Weimar, sondern diskreditierte es als „bürgerliche Diktatur“,288 die es zu überwinden galt. Diese Gedanken zur Demokratie, die Siemsen 1931 veröffentlichte, wurden zu diesem Zeitpunkt terminologisch präzisiert und radikalisiert. Dies bedeutete aber keinen ideengeschichtlichen Bruch gegenüber ihren vorigen Überzeugungen. Deshalb können ihre Ausführungen von 1931 hier vorweg genommen werden. Die Vorstellung von Demokratie als einer Erziehungsaufgabe und einer Willensangelegenheit des Einzelnen, die eben nicht „in Parlamenten, durch Regierungen und Parteien gemacht werde“,289 prägte Siemsens Demokratieverständnis seit den frühen Weimarer Jahren. Für Siemsens Europa-Konzept in ihrem Artikel in der Frankfurter Zeitung bedeutete diese Demokratievorstellung, dass es eine europäische Entwicklung gebe, die zur Aufhebung der Klassengesellschaft durch die organisierte Arbeiterschaft führen werde. Denn die Demokratie, die auch am Ende der europäischen Entwicklung stehe, wurde in Siemsen Ordnungsvorstellungen mit Klassenlosigkeit gleichgesetzt. Daraus folgte auch, dass es eigentlich der Arbeiter war, den Siemsen mit dem europäischen Menschen in eins setzte und der daher Träger der europäischen Idee sein müsste. Der Arbeiter war identisch mit dem weltlichen Demokraten, der anstelle des einstigen katholischen Christen für die neu zu schaffende, umfassende Lexika und Wörterbüchern erst zu Beginn der 1930er Jahre auf. Er gehörte damit nicht in „die Reihe der Kampfbegriffe […] der NSDAP im Kontext ihrer aggressiv-polemischen Auseinandersetzung mit Parteien und Politik der Weimarer Republik“. Hitler favorisierte den Begriff „Machtübernahme“, weil dieser die vermeintliche Rechtmäßigkeit seines Regierungsantrittes unterstreichen sollte. Zudem sollte dadurch ein „sprachliches Gegengewicht“ zum „bolschewistisch besetzten Revolutionsbegriff“ erzielt werden: Norbert Frei: „Machtergreifung“. Anmerkungen zu einem historischen Begriff, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), Heft 1, S. 136–145, hier S. 140 f. 286 Siemsen: Auf dem Wege, S. 76 f. 287 Ebd., S. 78 f. Diese Ausführungen weisen große Ähnlichkeiten mit dem Demokratieverständnis des Austromarxisten Max Adler auf. Siehe dazu: Hanno Drechsler: Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik (Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, Bd. 2), Meisenheim am Glan 1965, S. 29. 288 Siemsen: Auf dem Wege, S. 76. 289 Anna Siemsen: Politische Erziehung, in: Sozialistische Politik und Wirtschaft 4 (1926), Heft 33 vom 19. August 1926, o. S.

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Einheit Europas zuständig sei. In ähnlicher Weise hatte diese Darstellung auch schon die Literarischen Streifzüge geprägt. Hier war die europäische Entwicklungsgeschichte eine Entwicklung zur Gemeinschaft gewesen und es waren spezielle Schriftsteller, die Siemsen in der Rubrik Proletarier und Revolutionäre verortete und die diese kommende Gemeinschaft durch ihr Leben und Werk bereits angekündigt hätten. In Siemsens Artikel Ich suche Europa fand nun aber weder die Arbeiterschaft Erwähnung noch wurde die europäische Entwicklung, die sie als revolutionär bewertete, mit den Begriffen Sozialismus oder sozialistisch umschrieben. Siemsen betonte auch nicht, wie in vielen anderen ihrer Publikationen, dass sie sich vornehmlich an Sozialisten bzw. Arbeiter wenden wolle. Sie tat es in diesem Fall nicht, weil sie ihren Artikel in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte, die überparteilich war. Siemsen schrieb erstmals für ein liberal-demokratisches Publikationsorgan, das sich als politisch unabhängig verstand. Die Frankfurter Zeitung war regional übergreifend und vertrat den Anspruch, in sachlicher Weise über politische Ereignisse zu berichten. Im Feuilleton zeigte man sich offen für moderne Dichter und Dramatiker.290 Siemsens Bruder Hans Siemsen, der als Literatur- und Filmkritiker arbeitete, war Mitarbeiter bei der Frankfurter Zeitung.291 Möglicherweise war es seiner Intervention zu verdanken, dass seine Schwester hier einen Artikel beisteuern konnte. Dieser Beitrag war der einzige, den Siemsen für die Zeitung schrieb. Nicht nur deshalb stellt der Aufsatz Ich suche Europa eine große Ausnahme in ihrer publizistischen Tätigkeit in den Weimarer Jahren dar. Siemsen schien es wichtig gewesen zu sein, ihre Europa-Vorstellungen nicht nur einem begrenzten sozialistisch-kulturpolitisch interessierten Publikum, sondern einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Die Frankfurter Zeitung war, wie sie schrieb, auch im Ausland bekannt, wo man „nur die große liberale Presse Deutschlands“ kenne: „Berliner Tageblatt und Frankfurter Zeitung begleiten dich, soweit die deutsche Zunge sich im englischen, französischen und Allerweltsradebrechen versucht.“292 Siemsen wollte mit ihrem Artikel Ich suche Europa ein größeres Publikum erreichen und machte deshalb terminologische Konzessionen, nicht aber inhaltliche Zugeständnisse. Sie nutzte den Demokratiebegriff und den Bezug auf Paneuropa, um für ein „demokratisches“ Europa-Konzept zu werben, mit dem sie sich explizit gegen „uneuropäische Lösungen“ und „[a]ntidemokratische Experimente“,293 namentlich gegen den italienischen Faschismus wenden wollte. 1927, zu dem Zeitpunkt, als Siemsen ihren Artikel verfasste, hatte sich das faschistische Regime Benito Mussolinis (1883–1945) in Italien bereits konsolidiert.294 Diese Entwicklungen alarmierten sie; hatte hier doch eine faschistische Bewegung, die es in den 290 Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 106. 291 Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: EB 70/117: Anna Siemsen an Hubertus Prinz zu Löwenstein, Zürich [November?] 1939. 292 Anna Siemsen: Zeitungen im Ausland, in: Kulturwille 3 (1926), Heft 11, S. 213–216, hier S. 213. 293 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4. 294 Guido Speckmann und Gerd Wiegel: Faschismus, Köln 2012, S. 82.

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1920er Jahren „in allen europäischen Ländern mit Ausnahme der Sowjetunion“ gab, die politische Macht übernehmen können.295 Deshalb wählte sie nicht den Gemeinschaftsbegriff, sondern den Demokratiebegriff zur Beschreibung und Propagierung ihrer europapolitischen Vorstellungen. Der Begriff der Demokratie fungierte dabei als Abgrenzung, „[a]ls normativ-legitimatorische Kategorie“, die im 20. Jahrhundert „von nahezu allen sozialen Bewegungen […] proklamiert“ worden war. Er wurde zeitgenössisch als „politischer Kampfbegriff“ verwendet, um die eigenen politischen Vorstellungen gegenüber konkurrierenden politischen Ideen aufzuwerten.296 Über ihre Darstellung einer europäischen demokratischen Kultur, die sich durch Vernunft und Humor auszeichne, begründete Siemsen daher auch, warum das zeitgenössische Italien aus dem europäischen „Versuch“, die demokratische „Gesellschaft aufzubauen“, herausfalle: „Nichts vielleicht stellt den in seinem ganzen Wesen antieuropäischen Fascismus so außerhalb Europas wie die Feierlichkeit seines Duce. Möglich, daß Mussolini lacht, unmöglich, daß er einen Scherz versteht.“297 „Antidemokratische Experimente“ waren für Siemsen autoritäre Regime, zu denen sie neben dem italienischen Faschismus auch den „diktatorischen Bolschewismus“ zählte.298 Vielleicht widmete sie dem italienischen Faschismus deswegen eine größere Aufmerksamkeit als dem Bolschewismus, weil sie glaubte, wie sie an anderer Stelle formulierte, in Russland sei trotz einer „seit Jahrhunderten“ bestehenden Gewöhnung „an die autokratischen Verwaltungsmethoden“ der „Weg zu einer demokratischen Selbstverwaltung“ möglich.299 Damit gab es eine Abstufung in ihrer Ablehnung „antieuropäischer“ Ideologien. Während Siemsen dem Bolschewismus noch eine demokratische Entwicklungsfähigkeit zugestand, sprach sie diese dem Faschismus ab. Vielleicht widmete sie Mussolini aber auch deshalb eine größere Aufmerksamkeit, weil Coudenhove-Kalergi darum bemüht war, gerade den italienischen Diktator für sein Paneuropa-Projekt zu gewinnen. Coudenhove-Kalergi vertrat ein anderes Demokratieverständnis als Siemsen. Für ihn war die Demokratie kein politischer Wert, sondern eine Übergangsform zur „Neoaristokratie“; zur „Bestherrschaft“, die aus dem Gegenmodell der „Volksherrschaft“ hervorgehen 295 Wolfgang Schieder: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 328. 296 Richard Saage: Politische Ideengeschichte in demokratietheoretischer Absicht. Das Beispiel Hans Kelsens und Max Adlers in der Zwischenkriegszeit, in: Axel Rüdiger (Hg.): Richard Saage. Elemente einer politischen Ideengeschichte der Demokratie. Historisch-politische Studien (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 143), Berlin 2007, S. 231–247, hier S. 231. Siehe auch: Hubertus Buchstein: Moderne Demokratietheorien, in: Manfred G. Schmidt, Frieder Wolf und Stefan Wurster (Hg.): Studienbuch Politikwissenschaft, Wiesbaden 2013, S. 103– 130, hier S. 106. Online-Ausgabe [1. Februar 2014]. Auch in der gegenwärtigen Politikwissenschaft gibt es keine einheitliche Definition von Demokratie. Der Begriff tauchte erstmals Ende des 18. Jahrhunderts in den Niederlanden, in Frankreich und den USA auf und wird heute vor allem als „Selbstbeschreibungsformel in modernen politischen Systemen“ verwendet. Ebd., S.  103 f. 297 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4. 298 Ebd. 299 Siemsen: Auf dem Wege, S. 75.

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sollte.300 Er schrieb Italien aufgrund seiner historischen Bedeutung eine wichtige Rolle für „Paneuropa“ zu: Er betrachtete es nämlich als „Grundstein“ Europas.301 Ebenso wie Deutschland und Frankreich sei Italien „aus dem karolingischen Reich hervorgegangen“. Coudenhove-Kalergi berief sich auf den Juristen und Schriftsteller Giuseppe Mazzini (1805–1872),302 der in den 1830er Jahren die Vereinigung Junges Europa initiiert hatte. Diese Vereinigung propagierte einen europäischen „übernationalen Verband“, der zur „Humanisierung und Pazifizierung der Welt“ beitragen sollte.303 Der Faschist Mussolini übte letztlich aber eine größere Strahlkraft auf Coudenhove-Kalergi aus. Der italienische Faschismus sollte als Bollwerk gegen die bolschewistische „Weltrevolution“ dienen. Außerdem war Mussolini ein Vorbild für Coudenhove-Kalergi, weil er durch die Ausgabe seiner „faschistischen Parolen: Ordnung – Autorität – Disziplin“ neoaristokratische Ideen verkörpere.304 Diese Aspekte wogen schwerer als Coudenhove-Kalergis Erkenntnis, dass der italienische Faschismus ein totalitärer Staat war, der „sich gegen das Ideal der Freiheit erhoben“ habe. Denn er hatte stets argumentiert, es komme bei Paneuropa vielmehr auf „Persönlichkeiten“ an.305 Sämtliche Versuche, Mussolini von seinen paneuropäischen Plänen zu überzeugen, schlugen fehl. Mussolini selbst favorisierte eine große Föderation der lateinischen Mittelmeerländer „mit Rom als Zentrum und unter Einschluss von größeren Gebieten Afrikas“.306 Die mögliche Durchsetzung faschistischer Ideologien in Europa, so wie es in Italien bereits geschehen war, stellte für Siemsen eine doppelte Gefahr dar. Sie sorgte sich zunächst um die Stellung Europas in der Welt bzw. um seine Selbständigkeit, die durch den Aufstieg außereuropäischer Mächte bedroht sei. Sie argumentierte zwar, „daß es sich [bei] uns Europäern gar nicht um die Frage handelt, ob wir in der Gesamtheit der menschlichen Entwicklung über- oder unterwertig sind“. Dennoch wollte sie aber doch ihre Forderung nach einer Abkehr von „nationale[n] Absonderungen und Einzelexperimente[n]“ hervorheben, weil „[u]m uns herum […] die nichteuropäische Welt“ erwache, der man durch einen nicht näher definierten „demokratischen“ Zusammenschluss Europas begegnen müsse. Siemsen betonte: „Aus anderen Vergangenheiten und Voraussetzungen gehen diese Völker und Rassen an die Arbeit, auf ihre Weise das große Problem menschlichen Gemeinschaftslebens auf der Erde zu lösen.“307 Sollte sich Europa entgegen seiner demokratischen Entwicklungsgesetze, das war Siemsens zweite Überlegung, dennoch den „antidemokratischen Experimenten“ zuwenden, befürchtete sie dadurch auch negative Auswirkungen auf den Rest 300 Prettenthaler-Ziegerhofer: Botschafter Europas, S. 429 f. 301 Ebd., S. 386. 302 Ebd. 303 Lützeler: Die Schriftsteller und Europa, S. 123. 304 Prettenthaler-Ziegerhofer: Botschafter Europas, S. 386 f. 305 Ebd., S. 392 f. Im Gegensatz zum italienischen Faschismus lehnte Coudenhove-Kalergi den Nationalsozialismus u. a. aufgrund der ausgeprägten antisemitischen Ausrichtung ab. Vgl. ebd., S.  413 f. 306 Ebd., S. 404. 307 Siemsen: Ich suche Europa, S. 4.

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der Welt: „Es wäre ein Unglück für die Welt, wenn wir glaubten, sie [die Aufgabe des Gemeinschaftslebens, MvB] im Gegensatz gegen die anderen lösen zu müssen, lösen zu können.“ Letztlich ging sie von einer Vorbildfunktion Europas für den Rest der Welt aus, weil Gemeinschaft und Demokratie spezifisch europäische Werte seien, denen sie universale Gültigkeit beimaß. Siemsen schloss wohl deswegen ihren Artikel mit der Forderung, „über unserem Europäertum nicht das planetarische Bewußtsein zu verlieren, Bürger, das heißt Arbeiter auf dieser Erde und für diese ganze Erde zu sein“.308 Ob Siemsen ihren Aufsatz als Warnung für eine mögliche zukünftige Entwicklung in Deutschland verstand, ist ungewiss. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die politischen Umstände in Italien denen in Deutschland in mancher Hinsicht ähnlich. Auch in Italien blieb etwa der Einfluss der alten Eliten, der sich gegen das demokratische System richtete, sehr groß. Mit ihrer Hilfe konnte Mussolini schließlich 1922, wie es Hitler knapp elf Jahre später in Deutschland gelang, an die Macht kommen.309 1927 war der Aufstieg des Nationalsozialismus für die Zeitgenossen allerdings noch nicht abzusehen, die NSDAP wuchs erst zu Beginn der 1930er Jahre zu einer Massenpartei an. Vor dieser Entwicklung trat eine andere ein: der Aufstieg rechts-konservativer Kräfte und die Schwächung des parlamentarisch-demokratischen Systems von Weimar durch die Etablierung von Präsidialkabinetten. Diese Entwicklungen bestärkten Siemsen in ihrer Ablehnung des Weimarer Staates und führten zu einer Radikalisierung ihrer Ordnungsvorstellungen.

308 Ebd. 309 Schieder: Faschistische Diktaturen, S. 335 f.

3 POLITISCHE KRISENJAHRE UND EIN EUROPA DER EINHEIT (1928 BIS 1933) Anna Siemsens politische Arbeit von 1928 bis zu ihrer Emigration im Frühjahr 1933 war geprägt von einer zunehmenden oppositionellen Haltung gegen die Weimarer Republik. Den Höhepunkt dieser Radikalisierung bildete 1931 ihr Beitritt zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), eine linksoppositionelle Abspaltung der SPD, die es sich zum Ziel gesetzte hatte, als Massenpartei für die „wahren“ Interessen der Arbeiterschaft von den Kommunisten bis hin zu den Sozialdemokraten einzutreten. Die Einheit der Arbeiterschaft sollte dafür sorgen, eine umfassende sozialistische Gesellschaftsreform einzuleiten.1 Siemsen war hier die „unumstrittene Führerin des rechten Flügels“ der Partei.2 Die Forderung nach einer Einheit der Arbeiterschaft war auch das Thema von zwei Monographien, die Siemsen veröffentlichte und die in den folgenden Ausführungen behandelt werden sollen: 1928 erschien Daheim in Europa,3 1932 das Buch Deutschland zwischen gestern und morgen.4 Die politischen Entwicklungen in Deutschland waren für sie eine Folge wiedererstarkter kapitalistischer Ordnungsvorstellungen und Wertsetzung, die sie stets als inhuman und deswegen als widersprüchlich zu ihren eigenen Leitideen betrachtet hatte. Seit dem Ersten Weltkrieg glaubte sie auch, nationale und kapitalistische Ordnungsvorstellungen und daraus erwachsene Herrschaftsstrukturen enthielten stets eine immanente Kriegsgefahr. Aus diesem Grund hoffte sie, ein geschlossenes Zusammenwirken der Arbeiterschaft könne eine andere, eine humane, auf den Leitsätzen von Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität basierende Politik etablieren. Unter „Einheit“ der Arbeiterschaft verstand Siemsen sowohl die organisatorische Einheit der Arbeiter als auch die einheitliche Einsicht der Arbeiter in die Notwendigkeit der zu erreichenden gemeinsamen Ziele. Siemsens gesamte politische Tätigkeit konzentrierte sich auf diesen Aspekt. Dabei setzte sie vor allem die Errichtung einer internationalen Einheit der Arbeiterschaft auf ihre politische Agenda. In ihrem Buch Daheim in Europa entwarf Siemsen Europa als einen Raum, in dem sich die internationale Einheit der Arbeiterklasse verwirklichen ließe. Diese Einheit rückte umso mehr in den Fokus ihrer politischen Vorstellungen, als die Durchsetzung von sozialistischen Gesellschaftsreformen aufgrund der gesamten politischen Verhältnisse in der Weimarer Republik erschwert wurde. Aus diesem Grund stand auch Deutschland im Mittelpunkt von Siemsens Buch Deutschland zwischen gestern und morgen. Hier entwarf und forderte Siemsen ein „europäisches 1 2 3 4

Siehe grundlegend zur SAPD: Drechsler: Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Siehe den biographischen Eintrag über Siemsen bei Drechsler: Die Sozialistische Arbeiterpartei, S. 369 f. Zitat auf S. 370. Anna Siemsen: Daheim in Europa. Unliterarische Streifzüge, Jena 1928. Anna Siemsen: Deutschland zwischen gestern und morgen, Jena 1932.

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Deutschland“ der Arbeiterschaft, dem sie eine maßgebende Funktion für den Rest Europas zuschrieb. Die internationale Verbundenheit der Arbeiterschaft, die schon bei Marx einen Kernaspekt dargestellt hatte,5 schien für Siemsen die einzige Lösung zu sein, um dem Sozialismus in Europa doch noch die nötige politische Schlagkraft zu verleihen. Siemsen stellte wohl auch deswegen Deutschland in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen, weil sich die Debatten um eine Wiedereingliederung Deutschlands in das internationale System zu Beginn der 1930er Jahre nicht mehr um eine Verständigungspolitik drehten, sondern zunehmend von hegemonialen Vorstellungen über Deutschlands Rolle in Europa dominiert wurden. Mit dem Konzept eines „europäischen Deutschlands“, das gerade durch eine geforderte Politik des Ausgleichs eine vorbildliche Funktion für Europa einnehmen sollte, entwarf Siemsen ein alternatives Deutschland-Bild. Um eine geschlossene Einheit der Arbeiterschaft zu erreichen, schrieb sie seit Ende des Jahres 1927 Artikel für die linkssozialistische Zeitschrift Der Klassenkampf. Diese Zeitschrift wandte sich vorwiegend an Arbeiter. Ihr Ziel bestand darin, die Arbeiterschichten für ihre politischen Aufgaben zu schulen und vorzubereiten. Darüber hinaus setzte sich die Zeitschrift zum Ziel, in Abgrenzung zum Völkerbund die weltweite Einigung der Arbeiterschaft zur Schaffung einer internationalen sozialistischen Gesellschaftsordnung zu propagieren.6 Unter diese Zielsetzung fiel auch Siemsens Veröffentlichung von mehreren Jugendbüchern.7 Diese Bücher waren Geschichtensammlungen von bekannten Schriftstellern wie Walt Whitman, meist von Siemsen kommentiert und eingeleitet, in denen stets „Proletarierschicksal, Arbeiterschicksal, Menschenschicksal“8 vorgestellt oder aus dem „großen Menschheitskampf“9 gegen Unterdrückung berichtet wurde. Außerdem erschien 1929 die zweite Auflage von den Literarischen Streifzügen.10 Je weniger die Durchsetzung von sozialistischen Gesellschaftsreformen in Deutschland möglich wurde, desto mehr wuchsen auch Siemsens Vorbehalte gegen den Weimarer Staat. Ihre Ausführungen zur Demokratie, die im vorigen Kapitel skizziert wurden, mögen schon darauf hingewiesen haben. Auf dem politischen Parkett der Weimarer Republik setzte sich seit Mitte der 1920er Jahre ein „Rechts­ 5 6

Bellers: Sozialdemokratie, S. 8. Drechsler: Die Sozialistische Arbeiterpartei, S. 21 f. Eine Auflistung von Siemsens Artikeln in dieser Zeitschrift ist abgedruckt bei Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 316 f. 7 Anna Siemsen: Kämpfende Menschheit. Ein Geschenkbuch zur Jugendweihe, Jena o. J. [1929] und Anna Siemsen: Menschen und Menschenkinder aus aller Welt, Jena 1929. In gleicher Konzeption, doch konzentriert auf das Leben von Mädchen und Frauen in aller Welt: Siemsen: Buch der Mädel. 8 Else Möbus: Rezension zu Siemsen: Menschen und Menschenkinder aus aller Welt, in: Bücherwarte 4 (1929), Heft 11, S. 166. 9 Dora Fabian: Rezension zu Siemsen: Kämpfende Menschheit, in: Bücherwarte 4 (1929), Heft 3, S. 43. 10 Anna Siemsen: Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft, 2. Aufl. Jena 1929. Die Konzeption des Buches blieb die gleiche. Allerdings fügte Siemsen am Ende des Buches noch zwei Kapitel hinzu, die sie Deutsche Arbeiterdichtung und Die technische Revolution in der Literatur betitelte.

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trend“ durch.11 Diese Entwicklung wurde etwa durch die Wahl des monarchisch gesinnten ehemaligen Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg (1847–1934) zum Reichspräsidenten deutlich, der 1925, nach dem Tod des Sozialdemokraten Friedrich Ebert (1871–1925), von den Deutschen zu ihrem neuen Staatsoberhaupt gewählt worden war.12 Im gleichen Jahr begann Hitler die NSDAP neu zu organisieren. Bis Ende der 1920er Jahre gelangte sie jedoch nicht über den Status einer „Splitterpartei“ hinaus,13 wurde aber schließlich zu Beginn der 1930er Jahre zu einer Massenpartei. Von 1924 bis 1928 wechselten sich allein sechs Regierungen ab. Kompromissfindungen gestalteten sich schwierig, da die Parteien unterschiedliche ideologische Grundauffassungen hatten und im eigenen Interesse bestrebt waren, die Bindungen an diejenigen Milieus, die sie vertraten, nicht zu verlieren. Die Regierungskoalitionen scheiterten immer wieder an unterschiedlichen Vorstellungen über außen-, kultur-, sozial- und wirtschaftspolitische Zielsetzungen. Auch wenn einige Regierungsvertreter über verschiedene Kabinette hinweg in ihren Ämtern blieben, waren die brüchigen Koalitionen nicht förderlich, das Vertrauen weiter Bevölkerungskreise in das Parteiensystem von Weimar zu stärken.14 Nachdem die SPD im August 1923 aus der Großen Koalition unter Gustav Stresemann (DVP) ausgeschieden war, verfügte sie auf regierungspolitischer Ebene nur noch über begrenzten Handlungsspielraum.15 Bei den Reichstagswahlen im Frühjahr 1928 konnte die SPD aufgrund der vorhergehenden labilen Bürgerblockregierungen zwar noch einmal einen guten Stimmenzuwachs verzeichnen,16 blieb jedoch in der großen Koalition, die 1928 gebildet wurde, politisch weitestgehend einflusslos. Eine große Konkurrenz erwuchs der SPD zunehmend aus der KPD. Seit Beginn der 1920er Jahre war sie zu einer Massenpartei mit knapp einer halben Million Mitglieder angewachsen, die wegen der sozialen Mitgliederstruktur viel stärker noch als die SPD eine Arbeiterpartei darstellte. Die Mitglieder waren hauptsächlich um 1900 Geborene, die geprägt waren von Kriegserfahrung und Arbeitslosigkeit.17 Von den berufstätigen Mitgliedern arbeiteten viele im Bergbau oder in der Chemieindustrie.18 Die gegenseitige Abgrenzung von Sozialdemokraten und Kommunisten war im Arbeitervereinswesen nicht so ausgeprägt wie auf der Parteienebene. Doch auch in den Verbänden begann ab 1928 nach dem Weltkongress der Kommunistischen Internationale zusehends eine Ausdifferenzierung. Die Kommunisten bauten ein eigenes Organisationsnetz auf und versuchten, die Organisationen

11 Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 729), Bonn 2010, S. 337. 12 Ebd., S. 344 f. 13 Kolb und Schumann: Die Weimarer Republik, S. 112–114 und 121. Zitat auf S. 121. 14 Büttner: Weimar, S. 342 f. 15 Dieter Dowe: Das Heidelberger Programm von 1925, in: Faulenbach und Helle: Menschen, Ideen, Wegmarken, S. 88–93, hier S. 92. 16 Büttner: Weimar, S. 596. 17 Ebd., S. 309 f. und Walter: Die SPD, S. 73 f. 18 Walter: Die SPD, S. 75.

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der als Sozialfaschisten titulierten Sozialdemokraten „zu zerschlagen“.19 Die Arbeiterbewegung begann sich zu spalten. Unter diesen Voraussetzungen wurde Siemsen bei den Reichstagswahlen am 20. Mai 1928 als Abgeordnete der SPD in den Reichstag gewählt. Siemsens Reichstagsmandat von 1928 bis 1930 fiel in die Regierungszeit der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller (1876–1931). Es sollte nicht nur die letzte Regierung sein, an der die SPD beteiligt war, sondern auch die letzte, „die von einer Mehrheit der Abgeordneten im Reichstag getragen wurde“.20 Nach dem Sturz der Regierung Müller 1930 begann die systematische „Desintegration des politischen Systems“ von Weimar durch die Bildung von Präsidialkabinetten, die von einer großen politischen Einflussnahme des Reichspräsidenten und von der politischen Machtlosigkeit des Reichstages gekennzeichnet waren. Diese Entwicklung wurde von rechten, nationalkonservativen Kräften vorangetrieben, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Weimarer Republik in einen „autoritären Staat zu transformieren“. Die Speerspitze dieser national-konservativen Kräfte war Reichspräsident von Hindenburg, der von der Reichswehrführung um General von Schleicher, von agrarischen und industriellen Organisationen und nicht zuletzt von „bürgerlichen Rechtskräften“ in seinen politischen Plänen unterstützt wurde.21 An der großen Koalition unter Müller waren neben der SPD, das Zentrum, die Bayrische Volkspartei, die DDP und die DVP beteiligt. Das Scheitern der Großen Koalition wurde begünstigt durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929, die zu einer hohen Arbeitslosigkeit und Bankenkrise in Deutschland führte und das Sozialsystem, vor allem die Arbeitslosenversicherung, stark belastete. Die unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie die Reichsfinanzen saniert werden könnten, waren nur vordergründig für das Scheitern der Regierung Müller verantwortlich. Vielmehr wurde die „Finanzkrise zu einer politischen Krise stilisiert“, durch die die rechten Kräfte versuchten, die SPD aus der Regierung zu drängen und das parlamentarische System zu schwächen. Maßgeblich beteiligt war die DVP, die nach dem Tod ihres Parteimitglieds Außenminister Stresemann 1929 deutlich nach rechts rückte und die Interessen der industriellen Kreise und Wirtschaftsmagnaten vertrat.22 Die linke Fraktion innerhalb der SPD, zu der auch Siemsen gehörte und die Koalitionen mit bürgerlichen Parteien stets reserviert bis ablehnend gegenübergestanden hatte, war gegen die Bildung einer Großen Koalition, zumal das Regierungsprogramm stark von den Interessen der DVP dominiert wurde.23 Siemsen gehörte zu jenen 14 sozialdemokratischen Abgeordneten, die „dem Billigungsvo19 Walter und Marg: Von der Emanzipation, S. 44 und Walter: Die SPD, S. 73 und 75. 20 Siegfried Weichlein: Das Scheitern der Großen Koalition unter Hermann Müller 1930, in: Faulenbach und Helle: Menschen, Ideen, Wegmarken, S. 93–100, hier S. 93. 21 Kolb und Schumann: Die Weimarer Republik, S. 130. 22 Weichlein: Das Scheitern der Großen Koalition, S. 96 f. Zitat auf S. 96. 23 Helmut Arndt: Profilierungs- und Differenzierungsprozesse in der SPD unter den Bedingungen der zeitweiligen Stabilisierung des Kapitalismus (1925–1930/31), in: Heinz Niemann (Hg.): Auf verlorenem Posten? Zur Geschichte der Sozialistischen Arbeiterpartei. Zwei Beiträge zum Linkssozialismus in Deutschland von Helmut Arndt und Heinz Niemann, Berlin 1991, S. 44– 96, hier S. 67.

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tum des Reichstages für die Regierung Müller“ fernblieben.24 Sie berichtete rückblickend, „schon bei der Regierungsbildung“ habe sich gezeigt, „dass die Parteien […] nicht auf irgendwelche politische[n] Forderungen zu vereinigen waren“.25 Der Bruch der linken sozialdemokratischen Opposition mit ihrer Mutterpartei wurde im August 1928 eingeleitet, als die SPD, die sich im Wahlkampf noch mit der Parole „Kinderspeisung statt Panzerkreuzerbau“ profiliert hatte, nun unter Koalitionsdruck stehend überraschend dem Bau des Panzerkreuzers zustimmte.26 Für Siemsen, die in ihren politischen Ansichten oft recht kompromisslos auftreten konnte und an der Durchsetzung ihrer politischen Zielvorstellungen interessiert war, muss das Reichstagsmandat eine deprimierende Erfahrung, vielleicht auch Überforderung bedeutet haben. In ihren Erinnerungen erschien es ihr „ein erheiterndes Missverständnis“ gewesen zu sein, „dass ich von 1928–30 Reichstagsabgeordnete wurde […]. Die Zeit meines Reichstagsmandats war hoffnungslos unfruchtbar […] und ich war froh, als eine schwere und langdauernde Krankheit mir die Möglichkeit gab, darauf zu verzichten“.27 Nach dem Sturz der Regierung Müller 1930 tolerierte die SPD das rechte Minderheitenkabinett unter Heinrich Brüning (Zentrum). Angesichts der hohen Wahlergebnisse der NSDAP, die bei den Reichstagswahlen im Herbst 1930 die zweitstärkste Fraktion wurde, betrachtete man eine Tolerierungspolitik innerhalb der SPD als einzige Lösung zum Schutz des demokratischen Systems. Die linke Opposition in der SPD attackierte diese Tolerierungspolitik scharf und gründete schließlich durch die Initiative von Max Seydewitz (1892–1987) und Kurt Rosenfeld (1877–1943) auf der „Reichskonferenz oppositioneller Sozialdemokraten“ im Oktober 1931 die SAPD,28 der sich auch Siemsen anschloss.29 Die SAPD hatte zunächst regen Zulauf zu verzeichnen, blieb aber ihrem Anspruch, eine Massenpartei zu sein, weit entfernt.30 Sie hatte gerade einmal 2,5 Prozent der Mitglieder, die die SPD vorweisen konnte.31 Schon bald nach der Gründung zeichneten sich aufgrund der ideologischen Heterogenität der Mitglieder innerparteiliche Differenzen ab, die eine einheitliche Ausrichtung der Partei erschwerten. Viele Mitglieder verließen die Partei wieder. So stand etwa bei dem Thema „Krieg und Revolution“ ein antipazifistischer Flügel einem von Siemsen angeführten pazifistischen Flügel gegen24 Drechsler: Die Sozialistische Arbeiterpartei, S. 34. 25 Siemsen: Mein Leben, S. 72 f. 26 Arndt: Profilierungs- und Differenzierungsprozesse, S. 68. Siehe auch Weichlein: Das Scheitern der Großen Koalition, S. 98. 27 Siemsen: Mein Leben, S. 72. 28 Drechsel: Die Sozialistische Arbeiterpartei, S. 56 f. Ausführlich zur Gründung der SAPD siehe ebd., S. 64–119 sowie Heinz Niggemann: Entstehung und Rolle der SAPD in der Endphase der Weimarer Republik, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 29 (1987), Heft 6, S. 745–752. 29 Vgl. dazu auch Ulrich Heinemann: Linksopposition in der Sozialdemokratie und die Erfahrungen der SAP in der Weimarer Republik, in: Collotti: L’Internazionale Operaia, S. 497–525, hier S. 519. 30 Drechsler: Die Sozialistische Arbeiterpartei, S. 158 und Niggemann: Entstehung und Rolle der SAPD, S. 747. 31 Drechsler: Die Sozialistische Arbeiterpartei, S. 160.

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über.32 Differenzen entbrannten auch im Januar 1933 um die „Einheitsfront-Taktik“. Während sich die Mehrheit des Parteivorstandes darauf konzentrieren wollte, wieder eine „Brücke“ zwischen SPD und KPD herzustellen,33 verfolgte der linke, mit der KPD sympathisierende Flügel eine kommunistische Ausrichtung der Partei und dominierte schließlich „Programmatik, Organisation und politischen Kurs“ der SAPD.34 Nach dem Machtantritt Hitlers trat Siemsen zusammen mit der Mehrheit des Parteivorstandes, der befürchtete, die Parteiführung zu verlieren, aus der SAPD aus.35 Die Einheitsfront-Taktik der SAPD war auch als „Abwehr“ gegen den drohenden Faschismus konzipiert worden. Dabei war zunächst bei der Gründung der SAPD keine dezidierte Faschismus-Analyse erfolgt. Stattdessen wurde bereits die Regierung Brüning als faschistisch tituliert.36 1932 änderten sich die Stellungnahmen zum Faschismus dahingehend, dass eine mögliche faschistische Regierung Hitlers als ernsthafte Gefahr für die Arbeiterschaft und ihre Ziele betrachtet wurde.37 Das politische Primat blieb letztlich jedoch nicht allein die Abwehr des Nationalsozialismus, sondern die Einheit der Arbeiter zu fördern, um das kapitalistische System zu überwinden und eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu begründen.38 Siemsen erkannte 1931 vorausschauend, dass sich Deutschland „in der letzten Phase vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten“ befinde. „Aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese nicht auf dem Wege eines Putsches, sondern auf legale und sogar parlamentarische Weise erfolgen.“39 Sie glaubte aber, die „politische und soziale Lage der Arbeiterschaft“ werde unter diesen Umständen keine schlimmere sein als unter dem zeitgenössischen Präsidialkabinett. In ihren Forderungen nach einem „Bruche mit den gegenwärtigen Machthabern“ durch die internationale Einheit der Arbeiterklasse,40 konkretisierte sie auch ihre europapolitischen Vorstellungen. Als Wortführerin des pazifistischen Flügels in der SAPD betonte Siemsen, die Einheit der Arbeiterklasse sei die einzige Möglichkeit, dauerhaften Frieden zu gewährleisten. Der „Kapitalismus an sich“ sei schon eine „Kriegsdrohung“, so dass „Friedensarbeit“ zugleich „Kampf“ gegen den Kapitalismus bedeute.41 Damit vertrat sie eine tradierte Annahme innerhalb der Sozialdemokratie, in der seit dem Kaiserreich betont worden war, es sei das kapitalistische System, das zum Krieg führe und durch sozialistische Reformen überwunden werden müsse.42 Die Notwendigkeit einer Einigung der Arbeiter erwuchs für Siemsen aus dem internationa32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Ebd., S. 187. Ebd., S. 311. Heinemann: Linksopposition, S. 520. Drechsler: Die Sozialistische Arbeiterpartei, S. 327 und 370. Ebd., S. 175. Ebd., S. 231. Ebd., S. 233. Siemsen: Auf dem Wege, S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 153. Wieland: Die Verteidigungslüge, S. 14.

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len Wirtschaftssystem, das „internationale Abhängigkeitsverhältnisse“ geschaffen habe. „[W]irtschaftliche oder soziale Erfolge der Arbeiterschaft“ könnten aus diesem Grund nur Bestand haben, wenn sie international „erkämpft“ würden.43 Siemsen schlug vor, sich dafür zunächst auf „die Länder des europäischen Kontinents“ zu konzentrieren. Denn diese Länder würden „eine enger verbundene Gruppe bilden, sowohl durch ihre größere wirtschaftliche Verbundenheit wie durch den annähernd gleichen Grad der politischen Entwicklung und die Reife der nationalen Arbeiterbewegungen“. Obwohl Siemsen prinzipiell eine internationale Verbindung der Arbeiterschaft über Europa hinaus favorisierte, forderte sie zunächst eine Vernachlässigung der „sozialen Befreiungsbewegungen“, die sich etwa in Indien oder China bemerkbar machen würden. Denn hier seien die Entwicklungen unter anderen Voraussetzungen abgelaufen. Es solle aber eine „Fühlungnahme mit Rußland und der Arbeiterbewegung im englischen Imperium“ geben.44 Obwohl sie Russland zuvor noch kulturell zu Europa gehörig betrachtet hatte, wurde es nun aus Siemsens Einheitskonzept ausgeschlossen. Sie begründete diesen Ausschluss mit der gänzlich anderen Wirtschaftsstruktur Russlands, die von europäischen „Bedürfnissen“ abweiche. „Wahrhaft internationale Arbeit“ sei daher mit Russland „nicht möglich“.45 Auch England wurde in ihre Einigungspläne nicht mit einbezogen. Siemsens Überlegungen wiesen an dieser Stelle erneut Ähnlichkeiten mit der von Joseph Bloch entworfenen Imperientheorie auf. Bloch hatte England aus der kontinentaleuropäischen Einigung ausgeschlossen, da es aufgrund seiner wirtschaftlichen Interessen, die sich nach Übersee erstrecken würden, ein eigenes Imperium für sich bilde.46 Obwohl Siemsen 1927 noch eine andere Europa-Konzeption vertreten hatte als die Paneuropa-Bewegung, forderte sie nun zu Beginn der 1930er Jahre eindringlich eine Unterstützung dieser Organisation. Die politischen Entwicklungen in Deutschland hatten offenbar dazu geführt, dass sie jede zivile Organisation unterstützenswert fand, die sich für internationale Ziele einsetzte. Sie stellte einen Zusammenhang zwischen der Paneuropa-Bewegung und der deutschen nationalen Einigungsbewegung im 19. Jahrhundert her. Beide Bewegungen bezeichnete sie als bürgerliche Projekte, eine in ihrer Argumentation negative Bezeichnung. Dennoch sei die Paneuropa-Bewegung „revolutionär“, weil sie „Hindernisse der internationalen Entwicklung“ beseitige. Diese Hindernisse definierte Siemsen als „wirtschaftliche Isolierung und politische Souveränität“,47 zwei Aspekte, die auch ihre Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen in Thüringen 1924 gekennzeichnet hatten. Schon im 19. Jahrhundert hätten diese beiden Aspekte für Deutschland mit seinen „36 souveränen Staaten“ eine ähnliche „politische Gefahr“ bedeutet, wie

43 44 45 46 47

Siemsen: Auf dem Wege, S. 79. Ebd., S. 81. Ebd., S. 80. Vgl. Siemsen: Der Europäer, S. 444. Siemsen: Auf dem Wege, S. 81.

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zeitgenössisch für Europa.48 Siemsen hoffte, die prominente Paneuropa-Bewegung könne ein Instrument für die Arbeiterbewegung werden. Denn sie betonte, die im 19. Jahrhundert erfolgte Einigung Deutschlands habe schließlich auch zur Bildung einer deutschen Arbeiterbewegung beigetragen.49 Siemsen glaubte fest daran, die wirtschaftliche und politische Einigung Europas sei über „den Sieg der europäischen Arbeiterbewegung“ herbeizuführen, auch wenn „die bürgerlichen Vertreter der Paneuropaidee“ dem „feindlich gegenüberstehen“ würden: „Die Gesetze der Entwicklung sind stärker als die Wünsche bürgerlicher Politiker.“50 Den Völkerbund in seiner zeitgenössischen Gestalt lehnte Siemsen im Gegensatz zur Paneuropa-Union ab. Er sei ein „Bund kapitalistischer Regierungen“,51 weshalb er keine internationale Zusammenarbeit erreichen könne, behauptete sie. Es sei unmöglich, „Völkerbund und Schiedsgericht gleich Verständigungsmöglichkeit“ zu setzen. Denn unter kapitalistischen Verhältnissen lasse sich weder „die Schuldenfrage, noch die Grenzfrage, noch die Frage der Minderheiten, der Sicherheit, der Abrüstung lösen“.52 Der Völkerbund sei „nur der internationale Kampfboden […], wie der Staat der nationale“ sei. Der Völkerbund bedürfe daher keiner Reformierung, sondern einer „Revolutionierung […] durch die international organisierte Arbeiterschaft“.53 Jede ‚nationale Einheit‘ müsse daher der internationalen Zusammenarbeit der Arbeiterklasse untergeordnet werden.54 Nur so könne „das große Ziel der Weltföderation der nationalen Arbeiterklassen“ erreicht werden.55 Siemsens Europa-Ideen orientierten sich kaum an realpolitischen Möglichkeiten. Diese wurden in ihrer Argumentation nahezu ausgeblendet. Es war die Internationale der Arbeiter, die einer Einigung Europas übergeordnet wurde. Eine „Neuorganisation Europas als solidarische Förderation [sic]“ konnte erst die Folge dieser Internationale sein.56 Ihren Ausführungen ist zu entnehmen, dass diese „solidarische Föderation“ auf einer wirtschaftlichen Einigung und einer Aufgabe nationalstaatlicher Souveränität beruhen müsse. Konkretere Ideen zur politisch-institutionellen Ausgestaltung formulierte Siemsen jedoch nicht. Stattdessen machte sie Vorschläge, wie die Internationale der Arbeiter erreicht werden könne: „Voraussetzung aller internationalen Arbeit ist die Weckung und Stärkung des internationalen Bewußtseins […] durch stete Schulung an praktischen Fragen des internationalen Kampfes, durch Gewöhnung an politische Stellungnahme unter internationalen Gesichtspunkten und durch nüchterne Einsicht in die Hemmungen und Förderungen, welche dem proletarischen Freiheitskampfe der Einzelländer durch die Lage und die soziale Reife oder Unreife des Proletariats auf der gesamten Erde erwachsen.“57 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Ebd., S. 82. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82. Ebd., S. 151. Ebd., S. 152. Ebd., S. 154. Ebd., S. 153. Ebd., S. 154. Ebd., S. 82. Ebd., S. 84.

3.1 Heimat Europa

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Die Zielsetzung, das internationale Bewusstsein zu wecken und zu stärken, verfolgte Siemsen auch mit ihren beiden folgenden umfangreichen Monographien Daheim in Europa und Deutschland zwischen gestern und morgen. Konkrete Vorstellungen von einem föderalen Europa, das unter Aufgabe der nationalstaatlichen Souveränität wirtschaftlich und politisch geeint sein müsse, sollte Siemsen erst in ihren späteren Europa-Konzepten im Exil formulieren. 3.1 HEIMAT EUROPA Im gleichen Jahr, in dem Siemsen in den Reichstag gewählt wurde, veröffentlichte sie ihr Buch Daheim in Europa. Als es 1928 erschien, jährte sich das Ende des Ersten Weltkrieges zum zehnten Mal. Siemsen hatte diesen Zeitpunkt wohl nicht zufällig gewählt. Sie betonte die zwingende Notwendigkeit für neue gesellschaftliche und politische Reformen, bezog sich explizit auf den Ersten Weltkrieg und umriss damit zugleich die politische Zielsetzung ihres Buches: „Der Krieg hat uns in Reih und Glied gestellt mit allen Kameraden der Menschheit, mit allen, die sich an die schwere Arbeit gemacht haben, nicht das alte Europa wieder aufzubauen, sondern ein neues Europa zu erobern, ein Europa, das wir lieben können, ein Europa, das unseren Kindern Heimat sein wird.“58

Siemsen forderte mit ihren Ausführungen ein sozialistisches Europa, das von einer geeinten Arbeiterschaft errichtet werden sollte. Sie wandte sich damit gegen ein „bürgerliches“ Europa, das den Krieg entfesselt habe und nun überwunden werden müsse. Zu diesem Zweck wollte sie gerade bei den Jugendlichen aus den Arbeiterschichten ein internationales Bewusstsein wecken.59 Siemsen entwarf dafür ein Europa-Konzept, das stark auf bildungsbürgerlichen Deutungstraditionen fußte. Sie vermittelte ihre politischen Ordnungsvorstellungen über den zeitgenössisch anschlussfähigen Heimatbegriff, der seit Ende des Ersten Weltkrieges „zu einer Leitkategorie des Denkens vor allem in bürgerlichen Kreisen“ avancierte.60 Siemsen nutzte den Heimatbegriff, um „Heimat […] als Raum des Eigenen gegenüber dem Fremden [zu] konstituieren, als Community oder Netzwerk von Menschen gleicher Interessen, Dispositionen, Bestrebungen, die sich dadurch gegen andere abgrenzen“.61 58 Siemsen: Daheim, S. 171. 59 Zeitgenössisch wurde das Buch unter dem Aspekt „Marxistisches Schauen“ rezensiert: O.[tto] Jenssen: Marxistisches Schauen, in: Der Klassenkampf 2 (1928), Heft 19, S. 597–599, hier S. 599. Im Rückgriff auf Jenssen auch Sänger: Anna Siemsen, S. 193. 60 Martina Steber: „Heimatmenschen wollen wir erziehen …“. Menschenideale in Weimarer Konzeptionen der Heimatkunde, in: Gerstner, Könczöl und Nentwig: Der neue Mensch, S. 123–138, hier S. 123. 61 So ein Definitionsvorschlag für den Heimatbegriff, den Wolfgang Benz formuliert hat. Benz konzentriert sich in seinem Aufsatz hauptsächlich auf den Heimatbegriff der völkischen Rechten, die ihn als „Kampfbegriff“ eingesetzt hätten: Wolfgang Benz: „Heimat“ als Metapher im Diskurs der völkischen Rechten, in: Michael Kohlstruck und Andreas Klärner (Hg.): Ausschluss und Feindschaft. Studien zu Antisemitismus und Rechtsextremismus. Rainer Erb zum 65. Geburtstag, Berlin 2011, S. 124–134, hier S. 124 f.

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Dafür führte Siemsen in ihrer Darstellung vier Dualismen an. Der erste Dualismus bestand aus einer Gegenüberstellung von Arbeiterschaft und Bürgertum. Die Arbeiter symbolisierten jene Gruppe von Menschen, über die „Heimat“ in Abgrenzung zum Fremdem, zum „Bürgerlichen“ definiert wurde. Der zweite Dualismus bestand aus einer Gegenüberstellung von naturbedingten Grenzen und machtstaatlichen bzw. nationalstaatlichen Grenzen. Dieser Dualismus war am stärksten ausgeprägt. Der dritte Dualismus wurde über eine West- und Ost-Europa-Konzeption in die Argumentation eingeführt. Der vierte Dualismus, der im Gegensatz zu den anderen aber weniger stark ausgeprägt war, enthielt die Betonung eines weiblich konnotierten Europas, das im Gegensatz zu einem männlich konnotierten Europa der „Vaterländer“ stand. Das Buch gliederte Siemsen in 29 Kapitel, die in Essayform geschrieben und jeweils in sich abgeschlossen waren. Gegenstand der Darstellung waren europäische Städte, Landschaften, Sehenswürdigkeiten oder auch Naturphänomene, in deren Beschreibung Siemsen stets politische Botschaften einflocht. Die erwähnten Orte befanden sich in Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Italien, Österreich, in der Schweiz und in der damaligen Tschechoslowakei. Am meisten Aufmerksamkeit wurde den Ländern Deutschland, Frankreich und Italien geschenkt. Stets bettete sie das Beschriebene in größere wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge ein.62 Die von Siemsen beschriebenen Landschaften und Sehenswürdigkeiten wurden zwar in einen nationalen Kontext eingeordnet. Im Mittelpunkt standen aber, wie so oft in ihren Darstellungen, die Grundbedingungen menschlicher Existenz und Arbeit. Diese wurden in geschichtlichen Rückblicken, in Zukunftsprognosen oder in Gegenwartsdiagnosen beschrieben. Obwohl die einzelnen Kapitel auf den ersten Blick scheinbar unverbunden aneinandergereiht wurden, folgte Siemsen insgesamt doch einer inneren Logik: Die Kapitel waren thematisch gruppiert, was aus dem Inhaltsverzeichnis nicht auf den ersten Blick hervorgeht. In den ersten Kapiteln, zu denen etwa Die völkerverbindenden Meere oder Sonne und Nebel gehörten, beschrieb Siemsen Naturphänomene, die als überzeitliche Phänomene das Leben der Menschen von jeher geprägt hätten. In den folgenden Kapiteln wie Bauernland oder Winterreise ging es um die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse. In den weiteren Kapiteln behandelte sie politische Denkmäler und nationale Überlieferungen, wobei das Verhältnis von Deutschland und Frankreich das Hauptthema darstellte. Den Mittelpunkt des Buches bildete das Kapitel Die verlassene Stadt. Hierin beschrieb Siemsen die Ende des 19. Jahrhunderts durch ein Erdbeben zerstörte italienische Ortschaft Bussana, von der sie berichten konnte, dass in den Trümmern immer noch Menschen, vor allem Kinder, leben würden. Siemsen wertete dies als hoffnungsvollen Ausdruck dafür, dass eine neue Generation Menschen heranwachse und dadurch Leben nach einer Zerstörung möglich sei.63 Dieses Kapitel bildete den Auftakt für die Kapitel, in denen Siemsen nun durch geschichtliche Rückgriffe am Beispiel von Brügge, Genua und dem Lon62 Siehe zur Inhaltsbeschreibung: Sänger: Anna Siemsen, S. 193–195. 63 Siemsen: Daheim, S. 84.

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doner Tower die zerstörerischen Folgen von Kapitalismus, Macht und Herrschaft beschrieb. In den nächsten Kapiteln, zu denen Vergangene Kämpfe? Kämpfe der Zukunft? gehörte, setzte Siemsen Geschichte und Gegenwart in Beziehung miteinander und stellte die zeitgenössische Gegenwart als eine Übergangszeit dar. So beschrieb sie etwa am Beispiel von „Familie Kahl“ das armselige Leben der Arbeiterschichten in den „Slums“,64 sah aber auch, wie in Wien, durch die Organisation der dortigen Arbeiterschaft den Beginn einer neuen Ära heraufziehen.65 In den letzten Kapiteln stellte sie historische Personen wie beispielsweise Pestalozzi66 oder zeitgenössische Errungenschaften wie Arbeiterschulen in England vor,67 die sie als wegweisend für zukünftige erhoffte Entwicklungen betrachtete. Siemsen verarbeitete in ihrem Buch eigene Reiseeindrücke, die sie auf ihren Fahrten ins europäische Ausland gesammelt hatte. Seit ihrer Versetzung in den „einstweiligen Wartestand“ Ende 1924 war sie viel gereist. Aus den Materialien in ihrem Teilnachlass im Archiv der sozialen Demokratie geht hervor, dass sie zwischen 1925 und 1928 vor allem die Schweiz, England und Italien besucht hatte. Manchmal fuhr Siemsen zur Erholung oder Genesung fort oder begleitete ihre Mutter auf Erholungsfahrten. Meist jedoch fuhr sie im Rahmen ihrer sozialistischen Bildungsarbeit ins Ausland.68 Mit dem Untertitel „Unliterarische Streifzüge“ verwies Siemsen auf ihre vorige Veröffentlichung von 1925, die Literarischen Streifzüge. Damit stellte sie ihr Reisebuch in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den Literarischen Streifzügen, machte aber zugleich einem Lesepublikum, das ihr voriges Buch kannte, durch den Untertitel deutlich, dass sie hier nun eine andere Schwerpunktsetzung verfolgte.69 Anders als in den Literarischen Streifzügen stand hier keine europäische Entwicklungsgeschichte im Vordergrund, sondern die Darstellung eines zeitgenössischen Europas, das sich durch Einheit und Gemeinschaft auszeichne. Siemsen glaubte zwar, dass auch durch die Literatur gesellschaftliche und politische Entwicklungen „erlebbar“ sein würden, wollte nun aber das „Erleben “ durch eigene Reisetätigkeit hervorheben. Entsprechend wurden vor allem eigene Reiseeindrücke, nicht aber literarische Zeugnisse oder Schriftsteller vorgestellt. Um ein europäisches Bewusstsein zu entwickeln, hielt Siemsen das Reisen für unerlässlich. Sie glaubte, Reiseberichte allein würden nicht ausreichen, um „uns untereinander kennen [zu] lernen“.70 Deswegen betonte sie: „Sehen und Hören allein tut es nicht. Allen Bildern und Geschichten fehlt die Stärke des eigenen Erle64 65 66 67 68

Ebd., S. 112. Ebd., S. 110. Vgl. dazu das Kapitel Im Vorübergehn, in: ebd., S. 136–140. Vgl. das Kapitel Schulen, in: ebd., S. 150–155. Das geht aus Siemsens Postkarten und Briefen an den mit ihr befreundeten Genossen „Grönlein“ hervor, die in ihrem Teilnachlass im AdsD verwahrt sind. Vgl. zu Siemsens Reisetätigkeit auch Christoph Sänger: Anna Siemsen, S. 193. 69 Christoph Sänger bewertet Daheim in Europa als „Abgrenzung“ zu den Literarischen Streifzügen: Sänger: Anna Siemsen, S. 192. Daheim in Europa stellt vielmehr eine Ergänzung zu den Literarischen Streifzügen dar. Die Intention und die Leitideen, die Siemsens Ausführungen zugrunde liegen, blieben dieselben. Nur die Konzeption beider Bücher ist jeweils eine andere. 70 Siemsen: Daheim, S. 12.

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bens. Luft und Licht, Duft und Farbe des Lebens können sie nicht geben und vor allem nicht das Wertvollste auf allen Reisen, den Umgang mit Menschen.“71 Sie wollte mit ihrem Buch zum Reisen auffordern und „den jungen Menschen auf der Erde heimisch […] machen“.72 Mit der Übernahme des Reisemotivs griff Siemsen ein zeitgenössisch aktuelles gesellschaftliches Thema auf. In der Weimarer Republik war das Reisen erstmals nicht mehr nur den besitzenden Schichten möglich, sondern wurde zu einem Massenphänomen. Krieg und Inflation führten dazu, dass die Hotelbetreiber und Reiseveranstalter nun auch weniger finanzkräftige Kunden ansprechen mussten. Hinzu kamen arbeitsrechtliche Verbesserungen, die den Arbeitern und kleineren Beamten gesicherte Urlaubszeiten ermöglichten. Nicht zuletzt sorgte auch die Ausdifferenzierung von Lebensstilen dafür, dass das Reisen im Rahmen einer neuen Freizeitkultur populär geworden war.73 „Heimat“ war der zentrale Begriff, der nicht nur im Titel, sondern auch im Verlauf von Siemsens Ausführungen immer wieder auftauchte. Europa wurde als „Heimat“ charakterisiert. Damit verwies Siemsen implizit darauf, dass es sich nicht um eine geographische Europa-Reise handelte, sondern vor allem um politische Ideen, die sich auf Europa als vorgestellten Raum bezogen. Heimat fungierte daher als ein politischer Begriff. Er war zugleich ein emotionalisierter Begriff, den Siemsen zu pädagogischen Zwecken einsetzte. Wie schon in ihrem Artikel Ich suche Europa, in dem Europa selbst emotionalisiert worden war, wurde nun der Heimatbegriff genutzt, um politische Zielvorstellungen zu formulieren. „Heimat“ bedeutete zunächst gegenseitiges Kennenlernen, Vertrautheit und, wie Siemsen schrieb, „Sehnsucht nach gemeinsamer gegenseitiger Hilfe“.74 „Heimat“ war das Gegenteil von Fremdheit, „Mißtrauen und Furcht und Gewalttat“.75 Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Heimat“ fand bereits im 19. Jahrhundert statt. Zunächst war Heimat „ein staatsrechtlicher Terminus“. Seine politische Relevanz erhielt er ebenfalls im 19. Jahrhundert aufgrund der Übernahme in kulturkritische Auseinandersetzungen, in denen ihm eine Vielzahl von Deutungen zugeschrieben wurde.76 Heimat galt angesichts von Urbanisierung, Industrialisie71 Ebd., S. 14. 72 Ebd. 73 Zu den Ursachen des beginnenden Massentourismus in der Weimarer Republik siehe: Christine Keitz: Die Anfänge des modernen Massentourismus in der Weimarer Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 33 (1993), S. 179–209, hier S. 182–189. Vgl. auch dies.: Reisen als Leitbild. Die Entstehung des modernen Massentourismus in Deutschland, München 1997, S. 15 f. Vgl. auch das Kapitel über Arbeiterreisen bei Buschak: Die Vereinigten Staaten, S. 271–344. 74 Siemsen: Daheim, S. 15. 75 Ebd., S. 7. 76 Marita Krauss: Heimat – Begriff und Erfahrung, in: Hermann Haarmann (Hg.): Heimat, liebe Heimat. Exil und innere Emigration (1933–1945). Das 3. Berliner Symposion (akte exil, Bd. 9), Berlin 2004, S. 11–27, hier S. 11 f. Zitat auf S. 11 und Elisabeth Boa und Rachel Palfreyman: Heimat a German Dream. Regional Loyalties and National Identity in German Culture 1890–1990 (Oxford Studies in modern European Culture), Oxford und New York 2000, S. 1. Boa und Palfreyman verweisen ebd. auf die Bedeutungsvielfalt des Heimatbegriffs, die nur in der deutschen Sprache anzutreffen sei. Daher gebe es keine angemessene englische Übersetzung des Begriffs. Zum Heimatbegriff in anderen Sprachen vgl. auch Peter Blickle:

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rung und wachsender Mobilität der Menschen zusehends als schützenswert, worin sich der Wunsch nach Stabilität und Kontinuität in einer zunehmend unübersichtlich empfundenen Welt ausdrückte. Im Rahmen der Lebensreformbewegung entwickelte sich deshalb eine Natur- und Heimatschutzbewegung, die aus einer Vielzahl von Vereinen und Initiativen bestand.77 Der Heimatbegriff hing eng mit dem Raumbegriff zusammen. Seit sich der Begriff Heimat um 1800 vor allem in deutschsprachigen Gebieten durchsetzte, definierte er stets ein „Näheverhältnis von Mensch und Raum“, das verschiedene Identifikationspotentiale bot.78 Vor allem in Zeiten des politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Umbruchs, in denen die bislang gedachte „Einheit von Person und Umwelt“79 zu zerbrechen drohte, setzte eine verstärkte Reflexion über Heimat ein, über die bestimmte Ordnungsvorstellungen oder Utopien verhandelt wurden.80 Die um 1900 entstandene Heimatbewegung war aufgrund ihrer programmatischen Offenheit zunächst anschlussfähig für verschiedene politische Richtungen.81 Der 1904 gegründete Deutsche Bund Heimatschutz fungierte als übergreifender Verband vielfältiger Heimatschutzbestrebungen. Nach dem Ersten Weltkrieg richtete sich der Bund aber völkisch-national aus.82 Insbesondere die Lehrerschaft nahm den Heimatgedanken auf, was sich auch in den Leitsätzen der Reichsschulkonferenz von 1920 niederschlug, in denen für Heimatkundeunterricht plädiert wurde. Die sogenannte Heimatkunde wurde vor allem in Volksschulen gelehrt.83 Hinter dem Heimatkundekonzept stand die ideologische Vorstellung, durch Heimaterziehung eine Erneuerung der deutschen Nation im Sinne der Volksgemeinschaft zu erreichen. Die Heimat diente dabei als Gegenmodell zu den angenommenen Verfallserscheinungen und Krisen der zeitgenössischen Gegenwart. Sie war ein ganzheitlich gedachtes Konstrukt, durch das der Mensch Teil des „Volkskörpers“ werden sollte. In der „Heimat“, so das Postulat der völkischen oder nationalkonservativ ausgerichteten Reformpädagogik, „existiere der Mensch innerhalb seiner natürlich

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78 79 80 81 82 83

Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland (Studies in German literature, linguistics, and culture), Rochester 2002, S. 2 f. Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Heimatdenken. Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung, in: dies. (Hg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld 2007, S. 9–56, hier S. 27 f.; Jens Korfkamp: Die Erfindung der Heimat. Zu Geschichte, Gegenwart und politischen Implikationen einer gesellschaftlichen Konstruktion, Berlin 2006, S. 45 f. und Thomas Rohkrämer: Bewahrung, Neugestaltung, Restauration? Konservative Raum- und Heimatvorstellungen 1900 bis 1933, in: Hardtwig: Ordnungen in der Krise, S. 49–68, hier S. 55. Gebhard, Geisler, und Schröter: Heimatdenken, S. 10. Ebd., S. 14. Rohkrämer: Bewahrung, S. 56. Ebd., S. 58. Steber: Heimatmenschen, S. 125 im Rückgriff auf Winfried Speitkamp: Denkmalpflege und Heimatschutz in Deutschland zwischen Kulturkritik und Nationalsozialismus, in: Archiv für Kulturgeschichte 70 (1988), Heft 1, S. 149–193, hier S. 164. Steber: Heimatmenschen, S. 124 und 129.

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gegebenen Sinnbezüge“.84 Durch Heimaterziehung sollte „Heimat“ als „subjektiv erfahrbarer Raum“ dienen, in dem die „vielfältigen Beziehungen“ des Menschen zusammenlaufen würden.85 Siemsen hatte sich zu Beginn der 1920er Jahre gegen die mehrheitliche Auffassung über den Heimatkundeunterricht gestellt und seinen lebensfernen Charakter kritisiert. Heimat bedeutete für sie nicht „Nation“ und „Volk“, sondern „Leben“ und „Arbeit“: „Heimat erblüht einem nur aus Leben und Arbeit. Darum sollte man alle unsere Schulkinder in Gärten setzen, […] sollte sie arbeiten lassen und ihnen helfen zu beobachten, wie ihre Arbeit wächst und gedeiht. Dann erst, wenn sie sich selbst ein Fleckchen Erde zubereitet und wenn sie in diesem ihrem Werk zu Hause wären, sollte man sie lehren und die Augen aufsperren und sehen, wie auch um sie her aus dem Boden heraus und der Erde, dem Himmel, den Pflanzen und Tieren angepaßt, sich die Arbeit der Menschen entwickelt hat – gleich ihrer eigenen Arbeit.“86

Sie warnte davor, die Nation oder eine bestimmte Region zum heimatlichen Maßstab zu nehmen, weil der Mensch dadurch „beschränkt, engherzig und einseitig auf eine kleine Gegenwart eingestellt“ sei. Sie plädierte stattdessen für einen „wahrhaft guten Heimat- und Weltbürgergeist, der […] auch dem Fernsten und Fremdesten mit Liebe oder doch mit Verständnis zu begegnen“ suche.87 Sieben Jahre später schränkte Siemsen ihren Heimatbegriff aber ein. Obwohl sie manchmal auch von der gesamten Erde sprach, umfasste der Heimatbegriff in ihren Ausführungen eben nicht die ganze Welt, sondern vorerst nur Europa. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Heimatkonzepten bezog sich Siemsen mit ihrem Heimatbegriff nicht auf das Volk, sondern auf die Arbeiter, die Träger des Heimatgedankens sein sollten. „Heimat“ definierte sie nicht über die Nationszugehörigkeit, wie es die meisten anderen Heimat-Verfechter taten, sondern über die gesellschaftliche Klassenlage. Siemsen versuchte also mit diesen Aspekten, den Heimatbegriff in Abgrenzung zu völkisch-nationalen Deutungen zu konzipieren. Mit den anderen Heimatkonzepten hatte Siemsen aber gemein, dass auch sie glaubte, nur in der „Heimat“ könne der Mensch in seinen vermeintlich „natürlich gegebenen Sinnbezüge[n]“ existieren.88 Bei ihr waren diese Sinnbezüge „Leben“ und „Arbeit“. Siemsens Konzeption ihres Buches ähnelte den Reisebildern von Heinrich Heine (1797–1856), die er zwischen 1826 und 1831 veröffentlicht hatte. Mit den Reisebildern stand Heine an der Schwelle zu jener Europa-Publizistik, in der ab den 1820er Jahren die zeitgenössischen politischen „Entwicklungsmöglichkeiten“ Europas verstärkt thematisiert wurden. Heine hatte in den Reisebildern eigene, aber auch fiktive Reiseeindrücke aus europäischen Ländern niedergeschrieben und diese „Länder unter dem Aspekt der aktiven Beförderung der bürgerlichen Emanzipationsbewegung“ hin befragt.89 Für Heine war der Ausgangspunkt für diese Entwicklung die Verkündung der Menschenrechte gewesen, die sich, getragen durch die 84 85 86 87 88 89

Ebd., S. 126 f. Zitat auf S. 126. Ebd., S. 131. Anna Siemsen: Schule und Heimat, in: Der Elternbeirat 2 (1921), S. 5–7, hier S. 6. Ebd., S. 7. Steber: Heimatmenschen, S. 126. Lützeler: Das Europa der Schriftsteller, S. 93 f. Zitate auf S. 93.

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verschiedenen Völker, universal durchsetzen würden. Dabei glaubte er, dass sich „die Freiheitsidee“ besonders stark in Frankreich manifestiert habe. Deutschland zeichnete sich für Heine dagegen noch durch einen starken Autoritätsgehorsam aus, der überwunden werden müsse.90 Diese Sichtweise übertrug Siemsen nun auf die zeitgenössische Gegenwart und führte aus: „In Deutschland haben die fünf Jahrzehnte Kaisertum eine Masse derartiger Überlieferungen geschaffen, die wie ein Alp auf uns liegen.“ Sie meinte damit machtstaatliche Überlieferungen in allen deutschen Städten, die „Paradeplätze für bronzene und steinerne Fürsten und Generale [sic]“ seien. „[D]ie paar revolutionären Unterbrechungen“ würden „glatt darin versinken“.91 Anders bewertete Siemsen hingegen die revolutionäre Überlieferung in Frankreich, die sehr lebendig sei. Sie führte beispielsweise das Bild von Delacroix Die Freiheit führt das Volk im Louvre an, das die Pariser Revolution von 1830 zeigt. „Das Bild“, so Siemsen, sei „in tausenden von Reproduktionen durch ganz Frankreich verbreitet. Alle Arbeiter Europas kennen es. Aber hier hat’s seine Heimat, hier gehört es zur nationalen, zur staatlich anerkannten Ueberlieferung“.92 Was für Heine noch die bürgerliche Emanzipationsbewegung gewesen war, wurde in Siemsens Ausführungen die Emanzipation der Arbeiter durch ihre internationale Organisation und Zusammenarbeit. Die Idee der Freiheit bzw. der Herrschaftslosigkeit, die Siemsen mit ihrem Gemeinschaftsbegriff verbunden hatte, wurde in ihrem Buch zum Begriff der Heimat umgewandelt, die von den Arbeitern geschaffen werden sollte. 3.1.1 Ein Europa der Arbeiterschaft Die Arbeiterschaft war für Siemsen „die erdumfassende und zukunftsgerichtetste Klasse“. Deswegen waren es die Arbeiter, die in Europa eine neue „Heimat“, eine über nationale Grenzen hinausreichende freiheitliche Lebensordnung realisieren sollten. Gerade unter den Arbeitern erwachse „aus der Not, der der Einzelne hilflos gegenübersteht, die Sehnsucht nach gemeinsamer gegenseitiger Hilfe“. Diese Erkenntnis wollte Siemsen mit ihrem Buch verbreiten und ein „Bewußtsein“ wecken, das „zur internationalen Zusammenarbeit führen“ sollte.93 Überall gebe es Menschen, deren „Alltag voll Mühsal und Unrecht“ sei und die auf der Suche nach einem „anderen Leben, nach einer Heimat der Menschen“ durch die „Gemeinschaft 90 Ebd., S. 95. 91 Siemsen: Daheim in Europa, S. 65. 92 Ebd., S. 68. Das Bild gilt traditionell als „Synonym für Revolution, Freiheit und Demokratie“. Vgl. Bärbel Kuhn: Eugène Delacroix: Die Freiheit führt das Volk, 28. Juli 1830, in: Michael Wobring und Susanne Popp (Hg.): Der europäische Bildersaal. Europa und seine Bilder. Analyse und Interpretation zentraler Bildquellen, Schwalbach/Taunus 2014, S. 74–84, hier S. 74. Es gehört heute zu den Bildern, die in den europäischen Ländern am häufigsten in Schulbüchern zu finden sind: Michael Wobring und Susanne Popp: Einführung in den „europäischen Bildersaal“, in: ebd., S. 4–15, hier S. 4. 93 Siemsen: Daheim in Europa, S. 15.

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[ihres] Geistes und Willens“ in Europa „zu Hause“ seien.94 Wie diese Zusammenarbeit genau auszusehen habe, führte Siemsen nicht aus. Sie betonte aber, dass die „Heimat“ zu „erkämpfen und erbauen“ sei.95 Um eine „Zusammenarbeit“ der internationalen Arbeiterschaft zu erreichen, hielt sie es für wichtig, dass gerade der Arbeiter reise. Siemsen glaubte, dass dadurch nicht nur „Mühsal“, „Unrecht“, „Furcht“ und Isolation unter den Menschen überwunden, sondern sogar der Weltfrieden erreicht werden könne: „Je mehr wir uns untereinander kennen lernen, desto sicherer werden wir uns verstehen, desto müheloser werden wir auch zusammen arbeiten. Jeder, der dahin arbeitet, daß der Arbeiter reist, fremdes Land und andere Menschen kennen lernt, trägt bei zur endlichen Befriedung der Erde.“96

Siemsen führte in ihrem Buch „völkerverbindende“ Aspekte an, um Gemeinsamkeiten in Europa herausstellen und ihrer Zielgruppe dadurch eine mögliche Voreingenommenheit oder Scheu gegenüber fremden Ländern und Menschen zu nehmen. „Mittelmeer, Ostsee und Nordsee“ charakterisierte sie etwa als „die großen Sammelbecken der Völker und Kulturen“.97 Alte Handelsstraßen, Wanderwege und Gebirgspässe waren für Siemsen „ein Denkmal menschlicher Arbeit und menschlichen Heldentums, menschlichen Gemeinschaftswillens und der langsamen Eroberung dieser Erde“.98 Straßen hatten damit für Siemsen eine überzeitliche Bedeutung, da sie die Grundbedingungen menschlicher Existenz in Erinnerung rufen würden. Sie erklärte Straßen auch zu Trägern politischer Entwicklungen: „Auf ihnen lernte Europa sich kennen. Auf ihnen wandelte die Revolution, erst der Wirtschaft, dann des Geistes, dann der politischen Macht. Auf ihnen wurde das Europa von heute geboren.“99 Siemsen bedauerte, dass diese Erkenntnisse verschüttet worden seien durch die „Angst ums Brot“ und durch die „Gier nach Macht und Geld“.100 Neben völkerverbindenden Aspekten hob sie am Beispiel von Italien auch die aus ihrer Sicht positiven Aspekte von „Völkervermischungen“ hervor. In der Lombardei um Mailand herum, so glaubte Siemsen, wohne durch die geschichtliche Entwicklung dieser Region „die bunteste Blut- und Volksmischung in Europa“. Dadurch sei „[e]in zähes, nüchternes, gesundes Geschlecht“ der lombardischen Bauern und Arbeiter hervorgegangen, von denen sie hoffte, sie würden auch unter Mussolini „die alte geduldige Kraft beweisen“.101 Die Bewohner der Lombardei wurden als eine Menschengruppe charakterisiert, die durch ihre genetische Vielfalt über konkreten politischen Entwicklungen wie etwa Mussolinis diktatorischer Herrschaft erhaben sei und durch ihr „zähes“ und „gesundes“ Wesen kaum davon tan94 Ebd., S. 7. 95 Ebd. 96 Ebd., S. 12. 97 Ebd., S. 26. 98 Ebd., S. 32. 99 Ebd., S. 27. 100 Ebd., S. 32. 101 Ebd., S. 44.

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giert werde. Siemsen stellte mit diesen Ausführungen ein herrschendes Deutungsmuster infrage. Im sogenannten „Rassediskurs“ der 1920er und 1930er Jahre wurden „Vermischungen“ mit der Idee „eines psychologischen und ethischen Niedergangs“ und deshalb mit einem politischen Untergang verbunden.102 Prägend für diese Sichtweise war das 1926 erstmals erschienene Buch Rasse und Seele des Psychologen Ludwig Ferdinand Clauß (1892–1974), das bis in die 1940er Jahre hinein aufgelegt wurde. In dem Buch waren als wissenschaftlich geltende humanbiologische Ansätze mit psychologischen und ethischen Aspekten verknüpft worden.103 Die Vorstellung, nur Menschen der gleichen „Rasse“ könnten aufgrund ihrer gleichen biologischen, psychologischen und ethischen Disposition miteinander in Beziehung treten, wurde auch von anderen Rassetheoretikern „zur Schicksalsfrage einer Nation und Gemeinschaft“ erklärt.104 Die zeitgenössische Furcht vor einer umfassenden Heterogenität und vor dem daraus resultierenden gesellschaftlichen und nationalen Zerfall durch „Vermischung“ wurde von Siemsen umgedeutet. „Völkervermischungen“ bewertete sie positiv, indem sie die ursprüngliche Heterogenität zu einer Homogenität erhob, die im Falle der „zähen“ und „gesunden“ lombardischen Bauern vorbildliche politische Werte enthielt. Denn Siemsen hoffte ja gerade, dass diese Bevölkerungsgruppe durch ihre angenommenen biologisch-psychologischen Eigenschaften Mussolini überdauern könnte. Diese Eigenschaften der „Zähigkeit“ und „Gesundheit“ prägten laut Siemsen auch die italienische Landschaft, die ein Produkt menschlicher Arbeit mit der Natur sei: „Der italienische Bauer und Gärtner, der italienische Straßenarbeiter, sie sind es, die durch Jahrtausende ihr Land zu dem schönen Garten gemacht haben, den wir lieben.“ Von „allen Kaisern, Heerführern, Diplomaten und großen Kaufleuten“ sei dagegen kaum etwas geblieben.105 Siemsen grenzte sich damit von herrschenden Geschichtsdeutungen ab, in denen den gesellschaftlichen Eliten die Handlungsmacht in der Geschichte zugesprochen wurde. Bei ihr waren es die Arbeiter. Sie wollte damit zeigen, dass Aspekte wie Macht, Krieg, Nationalismus und Kapitalismus im Gegensatz zur menschlichen Gemeinschaftsarbeit nicht überdauern könnten. Eine ähnliche Aussage traf sie mit ihrer Schilderung eines Museums, das sie im Harz besucht hatte. In seiner völkerkundlichen Abteilung entdeckte Siemsen „Arbeit und Kunst von fünf Erdteilen und von fünf Jahrtausenden“, worin sie „unser aller menschliches Schicksal“ erkannte: „Mühsal und Kampf mit der harten Natur, Kampf der Menschen untereinander, siegreicher Kampf der Arbeit und namentlich des Geistes mit der drängenden Not. Uebermut der Mächtigen, der doch – wie bald – im Tode erstarrte.“106 Von Siemsen als negativ bewertete politische Zustände, die sich etwa durch Herrschaftsverhältnisse auszeichnen würden, wurden so darge102 Oliver Kohns: Reinheit als hermeneutisches und als paranoides Kalkül. Der Rassediskurs der 1920er und ’30er Jahre, in: Weimarer Beiträge 54 (2008), Heft 3, S. 365–385, hier S. 377. 103 Ebd., S. 365 und 377. 104 Ebd., S. 377. 105 Siemsen: Daheim in Europa, S. 49 f. 106 Ebd., S. 59.

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stellt, als ob sie Übergangsphänomene seien, über die die universale Menschheitsentwicklung hinübergehen werde. Daher war Venedig für Siemsen auch „eine tote Stadt, ein Mausoleum“, weil von ihr angeblich „der Kapitalismus mit all seinem Zauber, seinem Elend und Unrecht in die Welt gegangen“ sei.107 Genua fand Siemsen hingegen lebendig, weil gegenwärtig „von ihm die Schiffe in alle Meere und nach allen Erdteilen“ fahren würden108 und die Matrosen, „das Herz voll Europasehnsucht, hier zum erstenmal das alte Land begrüßen“.109 Zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählte Siemsen neben der gegenseitigen „Hilfsbereitschaft“ und dem „Kennenlernen“ auch das Reisen selbst. Reisen war für sie ebenso wie der Kampf mit der Natur ein überzeitliches Phänomen. Sie betonte, der Mensch habe erreicht, „über die ganze Erde vorzudringen und sich allen wechselnden Verhältnissen anzupassen“. Es sei „unsere menschliche Bestimmung, […] die ganze Erde zu unserer Heimat zu machen“.110 Da gerade die Arbeiterschaft ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Solidarität habe und dieses nur durch gegenseitiges Kennenlernen befriedigt werden könne, war die Arbeiterschaft in Siemsens Sicht besonders prädestiniert zu reisen. Sie bedauerte daher, dass das Reisen nach wie vor eines der „vielen Vorrechte der Reichen“ sei.111 Sie kritisierte das alleinige Existieren von Reiseführern nach Art des Baedeker,112 der ausschließlich für das Bürgertum und das bürgerliche Reisen konzipiert sei und keinerlei Informationen und Anhaltspunkte über die Bedürfnisse und Interessen der reisenden Arbeiterklasse enthalte: „Daß der Baedeker nichts erzählt von der Arbeiterbewegung und ihrer Geschichte, daß Gewerkschaftshäuser nicht für ihn existieren, versteht sich wohl von selbst. […] Dem Baedeker ist daraus kein Vorwurf zu machen. Er ist geschaffen für den europäischen Bürger, weil nur dieser Bürger im vorigen Jahrhundert Reisehandbücher kaufen konnte.“113

Sie forderte deshalb eine sozialistische Reiseliteratur, die neben den Adressen von Gewerkschaftshäusern und sozialistischen Organisationen „dem wandernden Proletarier“ auch vom „Werden einer Landschaft und einer Stadt, von ihrer Arbeit in der Gesellschaft und ihren Kämpfen, ihrer Kultur und Geschichte“ erzähle.114 Siemsens Buch wurde zeitgenössisch als „Reisebuch“115 und als Wanderbuch rezi107 Ebd., S. 94. 108 Ebd., S. 92 109 Ebd., S. 94. 110 Ebd., S. 10. 111 Ebd. 112 Der Baedeker wurde im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Synonym für den Reiseführer. Im Baedeker-Verlag erschien in den 1830er Jahren der erste Reiseführer (über den Rhein), der den Beginn einer neuen Reisekultur markierte, die wiederum eng mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft verbunden war. Siehe dazu: Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945, Frankfurt am Main und New York 2012. 113 Siemsen: Daheim in Europa, S. 21. 114 Ebd., S. 21 f. 115 Siehe Klara M. Faßbinder: Rezension zu Anna Siemsen: Daheim in Europa, in: Literarischer Handweiser 65 (1928/1929), Heft 10, Sp. 769 und Peter Panter [d. i. Kurt Tucholsky]: Auf dem

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piert.116 Die historische und bildungshistorische Forschung bezeichnet es als „Reiseführer“117 oder auch als „Reiseerinnerungen“.118 Siemsen selbst wollte mit ihrem Buch zu einem internationalen Bewusstsein der Arbeiterschichten beitragen. Daher war es ein pädagogisches und politisches Buch und kein Reiseführer, denn es fehlten darin beispielsweise die von ihr selbst eingeforderten Adressen von Gewerkschaftshäusern und anderen sozialistischen Organisationen. Nur vereinzelt wurde Daheim in Europa auch zeitgenössisch als „Erziehungsbuch“ bewertet.119 Obwohl Siemsen keine direkte Verbindung zur „Arbeiterreisebewegung“ hatte,120 verortete sie ihr Buch in diesen zeitgenössisch aktuellen Diskussionen der Arbeiterkulturbewegung über sozialistisches Reisen. Dies tat sie vermutlich deswegen, um ihrem Buch eine größere Anschlussfähigkeit zu verschaffen. In der Arbeiterkulturbewegung wurden Ende der 1920er Jahre Forderungen nach einer sozialistischen Reisekultur laut, in der als Abgrenzung zum bürgerlichen Reisen „die Idee des ‚sozialen Schauensʻ“ in den Mittelpunkt gestellt wurde. Die Arbeiter sollten zum Zweck der politischen Schulung Kenntnis von fremden Ländern mit ihren sozialen und politischen Strukturbedingungen erhalten.121 Ein Reiseführer, der, wie es auch Siemsen gefordert hatte, sich speziell an den vermeintlichen Bedürfnissen des reisenden Arbeiters orientierte, wurde erst zu Beginn der 1930er Jahre konzipiert. 1932 erschien der erste und einzige Arbeiterreiseführer unter dem Titel Dietz Arbeiter Reise- und Wanderführer.122 Bereits vorher hatte die Arbeiterbewegung schon eigene gemeinnützige Reisebüros sowie organisierte Ferienreisen und Reiseveranstaltungen ins Leben gerufen.123 Trotz der geforderten Abgrenzung zum „bürgerlichen“ Reisen unterschieden sich die Arbeiterreisen in der Praxis davon nicht wesentlich. Schon die Reiseziele, die die Arbeiterorganisationen anboten, deckten sich weitestgehend mit den beliebten Reisezielen anderer Reiseveranstalter.124 Nachttisch, in: Die Weltbühne 25 (1929), Heft 9 vom 26. Februar 1929, S. 337–341, hier S. 340. Ferner auch: August Siemsen: Anna Siemsen, S. 137 f. 116 Curt Biging: Rezension zu Anna Siemsen: Daheim in Europa, in: Bücherwarte 3 (1928), Heft 11, S. 346 und N. N.: Rezension zu Anna Siemsen: Daheim in Europa, in: Gewerkschaftliche Rundschau für die Schweiz 21 (1929), Heft 1, S. 32. 117 Sänger: Anna Siemsen, S. 192. 118 Christine Keitz: Reisen zwischen Kultur und Gegenkultur – „Baedeker“ und die ersten Arbeitertouristen in der Weimarer Republik, in: Hasso Spode (Hg.): Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte (Freie Universität Berlin. Institut für Tourismus, Berichte und Materialien, Nr. 11), Berlin 1991, S. 47–60, hier 51. 119 Jenssen: Marxistisches Schauen, S. 599. 120 Christine Keitz: Organisierte Arbeiterreisen und Tourismus in der Weimarer Republik. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung über Voraussetzungen und Praxis des Reisens in der Arbeiterschicht in drei Teilbänden, Dissertation Freie Universität Berlin 1992, Bd. 3, S. 526 [Microfiche-Ausgabe]. Keitz führt darüber keine Belege an. Die Forschungen zu Anna Siemsen haben aber ebenfalls keine konkreten Hinweise auf eine Verbindung zur sozialistischen Reisebewegung ergeben. 121 Keitz: Reisen zwischen Kultur und Gegenkultur, S. 51 122 Ebd., S. 47. 123 Ebd. 124 Ebd., S. 50.

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Dass Siemsen in erster Linie bürgerlichen Deutungstraditionen verhaftet blieb, zeigt sich an der Konzeption ihres Buches, das Ähnlichkeiten mit der frühen Reiseliteratur aufwies, die Ende des 16. Jahrhunderts entstand. Reisen wurden zu dieser Zeit nicht mehr unternommen, um auf Pilgerfahrten zu gehen, sondern um Bildung zu erwerben.125 Die frühneuzeitliche Apodemik126 wurde für junge adlige Männer konzipiert, die anhand dieser Reiseliteratur durch ihre mehrjährigen Bildungsreisen oder die sogenannten Kavalierstouren geführt werden sollten. Die Apodemiken entstanden aus der humanistischen Kritik am tradierten Schulwissen heraus und zielten auf die systematische Vermittlung von Erkenntnissen aus eigenem Erleben und Beobachten ab. Sie enthielten theoretische Reflexionen über den Zweck der Reise, aber auch ähnlich den „modernen“ Reiseführern, die seit dem 19. Jahrhundert entstanden, Darstellungen von Städten, Landschaften und gesellschaftlichen Verhältnissen.127 Die Apodemiken dienten der Vermittlung humanistischer Bildungsideale. Es sollten tradierte Einstellungen und Vorannahmen überwunden werden.128 Auch der Umgang mit den Menschen der bereisten Länder wurde in diesem Zusammenhang explizit gefordert, „um einen ganzheitlichen Eindruck“ von diesen Ländern zu gewinnen.129 Im Zentrum der Apodemiken stand der didaktische Anspruch, die Überzeugung von der „Gleichheit aller Menschen“ durch die Anerkennung fremder Kulturen und Lebensweisen zu fördern.130 In der historischen Reiseforschung wurde die These aufgestellt, die über die Apodemiken geförderte Wahrnehmung anderer Länder habe bei den damaligen „europäischen Führungseliten“ zu ähnlichen „Erfahrungsinhalten und Erfahrungsmethoden“ geführt. Dies habe zu einer schnellen internationalen Verbreitung von „Kulturbewegungen“ wie etwa der Aufklärung und damit „zur europäischen Kultur­ integration“ beigetragen.131 Siemsen verfolgte eine vergleichbare Strategie: Wie der Adlige der Frühen Neuzeit sollte der Arbeiter zu gleichen Wahrnehmungen und Erfahrungsinhalten gelangen, um dadurch die Internationale der Arbeiterschaft zu befördern und den Sozialismus in Europa zu etablieren. Damit stand Daheim in Europa mehr in der Tradition der politisch-didaktischen und nach humanistischen Grundsätzen ausgerichteten Apodemik der Frühen Neuzeit als in der Tradition der 125 Justin Stagl: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800, Köln, Weimar und Wien 2002, S. 71. 126 Der Begriff Apodemik leitet sich vom griechischen apodemein ab, das Reisen bedeutet. Das erste systematische Traktat über das Reisen wurde 1574 von dem Reisemarschall Hieronymus Turtler in Straßburg geschrieben. Dieses Traktat bildete die Vorlage für das Buch Commentariolus des arte Apodemica, das von dem Landshuter Arzt Hilarius Pyrckmair verfasst wurde und schließlich zum Namensgeber der Textgattung wurde. Die Textgattung der Apodemiken bestand bis zum Ende des 18. Jahrhunderts: Wolfgang Günter: Der Nutzen des Reisens. Die frühneuzeitliche Apodemik als Theorie der Erfahrung, in: Spode: Zur Sonne, S. 15–19, hier S.  15 f. 127 Gerald Glaubitz: Geschichte – Landschaft – Reisen. Umrisse einer historisch-politischen Didaktik der Bildungsreise (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 6), Weinheim 1997, S. 333 f. 128 Ebd., S. 335. 129 Ebd., S. 339. 130 Ebd., S. 341. 131 Günter: Der Nutzen des Reisens, S. 18.

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modernen Reiseführerliteratur. Soweit es durch die Einsicht in das Deutsche Bücherverzeichnis nachvollzogen werden kann, erschien bis 1930 kein weiteres Buch neben Daheim in Europa, das sich einer vergleichbaren Thematik widmete.132 Erst 1932 machte der sozialistische Schriftsteller Erich Grisar (1898–1955) „Mit Kamera und Schreibmaschine“ wieder eine Tour „durch Europa“.133 3.1.2 Ein Europa ohne Grenzen Das von Siemsen entworfene Europa, das durch den Heimatbegriff und die internationale Einheit der Arbeiterklasse definiert wurde, besaß keine nationalstaatlichen Grenzen. Alle negativen Eigenschaften, die Siemsen mit der Nationalstaatlichkeit verband, wie etwa Herrschaft und Gewalt, sollten durch die Arbeiter überwunden werden und zu einem universalen Friedenszustand führen. Für Siemsen waren naturbedingte Grenzen wie „Berg- und Hügelkämme“, „Hochebenen und Hochmoore, die die Wasser den verschiedenen Strömen und Meeren zuleiten, […] die einzigen wirklichen Grenzen“. Dabei betonte sie, dass diese Grenzen aber „keine feindlichen Grenzen“ seien, denn die verschiedenen Landschaften und „die großen Stromländer“ seien durch wandernde Menschen miteinander verbunden worden. So habe der Mensch schließlich „den Weinstock an den nordischen Rhein“ gebracht oder „Asiens Pflanzen und Tiere zu europäischem Besitz“ gemacht.134 Wie „natürliche“ oder geographische Bedingungen und Gegebenheiten eine verbindende Funktion übernehmen würden, versuchte sie am Beispiel von Frankreich zu verdeutlichen. Siemsen charakterisierte Frankreich als einen „große[n] Mischkessel, in dem die nördlichen und die südlichen Völker gemischt werden“. Sie begründete dies mit der geographischen Lage Frankreichs, das „ein Doppelgesicht nach zwei Meeren“ habe. „Von Calais ist [es, MvB] ein Katzensprung nach England, und Marsaille [sic] ist ein offenes Tor, durch das Afrika und der Orient nach Europa wandert.“135 Aufgrund geographischer Besonderheiten gebe es auch, so bemerkte Siemsen, „keine Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich“. Es seien die Flüsse, die beide Länder verbinden würden: 132 Deutsches Bücherverzeichnis, eine Zusammenstellung der im deutschen Buchhandel erschienenen Bücher, Zeitschriften und Landkarten, bearbeitet von der Bibliographischen Abteilung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, 15. Band: Stich- und Schlagwortregister 1926–1930, Leipzig 1932. Daheim in Europa ist ebd. vermerkt auf S. 745. 133 Erich Grisar: Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa. Bilder und Berichte von Erich Grisar, Berlin 1932. Den Hinweis auf Erich Grisar gibt Willy Buschak in seinem Aufsatz. Der Gewerkschafts-Historiker hat die Auswertung von Grisars Buch und Siemsens Buch Daheim in Europa als „Forschungsperspektiven“ für die bisher kaum erfolgte Untersuchung touristischer und literarischer Europa-Ideen in der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik hervorgehoben: Buschak: Der große Umbau, S. 41. Ebenfalls 1932 erschien noch ein weiteres Reisebuch, das der Schriftsteller Werner Bergengruen (1892–1964) verfasste: Werner Bergengruen: Baedeker des Herzens. Ein Reiseverführer, Berlin 1932. 134 Siemsen: Daheim in Europa, S. 36. 135 Ebd., S. 75.

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3. Politische Krisenjahre und ein Europa der Einheit (1928 bis 1933) „Auch die Mosel spricht Deutsch und Französisch zugleich, und wenn man sie weit und fröhlich zwischen ihren Bergen, Wäldern und Weingärten hinströmen sieht, dann vergißt man einen Augenblick, daß es Grenzen gibt, die Machtgier und Eigennutz der Menschen aufgerichtet, Unwissenheit, Mißtrauen und Angst erhalten hat.“136

Wurde Frankreich als „Mischkessel“ bezeichnet, so stellte Deutschland ein Übergangsland dar, dessen Aufgabe die „interkontinentale Verbindung“ und die „internationale Vermittlerrolle“ sei. Auch für diese Charakterisierung waren geographische Besonderheiten ausschlaggebend: „Deutschland hat sein Nordseeland, sein Donau- und Mittelmeergebiet in Süddeutschland, und im Osten die großen Wasserstraßen, die es mit Rußland und Asien verbindet.“ Es seien die „Fürsten“ und der „Adel“ gewesen, die durch Machtpolitik und „Unterdrückung“ der Menschen Deutschland aus der „Weltentwicklung“ ausgestoßen hätten.137 In Siemsens Darstellung waren es vor allem ähnliche geographische Besonderheiten, die wesensgleiche Menschen, ihre Lebensumstände, Landschaften und schließlich gesellschaftliche Entwicklung geprägt hätten. „Mit Blut und Rasse hat das wohl wenig zu tun“,138 betonte sie. Dabei war sie in ihren Ausführungen aber nicht ganz konsequent, wie das Beispiel der lombardischen Bauern oder der „Mischkessel“ Frankreich zeigt. Mit diesen Beispielen versuchte Siemsen aber auch, Nähe oder Verwandtschaft zwischen Menschen nicht über die Nations- oder Volkszugehörigkeit zu erklären, sondern über die natürlich-geographischen und kulturellen Besonderheiten. Als Beispiel nannte sie den „Menschenschlag der Nordsee“. Die englischen Matrosen waren für sie die gleichen, „die man in Hamburg, Bremen, Emden, die man in Amsterdam und Rotterdam und auf jedem kleinen friesischen Küstendampfer findet“. Auch den „vielgepriesenen Londoner Polizist[en]“ wollte Siemsen mit seinem norddeutschen „Vetter aus Uebersee einfach austauschen“.139 Sie fand, die Lebensumstände und alltäglichen Gepflogenheiten seien in England und Norddeutschland die gleichen. In England gebe es nicht nur „dieselben einstöckigen Häuser in den langen Straßen der Arbeiterviertel“, man trinke auch „in Emden denselben Tee und denselben steifen Grog […] wie in Ramsgate, den man nirgends im deutschen Binnenlande“ erhalte.140 In Frankreich erkannte Siemsen etwa ähnliche Landschaftsformationen, die sie auch in anderen Ländern vorgefunden habe: „[D]urch den schönen Garten, den Seine und Marne bilden, […] fahren wir immer weiter in Korn- und Weideland. Und schließlich zwischen Backsteindörfern, begrünten Teichen und weidenden Rindern wissen wir nicht mehr, ob wir in Holland sind oder am Lehester Deich in Bremen.“141

Siemsen entwarf mit diesen Schilderungen eine Europa-Vorstellung, in der die Natur bzw. die natürlichen Bedingungen konstitutiv für menschliche Lebensumstände 136 Ebd., S. 78. 137 Ebd., S. 26. 138 Ebd., S. 24. 139 Ebd., S. 23. 140 Ebd., S. 24. 141 Ebd., S. 76.

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und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse waren. Damit griff sie einen Aspekt auf, der in den Heimatkonzepten der 1920er Jahren populär war. „Natur symbolisierte die Nation oder eine Region“ und „stand für ein gemeinsames Gut, das die gesamte Bevölkerung verbinden sollte“.142 Im Gegensatz zu den herrschenden Deutungen wurden natürliche Gegebenheiten bei Siemsen aber angeführt, um nationale Besonderheiten, die eine Nation angeblich einten, infrage zu stellen. Denn wie aus ihren Ausführungen deutlich wurde, bewertete sie die Lebensumstände der Menschen und daher auch die gesellschaftliche Entwicklung in ein und demselben Land, wie beispielsweise in Deutschland, durchaus unterschiedlich. In den Theorien deutscher konservativer Heimatverfechter hing der Heimatgedanke dagegen mit einem Raumkonzept zusammen, das insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg eng mit Machtpolitik, Machtsteigerung und geopolitischen Überlegungen verbunden war.143 In der konservativ und völkisch ausgerichteten Heimatbewegung der Weimarer Republik wurden diese Raumkonzepte durch eine Naturvorstellung geprägt, die den „angeblich nationalen oder regionalen Charakter des Volkes“ widerspiegeln würde. Diese Naturvorstellung ging oftmals einher mit einer „Blut- und Boden-Ideologie“, durch die „Überfremdungsängste“ oder völkische „Reinheitsphantasien“ artikuliert wurden.144 Mit ihrem Europa-Konzept grenzte sich Siemsen von solchen Deutungen ab. Sie übernahm aber die in kulturkritischen Diskussionen verbreitete Überzeugung, in der vermeintlich „natürliche“ Zustände mit einer Lebensweise gleichgesetzt wurden, die dem Menschen entspreche und von der er entfremdet sei. Diese Überzeugungen waren eine Reaktion auf die Erfahrung, dass „Natur“ in Anbetracht fortschreitender Industrialisierung und Urbanisierung für die meisten Menschen nicht mehr in dem Maße erlebbar und prägend war wie für die Generationen davor. Dabei wurde nicht die Forderung erhoben, der Mensch solle etwa zu einer „ursprünglichen Existenz“ zurückfinden. Vielmehr wurde durch eine Reihe von Reformbemühungen zur Änderung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse eine „andere Moderne“ angestrebt.145 In Siemsens Europa-Konzept sollten Mensch und Natur eine Einheit bilden. Sie glaubte, wenn diese Einheit durch „unnatürliche“ politische Entwicklungen zerstört werde, komme es zu Unterdrückung, Gewalt und Isolation und damit zu inhumanen Existenzbedingungen. Siemsen verband mit „Natur“ nicht nur spezifische Lebensumstände oder gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, sondern erfand über diesen Begriff auch „positive Traditionen“, auf die sie bei der Formulierung von gewünschten politischen Reformen zurückgriff. Diese Strategie war eine Gemeinsamkeit von kulturkritischen Auseinandersetzungen mit dem Naturbegriff.146 Siemsen führte „natürliche“ Bedingungen oder geographische Besonderheiten bei ihren Überlegungen an, 142 Rohkrämer: Bewahrung, S. 57. 143 Ebd., S. 49 f. 144 Ebd., S. 56. 145 Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, München, Wien und Zürich 1999, S. 29 f. Zitat auf S. 29. 146 Ebd., S. 28.

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welche Stadt europäisches Zentrum sein könnte. Zu Zentren wollte Siemsen nur jene Städte erklären, die an geographischen Knotenpunkten liegen und deswegen „alle Straßen und allen Verkehr an sich ziehen“ würden. Deutschland fiel deshalb mit seinen Städten aus Siemsens Überlegungen heraus: Köln sei „die Hauptstadt des Rheingebietes“ und Hamburg „so ganz und gar Nordseestadt, Weltmeerhafen, daß es sozusagen nur noch mit einem Fuß in Deutschland“ stehe. München schwanke „zwischen Bierdorf und Metropole“ und sei aufgebaut worden durch „ein paar größenwahnsinnige Fürsten“. Berlin war für Siemsen eine „Kolonie zwischen unterworfenen Slawen“. Berlins Bestimmung sei es vielmehr, „Durchgangshafen“ und „Eingangstor des Ostens“ zu sein.147 Dagegen erhob Siemsen Paris zur „europäischsten Stadt Europas“.148 Denn „seine Lage“ befinde sich „zwischen zwei Meeren“ und „[a]us dem ganzen Lande führen Flüsse und Kanäle, Straßen und Eisenbahnen zu dem großen Mittelpunkt“.149 So wie „Paris das Herz des Westens“ sei, so erklärte Siemsen Wien zum „Herz des östlichen Europas“.150 Denn hier würden „die Straßen Europas von Nord und West und Süd und Ost zusammenlaufen und alle großen Volksstämme Europas“ hätten sich in der Umgebung bei Wien getroffen.151 Es war aus Siemsens Sicht das Zusammentreffen besonders vielfältiger und unterschiedlicher Einflüsse, die aufgrund der besonderen geographischen Lage Paris und Wien zu Zentren Europas prädestinierten. Während sie Paris eine besondere Bedeutung für die Vergangenheit Europas und eine positive politische Tradition zuschrieb, erkannte sie bei Wien Potential für Europas Zukunft. Paris sei „die Stadt der Revolutionen, die einzige Stadt, die es wagt, die Erinnerung einer Revolution in einem Nationalfeiertag zu feiern, die Stadt der ersten proletarischen Revolution, deren Kämpfe Europa erschütterten und weckten“. Das „Arbeitervolk von Paris“ würde deshalb „seine Geschichte“ auch besonders gut kennen, behauptete Siemsen.152 Bei Wien dagegen hätten „sich Asien und Europa im Kampf“ gegenübergestanden, „hier errichteten sich die wilden Stämme des Nordens und Westens eine Burg gegen den Osten […]. Hier endete der feste Boden Europas“.153 Doch Siemsen glaubte, es stehe „dort auf dem blutgetränkten Boden eine neue, eine friedliche Macht auf“. Sie rekurrierte an dieser Stelle auf den Mythos vom Roten Wien und glaubte, durch die dortige politische Macht der Arbeiterschaft könne die Stadt „wirklich der Grenzwart und Pionier des neuen, kommenden Europa“ werden.154 Siemsen, die Grenzen, mit Ausnahme naturbedingter Grenzen, in ihren Ordnungsvorstellungen ablehnte, zog selbst „mentale“ oder „konzeptuelle“ Grenzen155 147 Siemsen: Daheim in Europa, S. 119. 148 Ebd., S. 122. 149 Ebd., S. 120. 150 Ebd., S. 101. 151 Ebd., S. 100. 152 Ebd., S. 124. 153 Ebd., S. 101. 154 Ebd., S. 104. 155 Guy P. Marchal: Grenzerfahrung und Raumvorstellung. Zur Thematik des Kolloquiums, in: ders. (Hg.): Grenzen und Raumvorstellungen (11.–20. Jh.). Frontières et conception de l’espace

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innerhalb Europas, so etwa zwischen dem Westen und einem nicht näher definierten „Osten“. Darauf verweist ihre Charakterisierung von Wien als östlicher „Grenzwart“ Europas. Böhmen bezeichnete sie ebenso als „Grenzland […] und viel zu lange verbissen umkämpfte Grenzwarte“, glaubte aber auch, „heute muß es Pforte sein und Durchgangsland von einem westlichen Europa, das sich von schwerer Vergangenheit löst, zu den jungen, sich dehnenden Völkern des Ostens“.156 Die Deutung des Ostens als Bedrohung oder „als Quell einer spirituellen Erneuerung“ gehörte zu den tradierten zeitgenössischen Wahrnehmungsmustern, die mit dem europäischen Osten verbunden wurden.157 Als „spirituelle Erneuerung“ empfand Siemsen den Osten nicht. Trotz seiner partiellen Einbeziehung in ihr Europa-Konzept, überwog eine Darstellung des Ostens, der als bedrohlich empfunden wurde. Auf diese Weise konnte sie in Gegenüberstellung die Vorbildfunktion des Westens hervorheben; eine Sichtweise, die sie in ihren Europa-Konzepten im Exil weiterführen sollte. Der Westen wurde aufgrund seiner politischen Traditionen als vorbildlich hervorgehoben, während der Osten einer Beeinflussung durch diese Traditionen bedurfte. So wie es für Nations-Konzepte charakteristisch war, entwarf Siemsen in ihrer EuropaVorstellung eine innere Inklusion, die sich auf die Arbeiterschaft Europas als homogene Trägergruppe politischer Ideen konzentrierte. Diese Ideen stammten ursprünglich aus dem Westen, aus Frankreich. Damit formulierte sie zugleich eine geopolitische Exklusion des Ostens, von der sie glaubte, diese könne durch den politischen Einfluss der internationalen Arbeiterschaft überwunden bzw. ausgeglichen werden. In ihrem Buch Deutschland zwischen gestern und morgen rückte sie diese WestOst-Vorstellung noch stärker in den Mittelpunkt. 3.1.3 Ein „weibliches“ Europa Das Europa, das Siemsen in ihrem Buch Daheim in Europa entwarf, zeichnete sich durch eine Politik aus, in der es weder Absonderung und Isolation noch Gewalt und Krieg gab. Stattdessen wurde eine Politik der Solidarität und des Friedens propagiert. Diese Politik stand im Gegensatz zu einer Politikform, die sie für den vergangenen Weltkrieg verantwortlich gemacht hatte und die nach wie vor die zeitgenössische Gegenwart prägen würde. Grundlage dieser Politik waren in ihrer Sicht entsprechende Wertsetzungen, die sie an anderer Stelle auch als „bürgerlich“ definiert hatte. Die in ihrem Europa-Buch propagierte Politik des Friedens und der Solidarität hatte Siemsen unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges als einen typisch (11e–20e siècles) (Clio Lucernensis, Bd. 3), Zürich 1996, S. 11–25, hier S. 11. Mentale Grenzen werden hier definiert als Grenzen, die sich aus „einer spezifischen Wahrnehmung des Raumes durch den Menschen“ auszeichnen und nicht deckungsgleich sein müssen mit den „rechtlich fixierten“ Grenzen. Ebd., S. 12. 156 Siemsen: Daheim in Europa, S. 164. 157 Gregor Thum: Ex oriente lux – ex oriente furor. Einführung, in: ders.: Traumland Osten, S. 7–15, hier S. 7 f. Zitat auf S. 8.

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weiblichen Politikstil betrachtet, den sie aus einem spezifischen Geschlechtscharakter der Frauen ableitete. Sie hatte argumentiert, es gehöre zum Wesen der Frauen, Gegensätze zu versöhnen, für die Erhaltung des menschlichen Lebens einzustehen und durch den „mütterlichen“ Einfluss für eine Humanisierung der öffentlichen Sphäre zu wirken. Diese angenommenen weiblichen Wesenseigenschaften übertrug sie auf Europa selbst, in dem diese Eigenschaften bzw. eine auf diesen Eigenschaften gründende Politik etabliert werden sollte. Siemsen machte das über den Begriff der „Heimat“ deutlich. Ein Europa als „Heimat“ stellte sie einem Europa der „Vaterländer“ gegenüber. Die tradierten Deutungen, die mit dem Begriff „Heimat“ verbunden wurden, waren traditionell weiblich definiert. In Gegenüberstellung mit dem Begriff Vaterland stand Heimat für Unschuld, Vertrautheit und Geborgenheit. Das „Vaterland“ präsentierte hingegen nicht die vertraute, häusliche, friedliche Sphäre, sondern die männlich konnotierte, mit Macht und Politik verbundene, öffentliche Sphäre.158 Diese Zuschreibungen zeigen sich etwa am Begriff der „Heimatfront“, der während des Ersten Weltkrieges geprägt wurde. Die „Heimatfront“ war dort, wo der männliche Soldat Mutter, Ehefrau oder Freundin zurückgelassen hatte, während er selbst das „Vaterland“ auf den Schlachtfeldern verteidigte.159 Siemsens Europa-Bild entsprach diesen Deutungen. Die Heimat Europa stand einem vergangenen Europa, das sich durch eine „vaterländische“ Politik auszeichnete, entgegen. In einer anderen Publikation hatte Siemsen selbst zu dem Begriff „Vaterland“ Stellung bezogen. Sie hatte ihn als „eine Konstruktion des Bürgertums“ charakterisiert und damit erklärt, dass er durch seinen „bürgerlichen“ Charakter für jene Politikform stand, die sie ablehnte.160 In Daheim in Europa spielte er deswegen auch keine Rolle. Mit dieser „weiblichen“ Darstellung Europas fügte sich Siemsen mit ihrem Buch nicht in die vorherrschenden Darstellungen Europas ein, das seit dem 18. Jahrhundert mit männlichen Attributen ausgestattet wurde. Wie die Historikerinnen Ute Frevert und Margrit Pernau in ihrem Essay über die Rezeption des antiken Europa-Mythos in der europäischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert anhand Schillers Ausführungen zur Universalgeschichte gezeigt haben, wurde Europa in der Regel männlich dargestellt. Diese Darstellung folgte aus dem Vergleich Europas mit anderen Gebieten der Welt, die Europa wegen seiner zivilisatorischen Stellung untergeordnet wurden. Eingebettet war eine solche Deutung in eine Entwicklungsgeschichte, in der, analog zum menschlichen Lebenslauf, Europa den Erwachsenenstatus bereits erreicht hatte, die anderen Länder und Völker aber beschrieben wurden, als ob sie sich noch in einem primitiveren Kindesalter befinden würden. Dass Europa nicht als Frau und Mutter inmitten ihrer „Kinder“ dargestellt wurde, wie es den herrschenden Geschlechtervorstellungen entsprochen hätte, begründen

158 Blickle: Heimat, S. 3. Siehe zur weiblich konnotierten Konstruktion von Heimat ebd. auch die Seiten 83–92. 159 Boa und Palfreyman: Heimat, S. 3. 160 Siemsen: Beruf und Erziehung, Fußnote 1 auf S. 207.

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Frevert und Pernau mit Europas weltpolitischer Machtausübung, die mit normativen Weiblichkeitsvorstellungen eben nicht vereinbar war.161 Siemsen betonte in ihren Ausführungen wiederholt, dass Europa als Heimat „erobert“ und „erkämpft“ werden müsse. Damit tauchte ein Widerspruch in ihren Ausführungen auf, stellten doch die Aspekte „Eroberung“ und „Kampf“ das Gegenteil dessen dar, was sie erreichen wollte. Offenbar setzte sie die geforderte Machtausübung der Arbeiter nicht mit einer „bürgerlichen“ Machtpolitik gleich. Stattdessen wollte sie die Arbeiter dazu bewegen, eine politische Macht zu bilden und eben jene „weibliche“ Politik der Solidarität und des Friedens zu etablieren. Denn die Arbeiter würden schließlich, nachdem sie Europa „erobert“ hätten, „zur endlichen Befriedung der Erde“ beitragen.162 Die Arbeiter, die Siemsen in ihren Publikationen in der Regel immer nur in der männlichen Form anführte, wurden damit als das „männliche“ Pendant zu Europa dargestellt, die als aktiv Handelnde Europa in Besitz nehmen sollten. Damit vermittelte sie eine Europa-Vorstellung, die nicht nur weiblich konnotiert war, sondern in der weibliche und männliche Prinzipien zusammenkamen. Diese Vorstellung von einer Vereinigung männlicher und weiblicher Prinzipien entsprach Siemsens Ordnungsvorstellungen, die auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet waren und die in ihre Europa-Konzepte einflossen. Im Exil sollte Siemsen betonen, sie wünsche sich ein Europa, in dem „Mann und Frau vereint“ seien und dadurch eine „Einheit in Europa“ bilden würden.163 In ihrer Vorstellung, ein solches Europa sei in der Lage für den Weltfrieden zu sorgen, war wieder die Annahme einer besonderen Position Europas in der Welt inbegriffen. Indem Europa die traditionelle Machtpolitik zugunsten einer friedlichen, auf Solidarität und Ausgleich bedachten Politik überwinde, erhielt es in Siemsens Argumentation auch eine Vorbildfunktion für den Rest der Welt. Da sie ein Europa forderte, das keine auf Machtausübung konzentrierte Politik mehr verfolgte, konnte sie auf eine Darstellung Europas als Mutter inmitten ihrer Kinder zurückgreifen, die in den bisherigen Darstellungen von Europa keine Tradition hatte: In ihrem Buch Menschen und Menschenkinder aus aller Welt platzierte Siemsen in die Mitte des Buches einen Abdruck des Liedes Meinem Mütterlein des tschechischen, also europäischen Dichters Jan Neruda.164 In ihrem Reisebuch Daheim in Europa stilisierte sich Siemsen auf einer Photographie sogar selbst als „mütterliche“ Figur in ihrem heimatlichen Wohnzimmer. Das Frontispiz des Buches zeigt ein Bild von ihr, auf dem die 46-Jährige freundlich lächelnd am blumengeschmückten Wohnzimmertisch in einem Korbstuhl sitzt. Ihr Blick ist in eine vermeintliche Ferne gerichtet, vor und hinter ihr liegen etliche Zeitschriften und Zeitungen. Siemsen erscheint auf dem Bild als eine kompetente 161 Frevert und Pernau: Europa ist eine Frau, S. 4–6 162 Siemsen: Daheim in Europa, S. 12. 163 AdsD, 1/HRAB000363: Mitschrift des Vortrages von Siemsen „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“ in Basel am 9. April 1941, S. 4. Hervorhebung im Original. Siehe dazu ausführlich das Kapitel II.2.3 Frauen für Europa und die „Schweizer Europa-Union“ in dieser Arbeit. 164 Siemsen: Menschenkinder, S. 57.

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Sachkennerin, als Verkörperung einer Europa als Heimat empfindenden „Europäerin“. Es ist offensichtlich, dass sie sich mit der Zielsetzung ihres Buches identifiziert sehen wollte; ein Eindruck, der auch von den Zeitgenossen zur Kenntnis genommen wurde. So etwa von Kurt Tucholsky in der Weltbühne: „So wohltuend wie ihr Bild dem Titel gegenüber ist der Text: eine gebildete, gütige Frau geht durch Europa, wo sie wirklich zu Hause ist, soweit einer da zu Hause sein kann, wo er nicht geboren ist – und das Allerschönste daran: wie die albernen Grenzen fortfallen […] Ja, wenn sie alle so wären wie diese seltene Frau – !“165

3.2 AUF DER SUCHE NACH DEUTSCHLAND Wie Daheim in Europa schrieb Siemsen auch ihr folgendes Buch an einem Wendepunkt ihrer politischen Laufbahn. Deutschland zwischen gestern und morgen erschien 1932, ein Jahr nach Siemsens Beitritt zur SAPD. In diesem Buch trat Europa zugunsten Deutschlands zurück. Siemsen entwarf hier ein „europäisches Deutschland“. Aus ihrer Sicht gab es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Deutsch­ land und Europa. Siemsen schrieb ihr Buch vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse in Deutschland, die eine Durchsetzung sozialistischer Ziele zusehends unmöglich machten. Nicht nur die Durchsetzung von sozialistischen Reformen war seit dem Sturz der Regierung Müller im März 1930 immer unwahrscheinlicher geworden. Mit der Einführung der nachfolgenden Präsidialkabinette fand auch die Ära der Verständigungspolitik von Locarno ihr Ende, deren Höhepunkt 1929 Briands Unionspläne für Europa gewesen waren. Auf die politische Tagesordnung der Weimarer Republik traten nun vermehrt innenpolitische Probleme, die aus der Wirtschaftskrise erwachsen waren. Vor allem aber waren es „die nationalen Ansprüche und Revisionsforderungen gegenüber dem Versailler Vertrag“, durch die europapolitische Verständigungsideen zurückgedrängt wurden.166 Außenpolitisch wandte sich die Regierung in Berlin seit 1930 aus wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen nicht länger Frankreich bzw. dem Westen zu, sondern „Südostund Ostmitteleuropa“.167 Siemsen entwarf ein Deutschland-Bild, das ein Gegenmodell zu den zeitgenössischen hegemonialen Deutschland-Konzepten darstellte. Stand in Daheim in Europa noch ein Europa der Arbeiterschaft im Mittelpunkt, ging es Siemsen nun um ein „europäisches Deutschland“ der Arbeiter.168 Auch Deutschland zwischen gestern und morgen konzipierte Siemsen in Form von literarischen Essays. Das Reise165 Panter: Auf dem Nachttisch, S. 340. 166 Peter Krüger: Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart 2006, S. 161. Online-Ausgabe [7. September 2014]. 167 Martin Vogt: Die deutsche Haltung zum Briand-Plan im Sommer 1930. Hintergründe und politisches Umfeld der Europapolitik des Kabinetts Brüning, in: Fleury und Jílek: Le Plan Briand, S. 307–329, hier S. 315. 168 So der Titel des zweiten Kapitels „Europäisches Deutschland“, in: Siemsen: Deutschland, S. 9–14.

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Motiv diente erneut als stilistisches Mittel, um politische Zielvorstellungen zu transportieren. Siemsen stellte hier ähnlich wie in ihrem vorhergehenden EuropaBuch bestimmte Regionen, Städte, Dörfer oder Bauten vor, an denen sie exemplarisch die soziale Lage der Arbeiterschaft aufzeigen wollte. Diese beschrieb sie vor dem Hintergrund wirtschaftlicher, politischer und sozialer Entwicklungen.169 Der Titel Deutschland zwischen gestern und morgen zeigt, dass Siemsen wieder auf ihre bewährte Strategie von Vergangenheitsdeutungen und Gegenwartsanalysen zurückgriff. Die zeitgenössische Gegenwart, die im Titel wohlweislich ausgespart blieb, nahm in den eigentlichen Ausführungen in den einzelnen Kapiteln aber einen großen Stellenwert ein. Durch Vergangenheitsdeutungen versuchte Siemsen eine Gesamtanalyse der bestehenden zeitgenössischen Zustände in Deutschland zu liefern. Die Gegenwart wurde erzähltechnisch als letzte Entscheidungssituation vorgestellt, in der die von Siemsen erhofften sozialistischen Reformen noch in Angriff genommen werden könnten. Sie unterteilte ihr Buch in 27 Kapitel, die in sich geschlossen zunächst scheinbar unverbunden nebeneinander standen, aber doch durch einen roten Faden miteinander verbunden waren. Bei der Kapitelgliederung handelte es sich um eine Geschichte der Arbeiterschaft und der wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. Siemsen wählte dabei als Rahmen ihrer Darstellung geographische Räume, die immer kleiner wurden. Sie begann ihre Reise im „europäischen Deutschland“ und beendete sie in einem kleinen Dorf an der preußisch-sächsischen Grenze. Siemsen stellte das zeitgenössische Deutschland als ein Land der Gegensätze dar, die nicht zu vereinigen waren. Ein Ausgleich der Gegensätze war in ihrer Darstellung nur über sozialistische Reformen zu erreichen. Sie entwarf durch Vergangenheitsdeutungen und Gegenwartsanalysen ein Deutschland, das europäisch sei und das nur durch den Sozialismus zu dieser Bestimmung zurückfinden könne. Wie in Daheim in Europa wählte Siemsen auch für ihr Deutschland-Buch eine literarische Vorlage. Bei Deutschland zwischen gestern und morgen stand nun Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen Pate. Heines 1844 erschienenes Versepos über seine Reise von Paris nach Hamburg war eine kritische Auseinandersetzung mit den restaurativen Verhältnissen in den deutschen Ländern vor 1848 und wurde seitdem kontrovers rezipiert. Viele Literaten nahmen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts das Reise-Motiv des Wintermärchens als Anregung auf, um selbst „in den politischen Kampf“ zu ziehen und Kritik an den politischen Verhältnissen im Deutschland ihrer Gegenwart zu üben.170 Während Heines Kritiker ihm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem seine politischen Ansichten vorwarfen, prägten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend antisemitische Vorurteile die Auseinandersetzung mit Heine, der jüdischer Herkunft war. Gerade nationalsozialistische Kritiker lehnten ihn deswegen ab.171 Bereits in den 169 Sänger: Anna Siemsen, S. 190. 170 Klaus Schuhmann: Rezeptionsgeschichte als Zeitgeschichte. Goethe, Schiller, Hölderlin und Heine im literaturgeschichtlichen Kontext des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2010, S. 273 f., Zitat auf S. 273. 171 Ebd., S. 273.

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Literarischen Streifzügen hatte Siemsen Heine nicht weniger als einen „Ritter der Menschheitszukunft“172 bezeichnet. Sie charakterisierte ihn als Gegner „der militärisch-bureaukratische[n] Reaktion in Deutschland“ und sah ihn „in der Reihe jener, die heute ein Neues und Kommendes ankündigen“.173 Für Siemsen stand Heine an der „Spitze der jungen Revolution und des in die Zukunft drängenden Proletariats“.174 In ihrem Deutschland-Buch stellte die Arbeiterschaft nicht nur den Hauptakteur dar. Die Arbeiterschaft und Deutschland wurden gleichgesetzt. Deutschland sei „ein Land der Arbeiter“ schrieb Siemsen in ihrem Einleitungskapitel Im Schmelztiegel und führte weiter aus: „Der ‚kleine Mann‘, der sich bitter mühen muss hinter Pflug, Maschine und Kontobuch, der baut dies Land mit seiner Arbeit und erhält es in aller Verwirrung mit seiner Geduld und Zähigkeit. […] Er trägt heute wie vor Jahrhunderten die Lasten für alle und wird von ihnen halb erdrückt. Sein Schicksal ist das Schicksal des Landes, das seine Arbeit erhält. Wie er steigt oder sinkt, wird das Land reich oder arm, schön oder häßlich, glücklich in Freiheit oder dumpf in Bedrückung.“175

Siemsen maß damit den hier erwähnten Gruppen der Bauern, Fabrikarbeiter und kleineren Angestellten einen zentralen Stellenwert für Deutschland zu. Durch ihre Bedeutung in der Vergangenheit und ihre Bedeutung für die Zukunft Deutschlands wurden diese unterschiedlichen Gruppen nun als homogene Trägergruppe für politische Zielvorstellungen in die Erzählung eingeführt. Eben diese Vermittlung von einer politisch homogenen Arbeiterschaft war auch Siemsens Intention: Die Arbeiterschaft einte eine gemeinsame Mission. So ist es zu erklären, dass sie ihren eigenen politischen Zielvorstellungen wenig Raum gab. Wenn, dann formulierte sie allenfalls am Ende einiger Kapitel knappe Forderungen, die meist grundsätzlichen und normativen Charakter trugen und nicht näher erläutert wurden. Sie wollte etwa den „Reichtum, den wir gelernt haben zu produzieren, richtig verteilen und anwenden“.176 An anderer Stelle wollte sie „eine neue Welt, in der Arbeit und Kapital, Technik und Glaube zusammen schaffen werden für diese Erde, für eine Heimat der Menschen“.177 Siemsen forderte auch explizit „die Vereinigten Staaten von Europa“178 oder „ein demokratisches und sozialistisches Europa“, ohne aber nähere Angaben darüber zu machen.179 Die Ausarbeitung eines konkreten politischen Programms, das erste mögliche Handlungsanleitungen und erste praktische Schritte enthielt, war nicht ihr Interesse. Es ging ihr vor allem darum, eine möglichst große Leserschaft zu erreichen und einer weit gefassten Arbeiterschaft zu vermitteln, die zeitgenössische Lage Deutschlands würde nichts anderes als die eigene gesellschaftliche Lage widerspiegeln. 172 Siemsen: Literarische Streifzüge, S. 238. 173 Ebd., S. 231. 174 Ebd., S. 238. 175 Siemsen: Deutschland, S. 8. 176 Ebd., S. 102. 177 Ebd., S. 110. 178 Ebd., S. 37. 179 Ebd., S. 32.

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Für ihre Ziele griff Siemsen eine rhetorische Strategie auf, die insbesondere gegen Ende der Weimarer Republik von fast allen Gruppen oder Einzelpersonen in den verschiedensten Bereichen eingesetzt wurde: die inflationär genutzte Rede von der Krise.180 Die Dramatisierung einer zeitgenössischen Situation, um die Relevanz der eigenen Lösungsstrategien hervorzuheben, setzte Siemsen ein, um Deutschland als ein einziges Krisenszenario zu beschreiben.181 Sie wählte dafür den Begriff des Schmelztiegels, in den alles hineingeworfen und vernichtet werde. Sie betonte, nirgendwo sonst auf der Welt würde gegenwärtig ein Land, „nicht einmal das sagenhafte Land der Sowjets […] radikalere Umschmelzungen“ durchmachen als Deutschland. Die zeitgenössischen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnete sie als ein „Chaos der Zerstörung“. Diese Krisensituation betrachtete sie aber als besondere Chance, „Neues“ aus dem Schmelztiegel zu gießen.182 Siemsen konstruierte mit dem Begriff des „Schmelztiegels“ gleich zu Beginn ihres Buches eine zeitgenössische Katstrophensituation, die dazu diente, ihren folgenden Ausführungen eine besondere aktuelle Brisanz zu verleihen. Schließlich war es ihr Ziel, ihre Deutungs- und Lösungsansätze als einzig gültige Antwort auf das von ihr beschriebene „Chaos“ darzustellen.183 Den neuen Guss aus dem Schmelztiegel Deutschland sollte die Arbeiterschaft in gemeinsamer Arbeit erschaffen. 3.2.1 Das „europäische“ Deutschland Siemsen musste in ihren Ausführungen begründen, warum das Zusammenwirken der Arbeiterschaft gerade in Deutschland so wichtig sei. Dafür nutzte sie nicht allein die Darstellung einer „Fundamentalkrise“,184 sondern entwarf auch ein positiv besetztes Deutschlandbild, das die zeitgenössische Krise noch verschärfen und zu ihrer Überwindung motivieren sollte. Siemsen definierte daher Deutschland nicht nur als ein „Land der Arbeiter“, sondern auch als „europäisch“. Damit konnte sie die Dringlichkeit ihrer Forderungen hervorheben, denn es ging nicht einfach nur um Deutschland. Die Arbeiter sollten wissen, dass sie eine Verantwortung für ganz Europa tragen würden. Deutschland lag, wie Siemsen betonte, „im Herzen Euro180 Siehe dazu: Moritz Föllmer, Rüdiger Graf und Per Leo: Einleitung: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer und Rüdiger Graf: Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main und New York 2005, S. 9–41. 181 Siemsens Darstellung war typisch für das „sozialistische Krisenmodell“, das Rüdiger Graf herausgearbeitet hat. „Die Deutung der Gegenwart als Fundamentalkrise“, so Graf, „ergab sich aus der marxistischen Prognose eines letzten krisenhaften Übergangs von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaftsordnung“: Rüdiger Graf: Die „Krise“ im intellektuellen Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik, in: Föllmer und ders.: Die „Krise“ der Weimarer Repub­ lik, S. 77–106, hier S. 94. 182 Siemsen: Deutschland, S. 7. 183 Auf diese übergreifende Strategie im zeitgenössischen Krisendiskurs verweist Graf: Die „Krise“ im intellektuellen Zukunftsdiskurs, S. 106. 184 Ebd., S. 94.

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pas“, es war „Durchgangs- und Uebergangsland“ und sei deswegen auch mit Europa gleichzusetzen. Deutschlands geschichtliche Entwicklung, so behauptete sie, sei Abbild der europäischen Entwicklung insgesamt: „Dies wunderliche und chaotische Land im Herzen Europas wiederholt auf einem kleineren Raum all die Gegensätze und Unsinnigkeiten, die Ungerechtigkeit, Grausamkeit und den Aberwitz europäischer Geschichte, aber auch ihre Mannigfaltigkeit, ihre Kraft, ihre weltumfassenden Hoffnungen.“185 Um diesen europäischen Charakter Deutschlands zu belegen, führte Siemsen die Länder Frankreich und die Schweiz an, die in ihren Ausführungen zusammen mit Deutschland das Dreigestirn am Himmel Europas bildeten. In Siemsens Deutung von Deutschland als einem „Durchgangs- und Uebergangsland“ war die Vorstellung angelegt, in Deutschland würden verschiedene Einflüsse wirtschaftlicher, politischer und kultureller Art zusammenlaufen, sich vermischen und sich gegenseitig beeinflussen. Diese Eigenschaften hatte sie schon an anderer Stelle als spezifisch europäische Eigenschaften bewertet. Am Beispiel der Schweizer Stadt Basel versuchte Siemsen, die besondere Beziehung zwischen Deutschland und Europa zu belegen. Sie betonte nämlich, Basel sei eigentlich eine deutsch geprägte Stadt. Sie zählte Basel zu den „Hauptstädte[n] Europas“ und zur „Hauptstadt des europäischen Deutschlands“.186 In Basel würden genau wie in Deutschland „viele Adern zusammenlaufen, viele Einflüsse sich mischen“. Sie führte dafür geographische, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte an. Der Rhein als „Völkerstraße“ war laut Siemsen dafür verantwortlich, dass die Region um Basel zu einem „Handelsmittelpunkt“ geworden war, „in dem sich nördliches, südliches, östliches und westliches Europa begegnen“187 würden. Auch an der Architektur lasse sich der deutsche Einfluss messen. So erschienen Siemsen „die roten Sandsteintürme des Münsters“ in Basel „geschwisterlich“ und „versippt […] mit dem Ulmer und Freiburger und gar dem Mainzer Dom“.188 Mit ähnlichen Deutungen wie Basel belegte sie Straßburg im Elsass, das seit dem Versailler Friedensvertrag 1919 wieder zu Frankreich gehörte. Das „mittelalterliche Straßburg“ war für Siemsen „eine deutsche Stadt“. Diese sei „schwesterlich verwandt mit den anderen alten süddeutschen Reichsstädten: Mainz und Ulm, Basel und Zürich“.189 Während sie bei Basel geographische, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte anführte, wählte sie nun für Straßburg einen historisch-politischen Aspekt zur Begründung dafür, warum auch Straßburg „deutsch“ sei. In ihrem Versuch zu zeigen, was „deutsch“ bedeute, griff Siemsen implizit auf die sogenannte Reichsidee zurück. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war ein politisches Gebilde, das seit dem Mittelalter bestand, verschiedene Territorien umfasste und 1806 im Rahmen der napoleonischen Kriege zusammenbrach. Auch nach der deutschen Reichsgründung 1871 war das Alte Reich bei den Zeitge185 Siemsen: Deutschland, S. 8. 186 Ebd., S. 14. 187 Ebd., S. 11. 188 Ebd., S. 9. 189 Ebd., S. 15.

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nossen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch präsent. Die Reichsidee enthielt dabei „ein breites Spektrum von Zukunftsvorstellungen“.190 Die Idee des „Reiches“ spielte nach dem Ersten Weltkrieg auch in europapolitischen Diskussionen eine zentrale Rolle. In ihren Forderungen nach einer hegemonialen Position Deutschlands in Europa griffen konservative Politiker oft auf jene Reichsidee zurück, die eben nicht mit dem Nationalstaat identisch war und sich deswegen anbot, die vorherrschende Rolle Deutschlands in Mitteleuropa zu begründen.191 Auch die Nationalsozialisten rekurrierten später oft die auf das Heilige Römische Reich, um ihr „Eroberungsprogramm“ zu legitimieren.192 Siemsen nutzte den Rückgriff auf das Mittelalter und auf das „Reich“, das sie in ihren Ausführungen nicht mitteleuropäisch, sondern „westeuropäisch“ definierte, um sich von einer Deutschland-Definition abzugrenzen, die auf nationalstaatlichen Grenzen oder machtstaatlichen Ansprüchen fußte. Was genau „deutsch“ sei, führte Siemsen nicht direkt aus. Ihr ging es vor allem darum, anhand der vorgestellten Städte eine kulturelle Vermischung in Westeuropa aufzuzeigen, die, wie etwa an der Architektur, zeitgenössisch noch erkennbar sei. Da sie sich in ihrem Buch nicht mit Europa, sondern vornehmlich mit Deutschland auseinandersetzte und ein Deutschland entwerfen wollte, was den als negativ bewerteten zeitgenössischen Verhältnissen entgegenstand, wurde diese Vermischung nun nicht als „europäisch“, sondern als „deutsch“ bewertet. Dies wurde in ihren Ausführungen meist aber mit „europäisch“ gleichgesetzt. Dabei machte Siemsen deutlich, dass das Deutschland seit der Reichsgründung von 1871 nicht jene politischen Werte verkörperte, die sie selbst mit „deutsch“ gleichsetzte. Sie behauptete, erst die „Revolution“ habe „Straßburg zu einer französischen Stadt“ gemacht. „Was aber noch vorhanden war aus deutscher Ueberlieferung und deutschem Bewußtsein, das wurde nicht durch Frankreich zerstört, sondern durch die Hohenzollernherrschaft, die 1871 traditionslos und gewalttätig einsetzte.“193 Das, was die Hohenzollernherrschaft an „deutscher Ueberlieferung“ zerstört habe, sei ein „alemannisches Bürgertum, gespeist aus der vielfältigsten europäischen Ueberlieferung“ gewesen, das „demokratische Lebensformen“ ebenso gehabt habe, wie „die Behaglichkeit gesicherten Wohlstandes“.194 Damit waren es Demokratie, Wohlstand und europäische Überlieferungen, die das „wahre“ Deutschland aus Siemsens Sicht auszeichneten. Auch das Bestreben, Einheiten zu bilden, definierte sie als eine „deutsche“ Eigenheit. Sie behauptete beispielsweise, Straßburg habe einst „mit den Schweizer Städten eine starke westdeutsche Zentralmacht bilden“ können, da sie „stammverwandt und politisch ver190 Dieter Langewiesche: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008, S. 213. 191 Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 57 f. 192 Zur nationalsozialistischen Reichsidee vgl. Frank-Lothar Kroll: Die Reichsidee im Nationalsozialismus. Werner Goez zum 70. Geburtstag, in: Franz Bosbach und Hermann Hiery (Hg. in Zusammenarbeit mit Christoph Kampmann): Imperium, Empire, Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich. An Anglo-German Comparison of a Concept of Rule (Prinz-Albert-Studien, Bd. 16), München 1999, S. 179–196. 193 Siemsen: Deutschland, S. 18. 194 Ebd.

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wandt als Stadtrepubliken“ gewesen seien.195 Es habe „ein großes westeuropäisches Reich entstehen“ können, „das alle Kultur zwischen Pyrenäen und Elbe vereinigt und gesammelt hätte“. Durch dynastische Kämpfe und die Entstehung kleinerer Herrschaftsgebiete sei diese Chance dann aber vertan worden.196 In Siemsens Darstellung wurden Basel und Straßburg als Beispiele für den „deutschen“ Einfluss in Europa angeführt. Hier wiederholten sich nun im Kleinen die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eigenschaften, die sie Deutschland insgesamt zuschrieb. Zugleich sollte auch der deutsche Einfluss in Europa am Beispiel dieser Städte deutlich werden. Um zu zeigen, wie europäisch diese deutschen Eigenschaften eigentlich seien, führte Siemsen größere Regionen wie die gesamte Schweiz oder das Rheingebiet an. Dem Rheingebiet kam dabei besondere Bedeutung zu. Hier hätten sich nämlich friedliche gegenseitige Beeinflussungen und die Aufgeschlossenheit nach „Süden, Westen und Norden“ am stärksten manifestiert. Dies sei durch die Vermischung von „französische[m] und deutsche[m] Wesen“ geschehen.197 Deswegen zählte Siemsen Deutschland und Frankreich zu den Kernländern, zu den „Herznationen Europas“.198 Neben den Niederlanden, Belgien und Luxemburg war in Siemsens Ausführungen vor allem die Schweiz von französischen und deutschen Einflüssen geprägt. Sie bezeichnete die Schweiz als „Miniatur­ europa“.199 Der Einfluss Deutschlands und Frankreichs wurde als maßgeblich dafür betrachtet, was europäisch sei. Der europäische Charakter der Schweiz sollte „ein lebender Beweis [sein], wie stark die Verwandtschaft, wie stark die Ausgleichsmöglichkeiten zwischen den beiden Herznationen Europas“ seien.200 Dabei definierte Siemsen die von ihr betonte Verwandtschaft und Ausgleichsmöglichkeit zwischen den Ländern Europas, speziell zwischen Frankreich und Deutschland, aber nicht nur kulturell, wirtschaftlich und politisch, sondern auch geographisch. Denn die Rheinebene bei Straßburg, die sie angeführt hatte, wurde geographisch durch den Rhein dominiert. Siemsens Deutung von Deutschland und Frankreich als zentrale Länder Europas erhielt noch Verstärkung durch die Charakterisierung des Rheins als „Strom Europas“.201 Siemsen maß dem Rhein vor allem eine historische Bedeutung zu. Bei ihrer Darstellung des Rheins übernahm sie klassische Deutungsangebote, mit denen seit der Antike große Ströme und angrenzende Gebiete mythisch überhöht, symbolisch aufgeladen und damit politisch funktionalisiert wurden.202 Für Siemsen hatte „[k]ein Fluß Europas […] je solch überstaatliche, internationale Bedeutung gehabt“. Sie betonte, das Vordringen der Römer an den Rhein sei die Geburtsstunde des Kontinents Europa“ gewesen. Der Rhein sei 195 Ebd., S. 17. 196 Ebd., S. 16 197 Ebd. 198 Ebd. 199 Ebd., S. 11. 200 Ebd., S. 16. 201 So der Titel des Kapitels über den Rhein Der Strom Europas, in: ebd., S. 21–27. 202 Dirk Suckow: Der Rhein als politischer Mythos in Deutschland und Frankreich, in: Karl Schlögel und Beata Halicka (Hg.): Oder – Odra. Blicke auf einen europäischen Strom, Frankfurt am Main 2007, S. 47–60, hier S. 47.

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„seine Herzader“ geworden, „von der neue Kultur und neuer Glaube, neues Recht und neue Sitte weiter und weiter und weiter strömten bis zur äußersten Thule, bis zu den Grenzen der unerforschten Eismeere und Nebelländer“.203 Der Rhein erhielt damit auch eine Bedeutung für die Zukunft. Siemsen erhoffte sich nämlich durch ihn eine ähnliche umfassende Erneuerung Europas für die Zukunft wie sie es für die Vergangenheit beschrieben hatte. Sie forderte daher, den Rhein zu Europas „politische[m] Mittelpunkt zu machen“. Sie bedauerte, dass dies bisher nicht gelungen sei. Wieder führte Siemsen das Mittelalter an, wo diese Bestrebungen schon angestellt worden seien, etwa durch Karl den Großen oder durch Karl den Kühnen, der versucht habe, „ein großes Reich zwischen Alpen und Nordsee, Rhein und Seine“ zu errichten. Durch „Stammeseifersucht und Engstirnigkeit“ sowie „[r]eli­ giöse[n] Fanatismus“ sei dieser Plan aber vereitelt worden.204 Siemsen hoffte nun, „auf diesem jahrtausendealten Kulturboden“ könne in Zukunft „unter Menschen, die stammesverwandt und kulturverbunden sind, ein neues Europa geboren werden“.205 Der Rhein erhielt nicht zufällig in Siemsens Europa-Konzept eine so wichtige Bedeutung als Strom Europas, kam ihm doch seit dem 19. Jahrhundert eine zentrale politische Funktion für das deutsch-französische Verhältnis zu. Fragen danach, wem die Herrschaft über den Rhein und seine anliegenden Gebiete zukam, prägten die Diskussionen auf beiden Seiten bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein. Preußen, dem auf dem Wiener Kongress 1815 die linken Rheingebiete zuerkannt worden waren, annektierte im deutsch-französischen Krieg 1870/71 Elsass-Lothringen und beherrschte in der Folge nun auch die ehemals französischen Rheingebiete. Der Rhein, der zunehmend eine wirtschaftliche Bedeutung erlangt hatte, wurde schließlich mit der Reichsgründung 1871 zu einem Symbol der nationalen Einigung Deutschlands und zu einem Symbol des preußisch-deutschen Nationalismus.206 Die Auseinandersetzungen um den Rhein flammten 1918 wieder auf, als Frankreich nach Kriegsende die linksrheinischen Gebiete besetzte und durch die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages das nationale Selbstverständnis weiter Teile der deutschen Bevölkerung empfindlich beschnitten wurde.207 Noch bevor sich Siemsen publizistisch näher mit dem Rhein beschäftigte, hatte der Schriftsteller Alfons Paquet kurz nach dem Ersten Weltkrieg sein Buch Der Rhein als Schicksal veröffentlicht.208 Paquet war jener Schriftsteller, der etwa zur gleichen Zeit auch die Parole „Rom oder Moskau“ ausgegeben hatte.209 In seinen Überlegungen zu einer neuen Friedensordnung wurden ähnlich wie bei Siemsen der Rhein und das Rheingebiet zu einem zentralen Thema. Paquet betrachtete den 203 Siemsen: Deutschland, S. 23. 204 Ebd., S. 25. 205 Ebd., S. 27. 206 Suckow: Der Rhein als politischer Mythos, S. 52 und 55–57. 207 Michael Kißener: Wie Völker hassen lernen. Deutsche und Franzosen im 19. Jahrhundert, in: Felten: Frankreich am Rhein, S. 182–196, hier S. 194–196. 208 Alfons Paquet: Der Rhein als Schicksal oder Das Problem der Völker, Bonn 1920. 209 Vgl. dazu das Kapitel I.1.3.1 Menschheitsgemeinschaft zwischen Ost und West in dieser Arbeit.

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Rhein als „Weltstrom“, den er „wirtschaftsgeographisch“ definierte.210 Für ihn war „die rheinische Frage eine deutsche, noch mehr aber eine europäische Frage geworden“, die „ein tiefes Gefühl für diesen innersten Zusammenhang“ hervorrufe.211 Paquets Rhein-Buch, das ursprünglich auf Reden basierte, wurde zeitgenössisch breit rezipiert.212 1928 erschien das Buch in einer neuen Fassung mit dem Titel Antwort des Rheins.213 Wie Paquet vor ihr versuchte Siemsen mit ihrer Darstellung des Rheins herrschende politische Deutungen umzuformen. Der Rhein sollte keine Abgrenzung darstellen, sondern künftig eine Verbindungsfunktion übernehmen. Eben darum verkörperte das elsässische Straßburg „Deutschlands und Frankreichs Schicksal“. Es war zeitgenössisch für Siemsen noch ein Symbol für „Mißtrauen, Angst und Machtwahn“; Aspekte, die es zu überwinden galt.214 Insofern lieferte sie mit ihrer Umdeutung des Rheins und des Rheingebietes nicht allein ein Plädoyer für die deutsch-französische Verständigung, sondern darüber hinaus eine Kritik an machtstaatlicher Politik und an nationalstaatlichen Grenzen. Das Rheinland wurde schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg noch ein letztes Mal zu einem Gründungsmythos stilisiert. Mit der 1950 propagierten Montanunion für Kohle und Stahl, durch die „eine Lösung für die Kontrolle des Rheinlandes gefunden“ worden war, avancierte das Rheinland zum „Gründungsmythos der Europäischen Union“.215 Dieser Mythos wurde vor allem von Jean Monnet (1888–1979) initiiert, um die „Gründerväter Europas“ als „Visionäre“ einer neuen Friedensordnung erscheinen zu lassen.216 3.2.2 Deutschland zwischen West und Ost Wollte Siemsen in ihrem Europa-Buch vor allem die Entwicklung eines europäischen Bewusstseins fördern, wandte sie sich in ihrem Deutschland-Buch nun verstärkt gegen „wirtschaftliche Isolierung und politische Souveränität“.217 Dies waren zusammenhängende Aspekte, die sie zuerst in ihrer Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen in Jena und schließlich im Rahmen ihrer SAPD-Mitgliedschaft kritisiert hatte. Die Kritik an Grenzen blieb dabei ein Grundmotiv in ihren Ausführungen. Weiterhin spielten noch geographische Besonderheiten eine Rolle, wie das Beispiel des Rheins gezeigt hat. Gleich im ersten Kapitel erklärte 210 Karl Korn: Rheinische Profile. Stefan George, Alfons Paquet, Elisabeth Langgässer, Pfullingen 1988, S. 114. 211 Paquet: Der Rhein, S. 14. 212 Korn: Rheinische Profile, S. 138. 213 Alfons Paquet: Gesammelte Schriften. Aufsätze, Bd. 1: Antwort des Rheins. Eine Ideologie, Augsburg 1928. 214 Siemsen, Deutschland, S. 20. 215 Heidi Zogbaum: Das Rheinland im Gründungsmythos der Europäischen Union, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 31 (2005), S. 425–436. 216 Ebd., S. 425. 217 Siemsen: Auf dem Wege, S. 81.

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Siemsen: „Die alten Grenzen verlieren ihre Gültigkeit.“ Aus diesem Auflösungsprozess sollte nun „Neues“ entstehen.218 Siemsen lehnte das Bestehen rechtlich fixierter, machtstaatlicher Grenzen ab, die in der Vergangenheit durch Herrschaftsansprüche Regierender und durch kriegerische oder gewaltsame Konflikte entstanden seien. Diesen Grenzen setzte sie naturbedingte bzw. geographische Grenzen entgegen: „Jede Wasserscheide ist eine Grenze. […] Eine Grenze ist dort, wo die Pflanzen wechseln […].“219 Staatsgrenzen waren entgegen der „natürlichen“ Grenzen für Siemsen Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, die von ihr zugleich mit Abgrenzung, Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutungsverhältnissen gleichgesetzt wurden. Wie in ihrem Europa-Buch waren es auch hier die naturbedingten Grenzen, vor allem Flüsse, die fortan die Maßstäbe darstellen sollten, nach denen europäische Politik gestaltet werden müsse. Während der Rhein in Siemsens Darstellung bereits durch seine Geschichte eine kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung für Europa gehabt hatte, betrachtete sie die Donau als „Strom der Zukunft“.220 Auch sie sollte Träger politischer Ideen sein, die von Deutschland kommend nun den Osten Europas reformieren könnten. Anders als der Rhein, so betonte Siemsen, sei die Donau „kein Tor in die Welt“ gewesen. „Seitdem das römische Reich zusammenbrach und die Donauprovinzen von östlichen Völkern überschwemmt werden, führte sie nur in barbarische, dunkle, gefürchtete Wildheit.“221 Siemsen betonte aber auch, „[m]it den kriegerischen Verteidigern wanderten friedliche Bauern und Handelsleute. Bis zum Leithagebirge haben sie die deutsche Herrschaft vorgetragen“. Sie argumentierte, für die Völker der „Magyaren, Slawen und Rumänen“ sei „der deutsche Handel, die deutsche Sprache das“ gewesen, „was man durch sie an Kultur, Religion, Kunst und Wissenschaft erhielt, Europa“. Diese „friedliche Europäisierung“222 des Ostens von Europa wollte sie nun vollenden. Sie hielt eine „Europäisierung“ dieses Teils von Europa deswegen für zentral, weil hier die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse hinter denen Westeuropas zurückstehen würden. Siemsen meinte, „[i]n keinen Ländern Europas gibt es so verelendete Bauern, so rechtlose Arbeiter, so skrupellose Kapitalisten und so grausam gewalttätige Regierungen wie in den Donauländern östlich der Leitha, in Ungarn, Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien“. Die Unterdrückten würden aber im Kampf „um ein besseres Leben, wirtschaftlich vorwärts“ streben. Die Donau und die „Donauländer“ sollten hier für einen wirtschaftlichen Ausgleich durch die Verbindung mit dem Rest Europas sorgen.223 Einen wirtschaftlichen Ausgleich hielt Siemsen nicht nur für die Lebensbedingungen der im Osten Europas lebenden Bauern und Arbeiter für wichtig, sondern auch, um die Gefahr des Faschismus zu bannen. Sie bekümmerte, dass der „Faschismus […] sich breit und triumphierend niedergelassen“ habe. So etwa „am 218 Siemsen: Deutschland, S. 7. 219 Ebd., S. 9. 220 Ebd., S. 28. 221 Ebd., S. 30. 222 Ebd. 223 Ebd., S. 31.

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Lauf der Donau in Horthys Budapest, in Belgrad, der Hauptstadt einer vom König gewollten Militärdiktatur, in Bukarest, wo ein korrupter Parlamentarismus mit den Diktaturgelüsten des Königs paktiert“.224 Ihre Annahme, kapitalistische Entwicklungen seien für das Zustandekommen des Faschismus bzw. faschistischer Regime und Bewegungen verantwortlich, führte Siemsen erst im Exil ausführlicher aus. Sie glaubte, eine neue, sozialistische Wirtschaftsordnung sei die einzig wirksame Lösung, um diese politischen Entwicklungen im Osten Europas aufzuhalten. Dies könne nur durch „ein demokratisches und sozialistisches Europa“ geschehen. Deswegen müssten „die Millionenscharen der Arbeiter“ erwachen und sich einen „vor ihrer großen Aufgabe, ein Europa der freien Arbeit und des brüderlichen Rechts zu schaffen“.225 Siemsen betonte, „[i]n Deutschland fällt darüber die Entscheidung“.226 Ihr war es wichtig, gerade in Deutschland politische Reformen umzusetzen, weil sie Deutschland in seiner Eigenschaft als Verbindungs- und Übergangsland die politische Hauptverantwortung für die Zukunft Europas zuschrieb. Mit dieser Charakterisierung des europäischen Ostens machte Siemsen deutlich, dass die kulturellen und politischen Wurzeln Europas für sie vorwiegend im westlichen Teil lagen. Deswegen kam Westeuropa in ihren Ausführungen auch eine hervorgehobene Position zu. Siemsen machte geographische Besonderheiten, nämlich die Flüsse Rhein und Donau, dafür verantwortlich, warum es im Osten zu den geschilderten politischen Entwicklungen gekommen sei, die ihn vom Westen ihrer Meinung nach unterschieden. Sie behauptete, die Donau sei im Gegensatz zum Rhein nie das „Tor in die Welt“227 gewesen. Die offene Verbindung in andere Teile der Welt durch Strom und Meere war offenbar ausschlaggebend dafür, welchen Teilen Europas Siemsen einen besonders hohen Grad der „Europäisierung“ gegenüber anderen europäischen Gebieten zuschrieb. Durch einen wirtschaftlichen Ausgleich in einem sozialistisch geeinten Europa wollte sie diese Unterschiede überwinden. Der westliche Teil Europas wurde von Siemsen positiv charakterisiert, er erschien als licht und hell, der östliche Teil Europas versinnbildlichte das, was negativ und dunkel war. Hier herrschte der Faschismus, hier war „Kampfgebiet“, hier lebten verelendete, rechtlose Menschen und es drohte „gefürchtete Wildheit“.228 Diese Charakterisierung des europäischen Ostens als roh, unzivilisiert und kämpferisch diente Siemsen wie auch vielen ihrer Zeitgenossen als Projektionsfläche, um die „eigene Kultur und […] ihre Rolle in der Welt zu definieren“. Deutschland und der Westen Europas wurden von Siemsen als „Brückenkopf westlicher Zivilisation gegenüber dem Osten“ betrachtet,229 sofern es möglich war, politische Reformen zur Überwindung nationalkonservativer, antidemokratischer und faschistischer 224 Ebd., S. 32. 225 Ebd. 226 Ebd., S. 33. 227 Ebd., S. 30. 228 Ebd. 229 Thum: Ex oriente lux, S. 7.

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Kräfte in Deutschland wirksam umzusetzen. Siemsen nahm mit dieser Charakterisierung von einem westlichen und einem östlichen Europa eine zeitgenössische Deutung in Deutschland auf, in der der „Reiz des Ostens […] in der Kombination von Nähe und Exotik“ bestand.230 Den Osten Europas bewertet Siemsen somit deutlich anders als Russland, dem sie zu Beginn der Weimarer Republik noch eine kulturelle Vorbildfunktion zugesprochen hatte. Gerade aufgrund der angenommenen ganz unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung in Russland hatte sie damals den „russischen Geist“ noch als den „Geist einer neuen menschlichen Gemeinschaft“231 beschworen. Es war diese vermeintliche gesellschaftliche und kulturelle „Ferne“ zu Deutschland, die sie veranlasst hatte, Russland als Vorbild für eine kulturelle Erneuerung Deutschlands anzuführen. Der Osten Europas schien Siemsen hingegen sehr nahe zu sein. Für Siemsens Zeitgenossen lag der Osten Europas schon gleich „jenseits der deutschen Ostgrenze“. Weder „Meere noch Gebirge“ waren zu überqueren, „der Übergang zum europäischen Osten war seit jeher nahtlos und unspektakulär“ gewesen.232 Siemsen erklärte: „Osteuropa fängt am Schlesischen Bahnhof in Berlin an, und ist in Warschau noch lange nicht zu Ende.“233 Vielleicht standen deswegen die Entwicklungen im Osten Europas für sie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Deutschland und dem Westen. Eine weitere Eigenschaft, die Siemsen Osteuropa zuschrieb, war die des „Koloniallandes“. Die Gebiete zwischen den Flüssen Elbe und Dnjepr etwa waren für sie solche Kolonialländer: „Aber das Unglück dieser Länder war seit Beginn der europäischen Geschichte, daß sie Kolonialländer waren; gewaltsam unterjocht, besiedelt und im Zaum gehalten, darum immer wieder gewaltsam sich empörend und feindlich sich verschließend gegen den Strom europäischer Kultur, den sie doch wieder nicht entbehren konnten.“234

Am Beispiel der sächsischen Stadt Meißen und seiner Umgebung erläuterte Siemsen genauer, was sie unter „Kolonialland“ verstand. Kolonialland war für sie dort, wo „Slawen und Deutsche sich mischen“. Im Rückgriff auf das Mittelalter schilderte sie dieses Aufeinandertreffen als eine Folge von Krieg und Unterdrückung, die mit dem Verschwinden der Slawen geendet habe.235 Mit dieser Charakterisierung der ehemals slawischen Gebiete als „Kolonialland“ bezog sich Siemsen auf eine seit dem 19. Jahrhundert tradierte Deutung der östlichen Gebiete als „Kolonien“, die vor allem in bürgerlichen Kreisen noch bis ins 20. Jahrhundert vorherrschend war. Ein Kolonialbegriff, der etwa mit den übersee230 Ebd., S. 8. 231 Siemsen: Russischer Geist, S. 23. 232 Thum: Ex oriente lux, S. 7. 233 Siemsen: Deutschland, S. 36. Siemsen übernahm diese Argumentation nahezu wortwörtlich von ihrem Bruder Hans Siemsen, der 1931 seine Reiseeindrücke, die er auf einer Russlandreise gesammelt hatte, in seinem Buch Russland. Ja und Nein veröffentlicht hatte: Vgl. Hans Siemsen: Russland. Ja und Nein, Berlin 1931, S. 205. 234 Siemsen: Deutschland, S. 36. 235 Ebd., S. 56.

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ischen Kolonien im „Süden“ verbunden wurde, war im Gegensatz dazu weniger präsent.236 In vielen Romanen seit Mitte des 19. Jahrhunderts spielte das „Sujet der kolonialen Germanisierung des slawischen ‚Ostens‘“ eine zentrale Rolle.237 Der Osten erschien hier vorwiegend als eine „Bedrohung der als ideal gesetzten Ordnung“, er war ein „Raum der Unruhe“ und „des vorgeschichtlichen Chaos“, der im Gegensatz zur „eigenen“ westlichen Kultur konzipiert wurde.238 Diese Deutung des Ostens nahmen völkische Gruppen schließlich auf, um „antipolnische und antirussische Stereotype“ zu aktivieren.239 Von diesen Deutungen grenzte sich Siemsen aber ab, indem sie gerade eine gewaltsame Kolonisierungspolitik im Rückgriff auf eben diese geschichtliche „Kolonisation“, die mit dem Untergang von Menschen geendet habe, ablehnte. Stattdessen plädierte sie dafür, dass „Deutsche und Slawen“ lernen müssten, „zusammen zu leben und miteinander auszukommen“.240 Die von ihr dargestellte, im Mittelalter erfolgte „Kolonisierung“ der slawischen Gebiete, stellte Siemsen noch in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der zeitgenössischen Kolonialpolitik der europäischen Mächte. Sie griff damit eine zeitgenössisch hochaktuelle Debatte innerhalb der deutschen Kolonialbewegung auf. Zu den Gebietsabtretungen, die das Deutsche Reich aufgrund des Versailler Vertrages nach Ende des Ersten Weltkrieges leisten musste, gehörte auch die Preisgabe der deutschen Kolonien in Übersee, in Afrika, in China und im Pazifik. Diese Abtretung der Kolonien bedeutete, ebenso wie auch die deutschen Grenzverschiebungen, für einen Großteil der Deutschen eine „besonders schmähliche nationale Demütigung“, die die deutsche Kolonialbewegung durch vehemente Forderungen nach Rückgabe des früheren Kolonialbesitzes noch in den späten 1920er Jahren zu kompensieren suchte.241 Die Kolonialbewegung setzte sich aus einer Vielzahl verschiedener kolonial ausgerichteter Organisationen zusammen, deren Mitglieder zum Teil auch Vertreter des Auswärtigen Amtes oder der deutschen Wirtschaft waren.242 Die Kolonialfrage, die immer wieder im Reichstag behandelt wurde, kam zwischen 1928 und 1930 noch einmal besonders deutlich zur Sprache, als England das nun unter seiner Ägide stehende ehemalige „Deutsch-Ostafrika“ enger an seine eigenen Kolonien binden wollte. Die beginnende Weltwirtschaftskrise wurde ebenfalls genutzt, um den Kolonialrevisionismus auf die politische Tagesordnung zu bringen.243 Wirtschaftsvertreter betonten in diesem Zusammenhang, nur eigener Kolonialbesitz 236 Uwe-K. Ketelsen: Der koloniale Diskurs und die Öffnung des Ostens im deutschen Roman, in: Mihran Dabag, Horst Gründer und Uwe-K. Ketelsen (Hg.): Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid (Schriftenreihe „Genozid und Gedächtnis“), München 2004, S. 67–94, hier S. 69. 237 Ebd., S. 72. 238 Ebd., S. 76. 239 Ebd., S. 81 f. Zitat auf S. 82. 240 Siemsen: Deutschland, S. 57. 241 Christian Rogowski: „Heraus mit unseren Kolonien!“ Der Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik und die „Hamburger Kolonialwoche“ von 1926, in: Birthe Kundrus (Hg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt am Main und New York 2003, S. 243–262, hier S. 243. 242 Ebd., S. 243. 243 Ebd., S. 244.

3.2 Auf der Suche nach Deutschland

197

„könne die wirtschaftliche Autonomie Deutschlands sichern“. Auf die Kolonien „als Rohstofflieferant, Absatzmarkt und Arbeitskräftereservoir“ könne daher nicht verzichtet werden.244 Diese Argumente versuchte Siemsen zu entkräften, indem sie die Folgen von Kolonisierung am Beispiel früherer deutscher Gebiete zu zeigen versuchte. Ihr ging es gerade nicht darum, wirtschaftliche Autonomie, die sie auch mit „wirtschaftlicher Isolation“ gleichsetzte, zu fördern, sondern abzuschaffen. Ihr Ziel war es, einen europaweiten wirtschaftlichen Ausgleich zu erreichen, der sich schließlich auch auf die übrige Welt erstrecken sollte. Denn sie hatte stets die Auffassung vertreten, dass die wirtschaftlichen Entwicklungen weltweit miteinander unauflöslich zusammenhingen. Deshalb plädierte sie für eine neue einheitliche Wirtschaftsordnung, die diesen Entwicklungen Rechnung trage, ohne Unterdrückung und Kriegsgefahr zu fördern. Siemsen erklärte, „[d]ie Geschichte des Mittelalters ist der Kampf um Grundbesitz, wie die Geschichte der Neuzeit der Kampf um Warenmärkte ist“. Ein solcher Kampf führe stets zum Aufstand der Unterdrückten, der immer „[m]it der Vernichtung der Schwächeren“ ende: „Wie die nordamerikanischen Indianer, so schwanden die Slawen zwischen Saale und Elbe dahin.“245 Die Situation, unter der sich die Slawen befunden hätten, war für sie die „gleiche wie Jahrhunderte später bei Indianern, Negern, Marokkanern und allen Kolonialvölkern der Erde“.246 In Siemsens Gleichsetzung der Slawen in den späteren deutschen Gebieten mit den zeitgenössischen „Kolonialvölkern“ schien Deutschland nicht nur die Entwicklung Europas im Kleinen widerzuspiegeln, sondern auch eine universale Geschichte zu verkörpern. Siemsens Plädoyer, Slawen und Deutsche müssten „lernen, zusammen zu leben und miteinander auszukommen“ war daher wohl auch eine Aufforderung an die Deutschen, Menschen in anderen Ländern respektieren zu lernen. Vor allem aber richtete sich Siemsen mit diesem Plädoyer gegen die geforderten Grenzrevisionen im Osten Deutschlands, um die sich zeitgenössisch die deutsche Reichsregierung bemühte. Nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages hatte das Deutsche Reich Teile seiner östlichen Gebiete wie Westpreußen und Oberschlesien an Polen abtreten müssen. Zuvor war 1919 eine Abstimmung der in Oberschlesien lebenden Deutschen und Polen vorgenommen worden. Obwohl die Mehrheit der Stimmen zugunsten Deutschlands ausfiel, teilten die Siegermächte Oberschlesien auf, das wegen seiner Rohstoffe und seiner Industrie wirtschaftlich gut aufgestellt war und nun zum Teil an Polen fiel. Die Erinnerung an die gewalttätigen sogenannten Abstimmungskämpfe in dieser Region lebten noch bis in die späten Jahre der Weimarer Republik fort, in denen Oberschlesien als „antidemokratische Mythologie“ für die Forderungen nach Grenzrevisionen im Osten angeführt wurde.247 Aus diesem 244 Ebd., S. 250. 245 Siemsen: Deutschland, S. 56. 246 Ebd., S. 55 f. 247 Juliane Haubold-Stolle: Mythos Oberschlesien in der Weimarer Republik. Die Mythisierung der oberschlesischen Freikorpskämpfe und der „Abstimmungszeit“ (1919–1921) im Deutschland der Zwischenkriegszeit, in: Heidi Hein-Kircher und Hans Henning Hahn (Hg.): Politische

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3. Politische Krisenjahre und ein Europa der Einheit (1928 bis 1933)

Grund fand wohl die Auseinandersetzung mit der deutsch-polnischen Grenze bzw. mit dem Verhältnis von Polen und Deutschen in Siemsens Deutschland-Buch sogar mehrfach Erwähnung. Siemsen betonte, es gebe „aber im ganzen Osten keine gerechte Grenze zwischen Polen und Deutschland, weil es keine Wirtschaftsgrenzen und weil es keine Sprachgrenzen gibt“. Sie glaubte, „Deutschland und Polen sind miteinander verwachsen wie die siamesischen Zwillinge“.248 Siemsen befürchtete einen endlosen Machtkampf, in dem einmal die Deutschen vorrücken würden, „bald gewinnen die Slawen neuen Boden“,249 und behauptete: „[D]ie starren Grenzen der souveränen Staaten sind sinnloser geworden, als sie es in der Vergangenheit waren. Es gibt nur noch einen Ausweg aus unserem so ineinander verfitzten Schicksal: die Vereinigten Staaten von Europa.“250 Diese Grenzfragen wurden jedoch in weiten Teilen der Gesellschaft wie innerhalb der Reichsregierung aufgrund machtstaatlicher und wirtschaftlicher Interessen bewertet. Zu Beginn der 1930er Jahre versuchten Julius Curtius (1877–1948) von der DVP, der nach Stresemanns Tod neuer Außenminister wurde, und Bernhard von Bülow (1885–1936), der Staatssekretär im Auswärtigen Amt war, Polen wirtschaftlich zu isolieren und auf diese Weise eine Revision der deutschen Ostgrenze herbeizuführen. Diesem Zweck sollte die geplante Zollunion mit Österreich dienen, die zudem als erster Schritt für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich vorgesehen war. Eine Zollunion mit Österreich würde, so der Plan, Ungarn und die Tschechoslowakei, möglichst auch Jugoslawien und Rumänien zum Beitritt bewegen, was Polen wirtschaftlich unter Druck setzen könnte. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland sollten dadurch verbessert werden.251 Um eine solche Politik zu verhindern, hoffte Siemsen auf die schlesischen Arbeiter und auf den Tag, „an dem sie zur Grenze marschieren, aber nicht zum Kriege, sondern um die unheilvollen, die blutbefleckten, die sinnlosen Grenzzeichen niederzureißen. Polnischer Kumpel, deutscher Genosse, wollen wir nicht zusammen arbeiten, uns freuen, gute Kameraden sein in einer friedlichen Welt?“252

Siemsen zog in ihren Ausführungen nicht nur „konzeptuelle“ Grenzen zwischen West- und Osteuropa. Anhand unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen, die die verschiedenen deutschen Gebiete geprägt hätten und noch zeitgenössisch prägen würden, errichtete Siemsen überall in Deutschland solche Grenzen. Bayern, „das so streng seine Stammeseigenart wahrt“, war für Siemsen beispielsweise „viel fremderes Ausland für das krisengeschüttelte Industrieland

Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa (Tagungen zur OstmitteleuropaForschung, Bd. 24), Marburg 2006, S. 279–299, hier S. 279–281, Zitat auf S. 281. 248 Siemsen: Deutschland, S. 36. 249 Ebd., S. 56. 250 Ebd., S. 37. 251 Rolf Schneider: Europas Einigung und das Problem Deutschland. Vorgeschichte und Anfänge (Europäische Hochschulschriften Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 852), Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 186 f. 252 Siemsen: Deutschland, S. 141.

3.2 Auf der Suche nach Deutschland

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Deutschland als Oesterreich, die Schweiz, als Frankreich und England“.253 Dagegen versuchte Siemsen, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen, die sich in Deutschland abgespielt hatten, mit ähnlichen Entwicklungen in anderen Erdteilen gleichzusetzen und damit zu zeigen, wie eng verbunden Deutschland auch mit außereuropäischen Ländern sei. Die „Geschichte von Glauchau und seinen Webern“ brachte Siemsen beispielsweise in einen unmittelbaren Zusammenhang mit einer Geschichte, „die sich überall abgespielt hat, wo Menschen spannen und webten – sie spielt sich heute mit einigen zeit- und ortgemäßen Varianten in China und Indien ab“.254 Während Siemsen an diesen Beispielen „die Geschichte des menschlichen Gewerbes, der menschlichen Produktivkräfte überhaupt“255 beschreiben wollte, sollten die „innerdeutschen“ Grenzziehungen dazu dienen, die zeitgenössische Lage Deutschlands zu erklären. Deutschland wurde von Siemsen als zersplittert beschrieben. Damit konnte sie ihre Forderungen nach einem sozialistischen Deutschland begründen. Denn nur durch die Einheit der Arbeiter, die sozialistischen Reformen zum Durchbruch verhelfen sollten, könne Deutschland „geeint“ werden. Da Siemsen Deutschland als ein Europa im Kleinen charakterisierte, kam für sie nur die sozialistische Einigung Deutschlands als erster Schritt für die Vereinigten Staaten von Europa infrage. Im Gegensatz zu den Literarischen Streifzügen und Daheim in Europa nahm der wirtschaftliche Aspekt in Siemsen Deutschland-Buch einen zentralen Stellenwert ein. Im Exil sollte Siemsen diesen Aspekt in ihren Europa-Konzepten wieder aufnehmen. Trotz zunehmender Forderungen nach einer wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas blieb die Entwicklung eines „europäischen Bewusstseins“ aber weiterhin ein wichtiges Thema in den 1930er und 1940er Jahren. Siemsen vermittelte in ihrem Deutschland-Buch grundlegende Vorstellungen zu Europa und entwarf damit zugleich ein erweitertes Deutschland-Konzept. Diese Konzeption ähnelte, auch wenn Siemsen entgegengesetzte Vorstellungen damit verband, anderen zeitgenössischen Europa-Konzepten, beispielsweise etwa dem, das in der jungkonservativen Zeitschrift Gewissen entworfen wurde. Diese Zeitschrift sollte das „Sprachrohr einer neuen Elite“ der Frontkämpfergeneration sein, die ein auf dem Volksgemeinschaftsgedanken basierendes neues Nationalgefühl schaffen wollte.256 Europa wurde hier nicht wie bei Siemsen als Legitimationsstrategie für sozialistische Reformen angeführt, sondern als Legitimation für die Durchsetzung machtstaatlicher und revisionistischer Ziele, die man über eine europäische Zusammenarbeit zu erreichen hoffte.257 Deshalb war in dieser Zeitschrift die Europa-Konzeption „eine erweiterte Deutschland-Konzeption“. Die Jungkon253 Ebd., S. 84. 254 Ebd., S. 96. 255 Ebd. 256 Michel Grunewald: „Reichseuropa“ gegen „Paneuropa“. Die Europa-Auffassung der jungkonservativen Zeitschrift Gewissen, in: ders. und Bock: Le discours européen (1918–1933), S. 313–341, hier S. 317. 257 Ebd., S. 319 f.

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3. Politische Krisenjahre und ein Europa der Einheit (1928 bis 1933)

servativen glaubten, was Deutschland zu Gute komme, entspreche auch den Interessen ganz Europas. Die Deutschland-Vorstellung basierte hier auf dem Konzept „Volkstum“. Deutschlands Grenzen sollten das Elsass und die flämischen Gebiete umfassen sowie auf die mittel- und osteuropäischen Gebiete erweitert werden.258 Waren für die Jungkonservativen die „Frontkämpfer“ die Hoffnung der Zukunft, so war es für Siemsen die weitgefasste Gruppe der „Arbeiter“. Schließlich hoffte sie aber wohl auf alle Deutschen, denn am Ende ihres Buches schrieb sie: „Sie alle, Organisierte und Unorganisierte, Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder und ihre Erzieher, Arbeiter im Betrieb, und alte Frauen, die von ihrem Fenster aus die Welt sich ändern sehen […], sie sind Deutschlands Zukunft, das wahre Deutschland, an das wir glauben, […] das immer deutlicher, immer reicher, immer unverkennbarer aus dem Schmelztiegel sich erhebt, in dem das alte Deutschland vergeht.“259

3.3 AUF DEM WEG INS EXIL Siemsens Hoffnung auf einen politischen Umschwung in Deutschland sollte sich nicht erfüllen. Die Arbeiterbewegung war seit Ende der 1920er Jahre gespalten, was sich auch bei den kommenden Wahlen zeigte. Die Wählerbasis der SPD verringerte sich seit dieser Zeit allmählich, dagegen legte die KPD an Stimmen zu. Bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 ging die NSDAP als Sieger hervor, die nun knapp 40 Prozent der Stimmen erhielt.260 Einzig in Preußen konnte die SPD bis 1932 an der Regierung bleiben. Hier war sie seit 1919 ununterbrochen an der Landesregierung in wechselnden Koalitionen beteiligt gewesen.261 Im Juli 1932, kurz vor den Reichstagswahlen, gelang es den rechts-konservativen Kräften jedoch, einen verfassungswidrigen Staatsstreich gegen die sozialdemokratische Regierung in Preußen und ihren Ministerpräsidenten Otto Braun (1872–1955) einzuleiten, der als „Preußenschlag“ in die Geschichte eingehen sollte.262 Im Vorfeld der Reichstagswahlen war es zu gewalttätigen Straßenkämpfen gekommen, die hauptsächlich auf das Konto der paramilitärischen nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) gingen, deren Verbot kurz zuvor aufgehoben worden war. Die Eskalationen wurden von der Reichsregierung unter Franz von Papen (1879–1969) zum Anlass genommen, die preußische Polizei dafür verantwortlich zu machen. Über Preußen wurde der Ausnahmezustand verhängt. Im Rückgriff auf Artikel 48 der Reichsverfassung ernannte Reichspräsident von Hindenburg von Papen zum Reichskommissar für Preußen, der daraufhin die preußischen Regierungsmitglieder aus ihren Ämtern

258 Ebd., S. 325 f. 259 Siemsen: Deutschland, S. 156. 260 Büttner: Weimar, S. 473. 261 Walter: Die SPD, S. 79. 262 Heinrich August Winkler: Der „Preußenschlag“ – von Papens Staatsstreich gegen das sozialdemokratische Preußen, in: Faulenbach und Helle: Menschen, Ideen, Wegmarken, S. 101–106. Ausführlich zum „Preußenschlag“: ders.: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin und Bonn 1987, S. 646–680.

3.3 Auf dem Weg ins Exil

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entließ.263 Die SPD fiel fortan „in die Rolle des ohnmächtigen Beobachters“.264 Mit diesem Ereignis verließ im Jahr 1932 eine Partei die politische Bühne, die allein neben der Zentrums-Partei das politische System von Weimar noch verteidigt hatte. Mit der preußischen „Bastion“ im Rücken hatte sie seit 1930 mit ihrer Tolerierungspolitik versucht, „im Bund mit den gemäßigten Kräften des Bürgertums“ den aufsteigenden Nationalsozialismus abzuwehren.265 In Siemsens Lebensmittelpunkt, in Thüringen, war schon Mitte der 1920er Jahre ein starkes völkisches Netzwerk aufgebaut worden. Deswegen war es der NSDAP dort gelungen, „einen flächendeckenden, hochmotivierten und gut finanzierten Parteiapparat“ auf die Beine zu stellen.266 Zu Beginn des Jahres 1930 war die NSDAP hier das erste Mal an einer Landesregierung beteiligt. Den Posten des Innen- und Volksbildungsministers hatte Hitlers langjähriger Parteifreund Wilhelm Frick (1877–1946) übernommen, der damit der erste nationalsozialistische Minister in Deutschland wurde. Im Frühjahr 1932 musste er jedoch aufgrund eines Misstrauensvotums der SPD und der bürgerlichen Regierungsparteien zurücktreten.267 Im Sommer 1932 konnte die NSDAP schließlich die Macht in Thüringen wieder übernehmen.268 Unter der nationalsozialistischen Regierung musste Siemsen 1932 auch einen persönlichen Rückschlag verkraften. Am Heiligabend wurde ihr die „Erlaubnis zum Halten von erziehungswissenschaftlichen Vorlesungen an der Landesuniversität Jena“ entzogen.269 Damit hatte Siemsen, die sich immer noch im „Wartestand“ befand, auch ihre Honorarprofessur verloren. Die Nachricht erreichte Siemsen, die sich gerade in Zwickau in einem Krankenhaus befand, über den Rektor der Universität Jena erst Anfang Januar 1933.270 Auslöser für die Entscheidung des Ministeriums war Siemsens Unterschrift für einen Protest, der sich gegen die Entziehung der 263 Winkler: Der „Preußenschlag“, S. 101 f. 264 Büttner: Weimar, S. 437. 265 Winkler: Der „Preußenschlag“, S. 104. 266 Karsten Rudolph: Untergang auf Raten. Die Auflösung und Zerstörung der demokratischen Kultur in Thüringen 1930 im regionalen Vergleich, in: Lothar Ehrlich und Jürgen John (Hg.): Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, Köln, Weimar und Wien 1998, S. 15–29, S. 16 f. Zitat auf S. 17. Siehe auch: Franz Walter: Von der roten zur braunen Hochburg: Wahlanalytische Überlegungen zur NSDAP in den beiden thüringischen Industrielandschaften, in: Heiden und Mai: Nationalsozialismus, S. 143–164. Laut Walter, der vor allem das Wahlverhalten der Arbeiterschichten analysiert hat, wurde die NSDAP in Thüringen auch von Nichtwählern, Industriearbeitern und ehemaligen SPD- oder KPD-Anhängern gewählt. Die NSDAP verzeichnete dort keine Erfolge, wo es ein gut vernetztes sozialistisches Organisationswesen gab, das die Lebenswelt der Arbeiterschaft nachhaltig prägte: ebd., S. 163 f. 267 Rudolph: Untergang, S. 15 f. Vgl. auch Günter Neliba: Wilhelm Frick und Thüringen als Experimentierfeld für die nationalsozialistische Machtergreifung, in: Detlev Heiden und Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar, Köln und Wien 1995, S. 75–94, hier S. 76 f. Siehe zum Rücktritt von Frick ebd., S. 91–93. 268 Rudolph: Untergang, S. 28. 269 UAJ, Bestand BA, Nr. 932, Bl. 28: Thüringisches Volksbildungsministerium an den Rektor der Thüringischen Landesuniversität in Jena, Weimar vom 24. Dezember 1932. 270 Ebd., Bl. 29: Siemsen an den Rektor der Universität Jena, Zwickau vom 4. Januar 1933.

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3. Politische Krisenjahre und ein Europa der Einheit (1928 bis 1933)

Lehrberechtigung des außerordentlichen Professors Emil Julius Gumbel (1891– 1966) richtete, der bis zum August 1932 an der Universität Heidelberg das Fach Statistik zunächst als Privatdozent gelehrt hatte. Dieses Ereignis wurde in sozialistischen Kreisen einhellig als Angriff auf die Lehrfreiheit und als Zeichen der „Verfolgung von Gelehrten wegen ihrer politischen Gesinnung“ angesehen.271 Gumbel war schon zu Beginn der Weimarer Republik in die Kritik rechts-konservativer und antidemokratischer Gruppen geraten. 1921 hatte er sein Buch Zwei Jahre Mord veröffentlicht, das 1922 in erweiterter Fassung unter dem Titel Vier Jahre politischer Mord erschien.272 In seiner Eigenschaft als Statistiker hatte Gumbel umfangreiches Datenmaterial über politische Morde seit 1919 zusammengetragen, das keinen Zweifel daran ließ, dass diese Morde in ihrer überwiegenden Mehrheit von politisch rechtsstehenden Personen begangen worden waren. Ferner konnte er nachweisen, dass die Justiz die Morde von links sehr viel härter ahndete als die Morde von rechts. Im Verlauf der Weimarer Republik wurden gegen den Sozialisten und Pazifisten Gumbel, der mit Siemsen zusammen in der Deutschen Liga für Menschenrechte aktiv war, mehrere, später wieder eingestellte Verfahren wegen Landesverrats eingeleitet. 1931 erschien ein weiteres Buch mit dem Titel „Lasst Köpfe rollen“, in dem Gumbel analog zu seinen ersten Büchern nun Morde aufdeckte, die von Nationalsozialisten begangen worden waren.273 Gewalttätige Ausschreitungen nationalsozialistischer Studentengruppen, die gegen seine Ernennung zum Professor demonstrierten, führten schließlich im Sommer 1932 zum Entzug von Gumbels Lehrberechtigung durch das badische Kultusministerium.274 Die Deutsche Liga für Menschenrechte startete daraufhin eine Unterschriftenaktion gegen den Entzug von Gumbels Lehrberechtigung, an der sich neben Siemsen etwa 40 weitere Personen beteiligten.275 Die Unterschriftenaktion wurde in mehreren Tageszeitungen u. a. im Berliner Tageblatt veröffentlicht. Siemsen bezog auf Anfrage des Rektors der Universität Jena Stellung zu ihrer Unterschrift für Gumbel und erklärte, die Eingabe zum Verbleiben Gumbels in seinem Amt sei „im Interesse der Gesinnungsfreiheit“ verfasst worden und entspreche auch ihrer „Über-

271 N. N.: Der Fall Gumbel. Ein Attentat gegen die akademische Lehrfreiheit, in: Sozialistische Bildung 7 (1932), Heft 9, S. 187–189, hier S. 187. 272 Emil Julius Gumbel: Zwei Jahre Mord, Berlin 1921 und Emil Julius Gumbel: Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922. 273 Emil Julius Gumbel: „Lasst Köpfe rollen“. Faschistische Morde 1924–1931, Berlin o. J. [1931]. 274 Die Informationen zu Emil Julius Gumbel und den hier geschilderten Ereignissen sind entnommen aus: Wolfgang Benz: Emil J. Gumbel. Die Karriere eines deutschen Pazifisten, in: Ulrich Walberer (Hg.): 10. Mai 1933. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen, Frankfurt am Main 1983, S. 160–198 und Christian Jansen: Gumbel, Emil Julius, in: Asendorf und von Bockel: Demokratische Wege, S. 225–226. Siehe auch Franz Josef Lersch: Politische Gewalt, politische Justiz und Pazifismus in der Weimarer Republik. Der Beitrag E. J. Gumbels für die deutsche Friedensbewegung, in: Holl und Wette: Pazifismus in der Weimarer Republik, S. 113– 134. 275 Die Zahlenangabe vermerkte Siemsen in ihren Erinnerungen: Siemsen: Mein Leben, S. 80. Die „Erklärung“ mitsamt der Unterschriftenliste befindet sich auch in: UAJ, Bestand BA, Nr. 932, Bl. 23.

3.3 Auf dem Weg ins Exil

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zeugung“. Deshalb habe sie unterschrieben.276 Nach eigener Aussage war Siemsen die einzige Person an der Jenaer Universität, die die Eingabe unterzeichnet und die „unter einer Naziregierung protestiert“ hatte. Deshalb sei sie auch die einzige gewesen, die „deswegen diszipliniert“ worden und als „eines der ersten Opfer […] dem beginnenden Terror“ anheimgefallen sei.277 Als Hitler am 30. Januar 1933 von Reichspräsident von Hindenburg zum Kanzler ernannt wurde, glaubten weite Teile der alten Eliten in Militär, Industrie und Bürgertum noch, die Weimarer Republik mit seiner Hilfe in einen autoritären Staat in ihrem Sinne umformen zu können. Für ihr Ziel, das demokratisch-parlamentarische System von Weimar zu überwinden, schien die NSDAP zunächst „ein akzeptabler Bundesgenosse“ zu sein.278 Die Regierung Hitler war zunächst wie die Regierungen seit 1930 ein Präsidialkabinett, aber eines, hinter dem eine „ihm bedingungslos ergebene dynamische Massenpartei sowie eine nach Hundertausenden zählende paramilitärische Organisation“ stand.279 Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 und der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ am folgenden Tag wurden die Presse- und Meinungsfreiheit sowie die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Die sozialdemokratische Presse wurde verboten und politische Gegner wurden verfolgt.280 Auch die internationale Arbeit der deutschen Europa-Organisationen wurde nach Machtantritt der Nationalsozialisten unterbrochen. Deutsche Dependancen internationaler Verbände wie etwa die deutsche Sektion der Paneuropa-Union oder das Deutsche Komitee für Europäische Cooperation wurden aufgelöst bzw. lösten sich selber auf.281 Im Verlauf des Frühjahrs hatte die nationalsozialistische Führung einen „Prozeß der Gleichschaltung“ eingeleitet, durch den „nahezu alle Bereiche der deutschen Gesellschaft“ erfasst und „nach den Ordnungsvorstellungen der neuen Machthaber“ reorganisiert werden sollten.282 Mit Inkrafttreten des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ am 7. April 1933 wurden zunächst Beamte und dann Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entlassen, die entweder als „Nichtarier“ oder als „politisch unerwünscht“ galten.283 Siemsen, die sich seit 1924 im „Wartestand“ befand, wurde aufgrund dieses Gesetzes am 9. Mai 1934 aus politischen Gründen endgültig ihres Amtes in Thüringen enthoben.284

276 UAJ, Bestand BA, Nr. 932, Blatt 20: Siemsen an den Rektor der Universität Jena, Zürich vom 5. Oktober 1932. 277 Siemsen: Mein Leben, S. 80. 278 Kolb und Schumann: Die Weimarer Republik, S. 150–152, Zitat auf S. 152. 279 Ebd., S. 150. 280 Michael Grüttner: Das Dritte Reich 1933–1939 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19), 10. Aufl. Stuttgart 2014, S. 52. 281 Burgard: Das gemeinsame Europa, S. 230. 282 Grüttner: Das Dritte Reich, S. 62. 283 Ebd., S. 64. 284 ThHStAW, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 26674, Bl. 200: Entlassungsbeschluss vom 9. Mai 1934 aufgrund des Paragraphen 4 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“.

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3. Politische Krisenjahre und ein Europa der Einheit (1928 bis 1933)

Siemsen rechnete unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 „mit einer langen Periode der Unterdrueckung, bei der mir aber persönliche Arbeit in der Stille als Vorbereitung des späteren Neuaufbaus vorschwebte“.285 Nach dem Reichstagsbrand begann sie, die Gefahr zu erkennen, in der sie sich als Sozialistin befand und entschied sich dafür, eine für das Frühjahr 1933 geplante „Erholungs- und Studienreise in die Schweiz“ früher anzutreten:286 „Am 15. März fuhr ich ueber die Schweizer Grenze.“287 Siemsen berichtete rückblickend, gewusst zu haben, dass es nur einen „Kampf auf Leben und Tod oder die Verbannung“ für sie geben könne. Sarkastisch schrieb sie im Exil, es sei „eine recht heilsame Erfahrung, so losgelöst vom eigenen Leben zu beobachten was geschieht, beinahe als wenn man von jenseits des Grabes auf die Erde sehe“.288

285 Siemsen: Mein Leben, S. 82. 286 Ebd., S. 82 f. Zitat auf S. 82. 287 Ebd., S. 85. 288 Ebd., S. 81.

II. POLITISCHE ARBEIT FÜR EIN NEUES EUROPA. IM SCHWEIZER EXIL (1933 BIS 1946)

II. Politische Arbeit für ein neues Europa

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Als Anna Siemsen in der Schweiz Zuflucht suchte, gehörte sie zu der ersten großen Gruppe von politischen Flüchtlingen, die sich durch ihr politisches Engagement entweder publizistisch, im Umfeld von Parteien, Gewerkschaften oder anderen politischen Organisationen als Gegnerinnen und Gegner des Nationalsozialismus exponiert hatten. Viele dieser Personen flohen wie Siemsen unmittelbar nach dem Machtantritt Hitlers oder nach dem Reichstagsbrand aus Angst vor Verfolgung und Verhaftung oftmals überstürzt aus Deutschland.1 Siemsen gehörte damit auch zu den rund 80.000 Flüchtlingen, die bis 1935 nach zeitgenössischen Rechnungen des Völkerbundes das Deutsche Reich verließen oder verlassen mussten. Davon zählte zu diesem Zeitpunkt die politische Emigration im engeren Sinne etwa 16.000 bis 19.000 Personen.2 Insgesamt umfasste die deutschsprachige Emigration „etwa eine halbe Million“ Menschen.3 Siemsen wird in dieser Arbeit der politischen Emigration zugerechnet.4 Sie ging als Sozialistin ins Exil, die sich gegen nationale, völkische und nationalsozialistische Politik gewandt hatte.5 Neben ihrer formalen Mitgliedschaft in der SPD und der SAPD waren es ihre sozialistischen Grundüberzeugungen, die ihre Weltanschauung und ihre gesamte berufliche, politische und publizistische Arbeit prägten. Sie selbst hatte ihre gesamten Tätigkeiten stets als politisch betrachtet. Siemsen gehörte auch deswegen zum politischen Exil, weil sie „die aktive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vom Ausland her“ fortsetzte.6 Ihr „Vorsatz“ blieb während ihrer gesamten Exilzeit hindurch, nach „Kräften Leben und Arbeit gegen die unrechtmässige Gewaltherrschaft über Deutschland und für ein anderes

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Werner Röder: Die politische Emigration, in: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998, S. 16–30, hier S. 16 f. Mitte des Jahres 1933 erfolgte die zweite Fluchtwelle, kurz nachdem in Deutschland „Presse- und Versammlungsverbot“ eingeführt, KPD und SPD verboten worden waren und die bürgerlichen Parteien die sogenannte Selbstauflösung vollzogen hatten. Ebd., S. 18. 2 Ebd., S. 21. 3 Krohn u. a.: Anlässe, Rahmenbedingungen und lebensweltliche Aspekte. Einleitung, in: dies: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 1–16, hier S. 1. 4 In der Exilforschung sind drei Gruppen von Flüchtlingen aufgestellt worden, die nach „Fluchtzwängen“ definiert wurden: So gibt es die größte Gruppe der „jüdischen Flüchtlinge, die politischen Emigranten und die kulturellen Dissidenten“. Es wurde aber auch auf die Problematik einer solchen Unterteilung aufmerksam gemacht. Die von der Forschung im Nachhinein so definierten Gruppen waren jeweils sehr heterogen. Diese Einteilung berücksichtigt beispielsweise weder Überschneidungen und Überlagerungen des „Fluchtzwanges“ noch die individuelle Fluchtmotivation, die sich mit dem sogenannten äußeren Fluchtzwang nicht decken musste. Ebd., S. 1 f. 5 Diesen Sachverhalt beschreibt auch Jungbluth: Anna Siemsen, Fußnote 15 auf S. 179. Jungbluth ordnet Siemsen der „pädagogisch-politischen“ Emigration zu. Vgl. ebd., S. 178 f. 6 So die Definition von politischen Emigranten bei Werner Röder: Die politische Emigration, in: Krohn u. a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 16–30, hier S. 17.

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II. Politische Arbeit für ein neues Europa

Deutschland einzusetzen“.7 Auch die zeitgenössischen öffentlichen Stellen in der Schweiz und Teile der Bevölkerung nahmen Siemsen vor allem als politische Aktivistin wahr.8 Sie gehörte zu jenen Emigrantinnen und Emigranten, die „mit dem Gesicht nach Deutschland“9 lebten, die ein deutsches Nachbarland als Exilland wählten, sich an Exilpolitik beteiligten, sich trotz einschneidender negativer Erfahrungen fortwährend mit ihrem Herkunftsland identifizierten und schließlich nach Kriegsende nach Deutschland zurückkehrten.10 In der Exilforschung ist das politische Handeln von weiblichen Emigranten im Verhältnis zu männlichen Emigranten bislang wenig untersucht worden.11 Im Fokus der sogenannten Frauenexilforschung standen und stehen autobiographische Texte von Emigrantinnen oder Arbeiten, die Emigrantinnen unter künstlerischen oder beruflichen Aspekten untersuchen.12 Oft wird dabei auf die emanzipatorische Chance verwiesen, die das Exil für Frauen geboten habe, weil die Exilerfahrung einen „radikalen Neuanfang“ beinhaltet habe.13 Obwohl durchaus politisches Engagement von Emigrantinnen zur Sprache kommt, dominiert vor allem das alltagsge-

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Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: EB 70/117: Siemsens Antwort auf einen Fragebogen der American Guild for Cultural Freedom o. O. und o. J. Vgl. den Bestand über Anna Siemsen im Bundearchiv Bern: BAR, E4320B, 1975/40, 10: Dossier Siemsen-Vollenweider, Anna. So der Titel einer ersten wissenschaftlichen Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration am Beispiel des SPD-Politikers Friedrich Stampfer (1874–1957): Erich Matthias (hg. im Auftrag der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien, bearbeitet von Werner Link): Friedrich Stampfer. Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration (aus dem Nachlaß von Friedrich Stampfer, ergänzt durch andere Überlieferungen), Düsseldorf 1968. Siehe die Definition von politischem Exil in Abgrenzung zur ‚[e]rzwungene[n] Auswanderung‘ bei Werner Röder: Einleitung, mit einem Beitrag von Herbert A. Strauss zur jüdischen Emigration und zur Tätigkeit der Research Foundation for Jewish Immigration, in: dies.: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, München u. a. 1980, S. XIII–LVIII, hier S. XIV. Siehe hier auch den Eintrag über Anna Siemsen auf S. 696–697. Siehe dazu den Sammelband von Häntzschel und Hansen-Schaberg: Politik – Parteiarbeit – Pazifismus. Siehe in einer Auswahl beispielsweise: Adriane Feustel und Inge Hansen-Schaberg (Hg.): Die Vertreibung des Sozialen (Frauen und Exil, Bd. 2), München 2009; Germaine Goetzinger und Inge Hansen-Schaberg (Hg.): „Bretterwelten“. Frauen auf, vor und hinter der Bühne (Frauen und Exil, Bd. 1), München 2008; Krohn u. a.: Frauen und Exil. Ausgewählte Aufsätze sind beispielsweise: Atina Grossmann: „Neue Frauen“ im Exil. Deutsche Ärztinnen und die Emigration, in: Kirsten Heinsohn und Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 28), Göttingen 2006, S. 133–156; Beate Schmeichel-Falkenberg: Frauen im Exil. Frauen in der Exilforschung, in: Evelyn Adunka und Peter Roessler (Hg.): Die Rezeption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exilforschung, Wien 2003, S. 343–350. Siglinde Bolbecher: Vorbemerkung, in: dies. (Hg.): Frauen im Exil (Zwischenwelt, Bd. 9), Klagenfurt 2007, S. 9–14, hier S. 10.

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schichtliche Erkenntnisinteresse.14 Trotz der Mahnung, tradierte Geschlechtertypologien nicht zu reproduzieren,15 schimmert in manchen Ausführungen bis in die jüngere Zeit hinein das Bild der flexiblen, anpassungsfähigen Emigrantin durch, die als Ehefrau „Mehrfachbelastungen […] selbstverständlich und klaglos auf sich“ genommen habe.16 Neuere Untersuchungen plädieren deshalb dafür, das tradierte Bild von Emigrantinnen als „Partnerinnen, Ehefrauen, Mütter[n]“ zu hinterfragen und ihre politischen Aktivitäten auch abseits der vorderen Reihen etwa in Parteien oder Widerstandsorganisationen zu analysieren.17 Als Untersuchungsfelder für die verschiedenen geschlechtsspezifischen Handlungsspielräume und Tätigkeitsfelder von Emigrantinnen „unter Berücksichtigung der Ausnahmesituation von Bedrohung, Vertreibung und Exil“18 wurden vier Ebenen vorgeschlagen, die sich auch überschneiden können: „Politik im Umfeld der Parteiorganisationen“, politische Tätigkeit abseits von Parteien beispielsweise in pazifistischen Organisationen, soziales Engagement sowie künstlerisches und journalistisches Engagement.19 Siemsen nahm in der heterogenen Gruppe der weiblichen Emigranten eine herausragende Rolle ein, denn sie war auf allen genannten politischen Tätigkeitsfeldern aktiv. Sie unterhielt Kontakte zu verschiedenen politischen Kreisen und Organisationen, die ihre Ziele und Vorstellungen teilten. Ihre politischen Handlungsspielräume basierten überwiegend auf einem seit längerer Zeit bestehenden politischen Netzwerk und auf beruflichen Kompetenzen, die sie schon durch ihre Arbeit in der Weimarer Republik erworben hatte. So fand sie im Schweizer Exil eine politische Heimat in der Schweizer Sozialdemokratie bzw. in der Schweizer Arbeiterbildungsbewegung und konnte darüber hinaus durch ihr frauenpolitisches Engagement, das bereits in der Weimarer Republik eingesetzt hatte, seit Ende 1934 die Redaktion der Zeitschrift Frauenrecht übernehmen, die seit 1938 unter dem Titel Die Frau in Leben und Arbeit als Organ der sozialdemokratischen Frauenorganisation erschien.20 Sie engagierte sich in pazifistischen Verbänden wie dem Schwei14 Beate Schmeichel-Falkenberg: Frauenexilforschung. Spurensuche und Gedächtnisarbeit, in: Bolbecher: Frauen im Exil, S. 15–20 und Heike Klapdor: Überlebensstrategie statt Lebensentwurf. Frauen in der Emigration, in: Krohn u. a.: Frauen und Exil, S. 12–30. 15 Klapdor: Überlebensstrategie, S. 15 f. 16 Schmeichel-Falkenberg: Frauenexilforschung, S. 19. 17 Häntzschel: Was ist politisches Handeln?, S. 15. 18 Ebd., S. 14. 19 Ebd., S. 16 f. 20 Jungbluth: Anna Siemsen, S. 182 und Bauer: Das Leben der Sozialistin, S, 11. Siemsen übernahm entweder im Oktober oder November 1934 die Redaktion der Zeitschrift. Im Septemberheft verabschiedete sich die vorhergehende Redakteurin, ohne aber ihre Nachfolgerin namentlich zu erwähnen. Vgl.: N. N.: Abschiedsgruß der alten Redaktorin, in: Frauenrecht 6 (1934), Heft 9, S. 2–3. Im Novemberheft erschienen dann erstmals die von Siemsen verfassten, aber anonym abgedruckten Monatsübersichten über das weltpolitische Geschehen, die unter der Überschrift „Weltspiegel“ mit Hinzufügung des entsprechenden Monats in jedem Heft zu finden sind. Vgl.: N. N. [Anna Siemsen]: Weltspiegel im Oktober, in: Frauenrecht 6 (1934), Heft 11, S. 2. Ihre Monatsübersichten veröffentlichte Siemsen erneut und teilweise verändert 1947 in einem Buch, in dessen Vorwort sie auf die Erstveröffentlichungen in der Zeitschrift verweist.

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zer Zweig der IFFF und der Rassemblement universel pour la Paix (RUP), der Weltaktion für den Frieden. Siemsen trat auch einer Europa-Organisation bei, der Schweizer Europa-Union (EUS). Daneben gehörte sie noch der Union Franco-Allemande an und seit 1933 der Union des Institeurs allemands emigrés, der Union deutscher Lehrer-Emigranten,21 die Aufklärungsarbeit über den Nationalsozialismus leisten wollte und Pläne für eine umfassende Neuordnung des Erziehungs- und Bildungswesens nach Hitler entwarf.22 Siemsen beteiligte sich an der Flüchtlingshilfe und unterstützte deshalb das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH).23 Für ihre publizistische Tätigkeit nutzte sie die Möglichkeiten, die ihr die Schweizer sozialdemokratische Presse bot. Diese zeigte sich offen gegenüber einer Mitarbeit von Emigrantinnen und Emigranten und half auch bei „der Verbreitung sozialdemokratischer Exilzeitungen“,24 obwohl den Emigranten nicht gestattet war, sich politisch zu betätigen.25 Durch die Aufnahme ihrer Redaktionstätigkeit, die ihr ein finanzielles Einkommen sicherte, hob sich Siemsen von einem Großteil anderer Emigrantinnen und Emigranten ab, die, in welchem Land sie sich auch befanden, zunächst oder dauerhaft unter den prekärsten existentiellen Bedingungen leben mussten. In der Schweiz galt überdies ein striktes Berufsverbot für Flüchtlinge. Dieses konnte Siemsen umgehen, weil sie durch ihre Kontakte zur Schweizerischen Arbeiterbildungsbewegung den Sekretär der Schweizer Arbeiterjugend, Walter Vollenweider (1903–1971), kennen gelernt und im August 1934 geheiratet hatte.26 Diese Eheschließung, die als politische Ehe galt,27 verhalf Siemsen zur Schweizer Staatsangehörigkeit, die es ihr ermöglichte, berufstätig sein zu können und überhaupt in der Schweiz bleiben zu dürfen. In der Schweiz wurde eine rigide Fremden- und Flüchtlingspolitik betrieben,

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Hier beginnen die Monatsübersichten erst mit dem Januar 1935: Anna Siemsen: Zehn Jahre Weltkrieg. Eine Chronik in monatlichen Berichten von Januar 1935 bis Mai 1945, Düsseldorf 1947. Siehe auch das Vorwort von Siemsen, S. 5–6, hier S. 5. Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 111 und Jungbluth: Anna Siemsen, S. 178 f. Jungbluth: Anna Siemsen, S. 179 f. im Rückgriff auf Hildegard Feidel-Mertz und Hermann Schnorbach: Lehrer in der Emigration. Der Verband deutscher Lehreremigranten (1933–39) im Traditionszusammenhang der demokratischen Lehrerbewegung, Weinheim und Basel 1981, hier S. 97 f. Jungbluth: Anna Siemsen, S. 178. Vgl. auch August Siemsen: Anna Siemsen, S. 84 f. Hermann Wichers: Im Kampf gegen Hitler. Deutsche Sozialisten im Schweizer Exil 1933– 1940, Zürich 1994, S. 98. Hermann Wichers nimmt an, dass der „Umfang der publizistischen Tätigkeit der Flüchtlinge […] wegen der vielen anonymen Artikel für immer im Dunkeln bleiben“ wird. Ebd., S. 100. Monat und Jahr der Eheschließung sind vermerkt in: BAR, E4320B, 1975/40, 10: Bericht des Nachrichtendienstes der Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern an die Schweizerische Bundesanwaltschaft, Bern vom 30. März 1944, S. 2. Siemsen selbst verweist nur auf das Jahr ihrer Eheschließung in ihrer Antwort auf einen Fragebogen der American Guild for German Cultural Freedom: Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: EB 70/117: Siemsens Antwort auf einen Fragebogen der American Guild o. O. und o. J. Der genaue Tag der Eheschließung ist aus den vorliegenden Quellen nicht zu ermitteln. Siehe beispielsweise August Siemsen: Anna Siemsen, S. 75; Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 105 und Jungbluth: Anna Siemsen, S. 182.

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deren Wurzeln am Beginn des 20. Jahrhunderts lagen.28 1933 wurden die Bestimmungen verschärft, so dass die „oberste behördliche Maxime“ besagte, die Schweiz dürfe „kein Flucht-, sondern nur ein Durchgangsland“ sein.29 In ihrer politischen Arbeit engagierte sich Siemsen im Exil vor allem in Verbänden, in denen auch Vertreterinnen und Vertreter anderer, bürgerlicher Parteien organisiert waren. Im Exil zeigte sie eine größere Aufgeschlossenheit für andere politische Richtungen als zuvor. Siemsen hoffte, eine möglichst umfangreiche Sammlung jener Kräfte erreichen zu können, die wie sie selbst den Faschismus in Europa überwinden wollten und für eine neue internationale und friedliche Ordnung eintraten. Weil ihr Bekanntenkreis überwiegend aus Schweizer Personen bestand, ist eine Einordnung von Siemsen in bestimmte parteipolitische Exil-Gruppierungen kaum möglich. Das politische Exil in der Schweiz umfasste bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges lediglich ein paar Hundert Personen.30 Zwar gab es einige Zusammenschlüsse sozialdemokratischer Exilanten „auf lokaler Ebene“, diese Zusammenschlüsse waren aber nicht von langer Dauer, weil viele der Flüchtlinge aufgrund der rigiden Flüchtlingspolitik der Schweiz das Land bald wieder verlassen mussten oder aber vollauf mit existentiellen Lebensfragen beschäftigt waren.31 Erst Ende des Zweiten Weltkrieges ging von Siemsen eine maßgebliche Initiative zur Sammlung des deutschen sozialistischen Exils in der Schweiz aus, die sie in der von ihr begründeten Union deutscher Sozialisten in der Schweiz organisieren wollte. Siemsens Engagement galt weiterhin einer Erziehung für den Frieden und zur Demokratie. Mehr noch als in der Weimarer Republik nahm die Auseinandersetzung mit frauenpolitischen Themen zu,32 eine Schwerpunktsetzung, die möglichweise auch aus ihrer eigenen rechtlichen Lage resultierte. Obwohl Siemsen die Schweizer Staatsangehörigkeit durch ihre Heirat erhalten hatte, blieb ihr, wie allen Schweizerinnen, die politische Gleichstellung verwehrt, die sie in Deutschland aber formal gehabt hatte.33 Damit befand sich Siemsen, die immer für eine Partizipation 28 Patrick Kury: Sozialpolitische Prognostik, Überfremdungsbekämpfung und Flüchtlingspolitik in der Schweiz vor 1945 aus Sicht der historischen Diskursanalyse, in: Gisela Hauss und Susanne Maurer (Hg.): Migration, Flucht und Exil im Spiegel der Sozialen Arbeit, Bern, Stuttgart und Wien 2010, S. 171–188, hier S. 185 und Uriel Gast: Aspekte schweizerischer Fremdenund Flüchtlingspolitik vor und während des Zweiten Weltkrieges, in: Irène Lindgren und Renate Walder (Hg.): Schweden, die Schweiz und der Zweite Weltkrieg. Beiträge zum interdisziplinären Symposium des Zentrums für Schweizerstudien an der Universität Örebro, 30.09.– 02.10.1999, Frankfurt am Main u. a. 2001, S. 203–220, hier S. 208. 29 Kury: Sozialpolitische Prognostik, S. 185. 30 Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 17. 31 Ebd., S. 220. 32 Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 111. 33 Bereits in den 1920er Jahren gab es Anstrengungen zur Einführung des Frauenwahlrechts in einigen Kantonen, die aber allesamt an „den konservativen Kräften im Nationalrat und im Bundesrat scheiterte[n]“. Das Frauenwahlrecht wurde in der Schweiz auf Bundesebene erst 1971 durchgesetzt: Dietmut Majer: Frauen – Revolution – Recht. Die grossen europäischen Revolutionen in Frankreich, Deutschland und Österreich 1789 bis 1918 und die Rechtsstellung der Frauen. Unter Einbezug von England, Russland, der USA und der Schweiz (Europäische Rechts- und Regionalgeschichte, Bd. 5), Zürich und St. Gallen 2008, S. 323 f., Zitat auf S. 324.

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der Frauen in Politik und Gesellschaft eingestanden hatte, nun in der Schweiz erzwungenermaßen selbst in einer Position, die ihre politische Einflussnahme auch in rechtlicher Hinsicht einschränkte. Ein weiterer Grund für diese Schwerpunktsetzung auf frauenpolitische Themen war möglicherweise ihre berufliche redaktionelle Tätigkeit für die sozialdemokratische Zeitschrift Die Frau in Leben und Arbeit, die Siemsen zur Expertin für frauenpolitische Fragestellungen machte. In ihrer politischen Arbeit war Siemsen aufgrund der Schweizer Fremdenpolitik und der Überfremdungsdebatten, die in diesem Zusammenhang in der Schweiz verstärkt geführt wurden, erheblichen Repressionen ausgesetzt. Darüber geben Unterlagen aus dem Bundesarchiv in Bern Aufschluss. In diesen Unterlagen befinden sich auch Mitschriften über Siemens europapolitische Vorträge, die von den Schweizer Behörden in Auftrag gegeben worden waren. Bei aller quellenkritischen Umsicht, die etwa ungenaue Darstellungen oder Auslassungen bestimmter Informationen seitens der Schweizer Behörden berücksichtigen muss,34 liefern diese Quellen weitergehende inhaltliche Informationen über Siemsens europapolitische Ansichten, die zu anderen Quellen ergänzend hinzugezogen wurden. ANKUNFT UND ABWEHR Im Gegensatz zu den meisten Flüchtlingen, die 1933 Deutschland verlassen mussten, um dem nationalsozialistischen Regime zu entkommen, fand Siemsen in ihrem Exilland ein vertrautes Umfeld vor.35 Bereits 1929 hatte sie „von dem Rest des Familienvermögens“36 ein Haus namens La Cabane in St. Sulpice in der Nähe von Lausanne im französischsprachigen Kanton Waad erstanden.37 Siemsen meldete

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Vgl. dazu auch Simone Chiquet: Die Diskussionen um Frauenstimm- und Frauenwahlrechte in den dreissiger und vierziger Jahren auf kantonaler Ebene: Fragen und Thesen, in: Brigitte Studer, Regina Wecker und Béatrice Ziegler (Hg.): Frauen und Staat. Berichte des Schweizerischen Historikertages in Bern, Oktober 1996. Les Femmes et l’Etat. Journée nationale des Historiens Suisse à Berne, octobre 1996 (Itinera, Bd. 20), Basel 1998, S. 28–32; Beatrix Mesmer: Schweiz: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht, in: Gerhard: Feminismus und Demokratie, S. 104–115 und Yvonne Voegeli: Frauenstimmrecht und politisches System der Schweiz, in: Studer, Wecker und Ziegler: Frauen und Staat, S. 33–37. Die genannten Mitschriften beinhalten in der Regel längere Zusammenfassungen von Siemsens Vorträgen. Eine Bewertung des zuständigen Beamten wurde am Ende des Berichts verfasst und als eigene Bewertung kenntlich gemacht. Der Bestand im Bundesarchiv Bern enthält auch Verhörprotokolle, die aus Befragungen von mit Siemsen befreundeten Personen entstanden. Bis heute rezipierte Überlegungen zur Analyse von Gerichtsakten und Verhörprotokollen hat Regina Schulte formuliert: Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayern 1848–1910, Reinbek bei Hamburg 1989. Schoppmann: Anna Siemsen, S. 91. August Siemsen: Anna Siemsen, S. 73. Vgl. auch: BAR, E4320B, 1975/40, 10: Vertraulicher Bericht von Inspecteur Reymond an den Chef de la Police de sûreté, Lausanne vom 29. Dezember 1933, S. 1 und BAR, E4320B, 1975/40, 10: Verhörprotokoll der Police des Sûreté in Lausanne über die Vernehmung von August Siemsen vom 30. Dezember 1933, S. 2.

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bei den zuständigen Behörden in Lausanne nicht, aus Deutschland geflohen zu sein, sondern gab an, in der Schweiz ihre Gesundheit verbessern und Vorträge über Pädagogik und frauenspezifische Themen halten zu wollen.38 Wie aus den Unterlagen der Schweizer Bundesanwaltschaft und der Schweizer Fremdenpolizei hervorgeht, hatte Siemsen bei den zuständigen Behörden wohl auch um „Niederlassung“ gebeten. „Politischer Flüchtling sei diese Simsen [sic] nicht“, meldete die Polizei in Zürich der Bundesanwaltschaft im November 1933.39 Die Anwesenheit und die Tätigkeiten von Ausländern wurden über verschiedene Polizeiapparate bis hin zur Bundesanwaltschaft kontrolliert und dokumentiert. Diese Überwachungs- und Kontrollpraxis, die nicht nur in Siemsens Fall zu Spionageverdacht und Hausdurchsuchungen führte, ist nur vor dem Hintergrund der sogenannten Überfremdungsdebatte in der Schweiz und der daraus resultierenden Fremden- und Flüchtlingspolitik zu verstehen, die sich im Laufe der 1920er Jahre zusehends verschärft hatte.40 Die Überfremdungsdiskussionen prägten nicht nur die Flüchtlingspolitik der Schweizer Behörden, sondern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Ausländern in der Schweiz. Seit der Gründung des eidgenössischen Bundesstaates 1848 wurde in der Bundesverfassung „das Recht auf Asyl konsequent“ abgelehnt.41 Abgesehen von den deutschen Sozialdemokraten, die aufgrund der von Bismarck erlassenen Sozialistengesetze seit 1878 aus Deutschland in die Schweiz flohen, war die Flüchtlingsfrage bis 1914 kein dominantes politisches Thema in der Schweiz. Im Gegenteil: Mit fortschreitender Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts schloss die Schweiz mit 23 anderen Staaten „Niederlassungsverträge“, die es ausländischen Arbeitskräften ermöglichte, in der Schweiz zu leben. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges endete diese Praxis. Aber schon vorher waren in weiten Teilen der Bevölkerung Überfremdungsängste aufgekommen.42 1846 hatte sich die erste „organisierte Überfremdungsbewegung“ im Schweizerischen volksthümlichen Vaterlandsverein formiert.43

38 Ebd.: Vertraulicher Bericht von Inspecteur Reymond an den Chef de la Police de sûreté, Lausanne vom 29. Dezember 1933, S. 1 f. 39 Ebd.: Polizeikorps des Kantons Zürich an die Schweizerische Bundesanwaltschaft vom 10. November 1933. 40 Hermann Wichers: Schweiz, in: Krohn u. a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 375–383, hier S. 376. Ausführlicher dazu: Uriel Gast: Von der Kontrolle zur Abwehr. Die eidgenössische Fremdenpolizei im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft 1915–1933 (Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte des Instituts für Geschichte der ETH Zürich, Bd. 1), Zürich 1997; Gast: Aspekte; Patrick Kury: Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900–1945 (Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte des Instituts für Geschichte der ETH Zürich, Bd. 4), Zürich 2003 und Kury: Sozialpolitische Prognostik. Zur Komplexität des Ausländerrechts der Schweiz siehe Kury: Über Fremde reden, S. 37. Kury betont ebd., dass es bis in die Gegenwart „keine einheitliche Rechtssetzungskompetenzen für das Ausländerrecht“ in der Schweiz gebe. 41 Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 35. 42 Ebd., S. 36 f. Zitat auf. S. 37. 43 Ebd., S. 40.

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Der Überfremdungsbegriff avancierte seit etwa 1900 zu einem viel diskutierten Schlagwort in bevölkerungs-, kultur- und regierungspolitischen Debatten. In den 1920er Jahren war er schon „zur Chiffre der Abwehr, zum Code für einen kulturellen und wirtschaftlichen Protektionismus“ geworden.44 Der Begriff wurde dabei aber nie genau definiert. Gerade deshalb eignete er sich gut als verbindendes Element für verschiedene politische und soziale Gruppen und wurde „zu einem Signum kulturell-nationaler Identität für sich immer wieder neu gruppierende Kreise“.45 An den Überfremdungsdebatten beteiligten sich zunächst vor allem sozialpolitisch engagierte Personen und Verbände. 1900 erschien etwa die viel rezipierte Abhandlung Unsere Fremdenfrage des Sozialfürsorgers Carl Alfred Schmid, der durch den Ausländeranteil eine Überbelastung des Schweizer Sozialsystems befürchtete, aber auch „die nationale Selbständigkeit der Schweiz“ als gefährdet betrachtete.46 Schmid behauptete, gerade die in der Schweiz lebenden Deutschen könnten die Schweiz wirtschaftlich und kulturell dominieren, so dass eine Annektierung der Schweiz durch das Deutsche Reich für ihn nur noch eine Frage der Zeit war.47 Seit dem Ersten Weltkrieg wurde die Überfremdungsthematik auch in regierungspolitischen Kreisen verstärkt behandelt. Es wurden Überlegungen angestellt, was gegen die „Überfremdung“ unternommen werden könne.48 Wegen des starken Zustroms politischer und ziviler Flüchtlinge während des Krieges sollte die Schweizer Fremdenpolizei, die 1917 gegründet worden war, die möglichst lückenlose Kontrolle über Einreise- und Niederlassungsbestimmungen übernehmen.49 Die Fremdenpolizei wurde fortan „in den Dienst der Überfremdungsabwehr“ gestellt.50 Die Fremdenpolitik war maßgeblich geprägt durch Heinrich Rothmund (1888–1961), den Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, und durch den Bundesrat Heinrich Häberlin (1868–1947), der das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement leitete.51 Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen wurden an vage definierte Kriterien wie „volkswirtschaftliche Nützlichkeit“, „nationale Aufnahmefähigkeit“ und „Assimilierbarkeit“ geknüpft.52 Zu den kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Begründungen zur Fremdenabwehr kamen auch ethnische Begründungen hinzu. Das Kriterium der „Assimilierbarkeit“ wurde im Folgenden besonders als Argument gegen die Einreise oder den Aufenthalt von jüdischen Menschen angeführt, die in die Schweiz einwandern wollten oder dorthin flüchteten. Diese von der

44 Kury: Sozialpolitische Prognostik, S. 183. 45 Kury: Über Fremde reden, S. 80. 46 Kury: Sozialpolitische Prognostik, S. 174–176, Zitat auf S. 174 und Kury: Über Fremde reden, S.  58 f. 47 Regula Argast: Staatsbürgerschaft und Nation. Ausschließung und Integration in der Schweiz 1848–1933 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 174), Göttingen 2007, S. 271. Siehe ausführlich zur Überfremdungsdebatte die Seiten 269–278. 48 Kury: Sozialpolitische Prognostik, S. 177. 49 Gast: Von der Kontrolle zur Abwehr, S. 33–36. 50 Kury: Über Fremde reden, S. 172 und Kury: Sozialpolitische Prognostik, S. 182. 51 Gast: Von der Kontrolle zur Abwehr, S. 13. 52 Kury: Sozialpolitische Prognostik, S. 181. Siehe auch Gast: Aspekte, S. 207.

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Fremdenpolizei titulierten ‚wesensfremden Elemente‘53 galten aufgrund tradierter, antijüdischer Vorbehalte und Stereotype als nicht assimilierbar.54 In der Forschung wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass der offizielle Umgang mit Flüchtlingen in der Schweiz seit 1933 nicht aus der veränderten internationalen politischen Lage in den Nachbarländern resultierte, sondern in der Tradition der Überfremdungsdiskussionen gesehen werden muss, die die Ausländerpolitik schon vor 1933 geprägt hatten.55 Eng mit der Überfremdungsdebatte und der daraus resultierenden Ausländerund Flüchtlingspolitik verbunden war die Propagierung der „Geistigen Landesverteidigung“. Sie bezeichnete ein „zentrale[s] Phänomen der politischen Kultur der Schweiz des 20. Jahrhunderts“.56 Der Begriff wurde ab 1933 populär, es gab aber auch schon früher ähnliche Begriffsbildungen. Unter diesem Begriff wurden Forderungen nach Bewahrung einer spezifischen Eigenart der Schweizer Nation subsumiert, die gegenüber fremden Einflüssen geschützt werden müsse. Zu Beginn der 1930er Jahre existierten zwei Deutungstraditionen, mit denen das Schweizer Selbstverständnis und die Eigenart der Schweizer Nation definiert wurden. Eine liberale Deutungstradition stammte aus dem 19. Jahrhundert, in der die Schweiz als „Willensnation“ betrachtet wurde. Die zweite Deutungstradition war jünger und entstammte der politischen Richtung des „neue[n] Konservatismus“, der sich um 1900 entwickelte.57 Diese Richtung zeichnete sich durch antidemokratische, antikapitalistische und antisozialistische Vorstellungen sowie durch eine ‚agrarische Ideologie‘ aus, die die Werte der Französischen Revolution ablehnte. Sie war vergleichbar mit der „Konservativen Revolution“ in Deutschland.58 In liberalen und sozialistischen Kreisen dominierte aber nach wie vor die Vorstellung von der Schweiz als einer „Willensnation“, die maßgeblich durch den 53 Claudia Hoerschelmann: Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichsicher Flüchtlinge 1938 bis 1945. Mit ca. 250 Einzelbiographien (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft; Cluster Geschichte, Bd. 27), Innsbruck 1997, S. 23. Siehe auch: Gast: Aspekte S. 209. 54 Zum Antisemitismus und zur Flüchtlingspolitik gegenüber Juden in der Schweiz siehe Kury: Über Fremde reden, S. 101–104 und Gast: Aspekte, S. 208 f. 55 Kury: Sozialpolitische Prognostik, S. 185; Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 39 und Wichers: Schweiz, S. 376. Uriel Gast stellt in seinen Ausführungen zu jüdischen Flüchtlingen die vorsichtig formulierte These auf, es habe aufgrund der tradierten Überfremdungsängste in den 1930er Jahren gar keine Flüchtlingspolitik gegenüber den Juden in der Schweiz gegeben: Gast: Aspekte, S. 204. Siehe auch: Hoerschelmann: Exilland Schweiz, S. 24. 56 Josef Mooser: Die „Geistige Landesverteidigung“ in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweizerischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), Heft 4, S. 685–708, hier S. 687. 57 Ebd., S. 689 f. Zitat auf S. 690. 58 Ebd., S. 691. Regula Argast bezeichnet diese heterogene politische Richtung in der Schweiz als sogenannte neue Rechte, deren „verbindende[s] Element […] als kulturpessimistische Kritik an der Moderne mit wechselweise antiliberaler, antisozialistischer, fremdenfeindlicher, antisemitischer, rassistischer oder antifeministischer Stoßrichtung bezeichnet werden“ könne: Argast: Staatsbürgerschaft, S. 265.

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Staatsrechtler Carl Hilty (1833–1909) geprägt worden war. Die Willensnation wurde über den gemeinsamen Willen und die gemeinsame Geschichte der Eidgenossen definiert. Die Willensnation fungierte als Legitimation „für die Existenz der föderalistischen und demokratischen Schweiz, um unterschiedliche gesellschaftliche und politische Strömungen im Bund zu kompensieren“.59 Das liberale Nationsverständnis speiste sich aus den besonderen kulturellen Verhältnissen in der Schweiz, die verschiedene „Sprach- und Kulturräume“ umfasste.60 Das einigende Band war seit dem frühen 19. Jahrhundert die Betonung gemeinsamer Werte wie „Freiheit, Natur und Tugend“, die als spezifisch schweizerisch betrachtet wurden.61 Ebenfalls grundlegend für das Selbstbild liberaler Zeitgenossen war die Berufung auf die Schweizer Demokratie. Seit den 1830er Jahren hatte sich in den Kantonen, seit 1848 auch auf Bundesebene die repräsentative Demokratie durchgesetzt, an der allerdings nur männliche und christliche Schweizer Bürger partizipieren konnten.62 Die Idee der Willensnation wurde bei rechts-konservativen Gruppen und Personen seit 1900 zusehends von „ethnisch-kulturellen“ Vorstellungen über die Schweizer Nation verdrängt.63 Als Gefahr für das Schweizer Selbstverständnis wurden seit Ende des Ersten Weltkrieges auch Kommunisten und zunehmend Sozialisten betrachtet. Aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Probleme infolge des Ersten Weltkrieges war es in der Schweiz 1918 zu einem Landesstreik der Arbeiter gekommen, der in großen Teilen der Bevölkerung eine „Bolschewistenpsychose“ nährte, die seit der russischen Oktoberrevolution 1917 aufgekommen war. Das Anwachsen der Arbeiterbewegung und ihre „vermeintliche Radikalsierung“ wurden ausländischen Einflüssen zugeschrieben, besonders aber kommunistischen Flüchtlingen.64 Die Bundesanwaltschaft begann schon 1919, Kommunisten und Sozialisten zu überwachen. Dafür wurde ein „Netz von Zuträgern“ errichtet, die aus dem Umfeld des politisch rechtsstehenden Vaterländischen Verbandes stammten. Dieser baute in der Schweiz auch einen Nachrichtendienst auf.65 Die Einschätzung der Sozialdemokraten seitens der Behörden ergab sich aus deren „auffälligen Unkenntnis der verschiedenen Strömungen und ideologischen Gegensätze innerhalb der politischen Linken“.66 Ein Blick in die Akten, die über Siemsen angefertigt wurden, bestätigt diesen Befund: Ein unbekannter Informant wies beispielsweise die Bundesanwaltschaft darauf hin, Siemsens Vortragstätigkeit finde im „Auftrag […] der illegalen SPD und der illegalen KPS“ statt. Siemsen sei „eine der gefährlichsten politischen Agentinnen Moskaus“. Sie werde „von Moskau aus honoriert“ und „soll mit einem grossen 59 Ebd., S. 100 f. Zitat auf S. 101. 60 Kristina Schulz: Die Schweiz und das literarische Exil (1933–1945), in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006), S. 65–88, hier S. 74. 61 Argast: Staatsbürgerschaft, S. 94. 62 Ebd., S. 99. 63 Ebd., S. 265. 64 Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 40. 65 Ebd., S. 43. Der Vaterländische Verband wurde 1919 aus Bürgerwehren gegründet: Argast: Staatsbürgerschaft, S. 264. 66 Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 44. Siehe ebd., auch S. 81.

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Stabe die illegale Tätigkeit für die SPD und die KPD unter sich haben“.67 Der Informant setzte hier nicht nur die SPD mit der KPD gleich, sondern verdächtigte Siemsen auch, Agentin der Sowjetunion zu sein, die versuche, den Kommunismus in der Schweiz zu verbreiten. Die Charakterisierung von SPD und KPD als „illegal“ bezog sich dabei, ohne dass dies angemerkt wurde, auf das Verbot beider Parteien in Deutschland. Die undifferenzierte Einschätzung des Informanten wurde auch durch die Bezeichnung der KPS, der Kommunistischen Partei der Schweiz, als „illegal“ deutlich, die erst nach Formulierung dieses Berichts, im Sommer 1940, verboten wurde.68 Als Sozialistin und als Deutsche war Siemsen somit für die Schweizer Behörden und auch in weiten Teilen der Bevölkerung in doppelter Hinsicht verdächtig, die äußere und innere Sicherheit der Schweiz zu gefährden. Der Machtantritt Hitlers im Nachbarland Deutschland hatte in der Schweizer Bevölkerung eine alarmierende Wirkung gezeigt. Bedrohungsszenarien wurden entworfen, in denen alte Ängste vor möglichen deutschen Annektierungssbestrebungen wieder reaktiviert wurden. Diese Ängste prägten nicht nur die diplomatischen Beziehungen, sondern auch das Verhältnis von Schweizern zu Deutschen, die sich in ihrem Land aufhielten.69 Lagen die Aufenthalts- und Niederlassungsbestimmungen für Ausländer bis zum Ersten Weltkrieg noch in der Verantwortlichkeit der einzelnen Kantone,70 wurde mittels Volksabstimmung vom Oktober 1925 die „Entscheidungsbefugnis“ über Niederlassung und Aufenthalt von Ausländern dem Bund übertragen. Die Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzesentwurfes zog sich sechs Jahre hin, bis er 1931 im Bundesrat verabschiedet wurde und schließlich 1934 in Kraft trat. Im „Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer“ wurden aber im Wesentlichen Richtlinien festgeschrieben, die vorher schon gegolten hatten.71 Das Gesetz unterschied zwischen verschiedenen Formen des Aufenthaltsrechts. Die Niederlassungsbewilligung berechtigte zu einem Aufenthalt von grundsätzlich „unbestimmter Dauer“72 und wurde Siemsen offenbar nicht zuerkannt. Denn im Januar 1934 unterrichtete die Züricher Fremdenpolizei die Bundesanwaltschaft darüber, dass Siemsen „als Kontrollausländerin“ geführt werde. Die Fremdenpolizei wollte wissen, ob „über die Genannte bezügl. allfälliger [sic] politischer Tätigkeit etwas bekannt“ sei.73 Als „Kontrollausländerin“ hatte Siemsen offenbar diejenige Aufenthaltserlaubnis erhalten, die nicht nur für einen bestimmten Kanton, sondern für alle Kantone 67 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Aktenvermerk der Schweizerischen Bundesanwaltschaft vom 21. April 1937. 68 Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 80. 69 Mooser: Die „Geistige Landesverteidigung“, S. 695–698. 70 Gast: Aspekte, S. 205. 71 Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 39. 72 Gast: Von der Kontrolle zur Abwehr, S. 36 f. Zum Gesetz über „Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern“ und den dort festgeschriebenen Richtlinien siehe Argast: Staatsbürgerschaft, S.  316 f. 73 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Fremdenpolizei des Kantons Zürich an die Bundesanwaltschaft vom 5. Januar 1934.

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gültig war. Die auf einer „Kontrollkarte“ bewilligte Aufenthaltsdauer konnte unter Umständen verlängert werden.74 Durch diesen Status drohte Siemsen ständig die Gefahr, bei politischer Betätigung aus der Schweiz ausgewiesen zu werden. Zum Zeitpunkt ihrer Emigration waren zudem zusätzliche Richtlinien von den amtlichen Stellen verabschiedet worden, um auf die große Anzahl von Flüchtlingen, die 1933 die Schweizer Grenzen passierten, zu reagieren. Die politischen Flüchtlinge erhielten nach diesen Richtlinien vorerst nur eine dreimonatige Aufenthaltserlaubnis, die aber gegebenenfalls verlängert werden konnte. Sie durften keinesfalls politisch aktiv sein und unterlagen auch einem strikten Arbeitsverbot.75 Dabei enthielten die Richtlinien keine Definition darüber, was genau ein politischer Flüchtling sei. Die Aufnahmegenehmigung durch die Bundesanwaltschaft erfolgte am Einzelfall.76 Das politische Asyl, das dauernde Bleiberecht „für die Zeit ihrer Verfolgung“, erhielten nur sehr wenige Personen.77 Als politische Flüchtlinge wurden vor allem bekannte Einzelpersonen anerkannt, Kommunisten erhielten keine Aufenthaltsbewilligung.78 Zu den abgewiesenen Gruppen mit einem Toleranzaufenthalt von wenigen Wochen gehörten auch jüdische Menschen, die aus Angst um ihr Leben in der Schweiz Rettung suchten.79 Siemsen stand seit ihrer Ankunft in der Schweiz unter ständiger Beobachtung der Eidgenössischen Fremdenpolizei und der Bundesanwaltschaft. Anfang Januar 1934 erklärte die Bundesanwaltschaft auf Nachfrage des „Polizeikommando des Kts. Aargau“ noch, über Siemsen sei „bis jetzt nichts nachteiliges [sic] bekannt geworden“.80 POLITISCHE REPRESSIONEN Kurz nachdem Siemsen im März 1933 in die Schweiz gekommen war, folgte ihr auch der Bruder August Siemsen zusammen mit seiner Ehefrau Christa Siemsen. Der jüngste Bruder Hans Siemsen verließ Deutschland ebenfalls und kam im April 1934 zu seiner Schwester und seinem Bruder nach St. Sulpice.81 Bald gelangten auch andere befreundete oder bekannte Personen aus Deutschland zu Siemsen in die Schweiz. So erreichte schon im April 1933 die Jüdin Anna Hartoch, die eine 74 75 76 77 78

Gast: Von der Kontrolle zur Abwehr, S. 36 f. und Argast: Staatsbürgerschaft, S. 316 f. Gast: Aspekte, S. 208 und Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 52. Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 51 f. Gast: Aspekte, S. 207 f. Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 50. Siehe zur Schweiz und den Literaten im Exil auch Alexander Stephan: Die intellektuelle, literarische und künstlerische Emigration, in: Krohn u. a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 30–46, hier S. 34 f. 79 Gast: Aspekte, S. 209. 80 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Schweizerische Bundesanwaltschaft an das Polizeikommando des Kantons Aargau, Bern vom 11. Januar 1934. 81 Ebd.: Verhörprotokoll Nr. 6 der Police de Sûreté in Lausanne über die Vernehmung von Hans Siemsen ohne Datum [am 22. August 1935 an das Justiz- und Polizeidepartement in Lausanne übermittelt], S. 2.

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Schülerin von Siemsen an der Luisenschule in Düsseldorf gewesen war, das Haus in St. Sulpice.82 Engeren Kontakt unterhielten Siemsen und ihre Brüder auch mit Adolf Buttner, einem jüngeren Mann Mitte Zwanzig, der bei der Polizei angab, über Hans Siemsen, den er in Berlin kennen gelernt hatte, Kontakt zur Familie Siemsen bekommen zu haben. Buttner begleitete eine reiche Amerikanerin, Margaret Bartlett, die ihn finanziell unterstützte und die er als seine Geliebte ausgab.83 Siemsen entschied sich bald, ein neues Haus zu bauen, das „zur Beherbergung von Flüchtlingen ohne Unterkunft und von erholungsbedürftigen und mittellosen Freunden“ dienen sollte. Das Haus La Cabane in St. Sulpice wurde verkauft und im Herbst 1934 bezogen Anna und August Siemsen ihr neues Domizil in Chexbres am Genfer See im Kanton Waad.84 Im Jahr 1935 nahm Siemsen noch das deutsche Paar Helmut Wagner und Charlotte Spengler in ihrem Haus auf.85 War Siemsen zunächst nichts „Nachteiliges“ seitens der Bundesanwaltschaft zur Last gelegt worden, änderte sich dies im Verlauf des Jahres 1934. Ende Dezember 1933 schon wurde dem Vorgesetzten der Sicherheitspolizei in Lausanne berichtet, Siemsen verbreite Gerüchten zufolge kommunistisches und revolutionäres Gedankengut.86 Ein im Auftrag der Lausanner Polizei arbeitender Nachrichtendienst begann daraufhin mit der Überwachung von Siemsen und ihrem Bruder. In einem Bericht an die Lausanner Polizei wurden erste verdächtige Verhaltensauffälligkeiten der Siemsens festgehalten. Aus der Sicht des Nachrichtendienstes handelte es sich um unregelmäßige Tagesabläufe sowie ungewöhnliche Lebensumstände. Aber auch alltägliche Gepflogenheiten, von denen die meisten bei Schweizer Einwohnern wohl kaum auffällig gewesen wären, erschienen dem Mitarbeiter des Nachrichtendienstes nun als Verdachtsmomente. Dabei wurde zunächst nicht deutlich, weshalb Siemsen und ihr Bruder überhaupt verdächtigt wurden. Die Tatsache, dass Siemsen und ihr Bruder Ausländer waren, reichte Polizei und Nachrichtendienst offenbar aus, um illegale Tätigkeiten, welcher Art auch immer, vorauszusetzen. Der Informant hob etwa hervor, dass August Siemsen oft mit einer Aktentasche das Haus verlasse. Bemerkenswert fand der Berichterstatter auch, dass die Siemsens, wenn es warm sei, den Tag unbekleidet am See verbringen würden. Sie blieben nachts lange wach und arbeiteten an der Schreibmaschine. Als besonders auffällig wurde es empfunden, dass dann auch die Radios in der Umgebung nicht mehr rich-

82 Vgl. ebd.: Verhörprotokoll Nr. 7 der Police de Sûreté in Lausanne über die Vernehmung von Anna Hartoch ohne Datum [am 22. August 1935 an das Justiz- und Polizeidepartement in Lausanne übermittelt], S. 1 f. Siehe ebd. auch: Verhörprotokoll Nr. 6 der Police de Sûreté in Lausanne über die Vernehmung von Hans Siemsen ohne Datum [am 22. August 1935 an das Justizund Polizeidepartement in Lausanne übermittelt], S. 4. 83 Ebd.: Verhörprotokoll Nr. 5 der Police des Sûreté in Lausanne über die Vernehmung von „Adophe-Georges Buttner“ vom 22. August 1935, S. 1 f. 84 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 76. 85 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Bericht über die Hausdurchsuchung des Brigadier Pache und des Inspecteur Chabloz an den Chef de la Police de sûreté, Lausanne vom 17. August 1935, S. 1. 86 Ebd.: Vertraulicher Bericht des Inspecteur Reymond an den Chef de la Police de sûreté, Lausanne vom 29. Dezember 1933, S. 2.

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tig funktionieren würden. Der Berichterstatter fragte sich, ob die Siemsens nicht einen Sender besäßen.87 Dieser Bericht verdeutlicht den Aufwand, den die Schweizer Behörden betrieben, um politischen Tätigkeiten von Ausländern und Flüchtlingen auf die Spur zu kommen. Er zeigt vor allem das Ausmaß der diffusen Überfremdungsängste, die besonders nach 1933 eine neue Dimension gewannen. Aufgrund dieses Berichts schrieb das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Waad an die Schweizerische Bundesanwaltschaft und erklärte, die Lebensweise der Siemsens sei absolut unvereinbar mit der Schweizer Mentalität. Begründet wurde diese Aussage auch wegen der Verbindung der Siemsens zu Margaret Bartlett und Adolf Buttner, deren häufige Ortswechsel innerhalb der Schweiz und im Ausland als verdächtig eingestuft wurden. Das Polizeidepartement kam zu dem Schluss, die Siemsens und das Paar Bartlett/Buttner seien wohl im Auftrag des nationalsozialistischen Geheimdienstes tätig. Das Polizeidepartement des Kantons Waad ersuchte die Bundesanwaltschaft deswegen um die Genehmigung für eine Hausdurchsuchung bei den genannten Personen.88 Dieser wurde stattgegeben.89 Seit Juni 1935 war eine juristische Verschärfung des Schweizer Staatsschutzes erfolgt, die u. a. konkrete „Strafrechtsbestimmungen“ enthielt, „die sich gegen nachrichtendienstliche Tätigkeit für ausländische Regierungen und Parteien richteten“.90 Der Hinweis auf die angebliche Spionagetätigkeit für die nationalsozialistische Regierung, die den Siemsens und ihren Freunden vorgeworfen worden war, reichte somit wohl als Begründung für die Bundeanwaltschaft aus, um eine Hausdurchsuchung zu genehmigen. Obwohl die Polizei nach eigenem Bericht bei den Hausdurchsuchungen nichts fand, was die zuvor geäußerten Verdächtigungen bestätigte, mussten sich alle von der Hausdurchsuchung Betroffenen Verhören unterziehen, in denen auch intime Fragen zum Privatleben nicht ausgespart wurden. Weil Siemsen mittlerweile durch ihre Eheschließung die Schweizer Staatsangehörigkeit erlangt hatte, sahen die Behörden in ihrem Fall von einem Verhör ab.91 In dem zusammenfassenden Bericht über die Verhöre wurde darauf hingewiesen, dass neben der „Promiskuität“ [promiscuité], in der die Befragten leben würden, auch eine besondere politische Gefahr bestehe, die von einem illegalen Aufenthaltsort für politische Flüchtlinge – und als solcher wurde das Siemsensche Chalet bewertet – ausgehen könne.92 Diese Aspekte wurden auch angeführt, um August und Hans Siemsen das Aufenthaltsrecht zu verweigern. Bei der getrennt verlaufenden Anhörung von Hans Siemsen und Adolf Buttner hatte sich laut Verhörprotokoll herausgestellt, dass 87 Ebd.: Bericht des Brigadiers Fallet an die Police de sûrete, Lausanne vom 2. Juni 1934, S. 4 f. 88 Ebd.: Département de Justice et Police du Canton de Vaud an das Ministère Public Fédéral, Lausanne vom 17. Juni 1935, S. 2 f. 89 Vgl. ebd.: Bericht über die Hausdurchsuchung des Brigadier Pache und des Inspecteur Chabloz an den Chef de la Police de sûreté, Lausanne vom 17. August 1935, S. 1. 90 Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 72. 91 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Bericht des Brigadier Pache und des Inspecteur Chabloz an den Chef de la Police de sûreté, Lausanne vom 20. August 1935, S. 1 und 6 f. 92 Ebd., S. 8.

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beide eine homosexuelle Beziehung miteinander unterhalten würden.93 Das Justiz- und Polizeidepartement hob im September 1935 Hans Siemsens „Immoralität“ [immoralité] explizit als Ausweisungsgrund hervor und erklärte, dass die Überprüfung seiner Argumente für eine Asylbewilligung in Anbetracht dieses Umstandes überflüssig sei.94 Im Falle von August Siemsen führte das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Waad ausführlichere Begründungen für die Ausweisung an. In die Begründung mischten sich verschiedene tradierte Aspekte, die die Fremdenpolitik der Schweiz seit 1900 dominierten. So wurden wirtschaftliche Belastungen für die Schweiz befürchtet, weil August Siemsen möglicherweise auf Hilfsangebote der Schweiz angewiesen sein würde. Auch Überfremdungsängste mischten sich in die Argumentation. Es wurde die Befürchtung geäußert, die Situation von August Siemsen und seiner Frau sei dergestalt, dass sie sich dauerhaft in der Schweiz niederlassen könnten. Damit wurde implizit deutlich gemacht, dass die Behörde eine Rückkehr nach Deutschland durchaus als Gefahr für die Eheleute einstufte. Letztlich dominierte aber doch das Argument der Überfremdung, wenn betont wurde, die Mentalität und die suspekten Machenschaften des Beschwerdeführers seien der „Gastfreundschaft“ [hospitalité] nicht wert.95 Hans Siemsen emigrierte schließlich nach Frankreich. August Siemsen bewertete rückblickend das Vorgehen der Behörden als „so sinnlos, daß es Nazis nicht anders hätten machen können“.96 Er nahm schließlich „eine Berufung an die antinazistische Pestalozzi-Schule in Bu-

93 Vgl. die Verhörprotokolle von Hans Siemsen und Adolf Buttner in: BAR, E4320B, 1975/40, 10: Verhörprotokoll Nr. 5 der Police de Sûreté in Lausanne über die Vernehmung von Adolf Buttner ohne Datum [am 22. August 1935 an das Justiz- und Polizeidepartement in Lausanne übermittelt] und Verhörprotokoll Nr. 6 über die Vernehmung von Hans Siemsen ohne Datum [am 22. August 1935 an das Justiz- und Polizeidepartement in Lausanne übermittelt]. 94 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Entscheidung über Hans Siemsens Einspruch gegen die Ablehnung seines Antrags auf Bleiberecht vom Chef des Departements de Justice et Police du Canton de Vaud, Lausanne vom 21. September 1935. Bislang fehlen aufgrund der Quellenlage empirische Untersuchungen, die übergreifende Erkenntnisse über den Umgang mit homosexuellen Flüchtlingen seitens der Schweizer Behörden liefern könnten. Bis 1942 waren in der Schweiz sexuelle Handlungen unter Männern strafrechtlich verboten. Es scheint, als ob bei fehlender Beweislage, ohne die keine strafrechtliche Verfolgung möglich war, schon der Vorwurf der „moralischen Verwerflichkeit“ ausreichte, um ausgewiesen zu werden. Vgl. dazu: Thomas Egli und Hugo Schwaller: Homosexuelle Flüchtlinge in der Schweiz – eine Spurensuche und ein Beispiel, in: Bundesamt für Flüchtlinge, Medien und Kommunikation, Bern (Hg.): Prominente Flüchtlinge im Schweizer Exil. L’exil en Suisse réfugiés célèbres. Rifugiati illustri nell’esilio svizzero, Bern 2003, S. 138–165 und Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, 2. Aufl. Zürich 2002, S. 159. 95 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Entscheidung über August Siemsens Einspruch gegen die Ablehnung seines Antrags auf Bleiberecht vom Chef des Departements de Justice et Police du Canton de Vaud, Lausanne vom 21. September 1935, S. 1 f. 96 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 79.

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enos Aires an“.97 Dort gab er die Zeitschrift Das andere Deutschland (La Otra Allemania) heraus.98 August Siemsen verließ im Februar 1936 die Schweiz.99 Siemsen blieb nun ohne ihre Brüder August und Hans Siemsen in der Schweiz zurück, konnte aber immerhin auf einen Kreis von Freunden und politischen Mitstreiterinnen und Mitstreitern zählen. Neben ihren Kontakten zur Schweizer Arbeiterbildung gehörten etwa ihre Freundinnen Hedda Fredenhagen und die Lehrerin Lea Fäh zu ihrem engsten Kreis. Dazu gehörte auch Margo Wolff, die Siemsen als Co-Redakteurin bei der Frau in Leben und Arbeit unterstützte.100 Zu ihren politischen Weggefährtinnen und Weggefährten zählten beispielsweise die Flüchtlingshelferin Regina Kägi-Fuchsmann (1889–1972), der Begründer der Religiösen Sozialisten in der Schweiz, Leonhard Ragaz (1868–1945) und seine Ehefrau, die Friedensaktivistin Clara Ragaz-Nadig (1874–1957).101 Siemsen hatte auch engeren Kontakt zu dem aus Deutschland emigrierten Sozialdemokraten Heinrich Georg Ritzel, dem Generalsekretär der Schweizer Europa-Union. Zu Siemsens Bekanntenkreis gehörten anscheinend vorwiegend Schweizerinnen und Schweizer. Offenbar hatte sie zunächst kaum Kontakte zu emigrierten Personen; abgesehen von Heinrich Ritzel und Lida Gustava Heymann, die mit ihrer Lebensgefährtin Anita Augspurg ebenfalls aus Deutschland in die Schweiz emigriert war. Heymann hatte „ein distanziertes Verhältnis“ zum deutschen Exil, weil sie die internen Streitigkeiten verurteilte. Kontakt unterhielt sie nur mit jenen Emigrantinnen und Emigranten, die wie sie in der IFFF engagiert waren.102 Ob Siemsen ähnlich dachte, ist ungewiss. Es lassen sich aber vergleichbare Kontakte nachweisen. Trotz ihrer Schweizer Staatsangehörigkeit wurde Siemsen abseits friedenspolitischer und proeuropäischer Kreise als Ausländerin, Emigrantin und Deutsche mit Argwohn wahrgenommen. Doch auch innerhalb der Schweizer Sozialdemokratie oder der Schweizer Frauenbewegung konnte sie Ressentiments ausgesetzt sein.103 Je nach Argumentation wurde Siemsen entweder als Gefährdung für die Schweizer Neutralität eingestuft oder aber ihr politisches Engagement wurde als unvereinbar mit dem Schweizer Selbstverständnis empfunden. Deshalb wurde sie fortwährend von den Schweizer Behörden überwacht, denen ihre „Scheinehe“ als Tarnung für illegale politische Aktivitäten erschien. „Von zuverlässiger Seite“ wurde der Schweizerischen Bundesanwaltschaft 1937 zugetragen, Vollenweider sei von der SPS „befohlen“ worden, „die Siensen [sic] zu heiraten“. Dafür habe er aber eine 97 Ebd., S. 80. 98 Vgl. auch Jungbluth: Anna Siemsen, S. 184. 99 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 80. 100 Jungbluth: Anna Siemsen, S. 182. 101 Vgl. zu Leonhard und Clara Ragaz auch Jungbluth: Anna Siemsen, S. 190. 102 Susanne Kinnebrock: „Man fühlt sich, als wäre man geistig ein lebender Leichnam“. Lida Gustava Heymann (1868–1943) – eine genuin weibliche Erfahrung?, in: Markus Behmer (Hg.): Deutsche Publizistik im Exil 1933 bis 1945. Personen – Positionen – Perspektiven. Festschrift für Ursula Koch (Kommunikationsgeschichte, Bd. 11), Münster, Hamburg und London 2000, S. 108–133, hier S. 119. 103 Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 108 im Rückgriff auf August Siemsen: Anna Siemsen, S. 81.

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„hohe Entschädigung“ erhalten und die Zusage, „sich wieder von der Siensen [sic] scheiden zu können, falls er eine ihm passende Lebensgefährtin finden sollte“.104 Die Bewertung der Ehe von Siemsen und Vollenweider, die hier zum Ausdruck gebracht wurde, zeigt, mit welchen negativen Vorannahmen selbst persönliche Beziehungen von politisch aktiven Emigrantinnen und Emigranten belegt wurden. Das Eheverhältnis einer über fünfzig Jahre alten deutschen Sozialistin mit einem zwanzig Jahre jüngeren Genossen aus der Schweiz hatte vermutlich schon aus Gründen des Altersunterschiedes das Misstrauen einer zum Großteil konservativ eingestellten Bevölkerung erregt. Es konnten daher offenbar nur politisches Kalkül und äußerer Zwang dazu geführt haben, dass ein jüngerer Mann eine derart unkonventionelle Verbindung eingegangen war. In der Bewertung der Ehe vermischten sich daher politische und gesellschaftliche Vorurteile, die zu einer noch schärferen Beobachtung und kritischeren Einschätzung von Siemsen führten. Die Beziehung war entgegen offizieller Annahmen durch engen freundschaftlichen Umgang geprägt.105 Die Korrespondenz von Siemsen mit Walter Vollenweider drückt ein vertrauensvolles und persönliches Verhältnis aus.106 Siemsen besuchte Vollenweider oft längere Zeit in Zürich, wo er bei seiner Mutter wohnte, und erhielt auch von ihm Besuch in Chexbres. Neben kurzen Einschätzungen der weltpolitischen Lage künden Siemsens Briefe an Vollenweider vor allem von Alltagserlebnissen und Alltagsproblemen. Siemsen berichtete regelmäßig von gemeinsamen Freunden, von der missmutigen Schwiegermutter,107 die Siemsen manchmal ebenfalls besuchte oder vom verunkrauteten Garten.108 Ihre finanzielle Unabhängigkeit bedeutete für Siemsen einen großen Vorteil. Während sie durch ihre redaktionelle Tätigkeit über ein regelmäßiges Einkommen verfügte, musste sich ein Großteil der anderen Emigrantinnen und Emigranten, sofern sie längere Zeit in der Schweiz bleiben konnten, an die Schweizerische Flüchtlingshilfe wenden, um überhaupt überleben zu können. Außerdem besaß Siemsen ein eigenes Chalet, das durch den Verkaufserlös des alten Hauses in St. Sulpice gebaut werden konnte und offenbar schuldenfrei war. Zunächst hatte Siemsen noch, wie ihr Bruder August Siemsen vor der Lausanner Polizei angab, genau wie er selbst „une pension 240 marcs par mois“,109 also eine monatliche Rente von 240 Mark vom Land Thüringen erhalten. Die Zahlungen wurden allerdings Ende Januar des Jahres 1934 eingestellt.110 Siemsen nahm trotz ihrer verhältnismäßig gut abgesicherten finanziellen Lage Hilfsangebote für Emigrantinnen und Emigranten wahr, die etwa von der American Guild for German Cultural Freedom angeboten wurden. Diese Organisation war 1935 auf Initiative des Publizisten Hubertus Prinz zu Lö104 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Aktenvermerk der Schweizerischen Bundesanwaltschaft vom 21. April 1937. Hervorhebung im Original. 105 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 75. 106 Die überlieferte Korrespondenz von etwa zehn Briefen befindet sich im SozArch, Ar 142.10.1. 107 Ebd.: Anna Siemsen an Walter Vollenweider, Chexbres vom 8. Juni 1940. 108 Ebd.: Anna Siemsen an Walter Vollenweider, Chexbres vom 10. September o. J. 109 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Verhörprotokoll der Police des Sûreté in Lausanne über die Vernehmung von August Siemsen vom 30. Dezember 1933, S. 2. 110 Das hat Manuela Jungbluth ermittelt: Jungbluth: Anna Siemsen, S. 181.

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wenstein-Wertheim-Freudenberg (1906–1984) in den USA ins Leben gerufen worden. Zusammen mit der „Tochterorganisation“, der Deutschen Akademie der Wissenschaften und Künste im Exil, sollte sie „[a]ls Vereinigung von und für deutschsprachige Literaten, Künstler und Intellektuelle“ dienen, die politisch und finanziell unterstützt wurden.111 Sie vergab Stipendien für emigrierte deutsche Schriftsteller, um dadurch die „Reorganisation und Etablierung einer freien deutsche Kultur“ vorzubereiten. Den präsidialen Vorsitz hatte Thomas Mann inne.112 Siemsen bewarb sich hier 1937 um eine Arbeitsbeihilfe, die ihr in Höhe von 35 Dollar im Monat gewährt wurde113 sowie um Druckkostenzuschüsse für ihr Buch Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung.114 Nachdem in der politisch-literarischen Exil-Zeitschrift Das Neue Tagebuch im Februar 1938 u. a. Siemsens Name in einer Aufzählung derjenigen Personen aufgetaucht war, die erstmalig mit Arbeitsbeihilfen von der American Guild bedacht worden waren,115 erreichte Löwenstein ein Brief von „Franz Wodicka sen.“, offenbar selbst kein Emigrant, der die finanzielle Unterstützung für Siemsen als ungerechtfertigt empfand. Wodicka bezog sich auf den Artikel im Neuen Tagebuch, erwähnte die Schweizer Staatsangehörigkeit, die Siemsen durch Heirat erhalten habe sowie ihre Redaktionstätigkeit und hob hervor, Siemsen habe nur für sich selbst zu sorgen. 111 Marcus M. Payk: Die „American Guild for German Cultural Freedom“ (1935–1941): Eine solidarische Institution für die deutschsprachige Emigration?, in: Joachim Bahlcke, Rainer Leng und Peter Scholz (Hg.): Migration als soziale Herausforderung. Historische Formen solidarischen Handelns von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung, Bd. 8), Stuttgart 2011, S. 293–309, hier S. 294. 112 Andreas Stuhlmann: Das literarische Preisausschreiben der American Guild for German Cultural Freedom 1937–1940, in: John A. McCarthy, Walter Grünzweig und Thomas Koebner (Hg.): The many Faces of Germany. Transformations in the Study of German Culture and History. Festschrift für Frank Trommler, New York und Oxford 2004, S. 122–135, hier S. 122 f. Zitat auf S. 122. 113 Siehe dazu die Liste der ersten Stipendiaten der American Guild vom 26. Januar 1938 (abgedruckte Quelle zu Dokument 191), in: Werner Berthold, Brita Eckert und Frank Wende (Ausstellung und Katalog): Deutsche Intellektuelle im Exil. Ihre Akademie und die „American Guild for German Cultural Freedom“. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main (Die Deutsche Bibliothek: Sonderveröffentlichungen, Nr. 18), München 1993, S. 123. Siemsen erhielt ihre Arbeitsbeihilfe zunächst für die Dauer von drei Monaten. Siehe dazu auch das auszugsweise abgedruckte Schreiben von Löwenstein „an die Senatoren und korrespondierenden Mitglieder der Deutschen Akademie“ vom 27. Januar 1938 (Dokument 192), in: ebd., S. 124. Eine Liste aller Stipendiaten der American Guild von 1938 bis 1940 befindet sich ebd., auf den Seiten 559–560. 114 Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: EB 70/117: Siemsens Antwort auf einen Fragebogen der American Guild for Cultural Freedom o. O. und o. J. Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung, erschienen in Hamburg bei Oetinger 1948, konnten erst nach dem Zweiten Weltkrieg publiziert werden, weil die American Guild schon bald nach Zusage des Druckkostenzuschusses über keine finanziellen Mittel mehr verfügte. Vgl. dazu den Briefwechsel von Leo Kestenberg und Anna Siemsen mit Löwenstein bzw. der American Guild im Bestand über die Organisation, in: Deutsche Nationalbibliothek/ Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: EB 70/117. 115 N. N.: Abseits der Reichskulturkammer, in: Das Neue Tagebuch 6 (1938), Heft 9 vom 26. Februar 1938, S. 215.

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Wodicka schrieb weiter, „ich gönne ihr den Arbeitsbeitrag“, doch gebe „es in der Schweiz eine ganze Anzahl echter Emigranten“, die das Geld sehr viel nötiger hätten. Wodicka nannte im Anschluss das Beispiel eines mit ihm bekannten Schriftstellers, der unter den ärmlichsten Bedingungen lebe.116 Dieses Schreiben zeigt, wie Siemsen auch in jenen Kreisen, die Flüchtlingen in der Schweiz verständnisvoll gegenüberstanden, wahrgenommen wurde. Durch ihre exzeptionelle Position innerhalb der heterogenen Emigrantengruppe wurde ihr nun auch der Status einer „echten Emigrantin“ abgesprochen, weil sie sich in keiner aussichtslosen finanziellen Situation befand. Siemsens relativ gut abgesicherte Lebensverhältnisse waren ausschlaggebend dafür, dass sie neben ihrer Berufstätigkeit eine ausgedehnte politische Tätigkeit entfalten konnte. Aufgrund der Quellenlage stehen die Jahre ab 1936/1937 im Mittelpunkt. Seit dieser Zeit setzte bei Siemsen vor allem durch die veränderten politischen Rahmenbedingungen auf internationaler Ebene eine verstärkte Beschäftigung mit den politischen Verhältnissen in Europa ein und sie konkretisierte und erweiterte ihre Europa-Vorstellungen, die sie bereits in der Weimarer Republik entworfen hatte.

116 Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: EB 70/117: Franz Wodicka sen. an Löwenstein, Zürich vom 29. März 1938.

1 FÜR FRIEDEN, RECHT UND EIN DEMOKRATISCHES EUROPA (1933 BIS 1939) Seit 1933 gewannen Anna Siemsens Europa-Konzepte durch ihre Auseinandersetzung mit dem Faschismus, mit der Eroberungspolitik des nationalsozialistischen Regimes und mit der Haltung der demokratischen Länder zu Hitlers Außenpolitik an Kontur. Unmittelbar nachdem sie in die Schweiz gekommen war, begann sie, sich verstärkt mit den politischen Entwicklungen in Deutschland zu beschäftigen und die möglichen Auswirkungen des nationalsozialistischen Regimes für die Zukunft Europas zu diskutieren. Die beiden argumentativen Pole, um die sich Siemsens Auseinandersetzung mit Europa drehte, waren Faschismus bzw. Diktatur und Demokratie. Es ging ihr vor allem darum, die von Deutschland ausgehende drohende Kriegsgefahr zu überwinden und die Wichtigkeit einer neuen internationalen Ordnung zu betonen, die in der Lage sein müsse, einen dauerhaften Friedenszustand in Europa zu gewährleisten. Die Forderung nach dauerhaftem Frieden, den Siemsen in der Weimarer Republik durch eine sozialistische Gesellschaftsreform durchsetzen wollte, avancierte seit 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges zu einem politischen Arbeitsschwerpunkt, dem sie anfänglich die Arbeit für eine sozialistische Gesellschaftsreform zumindest argumentativ unterordnete. Der Begriff Sozialismus wurde in Siemsens Ausführungen im Exil durch den Begriff Demokratie ersetzt. Der Bedeutungsinhalt änderte sich jedoch nicht. „Demokratie“ diente Siemsen als anschlussfähiger Oberbegriff für politische Reformforderungen, die sie in bewusster Abgrenzung zu den bestehenden faschistischen diktatorischen Regimen, insbesondere zum Nationalsozialismus formulierte.1 In ihrer Argumentation trat die vor 1933 erhobene Forderung nach einer Einheit der Arbeiterklasse zugunsten einer Auseinandersetzung über die Grundlagen der europäischen Kultur zurück. Im Zentrum stand also die Hervorhebung vermeintlicher kultureller Gemeinsamkeiten der Europäer und weniger „die Gemeinsamkeiten der europäischen Arbeiterbewegung“.2 Schon im Mai 1933 betonte Siemsen in dem Organ der Schweizer Sozialdemokratie, der Tageszeitung Volksrecht, Europa stehe vor der Vernichtung seiner demokratischen Kultur. Europa sei, so betonte Siemsen, „verurteilt[,] den Untergang seiner Ideen, seines Geistes, seiner gesamten Kultur zu erleben“. Wie schon in der Weimarer Republik glaubte sie, „[d]er Glaube an menschliche Würde, an das Recht des Menschen auf Gesinnungsfreiheit, der Glaube an die reinigende Kraft des frei ausgetragenen Meinungskampfes, der Glaube an die revolutionierende und aufbauende Macht der Erkenntnis“ sei das, was Europas Kultur kennzeichne und „was [es] 1 2

Die Entwicklung und Erörterung des Demokratieverständnisses als Abgrenzung zum nationalsozialistischen System war allgemeines Kennzeichen der Europa-Diskussionen im deutschen Exil: Schilmar: Der Europadiskurs, S. 161. Darauf hat Boris Schilmar verwiesen: Schilmar: Der Europadiskurs, S. 171.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

sich […] in einem ein Jahrtausend umfassenden Kampfe erobert hat“.3 Obwohl Siemsen betonte, eine Gefahr für die demokratische Kultur Europas drohe auch vom Bolschewismus, den sie an dieser Stelle ähnlich wie den Faschismus bewertete, legte sie ihren Schwerpunkt auf das nationalsozialistische Deutschland, das meistens je nach Argumentation mit den Begriffen Faschismus und Diktatur synonym verwendet wurde. Ihr politisches Ziel bestand darin, „das Mindestmaß von Gewalt, das Höchstmaß friedlicher Entwicklung zu erreichen“.4 Für Siemsen waren „Rechtlosigkeit und Gewalt“ Kennzeichen des Faschismus, die es zu überwinden galt. Deswegen propagierte sie seit 1933 verstärkt „eine große europäische Föderation“, in der die einzelstaatliche Souveränität abgeschafft werden müsse. Die staatliche Souveränität betrachtete sie als „Hemmnis“ für die demokratische und damit friedliche Entwicklung Europas. Das Ziel der europäischen Föderation sollte über den Weg „einer internationalen, auf Solidarität und demokratischer Selbstverwaltung beruhenden Planwirtschaft“ entstehen. Dafür bedürfe es „der Schaffung eines internationalen Rechtszustandes, der eine solche Planwirtschaft ermöglicht“, betonte sie.5 Die Forderungen nach Abschaffung der nationalstaatlichen Souveränität und nach einer bindenden internationalen Rechtsordnung waren zwei Aspekte, die Siemsen bei der Formulierung ihrer Europa-Vorstellungen im Exil hervorhob. Ihre Europa-Konzepte der 1930er Jahre bildeten einen Teil dessen, was in der Forschung als „Widerstand durch Planung“ charakterisiert wurde. Wie es auch andere Emigrantinnen und Emigranten taten, entwarf Siemsen ihre Europa-Ideen als Gegenmodelle zu der aggressiven nationalsozialistischen Expansionspolitik. Die Konzepte waren Ausdruck „oppositionellen Gedankengutes in Form von zukunftsorientierten Konzepten [und] politischen Alternativ- und Subversivplänen“.6 Die Einigung Europas avancierte zu „eine[r] zentrale[n] Forderung der deutschen Emigranten“ sowie zu einer Leitlinie „in ihren politischen Auseinandersetzungen und der aktiven Widerstandsarbeit im Exil“ in den 1930er und 1940er Jahren.7 Siemsen hatte mit ihren Ausführungen im Volksrecht die Grundlagen ihrer Europa-Konzepte benannt, die sie im Verlauf der 1930er und 1940er Jahre beibehalten sollte. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges führte sie diese Ideen aber noch nicht konkret aus. Dies sollte erst in den 1940er Jahren geschehen. Die von Siemsen bis etwa 1939 formulierten Einigungsideen für Europa entsprachen in ihrem zunächst noch vagen Charakter den Äußerungen, die auch von anderen deutschen Emigrantinnen und Emigranten formuliert worden waren. Bis etwa 1938 überwog im deutschen Exil, das sich über mehrere Länder wie Frankreich, Großbritannien Schweden, die damalige Tschechoslowakei oder die USA erstreckte, eine Aufklä3

Fr.[iedrich] Mark: Deutschlands Sturz 6. Deutschland und Europa, in: Volksrecht. Sozialdemokratisches Tagblatt Nr. 108 vom 9. Mai 1933, S. 4. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Boris Schilmar: Planung als Widerstand – Widerstand durch Planung. Zur Bedeutung des Europadiskurses als Element der Widerstandsarbeit im deutschen Exil 1933–1937, in: Duchhardt und Németh: Der Europa-Gedanke in Deutschland und Ungarn, S. 143–165, hier S. 162. 7 Schilmar: Der Europadiskurs, S. 2 f.

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rung über die politischen Verhältnisse in Deutschland und das Bestreben, Widerstand gegen das Hitler-Regime zu organisieren.8 Eine Auseinandersetzung mit Europa fand zunächst auf dem „Niveau tagespolitisch verkürzter Parolen“ statt und enthielt noch keine übergreifende Diskussion konkreter Einigungsideen.9 Erst mit der Annexion Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland und dem Münchener Abkommen 1938, mit dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1939 und schließlich mit der Niederlage Frankreichs 1940 entwickelte sich eine Debatte innerhalb des deutschen Exils, in der nun konkrete Neuordnungsideen für Europa diskutiert wurden.10 Siemsens Auseinandersetzung mit Europa korrespondierte mit diesen Entwicklungen. Eine „Neuordnung“ Europas schien um 1940 angesichts der aggressiven Expansionspolitik des NS-Regimes unter faschistischen Vorzeichen Realität zu werden. Die Europa-Ideen des Exils, die zum großen Teil vage geblieben waren, mussten konkretisiert werden, um den Entwicklungen alternative politische Ordnungsmodelle entgegenstellen zu können.11 Die Forderungen nach einer internationalen bindenden Rechtsordnung für Europa und nach Aufgabe nationalstaatlicher Souveränität formulierte Siemsen angesichts der innenpolitischen Konsolidierung des Nationalsozialismus, die die Unterhöhlung sämtlicher demokratischer Grundrechte zur Folge hatte, ohne dass andere Länder politisch intervenierten. Im Verlauf der 1930er Jahre wurde Siemsen schließlich auch durch die Außenpolitik des Deutschen Reiches in ihrer Forderung nach einer bindenden internationalen Rechtsordnung bestärkt. Hitler hatte Rechtsund Vertragsbrüche begangen, die auf dem internationalen politischen Parkett ohne nennenswerten Widerstand hingenommen worden waren. Im Januar 1936 erfolgte etwa der nationalsozialistische Putsch in Österreich und im März 1936 ließ Hitler von der Reichswehr das entmilitarisierte Rheinland besetzen, was einen Bruch mit dem Versailler Vertrag und mit den Beschlüssen von Locarno bedeutete.12 Hinzu kam ferner, dass Mussolini, der die Errichtung eines faschistischen Großreiches nach dem Muster des Römischen Imperiums plante, bereits Ende 1935 in das bis dahin noch unabhängige afrikanische Kaiserreich Abessinien einmarschiert war.13 Diese Ereignisse führten auch in anderen antifaschistischen Kreisen zu der Ansicht, dass „die Durchsetzung der Herrschaft des Rechts unumstrittener Grundsatz zu8 9 10 11 12 13

Gerhard Ringshausen: Der Widerstand gegen die Diktatur und das neue Bild von Deutschland, in: ders. und von Voss (Hg.): Die Ordnung des Staates und die Freiheit des Menschen. Deutschlandpläne im Widerstand und Exil, Bonn 2000, S. 19–67, hier S. 29–31. Schilmar: Der Europadiskurs, S. 38. Ebd., S. 140–142. Vgl. ebd. Siehe zu diesen Ereignissen: Christoph Studt: Nationalsozialistische Außenpolitik bis zum Sommer 1938, in: Jürgen Zarusky und Martin Zückert (Hg.): Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive, München 2013, S. 17–29. Vgl. dazu Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941 (Kultur – Philosophie – Geschichte. Reihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Luzern, Bd. 3), Zürich 2005. Zu Mussolinis Europa-Konzepten vgl. Monica Fioravanzo: Die Europakonzeptionen von Faschismus und Nationalsozialismus (1939– 1943), in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), Heft 4, S. 509–541, hier S. 519 f.

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künftiger Politik“ sein müsse.14 Eine weitere einschneidende Zäsur war für Siemsen der Beginn des Spanischen Bürgerkriegs 1936. Sie glaubte, er sei von der nationalsozialistischen Führung maßgeblich initiiert worden, weshalb sie annahm, der Faschismus würde über ganz Europa verbreitet werden. Neben der Auseinandersetzung mit diesen politischen Ereignissen bestimmte eine übergreifende Grundüberzeugung Siemsens Analyse der zeitgenössischen Gegenwart. Sie betonte, der Nationalsozialismus, der für sie eine große Kriegsgefahr bedeutete, sei ein Produkt internationaler kapitalistischer Entwicklungen. Aus diesem Grund plädierte sie für eine europäische Planwirtschaft, durch die auch andere friedensgefährdende, antidemokratische Regime überwunden werden könnten. Sie betonte, „eine Periode der Weltwirtschaft“ werde „zu Ende“ gehen, „weil die andern Kontinente sich von uns lösen und selbständig werden“. Faschismus und Bolschewismus würden gleichermaßen auf diese Herausforderungen reagieren, indem sie versuchten, die wirtschaftliche Vormachtstellung mit „Zwang und Unterdrückung“ und durch die „Herrschaft eines ausschließenden Nationalismus“ aufrecht zu erhalten, was die „Vernichtung der in allzu enge Grenzen geschnürten Staaten“ zur Folge habe.15 „Nationalismus“, „Zwang“, „Unterdrückung“ und „Gewalt“ waren für Siemsen vor allem Kennzeichen einer deutschen Politik, für die sie preußische Traditionen verantwortlich machte. Sie glaubte, „[s]eit Deutschland sich vor hundert Jahren dem europafeindlichen Preußentum auslieferte“, sei der „Zusammenhang“ zwischen deutscher und europäischer Kultur zerrissen.16 Diese Deutung durchzog auch ihre Autobiographie, die sie 1939/1940 verfasste. Beginnend mit der Kindheit bis zur Emigration 1933 wollte Siemsen nach eigenen Angaben nicht ihre „Lebensgeschichte“ schreiben, sondern die politische Entwicklung Deutschlands zum Nationalsozialismus erklären. Laut Siemsen war dieser nicht etwa ein „Unfall“ gewesen, sondern die „letzte Entwicklung von Tendenzen“, die im Kaiserreich durch eine preußisch-imperialistische Politik eingeleitet worden sei.17 Siemsens Sichtweise über den Aufstieg des Nationalsozialismus entsprach den Ausführungen ihres Bruders August Siemsen, der in seinem Buch Preussen. Die Gefahr Europas18 „die deutsche Entwicklung aufzeigen“ wollte, „die vom Großen Kurfürsten zu Hitler, vom preußischen Militarismus und der preußischen Bürokratie über die Verpreußung Deutschlands zum wilhelminischen Imperialismus und Gewaltglauben ins Dritte Reich führte“.19 Das Buch steht programmatisch für die 14 Peter Steinbach und Johannes Tuchel: Der Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur, in: dies. (Hg.): Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 438), Bonn 2004, S. 11–25, S. 12. 15 Siemsen: Deutschlands Sturz 6, S. 4. 16 Ebd. 17 Siemsen: Vorwort, in: dies.: Mein Leben in Deutschland, S. I–II, hier S. I. 18 August Siemsen: Preussen. Die Gefahr Europas, Paris 1937. Die folgenden Zitate entstammen dem Reprint der Ausgabe von 1937: August Siemsen: Preussen. Die Gefahr Europas. Nachgelassenes Manuskript herausgegeben von Anna Siemsen mit einem Vorwort von Helmut Donat und Arno Klönne, Berlin 1981 [Nachdruck der Ausgabe Paris 1937]. 19 August Siemsen: Anna Siemsen, S. 75.

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politische Arbeitsgemeinschaft, die Siemsen mit ihrem Bruder in der ersten Zeit des Exils verband. August Siemsen versuchte nicht nur, die politische Entwicklung Deutschlands von Friedrich dem Großen bis Hitler zu skizzieren, sondern wollte zeigen, dass „das Dritte Reich […] die unmittelbarste Bedrohung Europas und das schwerste Hindernis für den europäischen Zusammenschluss“ darstelle. Sein Ziel war, dadurch möglichst viele Menschen zu einem Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zu bewegen, dessen Weiterbestehen mit der „Zerreissung Europas“ enden und damit zu „Krieg“ und der „Vernichtung Europas“ führen werde.20 „Der Faschismus“ wurde von August Siemsen monokausal als „Produkt des Kapitalismus in seiner Niedergangskrise“ definiert.21 Mit dieser Definition war es möglich, auch das Bestehen faschistischer Bewegungen in anderen Ländern zu erklären, denn der Kapitalismus selbst wurde als ein europäisches bzw. internationales Phänomen betrachtet, das aber in Deutschland besonders aggressive Züge trage. Der Anstoß, dieses Buch zu schreiben, ging laut August Siemsen von seiner Schwester aus, die ihn als studierten Historiker in die „Pflicht“ genommen und sich selbst mit dem Inhalt des Buches auch identifiziert habe.22 August Siemsen schrieb das Buch bereits 1933 oder 1934 noch in dem kleinen Haus La Cabane in St. Sulpice, veröffentlicht wurde es aber erst 1937 auf Initiative seiner Schwester, die das Buch unter ihrem Namen herausgab.23 Anna Siemsen selbst berichtete, dass das Buch zunächst nicht erscheinen konnte, weil ihr Bruder unter ständiger Gefahr der Ausweisung gelebt habe. Es sei aber später „in Buenos Aires unter seinem Namen in spanischer Sprache“ veröffentlicht worden.24 Siemsen publizierte das Buch 1937 schließlich unter ihrem Namen, weil sie den Sohn von August Siemsen, Pieter Siemsen (1914–2004), schütze wollte, der aus der Schweiz ausgewiesen worden war und wieder in Deutschland lebte.25 „Die Gleichsetzung von Preußentum und Nationalsozialismus“ war in deutschen Exilkreisen weit verbreitet.26 Auch innerhalb der Schweiz war diese Deutung nicht singulär. Zumindest in liberalen und sozialdemokratischen Kreisen wurde der Machtantritt Hitlers als Ergebnis eines Prozesses verstanden, der durch die Machtpolitik des Kaiserreichs vorbereitet worden sei und im Ersten Weltkrieg seine Wurzeln gehabt habe.27

20 21 22 23 24

25 26 27

Siemsen: Preussen, S. 200. Ebd., S. 149. August Siemsen: Anna Siemsen, S. 75 f. Zitat auf S. 75. Ebd., S. 75 f. Zur Editionsgeschichte siehe auch: Helmut Donat und Arno Klönne: Vorwort, in: Siemsen: Preussen, S. I–XXIX, hier S. X–XII Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: Teilnachlass W. A. Berendsohn EB 54 b/7 I, 1396: Siemsen an Berendsohn, Düsseldorf, undatiert. Das Buch erschien in spanischer Sprache 1939 unter dem Titel El imperio german, peligro de Europa. Zudem erschien noch eine gekürzte Version des Buches unter dem Titel Preußens Ende – Deutschlands Aufstieg [ca. 1940] als Nr. 1 der Flugschriften der Zeitschrift Das andere Deutschland: Donat und Klönne: Vorwort, Fußnote 28 auf S. XII. Ebd., S. X. Schilmar: Der Europadiskurs, Fußnote 159 auf S. 71. Mooser: Die „Geistige Landesverteidigung“, S. 695.

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Die Grundthese, die die Argumentation der Geschwister Siemsen durchzog, war die des „deutschen Sonderwegs“. Dieser Terminus bezeichnet die Idee „einer individuellen politisch-kulturellen Entwicklung, die sich im Gegensatz zu den anderen europäischen, vor allem den westeuropäischen, Nationen vollziehe“. Die Annahme eines deutschen Sonderwegs gehörte in den 1920er Jahren „zu den traditionalen Denk- und Ausdrucksschemata der deutschen politischen Kultur“.28 Im Gegensatz zu Siemsens Ausführungen war dieser Sonderweg in der zeitgenössisch herrschenden Historiographie und in der Deutung weiter Teile der Bevölkerung aber positiv konnotiert. Die deutsche Geschichte wurde als teleologischer Prozess verstanden, der auf die Reichsgründung 1871 zugelaufen sei. Die Annahme, das monarchisch-konstitutionelle System Deutschlands sei „dem westlichen Parlamentarismus überlegen“ sowie die Annahme einer vermeintlich besonderen deutschen Kultur, die gegenüber der westlichen Zivilisation angeführt wurde, prägten die Sichtweise auf eine spezifisch deutsche historische Entwicklung.29 Preußen nahm in dieser Sichtweise als Vorreiter der nationalen Einigung eine besondere Position ein.30 August Siemsen nahm eine Umdeutung dieser herrschenden Deutung vor, entwarf dabei aber neben einem negativen, „preußischen“ Sonderweg auch einen positiven Sonderweg Deutschlands, den er aus seiner Charakterisierung von Deutschland als „Land der Mitte“31 ableitete. Die Deutschen hätten „die Mission der Vermittlung: aufzunehmen, zu verarbeiten, weiterzugeben und zurückzugeben. Herzland Europas sein, bedeutet europäische Aufgabe und Verpflichtung“.32 Diese Deutung über Deutschland hatte seine Schwester bereits in ihrem Buch Deutschland zwischen gestern und morgen 1932 beschrieben. August Siemsen hoffte auf die deutsche Arbeiterschaft, die den Sturz des Nationalsozialismus und damit den Bruch preußischer Machttraditionen herbeiführen sollte. Denn es waren in seiner Sicht „die alten preussisch-deutschen Mächte, die im Dritten Reich bestimmen“ würden. Er zählte „Grossagrariertum [sic] und Schwerindustrie“ dazu sowie „Bürokratie und Militär“.33 Das „kommende sozialistische Deutschland“ solle „end28 Bernd Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, S. 6. Nach 1945 wurde die Sonderwegsthese wieder aufgegriffen. Nun wurde die deutsche Geschichte von 1871 bis 1945 zu „einem antiwestlichen Irrweg“ erhoben, mit dem gebrochen werden sollte, um „den verlorenen Krieg politisch und moralisch“ verarbeiten zu können: Dieter Langewiesche: Der „deutsche Sonderweg“. Defizitgeschichte als geschichtspolitische Zukunftskonstruktion nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Horst Carl u. a. (Hg.): Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 57–65, hier S. 64. In der Geschichtswissenschaft wird die These vom „deutschen Sonderweg“ heute differenziert untersucht und zum Teil infrage gestellt. Grundlegend dazu: Cornelius Torp und Sven Oliver Müller: Das Bild des deutschen Kaiserreichs im Wandel, in: dies. (Hg.): Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 9–27. 29 Faulenbach: Ideologie, S. 7. 30 Ebd., S. 44. 31 Siemsen: Preussen, S. 7. 32 Ebd., S. 7 f. 33 Ebd., S. 183.

1.1 Frieden durch die Volksfront

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lich seine grosse europäische Aufgabe erfüllen“ können: „Es wird Kitt sein für die Vereinigten Staaten von Europa.“34 Siemsen vertrat die gleichen Thesen, die ihr Bruder in seinem Preußen-Buch schon zu Beginn der 1930er Jahre aufgeschrieben hatte. Dazu gehörte auch die Idee eines „anderen“ Deutschlands“, die sie aber erst während des Zweiten Weltkrieges ausführlicher darlegte. In ihren Ausführungen gab es stets „zwei“ Deutschlands, das europäische und das nationalsozialistische, die jeweils in unterschiedlichen Begründungszusammenhängen angeführt wurden. Betonte Siemsen etwa die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Einigung Europas, argumentierte sie mit dem nationalsozialistischen Deutschland, dessen aggressiver Kapitalismus auf diese Weise eingedämmt werden sollte. Für ihre Forderung nach einer gleichberechtigten Eingliederung Deutschlands in ein neues Europa, die sie wiederholt anführte, rekurrierte sie dagegen auf das „europäische“ Deutschland, ohne das eine Neuordnung Europas keinen Bestand haben könne. Gegen Ende der 1930er Jahre unterstützte Siemsen zunächst die Ziele der „Volksfront“ für den erhofften Sturz des Nationalsozialismus und sie plädierte für eine neue Rechtsordnung in Europa. Durch den Spanischen Bürgerkrieg und schließlich durch den Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde sie in ihrer Meinung bestärkt, nur eine grundlegende Reformierung Europas auf demokratischer Grundlage könne Europa vor dem Untergang seiner Kultur und Zivilisation noch retten. Ausführlichere Ideen für eine politische und wirtschaftliche Einigung Europas formulierte sie erst nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, als die Einigung Europas zu einer politischen Hauptforderung für die Nachkriegszeit avancierte.35 1.1 FRIEDEN DURCH DIE VOLKSFRONT Siemsens politisches Engagement galt bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges der Aufklärung über die drohende Kriegsgefahr, die von Deutschland ausgehe. Sie glaubte, es sei möglich, breiten internationalen Widerstand gegen Hitlers außenpolitische Ziele zu organisieren, das nationalsozialistische Regime zu stürzen, eine demokratische Neuordnung Deutschlands zu erreichen und auf diese Weise der drohenden Kriegsgefahr zu begegnen. 1938 formulierte sie, auch die Neuordnung Deutschlands müsse eine föderative sein. Nur auf diese Weise ließe sich die Politik eines auf machtstaatlichen Prämissen fußenden „Grossdeutschland“ überwinden.36 Konkretere Ideen zur Neuordnung Deutschlands entwarf Siemsen erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie glaubte bis kurz vor Beginn des Krieges, das nationalsozialistische Regime könne noch durch eine innerdeutsche Widerstandsbewegung

34 Ebd., S. 201. 35 Vgl. dazu auch Jungbluth: Anna Siemsen, S. 180 f. 36 Anna Siemsen: Grossdeutschland oder Föderation?, in: Die Zukunft Nr. 2 vom 21. Oktober 1938, S. 7.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

der Bevölkerung überwunden werden. „Der entscheidende Sektor der deutschen Befreiung liegt in Deutschland!“ hob sie im März 1939 hervor.37 Diese Hoffnung einte nahezu das gesamte deutsche Exil. Die Hoffnung ruhte vor allem auf den demokratischen Regierungen und der europäischen Bevölkerung, die den politischen Entwicklungen doch noch etwas entgegensetzen könnten.38 Wie Siemsen glaubte auch die überwiegende Mehrheit des sozialdemokratischen Exils, das als „Willkürherrschaft“ definierte nationalsozialistische Regime werde „durch eine gesellschaftliche Umwälzung“ gestürzt werden.39 Die Verantwortung für einen drohenden Krieg wurde den Führungseliten des nationalsozialistischen Systems angelastet, nicht aber der deutschen Bevölkerung, von der man meinte, sie werde Widerstand gegen die expansiven Politikziele des Regimes organisieren oder dagegen rebellieren.40 Festgeschrieben wurde diese Hoffnung im Prager Manifest, das der nach Prag emigrierte Vorstand der SPD, nun SOPADE genannt, 1934 verabschiedete. Die SPD-Führung im Exil wandte sich damit von ihren reformistischen Grundsätzen ab und trat für die sozialistische Revolution ein.41 Im Parteiprogramm der Exil-SPD wurde der Sturz des nationalsozialistischen Regimes „durch die revolutionären Massen“ prophezeit. Die „Massenpartei“ der Arbeiterschaft sollte einen demokratischen Staat errichten, die Macht der alten Eliten brechen und das Prinzip der Selbstverwaltung einführen.42 Eine Widerstandsarbeit innerhalb Deutschlands war jedoch spätestens ab 1936 kaum noch möglich. Seit dem Verbot der SPD im Juni 1933 und der einsetzenden Verfolgung durch die Gestapo waren Widerstandsgruppen zerschlagen worden, ihre Mitglieder wurden verhaftet und/oder ermordet.43 Es gab zwar „mutige[n] Widerstand aus allen Bevölkerungsschichten“, vor allem aus der Arbeiterschaft, diese Gruppen oder Personen handelten jedoch „ohne aktive Massenunterstützung [aus] der Bevölkerung“, so dass eine innerdeutsche Widerstandsarbeit „isoliert“ blieb. Ursächlich dafür war ein „Grundkonsens“ seitens breiter Bevölkerungskreise mit dem Nationalsozialismus, der auch einzelne Kritikpunkte an der nationalsozialistischen Führung „zu kompensieren“ vermochte. Zentral für diesen Grundkonsens war nicht nur eine „affektive Übereinstimmung mit wesentlichen Teilaspekten der 37 Anna Siemsen: Zur Schaffung einer deutschen Arbeiterpartei, in: Die Zukunft Nr. 12 vom 24. März 1939, S. 5. 38 Schilmar: Der Europadiskurs, S. 38. 39 Detlef Lehnert: Vom Widerstand zur Neuordnung? Zukunftsperspektiven des demokratischen Sozialismus im Exil als Kontrastprogramm zur NS-Diktatur, in: Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München und Zürich 1985, S. 497–519, hier S. 501. 40 Rainer Behring: Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933–1945 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 117), Düsseldorf 1999, S. 191. 41 Schilmar: Der Europadiskurs, S. 50 f. 42 Wolfgang Benz: Konzeptionen für die Nachkriegsdemokratie. Pläne und Überlegungen im Widerstand, im Exil und in der Besatzungszeit, in: Thomas Koebner, Gert Sautermeister und Sigrid Schneider (Hg.): Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949, Opladen 1987, S. 201–213, hier S. 206. 43 Lehnert: Vom Widerstand zur Neuordnung?, S. 501.

1.1 Frieden durch die Volksfront

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NS-Ideologie“, sondern auch die im Verhältnis zur Zeit der Weltwirtschaftskrise verbesserte ökonomische Situation einzelner Bevölkerungsgruppen.44 Schließlich führte auch bei den Teilen der Arbeiterschaft, die dem nationalsozialistischen Regime zunächst ablehnend gegenübergestanden hatten, die Verbesserung der ökonomischen und privaten Lage etwa durch Vollbeschäftigung und eine darauf gründende neue Lebensperspektive seit Mitte der 1930er Jahre dazu, sich zunehmend mit dem Regime zu arrangieren oder bestimmte „Maßnahmen des Regimes“ zu bejahen.45 Siemsen versuchte, insbesondere die deutschen Frauen für eine Widerstandsarbeit gegen das nationalsozialistische Regime zu gewinnen. Im Oktober 1936 richtete sie ein Grußwort an die deutschen Frauen und betonte, wie wichtig „[j]eder Versuch“ sei, „eine Verbindung der Frauen herzustellen, welche guten Willens sind, eine neue friedliche Ordnung der europäischen Staaten und Völker schaffen zu helfen, damit endlich der zweitausendjährige Wunsch des ‚Frieden auf Erden‘ Erfüllung finde[n]“ möge.46 Das Grußwort erschien in der Monatsschrift Die Frau, eine von der Kommunistischen Internationale (Komintern) finanzierten Zeitschrift, durch die alle in der Emigration lebenden Frauen angesprochen und für die Friedensarbeit gewonnen werden sollten. Die Zeitschrift wurde von der Deutschen Frauenkommission der Volksfrontbewegung herausgegeben und setzte sich zum Ziel, über die gesellschaftliche Stellung von Frauen im Nationalsozialismus aufzuklären. Entsprechend trug die Zeitschrift den Untertitel Monatsschrift für Frieden und Frauenrechte und sollte auch Frauen in Deutschland und Österreich erreichen.47 Für die Etablierung eines dauerhaften Friedenszustandes in Europa stellte Siemsen ideologische Differenzen zu anderen politischen Gruppierungen wie etwa den Kommunistinnen und Kommunisten zeitweilig zurück. Damit führte sie eine politische Strategie fort, auf die sie bereits in der Weimarer Republik mit ihrem Eintritt in die SAPD gesetzt hatte: Die Sammlung aller Kräfte mit gleichen Zielen zu einer Einheitsbewegung, um ein politisches Gegengewicht zu herrschenden antidemokratischen Entwicklungen zu schaffen und eigene politische Zielvorstellungen umzusetzen. Wollte Siemsen zu Beginn der 1930er Jahre eine Einheit der Arbeiterschaft erreichen, um sozialistische Reformen gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus einzuleiten, arbeitete sie nun im Exil im Rahmen der deutschen Volksfrontbewegung für den erhofften Sturz des Nationalsozialismus.

44 Ian Kershaw: „Widerstand ohne Volk?“ Dissens und Widerstand im Dritten Reich, in: Schmädeke und Steinbach: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 779–798, hier S. 794 f. 45 Hans-Josef Steinberg: Die Haltung der Arbeiterschaft zum NS-Regime, in: Schmädeke und Steinbach: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 867–874, hier S. 870. 46 Anna Siemsen: Werte Freunde!, in: Die Frau 1 (1936), Heft 2, S. 6. 47 Ursula Langkau-Alex: Deutsche Volksfront 1932–1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau, zweiter Band: Geschichte des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront, Berlin 2004, S. 153–155. Siehe auch dies.: Zwischen Schreibtisch und Schafott. Frauen in der Volksfrontbewegung, in: Häntzschel und Hansen-Schaberg: Politik – Parteiarbeit – Pazifismus, S. 98–114, hier S. 108.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

Die Volksfrontbewegung bezeichnet Zusammenschlüsse von Parteien und Organisationen verschiedener politischer Couleur in den 1930er Jahren, die es sich zum Ziel setzten, Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zu organisieren. Obwohl die Initiativen zur Bildung von Volksfronten von linken Gruppen oder Parteien ausgingen, sollten sich in ihr auch bürgerliche Gruppen und Parteien sammeln. In Frankreich kam 1936 unter Léon Blum die sogenannte front populaire, ein Bündnis linker Parteien aus Sozialisten und Kommunisten, an die Regierung. Auch in Spanien suchten linke Parteien für diesen Zweck Bündnisse mit den bürgerlichen Parteien und errangen ebenfalls 1936 einen Wahlsieg.48 Nach 1933 wurden erste Anstrengungen unternommen, um auch eine deutsche Volksfront ins Leben zu rufen. Trotz der ideologischen Differenzen, die in der Weimarer Republik zwischen SPD und KPD bestanden hatten, kam es 1934 in Hessen, Nordbaden und im Saargebiet zu ersten Zusammenschlüssen von Personen beider Parteien.49 Auch wenn die ideologischen Grabenkämpfe der Weimarer Zeit im Exil immer wieder aufbrachen, führten die Erkenntnis von „dem wachsenden Totalitätsanspruch“ des nationalsozialistischen Regimes „und die Erfahrung ständig eskalierender Willkür und Gewalt“ dazu, für das gemeinsame Ziel, die Überwindung des Nationalsozialismus, Kompromisse zu finden und miteinander Pläne für eine politische Neuordnung Deutschlands zu schmieden.50 Unter diesen Entwicklungen „erstarkten“ die oppositionellen linken Splitterparteien, die schon in der Weimarer Republik entstanden waren.51 Dazu gehörten neben der SAPD die leninistische Gruppe Neu Beginnen oder der lebensreformerisch und antimarxistisch ausgerichtete Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK).52 Ihren organisatorischen Höhepunkt fand die deutsche Volksfrontbewegung mit der Zusammenkunft von etwa 50 Emigranten, die sich im Herbst 1935 im Pariser Hotel Lutetia trafen und dort den „Lutetia-Kreis“ bzw. das „Lutetia-Comité“ bildeten, das den vorbereitenden Ausschuss zur Bildung einer Volksfront darstellten sollte. Die Sitzung wurde von dem Kommunisten Willi Münzenberg (1889–1940) geleitet, den präsidialen Vorsitz übernahm Heinrich Mann.53 Auf einer Sitzung am 2. Februar 1936 fanden sich über 100 geladene Emigrantinnen und Emigranten ein, um ein gemeinsames Programm für die Widerstandsarbeit gegen den Nationalsozialismus auszuarbeiten.54 Wegen der politisch heterogenen Zusammensetzung 48 Gerd-Rainer Horn: 1934: Eine fast schon vergessene Linkswende der europäischen Sozialdemokratie, in: Christoph Jünke (Hg.): Linkssozialismus in Deutschland. Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus?, Hamburg 2010, S. 21–38, hier S. 30 f. 49 Ringshausen: Der Widerstand, S. 29. 50 Steinbach und Tuchel: Der Widerstand, S. 12. 51 Horn: 1934, S. 24. 52 Ringshausen: Der Widerstand, S. 25. 53 Ursula Langkau-Alex: Deutsche Volksfront 1932–1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau, erster Band: Vorgeschichte und Gründung des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront, Berlin 2004, S. 179 f. 54 Ebd., S. 327. Anzahl und Namen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer können nicht abschließend geklärt werden. Siehe ebd., S. 329. Zu den zeitgenössische Zahlenangeben vgl. die Fußnoten auf S. 329.

1.1 Frieden durch die Volksfront

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blieb das über Monate debattierte Programm inhaltlich vage. Man einigte sich aber für eine geplante Neuordnung Deutschlands auf „Menschen- und Bürgerrechte“, auf noch nicht konkret ausgearbeitete „wirtschaftspolitische Maßnahmen“, auf „Anerkennung demokratischer Grundrechte und Spielregeln“ und „Solidarität“ sowie auf „Kampf gegen den nationalsozialistischen Terror“ und gemeinsame Arbeit für die Wahrung des Friedens. Zudem sollte die internationale Öffentlichkeit über das nationalsozialistische Regime und über die Existenz eines „anderen“ Deutschland aufgeklärt werden.55 Siemsen war zwar in den zentralen Gremien und Versammlungen nicht vertreten,56 unterstützte aber die Ziele der Volksfrontbewegung.57 Im Dezember 1936 unterzeichnete sie den Aufruf an die Deutschen Bildet die deutsche Volksfront! Für Frieden, Freiheit und Brot!, der vom Volksfrontausschuss verabschiedet wurde.58 Unter den wenigen Frauen, die im Rahmen der Volksfrontbewegung namentlich Erwähnung fanden, verkörperte Siemsen als Vorstandsmitglied der DlfM und Mitglied der IFFF „den Kampf für den Erhalt des Friedens“ bzw. „den Kampf für die Verhinderung eines von NS-Deutschland angezettelten (Welt-)Krieges“.59 Die Meinung, der Faschismus in Europa bedeute eine Kriegsgefahr, hatte sich auch auf internationaler Ebene bei antifaschistisch eingestellten Gruppen und Personen durchgesetzt. Zu Beginn der 1930er Jahre wurde etwa das Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus (WKKF) ins Leben gerufen, dessen Präsident der Kommunist Henri Barbusse (1873–1935) war.60 Das WKKF verfügte über eine angeschlossene Frauenorganisation, das Frauenweltkomitee gegen Krieg und Faschismus. Unter der Schirmherrschaft des Frauenweltkomitees stand die Deutsche Frauenkommission der Volksfrontbewegung, der Frauen aus der SPD, KPD und den sozialistischen Splittergruppen angehörten61 und für deren Zeitschrift Die Frau Siemsen das zitierte Grußwort schrieb. Das Frauenkomitee wurde auf Initiative der IFFF gegründet. Ausgehend von der Überlegung, der Faschismus bedeute nicht nur eine Kriegsgefahr, sondern bedrohe auch die „mühsam errungenen Frauenrechte“, erfolgte ein erstes internationales Zusammentreffen von Vertreterinnen internatio55 Ebd., S. 358. 56 Der Hinweis von Rita Thalmann, Siemsen sei die einzige Frau im Ausschuss zur Bildung einer deutschen Volksfront gewesen, scheint nach den Forschungen von Ursula Langkau-Alex nicht korrekt zu sein. Vgl. Rita Thalmann: Jewish Women Exiled in France. After 1933, in: Sibylle Quack (Hg.): Between Sorrow and Strength. Women Refugees of the Nazi Period (Publications of the German Historical Institute), Cambridge, New York und Melbourne 1995, S. 51–62, hier S. 57. Ursula Langkau-Alex hat herausgearbeitet, dass der Volksfrontausschuss zwar nur von Männern gebildet wurde, die einzige dort vertretene Frau aber (ab Februar 1937) Rosi Wolfstein-Frölich (1888–1987, SAPD) war. Marie Juchacz (1879–1956), die ein Mandat für die Sozialdemokratie erhalten sollte, lehnte ab: Langkau-Alex: Zwischen Schreibtisch und Schafott, S. 98–101. 57 Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, erster Band, S. 331 und dies.: Zwischen Schreibtisch und Schafott, S. 102. 58 Langkau-Alex: Zwischen Schreibtisch und Schafott, S. 102. 59 Ebd. 60 Zum WKKF siehe Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, zweiter Band, S. 141 f. 61 Ebd., S. 153. Vgl. auch Langkau-Alex: Zwischen Schreibmaschine und Schafott, S. 107.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

naler Frauenorganisationen im November 1933 in Paris, um über mögliche Strategien zur Bekämpfung des Faschismus zu beraten.62 Nach dem Bericht der Schweizer IFFF-Aktivistin Clara Ragaz-Nadig hätten sich vor allem Kommunistinnen engagiert, was sie mit der „Zurückhaltung der sozialistischen und der bürgerlich linksstehenden Kreise“ begründete. Ragaz-Nadig hoffte, auch vermehrt sozialistische Frauen einzubeziehen, da „Frauen alle gleichermaßen von Fascismus und Krieg“ betroffen seien.63 Vermutlich aus diesem Grund rief Siemsen in der sozialdemokratischen Tageszeitung Berner Tagwacht im März 1936 sozialdemokratischen Frauen auf, sich in der „Frauenliga gegen Krieg und Faschismus“ zu engagieren.64 Obwohl Siemsen in Anspielung auf die Kommunistinnen kritisch anmerkte, die Organisation umfasse „andere Frauenkreise“ als die Sozialdemokratie, betonte sie doch die Wichtigkeit einer Zusammenarbeit. Denn der Frauenliga gehe es um „die Abwehr einer großen Gefahr“. Sie hoffte, die Zusammenarbeit von Sozialistinnen mit dem Frauenweltkomitee könne „ein erster Schritt“ sein „auf dem Wege zu einer Volksfront aller Frauen und Männer, die guten und entschlossenen Willens sind“. Sie glaubte, so könne „das blutige Abenteuer gebannt werden, in das Europa sich aus lauter Schwäche und blinder Gleichgültigkeit verwickeln lässt“.65 Siemsen kritisierte in ihrem Artikel die „Abwehr der Frauen“, die sie als „gering“ einschätzte. Sie glaubte, es gebe nur „eine verschwindende Minderheit“ von Frauen, die „bereit sind, sich einzusetzen gegen das kommende Unheil“. Siemsen begründete ihre Forderung nach einem verstärkten politischen Einsatz von Frauen für den Frieden mit ihrer spezifischen Kriegserfahrung, die sie bei einem drohenden Krieg als Freundinnen, Ehefrauen und Mütter machen würden: „Gewiß müssen wir nicht selbst ins Feld rücken. Aber wir müssen unsere Liebsten, Gatten, Söhne, Brüder, hingeben. Und wer weiß, was qualvoller ist, die eigene Todesnot oder die jahrelang dauernde Qual der steten Todesangst, die niemals Erleichterung findet als in den Fällen, wo Gefangennahme und Verwundung das Allerärgste abwendet?“66

Siemsens Ausführungen implizierten, diese spezifisch weibliche Kriegserfahrung wiege für Frauen schwerer als ein möglicher Kriegseinsatz für die Männer. Mit dieser Argumentation versuchte sie, einen politischen Einsatz von Frauen für eine friedliche Zukunft Europas zu erwirken. In weit stärkerem Maße sollte sie diese Argumentationsfigur zu Beginn der 1940er Jahre im Rahmen ihres Engagements für die Schweizer Europa-Union wieder aufnehmen. Hier forderte Siemsen ebenfalls einen verstärkten politischen Einsatz von Frauen für eine friedliche europäi-

62 Clara Ragaz: Was will das Frauenkomitee gegen Krieg und Fascismus?, in: Frauenrecht 7 (1935), Heft 1, S. 7–8, hier S. 7. 63 Ebd., S. 8. 64 Anna Siemsen: Frauenliga gegen Krieg und Fascismus, in: Beilage zur Berner Tagwacht Nr. 54 vom 5. März 1936, o. S. Siehe auch BAR, E4320B, 1975/40, 10: Zeitungsausschnitt des Artikels von Anna Siemsen. 65 Siemsen: Frauenliga. 66 Ebd.

1.1 Frieden durch die Volksfront

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sche Nachkriegsordnung, die durch eine spezifisch weibliche Politik errichtet werden und nur durch sie Bestand haben könne.67 Siemsens organisatorische Heimat für ihr friedenspolitisches Engagement war neben dem Schweizer Zweig der IFFF der Schweizer Zweig der Rassemblement universel pour la Paix (RUP). Die RUP war eine internationale, pazifistische und überparteiliche Organisation, die 1935 durch die Initiative des englischen Konservativen Lord Robert Cecil (1864–1958) und des französischen Sozialisten Pierre Cot (1895–1977) gegründet worden war. Zum Präsidium gehörte auch Heinrich Mann.68 Cecil und Cot konnten sich auf „demokratische Massenbewegungen in Großbritannien und Frankreich“ stützen, die für Abrüstungen, für den Völkerbund und die Wahrung des Friedens einstanden. Einen großen Teil der Mitglieder stellten die sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften.69 Die RUP organisierte einen großen Weltfriedenskongress, der vom 3. bis zum 6. September 1936 in Brüssel stattfand. Knapp 5.000 Delegierte aus 35 Ländern waren anwesend, hinzu kamen knapp 1.000 Besucher. Insgesamt waren 750 nationale und rund 50 internationale Organisationen vertreten.70 Auf dem Kongress wurden vier Punkte beschlossen, die die weitere Arbeit der RUP bestimmen sollten: Beschlossen wurden „Pflicht zur Vertragstreue, Abbau der Rüstungen und Abschaffung der Rüstungsprofite, multiund zwischenstaatliche Anstrengungen zur Unterstützung der Friedensarbeit des Völkerbundes, Verfahren zur Entspannung internationaler Konflikte“.71 Obwohl viele Emigrantinnen und Emigranten in den Ländersektionen der RUP organisiert waren, durften sie an dem Kongress, der unter der Ägide von Lord Cecil veranstaltet wurde, nicht teilnehmen. Es sollte keine „Diskussionen über Politik oder Religion, keine Kritik an welcher Regierungsform auch immer, kein Druck auf die Regierungen“ geben. Das Ziel der Veranstalter war es, auch Delegierte aus Deutschland einzuladen, so dass mögliche „politische Propaganda“ gegen das nationalsozialistische Regime seitens der Emigranten die deutschen Delegierten abschrecken könnte.72 Der sozialistischen Frauenorganisation der Schweiz gelang es aber, Siemsen und die ebenfalls aus Deutschland emigrierte Pazifistin Helene Stöcker (1869– 1943) in ihre Delegation aufzunehmen.73 Siemsen hatte daher den Weltfriedenskongress besucht und konnte möglicherweise in der Frauenkommission mitarbei67 Vgl. dazu das Kapitel II.2.3 Frauen für Europa und die „Schweizer Europa-Union“ in dieser Arbeit. 68 Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, zweiter Band, S. 141 f. und Peter Kircheisen: Le Rassemblement universel pour la Paix (1935–1939) – Ein historisches Beispiel für gemeinsame Friedensaktionen von Sozialdemokraten, Kommunisten und bürgerlichen Kriegsgegnern, in: Hallesche Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie 17 (1987), S. 9–16, hier S. 10. 69 Kircheisen: Le Rassemblement, S. 9 f. Zitat auf S. 9. 70 Die Angaben in der Forschungsliteratur variieren geringfügig. Vgl. Kircheisen: Le Rassemblement, S. 11 und Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, zweiter Band, S. 150. 71 Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, zweiter Band, S. S. 145. Das 4-Punkte-Programm befindet sich auch bei Kircheisen: Le Rassemblement, S. 12. 72 Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, zweiter Band, S. 146 f. und 150, Zitate auf S. 147 und 150. 73 Ebd., S. 147.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

ten.74 Die im 4-Punkte-Programm festgeschriebene politische Richtung der RUP und die programmatische Ausrichtung des Kongresses zeigten jedoch, dass die zeitgenössischen internationalen politischen Verhältnisse nicht grundsätzlich infrage gestellt wurden und eine Einmischung in die innerstaatlichen Angelegenheiten einzelner Länder vermieden werden sollte. Die RUP übernahm damit die gleiche Strategie, die die englische Regierung auch gegenüber dem nationalsozialistischen Regime verfolgte.75 Schon bald sollte Siemsen diese appeasement-Politik öffentlich einer scharfen Kritik unterziehen. 1.2 EIN NEUES RECHT FÜR EUROPA Neben der RUP engagierte sich Siemsens vornehmlich in einer anderen Organisation, dem Schweizer Zweig der IFFF. Siemsen hielt zahlreiche Vorträge zu friedens- und europapolitischen Themen auf Vortragsveranstaltungen, die von der IFFF oftmals zusammen mit anderen Verbänden wie dem Schweizerischen Lehrerinnenverein organisiert wurden. Der Schweizer Zweig der IFFF war 1915 von der Lehrerin Clara Ragaz-Nadig und der Chemikerin Gertrud Woker (1878–1968) gegründet worden. Bis 1946 hatte Ragaz-Nadig den präsidialen Vorsitz der Schweizer IFFF inne. Die friedenspolitischen Grundüberzeugungen, die sie vertrat, entsprachen denen, die Siemsen schon in der Weimarer Republik formuliert hatte. Ragaz-Nadig betrachtete beispielsweise „Macht- und Unterdrückungsverhältnisse“ auf internationaler Ebene als Kriegsgefahr. Entsprechend setzte sie sich für eine neue Wirtschaftsordnung ein, die den Grundbedürfnissen aller Menschen gerecht werden müsse. Sie teilte auch Siemsens Kritik am Staat und an Regierungen, die nationale und wirtschaftliche Interessen über das Wohl der Menschen stellen würden. Ebenso wie Siemsen trat Ragaz-Nadig für die Anerkennung der „Gewissensfreiheit“ ein.76 Sie war Sozialistin und gehörte der von ihrem Mann Leonhard Ragaz 1906 begründeten Bewegung der Religiösen Sozialisten in der Schweiz an. Sie vertrat einen religiös-ethischen Sozialismus, durch den „Frieden und Gerechtigkeit“ und damit der Gedanke des Gottesreiches auf Erden verwirklicht werden sollten;77 eine Forderung, die auch Siemsen wiederholt unmittelbar Ende des Ersten Weltkrieges vorgetragen hatte. 1933 war Ragaz-Nadig Mitbegründerin der Arbeitsgemeinschaft von 74 Siehe die Auflistung der einzelnen Kommissionen des Weltfriedenskongresses bei Kircheisen: Le Rassemblement, S. 12 f. Die Mitarbeiterinnen der Frauenkommission werden nicht namentlich genannt. 75 Vgl. zur politischen Strategie der RUP Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, zweiter Band, S. 151. Der Hinweis auf die appeasement-Politik findet sich ebd. Vgl. auch ferner Kircheisen: Le Rassemblement, S. 11 f. 76 Karlheinz Lipp: Für Frieden, Abrüstung und Menschenrechte: Clara Ragaz-Nadig und Leonhard Ragaz, in: ders.: Friedensinitiativen in der Geschichte. Aufsätze – Unterrichtsmaterialien – Service (Geschichte und Psychologie, Bd. 11), Herbolzheim 2002, S. 18–23, hier S. 18 f. 77 Isabella Wohlgemut: Ein Frauenleben für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Clara RagazNadig (1874–1957), in: Reformatio. Zeitschrift für Kultur, Politik, Kirche 46 (1997), S. 142– 152, hier S. 142.

1.2 Ein neues Recht für Europa

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Frau und Demokratie.78 Die Arbeitsgemeinschaft wollte Widerstandsarbeit gegen die faschistischen Staaten in Europa leisten und zählte „zu den treibenden Kräften der Manifestation demokratischen Widerstandswillens in den dreißiger Jahren“.79 Siemsen glaubte, es müsse gerade im Interesse von Frauen liegen, eine demokratische Rechtsordnung in Europa zu etablieren. Auf einer Tagung der IFFF forderte sie die Frauen dazu auf, sich gegen die herrschende „Rechtlosigkeit“ einzusetzen. Sie begründete diese Forderung damit, dass bei einem drohenden Krieg „Hundertausende von Kindern dem Hungertode ausgeliefert“ seien.80 Siemsens Argumentation basierte auf der Annahme eines spezifisch weiblichen Geschlechtscharakters, dem der Schutz des Kindes, die Erhaltung des Lebens und die Bewahrung des Friedens naturgegeben sei. Eine Rechtsunsicherheit, die zum Krieg führe, bewerte Siemsen daher als einen Zustand, der dieser vermeintlich weiblichen Natur zuwiderlaufe. Eine ähnliche Argumentation hatte sie schon bei ihrem Appell an die Frauen, sich für eine Volksfront gegen das nationalsozialistische Regime zusammenzuschließen, angeführt. Sie räumte ein, dass der Einsatz gegen Rechtlosigkeit „zum Kampfe“ führen könne und deshalb auch eine „Gewissensfrage“ für Frauen bedeute. Dennoch sei dieser Kampf gerechtfertigt, da dadurch „ein internationales Gesetz ins Leben“ gerufen werden könne, für das „keine Mühe und Kosten“ gescheut werden dürfe.81 Siemsen wollte erreichen, dass das geforderte neue internationale Recht von der europäischen Bevölkerung geschaffen werde und nicht von den Regierungen. In der Weimarer Republik hatte sie etwa den Einfluss des Völkerbundes für eine friedliche internationale Ordnung als gering angesehen und beklagt, dass er einen „Bund kapitalistischer Regierungen“82 darstelle, die ihre eigenen machtstaatlichen Interessen verfolgten. Diese Gefahr, allein eigene Interessen zu vertreten, war aus Siemsens Sicht in breiten Bevölkerungskreisen hingegen nicht gegeben. Sie argumentierte nämlich, dass „95 % aller Menschen den Frieden wollten“ und deshalb „den Völkern die Mittel in die Hand gegeben werden“ müssten, „die Rechtsbrecher zu bestrafen, ansonst [sic] die Gefahr bestehe, dass diese [die Völker, MvB], wie 1914, neuerdings den Gewaltanwendungen verbrecherischer Elemente zum Opfer fallen“.83 Wie diese internationale Rechtsordnung aussehen könne, formulierte Siemsen ebenfalls auf einer Tagung, die von der IFFF veranstaltet worden war. 1936 hatte die IFFF zusammen mit dem Schweizerischen Lehrerinnenverein einen Ferienkurs zum Thema „Erziehung zum Frieden“ initiiert, der im April in Ermatingen im Kan78 Lipp: Für Frieden, S. 19 und Wohlgemut: Ein Frauenleben, S. 150. 79 Brigitte Studer: Nachgedanken zu einem Podiumsgespräch über das Verhältnis von Frauen, Staat und Geschlechterordnung, in: dies., Wecker und Ziegler: Frauen und Staat, S. 11–19, hier S. 17. 80 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Bericht über Siemsens Vortrag über Unser Weg zum Frieden, Biel vom 23. Februar 1938. 81 Ebd. 82 Siemsen: Auf dem Wege, S. 151. 83 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Bericht über Siemsens Vortrag über Unser Weg zum Frieden, gehalten auf einer Tagung der IFFF, Biel vom 23. Februar 1938.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

ton Thurgau stattfand.84 Als die Tagung veranstaltet wurde, hatten der nationalsozialistische Putschversuch in Österreich und die deutsche Besatzung des Rheinlandes gerade stattgefunden. Ohne auf diese Ereignisse explizit einzugehen, hob Siemsen die Wichtigkeit hervor, „einen gesicherten Rechtszustand zwischen den Völkern und Staaten […] her[zu]stellen“. Die zeitgenössischen internationalen Verhältnisse bewertete sie „als latente[n] Kriegszustand“, der durch eine neue Rechtsordnung gebannt werden müsse.85 Vorbildcharakter für diese neue Ordnung hatte für sie „[d]ie Schweiz mit ihrer Lage im Herzen Europas“, deren „Geschichte […] beispielhaft [für] das Werden einer föderativen Demokratie“ sei.86 Die Schweiz blieb in der Folgezeit das Beispiel, auf das Siemsen bei dem Entwurf ihrer Europa-Konzepte zurückgriff. Das Vorbild der Eidgenossenschaft nutzte sie, um ihre europapolitischen Ideen zu beschreiben und eine föderative Demokratie für Europa zu fordern. Obgleich sie mit ihrer Forderung nach einem gesicherten Rechtszustand auf die Schiedsgerichtsbarkeit Bezug nahm, ließ sie offen, ob sie die politische Verfassung der Schweiz als Beispiel für eine Neuordnung Europas nehmen wollte oder ob sie das Konzept der Willensnation als vorbildlich betrachtete. Da sie den Begriff Demokratie in erster Linie stets als einen politisch-ethischen Wert angeführt hatte, ist davon auszugehen, dass sie das Konzept der Willensnation und das Konzept der Vielfalt in der Einheit von der Schweiz auf Europa übertrug. Das Beispiel der Schweiz zeigte Siemsen, dass ein politisches Gemeinwesen, in dem verschiedene Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Sprachen gleichberechtigt organisiert waren, funktionierte und auf Europa übertragen werden könnte. Vermutlich kannte sie auch die Diskussionen, die sich um die Schweiz als Vorbild für eine Neuordnung der internationalen Beziehungen drehten und die verstärkt in den 1920er Jahren geführt worden waren. Die Bewunderung für die Schweiz hatte bereits in der Aufklärungszeit begonnen, wobei die politische Organisation des Landes Beachtung fand. Viele republikanisch gesinnte Zeitgenossen griffen in ihren Publikationen auf die Schweiz zurück, was um 1800 zu einem „ganz Europa umfassenden Philhelvetismus“ führte.87 In den Friedensplänen selbst, die ebenfalls schon in der Aufklärungszeit veröffentlicht worden waren, wurde das Schweizer Modell trotz der in anderen Schriften positiven Hervorhebung der Schiedsgerichtsbarkeit aber nur vereinzelt als Vorbild ange-

84 Anna Siemsen: Erziehung zum Frieden. Osterferienkurs in Ermatingen, in: Schweizerische Lehrerinnenzeitung 40 (1935/1936), Heft 15, S. 252–257. Vgl. auch das Tagungsprogramm, in: SozArch, Ar 45.30.1.: 2. Ferienkurs in Ermatingen „Erziehung zum Frieden“ 14. bis 18. April 1936. Siehe auch dieselbe Programmankündigung, abgedruckt in: Schweizerische Lehrerinnenzeitung 40 (1935/1936), Heft 9, S. 151–152 sowie den erneuten Abdruck in: Schweizerische Lehrerinnenzeitung 40 (1935/1936), Heft 11, S. 183–184. 85 Siemsen: Erziehung zum Frieden, S. 252. 86 Ebd., S. 253. 87 Malgorzata Morawiec: Die Schweiz als europäisches Integrationsmodell in den deutschsprachigen Föderationsplänen der Moderne, in: Wlodzimierz Borodziej u. a. (Hg.): Option Europa. Deutsche, polnische und ungarische Europapläne, Band 1: Essays, Göttingen 2005, S. 167– 186, hier S. 169.

1.2 Ein neues Recht für Europa

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führt.88 Ende der 1870er Jahre entwickelte der Völkerrechtler Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) nach dem politischen Vorbild der Schweiz Verfassungspläne für eine Neuordnung Europas, die international breit diskutiert wurden.89 Ende des 19. Jahrhunderts äußerten sich aber auch kritische Stimmen zum Vorbildcharakter der Schweiz, die in ihr lediglich eine politische, auf gemeinsamer Willensbildung errichtete Nation sahen und keine, die sich auf sprachliche oder ethnische Gemeinsamkeiten berufen könne.90 In den 1920er Jahren wurde das politische System der Eidgenossenschaft im Rahmen der verstärkt einsetzenden Europa-Debatten nicht nur in völkerrechtlichen, sondern auch in politisch-philosophischen Plänen für Europa diskutiert. Coudenhove-Kalergi etwa nahm für seine Paneuropa-Idee ebenfalls auf die Schweiz Bezug. Auf der Suche „nach konkreten Modellen“ für eine Neuordnung Europas bot sich die Schweiz gerade bei pazifistisch und demokratisch orientierten Verfechterinnen und Verfechtern einer Einigung Europas an, traf hier doch „[d]er Mythos Europa […] auf den Mythos der Gemeinschaft“.91 Mit ihrem Appell, eine neue internationale Rechtsordnung zu etablieren, verband Siemsen nun im Exil liberale und sozialistische Grundgedanken miteinander. Die Forderung nach einem neuen internationalen Recht und nach Schiedsgerichtsbarkeit war bereits in der bürgerlichen Friedensbewegung im Kaiserreich für eine dauerhafte Friedenssicherung diskutiert worden. Hier war die These aufgestellt worden, dass ein internationales Rechtssystem Kriege verhindern könne, weil „das Machtprinzip zugunsten des Rechtsgedankens abgelöst“ werde.92 Den Rechtsgedanken verband Siemsen mit dem tradierten Credo der Sozialdemokratie, die schon im Kaierreich hervorgehoben hatte, es sei der Kapitalismus, der zum Krieg führe, weshalb vor allem die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsform als Mittel der Friedenssicherung betont worden war.93 Neben diesen beiden Aspekten hielt Siemsen aber nach wie vor noch die Erziehung für ein wesentliches Mittel, um einen gesicherten Rechtszustand in Europa etablieren und damit auch eine „föderative Demokratie“ errichten zu können. Obwohl sie glaubte, dass fast alle Menschen den Frieden ersehnten, behauptete sie, „in den weitesten Kreisen mehr Kriegsfurcht als Friedenswille[n]“ zu erkennen.94 Sie argumentierte weiter, „[f]riedfertig sein bedeutet aber nicht dem Kriege abgeneigt sein, sondern tatbereit zur Schaffung des Friedens“, was sie mit dem Willen zur 88 Ebd., S. 172. 89 Ebd., S. 177 f. 90 Michael Havlin: Die Rede von der Schweiz. Ein medial-politischer Nationalitätendiskurs in der Tschechoslowakei 1918–1938 (Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen, Bd. 8), Frankfurt am Main u. a. 2011, S. 30. Während des Ersten Weltkrieges gab es auch in der Schweiz selbst Vertreter, die vor dem Hintergrund der aufbrechenden „innerschweizerischen Nationalitätenkonflikte“ die politische Organisation der Eidgenossenschaft infrage stellten. Ebd. S. 31–33. Zitat auf S. 33. 91 Morawiec: Die Schweiz als europäisches Integrationsmodell, S. 179. Siehe auch Havlin: Die Rede von der Schweiz, S. 34. 92 Wieland: Die Verteidigungslüge, S. 14. 93 Ebd. 94 Siemsen: Erziehung zum Frieden, S. 252.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

Schaffung einer „Menschheitsgemeinschaft“ gleichsetzte.95 Für diese Erkenntnis bedurfte es in Siemsens Argumentation einer entsprechenden Erziehung und Aufklärung. Sie übertrug in ihrer Argumentation indirekt das Schweizer Konzept der Willensnation auf Europa. So wie es das Konzept der Willensnation vorsah, wollte sie eine auf freiem Willen der europäischen Bevölkerung basierende demokratische Föderation für Europa erreichen, die sich auf der Erkenntnis gemeinsamer Geschichte und gemeinsamer Werte konstituieren sollte. Ähnlich wie in den 1920er Jahren sollte dies durch eine Erziehung zur Gemeinschaft geschehen. Siemsen vertrat auch im Exil die These von einem gesellschaftlichen Fortschritt der Menschen zu einer „Gemeinschaft“. Sie glaubte weiterhin an eine „freie[] und solidarische[] Menschheitsgemeinschaft“, der „die ganze bisherige Menschheitsgeschichte“ zustrebe.96 Siemsen argumentierte, Demokratie sei nur in einem dauerhaften Friedenszustand zu verwirklichen und betonte daher, „[d]ie einzige wesentlich friedliche Gemeinschaftsform ist die Demokratie“. Aus diesem Grund hielt sie eine international bindende Rechtsordnung, die Frieden gewährleisten könne, für zentral. Unter Demokratie verstand Siemsen, so wie sie es auch in der Weimarer Republik getan hatte, einen „erzieherische[n] Grundsatz“97 und betonte noch 1936, zehn Jahre später: „Demokratie aber ist eine Erziehungsaufgabe.“ Neben Frieden verband sie mit dem Demokratiebegriff weiterhin „Gleichberechtigung“, „Verantwortung“ und „Selbstverwaltung“.98 Im Exil avancierte eine Erziehung zur Gemeinschaft damit zu einer Erziehung für Europa. Siemsen betonte, dass angesichts der politischen Entwicklungen „im Europa unserer Tage“ die Herbeiführung einer Menschheitsgemeinschaft „zunächst im engeren Rahmen der europäischen Heimat eine Lebensfrage geworden“ sei.99 In ihren Ausführungen zur demokratischen Erziehung bezog sich Siemsen nicht mehr allein auf die Arbeiterschaft, wie in den letzten Jahren der Weimarer Republik, sondern allgemein auf Kinder. Da für diese „abstrakte Gebilde“ wie ‚die Menschheit‘ oder ‚Europa‘ noch nicht zu begreifen seien, müsse ihnen zunächst „in kleinen, übersehbaren Gruppen“ das „Gemeinschaftserlebnis“ vermittelt werden. Siemsen hielt für diese Vermittlung Frauen bzw. Lehrerinnen als besonders geeignet. Denn „das erste Gemeinschaftserlebnis“ sei das der „Verbundenheit zwischen Kind und Mutter“.100 Ohne es an dieser Stelle explizit auszuführen, verdeutlichte sie, dass es genau dieses „mütterliche“ Gemeinschaftserlebnis sei, das schließlich auf immer größere Gemeinschaften wie Europa ausgedehnt werden müsse. In dieser Argumentation war implizit die von ihr später noch ausgeführte Annahme schon angelegt, gerade der mütterliche Einfluss, den sie mit Friedfertigkeit gleichsetzte, solle Grundlage jeder Erziehungsarbeit für den Frieden sein, die zugleich Erziehungsarbeit für Europa bedeutete. Siemsen glaubte, durch eine Erziehung für Eu95 Ebd., S. 256. 96 Ebd., S. 256 f. 97 Siemsen: Vom Geiste der Demokratie, S. 91. 98 Siemsen: Erziehung zum Frieden, S. 255. 99 Ebd., S. 256 f. 100 Ebd., S. 254.

1.3 Kampf um die Demokratie. Spanien und Europa

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ropa könne verhindert werden, dass die Menschen nicht mehr „auf die Unduldsamkeit und die Totalitätsansprüche gewisser neuerer Antidemokraten und Gewaltanbeter hereinfallen“.101 Hier zeigte sich erneut ihr nahezu ungebrochener Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen, dessen Wesen eigentlich „gut“, also demokratisch sei. Im Rahmen ihrer Aufklärungsarbeit über den Nationalsozialismus setzte sich Siemsen noch im Zusammenhang mit einem anderen Thema für die Etablierung demokratischer Werte ein. Sie veröffentlichte 1937 ein Buch, in dem sie ihre Eindrücke aus dem Spanischen Bürgerkrieg niederschrieb. Nachdem der Spanische Bürgerkrieg im Juli 1936 begonnen hatte, war sie im Frühjahr 1937 nach Spanien gefahren und gab noch im selben Jahr das Spanische Bilderbuch heraus.102 Zeitgenössische Rezipienten attestierten Siemsens „kluge[r] und warmherzige[r] Schrift“ zu zeigen, dass der republikanische Kampf ein Kampf „für die ganze europäische Demokratie und Kultur“ sei.103 Siemsen hatte selbst in ihrem Buch betont, es ginge bei diesem Kampf „um die Existenz einer zweitausendjährigen europäischen Kultur“,104 die sie schon in den 1920er Jahren als „revolutionär“ und „demokratisch“ beschrieben hatte.105 Diese demokratische Kultur wurde in Siemsens Ausführungen nun durch das spanische Volk symbolisiert: „ein Volk, daß um sein Recht auf Leben kämpft und sich dieses Recht nicht nehmen lassen wird […].“106 1.3 KAMPF UM DIE DEMOKRATIE. SPANIEN UND EUROPA Der Spanische Bürgerkrieg wurde von vielen linken Regimegegnerinnen und Regimegegnern des Nationalsozialismus als ein „Stellvertreterkrieg gegen Hitler“107 betrachtet. Die verbreitete Meinung, der Krieg sei durch die Initiative der faschistischen Länder Deutschland und Italien begonnen worden, teilte auch Siemsen. Sie glaubte, Deutschland wolle den Faschismus in Europa verbreiten und betonte, dies müsse den Zusammenbruch „der europäischen Kultur“ bedeuten. Sie glaubte auch, der beginnende Bürgerkrieg in Spanien sei ein Vorgeschmack auf das, was sich schließlich „im Weltmaße“ ereignen werde.108 Ihre Befürchtung, das nationalsozialistische Deutschland stelle eine Gefahr für den europäischen Frieden dar, schien sich für sie daher mit Beginn des Bürgerkrieges in Spanien zu bewahrheiten. Mög101 Ebd., S. 255. 102 Anna Siemsen: Spanisches Bilderbuch, Paris 1937. Die folgenden Zitate entstammen der zweiten Ausgabe: Anna Siemsen: Spanisches Bilderbuch [2. Auflage], Düsseldorf 1947. 103 N. N.: Rezension zu Anna Siemsen: Spanisches Bilderbuch, in: Rote Revue 17 (1937/1938), Heft 3, S. 118. 104 Siemsen: Spanisches Bilderbuch, S. 143. 105 Vgl. Kapitel I.2.3 Auf der Suche nach Europa in dieser Arbeit. 106 Siemsen: Spanisches Bilderbuch, S. 135. 107 Patrik von zur Mühlen: „Hitler kann in Spanien geschlagen werden!“ – Die deutsche Linke im Spanischen Bürgerkrieg, in: Florian Legner (Hg.): Solidaridad! Deutsche im Spanischen Bürgerkrieg, Berlin 2006, S. 73–98, hier S. 77. 108 Siemsen: Zehn Jahre Weltkrieg, S. 22.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

lichweise gab sie aus diesem Grund das 1933/1934 geschriebene Manuskript ihres Bruders August Siemsen über Preussen. Die Gefahr Europas heraus. Eine Aufklärung über Preußen-Deutschland als „Gefahr Europas“ musste Siemsen angesichts ihrer Deutung über die Hintergründe des Krieges dringlicher als zuvor erschienen sein. Das Preußen-Buch wurde ebenfalls 1937 veröffentlicht, im gleichen Jahr wie das Spanische Bilderbuch. Siemsen war im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder nach Spanien gereist, die kurz vor ihrer Abreise, im Februar 1937, gegründet worden war, um vor Ort Hilfe für spanische Kinder zu leisten oder aber sie aus den Krisengebieten zu evakuieren und in die Schweiz in Sicherheit zu bringen. An der Gründung der Arbeitsgemeinschaft beteiligte sich auch das sozialdemokratische Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH).109 Das seit 1936 bestehende SAH entstand aus der Arbeiterkinderhilfe der Schweiz, die während der Wirtschaftskrise ein paar Jahre zuvor durch die Initiative von Regina Kägi-Fuchsmann aus der Taufe gehoben worden war.110 Siemsen gehörte nicht zu jenen Helferinnen und Helfern, die in Spanien vor Ort die vielfältigen Hilfsaktionen schließlich durchführen sollten. Sie reiste zusammen mit Kägi-Fuchsmann und „in der Obhut des spanischen diplomatischen Kuriers“111 zunächst nach Barcelona und Madrid, um im Vorfeld organisatorische und administrative Fragen für die Kinderhilfe zu klären.112 Siemsens Auseinandersetzung mit Europa gewann durch die Entwicklungen in Spanien eine neue Aktualität, die durch die Annahme gestützt wurde, Deutschland sei für den Krieg in Spanien verantwortlich. Als der General Francisco Franco (1892–1975) mit Hilfe einiger Militärs im Sommer 1936 gegen die Spanische Republik putschte, solidarisierten sich viele Antifaschisten wie Siemsen aus verschiedenen Ländern mit der republikanischen Seite, deren Sieg stellvertretend als Sieg über die rechten Diktaturen insgesamt oder auch als Vollendung einer sozialen Revolution erhofft wurde. Diese Motivation war bestimmend für diejenigen, die freiwillig in den Spanischen Bürgerkrieg zogen oder über ihn berichteten. Wer nicht zu jenen Freiwilligen gehörte, die in den Internationalen Brigaden gegen die FrancoTruppen kämpften, engagierte sich humanitär oder setzte sich publizistisch ein, wie die große Zahl an Schriftstellerinnen und Schriftstellern zeigt, von denen Ernest Hemingway (1899–1961), die Brüder Mann, George Orwell (1903–1950) und Simone Weil (1909–1943) mit zu den bekanntesten zählen.113 Gerda Taro (1910– 1937) trug als eine der ersten Kriegsfotografinnen zur politischen Aufklärung über den Spanischen Bürgerkrieg bei und starb dort.114 109 Antonia Schmidlin: Dunant oder Helvetia: Welches Geschlecht hat die humanitäre Schweiz?, in: Studer, Wecker und Ziegler: Frauen und Staat, S. 137–147, hier S. 140. 110 Ebd., S. 138. Siehe zur Gründung der SAH die Autobiographie von Regina Kägi-Fuchsmann: Das gute Herz genügt nicht. Mein Leben und meine Arbeit, Zürich 1968, S. 103–133. 111 Kägi-Fuchsmann: Das gute Herz, S. 143. 112 Dafür sprechen die Hinweise ebd., S. 146. 113 Vgl. von zur Mühlen: „Hitler kann in Spanien geschlagen werden!“, S. 77 und 88 f. sowie Pierre Vilar: Der Spanische Bürgerkrieg, 3. Aufl. Berlin 2005, S. 139. 114 Vgl. dazu: Irme Schaber: Augenecho – Medienecho. Notizen zu Gerda Taro (1910–1937), in: Häntzschel und Hansen-Schaberg: Politik – Parteiarbeit – Pazifismus, S. 228–232.

1.3 Kampf um die Demokratie. Spanien und Europa

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In der geschichtswissenschaftlichen Forschung wird der Spanische Bürgerkrieg in die „allgemein-europäischen Auseinandersetzungen zwischen Demokratie, Faschismus und Kommunismus“ der 1930er Jahre eingeordnet.115 Eine internationale Dimension hatte er auch deswegen, weil vor allem Italien und Deutschland an der Kriegsführung beteiligt waren.116 Durch „immer schamlosere Intervention von Italien und Deutschland“ wollte Siemsen den Bürgerkrieg als „die moderne Form eines Ueberfall- und Eroberungskriegs“ verstanden wissen.117 Die spanische Arbeiterschaft sah in ihm hingegen einen „Klassenkrieg“ und „die katholische Rechte […] einen Religions- und Glaubenskrieg“.118 Ursächlich für den Bürgerkrieg waren seit dem 19. Jahrhundert bestehende gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen, die reformbedürftig waren. Nachdem die Spanische Monarchie zu Beginn der 1920er Jahre durch den General Miguel Primo de Rivera (1870–1930) zu einer Militärdiktatur geworden war, verschlechterte sich u. a. die Finanzlage des Landes. Die 1931 nach dem Sturz de Riveras folgende republikanische Regierung konnte nicht verhindern, dass sich die bestehenden sozialen und ideologischen Spaltungen innerhalb der Gesellschaft aufgrund wirtschaftlicher Krisen verschärften.119 Spanien war ein agrarisch geprägtes Land, für das die Latifundien, der Großgrundbesitz, kennzeichnend war. Besonders im Süden des Landes stand den Latifundisten eine große Gruppe armer Tagelöhner und Landarbeiter gegenüber. An der Peripherie des Landes erhoben Katalonien und das Baskenland Autonomieforderungen, die Katalonien zu Beginn der 1930er Jahre durchsetzen konnte. Nicht zuletzt betonte auch die Katholische Kirche weiterhin ihren Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Das ideologische Spektrum war sehr heterogen und umfasste grob skizziert Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten auf der Linken, auf der Rechten formierten sich jene bürgerlich-konservativen Kräfte, die die Interessen der Katholischen Kirche und der Oberschicht vertraten.120 Die neue Mitte-Links-Regierung, die 1931 antrat, ging sogleich umfassende Reformen an, die etwa die Trennung von Kirche und Staat, die Säkularisierung des Schulwesens, vor allem aber den Agrarsektor betrafen. Geplante Enteignungen und Landverteilungen riefen den Widerstand der Großgrundbesitzer hervor, so dass nach einem Putschversuch von rechter Seite und anschließenden Wahlen 1933 die rechten Parteien die Regierung stellten und einen Teil der Reformen rückgängig machten. Die politischen und ideologischen Fronten verhärteten sich so stark, dass im Januar 1936 abermals Neuwahlen stattfanden. Die linken Parteien, die nun die 115 Walther L. Bernecker: Der Spanische Bürgerkrieg: Entstehung, Hauptprobleme, Folgen, in: Legner: Solidaridad!, S. 11–50, hier S. 11. 116 Ebd., S. 22. 117 Siemsen: Spanisches Bilderbuch, S. 132. 118 Bernecker: Der Spanische Bürgerkrieg, S. 38. 119 Vgl. dazu ausführlich: Manuel Tuñón de Lara: Strukturelle Ursachen und unmittelbare Anlässe, in: ders. u. a.: Der Spanische Bürgerkrieg. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 1987, S. 7–64. 120 Zu den Strukturbedingungen des Landes vor Beginn des Bürgerkrieges siehe auch: Vilar: Der Spanische Bürgerkrieg, S. 11–40 und zusammenfassend Bernecker: Der Spanische Bürgerkrieg, S. 11–13.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

Mehrheit der Stimmen erhielten, wollten die Agrarreformen nun „auf revolutionäre Weise in Angriff“ nehmen. Das revolutionäre Klima wurde verstärkt durch die Initiativen der armen und landlosen Landarbeiter, „die massenhaft auf eigene Faust Ländereien besetzten“. Unter diesen Voraussetzungen führte der Aufstand der Militärs unter General Franco am 18. Juli 1936 zum Spanischen Bürgerkrieg.121 Die gegnerischen Parteien waren die Republikaner und die Nationale Front. Auf der republikanischen Seite sammelten sich Sozialisten, Kommunisten, die „regionalistischen Kräfte“ und die Anarchisten. In der Nationalen Front fanden sich Vertreter des Großgrundbesitzes, Monarchisten, Rechtsrepublikaner, Anhänger der katholisch-konservativen Kräfte und der faschistischen Falange zusammen.122 Bis zum Frühjahr 1937 hatten die Aufständischen unter Franco bereits ein Drittel des Landes besetzt. Bis zum Frühjahr 1938 gelang es ihnen, auch den gesamten, wirtschaftlich gut aufgestellten Norden Spaniens einzunehmen. Die Republikaner leisteten erbitterten Widerstand und erzielten ihrerseits Erfolge, etwa bei der Verteidigung der spanischen Hauptstadt Madrid bis zum März 1939. Nach anfänglich erfolgreichen Bemühungen, die Aufständischen auch am Ebro abzuwehren, mussten die Republikaner jedoch aufgeben. Francos Truppen konnten schließlich Katalonien und am 1. April 1939 die Hauptstadt Madrid einnehmen, was das Ende des Bürgerkriegs bedeutete.123 Als Siemsen in Spanien angekommen war, hatten die Truppen unter Franco die Provinzen im Norden Spaniens bereits eingenommen. Kurz vor ihrer Ankunft war die kleine Stadt Guernica, das kulturelle Zentrum des Baskenlandes, im April 1937 von italienischen Fliegereinheiten, vor allem aber durch die deutschen Bomber der Legion Condor, die Franco unterstützten, völlig zerstört worden.124 Der Tod zahlreicher Frauen, Kinder und anderer Zivilisten ging hauptsächlich auf das Konto der Legion Condor, die in einem knapp dreijährigen „Luftkrieg“ auch anderswo in Spanien den Zweck verfolgte, „die Bevölkerung durch Terrorangriffe zu demoralisieren“.125 „Guernica“ wurde zeitgenössisch zu einem Sinnbild für die Leiden der Zivilbevölkerung im Krieg, wie es etwa Picasso in seinem gleichnamigen, 1937 für die Weltausstellung in Paris geschaffenen Gemälde zum Ausdruck brachte.126

121 Zu den politischen Verhältnissen vor Beginn des Bürgerkrieges vgl. die Zusammenfassung von Bernecker: Der Spanische Bürgerkrieg, S. 11–19. Zitate auf S. 18. 122 Ebd., S. 19. 123 Vgl. die Darstellung des Kriegsverlaufes in vier Phasen ebd., S. 20 f. 124 Ebd. 125 Stefanie Schüler-Springorum: Nicht nur Guernica. Die Legion Condor, in: Legner: Solidaridad!, S. 101–130, hier S. 123. Ausführlich zur Legion Condor siehe die einschlägige Veröffentlichung von ders.: Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg, Paderborn u. a. 2010. 126 Stefanie Schüler-Springorum: Mythos Guernica. Projektion, Propaganda, Politik, in: Jörg Arnold, Dietmar Süß und Malte Thießen (Hg.): Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 10), Göttingen 2009, S. 84–100.

1.3 Kampf um die Demokratie. Spanien und Europa

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In der bildungshistorischen Forschung wird Siemsens Spanien-Buch als politisches Reisebuch charakterisiert,127 in dem sie die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge und Entwicklungen in Spanien gut dokumentiert und analysiert habe.128 Siemsen nutzte die Form einer Reisebeschreibung jedoch vielmehr, um eigene politische Botschaften zu vermitteln: Das von ihr beschriebene Spanien verkörperte das demokratische Europa, das mit unterschiedlichen Attributen oder Schlagwörtern umschrieben wurde. Die immer wieder betonte Schönheit von Land und Leuten war keine von Siemsen intendierte objektive Beschreibung, sondern wurde von ihr politisch funktionalisiert. Für diese Darstellungsweise wählte sie Emotionalisierungs- und Idealisierungsstrategien, die mit kulturkritischen Deutungen verbunden wurden. Siemsen wollte mit ihrem Buch politische Aufklärung leisten, weil sie glaubte, die spanischen Menschen seien dem Rest Europas „[e]in unverständliches Volk“: „Es ist aber nicht wahr, daß dieses Volk unverständlich sei. Und es ist beklagenswert, daß dies Land ungekannt ist, in einer Zeit, die sich der fernsten Fernen zu bemächtigen sucht.“129 Diese vermeintliche Unkenntnis über Spanien nahm Siemsen zum Anlass, um politische Ordnungsvorstellungen zu propagieren, die es angesichts der faschistischen Gefahr in Europa zu verteidigen bzw. zu verwirklichen galt. Alles, was sie für europäisch und demokratisch hielt, manifestierte sich im spanischen „Volk“, das nur durch die Republikaner repräsentiert wurde. Die Anhänger Francos zählte Siemsen nicht dazu. Sie wurden auch nahezu durchgehend aus der Erzählung ausgeklammert bzw. kaum erwähnt. Die Gruppen, denen Siemsen die meiste Aufmerksamkeit widmete, waren Bauern und Landarbeiter sowie Frauen und Kinder, also die Gruppen, die auch vorher schon als politische Zielgruppen in ihren Ausführungen eine Rolle gespielt hatten. Wie ihre anderen „Reisebücher“, war das Spanien-Buch in Form von Essays abgefasst, die verschiedene Themen umfassten wie etwa „Die Menschen“, „Die Frauen“ oder „Zerstörung“. Aufgrund seiner geographischen Besonderheiten betrachtete Siemsen Spanien als das Ursprungsland Europas. „[D]ie südlichen Pyrenäen und die ganze felsige und flache Ostküste“ seien „eben Mittelmeerland“, betonte sie, „uralte, liebevoll bebaute, heißumstrittene Menschenheimat“.130 Sie argumentierte weiter, „von hier aus haben sich Ackerbau und Handwerk und Künste und Dichtung und Wissenschaft und alles das, was wir Kultur nennen, über Europa verbreitet“. An den Spaniern selbst hob sie das „Rassengemisch“ hervor, an dem der keltische, germanische und lateinische Einfluss erkennbar sei sowie „das afrikanische und asiatische Blut von Mauren und Sarazenen“.131 Die „Mannigfaltigkeit von Typen“ bemerkte sie vor allem unter den Kindern: „Die Schönsten sind oft die Allerzerlumptesten“, 127 Wolfgang Keim: Die „europäische Katastrophe“ vor Augen. Anna Siemsens „Spanisches Bilderbuch“ und ihr Appell für Solidarität gegen Franco, in: Informationen. Studienkreis: Deutscher Widerstand 24 (1999), Nr. 49, S. 21–25. Siehe ebd. auf S. 22 auch die Hinweise zur zeitgenössischen Rezeption des Buches. Siehe auch Sänger: Anna Siemsen, S. 197–204. 128 Keim: Die „europäische Katastrophe“, S. 21 und Sänger: Anna Siemsen, S. 199. 129 Siemsen: Spanisches Bilderbuch, S. 8. 130 Ebd., S. 14. 131 Ebd., S. 15.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

weil sie trotzdem „mit einer Sicherheit und Natürlichkeit“ auftreten würden.132 Wie in ihrem Buch Daheim in Europa, in dem Siemsen die vermeintlichen „Völkervermischungen“ in Frankreich und Italien beschrieben hatte, deutete sie nun ebenfalls eine einst heterogene „Vermischung“ zu einem homogenen, ethnischen Menschentypus um, der aufgrund seiner „genetischen“ Vielfalt über bestimmte Eigenschaften und politische Wertvorstellungen verfüge. Für Siemsen verkörperten die Spanier „das Alphabet europäischer Solidarität“. Diese Solidarität bezeichnete sie als den „tiefe[n] und heldenhafte[n] Adel“ der Spanier, „in dem alle europäischen Ueberlieferungen“ liege und der deshalb „ursprüngliches Leben“ sei.133 Diese „Ursprünglichkeit“ des spanischen „Adels“ begründete Siemsen mit den spezifischen Lebensbedingungen der spanischen Menschen. Die Spanier seien nämlich „aufgewachsen in uralten Städten, in Dörfern, deren Namen älter sind als alle europäische Geschichte […] und die auf einer Erde“ leben würden, „die jung geglüht wird von gewaltiger Sonnenkraft“.134 Siemsen wollte sich mit diesen Schilderungen von der nationalsozialistischen Ideologie abgrenzen, weshalb sie auch gerade die inkludierenden Elemente der „genetischen“ Vielfalt betonte und nicht, wie die Nationalsozialisten, eine Volksgemeinschafts-Ideologie propagierte, die auf biologistisch-rassistischen Exklusionsmechanismen basierte. Sie bezweckte mit ihrer gesamten Erzählstrategie, das demokratische Spanien dem faschistischen Deutschland gegenüberzustellen, so dass sie absichtlich eine Umdeutung herrschender nationalsozialistischer Ordnungsvorstellungen vornahm. Siemsen war „überwältigt“ von „der Sanftmut, der Freundlichkeit, der wahrhaften Gentilezza“135 der Bauern und Arbeiter, die sie getroffen hatte und leitete auch diese Eigenschaften unmittelbar aus den vermeintlich ursprünglichen Lebensverhältnissen ab. Dass die Spanier nicht wie „die preußischen Landarbeiter“ geworden seien und nicht wie „die willigen Rekruten Adolf Hitlers“ konnte sie sich nur mit der „Sonne“ erklären, die zu einer „öffentlichen Geselligkeit“ und deswegen zur „Demokratie“ geführt habe. Neben diesen „natürliche[n]“ meinte sie auch „gesellschaftliche“ Gründe dafür zu erkennen: Der Kapitalismus mit „der entwürdigenden und entseelenden Gleichmacherei der Maschinenindustrie“ habe im Gegensatz zu Deutschland in Spanien, im „Land der Bauern und des kleinen, selbständigen Gewerbes“, nicht Fuß fassen können. Die „Arbeit“ der Spanier sei deswegen „selbständig geblieben“ und verantwortlich“;136 zwei Eigenschaften, die Siemsen seit den 1920er Jahren als demokratische Eigenschaften definiert hatte. Ob sie hier die „selbständige Arbeit“ der armen, besitzlosen Bauern oder der Tagelöhner meinte, von denen es ja in Spanien sehr viele gab, bleibt ungewiss. Jedenfalls offenbaren gerade diese Ausführungen die Idealisierungsstrategie, die Siemsen in ihrem Buch durchgängig verfolgte.

132 Ebd., S. 55. 133 Ebd., S. 17. 134 Ebd., S. 9. 135 Ebd., S. 26. 136 Ebd., S. 29 f.

1.3 Kampf um die Demokratie. Spanien und Europa

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Als „ursprünglich“ beschrieb Siemsen auch die spanischen Nahrungsmittel der Spanier. Sie stellte Öl und Wein als „uralte, edle Früchte“ den „deutschen Steckrübenjahre[n] mit ihrem vergiftenden und verlogenen Brot- Fett- und Naturersatz“ gegenüber137 und behauptete, Öl und Wein würden „den Menschen besser stärken und formen zu menschlicher Würde und zu Stolz […] als Bier und Kartoffeln“.138 Die Armut der spanischen Bevölkerung idealisierte Siemsen als spartanische und ursprüngliche Lebensweise. Diese Strategie setzte sie ein, um die Unterschiede einer vermeintlich urwüchsigen und zivilisatorisch unverbildeten spanischen Bevölkerung der kapitalistisch beeinflussten und verroht geschilderten Bevölkerung Deutschlands gegenüberzustellen. Dafür nutzte sie tradierte kulturkritische Argumente, die sie bereits in den 1920er Jahren vorgebracht und mit denen sie politischen Reformen begründet hatte. Der für ihre kulturkritischen Deutungen zentrale Begriff des „Lebens“ spielte daher auch im Spanien-Buch eine Rolle, der argumentativ eng mit der vermeintlichen Ursprünglichkeit des spanischen Lebens verknüpft wurde. Siemsen glaubte nicht, dass die Spanier bewusst für Demokratie, Freiheit und „ihr Recht auf Leben“ kämpften, betonte aber, sie würden dies unbewusst durchaus „erleben“. Deshalb sei ihr „Leben heiter, licht, beschwingt trotz aller Not und Verzweiflung“.139 Die „Ursprünglichkeit“ der Spanier umschrieb Siemsens nicht nur mit dem Lebensbegriff, sondern auch mit ihrer vermeintlichen Kindlichkeit und mit ihrer positiven Einstellung zu Kindern. Siemsen hatte in Spanien einen Kinobesuch gemacht und zusammen mit „jungen Miliziens“ Disney-Filme angesehen. Siemsen, die zehn Jahre zuvor in der Weimarer Republik diese Art Filme wohl noch aufgrund ihrer mangelnden politischen Schulungseigenschaften und der Tatsache, dass sie aus den kapitalistischen Vereinigten Staaten kamen, scharf kritisiert hätte, betonte nun die Begeisterung der jungen Soldaten, die, wie sonst Kinder es täten, „nicht herzlicher, hingerissener [hätten] lachen können“.140 Die Begeisterung für Trickfilme setzte Siemsen nun mit einer unverbildeten Kindlichkeit gleich. Nicht nur dieses Beispiel zeigt Siemsens Strategie, mit der sie Empathie für die spanischen Republikaner wecken wollte. Die Beobachtung, dass „Buben schon würdig mit am Schenktisch“ sitzen und „sich in die Diskussionen“ der Erwachsenen einmischen würden, führte Siemsen auf die besondere Kinderliebe der Spanier zurück.141 In diesem Zusammenhang hob sie die Tätigkeiten der spanischen Frauen positiv hervor, die „überall […] in der Heimatfront […] unentbehrliche Arbeit“ leisteten.142 An dem Beispiel einer Arzt-Gattin schilderte Siemsen den weiblichen Einsatz für verwaiste Kinder etwa durch die Errichtung eines Kinderheimes, wo die Kinder durch die mütterliche Zuwendung wieder eine „Heimat“ erhalten hätten.143 137 Ebd., S. 34. 138 Ebd., S. 37. 139 Ebd., S. 135. 140 Ebd., S. 47 f. 141 Ebd., S. 57. Vgl. auch S. 77. 142 Ebd., S. 49. 143 Ebd., S. 50–52. Zitat auf S. 52.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

Wie bei den Spaniern insgesamt beobachtete sie auch unter den Frauen eine besondere Solidarität, so dass Siemsen sie als „tapfere Kameradinnen der tapferen Männer“ charakterisierte. Die Frauen, deren Tage „ausgefüllt“ seien „mit Toilettemachen, Flirt, Konditorei, Autofahrt, Theater“ vermutete sie hingegen „in FrancoSpanien“.144 Neben Bauern, Arbeitern, Frauen und Kindern tauchten nur vereinzelt Vertreter anderer gesellschaftlicher Gruppen auf wie beispielsweise ein Unternehmer, der aber vor allem deswegen Siemsens uneingeschränkte Sympathie genoss, weil er von einem Hotelier zu einem „Schulinspektor“ geworden war, der sich um Kinder und um eine Verbesserung ihrer schulischen Verhältnisse gekümmert habe. Für Siemsen verkörperte er deshalb einen „Ritter“, so „wie der weiland ingeniöse Hidalgo Don Quijote“ es gewesen sei.145 Neben den geschilderten Ausführungen dienten auch alle anderen Informationen, die Siemsen gab und die etwa die Situation der Bauern146, die Bedeutung der Frauenarbeit147 oder die Tradition von Erziehungsreformen148 betrafen, dem Zweck, die republikanischen Spanier als Verkörperung des demokratischen Europas darzustellen, Verständnis für die Ziele der Volksfront hervorzurufen oder aber das republikanische Spanien in einer demokratischen Tradition zu verorten, die zu verteidigen war. Ein übergreifender Aspekt des Buches war, „das Versagen der westlichen Demokratien angesichts der Erfolge der mit Franco verbündeten faschistischen Mächte“ aufzuzeigen.149 Dabei hob Siemsen einerseits die Verantwortlichkeit Hitlers und Mussolinis am Spanischen Bürgerkrieg hervor und betonte andererseits die Gleichgültigkeit der übrigen europäischen Staaten: „Und kein Mensch wundert sich einen Augenblick, wenn Völker ohne Kriegserklärung hingemordet werden, wenn Verfassungen von den Regierungen, die sie beschworen, mit Füßen getreten, wenn Ehrenmänner im Namen des Gesetzes verhaftet, gemartert und getötet werden. Kein Hahn kräht danach, keine Hand rührt sich.“150

Siemsens Beschreibung des Krieges, der ohne „Kriegserklärung“ begonnen worden sei, resultierte aus ihrer Annahme, Deutschland und Italien hätten den Spanischen Bürgerkrieg initiiert. Siemsens Charakterisierung von Franco als einem „Beauftragten von Hitler und Mussolini“151 widersprechen allerdings neuere Forschungsergebnisse. Deutschland spielte zwar eine bedeutende Rolle im Spanischen Bürgerkrieg, aber „die Fragen der deutschen Mitwisserschaft“ an den Aufstands-Planungen in Spanien oder eine Beeinflussung Francos durch Hitler werden mittlerweile von der Forschung negativ beantwortet.152 Während Mussolini hoffte, „seine impe144 Ebd., S. 52. 145 Ebd., S. 103. 146 Vgl. das Kapitel Das Land, in: ebd., S. 17–25. 147 Vgl. das Kapitel Die Frauen, in: ebd., S. 48–54. 148 Vgl. das Kapitel Erziehungsarbeit im Kriege, in: ebd., S. 123–129. 149 Keim: Die „europäische Katastrophe“, S. 23. 150 Siemsen: Spanisches Bilderbuch, S. 130 f. 151 Ebd., S. 144. 152 Walther L. Bernecker: Deutschland und Spanien in der Epoche des Nationalsozialismus, in: ders. und Volker Dotterweich (Hg.): Deutschland in den internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Josef Becker zum 65. Geburtstag (Schriften der Philoso-

1.3 Kampf um die Demokratie. Spanien und Europa

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rialistischen Interessen im Mittelmeerraum“ absichern zu können, bewogen Hitler gleich mehrere Gründe, Franco zu unterstützen. Auch wenn der Spanien-Einsatz in der Öffentlichkeit als Abwehr gegen die „kommunistische Gefahr“ propagiert wurde – eine Grundkonstante der nationalsozialistischen Propaganda – waren es vor allem „geoideologische“, wirtschaftliche und waffentechnische Überlegungen, die Hitler eingreifen ließen. Da in Frankreich eine Volksfrontregierung unter Beteiligung der Kommunisten bestand, wollte Hitler ein mögliches Bündnis „demokratisch-linker Mächte“ verhindern und hoffte in diesem Zusammenhang auch, die Beziehungen zum faschistischen Italien verbessern zu können. Die „Erweiterung der Rohstoffbasis“ durch in Spanien lagernde Eisenerz- und Schwefelkiesvorkommen war ebenso ein Grund wie auch die Erprobung neuer Waffentechniken durch die Luftwaffe.153 In ihren Ausführungen ließ Siemsen außer Acht, dass der Bürgerkrieg nicht etwa ein Krieg der Militärs gegen die spanische Bevölkerung war, „sondern ein Krieg zwischen Bevölkerungsteilen des spanischen Volkes“. Aufgrund „der chaotischen, fast täglich wechselnden politischen Konstellationen“ war es kaum möglich, die Ereignisse „in vollem Umfang“ nachvollziehen zu können.154 Siemsen betonte deswegen wohl auch, es gehe „nicht um Regierungen, nicht um Parteien, nicht um diesen oder jenen großen oder kleinen Mann, nicht um Meinungen, Dogmen, wissenschaftliche oder religiöse Systeme“.155 Ihre Mahnung, es gehe bei dem spanischen Konflikt „um die Existenz einer zweitausendjährigen europäischen Kultur“ richtete Siemsen an die demokratischen Länder Europas, deren „Nichtintervention“ sie mit „Müdigkeit“ und „Egoismus“ begründete.156 Die englische Regierung hatte geglaubt, den Konflikt, der als innerspanisches Problem betrachtet wurde, durch eigene politische Zurückhaltung begrenzen zu können und verwies auf die politische Souveränität des Landes, in die man sich nicht einmischen wolle. Der Vorsitzende der französischen Volksfrontregierung, Léon Blum (1872–1950), der sich zunächst bereit erklärte, die Republikaner in Spanien zu unterstützen, war letztlich aufgrund innenpolitischer Probleme dem Druck Großbritanniens nicht gewachsen und zog sein zuvor zugesagtes Hilfsangebot zurück. Seit Oktober 1936 unterstützte einzig die UdSSR die spanischen Republikaner und schickte Waffenlieferungen.157 Siemsen ließ in ihren Ausführungen offen, welche Art der „Einmischung“ sie favorisierte. Sie setzte ihre Hoffnungen vermutlich auf die Bevölkerung dieser Länder, von denen sie sich eine politische Druckausübung auf die Regierungen versprach. Deshalb erklärte sie: „Was heute in Guernica und Madrid passiert, das wird morgen mit tödlicher Sicherheit in Sanary und Lyon, in Olten und in Pilsen sich ereignen.“158 phischen Fakultäten der Universität Augsburg; Historisch-sozialwissenschaftliche Reihe, Nr. 50), München 1996, S. 191–219, hier S. 196 f. Zitate auf S. 196. 153 Bernecker: Deutschland und Spanien, S. 199–202. Zitate auf S. 199 f. und 202 und ders.: Der Spanische Bürgerkrieg, S. 22. 154 von zur Mühlen: „Hitler kann in Spanien geschlagen werden!“, S. 79 f. 155 Siemsen: Spanisches Bilderbuch, S. 134. 156 Ebd., S. 143. 157 Bernecker: Der Spanische Bürgerkrieg, S. 23 f. 158 Siemsen: Spanisches Bilderbuch, S. 12.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

Das Schlusskapitel aus dem Spanischen Bilderbuch, das sie programmatisch Europäischer Epilog betitelte,159 ließ sie noch in der Exilzeitschrift Sozialistische Warte abdrucken.160 1.4 EUROPÄISCHE POLITIK IN DER KRITIK Im Jahr 1937 veröffentlichte Siemsen eine weitere Broschüre, die sie Diktaturen – oder europäische Demokratie nannte.161 Diese Schrift war eine Reaktion auf die geschilderte und von ihr kritisierte Nichteinmischungspolitik der demokratischen Länder, von denen sie glaubte, sie würden die Expansionspolitik des NS-Regimes unterschätzen und dieser nichts entgegensetzen wollen. Auch in dieser Monographie stand wieder die „europäische Demokratie“ im Mittelpunkt. Siemsen wollte ihr nicht mehr den Faschismus gegenüberstellen, wie sie es noch 1933 getan hatte, sondern plädierte nun für den Begriff Diktatur. Damit wollte sie zeigen, dass es nicht in erster Linie die Weltanschauung oder die ideologische Strömung des Faschismus sei, die sie als Hauptgefahr für Europas Frieden betrachtete. Mit dem Begriff Diktatur umschrieb Siemsen fortan ganz konkret die Regime in Deutschland und Italien, deren Politik zu einer Gefahr für das von ihr gewünschte demokratische Europa geworden war. Sie wählte den Begriff Diktatur auch deshalb, weil in zeitgenössischen Diskussionen die Begriffe Faschismus und Bolschewismus als vermeintlich ebenbürtiges politisches Gefahrenpotential gleichgesetzt worden seien; eine Gleichsetzung, die sie nicht stehen lassen wollte. Sie kritisierte, dass stets die Frage ‚Faschismus oder Bolschewismus‘ diskutiert werde. Diese Kritik richtete sie vor allem auf die nationalsozialistische „Propaganda“ selbst, in der die Formel von der Abwehr einer vermeintlichen bolschewistischen Gefahr zum Argumentationsrepertoire zur Begründung für die expansionistischen, außenpolitischen Ziele des NS-Regimes gehört hatte. Siemsen wollte einer breiteren Öffentlichkeit deutlich machen, dass es nicht etwa der „Bolschewismus“ sei, der eine „Gefahr für Europas Frieden“ darstelle. Russland, so Siemsen, sei „viel zu sehr mit sich selber beschäftigt […] bei seinen gewaltigen inneren Aufgaben und Möglichkeiten, um eine Kriegsdrohung für Europa sein zu können“. Der Bolschewismus sei „eine spezifisch russische Erscheinung“, wohingegen es die „europäische Demokratie“ sei, um die „gespielt“ werde.162 Sie betonte angesichts ihrer Analyse der zeitgenössischen internationalen Verhältnisse, es könne keine „Erkaltung des gegenwärtigen Schwebezustandes“ in Europa geben. 1937 sah sie ein faschistisch dominiertes Europa voraus, das einzig und allein durch eine demokratisch fundierte europäische Einigung noch verhindert werden könne.

159 Ebd., S. 137–145. 160 Anna Siemsen: Europäischer Epilog, in: Sozialistische Warte 12 (1937), Heft 22, S. 512–516. 161 Anna Siemsen: Diktaturen – oder europäische Demokratie?, St. Gallen 1937. 162 Ebd., S. 63.

1.4 Europäische Politik in der Kritik

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In Anbetracht der politischen Umstände glaubte Siemsen, es sei entweder eine „Gleichschaltung Europas“ zu erwarten oder aber „eine Europa-Union“ müsse geschaffen werden, die den „Diktaturen zu widerstehen“ vermöge. Den Mittelpunkt dieser Europa-Union sollten die „rechtswilligen, europäisch gesinnten Staaten“ bilden, „deren Kern die kontinentalen Demokratien“ seien.163 An die Bevölkerung dieser demokratischen Staaten richtete Siemsen ihre Ausführungen. Sie versuchte im Rückgriff auf Deutschland und am Beispiel der deutschen Rheinlandbesetzung darzulegen, wie „ein unkontrolliertes persönliches Regime die unter dem heutigen Zustand der einzelstaatlichen Souveränität immer vorhandene Rechtsunsicherheit ins Unerträgliche“ steigere. Diese „Rechtsunsicherheit“ könne nur durch eine „weitgehende demokratische Kontrolle“ in einer „demokratische[n] Föderation“ abgeschafft werden.164 Siemsen hoffte, die Bevölkerung der demokratischen Länder würde endlich erkennen, dass ihr Schicksal in der Hand „verantwortungsloser Cliquen“ liege und betonte, es gehe dabei um „jedes Einzelnen Glück, Arbeitsmöglichkeit und Leben“. Sie forderte die europäische Bevölkerung dazu auf, eine „Macht“ zu bilden, „um wirkungsvoll die kleine, gewissenlose, durch und durch verdorbene Minderheit [der Regierenden, MvB] schachmatt zu setzen“.165 Sie glaubte, „kein Staatsmann der Welt sei imstande, gegen den entschlossenen Willen seines Volkes“ Krieg zu führen.166 Ein wesentlicher Kritikpunkt in Siemsens Ausführungen richtete sich gegen die Politik Englands. Sie schloss eine Teilnahme Englands an einer zukünftigen Europa-Union aus, weil sie glaubte, England verfolge ausschließlich seine eigenen imperialistischen Interessen. Sie behauptete, „[d]as Imperium und die im Imperium nicht gestörte Ruhe steht nicht nur der Regierung, sondern jedem Engländer, auch dem theoretischen Pazifisten und Sozialisten, unendlich näher als das Schicksal des Kontinents“.167 Sie glaubte also, diese imperialistische Einstellung habe sich auch in der Bevölkerung durchgesetzt, so dass sie sich keine Unterstützung für ihre Pläne seitens der Briten erhoffte. Siemsen griff mit dieser Argumentation auf die von ihr schon in der Weimarer Zeit propagierte Theorie der Imperien zurück, nach der Großbritannien wegen seiner wirtschaftlichen Interessen in Übersee ein eigenes Imperium innerhalb einer auf Imperien gegründeten Weltföderation einnehmen werde. Sie betonte, England habe stets zur Durchsetzung seiner eigenen wirtschaftlichen und imperialen Macht versucht, die kontinentalen Staaten gegeneinander auszuspielen, auf diese Weise eine Politik des Mächteausgleichs verfolgt und „Europa den Interessen seines Weltreiches“ geopfert. Sie forderte, England nicht länger „als europäische Macht gelten zu lassen“ und aufzuhören, „ihm sogar überragenden Einfluss auf dem Kontinent einzuräumen“.168 Diese Einschätzung der englischen

163 Ebd., S. 60 f. 164 Ebd., S. 59. 165 Ebd., S. 9 f. 166 Ebd., S. 7. 167 Ebd., S. 52. 168 Zu Siemsens Kritik an England siehe ebd., S. 49–53. Zitate auf S. 53.

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

Politik teilte die Mehrheit des deutschen sozialdemokratischen und linkssozialistischen Exils mit ähnlichen Begründungen.169 Siemsen wurde in ihrer Einschätzung der englischen Politik bestätigt, als Hitler 1938, unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland, seine außenpolitischen Interessen nach Osten auf die Tschechoslowakei richtete. Hitler hatte geplant, zur Errichtung eines „Großdeutschen Reiches“ die Tschechoslowakei zu zerschlagen, und nutzte offiziell die seit 1938 offen zutage tretende „Sudetenkrise“, um seine Ziele zu verfolgen. In der Tschechoslowakei lebte eine deutschsprachige Minderheit, die im Sudetenland, das seit 1918/1919 zur Tschechoslowakei gehörte, die Mehrheit stellte. Im Sudetenland hatte 1935 die politische Organisation der Sudetendeutschen, die Sudetendeutsche Partei (SdP), einen großen Wahlsieg errungen und eine politische Autonomie dieses Gebietes innerhalb der Tschechoslowakei verlangt. Nach ihrer Annährung an die NSDAP und schließlich nach dem „Anschluss“ Österreichs, erhob die SdP dann seit 1936/1937 verstärkt Forderungen nach einer Einbindung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich.170 Hitler nutzte diese Entwicklungen, um 1938 seine Ansprüche auf das Sudetenland geltend zu machen.171 Sein Ziel blieb aber die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Großbritannien und Frankreich sanktionierten mit dem Münchener Abkommen im September 1938 Hitlers Ansprüche auf das Sudetenland und sagten zu, die neudefinierten Grenzen der Tschechoslowakei zu respektieren. Die Regierungschefs beider Länder hatten sich dazu entschlossen, Hitler Zugeständnisse zu machen, weil sie hofften, einer drohenden Kriegsgefahr auf diese Weise begegnen zu können, und Hitlers Aussage, das Sudetenland sei seine letzte außenpolitische Forderung, irrtümlich Glauben schenkten. Obgleich es auch britische Regierungsvertreter gab, die Hitlers Kriegsabsichten klar erkannten, überwog in Regierungskreisen die Meinung, die bislang praktizierte appeasement-Politik weiterführen zu können.172 Man glaubte, Hitler durch einzelne Zugeständnisse in seinen expansionistischen Zielen beschwichtigen zu können.173 Faktisch bedeutete das Münchener Abkommen jedoch „das endgültige Scheitern einer Politik der kollektiven Sicherheit“. Im März 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht in Prag ein, der Rest der Tschechoslowakei wurde dem Herrschaftsbereich des nationalsozialistischen Deutschlands unterworfen.174 Für die Gegner des Nationalsozialismus bedeutete das Münchener Abkommen „eine schwere Niederlage“. Hier glaubte nahezu nie-

169 Behring: Demokratische Außenpolitik, S. 112, 114 und 120. 170 Grüttner: Das Deutsche Reich, S. 506–508. 171 Ebd., S. 508. 172 Jürgen Zarusky und Martin Zückert: Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive, in: dies: Das Münchener Abkommen, S. 1–15, hier S. 1–3. 173 Rainer A. Blasius: Appeasement und Widerstand 1938, in: Steinbach und Tuchel: Der Widerstand, S. 452–468, hier S. 453 f. Vgl. auch Peter Neville: Hitler und die Appeaser, in: Zarusky und Zückert: Das Münchener Abkommen, S. 45–52. 174 Zarusky und Zückert: Das Münchener Abkommen, S. 2. Vgl. auch Grüttner: Das Dritte Reich, S.  514 f.

1.4 Europäische Politik in der Kritik

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mand daran, dass die Kriegsgefahr, die vom Deutsche Reich drohte und oft formuliert worden war, nun endgültig abgewendet sei.175 Siemsen veröffentlichte zu Beginn des Jahres 1939 eine Broschüre, in der sie die Politik des britischen Premierministers Neville Chamberlain (1869–1940) einer scharfen Kritik unterzog. Unter dem Titel Münchener Friede und europäischer Krieg zeigt das Titelblatt die gezeichneten Konterfeis von Hitler und Chamberlain, die polemisch als „Die europäischen Friedensbringer“ bezeichnet wurden.176 Siemsen stellte Chamberlain als Vollstrecker und Unterstützer von Hitlers Kriegszielpolitik dar. Sie sprach von einer „Achse Chamberlain-Hitler-Mussolini“177 und betonte, die europäischen Regierungen zeigten durch den Versuch, ihre eigene Machtposition zu bewahren, die gleiche „tiefe Immoralität“ wie die diktatorischen Regime Deutschland und Italien.178 Ihr Ziel blieb weiterhin, die europäische Bevölkerung über die befürchteten politischen Entwicklungen aufzuklären und einen Widerstand gegen die von ihr scharf kritisierte internationale Politik hervorzurufen. Deswegen wandte sie sich auch nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag an die Schweizer Bevölkerung und äußerte die Befürchtung, „daß das Schicksal der Schweiz […] ein gleiches sein“ werde wie das der Tschechoslowakei.179 Siemsens Möglichkeiten, eine breitere Öffentlichkeit von ihren politischen Ansichten zu überzeugen, waren gering. Nicht nur die offiziellen behördlichen Anordnungen in der Schweiz untersagten kritischen politischen Stimmen die freie Meinungsäußerung. Auch von Seiten der Bevölkerung, die Siemsen ja gerade mit ihren politischen Forderungen und Warnungen erreichen wollte, wurden ihr Ressentiments entgegengebracht. Bereits im Sommer 1933 wurden in der Schweiz von offizieller Seite Bestimmungen getroffen, mit denen eine offene politische Meinungsäußerung unterbunden werden sollte, „die Deutschland oder Italien als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten auffassen konnten“. Die offizielle Politik der Schweiz verstand sich als neutral, weshalb von offizieller Seite eine „Minimierung möglicher aussenpolitischer Schwierigkeiten“ angestrebt wurde.180 Seit Kriegsbeginn 1939 wurden diese Bestimmungen verschärft und bei Verstoß geahndet.181 Aus diesem Grund veröffentlichte Siemsen einige ihrer Monographien entweder anonym wie etwa die Broschüre Hitlers Außenpolitik,182 oder aber sie publizierte unter ihrem Pseudonym Friedrich Mark. Sie nutzte deswegen die Möglichkeit, ihre Ansichten auch auf Vortragsveranstaltungen mitzuteilen. Sie konnte offenbar einen Großteil ihres Publikums, das in seinem Selbstverständnis die offiziellen Neutrali175 Jürgen Zarusky: Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus und das Münchener Abkommen, in: ders. und Zückert: Das Münchener Abkommen, S. 217–247, S. 217. 176 Friedrich Mark: Münchener Friede und europäischer Krieg, Arbon 1939. 177 Ebd., S. 12. 178 Ebd., S. 44. 179 Anna Siemsen: Die Schweiz und das tschechoslowakische Schicksal (Schriftenreihe des RUP, Nr. 1), o. O. [Zürich] o. J. [1939], S. 2. 180 Wichers: Im Kampf gegen Hitler, S. 68 f. 181 Vgl. ebd., S. 79 f. 182 Vgl. N. N. [Anna Siemsen]: Hitlers Außenpolitik. Authentisch nach „Mein Kampf“ (Schriftenreihe des RUP Nr. 2), Zürich o. J. [1939?].

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1. Für Frieden, Recht und ein demokratisches Europa (1933 bis 1939)

tätsbekundungen der Schweiz mittrug, mit ihren Ansichten kaum erreichen. Die Beschwerden über Siemsen, die bei den Behörden eingingen, zeigen exemplarisch, dass persönliche Überzeugungen sowie nationale Interessen und Deutungsmuster zumindest innerhalb der Schweizer Bevölkerung der von Siemsen geforderten und erhofften „Massenbewegung“ für eine Änderung der internationalen Politik entgegenstanden. An das „politische Departement der Eidgenossenschaft“ in Bern ging etwa ein Beschwerdebrief des Kaufmanns „H. Lechmann“ ein, der seinem Entsetzen über Siemsens „raffiniert getarnte[r] kommunistische[r] Agitation“ Ausdruck verlieh. Auf einer Versammlung von ‚Freunden der wahren Demokratie‘, die Lechmann besucht hatte, habe Siemsen „Brunnenvergiftungspolitik der schlimmsten Sorte“ und „verkappte Parteipolitik für [den] Kommunismus“ betrieben, weil sie „in ausgeklügelter Art und Weise Stimmung gegen Deutschland, Italien und Franco-Spanien“ gemacht und dabei Russland verharmlost habe. Lechmann, der sich als „Katholik der Konservativen Partei“ zu erkennen gab, wollte darauf hinweisen, dass noch andere „[v]erschiedene klarsehende und denkende Zuhörer […] nach der Versammlung“ entrüstet gewesen seien. Lechmann befürchtete „schweren Schaden in handelspolitischer und fremdenverkehrspolitischer Hinsicht“ für die Schweiz, wenn „von Emigranten gegen Hitler eine Hetze betrieben wird“ und bewertete „es als schweren Missbrauch unseres Asylrechts […], wenn eine Ausländerin über die südlichen und nördlichen Staatsoberhäupter in geradezu gemeiner Art vom Leder zieht“. Lechmann forderte im Anschluss an seine Ausführungen, „dieser Person eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken“ und Siemsen „das Asylrecht zu entziehen“.183 Auch der Gymnasiallehrer „Hans Fischer“, der nach eigener Aussage „keiner Partei und keiner Bewegung“ angehörte, fühlte sich bemüßigt, die Behörden im Interesse der Schweiz über Siemsens politische Vortragstätigkeit zu informieren. In ihrem Vortrag, gehalten „im Auftrag des Frauenvereins für den Frieden“, habe Siemsen „die Anwesenheit eines wenig kritischen Publikums benutzt“, um den englischen Premierminister Chamberlain zu verunglimpfen. Mit der Erwähnung „eines wenig kritischen Publikums“ bezog sich Fischer auf die Frauen, die zu der Vortragsveranstaltung gekommen waren und denen er eine differenzierte politische Betrachtungsweise mit dieser Charakterisierung absprach. Fischer offenbarte damit, dass er Politik bzw. die Erörterung politischer Sachverhalte als Angelegenheit betrachtete, die nicht von Frauen ausgeübt werden sollte; eine Ansicht, die seine Bewertung von Siemsen beeinflusste. Fischer, der sich mit seinem Schreiben ganz in den Dienst der Geistigen Landesverteidigung stellte und selbst das seine tun wollte, „um unsere schweizerische Wahrheit zu suchen und zu sagen“, unterstellte Siemsen, sie habe „die Gewinnung eines freien und klaren Blicks“ unmöglich gemacht. Er forderte, „dass Ausländer (oder gewesene Ausländer) nicht als Sprecher“ im Namen der Schweiz aufzutreten hätten.184 183 BAR, E4320B, 1975/40, 10: H. Lechmann an das politische Departement der Eidgenossenschaft in Bern, Sirnach vom 18. Februar 1938. 184 Ebd.: Hans Fischer an die Eidgenössische Fremdenpolizei Bern, Biel vom 17. Oktober 1938.

1.4 Europäische Politik in der Kritik

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Siemsen ließ sich nicht entmutigen und setzte ihre politische Arbeit fort. Auch nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, als ihr Einsatz für die Verhinderung eines befürchteten drohenden Krieges obsolet geworden war, hielt sie weiterhin an ihren Grundanschauungen fest. Ihr Blick richtete sich nun aber auf die europäische Nachkriegsordnung. Sie glaubte wie die Mehrzahl des sozialdemokratischen Exils, der Krieg werde nicht lange dauern und zu einem Sturz des nationalsozialistischen Regimes führen. Diese Meinung führte zu einer Konkretion ihrer Europa-Konzepte und zu Überlegungen, welche politischen und wirtschaftlichen Schritte erfolgen könnten, um die Einigung Europas umzusetzen. Wie schon vor Kriegsbeginn spielte die politische Rolle von Frauen am Aufbau eines neuen Europas nach dem Krieg eine zentrale Rolle in ihren Ordnungsvorstellungen. Siemsen hoffte nicht nur auf eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an der neuen Nachkriegsordnung, sondern auch auf eine gleichberechtigte Teilhabe Deutschlands, das einen zentralen Aspekt in ihren Europa-Konzepten im Exil darstellten sollte.

2 DER ZWEITE WELTKRIEG UND EIN NEUES EUROPA Als der Zweite Weltkrieg begann, vermerkte Anna Siemsen: „Die Katastrophe, die […] über Europa hing, ist mit furchtbarer Wucht hereingebrochen.“1 Andere oder weitere Äußerungen zum Kriegsbeginn sind von ihr kaum zu finden. Schließlich hatte sie den Krieg kommen sehen und durch jahrelanges politisches Engagement versucht, Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie hatte stets betont, dass ein wahrer Friede nur ein dauerhafter Friede sein könne, für den eine entsprechende internationale Ordnung bestehen müsse. Die Vorkriegsverhältnisse hatten aus ihrer Sicht dieser Ordnung nicht entsprochen und auch das nationalsozialistische Regime selbst war für sie immer der Inbegriff immanenter Kriegsgefahr gewesen. Ohne den Sturz des Nationalsozialismus war diese Kriegsgefahr nicht zu bannen. Dass dafür auch Gewalt eingesetzt werden würde, konnte Siemsen hinnehmen. Als Pazifistin lehnte sie vor allem den Krieg ab, nicht jedoch eine mögliche Gewaltanwendung, die zu einer umfassenden neuen Ordnung und damit zu einem dauerhaften Friedenszustand führen werde. Bereits ein Jahr vor Kriegsbeginn hatte sie in der von Willi Münzenberg in Paris herausgegebenen Exilzeitschrift Die Zukunft, in der europäische Einigungsideen unter den Vorzeichen der deutsch-französischen Verständigung diskutiert wurden,2 „die Zerschlagung“ des nationalsozialistischen Regimes sogar gewünscht: „Wer ein guter Deutscher ist, weil er ein guter Europäer ist, wer auf der Grundlage eines wirtschaftlich gesicherten Lebens in einem geordneten Europa eine neue Blüte der deutschen Kultur ersehnt und erwartet, wie sie schon einmal als deutsch-europäischer Humanismus Europa bereichert hat, der kann die Zerschlagung des deutschen Machtstaates mit Ruhe ansehen, ja, er muss sie wünschen.“3

Siemsen, die hier „die Zerschlagung des deutschen Machtstaates“ als humanistische Aufgabe definierte, hoffte noch 1938 auf „die Revolutionierung Deutschlands“4 durch die Regimegegner innerhalb des Deutschen Reiches anstelle eines Krieges, den sie unbedingt verhindern wollte. Ein paar Monate später befürchtete sie aber: „Der europäische Krieg ist in bedrohliche Nähe gerückt.“5 Nachdem sie schon durch die Nichteinmischungspolitik der demokratischen Länder wie Großbritannien gegenüber Hitlers Expansionsplänen enttäuscht worden war und auch der von ihr erhoffte innerdeutsche Widerstand nicht eintreten sollte, 1 2 3 4 5

N. N. [Anna Siemsen]: Weltspiegel im September, in: Die Frau in Leben und Arbeit 11 (1939), Heft 10, S. 4–5, hier S. 4. Siehe auch Siemsen: Zehn Jahre Weltkrieg, S. 55–56, hier S. 55. Schilmar: Der Europadiskurs, S. 152. In derselben Zeitschrift veröffentlichten auch Siemsens Brüder August und Hans Siemsen. Siemsen: Grossdeutschland oder Föderation?, S. 7. Siemsen: Zur Schaffung einer deutschen Arbeiterpartei, S. 5. N. N. [Anna Siemsen]: Weltspiegel im März, in: Die Frau in Leben und Arbeit 10 (1939), Heft 4, S. 2. Siehe auch: Siemsen: Zehn Jahre Weltkrieg, S. 37–39, hier S. 37.

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2 Der Zweite Weltkrieg und ein neues Europa

konzentrierte sich Siemsen angesichts des begonnenen Krieges nun auf die europäische Nachkriegsordnung. Kurz nach Kriegsbeginn kam sie in ihrem kleinen Haus in Chexbres zu dem Schluss, die Antwort auf den Krieg müsse „[e]in neues Europa“ lauten.6 Siemsen hatte zwar seit Beginn der 1930er Jahre eine Neuordnung Europas auf Grundlage einer föderativen Demokratie gefordert, doch schien diese nun dringlicher als zuvor zu sein. Sie war fest davon überzeugt, dass durch den Krieg „die Macht der totalitären Angreifer zusammenbrechen“ werde. Sie hoffte, „das Kriegsende“ werde „weit überraschender kommen, als sein Anfang, den wir lange voraussahen“. Doch das Kriegsende setzte Siemsen noch nicht mit dem Frieden gleich, der „in langer, mühevoller und kampfreicher Arbeit“ erst zu sichern sei. „Sein Ziel heißt: Die in Recht und Freiheit geeinten demokratischen Republiken Europas.“ Neben der erneuten Nennung der Schweiz als Vorbild benannte Siemsen auch die drei Eckpfeiler, die für dieses föderative Europa anzusetzen seien: „Wirtschaftliche Einheit, politische Föderation, kulturelle Autonomie.“7 Das Fragezeichen, mit dem sie das „neue Europa“ in der Überschrift ihres Beitrages versah, wich bald einem Ausrufungszeichen: Siemsen begann seit 1939 schnell, ihre europapolitischen Vorstellungen zu konkretisieren und sich auf ein baldiges Ende des Krieges und die anschließende Aufbauarbeit vorzubereiten. Die Einigung Europas wollte Siemsen nach wie vor durch eine Massenbewegung der europäischen Bevölkerung erreichen. „Mit […] Werbung und Kleinarbeit“ hoffte sie, „eine Bewegung“ auf die Beine stellen zu können, „die ein für die Zukunft befriedetes Europa erstrebt. Es muss daher heute eine gesellschaftliche Notwendigkeit sein, diesen Wunsch herbeizuführen“.8 Siemsen glaubte, auch in Deutschland nach dem erhofften und erwarteten „Zusammenbruch […] die Bereitschaft der verständigeren Deutschen zu einer europäischen Zusammenarbeit“ wecken zu können.9 Deutschland, das Siemsen nicht mit dem nationalsozialistischen „Machtstaat“, sondern mit einem europäischen Humanismus gleichgesetzt hatte, spielte, wie die angeführten Zitate zeigen, in ihren europapolitischen Überlegungen stets eine Rolle. Während der 1940er Jahre propagierte sie verstärkt die Existenz eines „anderen“ Deutschlands, eines „demokratischen“ und „menschheitlichen“ Deutschlands, das durch Erziehung und politische Reformen geschaffen werden sollte und von dem sie hoffte, es werde gleichberechtigt in die europäische Nachkriegsordnung einbezogen werden. Gegen Ende des Krieges rückte Deutschland deswegen in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzungen. Die Debatten um eine Neuordnung Deutschlands, wie sie Siemsen z. B. in der Union deutscher Sozialisten in der Schweiz diskutierte, war auch ein Kennzeichen des deutschen Exils in anderen Ländern und eng mit der Europa-Frage verknüpft. 6 Anna Siemsen: Ein neues Europa?, in: Der neue Bund 5 (1939), Heft 12, S. 245. 7 Ebd. 8 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Bericht des Polizeikommandos Aarau an die Schweizerische Bundesanwaltschaft vom 27. Januar 1940, S. 4. 9 Ebd.: Thesenpapier von Siemsen mit dem Titel: Pro Memoria. Ueber die europäischen Nachkriegsprobleme, S. 2. Abschrift des Nachrichtendienstes der Kantonspolizei Zürich als Anhang einer „Meldung“ vom 23. September 1942.

2 Der Zweite Weltkrieg und ein neues Europa

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Die Gemeinsamkeit über verschiedene politische Gruppierung hinweg war die Überlegung, wie ein reformiertes Deutschland in eine neue europäische Ordnung eingegliedert werden könne.10 Die formulierte Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges wandelte sich bald zur Sorge, schließlich zur Ernüchterung. Im Juni 1940 fragte sich Siemsen, ob sie das Ende des Krieges überhaupt noch erleben werde.11 Ende des Jahres 1941 glaubte sie nicht mehr, dass bald „schon eine Entscheidung“ kommen könne. Zwar war sie „innerlich fortgesetzt beschäftigt mit dem Weltgeschehen“, wollte aber anmerken, dass es nichts gegeben habe, „was einen dabei überraschen konnte“.12 Schließlich glaubte sie: „Sie [die Europäer, MvB] werden es nicht lernen, dass sie auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden sind. Nun kommt die Erfahrung. Und wie bei allem Elend ist der Grund nicht so sehr die Bosheit der Schlechten, die ja nur eine kleine Anzahl sind, sondern die Feigheit und Schwäche der sogenannten „Guten“, die Augen u. Ohren schliessen [sic], bis ihnen das Haus überm Kopf zertrümmert wird. Darum bleibt unsere Arbeit so wichtig und wird es immer mehr.“13

Siemsens Analyse der zeitgenössischen Verhältnisse basierte auf der Annahme, Bevölkerung und kriegführende Regierungen, die sie als die „Schlechten“ charakterisierte, seien unbedingt zu trennen. Diese Grundannahme prägte ihre Europa-Konzepte, aber auch ihre Auseinandersetzung mit Deutschland. Sie führte also eine Grundannahme fort, die sie bereits in der Weimarer Republik entwickelt hatte. Die Vorstellung, der Mensch sei im Grunde friedliebend und demokratisch eingestellt, eine Anlage, die durch Aufklärung und Erziehung geweckt werden müsse, war zentral für ihre politischen Vorstellungen und für ihre Hoffnung, weite Teile der Bevölkerung für ein politisches Engagement in ihrem Sinne motivieren zu können. Trotz ihrer zuweilen negativen Einschätzung der Europäer als „schwach“ und „feige“ konnte Siemsen durch ihre Grundüberzeugung von der Erziehbarkeit des Menschen ihre politische Arbeit weiterhin legitimieren. Ihre Ideen für einen politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss Europas leitete sie wiederholt aus ihrer Deutung einer spezifisch europäischen Kultur ab, die in ihren Argumentationen oftmals mit den politischen und wirtschaftlichen Reformideen zusammenhängend vorgetragen wurde. Mit ihren Europa-Konzepten, die sie seit Beginn des Krieges entwarf, ordnete sich Siemsen in übergreifende Diskussionen ein, die in der Forschung als „Qualifizierungsphase des Europadiskurses“14 im deutschen Exil bezeichnet werden. Die Überwindung des Nationalsozialismus wurde zunehmend „als ein zutiefst europäisches Anliegen betrachtet“. Seit Kriegsbeginn 1939 verstärkten sich im gesamten deutschen Exil die Debatten darüber, wie eine neue politische Ordnung für Deutsch-

10 Gerhard Ringshausen und Rüdiger von Voss: Einleitung, in: dies.: Die Ordnung des Staates, S. 7–17, hier S. 12. 11 SozArch, Ar 142.10.1.: Anna Siemsen an Walter Vollenweider, Chexbres vom 17. Juni 1940. 12 Ebd.: Anna Siemsen an Hedda Fredenhagen, Chexbres vom 29. Dezember 1941. 13 Ebd.: Anna Siemsen an Walter Vollenweider, Chexbres vom 17. Januar 1941. 14 Schilmar: Der Europadiskurs, S. 140.

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2 Der Zweite Weltkrieg und ein neues Europa

land und Europa, mitunter auch der ganzen Welt aussehen könnte.15 Wie Siemsen glaubte die überwiegende Mehrheit der Emigranten, der Krieg werde mit dem Zusammenbruch Deutschlands enden.16 Die Auseinandersetzung mit der zukünftigen Nachkriegsordnung und einer erhofften Einigung Europas nahm nicht nur in der politischen Arbeit des Exils eine wichtige Funktion ein, sondern stellte für die Emigrantinnen und Emigranten auch eine psychologische Stütze dar. Die Hoffnung auf ein Ende des Nationalsozialismus ließ eigene politische Zielvorstellungen realisierbar erscheinen und gab dem politischen Engagement im Exil einen Sinn.17 Die Europadebatten der Kriegszeit sollen in ihrer Ausprägung und Intensität vor allem ein Phänomen des deutschen politischen Exils gewesen sein. In der Forschung wurde betont, die Widerstandsgruppen in anderen Ländern in Europa hätten sich in erster Linie mit den Expansionsplänen des nationalsozialistischen Regimes konfrontiert gesehen und versucht, die Widerstandsarbeit darauf zu konzentrieren. Insbesondere in Westeuropa, so die These, sei es zunächst darum gegangen, „die Befreiung von der fremden Zwangsherrschaft“ und die Wiedergewinnung „nationale[r] Unabhängigkeit“ zu erreichen, was zu einer „Stärkung des nationalen Selbstbewußtseins“ geführt habe, wie etwa in Frankreich. Nur in Italien sei 1943 das Movimento Federalista Europeo von Widerstandsgruppen gegründet worden, die eine europäische Föderation propagierten.18 Dabei rissen die Diskussionen um eine Einigung Europas während des Krieges aber auch in Mittel- und Osteuropa nicht ab. Im von Deutschland besetzten Polen etwa wurden von Politikern oder Schriftstellern ebenfalls föderative Ideen für Europa nach dem Schweizer oder dem US-amerikanischen Beispiel diskutiert. Daneben wurden auch „regionale Staatenbünde“ favorisiert, in denen Ostmitteleuropa, Skandinavien und die Beneluxländer zusammengeführt werden sollten. Der nach London emigrierte, ehemalige Staatspräsident der Tschechoslowakei, Edvard Beneš (1884–1948), war beispielsweise ein Vertreter dieser regionalen Einigungsideen.19 Obgleich Siemsen selbst regionale Föderationspläne entwerfen sollte, lehnte sie die von Beneš vorgeschlagene „Föderation Ost-Europas“ ab. Sie vermutete dahinter eine Idee, die unter „anglosächsischem Druck“ entwickelt worden sei,20 und nahm deshalb wohl an, diese Idee stehe mit der Politik eines kontinentalen Mächteausgleichs in Verbindung, die sie der englischen Regierung mehrfach vorgeworfen hatte und die sie als unvereinbar mit der Errichtung eines dauerhaften Friedenszustandes und einer demokratischen Föderation Europas erachtete. 15 16 17 18

Ebd., S. 141. Behring: Demokratische Außenpolitik, S. 197 und S. 245 Schilmar: Der Europadiskurs, S. 142. Klaus Voigt: Europäische Föderation und neuer Völkerbund. Die Diskussion im deutschen Exil zur Gestaltung der internationalen Beziehungen nach dem Krieg, in: Koebner, Sautermeister und Schneider: Deutschland nach Hitler, S. 104–122, hier S. 105. 19 Wlodzimierz Borodziej, Blażej Brzostek und Maciej Górny: Polnische Europa-Pläne des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Borodziej u. a.: Option Europa, S. 43–134, hier S. 102. 20 BAR, E4320B, 1975/40, 10: „Auszugsweise Wiedergabe“ von Siemsens Vortrag ‚Friedensprogramm und Kriegswirtschaft‘ auf einer Tagung der Europa-Union von „Gfr. Zuppiger“ für die Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern, Bern vom 17. Dezember 1941, [S. 1].

2.1 Die politisch-institutionelle Einigung

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Wesentliche Impulse für die Entwicklung europapolitischer Ideen erhielt Siemsen durch ihre Kontakte zur Schweizer Europa-Union, in der sie sich nach Kriegsbeginn verstärkt engagierte. Obwohl sie Kontakte zu anderen Emigrantinnen und Emigranten unterhielt, entwickelte sie ihre europapolitischen Ideen vorwiegend in Auseinandersetzung mit den Leitsätzen dieser Organisation und weniger im Umfeld parteipolitischer Exilkreise, wie es etwa die Emigrantinnen und Emigranten in anderen Exilländern taten. Eine Verbindung zu Exilgruppen in andere Länder war nahezu unmöglich. Die Schweiz befand sich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges geographisch inmitten von Staaten, die entweder von Deutschland besetzt waren wie Frankreich, von ihm annektiert worden waren wie Österreich oder mit ihm verbündet waren wie Italien. Spätestens seit der deutschen Besetzung Frankreichs 1940, wohin auch der sozialdemokratische Exil-Vorstand aus der Tschechoslowakei übergesiedelt war, zerstreute sich das kontinentaleuropäische Exil, das bis dahin sein Zentrum in Paris gehabt hatte. Die Emigrantinnen und Emigranten flohen in alle Welt, etwa nach Großbritannien oder aber nach Übersee, in die USA und Lateinamerika. Organisations- und Kommunikationsmöglichkeiten waren für das gesamte deutsche Exil infolge dessen stärker eingeschränkt als zuvor.21 Siemsen gelang es beispielsweise kaum, die Verbindung zu ihren Brüdern im Ausland und zu ihrer Familie in Deutschland aufrecht zu erhalten. Erst im September 1943 konnte sie ihrer Freundin Hedda Fredenhagen erleichtert berichten: „Ich habe endlich auch Nachricht, dass meine Geschwister leben.“22 Gleichwohl zeigt Siemsens Kenntnis von den regionalen Föderationsplänen, die Beneš vertrat, dass es in der Schweiz durchaus Möglichkeiten gab, Europa-Diskussionen in anderen Ländern zu verfolgen. Siemsen wusste beispielsweise auch um die Gründung der Union deutscher Sozialisten in Großbritannien, die in den 1940er Jahren in London aus der Taufe gehoben wurde.23 Die Gründung steht stellvertretend für eine Sammlung sozialistischer Exilgruppen gegen Ende des Krieges, nach deren Vorbild auch Siemsen versuchte, ihrerseits durch die Gründung der Union deutscher Sozialisten in der Schweiz eine ähnliche Einigung des sozialistischen Exils für die Schweiz zu erreichen. Sie formulierte nach Beginn des Zweiten Weltkrieges zunächst jedoch konkretere Einigungsideen für ein zukünftiges Europa, die sich in politisch-intentionelle und wirtschaftliche Einigungsideen unterteilen lassen. 2.1 DIE POLITISCH-INSTITUTIONELLE EINIGUNG Bereits im Januar 1940 hatte Siemsen auf einer mehrtägigen Vortragsveranstaltung, die von der IFFF organisiert worden war, die wesentlichen Punkte für eine zukünftige Einigung Europas dargelegt. Siemsen benannte als ersten Punkt die „[p]olitische Föderation“, als zweiten Punkt die „[w]irtschaftliche Einheit“, damit zusammenhängend ein „[e]uropäisches Bügerrecht“, eine „[i]nternationale Rechtsordnung und später Währungseinheit“. Der dritte Punkt betraf die „[k]ulturelle Autonomie der einzel21 Schilmar: Der Europadiskurs, S. 228. 22 SozArch, Ar 142.10.1.: Anna Siemsen an Hedda Fredenhagen, Zürich vom 3. September 1943. 23 Schilmar: Der Europadiskurs, S. 142.

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2 Der Zweite Weltkrieg und ein neues Europa

nen Sprachgemeinschaften“.24 In ihren Vorträgen und Veröffentlichungen25 führte Siemsen diese Forderungen näher aus, widmete sich dabei aber vor allem der politischen und wirtschaftlichen Einigung. Der Aspekt der Sprachgemeinschaften wurde in den genannten Quellen nicht behandelt, spielte aber in ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte, die noch Erwähnung finden wird, eine zentrale Rolle. Obwohl die politischen und wirtschaftlichen Aspekte innerhalb von Siemens Europa-Konzepten eng miteinander verbunden sind, soll zunächst dargelegt werden, mit welchen Argumenten sie eine politische Einigung Europas legitimierte, was sie unter einer neuen europäischen Rechtsordnung verstand und wie die schon zuvor propagierte föderative Einigung aussehen und von statten gehen sollte. In diesem Zusammenhang erörterte Siemsen auch, welche Länder sie unter dem Dach der Vereinigten Staaten von Europa versammeln wollte. Im Anschluss daran sollen dann ihre Argumente und Pläne für einen wirtschaftlichen Zusammenschluss aufgezeigt werden. Siemsens Europa lag „am Ende eines langen Weges, der über wirtschaftliche und politische Bünde und Verträge zuletzt enden muß bei den selbständigen, demokratischen und sozialistischen Republiken der Europaunion“.26 Die Notwendigkeit, ein solches Europa zu schaffen, ergab sich für Siemsen aus der wiederholt betonten Forderung nach einem dauerhaften Friedenszustand und der damit zusammenhängenden Überzeugung, die europäische Kultur bewahren zu müssen. Sie befürchtete, der Krieg könne Europa derart schwächen, „dass es in Ohnmacht fällt und von aussereuropäischen Mächten als Kolonie benutzt“ werde.27 Auch dieses mögliche Szenario war für Siemsen unvereinbar mit einem dauerhaften Friedenszustand. Dem Frieden wollte sie nämlich die „Freiheit“ voranstellen, ohne die Frieden nicht erreicht werden könne. Freiheit und Recht bedingten in Siemsens Argumentation einander. Ohne diese beiden Aspekte konnte „Friede“ nicht erreicht werden: „Friede beruht auf Freiheit. […] Friede muss auf Recht beruhen.“28 Mit ihrer For24 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Bericht des Polizeikommandos Aarau an die Schweizerische Bundesanwaltschaft vom 27. Januar 1940, S. 3. 25 Dazu gehören vor allem die bereits zitierte Monographie: Siemsen: Diktaturen – oder europäische Demokratie sowie Friedrich Mark: Europäischer Frieden, Arbon 1940 und ihr Aufsatz: Die soziale Ordnung, in: Weltaktion für den Frieden (RUP), Schweizer Zweig (Hg.): Die neue Friedensordnung, ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Grundlagen, Zürich [1941], S. 29–39. Francesca Lacaita hat die publizierten Schriften Diktaturen – oder europäische Demokratie, Grossdeutschland oder Föderation, Ein neues Europa? und Europäischer Frieden als die zentralen europapolitischen Schriften von Siemsen vorgestellt. Diese Liste soll hier um Siemsens Aufsatz in der von der RUP herausgegebenen Sammelschrift ergänzt werden. Vgl. Lacaita: Anna Siemsen, S. 93–155. Der von Siemsen verfasste Aufsatz in der RUP-Sammelschrift findet auch bei Lacaita kurz Erwähnung: Lacaita: Anna Siemsen im Kontext der förderalistischen europäischen Bewegung, S. 12 f. 26 Mark: Europäischer Frieden, S. 40. Hervorhebung im Original. 27 BAR, E4320B, 1975/40, 10: „Auszugsweise Wiedergabe“ von Siemsens Vortrag ‚Friedensprogramm und Kriegswirtschaft‘ auf einer Tagung der Europa-Union von „Gfr. Zuppiger“ für die Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern, Bern vom 17. Dezember 1941, S. 2. 28 SozArch, Ar 45.30.1.: Mitschrift des Vortrages von Anna Siemsen: Die Europäische Föderation, vom politischen Gesichtspunkte aus, gehalten auf dem Wochenendkurs der IFFF vom 13. bis 15. April 1940 in Walchwil am Zugersee, S. 5. Das Programm der Tagung siehe ebd.

2.1 Die politisch-institutionelle Einigung

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derung nach „Recht“ verband Siemsen zunächst das Recht des Menschen, „seiner Aufgabe gerecht werden“ zu können. Dafür müssten „[r]echte Verhältnisse im gesamten gesellschaftlichen und staatlichen Leben“ hergestellt werden. Das Recht des Menschen setzte Siemsen mit seiner Freiheit gleich. Diese definierte sie als „die sittliche Freiheit der Selbstbestimmung“, die in ihren Ausführungen, wie auch an dieser Stelle deutlich wurde, das gleiche wie Demokratie bedeutete.29 In Siemsens Argumentation blieb der Bedeutungsinhalt der Begriffe Gemeinschaft und Demokratie ähnlich. Wie schon zur Zeit der Weimarer Republik nahm sie auch an dieser Stelle keine explizite politiktheoretische Differenzierung zwischen den Begriffen Freiheit, Recht und Frieden vor. Die Begriffe waren vielmehr wechselseitig aufeinander bezogen und wurden, wie aus ihren Ausführungen deutlich wurde, ebenfalls mit dem Demokratiebegriff in Beziehung gesetzt. Sie waren sowohl Voraussetzung als auch Folge der Demokratie. Das Recht des Menschen auf Freiheit sowie seine Verpflichtung, für die Freiheit bzw. demokratische Verhältnisse zu arbeiten, leitete Siemsen wiederholt aus der Bibel bzw. aus dem Christentum ab:30 „Europa, soweit es sich christlich heisst, nennt sich nach dem einfachen Zimmermannssohn, der sogar als Verbrecher den schmählichsten Tod am Kreuz erlitten hat. Und trotz alledem, ja gerade durch das Kreuz hat er gesiegt.“31 Siemsen betonte, dies verpflichte, „für Gerechtigkeit und Frieden zu arbeiten“. Diese Verpflichtung begründete sie auch mit den Forderungen der Französischen Revolution. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wertete sie als die Weiterführung der christlichen Botschaft. Siemsen forderte deshalb eine gesellschaftliche und staatliche Ordnung, die auf „der freien gegenseitigen Hilfsleistung (Solidarität)“ basiere und in der „Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse“ nicht mehr möglich seien.32 Die Einigung Europas wurde demnach als ein Projekt betrachtet, das sich aus einer spezifisch europäisch-abendländischen Kultur speiste. Diese definierte Siemsen auch als „Menschwerdung“, die nur durch die Verwirklichung der von „Christus“ gegebenen „Sittlichkeit“ erreicht werden könne: „Die rechten Verhältnisse sind diejenigen, die den Menschen kein Hindernis in den Weg legen, sondern ihn fördern nach dem Bilde Jesu.“33 Das politische Konzept, über das eine entsprechende Ordnung vollzogen werden sollte, nannte Siemsen „Europäischer Sozialismus“, der zu den „Vereinigten Staaten Europas“ führen werde.34 Der „europäische Sozialismus“, den Siemsen als den legitimen Erben der christlichen Botschaft und der Forderungen der Französischen Revolution betrachtete, enthielt sowohl ethisch-christ29 Siemsen: Die soziale Ordnung, S. 33. 30 SozArch, Ar 45.30.1.: Thesenpapier von Siemsen zum Vortrag Wirtschaftliche Friedensarbeit auf der Tagung der IFFF Die Friedensfrage, ein religiöses, politisches und wirtschaftliches Problem am 24. und 25. August 1940 in Zürich, [S. 1]. 31 Ebd.: Mitschrift des Vortrages von Anna Siemsen: Die Europäische Föderation, vom politischen Gesichtspunkte aus, gehalten auf dem Wochenendkurs der IFFF vom 13. bis 15. April 1940 in Walchwil am Zugersee, S. 9. 32 Ebd.: Siemsen: Thesenpapier zum Vortrag Wirtschaftliche Friedensarbeit, [S. 1]. 33 Ebd.: Mitschrift von Siemsens Vortrag Wirtschaftliche Friedensarbeit, [S. 1]. 34 Mark: Europäischer Frieden, S. 6.

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liche Vorstellungen als auch konkrete politische und wirtschaftliche Forderungen, mit denen die ethisch-christlichen Vorstellungen im politischen Leben umgesetzt werden sollten. Mit ihrem Freiheitsbegriff, den sie aus der christlichen Tradition ableitete, nahm Siemsen eine besondere Position innerhalb des deutschen Exils ein. In sozialistischen Kreisen wurde unter dem Freiheitsbegriff oft „die Freiheit der Arbeiterklasse von kapitalistischer Unterdrückung“ verstanden.35 Das war ein Aspekt, der auch in Siemsens Freiheitsbegriff angelegt war, aber nur einen Teil darstellte. Denn den Freiheitsbegriff setzte sie mit ihrem Rechts- und Demokratiebegriff in Beziehung, der auf alle Menschen übertragen wurde. In ihren Ausführungen verband Siemsen zwei „Identifikationsmodelle“ für Europa,36 die im politisch heterogenen deutschen Exil sonst selten zusammengefasst wurden. Während sich die linkssozialistischen Kreise eher mit dem europäischen Sozialismus identifizieren konnten,37 gehörte das Argument eines „abendländischen Kulturkreises“ zum Argumentationsrepertoire des „liberalen und konservativen“ Exils. Mit ihrer Vorstellung eines abendländischen Kulturkreises, die vor allem in ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte eine zentrale Rolle spielen sollte, nahm Siemsen somit erneut tradierte bürgerliche Deutungsmuster in ihre Europa-Konzepte auf. Die Hervorhebung einer spezifisch europäischen Kultur und spezifisch europäischer Werte, die angesichts der zeitgenössischen Verhältnisse dem Untergang geweiht seien, diente Siemsen dazu, die Legitimation ihrer politischen Forderungen hervorzuheben. Neben einem christlich-ethischen Recht des Menschen formulierte Siemsen auch einen Rechtsbegriff, der die politisch-institutionelle Ebene umfasste. Auch nach Kriegsbeginn blieb die politische Organisation der Schweiz das Vorbild, nach dem Siemsen die Einigung Europas vollziehen wollte. „Selbstverwaltung“, „Mannigfaltigkeit“ und „Schiedsgerichtsbarkeit“ waren die zentralen Merkmale, die von ihr als Grundlage für ein „Neues Europa“ herangezogen wurden: „Kollektive Sicherheit, Solidarität und Schiedsgerichtbarkeit [sic] der europäischen Staaten, bei Wahrung ihres Eigenlebens und ihrer Selbstverwaltung, das herbeizuführen ist die lebensnotwendige Aufgabe, vor der heute Europa steht.“38 Eine neue europäische Rechtsordnung bezeichnete Siemsen auch als „übernationales Recht“, das an dieser Stelle nicht im Detail beschrieben wurde. Außer Schiedsgerichtsbarkeit forderte sie allenfalls noch nach dem Beispiel der innerstaatlichen Grenzen der USA und am Beispiel der Grenze zwischen den USA und Kanada eine Entmilitarisierung der europäischen Grenzen.39 Zu einer neuen europäischen Rechtsordnung zählte sie weiterhin ein „Europäisches Bürgerrecht“40 bzw. ein „Bundesbürgerrecht“, das den 35 36 37 38

Schilmar: Der Europadiskurs, S. 161. Ebd., S. 165. Ebd., S. 167. SozArch, Ar 45.30.1.: Mitschrift des Vortrages von Siemsen: Die Europäische Föderation, vom politischen Gesichtspunkte aus, S. 6. 39 Mark: Europäischer Frieden, S. 2 f. 40 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Bericht vom Polizeikommando Aargau über einen Vortrag von Siemsen, gehalten im Rahmen einer Vortragsveranstaltung der IFFF, Aarau vom 27. Januar

2.1 Die politisch-institutionelle Einigung

269

Europäern „Freizügigkeit, Arbeits- und Siedlungsrecht im gesamten Bundesgebiet“ zugestehen sollte.41 Der wichtigste Aspekt aber, den Siemsen im Zusammenhang mit einer neuen europäischen Rechtsordnung diskutierte, war die wiederholte Abschaffung der nationalstaatlichen Souveränität. Durch die Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs und des Münchener Abkommens war Siemsen zu der Überzeugung gelangt, „Souveränität“ hieße nichts anderes als „das Recht mächtiger Staaten, schwächere zu vergewaltigen und Rechtsbrüche […] auszuführen [,] ohne dass die Bedrohten Gegenmassnahmen ergreifen dürfen“.42 Die „innerstaatliche Rechtssicherheit“ stand für Siemsen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer „interstaatliche[n]“ Rechtssicherheit.43 Sie forderte deshalb eine „übergeordnete Bundesinstanz“, an die die europäischen Länder „einen Teil ihrer Macht, insbesondere ihrer militärischen Macht“ abzugeben hätten.44 Durch diese Instanz, „die die Achtung vor dem Gesetz vom Rechtsbrecher zu erzwingen vermag“, sollte auch eine „innerstaatliche Gesetzlosigkeit“ vermieden werden.45 Siemsen stellte den Föderalismus dem „staatlichen Zentralismus in Wirtschaft und Kultur“ gegenüber, der „den Keim sittlicher Entartung und politischer Entrechtung“ in sich trage. Um dieser innerstaatlichen Gesetzlosigkeit zu begegnen, sollte der europäische Föderalismus ein „genossenschaftlicher Föderalismus“ sein, mit dem Siemsen die Forderung nach „demokratischer freier Gruppenbildung“ verband. Diese sollte „von unten aufbauend in immer umfassenderen Verbänden“ den Menschen in eine „Gemeinschaft“ einbinden, durch die er „zum tätig verantwortlichen und […] freien Kameraden und Bürger“ werden würde. Der „Gefahr der Bürokratisierung“ wollte Siemsen entgehen, indem die „Beamten durch den auf Zeit gewählten, verantwortlichen Funktionär“ ersetzt werden sollten.46 Mit diesen Vorstellungen von einer europäischen Verfassung formulierte Siemsen Grundüberzeugungen, die sie bereits in der Weimarer Republik geäußert hatte und die sie nun auf Europa übertrug. Die Idee der Selbstverwaltung und der genossenschaftlichen Organisation, die sich organisch von kleinen Organisationen auf immer größere Einheiten erstrecken sollte, gehörte zu den zentralen Forderungen, die sie in den 1920er Jahren schon für eine sozialistische Reformierung Deutschlands erhoben hatte. Mit ihrer Vorstellung nach einer weitestgehenden Aufgabe nationalstaatlicher Souveränität beschrieb Siemsen eine Grundüberzeugung, die nicht auf das sozialistische deutsche Exil beschränkt war. Personen anderer politischer Richtungen setz-

41 42 43 44 45 46

1940, S. 3. Vgl. auch SozArch, Ar 45.30.1.: Siemsen: Thesenpapier zum Vortrag Wirtschaftliche Friedensarbeit, S. 2. Mark: Europäischer Frieden, S. 10. Anna Siemsen: Schlagworte II: Souveränität, in: Die Zukunft Nr. 1 vom 6. Januar 1939, S. 5. Siemsen: Diktaturen – oder europäische Demokratie, S. 59. Mark: Europäischer Frieden, S. 10. SozArch, Ar 45.30.1.: Siemsen: Thesenpapier zum Vortrag Wirtschaftliche Friedensarbeit, [S. 1]. Siemsen: Die soziale Ordnung, S. 34 f.

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ten sich ebenfalls dafür ein.47 Meistens wurde in diesem Zusammenhang die europäische Föderation als „Regionalorganisation des Völkerbundes“ verstanden.48 Auch Siemsen sprach sich dafür aus, betonte aber, Europa selbst brauche „eine festere Organisation“ als der Völkerbund es sei.49 Aufgrund ihrer Absage an die nationalstaatliche Souveränität, die sie schon vor Beginn des Zweiten Weltkrieges formuliert hatte, ist Siemsen in der Forschung als „frühe Verfechterin des proeuropäischen Antinationalismus“ bezeichnet worden.50 Für die föderative Einigung Europas unter dem Dach einer übergeordneten Bundesinstanz schrieb Siemsen Frankreich eine maßgebliche Rolle zu. Unter „Frankreichs europäische[r] Sendung“51 verstand sie zunächst die „kulturellen Anregungen“, die „über Europa gingen“.52 Siemsen behauptete, es sei das Land, von dem zuerst Anstrengungen unternommen worden seien, Europa zu einigen. Siemsen zählte die Französische Revolution und die Menschenrechte dazu, von denen „eine große europäische Befreiungsbewegung“ ausgegangen sei. Sie definierte Frankreich daher als Ursprungsland des demokratischen Gedankens, in dem auch „die großen sozialen Theorien des Sozialismus“ entstanden seien.53 Im Gegensatz zu Frankreich schrieb Siemsen England eine hemmende Funktion im europäischen Einigungsprozess zu. Sie betonte zwar, England nicht ausschließen zu wollen, schließlich sei es „europäisch seiner ganzen Kultur nach“, sie hob aber auch hervor, dass es „über Europa hinausgewachsen“ sei. Englands „Imperium“ würde nur „mit weniger als einem Zehntel seiner Bevölkerung“ zu Europa gehören. Außerdem sei England im Gegensatz zu Frankreich nicht das Land der Demokratie, sondern das „des Liberalismus“, der „aristokratische“ Züge trage. Siemsen meinte an dieser Stelle den Wirtschaftsliberalismus, der aus ihrer Sicht einer geordneten Planwirtschaft für Europa entgegenstehe und zu wirtschaftlichen und sozialen Herrschaftsverhältnissen geführt habe. Den „aristokratischen“ Charakter dieses Wirtschaftsliberalismus definierte sie als „Oligarchie der englischen Rasse über die viel zahlreicheren Eingeborenen“ in den britischen Kolonien. Alles in allem glaubte sie nicht, dass England sich unter den von ihr formulierten Bedingungen einer europäischen Föderation anschließen werde.54 Siemsen wollte sich nicht festlegen, welche Länder sie abschließend zu einer europäischen Föderation zählen wollte. Die Frage, ob auch „Klein-Asien, das altes europäisches Kulturgebiet ist“, eingegliedert werden würde, war für Siemsen zum damaligen Zeitpunkt „nicht wesentlich“.55 Während sie einem Beitritt Englands zur europäischen Föderation ambivalent gegenüberstand, schloss sie einen Beitritt 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Schilmar: Der Europadiskurs, S. 174. Ebd., S. 177. Mark: Europäischer Frieden, S. 36. Schilmar: Der Europadiskurs, S. 155 f. Mark: Europäischer Frieden, S. 22. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26 f. Ebd., S. 32–35. Zitate auf S. 32–34. SozArch, Ar 45.30.1.: Mitschrift des Vortrages von Siemsen: Die Europäische Föderation, vom politischen Gesichtspunkte aus, S. 6.

2.1 Die politisch-institutionelle Einigung

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Russlands weiterhin aus. Russland charakterisierte sie wie auch schon 1937 als „eine außereuropäische Macht“, mit der lediglich zusammengearbeitet werden solle.56 Siemsen hoffte, durch den „europäischen Sozialismus“ eine ideologische und politische Spaltung Europas zu verhindern; eine Gefahr, die sie in den imperialistischen Interessen Englands begründet sah, die auf russische „Machtpolitik“ treffen könnten. Schon 1940 formulierte Siemsen damit die Möglichkeit einer Teilung Europas „in eine östliche Sowjethälfte und eine westliche, die britisches Kolonialgebiet werden würde“.57 Eine mögliche Konfrontation der UdSSR mit den USA formulierte sie zu diesem Zeitpunkt, im April 1940, noch nicht. Siemsens Auseinandersetzung mit den internationalen politischen Verhältnissen war vor und unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkrieges von einer eurozentristischen Perspektive geprägt, in der außereuropäische Mächte höchstens als Gefahr für die Selbständigkeit und Unabhängigkeit Europas angeführt wurden. Eine mögliche ideologische Teilung des Kontinents wurde innerhalb des deutschen Exils in dieser frühen Phase der Europa-Debatten von Vertreterinnen und Vertretern des „europäischen Sozialismus“ aber durchaus prophezeit. Deshalb stieß spätestens seit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt 1939 die Forderung nach einer deutsch-französischen Verständigung für die neue europäische Ordnung auf breitere Resonanz.58 Zu diesem Zweck wurde auf Initiative von Willi Münzenberg 1939 die Deutsch-französische Union, die Union franco-allemande gegründet, der Deutsche und Franzosen angehörten59 und der auch Siemsen beitrat.60 Siemsen, die seit der Weimarer Republik eine deutsch-französische Verständigung propagiert hatte, glaubte weiterhin, nur durch eine Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich könne „Verkümmerung und Verfall beider Länder“ vermieden werden.61 Eine gleichberechtigte Eingliederung Deutschlands in eine zukünftige europäische Föderation begründete sie mit der anhaltenden Gefahr, die auch nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus von Deutschland ausgehe, falls es zu „einem ausgebeuteten Kolonialgebiet“ werde.62 Das positive Bild eines „europäischen Deutschlands“, das Siemsen 1932 noch in ihrem Buch Deutschland zwischen gestern und morgen entworfen hatte, wich nun an dieser Stelle argumentativ einem negativ besetzten Deutschland, dessen Eingliederung in eine europäische Föderation nicht mehr aufgrund seines vermeintlich europäischen Charakters, sondern aufgrund seines politischen Gefahrenpotentials begründet

56 Mark: Europäischer Frieden, S. 31 f. Zitat auf S. 31. Vgl. auch Siemsen: Diktaturen – oder europäische Demokratie, S. 53 f. und 57 f. 57 Mark: Europäischer Frieden, S. 38 f. 58 Schilmar: Der Europadiskurs, S. 171 f. Zitat auf S. 171. 59 Ebd., S. 152. Siehe auch die Sondernummer der Zeitschrift Die Zukunft Nr. 17 vom 28. April 1939, [S. 1]. 60 Siehe das Mitgliederverzeichnis der Union in: Die Zukunft Nr. 26 vom 30. Juni 1939, S. 11. 61 Anna Siemsen: Wahrheit und Lüge der deutsch-französischen Verständigung. Bei Gelegenheit eines Buches, in: Die Zukunft Nr. 17 [Sondernummer] vom 28. April 1939, S. 8. 62 SozArch, Ar 45.30.1.: Mitschrift des Vortrages von Siemsen: Die Europäische Föderation, vom politischen Gesichtspunkte aus, S. 8.

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2 Der Zweite Weltkrieg und ein neues Europa

wurde. Diese Argumentation bedeutete jedoch keine grundlegende Änderung innerhalb ihrer Europa-Konzepte. Die Annahme eines „europäischen Deutschlands“ lief als unsichtbarer Argumentationsstrang in ihren Ausführungen stets mit. Denn es waren in Siemsens Sicht immer noch „Reichswehr, Großgrundbesitz, Schwerindustrie und hoher Finanz […], die Hitler hochgebracht haben“.63 Deshalb wollte sie Deutschland zunächst „entpreußen“.64 Dafür sollte Deutschland selbst, wie auch zukünftig Europa insgesamt, nach dem Vorbild der Schweiz föderalistisch strukturiert werden.65 Die „Verpreußung“ Deutschlands bezeichnete Siemsen als „[d]as nationale Gefühl in Deutschland“, das „etwas Künstliches, Angezüchtetes“ sei und durch eine umfassende neue Ordnung „wieder verschwinden“ könne.66 In diesem Zusammenhang hatte sie sich schon 1938 für eine Föderation Deutschlands ausgesprochen und das Konzept eines hegemonialen Großdeutschlands abgelehnt. Siemsen befürchtete zu dieser Zeit eine „Aechtung der deutschen Sprache und Kultur“, die „eine europäische Kultur“ gewesen sei, deren grosse Zeit […] vor der Reichseinheit“ gelegen habe.67 Neben der föderalen Organisation Deutschlands betonte Siemsen einen weiteren Aspekt, der vonnöten sei, um die von Deutschland ausgehende Gefahr einzudämmen. Das war „die Schaffung eines Donaubundes“. Siemsens hoffte auf diese Weise, „dem Expansionsdrang Deutschlands nach dem Südosten“ einen „Riegel“ vorzuschieben.68 Ferner sollten auch die Staaten im „Nord-Osten und nach Westen hin“ eine Föderation bilden, ebenso wie „Belgien und Holland“.69 Die Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa wollte Siemsen demnach auf dem Weg einer „[f]öderale[n] Binnenstruktur“70 Europas erreichen. Diese Strategie wählte sie nach ihrer Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse im zeitgenössischen Europa, die für eine Einigung Europas grundlegend geändert werden sollten. 2.2 DIE WIRTSCHAFTLICHE EINIGUNG In ihren Schriften und Vorträgen wies Siemsen wiederholt darauf hin, dass sie den Kapitalismus als die eigentliche Ursache von Kriegen betrachtete. Waren es zunächst noch Kriege, die im Namen der Religion oder später zur Machtausdehnung der „Fürsten“ geführt worden seien, machte sie die im 19. Jahrhundert „wachsende Industrialisierung“ für den Ersten und Zweiten Weltkrieg verantwortlich. Der „Hunger nach Weltmärkten, nach Export und Import, nach wirtschaftlicher Erobe63 64 65 66 67 68 69 70

Mark: Europäischer Frieden, S. 16. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. SozArch, Ar 45.30.1.: Mitschrift des Vortrages von Siemsen: Die Europäische Föderation, vom politischen Gesichtspunkte aus, S. 8. Siemsen: Grossdeutschland oder Föderation, S. 7. Mark: Europäischer Frieden, S. 19 f. Ebd., S. 20 f. Schilmar: Der Europadiskurs, S. 212.

2.2 Die wirtschaftliche Einigung

273

rung“ war in ihrer Sicht ausschlaggebend dafür, dass nun Kriege im Weltmaßstab geführt werden würden.71 Kapitalismus, Industrialisierung und Imperialismus waren für Siemsen internationale Phänomene. Diese hätten in Europa zu „Wirtschaftsautarkie“ und zu „wirtschaftliche[r] Hegemonie“ und deshalb auch „zum Krieg als Dauerzustand“ geführt. An die Stelle des „Konkurrenzkapitalismus“ sollte deswegen eine „international geordnete solidarische Bedarfswirtschaft“ treten.72 Siemsen argumentierte, dass sich diese von ihr geschilderten negativen Entwicklungen in besonderem Maße in der nationalsozialistischen Eroberungspolitik bemerkbar machen würden. In ihren Schriften und Vorträgen wies sie wiederholt auf den nationalsozialistischen Propagandabegriff des „Lebensraumes“ hin, den sie als „Schlagwort“ definierte, das nichts anderes bedeute „als dies Recht auf wirtschaftliche Expansion“.73 Neben der Kategorie „Rasse“ war die Kategorie „Raum“ zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Idee zur Neuordnung Europas,74 gegen die sich Siemsen mit ihren Europa-Konzepten wandte. Die auf diesen Kategorien gegründete Eroberungspolitik wird in der zeitgeschichtlichen Forschung „als radikale Ausprägung antiliberaler Europakonzepte“ bezeichnet. Kerngedanke antiliberaler Europa-Konzepte war die Annahme eines „als universalistisch empfundenen Faschismus“, der zu Beginn der 1930er Jahre vor allem von Mussolini geprägt wurde.75 Der Begriff Europa war zunächst ein „Propagandabegriff“ der nationalsozialistischen Führungsriege und wurde genutzt, um Deutschlands Rolle bei der Verteidigung Europas „gegen die ‚asiatisch-jüdisch-bolschewistische‘ Vernichtungsdrohung“ hervorzuheben. Diese Argumentation prägte die nationalsozialistische Propaganda seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 und wurde bis Ende des Krieges aufrechterhalten.76 Rassistisches Gedankengut und Expansionspolitik waren in der nationalsozialistischen Europaideologie eng verbunden. Für die Errichtung eines auf der „arischen Rasse“ begründeten deutschen Großreiches fiel der Blick auf Osteuropa, wo Vertreter der Lebensraumideologie die Ursprünge der sogenannten „arischen“ Völker zu finden glaubten. Ausgehend von der Grundüberzeugung, dass jedem Volk auch sein entsprechender Lebensraum zustehe, sollten als „slawisch“ kategorisierte Menschen, die als minderwertig betrachtet wurden, im Osten Europas zugunsten 71 Mark: Europäischer Frieden, S. 4 f. 72 SozArch, Ar 45.30.1.: Siemsen: Thesenpapier zum Vortrag Wirtschaftliche Friedensarbeit, S. 2. 73 Mark: Europäischer Frieden, S. 5. 74 Vgl. dazu ausführlich: Birgit Kletzin: Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung (Region – Nation – Europa, Bd. 2), 2. Aufl. Münster, Hamburg und London 2002. 75 Robert Grunert: Autoritärer Staatenbund oder nationalsozialistischer Großraum? „Europa“ in der Ideenwelt faschistischer Bewegungen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 9 (2012), Heft 3, S. 1, URL: http://www.zeithistorischeforschungen.de/16126041-Grunert-3-2012 [24. März 2014]. 76 Wilfried Loth: Rettungsanker Europa? Deutsche Europa-Konzeptionen vom Dritten Reich bis zur Bundesrepublik, in: Hans-Erich Volkmann (Hg.): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München und Zürich 1995, S. 201–221, hier S. 201.

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2 Der Zweite Weltkrieg und ein neues Europa

der als arisch definierten Menschen zurückgedrängt werden. Deutschland sollte „in diesem Kampf“ um Lebensraum wegen seiner Rolle „als europäische[r] Ordnungshüter“ eine Hegemonie in Kontinentaleuropa zukommen.77 Siemsen hatte sich nicht nur in ihrer Auseinandersetzung mit Hitlers Buch Mein Kampf mit der nationalsozialistischen „Rassen“-Ideologie beschäftigt,78 sondern auch in ihrer Broschüre Diktaturen – oder europäische Demokratie und dort betont, nur die „Ueberzeugung von der Gleichberechtigung und menschlichen Verbundenheit aller Völker und Rassen“ sei „die menschliche, die sittliche Antwort“, die „Europa vor einer Katastrophe bewahren“ könne.79 Wirtschaftliche Aspekte waren nicht das propagandistische Hauptargument in der nationalsozialistischen Lebensraumideologie. Die Grundpfeiler der propagandistischen Neuordnungsideen der Nationalsozialisten für Europa waren Antibolschewismus und Antisemitismus.80 Wie in der Forschung betont wurde, entwickelten nationalsozialistische Wirtschaftsexperten, Industrielle und Bankenvertreter auf praktischer Ebene wohl aber Ideen und erste Schritte für einen deutschen Großwirtschaftsraum. Im Reichswirtschaftsministerium etwa wurde zusammen mit Industriellen und Bankern aus den Benelux-Staaten über eine Zollunion diskutiert, auch sollte das Ruhrgebiet mit Nordfrankreich und den Benelux-Staaten zu einem Wirtschaftsgebiet vereint werden. Diese Zusammenarbeit gilt in der Forschung als „korporative Vorgeschichte“ der 1952 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Sie zeigt, dass die Vorläufer wirtschaftlicher Kooperationen nicht allein aus den 1920er Jahren stammen.81 In den nationalsozialistischen Neuordnungsideen für Europa nach rassistischen und räumlichen Ordnungsvorstellungen wurden Elemente aus dem sogenannten Mitteleuropa-Konzept aufgenommen, das Vorläufer im 19. Jahrhundert hatte und durch das 1915 erschienene Buch Mitteleuropa des liberalen Politikers Friedrich Naumann eine große Popularität erfuhr. Der Begriff Mitteleuropa wurde mit unterschiedlichen Vorstellungen verknüpft. Nach 1918 bezog er sich geographisch meistens „auf die traditionellen preußisch-österreichischen Herrschaftsbereiche in Ostund Südosteuropa“. In der national-konservativen Vorstellungswelt sollten die Deutschen eine „Führungsaufgabe“ in Mitteleuropa übernehmen und es „politisch, wirtschaftlich und kulturell“ durchdringen. Diese Forderung wurde mit der kulturellen Höhe, die die Deutschen erreicht hätten, begründet sowie mit ihrer „Verkörperung der föderativen […] Idee und mit ihrer vermeintlich historischen Rolle als „Erbe[n] der Reichsidee“.82 Im Ausland wurden die Diskussionen um „Mitteleu77 78 79 80

Schilmar: Der Europadiskurs, S. 132–136. Zitat auf S. 135. Vgl. N. N. [Anna Siemsen]: Hitlers Außenpolitik, S. 2–9. Siemsen: Diktaturen – oder europäische Demokratie, S. 34. Thomas Sandkühler: Europa und der Nationalsozialismus. Ideologie, Währungspolitik, Massengewalt, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 9 (2012), Heft 3 S. 2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Sandkuehler-3-2012 [24. März 2014]. 81 Ebd., S. 3. Vgl. zu den Wirtschaftsplanungen auch Loth: Rettungsanker, S. 202. 82 Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges, S. 81. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr das 1915 erschienene Buch Mitteleuropa des liberalen Politikers Friedrich Naumann. Vgl. ders:

2.2 Die wirtschaftliche Einigung

275

ropa“ seit 1918 mit Besorgnis zur Kenntnis genommen. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, als englische und US-amerikanische Journalisten mit „Mitteleuropa“ eine von Deutschland ausgehende imperialistische Gefahr verbanden, vermuteten sie zu Beginn der 1940er Jahre hinter den nationalsozialistischen Neuordnungsplänen neben einem „auf rassistischen, antiliberalen Grundsätzen vereinten Europas“ auch einen deutschen Wirtschaftsimperialismus zum Ausbau des deutschen Großwirtschaftsraumes.83 Siemsen argumentierte zwar, Deutschland habe „bewiesen, dass man ihm keine Macht anvertrauen“ könne, betonte aber, die Deutschen hätten dennoch „Anspruch auf wirtschaftlichen Lebensraum, auf freie wirtschaftliche, gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den übrigen Staaten Europas“.84 Um mögliche machtstaatliche Ambitionen von Deutschland in Zukunft zu verhindern und gleichzeitig einen wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich mit den ost- und südosteuropäischen Gebieten herzustellen, forderte sie die bereits erwähnte, aber nicht näher beschriebene Zusammenfassung eines föderativen Deutschlands mit dem „Donauraum“, den „Balkanstaaten“ und mit den skandinavischen Ländern. Diese Länder sollten dann zusammen die „Kristallisationskerne bilden für die europäische Eidgenossenschaft“.85 Siemsen griff mit diesen Überlegungen ebenfalls auf tradierte Vorstellungen des seit dem Ersten Weltkrieg breit diskutierten Mitteleuropa-Konzeptes zurück. Sie forderte die genannte europäische Binnenstruktur nicht allein wegen Deutschlands Machtambitionen, sondern auch wegen der Länder und Gebiete „im Osten Europas“, die sie „ein Herd von Unruhen“ nannte. Hier erkannte Siemsen „die politischen Krankheitserscheinungen, wie sie für Länder, die langezeit [sic] unterdrückt worden sind, eigentümlich“ seien. Neben „despotischen Regierungen“ hob sie in einem Vortrag über die politische Föderation Europas im April 1940 die sozialen Ungleichheiten hervor, die sie am Beispiel Ungarns erläuterte, aber als gültig für den gesamten Balkan- und Donauraum betrachtete. Durch eine europäische Binnenföderation derjenigen Länder, denen Siemsen eine „undemokratische Entwicklung“ zuschrieb, sollte ein wirtschaftlicher Ausgleich geschaffen werden, der zu einer Zusammenarbeit und damit zur Errichtung demokratischer Strukturen führen werde.86 Siemsen betonte das gegenseitige aufeinander Angewiesensein

83 84 85 86

Mitteleuropa, Berlin 1915. Naumann entwarf darin einen auf vorwiegend wirtschaftlichen Prämissen fußenden Zusammenschluss von Deutschland, Österreich-Ungarn und weiteren Staaten in Ost- und Südosteuropa, wobei Deutschland eine vorrangige Stellung vorbehalten bleiben sollte: Florian Greiner: Der „Mitteleuropa“-Plan und das „Neue Europa“ der Nationalsozialisten in der englischen und amerikanischen Tagespresse, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 9 (2012), Heft 3, S. 1, URL: http://www.zeithistorischeforschungen.de/16126041-greiner-3-2012 [25. März 2014]. Zu Mitteleuropa-Ideen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges siehe ausführlich: Jürgen Elvert: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945) (HMRG, Historische Mitteilungen, Beiheft 35), Stuttgart 1999. Greiner: Der „Mitteleuropa“-Plan, S. 2–4. Zitat auf S. 4. SozArch, Ar 45.30.1.: Mitschrift des Vortrages von Siemsen: Die Europäische Föderation, vom politischen Gesichtspunkte aus, S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 6 f.

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2 Der Zweite Weltkrieg und ein neues Europa

dieser Länder auch deshalb, weil es dort keine klaren Grenzziehungen gebe. Sie begründete dies mit Sprachgemeinschaften, die im Osten Europas nicht identisch mit staatlichen Einheiten seien, und glaubte daher, mit ihren Föderationsplänen die Frage der nationalen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa ebenfalls lösen zu können.87 In den südosteuropäischen Ländern selber hatte es in der Zwischenkriegszeit neben gesamteuropäischen Einigungsideen vor allem Pläne für eine regionale Zusammenarbeit gegeben, die ähnlich wie Siemsen es formulierte, auf wirtschaftlichen Überlegungen basierten. Politiker entwickelten Vorstellungen von internationalen Kooperationen, die zum Teil ebenfalls auf dem Mitteleuropa-Konzept fußten. Der ungarische bürgerliche Radikale Oszkár Jászi (1875–1957) hatte während des Ersten Weltkrieges für die wirtschaftliche und kulturelle Weiterentwicklung Europas ein Mitteleuropa unter deutscher Führung und einen Balkanbund unter ungarischer Führung entworfen, rückte aber zusehends von einem deutsch geführten Mitteleuropa ab und propagierte gegen Ende des Krieges eine Vereinigung der DonauLänder.88 Nach dem Ersten Weltkrieg wurden von Intellektuellen auch Ideen zu einer demokratischen Vereinigung der Donauländer entwickelt, es überwogen aber Pläne, die sicherheitspolitischen Überlegungen entsprangen. Ungarische und rumänische Politiker unterhielten sich etwa über einen von Italien unterstützten Zusammenschluss von Ungarn, Rumänien und Polen, um ihre politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit gegenüber Deutschland und Russland zu behaupten und auf diese Weise für die politische Sicherheit in Mitteleuropa sorgen zu können. Andere Pläne sahen eine losere Kooperation der Länder des Donauraumes vor, der eine selbständige Wirtschaftsregion innerhalb der Weltwirtschaft einnehmen sollte. Auch gab es aus sicherheitspolitischen Überlegungen Ideen, alle Länder in Südostund Ostmitteleuropa inklusive Polen, Griechenland und der Türkei zu vereinen, was mit ähnlichen wirtschaftlichen Strukturen begründet wurde, wie etwa mit dem in diesen Ländern dominierenden Landwirtschaftssektor. Neben einem militärischen Bündnis sollte es auch eine kulturelle Kooperation beispielsweise im Bildungswesen geben.89 Deutschland spielte in diesen Plänen, ähnlich wie Siemsen es formulierte, vornehmlich nur als sicherheitspolitische Gefahr für Mitteleuropa eine Rolle. Siemsens Überlegungen fußten im Gegensatz zu den herrschenden tradierten Mitteleuropa-Vorstellungen aber nicht auf einer Hegemonie Deutschlands. Denn Siemsen hoffte vielmehr auf einen sozialen und politischen Ausgleich und damit auf demokratische Strukturen durch die Verbindung Deutschlands mit dem Osten Europas, ergänzt durch die skandinavischen Staaten. Diese Fokussierung auf den „Osten Europas“, mit dem Deutschland eine Föderation bilden sollte, resultierte aus Siemsens Deutung des Nationalsozialismus, den sie als aggressive Form des Kapitalismus und der wirtschaftlichen Ausbeutung und damit als grundlegende Gefahr eines angestrebten dauerhaften Friedenszustandes 87 Ebd., S. 8. 88 Ignác Romsics: Regionalismus und Europa-Gedanke im ungarischen politischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Borodziej u. a.: Option Europa, S. 135–165, hier S. 150 f. 89 Ebd., S. 155–159.

2.2 Die wirtschaftliche Einigung

277

definierte. Durch die von ihr formulierte Binnenföderation Europas durch die Zusammenführung Deutschlands mit den Donau- und den Balkanländern propagierte sie nun im Gegensatz zu ihren Ausführungen in der Weimarer Republik explizit eine deutsche Ostbindung. Diese Vorstellung formulierte sie aufgrund ihrer Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse, denen sie im Gegensatz zu ihren Europa-Konzepten in der Weimarer Republik nun eine größere Aufmerksamkeit widmete. Eine Föderation Deutschlands mit den Balkan- und den Donauländern hielt Siemsen deshalb für wichtig, weil in diesen Gebieten überwiegend faschistische Bewegungen bzw. Regime herrschten. Sie glaubte, die wirtschaftlichen Verhältnisse seien hier im Verhältnis besonders unausgewogen. Während Deutschland eine wirtschaftliche Expansion verfolge, seien die Länder im Osten Europas von dieser Expansion unmittelbar betroffen. Aus diesem Grund sollte gerade in diesen Gebieten ein wirtschaftlicher Ausgleich geschaffen werden, um dadurch zugleich demokratische Strukturen zu etablieren. Siemsen hoffte ebenfalls, dadurch die sozialen Ungleichheiten insbesondere im Osten Europas überwinden zu können, die ihrer Ansicht nach aus den kapitalistischen Entwicklungen in Europa entstanden seien und dem Aufbau demokratischer Strukturen entgegenstehen würden. Sie wollte erreichen, dass der Osten Europas „nicht mehr con [sic] Westeuropa als wirtschaftliches Kolonialreich betrachtet werden“ dürfe, was „besonders Nazideutschland in weitgehendem Masse getan“ habe.90 Die von Siemsen in der Weimarer Republik betonte Zusammengehörigkeit der „Herznationen“ Europas, Deutschland und Frankreich, blieb trotz ihrer Ideen eines mitteleuropäischen Zusammenschlusses bestehen. Diese Zusammengehörigkeit wurde nicht wirtschaftlich definiert, sondern kulturell-politisch. Die kulturellen Wurzeln Deutschlands, so wie sie es in der Weimarer Republik formuliert hatte, lagen für Siemsen weiterhin im Westen. Dafür spricht auch ihr ungebrochener Einsatz für eine deutsch-französische Verständigung und ihre Mitgliedschaft in der Deutsch-französischen Union. Deutschland kam in ihren Konzepten vielmehr eine Verbindungsfunktion zwischen West- und Osteuropa zu, eine Idee, die sie ebenfalls schon in den 1920er Jahre entworfen hatte. Dabei blieb die gesellschaftlich tradierte Vorstellung des europäischen Ostens als „Unruheherd“ bestehen,91 der durch Deutschland befriedet werden sollte. In Siemsens Konzepten war dies nur durch ein reformiertes Deutschland und innerhalb einer europäischen Föderation möglich. Siemsen formulierte neben diesen übergeordneten wirtschaftspolitischen Überlegungen auch erste konkretere Ideen, wie die wirtschaftspolitische Neuordnung von statten gehen könnte. Diese Ideen bezogen sich nicht nur auf Europa, sondern auf die gesamte Welt. Sie schrieb ihre Ideen für die von der RUP herausgegebene 90 SozArch, Ar 45.30.1.: Mitschrift des Vortrages von Siemsen: Die Europäische Föderation, vom politischen Gesichtspunkte aus, S. 7. 91 Siemsen selbst bezeichnete den Osten Europas als „Herd von Unruhen“: SozArch, Ar 45.30.1.: Mitschrift des Vortrages von Siemsen: Die Europäische Föderation, vom politischen Gesichtspunkte aus, S. 6. Zum europäischen Osten als „Raum der Unruhe“ siehe Ketelsen: Der koloniale Diskurs, S. 76. Vgl. dazu auch das Kapitel I.3.2.2 Deutschland zwischen West und Ost in dieser Arbeit.

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2 Der Zweite Weltkrieg und ein neues Europa

Sammelschrift Die neue Friedensordnung nieder, in der Pläne für die Schaffung einer weltweiten Friedensordnung diskutiert wurden. Es ist aber davon auszugehen, dass Siemsen ihre Vorschläge im engeren Rahmen eines geeinigten Europas als ebenso gültig betrachtete, da für sie eine Föderation Europas die Vorstufe zu einer Weltföderation war. Siemsen wollte für eine zukünftige Wirtschaftsordnung den Menschen in den Mittelpunkt stellen und verhindern, dass er weiterhin als „Objekt der Wirtschaft“ betrachtet werde. Sie forderte daher eine „planvoll koordinierte Produktion, richtige, gerechte und wirtschaftliche Verteilung der produzierten Güter und Pflege und Schutz der menschlichen Arbeitskraft als wichtigsten Produktionsfaktors [sic]“. Als Verantwortliche für die Einhaltung dieser Bestimmungen benannte Siemsen „die Betriebsräte, die Verbrauchergenossenschaften, die Gewerk­ schaften“.92 Wie in allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens, war es ihr auch im Bereich der Wirtschaft wichtig, dass „[ü]berall der Grundsatz des demokratischen Aufbaus von unten auf“ befolgt werde.93 Sie plädierte deshalb auch für „Betriebs- und Wirtschaftsräte“, die aber nicht allein „Arbeiterinteressen“ vertreten sollten wie die Gewerkschaften, „sondern die Aufgaben der Einzelbetriebe, der Gewerbe und der Gesamtwirtschaft zu koordinieren“ hätten.94 Deswegen sollten neben den politischen Parlamenten auch „demokratische Wirtschaftsparlamente“ entstehen, die aber nicht, wie Siemsen betonte, „Standversammlungen“ sein dürften, die „die Vertreter der Arbeit zugunsten der Wirtschaftsherren […] majorisieren“.95 Vor allem forderte Siemsen aber „ein erdumfassendes Recht auf Arbeit […], welches jedem Menschen die Sicherheit gibt, daß er, sofern er arbeitswillig und arbeitstüchtig ist, überall das Recht hat, seiner Arbeit nachzugehen“.96 Aus diesem Grund müsse ein wirtschaftlicher und damit auch ein sozialer Ausgleich geschaffen werden, der dieses Recht auf Arbeit ermögliche. Nur auf diese Weise könne der „Gefahr des Dumpings, der Schmutzkonkurrenz durch ausgebeutete fremde Arbeit“ Einhalt geboten werden. Sie forderte daher „eine internationale soziale Gesetzgebung, welche ein Mindestmaß von Arbeitsschutz gegen Ausbeutung, Überarbeit und Verelendung“ festschreiben müsse.97 Obwohl Siemsen die wirtschaftliche Neuordnung Europas als vordringliche Aufgabe betrachtete, maß sie dem Erziehungsgedanken weiterhin eine große Wichtigkeit bei. Die wirtschaftliche und politische Einigung Europas sollte ergänzt werden durch eine Erziehung der europäischen Bevölkerung für die europäische Idee, die aus Siemsens Sicht ja gerade durch eine Massenbewegung befördert werden musste. Deshalb formulierte sie auch, es bleibe das „Ziel, […] die Gemeinschaft von Menschen“ zu schaffen, „die aus schmerzlichen Erfahrungen zur Erkenntnis ihrer Verbundenheit gelangt und zur solidarischen, freien Gemeinschaft erzogen 92 93 94 95 96 97

Siemsen: Die soziale Ordnung, S. 36. Ebd., S. 38. Ebd., S. 37. Ebd., S. 38. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32.

2.3 Frauen für Europa und die „Schweizer Europa-Union“

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worden sind“.98 Die „Erkenntnis ihrer Verbundenheit“ wollte Siemsen den Europäern nach Ende des Krieges durch eine groß angelegte internationale Hilfs- und Aufbauarbeit vermitteln. Sie forderte daher schon während des Krieges, es solle eine „Fühlungnahme aller demokratisch, europäisch sozial und friedlich gerichteten Organisationen untereinander“ geben, um diese geforderte „Hilfsbereitschaft“ vorzubereiten. Sie glaubte, dass insbesondere „[d]ie Schweizer Frauenorganisationen“ dafür „in einer einzigartigen Lage“ seien: „Sie sind neben Schweden die einzige europäische Organisation, die nicht in den Weltkonflikt verwickelt waren und daher Zugang zu allen Völkern, Ländern und Regierungen“ hätten.99 Es waren aber nicht nur die Schweizerinnen, sondern letztlich alle Frauen, die Siemsen dazu auffordern wollte, für ein neues Europa zu arbeiten. Im Rahmen ihres Engagements für die Schweizer Europa-Union setzte sie sich für dieses Ziel ein und formulierte Überlegungen, warum gerade ein spezifisch weiblicher Einfluss für ein auf demokratischer Grundlage geeintes Europa unabdingbar sei. 2.3 FRAUEN FÜR EUROPA UND DIE „SCHWEIZER EUROPA-UNION“ Siemsens Einsatz für europapolitische Ideen fand nicht nur in eigenen Schriften oder im Rahmen des Schweizer Zweiges der IFFF statt, sondern auch in einer Europa-Organisation, die seit Kriegsbeginn 1939 einen stetigen Mitgliederzulauf verzeichnen konnte: Die Schweizer Europa-Union. Die Europa-Union. Schweizerische Bewegung für die Einigung Europas, so der offizielle Name der Organisation, entstand 1934 durch den Zusammenschluss einer in Basel tätigen Gruppe namens Jung Europa. Bund für die Vereinigten Staaten von Europa und der Schweizer Sektion der von Coudenhove-Kalergi begründeten Paneuropa-Union. Den präsidialen Vorsitz hatte der Redakteur Hans Bauer (1901–1995) eingenommen. Die Union gehörte zu den wenigen Europa-Organisationen, die seit den 1930er Jahren eine kontinuierliche Arbeit für die europäische Idee verfolgen konnten, da sie durch den neutralen Status der Schweiz nicht wie andere Verbände in der Illegalität agieren musste.100 Die Europa-Union bemühte sich, insbesondere Frauen für ihre europapolitische Arbeit zu gewinnen. „Ein Neubau Europas ist ohne die aktive Mitwirkung der

98 Ebd., S. 39. 99 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Thesenpapier von Siemsen mit dem Titel: Pro Memoria. Ueber [sic] die europäischen Nachkriegsprobleme, S. 3. Abschrift des Nachrichtendienstes der Kantonspolizei Zürich als Anhang einer „Meldung“ vom 23. September 1942. 100 Lipgens: Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik. Erster Teil, S. 119 f. Das Gründungsdatum wird ebd. auf das Jahr 1933 datiert. Zeitgenössische Quellen verweisen allerdings auf das Jahr 1934. Siehe etwa: Hans Bauer: Von der schweizerischen zur europäischen Eidgenossenschaft, in: ders. und H.[einrich] G.[eorg] Ritzel: Von der eidgenössischen zur europäischen Foederation [sic], Zürich und New York [1940], S. 15–74. Vgl. auch Lipgens: Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen, S. 345. Hier wird ebenfalls 1934 als Gründungsjahr genannt.

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europäischen Frauen und Mütter nicht denkbar“,101 betonte der sozialdemokratische Emigrant Heinrich Ritzel, der zu den führenden Köpfen der Organisation zählte. Im Rahmen der Europa-Union setzte sich Siemsen seit Beginn der 1940er Jahre vor allem dafür ein, im Sinne dieses Credos Frauen für den Aufbau eines neuen Europas zu gewinnen. Die Europa-Union bot ihr aber nicht allein wegen der grundsätzlichen Offenheit für Frauen und frauenpolitische Themen ein geeignetes Forum. Die programmatische Ausrichtung der Organisation entsprach in vielen Bereichen europapolitischen Forderungen, die auch Siemsen vertrat und durchzusetzen hoffte. Die Europa-Union bekannte sich beispielsweise zu einer föderalen Einigung Europas, für die die Schweizer Eidgenossenschaft als Vorbild dienen sollte. Ritzel hob etwa die Schiedsgerichtsbarkeit hervor, durch die die Schweiz ihre innenpolitischen Probleme gelöst habe. Sie sei „frei von egoistischem Machtstreben“ und kenne „keine Trennung nach ‚Rassen‘ oder nach Sprachen oder Glaubensbekenntnissen“. Er betonte, „Menschen verschiedenster Stämme bilden eine Einheit, vier Landessprachen bilden eine Harmonie“.102 Der von Siemsen propagierte Gedanke von der Vielfalt in der Einheit war somit auch innerhalb der Europa-Union ein Kernelement, das für die zukünftige Einheit Europas aus der Schweizer Eidgenossenschaft abgeleitet wurde. Es entsprach ebenso Siemsen Ordnungsvorstellungen, dass der Gedanke der europäischen Einigung nicht allein als „mechanisch-organisatorische“ Aufgabe zu betrachten sei, sondern gerade auch als „eine geistige Aufgabe“. Hans Bauer betonte etwa, „Erziehung und Organisation, bessere Menschen und bessere Ordnung der menschlichen Einrichtungen bedingen sich wechselseitig“, so dass innerhalb der Europa-Union den Aspekten der Erziehung und Aufklärung für den europäischen, föderalistischen Gedanken eine zentrale Rolle zukam.103 Die Europa-Union verstand sich als „Ausdruck einer Weltanschauung, die sich auf die entscheidenden Werte der abendländischen Kultur“ bezog, nämlich „auf die antike Idee der Individualfreiheit und auf die christliche Idee der Menschenliebe“.104 In ihren Vorträgen hatte auch Siemsen das Argument der christlichen Botschaft als Begründung für einen Zusammenschluss Europas angeführt. Wie an anderer Stelle noch gezeigt werden soll, versuchte sie die von Bauer hervorgehobene „abendländische Kultur“ Europas in ihrer in den 1940er Jahren verfassten deutsch-europäischen Literaturgeschichte durch geschichtliche Rückgriffe zu belegen und politische Forderungen für die Zukunft Europas daraus abzuleiten.105 Im Winter 1939/1940 erarbeitete ein ‚Aktionsausschuß‘ Leitsätze „auf politischem, kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet“, die im Februar 1940 als offiziel101 H.[einrich] G.[eorg] Ritzel: Wir müssen nicht untergehen!, in: Bauer und ders: Von der eidgenössischen zur europäischen Foederation [sic], S. 81–157, hier S. 156. 102 Ebd., S. 112. 103 Bauer: Von der schweizerischen zur europäischen Eidgenossenschaft, S. 24. Vgl. auch: Lipgens: Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik. Erster Teil, S. 124. 104 Bauer: Von der schweizerischen zur europäischen Eidgenossenschaft, S. 24 f. 105 Vgl. weiter unten das Kapitel II.3.1 Anna Siemsens deutsch-europäische Literaturgeschichte in dieser Arbeit.

2.3 Frauen für Europa und die „Schweizer Europa-Union“

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les Programm der Europa-Union verabschiedet wurden.106 Die Leitsätze sahen einen auf demokratischen Prinzipien fußenden europäischen Bundesstaat mit weitestgehender Aufgabe einzelstaatlicher Souveränität vor. Gefordert wurde Gewaltenteilung und Schiedsgerichtsbarkeit. Es sollte ein Bundesparlament sowie eine Bundesregierung geben, die aus Bundesräten zu bestehen habe. Diese Bundesräte sollten vom Bundesparlament auf Zeit zu wählen sein. Das Parlament sollte sich aus zwei Kammern zusammensetzen, von denen die Abgeordnetenkammer von der europäischen Bevölkerung gewählt werden würde, der Senat hingegen von den einzelnen Landesregierungen. Weiterhin wurde eine einheitliche Währung und Zollfreiheit gefordert. Die Richtlinien sahen auch eine Reform des Bildungs- und Erziehungswesens vor, in der Erziehungsgrundsätze für die demokratisch-europäische Idee zu verankern seien. Dabei wurde besonderes Gewicht auf die Fächer „Naturkunde und Geschichte“ gelegt. Ferner sollten „Kulturakademien“ errichtet werden, die der „Pflege des Kulturgedankens auf religiös-humanistischer und geisteswissenschaftlicher Grundlage“ zu dienen hätten.107 Sozialpolitische Forderungen wurden ebenfalls erhoben wie etwa Kranken-, Pflege- oder Altersversicherungen. In der Verfassung sollten schließlich alle Bürger und Bürgerinnen unabhängig von Sprache, Herkommen und Geschlecht gleichgestellt sein.108 Abgesehen von Erziehungs- und Aufklärungsabsichten für die europäische Idee erarbeitete man in der Europa-Union aber keine „politische Strategie, wie die europäischen Staaten zum Akt der Föderierung gebracht werden könnten“.109 Die Ähnlichkeiten, die die skizzierten europapolitischen Ordnungsvorstellungen der Europa-Union mit denen von Siemsen aufweisen, lassen vermuten, dass sie bereits frühzeitig Kontakte zu dieser Organisation gesucht hatte. Aus den vorliegenden Quellen ist aber zu entnehmen, dass sie erst nach Kriegsbeginn 1939 begann, sich verstärkt im Rahmen der Europa-Union zu engagieren. Vermutlich war es Ritzel, dem es gelang, Siemsen für eine Mitarbeit zu gewinnen. Im Frühjahr 1939 wurde er Generalsekretär der Europa-Union, ein Posten, den er ehrenamtlich übernommen hatte.110 Nachdem Ritzel im Juni 1933 die Flucht aus dem KZ in Dachau gelungen war, kam er auf Umwegen über das Saargebiet in die Schweiz. Im Saargebiet, das im Sommer 1933 noch vom Völkerbund verwaltet wurde, arbeitete Ritzel zunächst bei der „Politischen Polizei“ und kümmerte sich um die Emigrantenbetreuung. Im Januar 1935, nach der Wiedereingliederung des Saargebietes ins Deutsche Reich, floh Ritzel mit seiner Familie nach Basel, wo er mehr schlecht als 106 Lipgens: Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik. Erster Teil, S. 119. Die Leitsätze sind wieder abgedruckt in ders.: Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen, S. 345– 351. 107 „Leitsätze für ein neues Europa“ der Schweizer Europa-Union, zusammengefasst und zit. nach ebd., bes. S. 348 f. 108 Ebd., S. 348. 109 Lipgens: Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik. Erster Teil, S. 123 f. Zitat auf S. 123. 110 Axel Ulrich: Heinrich Georg Ritzel. Vom antifaschistischen Abwehrkampf im Volksstaat Hessen zu den demokratischen Neuordnungsdiskussionen im Schweizer Exil, in: Renate KniggeTesche und ders. (Hg.): Verfolgung und Widerstand in Hessen 1933–1945, Frankfurt am Main 1996, S. 358–373, hier S. 363.

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recht durch publizistische Tätigkeiten den Lebensunterhalt bestritt.111 Dennoch gelang es ihm, eine rege politische Tätigkeit zu entfalten. Mit „fast grenzenloser Betriebsamkeit und Energie“ führte er eine Reihe von politischen Emigrantinnen und Emigranten in der Schweiz zusammen.112 Ritzel unterhielt etwa Kontakt zu dem ehemaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Preußen, Otto Braun, der ebenfalls in der Schweiz im Exil lebte. Ritzel engagierte sich auch in besonderer Weise für eine Mitarbeit von Frauen in der Europa-Union. In seinen Schriften lud er sie in seinem Aufruf „An die Frauen und Mütter!“ explizit dazu ein: „Die Europäerin muß die Fackelträgerin in eine neue, in eine bessere Zukunft werden! Das Heil der Menschheit hängt nicht zuletzt von ihr und der bewußten Gestaltung ihres Willens ab. […] Sie, die unter Schmerzen ihre Kinder gebärt, kann nicht wollen, daß sie dem Verhängnis, der Not, dem Elend, dem Kriegstod entgegengehen. Sie, die die irdische Verkörperung der Liebe ist, kann nicht wollen, daß Europa in einem Meer von Blut und Tränen untergeht. […] Aus ihnen [den Europäerinnen, MvB] muß die Kraft kommen, die den Reitern der Apokalypse verwehrt, auch künftig Sieger zu sein.“113

Frauen erschienen in Ritzels Argumentation als Verkörperung der christlichen Menschenliebe und damit als Verkörperung der Ordnungsvorstellungen, die dem Programm der Europa-Union zugrunde lagen. Ritzel begründete den politischen Einsatz von Frauen für ein neues Europa mit ihren Eigenschaften der Friedfertigkeit und Mütterlichkeit, die sie dazu befähige, diese vermeintlich naturgegebenen Eigenschaften auch politisch einzusetzen. Eine ähnliche Argumentation war schon in den 1920er Jahren in der Paneuropa-Union vorgebracht worden, in der die aktive Einbeziehung von Frauen in die Europa-Politik erstmals gefordert worden war. Coudenhove-Kalergi hatte eine Mitarbeit von Frauen in seiner Paneuropa-Union von Beginn an für wünschenswert erachtet. Eine Reihe bekannter Frauen wie die dänische Schriftstellerin Karin Michaelis (1872–1950), die Reichstagsabgeordneten Adele Schreiber-Krieger (1872–1957) und Anita Augspurg gehörten etwa zu jenen Rednerinnen, die auf den Paneuropa-Kongressen seit Mitte der 1920er Jahre sprachen. Dabei standen Themen von der angenommenen Friedensfähigkeit von Frauen und Müttern im Mittelpunkt sowie Fürsorgetätigkeiten, die Frauen in einem neuen Europa zu übernehmen hätten.114 Die Beiträge von Frauen bezogen sich, wie diese Beispiele zeigen, zumeist auf die sozial- und kulturpolitische Ebene eines zukünftigen Paneuropas und nicht auf außenpolitische oder wirtschaftliche Fragestellungen. Auch in den einzelnen Ländersektionen der Paneuropa-Union waren kaum Frauen vertreten. Das Gleiche gilt für die Mitarbeit bei der organisationseigenen Zeitschrift Paneuropa.115 Diese Schwerpunktsetzung auf kultur- und wohlfahrtspolitische Themen resultierte aus 111 Ebd., S. 362 f. 112 Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1977, S. 805. 113 Ritzel: Wir müssen nicht untergehen!, S. 156 f. 114 Prettenthaler-Ziegerhofer: Botschafter Europas, S. 343. 115 Ebd., S. 344 f.

2.3 Frauen für Europa und die „Schweizer Europa-Union“

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der geschlechtsspezifischen Zuschreibung bestimmter Tätigkeits- und Politikfelder für Frauen, die seit dem 19. Jahrhundert in eben jenen Wohlfahrts-, Fürsorge- und Erziehungsbereichen tätig gewesen waren.116 Trotz der grundsätzlichen Offenheit gegenüber einer Mitarbeit von Frauen waren in der Paneuropa-Union geschlechterstereotype Vorurteile zu Tage getreten, mit denen auch in anderen Diskussionszusammenhängen auf den erweiterten Eintritt der Frauen in Politik und Gesellschaft reagiert worden war. So wurde etwa die Gründung einer speziellen Frauenliga im Rahmen der Paneuropa-Union abgelehnt, weil man dort einen Prestigeverlust der politischen Arbeit für Paneuropa befürchtete.117 Wie viele Frauen sich in der Schweizer Europa-Union engagierten, geht aus den vorliegenden Quellen und der Forschungsliteratur nicht hervor. In dem Sammelband Kampf um Europa war Siemsen mit ihrem Aufsatz über „Die Frau im neuen Europa“ jedenfalls als einzige weibliche Mitarbeiterin vertreten.118 Auch auf dem von der Europa-Union veranstalteten Vortragszyklus, der unter dem Motto „Das Problem der Freiheit“ im April 1941 stattfand, war sie die einzige Frau unter fünf Referenten. Neben dem erwähnten Sammelbandbeitrag formulierte Siemsen vor allem in ihrem Vortrag zum Thema „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“119 ihre Vorstellungen darüber, warum gerade Frauen für den Aufbau eines zukünftigen Europas unentbehrlich seien. In ihren frauenpolitischen Beiträgen für die Europa-Union wurden ebenfalls keine wirtschaftlichen oder außenpolitischen Fragestellungen behandelt. Vielmehr stand, ähnlich wie bei der Paneuropa-Union und wie es auch Ritzel formulierte hatte, ein Frauenbild im Mittelpunkt, das durch friedliebende und fürsorgliche Eigenschaften definiert wurde und das Siemsen argumentativ anführte, um eine politische Beteiligung von Frauen an europäischer Politik zu fördern und zu legitimieren. 2.3.1 Eine Politik der „Mütterlichkeit“ Siemsens verstärkte Auseinandersetzung mit frauenpolitischen Themen in den Jahren ihres Exils resultierte, wie eingangs schon betont worden ist, vermutlich vorwiegend aus ihrer eigenen rechtlichen Situation in der Schweiz, durch die ihre Handlungsspielräume eingeschränkt waren. Zudem wurde sie trotz ihrer Heirat weiterhin als Deutsche und Sozialistin mit den skizzierten Vorurteilen wahrgenom116 Vgl. dazu beispielsweise Christiane Eifert: Frauenpolitik und Wohlfahrtspflege. Zur Geschichte der sozialdemokratischen „Arbeiterwohlfahrt“ (Geschichte und Geschlechter, Bd. 5), Frankfurt am Main 1993 und Iris Schröder: Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914 (Geschichte und Geschlechter, Bd. 36), Frankfurt am Main 2001. 117 Prettenthaler-Ziegerhofer: Botschafter Europas, S. 345. 118 Anna Siemsen-Vollenweider: Die Frau im neuen Europa, in: Hans Bauer und H.[einrich] G.[eorg] Ritzel: Kampf um Europa. Von der Schweiz aus gesehen, Zürich und New York [1945], S. 189–207. 119 Siehe dazu AdsD, 1/HRAB000363 (Europa-Union/Vortragsreihe „Das Problem der Freiheit“): Mitschrift von Siemsens Vortrag „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“ am 9. April 1941 sowie ihr Thesenpapier zu diesem Vortrag ebd.

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men, was eine Verbreitung ihrer politischen Ordnungsvorstellungen erschwert haben wird. Hinzu kam ferner, dass Schweizer Frauen allgemein durch die herrschenden Geschlechterzuschreibungen von der öffentlichen Sphäre weitestgehend ausgeschlossen wurden. In der Forschung wurde betont, „der fehlende Status als Staatsbürgerinnen“ hätte sich „[f]ür die weibliche Interessenvertretung und -durchsetzung […] als besonderes Handicap“ erwiesen. Den Schweizer Frauen sei es nicht möglich gewesen, „über eine zielgerichtete Interessenpolitik und günstige Mehrheitsverhältnisse ihre Vorstellungen durchzusetzen“, weil „Anstrengungen zur Erweiterung des weiblichen Handlungsspielraums in der Regel schnell auf die von der bipolaren Geschlechterordnung vorgezeichneten Grenzen“ gestoßen seien.120 Zu diesen vorgezeichneten Grenzen zählten anhaltende Widerstände weiter Teile der Gesellschaft gegen eine politische Betätigung von Frauen sowie gegen weibliche Erwerbsarbeit. Siemsen konnte im April 1936 beispielsweise berichten, dass den Lehrerinnen, die im Rahmen des Schweizer Lehrerinnenvereins die Tagung „Erziehung zum Frieden“ organisiert hatten, „Misstrauen“ entgegengebracht worden sei. Es habe „nicht an unfreundlichen Kommentaren darüber gefehlt, dass sie sich in Gebiete des politischen Kampfes gewagt hätten, die von der Schule und ihren Erziehungsaufgaben weit ablägen“. Sie betonte: „Man hat vereinzelt sogar eine Gefahr für die schweizerische Erziehung darin finden wollen.“121 Die „Feindseligkeit gegenüber der weiblichen Erwerbsarbeit“ zeigte sich in der Zwischenkriegszeit in der Schweiz seit etwa 1921 am zunehmenden „Ausschluss von Frauen aus dem Arbeitsmarkt“ oder der „Eingrenzung auf wenig prestigereiche und schlecht entlöhnte Arbeitsplätze“.122 Eine vergleichbare Situation war auch in Deutschland entstanden. Seit Ende 1918 wurden Maßnahmen von Seiten der Betriebe und des Staates ergriffen, um Frauen von den ehemals Männern vorbehaltenen Berufen zurückzudrängen. Auf diese Weise sollten zurückgekehrten Kriegsteilnehmern wieder Arbeitsmöglichkeiten verschafft werden. Insbesondere verheiratete Frauen waren von den Entlassungen betroffen, da sie als nicht erwerbsbedürftig galten. Gesellschaftlich verankerte Geschlechternormen, wie das Modell des männlichen Ernährers, führten zu Verordnungen und Gesetzen, die ein immer schärferes Vorgehen gegen die Frauenarbeit zur Folge hatten.123 Siemsen hatte damals den „Konkurrenzkampf der Geschlechter“124 beklagt, der aus einem zunehmenden Eintritt der Frauen in die Arbeitswelt resultiert und aus den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entstanden sei. Nachdem Siemsen bald nach dem Ersten Weltkrieg festgestellt hatte, dass durch die politische Gleichstellung der Frauen mit den Männern keine von ihr er120 Studer: Nachgedanken, S. 14. 121 Siemsen: Erziehung zum Frieden, S. 252. 122 Studer: Nachgedanken, S. 14 f. „Zwischen 1920 und 1940 reduzierte sich die weibliche Erwerbsquote der 15- bis 64jährigen von 44,6 auf 35,5 Prozent.“ Ebd., S. 17. Siehe auch Mesmer: Schweiz, S. 110. 123 Siehe dazu: Susanne Rouette: Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg (Geschichte und Geschlechter, Bd. 6), Frankfurt am Main und New York 1993. 124 Siemsen: Die Sozialdemokratie im Kampf, S. 808.

2.3 Frauen für Europa und die „Schweizer Europa-Union“

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hoffte Gesellschaftsveränderung eingetreten war, verlagerte sich ihr Argumentationsschwerpunkt von einem Plädoyer an die Frauen, ihre politischen Rechte einzusetzen, hin zu einer Forderung, den mütterlichen Einfluss zum Wohle der Gesellschaft umfassend zu verankern. Diese Argumentationsstrategie war sowohl in der bürgerlichen als auch in der sozialistischen Frauenbewegung der Weimarer Zeit anschlussfähig. Nachdem 1918 eine zentrale Forderung der sozialistischen Frauenbewegung des Kaiserreichs, die politische Gleichberechtigung der Frauen, formal erreicht war, gewann das Argument von der „Erweiterung des weiblichen Kultureinflusses“ auch bei Sozialistinnen zunehmend an Einfluss.125 Ausgangspunkt von Siemsens Argumentation war die Erkenntnis, Frauen seien trotz ihrer politischen Rechte auf gesellschaftlicher Ebene immer noch nicht gleichberechtigt. Dies könne nur erreicht werden, wenn die Mutterschaft als die „gewaltige gesellschaftliche Aufgabe“ von Frauen endlich die ihr angemessene Würdigung erhalte. Siemsen sprach hier nicht nur von der biologischen Mutterschaft allein, sondern vor allem von den mütterlichen Eigenschaften, die Frauen aufgrund ihrer biologischen Fähigkeiten vermeintlich gegeben seien und die nun vom Bereich der Familie in die Gesellschaft hineingetragen werden sollten: „Die Frau zur Mutterschaft befreien: das umfaßt eigentlich alle Befreiungs- und Gleichheitsprogramme. […] Es heißt nicht den Frauen gleiche Aufgaben und gleiche Rechte geben[,] sondern ihr Recht auf ihre besondere Aufgabe ihr sichern. Damit ist nicht irgendein Frauenrecht verneint. Ich meine nur, daß alle politische Gleichberechtigung, alle Erziehungsreform, alle Zulassung zu Studien, Ämtern, Berufen nicht verfängt, solange die Kernfrage nicht gelöst ist: der Frau ihr Recht auf Mutterschaft zu sichern. Geschieht das, so fällt alle Gefahr der ‚Gleichmacherei‘. Die Frau wird sich dann ihre Aufgabe schon richtig suchen. Es fällt aber auch all der Druck, der heute die Frau trotz der formalen Gleichberechtigung entwürdigt und entstellt.“126

Mit dem Hinweis, Frauen sollten die ihrem weiblichen Charakter entsprechenden Aufgaben übernehmen, formulierte sie Grundannahmen, die schon der Großteil der bürgerlichen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert vertreten hatte: Im Rückgriff auf das Konzept der „Geistigen Mütterlichkeit“ wurde eine grundlegende Reform der Gesellschaft gefordert, die aber nicht durch eine Angleichung an männliche Normen stattfinden sollte, sondern eben nur durch die Aktivierung und den Einfluss typisch weiblicher „Potentiale“.127 Um eine umfassende Anerkennung und Verankerung des typisch weiblichen Einflusses auf Politik und Gesellschaft gewährleisten zu können, forderte Siemsen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges das volle europäische Bürgerrecht für Frauen in einem zukünftigen Europa. Erziehungs- und Fürsorgetätigkeiten sollten dabei die zentralen weiblichen Aufgabengebiete darstellen, die Siemsen zum maßgeblichen politischen Faktor für eine neue Nachkriegsordnung erhob. Aufgrund ihres spezifischen Geschlechtscharakters waren Frauen für Siemsen besonders prädestiniert zu erziehen, was aus ihrer Sicht immer die wichtigste politische Tätigkeit gewesen war. Siemsen behauptete, „daß bei einer gesunden und vernünftigen Erzie125 Hagemann: Frauenalltag, S. 529. 126 Siemsen: Die Sozialdemokratie im Kampf, S. 809. 127 Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 84.

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hung aller die fürchterliche Entartung, die uns in die Katastrophe des Faschismus und Nazismus führte, und die Dummheit und Unwissenheit, die sich verführen ließ, ganz unmöglich gewesen wäre“.128 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Siemsen „Weiblichkeit als politisches Argument“129 nutzte, um einen erweiterten Handlungsspielraum für Frauen einzufordern. Frauen sollten sich aktiv an der Errichtung einer neuen europäischen Ordnung beteiligen. In diesem Zusammenhang machte Siemsen deutlich, dass ohne Frauen, denen sie eine besondere Demokratie- und Friedensfähigkeit zuschrieb, eine neue europäische Nachkriegsordnung nicht bestehen könne. In der Forschung ist am Beispiel von Vertreterinnen der Frauen- und Friedensbewegung gezeigt worden, „wie Friedensbereitschaft und Friedensfähigkeit mit Weiblichkeit konnotiert zu einer Legitimationsstrategie für politisches Handeln ausformuliert wurde, während der Anspruch auf Repräsentation von Frauen einen Begründungszusammenhang für eine deutsche Nachkriegsdemokratie darstellen sollte.“130

Diese These, die sich auf eine deutsche Nachkriegsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg bezieht, soll im Folgenden bei der Analyse von Siemsens Forderungen nach weiblicher Mitarbeit an der europäischen Nachkriegsordnung zugrunde gelegt werden.131 Siemsen argumentierte in ihren Ausführungen mit einem spezifisch weiblichen Geschlechtscharakter, der sich von dem der Männer unterschied, um Frauen ihre „Pflicht, an den gesellschaftlichen und politischen Aufgaben teilzu­ nehmen“,132 vor Augen zu führen. Zugleich nutzte sie diese Argumentationsstrategie aber auch, um eine gleichwertige Mitarbeit von Frauen für ein neues Europa zu legitimieren und die volle politische Gleichberechtigung zu fordern. Siemsen tat dies auf drei Ebenen. Sie versuchte zu zeigen, warum das Wesen der Frau per se als demokratisch zu bewerten sei. Daraus leitete sie eine quasi-natürliche Legitimation für die Mitarbeit von Frauen an dem Aufbau eines demokratischen Europas ab. In einem zweiten Schritt begründete sie, warum sie gerade die Tätigkeitsfelder der Erziehung, Pflege und Fürsorge als zentral für den Aufbau eines neuen Europas erachtete. Schließlich begründete Siemsen ihre Forderung nach weiblicher Mitarbeit aufgrund der besonderen Kriegserfahrung, die Frauen im Gegensatz zu Männern gemacht hätten.

128 Anna Siemsen: Frau und Sozialismus, Arbon o. J. [ca. 1946], S. 33 f. 129 Marianne Zepp: Weiblichkeit als politisches Argument. Frieden und Demokratie im Übergang zu einer deutschen Nachkriegsgesellschaft, in: Jost Dülffer und Gottfried Niedhart (Hg.): Frieden durch Demokratie? Genese, Wirkung und Kritik eines Deutungsmusters (Frieden und Krieg, Bd. 15), Essen 2011, S. 187–205. 130 Ebd., S. 187 f. 131 Zepp beruft sich in ihren Ausführungen u. a. auch auf den Aufsatz von Siemsen: Die Frau im neuen Europa: ebd., S. 189. 132 Siemsen: Frau und Sozialismus, S. 15.

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2.3.2 Die demokratische Aufgabe Wie aus einigen Vortragsmanuskripten bzw. Mitschriften von Vorträgen durch Angaben oder die Länge des Textes hervorgeht, konnte Siemsen über Themen, die ihr am Herzen lagen, manches Mal eine Stunde und länger sprechen. So auch in diesem Fall, wo die Mitschrift ihres Vortrages über den Freiheitsgedanken „vom Standpunkt der Frauen“ in der zweiten Hälfte durch „Übermüdung! des Stenographen“ unterbrochen wurde.133 Siemsen lieferte im Vorfeld ihres Vortrages auf dem bereits erwähnten Vortragszyklus „Das Problem der Freiheit“ im April 1941 ein Thesenpapier ab, das sie in ihrem Vortrag ausführlich darlegte. „[D]ie Teilnahme der Frauen an den gesellschaftlichen Angelegenheiten“134 begründete sie mit der „Rettung der menschlichen Gesellschaft“ und mit der „Rettung ihrer eigenen menschlichen Würde“.135 Freiheit, der zentrale Begriff der Vortragsreihe, definierte Siemsen in ihrem Thesenpapier als „Recht und Pflicht des Menschen […] selbständig über sich und sein Handeln zu bestimmen kraft seiner sittlichen Autonomie“. Deshalb habe jeder Mensch sowohl das Recht als auch die Pflicht „zur tätigen, verantwortlichen Mitwirkung an gesellschaftlichen Aufgaben“. Die spezifische Mitwirkung der Frau erkannte Siemsen in der „Tatsache der Mutterschaft“, die sie aber nicht nur als „physische Anlage“ definieren wollte, sondern auch als „bewusstseinbestimmend [sic]“. Aufgaben der Frauen müssten demnach „Lebensbewahrung, Pflege, Erziehung“ sein.136 Als Voraussetzung für die Mitwirkung an gesellschaftlichen Aufgaben betrachtete Siemsen die Gewährung „der Menschenrechte“, die sie als „Freiheit der Ueberzeugung, des Glaubens, der Meinungsäusserung[,] der Organisation“ und als „wirtschaftliche Unabhängigkeit“ beschrieb.137 Gerade die Frauen seien verpflichtet, aufgrund ihrer Eigenschaften als „Hüterin und Pflegerin menschlichen Lebens“ für die Umsetzung dieser Grundrechte zu arbeiten. Siemsen glaubte auch, Frauen müssten ein eigenes geschlechtsspezifisches Interesse an diesen Grundrechten haben, weil sie selbst in den zeitgenössischen Verhältnisse in besonderem Maße von dem „Verlust der Freiheit und der daraus resultierenden Rechtlosigkeit und Friedlosigkeit“ betroffen seien.138 Siemsens Ausführungen implizierten, der Krieg stelle nicht nur eine Negierung der Grundrechte für alle Menschen dar, sondern betreffe die Frauen in höherem Maße als die Männer, da durch den zeitgenössischen Kriegszustand gerade Recht und Pflicht der Frauen auf Etablierung des mütterlichen Einflusses unterbunden werde. Sie glaubte deshalb, „[i]n allen Völkern, welche sich e[r]folgreich zur Verteidigung ihrer Freiheit sammeln“, auch „Frauen an erster

133 AdsD, 1/HRAB000363: Mitschrift des Vortrages von Siemsen „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“ in Basel am 9. April 1941. Siehe hier die zitierte Anmerkung auf S. 5. 134 Ebd.: Thesenpapier von Siemsen zu „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“, S. 1. 135 Ebd., S. 3. 136 Ebd., S. 1. 137 Ebd., S. 1 f. 138 Ebd., S. 2.

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Stelle“ etwa als Regierungsvertreterinnen, Journalistinnen oder als humanitäre Helferinnen zu finden. Siemsen forderte die Frauen auf, für eine „europäische Union innerhalb einer Weltunion“ zu arbeiten, da nur so „Friede durch Recht und in organisierter Freiheit“ bestehen könne. Eine Verwirklichung der Ziele, die die Schweizer Europa-Union verfolge, sei gerade deswegen auch eine Aufgabe der Frauen, weil sie nur in einem dauerhaften Friedenszustand ihr Recht auf Ausübung des mütterlichen Einflusses wahrnehmen könnten. Zugleich betonte Siemsen, es sei Pflicht der Frauen, auf diese Weise „Krieg in Permanenz und als Folge davon Chaos, Ver[ar]mung und kulturelle Katastrophe“ zu verhindern.139 Der von Siemsen propagierte mütterliche Einfluss sollte also als Wegbereiter für eine neue europäische Nachkriegsordnung dienen und als Folge davon den Frauen ihr Recht auf gleichwertige Mitarbeit in Politik und Gesellschaft sichern. Siemsen sah dabei nur in einem Zusammenschluss Europas ihre zentrale politische Forderung, die Etablierung eines dauerhaften Friedens, als gewährleistet an. Daher konnte die Mitarbeit von Frauen in Politik und Gesellschaft auch nicht mehr nur auf den nationalen Rahmen beschränkt bleiben, sondern musste sich in Siemsens Argumentation auf die internationale Ebene erstrecken. In ihrem Vortrag, den sie am 9. April 1941 im Bernoullianum in Basel hielt, konzentrierte sich Siemsen weniger auf den Begriff der Freiheit, als auf den Begriff der Demokratie und führte aus, dass Frauen die eigentlichen Träger des demokratischen Gedankens seien. „[F]reiheitlich“ setzte Siemsen zunächst mit „europäisch und demokratisch“ gleich.140 Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt wurde, verstand sie unter Demokratie Herrschaftslosigkeit und Gleichheit, Aspekte, die sie mit ihrem Gemeinschaftsbegriff umschrieben hatte. Als demokratisch bewertete sie nun auch den Kern Europas, „das eigentliche Europa“. Siemsen betonte: „Es ist eine Besonderheit der europäischen Entwicklung, dass sie immer und immer wieder hier einsetzte. Im Anfang dessen, was wir europäische Entwicklung, Geschichte, nennen können. Hier ist nicht Jude noch Christ, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib. Damit stehen wir, wenn wir das als das eigentliche Europa bezeichnen, in einem völligen Gegensatz vor einer sehr mächtigen Moderichtung der heutigen Zeit, die abstrakt behauptet: Es gibt keine Menschheit, sondern deutlich unterschiedene Rassen, deutliche Anlagen, deutliche Geschlechter […].“141

Siemsen führte hier nicht aus, wo sie den Beginn der europäischen Geschichte ansetzen wollte oder wo und zu welcher Zeit eine solche beschriebene Gleichheit der Menschen überhaupt bestanden hätte. Diese Konstruktion eines idealisierten europäischen Urzustandes diente dazu, eine politische Utopie zu formulieren, die sich Siemsen für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg erhoffte. Dabei griff sie auf argumentative Strategien zurück, die sie schon in der Weimarer Republik angeführt hatte. In ihrem Artikel Ich suche Europa in der Frankfurter Zeitung hatte sie ganz 139 Ebd., S. 3. 140 AdsD, 1/HRAB000363: Mitschrift des Vortrages „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“ von Siemsen in Basel am 9. April 1941, S. 2. 141 Ebd., S. 3.

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ähnliche Ausführungen formuliert. Hier hatte sie ebenfalls eine europäische Entwicklungsgeschichte konzipiert, die sie damals als „revolutionär“ beschrieb und die zur Demokratie führen werde.142 Schien in der Weimarer Republik noch der Arbeiter der Träger dieser europäischen Entwicklung zu sein, so waren es nun 1941 die Frauen, die Siemsen zu Trägern der Demokratie erklärte. Demokratie bedeutete für Siemsen auch Menschlichkeit und „Menschheit“. In der Demokratie sollten zwar aus ihrer Sicht „Mann und Frau vereint“ sein und dadurch eine „Einheit in Europa“ bilden,143 aber mehr als der Mann würde die Frau „vor allen Dingen die Menschen sehen, wie sie sind“. Siemsen betonte, deswegen seien die Frauen „vor allen Dingen Demokraten“. Damit schuf Siemsen selbst die von ihr zuvor kritisierte Unterscheidung der Geschlechter. Während sie den Männern partikulare Interessen und „Schöpferwille[n]“ zuschrieb, der die Welt „nicht selten um die Gestalt gebracht“ habe, charakterisierte sie die Frauen durch ihre „tiefen Instinkte“, den „Fraueninstinkt“ und durch ein „weibliche[s] Bewusstsein“144 als einheitliche Gruppe, die eine gemeinsame, vermeintlich naturgegebene Aufgabe einte: „Die wirkliche Frau, die diese tiefen Instinkte […] zu schützen, zu pflegen und zu stärken, zu erziehen für die Zukunft [zuließe, MvB], diese Frau weiss etwas, was sie zur Demokratin macht. Sie weiss, dass in jedem Menschen etwas Unverfälschtes, Unersetzliches, Heiliges ist.“145 Siemsen glaubte also, Frauen würden durch ihren spezifischen Geschlechtscharakter das Wissen um die Gleichheit aller Menschen in sich tragen. Sie wüssten, „wie unermesslich gross der Verlust des Menschen ist“ und hätten daher die „Verpflichtung“, diese „tiefste weibliche Erfahrung zur Ausführung zu bringen und zu verwirklichen“. Das „wirkliche Europa“ und die „wirkliche Frau“, zwei bereits zitierte Beschreibungen, die Siemsen in ihrem Vortrag anführte, wurden in eins gesetzt. Damit umschrieb sie auch die zukünftige politische Aufgabe der Frauen: Die Verwirklichung eines demokratischen Europas. Die politische Aufgabe der Frauen müsste es sein, so hob sie hervor, die „künstlichen Gegensätze“ zwischen den Menschen überwinden zu helfen, denn das sei „die eigentliche Grundlage für unsere Demokratie“.146 Siemsen erklärte in ihrem Vortrag, um demokratische Politik ausführen zu können, müssten Frauen „Selbständigkeit“ erlangen.147 Diese Forderung, die sie schon in den 1920er Jahren formuliert hatte, wurde im Vortrag nicht näher erläutert. Siemsen meinte wohl damit, so wie sie es in ihrem Thesenpapier geschrieben hatte, „Recht und Pflicht des Menschen […] selbständig über sich und sein Handeln zu bestimmen kraft seiner sittlichen Autonomie“.148 In der Weimarer Republik hatte 142 Siehe dazu Kapitel I.2.3.2 Das „demokratische“ Europa in dieser Arbeit. 143 AdsD, 1/HRAB000363: Mitschrift des Vortrages von Siemsen „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“ in Basel am 9. April 1941, S. 2. Ebd., S. 4. Hervorhebung im Original. 144 Ebd., S. 5. Hervorhebung im Original. 145 Ebd., S. 5 146 Ebd., S. 6. 147 Ebd., S. 6 148 AdsD, 1/HRAB000363: Thesenpapier von Siemsen zu „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“, S. 1.

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Siemsen die vermeintlich fehlende „Selbständigkeit“ und „Sachlichkeit“149 der Frauen mit den zeitgenössischen kapitalistischen Verhältnisse begründet, die Frauen in die soziale und wirtschaftliche Abhängigkeit getrieben hätten. Eine sozialistische Gesellschaftsreform war damals für sie zugleich Voraussetzung und Folge des wachsenden „mütterlichen“ Einflusses gewesen. Siemsen hatte daher auch eine Erziehung gefordert, die den Frauen ihre Aufgabe bewusst zu machen habe. Als „Hüterinnen der menschlichen Gemeinschaft“ sollten sie „inmitten [des] gesellschaftlichen Verfalls […] der Umgestaltung der Gesellschaft und dem Werden der menschlichen Gemeinschaft dienen“.150 Auf dieselbe argumentative Weise, mit der sie zu Beginn der 1920er Jahre den weiblichen Geschlechtscharakter mit sozialistischen Gemeinschaftswerten umschrieben hatte, sollte sie nun im Exil die Annahme eines demokratisch definierten weiblichen Geschlechtscharakters vertreten, aus der sie eine besondere Aufgabe der Frauen für den Aufbau eines demokratischen Europas ableitete. Siemsen führte in ihrem Vortrag auch Frauen an, die sich in der „Verwirrung des Nationalismus“ und des „Chauvinismus“ befinden würden, glaubte aber, ähnlich wie zur Zeit der Weimarer Republik, dass die gesellschaftlichen und politischen Zustände dafür verantwortlich seien und diese „Verwirrung“ durch „Selbständigkeit“ überwunden werden könne.151 Sie behauptete deshalb auch, eine undemokratische Einstellung könne nur „Unwissenheit“ sein, die durch eine Aktivierung der „tiefen Instinkte“ behoben werde. Würde dies nicht funktionieren, seien die Frauen „degeneriert“, so Siemsen lapidar. „Ihre natürlichsten Anlagen sind, ich möchte sagen, pervertiert worden und verkümmern.“152 Mit diesen Ausführungen biologisierte Siemsen den Demokratiebegriff, indem sie ihn als weiblichen, naturgegebenen Urinstinkt definierte, der nur durch eine krankhafte Mutation ausgelöscht werden konnte. Vor allem aber sprach sie jenen Frauen, die nicht ihre demokratisch-sozialistischen Ordnungsvorstellungen teilten, die Weiblichkeit ab. Damit enthob Siemsen diese von politischen Rechten und Pflichten, die sich gerade aus dem Demokratiegedanken ergaben und der mit Weiblichkeit an dieser Stelle gleichgesetzt wurde. Zumindest auf einer rhetorischen Ebene sprach Siemsen jenen Frauen, die eine andere politische Sichtweise vertraten, jegliche politische Tätigkeit in einem zukünftigen Europa ab. Sie wurden aus der von ihr erhofften „Frauengemeinschaft“153 und damit aus der europäischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Vermutlich unbeabsichtigt wählte Siemsen hier eine ähnliche Begründungsstrategie, mit der in völkischen und nationalsozialistischen Kreisen Menschen, die nicht den nach organischbiologistisch definierten Kriterien der „Volksgemeinschaft“ entsprachen, aus dem „Volkskörper“ ausgestoßen wurden.154 Statt der Kategorien „Rasse“ und „Blut“, 149 Siemsen: Die Sozialdemokratie im Kampf, S. 809. 150 Siemsen: Leitsätze des Referates über „Die wirtschaftlich-geistigen Zeitnotwendigkeiten und die Frauenbildung“, S. 306. 151 AdsD, 1/HRAB000363: Mitschrift des Vortrages von Siemsen „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“ in Basel am 9. April 1941, S. 6. 152 Ebd., S. 5. 153 Ebd. 154 Vgl. Bajohr und Wildt: Einleitung, S. 10.

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von denen sich Siemsen stets abgegrenzt hatte, wählte sie nun psychologische Aspekte für den Ausschluss aus der gewünschten Gemeinschaft. Auch wenn sie sich nicht auf einen dogmatisch definierten biologistischen Gemeinschaftsbegriff stützte – denn sie ging ja grundsätzlich von einer psychologischen Entwicklungsfähigkeit durch Erziehung aus – zeigen ihren Ausführungen an dieser Stelle doch, wie Gemeinschaftsdenken mit In- und Exklusionsmechanismen verbunden war. „Eine neue, geordnete Freiheit, eine Einheit unter den Völkern, die den Raum gibt für ein gesichertes Leben“ war für Siemsen eine Aufgabe für jene Frauen, die die Verwirklichung der „Freiheit des Glaubens und des Gewissens, der Ueberzeugung und der Organisation, Freiheit von Furcht, Freiheit von Not“ als ihre naturgegebene Pflicht anerkannten. Siemsen forderte die Frauen auf, „Volontäre für ein menschliches Europa“ zu sein, „das ein lebenswertes Heim für Mann und Frau sein“ könne.155 Sie forderte die Frauen dazu auf, im Rahmen der Europa-Union „für eine bessere, menschliche, weibliche Zukunft“ zu arbeiten.156 An dieser Stelle nahm sie wieder das Bild von Europa als „Heimat“ auf, das sie in ihrem Buch Daheim in Europa 1928 entworfen hatte.157 Im Exil setzte Siemsen nun explizit das „Heim Europa“ mit weiblich konnotierter Politik gleich, die hier nicht mehr durch die Arbeiter etabliert werden sollte, sondern durch die Frauen, denen Siemsen diese Aufgabe aufgrund ihres spezifischen Geschlechtscharakters zuschrieb. Wie andere Vertreterinnen der Frauen- und Friedensbewegung, die sich etwa zeitgleich äußerten, nutzte Siemsen „Weiblichkeit als Differenzierungsmerkmal“ und begründete dadurch „eine Rhetorik der Selbstvergewisserung und der Selbst­ behauptung“.158 Während die meisten Frauen durch diese Rhetorik einen „Bruch mit dem Nationalsozialismus“ vollziehen wollten, indem sie den mütterlichen Einfluss als „Zivilisierungsindiz“ und zur „Überwindung von Gewaltstrukturen“ propa­ gierten,159 bezog sich Siemsen in ihren Ausführungen nicht auf die nationale, sondern auf die europäische Ebene. Die Frauen avancierten in ihren Ordnungsvorstellungen aber ebenfalls „zu natürlichen Gegnerinnen (männlich konnotierter) Machtpolitik“. Sie wurden zwar nicht „zu Trägerinnen nationaler Erneuerung“,160 dafür aber zu Trägerinnen einer europäischen Erneuerung erklärt. 2.3.3 Die karitative Aufgabe In ihrer Auseinandersetzung über die Mitwirkung von Frauen an einem neuen Europa ging es Siemsen vor allem darum, eine politische Gleichberechtigung von Frauen in der europäischen Nachkriegsordnung zu fordern. In ihrem Beitrag für den 155 AdsD, 1/HRAB000363: Mitschrift des Vortrages von Siemsen „Der Freiheitsgedanke vom Standpunkt der Frauen“ in Basel am 9. April 1941, S. 7. 156 Ebd., S. 8. 157 Siehe dazu das Kapitel I.3.1.3 Ein „weibliches“ Europa in dieser Arbeit. 158 Zepp: Weiblichkeit, S. 189. 159 Ebd., S. 190. 160 Ebd., S. 191.

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von Bauer und Ritzel 1945 herausgegebenen Sammelband Kampf um Europa betonte Siemsen im Rückgriff auf die Richtlinien der Europa-Union eben dies.161 Europa diente in ihren Ausführungen als Argument, um dieses Ziel der vollen politischen Gleichberechtigung für Frauen zu erreichen. Siemsen forderte volle Bürgerrechte für Frauen, d. h. eine rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen auf allen Gebieten. Durch ihre politischen Erfahrungen in der Weimarer Republik war sie zu dem Schluss gekommen, dass die politische Gleichstellung in Deutschland zwar formal eingeführt, aber nirgendwo praktisch etabliert worden war. In der Schweiz war sie gänzlich ausgeblieben. Die gleichberechtigte Anerkennung weiblicher Mitarbeit in Politik und Gesellschaft war für Siemsen daher Grundvoraussetzung, damit Frauen einen gleichwertigen Einfluss auf die Belange des öffentlichen Lebens ausüben konnten. Siemsen führte nun spezielle Aufgaben an, die Frauen aufgrund ihres vermeintlichen Geschlechtscharakters in besonderer Weise ausüben sollten. Dazu zählte sie vor allem Erziehungsaufgaben und karitative Aufgaben. Wie sie es in ihrem Vortrag im Rahmen der Europa-Union formuliert hatte, argumentierte sie mit Rechten und Pflichten, die Frauen hätten. Die Ausübung des mütterlichen Einflusses durch Erziehung und Fürsorge betrachtete sie sowohl als Recht als auch als Pflicht der Frauen. Während sich das Recht aus den vermeintlich angeborenen Eigenschaften der Friedfertigkeit und Mütterlichkeit ergab, leitete Siemsen die weiblichen Pflichten zudem noch aus den spezifischen Kriegserfahrungen ab, die Frauen gemacht hätten. Die ihrer Ansicht nach speziell weiblichen Tätigkeitsfelder fasste Siemsen „unter dem Begriff: soziale Dienste“ zusammen, worunter sie alles verstand, „was wir Menschen an Pflege, Hilfe, Erziehung, Bildung und Freude brauchen“.162 Sie betonte, diese Dienste benötigten vor allem „die Kinder, die Alten, die Schwachen, Kranken, Invaliden, geistig und körperlich Behinderten“. Sie glaubte, „[w]er sollte das besser wissen als wir Frauen, deren Leben und Arbeit zum großen Teil in Pflege, Fürsorge und Erziehung besteht“.163 Sie forderte für die soziale Aufbauhilfe eine internationale Zusammenarbeit der Frauenorganisationen, die noch bestehen würden, wie etwa in Skandinavien und in der Schweiz. Insbesondere die Schweizer Frauen hätten während des Krieges schon bewiesen, wie diese Hilfe „an den Flüchtlingen, den kriegsgeschädigten Kindern, den Heimatlosen“ bewerkstelligt werden müsse. Diese Befähigung gelte es nun „bereitzuhalten, damit sie im gegebenen Augenblick eingesetzt werden könne“. Siemsen hoffte dadurch, Hilfe zur Selbst-

161 Siemsen-Vollenweider: Die Frau im neuen Europa, S. 190. Siehe zu den folgenden Ausführungen auch: Marleen von Bargen: Europa nach dem Exil. Zu den Europa-Vorstellungen der Sozialdemokratin Anna Siemsen. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www. europa.clio-online.de/2009/Article=395 [8. Juli 2014]. 162 Siemsen: Frau und Sozialismus, S. 29 f. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Siemsen Vollenweider: Die Frau im neuen Europa, S. 205. 163 Siemsen: Frau und Sozialismus, S. 26.

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hilfe zu geben und „die eigene Tätigkeit der betroffenen Menschen und Völker so zu wecken und zu organisieren, daß sie sehr rasch sich selber helfen können“.164 Siemsen glaubte, die „Kriegsnot“ habe „die meisten Völker in einer erstaunlichen und bewußten Einheit zusammengeführt“. Sie hoffte deshalb auch, die karitative Tätigkeit der Frauen werde „über die Grenzen der einzelnen Länder hinaus eine Atmosphäre des Vertrauens, eine Gewohnheit der Zusammenarbeit […] entstehen lassen, die unentbehrlich ist für die Friedensarbeit“. Nur auf diese Weise, das machte Siemsen deutlich, sei es möglich, „die Aufgaben eines gemeinsamen föderativen Aufbaues den jetzt isoliert Leidenden und Kämpfenden […] lebhaft und praktisch ins Bewußtsein zu rufen“. Es seien gerade die Frauen, „die reine menschliche Solidarität“ verbreiten könnten und die für den folgenden Aufbau Europas dringend notwendig sei.165 Siemsen hoffte, die Frauen würden „auch über parteimäßige oder historische Vorurteile hinweg die Verbindung zu einander finden“. Denn das Ziel eines neuen demokratischen Europas setze „gleiche sittliche Überzeugungen und einen starken Glauben voraus“.166 Siemsen griff mit diesen Ausführungen eine ähnliche Argumentationsstrategie auf, die sie schon kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges vorgebracht hatte: die Überzeugung, Frauen könnten über Einzelinteressen hinaus eine gemeinsame Politik verfolgen, die zu einer Humanisierung der öffentlichen Sphäre führen werde. Ein einheitlicher Geschlechtscharakter bedinge eben auch einheitliche Wert- und Handlungsmaßstäbe, durch deren Etablierung schließlich ein einheitliches Europa entstehe. Hatte Siemsen noch 1919 betont, die Frauen sollten ihre neu erworbenen politische Rechte nutzen, um diese Wert- und Handlungsmaßstäbe in Politik und Gesellschaft zu etablieren, forderte sie am Ende des Zweiten Weltkrieges die Frauen auf, vor allem ihre Pflichten wahrzunehmen. Schon im Kaiserreich war etwa von Helene Lange vorgebracht worden, dass eine politische Gleichberechtigung der Frauen allein kaum eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewirken werde. Stattdessen sollten die Frauen zunächst in verantwortlicher Position an den Belangen von Politik und Gesellschaft beteiligt werden, um dadurch den weiblichen Einfluss zum Wohle der Gesamtgesellschaft einbringen zu können. Auf diese Weise erhoffte sich Lange eine allmähliche Änderung der an männlichen Prinzipien und Interessen ausgerichteten Verhältnisse.167 Siemsen übertrug diese Argumentationsfigur, die sich auf die nationale Ebene bezogen hatte, nun auf Europa. Sie forderte die Frauen auf, ihre „mütterlichen“ Eigenschaften durch Erziehungs- und Fürsorgetätigkeit im sozialpolitischen Bereich unter Beweis zu stellen und dadurch aktiv am Aufbau eines neuen, demokratischen Europas grundlegend mitzuwirken. Sei das geschehen, da war sich Siemsen sicher, käme auch das volle Bürgerrecht für die Europäerin.168

164 Siemsen-Vollenweider: Die Frau im neuen Europa, S. 202. 165 Ebd., S. 202 f. 166 Ebd., S. 205. 167 Schaser: Frauenbewegung in Deutschland, S. 52. 168 Vgl. Siemsen-Vollenweider: Die Frau im neuen Europa, S. 207.

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Obwohl Siemsen den Frauen vorwarf, „ihre gesellschaftlichen und politischen Aufgaben“ in der Vergangenheit nicht erkannt zu haben und ihnen deswegen „eine große Mitschuld am Zusammenbruch unserer Welt“ zuschrieb,169 behauptete sie dennoch, es seien gerade die Frauen, die „noch europäisch denken“ könnten: „Den Vorzug, noch europäisch denken und fühlen zu können, haben die Nichtkriegführenden, mit dem Vorzug auch die Verpflichtung.“170 Siemsens bezog sich an dieser Stelle nicht allein auf die Frauen, sondern auch auf diejenigen Länder wie die Schweiz, die nicht aktiv am Krieg beteiligt gewesen waren. Im Verlauf ihrer Ausführungen wurde aber deutlich, dass sie in erster Linie von Frauen sprach. So forderte sie insbesondere die Schweizerinnen dazu auf, sich an der Aufbauhilfe für Europa zu beteiligen. Eine besondere Verpflichtung der Frauen, ein neues Europa zu schaffen, begründete Siemsen mit der Annahme, Frauen seien im Gegensatz zu den Männern nicht an der Kriegführung beteiligt gewesen. Sie argumentierte mit dem weiblichen Opferstatus, den sie einerseits aus der physischen Verfasstheit von Frauen ableitete und andererseits aus den politischen Verhältnissen, die es Frauen unmöglich gemacht hätten, ihrer Bestimmung als „Trägerinnen, Bewahrerinnen und Pflegerinnen des Lebens“ nachzukommen.171 Als „schlimmste Wirkung dieser Zeit“ empfand Siemsen „die sittliche Verwilderung, die Abstumpfung des Gewissens, die Verhärtung der Herzen“. Frauen würden „Gewalt und Brutalität“ erleiden, sie aber „[n]ur in seltenen Fällen“ selber ausüben.172 Siemsen glaubte, von „Mißhandlungen, Vergewaltigungen, Plünderungen“ und „Zwangsarbeit“ seien vor allem Frauen betroffen.173 Auch seien Frauen „der Obdachlosigkeit, dem Hunger, der allgemeinen Gesetzlosigkeit gegenüber schutzloser als die Männer“.174 Aus diesem Opferstatus heraus sollten Frauen aus eigenen Interessen und damit auch zum Wohle gesamteuropäischer Verhältnisse die Einsicht erlangen, für ein neues Europa arbeiten zu müssen. Die auf föderativer und demokratischer Grundlage basierende Einigung Europas war in Siemsens Argumentation nur durch eine weiblich konnotierte Politik zu erreichen, die sich durch Solidarität und Frieden auszeichne. Solidarität und Frieden waren für Siemsen spezifisch weibliche Werte, die sie gegen eine männlich konnotierte Politik anführte, durch die Krieg und Gewalt hervorgerufen worden waren und die nun durch den internationalen politischen Einsatz der Europäerinnen überwunden werden sollte. Wie andere Vertreterinnen der Frauen- oder Friedensbewegung, die sich zeitgleich zur politischen Partizipation von Frauen für die Nachkriegsordnung zu Wort meldeten, „entlastete“ Siemsen durch ihre Opferargumentation „das imaginierte Kollektiv der Frau von der Beteiligung und Verantwortung für den Krieg und seine

169 Siemsen: Frau und Sozialismus, S. 15. 170 Siemsen-Vollenweider: Die Frau im neuen Europa, S. 202. 171 Ebd., S. 207. 172 Ebd., S. 206 f. 173 Siemsen: Frau und Sozialismus, S. 13 f. 174 Ebd., S. 15.

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Folgen“.175 Eine von ihr formulierte Mitschuld der Frauen durch die Vernachlässigung ihrer „mütterlichen“ Aufgaben hob die Entlastung nicht auf, sondern wurde vor allem deswegen angeführt, um den Frauen ihre zukünftige Verantwortung für Politik und Gesellschaft deutlich zu machen. Die Annahme, Frauen seien in erster Linie Opfer des Krieges, war eine weit verbreitete Darstellungsform und durchzog beispielsweise auch die Nachkriegsliteratur ab 1945, die oft von Autorinnen mit „friedensorientierte[r] Haltung“ verfasst wurde. Der „Täter“ betrat stets in Gestalt männlicher Protagonisten das Szenarium. „[D]as traditionelle Paradigma der friedfertigen Frau“176 wurde erst in den 1980er Jahre aufgebrochen.177 Weibliches Engagement für den Nationalsozialismus bzw. im Nationalsozialismus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg „aus dem öffentlichen Bewußtsein“ verbannt. Der Topos von der friedliebenden und unschuldigen Frau war „ein Element des politischen und gesellschaftlichen Entlastungsdiskurses“ der Nachkriegszeit in Deutschland.178 Siemsens Einsatz für eine gleichwertige Mitarbeit von Frauen an der europäischen Nachkriegsordnung resultierte aus ihrer Annahme eines besonderen weiblichen Geschlechtscharakters und spezifisch weiblicher Kriegserfahrungen heraus. Wie gezeigt wurde, nutzte sie diese Annahmen auch argumentativ, um ihre Forderungen nach weiblicher Mitarbeit für ein neues Europa zu begründen und deswegen auch das volle europäische Bürgerrecht für alle Europäerinnen zu fordern. Hinter diesem Einsatz stand Siemsens politische Grundüberzeugung, gleichberechtigte Teilhabe an Politik und Gesellschaft sei Recht und Pflicht jedes Menschen. Die politischen Verhältnisse sollten so gestaltet werden, dass jeder Mensch in der Lage sei, diese Rechte und Pflichten ohne Einschränkung ausüben zu können. Diese Forderungen übertrug Siemsen auf die internationale Ebene. In ihren föderativen Ideen für eine europäische Einigung ging es darum, Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen den einzelnen europäischen Ländern zu überwinden. Aus diesem Grund spielte Deutschland in ihren Europa-Konzepten eine zentrale Rolle. Siemsen formulierte seit den 1940er Jahren Reformideen für Deutsch175 Zepp: Weiblichkeit, S. 191. 176 Miroslawa Czarnecka: Die friedfertige Frau und der Zweite Weltkrieg – Thematisierung eines Paradigmas in der Literatur von Frauen, in: Jürgen Egyptien (Hg.): Erinnerung in Text und Bild. Zur Darstellbarkeit von Krieg und Holocaust im literarischen und filmischen Schaffen in Deutschland und Polen, Berlin 2012, S. 115–121, hier S. 115. 177 Ebd., S. 119 f. 178 Sybille Steinbacher: Einleitung, in: dies.: (Hg.): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 23), Göttingen 2007, S. 9–26, hier S. 10. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung begann in den 1970er Jahren eine differenziertere Betrachtung weiblicher Handlungsspielräume im Nationalsozialismus, die die dominante Konstruktion von Frauen als Opfer hinterfragte. Siehe dazu den Forschungsbericht von Susanne Lanwerd und Irene Stoehr: Frauen- und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren. Forschungsstand, Veränderungen, Perspektiven, in: Johanna Gehmacher und Gabriella Hauch (Hg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen (Querschnitte, Bd. 23), Innsbruck, Wien und Bozen 2007, S. 22–68.

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land nach Ende des Krieges und setzte sich für seine gleichberechtigte Teilnahme an der europäischen Nachkriegsordnung ein. Mit ihren Reformideen wollte sie die aus ihrer Sicht fehlgeleitete Entwicklung Deutschlands zu einem militanten Machtstaat korrigieren, für die sie preußische Traditionen verantwortlich gemacht hatte. Zugleich bezweckte sie auch, eine mögliche politische Unterdrückung Deutschlands durch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zu verhindern. Um ihre Ideen für eine Neuordnung Deutschlands und Europas nach dem Krieg zu begründen, entwarf sie ein „anderes“ Deutschland, dem sie eine spezifisch europäische Kultur zuschrieb, die sich, ähnlich wie der weibliche Geschlechtscharakter, durch demokratische Werte auszeichnete. Siemsen selbst hatte den demokratischen Geschlechtscharakter, der Frauen gegeben sei, noch vor Kriegsbeginn mit der vermeintlich demokratischen Kultur Deutschlands in Zusammenhang gebracht. In einem Leitartikel der von ihr redigierten Zeitschrift Die Frau in Leben und Arbeit betonte sie, „niemals [sei] eine Kultur verloren, solange noch Mütter gebären und ein junges Geschlecht erziehen in dem Glauben an unser menschliches Recht und in dem Willen, der Menschheit zu dienen“. Zur Illustration ihrer Ausführungen verwies Siemsen auf ein Bild des Malers Albrecht Dürer (1471–1528), „das Bild eines Deutschen“, wie sie hervorhob, das Maria mit dem Jesuskind, „den Erlöser der Welt“, zeige. Mit dem Gemälde, „das Mutter und Kind ganz menschlich“ abbilde, wollte sie darauf hinweisen, „daß es ein Deutschland gab und gibt, das uns [Europäerinnen und Europäern, MvB] verwandt ist und das hoffentlich noch einmal wieder eine Aufgabe in der Menschheit erfüllen wird, wenn die schlimme Despotie, die es heute zu einer Weltgefahr macht, überwunden sein wird.“179

Mit dem Hinweis auf „[d]ie Christenheit“, die „dieses Bewußtsein unserer Würde und Aufgabe“ vorgegeben habe,180 verdeutlichte Siemsen auch an dieser Stelle, dass sie Deutschland in eine europäisch-abendländische Kultur einordnete, was sie schließlich in ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte zu belegen versuchte.

179 N. N. [Anna Siemsen]: Internationaler Frauentag, in: Die Frau in Leben und Arbeit 11 (1939), Heft 4, S. 1. 180 Ebd.

3 DEUTSCHLAND IN EUROPA. DIE 1940ER JAHRE Die Auseinandersetzung mit Deutschland war eine durchgehende Linie in Anna Siemsens Europa-Konzepten. Diese Auseinandersetzung stand in engem Zusammenhang mit dem Erstarken des Faschismus bzw. der Etablierung und der aggressiven Ausweitung der nationalsozialistischen Herrschaft im Verlauf der 1930er und 1940er Jahre in Europa. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer neuen europäischen Nachkriegsordnung verfestigte sich seit Beginn des Zweiten Weltkrieges und wurde gegen Ende des Krieges zu einem Hauptthema in Siemsens Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen. Aus diesem Grund setzte sie sich nicht nur verstärkt mit der Zukunft Europas auseinander, sondern auch mit der Frage, wie es mit Deutschland nach dem Krieg weitergehen könnte. Für sie stand fest, dass nur durch eine grundlegende sozialistische Reformierung Deutschlands die preußischdeutsche Machttradition gebrochen werden könne, die sie neben einem übersteigerten Kapitalismus für die Entstehung und das Erstarken des Nationalsozialismus verantwortlich gemacht hatte. Zugleich hatte sie durch die Analyse der jüngsten politischen Entwicklungen die Ansicht gewonnen, diese Reformierung Deutschlands könne nur erfolgreich sein, wenn Europa insgesamt nach gleichen Prämissen neu geordnet werde. Deutschland und Europa wurden also in ihren Europa-Konzepten unmittelbar aufeinander bezogen. Mit ihren Forderungen nach einer föderativen Einigung Europas unter Aufgabe nationalstaatlicher Souveränität, geprägt durch eine übergreifende Rechtsordnung und wirtschaftlichen Ausgleich verband Siemsen auch die Idee einer gleichberechtigten Einbeziehung aller europäischen Länder und damit eben auch die Einbeziehung Deutschlands. Es ging ihr schließlich darum, durch Überwindung von Machtund Unterdrückungsmechanismen letztlich einen dauerhaften Friedenszustand zu erreichen. Vermutlich war ihr bewusst, dass mit einer nachsichtigen Behandlung Deutschlands und mit einer gleichberechtigten Einbeziehung in die europäische Nachkriegsordnung kaum zu rechnen war. Im Umkreis des exilierten SPD-Parteivorstandes war man schon vor Kriegsbeginn 1939 zu dem Schluss gekommen, dass nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus Deutschland von internationaler Seite mit Härte begegnet werden würde.1 Viele Emigranten sorgten sich wegen angeblicher Pläne der Alliierten, die eine politische und wirtschaftliche Zerschlagung Deutschlands nach dem Krieg vorsahen, und betonten, ein solches Vorgehen werde nicht nur erneut Revanchegelüste in Deutschland wachrufen, sondern auch negative wirtschaftliche Folgen für ganz Europa und die Welt haben.2 Dies war eine Argumentation, die Siemsen in ähnli1 2

Behring: Demokratische Außenpolitik für Deutschland, S. 274 f. Ebd., S. 305 f.

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cher Weise in ihren europapolitischen Vorträgen vorgebracht und damit eine wirtschaftliche Föderation Europas begründet hatte. Siemsens Auseinandersetzung mit Deutschland resultierte aber nicht allein aus nüchternen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Überlegungen heraus. Sie glaubte vor allem auch, es gebe ein „anderes“ Deutschland als das nationalsozialistische, ohne das ein zukünftiges Europa nicht überlebensfähig sei. Diese Annahme begründete sie mit einer spezifisch deutschen Kultur, die sie europäisch definierte und durch die sie Deutschland eine „menschheitliche“ Aufgabe zuschrieb. Diese Ideen formulierte Siemsen hauptsächlich in ihrer fragmentarisch gebliebenen deutsch-europäischen Literaturgeschichte, die sie in den 1940er Jahren verfasste. Doch warum wollte Siemsen überhaupt nach Deutschland zurückkehren? Ihre politische Arbeit für eine Einigung Europas unter den skizzierten Prämissen hätte sie schließlich auch in der Schweiz weiterführen können. Was bewog sie angesichts der politischen Verhältnisse, Deutschland einen „menschheitlichen“ Charakter und damit diese besondere Rolle für die Zukunft Europas zuzuschreiben? Die Bindung an Deutschland teilten mit Siemsen alle Emigrantinnen und Emigranten, die „mit dem Gesicht nach Deutschland“3 lebten. Die meisten von ihnen hatten ihren Heimatort, ihre Familie, Freunde und Bekannte zurücklassen müssen, die sie jahrelang nicht sahen und von denen sie oftmals nichts mehr gehört hatten. Viele hatten nicht nur ihre privaten, sondern auch ihre beruflichen und politischen Perspektiven verloren und hofften, nach Ende des Nationalsozialismus wieder in ihre alten Positionen zurückzukehren. So ging es etwa dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Preußen, dem Sozialdemokraten Otto Braun, der im Schweizer Exil darauf hoffte, seinen verlorenen Posten wieder einnehmen zu können.4 Diese Emigrantinnen und Emigranten hatten ihre persönlichen und politischen Prägungen in Deutschland erfahren und waren dort sozialisiert worden. Siemsens Annahme einer besonderen deutschen Kultur, die im Bildungsbürgertum sehr verbreitet war, hatte schon ihre politischen Vorstellungen während bzw. kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges geprägt. Zu dieser Zeit hatte sie angefangen, über die Auseinandersetzung mit deutscher und europäischer Literatur politische Ideen zu vermitteln. Im Exil nutzte sie diese Strategie nun, um die vermeintliche Existenz eines „anderen“ Deutschlands zu beschreiben. Sie behauptete, die Literaturgeschichte sei ihr ein „lebenswichtig[es]“5 Anliegen, es sei „[a]us Not und Liebe und aus einer lebenslangen Arbeit der Vermittlung zwischen dem Volke und seiner Dichtung und Literatur […] geboren“ worden.6 Adressiert an zukünftige „Lehrer und Erzieher“7 sowie auch an „den literarisch nicht Gebildeten“ sollte die Literaturgeschichte das „Bewusstsein“ wecken „für die Wirklichkeit einer euro-

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Vgl. Matthias: Friedrich Stampfer. Mit dem Gesicht nach Deutschland. Schulze: Otto Braun, S. 807. SozArch, 142.30.1: Anna Siemsen: Plan einer Geschichte der deutschen Literatur in Europa, maschinenschriftliches Typoskript. 6 Ebd.: Anna Siemsen: Zur Einführung, maschinenschriftliches Typoskript, S. II. 7 Ebd.

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päischen Kulturgemeinschaft“8 und für die Entwicklung einer deutschen Literatur im „Zusammenhang [mit] der europäischen und menschheitlichen Gesellschaft und Geistesentwicklung“.9 Die Idee eines „anderen“ Deutschlands, wie sie Siemsen etwa in ihrer Literaturgeschichte formulierte, wurde von sehr vielen deutschen Emigrantinnen und Emigranten vorgebracht und war keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal von Siemsen. Der Topos vom „anderen“ Deutschland war bereits in den 1920er Jahren bekannt. Den Titel Das andere Deutschland trug eine Zeitschrift, die vom linkssozialistischen Pazifisten und späteren SAPD-Mitglied Fritz Küster (1889–1966) herausgegeben worden war. Küster gründete zu Beginn der 1920er Jahre den westdeutschen Landesverband der DFG und war von 1929 bis 1933 Vorsitzender der Friedensgesellschaft.10 Schon in Küsters Zeitschrift wurde ein Deutschland-Bild entworfen, das im Gegensatz zu der „Bismarck-Wilhelm-Hitler-Linie“ und gegen völkisch-nationale und militaristische Politik konzipiert war.11 Diese Konstruktion und die damit zusammenhängenden Deutungen bestimmten in der Folgezeit die Auseinandersetzungen von politisch linksstehenden Gruppen und Personen, die ein „anderes“ Deutschland propagieren wollten. Siemsens Bruder August Siemsen, der im lateinamerikanischen Exil die Zeitschrift Das andere Deutschland gründete, griff dabei ebenfalls „Küsters Etikettierung“ auf.12 Im Exil wurde dieser Topos vielfach von Emigrantinnen und Emigranten genutzt, um sich selbst als „das bessere Deutschland“ zu präsentieren.13 Die Konstruktion eines „anderen“ Deutschlands, das meist wie auch bei Siemsen, durch historische Rückgriffe und Deutungen entworfen wurde, war eine Abgrenzungsstrategie zum Nationalsozialismus bzw. zum nationalsozialistischen Regime und eignete sich als „Parole und Devise im Konflikt mit dem Verfolger“.14 Für Siemsen repräsentierte das nationalsozialistische Regime nicht die deutsche Bevölkerung, so dass sie die Annahme vertreten konnte, es gebe noch ein weiteres Deutschland, das sich unter der offiziellen politischen Oberfläche verberge und das durch die deutsche Bevölkerung wieder zum Leben erweckt werden könne. Wie Siemsen betonten auch andere Emigranten, die das „andere“ Deutschland anführten, es existiere eine 8

Ebd.: Siemsen: Plan einer Geschichte der deutschen Literatur. Auch hier findet sich ein entsprechender Hinweis auf den Adressatenkreis. 9 Ebd.: Anna Siemsen: Grundsätze, Manuskript, in: Heft „Pädagogischer Kurs, Literatur“. 10 Ausführlich dazu: Helmut Donat und Lothar Wieland (Hg.): Das andere Deutschland. Unabhängige Zeitschrift für entschiedene republikanische Politik. Eine Auswahl (1925–1933) mit einem Vorwort von Ingeborg Küster (Republikanische Bibliothek), Königstein im Taunus 1980. Siehe auch den Lexikonartikel über Fritz Küster von Helmut Donat: Friedrich (Fritz) Küster, in: ders. und Holl: Die Friedensbewegung, S. 241–243. 11 Ulrich Fröschle: Das andere Deutschland. Zur Topik einer Ermächtigung, in: Gunther Nickel (Hg.): Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938–1949. Beiträge zu einer Tagung des Deutschen Literaturarchivs Marbach und der Evangelischen Akademie Tutzing in Verbindung mit der Arno-Schmidt-Stiftung und der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft (Zuckmayer-Jahrbuch, Bd. 7), Göttingen 2004, S. 47–85, hier S. 64 f. Zitat auf S. 64. 12 Ebd., S. 67. 13 Koebner: Das „andere Deutschland“, S. 218. 14 Ebd.

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„deutsche Kultur“, die von den politischen Entwicklungen abgekoppelt betrachtet wurde. Waren die politischen Verhältnisse auch in eine falsche Richtung gelaufen, wollte man sich nun auf die „Kulturnation“ berufen, die Deutschland immer noch sei. Eine negative Aburteilung alles Deutschen, wie es etwa im Vansittartismus15 diskutiert wurde, hätte für die Emigranten bedeutet, „die eigene Herkunft zu kassieren“ und „die historische Brücke hinter sich abzubrennen“, was wohl einen „Akt radikaler Um-Identifizierung“ zur Folge hätte haben müssen.16 Vielleicht bezeichnete Siemsen ihre deutsch-europäische Literaturgeschichte deshalb auch als „lebenswichtig“.17 Ihre Abhandlung kann ebenso wie ihre vormals verfassten umfangreicheren Bücher wie die Literarischen Streifzüge, Daheim in Europa oder Deutschland zwischen gestern und morgen als eine Bestandsaufnahme und Selbstvergewisserung der eigenen politischen Ziele und Arbeitsschwerpunkte betrachtet werden. In den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, wie Siemsen über die Definition einer europäischen Kultur auch die deutsche Kultur definierte, die ihrer Meinung nach dem „anderen“ Deutschland zugrunde lag. Zugleich begründete sie damit auch ihre Vorstellung von einer Einheit Europas unter Einbeziehung Deutschlands. 3.1 ANNA SIEMSENS DEUTSCH-EUROPÄISCHE LITERATURGESCHICHTE „Europa wurde vom Mittelmeer [aus] entdeckt.“18 Mit diesem kurzen Einstiegssatz umschrieb Siemsen prägnant die Intention ihrer Ausführungen.19 Die Literaturgeschichte wurde als Entdeckungsgeschichte eingeleitet, in der sich die potenti15 Der Begriff geht zurück auf Robert Gilbert Vansittart (1881–1957), der ein Diplomat im britischen Foreign Office war und die These vertrat, die aggressive Expansionspolitik des NS-Regimes sei Ausdruck eines spezifischen Nationalcharakters der Deutschen. Siehe dazu die kritische Untersuchung über Vansittart und seine Rezeption von Jörg Später: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902–1945 (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 4), Göttingen 2003. 16 Koebner: Das „andere Deutschland“, S. 225. Der Rückgriff auf die deutsche „Kulturnation“ bei sozialdemokratischen Emigranten wird auch hervorgehoben bei Winfried Becker: Demokratie, Zentralismus und Staatenbund in den Verfassungsplänen von Emigranten, in: Claus-Dieter Krohn und Martin Schumacher (hg. Zusammen mit der Herbert-und-Elsbeth-Weichmann-Stiftung in Hamburg): Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945 (Dokumente und Texte, Bd. 6), Düsseldorf 2000, S. 33–62, hier S. 43. 17 SozArch, Ar 142.30.1: Anna Siemsen: Plan einer Geschichte der deutschen Literatur in Europa, maschinenschriftliches Typoskript. 18 SozArch, Ar 142.30.1: Siemsen: Kapitel: Vorgeschichte, im Heft: Geschichte der Literatur der deutschen Sprachgebiete in Europa I. 19 Den Grundstock der folgenden Ausführungen bilden vier DIN-A4-Hefte, die den größten zusammenhängenden Textkorpus von Siemsens Literaturgeschichte darstellen. Die Titel der Hefte lauten: Geschichte der Literatur der deutschen Sprachgebiete in Europa I, Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II, Die Anfänge der deutschen Literatur III und Lit IV. Diese Hefte sind im SozArch im Dossier Ar 142.30.1. Manu-

3.1 Anna Siemsens deutsch-europäische Literaturgeschichte

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ellen Leserinnen und Leser auf Erkundungsfahrt zu einem Kontinent und seinen Menschen begeben konnten, die erst durch schriftliche Quellen und Überlieferungen, also durch die Literatur, in die Weltgeschichte eingetreten waren. Die Entdeckungsfahrt führte über das Mittelmeer, womit Siemsen gleich zu Beginn eine Verbindung Europas mit der übrigen Welt andeutete. Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen stand aber Europa. Die Annahme von der Bedeutung des Mittelmeergebiets für die Herausbildung einer europäischen Kultur und Zivilisation hatte Tradition und sollte nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine 1949 erschienene Untersuchung des französischen Historikers Fernand Braudel (1902–1985) auf ein breites internationales Interesse stoßen. In seinem Werk Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., an dem er seit Ende der 1920er Jahre arbeitete,20 entwarf Braudel „ein Porträt des Mittelmeers“,21 indem er die Auswirkungen langfristiger Strukturen von „Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik“ untersuchte.22 Dabei legte Braudel ein besonderes Augenmerk auf die unterschiedlichen „Austauschbeziehungen“ im Mittelmeerraum selbst, aber auch auf die Beziehungen des Mittelmeerraums zu Gebieten außerhalb.23 Während sich Braudel mit seiner Mittelmeeruntersuchung „einer ganzheitlichen Geschichtsschreibung aus geohistorischer Perspektive“24 widmete, suchte Siemsen auf ihrer Entdeckungsreise über das Mittelmeer nichts Geringeres als die kulturellen Ursprünge Europas. Diese nutzte sie, um eine spezifisch deutsche Kultur zu kreieren, die sie als eng mit der europäischen verknüpft darstellte. Dafür entwarf sie eine Entwicklungsgeschichte, in der die Begriffe Europa und Deutschland vor allem durch literarische Erzeugnisse und Entwicklungen miteinander in Beziehung gesetzt wurden: „Wenn wir also einen Überblick über die deutsche Literatur gewinnen wollen, so müssen wir zunächst feststellen, welche Einflüsse aus

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skripte: Literatur/Bildung archiviert. Ergänzend hinzugezogen wird ein weiteres Heft mit dem Titel Deutsche Literatur in Europa I, das in etwas komprimierterer Form ähnliche Ausführungen enthält wie die bereits erwähnten. Dieses ist archiviert ebd. Einzelne fragmentarische Ausarbeitungen und Teilkapitel wurden ebenfalls hinzugezogen und befinden sich im gleichen Dossier. Die Dokumente sind nicht datiert. Die inhaltlichen Ausführungen der einzelnen Kapitel lassen aber insgesamt auf einen längeren Entstehungszeitraum über mehrere Jahre schließen. Die Archivierung der Dokumente im Schweizerischen Sozialarchiv deutet darauf hin, dass die Ausführungen bis 1946 in der Schweiz entstanden sein müssen, da Siemsen anschließend nach Deutschland remigrierte. In den folgenden Ausführungen zur Literaturgeschichte wird der Bestandsnachweis nicht mehr explizit in den Fußnoten angeführt, es sei denn, er weicht von den genannten Bestandsbeschreibungen ab. Da die Dokumente mit wenigen Ausnahmen nicht mit Seitenzahlen versehen wurden, wird zur Auffindbarkeit der Zitate das Kapitel angegeben, wenn ein solches von Siemsen ausgewiesen wurde. Fernand Braudel: La méditerranée et la monde méditerranéen à l’époque de Phillip II., 2 Bände, Paris 1949. Zu Braudel, seinem Werk und seiner Wirkung siehe Lutz Raphael: Fernand Braudel (1902–1985), in: ders. (Hg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft, Band 2: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis, München 2006, S. 45–62. Raphael: Fernand Braudel, S. 50. Ebd., S. 52. Ebd., S. 50 f. Ebd., S. 50.

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dem Mittelmeergebiet nach Europa und Deutschland hineinwirkten.“25 Siemsen wollte dafür zunächst „die gesamteuropäische Entwicklung einer Epoche“ herausarbeiten, um anschließend „[d]ie deutschen Besonderheiten“ aufzuzeigen.26 Mit diesen beiden Grundfesten, Europa und Deutschland, sind die beiden Ebenen umrissen, die bei Siemsens entwicklungsgeschichtlicher Deutung der Literatur wesentlich waren. In dieser Deutung musste zunächst Europa definiert werden, bevor Deutschland definierbar wurde. Die Literaturgeschichte wurde von Siemsen weitestgehend chronologisch erzählt. Ihr ging es nicht darum, Schriftsteller oder literarische Werke literaturgeschichtlich zu erklären, sondern vielmehr am Beispiel einzelner Literaturdokumente und ihrer Inhalte europäische Entwicklungsprozesse aufzuzeigen, aus denen sie ethisch-politische Werte ableitete. Siemsen wollte über die Literaturentwicklung zeigen, wie die gegenseitige Beeinflussung der Völker „ihre Erkenntnisse erweitert, ihre Gefühle vertieft, ihr Leben menschlicher gesta[l]tet“ habe.27 Auf diese Weise sollte die Entstehung einer europäischen Kultur vermittelt werden, die für sie eine spezifisch „abendländische Kultur“ war. Der Begriff Abendland war schon seit Beginn der Weimarer Republik durch Oswald Spenglers (1880–1936) Buch Der Untergang des Abendlandes28 in weiten Kreisen populär geworden. Ebenfalls in den 1920er Jahren formierte sich ein loser Kreis von Personen um die Zeitschrift Abendland, die eine gesellschaftliche Erneuerung auf Grundlage katholisch-christlicher Ordnungsvorstellungen erstrebte. Die Abendland-Bewegung bestand bis in die 1950er Jahre.29 Siemsens Definition von Europa als einem abendländischen Kulturkreis tauchte in ihren Ausführungen erst im Exil auf. Sie rekurrierte mit diesem Begriff nicht auf die populären Debatten in der Weimarer Republik, sondern auf einen traditionellen Abendland-Begriff, der seine Wurzeln im 19. Jahrhundert hatte. Beeinflusst wurde sie darin von dem Programm der Schweizer Europa-Union, die sich in den Dienst einer solchen abendländischen „Weltanschauung“ gestellt hatte.30 Im Mittelpunkt ihrer gesamten Ausführungen standen die Epochen Antike und Mittelalter. Durch ihr literaturgeschichtliches Studium bei Wilhelm Wilmanns war ihr zumindest die Zeit des Mittelalters sehr vertraut. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ausführlichkeit erklären, die Siemsen dieser Epoche widmete. Über die Epochen Antike und Mittelalter wollte sie die „Eroberung“ Europas sowie seine „Schöpfung“31 und schließlich die Entstehung einer deutschen Literatur im Zusammenhang mit der europäischen darstellen. Die Begriffe „Eroberung“ und „Schöpfung“ deuten schon darauf hin, dass sie, ähnlich wie in den Literarischen 25 Siemsen: Kapitel: Vorgeschichte, im Heft: Geschichte der Literatur der deutschen Sprachgebiete in Europa I. 26 Siemsen: Kapitel: Überblick, im Heft: Pädagogischer Kurs. 27 Siemsen: Zur Einführung, maschinenschriftliches Typoskript, [S. I]. 28 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Band 1: Gestalt und Wirklichkeit, Wien und Leipzig 1918. 29 Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 52 f. 30 Bauer: Von der schweizerischen zur europäischen Eidgenossenschaft, S. 24. 31 Siemsen: Kapitel: Europäische Literatur, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I.

3.1 Anna Siemsens deutsch-europäische Literaturgeschichte

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Streifzügen von 1925, einen Entwicklungsprozess beschrieb, der analog zur Annahme eines menschlichen Entwicklungsprozesses ablief. Europa musste erst erobert und erschaffen werden, um schließlich eine eigenständige kulturelle Identität ausbilden zu können. So waren in Siemsens Sicht die „Völker des europäischen Kontinents […] geschichtlich erkennbar“ geworden und „zu Selbstbewusstsein“ gelangt „in dem Maasse [sic] wie sie mit den Völkern des Mittelmeers in Verbindung“ getreten „u[nd] von ihnen beeinflusst“ worden seien.32 Die Fülle und inhaltliche Gliederung des überlieferten Materials lassen darauf schließen, dass die Literaturgeschichte von Siemsen als ein größeres Projekt konzipiert worden war und auch in Buchform veröffentlicht werden sollte. Auffällig ist in ihren Ausführungen der zeitliche Sprung vom Mittelalter bis in die Zeit der Aufklärung.33 Für die Zeit um 1800 liegen nur kurze und nicht vollendete Textteile vor. Einzelne überlieferte Teilkapitel beziehen sich auf die Zeit des späten 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und geben Siemsens Deutung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Europas in dieser Zeitspanne wieder. 3.1.1 Das abendländische Europa Siemsens Ziel war es, durch die Literaturentwicklung darzustellen, wie Europa „vom Mittelmeer aus“ erwachsen sei „zu einem besonderen Gebiet mannigfacher und doch in sich verwnadter [sic] Kultur aus einer grossen gemeinsamen Ueberlieferung“. Dadurch sollte „die Geschichte der europäischen Literatur zugleich lebendige Geschichte des Werdens und der Wandlung der europäischen Gesellschaft“ sein.34 Europa wurde auch in den hier untersuchten Kapitelfragmenten durch bestimmte Strukturmerkmale als Einheit konstruiert, die der Entwicklung einer europäischen Kultur zugrunde lagen. Dafür führte Siemsen ethische und politische Werte an, die durch die Bibel und die alten Griechen in Europa verbreitet worden seien. Daneben waren ein weiteres durchgehendes Strukturelement Beeinflussungsbzw. Verflechtungsprozesse, durch die Europa ebenfalls als Einheit dargestellt wurde. Die Intensität der Beeinflussung war dabei für Siemsen maßgeblich für die Ausprägung und Durchsetzungskraft einer europäischen Kultur. Wie es meistens bei ihren Europa-Konzepten der Fall war, beschrieb sie Europa nicht geographisch und benannte keine konkreten Länder- oder Außengrenzen. Nur an einer Stelle führte sie eine geographische Definition an, nutzte diese Definition aber vor allem deswegen, um die kulturellen Ursprünge Europas darlegen zu können. Europa war für sie „geographisch die äusserste nordwestliche Verlängerung Asiens“. Auch habe 32 Siemsen: Kapitel: Vorgeschichte, im Heft: Geschichte der der Literatur der deutschen Sprachgebiete in Europa I. 33 Da der Arbeitsprozess nicht nachvollzogen werden kann, müssen die Gründe dafür Spekulation bleiben. Möglicherweise hat Siemsen keine Texte über diese Zeit verfasst, oder aber Texte, die diese zeitliche Lücke schließen würden, sind verlorengegangen bzw. nicht überliefert. 34 Siemsen: Zur Einführung, maschinenschriftliches Typoskript, [S. I].

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„[i]n sehr früher Zeit […] eine Landverbindung nach Afrika bestanden“ und durch das Mittelmeer habe stets ein Austausch zwischen der asiatischen, afrikanischen und europäischen Küste stattgefunden. Hinzu komme „eine Wanderung aus beiden grossen Erdteilen nach dem kleineren“.35 Durch die Darstellung einer „Schöpfung“ Europas durch außereuropäische Einflüsse war es Siemsen möglich, Beeinflussungs- und Verflechtungsprozesse innerhalb Europas, die sie als konstitutiv für Europas Kultur betrachtete, als Strukturmerkmal einer europäischen Einheit zu begründen. Das Mittelmeer, das Siemsen schon in den 1920er Jahren neben Nord- und Ostsee als „Sammelbecken der Völker und Kulturen“ hervorgehoben hatte,36 wurde auf diese Weise zum Ursprung der europäischen Kultur erklärt. Die Mittelmeervölker, die Europa über jenes Mittelmeer entdeckt hätten, wurden über ihre schriftlichen Überlieferungen in die Erzählung eingeführt. Mit den „ersten Nachrichten über das spätere europäische Gebiet […] aus griechischen u. römischen und byzantinischen Quellen“37 setzte in Siemsens Interpretation denn auch die europäische Geschichte überhaupt erst ein. Ihre Formulierung von einem „spätere[n] europäische[n] Gebiet“ implizierte die Annahme, dass vor seiner schriftlichen Erwähnung noch kein kulturelles Gebiet existiert habe, das „europäisch“ hätte genannt werden können. Die Herausbildung einer eigenständigen europäischen Kultur wurde in Siemsens Ausführungen durch drei Quellen gespeist. Dazu gehörten der Einfluss der alten Griechen, der Einfluss des Römischen Imperiums und die biblische Botschaft. Die Auswirkungen dieser Einflüsse hatten sich laut Siemsen „in der Zeit des römischen Weltreichs“ durchgesetzt und seien später fortgeführt worden durch den „weströmische[n] Einfluss“ der „römische[n] Kirche“. Darüber sei schließlich „die Grenze der europäischen Kultur“ bis ins 18. Jahrhundert hinein festgeschrieben worden.38 Durch diese kurze Skizzierung zeigte Siemsen, dass es vor allem der Westen und die Mitte Europas waren, die sie als Kerngebiete der europäischen Kultur betrachtete. Wie in ihren anderen Europa-Konzepten seit der Weimarer Zeit, wurden hier Grenzziehungen innerhalb Europas vorgenommen, die nun kulturell begründet und durch historische Entwicklungen definiert wurden. Das östliche Europa fiel aufgrund dieser Deutungen aus einem spezifischen europäisch-kulturellen Entwicklungsprozess heraus. Denn Siemsen betonte, „[a]lle östlichen und südöstlichen Gebiete, der Balkan und die grossen Steppen- und Waldregionen des heutigen Russland aber werden von Byzanz aus beeinflusst“, so dass die Grenze der europäischen Kultur „vom Peleponnes bis zur Nordgrenze Finnlands“ verlaufen sei.39 Da Siemsen aber verschiedene Beeinflussungs- und Verflechtungsprozesse inner35 Siemsen: Kapitel: Die deutschsprachigen Völkerschaften in der vorliterarischen Zeit, im Heft: Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II. 36 Siemsen: Daheim in Europa, S. 26. 37 Siemsen: Kapitel: Vorgeschichte, im Heft: Geschichte der Literatur der deutschen Sprachgebiete in Europa I. 38 Ebd. 39 Ebd.

3.1 Anna Siemsens deutsch-europäische Literaturgeschichte

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halb Europas darstellen wollte, konnte sie den Osten Europas nicht vollständig ausschließen oder abgrenzen. Deswegen argumentierte sie, dass der durch die Kirche getragene „weströmische Einfluss […] bis ins Donaubecken und das Flussgebiet der Weichsel“ hineingewirkt habe.40 Die Grenzen zum „byzantinischen“ Osten wurden damit als fließend geschildert. In ihrer Darstellung einer europäischen Kulturgeschichte, deren Ursprünge sich aus dem Einfluss der alten Griechen, Roms und der Bibel speisten, nahm Siemsen die tradierte Vorstellung eines abendländisch geprägten europäischen Kulturkreises auf, in der auf eben jene Quellen verwiesen wurde. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde unter dem Abendland „geographisch und kulturell der Westen Europas“ verstanden. In Anlehnung an den Historiker Leopold von Ranke (1795–1886) etablierte sich in breiten Bevölkerungskreisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Vorstellung vom Abendland, die eng verknüpft war mit der Antike und dem Christentum sowie den germanischen und romanischen Völkern.41 Konjunktur erfuhr der Begriff des Abendlandes vor allem in „gesellschaftlich-politischen Krisenzeiten“ wie etwa nach 1945, in denen nach Traditionen und Sinnzusammenhängen für die Lösung politischer und gesellschaftlicher Probleme gesucht wurde.42 Ideen von einer europäischen Kultureinheit oder die Betonung „übernationale[r] Traditionen“ in Verbindung mit „christlichen Werten“ wurden etwa von konservativen Gruppierungen wie der Abendländischen Bewegung vertreten,43 die eine christliche Erneuerung Westeuropas nach mittelalterlichem Vorbild propagierte und innenpolitisch demokratiekritischen und ständestaatlichen Vorstellungen verhaftet war.44 Obgleich Siemsen eine Westeuropa-Konzeption auch schon in der Weimarer Republik formuliert hatte, nahm sie nun mit dem Rückgriff auf die Antike neue Aspekte in ihr Europa-Konzept auf. Die Bedeutung der christlichen Botschaft hatte sie im Exil hingegen schon öfters in ihren Plädoyers für eine Einigung Europas betont. Diese Bedeutung wurde nun aber in den Kapitelfragmenten etwas näher ausgeführt. Die biblische Botschaft enthielt für Siemsen vor allem ethische Werte. Durch den Einfluss der Griechen wurden in ihrer Darstellung politische Werte offenbar, die sich mit den christlich-ethischen Werten verbunden und auf diese Weise dann die europäische Kultur konstituiert hatten. Wie gezeigt werden soll, maß Siemsen dem Einfluss Roms hingegen eine ambivalente Rolle zu. 40 Ebd. 41 Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre (Ordnungssysteme, Bd. 4), München 1999, S. 24. 42 Irene Dingel: Der Abendlandgedanke im konfessionellen Spannungsfeld. Katholische und evangelische Verlautbarungen (um 1950/60), in: dies. und Matthias Schnettger (Hg.): Auf dem Weg nach Europa. Deutungen, Visionen, Wirklichkeiten (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 82), Göttingen 2010, S. 215–236, hier S. 17. 43 Conze: Das Europa der Deutschen, S. 394. 44 Axel Schildt: Zur Hochkonjunktur des „christlichen Abendlandes“ in der westdeutschen Geschichtsschreibung, in: Ulrich Pfeil (Hg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München 2008, S. 49–70, hier S. 49 und 51.

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Kern einer europäischen Kultur war für Siemsen „die grosse Zwillingseinheit der alt- und neutestamentlichen Bibel“, die „ein wesentliches Grundelement aller Literatur […] im Gebiet Europas“ gebildet habe.45 Sie unterschied dabei zwischen den alt- und den neutestamentlichen Texten. Während die „alttestamentliche Welt“ durch die Darstellung „menschliche[r] Persönlichkeit und Gesellschaft in ihren ursprünglichsten Erscheinungen“ in die europäische Gedanken- und Gefühlswelt“ eingegangen sei und zum „wichtigsten Gedanken- und Vorstellungsgut“ gehöre, war das Neue Testament für Siemsen gekennzeichnet durch eine „Entwicklung, die […] erst in ihren Anfängen zu stehen“ schien. Die Lehren Jesu waren dabei von zentraler Bedeutung sowohl für die Geschichte als auch für die Zukunft Europas. Jesus und die „Botschaft der Evangelien“, mit denen Siemsen die Idee der Friedens- und Nächstenliebe verband, stellten für sie die „Bindung“ zwischen allen „Epochen und Nationen Europas“ dar. Das Christentum als ein grundlegendes Element der Einheit Europas über Raum und Zeit hinaus, stehe jedoch im Widerspruch zu den gegenwärtigen Verhältnissen, durch die sich zeige, dass die Forderungen der Evangelien nie eingelöst worden seien. Siemsen stellte eine „ungelöste Spannung zwischen [dem] europäischen Dasein“ und dem „Sauerstoff der neutestamentlichen Botschaft vom Reiche Gottes“ fest, die „unbewusst“ alle europäischen „Lebensformen“ geprägt habe.46 Diese „Spannung“, die nicht näher beschrieben wurde, machte sie für das Fehlen eines „europäische[n] Bewusstsein[s]“ verantwortlich. In der gesamten Geschichte Europas, in der „europäische Seefahrer und Wissenschaftler und Wirtschaftler [sic] die Erde“ erkundet und erobert hätten, seien nirgends „Überzeugungen“, „Ziele“ oder „Verantwortung“ zu beobachten, die Siemsen „europäisch nennen“ wollte. Für die zeitgenössische Gegenwart befürchtete sie daher einen drohenden Untergang Europas, weil es „keine Europäer“ habe.47 Um diesem Untergang zu begegnen, sollten sich die „Europäer“ wieder auf die Grundlagen ihrer Kultur besinnen, zu denen Siemsen demokratische Werte rechnete. Diese Werte seien vor allem durch die alten Griechen in Europa etabliert worden. Laut Siemsen hatte zwar „[d]ie griechische Dichtung und Gedankenwelt […] nicht so umfassend auf Europa gewirkt wie die biblische“, doch war für sie der „indirekte“ Einfluss der griechischen Literatur noch viel bedeutsamer als der direkte. Die Griechen, die als „kühne Seefahrer, Handelsleute und Piraten“ charakterisiert wurden, sollten durch diese Eigenschaften eine angeregte „Phantasie“ besessen haben, die sie „nie festwurzeln und starr werden liess“ und die ihnen „Beweglichkeit“ und „Freude am Neuen und Fremden“ verliehen habe. „Sie übersahen […] ein grosses und sehr vielgestaltiges Gebiet“, hätten dieses aber nie beherrscht und sich auch selber nie „unter einem Herrscher zusammen[gefunden]“. Stattdessen „bildeten sie selbständige Gemeinwesen“. Die Kriege, die die Griechen geführt hatten, verschwieg Siemsen nicht. „Sklavenarbeit“ und „Ausbeutung der anderen Völker“ zeigten ihr aber, dass „[d]as Menschheitsgefühl“ der Griechen nur auf „den 45 Siemsen: Kapitel: Die Bibel, im Heft: Geschichte der Literatur der deutschen Sprachgebiete in Europa I. 46 Ebd. 47 Siemsen: Kapitel: Europäische Literatur, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I.

3.1 Anna Siemsens deutsch-europäische Literaturgeschichte

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Kreis des eigenen Volkes“ bezogen gewesen sei. Nichtsdestotrotz habe dieses Menschheitsgefühl „durch die Jahrtausende geholfen[,] Europa zu bilden und immer erneut durch viele oft verborgene Kanäle belehrend und befruchtend eine europäische Einheit trotz aller Gegensätze lebendig werden [zu] lassen“.48 Durch diese widersprüchliche Deutung der Griechen und die Marginalisierung von Kriegen, die sie geführt hatten, wollte Siemsen möglicherweise im Hinblick auf die zeitgenössische Gegenwart zeigen, dass trotz Krieg eine demokratische Erneuerung Europas möglich sei. Die in den Ausführungen zitierten Eigenschaften der Herrschaftslosigkeit, der Selbständigkeit sowie einer ausgeprägten „Eigenart“ waren das, was Siemsen schon in den 1920er Jahren als demokratische Eigenschaften betrachtet hatte. Sie formulierte daher auch, es sei die „Wirkung der athenische[n] Demokratie“, die „bestimmend auf Europa gewirkt“ habe. Demokratie definierte sie an dieser Stelle über Empathiefähigkeit, durch die sich die Griechen in besonderer Weise ausgezeichnet hätten. Der typische „Charakterzug“ der Griechen sei „[d]ie Freude und das Zutrauen zum Menschen, das Menschliche voll in sich zu entfalten und daher auch die Fähigkeit[,] es bei anderen voll anzuerkennen, sich in die anderen hineinzuleben“. Eben dieses meinte Siemsen aus der griechischen Literatur herauslesen zu können: Die „Tragoeden“ hatten ihr gezeigt, den Griechen sei „der Mensch das Maass [sic] ihrer Welt. Und darum erwächst ihnen die Freiheit[,] alles Menschliche wert zu halten der Gestaltung“.49 Siemsen deutete und beschrieb die antike griechische Kultur so, dass sie sie für ihr eigenes politisches Konzept fruchtbar machen konnte. Die Griechen verkörperten in ihrer Darstellung eine Art „Urmenschentum“, eine Urdemokratie, auf deren Grundlage sie sich eine neue demokratische Ordnung für Europa wünschte und die sie im Rückgriff auf die alten Griechen legitimierte. Demokratie wurde in Siemsens Ausführungen, so wie sie es seit der Weimarer Republik formuliert hatte, als eine den Menschen inhärente Grundanschauung verstanden, als Überbegriff für Werte und Eigenschaften, die sie mit Menschlichkeit schlechthin gleichsetzte. Mit ihrem Rückgriff auf die alten Griechen stand Siemsen in einer bildungsbürgerlichen Rezeptionstradition, in der vermeintlich grundlegende Gesetzmäßigkeiten des sozialen, politischen und kulturellen Lebens in der Antike beispielhaft für die jeweilige zeitgenössische Gegenwart reflektiert wurden.50 Die Antike, zuerst in der Renaissance wiederentdeckt, wurde seit der Aufklärung genutzt, um als „Vorbild“ oder „Gegenbild“ Forderungen nach gesellschaftlichen und politischen Änderungen zu formulieren.51 Vor allem wurde die Antike im 19. Jahrhundert politisch funktionalisiert, um Nationalstaatsgründungen wie z. B. die Gründung des Deut48 Siemsen: Kapitel: Das Griechentum als Element der Literatur, im Heft: Geschichte der Literatur der deutschen Sprachgebiete in Europa I. 49 Ebd. 50 Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung, Stuttgart und Weimar 2000, S. 6 und Christine G. Krüger und Martin Lindner: Einleitung: Alte neue Mythen – Nationalismus und die Legitimationskraft der Antike, in: dies.: (Hg.): Nationalismus und Antikenrezeption (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft, Bd. 10), Oldenburg 2009, S. 7–21, hier S. 14. 51 Krüger und Lindner: Einleitung, S. 16 und Riedel: Antikerezeption, S. 6–7.

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schen Kaiserreiches in einen kohärenten Geschichtsverlauf zu stellen und dadurch zu legitimieren.52 Speziell das kulturell gedeutete antike Griechenland-Bild prägte seit dem 18. Jahrhundert durch den Begründer der Klassischen Altertumswissenschaft Johann Joachim Winckelmann (1717–1868) und schließlich durch Wilhelm von Humboldt (1767–1835) das bürgerlich-humanistische Bildungsideal.53 Eine Rückbesinnung auf die biblische Botschaft und die vermeintlich politischen Werte der alten Griechen hielt Siemsen auch deswegen für wichtig, weil eine Entwicklung Europas auf Basis dieser Werte letztlich nicht eingetreten sei. Die bereits erwähnte „Spannung“ zwischen europäischen Werten und europäischem „Dasein“, die Siemsen beklagt hatte, erklärte sie mit dem Einfluss der alten Römer. Das Römische Reich charakterisierte sie als einen „sehr starken und sehr klassenbewussten Militärstaat, [der] macht[süchtig] alles bekämpfte, was seiner strengen Ordnung widerstrebte“.54 Darin lag für sie die Wurzel der widersprüchlichen Entwicklung, die Europa genommen habe. In der Verbindung von „[r]ömische[m] Macht- und Rechtsbewusstsein“ und „griechisch-christliche[m] menschheitsumfassende[m] Liebe- und Barmherzigkeitswillen“ sah Siemsen die „zwei Elemente [der europäischen Kultur, MvB], die sich durchaus widersprachen“. Die Verbindung von „kaiserlichem Macht- und Weltstaat [mit] der Gemeinde der Christen“ habe schließlich zur hierarchisch gegliederten kirchlichen „Machtorganisation“ geführt.55 Dennoch sei im „Unterbewusstsein“ der europäischen Menschen stets der „Typus des unermüdlich Strebenden, über sich selber Hinausgreifenden“ bestehen geblieben, dem das „Urbild wahrhaften Menschentums eingebildet“ sei.56 Das „Unterbewusstsein“ der europäischen Menschen erachtete Siemsen demnach als grundsätzlich stärker und durchsetzungskräftiger als eine zeitlich bedingte, staatlich-institutionelle Organisation der Gesellschaft, die sich zuerst im Römischen Reich manifestiert habe. In Siemsens Deutung stand das Römische Reich für eine politische Organisation basierend auf Machtstreben und hierarchischen Strukturen, durch die die ethisch-politischen Werte der Griechen und der Bibel im politischen Leben unterdrückt worden seien. Diese Einschätzung „des alten Römertums“ prägte auch die Sichtweise führender Vertreter in der Schweizer Europa-Union, die mit dem antiken Rom „überbordende[s] Machtstreben“ und „Söldnerwillkür“ verbanden. Dadurch seien „alle lokale Selbstverwaltung, alle politische Individualfreiheit und damit die antike Kultur selber“ vernichtet worden.57 Entsprechend wurde „Rom“ in Siemsens Darstellung zu einem Synonym für das, was den von ihr formulierten Forderungen nach „Humanität“, „persönlicher Vollkommenheit in freier Erkennt-

52 Krüger und Lindner, Einleitung: S. 7 und Riedel: Antikerezeption, S. 225. 53 Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Griechenideal 1840–1945, Berlin 2004, S. 3–5. 54 Siemsen: Kapitel: Das Römerreich, im Heft: der Literatur der deutschen Sprachgebiete in Europa I. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 „Leitsätze für ein neues Europa“ der Schweizer Europa-Union, zitiert nach Lipgens: EuropaFöderationspläne der Widerstandsbewegungen, S. 346.

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nis“ und „brüderlicher Gemeinschaft“58 entgegenstand. Durch diese Gegenüberstellung von Athen und Rom hatte Siemsen eine Vergangenheitsdeutung entworfen, mit der die zeitgenössischen Zustände Europas in ihren Grundsätzen erklärbar wurden, aber auch durch eine Bewusstseinserweiterung der Europäer überwunden werden könnten. Dieser von Siemsen gedeutete Gegensatz hatte seine Wurzeln ebenfalls im 19. Jahrhundert. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das Rom-Bild politisch aufgeladen, wie etwa die nationalstaatlichen Gründungsmythen zeigen, die in die Tradition des Römischen Imperiums gestellt wurden. Im Gegensatz dazu blieb das Griechenland-Bild weiterhin mit der kulturellen „Sphäre“ verhaftet.59 Siemsens Bewertung der Griechen folgte dieser Deutungstradition. Es ging ihr um die Darstellung der vermeintlich immerwährenden, wenn auch verborgenen Kontinuität einer europäischen Kultur. Obwohl Siemsen die politische Sphäre hier mit den Römern und dem negativ konnotierten Begriff „Macht“ verband, war auch ihr europäisches Kulturkonzept politisch definiert, enthielt es doch Werte, aus denen sie politische Forderungen ableitete. Nachdem sie die politisch-ethischen Werte, die der europäischen Kultur zugrunde lagen, erläutert hatte, versuchte Siemsen am Beispiel von „Sprache“ und „Volksüberlieferung“ verschiedene Ausdrucksformen dieser europäischen Kultur aufzuzeigen. 3.1.2 Einheit durch Sprache und „Volksüberlieferung“ Neben den biblischen und den antiken Einflüssen verwies Siemsen noch auf Beeinflussungs- und Verflechtungsprozesse durch Sprache und Volksüberlieferung; zwei weitere Aspekte, die die europäische Kultur geprägt hätten. Damit wollte sie zum einen die äußere Form der Literatur als Beleg für die jeweiligen kulturellen Besonderheiten der europäischen Völker herausstellen, zugleich aber über den inhaltlichen Gehalt der Dichtung grundlegende Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Wichtig für literarische Ausdrucksformen war die Entwicklung der Sprache bzw. verschiedener „Sprachfamilien“, der Siemsen zunächst Aufmerksamkeit widmete. Dabei legte sie besonderes Gewicht auf die germanische und romanische „Sprachfamilie“. An diesem Fokus zeigt sich erneut, dass sie vor allem die Literaturentwicklung im Westen und in der Mitte Europas in den Blick nahm. Siemsen erklärte, durch Völkerwanderungen und Auseinandersetzungen um Siedlungsgebiete, in deren Folge wiederum Vermischungen zwischen verschiedenen Völkergruppen stattgefunden hätten, seien „drei grosse Sprachfamilien in Europa“ entstanden. Die erste Sprachfamilie bezeichnete sie als die romanische, zu der neben einzelnen Dialekten die Sprachen Italienisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch gehören würden. Weiterhin erwähnte sie die germanischen Sprachen, zu denen sie die skandinavischen Sprachen, Hoch-, Mittel- und Plattdeutsch mitsamt dem Holländischen und das Englische zählte. Als dritte Sprachfamilie führte 58 Ebd. 59 Riedel: Antikerezeption, S. 112 und 225.

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Siemsen schließlich ohne konkrete Benennung die slawischen Sprachen an. Die ungarische und finnische Sprache wurden gesondert aufgeführt, da sie für Siemsen geographische „Sprachinseln“ darstellten. Alle diese Sprachfamilien, betonte sie, seien aus „einer gemeinsamen Ursprache“ entstanden.60 Eine besondere Bedeutung schrieb Siemsen dabei den Germanen zu. Durch deren ausgedehnte Siedlungstätigkeit habe sich schließlich das größte einheitliche Sprachgebiet in Europa herausgebildet. Ab dem 10. Jahrhundert sei nämlich ein deutsches Sprachgebiet entstanden, das Siemsen zwischen Rhein, Elbe und Oder verortete und das bis in ihre zeitgenössische Gegenwart „südwärts bis zum Leithagebirge, östlich bis zur Oder“ vorherrschend sei.61 Der Siedlungsbereich der Germanen habe sich jedoch ursprünglich auf ein weitaus größeres Gebiet erstreckt. Durch den Zusammenbruch des Römischen Reiches hätten sie den ganzen Westen Europas besiedeln können. So seien sie im 7. Jahrhundert in „Norditalien“, in „ganz Gallien“ und im „grössten Teil Spanien[s]“ sesshaft geworden. Zwar hätten sie dort überall die „verschiedenen Dialekte des Volkslatein“ angenommen und daraus dann die romanischen Sprachen gebildet, doch seien „Art und Formen ihrer Dichtung und Überlieferung“ oft bestehen geblieben.62 Die Siedlungsgebiete der Germanen und das daraus erwachsende „deutsche Sprachgebiet“ stellten für Siemsen das Kerngebiet Europas dar. Denn hier herrschte in ihrer Darstellung nicht nur durch die Sprache eine Einheitlichkeit vor, die sie offenbar sonst nirgendwo in Europa erkennen konnte. Gerade auch die sozialen und rechtlichen Strukturen der Germanen erfuhren in Siemsens Schilderung beinahe eine Vorbildfunktion. Während sie etwa bei den Kelten „verwickelte und verschiedenartige soziale, rechtliche und politische Verhältnisse“ ausmachte, fand sie bei den Germanen eine Einheitlichkeit vor. Hier hätten sich aus „Sippengemeinschaften“ schließlich „Stammesverbände“ gebildet, die dann zu „Volksgemeinschaften“ geworden seien. Diese seien patriarchalisch geprägt gewesen, dennoch könnten aber „noch zu Tacitus’ Zeit (2. Jhd.) Spuren einstigen Mutterrechts“ nachgewiesen werden.63 Ohne diesen Sachverhalt näher auszuführen, glaubte Siemsen offenbar, es habe bei den Germanen schon Formen von politischer Beteiligung von Frauen gegeben. Sie formulierte diesen Hinweis wohl nicht ohne Grund, war doch, wie in den vorigen Kapiteln ausgeführt wurde, die Forderung nach politischer Mitarbeit von Frauen für die europäische Nachkriegsordnung ein wichtiger Aspekt in ihren Europa-Konzepten. Mit ihren Ausführungen zeigte Siemsen, dass die kulturellen Wurzeln Europas für sie im deutschen Sprachgebiet lagen. Dieses wurde durch jene Gebiete ergänzt, in denen die romanischen Sprachen vorherrschend gewesen seien. Zugleich wollte sie damit aufzeigen, wie verwoben die Entwicklung der deutschen 60 Siemsen: Kapitel: Die deutschsprachigen Völkerschaften in der vorliterarischen Zeit, im Heft: Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II. 61 Ebd. 62 Siemsen: Kapitel: Von der Völkerwanderung bis zu Karl dem Grossen [sic], im Heft: Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II. 63 Siemsen: Kapitel II, im Heft: Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II.

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Sprache und Literatur mit der sprachlichen und literarischen Entwicklung im Westen Europas gewesen sei. Durch den Rückgriff auf eine gemeinsame Sprache übernahm Siemsen für ihre Darstellung einer europäischen Kultureinheit Argumentationen, die schon in der frühen Nationalbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts verwendet worden waren. Über den Aspekt der Sprache wurden hier Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen gegenüber anderen Kollektiven betont. Seit dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der sogenannten Befreiungskriege gegen Napoleon nutzten deutsche Politiker und Philosophen das Argument der gemeinsamen Sprache, um nationale Grenzen zu definieren und damit eine kulturelle Überlegenheit insbesondere gegenüber den Franzosen zu betonen. Fichte hatte etwa in seinen Reden an die deutsche Nation (1808) die Franzosen als „romanisierte Germanen“ betrachtet, die sich durch den Verlust der „germanischen Ursprache“ von ihren ursprünglichen Wurzeln entfernt hätten.64 Der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt (1769–1860) forderte dann im Anschluss an Fichte, die vermeintlich naturgegebene deutsche Sprachgrenze auch als nationale Grenze anzuerkennen.65 Diesen bis ins 20. Jahrhundert hinein tradierten Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland versuchte Siemsen aufzulösen, indem sie gerade die mittelalterliche französische Literatur als wegweisend für die Entwicklung der deutschen Literatur herausstellte. In Frankreich sei nämlich die erste europäische Literatur, die „Ritterdichtung“ entstanden, die „aus sehr reichen und vielfachen Quellen“ wie zum Beispiel der „maurische[n] Kultur“ und der keltischen Volksdichtung gespeist worden sei.66 Inhaltlich hätten sie meist die antiken Epen oder Geschichten über Karl den Großen thematisiert. Diese Geschichten seien dann zeitversetzt durch die Vermittlung deutscher Fürsten, die in Frankreich gewesen waren, in Deutschland aufgegriffen und dort übersetzt oder umgedichtet worden. Über Frankreich seien britannische, keltische und walisische Sagenstoffe nach Deutschland transportiert worden, so dass in die deutsche Literatur auch diese Einflüsse eingegangen seien. Die Geschichten von König Artus und seiner Tafelrunde nahmen für Siemsen innerhalb der Ritterliteratur eine herausragende Stellung ein. Diese Geschichten seien aus der „keltischen Sagenwelt“ entstanden, die sich aber mit „orientalischer Überlieferung“ vermischt hätten. Daher bewertet Siemsen zum Beispiel die „Elfen-, Feen- und Zaubergeschichten“ als Kern der europäischen Literatur. Denn diese „übereuropäischen Stoffe“ hätten über die Jahrhunderte hindurch eine „zähere Lebenskraft“ bewiesen als die „nationale“ Ritterdichtung.67 Europäische Literatur erreichte für Siemsen immer dann ihre höchste Form und ihren stärksten Aussagegehalt, wenn möglichst viele unterschiedliche Einflüsse in ihr zusammenliefen. Innerhalb ihrer Darstellung wies die frühe deutsche Literaturentwicklung jedoch einige Merkmale der Entwicklungsverzögerung auf. Siemsen 64 Thomas Müller: Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraums“ im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus, Bielefeld 2009, S. 68. 65 Ebd., S. 69. 66 Siemsen: Kapitel: Das Mittelalter, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I. 67 Siemsen: Kapitel: Ritterliche Dichtung, im Heft: Lit IV, S. 11.

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führte verschiedene Gründe dafür an. Zunächst, so erklärte sie ohne weitere Ausführungen, sei „die Kluft zwischen antik beeinflusster Bildung und davon unberührter Volksüberlieferung“ größer gewesen als in den romanischen Ländern. Bis in die zeitgenössische Gegenwart sei dieses Manko nicht „ausgeglichen“,68 so Siemsen weiter. Das „deutsche Gut“ der deutschsprachigen Gebiete habe in früherer Zeit für die romanischen Länder „fremd“ und „barbarisch“ gewirkt. Von den deutschsprachigen Gebieten schien demnach in Siemsens Betrachtung kein maßgeblicher Einfluss auf andere Gebiete ausgegangen zu sein. Dennoch habe in den deutschsprachigen Gebieten eine Emanzipation von der lateinischen Sprache bewirkt, dass allmählich „ein wachsendes Sprachgefühl“ für die eigene Sprache und für eigene Ausdrucksformen geweckt worden sei. Das wiederum bewertete Siemsen positiv, hatte sie doch am Beispiel der Griechen eine „ausgeprägte Eigenart“ als Ergebnis „persönlicher Selbständigkeit“ als vorbildhaft herausgestellt. Neben ein „paar alte[n] Zaubersprüche[n]“ gehörte das „Heliand-Gedicht“ für Siemsen zu den ersten Höhepunkten deutscher Literatur. „Ein unbekannter Niedersachse“ habe hier die Lebensgeschichte von Jesus als „einheitliches Bild eines milden[,] starken und wundertätigen Friedensfürsten“ literarisch verarbeitet. Siemsen bedauerte, dass dieses Gedicht damals leider über die „Aufnahmefähigkeit der Sachsen“ hinausgegangen sei und daher kaum Verbreitung gefunden habe. Sie hoffte aber mit Blick auf die zeitgenössische Gegenwart, dass „dieses tausendjährige und demnach ganz frische Volksevangelium vielleicht ein spätes Wiederverwenden erleben“ könne.69 Trotz der Entwicklung unterschiedlicher Literaturformen in Europa erkannte Siemsen ein unterschwelliges Grundelement, das die gesamte europäische Literatur einheitlich geprägt habe und charakteristisch für sie sei. Das war die Volksdichtung. Durch diese hätten sich schließlich „Einheit und Vielgestalt“ in Europa gleichermaßen durchgesetzt.70 Siemsen erklärte, Volksüberlieferung stamme aus der „vorgeschichtlichen Zeit“,71 sei also aus der mündlichen Überlieferung entstanden, die schließlich neben der lateinischen Literatur in Klöstern oder durch den ritterlichen Adel in den jeweiligen Volkssprachen niedergeschrieben und erstmals literarisch verarbeitet worden sei.72 Die Volksüberlieferung deutete sie als universal. Diese Überlieferung hatte keine Zeit und keinen Ort, sie wurde als ahistorisch und der geschichtlichen Entwicklung enthoben dargestellt. Volksüberlieferung definierte Siemsen als „das, was überall und zu allen Zeiten Menschenherzen bewegt […] und was von Mund zu Mund berichtet wird als Abenteuer, Geschichte, Schwank, Mär von überall und nirgend [sic]“.73 Die Volksdichtung habe sich zwar überall in ih68 Siemsen: Kapitel: Von der Völkerwanderung bis zu Karl dem Grossen, im Heft: Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II. 69 Siemsen: Kapitel: Die Anfänge der deutschen Literatur, im Heft: Die Anfänge der deutschen Literatur III. 70 Siemsen: Kapitel: Von der Völkerwanderung bis zu Karl dem Grossen, im Heft: Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II. 71 Siemsen: Kapitel: Vorgeschichte, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I. 72 Siemsen: Kapitel: Das Mittelalter, in ebd. 73 Siemsen: Kapitel Vorgeschichte, in ebd.

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rer äußeren Form unterschieden, würde aber dem Inhalt nach immer „die ewigen Themen des menschlichen Lebens: Liebe, Festfreude, Abschied und Trauerklage, Arbeit und […] Wechsel der Jahreszeiten“ zum Ausdruck bringen.74 Durch die anthropologischen Grundthemen und ihre Entstehung in vorgeschichtlicher Zeit war die Volksüberlieferung für Siemsen zugleich auch „vornational“. Die mündliche Überlieferung habe nicht, wie sie betonte, „die Grenzen von Staaten und Sprachen und Nationen“ gekannt.75 Siemsen berief sich in ihrer Deutung der Dichtung und Volksüberlieferung auf den Schriftsteller und Übersetzer Johann Gottfried Herder (1744–1803), der sich im Rahmen seiner „Humanitätsidee“ sehr für außereuropäische Völker interessiert und sich in diesem Zusammenhang auch mit den Entstehungsgrundlagen der europäischen Völker befasst hatte.76 „[D]er bedeutendste Pionier und internationale Anreger in ihrer [der Dichtung, MvB] Erforschung“ hatte für Siemsen dargelegt, dass „die Gabe der Poesie als Empfindung und ihr Ausdruck [in] allen Menschen ohne Unterschied der Klassen eingeboren“ sei. In Anlehnung an Herder behauptete Siemsen auch, „Dichtung“ werde „überall [dort] geboren […], wo Menschen auf Erden leben“ und könne „überall verstanden werden“. Insbesondere in der „Volksdichtung“ drücke sich der „menschheiterfüllende und erdumfassende Charakter“ der Dichtung aus.77 Siemsen erwähnte an dieser Stelle nicht, dass Herder jedem „Volk“ einen eigenen Charakter zugesprochen und deswegen auch eine bewusste gegenseitige Abgrenzung der Völker untereinander gefordert hatte.78 Die Bedeutung, die Herder für Siemsens Argumentation hatte, bestand wohl vielmehr in seiner Auffassung des Volksbegriffs. War der Begriff „Volk“ als Bezeichnung für die unteren Schichten zunächst negativ besetzt, erhielt er um 1800, maßgeblich beeinflusst durch Herders Philosophie, eine neue Bedeutung, die für die folgenden Nationalbewegungen in Deutschland und im Osten Europas erhebliche Ausstrahlungskraft besaß. Herder hatte argumentiert, ein „Volk“ konstituiere sich aufgrund gemeinsamer Sprache und Dichtung, die es zu einer Gemeinschaft bzw. einer Nation mit gleichen Werten, gleichen Eigenschaften und eigenen Charakteristika zusammenschweiße. Das „Volk“ wurde in Anlehnung an Herder, der Völker als etwas organisch Gewachsenes betrachtete, in der Folgezeit mit „Natürlichkeit“ und „Ursprünglichkeit“ gleichgesetzt, die es aus Sicht gebildeter Schichten vor dem Hintergrund einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft nach Ende des Absolutismus zu bewahren galt.79 74 Siemsen: Heft: Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II. 75 Siemsen: Kapitel Vorgeschichte, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I. 76 Massimo Mori: Herder und Europa, in: Tilman Borsche (Hg.): Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, München 2006, S. 290– 305, bes. S. 290 f. und S. 296. 77 Siemsen: Kapitel III: Spuren der ältesten Volksdichtung in deutschsprachigen Gebieten, im Heft: Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II. 78 Jansen und Borggräfe: Nation, S. 39. 79 Ebd., S. 38 f. Zur Ursprünglichkeitsmetaphorik siehe auch: Henning Buck: Zum Spannungsfeld der Begriffe Volk – Nation – Europa vor der Romantik, in: Alexander von Bormann (Hg.): Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe (Stif-

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Bei Siemsen wurden bestimmte Menschengruppen, die Volksüberlieferung bis in die zeitgenössische Gegenwart einzig noch pflegen würden, fern der Zivilisation, in ihrem vermeintlich ursprünglichen Lebensumfeld und in Einklang mit der Natur geschildert. Zu diesen Menschen zählte sie beispielsweise „Seeleute, die viele Meere durchfahren, Vagabunden, die viele Länder durchwanderten, und wieder solche, die ganz abseits sitzen von dem Tagesgeschehen: Bauern in einsamen Gebirgstälern oder auf den Heiden, vor allem sehr alte Frauen, die noch nicht gelernt haben, ihre freien Stunden mit Radiohören zu verderben.“80

Diese Beispiele zeigen, dass Siemsen auch an dieser Stelle auf kulturkritische Argumentationsmuster zurückgriff, die schon ihre Ausführungen in den 1920er Jahren gekennzeichnet hatten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte das „Volk“ als Synonym für eine vermeintlich dörfliche intakte Ordnung gedient und war für die Kritik an fortschreitender Industrialisierung und Urbanisierung angeführt worden.81 Da Siemsen über ihre Deutung der Volksüberlieferung auch politische Botschaften transportieren wollte, bot sich ein solcher, mit Ursprünglichkeitsideen besetzter Volksbegriff für ihre Argumentation an. Die politischen Forderungen, die sie erhob, erschienen in Auseinandersetzung mit der Volksüberlieferung als vermeintlich naturgegebene Forderungen, die sich aus einem „natürlichen“ Entwicklungsprozess ableiten ließen. Die Volksüberlieferung, die Siemsen als „vornational“ charakterisierte, stand für eine Absage an die Nationalstaatlichkeit, für grenzübergreifende Zusammengehörigkeit, für Frieden, Gemeinschaft und deswegen auch für Werte, die sie als demokratisch beschrieben hatte. Im Rückgriff auf das „Volk“ legitimierte sie damit eine neue europäische Ordnung, die nicht von Regierungen, sondern von der Bevölkerung geschaffen werden sollte. Um diese politischen Forderungen anschaulich zu machen, nutzte Siemsen gerne Naturmetaphern zur Beschreibung der Volksüberlieferung: „Die kurzen leichten Märlein und Schwän[k]e, Fabeln u. Novellen wandern mit Kaufleuten, Söldnern, Fahrenden, soweit der Himmel blau ist. Sie fliegen wie […] geflügelter Samen über Ländergrenzen und Erdteile und wurzeln dann in irgendeinem Bauerndorf, in einem Kloster, einer Schänke.“82

Die Volksüberlieferung sei schließlich „als winzig kleines Rinnsal […] in die Kanäle und Reservoiren des Schrifttums“ geflossen und dann „zum Bach, zum Fluss“ geworden.83 Die Volksüberlieferung enthielt für Siemsen auch die Forderung nach Frieden, weil sie in den meisten Fällen nicht „im Kampf“ entstanden sei, auch wenn sie oft kämpferische Auseinandersetzungen thematisiert habe. Volksüberlieferung konnte für Siemsen nur in jenen Zeiten literarisch verarbeitet werden, in denen „eine getung für Romantikforschung, Bd. 4), Würzburg 1998, S. 21–34, hier S. 25 und Ulrich Gaier: Herders Volksbegriff und seine Rezeption, in: Borsche: Herder im Spiegel der Zeiten, S. 32– 57, hier S. 33. 80 Siemsen: Kapitel: Vorgeschichte, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I. 81 Gaier: Herders Volksbegriff und seine Rezeption, S. 56. 82 Siemsen: Kapitel: Vorgeschichte, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I. 83 Ebd.

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wisse Freiheit, ein gewisses Behagen, ein[] gewisse[r] Wohlstand“ vorhanden gewesen sei. Denn, so betonte sie, „[weder] der Sklave in der Tretmühle, noch der Soldat im Schützengraben besingt sein Leid und Elend“.84 Die „vornationale“ Volksüberlieferung, die die gesamte europäische Literaturentwicklung „von Bocaccio und Shakespeare, von Rabelais und Cervantes und Chaucer bis ins 19. Jahrhundert hinein“ geprägt habe, verlor in Siemsens Darstellung mit den Nationalstaatsgründungen ihre Wirkung. Dass sich die Nationalstaaten „erhaben […] zu sittlichen Forderungen“ gezeigt hätten,85 wurde für Siemsen am „Versiegen dieser mündlichen Überlieferung“ in der zeitgenössischen Gegenwartsliteratur deutlich.86 Statt einer „Demokratisierung“ habe eine „Vulgarisierung“ stattgefunden.87 Vor allem die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges, die „in die entlegensten und persönlichsten Lebensbezirke“ eingegangen seien, hätten zur „Tendenz- und Illusionsdichtung“ sowie zur „Gleichgültigkeit gegen […] Wahrhaftigkeit“ geführt.88 Dennoch meinte Siemsen, sei es „nicht zu kühn zu behaupten, dass die Möglichkeiten der umfassendsten, tiefsten und vollendetsten [sic] Volksdichtung nicht hinter, sondern vor uns liegen“.89 Trotz der positiven Eigenschaften, die sie der Volksdichtung zugeschrieben hatte, war diese Dichtung für Siemsen nie „Gemeinschaftsdichtung“ gewesen. Das begründete sie damit, dass sich auch schon die „älteste […] Gesellschaft“ durch „Klassenunterschiede“ ausgezeichnet habe.90 Siemsen erklärte damit am Beispiel der Literatur, nur eine politische Weiterentwicklung auf Grundlage der durch die europäische Kultur vorgegebenen ethischpolitischen Werte könne zur Gemeinschaft führen, die sie als Europas Schicksal begriff. Sie bewertete die zeitgenössischen europäischen Verhältnisse als einen Schwebezustand zwischen „Zersetzung“ und „Neubildung“. Eine Erneuerung Europas sah Siemsen nur dann voraus, wenn durch „die Antriebe aus menschlicher Vernunft und sittlichem Wollen“ das „Bewusstsein“ gehoben werden könne für ein „europäische[s] Gesamtschicksal“, das sich aus der „Vergangenheit“ ergebe. Diese Vergangenheit sei wesentlich für die europäische „Zivilisation“ und habe „zugleich über Europas Gren[z]en hinaus menschheitsbildend“ gewirkt; ein Begriff, der für sie gleichbedeutend mit Demokratie und Gemeinschaft war.91 Diese Aufgabe sollte insbesondere Deutschland meistern.

84 85 86 87 88 89

Siemsen: Kapitel: Das Mittelalter, in: ebd. Siemsen: Kapitel: Europäische Literatur, in ebd. Siemsen: Kapitel: Vorgeschichte, in ebd. Siemsen: maschinenschriftliches Typoskript ohne Titel über „Filmdichtung“. Siemsen: maschinenschriftliches Typoskript ohne Titel über die „weltpolitischen Probleme“. Siemsen: Kapitel III: Spuren der ältesten Volksdichtung in deutschsprachigen Gebieten, im Heft: Deutsche Literaturgeschichte oder Gesch. d. L. d. dt. Sprachgebiets in Europa II. 90 Ebd. 91 Siemsen: maschinenschriftliches Typoskript ohne Titel über „Filmdichtung“.

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3.1.3 Das „menschheitliche“ Deutschland Deutschland nahm in Siemsens Literaturgeschichte eine doppelte Funktion ein. Siemsen ging es darum, Deutschland als Teil einer demokratischen europäischen Kultur darzustellen; eine Annahme, die sie den Deutschen unbedingt vermitteln wollte. Deshalb gab sie ihrer Darstellung einer europäischen Kultur zunächst viel Raum. Auf einer zweiten Ebene wollte sie zeigen, dass Deutschland für die politische Zukunft Europas eine wichtige politische Funktion einnehmen werde. Um diese Funktion erfüllen zu können, so glaubte Siemsen, müsse Deutschlands vermeintlich demokratische Kultur wieder reaktiviert werden. Nur in Europas Einheit könne Deutschland „sein schon halb verlorenes Leben wieder gewinnen“. Daher bedürfe Deutschland der „Erkenntnis, wie sehr europäisch und nur dadurch menschheitlich seine Kultur immer gewesen ist“.92 Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg wurden in Siemsens Ausführungen kaum thematisiert. Das „andere“ Deutschland, das sie als „menschheitlich“ definierte, wurde von den jüngsten politischen Entwicklungen zumindest auf einer rhetorischen Ebene abgekoppelt. Trotzdem spielten sie für Siemsens Ausführungen eine wichtige Rolle. Denn nur durch die Konstruktion eines „menschheitlichen“ Deutschlands im Gegensatz zum bestehenden nationalsozialistischen Deutschland war es ihr möglich, eine gleichberechtigte Einbeziehung in die gewünschte europäische Gemeinschaft zu begründen. Um dies zu tun, griff Siemsen auf die Zeit des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurück. In Deutschland habe sich in dieser Zeit „das europäische Bewusstsein am reinsten entwickelt“, behauptet sie.93„[E]in armes, zerrissenes, zurückgebliebenes Deutschland“ sei „zum Mittelpunkt europäischen Geisteslebens“ geworden.94 Durch Goethe, Gottsched, Herder, Klopstock, Lessing und Schiller habe die deutsche Sprache und Literatur und damit das „Erleben der Deutschen wieder den Anschluss an das übrige Europa“ gefunden.95 Dieser Rückgriff auf deutsche Geistesgrößen gehörte zum Argumentationsrepertoire nahezu aller Emigranten, die sich als Vertreter eines „anderen“ Deutschlands betrachteten. Die „[h]agiographische […] Aufwertung“96 jener Zeit um 1800 nutzte auch Siemsen. Auf diese Weise konnte sie den eigenen Standpunkt angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen rechtfertigen und eine Zukunftsperspektive für Deutschland entwerfen. Es waren die von ihr seit den 1920er Jahren erhobenen Forderungen nach humanistischen Bildungsinhalten, die sie mit „Erleben“ oder einer Bewusstseinsvertiefung umschrieb und die sich im Deutschland jener Zeit manifestiert hätten. Ähnliche Deutungen formulierten auch andere bürgerliche Emigrantinnen und Emigranten, die auf den deutschen Entstehungskontext des international definierten humanistischen Gedankenguts verwiesen.97 92 93 94 95 96 97

Siemsen: Abschluss, maschinenschriftliches Typoskript. Siemsen: Kapitel: Europäische Literatur, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I. Siemsen: Abschluss, maschinenschriftliches Typoskript. Siemsen: Kapitel: Frühperiode der Aufklärungsliteratur, im Heft: Lit IV. Koebner: Das „andere Deutschland“, S. 225. Ebd., S. 226.

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Das Deutschland der Weimarer Klassik wurde von Siemsen als vornational und vorpolitisch beschrieben. Sie bedauerte in ihren Ausführungen, dass sich aus diesem humanistischen Gedankengut keine entsprechenden politischen Reformen entwickelt hätten. In den Literarischen Streifzügen hatte sie das unpolitische Bürgertum dafür verantwortlich gemacht, führte an dieser Stelle aber keine Begründung an. Sie behauptete lediglich, dass eine politische Entwicklung eingesetzt habe, die genau gegensätzlich zu humanistischen Werten abgelaufen sei. Diese „höchste geistige Leistung“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts sei nämlich „abseits von der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung vollbracht“ worden.98 So habe nicht verhindern werden können, dass mit der späteren Reichsgründung in Deutschland 1870/1871 das „Bekenntnis eines radikalen Nationalismus, einer absolut antieuropäischen Einstellung am frühesten ertönt“ sei.99 Deutsch­ land wurde von Siemsen deswegen „als antieuropäischste Nation Europas“ bezeichnet; als Krankheitsherd, der alle „anderen Völker“ mit „dieser Krankheit [des Nationalismus, MvB] angesteckt“ habe. So habe „unter der falschen Flagge des nationalen Erwachens der Prozess der staatlichen Aufsplitterung“ begonnen und einen Zusammenschluss Europas verhindert.100 Die „Rückkehr zu den Quellen des Europäertums“101 als Genesungsprozess für die „innere Heilung“102 erschien aus diesen Gründen gerade für Deutschland wichtig zu sein. Siemsen nutzte an dieser Stelle eine rhetorische Strategie, mit der die politische Entwicklung Deutschlands pathologisiert wurde. Sie führte diese Pathologisierung aber nicht an, um Deutschland selbst als „krank“ erscheinen zu lassen. Ihr ging es vor allem darum, die politische Idee des Nationalismus zu diskreditieren, die ein internationales Phänomen für sie darstellte. Dem Nationalismus stellte sie die politische Idee Europa gegenüber, die mit „Gesundheit“, „Heilung“ und humanistischen Werten gleichgesetzt und damit als politisches Gegenmodell zu Nationalismus und Nationalstaatlichkeit vorgestellt wurde. In ihrer Literaturgeschichte thematisierte Siemsen kaum eine Verantwortlichkeit der Deutschen am Zweiten Weltkrieg oder an den nationalsozialistischen Verbrechen. Einzig in ihrer Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Literatur verwies sie auf „die Konzentrati[ons]lager, die Vergasungsöfen und die Himmlersche Gestapo“ als Kennzeichen einer „tief erkrankten Gesellschaft“. Diese Literatur sollte als Mahnmal dafür dienen, „in welchem Masse der Wille zu eigener Vergewaltigung und Entmenschung der anderen gehen kann“.103 Der Nationalsozialismus wurde in Siemsens Ausführungen zwar des Öfteren implizit oder explizit thematisiert und kritisiert, nahm aber insgesamt keine exponierte Stelle in den Kapitelfragmenten ein. Sie fokussierte in ihrer Analyse des Nationalsozialismus auf übergeordnete Strukturen, die aus ihrer Sicht zu seiner Entstehung beigetragen hatten. 98 Siemsen: Kapitel: Frühperiode der Aufklärungsliteratur, im Heft: Lit IV. 99 Siemsen: Kapitel: Europäische Literatur, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I. 100 Ebd. 101 Siemsen: maschinenschriftliches Typoskript ohne Titel über „Filmdichtung“. 102 Siemsen: Kapitel: Europäische Literatur, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I. 103 Siemsen: Reaktion und Widerstand in der Literatur, maschinenschriftliches Typoskript.

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Obwohl Siemsen den Nationalsozialismus für eine „deutsche Sondererscheinung“ hielt, die sich durch „besonders schlimme Ausprägungen von Rassen- und M[a]chtideologien ausgezeichnet“ habe, betrachtete sie ihn vor allem aber im Zusammenhang mit der Entwicklung anderer faschistischer Regime und Bewegungen in Europa. Diese Entwicklungen hätten zuerst in Ost- und Südeuropa eingesetzt. Mit dieser Argumentation verfestigte Siemsen noch einmal die Grenzziehung zwischen dem Osten bzw. Südosten Europas und dem Einflussgebiet der demokratischen europäischen Kultur in der Mitte und im Westen Europas, die sie in ihren vorigen Ausführungen gezogen hatte. Die „Wurzeln“ des Faschismus lagen für Siemsen aber auch „in der sozialen Reaktion“ begründet, die sich seit 1917 im Gewand des „Antibolschewismus“ „gegen die Organisationen der Arbeiterschaft“ gerichtet habe. Fatal ausgewirkt für die Herausbildung aller europäischen Faschismusregime habe sich dann der „intakt geblieben[e] militärische und bürokratische Herrschaftsapparat sowie […] die in ihrem Machtwillen [ungebrochenen] grosskapitalistischen Schichten“.104 Die These vom Sonderweg Deutschlands, die Siemsen etwa in ihrer Autobiographie mit tradierten preußischen Machtstrukturen begründet hatte, wurde durch diese Darstellung relativiert. Der Nationalsozialismus blieb zwar in ihrer Darstellung eine nationale Sonderform, wurde aber als Ergebnis national übergreifender Probleme verstanden, zu denen sie den Einfluss von Militär, Bürokratie und Finanzen zählte. Durch diese Relativierung des Nationalsozialismus konnte sie Deutschland wieder in eine gesamteuropäische Entwicklung reintegrieren und seine gleichberechtigte Einbeziehung in eine zukünftige europäische Einigung begründen. Eine ähnliche Erklärungsstrategie verfolgte Siemsen in ihrer Argumentation über das Zustandekommen des Zweiten Weltkrieges. Hier wurde die deutsche Schuldfrage ebenfalls ausgeklammert. In ihrem Kapitelfragment über die Antikriegsdichtung während des Ersten Weltkrieges hatte sie behauptet, Krieg an sich sei „eben nur Krankheitsymptom [sic] einer zerfallenden Gesellschaft“. Daher würde sich „die [l]iterarische Auseinandersetzung denn auch über ihn nhin [sic] den tiefer liegenden Problemen“ zuwenden.105 Diese Probleme bestanden für Siemsen in den allgemeinen Grundzügen der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich durch „Auflösungsprozesse“ und „Umwälzungen“106, durch „eine Neuromantik“ sowie bürgerliche „Reaktions- und Restaurationswünsche[]“107 auszeichne. In ihrer Darstellung war der Zweite Weltkrieg nicht etwa durch das nationalsozialistische Regime begonnen worden, sondern durch „die keineswegs gelösten gesellschaftlichen Gegensätze“. Die „sozialistischen Sowjetrepubliken“ hätten zuerst versucht, eben dieses Problem zu lösen. Die „entschiedene Abwehr der Umwelt“ aber habe die „ursprüngliche revolutionäre Zielsetzung […] nicht reifen lassen“. So seien schließ104 Ebd. 105 Siemsen: Die Richtungen in der Literatur. Die Antikriegsdichtung, maschinenschriftliches Typoskript. 106 Siemsen: Die Zeit der Weltkriege und Revolutionen 1914–1945, maschinenschriftliches Typoskript. 107 Siemsen: Maschinenschriftliches Typoskript ohne Titel über die „weltpolitischen Probleme“.

3.1 Anna Siemsens deutsch-europäische Literaturgeschichte

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lich in Europa, in Japan, China und Lateinamerika „gegenrevolutionäre Terror- und Polizeisysteme“ entstanden, deren „forcierte Machtpolitik […] über eine Reihe kleinerer Verwicklungen endlich in die grosse Katastrophe des zweiten [sic] Weltkrieges geführt“ habe.108 In ihrer Deutung über die Entstehung des Zweiten Weltkrieges bezog Siemsen nun auch außereuropäische Länder ein, deren autokratischen bzw. diktatorischen Regime sie für den Beginn des Krieges gleichermaßen verantwortlich machte wie die kapitalistisch-bürokratischen Systeme in Europa. Damit grenzte sie in ihren Ausführungen nicht nur Ost- bzw. Südosteuropa vom Rest Europas ab, sondern außereuropäische Gebiete auch explizit aus. Außereuropäische Länder spielten in ihren Ausführungen nur an dieser Stelle eine Rolle. Obwohl sie „[e]ine Gemeinschaft gegen einander [sic] aufgeschlossener Völker, eine Menschheits­gemeinschaft“109 immer noch als Idealvorstellung beibehielt, wollte sie zunächst die Einheit Europas erreichen und dafür sollte Deutschland eine wichtige politische Funktion übernehmen. Als „Uebergang und Zwischenland“ sollte Deutschland nämlich „die alte, aus den Mittelmeerländern erwachsene Kultur des Westens […] zum Osten“ leiten.110 Deutschland erfuhr damit neben seiner ursprünglichen kulturellen nun auch noch eine besondere geopolitische Bedeutung. Diese Vermittlungsfunktion, die Siemsen schon in der Weimarer Republik formuliert und auch im Exil in ihren europapolitischen Vorträgen angeführt hatte, wurde in ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte als kulturelle Vermittlungsfunktion betrachtet. In ihren Vorträgen hatte sie diese Funktion Deutschlands vor allem wirtschaftspolitisch begründet. Daran zeigt sich, dass in Siemsens Europa-Konzepten kulturelle, wirtschaftliche und politische Aspekte nicht zu trennen waren. Demokratie, die mit der von ihr angeführten „Kultur des Westens“ gleichgesetzt werden kann, war nicht nur ein kultureller Wert, sondern auch Grundlage für wirtschaftliche und politische Reformen, die an dieser Stelle aber nicht genannt wurden. Damit Deutschland seine Vermittlungsaufgabe übernehmen konnte, wollte sie „die Doppelgefahr der Selbstaufgabe und des übersteigerten Selbstbewusstseins“ bannen.111 Siemsen hatte in ihren Ideen für eine zukünftige Einigung Europas die nationalstaatliche Souveränität abgelehnt. In ihren europapolitischen Vorstellungen sollten nationalstaatliche Grenzen aufgehoben werden, da sie diese mit Machpolitik, mit Rechtsbrüchen und deswegen mit undemokratischen Verhältnissen gleichsetzte. Wie sie des Öfteren am Beispiel Osteuropas erläutert hatte, waren für sie die Ländergrenzen in Europa fließend. Diese Ansicht hatte sie mit verschiedenen Sprachgemeinschaften im Osten Europas begründet, die nicht identisch mit den bestehenden nationalen Einheiten seien und deswegen auch politische Konflikte zur Folge gehabt hätten. Aus diesem Grund definierte Siemsen Deutschland in ihrer Literaturgeschichte auch nicht geographisch. „Deutsch“ war für sie „alles[,] was deutsche 108 Siemsen: Die Zeit der Weltkriege und Revolutionen 1914–1945, maschinenschriftliches Typoskript. 109 Ebd. 110 Siemsen: maschinenschriftliches Typoskript ohne Titel über „Filmdichtung. 111 Ebd.

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Sprache redet“.112 Deutschland konstituierte sich über das deutsche Sprachgebiet, das in ihrer Darstellung seit der Völkerwanderung durch Beeinflussung und Wechselbeziehungen in vielerlei Hinsicht zu einem besonderen kulturellen Gebiet ohne klare Grenzen geworden war. In ihrer Darstellung eines „anderen“, eines „menschheitlichen“ Deutschlands griff sie damit auf das alte Konzept der Kulturnation zurück, das im Gegensatz zur „Staatsnation“ als „unpolitisch“ betrachtet worden war.113 Siemsen führte es nun aber für politische Forderungen an. Das Konzept der Kulturnation, das u. a. von dem Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954) geprägt wurde, zeichnete sich seit dem 19. Jahrhundert durch „einen gemeinsamen Wertbezug“ aus, der über kulturelle Leistungen in Literatur, Kunst und Wissenschaft definiert wurde.114 Auch das seit dem frühen 19. Jahrhundert angeführte Argument der Sprache, über die sich die „kulturelle Nationsbildung“ vollziehen sollte,115 nahm Siemsen auf und nutzte es für ihre Forderung nach einer gleichberechtigten Einbeziehung Deutschlands in die europäische Einigung. Sie glaubte, gerade im „Zwischenland“ Deutschland hätten übernationale, europäische Werte und Traditionen den Nationalsozialismus überdauert und müssten nur wiedererweckt werden. Diese Vorstellung teilten mit Siemsen viele in Europa-Verbänden engagierte Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg hofften, Deutschland könne im Rahmen eines europäischen Verbundes seine Selbständigkeit auch nach der Niederlage aufrechterhalten.116 Etwa zeitgleich mit dem Verfassen ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte begann Siemsen, sich auch mit konkreten Plänen zur Neuordnung Deutschlands nach Ende des Krieges zu beschäftigen. Für eine Einigung Europas unter gleichberechtigter Einbeziehung Deutschlands sollte nicht nur das Bewusstsein der Deutschen geändert werden. Siemsen glaubte vor allem auch, dass dafür eine wirtschaftliche und politische Reformierung notwendig sei, damit Deutschland seine Aufgabe, demokratische Werte Richtung Osten zu leiten, auch leisten könne. 3.2 DEUTSCHLAND-PLÄNE FÜR DIE NACHKRIEGSZEIT Zu Beginn des Jahres 1945 hatte Siemsen versucht, eine Organisation auf die Beine zu stellen, in der konkrete Pläne und Ideen für eine Neuordnung Deutschlands und Europas diskutiert und vorbereitet werden sollten. Die Idee, eine entsprechende Organisation zu gründen, wurde durch den Emigranten-Kreis um Heinrich Ritzel angestoßen, dem Siemsen angehörte. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Emigranten-Kreises hofften, Einfluss auf die alliierte Deutschlandpolitik nehmen zu können.117 Siemsen hatte bereits 1942 in einem Vortrag im Rahmen der IFFF die 112 Siemsen: Kapitel Europäische Literatur, im Heft: Deutsche Literatur in Europa I. 113 Weichlein: Nationalbewegungen, S. 37. 114 Ebd., S. 17 f. Der Hinweis auf Meinecke ebd., S. 36. 115 Ebd., S. 33. 116 Loth: Rettungsanker Europa, S. 207. Siehe auch Conze: Das Europa der Deutschen, S. 393 f. 117 Schulze: Otto Braun, S. 808 und 817.

3.2 Deutschland-Pläne für die Nachkriegszeit

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Befürchtung geäußert, Deutschland werde nach Kriegsende, „einer zweifellos langwierigen Besetzung durch die kombinierten Alliierten [sic] Kräfte unterworfen werden, die das Gebiet fast mit Sicherheit in mehrere Zonen aufteilen werden“. Sie hoffte, es werde möglich sein, „den achtzig Millionen des alten Deutschlands Lebensmöglichkeiten und Lebensaussichten“ zu geben.118 Überlegungen zu einer Neuordnung Deutschlands wurden auch in Exil-Kreisen in anderen Ländern formuliert. Grundlegend für die Ideen, wie eine neue Ordnung für Deutschland und Europa aussehen könnte, war die Einschätzung, Europa sei zum Spielball außereuropäischer Mächte geworden. In den Diskussionen über die internationale Nachkriegsordnung wurde immer wieder gefordert, eine neue Ordnung für Europa zu schaffen, die geeignet sei, einen weiteren Krieg zu verhindern und den „Handlungsspielraum“ der Europäer auf dem internationalen Parkett für dieses Ziel zu erweitern.119 Dafür sollte auch aus Sicht anderer sozialdemokratischer Exilkreise Deutschland in die europäische Nachkriegsordnung gleichberechtigt einbezogen werden. Großbritannien war seit 1940 „zu einem Fluchtpunkt für das europäische politische Exil geworden“120 und avancierte zum Mittelpunkt der sozialistischen und sozialdemokratischen Emigration. Es bestanden Kontakte zur Labour Party, über die man Einfluss auf Regierungskreise für die zukünftige Neuordnung Deutschlands gewinnen wollte.121 In London hatten sich bereits im März 1941 die Exilgruppen von SPD und den linken Splitterparteien ISK, SAP und Neu Beginnen zusammengeschlossen und die Union sozialistischer Organisationen in Großbritannien gegründet. Die Union trat in der Folgezeit mit einer Vielzahl von Richtlinien und Resolutionen für eine Neugestaltung Deutschlands und Europas an die Öffentlichkeit.122 Diese Gründung erfolgte aus der Annahme weiter Kreise des sozialdemokratischen und sozialistischen Exils, größere politische Einflussnahme nach dem Krieg sei nur zu erreichen, wenn die Bereitschaft zur Zusammenarbeit erhöht und eine Einheit der Arbeiterparteien und ihrer Organisationen geschaffen werden könne. Angesichts der eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten im Exil sollten 118 BAR, E4320B, 1975/40, 10: Thesenpapier von Siemsen mit dem Titel: Pro Memoria. Ueber die europäischen Nachkriegsprobleme, S. 2. Abschrift des Nachrichtendienstes der Kantonspolizei Zürich als Anhang einer „Meldung“ vom 23. September 1942. 119 Behring: Demokratische Außenpolitik, S. 323. 120 Ludwig Eiber: Nachkriegsplanungen von Emigranten in Großbritannien, in: Krohn und Schumacher: Exil und Neuordnung, S. 63–85, hier S. 63. 121 Ebd., S. 65 und Johannes Klotz: Vorstellungen der Exil-SPD über eine zukünftige deutsche Republik, in: Reinhard Kühnl und Eckart Spoo (Hg.): Was aus Deutschland werden sollte. Konzepte des Widerstands, des Exils und der Alliierten (Distel-Hefte. Beiträge zur politischen Bildung, Bd. 27), Heilbronn 1995, S. 127–155, bes. S. 134. 122 Ringshausen und von Voss: Vorbemerkungen zum Text: Dokument 15: Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien: Richtlinien für eine deutsche Staatsverfassung (Frühjahr 1945), in: dies.: Die Ordnung des Staates, S. 349–350. Grundlegend zur Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien: Ludwig Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration. Die „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“ 1941–1946 und ihre Mitglieder. Protokolle, Erklärungen, Materialien (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft Bd. 19), Bonn 1998.

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alte parteipolitische Grabenkämpfe aus der Weimarer Zeit überwunden werden, wobei diese in der Praxis dann aber doch immer wieder aufbrachen.123 Diese Grabenkämpfe prägten auch die Exilgruppierungen in der Schweiz. Die Emigranten-Gruppe, die sich seit Beginn der 1940er Jahre um Ritzel scharte, war sehr heterogen. Zu diesem losen Verband zählten nicht nur Personen aus dem sozialistischen Lager, sondern auch solche, die bürgerlichen Parteien und Gruppen, wie beispielsweise der DDP oder der Zentrumspartei, angehört hatten. Neben persönlichen Animositäten waren die dort diskutierten Zielvorstellungen für eine Neuorganisation Deutschlands und Europas entsprechend vielfältig.124 Siemsen war während ihrer gesamten politischen Arbeit stets um eine Organisation gleichgerichteter Kräfte bemüht gewesen und entschied sich vermutlich aus diesem Grund eine Gruppe zu gründen, die dezidiert sozialistische Zielsetzungen verfolgte. Ein weiterer Anstoß für Siemsen, eine sozialistische Emigrantenorganisation zu gründen, erfolgte offensichtlich auch durch die publizistischen Aktivitäten der Union sozialistischer Organisationen in Großbritannien. In Siemsens Teilnachlass im Schweizerischen Sozialarchiv befindet sich ein Dokument mit einer abgetippten „Erklärung“ über „die internationale Politik“ der Union sozialistischer Organisationen in Großbritannien, die sie möglicherweise selbst ins Deutsche übersetzt hatte.125 Dabei handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um das Dokument: „Erklärung über die internationale Politik deutscher Sozialisten“,126 das zuerst 1943 auf Englisch unter dem Titel „The International Policy of German Socialists“ verbreitet worden war.127 Hierin wurde „eine Föderation der europäischen Völker“, eine Einbeziehung Deutschlands unter den Prämissen der militärischen Abrüstung und der „Enteignung“ des Großgrundbesitzes sowie der Schwerindustrie gefordert. Deutschland sollte die „Möglichkeit“ erhalten, „bei der Gestaltung seines inneren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens seiner eignen [sic] Initiative zu folgen“. Ausdrücklich gefordert wurde für die zukünftige Friedenssicherung eine Zusammenarbeit mit „der britischen Völkerfamilie, der Sowjetunion und de[n] Vereinigten Staaten von Amerika“.128 Die im März 1945 auf maßgebliche Initiative von Siemsen zurückgehende Gründung der Union deutscher Sozialisten in der Schweiz folgte offenbar dem Vorbild der britischen Schwesterorganisation, wofür der Namenszusatz „Union“ ein Hinweis sein mag. Die Gründung der Union hatte 123 Ringshausen und von Voss: Vorbemerkungen zum Text: Dokument 15: Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien: Richtlinien für eine deutsche Staatsverfassung (Frühjahr 1945), in: dies.: Die Ordnung des Staates, S. 350 und Ringshausen: Der Widerstand gegen die Diktatur und das neue Bild von Deutschland, hier S. 28 f. 124 Schulze: Otto Braun, S. 808. 125 SozArch, Ar 142.20.1.: Siemsen: Die internationale Politik deutscher Sozialisten, maschinenschriftliches Typoskript. 126 Gerhard Ringshausen und Rüdiger von Voss: Vorbemerkungen zum Text: Dokument 15: Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien: Richtlinien für eine deutsche Staatsverfassung (Frühjahr 1945), in: dies.: Die Ordnung des Staates, S. 350. 127 Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. 296 hier Fußnote 1. Die Erklärung ist ebd. in deutscher Sprache abgedruckt auf den Seiten 296–298. 128 Siemsen: Die internationale Politik deutscher Sozialisten, maschinenschriftliches Typoskript.

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aber auch eine Vorgeschichte, die in den ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb des Schweizer Exils wurzelte. 3.2.1 Die „Union deutscher Sozialisten in der Schweiz“ Die Hoffnung, nach Zusammenbruch des Nationalsozialismus eigene politische Zielvorstellungen umsetzen zu können, hatte bei den meisten sozialistischen Emigrantinnen und Emigranten zu dem Gedanken geführt, möglichst viele Kräfte mit ähnlichen Vorstellungen zu bündeln.129 Der in der Schweiz zunächst ohne festere Organisation tätige Emigrantenkreis, dem sich Siemsen angeschlossen hatte, wurde maßgeblich geprägt durch Ritzel, Otto Braun, den ehemaligen Zentrumspolitiker Joseph Wirth (1879–1956), den Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner (1887–1980) und den Schriftsteller Jakob Kindt-Kiefer (1905–1978), der über ein großes Vermögen verfügte und die katholische Emigration in der Schweiz repräsentierte.130 Seit 1942 begann die Gruppe um Joseph Wirth, erste ausgearbeitete Ideen für eine neue deutsche Nachkriegsordnung an Regierungsvertreter Großbritanniens und der USA zu senden.131 Die Notwendigkeit, eine festere Organisation und konkretere Programme für die Nachkriegsordnung auszuarbeiten, war Siemsen und ihrem Mitstreiterkreis umso dringlicher erschienen, als im Juli 1943 in der Nähe von Moskau Emigranten, Offiziere und Soldaten das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) gründeten. Das NKFD betrachtete sich als überparteilich und als zentrale Sammelstelle für alle Gegner des Nationalsozialismus. Kurze Zeit später entstand in der Schweiz eine Schwesterorganisation namens Bewegung Freies Deutschland in der Schweiz, die zunächst im Untergrund agierte und einen guten Mitglieder-Zulauf verzeichnete.132 Eine Zusammenarbeit hatte Siemsen vor allem wegen des Einflusses der Generäle im NKFD abgelehnt. Sie bezweifelte, dass durch die Mitgliedschaft der Generäle ein „Wendepunkt der deutschen Geschichte“ eingetreten sei, der für ein „neue[s], nationale[s] und soziale[s] Gewissen“ spreche. Auch kritisierte sie das Grundsatzprogramm der Organisation, in dem „keinerlei Gruppenbildungen“ vorgesehen seien, was sie als unvereinbar mit demokratischen Grundsätzen erachtete.133 Einen Alleinvertretungsanspruch auf die nationalsozialistische Gegnerschaft 129 Vgl. Ringshausen und von Voss: Einführung, in: dies.: Die Ordnung des Staates, S. 7 f. 130 Grundlegend dazu: Ulrike Hörster-Philipps: Nachkriegskonzeptionen deutscher Politiker im Schweizer Exil. Der Wirth-Braun-Hoegner-Kreis, in: Krohn und Schumacher: Exil und Neuordnung, S. 87–112. 131 Siehe ebd., S. 93–98. 132 Ebd., S. 99. Ausführlich zum Freien Deutschland: Karl Hans Bergmann: Die Bewegung „Freies Deutschland“ in der Schweiz 1943–1945. Mit einem Beitrag von Wolfgang Jean Storck: Schweizer Flüchtlingspolitik und exilierte deutsche Arbeiterbewegung 1933–1943, München 1974. 133 A.[nna] S.[iemsen]: Was das Demokratische Deutschland mit dem Freien Deutschland gemeinsam hat, und was beide scheidet, in: DD. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft „Demokratisches Deutschland“ 1 (1945), Heft 2, S. 3–4.

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wollte sie dem ihrer Meinung nach von Generälen dominierten NKFD nicht zugestehen. Aus dem gleichen Grund begannen Ritzel, Hoegner und Otto Braun unter Mitwirkung anderer Emigranten mit der Bildung eines „Demokratischen Antinaziblocks“. Die Richtlinien, die auch Siemsen anerkannte,134 wurden im September 1944 verabschiedet. Sie sahen vor, alle Parteien, die ideologisch im Gegensatz zum Nationalsozialismus standen und sich zu einer demokratischen Republik bekannten, zu sammeln. Ferner sollte die künftige Neuordnung Deutschlands von den Deutschen selbständig bestimmt werden. Die Siegermächte sollten dazu bewogen werden, die zukünftigen Schlüsselpositionen mit Gegnern des NS-Regimes zu besetzen. Die allgemein gehaltenen Richtlinien waren ein Kompromiss, der aus langwierigen Auseinandersetzungen hervorgegangen war.135 Im April 1945 konnte schließlich in Zürich die Arbeitsgemeinschaft Das Demokratische Deutschland (DD) gegründet werden. Wirth und Otto Braun übernahmen den präsidialen Vorsitz. Das DD forderte eine deutsche Bundesrepublik, die Wiederherstellung Preußens wurde entgegen den Wünschen Brauns abgelehnt. Das Erziehungs- und Bildungswesen „sollte […] auf Grundlage der europäischen Kultur“ aufgebaut, die Wirtschaft dezentralisiert, der Großgrundbesitz enteignet und Produktionsgenossenschaften gegründet werden. Das DD lehnte „die Auflösung der nationalen Einheit und jede Verletzung der territorialen Integrität Deutschlands durch Gebietsverluste im Osten wie durch Gründung katholischer Separatstaaten im Süden oder im Westen“ ab.136 Das DD fungierte als Dachverband verschiedener politischer Verbände, die etwa zeitgleich aus der Taufe gehoben wurden. Dazu zählte die von Siemsen begründete Union deutscher Sozialisten in der Schweiz.137 Neben der Union deutscher Sozialisten schlossen sich noch die Vereinigung Christlicher Demokraten sowie die Liberal-demokratische Vereinigung dem DD an. Siemsen wurde Mitglied des DD-Hauptausschusses.138 Die Arbeitsgemeinschaft bezweckte eine Zusammenfassung aller Deutschen in der Schweiz, die sich zu „demokratischen Grundsätzen“ und zur „Pflege ihrer kulturellen Beziehungen zur Heimat und zum Gastland“ bekannten.139 Sie stand auf „den sittlichen Grundlagen des europäischen Geistes“ und wollte für den „Aufbau Deutschlands im föderalistischen, republikanischen, demokratischen und genossenschaftlichen Sinne“ arbeiten,140 aber auch für die

134 Hörster-Philipps: Nachkriegskonzeptionen, S. 99. 135 Ebd., S. 102. 136 Benz: Konzeptionen, S. 208. 137 Hörster-Philipps: Nachkriegskonzeptionen, S. 99–101. Zitat auf S. 101. Siehe zu den Richtlinien auch: Ringshausen und von Voss: Vorbemerkung zum Dokument 16: Das Demokratische Deutschland: Grundsätze und Richtlinien für den deutschen Wiederaufbau im demokratischen, republikanischen, föderalistischen und genossenschaftlichen Sinn (Mai 1945), S. 357–358. 138 N. N.: Aufbau und Gliederung der Arbeitsgemeinschaft „Demokratisches Deutschland“, in: DD 1 (1945), Heft 1, S. 7. 139 N. N.: Statuten der Arbeitsgemeinschaft „Demokratisches Deutschland“, in: DD 2 (1946), Heft 5, S. 9–10, hier S. 9. 140 [Jakob] Kindt-Kiefer: Wegworte, in: DD 1 (1945), Heft 1, S. 1–2, hier S. 2.

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„Förderung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit mit dem Ziele wirtschaftlicher, kultureller und politischer Föderation“.141 Durch die Organisation aller sozialistischen Kräfte in einer Union deutscher Sozialisten verkörperte Siemsen die sozialistische Fraktion innerhalb des politisch heterogenen DDs und arbeitete ein entsprechendes Programm aus. Auf einer Konferenz in Langenthal am 3. und 4. März 1945 war unter maßgeblicher Initiative von Siemsen und dem SPD-Politiker Wilhelm Hoegner die Gründung der Union deutscher Sozialisten in der Schweiz beschlossen worden.142 Die Konferenz wurde von Siemsen einberufen und auch finanziert, es nahmen 39 Abgeordnete teil. Die Einladungen waren gezielt an überwiegend sozialdemokratische Personen verschickt worden. Auch Angehörige der linken sozialistischen Splittergruppen wie dem ISK waren vertreten, nicht aber Anhänger der Bewegung Freies Deutschland. Die Leitung der Union bestand aus sieben Mitgliedern.143 Nach Angaben vom September 1945 gehörten zur Leitung der Union neben Siemsen und Hoegner unter anderem die ISK-Aktivistin Hanna Bertholet (1901–1970), die SPD-Politiker Valentin Baur (1891–1971) und Franz Bögler (1902–1976), der USPD- und spätere SPD-Politiker Arthur Crispien (1875–1946), der Generalsekretär des Deutschen Freidenker-Verbandes (DFV) Hermann Graul und der Jurist Alfred Petzold (1899–1969).144 Über genaue Mitgliederzahlen ist nichts bekannt, doch wird die Gruppe recht klein und überschaubar gewesen sein. Auch Ritzel trat der Union bei. Wie Hoegner rückblickend berichtete, hatte die Union „neben der Arbeitsgemeinschaft ‚Das demokratische Deutschland‘ keine größere Bedeutung mehr“ erlangt.145 Die Union „bezweckt[e]“, so der Wortlaut in den Statuten, „in überparteilicher Weise die deutschen Sozialisten und Gewerkschafter der verschiedensten Richtungen zu sammeln, sie für die Wiederaufbau-Arbeit in Deutschland zu schulen und ihre Rückwanderung nach dort vorzubereiten“.146 Die Richtlinien „von Ostern 1945“147 enthielten ein Sechs-Punkte Programm, das mit der „Eingliederung Deutschlands in eine zu schaffende europäische und internationale Völkergemeinschaft“ begann. Gefordert wurde unter Punkt 1 auch eine „Zusammenarbeit […] mit den internationalen Arbeiterorganisationen“, der „Verzicht auf jede Gewaltpolitik“ und die „Ausrottung des preußischen Militarismus“. Punkt 2 sah die „Beseitigung aller nationalsozialistischen Gesetze und Einrichtungen“ vor sowie die „Reinigung des Staatsapparates von allen Nationalsozialisten und ihren Helfershelfern“. 141 N. N. [Anna Siemsen]: „Das demokratische Deutschland“, in: Neues Deutschland im neuen Europa 1 (1945), Heft 2, o. S. 142 Schulze: Otto Braun, S. 819. 143 Bergmann: Die Bewegung „Freies Deutschland“, S. 115. Die Informationen sind aus einer ebd. abgedruckten Quelle entnommen, bei der es sich um einen maschinenschriftlichen Bericht ohne Verfasser handelt. Vgl. ebd. auch Fußnote 23 auf S. 221. 144 N. N.: Aufbau und Gliederung der Arbeitsgemeinschaft, S. 7. 145 Wilhelm Hoegner: Der schwierige Aussenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten, München 1959, S. 183. 146 SozArch, Ar 142.30.2.: Statuten der „Union deutscher Sozialisten in der Schweiz“ vom 14. Mai 1945, maschinenschriftliches Typoskript. 147 Ebd.

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In Punkt 3 wurde die „Wiederherstellung der persönlichen und politischen Freiheitsrechte“ gefordert, „Neuaufbau und Sicherung der Demokratie“ sowie „Koalitionsrecht“. Eine „[f]öderalistische Gliederung Deutschlands unter Ablehnung aller separatistischer Bestrebungen“ war unter Punkt 3 ein ebenso wichtiger Aspekt wie die „[d]emokratische Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände“. Die Punkte 4 und 5 enthielten dann Forderungen wie die „Enteignung des Großgrundbesitzes“, die „Sozialisierung der […] Schwer- und Großindustrie, des Banken- und Kreditwesens und der großen Versicherungsunternehmen“. Punkt 5 widmete sich vor allem dem „Wiederaufbau der gesamten Wirtschaft nach einem einheitlichen Plan“ und dem „Wiederaufbau der zerstörten Gebiete nach gemeinwirtschaftlichen Gesichtspunkten“. Ziel sollte die „Sicherung einer menschenwürdigen Existenz für jeden Einzelnen“ sein. Im sechsten und letzten Punkt wurde ein „Neuaufbau des gesamten Erziehungswesens im Geiste der Freiheit, Gerechtigkeit, Humanität und internationalen Solidarität, unter Bekämpfung von Rassenwahn und Völkerhaß“ propagiert.148 Ideen für eine föderative Neuordnung Deutschlands, so wie sie innerhalb des DDs und in der Union deutscher Sozialisten in der Schweiz propagiert wurden, war insbesondere ein Kennzeichen des Schweizer und des englisch-amerikanischen Exils.149 Wolfgang Benz hat betont, dass innerhalb des DDs die politische Verfassung der Schweiz als Vorbild für die geplante föderative Struktur Deutschlands gedient und das DD deshalb „ein signifikantes Beispiel für die Adaption politischer Ideen des Exillandes“ dargestellt habe.150 Siemsen hatte Deutschland bereits seit den Weimarer Jahren als „kleines“ Europa definiert und ließ sich auch in ihren Ideen für eine Neuordnung Deutschlands von der politischen Organisation der Schweiz inspirieren. Wie sie in ihrer Broschüre Europäischer Frieden formulierte, sollten Deutschland wie auch Europa insgesamt „nach dem Vorbild der Schweizerkantone“ föderalistisch reformiert werden.151 3.2.2 Ein „neues“ Deutschland in einem „neuen“ Europa Bemerkenswert für eine kleine Gruppe wie die Union deutscher Sozialisten war die regelmäßige monatliche Herausgabe einer organisationseigenen Zeitschrift, die das Organ der Union wurde: Neues Deutschland im neuen Europa. Die Monatsschrift erschien von April 1945 bis April 1946. Lediglich die letzte Ausgabe war eine Doppelnummer für die Monate März und April 1946. Eine Ausgabe kostete 20 Rappen, ab der Septemberausgabe 1945 wurde der Preis auf 30 Rappen erhöht. Eine Auflagenzahl ist nicht bekannt, ebenso wenig, ob die Mitglieder der Union zur Abnahme 148 N. N. [Anna Siemsen]: Union deutscher Sozialisten in der Schweiz: Richtlinien der Union deutscher Sozialisten in der Schweiz zum Wiederaufbau Deutschlands, in: Neues Deutschland im neuen Europa 1 (1945), Heft 2, o. S. 149 Becker: Demokratie, S. 51. 150 Benz: Konzeptionen, S. 208. 151 Mark: Europäischer Frieden, S. 19.

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verpflichtet wurden. Finanziert wurde die Zeitschrift aber vermutlich über die Beitragszahlungen der Unions-Mitglieder oder von Siemsen selbst. Während die erste Ausgabe vom April 1945 noch Flugblattcharakter aufwies und auf dem Deckblatt lediglich der Name Neues Deutschland im neuen Europa ohne weitere Hinweise zur Herausgeberschaft, zu Jahrgangs- oder Heftangaben vermerkt war,152 erschienen die weiteren Ausgaben im professionellen Zeitschriften-Layout. In Siemsens Teilnachlass im Schweizerischen Sozialarchiv Zürich sind diverse handschriftliche und maschinenschriftliche Typoskripte archiviert, die später in der Zeitschrift Neues Deutschland ohne Namensnennung abgedruckt wurden. Es ist daher davon auszugehen, dass jene Artikel der Monatsschrift, deren Verfasser bzw. Verfasserin nicht genannt oder die mit Union deutscher Sozialisten in der Schweiz gekennzeichnet wurden, aus Siemsens Feder stammten. Dazu zählt ein Großteil aller Artikel. Wahrscheinlich ist, dass Siemsen als erfahrene Publizistin und Redakteurin der Zeitschrift Die Frau in Leben und Arbeit nun auch diese Zeitschrift redigierte. Wie der Titel der Monatsschrift schon deutlich macht, stand ein „neues“ Deutschland im Mittelpunkt der Erörterungen. „Unser Name sagt es. Wir wollen ein neues Deutschland.“153 Mit diesen Sätzen begann Siemsen ihren Leitartikel vom April 1945 in der ersten Ausgabe, die kurz vor dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes im Folgemonat erschien. Siemsen berichtete in ihrer Zeitschrift überwiegend über die Zustände in Deutschland. Dabei führte sie Grundannahmen und Zielvorstellungen an, die sie auch vorher schon an unterschiedlicher Stelle etwa in Publikationen oder Vorträgen formuliert hatte. Die Zeitschrift bot nun aber ein Forum, um diese Vorstellungen und Forderungen zu bündeln und sie einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln. Siemsens Zielgruppe waren vor allem die sozialdemokratischen und sozialistischen Emigrantinnen und Emigranten in der Schweiz, die sie dazu auffordern wollte, sich „für ein sozialistisches Deutschland des arbeitenden Volkes“ zu engagieren. Sie hoffte dabei auch, „auf die Kameraden und Genossen [in Deutschland, MvB], die ausgeharrt haben durch zwölf schreckensvolle und leidvolle Jahre hindurch“. Sie warb für „ein neues, sozialistisches, demokratisches und freies Deutschland in einem befreiten und brüderlich verbundenen Europa und einer befriedeten Welt“. Obgleich sie die Wichtigkeit „einer Weltfriedensorganisation“ betonte, räumte sie dem „engeren Zusammenschluss[ ] der europäischen Länder und Völker“ wie auch in ihren Ausführungen zuvor den Vorrang ein.154 Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war die Befürchtung, es könne eine ähnliche internationale Situation entstehen wie nach dem Ersten Weltkrieg, durch die „Europa wie die Welt in eine dritte Phase des seit 1914 nie beendeten Weltkrieges hineintreiben“ werde. Eine neue Herausforderung sah sie „in dem Gegensatz zwi152 Ein Original-Exemplar befindet sich im SozArch, Ar 142.20.1. In der auf Mikrofilm archivierten Zeitschrift ist die erste Heftnummer ebenfalls nur als typographischer Text einsehbar. Da­ raus ist abzuleiten, dass die erste Heftnummer tatsächlich nicht gedruckt, sondern nur vervielfältigt wurde. 153 Anna Siemsen: Was wir wollen, in: Neues Deutschland im neuen Europa 1 (1945), Heft 1, o. S. 154 Ebd.

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schen der Sowjetunion und den angelsächsischen Demokratien“. Daraus schloss sie, es sehe „zur Stunde so aus, als würde ganz Europa zerrissen werden“. Siemsen befürchtete, die Nachkriegsordnung werde nach „machtpolitischen und militärischen Gesichtspunkten“, aber nicht „nach dauernden sozialen und volkspolitischen“ errichtet werden. Sie glaubte, eine „[v]öllige Zerschlagung des alten Reichsgebiets in Einzelstaaten“ sei geplant sowie eine „radikale Vernichtung der deutschen Industrie“.155 Diese von Siemsen im Frühsommer 1945 kritisierten Pläne der Alliierten waren von diesen längst verworfen worden. Pläne für eine Zerstückelung des Deutschen Reichsgebietes hatten zwar seit 1943 bestanden. Allerdings waren Experten der britischen Regierung schon Ende 1944 zu dem Schluss gekommen, dass eine innenpolitische Teilung Deutschlands weder wirtschaftlich noch sozialpolitisch eine Lösung für die kommende Nachkriegsordnung sein könne. Diese Bedenken wurden auch angeführt, weil man Reparationszahlungen von Deutschland fordern wollte, die es unter den skizzierten Umständen nicht mehr hätte leisten können. Auch der sogenannte Morgenthau-Plan, der von dem amerikanischen Finanzminister Henry Morgenthau jr. (1891–1967) entworfen worden war und der vorsah, Deutschland in einen Agrarstaat umzuwandeln, fand vor diesem Hintergrund keinen Rückhalt mehr.156 Die von Siemsen beobachtete Frontstellung zwischen der UdSSR und den „angelsächsischen Demokratien“, die bald zur Bildung zweier Machtblöcke führen sollte, trat endgültig auf der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 zutage, wo divergierende Interesse die Debatten über Deutschlands Zukunft bestimmten. Die alliierten Siegermächte einigten sich schließlich mühsam auf die Festlegung der Besatzungszonen, auf Entmilitarisierung und Entnazifizierung, d. h. auf die Entfernung aller NSDAP-Funktionäre und NSDAP-Angehörigen aus ihren Ämtern. Man einigte sich auch auf die Demokratisierung der deutschen Bevölkerung und des öffentlichen Lebens, wobei sich die jeweiligen Auffassungen der Sowjets und der Westalliierten von „Demokratisierung“ aber unterschieden. Deutschland sollte als wirtschaftliche Einheit bestehen bleiben. Angekündigt wurde ebenfalls, alle Besatzungszonen später zu einem neuen deutschen Staat zusammenzuführen.157 Mit den Potsdamer Beschlüssen war deutlich geworden, dass Preußen nicht wieder neu entstehen würde. Die Alliierten vertraten die Auffassung, durch die „Vernichtung des preußischen Elements im deutschen Reichsverband“ könne die von Deutschland ausgehende Kriegsgefahr gebannt werden.158 Siemsen hatte eine Zerschlagung Preußens sowie eine Entnazifizierung und Demokratisierung Deutschlands zwar ebenfalls gefordert, lehnte eine Besatzung Deutschlands hingegen rigoros ab. Bevor die Potsdamer Konferenz stattfand, 155 N. N. [Anna Siemsen]: Unsere außenpolitischen Richtlinien, in: Neues Deutschland im neuen Europa 1 (1945), Heft 4, o. S. 156 Wolfgang Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 22), 10. Aufl. Stuttgart 2009, S. 47–49. 157 Ebd., S. 50–53. 158 Schulze: Otto Braun, S. 829.

3.2 Deutschland-Pläne für die Nachkriegszeit

329

glaubte sie, „daß die getrennte Besetzung Deutschlands unlösbare Probleme schafft, weil die Versorgung der dichtbevölkerten Industriegebiete des Westens von Osten her unmöglich“ erreicht werden könne. Den einzigen Ausweg, damit in Deutschland nicht „ein neuer Balkan mitten im Herzen Europas“ entstehe und es zu einer neuen Weltgefahr werde, sah Siemsen „im Rahmen einer europäisch geplanten Wirtschaft“ und im Rahmen „des sozialen Ausgleichs“ sowie in der „Selbstverantwortung“ der Deutschen und im „Aufbau gewerkschaftlicher und genossenschaftlicher Organisationen“.159 Sie griff an dieser Stelle eine Deutung auf, die ihre Europa-Konzepte seit der Weimarer Republik prägten: Die Vorstellung, in Deutschland entscheide sich das Schicksal Europas, weil es im Kleinen europäische Verhältnisse widerspiegele. In der Besatzung Deutschlands durch die Siegermächte glaubte sie, eine Trennung von Wirtschaftsbeziehungen zu sehen, die Auswirkungen auf ganz Europa haben und in „ein völliges Chaos“ führen würden.160 Nach der Potsdamer Konferenz stellte Siemsen fest, dass die Besatzungsmächte „zwar die Säuberung in den Sektoren der Politik und Verwaltung vorgenommen“ hätten, nicht aber im Bereich der Wirtschaft, wo „jene nicht allzu sichtbar abgestempelten Kräfte“ weiter herrschten und „eine Art Auffangstellung für die Nazis“ schaffen würden. Sie begrüßte zwar, dass einige Sozialdemokraten von den Alliierten in „führende öffentliche Stellen“ eingesetzt worden waren, kritisierte jedoch deren Abhängigkeit vom willkürlichen Willen der Besatzungsmächte.161 Die alliierten Besatzungsmächte hatten tatsächlich schnell begonnen, nationalsozialistisch „unbelastete[s] deutsche[s] Personal“ in allen vier Besatzungszonen in politische Posten zurückzuführen. Die Auswahl erfolgte nach Listen, die schon vor Kriegsende erstellt worden waren und Namen derjenigen Personen enthielten, die bereits vor 1933 als Gegner des Nationalsozialismus in Erscheinung getreten waren. Dabei kam es jedoch vor, dass Politiker wie Konrad Adenauer (1876–1967), der 1945 als Bürgermeister von Köln bestätigt wurde, eingesetzt, aber auch wieder abgesetzt werden konnten, wenn ihre Amtsführung den jeweiligen Besatzungsmächten nicht mehr zusagte.162 Für Siemsen waren die innenpolitische Neugestaltung Deutschlands und damit zusammenhängend auch die Neuordnung für Europa insgesamt nur durch sozialistische Reformen zu leisten, die vor allem über eine wirtschaftliche Neustrukturierung erreicht werden sollte. Die Politik der Alliierten, die Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt hatten, entsprach weder ihren föderalistischen Grundsätzen noch ihren Ideen der Selbstverwaltung und der genossenschaftlichen Organisation des öffentlichen Lebens. Siemsen setzte ihre Hoffnungen wie schon in den 1920er Jahren auf die internationale Arbeiterbewegung. Diese sollte „ein geeintes und freies Europa innerhalb einer loseren Weltorganisation“ schaffen, „in welchem auch ein innerlich gereinigtes und in freier Verantwortung sich föderativ einglie159 N. N. [Siemsen]: Unsere außenpolitischen Richtlinien. 160 Ebd. 161 N. N. [Anna Siemsen]: Wir blicken nach Deutschland, in: Neues Deutschland im neuen Europa 1 (1945), Heft 7, o. S. 162 Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung, S. 56 f. Zitat auf S. 60.

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derndes demokratisches und sozialistisches Deutschland seinen Platz finden“ werde.163 Siemsens Vorstellungen zur Reformierung Deutschlands und Europas hatten letztlich keine Auswirkungen auf die Deutschland- oder Europapolitik der Alliierten. Dies war auch bei anderen Exil-Gruppierungen oder Einzelpersonen im Exil der Fall, die andere Ideen für die Reformierung Deutschlands und der internationalen Verhältnisse entworfen hatten als die, die die Alliierten nach langen Verhandlungen umzusetzen versuchten. Dennoch zeigt die Flut an Reformideen für Deutschland und Europa aus Exilkreisen, wie sich die über Jahre hinziehende Einschränkung der politischen Tätigkeit in der Hoffnung entlud, nach Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges nun endlich Einfluss auf die politischen Entwicklungen nehmen zu können. Siemsen sprach von einer „Weltrevolution“ und einem „Erwachen […], das sich [mit] dem des jungen Europa im neunzehnten Jahrhundert vergleichen“ lasse.164 Nahezu alle sozialdemokratischen Exilgruppen hatten, wie auch Siemsen, ihre Vorstellungen zur Reformierung Deutschlands und Europas vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Eroberungspolitik und daher als „radikale Gegenentwürfe“ dazu entwickelt.165 Aus diesem Grund war nicht nur für Siemsen, sondern auch für andere sozialistische bzw. sozialdemokratische Personen im Exil, Deutschland eng verbunden mit den internationalen Verhältnissen, die in Anbetracht der jüngsten Vergangenheit einer ebenso grundlegenden Reform bedurften wie Deutschland selbst. Eine föderative Einigung Europas und eine gleichberechtigte Einbeziehung Deutschlands gehörten dabei zu den Kernforderungen des sozialdemokratischen Exils.166 Auf diese Weise sollte Deutschlands Großmachtstreben eingedämmt und zugleich eine dauerhaft friedliche internationale Ordnung errichtet werden. Siemsen selbst konnte nicht unmittelbar auf die Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland Einfluss nehmen. Die von ihr begründete Union war nur eine sehr kleine Gruppe, hinter der keine Massenbewegung stand. Auch gelangte sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland in keine politische Schlüsselposition, in der sie für eine Umsetzung ihrer Forderungen hätte arbeiten können. Aber viele ihrer Ideen vertraten auch andere Exilgruppen wie etwa die Union deutscher Sozialisten in Großbritannien oder das DD in der Schweiz. Die im DD „entwickelten verfassungspolitischen Grundsätze und Überlegungen über die Rolle Deutschlands in Europa“ hatten schließlich doch „Eingang […] in die Gestaltung der Länderverfassungen, des Grundgesetzes“ gefunden. Hoegner beispielsweise kehrte schon im Juni 1945 nach Deutschland zurück. Dort wurde er zum Senatspräsidenten des Oberlandesgerichtes in München und im Oktober zum Ministerpräsidenten von Bayern er-

163 N. N. [Siemsen]: Unsere außenpolitischen Richtlinien. 164 SozArch, Ar 142.30.1.: Siemsen: Die Zeit der Weltkriege und Revolutionen 1914–1945, maschinenschriftliches Typoskript. 165 Behring: Demokratische Außenpolitik, S. 628. 166 Ebd., S. 632.

3.2 Deutschland-Pläne für die Nachkriegszeit

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nannt und wirkte maßgeblich an der bayerischen Landesverfassung mit.167 Das DD zerfiel allerdings im Verlauf des Jahres 1945 aufgrund von Differenzen, die, wie Hagen Schulze schreibt, weniger in ideologischen Sichtweisen, als vielmehr in persönlichen Animositäten begründet lagen und aus einer „Betroffenheit über die Kluft zwischen […] Träumen und der politischen Wirklichkeit“ resultierten.168 Siemsen erkannte, dass sich ihre Forderungen nach sozialistischen Reformen für Deutschland nicht unmittelbar umsetzen lassen würden: Sie schrieb, die Deutschen würden wohl „zunächst nur leidende Objekte der Politik sein“. Sie glaubte, es werde „ein Fortschritt sein, wenn innerhalb der deutschen Gebiete wenigstens die Beschlüsse, welche Organisations-, Verwaltungs- Aufhlärungs- [sic] und Erziehungsaufgaben den anti-hitlerschen Deutschen überlassen“ werden würden. Sie formulierte wohl im Hinblick auf ihre eigenen Pläne, „daß die Sprache der Tatsachen allmählich überzeugender sein wird, als alles, was wir zu sagen vermöchten, und die Entschlossenheit, uns durch garnichts [sic], was immer geschehen könnte, ablenken zu lassen von dem Wege des inneren Aufbaus in Deutschland, der europäischen Neuordnung, der weltumfassenden Friedenssicherung, die nur der demokratische Sozialismus dauernd gewähren und fest begründen kann.“169

Unter diesen Voraussetzungen bereitete sich Siemsen auf eine Rückkehr nach Deutschland vor, die sie nie infrage gestellt hatte. Sie wollte „[b]ereit sein“ für den Neuaufbau und plädierte an ihre Leser, „ein festes Herz“ zu bewahren, „das unbeirrt bleibt vom Widerstreit der Meinungen und unverzagt bei Rückschlägen und Niederlagen, die ja ganz und gar unvermeidlich sein werden“.170 Am 19. August 1946 reiste sie das erste Mal nach ihrer Emigration 1933 wieder nach Deutschland und besuchte ihre Schwester und ihren Schwager für eine Woche in Hamburg.171 Es sollte aber noch bis zum 30. Dezember 1946 dauern, bis der Schwager Karl Eskuchen in sein Tagebuch notieren konnte, dass Siemsen nun „endgültig […] eingetroffen“ sei.172

167 Hörster-Philipps: Nachkriegskonzeptionen, S. 111. 168 Schulze: Otto Braun, S. 834 f. Zitat auf S. 835. 169 N. N. [Anna Siemsen]: Potsdam und nachher, in: Neues Deutschland im neuen Europa 1 (1945), Heft 6, o. S. 170 Anna Siemsen: Bereit sein. Bücher zum Geleit in eine Zeit grosser historischer Entscheidungen, in: Du 5 (1945), Heft 1, S. 41–43, hier S. 41. 171 AAJB, Mappe 36: Tagebuch Karl Eskuchen, Eintrag vom 19. August 1946. 172 Ebd.: Eintrag vom 30. Dezember 1946.

III. POLITISCHE ARBEIT FÜR DIE EINIGUNG EUROPAS. DIE LETZTEN JAHRE IN DEUTSCHLAND (1946/1947 BIS 1951)

III. Politische Arbeit für die Einigung Europas

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Als Anna Siemsen Ende des Jahres 1946 in Deutschland eintraf, war auch ihr Fortschrittsoptimismus zurückgekehrt. Hatte der Beginn des Zweiten Weltkrieges ihre Hoffnung auf „[e]ine Gemeinschaft gegen einander aufgeschlossener Völker, eine Menschheitsgemeinschaft“1 zunächst erschüttert, behauptete Siemsen nun, es werde eine „neue und diesmal weltrevolutionäre Epoche unserer Geschichte“ heraufziehen.2 Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg glaubte sie auch nun nach dem Zweiten Weltkrieg an einem geschichtlichen Wendepunkt zu stehen, der es ermögliche, umfassende Reformen einzuleiten. Nach den verheerenden Folgen des Weltkrieges hielt sie die Umsetzung ihrer Ordnungsvorstellungen für besonders dringlich und wollte möglichst breite Bevölkerungskreise davon überzeugen. Wie sehr Siemsen an ihren Grundüberzeugungen festgehalten hatte, zeigen viele ihrer Stellungnahmen nach 1945, in denen sie etwa „Gemeinschaft“ erklärte und betonte „[d]er langsame Fortschritt der menschlichen Gesittung beruht darauf, daß wir erkennen: Alle Menschen sind unsere Nächsten, haben den Anspruch auf die gleiche Freiheit, auf das gleiche Recht wie wir.“3 Der Rückgriff auf Ordnungsvorstellungen, die aus der Zwischenkriegszeit stammten, war keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal von Siemsen, sondern ein Charakteristikum für die bildungsbürgerlichen, intellektuellen Debatten der Nachkriegszeit, in denen tradierte Grundüberzeugungen den neuen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen entsprechend modifiziert und angepasst wurden.4 Ein Arbeitsschwerpunkt von Siemsen blieb deshalb nach 1945 eine Erziehung zur Gemeinschaft, die für sie zugleich eine Erziehung zur Demokratie war. Sie hielt eine entsprechende Erziehung gerade in Deutschland für besonders wichtig und engagierte sich unter diesen Prämissen in der sozialistischen Kinder- und Jugendarbeit. Ihren Schwerpunkt legte sie nach 1945 aber vor allem auf die Lehrerausbildung, von der sie hoffte, auf diese Weise könne eine demokratische Erziehung besonders viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erreichen. Die Begriffe „Gemeinschaft“, „Demokratie“ und „Europa“ waren in Siemsens Argumentation unmittelbar aufeinander bezogen und wurden mit den gleichen politischen Bedeutungsinhalten besetzt. Eine Erziehung zur Demokratie war für Siemsen nämlich auch eine Erziehung für Europa. Eine „Erziehung zum Europäer“5 avancierte nach 1945 zu einer Hauptforderung in ihrer politischen Arbeit.

1 2 3 4 5

SozArch, Ar 142.30.1.: Anna Siemsen: Die Zeit der Weltkriege und Revolutionen 1914–1945, maschinenschriftliches Typoskript. SozArch, Ar 142.30.1.: Anna Siemsen: Abschluss, maschinenschriftliches Typoskript. Anna Siemsen: Was ist Gemeinschaft?, in: Junge Gemeinschaft 4 (1952), Heft 7, S. 19 und [Fortsetzung] S. 29, hier S. 19 [postum erschienen]. Schildt: Der Europa-Gedanke, S. 17. N. N.: Veranstaltungsankündigung: Vortrag von Anna Siemsen „Die Erziehung zum Europäer“ am 12. Mai 1947, in: Mitteilungsblatt der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schulund Erziehungswesens 2 (1947), Heft 1, [S. 1].

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III. Politische Arbeit für die Einigung Europas

Siemsen betonte im Rückgriff auf die Schweiz, die sie nach wie vor als Vorbild für eine Neuordnung Deutschlands und Europas betrachtete, die Schweizer Demokratie müsse nun erweitert werden „zur sozialen Demokratie und zur internationalen Zusammenarbeit“.6 Sie nahm hier eine Deutung des Begriffes der „sozialen Demokratie“ vor, die sie bereits zu Beginn der 1930er Jahre entwickelt hatte. Unter sozialer Demokratie hatte sie zu dieser Zeit einen Zustand bezeichnet, in dem die Klassengesellschaft aufgehoben und die kapitalistische Wirtschaftsordnung überwunden sein werde. Dies sollte durch die internationale Einheit der Arbeiterschaft und durch deren „Machtergreifung“ geschehen7 – zwei Aspekte, die Siemsen nun, nach Ende des Zweiten Weltkrieges, mit dem Begriff der „internationalen Zusammenarbeit“ bezeichnete. Da Siemsen nach 1945 größere Bevölkerungskreise mit ihren Forderungen erreichen wollte, nahm sie nicht mehr auf das tradierte sozialistische Argumentationsrepertoire Bezug, sondern rückte nur noch die normative Forderung nach internationaler Zusammenarbeit in den Vordergrund. Nach Durchsetzung der sozialen Demokratie und der internationalen Zusammenarbeit sollte es nach Siemsen zu „einer freien Gemeinschaft Gleichberechtigter“ kommen, so wie es die Schweiz mit ihrer Entwicklung „zu Einheit, Freiheit und Wohlstand“ vorgegeben habe.8 Es war vor allem die „Mannigfaltigkeit in der Einheit“, die ihr für eine Neuordnung Europas vorschwebte. „[D]ie Vielfalt der Lebensführung, der Charaktere, der Überlieferung“ sollte gleichberechtigt anerkannt werden und zur „Einheit in der Freiheit“ führen.9 Das Konzept der Willensnation, das das liberale Schweizer Nationsverständnis geprägt hatte, wurde von Siemsen auf Europa bzw. auf eine föderale Einigung Europas übertragen, die durch Erziehung maßgeblich vorbereitet werden sollte. Gleichzeitig zu diesen Forderungen engagierte sich Siemsen in verschiedenen Europa-Verbänden, die sich für eine entsprechende Einigung Europas auf föderaler Grundlage einsetzten. Neben diesen beiden Arbeitsschwerpunkten galt Siemsens Interesse weiterhin der politischen Aufklärung von Frauen, die sie für die Sozialdemokratie gewinnen wollte. Im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) hielt sie Vorträge zu diesen Themen und besuchte Veranstaltungen und Diskussionsabende. Auch hier betonte sie die Wichtigkeit der „Völkerverständigung“ und „eine[r] sozialistische[n] Wirtschaftsform“, die sie für ganz Europa und die Welt forderte.10 Nach ihrem Tod im Januar 1951 wurden die Vortrags- und Diskussionsabende der AsF in „Anna-Siemsen-Kursus“ getauft.11

6 7 8 9 10

Anna Siemsen: Briefe aus der Schweiz, Hamburg 1947, S. 3. Siehe dazu Kapitel I.2.3.2 Das „demokratische“ Europa in der vorliegenden Arbeit. Siemsen: Briefe aus der Schweiz, S. 4. Ebd., S. 14 f. Archiv FZH, 834–653: Emilie Guhl: Protokoll des Vortrags von Siemsen Frau und Politik auf dem Frauen-Schulungskurs im Kupferhof vom 20. bis 25. Juni 1949, S. 10. 11 Ebd.: Siehe beispielsweise das Anschreiben des Frauensekretariats der SPD, Landesorganisation Hamburg vom 8. November 1951. Der „Anna-Siemsen-Kursus“ wurde noch bis in die 1960er Jahre hinein veranstaltet. Vgl. ebd.: 834–653: Protokoll der Sitzung des Frauen-Aktionsausschusses am 9. Mai 1961.

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Siemsens publizistische Tätigkeit nahm seit ihrer Rückkehr nach Deutschland Ende 1946 im Vergleich zu den Vorjahren quantitativ ab. Insbesondere ihre Beiträge in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen gingen zurück. Dafür veröffentlichte sie einige Monographien wie etwa Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung,12 die sie bereits im Exil verfasst hatte und in denen sie ihre erziehungstheoretischen Überlegungen erweiterte und zusammenfasste. 1948 erschien die dritte Auflage der Literarischen Streifzüge, in denen „die ursprüngliche Grundhaltung“ beibehalten wurde, „die Einheit und den Zusammenhang der europäischen Literatur aufzuzeigen“. Siemsen ergänzte die vorigen Auflagen noch um zwei Kapitel über Goethe und Schiller, weil sie glaubte, dies sei „in der großen geistigen Not Deutschlands“ unabdingbar.13 Ein Jahr später erschien ihre Biographie über Goethe, in der sie ihn als „guten Europäer“ und „Weltbürger“ vorstellte, „der über die enge seines jugendlichen Deutschtums hinaus wahrhaft danach strebt, menschlich zu leben mit allem Menschlichen“.14 Siemsens publizierte ihre Monographien unter kulturpolitischen Prämissen, mit denen sie eine neue demokratische und europäische Kultur in Deutschland etablieren wollte. Der Rückgriff auf Goethe als Repräsentanten einer positiv konnotierten deutschen Kultur, die Siemsen schon in ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte als „menschheitlich“ und europäisch hervorgehoben hatte, war nach Ende des Zweiten Weltkriegs populär geworden. Neben Goethe wurden auch Schiller oder Lessing mit einer spezifisch deutschen Kultur in Zusammenhang gebracht, die durch negative politische Entwicklungen unterdrückt worden sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot sich eine solche Deutung an, wurde doch damit eine vermeintlich positive deutsche Tradition erschaffen, an die wieder angeknüpft werden konnte.15 Der Verweis auf vergangene kulturelle Leistungen „bedeutete nämlich zugleich politisches Postulat und existentiellen Fluchtpunkt in Abgrenzung von den als geistlos und barbarisch empfundenen Zumutungen des Dritten Reiches“.16 Deswegen sind Siemsens kulturpolitische Arbeiten auch in die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende deutsche „Sonderwegsdebatte“ einzuordnen, in der nun die Kontinuität von 1871 zu 1945 zu „einem antiwestlichen Irrweg“ erhoben wurde, mit dem gebrochen werden sollte, um „den verlorenen Krieg politisch und moralisch“ verarbeiten zu können.17 12 Siehe zu Siemsens Buch auch den systematischen Teil bei Manuela Jungbluth, die sich hier den Fragen „der wissenschaftstheoretischen und methodischen Einordnung des pädagogischen Hauptwerks Anna Siemsens“ widmet: Jungbluth: Anna Siemsen, S. 237–368, Zitat auf S. 237. 13 Anna Siemsen: Literarische Streifzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft, 3. Aufl. Frankfurt am Main, Bielefeld und Mainz 1948, S. 7 f. 14 Anna Siemsen: Goethe. Mensch und Kämpfer. Eine Einführung in sein Leben und Werk und eine Auswahl der Gedichte, Frankfurt am Main 1949, S. 77. 15 Dieses „andere“ Deutschland wurde in den 1950er Jahren auch von Otto Grotewohl, dem damaligen Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), angeführt, der mit dieser kulturellen Charakterisierung der DDR eine Abgrenzung gegenüber der BRD vornehmen wollte: Fröschle: Das andere Deutschland, S. 64. 16 Schildt: Der Europa-Gedanke, S. 16. 17 Langewiesche: Der „deutsche Sonderweg“, S. 64.

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Auch Siemsens weitere Monographien standen unter dem Einfluss ihrer Leitideen Frieden, Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit. In der postum erschienenen Anthologie Das Buch der Freiheit, in der sie verschiedene Lieder und Gedichte aus vier Jahrtausenden versammelte, wollte sie beispielsweise zeigen, „daß die Menschen zur Freiheit geschaffen sind“ und dass „Freiheit und Menschenrechte […] eine Einheit“ bilden würden.18 In ihrem Buch Frauenleben in drei Jahrtausenden19 verfolgte sie eine ähnliche Zielsetzung. Sie wollte hier am Beispiel von Geschichten aus allen Teilen der Welt und aus verschiedenen Zeiten die universale Emanzipationsbewegung der Frauen schildern, wobei aber die Geschichten, die in Europa spielen, dominieren. Viele ihrer Monographien erschienen in der 1947 neu gegründeten genossenschaftlichen Büchergilde Gutenberg, in der Siemsen als „Lektorin“ in nicht unerheblichem Maße Einfluss auf das Verlagsprogramm ausgeübt haben soll.20 Sie hatte bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein Memorandum „betreffned [sic] die Schaffung einer Verlagsgenossenschaft zur planmässigen Vorbereitung [der] geistigen Neuorientierung Deutschlands“ ausgearbeitet. Sie bezweckte mit ihrer Idee, den „Hunger nach literarischer vollwertiger Nahrung“ in Deutschland zu stillen und zugleich den Deutschen, die „in ihrer Mehrheit von der Aussenwelt abgeschnitten gewesen“ seien, die „Fremdheit gegenüber dem geistigen Erbe Europas“ zu nehmen.21 Siemsen benannte verschiedene literarische „Einzelgebiete“, auf denen eine entsprechende demokratisch-europäische Neuorientierung stattfinden könne. Neben Büchern, die „Europäisches Werden“ und „Dokumente des Sozialismus“ behandeln sollten, forderte sie auch eine „Friedensbücherei“ sowie Werke, die „[v]om Freiheitskampf der Völker“ berichten würden. In der Rubrik „Schöne Literatur“ taucht schon der Titel „Der Weg ins Freie“ auf sowie der Plan einer „Frauenbücherei“, in der „Selbstzeugnisse von Frauen“ und Bücher über die „Lage der Frauen in den verschiedenen Ländern“ publiziert werden sollten.22 Die Auseinandersetzung mit Literatur und die Vorstellung, über sie ließen sich politische Ideen vermitteln, blieb demnach auch nach 1945 eine Grundüberzeugung und ein Arbeitsschwerpunkt von Siemsen. In den letzten vier Jahren, die ihr nach der Remigration noch bleiben sollten, hatte Siemsen erneut mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Zudem reiste sie viel und führte ihre rege Vortragstätigkeit fort. Zur Erholung und wegen ihres europapolitischen Engagements hielt sie sich beispielsweise wiederholt und für län18 Anna Siemsen: Der Weg zur Freiheit, in: dies. und Julius Zerfass (Hg.): Das Buch der Freiheit. Stimmen der Völker und Nationen aus vier Jahrtausenden, Frankfurt am Main 1956 [postum erschienen], [S. 7–8, hier S.7]. 19 Anna Siemsen: Frauenleben in drei Jahrtausenden. Märchen der Wirklichkeit, Düsseldorf 1948. 20 Margo H. Wolff: Das gute Buch und die deutsche Arbeiterschaft. Zum Jubiläum des 30jährigen Bestehens der Büchergilde Gutenberg, in: Gewerkschaftliche Rundschau 46 (1954), Heft 11, S. 345–348, hier S. 347. 21 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Anna Siemsen: [Memorandum] betreffned [sic] die Schaffung einer Verlagsgenossenschaft, S. 1. 22 Ebd., S. 3 f.

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gere Zeit in der Schweiz auf.23 Zudem übernahm sie eine Reihe von Posten in der sich neu formierenden Europa-Bewegung. Schließlich warteten neue berufliche Herausforderungen auf Siemsen. In Hamburg sollte sie die im Rahmen der alliierten reeducation-Politik begründeten Notausbildungslehrgänge für Volksschullehrer leiten. Als Siemsen nach Deutschland zurückkehrte schienen die Voraussetzungen also günstig für sie zu sein, in ihrer politischen und beruflichen Arbeit dort wieder anknüpfen zu können, wo sie 1933 hatte aufhören müssen. In Hamburg hatte man ihr eine beamtete Stelle in der Schulverwaltung zugesichert und in der Schweiz war eine Europa-Bewegung entstanden, die internationale Ausstrahlungskraft besaß und zum Zeitpunkt von Siemsens Remigration auch in Deutschland bereits zu einer Gründungswelle von pro-europäischen Organisationen geführt hatte. Die Hoffnung auf eine Fortführung ihrer beruflichen Tätigkeit in Positionen, die ihrer Anstellung in den 1920er Jahren entsprochen hätten, sollte sich allerdings nicht erfüllen. REMIGRATION Der Wunsch, nach Jahren der Emigration in ihr Herkunftsland zurückzukehren, scheint vor allem bei denjenigen Emigrantinnen und Emigranten vorherrschend gewesen zu sein, die Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtübernahme aus politischen Gründen verlassen hatten. So war es auch bei Siemsen gewesen. Die Rückkehrquote der politisch Verfolgten beziffert sich auf etwa 50 Prozent.24 Menschen, die wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Deutschland geflüchtet waren, kamen in der Regel nicht zurück. Vertreibung und Ermordung ihrer Angehörigen durch die Nationalsozialisten hatten bei den jüdischen Emigranten oftmals tiefere Spuren hinterlassen, als bei den politischen Flüchtlingen, die versuchten, dort wieder anzuknüpfen, wo sie 1933 vertrieben worden waren. Für Juden war dies ungleich schwieriger.25 Nach bislang ermittelten Erhebungen kamen nur etwa vier bis fünf Prozent von ihnen zurück.26 Siemsens Remigration nach Hamburg resultierte nicht zuletzt aus einem starken professionellen Interesse. Sie hatte ihre Rückkehr nach Deutschland nie infrage gestellt und sich bereits im Exil darauf vorbereitet, obwohl sie sich im Gegensatz zu 23 AAJB, Mappe 36: Vgl. die Einträge im Tagebuch des Schwagers Karl Eskuchen. 24 Marita Krauss: Rückkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001, S. 9. Diese Zahlenangeben auch bei Jan Foitzik: Politische Probleme der Remigration, in: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exil und Remigration (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 9), München 1991, S. 104–114, hier, S. 108. 25 Vgl. Rainer Nicolaysen: Die Frage der Rückkehr. Zur Remigration Hamburger Hochschullehrer nach 1945, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 94 (2008), S. 117–152, hier S. 117. 26 Krauss: Rückkehr, S. 9. Die Zahlenangaben im Rückgriff auf Krauss auch bei Nicolaysen: Die Frage der Rückkehr, S. 117. Zu den schwierigen Bedingungen der Remigration jüdischer Gelehrter vgl. exemplarisch die Biographie über den Politikwissenschaftler Siegfried Landshut (1897–1968) von Rainer Nicolaysen: Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1997.

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anderen Emigrantinnen und Emigranten in einer privilegierten Position befunden hatte. Der Aufstieg des Nationalsozialismus hatte das Ende ihrer beruflichen Karriere bedeutet. Wenn sich dieses Ende auch schon 1924 mit ihrer Versetzung in den „einstweiligen Wartestand“ angekündigt hatte und mit dem Entzug ihrer Professur 1932 schließlich offenbar geworden war, bedeutete das Jahr 1933 für Siemsen insofern einen bedeutenden Einschnitt, als alle Möglichkeiten, die verlorenen Positionen möglichweise wiederzuerlangen, endgültig verloren gingen und ein Bleiben in Deutschland nicht mehr möglich war.27 Wie tief Siemsen diese beruflichen und politischen Einschnitte empfunden hatte, zeigt nicht zuletzt ihre Autobiographie, die sie um 1940 verfasste. Obwohl die Vorgaben des Preisausschreibens, für das Siemsen ihre Autobiographie schrieb, beinhalteten, das Leben in Deutschland vor und nach 1933 zu schildern, beendete Siemsen ihre Ausführungen mit ihrer Emigration im März 1933. Sie selbst bezeichnete „die Hinwendung zum fascistischen Polizeiterror“ als „Wendepunkt“, den sie erlebte.28 In der Forschung ist dieser Text „keinesfalls als persönliche, vielmehr als zutiefst politische Niederschrift“ bezeichnet worden.29 Auch wenn Siemsen private Erlebnisse kaum schilderte, steht der Text gleichwohl für einen persönlichen „Erfahrungseinbruch“,30 den der aufsteigende Nationalsozialismus für sie dargestellt hatte und der sie bis zum Verfassen ihrer Erinnerungen und darüber hinaus begleitete. Nicht nur ihre berufliche Karriere war unterbrochen worden. Auch ihre politische Arbeit, die sie in den Dienst einer umfassenden sozialistischen Gesellschaftsreform gestellt hatte, schien 1933 gescheitert. Das alles bedeutete eine „Infragestellung von Identität“ durch historische Entwicklungen, die nach „autobiographische[r] Selbstvergewisserung“ verlangten.31 Siemsens autobiographische Erinnerungen waren damit eine politische „Orientierungsleistung in einem Moment der historischen Desorientierung“.32 Denn als sie ihre Erinnerungen verfasste, war der Zweite Weltkrieg eben begonnen worden. Der Text steht für eine Selbstvergewisserung ihrer politischen Arbeit, der sich Siemsen im Exil verschrieben hatte: der Aufklärung über das Zustandekommen des Nationalsozialismus und der Propagierung eines „anderen“ Deutschlands jenseits preußischer bzw. nationalsozialistischer Herrschaftsstrukturen, das eine europäische Aufgabe zu erfüllen habe. Sie hoffte, mit ihren Erinnerungen „eine solche Entwicklung zu fördern“, und zählte dabei auf „Bauern und Arbeiter“, auf „die stärksten Kräfte in NW-Deutschland“, von wo aus sie „eine Neubildung“ Deutschlands erwartete, die es „zu einer europäischen Nation werden“ lasse.33 Indem Siemsen auf die Region des Nordwestens von Deutschland zurückgriff, aus der sie 27 28 29 30

Vgl. Inge Hansen-Schaberg: Rückkehr und Neuanfang, S. 321. Siemsen: Vorwort, in: Mein Leben, S. I. Zur Beschreibung der Quelle siehe Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 22–23. Zitat auf S. 23. Vgl. dazu das Kapitel „Autobiographie als Selbsttherapie. Erfahrungseinbruch als Schreibanlaß“ bei Volker Depkat: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (Ordnungssysteme, Bd. 18), München 2007, S. 101–118. 31 Ebd., S. 101 f. 32 Ebd., S. 102. 33 Siemsen: Vorwort, in: Mein Leben, S. II.

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selbst stammte, zeigt der autobiographische Text nicht zuletzt beispielhaft, wie die eigene Lebensgeschichte in nationale Deutungen und europäische Konzepte hineingeschrieben wurde. Vielleicht war es die in ihren Erinnerungen formulierte Deutung vom Nordwesten Deutschlands, wo sie die stärksten humanistisch und europäisch ausgerichteten politischen Kräfte vermutete, die sie dazu bewog, ihre politische Arbeit nach 1945 in Hamburg fortzuführen. Letztlich fiel die Wahl aber wohl deshalb auf Hamburg, weil Siemsen hier zunächst die für sie günstigsten Arbeitsvoraussetzungen zu haben glaubte, um ihre berufliche Karriere, trotz ihres fortgeschrittenen Alters von 64 Jahren, wieder aufzunehmen. Die Remigration der aus Deutschland Geflüchteten hing eng mit den Bestimmungen der jeweiligen Besatzungsmacht in den vier besetzten Zonen zusammen. Alle vier Besatzungsmächte hatten aber keine „klare[n] Konzepte zur Rückkehr der Exilanten“ entwickelt,34 so dass die Remigration individuell verlief. Während manche Emigranten durch gezielte „Rückholaktion[en]“ nach Deutschland zurück gebracht wurden, wie etwa Siemsens politischer Mitstreiter Wilhelm Hoegner,35 reisten viele Emigrantinnen und Emigranten aus den deutschen Nachbarländern, aus Frankreich und der Schweiz, oftmals illegal nach Deutschland ein.36 Die offizielle Rückkehr hing zumeist davon ab, ob die Remigranten eine Wohnung vorzuweisen hatten und ob sie belegen konnten, dass sie „in der alten Heimat gebraucht würden“.37 In der amerikanischen Besatzungszone wurde die Rückkehr seit 1947 davon abhängig gemacht, ob die oder der Rückkehrwillige eine Beschäftigung für das Bestreiten des Lebensunterhaltes nachweisen konnte.38 Siemsen kehrte erst endgültig nach Deutschland zurück, als ihr die Stelle in der Hamburger Schulverwaltung als Leiterin für die Notausbildungslehrgänge für Lehrkräfte zugesagt worden war. In der Schweiz hatte sie ihren Lebensunterhalt durch ihren leitenden Redaktionsposten bestreiten können. Auch in Deutschland war sie auf eine Erwerbsarbeit angewiesen, wie sie gegenüber dem Hamburger Schulsenator Heinrich Landahl (1895–1971) betonte.39 Siemsen wohnte seit ihrer Remigration Ende des Jahres 1946 bei ihrer Schwester Paula Eskuchen und ihrem Schwager Karl Eskuchen unter engen räumlichen Verhältnissen. Erst nach zwei Jahren, im Januar 1949, war es der Familie möglich, ein eigenes Zimmer für Siemsen zur Verfügung zu stellen.40 Für Siemsen, wie auch für andere Remigrantinnen und Remigranten, war es zunächst aus lebenspragmatischen Umständen schwierig, im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit 34 Marita Krauss: Besatzungspolitik und Rückkehr aus dem Exil, in: Thomas Höpel und Dieter Tiemann (Hg.): 1945–50 Jahre danach. Aspekte und Perspektiven im deutsch-französischen Beziehungsfeld (Veröffentlichungen des Frankreich-Zentrums, Bd. 1), Leipzig 1996, S. 64–73, hier S. 64. 35 Ebd., S. 67. 36 Foitzik: Politische Probleme, S. 108. 37 Krauss: Rückkehr, S. 138. 38 Foitzik: Politische Probleme, S. 109. 39 StAHH, 361–3/A515, Bl. 12: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Hamburg vom 21. August 1946. 40 AAJB, Mappe 36: Tagebuch von Karl Eskuchen: Eintrag vom 4. Januar 1949.

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wieder Fuß zu fassen. Die Städte waren zerstört und die Lebensmittelversorgung schlecht. Siemsen beklagte ein Jahr nach ihrem erstmaligen Besuch in Deutschland die Verschlechterung der allgemeinen Lage, den „durch die Jahre ausgedehnte[n] Prozess des Verhungerns“, von dem sie glaubte, er werde in „einem Massensiechtum“ und einem „Massensterben“ enden.41 Neben diesen Schwierigkeiten, die die alltägliche Lebensmeisterung mit sich brachte, waren die Remigrantinnen und Remigranten einer Reihe von Vorurteilen ausgesetzt, die ein Großteil der deutschen Bevölkerung gegen sie hegte. Viele Deutsche reagierten mit Argwohn oder gar mit Ablehnung auf die Zurückgekehrten, denen man Unverständnis und Unkenntnis gegenüber den eigenen persönlichen, gesamtgesellschaftlichen wie politischen Verhältnissen in Deutschland vorwarf. Die zurückgekehrten Emigrantinnen und Emigranten wurden aus der Gemeinschaft derjenigen ausgeschlossen, die Bombennächte, Gefangenenlager, Flucht und Kriegsdienst mitgemacht und Deutschland nicht verlassen hatten. Ihnen wurde vorgeworfen, eine moralische Überlegenheit an den Tag zu legen oder sogar mit den Alliierten kollaboriert zu haben.42 Hinter dieser ablehnenden Haltung standen unbewusstes „Schuld- und Schambewußtsein“, „die Angst vor Konkurrenz“ oder die „Eigenaufwertung durch Fremdstigmati­ sierung“.43 Empathie mit den Geflüchteten, die oft unter Lebensgefahr und in der Regel unter widrigen Bedingungen gezwungen waren, eine neue Existenz aufzubauen, scheint unter diesen Voraussetzungen kaum aufgekommen zu sein. Die unterschiedlichen Erfahrungswelten von Deutschen, die in Deutschland geblieben waren, und den Exilierten konnte offenbar auch innerfamiliär zu Sprachlosigkeit und Missverständnissen führen. Siemsens Schwester Paula Eskuchen, die Siemsen stets sehr nahe gestanden und ihre Rückkehr begrüßt hatte, berichtete beispielsweise Siemsens Schweizer Freundin Hedwig Schmidt, wie unverstanden sie sich gefühlt hatte: „Ich habe immer das Gefühl, daß wir alle durch die Nazi-Zeit und die schrecklichen 2 folgenden Jahre völlig ausgelaugt sind. Das können die Ausländer nicht verstehen, auch Aenne verstand es nicht. […] diese tägliche, nächtliche, stündliche, psychische, physische und moralische Überbeanspruchung können auch sehr phantasievolle Menschen nicht nachfühlen[,] wenn sie draußen und nicht drinnen waren. Niemand ist davon gekommen ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen, und selbstverständlich auch an seiner Gesundheit.“44

In einem engen Zusammenhang mit der skizzierten Bewertung der Remigranten steht die Auseinandersetzung breiter Bevölkerungskreise in Westdeutschland mit der jüngsten nationalsozialistischen Vergangenheit. Eine Beschäftigung mit der eigenen Rolle oder dem eigenen Verhalten im Nationalsozialismus wurde zurückgedrängt durch die Annahme, vor allem Opfer der politischen Verhältnisse sei es durch Krieg, Ausbombung oder Flucht zu sein. Die Kritik von Mitgliedern der alten 41 Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: M 107 Margo Wolf[f], EB 97/139: Anna Siemsen an Margo Wolff, o. O. vom 23. Juni [1947]. 42 Grundlegend dazu: Sven Papcke: Exil und Remigration als öffentliches Ärgernis. Zur Soziologie eines Tabus, in: Krohn u. a.: Exil und Remigration, S. 9–24. 43 Ebd., S. 10 f. 44 AAJB, Mappe 44: Paula Eskuchen an Hedwig Schmidt o. O. und o. J.

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nationalsozialistischen Führungsriege an den Entnazifizierungsbemühungen der Alliierten und schließlich die Ausstellung von sogenannten Persilscheinen führte dazu, „[d]ie Gegensätze zwischen tatsächlich Verfolgten und regimetreuen Mitläufern oder Mittätern […] allmählich verschwinden“ zu lassen.45 Erst mit einem generationellen Führungswechsel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den 1960er Jahren setzte in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) langsam ein Wandel in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg ein, in der die Opferdebatten vermehrt zugunsten einer Fokussierung auf die Verbrechen und Täter des Nationalsozialismus zurückgingen.46 Neben diesen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen wurden aber bereits frühzeitig nach Ende des Zweiten Weltkrieges vereinzelt Anstrengungen unternommen, die Geschichte des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Diesem Thema widmete sich etwa das 1949 gegründete Institut für Zeitgeschichte in München.47 Siemsen wurde im Januar 1948 gebeten, in das Kuratorium einzutreten.48 Sie hatte diese Einladung offenbar nicht angenommen, denn in dem Personenverzeichnis des Kuratoriums taucht ihr Name nicht auf.49 Zusätzlich zu ihren europapolitischen Posten wurde sie am 9. September 1949 noch zur stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Friedensgesellschaft gewählt.50 ERNEUTE BERUFLICHE RÜCKSCHLÄGE Im August 1946 wandte sich Siemsen in einem Schreiben an den Hamburger Schulsenator Heinrich Landahl von der SPD, dem der Wiederaufbau des Hamburger Schulwesens oblag,51 und fragte an, ob es nicht eine Möglichkeit gebe, in der

45 Christoph Cornelißen: „Vergangenheitsbewältigung“ – ein deutscher Sonderweg?, in: Katrin Hammerstein u. a. (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit (Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, Bd. 2), Göttingen 2009, S. 21–36, hier S. 23 f. Zitat auf S. 24. 46 Ebd., S. 28 f. Siehe zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Anfangsjahren der Bundesrepublik vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996 [Neuausgabe München 2012]; Peter Reichel, Harald Schmid und Peter Steinbach (Hg.): Der Nationalsozialismus – die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, München 2009. 47 Cornelißen: „Vergangenheitsbewältigung“, S. 25. 48 StAHH, 361–3/A515, Bl. 55: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Chexbres vom 12. Januar 1948. Siehe auch Jungbluth: Anna Siemsen, S. 223. 49 Vgl. das „Personalienverzeichnis“ der Kuratoriumsmitglieder in: Horst Möller und Udo Wengst: 60 Jahre Institut für Zeitgeschichte. München – Berlin. Geschichte – Veröffentlichungen – Personalien, München 2009, S. 191–204. 50 Stefan Appelius: Pazifismus in Westdeutschland. Die Deutsche Friedensgesellschaft 1945– 1968, Bd. 1, 2. Aufl. Aachen und Mainz 1999, S. 213. 51 Vgl. zu Heinrich Landahl: Rainer Nicolaysen: Das „Ja“ eines späteren Sozialdemokraten. Über Heinrich Landahl (1895–1971) und seine Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ am 23. März 1933, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 98 (2012), S. 151–192.

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Schulverwaltung eine „Dozentur“ für die Lehrerbildung mit ihr zu besetzen.52 Siemsen hatte bereits in der Schweiz seit Frühjahr 1945 zwei „Kurse zur Ausbildung paedagogischer Lehrkräfte“ mit Emigranten und „militärischen Refraktären“ durchgeführt, mit denen sie, wie sie Landahl berichtete, gute Erfahrungen gemacht habe. Aufgrund des Lehrermangels, der durch die Entnazifizierungsmaßnahmen von Seiten der Besatzungsmächte entstanden war, wollte Siemsen nun „durch rasche Ausbildung des Nachwuchses“ dem „verschärften Mangel an Lehrkräften“ begegnen und legte Landahl eine „Denkschrift“ bei, in der sie über die praktischen und methodischen Grundlagen dieser Kurse berichtete.53 Die schulpolitische Lage sah in Deutschland nach Ende des Krieges wegen Lehrermangels und Raumnot desolat aus, so dass Siemsen hoffen konnte, mit ihren Ideen zur demokratischen Lehrerbildung bei den zuständigen Stellen auf Resonanz zu stoßen. Im Rahmen ihrer reeducation-Politik, die im Grundkonsens vorsah, „die Deutschen mit demokratischen Verhaltensweisen bekannt zu machen [und] sie zu Demokraten zu erziehen“, wollten die Besatzungsmächte auch grundlegende Bildungsreformen umsetzen. Die Lehrerschaft gehörte zu der Berufsgruppe, die im Vergleich zu anderen Berufsgruppen die meisten NSDAP-Mitglieder gestellt hatte. Etwa 70 Prozent der Lehrkräfte hatten der Partei angehört.54 Da sehr viele von ihnen wegen der alliierten Entnazifizierungsmaßnahmen nicht mehr unterrichten durften, wurden zunächst pensionierte Personen oder Studenten verpflichtet, die in zerstörten oder unbeheizten Schulräumen provisorischen Unterricht abhielten.55 Siemsen berichtete Landahl in ihrem Brief ferner, ihr seien bereits „aus der russischen Zone […] Angebote zur Wiederaufnahme [ihrer] Jenenser Lehrtätigkeit gemacht worden“ und auch aus Düsseldorf habe man ihr „Vorschläge über eine kombinierte Dozenten- und Verwaltungstätigkeit“ unterbreitet. Gleichzeitig machte sie aber deutlich, dass es Hamburg sei, wo sie glaubte, „am fruchtbarsten arbeiten [zu können] in dieser schwierigen Zeit“.56 Manuela Jungbluth hat die Vermutung formuliert, Hamburg habe deswegen Siemsens „Interesse“ gefunden, weil dort das schon in der Weimarer Republik etablierte und von den Nationalsozialisten wieder abgeschaffte Universitätsstudium für Volksschullehrerinnen und -lehrer nach dem Zweiten Weltkrieg erneut eingeführt worden war.57 Ein weiterer Grund für Siemsen, sich für Hamburg zu entscheiden, war vielleicht Hamburgs lange Arbeiterbildungstradition sowie sicher der Umstand, dass der erste Schulsenator Hamburgs nach dem Krieg ein Sozialdemokrat war.58 Zudem lag Hamburg in der britischen 52 StAHH, 361–3/A515, Bl. 11 und 12: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Hamburg vom 21. August 1946. 53 Ebd.: Anna Siemsen: Denkschrift über Kurse zur Ausbildung paedagogischer Lehrkräfte vom 3. August 1946, Bl. 13–16, Zitate auf Bl. 13 und 14. 54 Herbert: Geschichte Deutschlands, S. 577. 55 Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung, S. 120 f. Zitat auf S. 120. 56 StAHH, 361–3/A515, Bl. 11 und 12: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Hamburg vom 21. August 1946. 57 Jungbluth: Anna Siemsen, S. 215. 58 Walter Tormin: Die Geschichte der SPD in Hamburg 1945 bis 1950 (Forum Zeitgeschichte, Bd. 4), Hamburg 1994, S. 11 und 123.

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Besatzungszone, in der die Militärregierung den Deutschen weitestgehend freie Hand bei der Umsetzung von Schulreformen zubilligte.59 Während die amerikanische Besatzungsmacht eine sechsjährige Einheitsschule für alle Kinder ungeachtet des Geschlechts und der sozialen Herkunft forderte,60 ging man in der französischen Zone daran, „das französische Schulsystem zu etablieren“, das nach den Prämissen „der sozialen Auslese und Elitenbildung“ aufgebaut war.61 Die Bildungsreformen in der sowjetisch besetzten Zone, in der eine Einheitsschule mit Grundschule, Oberschule und Berufsschule eingeführt wurde,62 hätte Siemsens bildungspolitischen Vorstellungen wohl entsprochen, wenn die sowjetische Militärregierung nicht eine radikale Transformation der Gesellschaft eingeleitet hätte, die bald zur Zentralisation von Wirtschaft, Justiz und Verwaltung unter forcierter parteipolitischer und ideologischer Hegemonie der KPD führte.63 Aus diesem Grund konnte Jena kaum wieder ein Wirkungsfeld für Siemsen sein.64 Sie lehnte den Kommunismus als eine autoritäre Weltanschauung ab und hatte immer eine politische und wirtschaftliche Zentralisation als Gegenmodell zu der von ihr propagierten Ordnung der Gesellschaft auf Basis der Selbstverwaltung betrachtet. Sicher hatte Siemsen auch nicht die negativen politischen, beruflichen und persönlichen Erfahrungen vergessen, die sie in Jena gemacht hatte und die möglicherweise ein weiterer Hinderungsgrund für sie waren, dorthin zurückzukehren. Landahl antwortete Siemsen positiv auf ihren Vorschlag zur Lehrerbildung und konnte ihr schließlich im November 1946 „die etatsmäßige [sic] Stelle eines Oberstudiendirektors unter Anrechnung [i]hrer Dienstjahre“ zusagen. Darüber hinaus wurde ihr von der Schulverwaltung noch die „Übertragung eines Lehrauftrages für neuere Literatur an der Universität“ angeboten.65 Mit Wirkung vom 1. Januar 1947 sollte Siemsen ihre Stelle als Oberstudiendirektorin für den von „der Militärregierung eingeleiteten Notausbildungslehrgang[] für Volksschullehrer“ antreten.66 Die nun folgenden Schwierigkeiten, die bei Siemsens Einstellungsversuchen hervortraten, zeigen beispielhaft das komplizierte Beziehungsgeflecht auf, das zwischen Militärverwaltung, Schulbehörde, Hochschule und Remigrierten bestand.67 Es sollte knapp zwei Jahre dauern, bis Siemsen Ende des Jahres 1948 in relativ gesicherten finanziellen Verhältnissen leben konnte. 59 Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung, S.123. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 122. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 93 f. 64 Vgl. Jungbluth: Anna Siemsen, S. 214. 65 StAHH, 361–3/A515, Bl. 18: Heinrich Landahl an Anna Siemsen, o. O. vom 2. November 1946. 66 Ebd., Bl. 19: Hansestadt Hamburg/Schulverwaltung [Oberschulrat Köhne] an das Personalamt der Stadt Hamburg, Hamburg vom 13. Januar 1947. 67 Der Ablauf der Ereignisse ist detailliert und ausführlich von Manuela Jungbluth geschildert worden. Siehe Jungbluth: Anna Siemsen, S. 213–223. In der vorliegenden Arbeit werden daher nur die für das erwähnte Beziehungsgeflecht zentralen Ereignisse herausgegriffen und eingeordnet. Die Schwierigkeiten, die sich bei Siemsens Einstellung ergaben, sind auch an anderer Stelle thematisiert worden: Alexandra Bauer: Gescheiterte Remigration? Eine sozialistische Pädago-

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Offenbar war es allein Schulsenator Landahl zu verdanken, dass Siemsen eine verbeamtete Stelle erhalten sollte. Landahl hatte „die Wiedergutmachungspflicht Deutschlands gegenüber Frau Prof. Siemssen [sic]“ bei der Schulverwaltung angeführt und ihre Anstellung als „eine moralische“ Pflicht bezeichnet.68 Diese Argumentation entsprach den Bestimmungen der britischen Militärbehörde, die auch gegenüber der Universität mit den gleichen Argumenten die Wiedereinsetzung remigrierter Hochschullehrer betonen musste. Die deutschen Universitäten selbst sahen sich wegen der skizzierten Vorurteile gegenüber den Remigranten nicht in der Verantwortung, eine Wiedereinstellung voranzutreiben.69 Als die britische Militärregierung am 1. Januar 1947 „ihre Kompetenzen im Erziehungswesen weitgehend auf deutsche Behörden“ übertragen hatte, wurde die mögliche Einstellung remigrierter Hochschullehrer in Hamburg universitätsintern kaum noch debattiert70 und auch Siemsen musste nun erleben, dass ihre Einstellung bei der Schulverwaltung unter den zugesagten Bedingungen nicht erfolgen sollte. Das Organisationsamt der hamburgischen Verwaltung, nun nicht mehr unter dem Druck der Militärregierung stehend, beschloss im März 1947 mit dem Hinweis auf die Finanzlage, Siemsens „Einstufung“ sei „reichlich hoch und nicht […] vertretbar“.71 Erst am 8. April 1947 hatten die behördlichen Verhandlungen dahin geführt, Siemsen nun als „Wissenschaftliche Angestellte“ für die Notausbildungslehrgänge zu beschäftigen.72 Finanziert wurde Siemsens Stelle aus einer von zwei unbesetzten Oberstudiendirektorenstellen, deren Stelleninhaber, wie das Organisationsamt betonte, aufgrund ihrer politischen Belastung wohl nicht wieder eingesetzt werden würden. Da sich die beiden Stelleninhaber aber noch in Kriegsgefangenschaft befanden bzw. als vermisst galten, wurde Siemsens Anstellung nur vorübergehend „für die Dauer der Nichtinanspruchnahme der Mittel“ aus diesen beiden vorerst gesperrten Oberstudiendirektorenstellen gewährt.73 Landahl setzte sich weiterhin für Siemsens Verbeamtung ein, jedoch erfolglos. Obwohl im Juli 1947 knapp 30 Oberstudienratsstellen durch Entnazifizierungsmaßnahmen zur Verfügung standen, wurde die Schulbehörde vom Organisationsamt aufgefordert, ihren „Stellenplan“ betreffend Siemsen „zu bereinigen“, da „Oberstudiendirektorenstellen nur für Schulleiter an höheren Lehranstalten in Anspruch ge-

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gin in der Hansestadt Hamburg, in: Schwitanski: Anna Siemsen, S. 17-36, Hansen-Schaberg: Rückkehr und Neuanfang, S. 324–328 und Christa Kersting: Pädagogik im Nachkriegsdeutschland. Wissenschaftspolitik und Disziplin­entwicklung 1945–1955 (Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Bd. 28), Bad Heilbrunn 2008, S. 133–135. StAHH, 361–3/A515, Bl. 22: Stellungnahme von Oberschulrat Köhne gegenüber dem Personal- und Organisationsamt der Stadt Hamburg vom 29. Januar 1947. Nicolaysen: Die Frage der Rückkehr, S. 125–127. Ebd., S. 128. StAHH, 361–3/A515, Bl. 23: Organisationsamt der Stadt Hamburg [Obersenatsrat Grotmack] an die Schulverwaltung, Hamburg vom 6. März 1947 [Abschrift]. Ebd., Bl. 28: Arbeitsvertrag zwischen Anna Siemsen und der Schulverwaltung Hamburg vom 8. April 1947. Ebd.: Organisationsamt an die Schulverwaltung, Hamburg vom 10. April 1947, Bl. 30. Siehe auch Jungbluth: Anna Siemsen, S. 218.

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nommen werden dürfen“.74 Schließlich stand Siemsens Schweizer Staatsangehörigkeit einer Hochstufung in ein Beamtenverhältnis entgegen75 und, nachdem mit Siemsens Einbürgerung auch diese Hürde genommen war und „eine Planstelle für Oberstudiendirektoren“ zur Verfügung stand,76 beschloss das Personalamt der Stadt Hamburg im Mai 1948, Siemsen habe nun mit 66 Jahren „die regelmäßige Altersgrenze der Beamten überschritten“, eine Wiedergutmachungspflicht sei nicht die Sache Hamburgs und auch ihr Gesundheitszustand stehe einer Verbeamtung entgegen.77 Siemsen, die im September des Jahres 1947 krankgeschrieben worden war und sich seither in der Schweiz aufhielt,78 erfuhr dort im März 1948, dass die Notausbildungskurse für Volksschullehrer aus finanziellen Gründen eingestellt worden seien und man ihr leider auch keine Stelle in der Lehrerbildung am „Pädagogischen Institut der Universität“ anbieten könne.79 Siemsen beschwerte sich bei der Schulbehörde, weil ihr eine „Arbeit in der Lehrerbildung und damit an der Universität“ verbindlich zugesagt worden sei; eine Stelle, die auch ihren früheren Positionen entsprochen und die sie unter anderen Voraussetzungen nicht angenommen hätte.80 Siemsens berufliche und finanzielle Situation war seit dem Frühjahr 1948 damit gänzlich ungeklärt. Sie fühlte sich als „Gelegenheitsarbeiter auf sofortige Kündigung“ und betonte gegenüber Landahl, von ihrem Einkommen aus der Vorlesungstätigkeit in Höhe von „480 Mark“ nicht leben zu können.81 Nachdem sie aus der Schweiz nach Hamburg zurückgekommen war, standen ihr im Oktober 1948 wegen der Währungsreform auch ihre zuvor gebildeten Rücklagen nicht mehr zur Verfügung.82 Zwischenzeitlich war es Landahl aber gelungen, Siemsens Anspruch auf Pensionsbezüge, die ihr aus ihrer Beamtentätigkeit vor 1933 zustanden, durchzusetzen, so dass ihr schließlich ab Dezember 1948 ein monatliches Ruhegeld ausbezahlt wurde.83 Neben der Sicherung ihrer Pensionsbezüge wurde Siemsen im Oktober 1948 doch noch eine Anstellung „im Rahmen des Pädagogischen Instituts“ zugesagt, aus der sie zusätzlich zu ihrer Pension Bezüge erhielt.84 Das Ende 1947 gegründete Pädagogische Institut, an dem Siemsen als Angestellte beschäftigt werden sollte, 74 StAHH, 361–3/A515, Bl. 38: Organisationsamt der Stadt Hamburg an die Schulbehörde, Hamburg vom 17. Juli 1947. Siehe auch Jungbluth: Anna Siemsen, S. 218. 75 StAHH, 361–3/A515, Bl. 39: Schulbehörde an Anna Siemsen, Hamburg vom 20. August 1947. 76 Ebd.: Schulbehörde an das Personalamt, o. O. vom 14. Mai 1948 [ohne Blatt-Nr.]. 77 Ebd.: Personalamt [Senatssyndikus Harder] an die Schulbehörde, Hamburg vom 25. Mai 1948 [ohne Blatt-Nr.]. Siehe auch Jungbluth: Anna Siemsen, S. 221. 78 StAHH, 361–3/A515, Bl. 46: Anna Siemsen an die Schulbehörde, Düsseldorf vom 20. September 1947. 79 Ebd., Bl. 56: Schulbehörde an Anna Siemsen, o. O. vom 18. März 1948. 80 Ebd., Bl. 58: Anna Siemsen an die Schulbehörde [Oberschulrat Köhne?], Zürich vom 25. März 1948. 81 Ebd., Bl. 59: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Hamburg vom 23. April 1948. 82 Ebd.: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Hamburg vom 5. Oktober 1948 [ohne Blatt-Nr.]. 83 Ebd.: Schulbehörde an Anna Siemsen, o. O. vom 1. Dezember 1948 [ohne Blatt-Nr.]. 84 Ebd.: Vermerk [Schulbehörde/Obersenatsrat v. Zerssen], o. O. vom 11. Oktober 1948 [ohne Blatt-Nr.].

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war zwar der Universität bzw. dem Erziehungswissenschaftlichen Seminar zugeordnet, unterstand aber als selbständige Einrichtung der Schulbehörde. Während die klassischen akademischen Themen der Erziehungswissenschaft am Erziehungswissenschaftlichen Seminar der Universität gelehrt wurden, kümmerte sich das Pädagogische Institut um „schulpraktische Übungen und Didaktikvorlesungen“, für die die Dozentinnen und Dozenten keine Habilitation vorzuweisen brauchten. Siemsen wurde damit eine Stelle zugewiesen, die innerhalb des Universitätsbetriebes als akademisch wenig prestigeträchtig angesehen wurde.85 Wie aus einem Bericht an Landahl hervorgeht, wurde Siemsen die „Mitbenutzung“ des Büroraumes einer anderen Dozentin erlaubt und es sei dafür Sorge getragen worden, dass ihr durch die „Bereitstellung von Räumen usw. alle möglichen Erleichterungen für ihre Arbeit auf dem Gebiet der Völkerverständigung gewährt worden“ seien.86 Die langwierigen, zähen und letztlich unbefriedigenden Verhandlungen, die Siemsen führen musste, um eine gesicherte Anstellung und damit auch ein gesichertes Auskommen zu haben – von einer verbeamteten Stelle abgesehen – zeigen, dass in Bürokratie und Verwaltung nach Ende des Zweiten Weltkrieges keineswegs die spezifischen schul- oder bildungspolitischen Anforderungen der unmittelbaren Nachkriegszeit oder gar eine moralische Verpflichtung gegenüber Remigranten im Mittelpunkt der zuständigen deutschen Stellen standen, sondern vielmehr die möglichst reibungslose Anknüpfung an tradierte Verwaltungspraktiken und Bildungstraditionen. Die Argumentation des Organisationsamtes, die Siemsen keine Oberstudienratsstelle zuweisen wollte, weil die Notausbildungslehrgänge nicht zum höheren Schulwesen gezählt wurden, mag das verdeutlichen. Professionelles Wissen bzw. fachliche Kompetenzen waren offenbar keine Argumente. Dabei zeigte sich die Schulverwaltung bemühter, die zugesagten Vereinbarungen gegenüber Siemsen zu erfüllen, als die höheren Verwaltungsstellen, wie etwa das Personal- oder Organisationsamt der Stadt Hamburg, die sich zumindest vordergründig auf die Finanzlage oder formale Vorgaben beriefen und die mit Siemsen auch keinen direkten Kontakt hatten. Insbesondere Landahl hatte sich für Siemsens Belange eingesetzt. Möglicherweise empfand Landahl es als seine eigene Wiedergutmachungspflicht, die Zusagen, die Siemsen gemacht worden waren, zu erfüllen. Landahl gehörte in der Weimarer Republik der DDP an, die sich 1930 als Deutsche Staatspartei (DStP) neu konstituiert hatte. Er hatte im März 1933 im Reichstag zusammen mit anderen Abgeordneten der DStP für Hitlers „Ermächtigungsgesetz“ votiert. Diese „Fehleinschätzungen“ der politischen Lage 1933 führten offenbar dazu, dass sich Landahl nach Ende des Zweiten Weltkrieges der SPD anschloss,87 jener Partei, die in der Weimarer Republik versucht hatte, das parlamentarische System gegen den Auf85 Jungbluth: Anna Siemsen, S. 218–220. Zitat auf S. 219. Jungbluth bezieht sich in ihren Ausführungen zum Pädagogischen Institut auf Georg Geißler: Eingliederung der Lehrerbildung in die Universität. Das Hamburger Beispiel (Pädagogische Studien, Bd. 24), Weinheim und Basel 1973. 86 StAHH, 361–6/I400, Bl. 21: Pädagogisches Institut der Universität Hamburg [Schulrat Jürgens] an Heinrich Landahl, Hamburg vom 27. Januar 1949. 87 Nicolaysen: Das „Ja“ eines späteren Sozialdemokraten, S. 192.

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stieg des Nationalsozialismus zu verteidigen. Sein Einsatz für Siemsen könnte für eine persönliche Verantwortung sprechen, die er gegenüber den Remigrantinnen und Remigranten, die nach Hitlers Machtübernahme fliehen mussten, empfand. Als Remigrantin und Leiterin der von der britischen Besatzungsmacht begründeten Notausbildungslehrgänge erschien Siemsen den staatlichen Behörden hingegen als der „verlängerte Arm“ der Militärregierung, deren Bestimmungen bei den deutschen Verantwortlichen auf Ärgernis stießen. Man fühlte sich durch die reeducation-Politik bevormundet und maß dem demokratischen Neuaufbau Deutschlands eine untergeordnete Rolle gegenüber anderen Erfordernissen des Wiederaufbaus bei.88 Als die britische Militärregierung ihre Kompetenzen im Bildungswesen am 1. Januar 1947 an die deutschen Behörden abgaben, eben zu jenem Zeitpunkt als Siemsen ihre Stelle als Oberstudiendirektorin antreten sollte, wurde ihre Stelle damit zugleich schon zur Disposition gestellt. Auch an der Universität, wo Siemsen einen Lehrauftrag für neuere Literatur an der Philosophischen Fakultät übertragen worden war, hatten sich Widerstände gegen sie geregt. Die Belegschaft der Philosophischen Fakultät bemängelte, bei der Übereinkunft zwischen dem Rektor und der Schulbehörde, Siemsen einen Lehrauftrag zu übertragen, nicht gefragt worden zu sein. Sie kam „einstimmig“ zu dem Schluss, dass in Anbetracht von Siemsens „wissenschaftliche[r] Unzulänglichkeit“ ein Lehrauftrag „nicht in Betracht“ komme.89 Schließlich konnte ein Kompromiss gefunden werden: Siemsen übte ihren Lehrauftrag ab dem Sommersemester 1947 im Rahmen des Allgemeinen Vorlesungswesens aus und nicht im Rahmen der Philosophischen Fakultät.90 Die Themen von Siemsens Lehrveranstaltungen zeigen, dass sie ihre literaturwissenschaftlichen Interessensschwerpunkte beibehalten hatte: Im Sommersemester 1947 hielt sie etwa eine Vorlesung mit dem Titel ‚Die Romantik als europäische Bewegung‘,91 im Sommersemester des folgenden Jahres waren die ‚Strömungen in der europäischen Literatur von Goethes Tode bis zur Achtundvierziger Revolution‘ das Thema der Lehrveranstaltung.92 Der universitätsinterne Umgang mit Siemsen zeigt, dass das tradierte Universitätsgefüge und das akademische Selbstverständnis offenbar unangetastet geblieben waren, obwohl im Mai und Juni 1945 eine „Neuformierung der Universitätsgremien“ stattgefunden hatte. Es waren zwar zunächst diejenigen Professoren an verantwortliche Stelle gerückt, „die zu den universitätsintern bekannten Gegnern des

88 Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung, S. 120. 89 StAHH, 361–6/IV3041: Auszug aus der Niederschrift der Fakultätssitzung vom 22. März 1947. 90 Ebd.: Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg an die Schulverwaltung/ Hochschulabteilung der Stadt Hamburg vom 8. April 1947 und ebd.: Dekan der Philosophischen Fakultät an den Ausschuss für das Allgemeine Vorlesungswesen vom 8. April 1947. Dazu auch Jungbluth: Anna Siemsen, S. 219. 91 StAHH, 361–6/IV3041: Dekan der Philosophischen Fakultät an die Schulverwaltung/Hochschulabteilung der Stadt Hamburg vom 8. April 1947. 92 Ebd.: Schulbehörde/Hochschulabteilung der Stadt Hamburg an Anna Siemsen vom 7. April 1948. Siehe zu den Themen von Siemsens Lehrveranstaltungen auch Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 124.

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NS-Regimes“ zählten,93 doch prägten bald vor allem personelle Kontinuitäten den Lehrkörper der Universität.94 Bei der seltenen Berufung emigrierter Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer stand nicht etwa die moralische Verpflichtung eines Rückkehrangebots im Vordergrund, sondern „in der Regel das wissenschaftliche Renommee sowie die vermutete Fähigkeit zur lautlosen Einpassung in die Korporation“.95 Beides war Siemsen bereits in ihrer beruflichen Tätigkeit in Jena in den 1920er Jahre abgesprochen worden. Hatte sie damals als Frau, Nichthabilitierte und Sozialistin sowohl innerhalb des Universitätsgefüges als auch durch ihre marxistisch-soziologisch begründeten wissenschaftlichen Ansätze innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Disziplin selbst eine randständige Position eingenommen, war sie in den 1940er Jahren nun als Remigrantin in ähnlicher Weise, wenn auch unter anderen politischen Voraussetzungen, erneut an ihre beruflichen Grenzen gestoßen. Parallel zu den zermürbenden Enttäuschungen und finanziellen Engpässen, die ihre berufliche Tätigkeit in Hamburg begleiteten, hatte sich Siemsen auf ein zweites Tätigkeitsfeld konzentriert, das ihr zwar keine finanzielle Sicherheit brachte, wohl aber Anerkennung und politische Befriedigung. Da sie glaubte, in beruflicher Hinsicht „völlig ohne Zweck und Ziel“ ihre Zeit zu verlieren,96 verwandte sie ihre nach mehreren Krankheitsausfällen verbleibende Kraft auf ihr europapolitisches Engagement. Als Siemsen im Oktober 1948 eine Einladung zu einem Kongress der Union Européenne des Fédéralistes erhielt und Landahl deswegen um Urlaub und Unterbrechung ihrer Tätigkeit am Pädagogischen Institut bat,97 erklärte sich Landahl zwar bereit, dies zu genehmigen, ermahnte Siemsen aber auch, dass ihre „amtlichen Hamburger Aufgaben [nicht länger, MvB] hinter anderen zurückstehen“ dürften.98 Siemsen verzichtete daraufhin auf ihren Urlaub und erklärte gereizt, sie habe geglaubt, „mich im Interesse der internationalen Vertretung Deutschlands einer Auf[f]orderung [zur Teilnahme an dem Kongress, MvB] nicht entziehen zu können“.99 Die gleichberechtigte Einbeziehung Deutschlands in eine neue internationale Nachkriegsordnung, die ein konstitutives Element ihrer Europa-Konzepte im Exil gewesen war, sollte ein Thema innerhalb ihrer europapolitischen Vorstellungen bleiben. Die Auseinandersetzung mit Deutschland nahm aber im Laufe der 1940er Jahre im Gegensatz zu den Vorjahren ab. Die von Siemsen seit den frühen 1930er 93 Nicolaysen: Die Frage der Rückkehr, S. 124. 94 Anton F. Guhl: Entlassung, Entnazifizierung, Rehabilitation? Die Philosophische Fakultät der Hamburger Universität zwischen Bruch und Kontinuität nach 1945, in: Myriam Richter und Mirko Nottscheid (Hg.) in Verbindung mit Hans-Harald Müller und Ingrid Schröder: 100 Jahre Germanistik in Hamburg. Traditionen und Perspektiven (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 19), Berlin und Hamburg 2011, S. 261–280, hier S. 279. 95 Nicolaysen: Die Frage der Rückkehr, S. 152. 96 StAHH, 361–3/A515: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Hamburg vom 5. Oktober 1948 [ohne Blatt-Nr.]. 97 Ebd.: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Hamburg vom 12. Oktober 1948 [ohne Blatt-Nr.]. 98 Ebd.: Heinrich Landahl an Anna Siemsen, o. O. vom 14. Oktober 1948 [ohne Blatt-Nr.]. 99 Ebd.: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Hamburg o. O. und Datum [ohne Blatt-Nr.].

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Jahren betonte geopolitische Funktion Deutschlands als „Land der Mitte“ gewann angesichts des heraufziehenden Ost-West-Konflikts eine neue realpolitische Bedeutung. Der seit 1947 propagierte US-amerikanische Plan, die europäischen Länder zu einer engen Zusammenarbeit zu bewegen, führte relativ schnell nach Ende des Krieges zu einer Einbindung Deutschlands in die internationale Politik. Die USA bezogen das noch in Besatzungszonen geteilte Deutschland in ihre Wirtschaftspläne für Europa explizit mit ein, so dass es im gleichen Jahr zwar nicht als Staat, wohl aber als „Volkswirtschaft“ Teil der von den USA geplanten westeuropäischen Integrationspolitik wurde.100 Unter Federführung des US-Außenministers George C. Marshall (1880–1959) war ein wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm für Europa, das European Recovery Program (ERP), der sogenannte Marshall-Plan, erarbeitet worden. Die wirtschaftlichen und politischen Zustände in Europa nach Ende des Krieges waren von US-amerikanischen Regierungsvertretern als eine Gefahr für einen zukünftigen Weltfrieden, aber auch für die eigene Wirtschaft betrachtet worden, so dass man sich in Washington eigene Vorteile von einem unter amerikanischem Protektorat stehendem europäischen Wirtschaftsaufschwung erhoffte.101 Die US-amerikanische Integrationspolitik für Europa stand zunehmend unter der Maxime der containment-Politik, durch die eine Ausbreitung des Sowjetkommunismus eingedämmt bzw. verhindert werden sollte.102 Als am 16. April 1948 die 16 europäischen Teilnehmerstaaten des Marshall-Plans und die Oberbefehlshaber der drei westdeutschen Besatzungszonen die Gründung der Organization for European Economic Cooperation (OEEC) mit Sitz in Paris beschlossen, war die erste intergouvernementale Organisation entstanden, die unter Ausschluss der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) und der unter dem Herrschaftseinfluss der UdSSR stehenden osteuropäischen Gebiete den Beginn einer europäischen Zusammenarbeit nach 1945 markierte.103 Siemsen setzte sich vor dem Hintergrund dieser politischen Entwicklungen in der Europa-Bewegung für ein Europa der „Dritten Kraft“ ein, das politisch und wirtschaftlich zwischen den beiden Weltmächten USA und UdSSR angesiedelt sein und für eine Verständigungspolitik sorgen sollte. Unter diesen Prämissen konzent100 Herbert: Geschichte Deutschlands, S. 593. 101 Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 74. Zu den Motiven der USA, den westdeutschen Integrationsprozess zu forcieren und zu unterstützen, siehe ausführlich ebd., S. 297 f. 102 Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung, S. 138 f. 103 Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 79. Die geschichtswissenschaftliche Forschung fasst unter dem Begriff der europäischen Integration „die über europäische Staatengrenzen hinweg sich vollziehenden oder gedachten Prozesse der Vergemeinschaftung, Kooperation und Verflechtung“. Der Begriff Integration selbst ist jedoch nicht eindeutig zu definieren. Er wurde seit etwa 1950, ausgehend von US-amerikanischen Regierungsvertretern, in der Umgangssprache zunehmend verwendet. Seine Anschlussfähigkeit erlangte er dadurch, dass er einen Prozess bezeichnete, aber keine klare Zielvorstellung der europäischen Einigung beinhaltete. Bis heute ist er gegenüber anderen Begriffen, die sich auf den europäischen Einigungsprozess beziehen, wie etwa ‚Organisation‘ oder ‚Föderation‘, nicht klar abzugrenzen. Ebd., S. 23 f.

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rierte sie sich vor allem auf die Propagierung eines föderal geeinten Europas, für das sie breite Bevölkerungskreise mobilisieren wollte. Ein weiteres Hauptarbeitsgebiet von ihr war deshalb die Schaffung von Europäischen Akademien, zuweilen auch Europäische Pädagogische Akademie (EPA) genannt, die als „Bildungsstätte zum Europäertum“ dienen und die Einsicht in die Notwendigkeit eines föderativen Zusammenschlusses Europas in der Bevölkerung forcieren sollten.104

104 Anna Siemsen: Europäische Akademien, in: Schola (1947), Heft 10/11, S. 732–738, hier S. 734.

1 ERZIEHUNG FÜR EUROPA Die Erziehung für Europa wurde nach 1945 zu einem politischen Hauptarbeitsgebiet von Anna Siemsen. Ihre demokratisch-europäischen Erziehungskonzepte waren vor allem geprägt durch die Grundsätze der Schweizer Europa-Union, in der der Erziehungsarbeit und der Aufklärung für den europäischen, föderalen Gedanken eine zentrale Rolle zugekommen war.1 Um dieses Ziel zu erreichen, wollte sie vor allem den Deutschen, denn hier sah Siemsen den vordringlichsten Handlungsbedarf, Europa als Schicksals- und Kultureinheit vorstellen, aus der sie die Forderung nach der politischen Einheit Europas ableitete. Sie betrachtete es vornehmlich als Aufgabe der Lehrer, „das Gefühl der Schicksalsverbundenheit, einer gemeinsamen Aufgabe in Europa“ zu vermitteln.2 Da es ihr zunächst darum ging, die enge kulturelle und soziale Verbundenheit der europäischen Menschen in den Vordergrund zu rücken, formulierte Siemsen in ihren Veröffentlichungen, in denen sie ihre Erziehungskonzepte darlegte, keine Vorschläge, wie diese europäische Zusammenarbeit konkret auszusehen habe. Die Forderung nach einem föderalen Bundesstaat, die sie schon im Exil vertreten hatte und die sie nach 1945 im Rahmen ihres Engagements in der Europa-Bewegung erhob, trat in ihren Erziehungskonzepten zugunsten vager Formulierungen zurück. Da sie glaubte, zunächst Grundlagenarbeit für die EuropaIdee leisten zu müssen, sprach sie etwa von einem „engeren Zusammenschluß“ oder „einer internationalen Rechtsordnung bindenden Charakters“,3 mit der sich eine Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen identifizieren konnte. Nach dem Ende des Nationalsozialismus war der Europa-Gedanke bzw. ein Denken „in supranationalen Kategorien“ auch zunehmend bei Gruppen und Personen zu beobachten, die vormals machtstaatliche Ideen propagiert hatten.4 Europäische Ordnungsmodelle, die sich auf Gewalt und die Hegemonie eines Landes gründeten, waren diskreditiert.5 Die Vielfältigkeit der Europa-Ideen ging deshalb nach 1945 im Vergleich zur Vorkriegszeit zugunsten „kooperative[r] Grundmuster“ zurück. Dennoch blieben viele Europa-Vorstellungen oftmals nach wie vor von

1 2 3 4 5

Lipgens: Die Anfänge, S. 124. Vgl. auch Kapitel II.2.3 Frauen für Europa und die „Schweizer Europa-Union“ in der vorliegenden Arbeit. AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Anna Siemsen: Die europäische Lage und die Aufgaben der Lehrer, maschinenschriftliches Typoskript, S. 3. N. N.: Leitsätze des Vortrags „Die Erziehung zum Europäer“ von Anna Siemsen, in: Mitteilungsblatt der Gesellschaft des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens 2 (1947), Heft 3, [S. 1]. Schildt: Der Europa-Gedanke, S. 18 f. Wilfried Loth: Die Europa-Bewegung in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, in: Ludolf Herbst, Werner Bührer und Hanno Sowade (Hg.): Vom Marshallplan zur EWG (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 30), München 1990, S. 63–77, hier S. 63 f.

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konservativen Ordnungsmustern geprägt.6 Die Vorstellung einer neuen europäischen Ordnung bot nicht nur den Emigrantinnen und Emigranten, die sich schon in ihrer Exilzeit mit europäischen Neuordnungsideen beschäftigt hatten, eine neue politische Perspektive nach 1945, sondern auch vielen Deutschen, die mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes nach einer politischen und ideologischen Neuorientierung suchten. Erhofften sich einige eine friedenspolitische Neuordnung nach Ende des Krieges, hofften andere auf eine gleichberechtigte Einbeziehung Deutschlands in die neue Nachkriegsordnung, durch die es ohne größere Restriktionen wieder auf das internationale Parkett zurückkehren könnte. Trotz der unterschiedlichen Intentionen war „das Zielbild eines vereinten Europas im besetzten Deutschland rasch konsensfähig“ geworden.7 Wie in den 1920er Jahren glaubte Siemsen weiterhin, gesellschaftliche und politische Wandlungsprozesse seien in erster Linie durch eine entsprechende Erziehung einzuleiten, die sie als Grundlage für das Gelingen politischer und wirtschaftlicher Reformvorhaben betrachtete. Auch nach 1945 blieb ihre Vorstellung bestehen, nur durch eine grundlegende Reformierung des Erziehungswesens könnten diese von ihr propagierten Erziehungsziele für eine europäische Zusammenarbeit durchgesetzt werden. Obwohl sie eine Verfechterin der Einheitsschule blieb,8 konzentrierte sie sich nach 1945 im Gegensatz zu ihrer bildungspolitischen Arbeit in der Weimarer Republik aber nicht mehr schwerpunktmäßig auf die grundlegende Umwälzung des staatlichen Erziehungswesens. Stattdessen beschäftigte sie sich mit bestimmten Kernbereichen wie der Lehrerbildung, neuen Schulbüchern und einer Revision des Geschichtsunterrichts. Sie forderte etwa eine „europäische Arbeitsgemeinschaft für Lehrbücher und Lehrmittel“, „europäische Schulpläne“ und ein „europäisches Maturum“ sowie „europäische Kindergemeinschaften“.9 Nachdem die von Siemsen unterstützten Ideen einer radikalen Reformierung des Schulsystems schon in der Weimarer Republik nicht hatten durchgesetzt werden können, musste sie nach 1945 erleben, dass die Schul- und Universitätsreformen, die von den alliierten Besatzungsmächten im Rahmen ihrer reeducation-Politik eingeleitet worden waren, zumindest in den westlichen Besatzungszonen auch nicht konsequent umgesetzt wurden. Das Ergebnis war eine heterogene deutsche Bildungslandschaft,10 für die Siemsen nun übergreifende Unterrichtsinhalte entwarf, die ihren politischen Zielvorstellungen entsprachen. Die Kernkompetenzen, die Kinder und Jugendliche erlangen sollten, definierte sie als „übernationale Aufgeschlossenheit“ und „soziale Verantwortung“, die etwa „durch Arbeitsgemein-

6

Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 60 f. Zitat auf S. 61. Ausführlich dazu dies: Das Europa der Deutschen. 7 Loth: Rettungsanker Europa, S. 207 f. 8 Vgl. Anna Siemsen: Aufgehende Saat, in: Menschheitspädagogik. Paul Oestreich zum Dank, hg. von seinem Freundeskreis, Rudolstadt 1948, S. 40–41, hier S. 40 und AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Anna Siemsen: Die europäische Lage und die Aufgaben der Lehrer, maschinenschriftliches Typoskript, S. 5. 9 N. N.: Leitsätze des Vortrags „Die Erziehung zum Europäer“ von Anna Siemsen, [S. 1]. 10 Herbert: Geschichte Deutschlands, S. 578.

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schaften internationaler Art“ erlangt werden könnten.11 Deswegen plädierte Siemsen auch für die Schaffung „neuer Bildungseinrichtungen“,12 in denen insbesondere Lehrkräfte die Befähigung erhalten sollten, in ihrer regulären Lehrtätigkeit den Schülerinnen und Schülern diese Kernkompetenzen zu vermitteln und auf diese Weise für eine Einigung Europas wirken zu können. Siemsen plädierte deshalb für neue Lehrpläne, an denen sich die Lehrkräfte orientieren sollten. In diesen neuen Lehrplänen müsse die Zusammengehörigkeit der Europäer betont werden, was etwa über die „Geschichte als Kultur- und Sozialgeschichte, Literatur und Kunst, erdkundliche Darstellung der Erde als Siedlungsgebiet und Heimat der Menschen“ erreicht werden könne.13 Siemsen konzentrierte sich in ihren Ausführungen auf den Geschichtsunterricht, den sie zur „eigentlichen Zentraldisziplin“ erhob.14 Sie betonte, es bedürfe „keine[r] Europakunde“, sondern vielmehr einer Änderung der „Stellungnahme“.15 Deswegen definierte sie den Begriff der Geschichte weit und fasste darunter „allen Unterricht, der menschliche Verhältnisse in ihrer Entwicklung“ enthalte.16 „Staatengrenzen“ sollten kein Thema des Unterrichts sein, denn es ging Siemsen darum zu zeigen, wie ähnlich die Lebensbedingungen der Menschen in Europa seien, wenn sie unter ähnlichen „geographischen Bedingungen“ leben würden. Sie griff in ihrer Argumentation auf Überzeugungen zurück, die sie etwa 1928 in ihrem Buch Daheim in Europa formuliert hatte. So plädierte sie beispielsweise dafür, die Nordsee „als geographische Einheit zu nehmen“. Daran könne gezeigt werden, „wie ähnlich Leben und Schicksal der englischen, norwegischen, deutschen, holländischen Schiffer sind“.17 Ähnlich wie in den Literarischen Streifzügen betrachtete sie die Geschichte „als Prozeß des Gesellschaftslebens“, durch den verdeutlicht werden könne, dass sich „Gesellschaft […] immer nur vorübergehend, und nur zum Teil, innerhalb staatlicher Grenzen organisiert“ habe. Sie betonte, „[i]n Europa ist das niemals der Fall gewesen“.18 Durch einen auf diese Weise konzipierten Geschichtsunterricht glaubte Siemsen, „zu einer europäischen Ansicht zu kommen“ und „den Kindern das Bewusstsein

11 Anna Siemsen: Jugendbücher, eine Aufgabe der neuen Erziehung, in: Schola 2 (1947), Heft 5, S. 296–299, hier S. 299. 12 N. N.: Leitsätze des Vortrags „Die Erziehung zum Europäer“ von Anna Siemsen, [S. 1]. 13 Ebd. 14 Anna Siemsen: Europäischer Geschichtsunterricht, in: Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände (Hg.): Geschichtsunterricht in unserer Zeit. Grundfragen und Methoden, Braunschweig 1951, S. 4–8, hier S. 6. Der Text wurde 1953 postum erneut abgedruckt: Anna Siemsen: Erziehung für Europa. Eine Besinnung auf neue pädagogische Aufgaben, in: Bundeszentrale für Heimatdienst (Hg.): Geschichtsunterricht in einer sich wandelnden Welt. Ein Beitrag zur internationalen Verständigung [Sonderdruck], Bonn [1953], S. 1–2. 15 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Anna Siemsen: Die europäische Lage und die Aufgaben der Lehrer, maschinenschriftliches Typoskript, S. 4. 16 Siemsen: Europäischer Geschichtsunterricht, S. 4. 17 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Anna Siemsen: Die europäische Lage und die Aufgaben der Lehrer, maschinenschriftliches Typoskript, S. 4. 18 Siemsen: Europäischer Geschichtsunterricht, S. 7.

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ihrer Freiheit und Verantwortung und ihrer europäischen und menschheitlichen Gemeinschaft zu geben“.19 Der für ihre Europa-Konzepte wichtige Topos von der Vielfalt in der Einheit spielte auch in ihren Überlegungen zu einem reformierten Geschichtsunterricht eine Rolle. Um die „Wesens- und Schicksals[verbundenheit]“ und damit die „Geschichtsverbundenheit der Menschen“20 in Europa aufzuzeigen, wollte sie zunächst die Einheitlichkeit der europäischen Kultur hervorheben. Wie sie es schon in ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte formuliert hatte, sei diese „Einheit“ in Europa durch die „vom Mittelmeer sich ausbreitende[], durch Kirche und den römischen Reichsgedanken bestimmten Kultur“ geformt worden. Auch „die Wirtschaft und das soziale Leben“ hätten als einigender Faktor in Europa gewirkt. Unter Kultur subsumierte Siemsen „Wissenschaft, Literatur und Kunst“, die Grenzen übersprungen und „eine europäische Einheit“ konstituiert hätten. Unter Vielfalt verstand sie hier „die nationalen Variationen“, womit sie die unterschiedliche Organisation der Gesellschaft in den verschiedenen Staaten meinte, die aber durch die sie überwölbende europäische Kultur einem einheitlichen „europäischen Geschichtsprozeß“ unterworfen gewesen seien.21 Die wirtschaftlichen Verflechtungen, die Siemsen in der Weimarer Republik und auch im Exil noch als Einigungsfaktor angeführt hatte, traten an dieser Stelle argumentativ zugunsten der Betonung eines Europas zurück, das christlich geprägt sei, „menschliche Universalität“ angestrebt und deswegen stets „die Tendenz zur Einheit“ gehabt habe. Die Herausbildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, die Siemsen auch als „Störungsperiode“ bezeichnete, habe diese christlich-abendländische Kultur pervertiert, indem aus den vorgegebenen „Einheitstendenzen“ machtstaatliche Politik und „Hegemonialbestrebungen“ hervorgegangen seien, die die „Einzelstaaten […] aus dem europäischen Schicksal“ herausgelöst hätten.22 Deutschland oder seine Entwicklung zum Nationalsozialismus wurde in ihren Ausführungen nicht gesondert thematisiert oder hervorgehoben. Siemsens Erziehungskonzepte für Europa enthielten nichts anderes als ihre Erziehungskonzepte zur Gemeinschaft, die sie in den 1920er Jahren entworfen hatte. Ihr ging es darum, „die Menschen zur sozialen Gerechtigkeit in Freiheit zu bilden“.23 Nach wie vor prägten die Leitideen des Friedens, der Herrschaftslosigkeit, Gleichberechtigung, Solidarität und Gerechtigkeit ihre Ordnungsvorstellungen und wurden als Kernbestand einer europäischen Kultur begriffen, die zur Gemeinschaft, deswegen zur Demokratie und zur europäischen Einheit führen müsse. Die vormals propagierte „Erziehung im Gemeinschaftsgeist“, mit der ein sozialistisches Gesellschaftsprojekt realisiert werden sollte, wurde auf Europa übertragen. Durch eine Erziehung für Europa wollte Siemsen nun ein europäisches Einigungs19 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Anna Siemsen: Die europäische Lage und die Aufgaben der Lehrer, maschinenschriftliches Typoskript, S. 5. 20 Siemsen: Europäischer Geschichtsunterricht, S. 8. 21 Ebd., S. 4 f. 22 Ebd., S. 7. 23 Ebd., S. 6.

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projekt fördern. In ihrer Argumentation waren es nicht länger die Arbeiter, die sie als politische Trägergruppe für dieses Projekt anführte, sondern die europäischen Menschen insgesamt, die durch eine entsprechende Erziehung eine europäische Gemeinschaft schaffen sollten. Auch wenn Siemsen es meistens nicht explizit hervorhob, betrachtete sie die Einigung Europas weiterhin als ein sozialistisches Gesellschaftsprojekt. Dies zeigt sich an ihrem Engagement für die Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa, das noch Erwähnung finden wird. Die auch von Siemsen angeführte Betonung eines abendländisch-christlichen Europas24 war unmittelbar nach 1945 geeignet, um eine größere Aufmerksamkeit für europapolitische Forderungen zu erhalten und breitere Bevölkerungskreise zu erreichen. Der Abendland-Gedanke hatte nach 1945 eine neue Aktualität und Popularität gewonnen. Er diente, ähnlich wie der Rückgriff auf eine vermeintlich deutsche Kultur, dazu, die Zeit des Nationalsozialismus zu kompensieren, indem auf einen „gesunde[n] Kern abendländischen Denkens“ zurückgegriffen wurde, der „dem nationalsozialistischen Totalitarismus widerstanden habe [und] an de[n] wieder angeknüpft werden könne“.25 Vor diesem Hintergrund gewann die Abendländische Bewegung eine neue Popularität, die eine christlich-katholische, „ständischsubsidiär“ geprägte Gesellschaft anstrebte und konservative Ordnungsvorstellungen aus der Zwischenkriegszeit in sich vereinte. Die Abendländische Bewegung war insbesondere in konservativen Kreisen beliebt.26 Der Heimatbegriff, den Siemsen in ihren Erziehungskonzepten für Europa oft gebrauchte und der schon in ihrem Buch Daheim in Europa zentral gewesen war, gewann ebenfalls nach 1945 eine neue Aktualität. War er zunächst ein Schlüsselbegriff in bürgerlichen kulturkritischen Auseinandersetzungen der 1920er Jahre gewesen, erlangte er nun nach 1945 eine reale sozialpolitische Komponente: In Deutschland hielten sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges rund sieben Millionen sogenannte Displaced Persons (DPs) auf, die als Zivilpersonen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit während des Krieges nach Deutschland gekommen waren.27 Durch den Krieg waren in Europa insgesamt etwa dreißig Millionen Menschen „heimatlos“, weil sie durch Internierung, Verschleppung oder Flucht ihre Heimatgebiete verlassen mussten und nach Ende des Krieges nicht dorthin zurückkehren 24 Siemsen führte allerdings in ihren unveröffentlichten Manuskripten und in ihren Vorträgen öfters auch den Einfluss des Judentums an, den sie ebenso wie das Christentum als Bestandteil einer europäischen Kultur bezeichnete: Vgl. etwa AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Mitschrift des Vortrages von Siemsen über „Gesellschaftswandel und Geistesleben“ auf der Konferenz über „politische Schulungsarbeit“, vom 9. bis 16. Dezember 1950 im „Haus Bittermark“, Dortmund, gehalten am 15. Dezember 1950, S. 2. Ihre Kollegin Margo Wolff hob in ihrem Nachruf auf Siemsen die „Liebe und Freundschaft“ hervor, die sie „stets fuer das juedische Volk gehabt“ habe: Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: M 107 Margo Wolf[f], EB 97/139: Letztes Geleit fuer Anna Siemsen, maschinenschriftliches Typoskript, S. 1. Siemsens weitgehende Auslassung dieses Themas war vermutlich den Verdrängungsstrategien innerhalb der deutschen Bevölkerung geschuldet, wo man sich vorwiegend mit der eigenen vermeintlichen Opferrolle auseinandersetzte. 25 Schildt: Zwischen Abendland und Amerika, S. 49 f. 26 Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 63. 27 Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung, S. 96.

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wollten oder konnten.28 Diesen Menschen und insbesondere den durch den Krieg geschädigten Kindern wollte Siemsen eine Perspektive anbieten. Deshalb fordert sie die Lehrkräfte dazu auf, „unsere Kinder in der Heimat Europa heimisch zu machen, sie erleben zu lassen, dass Europa eine Heimat für sie sein solle“.29 Ihre Grundüberzeugungen und Argumentationsmuster, die sie bereits in den 1920er Jahren vorgetragen hatte, konnte Siemsen damit weiterhin für ihre Forderung nach einer umfassenden Änderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nutzen, indem sie sie den zeitgenössischen Entwicklungen nach 1945 anpasste. Da sie gerade den Lehrkräften eine zentrale Rolle bei der Umsetzung dieser Forderungen beimaß, konzentrierte sich Siemsen in ihrer erziehungspolitischen Arbeit auf die von ihr mehrfach geforderten neuen Bildungseinrichtungen für Lehrinnen und Lehrer, sie sie Europäische Akademien bzw. Europäische Pädagogische Akademien (EPA) nannte. Sie entwarf dafür ein Konzept, für dessen Umsetzung sie einen Großteil ihrer europapolitischen Arbeit verwandte.30 1.1 EUROPÄISCHE AKADEMIEN Die Idee, Europäische Akademien für Lehrkräfte zu gründen, war Siemsen bereits in der Schweiz gekommen. Kurz vor ihrer Rückkehr nach Deutschland hatte sie eine Tagung besucht, auf der die notwendigen „sozialerzieherischen Aufgaben“ für die Nachkriegszeit debattiert worden waren.31 Sie glaubte, „[w]enn man hundert Erzieher heranbildet, so erstreckt sich die Wirkung auf Tausende“. Deshalb entwarf sie den Plan, „Dozenten der verschiedenen europäischen Länder in die Geschichte, die gesellschaftliche, kulturelle Entwicklung und vor allem in die europäische Literatur und Pädagogik einzuführen und sie gleichzeitig europäische Gemeinschaft lebendig erleben zu lassen“.32 Siemsen hatte, wie sie Schulsenator Landahl berichtete, bereits im Exil begonnen, zwei Kurse für Nachwuchs-Lehrkräfte durchzuführen, die die nötigen Fähigkeiten erlangen sollten, in ihrer späteren Lehrtätigkeit in Deutschland demokratisch-europäische Bildungsinhalte zu vermitteln. In ihrer „Denkschrift“ hatte sie darüber hinaus den Plan einer „europäischen Lehrerakademie“ entworfen, an der nicht nur deutsche, sondern möglichst viele internationale Lehrkräfte zusammenkommen sollten. Sie wollte damit eine europäische Zusammenarbeit und ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl erreichen. Das Ausbildungsziel formulierte Siemsen folgendermaßen: 28 Herbert: Geschichte Deutschlands, S. 553. 29 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Anna Siemsen: Die europäische Lage und die Aufgaben der Lehrer, maschinenschriftliches Typoskript, S. 4. Vgl. auch den Aufsatz von Siemsen: Probleme des kriegsgeschädigten Kindes. Verwahrloste Jugend. Kurze Betrachtung zu den internationalen Studienwochen, in: Über die Grenzen Nr. 12 (1945), S. 4. 30 Siemsens Konzept für die Errichtung von Europäischen Akademien hat auch Alexandra Bauer dargelegt: Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 207–212. 31 Siemsen: Briefe aus der Schweiz, S. 60. 32 Ebd., S. 62.

1.1 Europäische Akademien

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„Europäische Haltung der Lehrerschaft auf Grund der gewonnenen Einsicht und lebendigen Erfahrung des [sic] europäischen geschichtlich geworde[n]en und für die Fortdauer der europäischen Völker und Staaten lebensnotwendigen Zusammengehörigkeit.“33

Das Konzept34 sah vor, Lehrkräfte aus verschiedenen Ländern zusammenzuführen, wobei die unterschiedlichen Nationalitäten möglichst ausgewogen vertreten sein sollten. Auch in diesem Fall führte Siemsen den Topos von der Vielfalt in der Einheit an und erklärte, es müsse „eine Vielheit Gleichberechtigter unter den für alle gleichen Bedingungen eines fremden, aber freundlich gesinnten Gastlandes miteinander arbeiten“.35 Für ihr Konzept reaktivierte sie zudem reformpädagogische Ansätze aus den 1920er Jahren, indem sie etwa das „Erlebnis“ des miteinander Arbeitens in den Vordergrund rückte. Das Erlebnis einer Gemeinschaft hielt Siemsen in den Europäischen Akademien genauso wichtig wie in ihren Erziehungskonzepten der 1920er Jahre, in denen ebenfalls das Erlebnis der Gemeinschaftsbildung als Erziehungsziel für eine kommende neue Gesellschaftsordnung propagiert worden war. Siemsen glaubte, in den Europäischen Akademien würde „der Zusammenhang europäischer Erziehungstradition“ erlebt werden können,36 weshalb sie als erste „Hauptdisziplin“ der Fortbildung „Europäisches Erziehungswesen“ anführte. Als zweite Hauptdisziplin sprach sie sich für das Thema „Europäische Gesellschaftsentwicklung“ aus.37 In sechsmonatigen Kursen sollten „Lehrer und Erzieher aller Grade und Art“ in das „Studium der europäischen Wirtschafts-[,] Sozial[-,] Kultur-, Literatur- und politischen Geschichte“ eingeführt werden. Für den Leiter der Akademie sah Siemsen eine Festanstellung vor. Für die Dozenten, die möglichst aus den verschiedenen, an der Akademie mitwirkenden Ländern kommen sollten, forderte sie einen halbjährlichen Urlaub von ihrer hauptberuflichen Tätigkeit. „[U]m den europäisch internationalen Endzweck zu erreichen“, müsse der Unterricht dreisprachig sein, wobei sie von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern verlangte, dass sie neben ihrer Muttersprache wenigstens eine Fremdsprache so gut beherrschen sollten, dass ein Verfolgen des Unterrichts möglich sei.38 Mit der Mehrsprachigkeit glaubte Siemsen, „[z]ur Bewahrung der europäischen Atmosphäre“ beitragen zu können.39 Als Sitz 33 StAHH, 361–3/A515, Bl. 16: Anna Siemsen: Denkschrift über Kurse zur Ausbildung paedagogischer Lehrkräfte vom 3. August 1946. 34 Neben der „Denkschrift“ für Landahl vgl. die beiden maschinenschriftlichen Typoskripte in: AsdD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Anna Siemsen: Plan einer Internationalen Pädagogischen Akademie (Europäische Akademie EPA) und Anna Siemsen: Memorandum betreffend Arbeitsplan einer Europäischen Lehrerakademie [beide 1949]. Siehe auch die Veröffentlichung von Siemsen: Europäische Akademien. 35 Siemsen: Europäische Akademien, S. 736. 36 Ebd., S. 735. 37 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Anna Siemsen: Memorandum betreffend Arbeitsplan einer Europäischen Lehrerakademie, S. 1 f. 38 StAHH, 361–3/A515, Bl. 16: Anna Siemsen: Denkschrift über Kurse zur Ausbildung paedagogischer Lehrkräfte vom 3. August 1946. 39 AsdD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Anna Siemsen: Plan einer Internationalen Pädagogischen Akademie (Europäische Akademie EPA), S. 6.

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1 Erziehung für Europa

der Akademien schlug sie jene Länder bzw. die Universitäten jener Länder vor, „welche nahe einer Sprachen- und Völkergrenze liegen“ und „in denen also die wünschenswerte Vielheit von Sprachen und Nationalitäten als etwas Gewohntes und Natürliches erscheint“. Sie plädierte deswegen für die Schweiz „als internationales Herz- und Durchgangsland Europas“ und „für das slawische Gebiet Prag“, weil dort die für Europa zentralen „slawischen, germanischen und romanischen“ Sprachfamilien nahezu gleichberechtigt gesprochen werden würden.40 Damit tauchte die Sprache als Kernelement einer europäischen Kultur, die Siemsen bereits in ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte angeführt hatte, auch in ihren Erziehungskonzepten wieder auf. Da Siemsen nicht glaubte, dass eine „Staatsschule“ wegen der jeweils vorherrschenden nationalen Erziehungs- und Bildungstradition „eine übernationale Erziehungsanstalt“ werden könne, sollte der Träger der von ihr geforderten Akademien eine nicht-staatliche, möglichst internationale Organisation sein.41 Deswegen plädierte sie für eine „europäische[] Paedagogische[] Gesellschaft“, die für die administrativen Aufgaben zuständig sei und die durch Werbung in der Öffentlichkeit auch für die Finanzierung der Akademie Sorge zu tragen habe.42 In anderen unveröffentlichten Ausführungen hielt sie dagegen die Organisationen der EuropaBewegung für geeignet, Träger der Akademien zu sein.43 An gleicher Stelle machte Siemsen deutlich, dass hinter ihrem Erziehungskonzept mehr stand, als die in ihren Vorträgen und Veröffentlichungen propagierte „europäische Zusammenarbeit“, die in ihrer konkreten Ausgestaltung vage geblieben war. Hatte sie in ihrem Aufsatz, in dem sie für die Europäischen Akademien werben wollte, zwar schon die „Notwendigkeit eines vereinten Europas im Rahmen einer großen Weltorganisation“ hervorgehoben,44 forderte sie an anderer Stelle „die Schaffung einer Atmosphäre, welche die Realisation einer europäischen Föderation möglich macht“. Die Europäische Akademie sollte sich „ausschließlich zu den demokratischen, sozialen und föderalistischen Grundsätzen“ bekennen, „welche die Basis auch jeder wahrhaft europäischen Erziehung“ seien.45 Siemsens Erziehungskonzepte waren somit Teil eines spezifisch föderalen Europa-Verständnisses, das im Kapitel über ihr Engagement in der Europa-Bewegung näher erläutert werden wird. Mit ihrer Idee der Europäischen Akademien ordnete sich Siemsen in ein zeitgenössisch aktuelles und international diskutiertes Thema ein, das um die Begriffe „Europa“ und „Jugend“ kreiste. Europa als „Jugendthema“ bezeichnete sowohl die

40 Siemsen: Europäische Akademien, S. 737 f. 41 AsdD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Anna Siemsen: Plan einer Internationalen Pädagogischen Akademie (Europäische Akademie EPA), S. 1. 42 StAHH, 361–3/A515, Bl. 16: Anna Siemsen: Denkschrift über Kurse zur Ausbildung paedagogischer Lehrkräfte vom 3. August 1946. 43 Vgl. AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Anna Siemsen: Plan einer Internationalen Pädagogischen Akademie (Europäische Akademie EPA), maschinenschriftliches Typoskript, S. 3. 44 Siemsen: Europäische Akademien, S. 732. 45 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Anna Siemsen: Plan einer Internationalen Pädagogischen Akademie (Europäische Akademie EPA), maschinenschriftliches Typoskript, S. 1.

1.1 Europäische Akademien

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vermeintlich wachsende Popularität des Europa-Gedankens bei Jugendlichen46 als auch die enge Verbindung, die in den öffentlichen Debatten auf der semantischen Ebene zwischen den Begriffen „Jugend“ und „Europa“ gezogen wurde. Europa als „Jugendthema“ wurde auch in Frankreich und England diskutiert, diente aber besonders in Deutschland „als Leitbild für ein zukünftiges, friedliches Deutschland“.47 Die Besatzungsmächte hatten bei ihren Versuchen, eine demokratische Ordnung in Deutschland aufzubauen, insbesondere die Jugend im Blick, die Träger einer neuen demokratischen und völkerverbindenden Ordnung sein sollte. In der französischen Besatzungszone gab es erste Bemühungen, deutsche und französische Jugendliche zusammenzubringen, um eine deutsch-französische Verständigung einzuleiten. Nach ersten erfolgreichen Initiativen, über die sich mehr als 2.500 Jugendliche trafen, gründete die französische Militärregierung 1948 den Internationalen Begegnungsdienst, den services de recontres internationales.48 Unter ähnlichen Auspizien wurden andernorts ebenfalls gut besuchte internationale Jugendtreffen organisiert wie etwa 1947 und 1948 in München oder 1949 in Wetzlar.49 Zudem entstanden die ersten Jugendaustauschprogramme, die beispielsweise von den 1948 in Hannover gegründeten Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensten (IJGD) angeboten wurden. Diese Programme wurden auch auf internationaler Ebene forciert: Die UNESCO50 gründete etwa die Association of International Voluntrary Work Camps.51 Siemsen, die „Studienreisen, die Erteilung von Stipendien, selbst [den] Austausch von Lehrkräften“ als „unzureichende, ja unter Umständen ganz wirkungslose Mittel“ betrachtete,52 brachte mit der Fokussierung auf die Lehrerausbildung, über die systematisch ein europäisches Bewusstsein bei Kindern und Jugendlichen auf breiter Ebene etabliert werden sollte, einen neuen Aspekt in die zeitgenössischen Diskussionen um „Jugend“ und „Europa“ ein. Bei ihrem Versuch, die Grün46 Gerhard Brunn: Das Europäische Jugendtreffen 1951 auf der Loreley und der gescheiterte Versuch einer europäischen Jugendbewegung, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Rückkehr in die Ferne. Die deutsche Jugend in der Nachkriegszeit und das Ausland (Materialien zur historischen Jugendforschung), Weinheim und München 1997, S. 81–101, hier S. 82. 47 Lu Seegers: Jugend und Europa. Generationelle Diskurse in der Bundesrepublik nach 1945, in: Jörg Calließ (Hg.): Die Geschichte des Erfolgsmodells BRD im internationalen Vergleich (Loccumer Protokolle 24/2005), Rehburg-Loccum 2006, S. 67–80, hier S. 70–72. Zitat auf S. 72. 48 Brunn: Das Europäische Jugendtreffen, S. 84 f. 49 Ebd., S. 81 und Seegers: Jugend und Europa, S. 73. 50 Die UNESCO ist eine an die Vereinten Nationen angegliederte, aber rechtlich eigenständige kulturpolitische Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scentific and Cultural Organization) mit Sitz in Paris. Sie wurde im November 1945 gegründet. Als Vorläufer der UNESCO gilt das Institut International de Coopération Intellectuelle (IICI), das in den 1920er Jahren dem Völkerbund unterstellt war. Siehe zur Geschichte bzw. Vorgeschichte der UNESCO von 1921 bis 2004 das Handbuch von Klaus Hüfner und Wolfgang Reuther (Hg.): UNESCO-Handbuch, 2. Aufl. Bonn 2005, S. 158–276. 51 Dieter Danckwortt: Internationale Jugendgemeinschaftsdienste und die Gründung der IJGD in Niedersachsen im Jahre 1948, in: Reulecke: Rückkehr in die Ferne, S. 45–51, hier S. 45 f. 52 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Anna Siemsen: Plan einer Internationalen Pädagogischen Akademie (Europäische Akademien EPA), S. 1.

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1 Erziehung für Europa

dung der Europäischen Akademien auch auf organisationspolitischer Ebene durchzusetzen, stieß sie jedoch auf Schwierigkeiten. Schließlich sollten alle Versuche misslingen. Die Europäischen Akademien waren ein von vornherein ambitioniertes Projekt, das nicht nur die Unterstützung der jeweiligen Regierungen der Länder, in denen sie gegründet werden sollten, bedurfte, sondern auch einer hohen Summe an Kapital und stetigem Einkommen zur Aufrechterhaltung des Lehrbetriebes. Die Einwerbung von Mitteln für diesen Zweck war in Anbetracht der schlechten wirtschaftlichen Lage in Europa kaum denkbar. Es mussten Dozenten gefunden werden, die regelmäßig für ein halbes Jahr von ihrer Haupttätigkeit beurlaubt werden würden und es mussten sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer finden, die ebenfalls auf Urlaub für die Lehrgänge angewiesen waren. Wie Alexandra Bauer betont, zeigt die von Siemsen formulierte Anforderung, mindestens zwei Sprachen für die Teilnahme an der Europäischen Akademie fließend zu beherrschen, dass sie bürgerlichen Bildungsidealen verhaftet blieb, was wohl ein Ausschlusskriterium für manch potentielle Bewerberinnen und Bewerber gewesen sein dürfte.53 Die Europäischen Akademien hatten damit einen elitären Impetus, auch wenn die Forderung nach Mehrsprachigkeit innerhalb ihres Konzepts konsequent war und Siemsen selbst diese elitäre Ausrichtung sicherlich nicht beabsichtigte. Siemsen suchte in der Schweiz nach Trägerorganisationen, bei denen sie für die Europäischen Akademien werben wollte. Sie hielt die Schweiz nicht nur wegen seiner angeblich verwirklichten Vielfalt in der Einheit für ein geeignetes Land, um dort die Akademien zu gründen, sondern setzte hier auch auf die Organisationen der Europa-Bewegung, von denen sie sich die größte Unterstützung für ihre Pläne erhoffte. Im Januar 1948 hielt sich Siemsen in Basel auf, um bei der Schweizer Europa-Union, die dort ihren Sitz hatte, vorzusprechen.54 Schnell musste sie eingestehen: „Die Vorbereitungen der europäischen Lehrerakademie leiden etwas unter der Unsicherheit der Zeiten […]. Man ist selbst hier immer mit den Tagesnöten beschäftigt und wagt nicht darüber hinauszudenken.“55 Siemsens Engagement für die Akademien zog sich bis zu ihrem Tod im Januar 1951 hin. Im Herbst 1950 hatte sie immer noch nicht die „Hoffnung auf das Zustandekommen“56 der Akademien aufgegeben. Als sie ein paar Monate später starb, endeten wohl die Verhandlungen über ihre Pläne, die sie offenbar ganz alleine forciert hatte. Siemsen gelang es aber, eine andere Organisation zu gründen, mit der sie ebenfalls die Jugend für europapolitische Themen gewinnen wollte und die über ihren Tod hinaus Bestand hatte.

53 Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 212. 54 Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: M 107 Margo Wolf[f], EB 97/139: Johanna Schwarz an Margo Wolff, Basel vom 7. Januar 1948. 55 StAHH, 361–3/A515, Bl. 55: Anna Siemsen an Heinrich Landahl, Chexbres vom 12. Januar 1948. 56 Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main: M 107 Margo Wolf[f], EB 97/139: Margo Wolff an Johanna Schwarz, New York vom 1. Februar 1951, [S. 1].

1.2 Die „Anna-Siemsen-Gesellschaft“

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1.2 DIE „ANNA-SIEMSEN-GESELLSCHAFT“ Im Jahr 1949 gründete Siemsen zusammen mit dem Hamburger Lehrer Max Zelck (1878–1965)57 die Gesellschaft für europäische Zusammenarbeit. Es sind nur wenige Quellen überliefert, die Aufschluss über die Gründung oder die Konzeption dieser Organisation geben können. Siemsen selbst berichtete im März 1949 an den Parteivorstand der SPD, es müsse insbesondere „die apolitische Jugend“ für die europapolitische Arbeit gewonnen werden. Deshalb habe sie die Gesellschaft für europäische Zusammenarbeit gegründet. Um möglichst viele Jugendliche zu erreichen, beruhe die Gesellschaft nicht auf Einzelmitgliedschaften, sondern auf „Kollektivmitgliedschaften“ verschiedener Organisationen, die Siemsen aber nicht nannte. Obwohl sie die Überparteilichkeit der Gesellschaft hervorhob, ging aus ihren Ausführungen hervor, dass sie die sozialistischen Kräfte innerhalb der EuropaBewegung „konzentrieren und […] verstärken“ wollte und deswegen „[a]lle eigentlich sozialistischen Probleme“ zu erörtern gedachte.58 Unter dem Vorsatz parteipolitischer Neutralität schien es Siemsen also darum zu gehen, möglichst viele Jugendliche für ein europapolitisches Engagement im sozialistischen Sinn zu gewinnen, was gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit offenbar nicht kommuniziert wurde. Nach Siemsens Tod wurden die Schweizer Behörden auf die Gesellschaft für europäische Zusammenarbeit aufmerksam, die nun unter einem anderen Namen firmierte. Der Polizei in Bern war 1953 aufgefallen, dass ein deutscher Journalist namens Hans Kierski „in Internationalismus mache“. Kierski habe „in Bern für die Förderung der Internationale[n] Gesellschaft des Jugendaustausches; Anna Siemsen Gesellschaft“ geworben und für diesen Zweck „ein Büro gemietet“.59 Die Anna-Siemsen-Gesellschaft war, wie aus einem Brief von Siemsens Schwester Paula Eskuchen an Siemsens Schweizer Freundin Hedwig Schmidt hervorging, die „Nachfolgerin“ der Gesellschaft für europäische Zusammenarbeit, die Siemsen gegründet und, wie Paula Eskuchen schrieb, auch finanziert hatte. Wie Siemsens Schwester ebenfalls berichten konnte, widmete sich die Gesellschaft dem „Jugendaustausch“ und der „Beschäftigung mit europäischen Problemen, die monatlich beredet“ worden seien. Paula Eskuchen resümierte: „Sehr nette Leute, alle haben gar kein Geld.“60 57 Max Zelck gehörte der SPD an und war schon vor 1933 Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft. Kurze biographische Informationen zu Zelck finden sich bei Appelius: Pazifismus, Fußnote 225 auf S. 276. 58 BArch, N 1086/370: Anna Siemsen: Memorandum zur Europafrage vom 6. März 1949, S. 2 f. Vgl. zur Gesellschaft für europäische Zusammenarbeit auch den Brief von Anna Siemsen an „Genosse Baumann“ o. O. [Hamburg] vom 3. Februar 1950 im AAJB, PB Siemsen, Anna: Mappe 23: Briefe. Aus dem Briefkopf geht hervor, dass Siemsen zusammen mit Max Zelck, der als „Leitender Regierungsdirektor i. R.“ vorgestellt wird, den Vorsitz der Gesellschaft innehatte. 59 BAR, E4320B, 1990/266, 457: Bericht der Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern vom 9. Juni 1953, S. 1. 60 AAJB, Mappe 40: Brief von Paula Eskuchen an Hedwig Schmidt o. O. und o. J.

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1 Erziehung für Europa

Die Schweizer Polizei konnte über die Organisation in Erfahrung bringen, dass 1952 „2611 Studenten, Schüler der verschiedenen Schultypen, junge Erzieher und berufstätige Jugendliche“ an „Auslands-Studienfahrten in verschiedene westeuropäische Länder“ teilgenommen hätten. Auch habe die Gesellschaft zu „Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen“ eingeladen, auf denen insgesamt „über 7000 Jugendliche“ anwesend waren und in denen „über UNO und UNESCO-Arbeit gesprochen“ worden sei. Die Berner Polizei wusste ferner zu berichten, welches Ziel die Organisation verfolge: Auf „Grundlage strenger nationaler, parteipolitischer, religiöser und rassistischer Neutralität“ solle „eine enge Zusammenarbeit mit den interessierten Behörden aller demokratischen Staaten“ erreicht werden, um durch den Jugendaustausch einen „lebendige[n] und konstruktive[n] Beitrag zu der Verständigung der Völker“ zu leisten, „die allein Grundlage einer friedvollen, sicheren und guten Welt“ sei.61 Die Berner Polizei vermerkte noch, dass der Sitz der Organisation früher in Bonn gewesen und nun nach Bern verlegt worden sei, um „eine ‚Anna SiemsenStiftung‘ ins Leben [zu] rufen“. Außerdem wurde betont, die Organisation „sei federführend an der Gründung eines ‚Internationalen Institutes für europäische Erziehungsfragen‘ beteiligt und bereite „die Gründung eines intern. Pestalozzidorfes“ vor.62 Weniger an der Organisation interessiert als an dem Deutschen Kierski, der sich trotz wiederholten Aufenthaltes in der Schweiz nicht bei der Fremdenpolizei gemeldet hatte, stieß die Berner Polizei im Dezember 1953 bei ihren Nachforschungen schließlich auf ein vermeintlich unseriöses Geschäftsgebaren Kierskis im Namen der Anna-Siemsen-Gesellschaft. Kierski hatte in der Darstellung der Berner Polizei einige Personen um nicht unerhebliche Geldsummen gebracht und war deshalb angezeigt worden.63 Der „Polizeidienst“ der Schweizerischen Bundesanwaltschaft schloss die Akte 1954 daraufhin mit dem Vermerk, dass es sich anscheinend „beim angeblichen Vizepräsidenten der Internationalen Gesellschaft des Jugendaustausches um einen Betrüger“ handeln müsse.64 Womöglich waren es weniger betrügerische Absichten als finanzielle Engpässe aufgrund fehlender Geldzuwendungen von Sponsoren oder Mitgliedern, die es Kierski nicht ermöglichten, entstandene Außenstände zurückzuzahlen. Dafür spricht auch der Versuch, eine Anna-Siemsen-Stiftung zu gründen. Kierski hielt sich vermutlich deshalb in der Schweiz auf, weil er aufgrund von Siemsens Bekanntheitsgrad in europäisch gesinnten Kreisen gerade hier hoffte, Geldgeber für die Gesellschaft zu finden. Die von der Berner Polizei geschilderte anfänglich rege Tätigkeit der Anna-Siemsen-Gesellschaft hatte offenbar 1953 wegen der schlechten Finanzlage abgenommen. Denn über Auslandsreisen oder Diskussionsabende für 61 BAR, E4320B, 1990/266, 457: Bericht der Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern vom 9. Juni 1953, S. 2. 62 Ebd. 63 Ebd.: Bericht der Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern, Bern vom 2. Dezember 1953. 64 Ebd.: Bericht des Polizeidienstes der Schweizerischen Bundesanwaltschaft, Bern vom 29. April 1954.

1.2 Die „Anna-Siemsen-Gesellschaft“

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das Jahr 1953 berichtete die Polizei nichts mehr. Das weitere Schicksal dieser Organisation bleibt im Dunkeln. Es ist davon auszugehen, dass sich die Anna-Siemsen-Gesellschaft aufgelöst haben wird. In den zeitgenössisch von der UNESCO herausgegebenen mehrsprachigen Informationsorganen, in denen weltweit Auslandsstudien- und Ferienaustauschprogramme sowie Studienreisen mitsamt den jeweiligen Kontaktdaten in den einzelnen Ländern aufgeführt wurden, taucht die Anna-Siemsen-Gesellschaft auch unter ihrem offiziellen Namen Internationale Gesellschaft des Jugendaustausches nicht auf.65 Hinweise darauf, die von Siemsen ins Leben gerufene Organisation sei an der Gründung des Pestalozzi-Dorfes beteiligt gewesen, gibt es abgesehen vom Bericht der Berner Polizei noch von Siemsen selbst. Danach hatte sie das Pestalozzi-Dorf aber nicht mitbegründet, sondern allenfalls seine Gründung unterstützt. Wie Siemsen berichtete, war auf eben jener Tagung, wo sie ihre Idee einer Europäischen Akademie entwickelte, auch der Schweizer Journalist Walter Robert Corti (1910– 1990) anwesend, der dort seinen Plan eines Kinderdorfes bekannt gemacht hatte. Das Vorhaben, ein Kinderdorf zu gründen, in dem durch den Krieg verwaiste und heimatlose Kinder aus verschiedenen europäischen Ländern ein neues Zuhause finden sollten, war auf seine Initiative zurück gegangen. Corti hatte bereits 1944 den vielbeachteten Aufruf Ein Dorf für die leidenden Kinder in der Schweizer philosophischen Monatsschrift Du geschrieben. Das erste Pestalozzi-Dorf, benannt nach dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), konnte schließlich 1946 in Trogen im Kanton Appenzell durch Spenden errichtet werden.66 Siemsen hatte die von Corti ins Leben gerufene „Stiftung“ für das PestalozziDorf begrüßt. Sie wollte die Gründung einer internationalen pädagogischen Akademie in die gleiche Tradition stellen und hatte die Überlegung formuliert, die Akademie an das „internationale Pestalozzikinderdorf“ anzuschließen, da es „Gelegenheit zur praktischen Arbeit geben würde“.67 In der Gründung des Pestalozzi-Dorfes sah Siemsen einen ersten Grundstein für „internationale Zusammenarbeit“. Denn hier würden sich Kinder aus verschiedenen Ländern kennenlernen und zu „einer freien Gemeinschaft“ zusammenfinden. Sie hatte gehofft, auch ihrerseits ein „Heim der Menschlichkeit“ und eine „Menschheitsschule begründen zu können“,68 indem eine neue Lehrergeneration geschaffen werde, die den Kindern eben jenes internationale Gemeinschaftserlebnis vermitteln solle. Im Bericht der Berner Polizei über die Anna-Siemsen-Gesellschaft vermischten sich verschiedene Informationen, die weniger die Organisationen betrafen als Anna Siemsen selbst. Die Polizei hatte sich wegen des Namens der Organisation offen65 Vgl. dazu die von der UNESCO herausgegebene Zeitschrift: UNESCO (Hg): Vacations Abroad. Courses, Study Tours, Work Camps. Vacances à l’étranger. Vacaciones en el extranjero, Paris 1954–1966. 66 Walter Robert Corti: Der Weg zum Kinderdorf Pestalozzi, Zürich 1955. Siehe auch den Auszug aus dem Artikel ebd. auf S. 59–61. 67 StAHH, 361–3/A515, Bl. 16: Anna Siemsen: Denkschrift über Kurse zur Ausbildung paedagogischer Lehrkräfte vom 3. August 1946. 68 Siemsen: Briefe aus der Schweiz, S. 61.

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1 Erziehung für Europa

bar, wenn auch nur oberflächlich, über die Aktivitäten von Siemsen informiert und diese dann in dem Bericht zusammenfließen lassen. Der Hinweis, die Anna-Siemsen-Gesellschaft sei an der Gründung eines „Internationalen Institutes für europäische Erziehungsfragen“ beteiligt, bezog sich vermutlich auf Siemsens Versuche, die Gründung von Europäischen Akademien voranzutreiben. Möglichweise spielte die Polizei mit der Erwähnung eines „Instituts für europäische Erziehungsfragen“ auch auf das 1949 in Brügge gegründete Europa-Kolleg an, das maßgeblich auf die Initiative des niederländischen Politikers Henry Brugmans (1906–1997) zurückging, der von 1950 bis 1972 Rektor des Kollegs69 und zeitweilig ein europapolitischer Mitstreiter von Siemsen gewesen war. Brugmans setzte sich ebenso wie Siemsen für ein föderiertes Europa ein, dessen Verwirklichung er durch die Fortbildung von „Funktionäre[n]“ vorantreiben wollte. Brugmans sprach insbesondere „Historiker, Wirtschaftswissenschafter, Juristen oder Soziologen“ an, die in drei Trisemestern „unter Führung einer Gruppe von Professoren einen der Fragenkomplexe, die sich für das moderne Europa stellen“, erörtern sollten. Er wollte das Europa-Kolleg „zu einem Laboratorium für den europäischen Gedanken“ machen,70 der den „wissenschaftlichen Föderalismus“ in den Mittelpunkt rücke.71 Trotz der ungenauen und teilweise vagen Informationen gibt der Bericht der Berner Polizei Hinweise auf das ausgedehnte europapolitische Netzwerk, in dem Siemsen sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges bewegte. Die Ansätze zur Gründung von Europäischen Akademien oder der Gesellschaft für europäische Zusammenarbeit entstanden zwar allein unter ihrer Federführung, wovon schon die Namensgebung Anna-Siemsen-Gesellschaft zeugt. Zugleich wird aber auch deutlich, wo Siemsen Anregungen für ihre Ideen erhielt und wie stark diese Ideen in zeitgenössischen europapolitischen Diskussionszusammenhängen verhaftet waren. Die internationale Europa-Bewegung, die sich ab 1946 auszubreiten begann, eröffnete Siemsen neue Möglichkeiten, für ihre auf dem Gemeinschaftsgedanken basierenden Forderungen nach einer neuen internationalen Gesellschaftsordnung zu arbeiten.72

69 Jürgen Elvert: Die europäische Integration (Geschichte kompakt), Darmstadt 2006, S. 39. 70 Henry Brugmans: Erziehung zum Europäer, in: Frankfurter Hefte 5 (1950), Heft 8, S. 801–803, hier S. 802. 71 Ebd., S. 801. 72 Die Ausführungen in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit zu Siemsens Engagement in der Europa-Bewegung und zum Konzept der „Dritten Kraft“ sind in Grundzügen bereits formuliert worden: Marleen von Bargen: Anna Siemsen – eine Europäerin der „ersten Stunde“. Zur Marginalisierung der Europa-Politikerin und ihrer Konzepte, in: Ann-Kristin Düber und Falko Schnicke (Hg.): Perspektive – Medium – Macht. Zur kulturellen Codierung neuzeitlicher Geschlechterdispositionen, Würzburg 2010, S. 65–83, hier S. 72–77.

2 IN DER EUROPA-BEWEGUNG Die Europa-Bewegung, die ab 1946 einen enormen Aufschwung erlebte, war international und vielfältig. In diesem heterogenen Spektrum an Personen und Verbänden berief man sich jedoch auf dieselben übergeordneten Motive, mit denen eine Neuordnung Europas begründet wurde. Der Wunsch nach Friedenssicherung, nach Einbindung Deutschlands in die europäische Nachkriegsordnung, nach Überwindung von nationalstaatlichen Wirtschaftsgrenzen sowie die Forderung nach einer Selbstbehauptung Europas gegenüber außereuropäischen Weltmächten waren die „Antriebskräfte“, die schließlich zu Beginn der 1950er Jahre auch dem europäischen Integrationsprozess zugrunde lagen.73 Unter diesen Voraussetzungen bot die Europa-Bewegung für Anna Siemsen diverse Anschlussmöglichkeiten, um sich im Rahmen dieser Bewegung für ihre politischen Idealvorstellungen zu engagieren. Ihre Mitgliedschaften in parteipolitisch heterogenen Verbänden und Gremien zeigt, welche Bindungskraft die Europa-Idee ausstrahlte und Siemsen dazu bewog, auch mit Personen, die eine andere politische Einstellung hatten, zusammenzuarbeiten. „Europa“ avancierte in breiteren Bevölkerungskreisen zu einem Synonym für eine gewünschte neue Ordnung, die aber je nach weltanschaulicher Position auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Methoden geschaffen werden sollte. Die Aufgeschlossenheit breiter Bevölkerungskreise für die Europa-Idee war groß, gerade weil diese Idee oftmals unkonkret blieb. Letztlich sollte sie aber eine Angelegenheit von Regierungspolitikern werden. Die Entwicklung des Europarates, der 1949 gegründet wurde und zu Beginn zehn Staaten repräsentierte, setzte vielen Hoffnungen, die mit Europas Einigung verbunden worden waren, ein realpolitisches Ende. Bildete er zunächst „eine Staatengruppierung neuen Typs“, wurde alsbald deutlich, dass er keine „Instanz mit regierungsähnlichen Vollmachten“ darstellte. Den Organen des Rates, dem Ministerkomitee und der Beratenden Versammlung, oblag es, auf Grundlage eines gemeinsamen europäischen Erbes, jeweilige Interessen zu diskutieren, Abkommen zu beschließen und auf wirtschaftlichem, sozialem, wissenschaftlichem und verwaltungstechnischem Gebiet die Grundrechte der Europäer zu sichern und zu fördern.74 Der Europarat konnte keine bindenden Beschlüsse fassen, an die sich die jeweiligen Regierungen der Mitgliedsländer hätten halten müssen. Die vergeblichen Versuche der Delegierten in der Beratenden Versammlung, seinen intergouvernementalen Charakter in einen supranationalen zu verwandeln und ihn zu einem

73 Diese vier „Antriebskräfte“ der europäischen Integration hat Wilfried Loth formuliert: Wilfried Loth: Der Prozess der europäischen Integration. Antriebskräfte, Entscheidungen, Perspektiven, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 46 (1995), Heft 11, S. 703–714, hier S. 704 f. 74 Brunn: Die Europäische Einigung, S. 63. Ausführlich zum Europarat siehe ebd., S, 63–68 sowie Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 87–93.

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Motor des europäischen Einigungsprozesses zu machen, zeigten, dass wieder nationale Interessen die internationale Politik bestimmten.75 Der Europarat stellte in seiner Struktur und in seinen Kompetenzen genau das Gegenteil dessen dar, was Siemsen sich für eine Neuordnung Europas vorgestellt hatte. Sie hielt ihn deswegen auch für unfähig, die von ihr propagierten Ziele erreichen zu können.76 Sie wollte eine breite Massenbewegung der Bevölkerung fördern, die die Einigung Europas vorantreiben und gestalten sollte. Diese Einigung sollte eine föderale sein, in der die nationalstaatliche Souveränität weitestgehend abgeschafft sein werde. Ihr europapolitisches Engagement bewegte sich seit 1946 zunehmend in dem Spannungsfeld von „[e]uropäische[r] Volksbewegung“ und einer Europa-Politik der „High Society“.77 Siemsen war zunächst an der Gründung eines internationalen europapolitischen Dachverbandes, der Union Européenne des Fédéralistes (UEF) beteiligt. Sie trat danach in die größte deutsche Europa-Organisation, die deutsche Europa-Union, ein und wurde schließlich Mitglied im Kuratorium des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung (EB), der als einer von vielen nationalen Räten der Europa-Bewegung aus dem von Churchill initiierten Haager Kongress von 1948 entstanden war. Schließlich glaubte sie, ihre politischen Zielvorstellungen von Europa nur noch innerhalb der sozialistischen Bewegung umsetzen zu können und gründete deshalb 1950 die deutsche Sektion der Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa (MSEUE). Als im Laufe des Jahres 1946 für die internationale Öffentlichkeit deutlich geworden war, dass sich die drei großen Weltmächte USA, Großbritannien und die Sowjetunion auf keine gemeinsame Grundlage einer Friedenspolitik einigen konnten und stattdessen divergierende Interessen die Verhandlungen prägten, begannen bereits bestehende Europa-Organisationen in verschiedenen europäischen Ländern in rascher Weise und unabhängig voneinander, ihre Arbeit neu aufzunehmen und untereinander Kontakte zu knüpfen. Neben den tradierten Argumenten nach zwischenstaatlicher Friedenssicherung und wirtschaftlicher Kooperation kam ein neuer Aspekt hinzu: Die Vorstellung, ein geeintes Europa könne den sich abzeichnenden Ost-West-Konflikt aufheben und für den Weltfrieden sorgen. Nahezu alle Organisationen favorisierten angesichts der weltpolitischen Verhältnisse die Einigung ganz Europas in einem föderierten Bundesstaat, der auch die unter dem Herrschaftsbereich der UdSSR stehenden osteuropäischen Länder angehören sollten. Die erste Kontaktaufnahme kam im Mai 1946 zwischen der Schweizer Europa-Union, dem italienischen Movimento Federalista Europeo (MFE) und der niederländischen Europeesche Actie, der Henry Brugmans angehörte, zustande.78 Durch maßgebliches Engagement von Heinrich Ritzel, dem Generalsekretär der Schweizer Europa-Union, der Kontakte zu weiteren Organisationen und Personen in Europa aufnahm, konnte ab dem 15. September 1946 im Schweizerischen 75 Brunn: Die europäische Einigung, S. 62 sowie Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 87. 76 Siemsen: Europa und unsere Verteidigung, S. 98. 77 Brunn: Die europäische Einigung, S. 51. 78 Zu den vorhergehenden Ausführungen siehe Lipgens: Die Anfänge, S. 292–295.

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Hertenstein ein mehrtägiger Kongress stattfinden, auf dem 78 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter Siemsen, über ein erstes Grundsatzprogramm für die föderale Einigung Europas berieten. Siemsen gehörte zu den fünf deutschen Teilnehmern, die alle in der Schweiz wohnten. Andere Personen aus Deutschland waren ebenfalls eingeladen worden, hatten aber keine Ausreisegenehmigungen bekommen. Die abschließende Resolution der Tagung, das Hertensteiner Programm, basierte überwiegend auf den Leitsätzen der Schweizer Europa-Union. Unter Punkt eins wurde festgehalten, dass das geeinte Europa als Bestandteil einer zu schaffenden Weltföderation betrachtet wurde. Am 20. September sprach Siemsen auf dem Kongress über das Thema Die Lösung des deutschen Problems im Rahmen der europäischen Föderation.79 Wie von vielen anderen „ihre[r] teils großkonzeptionierten Vorträge[]“ zu europapolitischen Themen ist auch der Inhalt dieser Rede nach Quellenrecherchen leider nicht überliefert.80 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses in Hertenstein beschlossen, die vertretenen Organisationen unter einem Dachverband zusammenzufassen, um die europapolitische Arbeit zu koordinieren. Es wurde ein vorläufiges Präsidium namens Aktion Europa-Union gebildet, dem der Niederländer Henry Brugmans vorstand. Auch Siemsen, die kurze Zeit später nach Deutschland remigrieren sollte, gehörte dem Präsidium an.81 Etwa drei Monate später, Anfang Dezember 1946, gelang es dem vorläufigen Dachverband, der Aktion Europa-Union, Beziehungen zu weiteren Föderalistengruppen aufzubauen wie etwa der englischen Federal Union, die man vor Beginn des Hertensteiner Kongresses noch nicht hatte erreichen können. Ferner hatte sich noch eine große Föderalisten-Bewegung in Frankreich zusammengefunden, die von dem Schriftsteller Alexandre Marc (1904– 2000) repräsentiert wurde. Am 6. Dezember 1946 trafen sich die genannten Gruppen zusammen mit weiteren föderalistischen Verbänden, die sich etwa zeitgleich auf Initiative der britischen Federal Union auf einer Konferenz in Luxemburg vereinigt hatten.82 Auf diesem Treffen, das in Basel stattfand, wurde die Gründung einer gemeinsamen Organisation, der Union Européenne des Fédéralistes (UEF) beschlossen.83 Die UEF wurde eine Woche später, am 15. Dezember 1946, in Paris aus der Taufe gehoben und stellte fortan die übernationale Organisation für alle Europa-Aktivistinnen und -Aktivisten dar, die sich für eine föderative Einigung Europas engagierten. Zum Präsidenten wurde einstimmig Brugmans gewählt, den Posten des Generalsekretärs übernahm Alexandre Marc. Nach drei Jahren gehörten über 40 Organisationen und über 100.000 Mitglieder der UEF an.84

79 Ausführlich zur Hertensteiner Tagung ebd., S. 298–305. Informationen zu Anna Siemsen auf S.  300 f. 80 So die Aussage von Siemsen Schwester Paula Eskuchen, die in einem Brief auf Siemsens nicht erhaltene Redemanuskripte zu europapolitischen Themen verweist: AAJB, Mappe 44: Paula Eskuchen an Hedwig Schmidt o. O. und o. J. 81 Lipgens: Die Anfänge, S. 303. Siehe hier auch die Fußnoten 46 und 47. 82 Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 305–310. 83 Ebd., S. 310–313. 84 Ebd., S. 361.

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2 In der Europa-Bewegung

Innerhalb der UEF gab es wegen der heterogenen Zusammensetzung ihrer Mitglieder verschiedene Vorstellungen darüber, wie eine föderative Einigung Europas von statten gehen sollte. Einig war man sich im Grundsatz über eine wirtschaftliche und politische Einigung sowie über die Vorstellung, Europa solle als „Dritte Kraft“ zwischen den USA und der UdSSR stehen. Innerhalb der UEF bewegten sich die Diskussionen um eine föderale Einigung Europas zwischen zwei Polen. Während etwa Altiero Spinelli (1907–1986) von der MFE denjenigen Flügel der Organisation vertrat, der sich für ein „parlamentarische[s] Staatsmodell“ aussprach, das durch entsprechende Verfassungsorgane übernational geschaffen werden sollte, lehnten die „integralen Föderalisten“ um Alexandre Marc diese „liberal-parlamentarische Tradition“ ab und propagierten eine politische Machtübertragung auf gesellschaftliche Gruppen nach dem Subsidiaritätsprinzip, über die zugleich eine grundlegende innere Reformierung der Gesellschaft erreicht werden sollte.85 Siemsen ist, wie im nachfolgenden Kapitel gezeigt werden wird, der Gruppe der „integralen Föderalisten“ zuzuordnen. Innerhalb der Führungsriege der UEF übernahm Siemsen, abgesehen von ihrem Posten im Präsidium der Aktion Europa-Union im Vorfeld der UEF-Gründung, keine zentrale Funktion mehr. Sie engagierte sich aber nach ihrer Remigration in der deutschen Europa-Union (EU), die der Dachorganisation UEF angeschlossen war. Die EU gehörte zu den ersten deutschen Europa-Verbänden, die bereits 1946 in der britischen Besatzungszone gegründet worden waren. Die britische Militärregierung hatte als erste Besatzungsmacht im Oktober 1946 politische Vereinsgründungen zugelassen, so dass neben der genannten Europa-Union etliche Gründungen wie etwa die Europäische Volksbewegung Deutschlands in Hamburg, aus der Taufe gehoben wurden. Es folgten bald weitere Gründungen in anderen deutschen Städten, beispielsweise der Europa-Bund in Berlin, die zunächst aber nicht über ihren regionalen Bereich hinaus Wirkung entfalten konnten.86 Diese Neugründungen waren so zahlreich, dass Heinrich Ritzel im Januar 1947 gegenüber Siemsen einräumen musste, die „Übersicht“ verloren zu haben.87 Die Europa-Union wurde am 9. Dezember von Wilhelm Heile (1881–1969) begründet, der bereits in der Weimarer Republik europapolitisch engagiert gewesen war. Der Liberale Heile hatte Mitte der 1920er Jahre den Verband für europäische Cooperation ins Leben gerufen. Von dem Mitteleuropa-Konzept Friedrich Naumanns beeinflusst, setzte er sich für ein durch großdeutsche Ideen geprägtes Mitteleuropa ein.88 Nach 1945 gehörte Heile zu den Gründungsmitgliedern der Freien Demokratischen Partei (FDP) in der britischen Zone und zu jener Richtung innerhalb der FDP, die deutschnational ausgerichtet war.89 Heiles Europa-Konzept 85 Alan Hick: Die Union Europäischer Föderalisten (UEF), in: Wilfried Loth (Hg.): Die Anfänge der europäischen Integration 1945–1950, Bonn 1990, S. 189–196, hier S. 192. 86 Ausführlich dazu Lipgens: Die Anfänge, S. 386–434 und zusammenfassend Loth: Die Anfänge, S. 64 f. 87 AdsD, 1/HRAB000219: Heinrich Ritzel an Anna Siemsen, o. O. [Basel] vom 25. Januar 1947. 88 Conze: Das Europa der Deutschen, S. 212. 89 Edgar Wolfrum: Die Bundesrepublik Deutschland 1949–1990 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 23), 10. Aufl. Stuttgart 2005, S. 100.

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nach 1945 beinhaltete nun keine großdeutschen Ideen mehr. Stattdessen vertrat er die Vorstellung eines geeinten Europas als Staatenbund, nicht aber als Bundesstaat.90 Als er aus Altersgründen zunehmend in den Hintergrund trat, übernahm Wilhelm Hermes (1910–1981) die Geschäfte der Europa-Union. Er gehörte ebenso wie Heile und die meisten anderen Gründungsmitglieder der EU der FDP an.91 Zudem beteiligten sich zunächst auch frühere „Stabsoffiziere“ an der Gründungsarbeit.92 Siemsens Beitritt zu dieser Europa-Organisation ist damit zu erklären, dass der Verband seit 1947 von der Schweizer Europa-Union unterstützt wurde und damit die Grundsätze vertrat, die sie selbst durchzusetzen hoffte. Innerhalb der UEF herrschte weitestgehend Einigkeit darüber, Deutschland in eine föderative Neuordnung einzubinden, um auf diese Weise die „Lösung des Deutschlandproblems“ voranzutreiben. Da die UEF darüber hinaus anstrebte, eine internationale Massenbewegung zu werden, sollten auch die neu entstandenen Europa-Verbände in Deutschland für eine Mitarbeit gewonnen werden.93 Über den Kontakt, den Hermes zu Ritzel unterhielt, wurde die deutsche Europa-Union im März 1947 in die UEF aufgenommen und übernahm das Grundsatzprogramm der Schweizer Europa-Union.94 Siemsens Schwester Paula Eskuchen beschrieb die EU als „ein ganz bürgerliches, reaktionäres Repräsentationsgebilde“, dem sich Siemsen angeschlossen habe, um die, „die einigermaßen guten Willens waren […] positiv zu beeinflußen“.95 Seit 1947 versuchte Siemsen, ihre erziehungspolitischen Konzepte in der Kulturpolitik der EU zu verankern. Auf einem öffentlichkeitswirksamen Kongress der EU im Juni 1947 in Eutin sprach sie etwa von der Wichtigkeit, die Jugend für Europa zu erziehen.96 Es gelang ihr auch, ihre erziehungspolitischen Konzepte in das offizielle Programm der EU zu integrieren. Der kulturpolitische Abschnitt des Programms von 1949 trägt unverkennbar Siemsens Handschrift. Es wurden „Europäische Lehrpläne und Lehrmittel für die Jugend- und Erwachsenenbildung“ gefordert. Es war die Rede von der „Einführung und Anerkennung eines europäischen Abiturs“. Schließlich wurde die „Durchführung von Ferienkursen“ sowie die „Gründung und Unterstützung europäischer Bildungseinrichtungen“ gefordert. Das Programm nannte unter diesem Punkt „Akademien, Universitäten und Hochschulen [sowie] die Schaffung europäischer pädagogischer Akademien für die Lehrerausbildung, die zur Förderung europäischen Denkens von überragender Bedeutung“ seien.97 Inwiefern Siemsen die weiteren politischen Debatten innerhalb der EU noch beeinflussen konnte, lässt sich abschließend nicht mehr klären. In einem 90 Ebd., S. 297. 91 Lipgens: Die Anfänge, S. 418. Zu Wilhelm Heile vgl. auch Markus Behne: „Völker Europas, vereinigt euch!“. Proeuropäisches Denken und Wirken Wilhelm Heiles in Zwischen- und Nachkriegszeit, in: Schröder: Völker Europas, S. 115–232. 92 Lipgens: Die Anfänge, S. 421. 93 Loth: Die Anfänge, S. 65. 94 Lipgens: Die Anfänge, S. 419 f. und 422 sowie Conze: Das Europa der Deutschen, S. 298. 95 AAJB, Mappe 44: Paula Eskuchen an Hedwig Schmidt, o. O. und o. J. 96 Lipgens: Die Anfänge, S. 431. 97 N. N.: Kultur-Programm der Europa-Union, in: Schola 4 (1949), Heft 7, S. 518.

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Rückblick über die Verbandstätigkeit, der 1967 verfasst wurde, tauchen zwar viele Personen auf, die zu den führenden Köpfen der Organisation gezählt werden. Siemsens Name ist jedoch nicht dabei.98 Die Europa-Union erfuhr bald einen regen Mitgliederzulauf und vertrat den Anspruch, eine Massenbewegung zu sein. Der organisatorische Aufschwung des Verbandes bestärkte Siemsen möglichweise, sich weiterhin in seinem Rahmen für ihre europapolitischen Ziele zu engagieren. Denn es war ihr stets wichtig gewesen, die Einigung Europas über den organisierten Willen breiter Bevölkerungskreise zu erreichen und nicht über regierungspolitische Maßnahmen. Die EU blieb jedoch eine elitäre Organisation, der sich fast ausnahmslos Akademiker und Beamte anschlossen. Vertreter der Arbeiterorganisationen waren hier kaum zu finden.99 Nachdem Hermes wegen seines unkooperativen Führungsstils in die Kritik geraten und von seinen Posten zurückgetreten war,100 avancierte die EU seit 1947/1948 wegen des zunehmenden Beitritts von Sozial- und Christdemokraten zu einer überparteilichen Organisation. 1949 wurde der Linkskatholik Eugen Kogon (1903– 1987), der Herausgeber der Frankfurter Hefte, zum Präsidenten gewählt. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid (1896–1979) wurde sein Stellvertreter.101 Die inhaltliche Ausrichtung der EU tendierte seit dieser Zeit allerdings nicht mehr zu föderalen Idealen, sondern in Richtung der europapolitischen Haltung der CDU. Führende Vertreter der EU forderten etwa einen Beitritt Westdeutschlands zum Europarat.102 Der Europarat entstand auf Initiative der Europäischen Bewegung (EB), die eine Sammlung nahezu aller internationalen Europa-Organisationen in Westeuropa darstellte. Ausgangspunkt dieser Einigungsbewegung war eine Rede von Winston Churchill (1874–1965) gewesen. Etwa zeitgleich mit der Gründung des Dachverbandes der Föderalisten, der UEF, hielt der britische Oppositionsführer Churchill am 19. September 1946 in der Züricher Universität eine Rede, in der er die Europäer dazu aufforderte, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. Die Rede erregte großes Aufsehen in der Öffentlichkeit. Die Tatsache, dass ein bekannter Politiker und zugleich ein Vertreter der „Großen Drei“ die Einigung Europas forderte, führte zu einer zunehmenden Popularität des Europa-Gedankens in der europäischen Öffentlichkeit. Als Grundstein dieser Einigung sollte, so Churchill, die deutsch-französische Verständigung dienen. Zudem regte er in seiner Rede schon in die Errichtung eines Europarates an. Konkretere Aussagen zur Gestalt der europäischen Einigung formulierte er aber nicht. Obwohl Churchill scheinbar das gleiche Europa erstrebte wie die UEF, unterschied er sich doch in wesentlichen Punkten von ihren Grundüberzeugungen. Er wollte keine föderative Einigung, sondern vielmehr eine Union, eine Zusammenar98 Karlheinz Koppe: Das grüne E setzt sich durch (Europäische Schriften des Bildungswerks Europäische Politik, Bd. 13), Köln 1967. Vgl. hier bes. das Kapitel Namen von damals und heute, S. 22–23. 99 Loth: Die Anfänge, S. 70. 100 Ausführlich dazu Lipgens: Die Anfänge, S. 423–432 und Conze: Das Europa der Deutschen, S.  299 f. 101 Conze: Das Europa der Deutschen, S. 303 102 Loth: Die Anfänge, S. 66.

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beit gleichberechtigter souveräner Staaten, erreichen. Er wollte diese Union in Westeuropa verwirklichen, nicht aber ganz Europa einbeziehen.103 Außerdem sah er nicht vor, Großbritannien in die Union einzugliedern. Es sollte allenfalls „Freund und Förderer“ der europäischen Einigung sein.104 Eine kooperative Zusammenarbeit der europäischen Länder entsprach vielmehr den Interessen Großbritanniens, als ein europäischer Bundesstaat, in den sich, dem britischen Selbstverständnis zufolge, das Empire niemals würde eingliedern können. Die britische Politik konzentrierte sich auf die globale Ebene. Das Commonwealth unterhielt vielfältige Verbindungen in den Rest der Welt und hatte enge Beziehungen zu den USA. Europa war nur ein Beziehungsgeflecht unter anderen. Eine enge europäische Zusammenarbeit war aus wirtschaftlichen und friedenspolitischen Gründen zwar erwünscht, sollte aber vor allem britischen Interessen dienen.105 Nach dem großen Erfolg seiner Ansprache gründete Churchill zusammen mit seinem Schwiegersohn Duncan Sandys (1908–1987) am 14. Mai 1947 unter großem öffentlichem Interesse in einem feierlichen Festakt in der Royal Albert Hall das United Europe Movement (EUM), das dazu dienen sollte, die Europa-Idee vor allem bei führenden Vertretern des öffentlichen Lebens zu verbreiten. In der UEM waren Personen aus dem liberalen und konservativen politischen Spektrum vertreten, aber auch Mitglieder der föderalistischen Federal Union. Die konkrete Gestalt eines geeinten Europas wurde offen gelassen, so dass sich Personen und Verbände mit unterschiedlichen Zielsetzungen angesprochen fühlten. Zu diesem Zeitpunkt begann die Europa-Bewegung heterogener zu werden. Auf Initiative der UEM konstituierten sich Verbände, die beispielsweise eine wirtschaftliche Einigung Europas forderten, wie die Ligue Européenne de Coopération l’Europe unie (LECE) in Luxemburg. Zugleich entstanden parteipolitische Gruppierungen wie das Mouvement Socialiste pour les Etats-Unis d’Europe (MSEUE) der sozialistischen Parteien oder die Nouvelles Equipes Internationales (NEI), in der sich die Christdemokraten sammelten.106 Um dem Europa-Gedanken ein größeres Gewicht in der Öffentlichkeit zu verleihen, beschloss Sandys, einen Kongress mit namhaften Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens sowie Vertretern von verschiedenen Europa-Organisationen zu veranstalten, der schließlich vom 7. bis zum 10. Mai 1948 in Den Haag stattfand. Die über 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer verabschiedeten eine Resolution, in der eine Europäische Versammlung gefordert wurde, die sich aus Regierungsvertretern der westeuropäischen Länder zusammensetzen sollte. Der Versammlung sollte die Aufgabe zukommen, über die nächsten Schritte einer wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas zu beraten. Der französische Plan, über die Europäische Versammlung eine europäische Verfassung auszuarbei103 Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 68 f. und Lipgens: Die Anfänge, S. 313–319. 104 Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 69. 105 Ebd., S. 95. 106 Ebd., S. 69 f. und Brunn: Die Europäische Einigung, S. 56. Ausführlich zur Gründung der UEM siehe Lipgens: Die Anfänge, S. 319–331.

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ten, scheiterte am Veto der britischen Regierung. Als Kompromiss wurde die Gründung des Europarates beschlossen.107 Zudem ergriff man auf dem Haager Kongress die Initiative zur Gründung eines übergreifenden Dachverbandes. Am 25. Oktober wurde offiziell die Europäische Bewegung ins Leben gerufen. Als Dependancen der EB in den jeweiligen westeuropäischen Ländern fungierten sogenannte nationale Räte, über die die Notwendigkeit eines europäischen Zusammenschlusses in der Bevölkerung verbreitet werden sollte. Die insgesamt 17 nationalen Räte setzten sich aus prominenten Personen des öffentlichen Lebens wie Vertreterinnen und Vertretern von Parteien, der öffentlichen Verwaltung, angeschlossenen Europa-Organisationen sowie anderer ziviler Verbände zusammen.108 Der Deutsche Rat der Europäischen Bewegung wurde am 13. Juni 1949 „[a]uf der blumengeschmückten Bühne des Wiesbadener Staatstheaters“ feierlich aus der Taufe gehoben. Den Ehrenvorsitz übernahm der ehemalige Reichstagspräsident Paul Löbe (1875–1967).109 Zu den insgesamt 252 Mitgliedern gehörte auch Siemsen, die in das Exekutiv-Komitee gewählt wurde. Der erste Vorsitzende des Exekutiv-Komitees war Eugen Kogon, den stellvertretenden Vorsitz übernahm Hermann Brill.110 Siemsen nahm innerhalb des Exekutiv-Komitees des Deutschen Rates keine hervorgehobene Position ein. Sie konnte ihre europapolitischen Vorstellungen hier kaum zur Sprache bringen; zu heterogen und vielfältig waren die dort diskutierten Ideen zur Schaffung eines vereinten Europas. Hermann Brill beklagte nicht lange nach Gründung des Deutschen Rates den „Geltungsanspruch bestimmter Persönlichkeiten“ und die „Sucht aller möglichen Verbände, vertreten zu sein“. Das Exekutiv-Komitee sei auf 40 Mitglieder angewachsen und „[n]ur ein einziges Mal“, so Hermann Brill, sei „das Komitee beschlußfähig gewesen“.111 Siemsen konzentrierte sich vor diesem Hintergrund vielmehr auf eine Erziehung für Europa. Sie plädierte insbesondere auf Tagungen und Kongressen einzelner Europa-Verbände oder im Rahmen ihrer sozialistischen Bildungsarbeit für eine Erziehung zum Föderalismus, die sie als einzige Strategie betrachtete, ein föderiertes Europa zu schaffen, das von einer Massenbewegung getragen werden und zugleich eine grundlegende Reformierung von Politik und Gesellschaft einleiten sollte.

107 Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 87–89. 108 N. N.: Der Deutsche Rat der Europäischen Bewegung, in: Frankfurter Hefte 4 (1949), Heft 7, S. 550. 109 Wilhelm Cornides: Die Anfänge des europäischen föderalistischen Gedankens in Deutschland 1945–1949. Ein historisch-politischer Bericht, in: Europa-Archiv 6 (1951), 2. Halbjahr, Heft 6, S. 4243–4258, hier S. 4255. 110 AdsD, Deutscher Rat der Europäischen Bewegung A/a, Ordner 4: Liste der Mitglieder des Exekutiv-Komitees als Anlage zu Rundschreiben 1 vom 30. August 1949. 111 BArch, N1086/85b: Hermann Brill an Kurt Landsberg, Wiesbaden vom 20. Dezember 1950.

2.1 Föderalismus und „Dritte Kraft“

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2.1 FÖDERALISMUS UND „DRITTE KRAFT“ Der Föderalismusgedanke, mit dem Siemsen im Exil die Forderung nach Aufgabe nationalstaatlicher Souveränität, einer bindenden Rechtsordnung und eines europäischen Bundestaates verbunden hatte, avancierte nach 1945 zu einem der wichtigsten Konzepte innerhalb der internationalen europapolitischen Diskussionen.112 In den Föderalismusdebatten wurden jedoch unterschiedliche Ideen formuliert, wie und auf welche Weise die föderative Einigung geschaffen werden könne oder müsse. Diese Diskussionen wurden zeitweilig von einer Gruppe beherrscht, die das Konzept eines „integralen Föderalismus“113 vertrat. Der „integrale Föderalismus“ war für Siemsen geeignet, ihre Reformforderungen nach einer umfassenden Politik- und Gesellschaftsordnung nach Ende des Zweiten Weltkrieges mittels eines anschlussfähigen Konzeptes zu propagieren. Dieses Konzept war ein philosophisches Denkmodell, das in den 1930er Jahren maßgeblich von Alexandre Marc, dem späteren Generalsekretär der UEF, in Frankreich entworfen worden war. Inspiriert von den Ideen des französischen Gesellschaftstheoretikers Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) war das Konzept zunächst nicht im engeren Sinn als Grundlage für eine europäische Einigung konzipiert worden. Es beinhaltete ursprünglich Vorstellungen über eine umfassende Neuordnung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf globaler Ebene. Ausgangspunkt der Neuordnungsvorstellungen war die Einschätzung der zeitgenössischen Gegenwart als Fundamentalkrise.114 Obwohl diese Ordnungskrise als globale Krise betrachtet wurde, führten die Föderalisten spezifisch europäische Entwicklungen an, die zu dieser Krise geführt und von Europa ihren Ausgang genommen hätten. Marc datierte die Ursprünge dieser Entwicklungen in das Mittelalter zurück, wo er unterschiedliche Wandlungsprozesse für die Auflösung der bis dahin durch die Kirche geeinte abendländische Gesellschaft verantwortlich machte. Als darauffolgender Höhepunkt für die Entwicklung einer „Zivilisationskrise“ wurde die Herausbildung der Nationalstaaten betrachtet, die zu kapitalistischen Wirtschafts- und Herrschaftsordnungen und schließlich zu den Weltkriegen geführt habe.115 Siemsen teilte zwar die Auffassung, die zeitgenössische Gegenwart befinde sich in einer Krise, betrachtete aber die geschichtliche Entwicklung nicht so negativ, wie Marc es formulierte. Siemsen begriff sie vielmehr als einen menschlichen Emanzipationsprozess und hatte erklärt: „Nur dem aufmerksam Suchenden erschliesst sich die Geschichte als ein grosser Prozess der Menschwerdung, in dem unserer Zeit eine entscheidende Aufgabe zufällt zum Heil oder Unheil.“116 Mit 112 Conze: Das Europa der Deutschen, S. 294. 113 Lutz Roemheld: Integraler Föderalismus. Modell für Europa. Ein Weg zur personalen Gruppengesellschaft, Bd. 2: Philosophie, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft (Politik und Politische Bildung), München 1978 und Lipgens: Die Anfänge, S. 347–360. Im Rückgriff auf Lipgens auch Conze: Das Europa der Deutschen, S. 294. 114 Roemheld: Integraler Föderalismus, S. 11 f. 115 Ebd., S. 14 f. Zitat auf S. 14. 116 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Anna Siemsen: Zur Einführung, maschinenschriftliches Typoskript, S. 1.

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Marcs Deutung des 19. Jahrhunderts stimmte sie überein, stellte die Herausbildung der Nationalstaaten für sie doch ebenfalls eine „Störungsperiode“117 dar und eine Zeit der „Fehlentwicklungen“, aus der alle gegenwärtigen „Nöte“ resultieren würden.118 Ein beschleunigter Verfallsprozess des gesellschaftlichen und politischen Lebens war in Siemsens Sicht vor allem durch den „Auflösungsprozess der bürgerlichen […] Nationalstaaten“ entstanden, der „alle Probleme [des gesellschaftlichen Lebens, MvB] klarer hervortreten“ lasse.119 Als Lösungsstrategie zur Überwindung der zeitgenössischen Fundamentalkrise entwickelten die Föderalisten das Konzept des „integralen Föderalismus“, das sich auf die erwähnte Neuordnung sämtlicher Lebens- und Politikbereiche stützte. Im Mittelpunkt aller Überlegungen stand, ähnlich wie es Siemsen in den 1920er Jahren immer wieder gefordert hatte, der Mensch.120 Dieser wurde als Individuum, aber auch als Gesellschaftswesen definiert. Er stellte aus Sicht der Föderalisten, und darin stimmte Siemsen ebenfalls mit ihnen überein, eine Einheit dar, einen Mikrokosmos, in dem sich die ihn umgebenden vielfältigen Verhältnisse widerspiegeln würden. Die negativen Phänomene der „Zivilisationskrise“ wie etwa Bürokratisierung oder Technisierung hätten demnach auch negative Auswirkungen auf den einzelnen Menschen zur Folge gehabt. Diese Auswirkungen hatten aus Sicht der integralen Föderalisten dazu geführt, dass der Mensch von seiner Umwelt zunehmend entfremdet worden sei und daher auch nicht mehr imstande sei, entsprechend seiner Eigenschaft als Gesellschaftswesen auf die Gesellschaft einzuwirken. Durch seine Herauslösung aus „kleinen, überschaubaren Gruppen“, die ursprünglich seinen Lebenszusammenhang ausgemacht hätten, sei der Mensch zu einem „autonome[n] Einzelwesen“ geworden, das keine Beziehung mehr zu der Masse anderer Vereinzelter aufbauen könne.121 Deswegen forderten die Föderalisten eine Ordnung, in der der Mensch wieder, seiner Bestimmung gemäß, als Gesellschaftswesen agieren könne. Es sollten Voraussetzungen geschaffen werden, um den Einzelnen dazu zu befähigen, Verantwortung innerhalb der Gruppen zu übernehmen, in die er kraft seines Willens und durch geschichtliche Tradition eingebunden sei. Diesen Gruppen müsse ein autonomes, eigenverantwortliches Handeln gewährt werden, ohne dass Eingriffe durch eine übergeordnete Autorität sie in ihrem Handeln behindern oder beeinflussen würden. In dieser Vorstellung gehörten neben Eigenverantwortlichkeit und politischem Engagement auch Selbstverwaltung und Dezentralisation zu den Kernaspekten einer föderalen Ordnung. Aus Sicht der Föderalisten werde sich diese Ordnung, basierend auf kleinen Gruppen wie der Familie oder der Gemeinde, zu immer größer werdenden Einheiten erweitern.122

117 Siemsen: Europäischer Geschichtsunterricht, S. 7. 118 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Anna Siemsen: Zur Einführung, maschinenschriftliches Typoskript, S. 2. 119 SozArch, Ar 142.30.1.: Anna Siemsen: Abschluss, maschinenschriftliches Typoskript 120 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Roemheld: Integraler Föderalismus, S. 120–126. 121 Ebd., 121. 122 Ebd., 126.

2.1 Föderalismus und „Dritte Kraft“

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Diese Grundgedanken speisten sich offenbar aus den gleichen Traditionsbeständen und Diskussionszusammenhängen, aus denen Siemsen ihre Ordnungsvorstellungen entwickelt hatte. Kulturkritische Gegenwartsdiagnosen und Rückgriffe auf ein humanistisches Menschenbild prägten auch die Grundüberzeugungen der Föderalisten. Auf einer Tagung „über politische Schulungsarbeit“ erklärte Siemsen das komplexe föderale Ordnungsmodell mit eigenen Worten: „Der Weg aus dieser offenbaren geistigen, wie gesellschaftlichen Entartung liegt nicht in einer Organisation der Freiheit von oben her durch Regierungs- oder Gesetzesmaßnahmen, an denen das zur Masse desorganisierte Volk keinen Anteil hat, sondern in der Selbsterziehung des Einzelnen zur freien Verantwortung, der Gemeinschaftsarbeit freier Gruppen, die sich zu immer größeren Gemeinschaften zusammenschließen, endlich in einem demokratisch-föderalistischen Aufbau von unten nach oben, von innen nach außen[,] von der Familie, Nachbarschaft und Gemeinde, vom Betrieb und der lokalen Genossenschaft bis zur universalen Föderation der Völker.“123

Diesen Föderalismus bezeichnete sie als einen „freiheitlichen demokratischen Sozialismus“,124 der auch ihrem föderalen Europa-Konzept zugrundelag. Für Siemsen kann in ähnlicher Weise gelten, was Walter Lipgens für die französischen Föderalisten beschrieben hat: Sie waren ‚Föderalisten‘ noch „bevor sie ‚Europäer‘ wurden“.125 Die Vorstellung einer Neuorganisation der Gesellschaft von „unten“ nach „oben“ in Form freier Assoziationen bzw. Gemeinschaften, die zu einer quasi-organischen größeren Einheit zusammenwachsen sollten, war zentraler Bestandteil von Siemsens Ordnungsvorstellungen und ihrer Erziehungskonzepte gewesen. Die Forderungen nach Gemeinschaftsbildung, die zunächst in kleineren Gruppen von statten gehen müsse, waren in der Weimarer Republik etwa auch in der sozialistischen Kinder- und Jugendarbeit erhoben worden. In der von Siemsen unterstützten Kinderfreunde-Bewegung sollten Kinder unter dem Motto „Vielfalt in der Einheit“ im Zusammenleben, beispielsweise in Zeltlagern, Gemeinschaftswerte verinnerlichen und Selbstverwaltung erlernen.126 Die Grundüberzeugungen, die Siemsen in den 1920er Jahren entwickelt hatte, wiesen daher bereits Ähnlichkeiten zu den Ideen auf, die das Konzept des integralen Föderalismus prägten. Die Fokussierung auf die globale Ebene bzw. auf eine Weltföderation, für die aus Sicht der UEF die föderale Einigung Europas eine Vorstufe sein sollte,127 dienten ihr zur Konkretion ihres Denkmodells einer Menschheitsgemeinschaft, das in der Weimarer Republik noch vage geblieben war. Das von Siemsen entworfene föderale Politik- und Gesellschaftsmodell enthielt keine Neuordnung Europas auf den Prinzipien einer bundesstaatlichen Verfassung, 123 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Mitschrift des Vortrages von Siemsen über „Gesellschaftswandel und Geistesleben“ auf der Konferenz über „politische Schulungsarbeit“, vom 9. bis 16. Dezember 1950 im „Haus Bittermark“, Dortmund, gehalten am 15. Dezember 1950, S. 5. 124 Ebd. 125 Lipgens: Die Anfänge, S. 360. 126 Siehe grundlegend dazu den Sammelband von Roland Gröschel (Hg.): Auf dem Weg zu einer sozialistischen Erziehung. Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte der sozialdemokratischen „Kinderfreunde“ in der Weimarer Republik. Eine Festschrift für Heinrich Eppe, Essen 2006. 127 Roemheld: Integraler Föderalismus, S. 227.

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sondern, so wie es das ursprüngliche Konzept des integralen Föderalismus vorsah, eine Neuordnung sämtlicher Beziehungen im gesellschaftlichen und politischen Leben überhaupt. Siemsens Föderalismus-Konzept war eine antietatistische Idee. Sie sprach Regierungen, Verfassungen und anderen regulierenden Instanzen politische Einflussnahme ab, die allein von dem einzelnen Menschen bzw. von der jeweiligen Gruppe, der er verbunden war, ausgeübt werden dürfe. Wie auch andere Verfechterinnen und Verfechter des „integralen Föderalismus“ lehnte sie „politischkonstitutionelle Modelle der repräsentativen Demokratie“ ab.128 Die föderale Einigung Europas sollte die Verwirklichung ihres Menschen- und Menschheitsideals gewährleisten, das durch eine Korrektur gesellschaftlicher Fehlentwicklungen verwirklicht werden könne. Diese Korrektur wollte sie durch Erziehung hervorrufen. Deshalb lagen den von ihr geforderten Europäischen Akademien eben jene föderalen Grundsätze zugrunde, die im Zusammenhang mit ihren Erziehungskonzepten thematisiert wurden. Siemsens Ziel blieb die Bildung eines „neuen Menschen“, einer „freien, vernunftbestimmten, schöpferischen Persönlichkeit“,129 wie sie den „neuen Menschen“ nach 1945 nannte. Die Schaffung solcher Menschen sah sie aber durch den Einfluss der UdSSR und den Einfluss der USA als gefährdet an. Beide Einflüsse bezeichnete sie als „Gleichschaltungen“, die entweder durch „Polizeimaßnahmen“ wie in der UdSSR oder durch „Presse, Kino, Rundfunk oder Verlagswesen“ wie in den USA zu einer „pas[s]iven Massenbildung führen“ würden.130 Die dadurch verhinderte Bildung von „Gemeinschaften in Freiheit und Mannigfaltigkeit“131 sei verheerender als die „Gefahr der Atombombe“, glaubte sie.132 Der sich zuspitzende Ost-West-Konflikt war für Siemsen eine Folge der ungelösten gesellschaftlichen Gegensätze, die sie auch schon für den Beginn des Zweiten Weltkrieges verantwortlich gemacht hatte. Der Krieg war zwar vorbei, doch würden sich diese ungelösten Spannungen dafür nun im „Gegensatz der beiden einzigen Weltmächte“ offenbaren, „die dieser Krieg noch bestehen“ gelassen habe.133 Sie vertrat damit ein erweitertes Konzept von Europa als „Dritter Kraft“. Die föderale Einigung war gefordert worden, damit Europa als neutraler Puffer zwischen den beiden „Blöcken“ USA und UdSSR einen weltpolitischen Machtausgleich herbeiführen könne. „Europa“ bedeutete dabei Gesamteuropa, zu dem auch die osteuropäischen Länder hinzugezählt wurden, die sich unter sowjetischer Herrschaft befanden. Europa sollte nicht von einer der beiden Großmächte beeinflusst 128 Hick: Die Union Europäischer Föderalisten, S. 192. 129 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Mitschrift des Vortrages von Siemsen über „Gesellschaftswandel und Geistesleben“ auf der Konferenz über „politische Schulungsarbeit“, vom 9. bis 16. Dezember 1950 im „Haus Bittermark“, Dortmund, gehalten am 15. Dezember 1950, S. 5. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Archiv FZH, 11/M8: N. N. [Ludolf Mevius]: Protokoll des Vortrags von Anna Siemsen über Unsere kulturellen Aufgaben in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen auf einer Tagung der SAG vom 1. November 1946. Vgl. auch Tormin: Die Geschichte der SPD, S. 134. 133 SozArch, Ar 142.30.1.: Siemsen: Die Zeit der Weltkriege und Revolutionen 1914–1945, maschinenschriftliches Typoskript.

2.1 Föderalismus und „Dritte Kraft“

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und dominiert werden und seinerseits keine Parteinahme ergreifen. Die Verfechter des „Dritte-Kraft“-Konzeptes glaubten, auf diese Weise die Wahrung der Menschenrechte gewährleisten und einen möglichen drohenden Krieg verhindern zu können.134 Hinter der Vorstellung von einem Europa der „Dritten Kraft“ standen auch wirtschaftspolitische Ideen: Europa sollte „einen Weg zwischen Kapitalismus und sozialistischer Planwirtschaft einschlagen“.135 Siemsen unterstützte diese Ziele, wollte aber zugleich eine radikale Reformierung sämtlicher Lebensbereiche umsetzen. In Siemsens Vorstellungen war der einzelne Mensch Ausgangspunkt für das Funktionieren einer neuen Ordnung. Die Bildung einer „freien, vernunftbestimmten, schöpferischen Persönlichkeit“136 war für sie Voraussetzung für ein Europa, das auf Grundlage eines freiheitlichen demokratischen Sozialismus umfassend reformiert werden müsste. Nur dadurch könne es seine „gesellschaftliche und kulturelle Selbständigkeit“137 erhalten und seine weltpolitische Funktion ausüben. Die Vorstellung von einer „menschheitsbildenden“ Kultur Europas und die Vorstellung, Erziehung bedinge jede politische Reform, prägte auch Siemsens Europa-Konzept der „Dritten Kraft“. 1947 nahmen die meisten der Anhängerinnen und Anhänger des „Dritte-Kraft“-Konzepts jedoch schon wieder Abstand von ihren vormaligen Überlegungen. Mit Bekanntgabe des Marshall-Plans und den einsetzenden Verhandlungen über die geplanten Wirtschaftshilfen der USA für Westeuropa war zumindest die geforderte Einigung ganz Europas nicht mehr realisierbar. Auf einem Kongress im August 1947 änderte die UEF ihr Grundsatzprogramm und wollte sich nun zunächst auf eine Einigung Westeuropas konzentrieren. Die ursprüngliche Idee, ganz Europa zu einen, wurde allerdings nicht fallengelassen.138 Siemsen hielt an dem „Dritte-Kraft“-Konzept noch bis zu ihrem Tod fest, zu einem Zeitpunkt, als die Teilung Europas faktisch durchgesetzt worden war. Mit Gründung der BRD und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war auch die Teilung Deutschlands durch die verfassungsmäßige Errichtung zweier deutscher Staaten festgeschrieben worden. Zur Jahreswende 1950/1951 schrieb Siemsen kurz vor ihrem Tod zwei zentrale Aufsätze, in denen sie zum Konzept der „Dritten Kraft“ Stellung bezog.139 In den Aufsätzen wurde deutlich, dass sie an ihren föderalen Grundüberzeugungen zwar festgehalten, aber die darauf gründende europäische Einigungsidee modifiziert hatte. Die Veröffentlichung der Aufsätze im Organ der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände bzw. im Organ des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zeigt, dass Siemsen mit ihren Ausführungen 134 Ausführlich dazu Lipgens: Die Anfänge, S. 381–386. 135 Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 66. 136 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe II: Mitschrift des Vortrages von Siemsen über „Gesellschaftswandel und Geistesleben“ auf der Konferenz über „politische Schulungsarbeit“, vom 9. bis 16. Dezember 1950 im „Haus Bittermark“, Dortmund, gehalten am 15. Dezember 1950, S. 5. 137 SozArch, Ar 142.30.1.: Siemsen: Die Zeit der Weltkriege und Revolutionen 1914–1945, maschinenschriftliches Typoskript. 138 Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 68. 139 Anna Siemsen: Europa, die dritte Kraft, in: Allgemeine deutsche Lehrerzeitung 2 (1950), Heft 21, S. 322–323 und Siemsen: Europa und unsere Verteidigung.

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ihre traditionellen Zielgruppen ansprechen wollte: die Lehrkräfte und die arbeitende Bevölkerung. Die ersten Initiativen für eine engere Zusammenarbeit in Europa und die unterschiedlichen europapolitischen Vorstellungen innerhalb der Europa-Bewegung selbst hatten seit Ende der 1940er Jahre dazu geführt, dass sich die Parteien und „die großen organisierten Interessenvertretungen“ wie die der Arbeiter kaum noch für die Europa-Bewegung interessierten bzw. sich in ihr engagierten.140 Schon zeitgenössisch wurde beklagt, dass es dem Deutschen Rat der EB kaum gelungen war, „eine Brücke zwischen den noch immer auf Inseln des bürgerlichen Mittelstandes isolierten Europaverbänden und den Massen der deutschen Bevölkerung zu schlagen“.141 Die Veranstaltungen der Europa-Bewegung fanden im Stil „festtägliche[r] Matineen, von typisch bürgerlichen, kulturellen Abendveranstaltungen oder von Volksbildungskursen der Jahre vor 1933“ statt. „[D]ie Masse der Arbeiter und Bauern, die Rentner, vor allem aber die Jugend“ waren letztlich nicht in dem Maße von „der europäischen Volksbewegung erfaßt“ worden,142 wie es die Vertreterinnen und Vertreter der Europa-Bewegung sich gewünscht hatten. Eine Aufklärung und Erziehung über die aus ihrer Sicht bestehende Notwendigkeit einer föderalen Einigung Europas musste Siemsen daher besonders dringlich vorgekommen sein. Im Mittelpunkt von Siemsens Ausführungen stand die Forderung nach einer unbedingten Neutralität Europas. Ausgehend von einer weit verbreiteten Furcht vor einer möglichen Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA betonte sie, die einzelnen europäischen Staaten seien nicht in der Lage, diesen drohenden Krieg zu verhindern. Die einzige Lösung könne nur „ein föderiertes, und zwar sowohl politisch wie militärisch und wirtschaftlich föderiertes Europa“ sein.143 Zugleich bedeutete diese Föderation für Siemsen auch ein „Drittes zwischen Sowjetkollektivismus und amerikanischer Freiheit“.144 Damit Europa seiner „großen menschheitlichen Mission“ gerecht werden könne, forderte sie „eine Solidarität gegenseitiger Hilfe“145 und ein „soziales Gleichgewicht“, damit die europäischen Länder in der Lage seien, „die Einmischung außereuropäischer Mächte in ihre Angelegenheiten abzuwehren“.146 Entsprechend den Modifizierungen, die die UEF in ihrem Grundsatzprogramm vorgenommen hatte, betonte Siemsen, die Einigung Europas solle sich zunächst auf die westeuropäischen Länder erstrecken: „Wirtschaftliche Föderation und Planung ist die Voraussetzung dafür, daß der Block des noch nicht unter Sowjethegemonie stehenden Europas wieder langsam gesundet, um aus der Vormundschaft der USA entlassen und zu eigenem Leben befähigt zu werden.“147 Sie betrachtete den Marschall-Plan zwar als „lebensnotwendig für Europa“, hielt ihn aber auch für ein Instrument der Amerikaner, um „überragende wirtschaftliche 140 Loth: Die Europa-Bewegung, S. 70. 141 Cornides: Die Anfänge, S. 4256. 142 Ebd., S. 4257. 143 Siemsen: Europa und unsere Verteidigung, S. 98. 144 Ebd., S. 97. 145 Siemsen: Europa, die dritte Kraft, S. 323. 146 Ebd., S. 322. 147 Ebd.

2.1 Föderalismus und „Dritte Kraft“

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Macht in Europa“ zu erlangen. Stattdessen plädierte sie für einen „europäische[n] Wirtschaftsausgleich und eine europäische gemeinsame Wirtschaftsplanung“.148 Sie machte allerdings keine Vorschläge, wie dieser Weg beschritten werden könnte. Siemsen hatte sich angesichts der politischen Entwicklungen für ein Westeuropa-Konzept entschieden, das in ihren Europa-Vorstellungen, die sie seit den 1920er Jahren entworfen hatte, angelegt gewesen war. Westeuropa bildete in ihren Ausführungen den Kern Europas und das Gebiet, das in besonderer Weise von einer europäischen Kultur durchdrungen sei. Die vormals formulierte Überzeugung, Westeuropa solle seine aus der europäischen Kultur erwachsenen politischen Werte zum Osten hinüber leiten, prägte ihre Vorstellung offenbar weiterhin. Ihre Meinung, europäische Staaten, die „zu einer Verständigung bereit“ seien, würden „auch andere Staaten später zu dieser Verständigung hinzuziehen wollen“, könnte dafür sprechen.149 Die Idee, ein föderiertes Westeuropa sei geeignet, um auch die östlichen Länder von der sowjetischen Herrschaft zu befreien und sie schließlich in die Föderation einzugliedern, formulierte sie aber nicht explizit. Die Aufgabe, spezifisch europäische Werte vom Westen zum Osten zu leiten, hatte sie vor allem als eine besondere Aufgabe Deutschlands betrachtet und dies zuletzt in einem Kapitelfragment ihrer deutsch-europäischen Literaturgeschichte betont. Möglicherweise blieb auch diese Vorstellung bestehen, wurde aber in ihren nachfolgenden Ausführungen ebenfalls nicht wieder aufgenommen. In ihren europapolitischen Vorstellungen spielte Deutschland als zentrales Thema seit Ende der 1940er Jahre eine geringere Rolle als zuvor. Siemsen hatte sich zunächst unmittelbar nach Ende des Krieges für eine gleichberechtigte Einbeziehung Deutschlands in die europäischen Föderationspläne eingesetzt und dafür innerhalb der UEF geworben. Nachdem die UEF in ihrem Grundsatzprogramm von 1947 explizit die gleichberechtigte Einbeziehung Deutschlands in eine zu schaffende Föderation beschlossen hatte,150 plädierte Siemsen für das „Wiedererstehen [Deutschlands, MvB] als autonomer, selbständiger, jedoch nicht souveräner Staat“.151 Im Gegensatz zu ihren Überzeugungen, die sie in den frühen 1930er Jahren formuliert hatte, war diese Reformierung hingegen keine Voraussetzung für eine Einigung Europas. Das vormals propagierte „europäische“ Deutschland, das durch sozialistische Reformen erstehen und dadurch eine zentrale Rolle für die politische Entwicklung ganz Europas einnehmen sollte, konnte sie 1950 aufgrund der politischen Entwicklungen kaum mehr fordern. Deutschland war geteilt und das Saargebiet unterstand als eigenständige Verwaltungseinheit einer französischen Kontrollinstanz. Erst 1957 wurde es in die Bundesrepublik eingegliedert.152 Sicherheits- und wirtschaftspoliti148 Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main, EB 85/27 (IV.5): Anna Siemsen: Neue Wege der Europäischen Politik, maschinenschriftliches Typoskript vom Mai 1950, S. 4. 149 Ebd., S. 5. Siemsens Fokus auf den Westen Europas betont auch Lacaita: Anna Siemsen im Kontext der föderalistischen europäischen Bewegung, S. 128–130. 150 Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 68. 151 Siemsen: Europa und unsere Verteidigung, S. 99. Vgl. auch Siemsen: Europa, die dritte Kraft, S. 322. 152 Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung, S. 66 und S. 138.

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sche Interessen waren ausschlaggebend dafür gewesen, auch das Ruhrgebiet unter internationale Kontrolle Frankreichs und der Benelux-Staaten zu stellen.153 Siemsen glaubte, dass alle Deutschland betreffenden „Streitfragen“ wie etwa die „Saarfrage“ und das „Ruhrstatut“ eben „nur innerhalb einer europäischen Föderation gelöst werden“ könnten.154 Siemsens Propagierung einer föderalen Einigung Europas, das durch einen Ausgleich unterschiedlicher Interessenssphären alle bestehenden Gegensätze auf wirtschaftlichem, politischem und gesellschaftlichem Gebiet überwinden könne, entsprach ihrer Strategie, durch ganzheitliche Konzepte umfassende Lösungsvorschläge anzubieten. Dabei argumentierte sie auf einer übergeordneten Ebene und lieferte meist keine tiefergehende Analyse der zeitgenössischen Verhältnisse. Auch schien sie kaum die Umsetzungschancen ihrer Lösungsvorschläge zu reflektieren. Der Diskussionsverlauf nach ihren Vorträgen, der in einigen Mitschriften ihrer Reden manchmal protokolliert wurde, zeigt, dass sie Nachfragen zu konkreten Problemstellungen oftmals auswich.155 Siemsen glaubte, dass die föderale Einigung Europas vor allem durch eine entsprechende Erziehung realpolitisch umgesetzt werden könne. Da sie auch der Meinung war, das von ihr geforderte föderale Europa könne nur auf einer demokratischen und sozialistischen Grundlage entstehen, setzte sie sich Ende der 1940er Jahre dafür ein, die sozialistischen Kräfte innerhalb der deutschen Europa-Bewegung zu stärken. Mit ihrem Europa-Konzept, in dem der Einigung Europas Vorrang vor der Einigung Deutschlands eingeräumt wurde, stand sie jedoch konträr zu der offiziellen Parteilinie der SPD, die maßgeblich von ihrem Vorsitzenden Kurt Schumacher (1895–1952) geprägt wurde. 2.2 SPD UND EUROPA-BEWEGUNG Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die SPD, ebenso wie Siemsen es forderte, für ein Europa der „Dritten Kraft“ auf Grundlage eines demokratischen Sozialismus eingesetzt.156 Neben der KPD war die SPD die erste Partei, die sich im besetzten Deutschland unter ihrer „charismatische[n] Führergestalt“ Kurt Schumacher in Hannover neu konstituiert hatte.157 Die Gründung des Hannoveraner Ortsvereins unter Schumacher erfolgte schon im April/Mai 1945. Die Neuformierung der SPD in den westlichen Besatzungszonen kam dann offiziell auf dem Parteitag

153 Wolfgang Benz: Kurt Schumachers Europakonzeption, in: Herbst, Bührer und Sowade: Vom Marshallplan, S. 47–61, hier S. 49 f. 154 Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main, EB 85/27 (IV.5): Anna Siemsen: Neue Wege der Europäischen Politik, maschinenschriftliches Typoskript vom Mai 1950, S. 4. 155 Vgl. ebd. und Archiv FZH, 11/M8: N. N. [Ludolf Mevius]: Protokoll des Vortrags von Anna Siemsen über Unsere kulturellen Aufgaben in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen auf einer Tagung der SAG vom 1. November 1946. 156 Mittag: Europäische Profilbildung, S. 275. 157 Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung, S. 76.

2.2 SPD und Europa-Bewegung

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im Mai 1946 zustande, auf dem Schumacher zum Vorsitzenden gewählt wurde.158 Schumacher äußerte sich zu der Frage der europäischen Einigung in dieser Zeit nicht häufig. Der Parteiaufbau hatte zunächst Vorrang vor europapolitischen Forderungen. Aus seinen Stellungnahmen zur außenpolitischen Haltung der Partei wurde aber deutlich, dass er der internationalen Zusammenarbeit der europäischen Länder einen hohen Stellenwert beimaß. Ihm ging es darum, Deutschland eine gleichberechtigte Position in der europäischen Nachkriegsordnung zu verschaffen. Er betonte, die soziale und wirtschaftliche Verflechtung der europäischen Länder sowie ihr gemeinsames Schicksal würden einen engeren Zusammenschluss notwendig machen, der für Schumacher durchaus mit einer Einschränkung nationalstaatlicher Souveränität einhergehen konnte. Diese Einschränkung sollte aber alle europäischen Länder gleichermaßen betreffen. Zugleich stellte er heraus, dass dieses föderierte Europa, ebenso wie ein geeintes Deutschland selbst, auf sozialistischer Grundlage erstehen müsse.159 Da Schumachers vorrangiges Ziel blieb, die territoriale Einheit und „Integrität“ Deutschlands wiederherzustellen,160 unterstützte die Partei unter seiner Führung das „Dritte-Kraft“-Konzept, durch das eine Ost-WestBlockbildung, damit eine Teilung Deutschlands und Europas sowie eine kapitalistische Wirtschaftsordnung durch den Einfluss der USA verhindert werden sollte.161 Die SPD nahm deswegen auch am Föderalistenkongress teil, der von der UEF im August 1947 in Montreux veranstaltet worden war.162 Seit 1948 bewertete Schumacher das „Dritte-Kraft“-Konzept“ aber zunehmend als unrealistisch. Eine Verständigungspolitik mit der UdSSR, so wie es das „DritteKraft“-Konzept vorsah, lehnte er wegen seiner antikommunistischen Haltung ab. Die aus dieser Haltung indirekt sprechende Konzentration auf Westeuropa – die ein Widerspruch zu seinen Ordnungsvorstellungen darstellte – nahm eine nachrangige Position gegenüber seinem Beharren ein, Deutschland gleichberechtigt in die Nachkriegsordnung einzubeziehen. Aus diesem Grund war seine Haltung zu den zeitgenössisch diskutierten europäischen Einigungsinitiativen widersprüchlich.163 Schumachers Fokussierung auf einem gleichberechtigten, sozialistischen, eigenständigen und geeinten Deutschland als unbedingte Voraussetzung für eine sozialistische Einigung Europas, führte dazu, dass die offizielle Parteilinie, die von ihm diktiert wurde, eine Einigung Europas zwar stets bejahte, aber keine konkreten Einigungsinitiativen unterstützte.164 Schumacher lehnte beispielsweise die von Churchill propagierte enge Zusammenarbeit der westeuropäischen Länder ab, weil dadurch die gewünschte Einigung Deutschlands in Gefahr geraten würde. Allerdings konnte ein sozialistisches Europa, wenn überhaupt, dann nur durch die Hilfe der Briten 158 Patrick Bredebach: Das richtige Europa schaffen. Europa als Konkurrenzthema zwischen Sozial- und Christdemokraten. Deutschland und Italien von 1945 bis 1963 im Vergleich (Schriften zur politischen Kommunikation, Bd. 13), Göttingen 2013, S. 27–29. 159 Ebd., S. 30–36 und Loth: Von Heidelberg nach Godesberg, S. 208 f. 160 Mittag: Europäische Profilbildung, S. 276. 161 Loth: Von Heidelberg nach Godesberg, S. 210. 162 Mittag: Europäische Profilbildung, S. 265. 163 Loth: Von Heidelberg nach Godesberg, S. 210 f. Zitat auf S. 210. 164 Ebd., S. 216.

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errichtet werden, die die stärkste politische Kraft in Europa waren. Führende britische Politiker waren aber nicht an einem auf sozialistischer Grundlage föderiertem Europa interessiert, so dass eine Beharrung auf diesem Konzept auf Widerstände seitens der Briten hätte stoßen müssen. Schließlich versagte Schumacher auch dem Europarat seine Zustimmung, da Deutschland und das von ihm abgetrennte Saarland nur als assoziierte Mitglieder einbezogen worden waren.165 Auch wenn sich die offizielle Parteilinie zu europapolitischen Fragen an der Haltung Schumachers orientierte, repräsentierte sie keineswegs die Einstellung aller Mitglieder der Partei. Die vermeintlich europakritische bis europafeindliche Haltung der SPD ist in den letzten Jahren auch in verschiedenen Einzelstudien differenziert worden.166 Der sich zuspitzende Ost-West-Konflikt führte zunächst alle sozialdemokratischen Verfechterinnen und Verfechter der „Dritten Kraft“ in ein „Dilemma“.167 Carlo Schmid etwa nahm eine ähnliche Haltung wie Siemsen ein und versuchte, die deutsche Frage von der europäischen zu trennen. Er plädierte dafür, dass die westeuropäischen Staaten sich zusammenschließen sollten, und hoffte zugleich, ein föderiertes Westeuropa werde die Teilung Europas aufheben können, wodurch auch die Teilung Deutschlands behoben sei. Die westeuropäischen Länder sollten die Unterstützung durch den Marshall-Plan zur Errichtung ihrer Föderation annehmen. Mit dieser Empfehlung sprach sich Schmid aber zugleich für ein Westeuropa-Konzept aus, da die Annahme des Marshall-Plans, der von der UdSSR abgelehnt worden war, die Frontenbildung eher verstärkte als schwächte.168 Aus diesem Dilemma fand auch Siemsen nicht heraus. Sie hatte den Marshall-Plan für den Wiederaufbau Europas ebenso begrüßt, aber gleichzeitig eine Befreiung Westeuropas von der wirtschaftlichen Hilfe der USA gefordert. Antworten darauf, wie diese Befreiung aussehen könnte, vermochte sie nicht zu geben. Schließlich konzentrierten sich die Anhängerinnen und Anhänger eines „DritteKraft“-Konzepts auch innerhalb der Sozialdemokratie seit Mitte des Jahres 1948 zwangsläufig auf die westeuropäische Integration.169 Die zeitgenössisch unterschiedlichen Positionen innerhalb der SPD resultierten aus langfristigen Einstellungen zu europapolitischen Fragen, aber auch aus persönlichen „Umbruchserfahrungen“, die die SPD-Mitglieder durch den Nationalsozialismus gemacht hatten.170 Am Beispiel von Schumacher und Siemsen zeigt sich dies exemplarisch.171 Kurt Schumacher hatte zu Beginn der 1930er Jahre sein politisches Engagement darauf konzentriert, für den Erhalt der Republik einzutreten und sie gegen den aufsteigenden Nationalsozialismus zu verteidigen. Er fühlte sich 165 Ebd., S. 213–215. Zur Assoziation Deutschlands und des Saarlandes: Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 92. 166 Vgl. etwa Petra Weber: Guter Patriot und guter Europäer – das Europa Carlo Schmids, in: Depkat und Graglia: Entscheidung für Europa, S. 243–261. 167 Loth: Von Heidelberg nach Godesberg, S. 211. 168 Ebd., S. 211 f. 169 Ebd., S. 212. 170 Mittag: Europäische Profilbildung, S. 267. 171 Mittag zeigt diese unterschiedlichen Vorstellungen am Beispiel von Schumacher und Wilhelm Keil auf. Vgl. ebd., S. 267–275.

2.2 SPD und Europa-Bewegung

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aus diesem Grund vielmehr innenpolitischen Themen verbunden und führte diese Schwerpunktsetzung nach 1945 fort. Ihm kam es deshalb zunächst darauf an, möglichst große Bevölkerungsgruppen an die SPD zu binden. Mit der Forderung nach einem geeinten, selbständigen und gleichberechtigten Deutschland glaubte er, dies erreichen zu können und die „nationale Zuverlässigkeit“ der Partei, die der SPD vor 1933 abgesprochen worden war, unter Beweis zu stellen. Zudem war er nicht emigriert und hatte von den intensiven Europa-Diskussionen seiner Parteikollegen im Exil vermutlich erst nach Ende des Krieges erfahren: Die meiste Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft hatte Schumacher in KZ-Haft verbracht.172 Siemsen dagegen hatte sich zu Beginn der 1930er Jahre im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in der SAPD für die Internationale der Arbeiterschaft eingesetzt. Auch wenn sie stets die Einheit der deutschen Arbeiterschaft für innenpolitische Reformen forderte, betrachtete sie internationale Reformen stets als Grundvoraussetzung einer sozialistischen Gesellschaftsänderung, die das Primat in ihren Ordnungsvorstellungen war und für sie eine Lösung aller bestehenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Probleme beinhaltete. Der nach 1946 von Siemsen vertretene Ansatz, der Einigung Europas eine Vorrangstellung vor der Einigung Deutschlands einzuräumen, wurde von der offiziellen Parteilinie der SPD abgelehnt. Die Haltung Schumachers, die besagte, eine Einigung Deutschlands und die darauf gründende Einigung Europas müsse unbedingt auf sozialistischer Grundlage geschehen, führte dazu, dass die SPD der EuropaBewegung skeptisch gegenüberstand. Sie hielt beispielsweise die deutsche EuropaUnion, so wie es auch Siemsens Schwester Paula Eskuchen formuliert hatte, für eine reaktionäre Organisation.173 Siemsen glaubte hingegen, wenn eine europäische Massenbewegung erreicht werden könne, werde auch die Einigung Europas auf sozialistischer Grundlage möglich sein. Die Europa-Bewegung hielt sie zunächst für nützlich, um die von ihr erwünschte Massenbewegung hervorrufen zu können, auch wenn die Bewegung parteipolitisch heterogen aufgestellt war. Diese Strategie, möglichst große Kreise von der europäischen Idee zu überzeugen und anschließend sozialistische Maßnahmen für ihre Umsetzung zu ergreifen, hatte schon ihr europapolitisches Engagement im Exil geprägt. Die offizielle Haltung der SPD zur Europafrage stieß zunehmend auf Siemsens Kritik, erhoffte sie sich doch eine starke sozialistische Bewegung für die Durchsetzung ihrer Ordnungsvorstellungen. Die starke Skepsis der Parteiführung gegenüber der Europa-Bewegung zeigte sich offen in der Reaktion auf die Einberufung des Haager Kongresses. Zu dem Kongress waren auch Deutsche als Vertreter von Parteien oder Verbänden eingeladen worden. Somit bot der Kongress für deutsche Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Möglichkeit, als gleichberechtigte Partner in europapolitische Diskussionen einbezogen zu werden. Doch die SPD untersagte ihren Mitgliedern nach Den Haag zu fahren.174 Ausschlaggebend für diesen Entschluss der Parteiführung war wohl der Umstand, dass Churchill eine Westbindung Europas 172 Ebd., S. 273–275 und S. 288. Zitat auf S. 288. 173 Conze: Das Europa der Deutschen, S. 303. 174 Mittag: Europäische Profilbildung, S. 264.

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2 In der Europa-Bewegung

propagierte und zudem ein Konservativer war, von dem man keine Forcierung einer europäischen Einigungspolitik auf sozialistischer Grundlage erwartete.175 Offiziell wurde dieser Beschluss aber mit der Haltung der britischen Labour Party begründet, die den Kongress boykottierte und mit der sich die SPD solidarisieren wollte. Die Labour Party bewogen in erster Linie innenpolitische Gründe, nicht an dem Kongress teilzunehmen; allerdings schlossen sich auch die MSEUE und die französischen Sozialisten diesem Boykott an.176 Der SPD-Parteivorstand hatte schon zwei Monate vor Beginn des Kongresses, im März 1948, Rundschreiben an die geladenen Mitglieder versandt und sie dazu aufgefordert, dem Kongress fernzubleiben.177 Auch Siemsen, die eine Einladung nach Den Haag erhalten hatte, bekam einen Brief, der im Auftrag des Parteivorstandes verfasst worden war. Mit dem Hinweis, „dass dieser Kongress von fuehrenden konservativen Elementen“ veranstaltet werden sollte, wurde „es fuer ungluecklich“ empfunden, „wenn sich fuehrende deutsche Sozialdemokraten an einer Konferenz beteiligen wuerden, die von unseren Bruderparteien in den Laendern leidenschaftlich bekaempft wird“.178 Siemsen fuhr nicht.179 Ob Siemsen sich dem Parteidiktat fügte oder möglicherweise anderweitig verhindert war, ist ungewiss. Letztlich reiste nur ein einziger deutscher Sozialdemokrat nach Den Haag; es war Wilhelm Keil (1870–1968), der Präsident des württembergbadischen Landtages. Insgesamt waren 51 Personen aus Westdeutschland anwesend. Die parteipolitischen Vertreter unter ihnen gehörten größtenteils der CDU an. So war etwa auch Konrad Adenauer in Den Haag zugegen.180 Innerhalb der Mitgliederbasis der SPD hatte sich seit dem Haager Kongress Widerstand gegen die starre Haltung der Parteiführung geregt. Deshalb wurde es den Mitgliedern seit 1949 freigestellt, sich in europapolitischen Verbänden zu engagieren.181 Siemsen nutzte diese Entwicklung und verfasste ein „Memorandum zur Europafrage“ für den SPD-Parteivorstand, in dem sie einen stärkeren Einfluss der SPD auf den Fortgang der europäischen Einigungsbemühungen forderte. Sie verwies auf ihr „schon mehr als dreissigjähriges Studium[] der Europafrage und [ihre] fünfzehnjährige[] Tätigkeit in schweizerischen, europäischen und endlich deutschen Europaorganisationen“ und forderte eine Konzentration und Verstärkung der sozialistischen Kräfte innerhalb der deutschen Europa-Union. Sie betonte, ein Engagement in Organisationen, die nicht dezidiert sozialistisch ausgerichtet seien, stelle kein Problem dar, wenn es nur gelinge, möglichst viele Sozialdemokraten dort zu einer Mitarbeit zu bewegen.182 Siemsen ging es darum, die bereits bestehenden Europa-Verbände durch eine Dominanz der sozialdemokratischen Kräfte sozialistisch zu beeinflus175 Loth: Von Heidelberg nach Godesberg, S. 214. 176 Ebd., S. 266. 177 Ebd., S. 279 f. 178 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Fritz Heine an Anna Siemsen, o. O. vom 19. März 1948. 179 AdsD, Deutscher Rat der Europäischen Bewegung B/c, Ordner 446: Vgl. dort die Teilnehmerliste des Haager Kongresses. 180 Mittag: Europäische Profilbildung, S. 264 und 266. 181 Loth: Von Heidelberg nach Godesberg, S. 215. 182 BArch, N1086/370: Anna Siemsen: Memorandum zur Europafrage vom 6. März 1949, S. 1 f. Zitat auf S. 1.

2.2 SPD und Europa-Bewegung

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sen, so dass es schließlich möglich sei, den europäischen Einigungsprozess als ein sozialistisches Projekt fortführen zu können. Um dies zu erreichen, plädierte sie für Kollektivmitgliedschaften in den Verbänden der Europa-Bewegung. Über „Vertrauensmänner“ sollten etwa Gewerkschaften oder „die Jugend-, Wohlfahrts-, Bildungs-, Sport- etc[.] Organisationen“ für die europapolitische Arbeit gewonnen werden.183 Auf diese Weise wollte sie zugleich jene Gruppen, die bislang nicht in der Europa-Bewegung vertreten waren und sich nicht den bürgerlichen Mittelschichten zurechnen ließen, mit der Europa-Idee vertraut machen und sie zu europapolitischem Engagement bewegen. Siemsens Hoffnung, die sozialistischen Kräfte in der Europa-Union und in anderen Verbänden zu stärken, erfüllte sich nicht. Die Europa-Union konnte sich zwar bis in die 1950er Jahre hinein über einen guten Mitgliederzulauf freuen, doch dominierten hier gegen Ende der 1940er Jahre zunehmend die Wähler der christdemokratischen Parteien.184 Insgesamt verlor die Europa-Bewegung in breiteren Bevölkerungskreisen an Attraktivität. Sie besaß nicht mehr das Mobilisierungspotential, das sie unmittelbar nach Ende des Krieges gehabt hatte. Die Europa-Idee mündete „in die Routine der Berufsdiplomatie“.185 Mit der Gründung des Europarates waren die ersten Schritte in Richtung einer europäischen Integration getan, auch wenn sie in den Augen vieler nicht die Gestalt annahm, die man sich vormals gewünscht hatte. Nicht zuletzt wirkte sich die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die mit der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 offiziell besiegelt wurde,186 auf die europapolitischen Debatten aus. Der Publizist Wilhelm Cornides (1920–1966), der wohl schärfste Beobachter der zeitgenössischen EuropaBewegung,187 sprach vermutlich in Siemsens Sinn, als er 1951 rückblickend, angesichts der Gründung der BRD, sarkastisch erklärte: „Wenn es einen Augenblick so ausgesehen hatte, als wolle der David des europäischen Föderalismus, der seinen Fuß auf den Nacken des deutschen Nationalstaatsgedankens gesetzt hatte, nun zur revolutionären Tat ausholen und die historische Kontinuität durchschneiden, so konnten alle, die dies befürchtet hatten, […] beruhigt nach Hause gehen – er schlug nicht zu.“188

Siemsen glaubte zwar nicht daran, „auf einem viel tieferen Niveau geistiger und materieller Not zu der Fehlentwicklung von Weimar“ zurückzukehren,189 hatte aber auch nicht den Eindruck, dass sich die Verhältnisse in Deutschland bessern würden. 183 Ebd., S. 2 f. 184 Conze: Das Europa der Deutschen, S. 304 f. 185 Brunn: Die Europäische Einigung, S. 62. 186 Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung, S. 208. 187 Cornides gründete unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeitschrift Europa-Archiv, in der vor allem über die Europäische Bewegung und die europäischen Einigungsbestrebungen berichtet wurde. Philippe Alexandre: Europa-Archiv: Une petit encyclopédie critique au service de l’integration européenne (1946–1955), in: Michel Grunewald und Hans Manfred Bock (Hg.): Le discours européen dans les revues allemandes 1945–1955. Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften 1945–1955 (Convergences, Bd. 18), Bern u. a. 2001, S. 389–424. 188 Cornides: Die Anfänge, S. 4257. 189 Anna Siemsen: Bundesrepublik Westdeutschland, in: Rote Revue 28 (1949), Heft 6, S. 234– 236, hier S. 236.

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2 In der Europa-Bewegung

In der Bundesrepublik „Westdeutschland“, wie sie die BRD in dem Titel ihres Aufsatzes nannte, beklagte sie etwa den schwindenden Mittelstand, die große Wohnungsnot, die fehlenden Berufsaussichten für junge Menschen und nicht zuletzt den „Neonazismus“, der in „dieser Atmosphäre“ gedeihe und wuchere.190 Aus ihren Ausführungen wurde deutlich, dass sie die BRD als ein wiedebelebtes Relikt der alten nationalstaatlichen Ordnung ablehnte. Die „Bundesrepublik Westdeutschland“ war für sie ein Sinnbild der „Allianzen […] der Regierungen auf der alten Grundlage nationaler Machtpolitik“. Diese habe gerade „nicht zu einer Verständigung und Annäherung der Völker“ geführt. Sie befürchtete eine Stärkung der „Christlichen Demokraten“ und machte Schumacher dafür verantwortlich, dem sie einen fehlenden „Blick für die Weltpolitik und die europäischen Probleme“ vorwarf.191 Sie glaubte, nur eine neue europäische Ordnung auf sozialistischer Grundlage könne die von ihr beschriebenen Verhältnisse grundlegend ändern. Wegen ihrer Einschätzung der zeitgenössischen Situation und wegen der fehlenden sozialistischen Konzentration innerhalb der Europa-Bewegung entschied sie sich, zusammen mit einigen Mitstreitern eine sozialistische Europa-Organisation in Deutschland zu gründen, um ihre Forderung nach einem föderierten Europa auf sozialistischer Grundlage doch noch umsetzen zu können. 2.3 DIE „SOZIALISTISCHE BEWEGUNG FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN VON EUROPA“ Siemsen hatte stets geglaubt, ihre föderalen europapolitischen Vorstellungen durch Erziehung und durch eine Massenbewegung der europäischen Völker durchsetzen zu können. Zugleich hatte sie gehofft, die sozialistischen Kräfte könnten diesen Prozess auf einer freiheitlichen sozialistisch-demokratischen Grundlage unterstützen. In der deutschen Europa-Union waren zwar viele Sozialdemokraten organisiert, sie stellten aber keineswegs die Mehrheit dar. Als schließlich deutlich wurde, dass die Europa-Bewegung nicht die von ihr favorisierten Gruppen zu erfassen imstande war und auch die SPD das von ihr geforderte föderale Konzept nicht unterstützte, ergriff sie selbst die Initiative und gründete die deutsche Sektion der Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa, die ihre letzte europapolitische Heimat werden sollte. Die ersten Ansätze zur Gründung einer sozialistischen Europa-Bewegung waren nach Ende des Zweiten Weltkrieges von britischen Sozialisten der Independent Labour Party (ILP) ausgegangen, die Kontakte nach Frankreich unterhielten. Es stießen auch Sozialisten aus anderen Ländern dazu, wie etwa Henry Brugmans. Das Mouvement pour les Etats-Unis socialiste d’Europe forderte wie die UEF eine föderale Einigung Europas, das als „Dritte Kraft“ zwischen den USA und der UdSSR fungieren sollte. Zudem forderten die Mitglieder eine Sozialisierung der europäischen Wirtschaft. Ebenso wie die UEF vertraten auch die Mitglieder des Mouve190 Ebd. 191 Ebd.

2.3 Die „Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa“

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ment seit 1947 ein Westintegrations-Konzept und hofften, durch eine föderale Einigung der westeuropäischen Länder schließlich auch die osteuropäischen Länder für die Föderation gewinnen zu können. Wurde eine Zusammenarbeit mit nicht-sozialistischen Europa-Verbänden und deswegen auch eine Teilnahme am Haager Kongress zunächst abgelehnt, änderte der Verband nach Konstituierung der Europäischen Bewegung seine Grundsatzentscheidung, um weiteren Handlungsspielraum zu gewinnen und innerhalb der Europa-Bewegung nicht isoliert zu sein. Er wurde Mitglied in der EB und sein Name in Mouvement socialiste pour les Etats-Unis d’Europe (MSEUE) geändert. Den Vorsitz hatte Alexandre Marc inne. Die MSEUE erlebte fortan einen organisatorischen Aufschwung. Der Sitz der Organisation war nun in Paris und es entstanden nationale Sektionen, von denen die deutsche relativ spät, erst Ende des Jahres 1950, gegründet werden sollte.192 Die Bildung einer deutschen Sektion ging maßgeblich von Siemsen, Hermann Brill und ihrem Parteikollegen, dem Hamburger Senator Gerhard Neuenkirch (1906–1990) aus, der noch weitere Personen aus der Hamburger SPD gewinnen konnte. Siemsen hatte auf einem Kongress der MSEUE in Paris im November 1949 den präsidialen Vorsitz übernommen193 und SPD-Mitglieder aus Hamburg mit der Organisation bekannt gemacht. In der Hansestadt war daraufhin eine erste „Arbeitsgruppe“ gegründet worden. Auf Initiative von Siemsen entstanden weitere Arbeitsgruppen in Bremen, Frankfurt am Main und in Düsseldorf. Das Ziel der Arbeitsgruppen bestand zunächst darin, wie Neuenkirch berichtete, „eine einheitliche Konzeption für die weitere europäische Entwicklung, besonders in sozialen und wirtschaftlichen Fragen herbeizuführen“. Er räumte ein: „Die ganze Frage der Europäischen Sozialistischen Bewegung als Gesamtorganisation ist […] in vieler Beziehung […] heute noch als etwas ungeordnet anzusehen.“194 Hermann Brill übernahm schließlich im Oktober 1950, nachdem er sich mit Siemsen und anderen Parteifreunden abgesprochen hatte, „die Initiative zur Gründung einer deutschen Landesgruppe“ der MSEUE. Brill entschloss sich wegen der „vielfältigen Erfahrungen“, die er im Exekutiv-Komitee des Deutschen Rates gemacht hatte, diese Gründung zu forcieren. Am 5. November 1950 sollte eine erste „Beratung interessierter Sozialisten“ in Frankfurt am Main stattfinden.195 Brill bat Walter Auerbach, der seit 1948 Staatssekretär im niedersächsischen Arbeits- und Sozialministerium war,196 in Hannover weitere Interessierte anzuwerben.197 Am 24. Oktober 1950 versandte er an verschiedene Sozialdemokraten eine offizielle Einla192 Grundlegend zur MSEUE Wilfried Loth: Die Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa (MSEUE), in: ders.: Die Anfänge, S. 219–226. 193 AdsD, 1/WAAB II 0065: Einladung von Hermann Brill zur Beratung über die Bildung einer deutschen Landesgruppe der MSEUE, Bonn vom 24. Oktober 1950. 194 Ebd.: Gerhard Neuenkirch an Walter Auerbach, Hamburg vom 25. August 1950. 195 Ebd.: Hermann Brill an Walter Auerbach, Wiesbaden vom 23. Oktober 1950. 196 Zu Walter Auerbach siehe die biographischen Informationen auf der Homepage der FriedrichEbert-Stiftung: http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/nachlass/nachlass_a/auerbach-wa.htm [9. September 2014]. 197 AdsD, 1/WAAB II 0065: Hermann Brill an Walter Auerbach, Wiesbaden vom 23. Oktober 1950.

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dung, um gemeinsam über die Bildung einer deutschen Landesgruppe der MSEUE zu beraten. Das Ziel der MSEUE sei, so Brill, „der europäischen Bewegung eine betont sozialistische Note [zu] geben“. Die MSEUE bezwecke, nicht allein Vertreterinnen und Vertreter der sozialistischen Parteien anzusprechen, sondern „die echten sozialistischen Kräfte, die im Volke schlummern“ zu erwecken. Die MSEUE wolle diese Kräfte, die „im Gedanken der staatlichen Einigung Europas eine realistische Politik und Form für die schrittweise Verwirklichung der alten Internationalität des Sozialismus sehen, […] gewinnen und für eine praktische Arbeit zusammen[…]führen“.198 Diese Zielsetzung zeigt, dass die Einigung Europas zunächst als eine Vorstufe betrachtet wurde, um die Internationale des Sozialismus zu verwirklichen. Die Einigung Europas war aus Sicht der MSEUE Voraussetzung, um die internationalen Verhältnisse überhaupt im sozialistischen Sinn umfassend reformieren zu können.199 Damit vertrat die MSEUE die entgegengesetzte Strategie, die Siemsen zu Beginn der 1930er Jahre propagiert hatte. Zu dieser Zeit plädierte sie für eine Internationale der Arbeiter, die anschließend zu einer föderalen Einigung, der Vereinigten Staaten von Europa, führen sollte. Dass Siemsen nun die umgekehrte, von der MSEUE geforderte Strategie unterstützte, zeigt die Flexibilität, mit der sie auf neue politische Verhältnisse reagierte. Da die Einigung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg realistischer schien als die Internationale der Arbeiterschaft, passte sie ihre Europa-Vorstellungen den zeitgenössischen Entwicklungen an. Diese Flexibilität ist ein Hinweis darauf, dass es Siemsen vor allem um einen Bruch mit sämtlichen tradierten Politikformen und Politikkonzepten sowie eine darauf ruhende neue Gesellschaftsordnung ging. Um diese zu begründen, stellte die Einigung Europas nun, Ende der 1940er Jahre, eine Vorstufe dar. Die deutsche Sektion der MSEUE wurde am 5. November 1950 in Frankfurt am Main gegründet. Den Vorsitz übernahm Siemsen, ihr Stellvertreter war Hermann Brill.200 Kurz nach der Konstituierung der deutschen Sektion fuhr Siemsen nach Straßburg, um dort den vierten internationalen Kongress der MSEUE mit 200 Delegierten aus west- und osteuropäischen Ländern zu leiten, der vom 17. bis zum 19. November 1950 stattfand. Der Kongress erließ eine Resolution, in der u. a. „die beschleunigte Schaffung von Spezialbehörden für Stahl, Kohle, Energie, Landwirtschaft und Verkehr“ beschlossen wurde. Die Delegierten forderten darüber hinaus „die Schaffung einer übernationalen politischen Behörde durch eine europäische konstituierende Versammlung“.201 Die Delegierten unterstützten damit indirekt 198 Ebd.: Einladung von Hermann Brill zur Beratung über die Bildung einer deutschen Landesgruppe der MSEUE, Bonn vom 24. Oktober 1950. 199 Siehe dazu Loth: Die Sozialistische Bewegung, S. 221. 200 BArch, N 1086/36a: Hermann Brill an Heinrich Ritzel, Wiesbaden vom 31. Dezember 1950. Siehe auch: Vorstand des Deutschen Zweiges der Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa (Hg.): Die Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa. 5. Europäischer Kongress in Frankfurt am Main, 15. bis 17. Februar 1952, Frankfurt am Main 1952, S. 3 [mit einem Rückblick auf den vierten Kongress der MSEUE im November 1950]. 201 Ebd., S. 2. Siehe auch den Bericht über den Kongress im November 1950 und die beigefügten Resolutionen, in: AdsD, 1/WAAB II 0065.

2.3 Die „Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa“

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den im Mai 1950 öffentlich verkündeten Plan des französischen Außenministers Robert Schuman (1886–1963), eine Wirtschaftsunion von Frankreich und Deutschland zu gründen.202 Sie hielten diesen Plan aber nicht für ausreichend, weshalb auch eine übergeordnete, mit Vollmachten ausgestattete Behörde gefordert wurde, die die bundestaatliche Einigung Europas vorantreiben sollte. Siemsen, die einen parlamentarischen bzw. regierungspolitischen Einfluss auf eine Einigung Europas eigentlich ablehnte, sah vermutlich in einer europäischen Versammlung einen ersten Schritt, um ihre Zielvorstellungen in der Folge vorantreiben zu können. Aus diesem Grund unterstützte sie vermutlich die Beschlüsse des Kongresses. Die folgende Veranstaltung der MSEUE, die erste Vorstandssitzung der deutschen Sektion, die am 20. und 21. Januar 1951 in Hamburg stattfinden sollte, konnte Siemsen nicht mehr besuchen.203 Nach einem Zusammenbruch204 starb sie am 22. Januar 1951 in einem Hamburger Krankenhaus kurz nach ihrem 69. Geburtstag. Nach Siemsens Tod beschloss „[d]ie deutsche Sektion des MSEUE […] im Andenken an die unermüdliche Vorkämpferin des europäischen Sozialismus, Frau Professor Anna Siemsen, den Namen Anna-Siemsen-Kreis“ anzunehmen.205 Als Siemsen starb, war die „Blütezeit“206 des Europa-Gedankens vorbei. Den Beginn des europäischen Einigungsprozesses, der durch die Gründung der ersten supranationalen Organisation, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), im April 1951 eingeleitet wurde, erlebte sie nicht mehr. Der einsetzende europäische Integrationsprozess folgte keinem einheitlichen Konzept, so wie Siemsen es entworfen hatte. In Regierungskreisen waren kaum klare Vorstellungen vorhanden, welches Ziel Europa erreichen und welche Gestalt es einmal annehmen sollte. Die „leuchtende Vision“207 Europa wich alsbald diesen ersten realpolitischen Initiativen zur europäischen Einigung. Für Siemsen hingegen blieb Europa bis zu ihrem Tod der Inbegriff „der Menschheitssehnsucht, dass Recht und Freiheit bei allen Völkern der Erde die gleichen sind, dass hier eine grosse Gemeinschaft besteht, vor der alle Ungleichheit an Macht, Reichtum und Kultur unwesentlich erscheint, dass also die grosse Aufgabe unserer Zeit unsere gemeinschaftliche Arbeit nicht nur voraussetzt und fordert, dass vielmehr diese Gemeinschaft möglich und im Keime vorhanden ist“.208

202 Clemens, Reinfeldt und Wille: Geschichte der europäischen Integration, S. 98. 203 AdsD, 1/WAAB II 0065: Vgl. das Rundschreiben Nr. 2 des Sekretariats der MSEUE, Hamburg vom 22. Januar 1951, S. 2. 204 AAJB, Mappe 44: Vgl. Paula Eskuchen an Hedwig Schmidt, o. O. vom 21. Januar 1951. 205 AdsD, 1/WAAB II 0065: Satzungsentwurf der deutschen Sektion der MSEUE, Hamburg vom 28. Februar 1951. Siehe hier Punkt 1 „Name und Ziele“, S. 2. 206 Brunn: Die Europäische Einigung, S. 51. 207 Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 45. 208 AdsD, NL Anna Siemsen, Mappe I: Anna Siemsen: Zur Einführung, typographisches Manuskript, S. 2.

FAZIT Anna Siemsen entwarf über einen Zeitraum von knapp dreißig Jahren und über drei politische Systeme hinweg europapolitische Vorstellungen. Ihre Europa-Konzepte spiegelten Ordnungsvorstellungen wider, die sie in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen in dieser Zeitspanne entwickelt hatte. Ihre Europa-Konzepte entstanden gerade dann, wenn diese Ordnungsvorstellungen durch berufliche, persönliche und politische Entwicklungen zur Disposition gestellt wurden. Während sich die konzeptuelle Ausgestaltung der Europa-Vorstellungen durch die Auseinandersetzung mit den jeweiligen politischen Entwicklungen änderte, blieben die Leitideen, auf denen die Konzepte basierten, nahezu unverändert bestehen. Die Untersuchung hat gezeigt, welche Wirkmächtigkeit individuelle Leitideen über politikgeschichtliche und persönliche Zäsuren hinweg haben und den zeitgenössischen Verhältnissen angepasst werden konnten. Europa diente Siemsen stets als Zukunftsvision einer erhofften, umfassend reformierten Politik- und Gesellschaftsordnung, die sie als „Gemeinschaft“ bezeichnete. Diese Zukunftshoffnung entstand durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges und dem Wunsch nach Etablierung eines dauerhaften Friedenszustandes, der künftige Kriege unmöglich machen würde. Obwohl Siemsen ihre politischen Reformforderungen zunächst auf Deutschland bezog, wurde die internationale Ebene stets mitgedacht, denn Frieden war für Siemsen ohne die Reformierung der internationalen Beziehungen nicht möglich. Diese Reformierung sollte eine umfassende sein und einen radikalen Bruch mit tradierten Politik-Konzepten einleiten. Im Mittelpunkt dieser gewünschten Gesellschaftsordnung stand der „neue“ Mensch, den Siemsen durch Erziehung schaffen wollte. Ihr Ziel blieb ein Leben lang, „neue Menschen zu bilden, aus der zerfallenen gegenwärtigen Gesellschaft eine neue Ordnung zu gestalten“.1 Dieser „neue“ Mensch sollte solidarisch und allein seinem Gewissen verpflichtet sein. Er würde friedliebend sein, sich selbst verwalten können, die Freiheiten und die Rechte der anderen respektieren und danach handeln. Die von dem „neuen“ Menschen begründete Gesellschaftsordnung würde schließlich von jeglicher staatlicher Reglementierung und von jeglichen Machtverhältnissen befreit sein. Die zeitgenössischen Verhältnisse maß Siemsen an diesem Ideal und stellte ihnen ein Europa entgegen, in dem sich die gewünschte Gesellschaftsordnung verwirklichen ließe. „Europa“ wurde in dieser Funktion meist als Gegenmodell zu den jeweils herrschenden Verhältnissen konzipiert. Es wurde als imaginierter Raum vorgestellt oder aber zu einem variablen Bezugspunkt für politische Forderungen. Auch diente es der Legitimation bestimmter politischer Werte wie der Demokratie. Seit den 1930er Jahren entwarf Siemsen schließlich ein konkretes politisches Kon1

Siemsen: Menschentum, S. 152.

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Fazit

zept für Europa und plädierte für einen föderativen Zusammenschluss der europäischen Länder. Die Leitideen, auf denen sich Siemsens Gemeinschaftsvorstellungen gründeten, waren Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit, Herrschaftslosigkeit und Freiheit, auf deren Grundlage nicht nur die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, sondern auch das Bewusstsein bzw. die Wertsetzungen der Menschen geändert werden sollten. Diese Leitideen diskutierte Siemsen in verschiedenen Zusammenhängen und bezog sie aufeinander. So meinte „Freiheit“ etwa die Freiheit des Menschen, nach seinem Gewissen handeln zu können, oder aber die Befreiung des Menschen von kapitalistischer oder machtstaatlicher Unterdrückung. „Gleichheit“ bedeutete die Anerkennung von gleichen Grundbedürfnissen aller Menschen oder die Etablierung von gleichen politischen Rechten und Pflichten. „Gerechtigkeit“ konnte ebenfalls ein ethisch-politischer Wert sein oder aber eine Umschreibung für ein völkerrechtliches, zwischenstaatliches Recht wie etwa Schiedsgerichtsbarkeit. Diese Leitideen bündelte Siemsen in dem Begriff der Gemeinschaft. Dabei konnten die Begriffe Gemeinschaft und Europa ebenfalls aufeinander bezogen und mit gleichen Bedeutungsinhalten besetzt sein. Ähnlich verhielt es sich mit dem Begriff der Demokratie, der wiederum unmittelbar mit den Begriffen Gemeinschaft und Europa verbunden war. Im Folgenden soll auf der biographischen Ebene resümiert werden, wie eng der Entwurf von Europa-Konzepten mit Siemsens individuellem Lebensweg und der Entwicklung ihrer Ordnungsvorstellungen zusammenhing. Im Anschluss daran wird gezeigt, wie Siemsen die für ihre Konzepte zentralen Aspekte von der „Vielfalt in der Einheit“, „Grenzen“ und „Nation“ nutzte, um ihre europapolitischen Vorstellungen zu vermitteln. DAS „BIOGRAPHISCHE“ EUROPA Anna Siemsen war eine politische Theoretikerin und eine Bildungsbürgerin, was sich auch in ihren Europa-Konzepten widerspiegelte. Ihren Europa-Konzepte waren bürgerliche Konzepte und Erziehungskonzepte. Obwohl Siemsen sozialistisch definierte Ideen und Reformforderungen durch sie vermitteln wollte, fußten ihre Konzepte auf neuhumanistischen und bildungsbürgerlichen Deutungstraditionen, wie etwa der in bildungsbürgerlichen Kreisen populäre Heimatbegriff zeigt, oder aber die Definition von Europa als abendländisch-christlich geprägter Kulturkreis. Wollte Siemsen im Rahmen ihrer kultursozialistischen Bildungsarbeit zunächst die „Arbeiter“ von ihren politischen Ideen überzeugen, wandte sie sich seit ihrer Exilzeit stärker an breitere Bevölkerungskreise, mit deren Hilfe eine umfassende Änderung von Politik und Gesellschaft erreicht werden sollte. Diese bildungsbürgerlichen und erziehungstheoretischen Prägungen, durch die sich Siemsens Europa-Konzepte auszeichneten, resultierten aus ihrer bildungsbürgerlichen Herkunft und aus ihrer Profession als Lehrerin, Bildungspolitikerin, Schriftstellerin bzw. Publizistin und Professorin. Diese Professionalisierung hatte sie erlangen können, weil sie einen Ausbildungsweg durchlaufen hatte, der nur bür-

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gerlichen Frauen offenstand. Ihr hohes Arbeitsethos, das allenfalls durch wiederholte Krankheitsphasen unterbrochen wurde, die Wertschätzung von Literatur sowie von Bildung und Erziehung zeugen von ihrem bürgerlichen Hintergrund, der sich besonders in der Vermittlung ihrer Europa-Konzepte offenbarte. Ihre europapolitischen Vorstellungen vermittelte Siemsen in der Weimarer Republik über die europäische Literatur und über internationale Schriftsteller oder über die Entwicklung der europäischen Literaturproduktion, die für sie zugleich Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse war. Dies wollte sie beispielsweise in der unveröffentlicht gebliebenen deutsch-europäischen Literaturgeschichte zeigen. Bei der Konzeption eigener literarischer Bücher, so etwa bei ihren Reisebüchern Daheim in Europa oder Deutschland zwischen gestern und morgen, griff Siemsen selbst auf literarische Vorlagen zurück. Siemsens Politisierungsprozess, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzte und dann durch ihn beschleunigt wurde, verlief zunächst über bürgerlich-liberale Reformbewegungen wie die Friedensbewegung und die Reformpädagogik sowie über Kontakte zur bürgerlich-oppositionellen Literaten- und Künstlerzirkeln, die durchaus Elitenphänomene waren. Die Ordnungsvorstellungen, die Siemsens Europa-Konzepten zugrundelagen, hatten ihre Wurzeln in kulturkritischen und lebensreformerischen Diskussionszusammenhängen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, die insbesondere in gebildeten Schichten debattiert wurden. Siemsens Kritik am tradierten Bildungs- und Erziehungssystem, durch dessen Reform zugleich eine grundlegende Änderung der zeitgenössischen Verhältnisse „im Gemeinschaftsgeist“ eingeleitet werden sollte, entsprang eben jenen kulturkritischen Diskussionen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg verstärkten und ein politisch übergreifendes Phänomen waren. Die Übernahme des nicht nur in reformpädagogischen Kreisen debattierten Lebensbegriffs oder die idealisierte Bezugnahme auf die von der Industrialisierung und ihren Folgen noch weitgehend verschont gebliebene Kindheit, der Europa als positives Zukunftsmodell zur Seite gestellt wurde, zeigt Siemsens Übernahme kulturkritischer Deutungsmuster in ihre Europa-Konzepte beispielhaft. Durch ihre Tätigkeit als Lehrerin entwickelte Siemsen schnell die in liberalen Kreisen weit verbreitete Auffassung, durch Erziehung einen Beitrag zur Höherentwicklung der Gesellschaft leisten zu müssen. Diese Überzeugung führte bald dazu, dass sie Erziehung als eine zentrale politische Aufgabe, wenn nicht als die Strategie zur Änderung von Gesellschaft und Politik betrachtete. Wie viele andere Träger der zeitgenössischen kulturkritischen Gegenwartsbetrachtung gehörte Siemsen zu denjenigen, die glaubten, durch die von ihnen entworfenen Strategien die richtigen Lösungsansätze zur Reformierung von Politik und Gesellschaft gefunden zu haben. Es war Teil des bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses, gegenüber alternativen Ordnungsvorstellungen die eigene „Deutungshoheit und Führungskompetenz“ für politische Reformen herauszustellen und diese den weniger gebildeten Schichten zu vermitteln.2 Siemsen verfügte über ein hohes Sendungsbewusstsein und über 2

Wietschorke: „Ins Volk gehen!“, S. 116.

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Fazit

einen Glauben an die Richtigkeit ihrer Überzeugungen, mit denen sie zunächst vor allem die „Arbeiter“ oder das „Volk“ erreichen wollte. Siemsen erhob im Laufe ihres Politisierungsprozesses die eigenen humanistischen und christlich-ethischen Wertmaßstäbe, die ihr im Elternhaus vermittelt worden waren,3 zu einem deterministischen politischen System, dem sie ihre gesamte berufliche und politische Arbeit widmete. Im Mittelpunkt ihrer Argumentation stand stets der „Mensch“, den sie als Norm und Richtschnur jeglichen Handelns verstanden wissen wollte. Siemsens Verständnis von der menschlichen Natur lag ein dem humanistischen Gedankengut entstammendes Bild vom Menschen zugrunde, dem in seiner Eigenschaft als Gemeinschaftswesen auch ein Gemeinschaftswollen naturbedingt gegeben sei. Sie glaubte, jeder Mensch habe die gleichen Grundbedürfnisse, etwa nach gegenseitiger Hilfe und freier Entfaltung seiner Anlagen. Aus dieser normativen Grundüberzeugung entwickelte Siemsen ihre Leitideen und forderte eine auf diesen Ideen begründete Gesellschaftsordnung, die sie als „Gemeinschaft“ definierte. Diese Grundüberlegungen griff sie auch in ihren Europa-Konzepten auf. Sie behauptete, die europäische Kultur, die sie als „menschheitlich“, als demokratisch definierte, gebe eine solche Gesellschaftsordnung vor. Obwohl Siemsen für eine Weltföderation gleichberechtigter Gebiete plädieren sollte, waren in ihren Europa-Konzepten kulturhegemoniale Ansätze angelegt. Indem sie von einer „menschheitlichen“ Kultur Europas sprach, wurde indirekt deutlich, dass Europa eine Vorrangstellung bei der Verwirklichung ihrer Gemeinschaftsidee zukam. Siemsen entwarf zu Beginn der 1920er Jahre die Vorstellung einer Menschheitsgemeinschaft, ein ethisch-politisches Konstrukt, das über den Begriff „Europa“ verhandelt wurde. Europa stand zunächst als imaginierter Raum für die Verwirklichung ihrer Gemeinschaftsidee und wurde damit unmittelbar in Beziehung gesetzt. Europa avancierte aber erst Mitte der 1920er Jahre zu einem zentralen Begriff in ihrer Argumentation. In dieser Zeit intensivierten sich auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Europa-Debatten und es entstanden die ersten Organisationen, die sich um eine Verbesserung der internationalen Beziehungen bemühten. Zeitgleich wurden in der Weimarer Republik reformorientierte Bestrebungen von wieder erstarkten national-konservativen Kräften zurückgedrängt, wovon Siemsen durch ihre beruflichen Rückschläge direkt betroffen war. Diese Entwicklungen führten zu einer Verfestigung ihrer Ordnungsvorstellungen und zu einer politischen Radikalisierung, die Siemsen veranlasste, Europa stärker als zuvor in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen zu stellen und auf diese Weise ein alternatives Modell zu den vorherrschenden nationalen Ordnungsvorstellungen in Politik und Gesellschaft zu entwerfen. Den national-konservativen Ordnungsvorstellungen wollte sie europäisch-sozialistische entgegensetzen. Siemsen machte die gesellschaftlichen Verhältnisse dafür verantwortlich, dass sich die von ihr angenommene Natur des Menschen nicht hatte durchsetzen können. Bestehende politische Verhältnisse hatten in ihrer Sicht immer Rückwirkungen 3

Vgl. dazu Bauer: Das Leben, S. 179.

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auf die Wertsetzungen innerhalb der Gesellschaft. Wenn sie im Laufe ihres Lebens öfters an ihrem Menschenbild zweifeln sollte, blieb ihre Grundüberzeugung bestehen, durch Erziehung sowie ergänzend durch politische und wirtschaftliche Reformen eine Gesellschaftsordnung schaffen zu können, in dem sich dieses Gemeinschaftswollen Bahn brechen würde. Aus ihrer Sicht waren es die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse, die der Durchsetzung eines Gemeinschaftswollens entgegenstanden. Der Kapitalismus stellte für Siemsen eine auf Konkurrenz beruhende Wirtschaftsordnung und zugleich ein Konglomerat von Wert- und Handlungsmaßstäben dar, die aus dieser Wirtschaftsordnung erwachsen waren, deshalb ihrer Gemeinschaftsidee widersprachen und überwunden werden mussten. Nach dem Ersten Weltkrieg glaubte Siemsen, in der Sozialdemokratie eine politische Heimat gefunden zu haben. Sie war überzeugt, hier würden ihre politisch-ethischen Forderungen nach Gemeinschaft politisch wirksam vertreten werden. Sozialismus war für sie deshalb eine „Geistes-, Gemüts- und Willensbeschaffenheit“,4 die durch die Übernahme soziologisch-marxistischer Entwicklungstheorien ein vermeintlich wissen­schaftliches Fundament erhielt. Europa wurde zu einem variablen Bezugspunkt für ihre sozialistisch definierten politischen Forderungen. Es stellte einen imaginierten Raum dar, in dem keine nationalstaatlichen Grenzen existierten, es war ein Raum des Ausgleichs und des Friedens und es symbolisierte die deutsch-französische Verständigung. Siemsen appellierte etwa im Namen Europas an die Einheit und die Zusammenarbeit der internationalen Arbeiterschaft, die Träger der erhofften neuen Gesellschaftsentwicklung sein sollte, wie beispielsweise in dem Reisebuch Daheim in Europa. Europa wurde auch angeführt, um den angenommenen gesellschaftlichen Fortschritt der Menschheit zur Gemeinschaft zu belegen und zu legitimieren, wie etwa in den Literarischen Streifzügen. Europa wurde als Gesellschaftskonzept verhandelt, in dem die europäische Gesellschaftsentwicklung sogar stellvertretend für die Menschheitsentwicklung angeführt wurde. Europa wurde auch mit anderen zeitgenössisch stark diskutierten Begriffen als dem Gemeinschaftsbegriff in Zusammenhang gebracht. Europa konnte Inbegriff der Demokratie sein wie in Siemsens Aufsatz Ich suche Europa von 1927. Es konnte auch „Heimat“ sein oder das „Gottesreich auf Erden“. All diesen Begriffen lag aber der Gemeinschaftsgedanke mit den entsprechenden Leitideen zugrunde. Europa, ebenfalls ein umkämpfter zeitgenössischer Begriff, diente Siemsen dazu, die Deutungshoheit über ihre politischen Ordnungsvorstellungen gegenüber anderen, konkurrierenden politischen Ideen zu behaupten. Zugleich war der Rückgriff auf Europa geeignet, die Wichtigkeit und die Legitimation ihrer politischen Ordnungsvorstellungen zu erhöhen, da Siemsen sie, wie etwa die Demokratie, als genuin europäische Errungenschaften vorstellte, die der europäischen Kultur inhärent seien. Diese Strategie übertrug sie schließlich zu Beginn der 1930er Jahre auf Deutschland, als die Desintegration des politischen Systems von Weimar begann und der Aufstieg des Nationalsozialismus einsetzte. Um die Wichtigkeit demokratisch-sozialistischer Reformen zu betonen, stellte Siemsen nun ein „europäisches 4

Siemsen: Erziehung im Gemeinschaftsgeist, S. 5.

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Fazit

Deutschland“ vor, dessen Kultur europäisch geprägt sei und die für die dauerhaft friedliche Zukunft Deutschlands und Europas wieder erweckt werden müsse. Im Exil diente Europa nicht mehr wie noch in der Weimarer Republik als variabler Bezugspunkt für politische Forderungen, sondern wurde nun selbst als politisches Modell in den Mittelpunkt von Siemsens Argumentation gerückt. Ausschlaggebend dafür war der Aufstieg des Nationalsozialismus, den Siemsen 1932 noch durch sozialistische Reformen und die Einheit der Arbeiterschaft zu überwinden hoffte. Schon in ihrem Aufsatz Ich suche Europa von 1927 hatte sie sich mit dem italienischen Faschismus auseinandergesetzt und diesem die europäische Demokratie entgegengestellt. Mit der aggressiven Eroberungspolitik des NS-Regimes in den 1930er Jahren, als die Vorstellung einer internationalen Neuordnung unter faschistischen Prämissen Wirklichkeit zu werden schien, wurde die Durchsetzung der „europäischen Demokratie“ über politische und wirtschaftliche Reformen in Europa deswegen zu einer Hauptforderung, die neben Siemsen auch andere Emigrantinnen und Emigranten formulierten. Siemsen entwickelte im Exil institutionelle europäische Einigungsideen, die als Gegenmodell zu den herrschenden politischen Verhältnissen und für die Etablierung eines zukünftigen dauerhaften Friedenszustandes konzipiert waren. Der Gemeinschaftsgedanke mit den zugrundeliegenden Leitideen blieb in Siemsens Argumentation zentral, wurde aber zunehmend mit dem Begriff Europa oder dem der (europäischen) Demokratie synonym verwendet. Ähnlich wie in den 1920er Jahren fungierte er als ideologischer Gegenbegriff zu Faschismus und Diktatur. Da die zuvor noch geforderte Einheit der Arbeiterklasse zur Überwindung faschistischer Regime ausgeblieben war, trat diese Forderung in Siemsens Argumentation zurück und sie näherte sich liberalen Positionen an. Die Forderung nach Schiedsgerichtsbarkeit beispielsweise gehörte schon zur zentralen Argumentation der liberal-bürgerlichen Friedensbewegung im Kaiserreich. Zugleich prägten aber weiterhin sozialistische Grundüberzeugungen ihre Europa-Konzepte, wie etwa die Vorstellung, kapitalistische Verhältnisse stellten per se eine Kriegsgefahr dar – eine Vorstellung, die sich für Siemsen mit Beginn des Zweiten Weltkrieges bewahrheitete. Wie für viele Personen, die dem linken politischen Spektrum zuzuordnen sind, war der Nationalsozialismus für sie der Inbegriff eines übersteigerten Kapitalismus gewesen, so dass die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung für die Etablierung eines dauerhaften Friedenszustandes eine Kernforderung in Siemsens europäischen Ordnungsvorstellungen blieb. Am Beispiel von Siemsen wird deutlich, dass die in der Forschung oftmals betonte Unterscheidung von „sozialistischen“ und „bürgerlichen“ Europa-Konzepten nicht vorgenommen werden kann.5 Auch die Konzepte, mit denen Siemsen sozialistische Forderungen formulierte, waren geprägt von bildungsbürgerlichen Ideen. Im Exil sollten diese sogar überwiegen.

5

Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 46. Conze betont, die so kategorisierten Europaideen hätten „sich grundsätzlich voneinander“ unterschieden. Die Sozialdemokratie habe traditionell den Internationalismus in den Vordergrund gerückt. Ebd.

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Maßgeblich beeinflusst wurde Siemsen in ihren europapolitischen Vorstellungen im Exil von der Schweizer Europa-Union und ihrem Generalsekretär, dem exilierten SPD-Politiker Heinrich Ritzel. Siemsens Verbindungen zu der Schweizer Europa-Union, der auch Personen aus bürgerlichen Parteien angehörten, hatten offenbar dazu geführt, dass sie im Vergleich zu den 1920er Jahren bereit war, vermehrt mit Personen zusammenzuarbeiten, die nicht dezidiert sozialistischen Überzeugungen anhingen. Obwohl Siemsen zeitweilig in Verbänden engagiert war oder Aktivitäten unterstützte, an denen auch Kommunistinnen und Kommunisten beteiligt waren, wie die SAPD oder die Volksfront-Bewegung, blieb sie doch eine Gegnerin des Kommunismus, den sie als autoritär, autokratisch und zentralistisch betrachtete und der deshalb ihren Leitideen widersprach. Eine erhöhte Bereitschaft, mit Personen bürgerlicher Parteien zusammenzuarbeiten, kennzeichnete schließlich auch Siemsens europapolitisches Engagement nach dem Zweiten Weltkrieg in der Europa-Bewegung. Im Mittelpunkt ihres Engagements stand eine Erziehung für Europa, die eine Weiterführung ihrer Erziehungskonzepte zur Gemeinschaft war. Die Erziehung für Europa wurde von den gleichen Leitideen getragen, sollte aber nun dazu beitragen, in weiten Bevölkerungskreisen die Einsicht in die Notwendigkeit einer europäischen Einigung zu etablieren. Zugleich setzte sich Siemsen innerhalb der UEF und in der deutschen Dependance, der Europa-Union, für einen föderativen Zusammenschluss Europas ein, den sie bereits im Exil nach dem Beispiel der Schweizer Eidgenossenschaft gefordert hatte. Das von ihr propagierte Konzept des „integralen Föderalismus“, den sie auch mit dem Begriff des „freiheitlich demokratischen Sozialismus“ umschrieb, ersetzte argumentativ die im Exil betonte „europäische Demokratie“, beinhaltete aber letztlich dieselben Ordnungsvorstellungen. Ihre letzte politische Heimat fand Siemsen als Vorsitzende des deutschen Zweiges der MSEUE. In ihrem Rahmen konzentrierte sie sich nun auf die Propagierung eines föderierten Europas auf sozialistischer Grundlage, von dem sie sich die endgültige Etablierung ihrer Gemeinschaftsvorstellungen erhoffte. Siemsen nahm als Frau, Sozialistin, Europa-Aktivistin, Emigrantin und schließlich Remigrantin in vielerlei Hinsicht eine randständige Position ein, was sich auch in ihren Europa-Konzepten bzw. in deren Vermittlung widerspiegelte. Ihr beruflicher und politischer Lebensweg zeigt, dass sie sich mit kleinteiligen Lösungsvorschlägen oder Kompromissfindungen schwer tat. Ihre oftmals dogmatischen Haltungen, die sie vor allem in der Weimarer Republik zeigte und die erst in der Exilzeit aufbrechen sollten, waren sicher manches Mal ursächlich für Konflikte, denen sie sich gegenüber sah. Letztlich waren es aber doch politische und gesellschaftliche Vorurteile, die auch ihr berufliches Scheitern begünstigten. In der Universität, im Berliner Ministerium, in der Schulverwaltung und schließlich in der Schule selbst, wo Siemsen als Oberlehrerin und Schulleiterin arbeitete, stießen ihre Reformambitionen schnell auf bürokratische, politische und geschlechtsspezifische Grenzen. Sie stellte nicht zuletzt auf Grund ihres Geschlechts herrschende Ordnungsvorstellungen infrage. Siemsen hatte seit 1919 zu frauenpolitischen Themen geschrieben und ihre ersten publizistischen Beiträge zur Frauenbildung bereits vor dem Ersten Weltkrieg

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Fazit

veröffentlicht. Im Exil begann sie, sich mit der Rolle von Frauen für eine neue europäische Ordnung zu beschäftigen, und führte damit einen politischen Interessensschwerpunkt, die Rolle von Frauen in Politik und Gesellschaft, fort. Siemsen maß Frauen eine zentrale Funktion bei der Schaffung eines geeinten Europas bei und nutzte zugleich diese Argumentation, um die politische Gleichstellung der Frauen mit den Männern zu fordern. Obwohl sie durch Heirat die Schweizer Staatsangehörigkeit erlangt hatte, waren ihre politischen Rechte wie die aller Schweizer Frauen aufgrund der fehlenden staatsbürgerlichen Gleichstellung eingeschränkt. Sieht man von den ersten Anfängen weiblicher Beteiligung an der Paneuropa-Union in den 1920er Jahren und dem Einsatz Heinrich Ritzels ab, der sich ebenfalls für eine Mitwirkung von Frauen an europapolitischen Belangen eingesetzt hatte, nahm Siemsen innerhalb der Europa-Debatten der 1930er und 1940er Jahre eine Sonderstellung ein. Zudem gehörte sie zu den wenigen Frauen, die sich in der Europa-Bewegung auch nach 1945 engagierten. Als Frau hatte Siemsen ein Lebensmodell gewählt, das für bürgerliche Frauen nicht vorgesehen war. In ihrer beruflichen Arbeit rührte sie an tradierte geschlechtsspezifische Hierarchien, was zu einem Konkurrenzkampf mit ihren männlichen Kollegen geführt hatte. An der Jenaer und Hamburger Universität widersprach ihre Beschäftigung als nichthabilitierte Frau in doppelter Weise tradierten wissenschaftlichen Karrierewegen. Im Exil blieben geschlechtsspezifische Vorurteile gegen Siemsen zwar bestehen, wurden aber zurückgedrängt durch ihren Status als Deutsche und Emigrantin; ein Status, der ihre Wahrnehmung in der Schweiz bei den Behörden und in weiten Bevölkerungskreisen maßgeblich prägte. Schließlich befand sie sich seit 1946 als Remigrantin gesamtgesellschaftlich in einer Außenseiterposition. Die politischen Organisationen, in denen sich Siemsen engagierte, wie die Friedensbewegung, die Entschiedene Schulreform oder die SAPD waren keine dominierenden politischen Kräfte und auch die SPD bzw. die USPD, die Siemsen in Berlin und Thüringen zu ihren leitenden Posten in Schule und Verwaltung verholfen hatte, wurde seit Mitte der 1920er Jahre auf regierungspolitischer Ebene in eine marginale Rolle gedrängt. In Thüringen und in Hamburg galt Siemsen innerhalb ihres weiteren beruflichen Umfeldes als „verlängerter Arm“ der sozialdemokratischen Regierung, später dann der britischen Militärregierung, deren politische Reformvorhaben jeweils von einem Großteil der Bevölkerung abgelehnt worden waren. Siemsens beruflichen Niederlagen führten allerdings auch dazu, dass sie mehr Zeit zur Verfügung hatte, sich ihren publizistischen Arbeiten zu widmen, wie etwa in der Weimarer Republik, wo ihre zentralen europapolitischen Monographien nach ihrer Versetzung in den „einstweiligen Wartestand“ ab 1925 erschienen. Obwohl sie zeitgenössische Debatten wie die Imperientheorie von Joseph Bloch, die sozialdemokratischen Diskussionen über die Vereinigten Staaten von Europa oder deutschfranzösische Verständigungskonzepte in ihren Monographien verarbeitete, nahm sie nicht explizit Stellung zu diesen Debatten. Sie wählte durch ihre Monographien eine literarisch-politische Vermittlungsform für ihre europapolitischen Vorstellungen, die hauptsächlich auf ihren literarischen Ausbildungsschwerpunkten an der Universität und eigenen Ordnungsvorstellungen basierten. Da literarische Bücher

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in der geschichtswissenschaftlichen Forschung bislang kaum in den Kanon europapolitischer Quellen aufgenommen wurden, ist nicht sicher, inwiefern Siemsen durch ihre Darstellungsform eine exzeptionelle Position eingenommen hat. Sicher ist aber, dass die Wahl, europapolitische Vorstellungen über eigene Monographien zu vermitteln, charakteristisch für sie war. Im Exil vermittelte sie ihre europapolitischen Vorstellungen nicht mehr über die Literatur selbst oder verschiedene Schriftsteller, sondern wählte als Vermittlungsform kürzere Abhandlungen, kleinere politische Manifeste in Broschürenform oder ihre rege Vortragstätigkeit. Obwohl sie sich in der inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Europa-Konzepte denen anderer Emigranten-Gruppen angenähert hatte, wählte sie auch in dieser Zeit vornehmlich noch die Form der Monographie, um ihre europapolitischen Vorstellungen zu verbreiten. Das mag darauf hinweisen, dass sie den Anspruch vertrat, eine Deutungshoheit über europapolitische Themen zu haben. Nach 1945 ging die Publikation von Europa-Schriften im engeren Sinn stark zurück. Siemsen formulierte ihre europapolitischen Forderungen nun hauptsächlich in Vorträgen auf Kongressen und Tagungen der Europa-Bewegung. Doch auch nach 1945 ist die Fülle an Monographien, die sie veröffentlichte, auffällig. Zurück in Deutschland setzte sich Siemsen nach Einstellung der Sonderausbildungskurse für Volksschullehrer verstärkt in der Europa-Bewegung ein, die nun zu ihrem politischen Hauptarbeitsgebiet geworden war. Nach ihren erneuten beruflichen Rückschlägen bot die ab 1946 entstehende Europa-Bewegung ein neues und produktives politisches Arbeitsfeld, auf dem sie einige Erfolge verbuchen konnte. Innerhalb der Europa-Bewegung nahm sie keine randständige Position ein. Die Wahl in verschiedene Gremien der Europa-Bewegung macht deutlich, dass Siemsen auf dem Gebiet der Europa-Politik durchaus Anerkennung zuteil geworden war. Doch auch hier wagte sie Alleingänge, wie die versuchte Gründung der Europäischen Akademien zeigt. Ihre eigenen Konzepte schienen ihr so wichtig zu sein, dass sie glaubte, ihre politischen Zielvorstellungen würden in größeren organisatorischen Zusammenhängen nicht angemessen vertreten werden. Die Gründung und alleinige Finanzierung der Gesellschaft für europäische Zusammenarbeit verdeutlicht ebenfalls, wie zentral Siemsen die Durchsetzung der eigenen Ordnungsvorstellungen erschienen war. Siemsens beruflicher und politischer Werdegang war aufgrund der politischen Entwicklungen kurvenreich und von Enttäuschungen gekennzeichnet, aber doch auch erfolgreich, wenn man ihre politischen und geschlechtsspezifischen Handlungsspielräume vor diesem Hintergrund betrachtet. Ihre publizistische Tätigkeit ermöglichte ihr, relativ frei die eigenen Standpunkte zu vertreten. Durch ihre politischen Nerzwerke und Kontakte konnte sie auch im Exil als Redakteurin einer Berufstätigkeit nachgehen und erhielt durch eben jene Netzwerke schließlich Eintritt die Europa-Bewegung. Siemsen hatte ihr Leben und ihre politische Arbeit in den Dienst übergreifender Ordnungsvorstellungen gestellt und damit ihr Selbstverständnis begründet. Sie hätte sich wohl als „Lebens- und Menschenbildnerin“ und damit auch als „gute Europäerin“ bezeichnet, aber vermutlich nicht als Bildungspolitikerin, Berufspolitikerin, Schriftstellerin oder Publizistin. Dieses Selbstverständnis resultierte möglichweise daraus, dass für ihren beruflichen Werdegang, den sie

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Fazit

nach dem Ersten Weltkrieg einschlug, jegliche weibliche Vorbilder fehlten. Angelika Schaser hat dies in ähnlicher Weise für die DDP-Politikerin Gertrud Bäumer formuliert. Bäumer, die 1920 „zum Ministerialrat im Reichsministerium des Innern ernannt wurde“, hatte die Bezeichnung „Berufspolitiker“ abgelehnt, da jene in ihrer Sicht zu sehr partikularen Interessen verhaftet seien. Bäumer hatte wie Siemsen als Frau keinen linearen Karriereweg zu verzeichnen und konnte ihn auch nicht von vornherein systematisch anstreben, weil eine solche planbare „Berufsbiographie“ bislang eben nur Männern offen gestanden hatte.6 Vielleicht war genau diese fehlende planbare Berufsbiographie ausschlaggebend dafür, dass es Siemsen gelang, sich trotz vieler Krankheitsausfälle und politischer Enttäuschungen in neue Situationen hineinzufinden und nicht vor den Trümmern eines persönlichen Lebensplanes zu stehen. „Europa“ bot dafür einen Fluchtpunkt, ein übergeordnetes politisches Ziel, auf das sie hinarbeiten konnte und das ihr half, sich eigener Ordnungsvorstellungen zu vergewissern. DAS „KONZEPT“ EUROPA Die zunächst positiv besetzten Leitideen, die Siemsen vertrat, bündelte sie je nach Argumentation in den Begriffen Gemeinschaft, Europa oder Demokratie, die wiederum synonym verwendet wurden bzw. aufeinander bezogen waren. Auf diese Weise konnte sie ihre komplexen Ordnungsvorstellungen auf anschlussfähige Begriffe reduzieren. Die Analyse dieser Begriffe hat gezeigt, dass Siemsen trotz ihres Plädoyers für demokratische, freiheitliche und solidarische Werte keineswegs ein Politikverständnis hatte, das alle Menschen gleichermaßen umfasste. Sie vertrat widersprüchliche, exkludierende und antiparlamentarische Ideen, im Grunde wollte sie sogar den Staat abschaffen, damit der Mensch frei von jeglicher Herrschaft leben könne. Ein demokratisch-pluralistisches Politikverständnis hatte sie nicht. Damit ordnete sie sich aber in breitere zeitgenössische Europa-Debatten ein. Bis 1945 waren demokratisch-pluralistische Ideen kaum zu finden. Siemsen Europa-Konzepte bestätigen die These, dass Europa-Vorstellungen, auch wenn sie nicht „nationalistisch oder gar rassistisch fundiert waren“, nicht zwangsläufig „auf Gleichberechtigung und Pluralismus“ beruhen mussten.7 Ihre Zielvorstellung einer Gesellschaftsordnung, die sich durch „Mannigfaltigkeit mit gegliederter Einheit“8 auszeichnen sollte, entwickelte sie aus der Forderung nach einem einheitlichen übergreifenden Wertesystem, das der Vielfalt an Begabungen, Veranlagungen und Interessen des einzelnen Menschen sowie seiner freien Entfaltung und Entwicklung gerecht werden würde. Diese Vorstellung, die Siemsen zunächst im Rahmen ihrer reformpädagogischen Arbeit formulierte, übertrug sie auf die internationale Ebene, wo den unterschiedlichen Traditionen und Kulturen der einzelnen Länder Rechnung getragen werden sollte. Der Topos von 6 7 8

Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 214 f. Conze: Vielfalt ohne Einheit, S. 47. SozArch, Ar 142.30.1.: Anna Siemsen: Abschluss, maschinenschriftliches Typoskript.

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der Vielfalt in der Einheit kehrte beispielsweise bei der Konzeption der Literarischen Streifzüge wieder. Hier entwarf Siemsen eine einheitliche Entwicklungsgeschichte der europäischen Gesellschaft, die zur Gemeinschaft führen würde. Zugleich hob sie aber auch unterschiedliche Entwicklungsrichtungen in den einzelnen Ländern, speziell in Deutschland hervor, mit denen sie politische Reformen legitimieren wollte. Da die von Siemsen propagierten neuen Wert- und Handlungsmaßstäbe sozialistisch definiert waren, konnte Vielfalt auch negativ besetzt sein, wie in Siemsens Monographie Deutschland zwischen gestern und morgen. Hier beklagte sie etwa die staatliche und daraus folgende politische wie wirtschaftliche Zersplitterung Deutschlands. Die Einheit der Arbeiterklasse sollte diese Zersplitterung durch sozialistische Reformen überwinden. Seit ihrer Exilzeit glaubte Siemsen, die politische Verwirklichung einer Vielfalt in der Einheit in der Schweizer Eidgenossenschaft zu erkennen. Die Einheit eines Gebietes, in dem verschiedene Sprachen und Kulturen in auch geographisch unterschiedlichen Regionen gleichberechtigt nebeneinander existieren würden, übertrug sie als politisches Modell auf Europa. Schließlich übernahm Siemsen die antietatistische Vorstellung eines integralen Föderalismus, in dem in einem quasi-natürlichen Ganzen unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Einheiten zu einer übergeordneten Einheit zusammengefasst werden sollten. An diesem Beispiel wird die Tendenz zur Homogenisierung deutlich, die Siemsens Einheitsvorstellungen auszeichneten. In Siemsens Ausführungen wurde der Topos von der Vielfalt in der Einheit meist dann aufgebrochen, wenn sie ihre Forderungen nach umfassenden politischen Reformen begründen und legitimieren wollte. Als argumentative Strategie nutzte sie in diesen Fällen die bereits erwähnten Homogenisierungen. So wurden beispielsweise Arbeiter und Frauen als homogene gesellschaftliche Gruppen vorgestellt, denen Siemsen aufgrund ihrer politischen „Klassenlage“ oder ihres spezifischen Geschlechtscharakters jeweils die gleichen politischen Interessen und eine gleiche politische Aufgabe zuschrieb. Bei ihrer Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen nutzte sie oftmals Dichotomien, durch die sie die Dringlichkeit für politische Reformen unterstrich. Die zeitgenössischen Verhältnisse bewertete sie ebenso als „bürgerlich“ wie bestimmte Wertsetzungen, die sie ablehnte und überwinden wollte. Diesen Verhältnissen und Wertsetzungen stellte sie sozialistische Werte und Reformen gegenüber, die sie als „revolutionär“ beschrieb. In diesem Zusammenhang wurde die Nationalstaatlichkeit als bürgerliches Konzept definiert. Europa wurde hingegen als sozialistisches Projekt betrachtet. In Siemsens EuropaKonzepten wurden mithin alle Personen oder Gruppen ausgeschlossen, die keine sozialistischen Ordnungsvorstellungen vertraten. Ähnlich ambivalent verhielt es sich mit den Grenzziehungen in ihren EuropaKonzepten. Grenzen lehnte Siemsen zwar ab, zog aber selbst, wie das obige Beispiel zeigt, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Grenzen. Aus ihren Europa-Konzepten wurden all jene gesellschaftlichen Gruppen ausgeschlossen, die politische Überzeugungen vertraten, die nicht den ihren entsprachen. Europa wurde in der Weimarer Republik als Raum vorgestellt, in dem sich die Einheit der Arbeiterschaft vollziehen sollte. Es wurde als sozialistisches Modell vorgestellt, das von

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Siemsen bewusst als Abgrenzung zum „bürgerlichen“ System der Nationalstaaten und zu einer nationalen Politik konzipiert war. Die „Bürger“, womit Siemsen zumindest argumentativ all jene meinte, die keine Sozialisten oder Arbeiter waren, wurden ausgegrenzt. Auch Frauen, die entgegen ihrem „demokratischen“ Geschlechtscharakter keine demokratischen Wert- und Handlungsmaßstäbe vertreten würden, schloss sie aus der europäischen Gemeinschaft bzw. aus der Frauengemeinschaft aus. Während des Exils forderte Siemsen, das geeinte Europa müsse ein Projekt der nach Freiheit und Frieden strebenden europäischen Völker sein, nicht aber eines der europäischen Regierungen, denen sie die Hauptverantwortung für den Beginn des Zweiten Weltkrieges zuschrieb. Siemsens Kritik an Grenzen galt vor allem den nationalen bzw. staatsrechtlichen Grenzen, mit denen sie Abgrenzungen, Herrschaftsansprüche und Machtstaatlichkeit verband. Die einzigen Grenzen, die sie anerkannte, waren naturbedingte Grenzen wie Berge oder Gewässer. Staatliche Grenzen entsprachen aus Siemsens Sicht nicht den gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, die sich durch wechselseitige Vermischungen und Verflechtungen ausgezeichnet und sich eben nicht im staatlichen Rahmen vollzogen hätten. Obwohl sie oft betonte, dass in der Vergangenheit gerade auch von außereuropäischen Gebieten Einflüsse verschiedenster Art nach Europa gekommen seien, wurden außereuropäische Gesellschaftsentwicklungen nicht in ihre Europa-Konzepte einbezogen. Da Siemsen Europa als Teil eines größeren Weltgefüges verstand, das zu einer Weltföderation zusammenwachsen sollte, musste sie die vermeintlichen Zusammenhänge Europas mit der übrigen Welt darstellen. Das tat sie aber eben nur kursorisch. Die Ursprünge der europäischen Kultur, die Siemsen im Mittelmeerraum verortete, sind ein Beispiel dafür. Die Übernahme russischer oder US-amerikanischer Schriftsteller in die Konzeption der Literarischen Streifzüge macht ebenfalls deutlich, dass sie von einer kulturellen Beeinflussung Europas von außereuropäischen Gebieten ausging. Auch betonte sie öfters die wirtschaftlichen Verflechtungen, die Europa mit dem Rest der Welt verbinden würden. Aus diesen Gründen vermied sie es vermutlich, die geographischen Grenzen von Europa klar zu definieren. In ihren Europa-Konzepten konzentrierte sich Siemsen vor allem auf die Mitte und den Westen Europas. Die Peripherie Europas blieb, mit Ausnahme des europäischen Ostens, wegen der betonten Verflechtungs- und Beeinflussungsfaktoren blass. Wenn Siemsen außereuropäische Gebiete nannte, war ihr Blick auf sie meist eurozentrisch geprägt. Seit der Exilzeit griff sie verstärkt auf die von Bloch entwickelte Imperientheorie und zeitgenössische Diskussionszusammenhänge zurück und hob etwa das Gefahrenpotential hervor, das von den aufsteigenden außereuropäischen Mächten für die Selbständigkeit Europas drohe. Die Selbständigkeit Europas war für Siemsen deshalb besonders wichtig, weil es in ihrer Argumentation wirtschaftliche und kulturelle Besonderheiten aufwies, die es vom Rest der Welt abhob. Durch die spezifische europäische Gesellschaftsentwicklung, so glaubte Siemsen, sei es innerhalb Europas zu einer besonders engen Wirtschaftsverflechtung gekommen, auch wenn sie in diesem Zusammenhang durchaus regionale Unterschiede benannte. Sie glaubte auch, es habe sich durch Aufnahmebereitschaft fremder Einflüsse eine spezifisch europäische Kultur entwickelt. Sie argumentierte,

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diese Eigenschaft der Aufnahmebereitschaft sei eine typische europäische Errungenschaft, weshalb sie die europäische Kultur auch als „menschheitlich“ definierte. Wurde Europa in Gegenüberstellung mit der restlichen Welt auf diese Weise als einheitliches Gebiet vorgestellt, so führte ihre Deutung der „europäischen Kultur“ in der Binnensicht dazu, den Westen Europas vom Osten abzugrenzen. Siemsen argumentierte, das Einflussgebiet der europäischen Kultur, das sie mit dem Einflussgebiet der römischen Kirche und dem späteren Reichsgebiet gleichsetzte, habe sich nur auf Mittel- und Westeuropa erstreckt. Das Einflussgebiet der „europäische Kultur“ diente Siemsen als Erklärungsstrategie dafür, dass sich im Osten Europas besonders starke wirtschaftliche Unterschiede und starke faschistische Bewegungen entwickelt hatten. Da Siemsen glaubte, aus dieser „menschheitlichen“ europäischen Kultur würden auch politische Werte erwachsen, die sie als demokratische Werte definierte, konnte sie behaupten, die europäische Kultur habe sich im Osten Europas als weniger durchsetzungsstark erwiesen. Auf diese Weise erklärte sie die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in diesen Regionen. In ihre Bewertung des europäischen Ostens als „Kolonialland“ flossen auch tradierte Deutungen ein. Diese Deutung über den Osten Europas nutzte sie, um eine sozialistische Einigung Europas zu fordern. Durch wirtschaftlichen Ausgleich und den Transfer demokratischer Werte vom Westen gen Osten hoffte sie, den Einfluss des Faschismus, den sie vor allem als ein osteuropäisches Phänomen betrachtete, auf den Rest Europas verhindern zu können. Erklärungsansätze dafür, warum schon 1922 in Italien ein faschistisches Regime unter Mussolini zustande gekommen war, lieferte Siemsen nicht. Im Exil führte Siemsen das Argument eines wirtschaftlichen Ausgleichs an, um eine Binnenföderation von Deutschland und den osteuropäischen Gebieten zu fordern. Hatte sie in der Weimarer Republik Deutschland noch eine positive Schlüsselstellung als Durchgangsland zugeschrieben, das die demokratischen Werte des Westens zum Osten hinüber leiten sollte, wurde ihm nun ein großes Gefahrenpotential für die Zukunft Europas beigemessen. Angesichts der nationalsozialistischen Expansionspolitik und des Zweiten Weltkrieges änderte Siemsen nun ihre Argumentationsstrategie, hielt aber dennoch weiterhin an der Forderung nach einer wirtschaftlichen Einigung und einem wirtschaftlichen Ausgleich fest, aus der schließlich demokratische Werte erwachsen sollten. Die osteuropäischen Gebiete wurden in Siemsens Europa-Konzepten zwar vom Westen abgegrenzt, aber nicht ausgeschlossen. Anders verhielt es sich mit Russland. Sie hielt zwar stets die russische Kultur für einen Teil der europäischen, führte aber die spezifische Gesellschaftsentwicklung, die unter anderen, nicht näher erläuterten Voraussetzungen als in Europa vonstattengegangen sei, als Begründung dafür an, warum Russland nicht zu Europa gehöre. Die Annahme einer „menschheitlichen“ Kultur Russlands, die Siemsen zu Beginn der 1920er Jahre noch als Vorbild für eine gesellschaftliche Erneuerung Deutschlands und Europas angeführt hatte, schien im Gegensatz zur Kultur Europas keine demokratischen Werte zu enthalten. Offenbar wurde Siemsen in dieser Sichtweise durch die politischen Entwicklungen in der UdSSR im Laufe der 1930er und 1940er Jahre bestärkt.

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Ähnlich argumentierte sie im Fall Großbritanniens. Auch dieses Land war für sie ein Teil der europäischen Kultur. Sie glaubte aber, es werde wegen seiner tradierten imperialistischen Politik, die sich nach Übersee und nicht auf den Kontinent erstrecke, kein Interesse an einer Eingliederung in ein vereintes Europa haben. Dass diese Einstellung im Grundsatz auch im Vereinten Königreich geteilt wurde, zeigt etwa die Haltung Winston Churchills zur europäischen Einigungsfrage nach 1945. Den Ausschluss Großbritanniens aus ihren europäischen Einigungskonzepten begründete Siemsen an dieser Stelle nicht mit divergierenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, sondern mit wirtschaftspolitischen Traditionen und Interessen. Da Siemsen Ausschlüsse und Abgrenzungen mit ihren Ordnungsvorstellungen aber grundsätzlich nicht vereinbaren konnte, plädierte sie stets für eine nicht näher beschriebene „Zusammenarbeit“ mit Großbritannien, das sie auf der kulturellen Ebene ja durchaus zu Europa zählte. Diese Grundhaltung war vermutlich ausschlaggebend dafür, dass sie sich nach 1945 angesichts des heraufziehenden Kalten Krieges nur zögerlich zu einem Westeuropa-Konzept bekannte und noch bis zu ihrem Tod an einem Europa der „Dritten Kraft“ festhielt, von dem sie sich in erster Linie eine grundlegende Umwälzung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im „Gemeinschaftsgeist“ erhoffte. Eine solche Neuordnung war für Siemsen gleichbedeutend mit einer Absage an tradierte Politik-Konzepte. Obwohl sie die Nationalstaatlichkeit ablehnte, spielten tradierte nationale Konzepte zusammen mit nationalen Zuschreibungen eine wichtige Rolle in ihren Europa-Vorstellungen. Siemsen nutzte diese tradierten Ideen, um ihre europapolitischen Forderungen zu konkretisieren. Besonders deutlich trat diese Strategie am Beispiel der Schweiz hervor. Die Schweiz als Willensnation, eine Deutung, die das liberale und sozialistische Lager der Schweiz vertrat, wurde auf Europa übertragen. Siemsen bezog sich jedoch nicht auf das politische System der Schweiz selbst, sondern hob die vermeintlich kulturelle Grundlage der Willensnation, die „Vielfalt in der Einheit“, als beispielhaft hervor. Dass zu dieser kulturellen Grundlage etwa auch Überfremdungsängste zählten oder die demokratische Verfassung der Schweiz keine politische Beteiligung von Frauen vorsah, klammerte sie dann aus. Siemsen setzte sich in ihren Europa-Konzepten bis auf wenige Ausnahmen stets auch mit Deutschland auseinander. Um ihren Wunsch nach einer gleichberechtigten Einbeziehung Deutschlands in die europäische Nachkriegsordnung zu begründen, griff sie auf das Konzept der Kulturnation zurück. Durch die Betonung einer „menschheitlichen“ Kultur Deutschlands legitimierte sie einerseits ihre Forderung nach einer gleichberechtigten Einbeziehung, andererseits wurde Deutschland in dieser Argumentation aber auch von einem Großteil seiner Verantwortung an den politischen Entwicklungen und an dem Zweiten Weltkrieg entlastet. Denn Siemsen trennte auf diese Weise Regierung und Bevölkerung, die sie als die eigentlichen Träger dieser Kulturnation betrachtete. Diese Entlastung Deutschlands passte gut in ihre Ordnungsvorstellungen, hatte sie somit doch einen Grund, an die Erziehbarkeit der Deutschen zu glauben. Siemsen übertrug nicht allein NationsKonzepte auf ihre Europa-Vorstellungen, sondern belegte einzelne Länder mit spezifischen politischen Werten, denen sie aus diesem Grund eine tragende Rolle in ihren Europa-Konzepten beimaß.

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Zu Beginn der 1930er Jahre stellte Deutschland für Siemsen ein Europa im Kleinen dar. Sie setzte die staatliche Organisation Europas mit der politischen Situation Deutschlands gleich und hob auf diese Weise die Dringlichkeit sozialistischer Reformen in Deutschland hervor. Deutschland spielte auch aufgrund seiner geopolitischen Lage eine wichtige Rolle in Europa, weil Siemsen ihm eine Vermittlungsbzw. Leitungsfunktion zwischen dem Westen und dem Osten zusprach. Durch seine „europäische“ Kultur wurde Deutschland eine ähnlich hegemoniale Position in Europa zugeschrieben wie zuvor Europa innerhalb des Weltgefüges. Frankreich symbolisierte für Siemsen ebenfalls spezifisch europäische Werte, weshalb sie glaubte, dass Frankreich zusammen mit Deutschland das Herz Europas sei. Es waren vor allem die Werte der Französischen Revolution, die sie mit Frankreich verband. Dass die politische Organisation Frankreichs aber starke zentralistische Strukturmerkmale aufwies, die Siemsens Ordnungsvorstellungen eigentlich widersprachen, wurde nicht thematisiert. Ein weiteres europäisches Land, dem Siemsen Aufmerksamkeit schenkte, war Spanien. Spanien verkörperte für sie die „europäische Demokratie“, die durch die faschistischen Regierungen in Europa in Gefahr geraten sei. Am Beispiel von Spanien wurde in besonderer Weise deutlich, wie Siemsen die Auseinandersetzung mit vermeintlich nationalen Eigenschaften nutzte, um für die eigenen Ordnungsvorstellungen zu werben. Es standen in der Regel nur jene Länder im Mittelpunkt ihrer Ausführungen, zu denen sie eine persönliche Bindung hatte, oder jene, in denen politische Ereignisse oder Entwicklungen stattfanden, die ihren eigenen Ordnungsvorstellungen zuwiderliefen. So manche europäischen Länder erwähnte Siemsen kein einziges Mal. Ähnlich wie Europa selbst, wurden die genannten europäischen Länder mit politischen Werten gleichgesetzt, die sie in Europa zu etablieren hoffte. Trotz der individuellen Motivationen und Ordnungsvorstellungen, die für den Entwurf von Europa-Konzepten zentral waren, können Siemsens europapolitische Ideen in übergreifender Perspektive als Teil dessen gelten, was die geschichtswissenschaftliche Forschung als „Ordnungsmuster und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert“ bezeichnet hat. Die Gemeinsamkeit der „europäischen Gesellschaften“ bestand darin, mit einem gesteigerten Entwurf neuer, zukunftsgerichteter Ordnungsmodelle auf die Herausforderungen der zunehmenden Modernisierung aller Lebensbereiche zu reagieren, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts spürbar geworden waren.9 Diese Zukunftsmodelle wurden dabei oft als „Alternativen“ zum Nationalstaat und dem ihm zugrundeliegenden „bürgerlich-liberale[n] Gesellschaftsmodell“ konzipiert, das in dem Maße seine Legitimationskraft einbüßte, je mehr die Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung zu einer Infragestellung tradierter Wahrnehmungen und einer Änderung tradierter Lebensformen führte. „Kapitalismuskritik und Liberalismusschelte“ gehörten ebenso wie „Utopie und Planung“ zu den Kennzeichen dieser neuen Ordnungsmodelle, die „Europas Geschichte im 20. Jahrhundert“ prägten.10 Siemsens Europa-Konzepte zeigen die Wirkmächtigkeit der Europa-Idee, die in der ersten Hälfte 9 Vgl. dazu die Ausführungen von Raphael: Ordnungsmuster, S. 9–20. 10 Ebd., S. 13.

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des 20. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Nachkriegszeit hinein so anschlussfähig wurde, dass über eine Auseinandersetzung mit dieser Idee auf die vielfältigen politischen und persönlichen Herausforderungen der zeitgenössischen Gegenwart reagiert werden konnte.

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 1. QUELLEN 1.1 Unveröffentlichte Quellen/Archive Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick (AAJB) Bestand PB Siemsen, Anna: Mappe 22: [Anna Siemsen: Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933, maschinenschriftliches Typoskript, ca. 1940. [Kopie]] Mappe 23: Briefe Mappe 36: [Tagebuch von Karl Eskuchen [Kopie]] Mappe 40 [Korrespondenz] Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg (FZH) Bestand: 11/M8: Mevius, AsL, Siemsen, A. Bestand 834–653: AsF Hamburg. Protokolle, Schriftwechsel, Veranstaltungen Archiv der sozialen Demokratie/Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn (AdsD) Nachlass Walter Auerbach II: Bestand 1/WAABII0065 (SPD allgemein/Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa (MSEUE) 1950–1956) Deutscher Rat der Europäischen Bewegung: Bestand A/a: Deutscher Rat, Ordner 4 (Grundsätzliches) Bestand B/c: Konferenzen, Ordner 446 (Konferenzen) Nachlass Heinrich Ritzel: Bestand 1/HRAB000219 (Allgemeine und persönliche Korrespondenz) Bestand 1/HRAB000363 (Europa-Union/Vortragsreihe „Das Problem der Freiheit“) Nachlass Anna Siemsen, 2 Mappen [unverzeichneter Bestand] Bundesarchiv Bern (BAR) Unterlagen der Schweizerischen Bundesanwaltschaft/Fremdenpolizei: Dossier E4320B, 1975/40, 10: Siemsen-Vollenweider, Anna Dossier E4320B, 1990/266, 457: Internationale Gesellschaft des Jugendaustausches/Anna-SiemsenGesellschaft Bundesarchiv Koblenz (BArch) Schriftverkehr über den Nachlass von Anna Siemsen: B 198/2823 (Nachlaß Siemsen, Anna) Nachlass Hermann Brill: N 1086/36a (2. Korrespondenz/2.1. Allgemeine Korrespondenz) N 1086/85b (3. Politische Tätigkeit/3.8. Europa- und Friedensbewegung) N 1086/370 (3. Politische Tätigkeit/3.7. SPD und Deutscher Bundestag)

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main Bestand EB 70/117: American Guild Bestand EB 54 b/7I, 1396: Teilnachlass W. A. Berendsohn Bestand EB 85/27 (IV.5): Teilnachlass Anna Steuerwald-Landmann Bestand M 107 Margo Wolf[f], EB 97/139 Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich (SozArch) Bestand IFFF: SozArch Ar 45 Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), Schweizer Zweig Dossier Ar 45.30.1. Verschiedenes 1933–1977: Mappe 2 (Ferien- und Wochenendkurse der IFFF) Nachlass Anna Siemsen: SozArch Ar 142 Siemsen, Anna (1882–1951) Dossier Ar 142.10.1. Biographisches Material: Korrespondenz Dossier Ar 142.20.1. Zeitschriftenartikel, Broschüren Dossier Ar 142.30.1. Literatur/Bildung Dossier Ar 142.30.2. Union deutscher Sozialisten in der Schweiz Dossier Ar 142.30.3. Schweizerische Arbeiterbildungszentrale, Bern (SABZ) Staatsarchiv Hamburg (StAHH) Personalakten von Anna Siemsen: Bestand 361–3 Schulwesen. Personalakten A515 Bestand 361–6 Hochschulwesen. Dozenten- und Personalakten I400 Bestand 361–6 Hochschulwesen. Dozenten- und Personalakten IV3041 Thüringisches Hauptstaatsarchiv, Weimar (ThHStAW) Personalakten von Anna Siemsen: Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26674 Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26675 Personalakten aus dem Bereich Volksbildung, Nr. 26676 Universitätsarchiv Jena (UAJ) Bestand BA, Nr. 931 [Rektor und Senat] Bestand BA, Nr. 932 [Rektor und Senat] Bestand D, Nr. 2738 [Personalakten] Bestand M, Nr. 630/1 [Philosophische Fakultät] Bestand M, Nr. 633 [Philosophische Fakultät]

1. Quellen

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1.2 Gedruckte Quellen 1.2.1 Publikationen von Anna Siemsen1 Siemsen, Anna: Das nachklassische Drama im deutschen Unterricht der Lyzeen und Studienanstalten, in: Frauenbildung. Zeitschrift für die gesamten Interessen des weiblichen Unterrichtswesens 10 (1911), S. 415–422. Siemsen, Anna: Das Deutsche in den wissenschaftlichen Übungen des S-Jahres, in: Frauenbildung. Zeitschrift für die gesamten Interessen des weiblichen Unterrichtswesens 13 (1914), S. 488–492. Mark, Friedrich: Lettres Intimes, in: Zeit-Echo 2 (1915/1916), Heft 3, S. 41. Mark, F.[riedrich]: Franz Werfel, Die Troerinnen des Euripides, in: Zeit-Echo 2 (1915/1916), Heft 3, S. 45–46. Mark, Friedrich: Apologie, in: Zeit-Echo 2 (1915/1916), Heft 4, S. 60–61. Mark, F.[riedrich]: Der deutsche Student im Felde und Walter Heymann, Kriegsgedichte und Feldpostbriefe, in: Zeit-Echo 2 (1915/1916), Heft 4, S. 63–64. Mark, Friedrich: Bei Gelegenheit von Dostojewskis Jüngling, in: Zeit-Echo 2 (1915/1916), Heft 10, S. 153–154. M[ark], F.[riedrich]: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist, München und Berlin 1916, in: Zeit-Echo 2 (1915/1916), Heft 11, S. 170–173. Mark, Friedrich: Der Gegner, in: Zeit-Echo 3 (1917), Heft 1/2, S. 26–27. Siemsen, Anna: Die Aufgaben der Erziehungswissenschaft und ihre Gefahren, in: Die Tat 9 (1917/1918), Heft 7, S. 651–653. Siemsen, Anna: Tolstois Tagebuch, in: Die Tat 10 (1918/1919), Heft 5, S. 369–372. Siemsen, Anna: Pflichtreue oder Disziplin, in: Die Tat 10 (1918/1919), Heft 6, S. 472–474. Siemsen, Anna: Der neue Tag, in: Die Tat 10 (1918/1919), Heft 10, S. 788–790. Siemsen, Anna: Der Gott der Arbeit, in: Die Tat 11 (1919/1920), Heft 4, S. 252–257. Siemsen, Anna: An die Frauen!, in: Das Forum 3 (1919), Heft 10, S. 820–824. Siemsen, Anna: Was ist zu tun?, in: Der Föhn. Eine Halbmonatsschrift 1 (1919), Heft 13, S. 1–3. Siemsen, Anna: Reformgefahren, in: Die neue Erziehung. Monatsschrift für entschiedene Schulreform und freiheitliche Schulpolitik 1 (1919), Heft 7, S. 241–244. Siemsen, Anna: Die politische Tätigkeit der Lehrer und der neue Ministerialerlass, in: Die neue Erziehung. Monatsschrift für entschiedene Schulreform und freiheitliche Schulpolitik 1 (1919), Heft 22, S. 726–728. Siemsen, Anna: Die Suggestion der Gewalt, in: Die weißen Blätter 6 (1919), Heft 9, S. 415–421. Siemsen, Anna: Walt Whitman, in: Freie Jugend. Sozialistische Jugendzeitschrift 1 (1919), Heft 1, S. 11–13. Siemsen, Anna: Der mißbrauchte Fichte, in: Völker-Friede. Organ der Deutschen Friedensgesellschaft 19 (1919), Heft 1, S. 3–4. Siemsen, Anna: Die gemeinsame Erziehung der Geschlechter, in: Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Berlin (Hg.): Die deutsche Schulreform. Ein Handbuch für die Reichsschulkonferenz, Leipzig 1920, S. 195–201. Siemsen, Anna: Die Reichsschulkonferenz, in: Die Frau im Staat. Eine Monatsschrift 2 (1920), Heft 7/8, S. 10–12. Siemsen, Anna: Russische Menschen, in: Der Sozialist. Sozialistische Auslandspolitik. Unabhängige sozialdemokratische Wochenschrift 6 (1920), S. 437–440. 1

Die folgende Auflistung enthält nur die in der vorliegenden Arbeit zitierten Publikationen. Eine umfangreiche, vorläufige Biobibliographie von Siemsen hat Alexandra Bauer erstellt: Bauer: Das Leben der Sozialistin, S. 305–349. Die zitierten Publikationen von Siemsen sind in der vorliegenden Auflistung chronologisch sortiert und innerhalb eines gleichen Jahres alphabetisch nach Zeitschriftentiteln (bei mehreren Aufsätzen) bzw. bei Einzeltiteln nach Titelanfängen geordnet.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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1. Quellen

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1.2.2 Weitere gedruckte Quellen Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände (Hg.): Geschichtsunterricht in unserer Zeit. Grundfragen und Methoden, Braunschweig 1951. Bauer, Hans: Von der schweizerischen zur europäischen Eidgenossenschaft, in: ders. und H.[einrich] G.[eorg] Ritzel: Von der eidgenössischen zur europäischen Foederation, Zürich und New York o. J. [1940], S. 15–74. Bauer, Hans und H.[einrich] G.[eorg] Ritzel: Kampf um Europa. Von der Schweiz aus gesehen, Zürich und New York o. J. [1945]. Bergengruen, Werner: Baedeker des Herzens. Ein Reiseverführer, Berlin 1932. Bibliographische Abteilung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig [Bearbeitung]: Deutsches Bücherverzeichnis, eine Zusammenstellung der im deutschen Buchhandel erschienenen Bücher, Zeitschriften und Landkarten, 15. Band: Stich- und Schlagwortregister 1926–1930, Leipzig 1932. Biging, Curt: Rezension zu Anna Siemsen: Daheim in Europa, in: Bücherwarte. Zeitschrift für sozialistische Buchkritik 3 (1928), Heft 11, S. 346. Braudel, Fernand: La méditerranée et la monde méditerranéen à l’époque de Phillip II., 2 Bände, Paris 1949. Brugmans, Henry: Erziehung zum Europäer, in: Frankfurter Hefte 5 (1950), Heft 8, S. 801–803. Cornides, Wilhelm: Die Anfänge des europäischen föderalistischen Gedankens in Deutschland 1945–1949. Ein historisch-politischer Bericht, in: Europa-Archiv 6 (1951), 2. Halbjahr, Heft 6, S. 4243–4258. Corti, Walter Robert: Der Weg zum Kinderdorf Pestalozzi, Zürich 1955. Coudenhove-Kalergi, Richard N.: Pan-Europa, Wien 1923. Dabcovich, Elena: Rezension zu Anna Siemsen: Literarische Streifzüge, in: Die neueren Sprachen. Zeitschrift für Forschung und Unterricht auf dem Fachgebiet der modernen Fremdsprachen 34 (1926), Heft 4, S. 320–321. Europa (Erdteil), in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon, Bd. 6, 13. Aufl. Leipzig 1883, S. 432–444. Europäisierung der Erde, in: Der große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, Bd. 5, 15. Aufl. Leipzig 1930, S. 749–750. Fabian, Dora: Rezension zu Anna Siemsen: Kämpfende Menschheit, in: Bücherwarte. Zeitschrift für sozialistische Buchkritik 4 (1929), Heft 3, S. 43. Faßbinder, Klara M.: Rezension zu Anna Siemsen: Daheim in Europa, in: Literarischer Handweiser. Kritische Monatsschrift 65 (1928/1929), Heft 10, Sp. 769. Grisar, Erich: Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa. Bilder und Berichte von Erich Grisar, Berlin 1932. Gumbel, Emil Julius: Zwei Jahre Mord, Berlin 1921. Gumbel, Emil Julius: Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922. Gumbel, Emil Julius: „Lasst Köpfe rollen“. Faschistische Morde 1924–1931, Berlin o. J. [1931].

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1. Quellen

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2

Hier sind nur Internetseiten gelistet, die biographische Hinweise oder weiterführende Informationen zu einem Thema enthalten. Online publizierte Forschungsliteratur in Form von Monographien oder Aufsätzen wurde mit den entsprechenden Verweisen in der obigen Rubrik unter 2. Literatur aufgeführt.

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AAJB ADGB AdsD AsF AsL BAR BArch BESch BNV BRD DD DDP DDR DGB DLfM DFG DFV DNVP DP DStP DVP EB EGKS EPA ERP EU EU EUS FDP FZH Gestapo HZ IFFF IICI IJGD ILP ISK Komintern KPD

Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Archiv der sozialen Demokratie/Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer Bundesarchiv Bern Bundesarchiv Koblenz Bund Entschiedener Schulreformer Bund Neues Vaterland Bundesrepublik Deutschland Das Demokratische Deutschland Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Liga für Menschenrechte Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsche Friedensgesellschaft Deutscher Freidenker Verband Deutschnationale Volkspartei Displaced Person Deutsche Staatspartei Deutsche Volkspartei Europäische Bewegung Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäische Pädagogische Akademie European Recovery Program/Marshall-Plan Europa-Union Deutschland (Mitglied im Dachverband UEF) Europäische Union Europa-Union der Schweiz/Schweizer Europa-Union Freie Demokratische Partei Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg Geheime Staatspolizei Historische Zeitschrift Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit Institut International de Coopération Intellectuelle Internationaler Jugendgemeinschaftsdienst Independent Labour Party Internationaler Sozialistischer Kampfbund Kommunistische Internationale Kommunistische Partei Deutschlands

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Abkürzungsverzeichnis

KZ Konzentrationslager LECE Ligue Européenne de Coopération l’Europe unie MFE Movimento Federalista Europeo MSEUE Mouvement Socialiste pour les Etats-Unis d’Europe/Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa MSPD Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (bis 1922) NEI Nouvelles Equipes Internationales NFD Nationaler Frauendienst NKFD Nationalkomitee Freies Deutschland NSDAP Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands OEEC Organization for European Economic Cooperation OHL Oberste Heeresleitung PB Personalbibliographie RUP Rassemblement universel pour la Paix/Weltaktion für den Frieden SA Sturmabteilung SABZ Schweizerische Arbeiterbildungszentrale SAG Sozialistische Arbeitsgemeinschaft SAH Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAP(D) Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands SBZ Sowjetisch besetzte Zone SdP Sudetendeutsche Partei SozArch Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPS Sozialdemokratische Partei der Schweiz StAHH Staatsarchiv Hamburg ThHStAW Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar TOB Thüringer Ordnungsbund UAJ Universitätsarchiv Jena UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UEF Union Européenne des Fédéralistes/Union der europäischen Föderalisten UEM United Europe Movement UNESCO United Nations Educational, Scentific and Cultural Organization UNO United Nations Organization/Vereinte Nationen USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (bis 1922) VsL Verein sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen Deutschlands und Deutsch-Österreichs WILPF Women’s International League for Peace and Freedom WKKF Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus

PERSONENREGISTER A Adenauer, Konrad  329, 386 Adler, Max  124, 151 Arndt, Ernst Moritz  311 Auerbach, Walter  33, 389 Augspurg, Anita  14, 42, 70, 71, 222, 282 B Bäumer, Gertrud  14, 42, 64, 402 Balzac, Honoré de  77, 126 Barbusse, Henri  237 Bartlett, Margaret  219, 220 Bauer, Hans  279, 280, 292 Baur, Valentin  325 Beneš, Edvard  264, 265 Bergengruen, Werner  177 Bernstein, Eduard  123, 138 Bertholet, Hanna  325 Bloch, Joseph  102, 103, 141, 163, 400, 404 Blum, Leon  236, 253 Bluntschli, Johann Caspar  243 Bögler, Franz  325 Bosch, Robert  141 Braudel, Fernand  301 Braun, Otto  200, 282, 298, 323, 324 Briand, Aristide  24, 134, 135, 141, 184 Brill, Hermann Louis  33, 111, 374, 389, 390 Brüning, Heinrich  161 Brugmans, Henry  366, 368, 369, 388 Bülow, Bernhard von  198 Buttner, Adolf  219, 220 C Cecil, Robert  239 Cervantes, Miguel de  53, 315 Chamberlain, Neville  257, 258 Chesterton, Gilbert Keith  73, 75 Churchill, Winston  368, 372, 373, 383, 385, 406 Clauß, Ludwig Ferdinand  173 Cohen, Max  138 Cornides, Wilhelm  387 Corti, Walter Robert  365 Coudenhove-Kalergi, Nikolaus  26, 103, 135, 137, 141, 142, 153, 154, 243, 279, 282 Cot, Pierre  239

Crispien, Arthur  325 Curtius, Julius  198 D Diederichs, Eugen  78, 79 Döblin, Alfred  126, 136 Dostojewski, Fjodor  73, 76, 77, 85, 86, 130 E Ebert, Friedrich  159 Engels, Friedrich  95 Erdmann, August  67 Eskuchen, Karl  32, 331, 341 Eskuchen, Paula (geb. Siemsen)  32, 51, 54, 341, 342, 363, 369, 371, 385 Essig, Olga  111 F Fäh, Lea  222 Fichte, Johann Gottlieb  81–83, 90, 147, 311 Fourier, Charles  94 Franco, Francisco  246, 248, 249, 252, 253 Fredenhagen, Hedda  222, 265 Frick, Wilhelm  201 Fried, Alfred Hermann  68 Friedrich II., preußischer König („Friedrich der Große“) 231 Friedrich Wilhelm III., preußischer König  115 Frobenius, Else  13 Frölich, August  110 G Goethe, Johann Wolfgang von  130, 316, 337, 349 Greil, Max  110, 111 Gorki, Maxim  85, 126 Gogol, Nikolai  85 Graul, Hermann  325 Grisar, Erich  177 Gumbel, Emil Julius  202 H Häberlin, Heinrich  214 Haenisch, Konrad  105, 107 Hamsun, Knut  126, 136 Hartmann von Aue  57

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Personenregister

Hartoch, Anna  218 Heile, Wilhelm  370, 371 Heine, Heinrich  132, 136, 170, 171, 185, 186 Hemingway, Ernest  246 Herder, Johann Gottfried  58, 313, 316 Hermes, Wilhelm  371, 372 Herzog, Wilhelm  69, 70 Heymann, Lida Gustava  42, 70, 71, 222 Hiller, Kurt  72, 142 Hilty, Carl  216 Hindenburg, Paul von  159, 160, 200, 203 Hitler, Adolf  150, 151, 155, 159, 162, 201, 203, 207, 210, 217, 227, 229–231, 233, 245, 250, 252, 253, 256–258, 261, 272, 274, 299, 348, 349 Hoegner, Wilhelm  323–325, 330, 341 Horthy, Miklós  194 Huebner, Friedrich Markus  74 Hugo, Victor  136 Humboldt, Wilhelm von  308 I Ibsen, Henrik  62, 132 J Jászi, Oszkár  276 Juchacz, Marie  237 K Kägi-Fuchsmann, Regina  222, 246 Kanitz, Otto Felix  124 Kant, Immanuel  81, 82, 130, 147 Karl der Große  191, 311 Karl der Kühne  191 Kautsky, Karl  123, 137 Kawerau, Siegfried  111, 127 Keil, Wilhelm  384, 386 Kemnitz-Ludendorff, Mathilde  14 Key, Ellen  63 Kierski, Hans  363, 364 Kindt-Kiefer, Jakob  323 Kogon, Eugen  372, 374 Korolenko, Wladimir  131, 132, 136 Kropotkin, Pjotr  132 Küster, Fritz (Friedrich)  299 L Landahl, Heinrich  341, 343–348, 350, 358 Landshut, Siegfried  339 Lange, Helene  14, 42, 55, 56, 64, 293 Lessing, Gotthold Ephraim  126, 129, 134, 316, 337

Löbe, Paul  374 Löwenstein, Kurt  95, 106 Löwenstein-Wertheim-Freudenberg, Hubertus zu  223, 224 London, Jack  126, 127, 132, 136 Luise, preußische Königin (Ehefrau Friedrich Wilhelms III.)  114, 115 M Mann, Heinrich  72, 236, 239, 246 Mann, Thomas  224, 246 Marc, Alexandre  369, 370, 375, 376, 389 Marshall, George C.  351 Marx, Karl  67, 95, 96, 137, 158 Masaryk, Tomáš  141 Mayrisch, Émile 135 Mazzini, Giuseppe  154 Mehring, Franz  126 Meinecke, Friedrich  320 Michaelis, Caroline  127 Michaelis, Karin  282 Möser, Justus  129 Monnet, Jean  192 Montessori, Maria  63 Morgenthau, Henry jr.  328 Müller, Hermann  160 Münzenberg, Willi  236, 261, 271 Mussolini, Benito  152–155, 172, 173, 229, 252, 257, 273, 405 N Naumann, Friedrich  64, 274, 275, 370 Neruda, Jan  183 Neuenkirch, Gerhard  389 Nietzsche, Friedrich  38, 39, 70, 75, 142 O Oestreich, Paul  68, 88, 90, 91, 95, 101 Orwell, George  246 Ossietzky, Carl von  71 Owen, Robert  94 P Papen, Franz von  200 Paquet, Alfons  87, 191, 192 Pestalozzi, Johann Heinrich  167, 365 Petzold, Alfred  325 Philippe, Charles Louis  136 Primo de Rivera, Miguel  247 Proudhon, Pierre-Joseph  375

Personenregister R Ragaz, Leonhard  222, 240 Ragaz-Nadig, Clara  222, 238, 240 Ranke, Leopold von  305 Ritzel, Heinrich Georg  33, 222, 280–283, 292, 320, 322–325, 368, 370, 371, 399, 400 Rohan, Karl Anton  135 Rolland, Romain  132, 136 Rosenfeld, Kurt  161 Rothmund, Heinrich  214 Rothschild, Louis  141 Rousseau, Jean-Jacques  94 S Sandys, Duncan  373 Scheidemann, Philipp  40 Schiller, Friedrich  61, 182, 316, 337 Schleicher, Kurt von  160 Schmid, Carl Alfred  214 Schmid, Carlo  372, 384 Schmidt, Hedwig  342, 363 Schreiber-Krieger, Adele  282 Schumacher, Kurt  382–385, 388 Schuman, Robert  391 Seydewitz, Max  161 Shakespeare, William  53, 77, 126, 315 Shaw, George Bernhard  132 Siemsen, Anna (Mutter)  51, 52, 59, 167 Siemsen, August (Bruder)  31–33, 51–55, 57, 64, 65, 108, 109, 111, 125, 218–223, 230–232, 246, 261, 299 Siemsen, August (Vater)  51, 52, 57, 59 Siemsen, Christa  218 Siemsen, Hans (Johannes)  51, 71, 73, 152, 195, 218–222, 261 Siemsen, Karl  51 Siemsen, Pieter  231 Spengler, Charlotte  219 Spengler, Oswald  302 Spinelli, Altiero  370

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Stampfer, Friedrich  208 Stendhal  73, 77 Stöcker, Helene  239 Stresemann, Gustav  24, 99, 135, 159, 160, 198 Suttner, Bertha von  68 T Tacitus, Publius Cornelius  310 Taro, Gerda  246 Tönnies, Ferdinand  48, 49 Tolstoi, Leo  85, 86, 131 Tucholsky, Kurt  71, 184 Turgenjew, Iwan  85 V Vaerting, Mathilde  15, 112 Vansittart, Robert Gilbert  300 Viénot, Pierre  135 Vollenweider, Walter  210, 222, 223 W Wachenheim, Hedwig  51 Wagner, Helmut  219 Walther von der Vogelweide  58 Warburg, Max  141 Weil, Simone  246 Werfel, Franz  73, 77 Whitman, Walt  130, 131, 136, 148, 158 Wilhelm II., deutscher Kaiser  40, 49 Wilmanns, Wilhelm  57, 58, 302 Winckelmann, Johann Joachim  308 Wirth, Joseph  323, 324 Woker, Gertrud  240 Wolff, Margo  222, 357 Wolfstein-Frölich, Rosi  237 Wrangell, Margarethe von  15 Z Zelck, Max  363 Zola, Emile  126

studien zur modernen geschichte

Herausgegeben von Gabriele Clemens, Markus Friedrich, Frank Golczewski, Ulrich Mücke, Angelika Schaser, Claudia Schnurmann und Jürgen Zimmerer.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0178–8310

49. Silke Hensel 56. Barbara Dufner Die Entstehung des Föderalismus in Den Himmel fest im Blick Mexiko Eine wissenschaftliche Biographie über Die politische Elite Oaxacas zwischen den Astro-Optiker Bernhard Schmidt Stadt, Region und Staat, 1786–1835 2002. 339 S., kt. 1997. 493 S., kt. ISBN 978-3-515-08097-2 ISBN 978-3-515-06943-4 57. Claudia Becker-Döring 50. Ulrich Mücke Die Außenbeziehungen der Europä Der Partido Civil in Peru, 1871–1879 ischen Gemeinschaft für Kohle und Zur Geschichte politischer Parteien und Stahl von 1952–1960: Die Anfänge einer Repräsentation in Lateinamerika europäischen Außenpolitik? 1998. 384 S., kt. Die Beziehungen der Hohen Behörde ISBN 978-3-515-07240-3 zu Drittstaaten unter besonderer Berück­ 51. Christian-Georg Schuppe sichtigung Großbritanniens Der andere Droysen 2003. 387 S., kt. Neue Aspekte seiner Theorie ISBN 978-3-515-08319-5 der Geschichtswissenschaft 58. Enrique Otte 1998. 109 S., kt. Von Bankiers und Kauf­leuten, Räten, ISBN 978-3-515-07391-2 Reedern und Piraten, Hintermännern 52. Olaf Stieglitz und Strohmännern 100 Percent American Boys Aufsätze zur atlantischen Expansion Disziplinierungsdiskurse und Ideologie im Spaniens. Civilian Conservation Corps, 1933–1942 Hg. v. Günter Vollmer und 1999. 251 S., kt. Horst Pietschmann ISBN 978-3-515-07403-2 2004. 338 S. mit 7 Abb., kt. 53. Torsten Szobries ISBB 978-3-515-07889-4 Sprachliche Aspekte des nation-building 59. Jens Meyer-Aurich in Mazedonien Wahlen, Parlamente und Elitenkonflikte: Die kommunistische Presse Die Entstehung der ersten politischen in Vardar-Mazedonien (1940–1943) Parteien in Paraguay, 1869–1904 1999. 251 S., kt. Ein Beitrag zur Geschichte politischer ISBN 978-3-515-07622-7 Organisation in Lateinamerika 54. Peer Schmidt 2006. 367 S., kt. Spanische Universalmonarchie oder ISBN 978-3-515-08838-1 „teutsche Libertet“ 60. Arnd Herrmann Das spanische Imperium in der Propaganda Kriseninstrument WEU des Dreißigjährigen Krieges Die Westeuropäische Union (WEU) 2001. 529 S., geb. in der EG-Erweiterungskrise 1963–1970 ISBN 978-3-515-07833-7 2015. 257 S., kt. 55. Ursula Heimann ISBN 978-3-515-10995-6 Liberalismus, ethni­sche Vielfalt 61. Valentin Katzer und Nation « L’Algérie, c’est la France » Zum Wandel des Indio-Begriffs Die französische Nordafrikapolitik zwiin der liberalen Presse in Mexiko, 1821–1876 schen Anspruch und Realität (1946–1962) 2002. 285 S., kt. 2016. 429 S. mit 2 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07769-9 ISBN 978-3-515-11353-3

Was ist Europa? Die Fragen nach Europas Werten, seiner Kultur und seiner institutionellen Ausgestaltung prägen nicht nur die aktuellen Debatten, sondern haben bereits eine längere Tradition. Die Diskussionen waren dabei so unterschiedlich wie die Personen und Gruppen, die daran beteiligt waren. Am Beispiel der Politikerin und Reformpädagogin Anna Siemsen (1882–1951) untersucht Marleen von Bargen, mit welch vielfältigen Bedeutungszuschreibungen Europa belegt werden konnte. Denn Siemsens Europa-Vorstellungen waren zentral für ihr publizistisches sowie ihr prak-

ISBN 978-3-515-11516-2

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tisches politisches Engagement, mit dem sie eine neue Politik- und Gesellschaftsordnung begründen wollte. Entlang der Biographie Siemsens erstreckt sich der Untersuchungszeitraum über verschiedene politische Systeme, von Kaiserreich und Weimarer Republik über das Schweizer Exil bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik. Auf diese Weise kann die Autorin zeigen, welche Bedeutung der biographischen Dimension für den Entwurf von Europa-Konzepten zukommt. So wird deutlich, wie Europa vor allem durch individuelle Wert- und Ordnungsvorstellungen an Gestalt gewinnt.

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