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German Pages 269 [272] Year 2012
Corinna Mieth Positive Pflichten
Ideen & Argumente
Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
Corinna Mieth
Positive Pflichten
Über das Verhältnis von Hilfe und Gerechtigkeit in Bezug auf das Weltarmutsproblem
isbn 978-3-11-025564-5 e-isbn 978-3-11-025565-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
IX
Einleitung 1 Die Supererogationsthese 3 Die Prioritätsthese 4 Probleme mit der Analogiethese
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Erster Teil: Die Wohltätigkeitsthese: Einige Schwierigkeiten mit positiven Pflichten
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1 Die Supererogationsthese 11 1.1 Supererogation: Der negative Aspekt 11 1.2 Drei Gruppen von Gegenbeispielen 15 1.3 Supererogation: Der positive Aspekt 22 1.4 Handlungssupererogation und Akteurssupererogation 29 1.5 Die gütertheoretische Bestimmung der zwei Supererogationsgrenzen 34 1.6 Die Samaritersituation als Modell für Hilfspflichten 47 1.7 Fünf Kriterien für Hilfspflichten 50 1.8 Erwartungssupererogationsgrenzen und objektive Supererogationsgrenzen 53 1.9 Supererogatorische Handlungen und Pflichten 56 1.10 Fazit des ersten Kapitels 60 2 Die Prioritätsthese 62 2.1 Zunehmende Heteronomie als Grund für die normative Schwäche allgemeiner Wohltätigkeitspflichten 2.2 Kantische Tugendpflichten als Alternative zur Supererogation 69 2.3 Vollkommene und unvollkommene Pflichten im Kantischen Modell 73 2.4 Rechtspflichten und Tugendpflichten im Kantischen Modell 81 2.5 Zur Unterscheidung von Nothilfe und allgemeiner Beförderung fremder Glückseligkeit 89 2.6 Vier Unterscheidungsmöglichkeiten von positiven und negativen Pflichten 95 2.6.1 Die handlungstheoretische Unterscheidung 95
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VI
2.6.2 2.6.3 2.6.3.1 2.6.3.2 2.6.4 2.7 2.7.1 2.7.2 2.8 2.8.1 2.8.2 2.8.3 2.9 2.9.1 2.9.2 2.10
Inhaltsverzeichnis
Die konsequentialistische Unterscheidung 99 Die normative Unterscheidung 101 Kann man durch Unterlassen wohltun? 105 Kann man durch Unterlassen schädigen? 106 Die gütertheoretische Unterscheidung 110 Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten 113 Drei Arten von positiven Pflichten 115 Nothilfe als positive Gerechtigkeitspflicht? 120 Einwände gegen ein Recht auf Nothilfe 128 Der Einwand der Manifest-Rechte 1: Unterbestimmtheit 130 Der Einwand der Manifest-Rechte 2: Überforderung 136 Der Bedürftigkeitseinwand 141 Formulierung des Hilfsprinzips 148 Die Achtung vor dem anderen als moralfähigem Wesen als Grundlage positiver und negativer Pflichten 148 Das Hilfsprinzip 151 Fazit des zweiten Kapitels 157
Zweiter Teil: Positive Pflichten in Bezug auf das Weltarmutsproblem 3 Einwände gegen die Analogiethese 165 3.1 Der Zuständigkeitseinwand 168 3.1.1 Mitbürger und Fremde 174 3.1.2 Nähe und Distanz 183 3.1.3 Bestimmtheit und Unbestimmtheit 189 3.2 Die Zurechenbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung 3.3 Der Zumutbarkeitseinwand 195 3.4 Die Zulässigkeit der Hilfeleistung 205 3.4.1 Negative Effekte der Hilfe 206 3.4.1.1 Demütigung 206 3.4.1.2 Die Wohltätigkeitsgesellschaft 209 3.4.1.3 Die Wohlfahrtsgesellschaft 210 3.4.2 Einwände gegen das Robin-Hood-Prinzip (negative Rechte Dritter) 211 3.5 Zur Aussicht auf Erfolg 219 3.5.1 Das Vergeblichkeitsargument 219 3.5.2 Ineffizienz der Hilfe 220 3.6 Der Einwand der Verschiedenheit der Art der Notlage 222 3.6.1 Verschiedene Ursachen der Notlagen 224
192
161
Inhaltsverzeichnis
3.6.2 Unvermeidbarkeit vs. Vermeidbarkeit 231 3.6.2.1 Vermeidbarkeit und Unvermeidbarkeit beim Zustandekommen der Notlage 233 3.6.2.2 Vermeidbarkeit und Unvermeidbarkeit bei der Behebung der Notlage 234 3.7 Vier Hilfsmodelle: Fürsorge, Nothilfe, Wohltätigkeit, Solidarität 3.8 Fazit des dritten Kapitels 239 4
Schlussbemerkung
Literatur
247
Begriffsregister
257
243
VII
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Vorwort Die Ideen zu diesem Buch haben sich in meiner Bonner Assistentenzeit bei Christoph Horn seit 2001 herauskristallisiert. Ich hatte mich zuvor in Tübingen mit globaler Gerechtigkeit auseinandergesetzt und wollte zunächst darüber arbeiten. Meine Ausgangsfrage war, wie eine gerechte Weltwirtschaftsordnung institutionell organisiert wäre und wie sie implementiert werden könnte. Die Anschlussfrage, ob es sozialen Menschenrechten entsprechende starke positive Pflichten gibt, brachte mich auf die Beschäftigung mit dem generellen normativen Status positiver Pflichten. Die Forschungsdiskussion, ob zwischen der Hilfspflicht gegenüber einem ertrinkenden Kind und gegenüber den von Armut Betroffenen eine Analogie besteht, wurde schließlich zum Ausgangspunkt dieses Buches. Dabei bin ich besonders Jacob Rosenthal, Nadine Köhne, Magda Hoffmann, Simon Weber und Susanne Schmetkamp sehr dankbar für die zahlreichen Diskussionen, die meine Arbeit jahrelang begleitet haben. Die Idee, zwischen verschiedenen Arten von positiven Pflichten zu unterscheiden, habe ich erstmals auf dem Kongress der GAP in Bielefeld 2004 vorgestellt. Daran schloss die Idee an, positive Pflichten, ihre Struktur und ihren normativen Status, ihre „Stärke“ oder „Schwäche“ zum zentralen Thema meiner Habilitationsschrift zu machen. Dazu, insbesondere zu klassischen Konzeptionen von positiven Pflichten bei Aristoteles, Thomas von Aquin, Adam Smith, Hume und Kant, habe ich Lehrveranstaltungen in Bonn, Hildesheim, Darmstadt, Zürich und Bochum abgehalten und meine Thesen auf Vortragsreisen und bei Workshops zur Diskussion gestellt. 2006 habe ich in Oxford auf dem Kongress der Societas Ethica einen ersten Systematisierungsversuch positiver und negativer Pflichten entwickelt. Ein Teil dieser Idee findet sich in dem Aufsatz „World Poverty as a Problem of Justice? A Critical Comparison of Three Approaches“, in Ethical Theory and Moral Practice 11/1 (2008), 15–37. Von 2007 bis 2008 hatte ich ein Research-Fellowship am Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover. Unter idealen Arbeitsbedingungen habe ich dort große Teile dieses Buches geschrieben. Ich danke Gerhard Kruip, Detlef Horster, Paul Hoyingen-Hüne und Kirsten Meyer, die mir in dieser Zeit verlässliche Gesprächspartner waren. Dabei gab es die Gelegenheit, meine Forschungsergebnisse auf zwei internationalen Workshops zu diskutieren. Im Anschluss daran habe ich in Darmstadt im Rahmen des Exzellenzclusters „normative orders“ eine Forschungsprofessur vertreten. Ich danke insbesondere Gabriel Wollner, Regina Kreide und Peter Niesen für ihre Unterstützung in dieser Phase meiner Entwicklung. Im Frühsommer 2009 hatte ich ein Corti-Fellowship am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Dort konnte ich meine Thesen abermals zur Diskussion stellen und das Manuskript anschließend an der Universität Bonn als Habilita-
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Vorwort
tionsschrift einreichen. Für die uneingeschränkte Unterstützung in meiner Züricher Zeit danke ich Barbara Bleisch, Peter Schaber und besonders meiner Freundin und großartigen Gesprächspartnerin Anna Goppel. Georg Lohmann, Christoph Horn, Detlef Horster, Dieter Sturma und Hans-Joachim Pieper danke ich für die Erstellung der Gutachten zu meiner Habilitationsschrift. Das Verfahren wurde im Februar 2010 erfolgreich abgeschlossen. In dieser zweiten Bonner Zeit war mir meine Kollegin Anna Schriefl eine unersetzliche Gesprächspartnerin, die wesentlich zu meiner Freude an der Philosophie und neuen Themen, die ich seither entdeckt habe, beigetragen hat. Seit April 2010 leite ich den Lehrstuhl für Praktische Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Für die große Unterstützung bei der Endredaktion dieses Manuskripts möchte ich meinen MitarbeiterInnen, insbesondere Christian Neuhäuser, Daniel Saar, Claudia Blöser, Katharina Bauer, Christoph Bambauer und Ronald Kölpin danken. Sie haben das Manuskript immer wieder gelesen, von kleineren und größeren Irrtümern befreit und meine Thesen unermüdlich mit mir diskutiert. Ich danke ferner den beiden anonymen GutachterInnen der Reihe „Ideen und Argumente“, deren Hinweise sehr zur besseren Lesbarkeit des Textes beigetragen haben. Wilfried Hinsch, dem zuständigen Herausgeber der Reihe „Ideen und Argumente“, bin ich für mehrere Gespräche über die Kürzung des Manuskripts sehr dankbar. Gertrud Grünkorn danke ich nicht zuletzt für ihre Geduld mit der Endfassung des Manuskripts. Bochum im Mai 2012
Einleitung Dieses Buch verfolgt zwei Hauptziele: Zum einen soll eine plausible Konzeption positiver Pflichten aufgezeigt werden. Das zweite Hauptanliegen besteht darin, die Reichweite und Verbindlichkeit positiver Pflichten in Bezug auf das Problem der Weltarmut zu bestimmen. Methodisch werde ich so vorgehen, dass ich den Aufbau meiner Arbeit an möglichen Einwänden gegen Peter Singers Hilfskonzeption orientiere. Singer vertritt entgegen unserer alltäglichen Sicht des Weltarmutsproblems eine revisionäre Sichtweise. Nennen wir die herkömmliche Sicht die Wohltätigkeitsthese: Wir, die Bürger der reichen Staaten, sind mit dem Armutsproblem als potentielle Wohltäter verknüpft. Dabei wird Wohltätigkeit als freiwillige, supererogatorische Leistung oder als schwache, unvollkommene Pflicht interpretiert. Dagegen vertritt Peter Singer, ebenso wie Peter Unger, die Position, dass es starke positive Pflichten gegenüber Armen gibt. Zur Untermauerung seiner These führt Singer das viel diskutierte Teichbeispiel an: Das Teichbeispiel Jemand ist auf dem Weg zur Arbeit. Er sieht, dass ein Kind in den nahe gelegenen Teich gefallen ist und zu ertrinken droht. Unsere moralische Intuition gebietet, das Kind zu retten. Das Beispiel lässt sich wie folgt darstellen: (1) Der Tod des Kindes wäre schrecklich. (2) Jemand kann verhindern, dass das Kind stirbt. (3) Er muss nichts „von vergleichbarer moralischer Bedeutung“ opfern (eine Stunde Zeit und ein paar nasse Kleider gegen ein Menschenleben). (4) Er muss dem Kind helfen. Dabei folgt das Beispiel einem Schadensverhinderungsprinzip: „Wann immer es in unserer Macht steht, etwas Schreckliches zu verhindern, ohne dass etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung geopfert wird, sollten wir es tun“ (Singer 1984, 229). Dieses Prinzip wendet Singer nun auch auf sein zweites Beispiel, die von lebensbedrohlicher Armut Betroffenen, an. Und dies ist natürlich der Fall, auf den es ihm eigentlich ankommt.
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Einleitung
Das Armutsbeispiel Millionen Menschen sind täglich vom Tod durch armutsbedingte Ursachen bedroht. Ein Drittel aller Todesfälle (18 Millionen jährlich, 50 000 täglich) geht auf armutsbedingte Ursachen zurück. Durch bessere Nahrung, sauberes Wasser und medizinische Versorgung wäre ein Großteil dieser Todesfälle vermeidbar. Diese Menschen leben laut Singer in absoluter Armut. Wir aus den reichen Ländern könnten durch Spenden leicht verhindern, dass sie (oder zumindest einige von ihnen) sterben. Dieses Beispiel lässt sich wie folgt darstellen: (1‘) Der armutsbedingte Tod wäre schrecklich. (2‘) Jemand ist reich. Er kann verhindern, dass (einige) Menschen an armutsbedingten Krankheiten sterben. (3‘) Er muss nichts „von vergleichbarer moralischer Bedeutung“ opfern (Verzicht auf Luxusgüter gegen viele Menschenleben). (4‘) Er muss so viel spenden, wie er kann, ohne selbst bedürftig zu werden. Singer und Unger leiten aus der intuitiv plausiblen Pflicht zur Hilfe im Teichfall eine Hilfspflicht gegenüber den Armen ab (Analogiethese). Das führt zu der Forderung an jeden Einzelnen von uns, das Ausmaß an Armut auf unserer Welt zu reduzieren. Allerdings begreifen die meisten Kritiker diese Forderung als Überforderung. Wir könnten auch, etwas polemisch, von einer Überforderungskonsequenz der Analogiethese sprechen. Singer und Unger sehen das nicht so. Sie glauben, dass die Fälle analog funktionieren und wir, wenn wir in der Anwendung unserer moralischen Intuitionen nur konsequent wären, die Wohltätigkeitsthese revidieren müssten (Revisionsthese). Gegen diese Thesen kann man verschiedene Einwände vorbringen, die ich in den einzelnen Kapiteln dieser Studie untersuche. Will man die Überforderungskonsequenz vermeiden, kann man entweder behaupten, dass erstens schon im Teichfall keine strenge Hilfspflicht besteht oder dass zweitens die Fälle nicht analog funktionieren. Und wenn die Analogiethese nicht richtig ist, dann ist auch die Revisionsthese hinfällig. Ich werde im ersten Teil dieses Buches einige Haupteinwände gegen starke positive Pflichten diskutieren und dabei fünf Kriterien für Hilfspflichten herausarbeiten. Im zweiten Teil dieses Buches werde ich die Analogiethese überprüfen. Dabei wird sich zeigen, dass wir im Teichfall und im Armutsfall verschiedene Arten von positiven Pflichten haben, dass also auf die beiden Beispielfälle von Singer verschiedene Hilfsmodelle angewendet werden müssen. Die Analogiethese werde ich daher nur in modifizierter Form vertreten: Im Sinne von Singer werde ich dafür argumentieren, dass es in beiden Fällen positive Pflichten gibt; doch anders als Singer meine ich, dass diese Pflichten unterschiedlicher Art sind.
Die Supererogationsthese
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Die Supererogationsthese Wer bestreiten möchte, dass wir starke positive Pflichten haben, vertritt oft eine These, die ich hier die Supererogationsthese nenne. Damit ist gemeint, dass positive Pflichten, wenn es sie überhaupt gibt, nicht besonders ernst zu nehmen sind. Wir begehen weder einen gravierenden moralischen Fehler, wenn wir ihnen nicht nachkommen, noch schulden wir anderen ihre Befolgung. Dabei können wir zwei Haupteinwände gegen positive Pflichten unterscheiden. Den ersten Einwand gegen eine starke Hilfspflicht im Teichfall bezeichne ich als den Supererogationseinwand (Kapitel 1). Der Supererogationseinwand behauptet, dass wohltätige Leistungen als Leistungen, die die Lage anderer verbessern, generell kein Gegenstand von Pflicht sind. Dieser Einwand ist nicht so kontraintuitiv, wie er klingt, da etwa das englische Common Law und die Rechtsprechung der meisten Bundesstaaten der USA sowie Australiens den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung nicht kennen. Den zweiten Einwand nenne ich den Prioritätseinwand (Kapitel 2). Er geht davon aus, dass es zwar positive Pflichten gibt, dass diese aber generell schwächer sind als negative Pflichten. Meine These ist, dass sowohl der Bereich der Supererogation als auch der Bereich der positiven moralischen Pflichten ausdifferenziert werden kann und muss. In den ersten beiden Kapiteln der Arbeit wird eine entsprechende Ausdifferenzierung vorgenommen. Dabei werden insbesondere individuelle Nothilfepflichten von supererogatorischen Leistungen einerseits und von allgemeinen Wohltätigkeitspflichten andererseits unterschieden. Im ersten Kapitel soll gezeigt werden, dass Nothilfepflichten in klassischen Samaritersituationen wie Singers Teichbeispiel starke positive Pflichten sind, genau wie Singer behauptet. Die Erklärung, die sich dafür angeben lässt, ist folgende: Sie unterscheiden sich erstens auf der Grundlage einer güterbasierten Trennlinie von supererogatorischen Handlungen, die das Wohlergehen anderer nur geringfügig steigern und deswegen nicht geboten werden können, weil sie zu unbedeutend sind (Handlungssupererogation). Zweitens unterscheiden sich Nothilfepflichten von heldenhaften oder heiligen supererogatorischen Handlungen, bei denen verpflichtende Handlungen unter für den Akteur unzumutbaren Bedingungen erfüllt werden (Akteurssupererogation). Drittens unterscheiden sich Nothilfepflichten von Wohltätigkeitspflichten, die zwar auf grundlegende Güter bezogen, aber unterbestimmt sind, insofern sie keine konkreten Handlungen eindeutig vorschreiben.
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Einleitung
Die Prioritätsthese Im zweiten Kapitel will ich versuchen, die Anschlussfrage zu klären, ob und inwiefern positive Pflichten generell schwächer sind als negative Pflichten. Die diesbezügliche These nenne ich die Prioritätsthese. Ein aus ihr abgeleiteter Prioritätseinwand ist schwächer als der Supererogationseinwand: er bestreitet nicht, dass es positive Pflichten gibt, geht aber davon aus, dass diese generell schwächer sind als negative Pflichten. Positive Pflichten werden hier als weit, unvollkommen und ohne korrespondierende Rechte verstanden. Thomas Pogge ist ein Theoretiker, der diese Auffassung zumindest nicht in Frage stellt. Er hält die Nichthilfe zwar für eine Pflichtverletzung, jedoch für die Verletzung einer schwachen moralischen Pflicht, die nicht mit einer (Menschen-)Rechtsverletzung gekoppelt ist. Er kann damit zu den Vertretern der Prioritätsthese gezählt werden. Ich argumentiere im Gegensatz zu Pogge gegen die Prioritätsthese. Dabei geht es zunächst darum, die Kantische Alternative zur Supererogation, den Stellenwert und die Reichweite von Wohltätigkeitspflichten als Tugendpflichten, zu überprüfen. Ich werde zeigen, dass auch innerhalb eines Kantischen Modells gute Gründe dafür sprechen, starke individuelle Nothilfepflichten von der allgemeinen Pflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit abzugrenzen. So kann man zwischen starken Nothilfepflichten und allgemeinen Wohltätigkeitspflichten unterscheiden. Nothilfepflichten, die sich auf objektive Bedürftigkeit beziehen und klar bestimmt sind, wie in Singers Teichfall, kann man zu den starken Pflichten rechnen. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Bestimmtheit und ihre Bezogenheit auf grundlegende Güter nicht von vollkommenen Rechtspflichten. Die generelle Assoziation von positiven Pflichten mit schwachen Pflichten und negativen Pflichten mit starken Pflichten ist folglich bei genauerem Hinsehen nicht überzeugend. Daher werden in Kapitel 2 die Unterscheidungsmöglichkeiten von positiven und negativen Pflichten selbst zum Untersuchungsgegenstand. Ich werde zeigen, dass nicht alle positiven Pflichten schwache Wohltätigkeitspflichten sind. Ferner sind positive Pflichten nicht generell schwächer als negative Pflichten. Es gibt starke positive Gerechtigkeitspflichten, die sich auf die Sicherung grundlegender Güter beziehen. Die am Ende des ersten Teils entwickelte gütertheoretische Fundierung positiver Gerechtigkeitspflichten scheint jedoch viel zu stark. Hier droht abermals der Überforderungseinwand. Wir brauchen einschränkende Kriterien auf Seiten des Helfenden: Zuständigkeit (inklusive klarer Zurechenbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung), Zumutbarkeit, Zulässigkeit und Aussicht auf Erfolg. Ferner müssen wir zwischen einer individuellen und einer institutionellen Dimension positiver Pflichten unterscheiden. Die Plausibilität der im ersten Teil entwickelten Kriterien zur Bestimmung individueller Hilfspflichten wird im zweiten
Probleme mit der Analogiethese
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Teil anhand der Einwände, die man gegen Singers und Ungers Analogiethese vorbringen kann, überprüft (Kapitel 3). Abgegrenzt werden im ersten Teil Nothilfepflichten von allgemeinen Wohltätigkeitspflichten. Allgemeine Wohltätigkeitspflichten decken erstens den Bereich der geringfügigen Steigerung fremden Wohlergehens ab, der parallel zum Bereich verläuft, der im ersten Kapitel als Handlungssupererogation bezeichnet wird. Hier kann man auch von W1-Wohltätigkeitspflichten sprechen, wenn man Tugendpflichten innerhalb des Kantischen Modells differenzieren will. Für heldenhaftes und heiligenmäßiges pflichtüberschreitendes Handeln scheint mir allerdings der Begriff der Supererogation angemessener als der der Wohltätigkeit. Wohltätigkeitspflichten decken ferner den Bereich ab, in dem sich Wohltätigkeit auf objektive Bedürftigkeit bezieht, aber unterbestimmt ist. In diesem Fall werde ich von W2-Wohltätigkeitspflichten sprechen. Sie unterscheiden sich dadurch von Nothilfepflichten, dass sie keine konkreten Handlungen eindeutig bestimmen. Die These, dass es sich im Teichfall um eine Nothilfepflicht und im Armutsfall um eine W2-Wohltätigkeitspflicht handelt, wird im dritten Kapitel vertreten. Ich glaube, dass die Fälle Teich und Armut nicht analog sind, sondern sich in mehreren moralisch relevanten Hinsichten voneinander unterscheiden. Das führt dazu, dass wir in Bezug auf diese beiden Fälle verschiedene Arten von Pflichten haben. W2-Wohltätigkeitspflichten haben einerseits mit starken Pflichten das Bezogensein auf grundlegende Güter gemein. Andererseits haben sie mit schwachen Pflichten gemein, dass sie unterbestimmt sind.
Probleme mit der Analogiethese Wie revisionär die utilitaristische Moral in ihren Konsequenzen für den Einzelnen ist, zeigt sich in den letzten Kapiteln von Peter Ungers Untersuchung Living High and Letting Die. Our Illusion of Innocence (1996). Angesichts der Tatsache, dass Millionen von Menschen objektiv bedürftig sind, müssten wir unser gesamtes Leben so umgestalten, dass wir möglichst effizient helfen können. Wir müssten insbesondere unsere Berufswahl nicht nach eigenen Vorlieben und Interessen treffen, sondern so, dass wir möglichst viel Geld verdienen, um es spenden zu können. Ferner sollten wir unseren Nächsten – Eltern, Partnern und Kindern – nur das Nötigste zukommen lassen und selbst ebenfalls allem überflüssigen Luxus entsagen. Am Ende steht das ganze Leben im Dienst der Hilfe für die unschuldig Notleidenden. Im zweiten Teil der Studie diskutiere ich daher Einwände, die davon ausgehen, dass die Fälle Teich und Armut nicht analog funktionieren (Kapitel 3). Wenn meine Argumentation überzeugend ist, dann gewinnen wir durch eine
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Einleitung
Analyse der Disanalogien zwischen den Fällen die Möglichkeit, Nothilfe- oder Samariterpflichten von einer allgemeinen Wohltätigkeitspflicht einerseits und von Solidaritätspflichten andererseits abzugrenzen. Dies gelingt durch die schon erwähnten einschränkenden Kriterien auf der Geberseite – Zuständigkeit, Zumutbarkeit, Zulässigkeit und Aussicht auf Erfolg –, die erfüllt sein müssen, damit individuelle Nothilfepflichten vorliegen. Vorgenommen wird auch eine Ergänzung der schon im ersten Teil herausgearbeiteten Kriterien der objektiven Bedürftigkeit und der Zumutbarkeit. Eine der wichtigsten Thesen des 3. Kapitels ist, dass wir es bei den beiden Beispielen mit zwei der Art nach verschiedenen Notlagen zu tun haben. Dabei kann es jedoch dazu kommen, dass in beiden Fällen die Not dem Grad nach gleich ist: In beiden Beispielfällen besteht akute Lebensgefahr. Doch wie kommt es dazu? Unser erstes Beispiel stellt eine klassische akute Notlage dar: Sie ist für alle Beteiligten unvorhersehbar. Man wird mit ihr direkt konfrontiert und muss sofort helfen. Sobald die Hilfe erfolgt ist, ist der Status quo ante ohne Notlage wiederhergestellt. Dies zeichnet das aus, was ich eine akute Notlage nenne. Sie kann durch eine bestimmte individuelle Handlung (das Herausziehen aus dem Teich) behoben werden, danach besteht keine Not mehr. Davon zu unterscheiden ist Armut als strukturelle Notlage. Armut bewirkt, dass man sich in akuten Notlagen befinden kann: Schlechte Hygiene und schlechte Ernährung führen zu lebensbedrohlichen Krankheiten. Doch durch eine bestimmte Handlung (das Heilen einer Krankheit) kann die strukturelle Notlage nicht beseitigt, die Person nicht aus der Notlage der Armut gerettet werden (vgl. dazu auch Cullity 1996 und unten, Kapitel 3.5 und 3.6). Die Armut besteht fort und der Status quo ante ist zwar wiederhergestellt, doch ist dieser kein Status quo ante ohne Notlage. Hier sehen wir deutlich die Disanalogie zwischen den beiden Beispielen. Während sich die Hilfe im einen Fall auf die Wiederherstellung des Status quo ante ohne Notlage bezieht, muss sie sich im zweiten Fall auf die Herstellung eines Status quo ohne Notlage konzentrieren. Ein Mensch, der sich in einer akuten Notlage befindet, kann normalerweise ohne fremde Hilfe subsistieren. Die strukturelle Verschiedenheit der Notlagen kann unter den gegebenen institutionellen Bedingungen dazu führen, dass die individuelle Zumutbarkeit der Hilfeleistung angesichts akuter Notlagen viel öfter gegeben ist als bei strukturellen Notlagen. Das ist jedoch kontingent. Unter guten institutionellen Bedingungen wäre die individuelle Belastung bei strukturellen Notlagen nicht größer als die bei akuten Notlagen, sondern eher kleiner und zumindest völlig berechenbar. Wir müssen idealerweise bloß Steuern zahlen, um strukturelle Notlagen zu beheben und nicht unter Umständen gefährliche Rettungsaktionen durchführen. Die Verschiedenartigkeit der Notlagen erfordert auch verschiedene Hilfsmodelle. Während für die akuten Notlagen ein Samariter- oder Nothilfemo-
Probleme mit der Analogiethese
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dell angemessen ist, ist für strukturelle Notlagen ein Solidaritätsmodell angemessen. Dadurch können die Lasten der Hilfe durch Institutionalisierung gerecht verteilt werden. Wichtig ist nun, dass im Falle der unterlassenen individuellen Hilfeleistung bei akuten Notlagen ein individuelles Versagen vorliegt. Handelt es sich dagegen um strukturelle Notlagen, so sind wir meist mit institutionellem Versagen konfrontiert. Hier zeigt sich abermals, dass nicht alle unsere positiven Leistungen als Gegenstand schwacher Wohltätigkeitspflichten oder als supererogatorische Handlungen zu beschreiben sind. Vielmehr kann man anhand der Einwände gegen die Analogiethese die im ersten Teil der Studie herausgearbeiteten fünf Kriterien zur Bestimmung von individuellen Hilfspflichten (Bedürftigkeit, Zuständigkeit, Zumutbarkeit, Aussicht auf Erfolg) bestätigt finden. Ein fünftes Kriterium ist die Zulässigkeit der Hilfeleistung. Denn die Hilfe darf nicht in unzulässiger Weise zu Lasten Dritter gehen. Sie muss nicht nur für den Erbringer der Hilfeleistung, sondern auch für eventuell betroffene Dritte zumutbar sein. Das Kriterium ist notwendig, um Fälle auszuschließen, die David Lewis im Blick hat: Natürlich darf ein Arzt nicht fünf kranke Menschen, denen je ein Organ fehlt, retten, indem er einen Gesunden tötet und ihm seine Organe entnimmt. Aber wir dürfen etwa fremdes Eigentum beschädigen, um das Kind in Singers Beispiel zu retten (vgl. Lewis 2000). Die Sache sieht dann so aus: A hat eine individuelle Nothilfepflicht gegenüber B, wenn (a) B objektiv bedürftig ist, (b) A zuständig ist, (c) die Hilfe für A zumutbar ist und (d) Aussicht auf Erfolg verspricht, und ferner (e) die Hilfe zulässig ist, sofern sie nicht die Rechte Dritter in illegitimer Weise verletzt. Umgekehrt hat B ein Recht auf Hilfe gegenüber A, wenn alle diese fünf Kriterien erfüllt sind. Ferner muss davon ausgegangen werden, dass verschiedene Hilfsmodelle bei der Zuschreibung von positiven Pflichten eine Rolle spielen. Das sind zunächst Fürsorgepflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern und Berufspflichten von z. B. Ärzten und Bademeistern. Diese Pflichten sind sehr leistungsintensiv, haben dafür aber eine begrenzte Reichweite. Darüber hinaus sind sie frei gewählt, und im Falle von Ärzten oder Bademeistern gibt es auch einen finanziellen Lastenausgleich. Hauptsächlich befassen wir uns mit individuellen Nothilfepflichten angesichts akuter Notlagen, als deren Paradefall Singers Teichbeispiel gelten kann. Davon zu unterscheiden sind Solidaritätspflichten angesichts struktureller Notlagen. Wohltätigkeitspflichten spielen als schwache Pflichten, die zumindest die Frage, ob und wie man sie ausführen will, dem Einzelnen überlassen, eine weitere Rolle. Einerseits beziehen sie sich auf denselben Bereich wie echt supererogatorische Handlungen, also nicht-notwendige Verbesserungen der Situation anderer, andererseits scheinen sie sich auch auf notwendige Verbesserungen zu beziehen, für die wir nicht klarerweise zuständig sind.
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Einleitung
Zentral für unsere Untersuchung ist die Beobachtung, dass sich Nothilfepflichten von Wohltätigkeitspflichten unterscheiden, da sie weder normativ schwach noch unterbestimmt sind.
Erster Teil: Die Wohltätigkeitsthese: Einige Schwierigkeiten mit positiven Pflichten Die erste Herausforderung besteht darin, zu zeigen, dass es überhaupt positive Pflichten gibt. Dies ist Gegenstand des ersten Kapitels. Die wesentliche Frage dieses Kapitels lautet, was genau unter positiven Pflichten verstanden werden kann. Innerhalb des zweiten Kapitels wird die Anschlussfrage behandelt, ob oder inwiefern positive Pflichten generell schwächer sind als negative Pflichten. Methodisch orientiert sich die Vorgehensweise an möglichen Einwänden gegen Singers Hilfskonzeption. Wir haben gesehen, dass Singer davon ausgeht, dass die Fälle Teich und Armut hinsichtlich der moralisch relevanten Faktoren gleich zu bewerten sind. Was die Beispielfälle betrifft, gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Möglichkeiten, seine Schlussfolgerungen anzuzweifeln. Dabei können zwei Hauptgruppen von Einwänden unterschieden werden. Die erste Gruppe von Einwänden werde ich im ersten Teil besprechen. Diese Einwände können zwar davon ausgehen, dass Singers Beispielfälle analog funktionieren, sie greifen aber schon das Teichbeispiel selbst an und richten sich darauf, zu zeigen, dass auch im Teichfall keine oder nur eine schwache Pflicht vorliegt. Die zweite Gruppe von Einwänden, die ich im zweiten Teil der Studie im dritten Kapitel bespreche, richtet sich dagegen, dass die Beispiele analog funktionieren. Diese zweite Möglichkeit, Singers Schlussfolgerungen zu erschüttern, besteht darin, zu zeigen, dass die Fälle in moralisch relevanter Hinsicht verschieden sind. Nähe versus Distanz, Zumutbarkeit versus Unzumutbarkeit, Aussicht auf Erfolg versus Vergeblichkeit, individuelle versus institutionelle Hilfspflicht, akute Notlage versus soziales Gerechtigkeitsproblem, Hilfspflicht versus Kompensationspflicht sind Faktoren, deren Einfluss auf die moralisch unterschiedliche Bewertung der Fälle uns noch beschäftigen wird (Kapitel 3). Im ersten und zweiten Kapitel werden wir uns mit der ersten Möglichkeit, Singers Schlussfolgerungen in Zweifel zu ziehen, befassen: Wir können fragen, ob es überhaupt korrekt ist, dass im Teichfall eine starke Hilfspflicht besteht, wie Singer behauptet (Singer 1984, 293). Ist dies nicht der Fall, so müssen wir auch auf der Analogieebene des Armutsfalls nicht von einer starken Hilfspflicht ausgehen, und das gerade, wenn die Fälle in moralischer Hinsicht gleich zu bewerten sind. Wir wollen uns also im ersten Teil ansehen, welcher Art die Leistung ist, die der Passant im Teichbeispiel gegenüber dem Kind erbringt. Erst dann werden wir uns wieder der Frage zuwenden, ob der Fall parallel zum Armutsfall zu betrachten ist. Ich nenne den Einwand, der darauf abzielt, zu zeigen, dass wir schon beim Teichfall keine echte Hilfspflicht haben, den Supererogationseinwand. Wie ist er
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Erster Teil: Die Wohltätigkeitsthese: Einige Schwierigkeiten mit positiven Pflichten
zu verstehen? Es könnte erstens sein, dass die Leistung, die der Passant gegenüber dem Kind im Teich erbringt, nicht Gegenstand einer Pflicht ist, sondern jenseits dessen liegt, was man im Rahmen einer Pflicht fordern kann. Es wäre möglich, dass die Handlung des Passanten zwar moralisch gut ist, ihre Unterlassung aber nicht moralisch schlecht gewesen wäre. Es könnte zweitens sein, dass die Leistung, die der Passant gegenüber dem Kind im Teich erbringt, zwar in einem gewissen, oft moralisch oder tugendhaft genannten Sinn Pflicht ist, dass sie aber jenseits dessen liegt, wozu der Passant legitimerweise gezwungen werden darf. Es könnte demnach sein, dass beim Teichbeispiel eine Pflicht ohne korrespondierendes Recht vorliegt. Diesen beiden Bedenken entsprechen die schon erwähnten zwei Bedenken gegen positive Pflichten: Supererogationsthese: Es gibt gar keine positiven Pflichten. Aktive Leistungen, die zu einer Verbesserung der Situation anderer beitragen, sind nicht verpflichtend, sondern supererogatorisch. Sie sind als jenseits der Pflicht liegende freiwillige Mehrleistungen zu verstehen. Prioritätsthese: Positive Pflichten sind weniger verbindlich als negative Pflichten. Sie sind weit, unvollkommen, lassen einen Spielraum bei der Befolgung, sind „bloße“ Tugendpflichten, nicht erzwingbar und ihnen korrespondieren keine Rechte.
Ich werde diese beiden Bedenken in den beiden ersten Kapiteln der Reihe nach diskutieren.
1 Die Supererogationsthese 1.1 Supererogation: Der negative Aspekt Den ersten Einwand gegen starke positive Pflichten, mit dem wir uns in diesem Kapitel befassen, bezeichne ich als Supererogationseinwand. Er besagt, dass positive Leistungen generell jenseits der Pflicht liegen und als bloß supererogatorische Handlungen zu betrachten sind. Deren Ausführung wäre moralisch gut und lobenswert, ihre Unterlassung allerdings nicht zu tadeln. In dieser Deutung erscheinen supererogatorische Handlungen als freiwillige Mehrleistungen. Die Unterlassung einer supererogatorischen Handlung wäre entsprechend nicht als moralisch schlecht zu bewerten. Das ist der negative Aspekt der Supererogation: Sie ist keine Pflicht. Die starke Variante des Supererogationseinwands könnte nun besagen, dass positive Leistungen generell supererogatorisch sind. Ein Vertreter der starken Variante des Supererogationseinwandes könnte ferner davon ausgehen, dass wir andere nicht durch Unterlassungen (wie unterlassene Hilfeleistung), sondern nur durch Handlungen (wie körperliche Übergriffe) schädigen können. Beginnen wir mit einem intuitiv einleuchtenden Verständnis von positiven Leistungen als Grundlage. Positive Leistungen können sich durch zwei Merkmale auszeichnen: Aktivitätskriterium: Positive Leistungen verlangen ein aktives Tun des Leistungserbringers. Verbesserungskriterium: Positive Leistungen richten sich auf eine Verbesserung der Situation einer anderen Person, die von der aktiven Leistung profitiert. Profitieren bedeutet, dass der Leistungsempfänger durch das Einwirken des Leistungserbringers besser gestellt ist als ohne das Einwirken des Leistungserbringers.
Nehmen wir an, dass beide Merkmale erfüllt sein müssen, wenn wir von einer positiven Leistung sprechen wollen. Wenn der starke Supererogationseinwand, dass es keine positiven Pflichten gibt, korrekt wäre, dürfte es keine Handlung geben, die das Aktivitäts- und das Verbesserungskriterium erfüllt und gleichzeitig eine Pflicht ist. Um den Supererogationseinwand zu verstehen, müssen wir uns zusätzlich überlegen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, wenn wir von einer Pflicht sprechen wollen. Wie wir später sehen werden, müssen sie nicht alle erfüllt sein, damit man von einer Pflicht sprechen kann. Je nachdem, welche Position man vertritt, sind sie einzeln nicht notwendig. Aber jede der Bedingungen kann hinreichend sein, um zumindest in einem weiten Sinn von einer Pflicht sprechen zu können.
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Die Supererogationsthese
Rechtskriterium: Eine Pflicht liegt dann vor, wenn jemand ein korrespondierendes Recht inne hat. Erzwingbarkeitskriterium: Die Einhaltung einer Pflicht ist erzwingbar, Pflichtverletzungen werden rechtlich verurteilt bzw. bestraft. Anspruchskriterium: Eine Pflicht liegt dann vor, wenn ein berechtigter moralischer Anspruch anderer darauf besteht, dass die Handlung (oder Unterlassung), die von der Pflicht geboten wird, ausgeführt wird. (Schwache Variante des Rechtskriteriums). Verurteilbarkeitskriterium: Pflichtverletzungen werden moralisch verurteilt. (Schwache Variante des Erzwingbarkeitskriteriums). Overridingness-Kriterium: Durch eine Pflicht wird unser Verhalten so reguliert, dass diejenige Handlung (oder Unterlassung), die von der Pflicht geboten wird, anderen Handlungsalternativen vorgezogen werden muss.
Ein Vertreter des starken Supererogationseinwandes müsste behaupten, dass alle positiven Leistungen jenseits der Pflicht liegen, sprich: dass es keine Handlung gibt, die das Aktivitäts- und Verbesserungskriterium erfüllt und gleichzeitig diejenigen Kriterien erfüllt, die zusammen hinreichend sind, damit die Handlung als Pflicht gilt. Nun liegt es natürlich auf der Hand, dass die Frage, was als supererogatorisch, also jenseits der Pflicht liegend, zu gelten hat, davon abhängig ist, was man für eine Pflicht hält. Man kann hier auch von der Bestimmung der Supererogationsgrenze sprechen, die wir in Kapitel 1.5 genauer untersuchen werden. Zunächst kommt es darauf an, die Position zurückzuweisen, die behauptet, dass positive Leistungen im Sinne des Aktivitäts- und Verbesserungskriteriums generell supererogatorisch sind. Es ist davon auszugehen, dass ein Vertreter des starken Supererogationseinwandes einen möglichst engen Pflichtbegriff zu Grunde legen wird.1 Versuchen wir also, die Kriterien für Pflichten genauer zu inter-
1 Die neuere Supererogationsdebatte nimmt ihren Ausgang bei J.O. Urmsons Aufsatz Saints and Heroes (Urmson 1958). Urmsons Idee ist, dass der Pflichtbegriff für eine absolut zwingende Minimalmoral reserviert werden sollte: „If duty can, as Mill said, be exacted from persons as a debt, it is because duty is a minimum requirement for living together; the positive contribution of actions that go beyond duty could not be so exacted“ (ebd., 209). Supererogatorische Handlungen beziehen sich auf die „higher flights of morality“, nicht auf die „mere avoidance of antisocial behaviour“: „here we have something more gracious, actions that need to be inspired by a positive ideal“ (ebd.). Während die Erfüllung von Pflichten von jedem verlangt werden kann und muss, ist dies bei supererogatorischen Handlungen nicht der Fall. Sie liegen jenseits der Pflicht, sind aber zugleich moralisch gut. Marcia Baron sieht folgende Begründung für Urmsons Reservierung des Pflichtbegriffs für eine Minimalmoral: „If duty is given too broad a scope, so that every good deed is morally mandatory, duty may seem beyond us, too much to expect ourselves to conform to. This is Urmsons worry“ (Baron 1998, 58). Urmson selbst schreibt (1958, 211): „If we are to exact basic duties like debts, and censure failure, such duties must be, in ordinary circumstances, within the capacity of the ordinary man“. Eine enge
Supererogation: Der negative Aspekt
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pretieren. Zunächst könnte man meinen, dass das Rechts- und das Erzwingbarkeitskriterium dasselbe sagen: Wenn jemand ein Recht darauf hat, dass ich meine Pflicht erfülle, dann wird eine Pflichtverletzung rechtlich verurteilt. Auch das Anspruchs- und das Verurteilbarkeitskriterium könnten so zusammenhängen: Wenn ein moralischer Anspruch darauf besteht, dass ich meine Pflicht erfülle, und ich das nicht tue, dann wird eine solche Pflichtverletzung moralisch verurteilt. Ein Problem besteht darin, dass bestimmte Handlungen bzw. Unterlassungen je nach Kontext einmal als Gegenstand einer moralischen Pflicht, und ein andermal als Gegenstand einer rechtlichen Pflicht verstanden werden. Entsprechend fällt die Handlung im ersten Kontext unter das Verurteilbarkeitskriterium und im zweiten Kontext unter das Erzwingbarkeitskriterium. So wird etwa unterlassene Hilfeleistung (§ 323 c StGB) in Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern als Strafftat bewertet. Gleichwohl folgt die Rechtsprechung mehrerer anderer Länder, etwa in den USA, England oder Australien, diesem Beispiel nicht.2 Wo die Grenze zwischen moralischen und rechtlichen Pflichten liegt, scheint demnach keineswegs von vornherein festzustehen. Idealiter scheint jede Rechtsverletzung auch die Verletzung eines moralischen Anspruchs zu implizieren. Das ist etwa im Falle von Menschenrechtsverletzungen gegeben. Allerdings gilt dies nicht für alle Fälle, in denen positives Recht zur Anwendung kommt. Schon Mill hat darauf hingewiesen, dass positives Recht und moralische Rechte voneinander abweichen können. Denn es kann auch ungerechte Gesetze geben. So ist es möglich, dass man de facto, etwa in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, die Frauen oder Farbige diskriminieren, gerade dann den moralischen Rechten dieser Personen gerecht wird, wenn man gegen das positive Recht verstößt (vgl. dazu Mill 2006, 131 f.). Im normativen Idealfall impliziert rechtliche Verurteilung bzw. Erzwingbarkeit moralische Verurteilung. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht. Es kann Verletzungen von moralischen Ansprüchen geben, die moralisch,
Pflichtdefinition vertritt auch Löhr: „Die Klasse supererogatorischer Handlungen umfasst alle moralisch guten Handlungen, außer insofern, als sie zur Herstellung und Aufrechterhaltung eines Minimums an gesellschaftlicher Kohärenz und menschlichem Wohlergehen notwendig sind. Insofern letzteres der Fall ist, sprechen wir von Pflichten“ (Löhr 1991, 86). 2 Unterlassene Hilfeleistung ist ein Straftatbestand in Deutschland, Dänemark, Finnland, Italien, Russland und Spanien. In den meisten Bundesstaaten der USA, in Australien, Österreich, Schweden, Luxemburg und in England ist das nicht der Fall (vgl. Feldbrugge 1966 und Ratcliffe 1981). Wer ein Kind in einem Pool ertrinken lässt, begeht nach dem englischen Recht keine Straftat, es sei denn, er hat eine besondere Elternpflicht. (So schon Stephen 1883, zur kritischen Diskussion der immer noch bestehenden englischen Rechtsprechung im Vergleich mit Frankreich siehe Ashworth/Steiner (1990), zur Rechtsprechung in den USA vgl. McIntyre 1994.)
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aber nicht rechtlich verurteilt werden. Ein solcher Fall kann etwa bei einem gebrochenen Versprechen vorliegen. Wir werden an dieser Stelle die etwas allgemeinen und vagen Definitionsmöglichkeiten von Pflichten erst einmal beibehalten und im Folgenden sehen, wie sie sich auseinanderdividieren lassen. Es wird sich schnell zeigen, welche Gruppen von positiven Pflichten ohne Weiteres akzeptabel sind, und welche Probleme bereiten. Klar ist, dass der Vertreter des starken Supererogationseinwandes selbst etwas über Pflichten behaupten muss, um seine Position zu vertreten. Wir können ihm folgende Position zuschreiben: Starker Supererogationseinwand: Aktive Leistungen, die die Situation anderer verbessern, liegen jenseits der Pflicht.
Das ist die negative Implikation des Supererogationseinwandes. Er grenzt einen Bereich strenger Pflichten gegen dasjenige ab, was wir zwar begrüßen, so wie Hilfeleistungen, hält diese aber für freiwillige Mehrleistungen. Die positive Implikation besteht darin, dass das jenseits der Pflicht liegende Handeln auch als moralisch gut ausgewiesen werden muss, um als supererogatorisch und nicht bloß als erlaubt, aber moralisch indifferent gelten zu können. Supererogatorische Handlungen sind zugleich jenseits der Pflicht liegend und moralisch lobens- oder preisenswert (wobei preisenswert als Steigerung von lobenswert zu verstehen ist). Mit diesem positiven Aspekt werden wir uns später befassen (Kapitel 1.3). Wichtig ist an dieser Stelle zunächst die negative Implikation, da sie positive Leistungen für normativ unverbindlich erklärt, indem sie gegen Pflichten abgegrenzt werden. Schon diese Implikation ist hochproblematisch. Denn sie wird überhaupt nur einleuchten können, wenn wir mindestens drei Zusatzannahmen machen, die erklären, warum aktive Leistungen jenseits dessen liegen sollten, was Pflicht ist. Diesen Zusatzannahmen entsprechen weit verbreitete Vorurteile gegenüber positiven Pflichten. Das erste Vorurteil besagt: Wir können andere nur durch ein aktives Tun schädigen, nicht durch Unterlassen.
Das zweite Vorurteil lautet: Pflichten können nur Unterlassungen von uns verlangen (nur Unterlassungspflichten sind echte Pflichten), keine aktiven Leistungen (alle aktiven Leistungen sind supererogatorisch).
Drei Gruppen von Gegenbeispielen
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Dem entspricht ein drittes Vorurteil: Pflichten können nur von uns verlangen, die Lage anderer nicht zu verschlechtern (Schädigungsverbot), nicht, die Lage anderer zu verbessern (supererogatorische Wohltätigkeit).
Zusammengenommen erklären diese drei Vorurteile, wie man einen starken Supererogationseinwand stützen kann. Allerdings glaube ich, dass dieser starke Einwand sehr schnell widerlegt werden kann. Sehen wir uns drei Gruppen von Gegenbeispielen an, die völlig unumstritten als positive Pflichten akzeptiert werden.
1.2 Drei Gruppen von Gegenbeispielen Der starke Supererogationseinwand muss behaupten, dass Handlungen, die anderen nutzen (d. h. das Verbesserungskriterium erfüllen) und ein aktives Tun vom Leistungserbringer verlangen (d. h. das Aktivitätskriterium erfüllen), moralisch lobenswert sind, ihre Unterlassung aber nicht moralisch schlecht (oder verboten) ist.3 Wir können mindestens drei Gruppen von Gegenbeispielen anführen, die belegen, dass es Handlungen gibt, die anderen nutzen, deren Unterlassung wir aber moralisch (und/oder rechtlich) verurteilen (bzw. verbieten) würden. Hier liegen im Sinne des Erzwingbarkeits- und/oder des Verurteilbarkeitskriteriums schädigende Unterlassungen vor: (1) Fürsorgepflichten: Eltern, die ihr Kind verhungern lassen, schädigen das Kind durch Unterlassen (der angemessenen Versorgungsleistung). (Erzwingbarkeits- und Verurteilbarkeitskriterium) (2) Garantenpflichten: Ein Arzt, der ein überlebensnotwendiges Medikament zu verabreichen vergisst, schädigt seinen Patienten durch Unterlassen (der angemessenen Behandlungsleistung). (Erzwingbarkeits- und Verurteilbarkeitskriterium)
3 Die Position, „dass supererogatorische Handlungen in der Erzeugung positiver Folgen für das Wohl der Menschen bestehen, während pflichtgemäße Handlungen die Aufgabe der Vermeidung negativer Konsequenzen und der Verhinderung von Übel haben“, kritisiert auch Löhr (1991, 80) bei Urmson (1958): „Der Unterschied zwischen der Verhinderung negativer Folgen und der Bewirkung positiver ist aber in einem konkreten Fall möglicherweise nicht genau fassbar, und darüber hinaus ist nicht einzusehen, warum es nicht in bestimmten Fällen eine Pflicht geben sollte, positive Konsequenzen zu erzeugen“ (Löhr 1991, 81). Allerdings führt Löhr gleich den umstrittenen Fall einer Hungersnot an: „In einem Land, das von Hungersnot heimgesucht wird, ist die Erzeugung von Sättigung die positive moralische Pflicht dessen, der dazu in der Lage ist“ (ebd.).
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(3) Verpflichtungen, die aus Versprechen oder Verträgen erwachsen: (3.1) Wer eine vertragliche Verpflichtung, etwa für den Kauf eines Autos 1000 Euro zu bezahlen, nicht erfüllt, schädigt den Vertragspartner. (Erzwingbarkeits- und Verurteilbarkeitskriterium) (3.2) Wer versprochen hat, sich um die Blumen der Nachbarn zu kümmern, und diese dann vertrocknen lässt, verletzt eine moralische Pflicht. (Verurteilbarkeitskriterium) Positive Leistungen im Sinne des Aktivitäts- und Verbesserungskriteriums sind also ganz offensichtlich nicht notwendig oder generell supererogatorisch. Der starke Supererogationseinwand ist deshalb viel zu stark. Alle drei Arten von Pflichten verlangen offensichtlich im Sinne des Aktivitätskriteriums Leistungen vom Pflichtenträger und sie sind weithin anerkannte Pflichten, deren Verletzung zumindest in den Fällen (1), (2) und (3.1) in den meisten Ländern moralische und sogar rechtliche Sanktionen nach sich zieht. Wie sieht es aus, wenn wir diese Beispiele auf unsere Vorurteile beziehen? Das erste Vorurteil, dass wir andere nur aktiv schädigen können, scheint jedenfalls nicht richtig zu sein. Eltern und Ärzte können gerade dadurch die ihnen Anvertrauten schädigen, dass sie ihnen nicht die positiven Leistungen zukommen lassen, die diese brauchen. So scheint auch das zweite Vorurteil, dass Pflichten nur Unterlassungen von uns verlangen, falsch zu sein. Offensichtlich sind nicht alle Leistungen zugunsten anderer supererogatorisch. Ferner zeigen uns die Beispiele, dass es positive Pflichten gibt, die Lage anderer zu verbessern. Zumindest in Fall (2) ist dieser Sachverhalt offensichtlich gegeben. Der Arzt ist verpflichtet, die Lage des Patienten zu verbessern, ihn durch das überlebensnotwendige Medikament zu retten und langfristig wieder gesund zu machen. Das Verbesserungskriterium ist hier klar erfüllt. Der Patient sollte von der Leistung (Aktivitätskriterium) des Arztes profitieren (Verbesserungskriterium) in dem Sinn, dass der Patient besser gestellt wäre als ohne die Leistung des Arztes. Auch das dritte Vorurteil, dass Pflichten nicht von uns verlangen können, die Lage anderer zu verbessern, scheint irreführend. Garantenpflichten von Ärzten und Bademeistern sind schlagende Beispiele gegen die starke Variante des Supererogationseinwandes und die mit ihr verbundenen Vorurteile. Wie ist Fall (3.1) zu bewerten, die vertragliche Verpflichtung, 1000 Euro für den Erhalt des Autos zu bezahlen? Hier scheint im Falle der Nichterfüllung ganz klar eine Schädigung des Verkäufers des Autos vorzuliegen. Denn der Verkäufer hatte das Auto ja nur unter der Voraussetzung herausgegeben, dass die Bezahlung von 1000 Euro erfolgen würde. Man sieht hier den Schaden ganz deutlich. Angenommen, das Auto ist genau 1000 Euro wert, dann hat der Verkäufer 1000 Euro Verlust gemacht, wenn er weder das Auto noch die 1000 Euro hat. Interessanter-
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weise sieht es jetzt so aus, als hätte der potentielle Käufer die Lage des Verkäufers durchaus verschlechtert. Der Fall scheint in dieser Hinsicht dem von Arzt und Bademeister in umgekehrter Richtung vergleichbar: Ärzte und Bademeister, die im Dienst sind und dafür bezahlt werden, dass sie ihren Beruf ausüben, stehen unter vertraglicher Verpflichtung, positive Leistungen im Gegenzug zur Bezahlung zu erbringen.4 Im Fall (3.2) scheint eine rechtliche Verurteilung des potentiellen Blumengießers, der sein Versprechen gegenüber den Nachbarn bricht, zu stark. Dennoch hat er eine moralische Pflicht verletzt, sein Versprechen zu halten. Wir würden ihn tadeln. Es ist auch zwanglos möglich zu behaupten, dass die Oma einen berechtigten moralischen Anspruch darauf hatte, dass der Enkel sein vorher freiwillig gegebenes Versprechen einhält. Der Fall erfüllt also das Anspruchsund das Verurteilbarkeitskriterium. Auch die Eltern aus Beispiel (1) scheinen in besonderer Weise aufgrund vorgängiger Handlungen zu positiven Leistungen gegenüber ihren Kindern verpflichtet. Denn sie haben ihr Kind freiwillig, aber ohne dessen Einwilligung in die Welt gesetzt.5 Dadurch sind sie für das Wohlergehen des Kindes in einer
4 Die Rechtsprechung der USA (vgl. dazu Weinrib 1980) macht es möglich, unterlassene Hilfeleistung bei vorliegenden Garantenpflichten als Mord oder Totschlag zu interpretieren (vgl. dazu McIntyre 1994, 186). Die so genannten „good samaritan laws“ sind dafür zuständig, diese Berufsgruppen vor Klagen zu schützen, wenn sie jemandem zu Hilfe kommen (vgl. ebd., 158). Besteht dagegen keine vorgängige rechtliche Beziehung zwischen einem potentiellen Helfer und einem Schwerstverletzten, kann der potentielle Helfer gar nicht belangt werden, wenn die Person stirbt. 5 So geht etwa Schopenhauer davon aus, dass Eltern Fürsorgepflichten gegenüber ihren Kindern zukommen, weil sie diese Kinder erzeugt haben: Sie müssen sie versorgen, bis sie selbständig sind, andernfalls schädigen sie ihre Kinder. „Denn durch das bloße Nichtleisten der Hülfe, also eine Unterlassung, würde er sein Kind verletzen, ja, dem Untergange zuführen“ (Schopenhauer 1977, 261). Auch Otfried Höffe weist darauf hin, dass Eltern Versorgungspflichten gegenüber ihren Kindern haben, weil sie diese ohne deren Zustimmung in die Welt gesetzt haben. Vorverhaltensabhängige positive Fürsorgepflichten können, wie Höffe meint, im Unterschied zu vorverhaltensunabhängiger allgemeiner Wohltätigkeit, „natürlichen Leistungserbringern“ zugeordnet werden: „Denn nur wer Notleidenden hilft, an deren Not er unschuldig ist, handelt aus Wohltätigkeit. Wer dagegen die Not mitverschuldet hat, trägt nach Maßgabe seiner Mitschuld eine Verantwortung im Sinne ausgleichender (korrektiver) Gerechtigkeit. Beispielsweise sind für ihre Kinder primär die Eltern zuständig; denn diese haben sie als hilfsbedürftige Wesen und ohne deren Zustimmung auf die Welt gebracht“ (Höffe 1999, 78; vgl. Höffe 1996, 210). Die Idee der intergenerationellen Gerechtigkeit ist dann, dass die Kinder später im Ausgleich für empfangene Leistungen die eigenen Eltern versorgen (vgl. Höffe 1996, Kapitel 9.1; dagegen Stemmer 2002, Kapitel 9 und interessanterweise Urmson 1958).
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besonderen Weise zuständig, die sich z. B. von der Zuständigkeit der Nachbarn unterscheidet, die gegenüber dem Nachbarskind keine Fürsorgepflicht haben. In allen drei Beispielgruppen liegen positive Pflichten vor. Genauer können wir festhalten, dass es im Sinne des Aktivitätskriteriums mehrere Arten von positiven Pflichten gibt. Diese Definition war sehr weit, da sie nur erfordert, dass in einem der Sinne der Kriterien für Pflichten ein aktives Tun von uns verlangt wird. Es gibt also drei Arten von aktiven Leistungen, die verpflichtend sind. Unstrittig sind das: (1) Fürsorgepflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern, (2) Garantenpflichten, z. B. von Ärzten oder Bademeistern, (3) Leistungen, die sich aus Verträgen und Versprechen ergeben. Das Verbesserungskriterium ist mindestens auf Fürsorgepflichten und Garantenpflichten anwendbar. Bei Leistungen, die sich aus Verträgen oder Versprechen ergeben, hängt das Zutreffen des Verbesserungskriteriums wohl davon ab, worum es genau geht. Stellt man sich etwa Eheverträge vor, so kann es schon sein, dass der Vertragsgegenstand eine einseitige Verbesserung ist. Wichtig ist an dieser Stelle folgende Beobachtung: Alle diese unstrittig anerkannten Arten von positiven Pflichten sind vorverhaltensabhängige Pflichten. Der Verpflichtungsgrund ergibt sich aus dem Vorverhalten. Dadurch unterscheiden sich die besprochenen Fälle von Singers Teichbeispiel. Denn der Passant soll Singers Intuition zufolge dem Kind helfen, ohne dass er sich die Pflicht durch sein Vorverhalten zugezogen hat. Er hat weder vorher etwas bezüglich der Rettung des Kindes versprochen, noch ist er eine entsprechende vertragliche Verpflichtung eingegangen. Es gehört auch nicht zu seinen Berufspflichten, etwas für das Kind zu tun, denn er ist weder Arzt noch Bademeister, sondern zum Beispiel ein Philosophieprofessor auf dem Weg zur Arbeit. Und es ist auch nicht sein Kind, sodass er etwa eine Aufsichtspflicht oder Fürsorgepflicht für es hätte. Unsere Frage muss daher präzisiert lauten, ob es vorverhaltensunabhängige positive Pflichten gibt. Während der starke Supererogationseinwand also offensichtlich nicht überzeugt, könnte ein schwacher Supererogationseinwand durchaus plausibel sein, der zwischen verschiedenen Arten von positiven Pflichten unterscheidet. Er könnte etwa behaupten, dass aktive Leistungen, die zur Verbesserung der Lage anderer beitragen, ohne dass wir als Garanten oder durch Verträge oder sonstiges Vorverhalten zu ihrer Erbringung verpflichtet sind, jenseits der Pflicht liegen. Das träfe dann auch auf Singers Teichbeispiel zu. Schwacher Supererogationseinwand: Nur vorverhaltensabhängige positive Pflichten (Fürsorgepflichten, Garantenpflichten und Pflichten aus Verträgen und Versprechen) sind echte positive Pflichten; weitere aktive Verbesserungen der Situation anderer sind supererogatorisch.
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Aber warum sollte dies so sein? An dieser Stelle müssen wir unsere fünf Pflichtkriterien auseinanderdividieren. Während der schwache Supererogationseinwand behauptet, dass die Handlung im Teichbeispiel moralisch gut, aber weder moralisch noch rechtlich verpflichtend ist, gehen andere davon aus, dass die Handlung im Teichbeispiel immerhin eine schwache moralische Pflicht, aber keine rechtliche Pflicht ist: etwa eine Kantische Tugendpflicht der Wohltätigkeit. Diese Alternative werden wir in Kapitel 2 untersuchen. Vorläufig brauchen wir eine präzisierte schwache Version des Supererogationseinwandes, die diesen von der Prioritätsthese unterscheidet, die davon ausgeht, dass es zwar positive Pflichten gibt, dass diese aber schwächer sind als echte, vollkommene negative Pflichten. Den schwachen Supererogationseinwand kann man wie folgt präzisieren: Schwacher Supererogationseinwand: Handlungen, die die Situation anderer durch aktive Leistungen verbessern und jenseits der eindeutigen, starken Pflichten liegen, sind moralisch gut, aber nicht moralisch verpflichtend (supererogatorische Handlungen).
Man hat dann den Bereich der Pflichten auf den einer Minimalmoral eingegrenzt. Der schwache Supererogationseinwand geht davon aus, dass Pflichten in dem Sinn die Kriterien erfüllen, dass ihre Verletzung entweder die Verletzung eines korrespondierenden Rechts, einer rechtlichen Regel, oder eines moralischen Anspruchs bedeutet. Gute Taten, die darüber hinausgehen, sind dann supererogatorisch. Aber was genau fällt in den Bereich der Pflichten? Gibt es vorverhaltensunabhängige positive Leistungen, die zu dem Bereich der Pflichten zählen können? Urmson spricht in Bezug auf Pflichten auch von „absolute duties“ (Urmson 1958, 208) oder „basic duties“ (ebd., 210 ff.), um zu verdeutlichen, dass diese Pflichten besonders zwingend sind. Er nennt fünf Kriterien für diese Pflichten: (1) Dringlichkeit: Pflichten haben einen „special status of urgency“, man darf Druck ausüben, da sie sich auf Bereiche beziehen, in denen gilt: „compliance with the demands of morality by all is indispensible“ (ebd., 211). (2) Zumutbarkeit: Erzwingbare Pflichten müssen „within the capacity of the ordinary man“ liegen (ebd.). (3) Eindeutigkeit: Die Regeln, die befolgt werden müssen, sollen eindeutig formuliert und nachvollziehbar sein (vgl. ebd., 212). (4) Abhängigkeit von einem korrespondierenden Recht: Es gehört zum Begriff einer Pflicht, dass man ein Recht hat, ihre Befolgung zu verlangen (vgl. ebd., 213; Rechts- und Anspruchskriterium). (5) Erzwingbarkeit: „We have no choice but to apply pressure on each other to conform in these fundamental matters; here moral principles are like public laws rather than like private ideals“ (ebd.; vgl. dazu das Verurteilbarkeits-
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kriterium und, wenn nicht nur informelle, sondern auch formelle Sanktionen gemeint sind, das Erzwingbarkeitskriterium). Während die bislang betrachteten Kriterien für Pflichten bloß formal waren, sind zumindest Urmsons erste drei Kriterien inhaltlicher Natur. Allerdings ist schon an dieser Stelle fraglich, warum bestimmte vorleistungsunabhängige helfende Handlungen wie die Rettung des Kindes in Singers Teichbeispiel die ersten drei Kriterien nicht erfüllen sollten. Der Fall scheint besondere Dringlichkeit zu haben, da das Leben des Kindes gefährdet ist. Die Hilfeleistung scheint für den Passanten insbesondere zumutbar, da er nur ein wenig Zeit und seine Kleidung aufs Spiel setzen muss. Ferner scheinen Nothilfepflichten, zumindest im Teichfall, auch einigermaßen deutlich formulierbar. Wenigstens gilt dies für ihr in Deutschland rechtlich verbotenes Gegenstück, die schon erwähnte Formulierung des Straftatbestandes der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB). Die Frage, ob es im Falle vorleistungsunabhängiger Rettungen ein entsprechendes Recht und damit eine Hilfspflicht gibt, ist unter MoraltheoretikerInnen hoch umstritten.6 Urmson macht nicht klar, wie er seine Kriterien verstanden wissen will. Sind sie einzeln hinreichend, um von einer Hilfspflicht sprechen zu können, wenn sie erfüllt sind? Oder sind sie einzeln notwendig und nur zusammen hinreichend? Gehen wir von der starken letzteren Variante aus. Der schwierigste Punkt ist sicher die Frage, ob es ein zu einer Rettungspflicht korrespondierendes Recht auf Nothilfe gibt. Sollte dies nicht der Fall sein, haben wir zwei Alternativen: Entweder es handelt sich bei der entsprechenden Nothilfe um eine supererogatorische Handlung oder um eine Kantische Tugendpflicht ohne korrespondierendes Recht. Die Kantische Alternative zur Supererogation, die Wohltätigkeitspflicht, mit der wir uns in Kapitel 2.2–2.5 eingehend befassen werden, ist in gewisser Hinsicht strukturanalog zur Supererogation. Kant unterscheidet zwischen engen oder
6 Dass kein Recht auf Hilfe vorliegt, behaupten etwa O’Neill (1996, 254), Narveson (2003) und Cullity (2007). „Wenn wir über Ansprüche, die vorangegangenen Versprechen oder bestehenden Rollen entspringen, oder über allgemeine Ansprüche auf Unterlassung von schädigenden Eingriffen sprechen, scheint es hilfreich, die moralischen Beziehungen zwischen mir und anderen Menschen in der Sprache der Rechte zu beschreiben“ (Cullity 2007, 59). Auch Urmson (1958, 213) scheint darauf hinaus zu wollen, dass es kein Recht auf Hilfe gibt, obwohl sein Beispiel, was die Zumutbarkeit angeht, anspruchsvoller ist als eine Nothilfepflicht: „however admirable the tending of strangers in sickness may be it is not a basic duty, and we are not entitled to reproach those to whom we are strangers if they do not tend us in sickness.“ Hier scheint es sich um eine Fürsorgepflicht zu handeln, die vorverhaltensabhängig ist. Insofern ist es problematisch, dass New (1974, 182) für seine Kritik an Urmson ein klassisches Nothilfebeispiel verwendet.
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strengen Rechtspflichten, dem erzwingbaren Basisbereich der Moral, der mit Urmsons Minimalmoral vergleichbar ist, und weiten oder lässlichen Tugendpflichten, in deren Bereich gleichsam alle anderen guten Taten fallen. Bei Kant erfüllen strenge Rechtspflichten das Rechts-, das Erzwingbarkeits-, das Anspruchs- und das Verurteilbarkeitskriterium. Tugendpflichten als moralische Pflichten zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass ihnen weder Rechte noch moralische Ansprüche anderer korrespondieren. Wir sind uns ihre Erfüllung als potenzielle moralische Selbstgesetzgeber gewissermaßen selbst schuldig. Andere können hier, und das ist wieder analog zur Supererogation, nichts von uns fordern.7 Die Kantische Alternative können wir so formulieren: Wir sind zu Handlungen, die die Situation anderer durch aktive Leistungen verbessern und jenseits der rechtlichen Pflicht liegen, moralisch, aber nicht rechtlich verpflichtet. (Tugendpflichten der Beförderung fremder Glückseligkeit, Wohltätigkeitspflichten)
Mit dieser Alternative werden wir uns, wie gesagt, erst in Kapitel 2.2–2.5 befassen. Im folgenden Kapitel müssen wir uns zunächst den schwachen Supererogationseinwand genauer ansehen. Dabei taucht folgendes Problem auf: Der schwache Supererogationseinwand kann, wenn er korrekt ist, zwar erklären, warum das Teichbeispiel jenseits der Pflicht liegt und die Hilfe des Passanten nicht erzwungen werden kann (negative Implikation des Supererogationseinwandes), aber wir brauchen zusätzlich eine Erklärung dafür, warum die Handlung des Passanten moralisch lobenswert ist (positive Implikation des Supererogationseinwandes). Denn nicht alle positiven Leistungen, die jenseits der Pflicht liegen, sind moralisch lobenswert oder gar preisenswert. Das eine Problem, mit dem wir uns konfrontiert sehen, ist, dass wir erst bestimmen müssen, was Pflicht ist, um sagen zu können, was jenseits der Pflicht liegt und supererogatorisch ist. Immerhin sind, wie wir gesehen haben, einige der Pflichten, die allgemein anerkannt sind, positiv. Allerdings haben wir damit noch nichts darüber gelernt, inwiefern Hilfe, falls sie nicht Gegenstand einer Pflicht ist, moralisch lobenswert ist. Aus den bisher untersuchten Supererogationseinwänden lässt sich zwar entnehmen, inwiefern die Handlung des Passanten jenseits der Pflicht liegen könnte (schwacher Supererogationseinwand), aber
7 Einen Sonderfall stellen Versprechen dar. Auch Kant geht davon aus, dass die Einhaltung von Versprechen nur dann rechtlich erzwingbar ist, wenn sie Vertragscharakter haben (MSR 6, 238). Ein allgemeines Lügenverbot ordnet Kant im Unterschied zu falschen Versprechen, die darauf hinauslaufen, sich ungerechte Vorteile zu verschaffen (vgl. GMS 4, 422), der vollkommenen Tugendpflicht gegen sich selbst zur Beförderung der eigenen moralischen Vollkommenheit zu (MST 6, 429 ff.).
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nicht, inwiefern sie moralisch gut sein könnte.8 Die Frage, ob es sich bei Singers Teichbeispiel um eine Hilfspflicht handelt, wie er behauptet, oder ob eine supererogatorische Handlung vorliegt, können wir von zwei Seiten zu beantworten versuchen. Einerseits können wir fragen, was eigentlich eine supererogatorische Handlung ist, und uns dann die Anschlussfrage stellen, ob das Verhalten des Passanten im Teichbeispiel die Merkmale erfüllt, die wir für supererogatorische Handlungen aufgestellt haben. Andererseits können wir fragen, was das Verhalten des Passanten zu einer wie gearteten Pflicht machen könnte. Ich werde zunächst der ersten Frage nachgehen, die zweite Frage werde ich in Kapitel 2 zu beantworten versuchen. Wir müssen uns also jetzt damit beschäftigen, was Handlungen auszeichnet, die gleichzeitig moralisch gut sind und jenseits der moralischen und rechtlichen Pflicht liegen. Später (in Kapitel 2.2–2.5) werden wir uns um Handlungen kümmern, die moralische Pflichten sind, aber jenseits der rechtlichen Pflichten liegen und uns fragen, ob diese eine adäquate Beschreibungsmöglichkeit für Singers Teichbeispiel liefern.
1.3 Supererogation: Der positive Aspekt Rein begrifflich liegt eine supererogatorische Handlung jenseits der Pflicht. Die wortwörtliche Bedeutung geht auf das Lateinische supererogare (mehr leisten als gefordert ist) zurück. Gleichzeitig soll die Handlung moralischen Wert haben, also in einem positiven Sinn über das Gebotene hinausgehen. Wichtig ist hier nicht der negative Aspekt, dass die Handlung sozusagen unterhalb dessen liegt, was man einfordern kann, sondern dass sie oberhalb dessen liegt. Wir können also zunächst zwei Merkmale supererogatorischer Handlungen festhalten9: Nicht-Verpflichtungskriterium: Eine supererogatorische Handlung liegt jenseits der rechtlichen und moralischen Pflicht. Gütekriterium: Eine supererogatorische Handlung ist moralisch gut.
8 Onora O’Neill übt entsprechende Kritik an liberal ausgerichteten Theoretikern, die „das ‚freiwillige Handeln‘ hochhalten – insbesondere das seltsam benannte ‚freiwillige Geben‘ […]. Vertreter liberalistischer Anschauungen geraten ins Schwärmen, wenn sie von ‚Nächstenliebe‘ – im Sinne von Philanthropie – reden, deren ganzer Kontext durch erzwungene Umverteilung oder erzwungene (und angeblich durch Wohlfahrtsrechte hervorgerufene) Abhängigkeit zerstört werden würde […]. Allerdings sind ihre Kennzeichnungen der ethischen Signifikanz von Handlungen, die nicht aufgrund des Respekts vor den Rechten anderer geboten sind, außerordentlich fadenscheinig. Manche nennen milde Gaben z. B. ‚pflichtüberschreitend‘. Eine Erklärung, aus der hervorginge, wieso solche Handlungen nicht nur nicht geboten, sondern auch gut sind, bleiben sie schuldig“ (O’Neill 1996, 186). 9 Zu dieser Definition vgl. Heyd 2007.
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Beide Merkmale müssen zugleich erfüllt sein, um von einer supererogatorischen Handlung sprechen zu können. Aus diesen beiden Merkmalen folgt, dass eine supererogatorische Handlung zugleich moralisch gut und nicht moralisch oder rechtlich geboten ist. Darin, dass beide Merkmale erfüllt sein müssen, damit man von einer supererogatorischen Handlung sprechen kann, besteht das Problem, das die Bestimmung supererogatorischer Handlungen in moralphilosophischer Hinsicht aufwirft. Denn viele Moraltheorien unterscheiden zwischen gebotenen, verbotenen und erlaubten Handlungen. Die Frage, wo man bei einem solchen Schema die Supererogation einordnen kann, hat schon viele beschäftigt.10 Denn nach dem ersten Kriterium kann sie gerade nicht moralisch geboten sein. Eine Ethik wie die Kantische, in der alle moralisch guten Handlungen zugleich geboten sind, scheint so keinen Raum für Supererogation zu lassen. Denn Supererogation („jenseits der Pflicht“) und Pflicht schließen sich begrifflich aus (Kersting 1997, vgl. Guevara 1999). Wenn Supererogation nicht zu den gebotenen, sondern zu den erlaubten Handlungen gehört, dann ist andererseits nicht klar, inwiefern sie sich von erlaubten Handlungen unterscheidet, die nicht moralisch gut (vgl. Gütekriterium), sondern moralisch indifferent sind.11 David Heyd sieht den Schlüssel zur Interpretation der problematischen Natur supererogatorischer Handlungen in einer Spannung innerhalb der Moral. Er spricht von „zwei Gesichtern der Moral“, einem axiologischen und einem deontischen: „The former refers to goodness, ideals and virtues; the latter to what ought to be done, to duties and obligations, to justice and rights“ (Heyd 2007, Abschnitt 1; vgl. schon Urmson 1958, 215 f.). Die axiologische Seite der Moral zeichnet sich durch ihre offene Struktur aus, Ideale und Tugendhaftigkeit können angestrebt, aber nicht vollständig erreicht werden.12 Hier spielen perfek-
10 Vgl. Urmson 1958, Feinberg 1961, Jackson 1986, Heyd 1982 und 2007, Chisholm 1963. 11 Diese Frage wirft auch Onora O’Neill auf. In einer rein liberalen Ethik, die keine Tugenden und moralischen Ideale kennt, wären supererogatorische Handlungen von anderen erlaubten Handlungen moralisch nicht zu unterscheiden. Sie würden dann der (altruistischen) Präferenzsatisfaktion des Behandelten dienen (vgl. O’Neill 1996). Alan Gewirth stellt eine noch schwierigere Frage: Dürfen wir wirklich frei darüber entscheiden, ob wir unser Geld unserer Lieblingssportmannschaft oder Notleidenden spenden? Ist das Spenden für die Sportmannschaft noch moralisch gut, wenn die Notleidenden die Mittel dringender brauchen? (Gewirth 1987; vgl. auch: Stefan Gosepath, Innere Grenzen der Gerechtigkeit? Oder: Spenden als Privatsache oder öffentliche Angelegenheit? Unveröffentlichtes Manuskript.) 12 So formuliert etwa Kant bezüglich der Tugend als Ideal: „Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch auch immer von vorne an. – Das erste folgt daraus, weil sie, objectiv betrachtet, ein Ideal und unerreichbar, gleichwohl aber sich ihm beständig zu nähern dennoch Pflicht ist. Das zweite gründet sich, subjectiv, auf der mit Neigungen afficirten Natur
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tionistische Elemente eine Rolle. Andererseits verlangt die deontische Seite der Moral klare Regeln und Zuweisungen von Rechten und Pflichten, die deontische Seite der Moral ist eng mit dem Recht verbunden (vgl. ebd.). Auch die Explikation, die Heyd dafür gibt, dass supererogatorische Handlungen moralisch gut sind, scheint in die beiden Schemata deontisch und axiologisch zu passen. So könnte es vom Standpunkt einer deontologischen Position aus als moralisch wertvoll betrachtet werden, einen guten Weltzustand herzustellen. Allerdings ist diese These analog zum Gütekriterium zu sehen: Die Frage, warum es bloß erlaubt und nicht geboten sein sollte, einen guten Weltzustand herzustellen, wird erst dadurch beantwortet, dass wir etwas hinzufügen. Dieses zusätzliche Kriterium besteht nach der Meinung einiger Theoretiker in irgendeiner besonders lobenswerten oder verdienstvollen Leistung des Akteurs. Irgendein spezifischer Umstand müsste dazu führen, dass die moralisch gute Handlung, die die Akteurin ausführt, nicht geboten werden kann. Ein Kandidat für solche Handlungen ergibt sich aus dem Modell der Heiligen- oder Heldensupererogation, beziehungsweise, negativ formuliert, der Unzumutbarkeitssupererogation. Diesem Modell zufolge liegt die Grenze etwa zwischen einer Hilfspflicht und einer supererogatorischen Handlung dort, wo die Kosten für den Akteur unzumutbar hoch sind, sodass man die Pflichterfüllung von ihm nicht erwarten kann. Die Handlung, die etwa den Einsatz des eigenen Lebens verlangt, um einen anderen zu retten, kann nicht geboten werden. Ich komme darauf noch ausführlich zurück (vgl. Kapitel 1.5 und 1.9). In axiologischer Hinsicht könnte es darum gehen, den Wert einer Person an der Tugendhaftigkeit ihres Charakters zu messen: Wer hilft, obwohl es nicht von ihm verlangt werden kann, scheint einen besonders guten Charakter zu haben. Eine supererogatorische Handlung wäre dementsprechend moralisch gut, da sie den tugendhaften Charakter des Handelnden zum Ausdruck bringt. Und der tugendhafte Charakter zeigt sich eben darin, dass ein guter Weltzustand unter für den Akteur schwierigen Bedingungen hergestellt wird. Im Anschluss an Urmson (1958) und an Jackson (1986) können wir hier zwischen Heldensupererogation und Heiligensupererogation unterscheiden:
des Menschen, unter deren Einfluß die Tugend mit ihren einmal für allemal genommenen Maximen niemals sich in Ruhe und Stillstand setzen kann, sondern, wenn sie nicht im Steigen ist, unvermeidlich sinkt: weil sittliche Maximen nicht so wie technische auf Gewohnheit gegründet werden können (denn dieses gehört zur physischen Beschaffenheit seiner Willensbestimmung), sondern, selbst wenn ihre Ausübung zur Gewohnheit würde, das Subject damit die Freiheit in Nehmung seiner Maximen einbüßen würde, welche doch der Charakter einer Handlung aus Pflicht ist“ (MST, 6, 409, 21–34).
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Heldensupererogation liegt vor, wenn ein Akteur um einer moralisch guten Handlung willen seine Selbsterhaltung aufs Spiel setzt und in unzumutbarer Weise Gefahr für Leib und Leben in Kauf nimmt.
Hier können wir an das klassische Beispiel eines brennenden Hauses denken, aus dem ein Nachbar unter Einsatz seines Lebens oder seiner Gesundheit ein Kind rettet. Die Pointe ist jetzt, dass es schon vorher ein Kriterium geben muss, das diese Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht. Das ist allerdings nicht so schwer. Sowohl konsequentialistische als auch deontologische Modelle sind vorstellbar, die uns dieses Ergebnis liefern. Die Supererogation kommt erst dadurch zu Stande, dass der Akteur die Gefahr auf sich nimmt. Man könnte den Fall des helfenden Nachbarn etwa von der Pflicht eines Feuerwehrmannes außer Dienst unterscheiden, der aber seine Schutzkleidung dabei hat und ein wesentlich geringeres Risiko bei der Rettung eingeht.13 Diesem Prinzip der Messung der Supererogationsgrenze an der (Un-)Zumutbarkeit für den Akteur bzw. an den Risiken, die der Akteur einzugehen bereit ist, folgt auch die Heiligensupererogation, mit dem Unterschied, dass ihre Währung nicht Risiken, sondern Opfer von eigenen Zielen sind: Heiligensupererogation liegt vor, wenn der Akteur um einer moralisch guten Handlung willen seine eigenen Ziele und Interessen in einem unzumutbaren Maß zu opfern bereit ist.
13 Ein Feuerwehrmann im Dienst hätte dagegen eine vertraglich gesicherte Berufspflicht. So argumentiert Singer (2002, 150 ff.), der die hohe Spendenbereitschaft nach dem 11. September an die Hinterbliebenen der Feuerwehrmänner im Vergleich zu den sehr niedrigen Spenden an die Armen in den Entwicklungsländern kritisiert: „Three months after the desaster, the total stood at $ 3.1 billion. Of this amount, according to a New York Times survey, $ 353 million has been raised exclusively for the families of about 400 police officers, firefighters, and other uniformed personnel who died trying to save others. That comes to $ 880.00 for each family. The families of the firefighters killed would have been adequately provided for even if there had been no donations at all. Their spouses will receive New York state pensions equal to the lost salaries, and their children will be entitled to full scholarships to state universities. […] Red Cross volunteers set up card tables in the lobbies of expensive apartment building in Tribeca, where financial analysts, lawyers, and rock stars live, to inform residents of the offer. The higher the rent people paid, the more money they got. Some received as much as $ 10,000. The Red Cross acknowledged that money was going to people who did not need it.“ Dagegen sterben jeden Tag 30 000 Kinder unter 5 Jahren an armutsbedingten Ursachen, für die nicht annähernd so viel Geld gespendet wird. „In the year 2000, Americans made private donations for foreign aid of all kinds totaling about $ 4 per person in need, or roughly $ 20 per family. New Yorkers, wealthy or not, living in lower Manhattan on September 11, 2001, were able to receive an average of $ 5,300 a family. […] The distance between these amounts symbolizes the way in which, for many people, the circle of concern for others stops at the boundaries of their own nation – if it even extends that far“ (ebd., 152).
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In diesem Fall können wir uns etwa Mutter Theresa vorstellen, die ihre, möglicherweise konkurrierenden, eigenen Ziele aufgegeben hat, um den Armen zu helfen.14 Aus der bisherigen Diskussion ergibt sich: Supererogation bezeichnet eine moralisch gute Handlung, die einen guten Weltzustand herstellt und Gefahr für den Akteur und/oder Aufopferung seiner Interessen beinhaltet.
Die neuere Diskussion des problematischen Stellenwerts supererogatorischer Handlungen nimmt ihren Ausgang bei J.O. Urmsons Aufsatz Saints and Heroes (1958). Im Anschluss an Urmson hat Chisholm (1963) folgendes Schema vorgeschlagen: (1) Handlungen, deren Ausführung moralisch gut, deren Unterlassung moralisch schlecht ist (geboten). (2) Handlungen, deren Ausführung weder moralisch gut noch moralisch schlecht ist (erlaubt). (3) Handlungen, deren Ausführung moralisch schlecht ist, deren Unterlassung moralisch gut ist (verboten). (4) Handlungen, deren Ausführung moralisch gut ist, deren Unterlassung aber nicht moralisch schlecht ist (supererogatorisch).
14 Wir können uns bei einer Person wie Mutter Theresa auch vorstellen, dass es von vornherein vor allem zu ihren eigenen Zielen gehört, anderen zu helfen. Sie könnte also einen absolut altruistischen Charakter haben. Die subtile Unterscheidung, ob sie ihre eigenen Ziele um der Armen willen aufgegeben hat, oder ob es einfach ihr eigenes Hauptziel ist, den Armen zu helfen, macht für unsere Argumentation im Moment keinen Unterschied, denn uns geht es darum, was andere von uns erwarten können – und beides können andere von uns nicht erwarten. Es liegt sowohl jenseits der Pflicht, alle seine Ziele aufzugeben als auch einen vollständig altruistischen Charakter zu haben oder zu versuchen, sich einen solchen anzueignen (vgl. dazu Wolf 1997). Außerdem ist fraglich, wie stark man seinen eigenen Charakter überhaupt willentlich beeinflussen kann. Für Schopenhauer etwa würde die Unterscheidung eine Rolle spielen, ob Mutter Theresa ihre Ziele aufopfern muss, bzw. ob sie sich selbst dazu zwingen muss, ihre Ziele aufzuopfern, oder ob es zu ihren Zielen gehört, altruistisch zu handeln. Er würde ausschließlich der altruistischen Handlung, die aus reinem Mitleid motiviert ist, moralischen Wert zusprechen wollen (vgl. Schopenhauer 1977, 270–275). Problematisch ist, dass er gleichzeitig einen Determinismus der Charaktere vertritt. Mutter Theresa hätte also einfach Glück gehabt. Sie ist ein Mensch, deren Handlungen moralischen Wert haben, weil sie aus ihrem – von ihr selbst nicht veränderbaren – altruistischen Charakter folgen, der sie Mitleid mit allen anderen empfinden lässt (vgl. ebd., 217 f.). Weil Schopenhauer den Pflichtbegriff ablehnt, ist nicht klar, was Menschen tun sollen, beziehungsweise, was wir von Menschen verlangen können, die mit ihrem Charakter – zumindest, wenn man ihn aus dieser Perspektive betrachtet – weniger Glück hatten.
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Diesem Schema zufolge unterscheiden sich supererogatorische Handlungen von bloß erlaubten Handlungen dadurch, dass ihre Ausführung moralisch gut und nicht bloß indifferent ist. Urmson hat Heilige und Heroen im Blick, deren Verhalten praiseworthy ist. Nun ist das Problem bei den supererogatorischen Handlungen in Klasse (4), dass unter diese Klasse sowohl die Handlungen fallen, die Urmson im Blick hat: heldenhafte Handlungen, die preisenswert sind, deren Unterlassung aber nicht moralisch schlecht ist, als auch diejenigen Handlungen, die wie Freundlichkeiten und Nettigkeiten, Dankbarkeit und Verzeihen-Können zwar moralisch gut und nicht geboten, aber keineswegs heldenhaft sind. An dieser Stelle scheint es möglich, zwei Dimensionen der Supererogation zu unterscheiden: Heiligen- und Heldensupererogation: Handlungen, deren Ausführung wir preisen, deren Unterlassung wir aber nicht tadeln.
Die Betonung liegt hier auf preisen. Urmson hat nicht etwa nur einen Fall im Blick, bei dem die Erfüllung einer unstrittigen vertraglich übernommenen Garantenpflicht ungeheuer viel kostet. So ist es zwar heldenhaft, wenn ein Arzt unter schwersten Bedingungen seine Berufspflicht erfüllt: „the terrified doctor heroically stays by his patients in a plague-ridden city“ (Urmson 1958, 201), doch von einem Arzt, der verpflichtet ist, sich (auch unter großer Ansteckungsgefahr, die der Arztberuf mit sich bringen kann) um die Opfer einer Seuche zu kümmern, zu unterscheiden ist ein Arzt, der freiwillig in ein Krisengebiet geht und sich denselben Gefahren aussetzt. Dieser tut etwas, das weit jenseits seiner (vorverhaltensabhängigen Berufs-)Pflicht liegt: „We have considered the, certainly, heroic action of the doctor who does his duty by sticking to his patients in a plague-stricken city; we have now to consider the case of the doctor who, no differently situated from countless other doctors in other places, volunteers to join depleted medical forces in that city“ (ebd., 201 f.).
Der Arzt tut unter großen Opfern etwas, für das er nicht zuständig war. Urmson folgt offensichtlich in seinem Arztbeispiel unserer Einschätzung von Garantenpflichten als unstrittigen Pflichten. Der Punkt scheint hier zu sein, dass der zweite Arzt etwas tut, das nicht seine Berufspflicht ist, und dass das weder im Sinne des Rechts- noch des Anspruchskriteriums von ihm gefordert werden kann. Er geht freiwillig in das Krisengebiet, keine vertragliche Verpflichtung zwingt ihn dazu. Ist er dagegen in seinem eigenen Land bei einem Krankenhaus angestellt, dann muss er dort seinen Dienst tun, auch wenn das ihn im Fall einer Seuche großen Gefahren aussetzt.
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Die Supererogationsthese
Ein weiteres Problem liegt, wie Joel Feinberg beobachtet hat, darin, dass nicht alle positiven Leistungen, die jenseits der Pflicht liegen, preisenswert sind. Denn, dass positive Leistungen jenseits der Pflicht liegen können, gilt auch für Fälle, in denen wir positive Leistungen nicht für besonders heldenhaft halten würden. Hier haben wir es mit Freundlichkeitssupererogation zu tun: Freundlichkeitssupererogation: Handlungen, die das Wohlergehen anderer geringfügig steigern.
Wir können uns hier mit einem Beispiel von Joel Feinberg zur Illustration behelfen (vgl. Feinberg 1961, 276 f.): Streichholzbeispiel: Ein Fremder bittet an einer Straßenecke höflich um Feuer, um seine Zigarette anzuzünden. Feinberg gibt ihm Feuer.
Heyd spricht hier von „small acts of favor, politeness, consideration and tact, which are good though not morally praiseworthy, which can be expected of people even though not strictly demanded“ (Heyd 2007, Abschnitt 2). Joel Feinberg drückt die Tatsache, dass von ihm erwartet werden kann, dass er dem Fremden Feuer gibt, damit aus, dass wir sagen würden, er sollte dies tun: „Ought I give him one [a match, CM]? I think most people would agree that I should, and that any reasonable man of good will would, offer the stranger a match“ (Feinberg 1961, 276 f.).15 Allerdings bedeutet die Tatsache, dass wir etwas tun sollten, nicht, dass wir dazu verpflichtet sind.16 Zentral für Feinbergs Untersuchung ist der Unterschied zwischen dem, was wir tun sollten („ought to“, „should“) und dem, was Verpflichtung („obligation“) oder Pflicht („duty“) oder
15 Mit solchen Beispielen müssen wir allerdings in unserer Zeit vorsichtig sein. Das Unterstützen des gesundheitsgefährdenden Rauchens könnte auch als Schädigung ausgelegt werden. 16 Entgegen dem ersten Anschein ist eine solche Verwendung von sollen auch mit der Kantischen Moralphilosophie vereinbar. Was wir tun sollten („should“), wenn wir, wie Feinberg, einen anderen um Rat danach fragen, was in einer Situation als Daumenregel gilt, was für uns am Ende das beste Ergebnis bringt, dann werden wir Ratschläge erhalten, die durch hypothetische Imperative ausgedrückt werden können (vgl. GMS, 4, 416). Unter der Bedingung etwa, dass ich so handeln will, wie es im Allgemeinen für richtig gehalten wird, sollte ich dem Fremden wohl Feuer geben. Heyd (2007, Abschnitt 3) spricht in diesem Zusammenhang von der „ambiguity in the concept of ought“: einerseits kann damit eine Empfehlung gemeint sein: „an advice, a recommendation that ist not binding.“ Der Konjunktiv „du solltest X tun“ bringt dies wohl am besten zum Ausdruck. Andererseits kann mit „ought“ eine Vorschrift („prescription“) oder auch ein im Kantischen Sinn unbedingtes, kategorisches Sollen gemeint sein (ebd.).
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Verbindlichkeit („commitment“) oder Befolgen moralischer oder rechtlicher Gebote („rule“) ist. Die letztgenannten Verpflichtungen haben gemein, dass sie gefordert werden können („being required“), während dies in Bezug auf das Feuergeben im Streichholzbeispiel nicht der Fall ist. Das Erzwingbarkeitskriterium ist nicht erfüllt. Feinbergs Beobachtung deckt sich grob mit dem Zwischenergebnis aus Kapitel 1.2: Fürsorgepflichten, Garantenpflichten und Pflichten aus Verträgen erscheinen als echte Pflichten, auch wenn sie positive Leistungen von uns verlangen. Feinberg unterscheidet drei Kontexte, in denen wir von Pflichten (duties) oder Verpflichtungen (obligations) sprechen (vgl. ebd., 277). Erstens sprechen wir von Gehorsamspflichten (duties of obedience), wenn es um Handlungen geht, die durch Gesetze verlangt werden. Zweitens weisen uns Rollenpflichten bestimmte Aufgaben zu. Drittens können wir uns freiwillig durch Versprechen, Verabredungen usf. zu bestimmten Handlungen verpflichten. In diesen drei Hinsichten scheint es sich in Mills Sinn um Gerechtigkeitspflichten zu handeln, da andere legitimerweise von uns erwarten können, dass wir sie erfüllen:17 „All duties and obligations, whether imposed by authoritative injunctions and prohibitions, acquired through accepting or inheriting an office, job, or role, or voluntarily incurred through promises and other contractual agreements, share the common character of being required […]“ (ebd., 277 f.). Diese Pflichten werden also entweder positiv rechtlich erzwungen, oder wir haben sie uns durch unser Vorverhalten, etwa ihre freiwillige Übernahme, zugezogen.
1.4 Handlungssupererogation und Akteurssupererogation Feinbergs Streichholzbeispiel wirft uns auf das Kriterium, dass supererogatorische Handlungen jenseits der Pflicht liegen, zurück. Denn es kann moralisch gute Taten geben, die nicht geboten und gleichwohl nicht preisenswert sind, obwohl sie eine Gefahr für den Akteur und/oder die Aufopferung seiner Interessen beinhalten. Meine These ist, dass wir hier zwischen Handlungssupererogation und Akteurssupererogation unterscheiden müssen. Helden- und Heiligensupererogation sind in jedem Fall im Sinne der Akteurssupererogation zu verstehen, das heißt,
17 So sieht es auch Feinberg: „When one invokes these procedures, he creates his own ‚artificial chains‘, dons them, and hands the key to the other. This ‘binds’ or ‚ties’ him to the agreed-upon action, and gives the other the authority to require it of him. The other can, if he chooses, release him from his chains, or he can, in Mill’s much quoted words, exact performance from him as a debt“ (Feinberg 1961, 277).
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dass ein spezifisches Merkmal des Akteurs und ein spezifisches Situationsmerkmal, das es für einen herkömmlichen Akteur schwierig macht, eine Pflicht zu erfüllen, den Ausschlag darüber geben, dass seine Handlung als supererogatorisch zu bezeichnen ist.18 So lässt sich definieren: Akteurssupererogation bezeichnet ein Maß an Pflichterfüllung, das weit über das für den Akteur Zumutbare hinausgeht.19
Genau betrachtet ist für die Akteurssupererogation Chisholms Kategorie der supererogatorischen Handlungen, deren Ausführung moralisch gut, deren Unterlassung aber nicht moralisch schlecht ist, irreführend. Denn streng genommen werden ja gebotene Handlungen ausgeführt, die Rettung eines Kindes aus einem brennenden Haus und Armenhilfe, aber unter gefährlichen Bedingungen beziehungsweise in einem Ausmaß, das von einem durchschnittlichen Akteur nicht verlangt werden kann. Und das gilt auch für Urmsons Arzt: Wenn er ohne Einsatz seines Lebens oder seiner Gesundheit und ohne Aufopferung seiner Interessen außerhalb des Dienstes Kranken helfen könnte, wäre das seine Pflicht. Der Punkt ist, dass der freiwillige Dienst in einer verseuchten Stadt sowohl die Aufopferung eigener Interessen als auch Gefahr für Leib und Leben
18 Auch die Motivationssupererogation ist eine Spielart dessen, was ich hier als Akteurssupererogation bezeichnen möchte. Heyd (2007, vgl. Heyd 1982) und Zimmermann (1996, Kapitel 8) schlagen vor, eine Handlung für lobenswert zu halten, wenn wohltätige Intentionen oder altruistische Motive des Handelnden vorliegen. Diese Option müssen wir allerdings nicht weiter verfolgen, da unser Hauptaugenmerk darauf gerichtet ist, welche Handlungen geboten werden können bzw. was andere berechtigterweise von uns erwarten können – auch wenn keine entsprechenden Motive beim Handelnden vorliegen. 19 Vgl. Kamm (1985, 119): „It is commonly thought that we sometimes have a duty to help people, at least when the sacrifice to ourselves is not very great. It is also commonly thought that if the efforts required of us to help are high, helping is supererogatory, i.e. beyond the call of duty. The personal preference not to make the large effort, or to pay the large cost, may outweigh considerations in favour of helping.“ Eine gebotene Handlung kann dadurch supererogatorisch werden, dass sie unzumutbar ist: „if I must sacrifice an important personal goal to help someone, helping is commonly considerd supererogatory“ (ebd.). Zentral ist, dass vorher feststehen muss, was moralisch wertvoll ist. So wird überhaupt erst einsichtig, wann es geboten ist, anderen zu helfen. Allerdings kann das Erfordernis, ein wichtiges Gut zu opfern, die Pflicht für A zu einer supererogatorischen Handlung machen. Legitime Präferenzen können also Pflichten zu supererogatorischen Handlungen machen, doch der moralische Wert supererogatorischer Handlungen ist nicht von Präferenzen abhängig. Dass eine helfende Handlung moralischen Wert hat, ist nicht abhängig von meinen Präferenzen – aber dass meine helfende Handlung moralischen Wert hat, ist davon abhängig, dass ich mich für sie entschieden habe.
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beinhaltet. Bei Urmson sieht es so aus, als käme das Supererogatorische bei demjenigen Arzt, der freiwillig in ein Krisengebiet geht, dadurch zustande, dass er etwas tut, das jenseits seiner Berufspflichten liegt. Urmson scheint also zu unterstellen, dass vorverhaltensunabhängige positive Leistungen generell supererogatorisch sind. Die Supererogation bestünde dann beim zweiten Arzt darin, dass er eine Aufgabe übernimmt, zu deren Ausführung er gar keine Pflicht hatte (für die er nicht zuständig war) – und nicht, dass er eine Pflicht in einem unzumutbaren Maß erfüllt, wie der erste Arzt. Joel Feinbergs Einwand gegen Urmsons Darstellung der Dinge lautet, dass er die spezifische Differenz zwischen einer freiwilligen supererogatorischen Handlung, die sich auf die Erhaltung eines notwendigen Gutes (der Gesundheit der von der Seuche Befallenen) und anderen freiwilligen supererogatorischen Handlungen, die sich auf bloße Präferenzsatisfaktion des Behandelten beziehen, nicht adäquat erfassen kann. Akteurssupererogation im Falle des Arztes, der freiwillig den Kranken unter großem Einsatz hilft, ist deswegen preisenswert, weil er etwas Wichtiges tut, weil es um etwas Wichtiges geht, das sein Opfer rechtfertigt. Freiwillig etwas Unwichtiges zu tun, ist entsprechend nicht in derselben Weise preisenswert. Das Streichholzbeispiel können wir im Unterschied zur Akteurssupererogation im Sinne von Handlungssupererogation verstehen. Es gibt Handlungen, die moralisch gut sind, aber nicht geboten werden können: „if all duties are acts which are required, then there are meritorious acts (e.g., favors) which are not the performance of duty, for not all good deeds are requitals or repayments or fulfilments of bargains“ (ebd., 278). Unter Handlungssupererogation scheinen Handlungen zu fallen, die wie im Streichholzbeispiel so irrelevant für das Wohlergehen und die grundlegenden Interessen anderer sind, dass sie nicht im strengen Sinn geboten werden können. Also genau so, dass im Sinne des Rechtskriteriums und des Anspruchskriteriums weder ein Recht noch ein moralischer Anspruch auf die Handlung vorliegt. Feinberg spricht hier von Gefallen („favors“).20 Und inso-
20 Löhr schließt diese „supererogatorischen Kleinigkeiten“ aus seiner Definition ganz aus (Löhr 1991, 87). Er schreibt: „Mir scheint es ein wesentliches Merkmal supererogatorischer Handlungen zu sein, dass wirklich etwas moralisch Substantielles und Dauerhaftes zustande gebracht wird. Handlungen, deren Wirkungen nur kurze Zeit anhalten, die alltäglich und trivial sind, möchte ich, auch wenn es Handlungen sind, die wir von niemandem als moralische Pflicht einfordern, nicht zu den supererogatorischen Handlungen rechnen.“ Die hier entwickelte gütertheoretisch fundierte Alternativposition hat demgegenüber den Vorteil, dass sie gleichzeitig erklären kann, warum Akteurssupererogation etwas Substantielles bewirkt, obwohl sie jenseits der Pflicht liegt, und warum Freundlichkeitssupererogation nicht gefordert werden kann.
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fern man diese Handlungen auch als Freundlichkeiten bezeichnet, die man ebenso von anderen erwarten würde, wie man sie ihnen erweist, kann man in diesem Fall auch von Freundlichkeitssupererogation sprechen. Zusammenfassend lässt sich Handlungssupererogation folgender Maßen bestimmen: Handlungssupererogation: Eine Handlung ist handlungssupererogatorisch, wenn sie sich auf eine nicht gebotene Verbesserung der Situation einer anderen Person bezieht, obwohl die Verbesserung für den Geber zumutbar ist.
Die Erklärungsleistung, die sich aus der hier vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Handlungssupererogation und Akteurssupererogation ergibt, besteht darin, dass ihr zufolge einerseits Handlungssupererogation vorliegen kann, wo keine Akteurssupererogation vorliegt. Das ist im Streichholzbeispiel der Fall. Es liegt Handlungssupererogation vor, denn Feinberg hat in keinem der vorgeschlagenen Kriterien für Pflichten eine Pflicht, dem Mann Feuer zu geben. Und obschon seine Handlung (Feuer zu geben) weder preisens- noch lobenswert ist, ist sie immerhin des Dankes wert. Andererseits kann Akteurssupererogation vorliegen, wo keine Handlungssupererogation vorliegt. Es kann z. B. preisenswert sein, wenn im Nationalsozialismus ein SS-Soldat unter der eigenen Gefahr des Entdecktwerdens einen Verfolgten entkommen lässt. Durch die extrem nichtidealen Umstände liegt hier Heldensupererogation vor, obwohl der SS-Soldat unter normalen Umständen nur seine weithin anerkannte negative Pflicht erfüllen würde, andere nicht zu schädigen.21 Das Problem, vor das uns die Bestimmung supererogatorischer Handlungen stellt, ist die Bestimmung der Supererogationsgrenze (vgl. Heyd 2007 und Urmson 1958). Wenn wir meiner Unterscheidung zwischen Handlungssupererogation und Akteurssupererogation folgen, müssen wir zunächst bestimmen, wo die Grenze zwischen Handlungen verläuft, zu denen wir verpflichtet sind, und supererogatorischen Handlungen. Zweitens müssen wir uns fragen, ab wann die Ausführung einer verpflichtenden Handlung für den Akteur so unzumutbar ist, dass Akteurssupererogation vorliegt, wenn er sie dennoch ausführt. Dieses Vorgehen scheint mir auch deshalb sinnvoll, weil in der Tat Akteurssupererogation mit zunehmender Handlungssupererogation abzunehmen scheint. Je weniger verpflichtend die Handlung ist, desto weniger lobenswert wird ein
21 In der Tat geben viele derjenigen Personen, die im Nationalsozialismus Menschen gerettet haben an, sie hätten nur ihre Pflicht getan. Baron (1998, 66) hat eine diesbezügliche Studie von Nechama Tec (1986, 165 ff.) ausgewertet. Hier kann der Fall auftreten, dass eine Handlung aus der Akteursperspektive nicht für supererogatorisch, sondern für verpflichtend gehalten wird, aus der Außenperspektive jedoch schon (vgl. Baron 1998).
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Akteur sein, der eine wenig verpflichtende Handlung wie im Streichholzbeispiel unter großen Gefahren oder persönlichen Opfern dennoch ausführt. Umgekehrt ist es wohl so, dass je stärker verpflichtend eine Handlung ist, wir jemanden tadeln könnten, der sie nicht ausführt, obwohl es ihn nichts oder kaum etwas kosten würde. Wenn diese Interpretation überzeugend ist, dann lassen sich beide Varianten des schwachen Supererogationseinwandes nicht auf Singers Teichbeispiel anwenden. Denn die Handlung des Passanten im Teichbeispiel wird wohl kaum korrekt als Heldensupererogation beschrieben. Die Pointe ist ja gerade, dass in Singers Teichbeispiel eine sogenannte easy rescue vorliegt (vgl. Stepanians 2006). Der Passant muss nicht seine Selbsterhaltung aufs Spiel setzen, um das Kind zu retten. Und von Heiligensupererogation können wir hier wohl auch nicht sprechen. Denn der Passant muss nur an einem Nachmittag seine Vorlesung verschieben und eventuell seine Kleider reinigen lassen. Persönliche Opfer in der Dimension der Aufgabe oder Einschränkung eigener relevanter Interessen oder langfristiger Lebensziele sind hier nicht erforderlich. Zu Mutter Theresa liegt keine Analogie vor. Andersherum scheint das Verhalten von Heiligen und Heroen nur deswegen preisenswert, weil sie etwas tun, das unter normalen Umständen oder von normalen Akteuren nicht gefordert werden kann. Der Punkt ist, dass wir gerade das Preisenswerte einer supererogatorischen Handlung nur dann erfassen können, wenn es um ein wichtiges Gut geht, dessen Schutz eigentlich Gegenstand einer Pflicht sein sollte. Auf Seiten dessen, für den die Situation verbessert wird, darf es sich also nicht nur um eine geringfügige Verbesserung handeln, wie in Feinbergs Streichholzbeispiel. Es darf also nicht Handlungssupererogation vorliegen. Wir müssen uns nochmals genau die Bestimmung der Supererogationsgrenzen ansehen. Es liegt allerdings jetzt schon die Vermutung nahe, dass im Falle des Teichbeispiels mindestens eine moralische, wenn nicht eine rechtliche Pflicht zur Rettung des Kindes verletzt wird, wenn der Passant das Kind ertrinken lässt. Das würde natürlich erklären, warum die Handlung des Passanten weder preisenswert ist noch unter Handlungssupererogation fällt, also als bloße Freundlichkeit, auf die man keinen moralischen oder rechtlichen Anspruch hat, nicht adäquat beschrieben werden könnte. Wenn es stimmt, dass im Teichfall keine supererogatorische Handlung, weder im Sinne der Akteurssupererogation noch im Sinne der Handlungssupererogation, vorliegt, sondern eine moralische oder rechtliche Pflicht, dann würde das bedeuten, dass es moralische oder sogar rechtliche positive Pflichten geben kann, die sich auf die Verbesserung der Situation anderer beziehen und vorverhaltensunabhängig sind.
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1.5 Die gütertheoretische Bestimmung der zwei Supererogationsgrenzen In Kapitel 1.4 hatte ich die Unterscheidung von zwei Supererogationsbestimmungen vorgeschlagen: Akteurssupererogation und Handlungssupererogation. Die Idee besteht nun darin, ebenfalls eine zweifache Präzisierung der Supererogationsgrenzen vorzunehmen. Ich behaupte, dass insbesondere ein gütertheoretisches Modell diese Grenzen adäquat erfassen kann und werde versuchen zu zeigen, dass es einem an den Ausführungen von Thomas von Aquin angelehnten Modell gelingt, die Supererogationsgrenzen einigermaßen plausibel zu bestimmen. Historisch gesehen entstammt die Konzeption der Supererogation dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus der Bibel, das wir uns in Kapitel 1.6 ansehen werden. Ausgearbeitet wurde die Lehre von supererogatorischen Handlungen in der Tradition christlicher Theoretiker. Bei Thomas von Aquin findet sich die Unterscheidung von Geboten und Ratschlägen.22 Gebote (praecepta) müssen streng befolgt werden, stehen also im Sinne Heyds für den deontischen Teil der Moral.23 Wer ein Gebot nicht befolgt, begeht eine Todsünde. Dagegen ist es keine Todsünde, einen Ratschlag nicht zu befolgen. Ratschläge zur Seligwerdung (consilia) richten sich bei Thomas im Gegensatz zu strengen Geboten auf die allgemeine Tugendhaftigkeit des Akteurs. Hier werden Richtlinien für das Verhalten angegeben, allgemeine Ziele und Ideale wie etwa universelle Wohltätigkeit. Durch das Befolgen von Ratschlägen kann man gleichsam Tugendpunkte sammeln.
22 Diese Unterscheidung geht auf Matt 19, 16–24 zurück: „Und siehe, einer trat herzu und sprach zu ihm: Lehrer, welches Gute soll ich tun, auf dass ich ewiges Leben habe? Er aber sprach zu ihm: Was fragst du mich über das Gute? Einer ist gut. Wenn du aber ins Leben eingehen willst, so halte die Gebote. Er spricht zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: Diese: Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsches Zeugnis geben; ehre den Vater und die Mutter, und: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Der Jüngling spricht zu ihm: Alles dieses habe ich beobachtet; was fehlt mir noch? Jesus sprach zu ihm: Wenn du vollkommen sein willst, so gehe hin, verkaufe deine Habe und gib den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach“ (vgl. dazu Heyd 2007). Zur Unterscheidung von Ratschlägen und Geboten bei Thomas von Aquin vgl. ebenfalls Heyd 2007, Abschnitt 1 und Wessels 2002, Kap. 4.1. 23 Das deckt sich auch mit Urmsons Forderung: „we need to discover some theory that will allow for both absolute duties, which, in Mill’s phrase, can be exacted from a man like a debt, to omit which is to do wrong and to deserve censure, and which may be embodied in formal rules or principles, and also for a range of actions which are of moral value and which an agent may feel called upon to perform, but which cannot be demanded and whose omission cannot be called wrongdoing“ (Urmson 1958, 208).
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Positive Leistungen als supererogatorisch zu bezeichnen, kann, wie wir gesehen haben, erstens bedeuten, zu behaupten, dass eine Handlung, die die Situation anderer verbessert, moralisch gut, ihre Unterlassung jedoch nicht moralisch schlecht ist. Diese Art der Supererogation habe ich Handlungssupererogation genannt (vgl. Kapitel 1.4). Woran bemisst sich, ob Verbesserungen der Situation anderer geboten werden können? Mehrere Kandidatinnen für gebotene Verbesserungen sind die schon in Kapitel 1.2 genannten und auch von Feinberg vorgeschlagenen Pflichten, die sich aus rechtlichen Regeln wie Steuerpflicht oder aus übernommenen Rollen ergeben, wie Berufspflichten als Arzt oder Bademeister. Darunter können wir auch Garantenpflichten etwa von Eltern oder Arbeitgebern zählen. Ferner sind positive Verpflichtungen geboten, die sich aus Versprechen und aus Verträgen ergeben (vgl. Feinberg 1961, 277). Unsere Frage ist, wozu wir verpflichtet sein können, wenn wir faktische staatliche Sanktionen und das freiwillige Eingehen von Verpflichtungen außen vor lassen. Unsere Herausforderung besteht also darin, die Supererogationsgrenze in Fällen zu bestimmen, in denen zwischen dem zur positiven Leistung Verpflichteten und dem, dessen Situation verbessert wird, keine vorverhaltensabhängige normative Verbindung besteht. Man kann bezüglich des Stellenwerts von Hilfspflichten mehr oder weniger extreme Thesen vertreten. Die extremste Position wäre, zu behaupten, dass es gar keine Pflicht geben kann, die Lage anderer zu verbessern, sofern man nicht zum Zustandekommen der problematischen Lage beigetragen hat oder in besonderer Weise für die Hilfe zuständig ist. Hier sind wir wieder bei der schwachen Variante des Supererogationseinwandes, der besagt, dass es keine vorverhaltensunabhängige Pflicht geben kann, die Situation anderer zu verbessern. Weniger extrem und intuitiv plausibler ist eine Position, die behauptet, dass es keine vorverhaltensunabhängige Pflicht geben kann, etwas für einen anderen bereitzustellen, das dieser nicht notwendig braucht: Bedürfnisthese: Eine (vorleistungsunabhängige) Pflicht zur Verbesserung der Situation anderer hängt vom Grad ihrer Bedürftigkeit ab.
Durch die Verwendung des Terminus Bedürftigkeit sind Fälle ausgeschieden, in denen jemand gar nichts braucht, sondern wir ihm etwa eine Freude machen, indem wir ihn z. B. zum Essen einladen. Dass hier keine Pflicht vorliegt, ist sicher in vielen Fällen plausibel. Ein weiteres Standardbeispiel für eine Leistung, die dem Empfänger nutzt, die er aber nicht unbedingt braucht, ist die Autofahrt: So ist es sicher lobenswert, eine Kollegin mit dem Auto nach Hause zu fahren, die sonst mit dem Bus viel länger unterwegs wäre. Doch wir würden unter normalen Umständen niemanden tadeln, weil er seine Kollegin mit dem Bus fahren lässt,
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obwohl er sie mit dem Auto nach Hause fahren könnte. Hier handelt es sich um Geschenke: Wir geben einer Person freiwillig etwas über das hinaus, was sie notwendig braucht. Davon sind Fälle zu unterscheiden, in denen jemand in einer Weise bedürftig ist, die notwendig unsere Hilfe erfordert. Hier können wir uns verschiedene Fälle vorstellen, die sich dem Grad nach unterscheiden. In Feinbergs Beispiel braucht der Mann an der Straßenecke ein Streichholz, um seine Zigarette anzuzünden. In dieser Hinsicht ist er also bedürftig. Gleichwohl scheinen wir nicht verpflichtet, alle Bedürfnisse anderer zu befriedigen. Wenn Feinberg das Streichholz selber braucht, weil es sein letztes ist und er später auch noch rauchen will, besteht sicher keine Pflicht, es abzugeben. Auch muss er dem Mann keine Streichhölzer besorgen, falls er keine bei sich hat, das wäre wirklich schon zuviel des Guten. Aber wenn Feinberg genug Streichhölzer hat und es ihm wenig Mühe bereitet, eins abzugeben, wird er dem Mann helfen. Hier handelt es sich um Hilfe bei bloßer Präferenzsatisfaktion des Behandelten. Wir können auch von einer subjektiven Notlage sprechen.24 Anders sieht es im Falle von Singers Teichbeispiel aus. Wenn der Passant nicht hilft, wird das Kind ertrinken. Hier handelt es sich um eine objektive Notlage. Das Leben ist für jeden ein Gut, unabhängig von seinen individuellen Präferenzen. Es liegt nahe, die Grenze für Handlungssupererogation, also die Grenze zwischen Handlungen, die geboten sind, und Handlungen, die supererogatorisch sind, gütertheoretisch zu bestimmen. Die Frage ist, wie viel für den Hilfsbedürftigen auf dem Spiel steht. Handelt es sich um eine objektive Notlage und die Hilfe ist zumutbar, so scheint eine Hilfspflicht zu bestehen. Handlungssupererogation ist hier nicht gegeben. Von der Handlungssupererogation zu unterscheiden ist die Akteurssupererogation, die sich auf ein unzumutbares Maß an Pflichterfüllung bezieht (vgl. Kapitel 1.4). Die erbrachte Leistung ist supererogatorisch, weil eine gebotene Handlung unter für den Akteur unzumutbaren Umständen dennoch ausgeführt wird. Während bei Handlungssupererogation gar keine Pflicht vorliegt, ist bei Akteurssupererogation die Ausführung der Pflicht unter extrem gefährlichen oder belastenden Umständen dasjenige, das die Bezeichnung supererogatorisch rechtfertigt.25 Handlungssupererogation beruht auf dem negativen Aspekt der Supererogation. Akteurssupererogation beruht auf dem positiven Aspekt der
24 Man könnte einwenden, dass der Terminus Notlage hier überstrapaziert wird, doch die Verwendung für Fälle, in denen jemand mit seinem Computer nicht zurecht kommt, das Handy vergessen hat und trotzdem dringend jemandem zum Geburtstag gratulieren will usf., ist weit verbreitet. 25 Vgl. O’Neill (1996, 267). Ein Beispiel hierfür wäre die Rettung eines Kindes aus einem brennenden Haus durch einen Nachbarn.
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Supererogation. In dieser zweiten Hinsicht sind Heilige und Helden die klassischen Beispiele für supererogatorische Handlungen – und zwar im Sinne der Akteurssupererogation. Sie handeln in einer Weise tugendhaft, die man unter normalen Umständen nicht erwarten würde und zum Teil auch legitimerweise nicht erwarten kann. Ein klassisches Beispiel hierfür ist wieder die Rettung anderer unter Einsatz des eigenen Lebens. Denn die Rettung anderer ist sicher moralisch gut, der Einsatz des eigenen Lebens geht aber über dasjenige hinaus, was man legitimerweise von jemandem erwarten kann. Ein anderes Beispiel wäre die Bereitschaft, eine Niere zu spenden (vgl. Kamm 1985, 120). Beim Handlungsverständnis der Supererogation kommt es darauf an, dass die Leistungsempfängerin etwas bekommt, das sie nicht notwendig braucht. Es ihr zu geben, scheint deswegen jenseits der Pflicht zu liegen. Hier geschieht eine Verbesserung, die nicht notwendig ist. Beim akteursspezifischen Verständnis kommt es dagegen darauf an, dass eine unter normalen Umständen moralisch gebotene Handlung unter extremen Umständen ausgeführt wird. Dass Akteurssupererogation bei der Rettung eines Kindes aus einem brennenden Haus vorliegt, setzt dann voraus, dass es eine Pflicht zur Rettung des Kindes gibt, die in einer notwendigen Verbesserung (der Rettung vor dem Tod) besteht. Allerdings ist deren Ausführung unter dem Einsatz des eigenen Lebens und der eigenen Gesundheit unzumutbar. Die Akteursdefinition der Supererogation ist in dieser Hinsicht eine Unzumutbarkeitsdefinition. Diese Definition können wir auch bei John Rawls finden: Supererogatory acts are not required, though normally they would be were it not for the loss or risk involved for the agent himself. A person who does a supererogatory act does not invoke the exemption which the natural duties allow (Rawls 1971, 117; vgl. O’Neill 1996, 265 ff. und Kamm 1985, 122).
Diese Supererogationsdefinition von Rawls und O’Neill deckt exakt das ab, was wir hier als Akteurssupererogation verstanden haben. Dem ergänzenden Verständnis von Handlungssupererogation wird diese Definition allerdings nicht gerecht. Die Hauptfrage, die wir immer noch beantworten müssen, lautet präzisiert, ob wir es in Singers Teichbeispiel mit Handlungssupererogation zu tun haben, mit einer freiwilligen Mehrleistung. Das ist, nochmals, keine akademische Frage. Denn klassische Wohltätigkeitstheorien liefern uns starke Indizien in diese Richtung. Klassische Freigebigkeits- oder Wohltätigkeitstheorien (z. B. Aristoteles, Kant) verstehen nämlich das Helfen als Tugend des Gebers und nicht als Pflicht im Sinne der aufgeführten Kriterien für Pflichten. Sie weisen genau an der Stelle
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ein großes Defizit auf, wo es um die Frage nach einem moralischen Anspruch auf Hilfe auf Seiten des Empfängers geht. Sie gehen nämlich davon aus, dass Helfen nicht rechtlich erzwingbar ist, dass dem Helfen kein Recht auf Seiten des Hilfsempfängers und auch nicht einmal ein moralischer Anspruch auf Hilfe korrespondiert. Und das ist, so meine These in diesem ganzen Kapitel, was Fälle wie Singers Teichbeispiel anbelangt, kontraintuitiv. Zumindest scheint es problematisch, dass allgemeine Wohltätigkeit so unterbestimmt ist, dass sie Fälle wie das Teichbeispiel und das Streichholzbeispiel umfasst. Was wir suchen, ist dagegen eine Möglichkeit, gebotene vorverhaltensunabhängige positive Leistungen von nicht gebotenen zu unterscheiden. Interessanterweise finden wir die Unterscheidung zwischen dem Geschuldeten, das zur Gerechtigkeit gehört, und darüber hinaus gehender Wohltätigkeit, die Urmson von Mill übernimmt, schon bei Thomas von Aquin. Innerhalb einer längeren Auseinandersetzung mit der Liebe geht Thomas von Aquin in den Fragen 30–32 der Theologischen Summe (ST II-II, 30–32) auf das Mitleid (Misericordia), das Wohltun (Beneficentia) und das Almosengeben (Eleemosyna) ein.26 Als Schmerz über fremdes Leid ist Mitleid bloße Leidenschaft und keine Tugend. Wird es jedoch von der Vernunft geregelt, so gehört es zur Tugend der Barmherzigkeit, die sich darauf bezieht, anderen zu Hilfe zu kommen. Unter Wohltun versteht Thomas ganz allgemein, dass wir anderen Gutes tun. Nun können Wohltaten unter dem Aspekt der Gerechtigkeit und unter dem Aspekt der Barmherzigkeit betrachtet werden: Alles, was einer gibt, gibt er als etwas, was er schuldet, oder als etwas, was er nicht schuldet. Die Wohltat aber, die einer erweist, weil er sie schuldet, gehört zur Gerechtigkeit; was aber als nicht geschuldet aufgewandt wird, wird umsonst gegeben und gehört demnach zum Mitleid. Alles Wohltun also ist entweder ein Akt der Gerechtigkeit oder ein Akt der Barmherzigkeit (ST II-II, 31,1).
26 Misericordia (von miser: arm, elend und cors: Herz) wird als Mitleid, Barmherzigkeit oder Erbarmen übersetzt. Die Wortbedeutung wird am engsten von dem deutschen Wort „Barmherzigkeit“: ein Herz für die Armen haben, sich den Armen erbarmen (mhd. Barmen, ahd. Armen von lat. miser: elend, arm, unglücklich), erfasst. Der Terminus technicus für Almosen in Q 32 ist eleêmosyna. Der Terminus stammt von griech. eleêmosynê: Wohltätigkeit gegenüber den Armen: Almosen geben. Der Terminus setzt sich aus eleêmon: mitleidig, barmherzig, von eleos: der Affekt der Rührung angesichts eines Übels, das einen anderen unverschuldet getroffen hat, und eleeinos: bemitleidenswert, kläglich, elend, zusammen. Das deutsche Wort Almosen (vgl. englisch „alms“) stammt aus der Kirchenlehre (den Armen etwas geben um Gottes Willen) und geht auf griech. eleêmosynê (Mitleid, Almosen) bzw. die lateinische Übersetzung misericordia zurück. Ethymologisch stammt Almosen von frührömisch Alimonia: Ernährung, Unterhalt (vgl. den Terminus Aliment).
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Nun scheint gerade das Almosengeben ein Akt der Barmherzigkeit zu sein. Denn zwischen dem bedürftigen Empfänger von Almosen und dem Geber besteht eine Asymmetrie, die einer Ausgeglichenheit im Geben und Nehmen gerade zu widersprechen scheint:27 „Die äußeren Akte werden auf jene Tugend bezogen, zu welcher der Beweggrund zur Ausführung dieses bestimmten Aktes gehört. Beweggrund zum Almosengeben aber ist, dem Notleidenden zu helfen“ (ST II-II, 32,1). Almosen geben als Form des Wohltuns erscheint so als Akt der Barmherzigkeit, nicht als Akt der Gerechtigkeit. Gleichwohl fragt sich Thomas, ob das Almosengeben zu den Ratschlägen oder zu den Geboten gehört. Praecepta sind göttliche Gebote. Ihre Befolgung ist geboten, die Zuwiderhandlung ist verboten und sündhaft (-a). Consilia dagegen sind Ratschläge zur Seligwerdung. Eine Zuwiderhandlung beziehungsweise die Unterlassung nicht gebotener Wohltaten ist erlaubt (0). Die Befolgung der Consilia ist supererogatorisch, sie stellt ein Verdienst dar (+a). Gehört nun das Almosengeben zu den Praecepta? Wenn dem so wäre, müsste man eine Übertretung eines Gebotes durch die Verwehrung eines Almosens bestimmen können, die als Todsünde zu werten ist. Nun liegen zunächst zwei Gegenargumente auf der Hand. Erstens: Wenn ich keine Almosen gebe, kann ein anderer helfen, und zweitens: Vielleicht könnte ich später jemand anderem helfen. Gesucht ist ein Fall, in dem die Wohltat notwendig ist: „Da die Nächstenliebe unter das Gebot fällt, fällt notwendig all das unter das Gebot, ohne das die Nächstenliebe nicht gewahrt bleibt. Zur Nächstenliebe aber gehört, dass wir dem Nächsten nicht nur Gutes wünschen, sondern auch tun“ (ST II-II, 32,5). Nothilfe durch Almosen ist erforderlich, wenn ohne sie die Nächstenliebe als Gebot des Wohltuns nicht gewahrt bleibt. Was hier Not tut, sind Kriterien, die gebotene Hilfe von nicht gebotener Hilfe abgrenzen können. Aus den Ausführungen über Almosen lassen sich nun solche Kriterien rekonstruieren. Dabei müssen wir zwischen der Geberperspektive und der Empfängerperspektive unterscheiden. Auf der Geberseite schlägt Thomas vor, dass Almosen vom Überfluss gegeben werden sollen, von dem was „übrig ist“, wenn man das, was man zur Versorgung seiner selbst und der von einem Abhängigen braucht, abgezogen hat. Zuerst muss man also für sich behalten, was notwendig ist, um sich selbst und diejenigen zu versorgen, für die man verantwortlich ist. Dann erst kommt das Almosen gegenüber fremder Not. Nun müssen diese Kriterien auf die Lage des Empfängers bezogen werden. Geboten kann ein Almosen nur sein, wenn der 27 „Wie die Freundschaft oder die Gottesliebe in der erwiesenen Wohltat auf die allgemeine Bewandtnis von ‚gut‘ schaut, so die Gerechtigkeit auf die Bewandtnis von ‚geschuldet‘. Das Mitleid aber schaut darauf, wie man dem Elend und der Schwäche [des anderen] aufhelfen kann“ (ST II-II, 31,1).
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Empfänger es wirklich braucht: „Weil es aber nicht möglich ist, dass ein einziger allen Notleidenden hilft, so verpflichtet auch nicht jede Not im Sinne des Gebotes, sondern nur jene, ohne deren Behebung der Notleidende nicht erhalten werden kann“ (ebd.). Bei verpflichtenden Hilfeleistungen geht es also um äußerste Not. Wir sind grob auf zwei Kriterien zur Bestimmung der Supererogationsgrenzen gestoßen, die es ermöglichen, die Gebersituation auf die Empfängersituation zu beziehen: „Demnach fällt also Almosengeben vom Überfluss unter das Gebot; ebenso Almosengeben dem, der in äußerster Not ist. Sonst aber fällt Almosengeben unter den Rat, wie es über jedes höhere Gut einen Rat gibt“ (ebd.). Ein Verstoß gegen ein Gebot liegt beim verweigerten Almosen dann vor, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: Wenn (a) beim Empfänger „augenscheinliche und dringliche Not offenbar wird“, (b) beim Geber überflüssige Güter vorhanden sind, die er momentan nicht nötig hat und (c) „keiner zur Hand ist, der ihm sonst helfen könnte“. Umgekehrt „scheint es, dass man sündigt, wenn man sich das Notwendige abzieht, um es anderen zu geben“ (ST II-II, 32,6). Hier liegt, insbesondere wenn man dort zu viel vom Eigenen abgibt, wo jemand nichts notwendig braucht, Verschwendung und Verantwortungslosigkeit gegenüber sich selbst und den Seinen vor.28 Nur, wenn etwas sehr Wichtiges auf dem Spiel steht, ist es erlaubt oder sogar geboten, von dem zur Erhaltung der eigenen Existenz Notwendigen etwas abzugeben. Thomas hat dabei die Rettung einer Person, die für das Gemeinwohl notwendig ist, im Blick. Denn das Gemeinwohl kann Vorrang vor dem eigenen Wohl haben, somit ist es gerechtfertigt, dass der Geber sein Leben aufs Spiel setzt. Diese Handlung wird als „lobenswert“ bezeichnet: Sie fällt also unter die consilia, so dass sie supererogatorisch ist. Hier liegt in unserer Terminologie Heldensupererogation vor. Wichtig ist folgendes Zwischenergebnis: Es kann vorverhaltensunabhängige positive Pflichten geben. Thomas ordnet positive Leistungen, die das Kriterium der Bedürftigkeit beim Hilfsempfänger und das Kriterium der Zumutbarkeit beim Geber erfüllen, unter gebotene Handlungen ein, obwohl hier offensichtlich keine Gerechtigkeitspflichten im Sinne eines Ausgleichs einer Schuld oder der Erwartung einer Gegenleistung vorliegen. Vielmehr ist gerade eine Asymmetrie zwischen Geber und Nehmer zu beobachten, da es die gebotenen Hilfeleistungen auszeichnet, dass jemand etwas notwendig braucht, das ein anderer hat, aber nicht unbedingt benötigt. 28 So sieht es auch schon Aristoteles: „Ein Verschwender ist, wer die eine Untugend hat, seinen Besitz zu zerstören“ (NE, 1119 b30). Dagegen stellt er die Tugend der Freigebigkeit: „freigebig ist, wer nach Maß seines Vermögens und am rechten Ort austeilt. Wer hier durch Übermaß fehlt, ist ein Verschwender“ (NE, 1120 b).
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Dabei sieht es bei Thomas zusätzlich so aus, als ob wir andere auch durch Unterlassen vorverhaltensunabhängiger positiver Pflichten schädigen könnten. Es verpflichtet uns zwar „nicht jede Not im Sinne des Gebotes, sondern nur jene, ohne deren Behebung der Notleidende nicht erhalten werden kann. In diesem Falle nämlich gilt, was Ambrosius sagt: ‚Speise den, der vor Hunger stirbt. Tust du es nicht, so hast du ihn getötet‘“ (ST II-II, 32,5). Ferner scheint eine weitere Intuition die zu sein, dass die Reichen insbesondere reich sind, um den Armen etwas abgeben zu können. In einer Passage, auf die Singer sich in Famine, Affluence and Morality explizit stützt (Singer 2007, 46 f.), heißt es: Nach der Ordnung der Natur ist aber von der göttlichen Vorsehung her bestimmt, dass die niederen Dinge dazu da sind, der menschlichen Bedürftigkeit aufzuhelfen. Deshalb hindert die Verteilung und Zueignung der Dinge, die nach menschlichem Recht vor sich geht, nicht, dass der Not des Menschen durch eben diese Dinge begegnet werden muss. Daher ist der Überfluss, den einige haben, auf Grund des Naturrechts dem Unterhalt der Armen geschuldet. So sagt Ambrosius – und das Wort ist auch in den Dekreten zu finden: Es ist das Brot der Hungrigen, das du festhältst; das Kleid der Nackten, das du verschließest; der Loskauf der Elenden und ihre Befreiung ist das Geld, das du in der Erde vergräbst (ST II-II, 66,7).29
Die These, dass wir durch Unterlassen schädigen können, scheint die Kehrseite des Versuchs, starke Hilfspflichten anzunehmen. So ist für Singer und auch für Thomas jemand, der ein notwendiges Gut nicht bereitstellt, obwohl es ihm leicht möglich wäre, nicht etwa als jemand einzuordnen, der Wohltun unterlässt, sondern als jemand, der schädigt. Wir können das die These der schädigenden Unterlassung nennen. (Darauf kommen wir später zurück, Kapitel 2.6. und Kapitel 3.2.) Thomas trägt dieser Idee Rechnung, indem er gegen Aristoteles hervorhebt, man habe ein Recht darauf, sich das zum Leben Notwendige notfalls mit Gewalt zu verschaffen, wenn diejenigen, die die Pflicht haben, vom Nichtnotwendigen etwas abzugeben, dieser Pflicht nicht nachkommen. Diese Hilfspflichten sind in keiner der benannten Hinsichten als supererogatorisch zu betrachten, denn sie erfordern kein unzumutbares Maß an Pflichterfüllung, sie verletzen den anderen, wenn wir sie unterlassen und sind damit tadelnswert. Ferner sind sie, sofern derjenige, der ein Recht auf Hilfe hat, auch das Recht hat, sich das notwendige Gut notfalls mit Gewalt zu beschaffen, auch erzwingbar. Diese Überlegung stellt uns allerdings vor gravierende Probleme, die neuerdings Peter Unger im Anschluss an Peter Singer besonders deutlich in seinem Buch Living High and
29 Ferner wird die mangelhafte Unterstützung der Armen sogar explizit als Unrecht bezeichnet: „Die zeitlichen Güter, die dem Menschen von Gott gegeben werden, gehören ihm zwar, was das Eigentumsrecht angeht; was aber den Gebrauch angeht, so dürfen sie nicht ihm allein gehören, sondern auch den anderen, die aus ihrem Überfluss unterstützt werden können“ (ST II-II, 32,5).
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Letting Die. Our Illusion of Innocence (1996) formuliert hat. Es scheint im Anschluss an die These der schädigenden Unterlassung nicht nur geboten, wesentliche Teile des eigenen Reichtums, sondern auch wesentliche Teile des Reichtums anderer „umzuverteilen“. Stehlen scheint hier nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, wenn es dazu dient, die notwendigen Bedürfnisse anderer zu befriedigen. Wir werden das Problem der Rechte Dritter bei gebotenen Hilfeleistungen in Kapitel 3.4 unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit der Hilfeleistung eigens untersuchen. Jedenfalls scheint es nicht besonders attraktiv anzunehmen, dass Rechtsverletzungen aller Art im Namen von Hilfeleistungen erlaubt oder sogar geboten sein können (vgl. dazu Kapitel 1.9). Dieses Problem bedarf einer gesonderten Untersuchung, die wir auf den zweiten Teil des Buches verschieben müssen. Vorerst wollen wir die Rechte Dritter und einen möglichen Rechtsanspruch auf Hilfe (siehe dazu Kapitel 2.7–2.9) beiseite lassen und uns auf Singers unproblematischen Teichfall als Beispiel für eine starke individuelle Hilfspflicht beschränken. Im gütertheoretischen Modell, das sich im Anschluss an die Ausführungen von Thomas von Aquin entwickeln lässt, sieht es jetzt so aus, dass einerseits die Handlungssupererogationsgrenze dadurch bestimmt wird, ob eine subjektive oder eine objektive Notlage vorliegt. Braucht jemand ein notwendiges Gut und jemand muss bloß etwas Nichtnotwendiges dafür hergeben, dann liegt eine gebotene Hilfeleistung, eine Hilfspflicht, vor. Das erste Kriterium zur Bestimmung einer Hilfspflicht besteht also darin, dass der potentielle Hilfsempfänger etwas Notwendiges braucht. Wir können hier von objektiver Bedürftigkeit des Empfängers sprechen, sofern mit etwas Notwendigem etwas gemeint ist, das alle Menschen zum Leben brauchen. Etwas subjektiv Notwendiges bzw. subjektive Bedürftigkeit bestünde andersherum darin, dass jemand, wie der Mann in Feinbergs Streichholzbeispiel, etwas braucht, das von seinen Präferenzen abhängt. Was allerdings gemäß der hier vorgeschlagenen Supererogationsgrenzen auftreten kann, ist der Fall, in dem das Kriterium der objektiven Bedürftigkeit erfüllt ist, die Hilfe aber von Seiten des Helfenden ein unzumutbares Maß erreicht. Die Bestimmung der zweiten Supererogationsgrenze folgt einem Unzumutbarkeitskriterium.30 Beide Supererogationsgrenzen ergeben sich, und das ist das zentrale erste Kriterium für starke Hilfspflichten, indem wir zwischen subjektiven und objekti-
30 Auch Cullity (2007, 66) scheint diese Position zu vertreten, wenn er schreibt: Wenn zu helfen „bedeuten würde, eine langfristige Verletzung oder einen anderen Schaden zu riskieren, dann wäre es heldenhaft, zu helfen; wenn das aber nicht der Fall ist – wenn es einfach bedeuten würde, Zeit oder Geld ohne langfristige negative Auswirkungen zu investieren –, dann wäre es nur anständig“.
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ven Notlagen unterscheiden – je nachdem, ob es sich für den Empfänger der Hilfe oder für den Geber um ein notwendiges oder um ein nichtnotwendiges Gut handelt. Bei Thomas lässt sich das durch folgendes Schema rekonstruieren: Nichtnotwendiges Gut für den Empfänger
Nichtnotwendiges Gut für den Geber
Notwendiges Gut für den Geber
Notwendig zur Erhaltung des eigenen Lebens
Notwendig zur Erhaltung des Standes
Notwendiges Gut für den Empfänger
– Beförderung fremder – Orientierung an objektiven Glückseligkeit Bedürfnissen des – Orientierung an Empfängers subjektiven Präferenzen – Bereitstellung oder Sicherung – Consilia notwendiger Güter: Praecepta – Weder Consilia noch Praecepta, Verschwendung sogar verboten
– Zweistufige Notwendigkeit: (1) Consilia, falls der Empfänger wichtig für die Allgemeinheit ist (2) Consilia
– Consilia
Tabelle 1: Die gütertheoretische Bestimmung der Supererogationsgrenzen nach Thomas v. Aquin
Die hier vorgeschlagene Bestimmung der Supererogationsgrenzen folgt dieser Darstellung, die sich nach Thomas von Aquin (ST II-II, 32,6) rekonstruieren lässt. Einerseits kann man von der Bestimmung der Bedürftigkeit beim Empfänger der Hilfe ausgehen. Was dieser notwendig braucht, gibt ihm einen moralischen Anspruch auf Leistungen von Seiten anderer. Was ihm andere darüber hinaus geben, ist supererogatorisch im Sinne der Handlungssupererogation. Es kann gleichwohl tugendhaft sein, so wie Großzügigkeit, allgemeine Beförderung der Ziele anderer, Dankbarkeit und Geschenke es sind. Andersherum generiert nicht jede objektive Notlage einen Anspruch gegen jeden anderen. Was potentielle Leistungserbringer notwendig selbst brauchen, müssen sie nicht abgeben. Das können sie nur freiwillig tun. Hier liegt Akteurssupererogation vor. Wir müssen an dieser Stelle nicht festlegen, was genau inhaltlich unter dem Notwendigen, von dem Thomas spricht, zu verstehen ist.31 Wir können zunächst
31 Für den Normalfall geht Thomas nicht besonders weit, er schreibt: „Es wäre aber Unordnung, wenn einer so viel von den eigenen Gütern wegnehmen wollte, um es andren zu geben, dass er von dem Rest nicht mehr das seinem Stande und seinen Aufgaben entsprechende Leben führen könnte; denn keiner ist gehalten, unter seinem Stande zu leben“ (ST II-II, 32,6). Ausnahmen sind: erstens Ordenseintritt. Dieser ist allerdings verdienstlich. Hier
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einfach davon ausgehen, dass es ein Set von grundlegenden Gütern gibt, die zur Voraussetzung der Handlungsfähigkeit gehören, das interkulturelle Gültigkeit hat und aus der Perspektive verschiedener neuerer Begründungsansätze anerkannt werden kann.32 Inhaltlich kommen alle diese Ansätze auf ähnliche Güter, die dazu notwendig sind, ein lebenswertes Leben zu führen. Nennen wir sie die Grundlagen der Autonomie. Es geht um Leben und Freiheit, körperliche Unversehrtheit, aber auch um Elemente des Wohlergehens.33 Es sind diejenigen Güter, die durch allgemeine Menschenrechte geschützt werden. Dazu gehören auch: angemessene Nahrung, Unterkunft, Kleidung, medizinische und schulische Grundversorgung und die Möglichkeit, seinen eigenen Lebensplan zu entwickeln und zu verfolgen.34 Wie wir gesehen haben, implizieren diese notwendigen Güter nicht nur Unterlassungen von anderen Menschen, sondern auch positive Leistungen. Unsere Beispiele dafür waren zunächst allgemein akzeptierte, vorverhaltensabhängige positive Pflichten: Fürsorgepflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern, Berufs- und Garantenpflichten von Ärzten und Bademeistern sowie Pflichten, die durch Verträge und Versprechen entstehen (vgl. Kapitel 1.2). Nach dem hier vorgeschlagenen gütertheoretischen Modell zur Bestimmung der Supererogationsgrenzen kann man aber, so meine These, auch behaupten, dass in Singers Teichbeispiel
liegt Heiligensupererogation vor. Zweitens ist es lobenswert, auf das zum Stand Gehörige zu verzichten, wenn es leicht wiedererlangt werden kann. Drittens ist es lobenswert, anderen unter Verzicht auf die Güter, die zur Würde seines Standes gehören, in äußerster Not zu helfen (ST II-II, 32,6). 32 Dazu gehören etwa Martha Nussbaum (1996) (Essentialismus), Christoph Horn (2009), Alan Gewirth (1978) (handlungsteleologische Moralbegründung), Otfried Höffe (1998 und 1999) (transzendentale Interessen) und Henry Shue (1996) (Subsistenzrechte). 33 Schon Thomas (ST II-II, 32,2) unterscheidet zwischen sieben körperlichen und sieben seelischen Bedürfnissen, auf die sich verschiedene Almosen beziehen. Allerdings lassen sich offensichtlich nicht aus allen diesen Bedürfnissen Ansprüche von menschenrechtlichem Rang ableiten, dies gilt nur für die ersten fünf, die Grundlagen des Überlebens und der Subsistenz betreffen. 34 Diese Güter werden auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) zum Gegenstand menschenrechtlichen Schutzes erklärt: „Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen“ (AEMR, Art. 22). Die Artikel 23–27 formulieren weitere soziale und wirtschaftliche Rechte: ein Recht auf Arbeit (Art. 23), ein Recht auf Erholung und Freizeit (Art. 24), ein Recht auf Kleidung, Nahrung, Wohnung und Kinderschutz (Art. 25), ein Recht auf Bildung (Art. 26) und ein Recht auf Kultur (Art. 27).
Die gütertheoretische Bestimmung der zwei Supererogationsgrenzen
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eine Hilfspflicht vorliegt. Stützen lässt sich diese These durch das Kriterium der objektiven Bedürftigkeit. Das ist allerdings nur ein allererster Schritt zur kriteriellen Bestimmung positiver Pflichten, die vorverhaltensunabhängig sind. Denn angesichts der desolaten Lage, in der sich die Welt befindet, wenn man nur an das Armutsproblem denkt, treffen wir hier wieder auf den Überforderungseinwand, obwohl wir unsere Position präzisiert und notwendige von nichtnotwendigen Gütern unterschieden haben: Wir müssten eigentlich ständig helfen. Nun kann man natürlich sagen, dass die Moral prinzipiell überfordernd ist. Doch so schnell wollen wir das nicht annehmen. Wenn wir Pflichten haben, und nicht nur Ideale, die den Bereich der Supererogation auszeichnen, dann muss einigermaßen deutlich werden, was sie von uns verlangen und wir müssen dem auch nachkommen können. Was das angeht, ist Urmsons Anliegen, einen Bereich strenger Pflichten auszuzeichnen, durchaus nachvollziehbar. Hier soll dies insbesondere in Bezug auf positive Pflichten geleistet werden. Wir brauchen zur weiteren Präzisierung starker positiver Pflichten also einschränkende Kriterien für Hilfspflichten auf der Geberseite. Das Bedürftigkeitskriterium war ein Kriterium auf der Empfängerseite. Und in der Tat scheint in Singers beiden Beispielfällen, dem Teichbeispiel und der Weltarmut, die Not dem Grad nach gleich zu sein. Würden wir nur das gerade etablierte Kriterium der Bedürftigkeit betrachten, dann könnte Singer sehr gut Recht haben: Wir müssten den Armen genauso dringend helfen wie dem ertrinkenden Kind. Gleichwohl sind wir auch schon auf ein wichtiges Kriterium auf der Geberseite gestoßen: das Kriterium der Zumutbarkeit der Hilfeleistung. Ob und inwiefern sich Singers Fälle in Bezug auf Zumutbarkeit unterscheiden, wird im zweiten Teil, in Kapitel 3.3, zu untersuchen sein. Die bescheidenere Frage, die wir in diesem Kapitel beantworten wollten, war, ob positive Leistungen im Falle von nicht vorhandenen Vorleistungen generell supererogatorisch sind, also keine moralischen Pflichten sein können, sondern generell jenseits der Pflicht liegen. Auf die beiden oben angeführten Beispiele, die Autofahrt nach Hause und die Rettung unter Einsatz des eigenen Lebens, scheint dies zuzutreffen. Doch diese Beispiele können natürlich nicht zeigen, dass positive Leistungen generell supererogatorisch sind. Wir müssen nur die Parameter ändern. In Singers Teichbeispiel steht ein notwendiges Gut, das Leben des Kindes, auf dem Spiel. Dadurch unterscheidet sich das Beispiel von der Autofahrt. Und der Passant muss weder sein Leben oder seine Gesundheit gefährden (Heldensupererogation) noch seine Interessen opfern (Heiligensupererogation). Damit können wir folgendes Zwischenergebnis festhalten: Die Frage, ob eine Pflicht oder eine supererogatorische Handlung vorliegt, scheint an dieser Stelle zunächst anhand von zwei Kriterien beantwortbar:
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Kriterium der objektiven Bedürftigkeit: Eine Hilfspflicht liegt vor, wenn ein notwendiges Gut für den Leistungsempfänger auf dem Spiel steht. Zumutbarkeitskriterium: Eine Hilfspflicht liegt vor, wenn die Hilfe für den Helfenden zumutbar ist.
Beide Kriterien sind in Singers Teichbeispiel erfüllt. Der Passant kommt an einem Zierteich vorbei, in dem ein kleines Kind zu ertrinken droht. Er könnte leicht helfen, müsste aber nasse Kleidung und ein verspätetes Auftreten bei seiner Vorlesung in Kauf nehmen. Hat dieser Mann eine Hilfspflicht?35 Wir haben die Parameter geändert. Erstens geht es nicht mehr um eine nichtnotwendige Verbesserung der Situation der hilfsbedürftigen Person. Das Kind könnte sterben, wenn der Passant nicht eingreift. Zweitens ist die Hilfe nicht mehr unzumutbar. Der Passant kann helfen, ohne sich ernsthaft in Gefahr zu bringen. Das, was für ihn auf dem Spiel steht, ein verspätetes Auftreten bei seiner Vorlesung und ein paar nasse Kleider, steht in keinem Verhältnis zu der Bedrohung für das Kind. Aufgrund dieser Umstände wird ein solches Szenario eben auch als easy rescue bezeichnet. Liegt hier wirklich keine Hilfspflicht vor? Ich glaube nicht, dass man tatsächlich jemanden ausfindig machen kann, der bestreitet, dass hier zumindest eine moralische Pflicht zur Hilfe vorliegt. Helfen ist in diesem Fall in keiner der beiden besprochenen Hinsichten supererogatorisch. Erstens ist es, was den Fall des Kindes im Teich betrifft, nicht etwa moralisch lobenswert, es herauszuholen, aber nicht tadelnswert, es im Teich ertrinken zu lassen. Vielmehr würden wir eine Person, die das Kind einfach ertrinken lässt, sehr wohl moralisch tadeln. Zweitens ist in diesem Fall kein pflichtübergreifender Einsatz von Seiten des Helfenden nötig (Akteurssupererogation). Ein genereller Supererogationseinwand ist also sowohl in der starken als auch in der schwachen Variante zurückzuweisen. Trotzdem ist der Einwand kein bloßer „Pappkamerad“. Wir haben gesehen, dass wir einen klaren Fall bemühen mussten, um ihn zurückzuweisen: Ein notwendiges Gut, das Leben des Kindes, war betroffen und die Hilfe war für den Helfenden zumutbar.36 Rechtlich verhält sich die Sachlage anders. Hier besteht, wie schon mehrfach erwähnt, in der Rechtspraxis einiger Länder Dissens. Unterlassene Hilfeleistung
35 Zur Diskussion dieser Frage vgl. auch Feinberg (1985) und Stepanians (2006). 36 Diese Zumutbarkeitsklausel ist auch, wir erinnern uns, in der deutschen Rechtsprechung verankert. § 323 c StGB (Unterlassene Hilfeleistung) lautet: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft“ (Weigend 2005).
Die Samaritersituation als Modell für Hilfspflichten
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gilt nicht überall als Straftatbestand. Doch die These, dass positive Pflichten nicht erzwingbar sind, ist von der unplausiblen These, dass es keine positiven Pflichten gibt, zu unterscheiden. Mit der Frage, ob positive Pflichten schwächer sind als negative Pflichten, u. a. weil sie nicht in legitimer Weise erzwingbar sind, wollen wir uns im zweiten Kapitel befassen. Am Ende dieses Kapitels will ich die erarbeitete Bestimmung der objektiven Supererogationsgrenzen gegen einen möglichen Einwand verteidigen. Der Einwand bezieht sich noch einmal darauf, dass vorverhaltensunabhängige Leistungen generell supererogatorisch sind.
1.6 Die Samaritersituation als Modell für Hilfspflichten Der Vertreter des Supererogationseinwandes gegen Singers Teichbeispiel könnte uns nun vor folgende Herausforderung stellen: Er könnte darauf hinweisen, dass unsere Bestimmung der Supererogationsgrenzen nicht mit dem Samariterfall aus der Bibel als klassisches Beispiel für Supererogation übereinstimmt und insofern auf kontraintuitive Weise revisionistisch ist. Ich möchte im Folgenden eine Interpretation des klassischen Samariterfalls vorschlagen, die nicht revisionistisch ist und es gleichwohl erlaubt, die vorgeschlagenen Supererogationsgrenzen nochmals zu explizieren. Dabei vertrete ich zwei Thesen: Erstens ist nicht die Nothilfe supererogatorisch, die der Samariter an dem verletzten Mann leistet. Vielmehr trifft dies höchstens auf seine alleinige Übernahme der Heilungskosten für den verletzten Mann zu.37 Diese Interpretation ist mit den beiden vorgeschlagenen Supererogationsgrenzen vereinbar. Zweitens müssen wir zwischen objektiven Supererogationsgrenzen und Erwartungssupererogationsgrenzen unterscheiden, die vom jeweiligen Kontext abhängig sind (vgl. Kapitel 1.8). Unter extrem nichtidealen empirischen Bedingungen kann es sein, dass die Erfüllung von Pflichten normalerweise nicht gewährleistet ist und auch nicht vom Akteur erwartet wird. Pflichtenerfüllung kann unter solchen nichtidealen Bedingungen als exzeptionell und supererogatorisch erscheinen (vgl. Kapitel 1.8). Dazu fallen sofort eine Reihe von Fällen ein, in denen nicht einmal die Einhaltung von – aus der
37 Diese Interpretation wird auch durch den Eintrag Supererogation im Grimm-Wörterbuch bestätigt. Dort heißt es unter Verweis auf vulg. Luc. 10, 35, unter Supererogation sei zu verstehen: „überflüssig ausgeben, mehr tun, als einem befohlen ist“ (Grimm-Wörterbuch, Bd. 20, München 1984, 1197). An der entsprechenden Bibelstelle sagt der Samariter zu dem Wirt, dem er den Samariter zur Pflege überlässt, er werde ihm für die Fürsorge zwei Goldstücke geben – und für das, was er darüber hinaus noch aufwende, werde er ihn bei seiner Rückkehr entschädigen („et altera die protulit duos denarios et dedit stabulario et ait curam illius habe et quodcumque supererogaveris ego cum rediero reddam tibi“, Lk 10, 35).
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Perspektive einer universalistischen Menschenrechtsmoral – unstrittigen negativen Pflichten gewährleistet war. Von einem Plantagenbesitzer in den Südstaaten der USA wurde im frühen 18. Jahrhundert nicht erwartet, dass er seine Sklaven frei lässt. Vielmehr konnte in diesem Kontext das Freilassen – oder auch nur das anständige Behandeln von Sklaven – als etwas gesehen werden, wofür der Handelnde Dankbarkeit von Seiten der Sklaven erwarten konnte. Die Geschichte ist voll von Beispielen für bestimmte Kontexte, die Erwartungssupererogationsgrenzen so bestimmen, dass sie mit objektiven Supererogationsgrenzen nicht zusammen fallen. Bei der Genese von Normen in sozialen Kontexten spielt die Verschiebung der Erwartungssupererogationsgrenzen eine wesentliche Rolle. Doch im Hinblick auf die Geltung von Normen, mit der wir hier befasst sind, sollte uns das nicht irritieren. Erwartungssupererogationsgrenzen und objektive Supererogationsgrenzen können entsprechend weit voneinander abweichen. Die in bestimmten nichtidealen Kontexten exzeptionelle Pflichterfüllung kann dann als supererogatorisch erscheinen (Kapitel 1.8). Sehen wir uns nochmals den Vertreter des Supererogationseinwandes an. Er will sagen, dass in Fällen, in denen kein vorverhaltensabhängiger Grund für eine Hilfsverpflichtung vorliegt, der sich aus Garantenpflichten, Versprechen oder Fürsorgepflichten ergibt, gar keine Hilfsverpflichtung, sondern eine supererogatorische Leistung vorliegt. Ein Grund dafür könnte darin bestehen, dass wir das Zustandekommen von Garantenpflichten, Versprechen und Fürsorgepflichten durch unser Vorverhalten kontrollieren können. Eine entsprechende Verpflichtung kommt nur dann zustande, wenn wir uns dafür entscheiden. Unsere Autonomie bleibt also bei diesen positiven Pflichten eher gewahrt als bei Nothilfepflichten, die uns mit Weltzuständen der Bedürftigkeit anderer konfrontieren, auf deren Zustandekommen wir keinen Einfluss haben. Hier kommt es also darauf an zu verstehen, inwiefern man die helfenden Handlungen des barmherzigen Samariters als supererogatorisch einordnen kann. Ich glaube, dass dies auf eine Weise möglich ist, die nicht ausschließt, dass wir gegenüber dem Kind in Singers Teichbeispiel eine Hilfspflicht haben. Eine Analyse der klassischen Samaritersituation soll nun ermöglichen, unsere moralischen Intuitionen bezüglich unserer Hilfspflichten klarer zu erfassen. Dies hat vor allem den Vorteil, dass die Situation allgemein bekannt ist, und von vielen Autoren als Standardbeispiel für supererogatorische Hilfeleistungen verwendet wird. Ferner sollte uns deutlich sein, dass dieser Fall das christliche Gebot der Nächstenliebe illustrieren soll.38 Das Gleichnis erzählt Jesus als Ant-
38 „Und siehe, ein gewisser Gesetzgelehrter stand auf und versuchte ihn und sprach: Lehrer, was muss ich getan haben, um ewiges Leben zu ererben? Er aber sprach zu ihm: Was steht in
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wort auf die Frage darauf, wie das Gebot der Nächstenliebe zu verstehen ist: „Wer ist mein Nächster?“, fragt der Gesprächspartner. Die Antwort wird zunächst in Form einer Erzählung gegeben: Es war ein Mann, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst [quis supererogaveris], will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme (Lk 10, 30–35).
Ich glaube, dass der Fall Singers Teichbeispiel in mehreren relevanten Hinsichten gleicht. Dabei kommt es auf folgende Elemente an: (1) Die Beschaffenheit der Notlage: Es liegt eine existentielle Bedrohung vor, die das Leben des Hilfsbedürftigen akut gefährdet. (2) Direkte Hilfe ist sofort möglich. (3) Die Hilfe findet gegenüber einer Person statt, gegenüber der der Helfer keine vorhergehende Verpflichtung eingegangen ist. (4) Der Mann ist am Unfallort allein. Er muss davon ausgehen, dass kein anderer Helfer rechtzeitig zur Verfügung steht oder (wenn man den Kontext der Geschichte berücksichtigt) dass kein anderer willens sein wird, zu helfen. (5) Die direkte Hilfe ist für die Helfenden zumutbar. Unterschiedliche Merkmale sind: (6) Die Hilfe zerfällt beim Samariter in (6 a) einen direkten, zeitlich begrenzten Teil der ersten Hilfe (die Rettung aus dem Straßengraben) und (6 b) einen zeitlich zunächst unbegrenzten Fürsorgeteil (der Samariter übernimmt die Kosten der Genesung des Verletzten im nahegelegenen Wirtshaus). (7) Der bedürftige Mann im Samariterfall ist Opfer eines Überfalls, während das Kind in Singers Teichbeispiel ein Unfallopfer ist.
dem Gesetz geschrieben? Wie liest du? Er aber antwortete und sprach: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstande, und deinen Nächsten wie dich selbst‘. Er sprach aber zu ihm: Du hast recht geantwortet; tue dies, und du wirst leben. Indem er aber sich selbst rechtfertigen wollte, sprach er zu Jesu: Und wer ist mein Nächster?“ (Lk 10, 25–29)
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(8) Es liegt nahe, davon auszugehen, dass das Kind eine Mitbürgerin des Passanten ist, während der hilfsbedürftige Mann und der Samariter zu verschiedenen, sogar verfeindeten Volksgruppen gehören.
1.7 Fünf Kriterien für Hilfspflichten Betrachten wir die Hinsichten, in denen das Teichbeispiel und die Samaritersituation sich gleichen, noch einmal genauer. Während sich die Beschaffenheit der Notlage (1) auf die Lage des Hilfsbedürftigen bezieht, tragen die anderen Merkmale der Situation des Helfenden Rechnung. Zusammen lassen sich aus dieser Beschreibung vier Kriterien für Hilfspflichten ableiten: die Bedürftigkeit, die Zuständigkeit, die Zumutbarkeit und die Aussicht auf Erfolg. In speziellen Fällen müssen diese Kriterien durch das Kriterium der Zulässigkeit ergänzt werden, etwa wenn die Nothilfe die Anwendung von Gewalt gegen Dritte oder einen Übergriff auf deren Eigentum erfordert (vgl. dazu Kapitel 3.4). In Bezug auf die Bedürftigkeit zählt erst einmal nicht, ob die Notlage selbstverschuldet oder fremdverschuldet, durch menschliche Verschuldung oder menschliches Versagen herbeigeführt oder durch eine Naturkatastrophe bewirkt ist. Es zählt nur, dass das Leben des Hilfsbedürftigen bedroht ist, also eine schwere und allgemein nachvollziehbare, eine objektive Notlage vorliegt (1). Würden wir nur die Seite des Hilfsbedürftigen sehen, wäre dieses Kriterium ausreichend. Doch wer soll helfen? Zuständig ist zunächst der, der in die Situation des Helfen-Könnens hineingerät. Dabei spielt es keine Rolle, dass der Bedürftige ihm fremd ist. Für die Zuständigkeit scheint die Zurechenbarkeit der Folgen einer unterlassenen Hilfeleistung eine wesentliche psychologische Rolle zu spielen. Da der Samariter in dem Moment, in dem er an die Unfallstelle kommt, allein als Helfender gefragt ist, müsste er sich die schädlichen Folgen einer unterlassenen Hilfeleistung direkt zurechnen (4). Ferner hat die Hilfe Aussicht auf Erfolg, da sie durch eine klar überschaubare Handlungsfolge verwirklicht werden kann: das Verarzten der Wunden und der Transport zum Wirt (2). Sieht man die Hilfe erst dort für beendet an, wo der Status quo ante für den überfallenen Mann wiederhergestellt ist, gehört auch die Genesungszeit beim Wirt dazu, den Erfolg der Hilfe zu garantieren (6 b). Doch ist die Hilfe auch zumutbar? Dies ist u. a. die Frage danach, ob die Lasten der Hilfe gerecht verteilt sind. Hier sieht man m. E., warum die Samaritersituation das klassische Beispiel für Supererogation ist: Es handelt sich um eine moralisch gute Handlung, die über das Forderbare hinausgeht, weil der Samariter in dem Moment, in dem der Wirt ins Spiel kommt, nicht mehr allein für die Hilfe zuständig ist. Kann man verlangen, dass er allein die Last der Hilfe trägt? Spielt es hierfür nicht eine
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Rolle, wer außerdem helfen könnte, ferner, wer die Notlage verschuldet hat? An dieser Stelle sieht man, dass der Samariterfall ganz natürlich zu einer Institutionalisierung der Hilfspflichten drängt – oder andersherum: Man sieht, dass die Hilfe des Samariters dort für supererogatorisch gehalten werden kann, wo sie fehlende Institutionalisierungen kompensiert. In unserer Gesellschaft hätten etwa die Räuber durch Institutionen abgeschreckt oder zur Kompensation der Kosten ihrer Tat gezwungen werden können. Den Verletzten hätte man statt zum Wirt in ein gemeinsam finanziertes Krankenhaus bringen können, wenn es damals schon eines gegeben hätte. Zuständigkeit zerfällt dann in eine situative Zuständigkeit des Einzelnen im Sinne der ersten Hilfe und eine kollektive Zuständigkeit, was die Lasten der weiteren Hilfe und den Schutz vor Überfällen sowie das Auffinden und Bestrafen der Übeltäter betrifft. Wir haben, wie die Analysen der Samaritersituation und von Singers Teichbeispiel zeigen, durchaus nicht unbedingt ein Problem damit, Fremden zu helfen. Die Frage ist eher, ob wir bereit sind, über eine akute Notlage hinaus für jemanden zu sorgen. Fürsorge kann im Unterschied zur Hilfe in akuten Notlagen nicht nur eine zeitlich begrenzte Aktion vom Helfenden, sondern durch die Übernahme von Verantwortung eine mittel- oder längerfristige Umstrukturierung seiner Lebenspläne verlangen. Deswegen ist der Modellfall für eine Fürsorgesituation das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern. Gegenüber Fremden ist die Übernahme solcher Lasten von Seiten eines Einzelnen supererogatorisch. Das heißt umgekehrt, dass unter den Voraussetzungen der Bibelzeit der überfallene Mann in der Tat, was seine vollständige Genesung betrifft, auf die Barmherzigkeit seines Helfers angewiesen war, während wir heute in unserem Land, was die Verteilung der Lasten der Hilfe angeht, den Wirt mit seiner Rechnung an die Krankenversicherung verweisen könnten. Supererogatorisch ist nicht die Hilfspflicht, sondern das Ausmaß, das sie in diesem Fall für den Einzelnen annimmt (vgl. O’Neill 1996, 265 f.). Allerdings ist diese Art der Supererogation vom Kontext abhängig (zur Unterscheidung von Erwartungssupererogationsgrenzen und objektiven Supererogationsgrenzen vgl. Kapitel 1.8). Anhand der oben entwickelten Kriterien lässt sich an Singers Teichbeispiel nun Folgendes verdeutlichen: Das intuitiv plausible Beispiel, das Kind im Teich, erfüllt die Merkmale für klassische Samaritersituationen mit den Elementen (1) bis (5). Die Pointe ist die zeitliche Begrenztheit der direkten Hilfe, sodass das Kriterium der Zumutbarkeit und das Erfolgskriterium durch die Wiedergewinnung des Status quo ante erfüllt sind. Und das gilt natürlich in dem Sinn, dass die Rettungspflicht für den unausgebildeten Helfer dort aufhört, wo andere wieder zuständig sind. Der Passant wird das Kind wieder seinen Eltern übergeben und davon ausgehen, dass sie nächstes Mal besser auf es aufpassen. Seine Hilfeleistung bezieht sich nicht darauf, sich noch weiter um das Kind zu
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kümmern, den Eltern auf die Finger zu schauen und es z. B. zu adoptieren, wenn die Eltern es regelmäßig vernachlässigen. Für die Wiederherstellung des Status quo ante tut der Helfende also nur seinen Teil: Er übernimmt die direkte Rettung des Kindes aus dem Teich. Zuständig wird er aus der konkreten Situation heraus – und zuständig bleibt er nur für bestimmte Leistungen, die sich aus dem akuten Notfall ergeben, im Samariterfall allerdings bis zur Genesung des Mannes. Der Aufwand bleibt zumutbar, da er nicht eine Änderung des Lebensplans verlangt, doch kann er immer noch recht groß sein: Die Dimension der Rechnung beim Wirt ist nicht ganz klar. Deswegen liegt es auch nahe, die Erste Hilfe (6 a) als verpflichtend zu sehen, die Übernahme der Rechnung beim Wirt (6 b) dagegen als supererogatorisch zu verstehen (vgl. Stepanians 2006, Mieth 2009 und unten Kapitel 1.8). Im Samariterfall ist das Leben des Mannes in Gefahr. Das handlungssupererogatorische Verständnis, bei dem es darauf ankommt, dass dem Leistungsempfänger etwas zu Teil wird, das er nicht wirklich braucht, passt hier nicht. Allerdings könnte es sein, dass wir es mit Akteurssupererogation zu tun haben, da der Hilfsaufwand für den Samariter insgesamt, inklusive der Übernahme der Rechnung beim Wirt, relativ groß ist. Man muss sich die Geschichte genau ansehen. Von Supererogation ist an der Stelle die Rede, an der der Samariter den Wirt für die Versorgung des Mannes bezahlt.39 Vielleicht ist es zu viel verlangt, dass der Samariter die gesamten Heilungskosten übernimmt. So interpretiert jedenfalls David Heyd die Geschichte: Even if what the Samaritan did up to that stage (saving the victim’s life, taking care of him, etc.) was his duty, his promise to pay for further expenses was clearly beyond his duty; and as such this deed was especially meritorious and worthy of exemplifying what Jesus meant by ‘love thy neighbour as thyself‘ (which is the moral of the whole parable) (Heyd 1982, 17).40
Wir werden darauf später zurückkommen. Klar scheint jedenfalls, dass die direkte Nothilfe, die Rettung aus dem Straßengraben und der Transport zum
39 Entsprechend heißt es in der Vulgata an dieser Stelle: „Samaritanus autem quidam iter faciens, venit secus eum et videns eum misericordia motus est, et appropians alligavit vulnera eius infundens oleum et vinum; et imponens illum in iumentum suum duxit in stabulum et curam eius egit. Et altera die protulit duos denarios et dedit stabulario et ait: ‚Curam illius habe, et, quodcumque supererogaveris, ego, cum rediero, reddam tibi‘“ (Lk 10, 33–35; Hervorhebung CM). 40 Auch Stepanians (2006) und schon Löhr (1991, 76) sehen die Supererogation in der Samaritergeschichte erst an diesem Punkt gegeben. Zur Diskussion vgl. New (1974, 180 f.) und Jans (2004, 44 ff.).
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Wirt mindestens das Erzwingbarkeits-, das Anspruchs- und das Verurteilbarkeitskriterum erfüllen.
1.8 Erwartungssupererogationsgrenzen und objektive Supererogationsgrenzen Gleichwohl erteilt uns der Samariterfall noch eine andere Lektion. Wenn man den Kontext der Geschichte ansieht, so soll das Gleichnis die Frage beantworten, wer für die gebotene Liebe des Nächsten in Frage kommt. Die Frage an Jesus lautet: „Wer ist mein Nächster?“ Daraufhin wird das Gleichnis erzählt, das die Pointe hat, dass der Priester und der Levit vorbeilaufen, ohne zu helfen. Sie sind allerdings, was ihre Volkszugehörigkeit betrifft, dem Mann näher als der Samariter, der sogar zu einer missachteten Volksgruppe gehört. Der Nächste, so die Pointe, ist derjenige, der hilft, weil die Situation, die objektive Bedürftigkeit und die Möglichkeit der zumutbaren Rettung ihn als Helfer zugleich zum Nächsten macht. Die Bedürftigkeit des Mannes und die Bereitschaft des Samariters, ihm zu helfen, stellen die Nähe her.41 Man kann jetzt einerseits, im Sinne dessen, was ich als objektive Supererogationsgrenzen vorgeschlagen habe, sagen, dass aus den situativen Parametern, der Bedürftigkeit des Mannes und der Bereitschaft des Samariters, zumutbare Nothilfe zu leisten, eine Nothilfepflicht entsteht. Andererseits kann man die Handlung des Samariters als exemplarische Verschiebung einer empirischen Erwartungssupererogationsgrenze beschreiben.
41 Diese Interpretation der Geschichte findet sich bei Ralf Stoecker (2004, 155 ff.). Er fragt sich, ob aus der „Verantwortung für den Fremden, dem ich zufällig begegne“, folgt, „dass wir also für alle Menschen überhaupt verantwortlich sind“ (ebd., 155). Die „Alternative besteht darin, gerade in der Begegnung die Grundlage der Verantwortlichkeit zu sehen“ (ebd.). Die „spezielle Situation, die Konfrontation mit dem Notfall […] lädt ihm [dem Samariter, CM] eine Verantwortung für den Verletzten auf. Es ist die Nähe im wörtlichen Sinn, die den Fremden zum Nächsten macht“ (ebd.). Eine ähnliche Überlegung findet sich in Humes berühmten Schiffsbeispiel: Die Vorstellung eines anderen, der sich in Not befindet, „wird nie dieselbe Wirkung haben, wie wenn ich an der Küste bin und in einiger Entfernung ein Schiff sehe, das vom Sturm hin und her geworfen wird und jeden Augenblick in Gefahr ist, an einem Felsen oder einer Sandbank zu zerschellen. […] Aber nehmen wir nun an, diese Vorstellung würde noch lebhafter. Das Schiff werde so in meine Nähe getrieben, dass ich deutlich das Grausen wahrnehme, das sich auf den Gesichtern der Seeleute und der Passagiere malt, dass ich ihr klägliches Schreien höre, die nächsten Freunde Abschied nehmen oder sich fest umarmen sehe, entschlossen einer in des anderen Armen zu sterben. Kein Mensch wäre roh genug, bei solchem Schauspiel irgendwelche Lust zu fühlen. Keiner würde in solchem Falle einer Regung des tiefsten Mitleids und Mitgefühls sich verschließen können“ (Hume 1740, Bd. 2, Buch III, 348 f.; vgl. dazu Pauer-Studer 1996, 217 ff.).
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Wenn wir davon ausgehen, dass zur Zeit der Geschichte nicht erwartbar war, dass man in solchen Fällen fremden Notfallopfern hilft, so hat der Samariter diese Supererogationsgrenze exemplarisch verschoben. Durch seine Reaktion stellt er das Verhalten des Priesters und des Leviten und die moralische Regel, der sie folgen (etwa, dass man gegenüber Fremden keine Hilfspflichten hat), in Frage. Sein Verhalten ist exemplarisch für den universalistischen moralischen Anspruch der christlichen Nächstenliebe, der gegenüber den vorherrschenden Erwartungen revisionistisch ist. Wir sind hier auf eine weitere Art der Supererogation gestoßen: Erwartungssupererogation: Jemand führt eine normativ gebotene Handlung in einem Kontext aus, in dem diese nicht von ihm erwartet wird (im Unterschied zu: nicht legitimerweise von ihm verlangt werden kann) oder sogar gegenteilige Erwartungen vorherrschen.42
Ein weiteres Beispiel für Erwartungssupererogation ist das schon erwähnte Beispiel aus dem Nationalsozialismus. Wenn ein SS-Soldat einen ungerechterweise Verfolgten entkommen lässt, so würde er unter normalen Bedingungen nur seine Pflicht erfüllen, die Person nicht zu schädigen. Unter den zur NS-Zeit vorliegenden, extrem nichtidealen Bedingungen liegt allerdings sogar Heldensupererogation vor, da der Soldat sein eigenes Leben in Gefahr bringt. Solche Exempel sind für die Prägung unserer moralischen Intuitionen von grundlegender Bedeutung, wie die zahlreichen Referenzen auf den Samariterfall zeigen. Historische Beispiele für Akteurssupererogation wie Mutter Theresa, Bonhoeffer oder Schindler stellen die Erwartbarkeitsgrenzen moralischen Handelns in bestimmten Kontexten in Frage und können sie verschieben. Die Erwartbarkeitsgrenzen sind jedoch von bestimmten Kontexten abhängig und mit den objektiven Supererogationsgrenzen nicht zu verwechseln.43 In Bezug auf die hier etablierten objektiven Supererogationsgrenzen hat der Samariter mindestens, was den ersten Teil der Nothilfe betrifft, jedoch einfach seine Pflicht getan. Er führt eine zumutbare Rettung aus. Die Plausibilität der hier vertretenen objektiven Supererogationsdefinition zeigt sich daran, dass aus ihr folgt, dass wir das Verhalten des Samariters weder als heldenhaft (er riskiert nicht seine Selbsterhaltung) noch als heilig (er opfert nicht seine langfristigen eigenen Ziele) beschreiben müssen. Erst die Übernahme der Rechnung beim Wirt geht in die Richtung der Fürsorge, da der
42 Skeptisch gegenüber der Idee, den Supererogationsmaßstab an unseren tatsächlichen Erwartungen zu messen, ist auch Löhr (1991, 81). 43 Ein weiteres Beispiel für Erwartungssupererogation ist die Übernahme von Elternzeit oder anderen häuslichen Aufgaben durch Väter in Gesellschaften, in denen der Druck in diese Richtung nicht besonders hoch ist.
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Samariter die Sorge um die Genesung des Mannes zu seiner Angelegenheit erklärt. Allerdings tut er das, nach den hier entwickelten normativen Maßstäben, indem er einen institutionellen Mangel ausgleicht. Erwartungssupererogationsgrenzen erklären, warum wir auch Leistungen loben, die Gegenstand von Nothilfepflichten sind. Je weniger man tatsächlich davon ausgehen – im Unterschied zu legitimerweise erwarten – kann, Hilfe in dringenden Fällen zu erhalten, desto dankbarer ist man, wenn man sie trotzdem bekommt. Positive Sanktionen wie Lob tragen hier ebenso zu einer Verschiebung der Erwartungssupererogationsgrenzen bei wie exemplarische Handlungen. Das ist aber eher eine Frage der Genese als eine der Geltung. Man sieht das daran, dass etwa Entführungsopfer dankbar sind, wenn ihre Entführer sie nicht grob misshandeln oder umbringen.44 Daraus folgt aber nicht, dass die Entführer keine Pflicht gehabt hätten, ihre Opfer nicht zu misshandeln oder gar umzubringen. Vielmehr hätten sie ihre Opfer natürlich gar nicht erst in die Situation der Abhängigkeit bringen dürfen. Wenn man entführt wurde, kann man allerdings nicht unbedingt tatsächlich davon ausgehen (im Unterschied zu legitimerweise erwarten), von Misshandlungen verschont zu bleiben. Gleichwohl kann man dies, normativ betrachtet, natürlich sogar verlangen. Außerdem ist man, je wichtiger das Gut ist, um das es geht, immer dankbar, wenn man vor einem schweren Schaden verschont bleibt. Dankbarkeit ist, so wie wir sie oft empfinden, kein guter Indikator dafür, ob ein Handeln supererogatorisch im objektiven Sinn ist oder nicht. Wir können tatsächlich dankbar sein, wenn andere Machtpositionen nicht zu unseren Ungunsten ausnutzen, obwohl sie sich, normativ gesehen, bloß anständig oder sogar weniger als anständig verhalten. Dankbarkeit oder Lob sind alleine noch keine Indikatoren für das Vorliegen supererogatorischer Handlungen im Unterschied zu Pflichten. Es scheint daher gar nicht plausibel anzunehmen, dass vorleistungsunabhängige positive Leistungen, die zumutbar sind und einer objektiven Bedürftigkeit abhelfen, keine Pflichten sein sollten.45
44 Köthke (1999, 79) spricht hier von „Identifikation mit dem Aggressor“. Er führt im Zusammenhang mit der Erklärung des sog. Stockholm-Syndroms aus, dass die Opfer einer Straftat (der Entführung) Zuneigung zum Täter entwickeln können, wenn dieser sie „nach ihrer Ansicht fair“ behandelt (ebd., 84). 45 Einen ähnlichen Punkt macht New (1974, 184): Er klassifiziert Rollenpflichten oder Garantenpflichten und Versprechen als spezifische Pflichten. „But behind them stand such general duties as benevolence […]. The lifeguard has a basic duty to rescue swimmers in difficulty eight hours a day and I may have a basic duty to help you if you get into difficulties, because I promised I would. But it is bad logic as well as bad morals to infer that the lifeguard has no duty at all to rescue swimmers in difficulty when he is ‚off-duty‘ or that I have no duty at all to help you in difficulties if I did not promise I would“.
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1.9 Supererogatorische Handlungen und Pflichten Wir haben gesehen, dass sich das klassische Supererogationsbeispiel, der Samariterfall, mit der gütertheoretischen Bestimmung der Supererogationsgrenzen vereinbaren lässt. Ein weiterer Fall aus der Supererogationsdiskussion, der diese gütertheoretische Bestimmung bestätigt, ist das von Frances Kamm beobachtete Problem der Bestimmung des Vorrangsverhältnisses zwischen supererogatorischen Handlungen und Pflichten (Kamm 1985; vgl. dazu auch Wessels 2002). Das von Kamm beobachtete Problem besteht darin, dass drei Propositionen, die einzeln wahr sind, zusammen nicht konsistent scheinen: For some effort x, some duty D, and some beneficient act H, (1) The personal preference not to make effort x, may take precedence over doing act H. (That is, doing H at effort x becomes supererogatory.) (2) Doing H at effort x may take precedence over doing duty D. (3) The personal preference not to make effort x may not take precedence over doing duty D (Kamm 1985, 118).
Man kann sich das so vorstellen: Wenn H eine helfende Handlung ist, die die Anstrengung x – den Einsatz des eigenen Lebens oder der eigenen Gesundheit – erfordert, dann kann die persönliche Präferenz, die Anstrengung x nicht zu unternehmen, Vorrang vor H haben. Dadurch wird H supererogatorisch. (1) scheint allgemein akzeptiert. Gleichwohl kann die helfende Handlung H unter der Anstrengung x, dem Einsatz des eigenen Lebens und der eigenen Gesundheit, Vorrang vor der Erfüllung der Pflicht D haben (2). Allerdings kann die persönliche Präferenz, die Anstrengung x nicht zu unternehmen, uns nicht von Pflicht D befreien (3). Wie kann das sein? Kamm verdeutlicht ihre Überlegung durch das Nierenbeispiel: I have promised to meet someone at 12 p.m. for lunch; so I have a duty to be there. […] Now imagine that on my way to the lunch appointment I come across a car crash. One of the victims has his kidneys crushed, and he needs an immediate kidney transplant in order to survive. I am the only person available who has the right type of kidney. Given the size of the sacrifice to me, most would say that it is not my duty to donate one of my kidneys. Therefore, in these circumstances (barring the existence of any other duties) the only duty I have is to keep my lunch appointment. (Kamm 1985, 119 f.)
Kamm wählt in ihrem Beispiel ein Versprechen als Paradefall einer unstrittigen Pflicht. Dieses erfüllt die Pflichtkriterien des Anspruchs, der Verurteilbarkeit und der Overridingness. Insbesondere Overridingness ist in diesem Kapitel von Belang. Das Overridingness-Kriterium behauptet, dass Pflichten vor anderen Hand-
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lungsoptionen Vorrang haben. Nun ist dies offenbar im Nierenbeispiel völlig kontraintuitiv. Die Pflicht, die Verabredung zum Mittagessen einzuhalten, scheint keinen Vorrang vor der supererogatorischen Handlung zu haben, die Niere zu spenden und damit ein Leben zu retten. Wir können uns nun an Kamms Beispiel drei wichtige Dinge verdeutlichen. Erstens macht das Beispiel abermals klar, dass es positive Nothilfepflichten gibt. Diese erfüllen das Overridingness-Kriterium. Nothilfepflichten sind anderen, nicht verpflichtenden Handlungsoptionen vorzuziehen. Auch Kamm geht davon aus, dass es eine Pflicht gibt zu helfen, wenn es uns wenig kostet (vgl. Kamm 1985, 119). Wir können uns dies an folgender Variante des Beispiels klar machen. Kamm kommt diesmal auf dem Weg zu einer Shoppingtour, zu der sie ihre Mittagspause nutzen will, an einem Unfall vorbei. Da sie nicht nur eine hochbegabte Philosophin ist, sondern auch Grundlagen der Medizin beherrscht, kann sie unmittelbar Erste Hilfe leisten und dem Unfallopfer durch Mund-zu-MundBeatmung das Leben retten. Da sie ca. eine Stunde braucht, um das Unfallopfer zu versorgen, und sich dabei auch ein wenig schmutzig macht, fällt die Shoppingtour ins Wasser. Allerdings ist völlig klar, welche Alternative hier zu wählen ist: Kamm darf nicht Erste Hilfe leisten, statt zu shoppen, sie muss es tun. Die beiden Optionen sind normativ nicht gleichwertig. Die Hilfspflicht hat Priorität gegenüber der Präferenzerfüllung; sie erfüllt das Overridingness-Kriterium. Zweitens sehen wir, dass Nothilfepflichten Vorrang vor vorleistungsabhängigen Pflichten wie der Einhaltung von Versprechen haben können. Die Pflicht, zumutbare Nothilfe zu leisten, würde im Konfliktfall vor der Pflicht, die Essensverabredung einzuhalten, Vorrang erhalten.46 Wir können hier wieder vom Shoppingbeispiel ausgehen, müssen aber das Shoppen durch die Verabredung zum Mittagessen ersetzen. Von den beiden Pflichten, der Nothilfepflicht und dem Versprechen, zum Mittagessen zu kommen, scheint die Nothilfepflicht stärker. Das zeigt uns, dass nicht alle unproblematisch akzeptierten vorverhaltensabhängigen Pflichten, wie z. B. Versprechen, immer stärker sind als vorleistungsunabhängige positive Pflichten, wie etwa Nothilfepflichten. Drittens erklärt erst das Vorliegen einer Hilfspflicht bei zumutbaren Rettungen, dass supererogatorische (da unzumutbare) Rettungen Vorrang vor der Erfüllung einer Pflicht wie der Einhaltung des Versprechens, zum Mittagessen zu kommen, haben können.47 In Kamms Originalfall, dem Nierenbeispiel, überwiegt
46 „I shall use the notion of duty so as to allow that there might be other duties of mine that conflict with my duty to go to lunch. In cases of conflict I would have to decide which was my strongest duty, and then it would be my duty all things considered“ (Kamm 1985, 119). 47 „The supererogatory acts I have discussed are of one sort: they involve acts that would have been our duty, given a general duty of beneficence, if they did not require large efforts on our
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die supererogatorische Handlung das gegebene Versprechen, weil sie die Kriterien der Akteurssupererogation und nicht die Kriterien der Handlungssupererogation erfüllt. Kamm selbst unterscheidet zwischen Handlungen, die jenseits der Pflicht liegen, ohne unzumutbar für den Akteur zu sein (für uns: Handlungssupererogation) und Handlungen, die jenseits der Pflicht liegen, weil sie unzumutbar für den Akteur sind (für uns: Akteurssupererogation). Natürlich darf ich nicht das Versprechen brechen, meinen Freund um 12 Uhr zum Mittagessen zu treffen, weil ich auf die Idee gekommen bin, zu dieser Zeit stattdessen meinen Kollegen netterweise nach Hause zu fahren. Doch es scheint erlaubt, eine solche Verabredung platzen zu lassen, weil man stattdessen jemandem das Leben rettet, obwohl dies, wenn es unzumutbare Leistungen erfordert, nicht von einem verlangt werden kann. Das Problem der Verhältnisbestimmung von Pflichten und supererogatorischen Handlungen entsteht laut Kamm an dem Punkt, an dem gemäß der Unzumutbarkeitsdefinition der Supererogation persönliche Präferenzen, keine zu großen Opfer bringen zu müssen, von der Rettungspflicht befreien. Der Unterschied zwischen unseren Beispielen in diesem Abschnitt und Kamms Nierenbeispiel besteht darin, dass es im Nierenbeispiel unzumutbar ist, eine Hilfspflicht unter der Bedingung zu erfüllen, dass man eine Niere spenden muss. In unserer in Kapitel 1.7 entwickelten Terminologie ist das Kriterium der objektiven Bedürftigkeit erfüllt, das der Zumutbarkeit jedoch nicht. Kamms Frage ist nun, warum wir Rettungspflichten um unserer persönlichen Ziele willen verletzen dürfen, diese Ziele jedoch keine Priorität vor der Erfüllung anderer Pflichten haben, obwohl eine supererogatorische Rettungshandlung, die mit hohen Kosten für die Akteurin verbunden ist, Vorrang vor anderen Pflichten hat.48 Kamms Idee ist, dass es zwei Standards gibt, an denen wir die Stärke von Pflichten messen können. Erstens der Aufwand-Standard (efforts-standard): Pflichten, deren Erfüllung einen größeren Aufwand erfordern, scheinen stärker zu sein. So können etwa Berufspflichten einen sehr großen Aufwand erfordern, den man um einer Hilfspflicht willen nicht auf sich nehmen muss (vgl. ebd., 124). Der zweite Standard ist der Vorrangstandard (precedence-standard): Welche von zwei alternativen Handlungen kann oder muss gewählt werden, wenn beide nicht gleichzeitig möglich sind (vgl. ebd.)? Offensichtlich können sich diese Standards, wie wir gesehen haben, widersprechen. Es kann sein, dass eine Pflicht, die einen höheren Aufwandsstandard erfüllt, einen niedrigeren Prioritätsstandard hat. So
part. The justification for not doing our duty seems to derive from the ability of this duty of beneficence to dominate another duty“ (Kamm 1985, 122 f.). 48 „But, if we may violate duties to save lives, why may we not violate duties for the sake of what may take precedence over saving lives, our personal goals?“ (Kamm 1985, 126).
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ist es für den Passanten ein größerer Aufwand, seine Vorlesung vorzubereiten, zur Arbeit zu gehen, sich weiterzubilden, Konferenzen zu besuchen etc., den seine Berufspflichten von ihm fordern, als der Aufwand, das Kind aus dem Teich zu retten. Gleichwohl hat letztere Pflicht, zumindest in diesem Fall, Vorrang. Dieser Vorrang wird durch konsequentialistische Überlegungen adäquat erfasst. Allerdings ist der Vorrang bloß bedingt. Es hat nicht immer die Handlung Vorrang, die den größten Nutzen bringt. We may be required to make large sacrifices for some types of acts (e.g. minima) but not others, even though the latter have more important consequences. However, if we are willing to make sacrifices to do the act that has the much better consequences, then we may abandon the more stringently required act (our duty), when either (a) the cost to us of not doing the supererogatory act is greater than we would have to pay to do our duty, or (b) the cost to the world (as opposed to cost to us) of our not doing the supererogatory act is much greater than the cost that would be required to do the duty (ebd., 132).
Was sich jetzt ganz zwanglos ergibt, ist, dass vorleistungsabhängige positive Pflichten nicht notwendig Vorrang vor Hilfspflichten haben.49 Im Teichfall scheint die Hilfspflicht gegenüber dem ertrinkenden Kind stärker als die Berufspflicht des Passanten, nehmen wir an, er ist, wie in Singers Beispiel Philosophieprofessor, rechtzeitig zu seiner Vorlesung zu erscheinen bzw. diese überhaupt abzuhalten. Die Verletzung der beruflich-vertraglichen Verpflichtung scheint durch die Rettung des Kindes entschuldigt. Ja, es scheint sogar, wenn wir annehmen, dass der Professor gegenüber dem Kind eine Hilfspflicht hat, dass er diese Pflicht vorrangig vor der unproblematisch akzeptierten Berufsverpflichtung erfüllen muss. Selbst wenn wir annehmen, dass die Rettung supererogatorisch ist, wie in Kamms Nierenbeispiel, kann sie, wie wir gesehen haben, die Pflicht, ein Versprechen zu halten (die Verabredung zum Mittagessen), übertrumpfen. In Samaritersituationen liegen Nothilfepflichten vor, die Vorrang vor anderen eigeninteressierten Handlungsoptionen haben. Nothilfepflichten können oder müssen in manchen Fällen sogar Vorrang vor vorverhaltensabhängigen Pflichten haben. Akteurssupererogatorische Handlungen, die auf Nothilfepflichten basieren, können Vorrang vor vorverhaltensabhängigen positiven und negativen Pflichten haben.
49 „It may be more stringently required that we do acts at small cost that we needn’t do at large cost, than that we do acts that we must do even at large cost“ (Kamm 1985, 133).
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Die Supererogationsthese
1.10 Fazit des ersten Kapitels Gegenstand des ersten Kapitels war die Frage, ob es überhaupt positive Pflichten gibt. Wir haben ohne viel Aufwand festgestellt, dass es weithin anerkannte positive Pflichten gibt, deren Verletzung moralisch und/oder rechtlich sanktioniert wird. Dazu gehörten Berufspflichten, z. B. von Ärzten und Bademeistern. Eine Verletzung ihrer Berufspflichten wird als rechtliche oder moralische Pflichtverletzung gewertet; sie erfüllen das Erzwingbarkeits- und das Verurteilbarkeitskriterium. Ferner zählen auch Fürsorgepflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern zu positiven Pflichten. Hier sind ebenfalls das Erzwingbarkeits- und das Verurteilbarkeitskriterium erfüllt. Dasselbe gilt für Pflichten, die sich aus Verträgen oder Versprechen ergeben, wobei erstere das Erzwingbarkeits- und letztere das Verurteilbarkeitskriterium erfüllen. Zusätzlich ist hier ganz klar, dass den Pflichten bestimmte Rechte beziehungsweise moralische Ansprüche korrespondieren. Der starke Supererogationseinwand, der behauptet, dass es gar keine positiven Pflichten gibt, war also zu stark. Der schwache Supererogationseinwand behauptet dagegen nur, dass vorverhaltensunabhängige positive Leistungen keine Pflichten sind. Die Hilfe in Singers Teichbeispiel und im klassischen Samariterfall wäre dementsprechend supererogatorisch. Wir haben gesehen, dass zur Bewertung einer Handlung als supererogatorisch zwei Aspekte gehören: Sie liegt jenseits der Pflicht und sie ist moralisch lobenswert, weil sie dem Akteur besondere Leistungen, die über das normativ Erwartbare hinausgehen, abverlangt. Beide Aspekte scheinen auf klassische Samaritersituationen, wie Singers Teichfall, nicht zu passen. Erstens scheint es nicht zwingend, die Leistung des Professors jenseits der Pflicht anzusiedeln. Sie erfüllt mindestens drei der Kriterien, die Urmson (1958, 212 f.) für Pflichten aufstellt. Dringlichkeit ist durch die Notlage des Kindes gegeben. Zumutbarkeit liegt dadurch vor, dass der Professor nichts von Bedeutung aufs Spiel setzen muss. Auch Eindeutigkeit der Regel, der gefolgt werden soll, ist gegeben, wenn man Nothilfepflichten von allgemeinen Wohltätigkeitspflichten unterscheidet. Diese Unterscheidung kann in einer ersten Annährung anhand der Kriterien der objektiven Bedürftigkeit des Empfängers und der Zumutbarkeit für den Geber getroffen werden. Weitere einschränkende Kriterien für Nothilfepflichten auf der Geberseite sind Zuständigkeit (durch Zurechenbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung), Zulässigkeit der Hilfeleistung und Aussicht auf Erfolg (vgl. Kapitel 1.7). Liegt keine Dringlichkeit im Sinne des Involviertseins notwendiger Güter vor, haben wir es mit Handlungssupererogation zu tun. Hier kann man von Freundlichkeit oder Wohltätigkeit sprechen. Liegt Dringlichkeit vor, aber Zumutbarkeit nicht, handelt es sich um Akteurssupererogation (vgl. Kapitel 1.5). Liegt Dringlichkeit vor, aber keine Zuständigkeit, bleibt die Pflicht unterbestimmt. Wir werden im zweiten Kapitel sehen, dass im
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Kantischen Modell alle diese Leistungen unter der allgemeinen Beförderung fremder Glückseligkeit auftauchen, was eine Differenzierung dringend nötig macht. Weiterer Untersuchung bedarf, ob vorverhaltensunabhängige Nothilfepflichten auch das fünfte und sechste Kriterium erfüllen, das Urmson für Pflichten aufgestellt hat. Hier geht es um die Frage, ob andere ein Recht auf Hilfe haben (d. h. ob das Rechtskriterium erfüllt ist) und um die Frage, ob die Erfüllung der Pflicht erzwingbar ist (d. h. ob das Erzwingbarkeitskriterium erfüllt ist). Klar scheint jedoch, dass diese beiden Kriterien zu stark sind, um die Rede von Pflichten zu begrenzen. Sie müssen nicht erfüllt sein, damit wir von Pflichten sprechen können. So sieht es in der Kantischen Moralphilosophie aus. Dort gibt es jenseits der Rechtspflichten, die Urmsons Kriterien erfüllen (ihnen korrespondieren Rechte und sie sind erzwingbar), Tugendpflichten, insbesondere Wohltätigkeitspflichten, die sich auf die allgemeine Beförderung fremder Glückseligkeit richten. Nachdem wir im ersten Kapitel geklärt haben, dass es vorverhaltensunabhängige positive Pflichten gibt und dass Nothilfepflichten dazu gehören, müssen wir uns im zweiten Kapitel mit der Frage nach dem Status, der Stärke und der Reichweite dieser Pflichten befassen. Sind sie schwächer als negative Pflichten und deswegen nicht erzwingbar? Sind Hilfspflichten korrespondierende Rechte oder moralische Ansprüche zuzuordnen oder haben wir es bloß mit einer Unterart von allgemeinen Wohltätigkeitspflichten zu tun?
2 Die Prioritätsthese 2.1 Zunehmende Heteronomie als Grund für die normative Schwäche allgemeiner Wohltätigkeitspflichten Die Meinung, dass positive Pflichten weniger ernst zu nehmen sind als negative Pflichten, ist weit verbreitet.1 Aber warum sind positive Pflichten so umstritten, dass oft von „bloß positiven Pflichten“ im Unterschied zu akzeptableren, plausibleren, stärkeren negativen Pflichten gesprochen wird (Pogge 2002 b)? Inwiefern unterscheiden sich Menschenliebe und Wohltätigkeit von Gerechtigkeit? Sind Menschenliebe und Wohltätigkeit „bloß freiwillige Mehrleistungen“ (Höffe 2001)? Stimmt es, dass positive Pflichten Pflichten sind, denen keine Rechte korrespondieren? In der aktuellen internationalen Debatte um das Weltarmutsproblem sind diese Vorurteile weit verbreitet. Gleichwohl gibt es auch viele Verteidiger positiver Pflichten (z. B. Singer 1984 und 2005, Unger 1996, Gewirth 1978 und 1987, Shue 1996 und 2005, Horn 2001, Caney 2007). Einiges in der Debatte geht aneinander vorbei. Das liegt daran, dass es keine verbindliche Definition von positiven Pflichten gibt, auf die sich die Theoretikerinnen und Theoretiker beziehen. Ein Ziel dieses Kapitels besteht darin, eine brauchbare Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten zu etablieren (Kapitel 2.6–2.7). Für die Annahme, dass positive Pflichten weniger verbindlich sind als negative Pflichten, lassen sich grob zwei Argumentationsweisen unterscheiden, die eine strukturelle Gemeinsamkeit aufweisen. Die erste Argumentation sieht vor allem die Freiheitseinschränkung, die Pflichten mit sich bringen. Es ist nicht bloß so, dass Pflichten für den Akteur zumutbar sein müssen. Marcia Baron stellt fest, dass Supererogationisten wie David Heyd noch weiter gehen: even if heroic and saintly acts are not beyond the capacity of ordinary people, it is still vital that there be a category of supererogatory acts because, in his view, moral constraint is at odds with freedom, and in the interest of expanding (or at least not contracting) freedom, we want to keep moral constraint to a minimum (Baron 1998, 58).
1 Vgl. Pogge (2002 b, 130): „It is widely believed that negative duties have greater weight than their positive counterparts, if these even exist.“ Vgl. dazu auch Gewirth (2007, 219): „Few would deny that the more affluent should do something to help the poor. But most well-to-do persons understand this ‚should‘ in a weak sense. They see such aid as beyond the call of duty, as supererogatory or, at best, as provided pursuant to an ‚imperfect duty‘ of charity, humanity, or solidarity, which leaves it to donors’ discretion as to how much they give and to whom. It is good to help, but the poor have no right to be helped.“
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Aber warum sollten die im ersten Kapitel betrachteten vorverhaltensunabhängigen Hilfspflichten nicht zu jenem Minimum gehören, das moralischen Einschränkungen unterworfen ist? Eine mögliche Begründung finden wir bei Dieter Birnbacher, der von den „Kosten der Akzeptanz von Handlungspflichten“ spricht (Birnbacher 1995, Kapitel 8.3). Er bringt das drohende Überforderungsproblem durch positive Pflichten gut auf den Punkt, indem er innerhalb verschiedener handlungstheoretisch bestimmter positiver Pflichten verschiedene Stufen der Heteronomie beobachtet. In Bezug auf handlungstheoretisch bestimmte positive Pflichten spricht Birnbacher von Handlungspflichten. Birnbacher geht wie Heyd davon aus, dass uns die Akzeptanz von Pflichten etwas kostet, weil Pflichten unsere Freiheit einschränken. Wenn wir bestimmte Pflichten haben, sind diese vorrangig gegenüber anderen Handlungsalternativen, die wir vielleicht lieber wählen würden als die Pflicht (Overridingness-Kriterium). Dabei ist Birnbachers Idee, dass die Heteronomie von Handlungspflichten mit ihrer Vorverhaltensunabhängigkeit zunimmt. Eine Moral mit der Verpflichtung, Menschen nicht zu verletzen, aber ohne die Verpflichtung, Menschen, die man nicht verletzt hat, zu helfen, lässt der Verfolgung moralunabhängiger Ziele einen größeren Spielraum als eine Moral mit einer zusätzlichen Hilfsverpflichtung. Diese lässt ihrerseits dem Akteur mehr Spielraum als eine Moral mit der zusätzlichen Verpflichtung, nicht nur denen zu helfen, die man selbst, sondern auch denen, die andere verletzt haben (ebd., 276).
Handlungspflichten sind, so Birnbachers offensichtliches Argument, mit Kosten für den Akteur verbunden. Diese wird er je leichter auf sich nehmen, desto mehr er selbst über ihr Zustandekommen entscheiden kann. Die durch Akzeptanz von Handlungspflichten bedingte Heteronomie besteht […] darin, das eigene Verhalten und die eigene Lebensplanung den kontingenten Anwendungsbedingungen von Normen zu unterwerfen. […] Wie stark die Einschränkung ausfällt, hängt vor allem davon ab, inwieweit A in der Lage ist, die Inzidenz der übernommenen Handlungspflichten selbst zu steuern (ebd., 278 f.).
Diese Intuition scheint auch Thomas Pogges Argumentation zugrunde zu liegen. Das kann man sich sehr gut an Pogges normativer Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten deutlich machen (vgl. dazu unten, Kapitel 2.6.3). 2005 hat Pogge unter dem Druck der Einwände von Cruft (2005) und Satz (2005) seine Position modifiziert, indem er zwischen positiven Pflichten und positiven Verpflichtungen unterscheidet. Versprechen, die er für negative Pflichten hält, können positive Verpflichtungen generieren, das Versprochene zu tun. 2007 führt Pogge (2007 a) das Beispiel des versprochenen Blumengießens an: Habe ich meiner Nachbarin versprochen, die Blumen zu gießen, bin ich dazu ver-
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pflichtet, während alle anderen Nachbarn eine solche Verpflichtung nicht haben. Das Verpflichtetsein geht auf meine Handlung des Versprechens zurück. Der Vorschlag scheint verständlich zu machen, was Fürsorge- und Garantenpflichten von Nothilfepflichten unterscheidet. Man hat Fürsorge- und Garantenpflichten sowie Pflichten aus Versprechen und Verträgen nämlich aufgrund des eigenen willentlichen Vorverhaltens. Nothilfepflichten treffen einen dagegen unabhängig vom eigenen Vorverhalten. Hier scheint sich ein Erklärungsansatz für den Vorrang negativer Pflichten zu verstecken. Birnbacher unterscheidet innerhalb von handlungstheoretisch bestimmten positiven Pflichten zwischen sechs Stufen der Heteronomie: (1) „Handlungspflichten aus Verträgen und frei übernommenen sozialen Rollen“ (z. B. Gütergemeinschaft in der Ehe) (2) „Handlungspflichten aus anderem willentlichen Vorverhalten“ (z. B. Fürsorgepflichten für die eigenen Kinder) (3) „Handlungspflichten aus unwillentlichem schuldhaftem Vorverhalten“ (Haftung für Fahrlässigkeit) (4) „Handlungspflichten aus unwillentlichem unverschuldetem (nicht vorwerfbarem) Vorverhalten“ (z. B. Umweltverschmutzung durch Autofahren) (5) „Vom Vorverhalten unabhängige Handlungspflichten aus zugeschriebenen sozialen Rollen“ (z. B. Pflegen der eigenen Eltern, geschlechtsspezifische Pflichten, Wehrpflicht) (6) „Vorverhaltens- und rollenunabhängige Handlungspflichten“ (z. B. Singers Teichbeispiel und Singers Armutsbeispiel) (Birnbacher 1995, 279) Wir hatten in Kapitel 1.1 gesehen, dass es Handlungspflichten gibt, die sogar rechtlich erzwingbar sind. Diese Pflichten stellten sich als vorverhaltensabhängig heraus. Birnbacher rekonstruiert die Unumstrittenheit dieser Pflichten innerhalb seines Modells dadurch, dass sie Handlungspflichten mit einem niedrigen Heteronomiegrad sind. „Mit jeder Stufe nimmt der Grad an Heteronomie zu, fällt ein weiteres Element der Steuerbarkeit der die Pflichterfüllung fordernden Situationen weg“ (ebd.). Der Verbindlichkeitsgrad nimmt mit jeder Stufe weiter ab, so dass auf Stufe 6 die schwächste Pflicht angesiedelt ist. Je größer die Heteronomie, desto kleiner der Verbindlichkeitsgrad der Pflicht. Nur die Rollen auf Stufe 1 sind frei wählbar. Mit Stufe 2–4 „dehnt sich die moralische Handlungsverantwortung auf die objektiven Weltzustände aus, die der Akteur durch eigenes Verhalten kausal hervorgebracht oder beeinflusst hat“ (ebd., 280). Die Handlungspflichten aufgrund frei übernommener Rollen folgen dem Verursacherprinzip. Auf diesen Stufen finden sich Aufsichts- und Fürsorgepflichten. Ferner gilt: Wer sich nur verpflichtet, willentliche Schädigungen wiedergutzumachen, kann sein Verhalten leichter steuern, als wer eine entsprechende Verpflichtung auch
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für fährlässige usf. Schädigungen anerkennt (vgl. ebd., 281). Auf Stufe 4 erfolgt der Übergang von Schuldhaftung zu Gefährdungshaftung. Ein Höchstmaß an Heteronomie ist auf den Stufen 5 und 6 erreicht, denn diese Pflichten sind völlig vorverhaltensunabhängig. Hier nennt Birnbacher auf Stufe 5 spezielle Pflichten, die bestimmten Rollen entsprechen, etwa Pflichten zur Hilfe in Notlagen gegenüber anderen Angehörigen einer Gruppe, in die man hineingeboren ist, Handlungspflichten aus der Geschlechtszugehörigkeit, staatsbürgerliche Handlungspflichten (z. B. Wehrpflicht) und Handlungspflichten gegenüber Eltern und älteren Verwandten (ebd.).
Für letztere Pflichten gilt, dass ihre eingeschränkte Reichweite mit großer Rigorosität verbunden ist. Die Idee ist, um ein Beispiel von Urmson aufzugreifen, dass etwa Töchter unter großer Aufopferung eigener Lebenspläne ihre Eltern pflegen sollen. Eine traditionsreiche Idee ist auch, dass Mütter unter Aufopferung ihrer beruflichen Ziele für ihre Kinder sorgen sollen, während dies für Väter nicht gilt. Hier entsteht eine Fürsorgepflicht, die mit erheblichem Aufwand verknüpft ist, aus einer zugeschriebenen Rolle qua Geschlechtszugehörigkeit. Davon zu unterscheiden sind die auf Stufe 6 angesiedelten „Jedermannspflichten“, die sich einfach auf alle möglichen Beförderungen fremder Glückseligkeit beziehen. Darunter fallen das Gebot der Christlichen Nächstenliebe oder Kants allgemeine Wohltätigkeitspflicht sowie Schopenhauers Prinzip „Hilf allen, soviel du kannst“ und das utilitaristische Prinzip der Hervorbringung der größten Nutzensumme. Aufgrund der drohenden Überforderung entspreche der großen Reichweite der Nächstenliebe bzw. des Mitleids deren eingeschränkte Rigorosität (ebd., 282). Diese Verbindung einer universalen Reichweite positiver Pflichten mit einer verminderten Strenge finden wir auch schon bei Thomas von Aquin, Kant und Adam Smith, um nur einige zu nennen.2 Allgemeine Menschen-
2 Bei Kant finden wir folgende Stelle: „Das Wohlwollen in der allgemeinen Menschenliebe ist nun zwar dem Umfange nach das größte, dem Grade nach aber das kleinste, und wenn ich sage: ich nehme an dem Wohl dieses Menschen nur nach der allgemeinen Menschenliebe Antheil, so ist das Interesse, was ich hier nehme das kleinste, was nur sein kann. Ich bin in Ansehung desselben nur nicht gleichgültig“ (MST 6, 451). Adam Smith geht davon aus, dass die Sorge um das Wohlbefinden aller allein Gottes Aufgabe ist, beim Menschen sei dagegen von einer eingeschränkten Zuständigkeit auszugehen: „Die Verwaltung des großen Systems des Universums, die Sorge für die allgemeinste Glückseligkeit aller vernünftigen und fühlenden Wesen ist indessen das Geschäft Gottes und nicht das des Menschen. Dem Menschen ist ein weit niedrigerer Arbeitsbezirk zugewiesen, aber einer, der der Schwäche seiner Fähigkeiten und der Enge seiner Fassungskraft weit angemessener ist: die Sorge für seine eigene Glückseligkeit, für die seiner Familie, seiner Freunde und seines Landes“ (Smith 1926, 400 f.). Auch Thomas
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liebe und universelles Wohlwollen beziehen sich auf alle Menschen, sind aber völlig unterbestimmt. Problematisch wird es, wenn wir versuchen würden, alle Pflichten, die sich auf Stufe 6 ergeben können, zu erfüllen. Wer im Sinne einer christlichen, utilitaristischen oder mitleidsethischen Norm der Nächstenliebe universale negative Verantwortung übernimmt, macht seine Lebensplanung von der Not der Welt abhängig. Im Extrem ist sein Leben nicht mehr eigentlich sein eigenes unverwechselbares Leben, sondern ein der Not der Welt geopfertes Leben (ebd.).
Hier liegt Heiligensupererogation vor: Die eigenen Interessen werden der Moral vollständig geopfert. Dass ein solches Ideal wenig erstrebenswert ist, hat Susan Wolf (1997) eindringlich gezeigt. Seine eigenen legitimen Interessen und Begabungen vollständig den Interessen anderer unterzuordnen, kann von keinem verlangt werden und ist zudem nicht wünschenswert, denn: „Eine ins Universale ausgedehnte Reichweite der moralischen Handlungspflichten nimmt dem Akteur jeden Spielraum zu freier individueller Entfaltung und macht den Menschen zum Mittel für die Zwecke der Menschheit“ (Birnbacher 1995, 282). Eine Gleichstellung von Handlungs- und Unterlassungspflichten würde den Akteur „zwangsläufig überfordern“ (ebd.). Selbst wenn wir also, wie im ersten Kapitel gezeigt, davon ausgehen können, dass es Nothilfepflichten gibt, so sind diese in Birnbachers Modell auf der letzten, der sechsten allgemeinen Wohltätigkeitsstufe angesiedelt. Auf dieser Stufe kommt alles zusammen, was wir allen anderen an Gutem tun können, ohne durch unser Vorverhalten dazu verpflichtet zu sein. Dieses Bild entspricht dem, was wir in der Einleitung als Wohltätigkeitsthese bezeichnet haben. Unsere allgemeinen Pflichten, anderen Gutes zu tun, unter die auch Nothilfe und Armutsreduktion fallen, sind dann schwache Wohltätigkeitspflichten. Schwach sind Wohltätigkeitspflichten in dem Sinn, dass ihr Verpflichtungsgrad gering ist. Stufe 6 ist daher auch eine gute Kandidatin für den gesamten Bereich der Supererogation, wenn man ihn als Bereich des rechtlich nicht Erzwingbaren denkt.
von Aquin geht nicht davon aus, dass wir allen Wohl tun müssen, wir sollten nur dazu bereit sein: „Schlechthin gesprochen, können wir nicht allen einzelnen Menschen Gutes tun. Es ist jedoch keiner, bei dem nicht auch einmal der Fall eintreten könnte, dass wir ihm als einzelnem wohl tun müssten. Deshalb verlangt es die Gottesliebe, dass der Mensch, auch wenn er nicht jeden Augenblick einem Menschen etwas Gutes erweist, so doch im Geiste bereit ist, jedem wohlzutun, wenn die Zeit dazu da ist. – Eine Wohltat allerdings gibt es, die wir allen erweisen können, wenn zwar nicht im Besonderen, so doch im Allgemeinen, nämlich: dass wir für alle beten, für die Gläubigen wie für die Ungläubigen“ (ST II-II, 31, 2).
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Die zweite Argumentation für die Schwäche positiver Pflichten können wir mit Marcia Baron als Kantische Alternative zur Supererogation bezeichnen. Kant geht zwar davon aus, dass es positive Pflichten gibt. Denn „[o]n a Kantian view, of course, moral constraint is not at odds with freedom, and so Heyd’s argument would not carry any weight with Kantians“ (Baron 1998, 59). Aber diese positiven Pflichten zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht rechtlich erzwingbar sind. Und darin besteht die Strukturanalogie der beiden Argumentationen: Von der Sache her gibt es einen Bereich moralisch guter Handlungen, die jenseits erzwingbarer starker Pflichten liegen. Baron formuliert im Anschluss an diese Strukturanalogie folgende Frage: How are acts that are treated as supererogatory on the standard approach viewed on the Kantian picture? The short answer is that such acts are not strictly required but they are of a type that is. They are not required severally; that is, they are not, as act-tokens, required. But they are instances of general types that are morally required. More precisely, they are acts that come under a principle of imperfect duty, generally the duty to have others’ happiness as one’s end and to act accordingly, i.e., to promote others’ happiness. We have a duty to promote others’ happiness, but do not have a duty to help in this particular instance (ebd.).
Der umstrittene Bereich vorverhaltensunabhängiger positiver Pflichten, Birnbachers Stufe 6, fällt also innerhalb der Kantischen Ethik in den Bereich weiter oder lässlicher, unvollkommener Tugendpflichten zur Beförderung fremder Glückseligkeit.3 Der Spielraum (latitudo), den der Akteur bei der Befolgung dieser Pflichten hat, scheint dem Überforderungseinwand geschuldet. Wenn wir nicht alle möglichen Pflichten auf Stufe 6 erfüllen können, dann scheint es naheliegend, es dem Akteur zu überlassen, welche er erfüllen möchte. Meine These ist, dass wir aus diesem Bereich ebenso klar wie im ersten Kapitel individuelle Nothilfepflichten als starke Pflichten herauskristallisieren können, die sich durch geeignete Kriterien von allgemeinen Wohltätigkeitspflichten abgrenzen lassen. Die Kantische Bestimmung aller vorverhaltensunabhängigen positiven Pflichten als Wohltätigkeitspflichten ist, so die hier vorgetragene Kritik, zu ungenau.4 Nicht Nothilfepflichten sind unterbestimmt, sondern ihre Zuordnung zu Wohltätigkeitspflichten ist irreführend.
3 Da der Imperativ der Tugendlehre für Kant „nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ists ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d.i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zwecke, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle“ (MST 6, 390; vgl. AA 23, 257, AA 23, 391, 393). 4 Kritik an Kants allgemeiner Bestimmung der Wohltätigkeitspflichten vertreten auch: Steigleder (2002) und neuerdings Baron (1998), im Unterschied zu Baron (1995).
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Wir werden in diesem zweiten Kapitel zunächst die wirkungsmächtige Kantische Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten rekonstruieren. Dabei werden wir feststellen, dass sie mit der Unterscheidung von erzwingbaren Rechtspflichten und lässlichen Tugendpflichten nicht deckungsgleich ist. Ferner werden wir die Zuordnung der Nothilfe zu den allgemeinen Wohltätigkeitspflichten einer kritischen Betrachtung unterziehen (Kapitel 2.5). In einem zweiten Schritt wird die verbreitete Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten, wie sie in der aktuellen Debatte um das Weltarmutsproblem von Pogge und anderen verwendet wird5, einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen sein (Kapitel 2.6.1–2.6.4). In einem dritten Schritt werde ich eine alternative Bestimmung starker und schwacher Pflichten in Grundzügen darlegen, die auf die im ersten Kapitel erarbeiteten zwei gütertheoretisch bestimmten Kriterien zur Unterscheidung individueller Nothilfepflichten von nicht erzwingbaren positiven Leistungen zurückgreift. Diese Kriterien sind, analog zu den in Kapitel 1.5 bestimmten Supererogationsgrenzen, objektive Bedürftigkeit auf der Empfängerseite und Zumutbarkeit auf der Geberseite. Wenn meine Argumentation überzeugend ist, werden wir sehen, dass sich auch innerhalb eines Kantischen Modells, das zwischen unbedingten vollkommenen und lässlichen unvollkommenen Pflichten unterscheidet, starke individuelle Hilfspflichten von Pflichten zur allgemeinen Beförderung fremder Glückseligkeit differenzieren lassen. Die strukturelle Gemeinsamkeit zwischen der Argumentation der Supererogationisten und den Kantianern besteht darin, dass sie einen Bereich der erzwingbaren Pflichten von einem Bereich des moralisch Guten abtrennen, der jenseits starker Pflichten liegt. Ich werde dafür argumentieren, dass es gute Gründe gibt, individuelle Nothilfepflichten für starke positive Pflichten zu halten. Gleichwohl bleibt ihr Status prekär. Sie sind, sofern wir Kriterien für sie angeben können, stärker als allgemeine Wohltätigkeitspflichten. Sie sind aber aus empirischen Gründen schwächer als viele negative Pflichten, da wir sie in Abgrenzung von allgemeiner Wohltätigkeit kriteriell genau bestimmen müssen (vgl. O’Neill 1996). Nichtsdestotrotz sind bestimmte allgemein anerkannte negative Pflichten im Konfliktfall schwächer als individuelle Nothilfepflichten (vgl. Kapitel 1.9). Am Ende von Kapitel 2 werde ich dafür argumentieren, die Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten einfach nur handlungstheoretisch und deskriptiv zu verstehen: eine positive Pflicht verlangt ein Tun, eine negative Pflicht ein Unterlassen. Ich werde jedoch zeigen, dass
5 Vgl. Shue (1996), Pogge (2002 b), Satz (2005), Cruft (2005), Patten (2005), Ashford (2006) und (2007), Caney (2007) u.v.m.
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daraus nichts bezüglich der Stärke positiver bzw. negativer Pflichten folgt. Als normative Unterscheidung sollten wir die Unterscheidung von starken negativen Pflichten und schwachen positiven Pflichten daher aufgeben. Wir können sie durch eine gütertheoretisch fundierte Unterscheidung von Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten ersetzen. Dies ist, wie sich zeigen wird, mit John Stuart Mills Unterscheidung von Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten kompatibel. Am Ende des zweiten Kapitels werden diese Unterscheidung und die These, dass Nothilfepflichten positive Gerechtigkeitspflichten sind, gegen den Einwand verteidigt, dass positiven Pflichten keine Rechte korrespondieren.
2.2 Kantische Tugendpflichten als Alternative zur Supererogation Während viele Kant-Interpreten argumentieren, dass die Kantische Ethik keinen Raum für Supererogation lasse, da sie alle Bereiche moralisch bewertbaren Handelns mit Pflichten abdecke6, vertritt Marcia Baron die These, dass die Kantische Ethik eine alternative Beschreibung desjenigen Bereichs der Moral erlaubt, auf den es die Supererogationisten abgesehen haben. Ihre Idee ist „that […] supererogatory acts can be explained in terms of duty“ (Baron 1995, 26). Grundsätzlich gibt es, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, drei Möglichkeiten, den Bereich von Leistungen zu beschreiben, die moralisch gut sind, aber nicht gefordert werden können: (1) Als Akteurssupererogation: Jemand nimmt ein unzumutbares Maß an Pflichterfüllung auf sich. Der Aufwand für den Akteur für eine verpflichtende Handlung liegt jenseits des in legitimer Weise Erwartbaren. (Heldensupererogation, Heiligensupererogation) (2) Als Handlungssupererogation, z. B. bei bloßer Präferenzsatisfaktion des Behandelten: Die Handlung liegt jenseits der Pflicht. (3) Als jenseits des rechtlich Erzwingbaren liegende moralische Pflichten. Die Möglichkeiten (1) und (2) haben wir bereits eingehend untersucht. Möglichkeit (2) betrifft subjektive Notlagen und unterscheidet sich dadurch von strengen Hilfspflichten, die wir als auf objektive Notlagen bezogene positive Pflichten ausgezeichnet haben.
6 Z. B. Kersting (1997) und Guavara (1999); zur Diskussion vgl. auch Timmermann (2005).
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Was (3) betrifft, liegt es zunächst nahe, sich W. Kersting (1997) anzuschließen, der die Rede von supererogatorischen moralischen Pflichten für einen begrifflichen Widerspruch hält: Wenn etwas als moralische Pflicht ausgewiesen werden kann, liegt ein begrifflicher Widerspruch vor, wenn man dieselbe Forderung zugleich als jenseits der Pflicht liegend bezeichnet. Allerdings ist die Idee, schwache Pflichten als supererogatorisch zu bezeichnen, nicht so unplausibel, wie es zunächst scheint.7 Ein Grund dafür ist, dass man dadurch, dass bestimmte Handlungen in einem schwachen moralischen Sinn geboten sind, verstehen kann, wo ihr moralischer Wert herkommt. Gleichzeitig sind diese Handlungen nicht in einem strengen Sinn geboten und liegen von dort aus betrachtet jenseits einer etwa durch andere erzwingbaren Pflicht. Wir sollten hier nicht zu schnell kapitulieren, denn Kants Tugendpflichten können ganz plausibel machen, dass es Handlungsmaximen gibt, die zu haben moralisch gut und sogar geboten ist, deren Gebotensein allerdings kein rechtliches Gebotensein durch andere ist. Die Kategorie der moralisch guten Handlungen, die allerdings nicht rechtlich erzwungen werden können, fügt sich bei Kant einerseits zwanglos ins rechtlich Erlaubte ein, andererseits gibt es durch die Maxime der Tugendpflichten, zu eigener moralischer Vollkommenheit und zur Beförderung fremder Glückseligkeit beizutragen, ein Kriterium dafür, was moralisch gut ist. Allerdings stimmt Kants Abgrenzung von vollkommenen Pflichten und unvollkommenen Pflichten (und auch die Unterscheidung von Rechtspflichten und Tugendpflichten) nicht mit den beiden hier etablierten gütertheoretischen Bestimmungen der Supererogationsgrenzen überein. Denn Nothilfe ist, wie die allgemeine Beförderung
7 Diese Idee ist auch recht verbreitet: „Some philosophers identify supererogation with imperfect duty, or with a weak duty, or with duty that is personal and non-universalizable, or with duty that has no correlative right, or with an ethical rather than legal duty, or with an ‚ought‘ which is not enforceable“ (Heyd 2007, Abschnitt 2). Auch die Kantianerin O’Neill geht davon aus, dass Supererogation einfach dann vorliegt, wenn eine Tugendpflicht in einem für den Akteur unzumutbaren Maß erfüllt wird (O’Neill 1996, 265 ff.). Ferner legt auch Urmson durch die von ihm gewählten Formulierungen nahe, dass es außer der „basic duties“ (Urmson 1958, 210 ff.) oder „absolute duties“ (ebd., 208), die im Mill’schen Sinne Gerechtigkeitspflichten sind, noch andere, schwächere Pflichten geben kann. Den Punkt macht Christopher New (1974, 180) stark: Urmson „claims […] that a moral code must distinguish basic rules, compliance with which is indispensable, from the ‚higher flights of morality‘, fulfilling the aims of which is not indispensable. By ‚indispensable‘ he means ‚necessary for a tolerable social life‘. […] No doubt this is true, but it in no way shows that we do not have nonbasic duties as well as basic ones. It is worse to mug a traveller than to pass the mugged one by on the other side of the road; and a general indifference to the suffering of others would not make life as nasty as a general propensity to inflict it on them. But a house does not stop at its foundations, and Urmson’s distinction (which is perfectly valid) gives us no reason to think that the structure of our duties stops at basic duties either.“
Kantische Tugendpflichten als Alternative zur Supererogation
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fremder Glückseligkeit, bei Kant bloß eine unvollkommene Pflicht. Ich werde im Folgenden zeigen, dass diese Auffassung alles andere als plausibel ist.8 In der Kantischen Rechts- und Moralphilosophie zeichnet es die Tugendpflichten konstitutiv aus, dass ihre Erfüllung nicht rechtlich erzwingbar ist.9 Sie sind per definitionem jenseits des rechtlich Erzwingbaren liegende moralische Pflichten. Kant hat also – etwa im Unterschied zu Urmson10 – einen Pflichtbegriff, der so weit ist, dass auch Pflichten darunter fallen, denen keine Rechte entsprechen, deren Erfüllung also von anderen nicht einforderbar oder gar von Dritten oder von Institutionen erzwingbar ist. Kant geht bezüglich der Tugendpflichten von einer Unbestimmtheit in der Art und im Ausmaß der Pflichterfüllung aus, die insbesondere in Bezug auf die Pflicht zur Wohltätigkeit entstehe. Diese verlangt die Einschränkung des eigenen Wohlstands „ohne Hoffnung der Wiedervergeltung“, doch es kann nicht die Aufopferung der eigenen Glückseligkeit zugunsten der Fremden verlangt werden. „Also ist diese Pflicht nur eine weite; sie hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu thun, ohne daß sich die Gränzen davon bestimmt angeben lassen“ (MST 6, 393). Ferner geht Kant davon aus, dass man zur Erfüllung der Tugendpflichten auf empirische Kenntnisse zurückgreifen muss: [W]as zu thun sei, kann nur von der Urtheilskraft nach Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der Sittlichkeit (den moralischen), d. i. nicht als enge (officium strictum), sondern nur als weite Pflicht (officium latum) entschieden werden. Daher [kann] der, welcher die Grundsätze der Tugend befolgt, zwar in der Ausübung im Mehr oder Weniger, als die Klugheit vorschreibt, einen Fehler (peccatum) begehn, aber nicht darin, daß er diesen Grundsätzen mit Strenge anhänglich ist, ein Laster (vitium) ausüben (MST 6, 433 Anm.; vgl. AA 11, 2).
8 Genau zu der analogen Auffassung, die hier eben bestritten werden soll, gelangt z. B. auch Christopher New. Er geht davon aus, dass Garantenpflichten, etwa von Bademeistern, in Urmsons Sinn starke „basic duties“ sind. Ein Bademeister außer Dienst hätte keine starke Garantenpflicht, einen Ertrinkenden zu retten, aber eine schwache Wohltätigkeitspflicht. „To use the fact that one had no role-duty or special commitment in exculpation of one’s omission to perform an act of charity or courage (whether trifling, or saintly and heroic) would be to hide a moral fault (whether trifling or iniquitous) behind a legalistic fiction. ‚Why should I put myself out for him? He’s got no claim on me.‘ is not the remark of a man who does his duty and no more, but of a man who does not do the duties of benevolence“ (New 1974, 184). 9 „Aller Pflicht correspondirt ein Recht, als Befugniß (facultas moralis generatim) betrachtet, aber nicht aller Pflicht correspondiren Rechte eines Anderen (facultas iuridica) jemand zu zwingen; sondern diese heißen besonders Rechtspflichten“ (MST 6, 383). 10 Urmsons Auffassung, die das Vorhandensein von Pflichten an das Vorhandensein von korrespondierenden Rechten bindet, ist weit verbreitet. So geht auch der moralische Kontraktualismus von einer notwendigen Verknüpfung von Rechten und Pflichten aus (vgl. Stemmer 2002, § 4).
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Der problematische Status der Tugendpflichten, der sich aus ihrer Unbestimmtheit und damit aus ihrer normativen Schwäche ergibt, ist auch Kant bewusst. In den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten schreibt er: Die Materie der Willkühr ist der Zweck weil aber die Gesetzmäßigkeit derselben der Form nach die oberste Bedingung aller Verbindlichkeit ist wobey von jedem besonderen Zweck abstrahirt werden kann (der Zweck mag seyn welcher er wolle) mithin das Princip der Handlungen nach derselben unbedingt seyn muß dagegen alle Zwecke als Wirkungen in Beziehung auf ihre Ursache in der Sinnenwelt (die Willkühr) empirisch bedingt sind so wird die erstere allein Gesetze d. i. Principien der genauen Bestimmung der pflichtmäßigen Handlung ihrer Beschaffenheit und dem Grade nach die zweyte aber blos Anmahnungen (admonitiones) enthalten welche zwar unter einem Princip einer möglichen Gesetzgebung überhaupt stehen aber nicht durch Gesetze selbst bestimmt werden d. i. sie werden eine latitudinem haben (AA 23, 380).
An dieser Stelle wird ganz deutlich, inwiefern der Terminus Tugendpflicht problematisch ist. Denn Pflicht wird von Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten so bestimmt, dass sie Handlungen notwendig macht: Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. […] Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime […], einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Folge zu leisten (GMS 4, 400 f.).
Diese Bestimmung einer Pflicht erfüllt unser in Kapitel 1.1 entwickeltes Kriterium der Overridingness. Bestimmte Handlungen werden durch die Achtung des Gesetzes notwendig. Wie ist das damit zu vereinbaren, dass Tugendpflichten eine „latitudinem“ haben? An der oben zitieren Stelle aus den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten wird das implizite Problem der Tugendpflichten, dass sie Pflichten sein sollen, aber keine „genaue Bestimmung der pflichtmäßigen Handlungen“ leisten können, explizit. Kant bezeichnet die Tugendpflichten als Pflichten, die „blos Anmahnungen (admonitiones) enthalten“ (AA 23, 380). Wir sehen hier wieder, inwiefern Baron zu Recht von einer Kantischen Alternative zur Supererogation spricht. Tugendpflichten erscheinen an der verräterischen Stelle aus den Vorarbeiten als bloße Ratschläge, als hypothetische Imperative („blos Anmahnungen“) im Unterschied zu strengen Gesetzen. Ferner spricht Kant in der Rechtslehre davon, dass mit einem Recht die „Befugnis zu zwingen verbunden“ ist (MSR 6, 231 f.; vgl. 383). Der Pflichtbegriff, den er verwendet, ist allerdings nicht auf die Korrespondenz mit dem Recht eines anderen beschränkt. Neben Rechtspflichten, die durch andere erzwingbar sind, gibt es in Kants Metaphysik der Sitten eben die Tugendpflichten, bei denen dies nicht der Fall ist.
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Ein Pflichtendualismus zwischen strengen Pflichten, die erzwingbar sind, und weiten Pflichten, die allgemein über das Erzwingbare hinaus das Gute befördern, hat im Naturrecht eine lange Tradition.11 Auch Kant unterscheidet in den Träumen eines Geistersehers zwischen einem „starke[n] Gesetz der Schuldigkeit“ und dem „schwächere[n] der Gütigkeit“ (AA 2, 335).12 Dabei scheint es sich so zu verhalten, dass die normative Stärke den Rechtspflichten und die normative Schwäche den Tugendpflichten zuzuordnen ist. Diese Unterscheidung scheint wiederum auf der Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten zu beruhen, die bereits in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eingeführt wird. Dort unterscheidet Kant zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, indem er „unter einer vollkommenen Pflicht diejenige [versteht, CM], die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet“ (GMS 4, 421 Anm.). Sehen wir uns zunächst die Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten an (Kapitel 2.3). Anschließend können wir prüfen, ob sie mit der Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten übereinstimmt. In einem dritten Schritt wird zu klären sein, welchen Status individuelle Nothilfepflichten in diesem Bild haben. Wir haben zunächst zwei Leitfragen. Erstens: Was unterscheidet bei Kant starke, vollkommene Pflichten von schwachen, unvollkommenen Pflichten? Zweitens: Ist es plausibel, individuelle Nothilfepflichten zu den schwachen Pflichten zu rechnen?
2.3 Vollkommene und unvollkommene Pflichten im Kantischen Modell In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant im Zusammenhang mit vier Beispielen, die er für Pflichten gibt, zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Ferner unterscheidet er Pflichten in Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere. Für eine vollkommene Pflicht gegenüber sich selbst hält Kant das Selbstmordverbot. Die Entfaltung der eigenen Talente ist dagegen eine unvollkommene Pflicht gegen sich selbst. Das Verbot, falsche Versprechen abzugeben, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen, wird als vollkommene Pflicht gegen andere interpretiert. Der Fall, der uns am meisten
11 Vgl. Hartung (1999) und Kersting (1997). 12 Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Wolfgang Kersting, der die Vorgeschichte der Kantischen Unterscheidung im deutschen Naturrecht aufarbeitet (Kersting 1997).
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interessiert, die Nothilfe, wird den unvollkommenen Pflichten gegen andere zugeordnet. Aus GMS 4, 421–424 ergibt sich folgendes Bild:
vollkommene Pflichten Verpflichtungsart: eng Kriterium: Denkwiderspruch
gegen sich selbst
gegen andere
Selbstmordverbot (Pflicht zur Lebenserhaltung)
Verbot des falschen Versprechens (Pflicht zur Einhaltung von Abmachungen)
Verbot, seine Talente unvollkommene Pflichten verkommen zu lassen Verpflichtungsart: weit Kriterium: Wollenswiderspruch (Pflicht zur Talententfaltung)
Verbot der unterlassenen Hilfeleistung (Pflicht zur Hilfeleistung in der Not)
Tabelle 2: Kants Einteilung von Pflichten in der Metaphysik der Sitten
In der Passage, die die vier Beispiele entwickelt und interpretiert (GMS 4, 421– 424), lassen sich zwei Abgrenzungskriterien zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten finden (vgl. Kersting 1997, 78). Das erste Abgrenzungskriterium führt Kant am Anfang der Beispielpassage in einer Fußnote ein. Diese stellt eine Erläuterung zu Kants Bezug auf die „gewöhnliche Einteilung der Pflichten“ in vollkommene und unvollkommene und Pflichten gegen sich und Pflichten gegen andere dar (zur Einteilung der Pflichten vor Kant vgl. Kersting 1997). Kant schreibt: Man muß hier wohl merken, daß ich die Eintheilung der Pflichten für eine künftige Metaphysik der Sitten mir gänzlich vorbehalte, diese hier also nur als beliebig (um meine Beispiele zu ordnen) dastehe. Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet, und da habe ich nicht bloß äußere, sondern auch innere vollkommene Pflichten, welches dem in Schulen angenommenen Wortgebrauch zuwider läuft, ich aber hier nicht zu verantworten gemeint bin, weil es zu meiner Absicht einerlei ist, ob man es mir einräumt, oder nicht (GMS 4, 421 Anm.).
Die Bestimmung der Vollkommenheit erfolgt hier dadurch, dass die vollkommene Pflicht „keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet“. Sie hat also hohe Verbindlichkeit. Nennen wir dieses Kriterium das Verbindlichkeitskriterium für vollkommene Pflichten: Verbindlichkeitskriterium: Eine vollkommene Pflicht muss ausnahmslos erfüllt werden.
Es liegt nahe, die Stelle so zu verstehen, dass nicht das Verbindlichkeitskriterium als Kennzeichen einer vollkommenen Pflicht umstritten ist, sondern höchstens die Zuordnung bestimmter Pflichten zu vollkommenen Pflichten, wie sie
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Kant in der Grundlegung (vgl. 4, 421 ff.) vornimmt, revisionäre Züge hat. Dadurch, dass Kant in der Passage behauptet, das Selbstmordverbot sei eine vollkommene Pflicht gegen sich selbst, grenzt er sich jedenfalls von denen ab, die davon ausgehen, dass vollkommene Pflichten mit Rechtspflichten zusammenfallen, deren Erfüllung durch andere erzwingbar ist. Klar ist, dass Kant die an dieser Stelle vorgenommene Einteilung für vorläufig hält. Das zweite Unterscheidungsmerkmal zwischen Pflichten findet sich in einer Eigenschaft der ihnen entsprechenden Maximen. Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurtheilung derselben überhaupt. Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, dass man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde. Man sieht leicht: daß die erstere der strengen oder engeren (unnachlaßlichen) Pflicht, die zweite nur der weiteren (verdienstlichen) Pflicht widerstreite, und so alle Pflichten, was die Art der Verbindlichkeit (nicht das Object ihrer Handlung) betrifft, durch diese Beispiele in ihrer Abhängigkeit von dem einigen Princip vollständig aufgestellt worden (GMS, 4, 424).
In dieser Passage spricht Kant nicht von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, sondern von einer „strengen oder engeren (unnachlasslichen) Pflicht“ im Gegensatz zu einer „weiteren (verdienstlichen) Pflicht“. Es liegt nahe, das abermals im Sinne des Verbindlichkeitskriteriums zu interpretieren: Vollkommene Pflichten sind streng, unvollkommene Pflichten weit. Ferner müssen vollkommene Pflichten unbedingt erfüllt werden („unnachlasslich“), während unvollkommene Pflichten verdienstlich sind. Man sieht hier abermals, warum man mit Baron von einer Kantischen Alternative zur Supererogation sprechen kann. Verdienstliche Pflichten scheinen dieselben Merkmale zu haben wie supererogatorische Handlungen: Sie sind gut (verdienstlich), wenn man sie ausführt, aber nicht schlecht, wenn man sie unterlässt, da sie nicht zu den unnachlasslichen Pflichten gehören. Darüber hinaus erklärt Kant die Differenz von engen und weiten Pflichten durch die Differenz zwischen einem Denkwiderspruch bzw. einem Wollenswiderspruch in den gegenteiligen Maximen. Vollkommene Pflichten sind dann Pflichten, deren Gegenteil nicht als allgemeines Gesetz denkbar ist. Das Gegenteil unvollkommener Pflichten, eine Welt, in der sich jeder nur um sich selbst kümmert und anderen keine Hilfe leistet, ist nach Kant durchaus widerspruchsfrei denkbar, aber man kann eine solche Welt nicht wollen: Denkwiderspruchskriterium: Das Gegenteil der einer unvollkommenen Pflicht entsprechenden Maxime kann man zwar konsistent denken, aber nicht wollen.
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Den ersten Abgrenzungsversuch durch das Verbindlichkeitskriterium, der vollkommene Pflichten dadurch bestimmt, dass sie keine Ausnahme zugunsten der Neigung verstatten, hält Kersting für völlig ungereimt. Ein Handeln aus Pflicht wird in der Grundlegung dem Handeln aus Neigung entgegengesetzt: Wenn eine vollkommene Pflicht dadurch gekennzeichnet sein soll, daß sie ‚keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet‘, dann bleibt die spezifische Differenz Vollkommenheit unbestimmt, da der Pflicht als solcher doch schon ausnahmslose Gültigkeit zukommt. Nach der hier vorgeschlagenen Definition wäre der Ausdruck ‚vollkommene Pflicht‘ eine Tautologie und sein Gegenstück eine logische Ungereimtheit; impliziert der Begriff der Pflicht die ‚praktisch-unbedingte Nothwendigkeit einer Handlung‘ (GMS 4, 425), dann kann das Merkmal der ausnahmslosen Gültigkeit nicht die Eigentümlichkeit vollkommener Pflichten begründen (Kersting 1997, 76).
Wäre dies die einzige Lesart, so wäre Kersting recht zu geben. Wenn man sich allerdings Parallelstellen in der Tugendlehre ansieht, hat man eine Alternativmöglichkeit, die Rede von der „Ausnahme zum Vortheil der Neigung“ in der Grundlegung zu verstehen. In der Tugendlehre geht Kant davon aus, dass unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden [werden kann, CM], wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird (MST 6, 390).
Diese Unbestimmtheit in der Art und im Ausmaß der Pflichterfüllung entsteht besonders in Bezug auf die Pflicht zur Wohltätigkeit. Es scheint von dieser Stelle her weder zwingend noch naheliegend, die Passage in der Grundlegung mit Kersting dahingehend zu interpretieren, dass Kant vorschlägt, eine unvollkommene Pflicht müsse nur dann erfüllt werden, wenn der Verpflichtete gerade Lust dazu hat. Kants Aussage in der Metaphysik der Sitten eröffnet die Möglichkeit, „Ausnahmen“ so zu verstehen, dass Wohltätigkeitspflichten eine Priorisierung der Hilfsbedürftigen, etwa qua Zuständigkeit, zulassen. Auch die Abgrenzung vollkommener von unvollkommenen Pflichten durch einen Denk- bzw. Wollenswiderspruch hält Kersting für wenig überzeugend. Die „Unterscheidung zweier Universalisierungshinsichten“ zur Begründung der Unterscheidung vollkommener von unvollkommenen Pflichten hat Kant auch nirgends fortgeführt (Kersting 1997, 78 f.).13 Es ist auch weder klar, inwiefern es für
13 Zur Unterscheidung der „contradiction in conception“ von der „contradiction in will“, die Kant in GMS 4, 424 etabliert, vgl. O’Neill (2000, Kapitel 5 und 7), ferner Korsgaard (1996, Kapitel 3).
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uns Menschen als Sinnen- und Vernunftwesen einen Unterschied machen sollte, ob bei der Universalisierung von Maximen ein Denk- oder Wollenswiderspruch vorliegt. Denn in beiden Fällen ist diejenige Maxime geboten, deren Gegenteil nicht universalisierbar ist. Warum diejenigen Pflichten, deren Gegenteil man in universalisierter Form nicht widerspruchsfrei wollen kann, wie im Beispiel der verweigerten Nothilfe, schwächer sein sollen, als diejenigen Pflichten, deren Gegenteil man in universalisierter Form nicht widerspruchsfrei denken kann, wie beim Beispiel des falschen Versprechens, ist in der Grundlegung weder gut begründet noch intuitiv einleuchtend. Einleuchtender für die Abgrenzung starker Pflichten von schwachen Pflichten ist das von Kersting vorgeschlagene Kriterium der Bestimmtheit (versus Unbestimmtheit). Dabei versteht er starke Pflichten als vollkommene (bestimmte) Pflichten, die Unterlassungen fordern und schwache Pflichten als unvollkommene (unbestimmte, mit Spielraum versehene) Pflichten, die Handlungen fordern.14 Vollkommene Pflichten verbieten bestimmte Handlungen, unvollkommene Pflichten gebieten Handlungen. Unvollkommene Pflichten haben mehrere Erfüllungsmöglichkeiten; ihr Prinzip, das sich auf die Beförderung fremder Zwecke, auf Liebesdienste und Wohltaten richtet, ist unterbestimmt. So haben das auch Kants Vorläufer gesehen: Ein vollkommenes Gesetz enthält einen zureichenden Grund zu einer Handlung, d. i. einen solchen, welcher die Handlung ganz und nothwendig bestimmt. Ein unvollkommenes enthält nur überhaupt einen Grund dazu, und läßt sowohl die Fälle der Anwendung überhaupt, als auch das Wieviel? in jedem gegebenen Falle einigermassen unbestimmt (Carl Christian E. Schmid, Versuch einer Moralphilosophie, 1792, §370, zit. nach Kersting 1997, 97).
14 Diese Verbindung von Gerechtigkeitspflichten oder Zwangspflichten mit vollkommenen Pflichten und Wohltätigkeits- oder Liebespflichten mit unvollkommenen Pflichten findet sich schon bei Kants Vorgängern. „Nach ihrer Erklärung werden alle Gerechtigkeitspflichten in Unterlassungen bestehen, und Handlungen werden nur zu den Liebespflichten gehören können.“ (Höpfner, Menschenpflichten, S. 304, zit. nach Kersting 1997, 94). „Da der Mensch verbunden ist, […] das Beste zu thun, die Kentniß dessen aber, so in jedem Zeitpunkte für jede handelnde Person ist, von Umständen abhängt, die der handelnden Person allein bekant und bestimmbar seyn können; so giebt es von Natur keine positiven Zwangspflichten, keine vollkommene Pflicht, etwas zu thun; und alle Zwangspflichten sind blos negative Pflichten, Pflichten zu unterlassen“ (M. Mendelssohn, Von vollkommenen und unvollkommenen Rechten und Pflichten, in: ders., Gesammelte Schriften, Band II.1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, S. 280/ I, zit. nach Kersting 1997, 94 f.).
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Karl Heinrich Heydenreich unterscheidet zwischen einem Gebot der Gerechtigkeit und einem Gebot der Güte. Hier finden wir die zusätzliche Assoziation strenger Pflichten mit Gerechtigkeitsgeboten15: (1) Gebot der Gerechtigkeit: „Unterlaß alle Handlungen, mit welchen du dich eines vernünftigen Wesens, als eines bloßen Mittels für deinen beliebigen Zweck bedientest“. (Gesetz der Unterlassungspflichten) (2) Gebot der Güte: „Uebe alle mögliche Handlungen aus, mit welchen du die vernünftigen Wesen in ihren Zwecken fördern kannst“ (Karl Heinrich Heydenreich, System des Naturrechts nach kritischen Prinzipien, Leipzig 1794, 88 f., zit. nach Kersting 1997, 100). (Gesetz der Ausübungspflichten) Unterlassungen werden mit vollkommenen Pflichten korreliert und Handlungen mit unvollkommenen Pflichten. Die […] Korrelation von unvollkommenen Pflichten und Ausübungshandlungen und vollkommenen Pflichten und Unterlassungshandlungen andererseits ist auch der Grund für die signifikante Bestimmtheitsdifferenz zwischen den beiden Pflichtklassen: Unvollkommene Pflichten sind unbestimmt, weil sie zweckbefördernde Ausübungshandlungen sind, die immer von den Umständen abhängig sind; vollkommene Pflichten sind bestimmt, weil sie Unterlassungen verlangen, und einem Unterlassungsgebot zu entsprechen ist immer, unter allen Umständen möglich (Kersting 1997, 94).
15 Strenge Pflichten als Gerechtigkeitspflichten zu bezeichnen, ist weit verbreitet. Die Unterscheidung zwischen strengen Gerechtigkeitspflichten und schwachen Wohltätigkeitspflichten findet sich etwa bei Mill: „Es scheint mir, dass diese Eigentümlichkeit – das der moralischen Pflicht gegenüberstehende Recht einer anderen Person – die spezifische Differenz zwischen Gerechtigkeit einerseits und Großmut und Wohltätigkeit andererseits ausmacht. Gerechtigkeit bedeutet nicht nur zu tun, was recht wäre, und nicht zu tun, was unrecht wäre, sondern zu tun, was jemand uns gegenüber als sein moralisches Recht geltend machen kann. Niemand hat einen Rechtsanspruch auf unsere Großmut und unsere Wohltätigkeit, da wir nicht moralisch verpflichtet sind, diese Tugenden jedem Individuum gegenüber zu üben“ (Mill 2006, 149, 151). Auf Mill greift auch Urmson zurück, wenn er von „basic duties“ spricht, deren Erfüllung jemandem nach Mills Diktum wie eine Schuld abverlangt werden könnte (Urmson 1958, 209; vgl. Kapitel 1.1). Auch bei Höffe finden wir diese Unterscheidung: „im Rahmen der Sozialmoral betrifft die Gerechtigkeit nur einen kleinen, den geschuldeten Teil: die so genannten Rechtspflichten bzw. die Rechtsmoral. Während man bei Verstößen gegen Tugendpflichten wie Mitleid, Wohltätigkeit und Großzügigkeit, auch Dankbarkeit und die Bereitschaft zu verzeihen, enttäuscht ist, regen sich bei Gerechtigkeitsverstößen Empörung und Protest. Die Anerkennung von Tugendpflichten kann man vom anderen nur erbitten und erhoffen, die der Gerechtigkeit dagegen verlangen“ (Höffe 2001; vgl. Höffe 1998 und Höffe 1999 u.ö.).
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In dieser Passage finden sich einige weit verbreitete Vorurteile gegenüber positiven Pflichten. Vorläufig ergibt sich folgendes Bild: vollkommene Pflichten
unvollkommene Pflichten
– werden durch Unterlassen erfüllt („Unterlassungsgebote“) – streng verpflichtend – handlungsdeterminierend – von den Umständen unabhängig – zureichender Grund, eine Handlung zu unterlassen – Gerechtigkeitsgebote
– werden durch ein Tun erfüllt („Ausübungsgebote“) – nur im allgemeinen verpflichtend – unterbestimmt: mehrere Verwirklichungsmöglichkeiten, Mitwirkung der Neigung – von den Umständen abhängig – liefern nur überhaupt einen Grund zur Handlung, Anwendungsfälle und wie viel verlangt wird, sind unbestimmt – Gebote der Güte
Tabelle 3: Einige weit verbreitete Vorurteile gegenüber positiven Pflichten
Die Vorurteile gegenüber positiven Pflichten werden uns in Kapitel 2.6 noch grundsätzlich beschäftigen. Dort werde ich die Unangemessenheit der Idee, starke Pflichten mit Unterlassungspflichten und schwache Pflichten mit Handlungspflichten zu korrelieren, aufzeigen. Selbst wenn es zutrifft, dass die Bestimmtheit dessen, was verboten ist, ein Kriterium für die Stärke einer Pflicht abgibt, so ist nicht überzeugend, zu unterstellen, dass nur negative Pflichten (die Unterlassungen fordern) stark sein können. Denn, das zeigt Singers Teichfall, auch positive Pflichten können in einzelnen Fällen klar bestimmt und damit stark sein. Ferner kann die Bestimmtheit einer Pflicht zwar ein notwendiges, aber noch kein hinreichendes Kriterium für die Stärke einer Pflicht abgeben. Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, hängt die Stärke einer Pflicht nicht nur von ihrer Bestimmtheit, sondern auch von den involvierten Gütern ab. Kehren wir zurück zu Kants Grundlegung. Die Frage, die sich stellt, ist, ob die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, die Kant in der Grundlegung vorschlägt, die Unterscheidung von Rechtspflichten und Tugendpflichten in der Metaphysik der Sitten vorwegnimmt. Gibt es in der Grundlegung ein positives Prinzip, das ein Gebot der Güte begründen könnte? Der Versuch liegt nahe, dieses unter Rückgriff auf die Menschheit-als-ZweckFormel des kategorischen Imperativs gewinnen zu wollen. Diese lautet: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS 4, 429). Im Anschluss werden die zuvor eingeführten vier Beispiele (GMS 4, 421 ff.) anhand der Zweck-an-sich-Formel nochmals interpretiert. Das Beurteilungskriterium ist nun nicht mehr die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der Hand-
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lungsmaxime, sondern die Frage, ob eine „Handlung mit der Idee der Menschheit als Zwecks an sich selbst zusammen bestehen könne“ (GMS 4, 429). Kant unterscheidet jetzt das Kriterium der negativen Übereinstimmung mit der Erhaltung der Menschheit für die strengen Pflichten in den Beispielen Selbstmord und Versprechen vom Kriterium der positiven Übereinstimmung: der Beförderung des Zwecks der Menschheit in den Beispielen Talente und Hilfe in der Not. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte Heydenreich mit der Unterscheidung des Gebots der Güte vom Gebot der Gerechtigkeit das Kriterium der Unterscheidung Kants für die strengen von den verdienstlichen Pflichten formuliert. Aber in der Grundlegung schreibt Kant: Da […] in der Idee eines ohne einschränkende Bedingung (der Erreichung dieses oder jenes Zwecks) schlechterdings guten Willens durchaus von allem zu bewirkenden Zwecke abstrahirt werden muss (als der jeden Willen nur relativ gut machen würde), so wird der Zweck hier nicht als ein zu bewirkender, sondern selbstständiger Zweck, mithin nur negativ gedacht werden müssen, d.i. dem niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muss (GMS, 4, 437).
Kersting ist der Meinung, dass man diese Passage nicht im Sinne eines Gebots der Güte interpretieren kann, da die Zweck-an-sich-Formel ebenso negativ bleibt wie die allgemeine Gesetzesformel: [S]ondert die Gesetzesformel des Imperativs alle nicht-verallgemeinerungsfähigen Maximen aus, so sondert die Zweck-Mittel-Formel des Imperativs alle nicht-verallgemeinerungsfähigen Zwecke aus. Ein ‚Ausübungspflichten‘ verlangendes ‚Geboth der Güte‘ läßt sich aus der Zweck-Mittel-Formel nicht herausspinnen (Kersting 1997, 101).
Kerstings Interpretation beruht auf der Unterscheidung von (1) Menschheitszweck, verstanden als das Verbot der Instrumentalisierung anderer, als Ausrichtung auf den Menschen als autonomes Vernunftwesen, und (2) Menschlichkeitszweck. Darunter versteht Kersting ein „Gebot der aktiven Beförderung der partikularen Zwecke anderer“, eine Ausrichtung auf den Menschen als hilfsbedürftiges Sinnenwesen, das bei der Realisierung seiner Zwecke scheitern kann (ebd.). Dieses Gebot der Güte, das auf den Menschlichkeitszweck ausgerichtet sei, lasse sich erst aus der Tugendlehre gewinnen.
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2.4 Rechtspflichten und Tugendpflichten im Kantischen Modell Vollkommene Pflichten unterscheiden sich, so der Zwischenstand unserer Darstellung, in zweifacher Weise von unvollkommenen Pflichten. Erstens durch ihre größere Bestimmtheit (AA 23, 80). Zweitens durch ihre größere Verbindlichkeit (GMS 4, 421). Ferner zeichnen sich Rechtspflichten vor Tugendpflichten durch ihre Erzwingbarkeit aus (MS 6, 383).16 Sie sind Pflichten mit korrespondierenden Rechten, während Tugendpflichten Pflichten ohne korrespondierende Rechte sind (vgl. dazu O’Neill 1996). Die Erzwingbarkeit von Rechtspflichten geht mit der Korrespondenzthese einher: Jeder Rechtspflicht korrespondiert ein subjektives Recht. So sieht das auch Kersting: Da eine Unrechtshandlung dadurch gekennzeichnet ist, daß sie mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz, mit der gesetzlichen Freiheit des Handlungsadressaten nicht vereinbar ist, ein jeder aber ein Recht auf diese gesetzliche Freiheit hat, korrespondiert jeder Rechtspflicht ein subjektives Recht (Kersting 1997, 103).
Die Rechtmäßigkeit (Erlaubtheit) einer Handlung impliziert nicht deren Pflichtcharakter; der Schluss von der moralisch-rechtlichen Unmöglichkeit einer Handlung auf die moralisch-rechtliche Notwendigkeit ihrer Unterlassung ist zwingend, nicht hingegen der von ihrer moralisch-rechtlichen Möglichkeit auf ihre moralisch-rechtliche Notwendigkeit. […] Eine Rechtspflicht hat folglich immer eine Unrechtsunterlassung zum Gegenstand (ebd.).
Kerstings Formulierungen suggerieren, dass man rechtlich nur zu Unterlassungen verpflichtet sein kann, insofern sind die subjektiven Rechte der Kantischen Rechtslehre Abwehrrechte. Beispiele dafür sind Mord, Diebstahl und Vertragsbruch. Diese sind moralisch-rechtlich unmöglich, ihre Unterlassungen entsprechend geboten bzw. ihre Ausführungen strafbar. Dem armen Schuldner als Gläubiger die Schuld zu erlassen, ist rechtlich möglich, aber nicht rechtlich geboten. Auf wohltätige Leistungen gibt es weder ein vollkommenes, juridisches noch ein unvollkommenes, moralisches Recht.
16 Auch Stepanians schlägt vor, Bestimmtheit, Verbindlichkeit und Erzwingbarkeit als Unterscheidungsmerkmale zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten zu verwenden („Kant über vollkommene und unvollkommene Pflichten“, Unveröffentlichter Habilitationsvortrag).
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Da nach Kant der Rechtsbegriff die Zwangsbefugnis impliziert, es also keine unbewaffneten Rechte geben kann, wird das moralische, das unvollkommene Recht der Tradition im Rahmen der Metaphysik der Sitten pflichtentheoretisch bedeutungslos. Die Recht-PflichtKorrespondenz ist ein wesentliches Charakteristikum der Rechtssphäre; es gibt für Kant kein moralisches Recht des Bedürftigen, das analog zu dem juristischen Recht des Berechtigten eine pflichtbegründende und -erzeugende Wirkung hätte. Tugendpflichten stehen keine Rechtsforderungen gegenüber (ebd., 104).
Das liegt daran, dass den Tugendpflichten ein materiales Prinzip zugrunde liegt. Die innere Zwecksetzung muss sich aber dem äußeren Zwang und damit der äußeren Gesetzgebung entziehen. Von außen erzwungen werden können nur Handlungen, nicht Handlungsmaximen, Motive oder Zwecksetzungen.17 Die Grenzziehung zwischen Recht und Ethik hat „die Gesinnungsindifferenz des Rechts einerseits und die Handlungsunbestimmtheit der Ethik andererseits“ zur Folge (ebd., 105). Diese Unterbestimmtheit bezieht sich nach Kersting auf den gesamten Bereich der Ethik: „Ethisches Handeln ist von einer Fülle kontingenter Faktoren abhängig: von den subjektiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, vom Kenntnisstand, von den Mitteln, vom Einfühlungsvermögen, von den Umständen“ (ebd., 107). Insgesamt benennt Kersting fünf Merkmale der unbestimmten ethischen Pflichten: (1) Angewiesenheit auf Erfahrungswissen (2) Irrtumsanfälligkeit (3) Unterdeterminiertheit der Handlungen, die den Zweck realisieren (4) Notwendigkeit einer Kasuistik (Anwendungslehre auf konkrete Situationen) (5) Urteilskraftabhängigkeit Diese Unbestimmtheit sei auch der Grund für die Vorordnung der Rechtspflichten: Letztlich liegt dem Kantischen Verbindlichkeitsdualismus ein informationstheoretischer Unterschied zugrunde, der die unterschiedliche Normierungsreichweite der beiden Pflichtprinzipien reflektiert, die ihrerseits Konsequenz des unterschiedlichen Ortes der beiden Gesetzgebungen und damit des zu bestimmenden Gegenstandes ist (ebd., 111).
17 Kant ordnet die Tugendpflichten der Ethik zu, die er als ein „System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ (MST 6, 381) beschreibt: „Daß die Ethik Pflichten enthalte, zu deren Beobachtung man von andern nicht (physisch) gezwungen werden kann, ist blos die Folge daraus, daß sie eine Lehre der Zwecke ist, weil dazu (sie zu haben) ein Zwang sich selbst widerspricht.“
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Kersting sieht ferner einen pragmatischen Grund zur Vorordnung der Rechtspflichten in der Vermeidung von Pflichtenkollisionen: „Jede Verwirklichung einer Tugendpflicht steht als Handlung unter dem ‚Pflichtgesetz der Handlungen‘. Rechtmäßigkeit ist die conditio sine qua non auch jeder Tugendhandlung“ (ebd., 108). Das wird mit der Verbindlichkeitsdifferenz zwischen Rechts- und Tugendpflichten begründet. Die Verpflichtungskraft, die Verbindlichkeit der Rechtspflicht ist absolut, durch keine Bedingung eingeschränkt, und daher vollkommen; die Verpflichtungskraft der ethischen Pflicht dagegen ist hypothetisch, weil an die Bedingung der Rechtmäßigkeit gebunden. Die ethische Forderung ist demnach gegenüber der Forderung des Rechts zweitrangig; das Tugendgesetz besitzt im Rechtsprinzip eine Geltungsvoraussetzung. Die ausdrückliche Priorität des Rechts vermeidet eine Pflichtenkollision (ebd.).
Zunächst scheint einiges für den von Kersting diagnostizierten „Verbindlichkeitsdualismus“ zu sprechen. So schreibt Kant selbst in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten: [N]icht in der Ethik, sondern im Ius liegt die Gesetzgebung, daß angenommene Versprechen gehalten werden müssen. Die Ethik lehrt hernach nur, daß, wenn die Triebfeder, welche die juridische Gesetzgebung mit jener Pflicht verbindet, nämlich der äußere Zwang, auch weggelassen wird, die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei. Denn wäre das nicht und die Gesetzgebung selber nicht juridisch, mithin die aus ihr entspringende Pflicht nicht eigentliche Rechtspflicht (zum Unterschiede von der Tugendpflicht), so würde man die Leistung der Treue (gemäß seinem Versprechen in einem Vertrage) mit den Handlungen des Wohlwollens und der Verpflichtung zu ihnen in eine Classe setzen, welches durchaus nicht geschehen muß. Es ist keine Tugendpflicht, sein Versprechen zu halten, sondern eine Rechtspflicht, zu deren Leistung man gezwungen werden kann. Aber es ist doch eine tugendhafte Handlung (Beweis der Tugend), es auch da zu thun, wo kein Zwang besorgt werden darf. Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedene Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet (MS 6, 220).
Zunächst sieht es so aus, als würden sich Recht und Ethik hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Motivationsstruktur („Triebfeder“) unterscheiden. Dabei wird das Recht so gedacht, dass die Einhaltung einer Pflicht durch äußeren Zwang gewährleistet werden kann. Das Recht kann also auch moralische Skeptiker oder rationale Egoisten zur Einhaltung von Pflichten motivieren. Zur Ethik gehört ein anderes Motivationsschema: Auch wenn der äußere Zwang wegfällt, wird die (Rechts-)Pflicht erfüllt. Man kann hier zur Illustration das Gedankenexperiment vom Ring des Gyges aus Platons Politeia (Buch II, 359 c–360 d) heranziehen. Gyges hat einen Ring, der ihn unsichtbar macht, wenn er daran dreht. Entsprechend
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Prioritätsthese
wird er nicht entdeckt, wenn er Unrecht tut, und muss nicht mit Strafe rechnen. Gyges zögert nicht lange, verführt die Gattin des Königs, verschwört sich mit ihr, sie töten den König und Gyges tritt an seine Stelle. Kant müsste nun umgekehrt sagen, dass die Ethik „lehrt“, dass auch wenn die sanktionskonstituierte Pflichterfüllung (der äußere Zwang) wegfällt, „die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei“. Gyges würde, wenn er tugendhaft wäre, kein Gesetz brechen, auch wenn er keine Sanktionen befürchten müsste. Tugend ist nach Kant „eine Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuterter Grundsätze“, nur so ist sie „auf alle Fälle gerüstet“ und „vor der Veränderung, die neue Anlockungen bewirken können, hinreichend gesichert“ (MST 6, 383 f.). Ein tugendhafter Gyges würde kein Gesetz brechen – aber würde er darüber hinaus wohltätig sein? Es ist in der Tat anzunehmen, dass der tugendhafte Gyges auch alle Tugendpflichten zu erfüllen motiviert wäre. Der tatsächliche Gyges dagegen wird ohne Ring wohl nur das tun, was zwangskonstituiert ist. Dass er darüber hinaus etwas für andere tut, ist unwahrscheinlich. Allerdings sagt diese motivationale Differenz noch nichts über den Inhalt von Rechtspflichten und Tugendpflichten aus. Welche Pflichten erfüllen das Kriterium der Erzwingbarkeit und warum? Kant scheint sich hinsichtlich seines eigenen Beispiels des Versprechens in der oben zitierten Passage selbst nicht ganz sicher zu sein, denn er schreibt, es sei tugendhaft, Versprechen selbst da zu halten, „wo kein Zwang besorgt werden darf [Hervorhebung CM]“. Darf man nun zur Einhaltung eines Versprechens gezwungen werden oder nicht? Wie unterscheiden sich Rechtspflichten von Tugendpflichten? Die Einteilung in vollkommene und unvollkommene Pflichten in der Grundlegung entspricht nicht der Einteilung von Rechts- und Tugendpflichten in der Tugendlehre. Darin sieht Bernd Ludwig eine Inkonsistenz, die er durch folgendes Schaubild verdeutlicht: Pflichten vollkommen
unvollkommen
gegen andere
gegen sich selbst
gegen andere
Recht
?
Ethik = Tugendlehre
gegen sich selbst
Tabelle 4 a: Schema der Einteilung der Sittenlehre (nach B. Ludwig 1990, XXII) gemäß der TL, Einleitung
Rechtspflichten und Tugendpflichten im Kantischen Model
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Pflichten gegen andere
gegen sich selbst
vollkommen
unvollkommen
vollkommen
Recht
Tugendlehre i. e. S.
Ethik = Tugendlehre
unvollkommen
Ethik Tabelle 4 b: Schema der Einteilung der Sittenlehre (nach B. Ludwig 1990, XXII) gemäß Haupttext
Dass vollkommene Pflichten gegen sich selbst keine Rechtspflichten sind, liegt daran, dass ihre Einhaltung nicht von anderen erzwungen werden kann. Erzwingbare Pflichten sind immer vollkommen, aber nicht alle vollkommenen Pflichten sind erzwingbar. Sind alle vollkommenen Pflichten gegen andere erzwingbar? Dann müssten abgegebene Versprechen den Status von Rechtspflichten haben. In der Tat fallen Versprechen, die den Status von Verträgen haben, unter Rechtspflichten.18 Das Beispiel eines Vertragsbruchs aus der Grundlegung ist also ein gutes Beispiel für eine vollkommene Pflicht gegen andere im Sinne einer Rechtspflicht. Andererseits zählt Kant Ehrlichkeit (Wahrhaftigkeit in Erklärungen), Redlichkeit (das Einhalten von Versprechen) und allgemein Wahrhaftigkeit zu den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, deren Erfüllung von anderen nicht erzwungen werden kann. Der tugendhafte Charakter zeigt sich darin, dass ein Versprechen auch dort gehalten wird, „wo kein Zwang besorgt werden darf“. Man kann in MSR 6, 238 einen Hinweis darauf finden, wie Kant diese Formulierung gemeint haben könnte: es macht Sinn, davon auszugehen, dass nur die Einhaltung von Verträgen erzwungen werden kann, auf deren Erfüllung andere ein Recht haben, da ihnen durch Vertragsbruch ein Schaden entstehen würde. Wenn ich jemandem ein Darlehen über 1000 Euro gebe, das diese Person nicht zurückzahlt, dann habe ich 1000 Euro verloren.
18 „Im rechtlichen Sinne aber will man, daß nur diejenige Unwahrheit Lüge genannt werde, die einem anderen unmittelbar an seinem Rechte Abbruch thut, z. B. das falsche Vorgeben eines mit jemandem geschlossenen Vertrags, um ihn um das seine zu bringen (falsiloquium dolosum), und dieser Unterschied sehr verwandter Begriffe ist nicht ungegründet: weil es bei der bloßen Erklärung seiner Gedanken immer dem andern frei bleibt, sie anzunehmen, wofür er will, obgleich die gegründete Nachrede, daß dieser ein Mensch sei, dessen Reden man nicht glauben kann, so nahe an den Vorwurf, ihn einen Lügner zu nennen, streift, daß die Grenzlinie, die hier das, was zum Ius gehört, von dem, was der Ethik anheim fällt, nur so eben zu unterscheiden ist“ (MSR 6, 238 Anm.).
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Prioritätsthese
Andere Lügen, etwa in privaten Beziehungen, scheinen jedoch, wie grausam sie auch sein mögen, nicht rechtlich verfolgbar. Also scheint es bezüglich der Pflicht, gegebene Versprechen zu halten, selbst einen Bereich zu geben, in dem diese Pflicht erzwingbar ist, und einen, in dem das nicht der Fall ist. Hier liegt eine gewisse Überdetermination vor. Versprechen sind jedenfalls Gegenstand von Recht und Ethik – und zwar nicht nur, was die unterschiedlichen Motivationsquellen zu ihrer Einhaltung betrifft. Während Kersting von einem „Verbindlichkeitsdualismus“ von Recht und Ethik spricht, möchte ich die These vertreten, dass wir zwischen drei Hinsichten der Verbindlichkeit unterscheiden können. Diese Unterscheidung ergibt sich aus der Interpretation der Einleitung in die Tugendlehre. Dort schreibt Kant: Aller Pflicht correspondirt ein Recht, als Befugniß (facultas moralis generatim) betrachtet, aber nicht aller Pflicht correspondiren Rechte eines Anderen (facultas iuridica) jemanden zu zwingen; sondern diese heißen besonders Rechtspflichten. – Eben so correspondirt aller ethischen Verbindlichkeit der Tugendbegriff, aber nicht alle ethischen Pflichten sind darum Tugendpflichten. Diejenigen nämlich sind es nicht, welche nicht sowohl einen gewissen Zweck (Materie, Object der Willkür), als blos das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung (z. B. daß die pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse) betreffen. Nur ein Zweck, der zugleich Pflicht ist, kann Tugendpflicht genannt werden. Daher giebt es mehrere der letzteren (auch verschiedene Tugenden); dagegen von der ersteren nur eine, aber für alle Handlungen gültige (tugendhafte Gesinnung) gedacht wird (MST 6, 383).
Wir können demnach unterscheiden zwischen: (1) Rechtspflichten (formal): Befugnis anderer, ihre Erfüllung zu erzwingen, (2) Tugendpflichten (material): Zwecke, die zu haben zugleich Pflicht ist, (3) tugendhafte Gesinnung (formal): die eine Tugend (pflichtmäßiges Handeln aus Pflicht), die die Erfüllung von Rechts- und Tugendpflichten umspannt (MST, 6, 410). Wenn diese Aufteilung überzeugend ist, dann können wir zweierlei festhalten. Erstens: Die Entgegensetzung von Recht und Ethik, die Ludwig vornimmt, ist, wie (3) zeigt, ungenau. Als „Perspektive der durch das Moralprinzip verpflichteten Personen […] umfasst die ‚Ethik‘ im Unterschied zum Recht alle Pflichten“ (Steigleder 2002, 243; vgl. MS, 6, 220). Dabei können bei Steigleder sämtliche Pflichten als „Pflichten einer handlungsfähigen Person gegen sich selbst“ gedeutet werden, „da die Person die Erfüllung dieser Pflichten ihrem Vermögen reiner praktischer Vernunft schuldet“ (ebd., 263; vgl. MST § 2). Zweitens: Durch die Unterscheidung der drei Hinsichten ist klar, dass nicht nur Rechtspflichten, sondern auch Tugendpflichten aus Neigung oder aus Pflicht (tugendhafte Gesinnung) erfüllt werden können. Es scheint, als ob die dritte Hinsicht, das pflichtmäßige Handeln aus Pflicht, die tugendhafte Gesinnung, eine
Rechtspflichten und Tugendpflichten im Kantischen Model
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Pflicht höherer Stufe, eine Metapflicht, bezeichne. Auf dieser Gesinnungsebene lassen sich dann wiederum drei Motivationsschemata bezüglich der Pflicht unterscheiden (MST 6, 390): Stärke des Vorsatzes (gegenüber widerstrebenden Neigungen)
aus Pflicht, pflichtmäßig
Verdienst (+a)
Untugend
Schwäche des Vorsatzes, Hang zum Affekt, Überhang der Neigung
pflichtwidrig
moralischer Unwert (0)
Laster
vorsätzliche Übertretung, hinter der ein Grundsatz steht; qualifiziertes Böses
pflichtwidrig
Verschuldung (-a)
Tugend
Tabelle 5: Motivationsschemata bezüglich der Pflicht (nach MST 6, 390)
Das Recht kennt nur pflichtgemäße und pflichtwidrige Handlungen. Das pflichtmäßige Handeln ist aus der Perspektive des Rechts keineswegs verdienstlich. Von der Pflichtmäßigkeit einer Handlung kann man nicht umgekehrt auf die Tugendhaftigkeit der Gesinnung schließen und die Pflichtwidrigkeit kann aus Untugend oder Laster hervorgehen. Umgekehrt ergeben sich allerdings ebenfalls Probleme. Denn die Frage ist, wie Rechtsverletzungen gewertet werden sollen, die gerade aus tugendhafter Gesinnung erfolgen. Wer fremdes Eigentum beschädigt, um das Leben eines Kindes zu retten, handelt aus der Rechtsperspektive pflichtwidrig (-a), aus der Tugendperspektive mindestens nicht lasterhaft (0), vielleicht aber sogar tugendhaft (+a). Kersting hatte dargelegt, dass ein besonderer Vorzug der strengen Unterscheidung von Rechtspflichten und Tugendpflichten darin zu sehen sei, dass so Pflichtenkollisionen vermieden würden. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir uns vorstellen, dass die Tugendpflicht, wie im Teichfall ein Leben zu retten, mit der Rechtspflicht, fremdes Eigentum nicht zu beschädigen, kollidiert, müssen wir feststellen, dass Kants Unterscheidungen nicht besonderes hilfreich sind. Denn konsequenterweise müssten Kant und Kersting davon ausgehen, dass es verboten ist, etwa fremdes Eigentum geringfügig zu beschädigen, um ein Leben zu retten (vgl. dazu auch Kapitel 1.9 und 3.4.2).19
19 Auch der Kantinterpret Klaus Steigleder konfrontiert Kants Moral- und Rechtsphilosophie mit einem an Singers Teichfall angelehnten Beispiel: „Nun ist aber nach Kant eine Tugendpflicht nur einschlägig, wenn keine Rechtspflicht ihr entgegensteht. Dies bringt es aber mit sich, dass die Dringlichkeit der Hilfe durch vergleichsweise unerheblich erscheinende Gegenstände von Rechtspflichten überwogen werden kann. Nehmen wir an, der Notfall ereignet sich um 17.30 Uhr und der in unmittelbarer Nähe des Kindes sich befindende X trägt einen geliehenen Anzug und X hat dem Verleiher versprochen, ihm diesen Anzug um 18.00 Uhr in einem tadellosen Zustand
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Prioritätsthese
Entweder man muss die Prioritätsthese aufgeben, um Fälle wie die Beschädigung fremden Eigentums um der Rettung eines Kindes willen adäquat beschreiben zu können. Hier scheint nämlich, wie wir in Kapitel 1.9. gesehen haben, eine positive Nothilfe Vorrang vor einer negativen Pflicht zu haben. Es scheint nicht nur erlaubt, dem Kind zu helfen, sondern sogar geboten. Dieser Fall stimmt nicht mit Kerstings Beschreibung überein, dass die Gerechtigkeit die Bedingung für die Güte ist. Vielmehr darf hier eine negative Pflicht verletzt werden und eine positive Pflicht muss ausgeführt werden. Mit der Prioritätsthese erhalten wir das völlig kontraintuitive Ergebnis, dass Helfen im skizzierten Beispiel nicht nur nicht geboten, sondern sogar verboten ist, sofern es die Beschädigung fremden Eigentums oder die Verletzung anderer negativer Pflichten impliziert. Oder (wenn man die Prioritätsthese nicht aufgeben will) es bleibt die andere Möglichkeit, Nothilfepflichten irgendwie den starken Pflichten zuzuordnen. Warum ist die Nothilfepflicht gegen andere eigentlich keine starke Rechtspflicht, sondern eine verdienstliche Pflicht? Und in welchem Sinn ist die Nothilfepflicht eigentlich verdienstlich? An dieser Stelle wird relevant, dass der Begriff des Verdienstes ambivalent ist. Denn er bezeichnet einerseits die vom Zwang unabhängige motivationale Disposition einer tugendhaften Akteurin, die alle ihre Pflichten aus tugendhafter Gesinnung erfüllt20 (Gesinnungsverdienst). Andererseits scheint der Terminus verdienstlich für diejenigen Pflichten zu stehen, die Tugendpflichten sind. Wer sie, verstanden als Pflichten, die Situation anderer zu verbessern, erfüllt (aus welchen Gründen auch immer), scheint verdienstlich zu handeln21 (Leistungsverdienst).
zurückzugeben. Ist X durch dieses Versprechen gebunden, die Rettung des Kindes zu unterlassen, da der Anzug dadurch mit Sicherheit nass werden wird?“ (Steigleder 2002, 258 f.). Mögliche Alternativen sieht Steigleder nur in einer Position, die ein Recht des Kindes auf Rettung annimmt, das durch Unterlassen verletzt werden kann (vgl. ebd., 259). 20 „Obzwar die Angemessenheit der Handlungen zum Rechte (ein rechtlicher Mensch zu sein) nichts Verdienstliches ist, so ist doch die der Maxime solcher Handlungen, als Pflichten, d.i. die Achtung fürs Recht, verdienstlich. Denn der Mensch macht sich dadurch das Recht der Menschheit, oder auch der Menschen zum Zweck und erweitert dadurch seinen Pflichtbegriff über den der Schuldigkeit (officium debiti): weil ein Anderer aus seinem Rechte wohl Handlungen nach dem Gesetz, aber nicht daß dieses auch zugleich die Triebfeder zu denselben enthalte, von mir fordern kann. Eben dieselbe Bewandtniß hat es auch mit dem allgemeinen ethischen Gebote: ‚Handle pflichtmäßig aus Pflicht.‘ Diese Gesinnung in sich zu gründen und zu beleben ist sowie die vorige verdienstlich: weil sie über das Pflichtgesetz der Handlungen hinaus und das Gesetz an sich, zugleich zur Triebfeder macht“ (MST 6, 390 f.). 21 So spricht Kant etwa in der Grundlegung in Bezug auf die Nothilfe von „verdienstliche[n] Pflicht[en] gegen andere“ (GMS 4, 430; vgl. MSR 6, 227; MST 6, § 38, 453; MST 6, § 23, 448).
Zur Unterscheidung von Nothilfe u. allg. Beförderung fremder Glückseligkeit
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Die Erfüllung der Nothilfepflicht scheint nur im ersten Sinn des Gesinnungsverdienstes verdienstlich, insofern sie aus Pflicht ausgeführt wird, wie auch die Erfüllung der Rechtspflichten verdienstlich sein kann, wenn sie aus tugendhafter Gesinnung geschieht. Dass die Nothilfe im Sinn des Gesinnungsverdienstes verdienstlich sein kann, schließt jedoch nicht aus, sie auch zu den Rechtspflichten zählen zu können. Wird der Unterschied zwischen einem juridischen Recht (erzwingbar) und einem moralischen Recht (nicht erzwingbar) plausibel begründet?
2.5 Zur Unterscheidung von Nothilfe und allgemeiner Beförderung fremder Glückseligkeit Nach Kerstings Interpretation kann aus dem Kantischen Moralgesetz in der Grundlegung, dem Kategorischen Imperativ, keine Begründung für den Pflichtendualismus abgeleitet werden. Dazu müsste im Moralprinzip eine negative Komponente von einer „affirmativ-befördernden Komponente“ unterschieden werden können (Kersting 1997, 101). Recht und Ethik gingen auf einen gemeinsamen Imperativ zurück. Nach Kersting beruht diese Behauptung der doppelten Zuständigkeit […] auf einem logischen Fehler. Das Sittengesetz kann nur das praktische Gegenteil dessen gebieten, was es verbietet. Durch die Negation des Verbotsobjekts, der freiheitszerstörenden Handlungen, kann jedoch nicht die […] affirmative Ausrichtung gewonnen werden. Das allein ableitbare Gebot nicht-freiheitszerstörender Handlungen ist von einem Gebot freiheitsbefördernder Handlungen zu unterscheiden; durch die Negation der Ungerechtigkeit erreicht man die Position der Güte selbst noch nicht. Ein von einem negierten verbietenden Sittengesetz zu unterscheidendes gebietendes Sittengesetz, und nur ein solches kann als Prinzip unvollkommener Pflichten und Gebot der Güte fungieren, muss ein materiales, teleologisches Prinzip sein (ebd., 102; Hervorhebung CM).
Die Pointe an dieser Interpretation wird von Kersting gar nicht explizit gemacht. Wenn es stimmt, was Kersting schreibt, dann ist das Sittengesetz aus der Grundlegung ein verbietendes Sittengesetz. Und damit ist es ein Prinzip vollkommener Pflichten. Nur ein „gebietendes Sittengesetz“ kann, so Kersting, als „Gebot der Güte“ fungieren und es muss ein materiales Prinzip sein. Ferner behauptet Kersting, dieses materiale Prinzip werde erst in der Tugendlehre eingeführt. Wenn das alles korrekt ist, dann sind die in der Grundlegung verhandelten unvollkommenen Pflichten entweder unter das Gebot der Gerechtigkeit einzuordnen, und wir müssen das Pärchen Gerechtigkeitspflichten – vollkommene Pflichten trennen. Denn auch die in der Grundlegung besprochene Hilfspflicht wäre dann eine Gerechtigkeitspflicht. Oder es gibt Handlungspflichten wie das Hilfsgebot, die unvollkommen sind, aber nicht dem Gebot der Güte folgen.
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Prioritätsthese
Obwohl es gar nicht Kerstings Beweisziel ist, stellt sich heraus, dass das Hilfsgebot aus der Grundlegung sich von der allgemeinen Tugendpflicht der Beförderung fremder Glückseligkeit unterscheidet. Wenn wir genau hinsehen, dann bemerken wir einen Unterschied zwischen Heydenreichs Formulierung des Gebotes der Gerechtigkeit und Kants Kategorischem Imperativ. Heydenreichs Gebot der Gerechtigkeit formuliert ein Instrumentalisierungsverbot: „Unterlaß alle Handlungen, mit welchen du dich eines vernünftigen Wesens, als eines bloßen Mittels für deinen beliebigen Zweck bedientest“. Sein Gebot der Güte bezieht sich auf die Beförderung fremder Zwecke: „Uebe alle möglichen Handlungen aus, mit welchen du die vernünftigen Wesen in ihren Zwecken fördern kannst“ (Karl Heinrich Heydenreich, System des Naturrechts nach kritischen Prinzipien, Leipzig 1794, 88 f., zit. nach Kersting 1997, 100). Kants Zweck-an-sich-Formel des kategorischen Imperativs macht hingegen, so meine These, die Zwecksetzungsfähigkeit anderer zur „obersten einschränkenden Bedingung“ der eigenen Zwecksetzung. Sehen wir uns die Formulierung nochmals an: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS 4, 429). Die Pointe besteht hier nicht im Instrumentalisierungsverbot, sondern in der Forderung, den anderen immer als Zweck an sich zu behandeln. Das heisst, die Zwecke des anderen müssen bei der Wahl der eigenen Handlungsoptionen mit berücksichtigt werden. Ein bloßes Instrumentalisierungsverbot fordert dies hingegen nicht. Wird der Andere beim falschen Versprechen, einen Kredit zurückzuzahlen, bloß als Mittel gebraucht, so impliziert das, dass er nicht als Zweck behandelt wird: [W]as die nothwendige oder schuldige Pflicht gegen andere betrifft, so wird der, so ein lügenhaftes Versprechen gegen andere zu thun im Sinne hat, sofort einsehen, daß er sich eines anderen Menschen bloß als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte (ebd.).
Wie sieht es bei unterlassener Nothilfe aus? Wir können wohl kaum sagen, dass der Passant in Singers Teichbeispiel das Kind als Mittel für seine Zwecke gebraucht, wenn er ihm nicht hilft.22 Aber – und das ist hier der entscheidende Punkt – er behandelt, wenn er keine Hilfe leistet, das Kind nicht als Zweck an sich selbst. Deswegen ist die Handlung moralisch nicht erlaubt. Während die Instrumentalisierung der Vorstellung von der „Menschheit als Zweck an sich selbst“
22 Die völlig kontraintuitive Interpretation, dass wir andere im Fall unterlassener Hilfeleistung im Kantischen Sinn als Mittel gebrauchen, ergibt sich meines Wissens nur aus der Position von Gerold Prauss (Prauss 2006, Bd. II/2, § 17).
Zur Unterscheidung von Nothilfe u. allg. Beförderung fremder Glückseligkeit
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entgegengesetzt ist, bezeichnet die Hilfe eine positive Übereinstimmung mit dem Menschheitszweck. Kant schreibt: [I]n Betreff der verdienstlichen Pflicht gegen andere ist der Naturzweck, den alle Menschen haben, ihre eigene Glückseligkeit. Nun würde zwar die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des andern Glückseligkeit was beitrüge, dabei aber ihr nichts vorsätzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht die Zwecke anderer, soviel an ihm ist, zu befördern trachtete (ebd., 4, 430).
Es sieht so aus, als müssten bestimmte Zwecke anderer befördert werden: „Denn das Subject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung thun soll, auch so viel möglich, meine Zwecke sein“ (ebd.). Aber welche Zwecke sind hier eigentlich gemeint? Bei genauer Hinsicht stellt sich heraus, dass keine bestimmten Zwecke gemeint sind. Kant schreibt im Anschluss: Dieses Princip der Menschheit und jeder vernünftigen Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst, (welche die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist) ist nicht aus der Erfahrung entlehnt: erstlich wegen seiner Allgemeinheit, da es auf alle vernünftigen Wesen überhaupt geht, worüber etwas zu bestimmen keine Erfahrung zureicht; zweitens weil darin die Menschheit nicht als Zweck der Menschen (subjectiv), d.i. als Gegenstand, den man sich von selbst wirklich zum Zwecke macht, sondern als objectiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjectiven Zwecke ausmachen soll, vorgestellt wird, mithin aus reiner Vernunft entspringen muß (ebd., 4, 430 f.).
Wie ist es zu verstehen, dass die „Menschheit als Zweck an sich selbst […] die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist“? Im Nothilfebeispiel ist das doch wohl so zu verstehen, dass die Behandlung des Hilfsbedürftigen als Zweck an sich die Handlungsoptionen der potentiellen Helferin einschränkt. Ich bin nicht frei, weiterzulaufen und mir eine Zeitung zu kaufen, wenn jemand, der sich in einer objektiven Notlage befindet, dringend meine Hilfe braucht. In der Tat geht es hier noch gar nicht um die Beförderung partikularer Zwecke, die in der Tugendlehre Gegenstand der Tugendpflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit sind. Man muss die besonderen Zwecke des anderen kennen, um seine individuelle Glückseligkeit befördern zu können.23 Denn Glückseligkeit ist für Kant ein empirischer Begriff. Sie besteht für 23 Das ist wichtig, um paternalistische Wohltätigkeit zu vermeiden: „Ich kann niemand nach meinen Begriffen Glückseligkeit wohlthun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohlthat zu erweisen gedenke, indem ich ihm ein Geschenk aufdringe“ (MST 6, 454; vgl. 6, 393).
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Prioritätsthese
verschiedene Menschen in Verschiedenem. Gleichwohl scheint Nothilfe auch dann geboten, wenn man die spezifischen Zwecke des individuellen anderen nicht kennt beziehungsweise ohne, dass man sie kennt. In der Grundlegung wird auch nicht verlangt, man solle ganz bestimmte Zwecke des anderen befördern, sondern der andere solle als „Zweck an sich“ selbst behandelt werden. Was bedeutet das? Kant glaubt, alle Sachen, die wir begehren, hätten nur einen „bedingten Werth“, der davon abhängt, dass wir sie begehren (ebd., 428). Subjektive Zwecke beruhen auf unserem spezifischen, individuellen Wollen. Kant behauptet nun, es läge in der „Natur“ des Menschen, nicht Sache, sondern Person zu sein, ein Zweck, der nicht auf ein Mittel für die Zwecke anderer reduziert werden dürfe: Ein objektiver Zweck, dessen Wert nicht davon abhänge, dass er für andere als Mittel zu deren Zwecken brauchbar sei. Insofern macht es einen Zweck an sich aus, dass er „alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)“ (ebd.). Die Achtung anderer als Zweck an sich scheint in der Grundlegung nicht nur auf die vollkommenen Pflichten bezogen zu werden.24 Denn gerade bei der unterlassenen Hilfeleistung lässt sich ja aus dem Instrumentalisierungsverbot keine Pflichtverletzung rekonstruieren, sondern vielmehr nur daraus, dass die Forderung, andere immer auch als Zweck zu behandeln, nicht erfüllt ist, wenn man sie nicht rettet, obwohl es leicht möglich wäre. Die Frage ist, was Kant eigentlich unter diejenigen Aspekte fremder Glückseligkeit zählt, die befördernswert sind. Die Pflicht der Wohltätigkeit scheint von akuten Notlagen bis zu allen möglichen Beförderungen fremder Glückseligkeit zu reichen. An den Stellen, an denen Kant die Wohltätigkeitspflicht begründet, geht er jedoch immer explizit von Notlagen aus: Daß diese Wohlthätigkeit Pflicht sei, ergiebt sich daraus: daß, weil unsere Selbstliebe von dem Bedürfniß von Anderen auch geliebt (in Nothfällen geholfen) zu werden nicht getrennt werden kann, wir also uns zum Zweck für Andere machen und diese Maxime niemals anders als bloß durch ihre Qualification zu einem allgemeinen Gesetz, folglich durch einen Willen Andere auch für uns zu Zwecken zu machen verbinden kann, fremde Glückseligkeit ein Zweck sei, der zugleich Pflicht ist (MST 6, 393).25
24 In der Tugendlehre sieht es dagegen so aus, als würde Heydenreichs Trennung eines Gebots der Gerechtigkeit und eines Gebots der Güte bestätigt werden. „Die Pflicht der Nächstenliebe kann also auch so ausgedrückt werden: sie ist die Pflicht Anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen; die Pflicht der Achtung meines Nächsten ist in der Maxime enthalten, keinen anderen Menschen blos als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der Andere solle sich selbst wegwerfen, um meinem Zwecke zu fröhnen)“ (MST 6, 450). 25 Parallelstellen, an denen Kant ebenfalls explizit auf Notlagen Bezug nimmt, bestätigen den Befund, dass die Wohltätigkeitspflicht damit begründet wird, dass wir uns notwendig Beistand wünschen müssen, weil wir als bedürftige Sinnenwesen darauf angewiesen sind. In der
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Weil wir als bedürftige Wesen auf die Hilfe anderer angewiesen sind, müssen wir die Wohltätigkeitsmaxime annehmen. Diese ist allerdings, was ihre Verbindlichkeit angeht, schwach und zudem unterbestimmt in Bezug auf ihren Anwendungsbereich. Insofern ist sie eben nur eine unvollkommene Pflicht. Kant führt dies auf ein Zumutbarkeitsargument zurück. Aus der Maxime der Wohltätigkeit folgen „Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung […], weil es Pflicht ist“. Die Grenze hiervon sei allerdings „unmöglich“ zu bestimmen (ebd.). Denn erstens kommt es beim Wohltun darauf an, was für jeden eigentlich unter seinen wahren Bedürfnissen zu verstehen ist – und das kann wohl nur jeder selber bestimmen. Hier kann keine klare Zumutbarkeitsgrenze angegeben werden. „Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte“ (ebd.). Deswegen ist insgesamt die Beförderung fremder Glückseligkeit als Maxime geboten, aber das Gesetz gilt nicht für bestimmte Handlungen (vgl. ebd.). Das ist allerdings gar nicht plausibel. Weder muss man in klassischen Samaritersituationen wie Singers Teichbeispiel seine wahren Bedürfnisse opfern, noch ist die erforderliche Handlung der Nothilfe unterbestimmt. Solche Fälle scheinen sich durch ihre besondere Dringlichkeit von anderen Situationen, in denen wir das Wohlergehen anderer verbessern können, zu unterscheiden. Die Stellen aus der Grundlegung, in denen davon die Rede ist, dass wir einen anderen nicht als Zweck an sich behandeln, wenn wir ihm in einer Notlage nicht helfen, unterstreichen das. Ein anderer ist nur dann ein objektiver Zweck für mich, wenn ich mein Handeln auf ihn einstelle, ohne dass ich ein besonderes Interesse an ihm habe. Genau dann wäre er für mich nur ein subjektiver Zweck. Er wäre wertvoll erst dadurch, dass ich mich für ihn interessiere. Gleichwohl scheint ersteres nicht immer geboten. Wir müssen nicht in jedem Fall an allen Zwecken anderer Anteil nehmen. Das Kantische Modell beschert uns dieselben Probleme, die wir im Zusammenhang mit der Supererogationsthese diskutiert haben. Es ist nicht einzusehen, warum individuelle Nothilfe unter klar definierten Bedingungen eine unvollkommene Pflicht sein sollte. Eine Nothilfepflicht scheint weder weniger verbindlich als bestimmte anerkannte negative Pflichten, noch scheint sie notwendig unterbestimmt.
Grundlegung heißt es, ein Wille, der eine Maxime der wechselseitigen Nothilfe ablehnen würde, „würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er anderer Liebe und Theilnehmung bedarf, und wo er durch ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde“ (GMS 4, 423; vgl. MST 6, § 27, 450 f.).
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Prioritätsthese
Auch Marcia Baron (1995), die es zunächst als einen Vorteil der Kantischen Ethik betrachtet hatte, dass sie innerhalb der Tugendpflichten keine Rangordnung vorgibt, ist mit dieser Einschätzung nicht mehr zufrieden. In einem späteren Aufsatz betont sie in Auseinandersetzung mit denjenigen, die im Nationalsozialismus ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um anderen zu helfen, dass bestimmte Tugendpflichten stärker sind als andere: „My point is that resisting evil makes more of a moral claim on one than helping in other, equally lifethreatening situations“ (Baron 1998, 68). Sie möchte den Kantischen unvollkommenen Pflichten eine Pflicht hinzufügen, „a duty to resist evil, a duty which would be a little on the narrow side […] not as wide as the duty of beneficience“ (ebd., 69). Der hier entwickelte Vorschlag aus Kapitel 1.5 funktioniert analog. Von allgemeiner Wohltätigkeit wären Nothilfepflichten zu unterscheiden. Auch diese scheinen etwas näher auf der Seite der engen Pflichten zu liegen als manch andere Wohltätigkeitspflicht. Kants Bild ist hier zu unbestimmt. Die notwendige Unbestimmtheit vorverhaltensunabhängiger positiver Pflichten, die er suggeriert, ist aber nicht gegeben. An Beispielen wie Singers Teichfall sehen wir deutlich, dass Kants Idee, in der Tugendlehre alle positiven Pflichten unter der Maxime, fremde Glückseligkeit zu befördern, zusammenzufassen, zu allgemein ist (vgl. dazu neuerdings Gilabert 2010). Der Spielraum, den uns Kant bei der Befolgung dieser Pflicht offen lässt, ist wohl kaum so zu verstehen, dass ich wählen kann, ob ich lieber meinem Freund noch ein wunderbares Abendessen zubereite, bevor er nach Hause kommt, oder ein Kind aus dem Teich rette. Hier scheint es nötig, berechtigte von unberechtigten Ansprüchen zu unterscheiden, bzw. Geschenke, Aufmerksamkeiten und Nettigkeiten als etwas, worauf keiner einen vorleistungsunabhängigen Anspruch hat, von vorverhaltensunabhängiger, aber gleichwohl verpflichtender Hilfe abzugrenzen. Der Freund fällt unter Nettigkeit, das Kind unter Hilfspflichten. Diese Vorstellung von einer Hilfspflicht orientiert sich am Kriterium der Bedürftigkeit. Objektive Bedürftigkeit ist gegeben, wenn notwendige Interessen oder notwendige Güter auf dem Spiel stehen. Wie man sich sofort klar machen kann, wird eine solche Hilfspflicht für den Einzelnen schnell zur Überforderung, wenn man sie auf mehr als auf selten vorkommende, akute Notlagen anwendet. Muss man jedem, der objektiv bedürftig ist, um jeden Preis helfen? Kann man das überhaupt? Zu nennen sind zusätzlich einschränkende Kriterien auf der Geberseite, die schon in Kapitel 1.7 benannt wurden: Zuständigkeit, Zumutbarkeit, Aussicht auf Erfolg und die Zulässigkeit der Hilfeleistung. Diese Kriterien werden in Kapitel 3 einer weiteren Untersuchung unterzogen. Wie stark eine solche Hilfspflicht ist, und ob es sinnvoll ist, ein zu ihr korrespondierendes Recht anzunehmen, werden wir in Kapitel 2.7 und 2.8 untersuchen.
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2.6 Vier Unterscheidungsmöglichkeiten von positiven und negativen Pflichten Es hat sich gezeigt, dass es keine zwingenden Gründe gibt, Nothilfepflichten im Kantischen Modell für unvollkommene Pflichten zu halten. Sie sind, sofern sie die in Kapitel 1.5 vorgeschlagenen fünf Kriterien erfüllen, weder von schwacher Verbindlichkeit noch unterbestimmt. Deswegen liegt es nahe, sie für erzwingbar zu halten (die Frage, ob ihnen ein Recht korreliert, werden wir weiter unten angehen, vgl. Kapitel 2.8). Die generelle Verbindung von positiven Pflichten mit schwachen Wohltätigkeitspflichten und negativen Pflichten mit starken Rechtsoder Gerechtigkeitspflichten scheint irreführend. Dasselbe gilt für die Verbindung von Wohltätigkeitspflichten mit Handlungen und von starken Gerechtigkeitspflichten mit Unterlassungen. In diesem Kapitel wollen wir uns die prinzipiellen Unterscheidungsmöglichkeiten von positiven und negativen Pflichten ansehen. Meine These ist, dass das bislang skizzierte Bild falsch ist. Wir können zwischen starken und schwachen Pflichten unterscheiden, doch es macht keinen Sinn, diese Unterscheidung für äquivalent mit der Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten zu halten. Wir werden im Folgenden vier Unterscheidungsmöglichkeiten von positiven und negativen Pflichten untersuchen. Die handlungstheoretische, die konsequentialistische, die normative und die gütertheoretische Unterscheidung. Ihre Plausibilität wird einzeln zu prüfen sein. Ich werde dafür plädieren, die Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten handlungstheoretisch zu treffen, die Unterscheidung von starken und schwachen Pflichten dagegen gütertheoretisch zu fundieren.
2.6.1 Die handlungstheoretische Unterscheidung Möglichkeit 1: Die Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten wird handlungstheoretisch getroffen. Positive Pflichten sind Pflichten, die ein Tun fordern, negative Pflichten sind Pflichten, die ein Unterlassen fordern.
Auf den ersten Blick scheint diese Unterscheidung so simpel wie naheliegend. Sie ist auch weit verbreitet. Ihr entspricht die natürliche Redeweise von Handlungspflichten im Unterschied zu Unterlassungspflichten.26
26 Bei genauem Hinsehen ergeben sich allerdings hier schon Probleme. Es liegt nämlich nahe, dass menschliches Handeln als willentliches und bewusstes Einwirken auf die Welt sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen realisiert werden kann (Beispiele hierfür finden sich bei Birnbacher 1995). Ferner ist nicht klar, was damit gemeint ist, dass negative Pflichten ein
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Prioritätsthese
Diese erste Möglichkeit, die handlungstheoretische Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten, geht von der Frage aus: Was verlangt die Pflicht vom Pflichtträger? Verlangt sie ein Tun, so ist die Pflicht positiv, verlangt sie ein Unterlassen, so ist die Pflicht negativ. Trotz ihrer intuitiven Plausibilität gerät die handlungstheoretische Fundierung der Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten allerdings schon bei einfachen Beispielen schnell ins Schlingern. Ist die Pflicht, ein Versprechen zu halten, positiv oder negativ? Ist das Beispiel zu speziell, da Versprechen ihren Inhalt zunächst offen lassen? Wenn wir jedenfalls alternativ sagen, die Pflicht, Versprechen zu halten, sei auf einer inhaltsunabhängigen Metaebene generell positiv oder negativ, dann haben wir das handlungstheoretische Unterscheidungsmuster von positiven und negativen Pflichten verlassen. Wenn wir nämlich sagen, die Pflicht, Versprechen zu halten, sei generell positiv, da man eben das Versprochene tun müsse, dann ist dies nicht mehr handlungstheoretisch erfassbar, da das Versprochene eben auch in einer Unterlassung bestehen kann, etwa wenn wir das Versprechen halten, ein Geheimnis zu bewahren. Dann unterlassen wir es, das Geheimnis auszuplaudern. Wenn wir sagen, die Pflicht, Versprechen zu halten, sei eigentlich die Pflicht, Versprechen nicht zu brechen, und daher negativ, so ist dies ebenfalls handlungstheoretisch nicht mehr erfassbar, da das Nicht-Brechen des Versprechens eben gerade durch eine Handlung realisiert werden kann, etwa wenn wir geliehenes Geld zurückgeben. Die simple handlungstheoretische Unterscheidung ist also in dieser Fassung selbst unterbestimmt. Aus Thomas Pogges Ausführungen lässt sich jedoch eine modifizierte handlungstheoretische Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten gewinnen. Pogge verwendet Jonathan Bennetts Beispiel des unterlassenen Blumengießens zur Illustration einer negativen Pflicht.
Unterlassen fordern. Wenn man die handlungstheoretische Unterscheidung irgendwie gehaltvoll treffen will, darf man nicht zulassen, dass einfache Reformulierungen möglich sind. „Negative Pflichten sind Pflichten, die ein Unterlassen fordern“ darf also nicht so verstanden werden, dass negative Pflichten fordern, dass man es unterlässt, sie zu erfüllen. Die Pflicht der Hilfeleistung könnte dann die Unterlassung der unterlassenen Hilfeleistung fordern usf. Ich werde im Folgenden von einem Tun sprechen (und nicht allgemein von Handeln), wenn eine positive Leistung gemeint ist. Ebenso wäre es präziser, von Leistungspflichten als von Handlungspflichten zu sprechen. Da Birnbacher, auf den ich meine Ausführungen in diesem Kapitel mehrfach beziehe, von Handlungspflichten spricht, verwende ich den Terminus auch, er ist allerdings auch bei Birnbacher in dem Sinn zu verstehen, dass eine Handlungspflicht ein aktives Tun vom Verpflichteten verlangt.
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Beispiel des unterlassenen Blumengießens: Meine Nachbarin hat versprochen, während ich im Urlaub bin, meine Blumen zu gießen. Sie unterlässt es und die Blumen gehen ein.
Pogges Interpretation zufolge liegt hier die Verletzung einer negativen Pflicht vor. Um das Beispiel so interpretieren zu können, müssen wir drei Zusatzannahmen machen: Erstens müssen wir bei der Beurteilung einer Pflichtverletzung relevante Handlungsketten betrachten. Dabei müssen wir die Handlungskette bis zum Zeitpunkt der Pflichtentstehung betrachten. Zweitens müssen wir annehmen, dass negative Pflichten ein bestimmtes Tun verbieten, während positive Pflichten ein bestimmtes Tun gebieten. Negative Pflichten werden entsprechend durch ein Tun verletzt, positive Pflichten werden durch ein Unterlassen verletzt. Die dritte Annahme ist, dass negative Pflichten durch bestimmte aktive Handlungen positive und negative Verpflichtungen generieren können. Betrachtet man nur das unterlassene Blumengießen, so scheint es, als verletze die Nachbarin eine positive Pflicht. Betrachtet man die Handlungskette bis zum Zeitpunkt der Pflichtentstehung, so kann man das Beispiel anders interpretieren. Aus dem Versprechen, während meines Urlaubs die Blumen zu gießen (einem Tun) ist die (positive) Verpflichtung entstanden, dies während meines Urlaubs zu tun. Die Pflichtverletzung besteht, genau betrachtet, nicht im unterlassenen Blumengießen, sondern im Versprechen (einem Tun), die Blumen zu gießen, ohne es zu halten. Versprechen, die wir aktiv abgeben, sind nach Pogge, wenn wir sie nicht einhalten, Verletzungen negativer Pflichten. Kontrastieren wir dieses Beispiel mit Singers Teichbeispiel. Um Analogien oder Disanalogien feststellen zu können, müssen wir das Beispiel umformulieren: Teichbeispiel: Ein Passant kommt an einem Teich vorbei, in dem gerade ein Kind ertrinkt, das er retten könnte. Er unterlässt die Rettung und das Kind stirbt.
Zum Zeitpunkt, an dem der Passant an dem Zierteich mit dem ertrinkenden Kind vorbeikommt, entsteht erst die positive Pflicht, das Kind zu retten. Diese wird durch Unterlassen verletzt. Aber hat nicht auch der Passant gehandelt? Er ist einfach weitergelaufen, ohne das Kind zu retten. War nicht gerade dieses Handeln sträflich? Ist nicht aus der positiven Pflicht die positive Verpflichtung entstanden, zu helfen und nicht weiterzulaufen? Umgekehrt ist das Problem beim Blumengießen eben nicht die Abgabe des Versprechens, sondern die unterlassene Einhaltung.
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Dieter Birnbacher (1995) hat überzeugend darauf hingewiesen, dass man die Definition von Tun und Unterlassen nicht schon normativ aufladen darf, wenn man eine gehaltvolle, nicht zirkuläre Unterscheidung zwischen diesen beiden Verhaltensweisen treffen möchte. Entsprechend lehnt Birnbacher eine Bestimmung von Tun und Unterlassen ab, die einfache Reformulierungen zulässt. Die Pflicht, ein Versprechen zu halten, wäre nach einer solchen Reformulierung gleichbedeutend mit der Pflicht, ein Versprechen nicht zu brechen. Man könnte das geforderte Halten des Versprechens dann als negative Pflicht bezeichnen, das Versprechen nicht zu brechen. Aus der Abgabe des Versprechens wiederum folgen dann positive Verpflichtungen (z. B. Blumen gießen) oder negative (z. B. Schweigegelübde einhalten). Allerdings hilft eine solche Vorgehensweise nicht weiter, wenn man wissen möchte, ob und warum Unterlassungspflichten verbindlicher sein sollten als Handlungspflichten, da beide Pflichtarten einfach reformulierbar wären. Wir könnten dann sagen, dass der Passant eine negative Pflicht hat, dem Kind nicht nicht zu helfen bzw. das Nichthelfen zu unterlassen. Wer sein Versprechen hält, indem er in den Bus steigt und an der verabredeten Stelle aussteigt, hätte jetzt seine negative Pflicht erfüllt, sein Versprechen nicht zu brechen. Wer ein Schweigegelübde hält, hätte jetzt ebenfalls seine negative Pflicht erfüllt, sein Versprechen nicht zu brechen. Birnbachers Gegenvorschlag wird in der Literatur als Nonmovismus bezeichnet.27 Als Unterlassung können wir das Fehlen einer für die entsprechende Handlung konstitutiven Körperbewegung verstehen (vgl. Birnbacher 1995, Kapitel 2.2). Was bringt uns die so verstandene handlungstheoretische Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten für die Frage der Priorität? Zunächst ist ganz klar, dass handlungstheoretisch verstandene negative Pflichten nicht generell Vorrang vor positiven Pflichten haben können. Die negative Pflicht, ein Schweigegelübde zu halten, kann nicht generell Priorität vor der positiven Pflicht haben, Hilfe zu rufen, wenn sich jemand in einer lebensbedrohlichen Notlage befindet.28 Die Prioritätsthese muss also so gemeint sein, dass negative Pflichten ceteris paribus Vorrang vor positiven Pflichten haben. Warum? Da pflichtverletzendes Tun an sich moralisch verwerflicher ist als pflichtverletzendes Unterlassen. Wenn das richtig ist, dann haben die Pflichten, die pflichtverletzendes Tun verbieten, Vorrang vor den Pflichten, die pflichtverletzendes Unterlassen verbieten. Sprich, wir müssen Beispiele finden, in denen die relevanten Parameter gleich sind und nur der Parameter des Tuns und Unterlassens differiert. Solche Beispiele sind aus der Killing- vs. Letting-Die-Debatte
27 Vgl. Berger (2004, Kapitel 15.2). 28 Zu diesem Missverständnis vgl. Satz (2005) und die Kritik von Pogge (2005 b).
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bekannt. Viele Utilitaristen (Singer 1984, Birnbacher 1995, Kapitel 10) behaupten, dass es keinen moralischen Unterschied an sich zwischen Töten und Sterbenlassen gibt. Vielmehr werde der moralische Unterschied hinsichtlich verschiedener Fälle von Töten und Sterbenlassen durch differierende weitere Parameter erzeugt. So ist es natürlich verwerflicher, jemanden zu ermorden, um an sein Vermögen zu kommen, als jemanden sterben zu lassen, der an einer schweren Krankheit leidet, die seine Lebensqualität erheblich einschränkt. Diese Fälle unterscheiden sich hinsichtlich der Motive und hinsichtlich der Lage des Sterbenden: Im einen Fall ist er gesund und wohlauf, im anderen Fall todkrank. Im einen Fall sieht es so aus, als wolle er selber auf jeden Fall weiterleben, im anderen Fall ist das nicht sicher. Wenn wir jedoch Fälle von Töten und Sterbenlassen vergleichen, die in allen moralisch relevanten Parametern angepasst sind, so wird eine moralische Unterscheidung schwer möglich.29 Wir müssen die Frage, ob die Unterscheidung von Tun und Unterlassen an sich moralische Relevanz hat, hier nicht letztgültig entscheiden. Klar scheint, dass die handlungstheoretische Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten eine Priorität negativer Pflichten nicht aus sich selbst heraus erklären kann. Daher liegt es nahe, zur Überprüfung der Prioritätsthese auf andere Parameter zurückzugreifen. Gleichwohl können wir auf die handlungstheoretische Unterscheidung von Tun und Unterlassen nicht verzichten, wenn wir eine gehaltvolle Bestimmung positiver und negativer Pflichten geben wollen. Wenn wir uns nun die verbleibenden drei Unterscheidungsmöglichkeiten ansehen, darf es uns nicht wundern, dass sie mit der handlungstheoretischen Unterscheidung nicht deckungsgleich sind. Denn die handlungstheoretische Unterscheidung ist gerade dadurch normativ unterbestimmt, dass sie einen Vorrang von Unterlassungspflichten vor Handlungspflichten nicht ohne Zusatzannahmen generieren kann.
2.6.2 Die konsequentialistische Unterscheidung Eine naheliegende zweite Möglichkeit, die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten zu treffen, fragt nach den Folgen der Pflichterfüllung für
29 Rachels diskutiert zwei Beispiele, in denen Meier und Müller je ihre sechsjährigen Vetter bei Seite schaffen wollen, um an ihr Erbe zu kommen. Meier ertränkt seinen Vetter und lässt es wie einen Unfall aussehen. Müllers ebenso mörderischen Absichten kommt der Zufall zuvor: Sein Vetter stürzt unglücklich in die Badewanne. Er stellt sich daneben, muss aber nichts mehr tun, das Kind ertrinkt. Würden wir tatsächlich Müllers Verhalten für weniger verwerflich halten als das Meiers (vgl. Rachels 1989, 258)?
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denjenigen, für dessen Wohlergehen die Pflichterfüllung relevant ist. Nennen wir ihn den Behandelten. Möglichkeit 2: Die Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten wird konsequentialistisch getroffen. Positive Pflichten sind Pflichten, deren Erfüllung dazu beiträgt, dass jemand besser gestellt wird. Negative Pflichten sind Pflichten, deren Erfüllung dazu beiträgt, dass jemand nicht schlechter gestellt wird.
Bemerkenswert ist zunächst, dass nach der zweiten Unterscheidungsmöglichkeit beide Pflichttypen sowohl durch ein Tun als auch durch ein Unterlassen erfüllt werden können. Jemand kann dadurch besser gestellt werden, dass ich ihm etwas gebe, z. B. 100 Euro. Jemand kann aber auch dadurch besser gestellt werden, dass ich auf etwas verzichte, etwa auf das Eintreiben einer Schuld oder auf ein Stück Kuchen, sodass der Behandelte davon profitiert. Wie ist es bei negativen Pflichten? Reicht zu ihrer Erfüllung ein Unterlassen aus? Welche Pflichten hat etwa ein Arzt? Wenn er eine lebensnotwendige Medikation nicht verabreicht, verletzt er dann eine positive oder eine negative Pflicht? Wird dadurch jemand bloß nicht besser gestellt (nicht geheilt) oder schlechter gestellt (geschädigt, da er durch angemessene Behandlung hätte geheilt werden können)? Wie legen wir fest, was als Besserstellung und was als Schlechterstellung gelten kann? Wir dürfen natürlich nicht einfach sagen: besser oder schlechter als vorher. Dann müssten wir Fälle zulassen, in denen ein Mann seine Frau besser stellt (als vorher), indem er aufhört sie zu verprügeln, oder Fälle, in denen eine Kundin den Blumenverkäufer schlechter stellt (als vorher), wenn sie ihm keine Blumen mehr abkauft. Bestimmen wir also die Besserstellung oder Schlechterstellung des Behandelten als Stellung ohne das Einwirken der maßgeblichen Person. Der Mann stellt jetzt die Frau schlechter, wenn er anfängt, sie zu schlagen. Die Kundin stellt den Blumenverkäufer besser, indem sie ihm Rosen abkauft. Die entscheidende Frage ist, wie Pogge richtig hervorhebt, was wir als Grundlinie (baseline) für den Vergleich zwischen Besserstellung bzw. Schlechterstellung und vorheriger Situation bestimmen. Allerdings sind die beiden Beispiele irreführend, da sie die Vorurteile gegen positive Pflichten nähren. Der prügelnde Mann schädigt die Frau durch Körperverletzung, während die Kundin dem Blumenverkäufer eine bloße Wohltat erweist. Die Erklärung dafür, dass wir den Mann für verpflichtet halten, das Prügeln zu unterlassen, während wir nicht denken, dass die Kundin verpflichtet ist, jeden Morgen Blumen zu kaufen, wird aber nicht von der konsequentialistischen Unterscheidung an sich geliefert. Um uns das klar zu machen, müssen wir uns zwei andere Beispiele vornehmen: Stellen wir nicht auch denjenigen schlechter, dem
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wir die einzige freie Parklücke vor der Nase wegschnappen? Stellen wir nicht auch ein kleines Kind besser, das wir aus einem Zierteich vor dem Ertrinken retten? Hier gehen unsere Intuitionen natürlich in die andere Richtung. Natürlich sind wir verpflichtet, das Kind zu retten. Doch wir sind kaum verpflichtet, dem anderen den Vortritt bei der einzigen freien Parklücke zu lassen. Auch die Präzisierung von besser stellen und schlechter stellen durch die Zusatzannahme „im Vergleich zu der Situation ohne das Einwirken des Verpflichteten“ generiert aus sich heraus keine normative Priorität von negativen Pflichten. Möglichkeit 2 ist eine Art Kehrseite von Möglichkeit 1: Während die handlungstheoretische Unterscheidung sich darauf konzentriert, ob vom Verpflichteten ein Tun oder ein Unterlassen erwartet wird, konzentriert sich die konsequentialistische Unterscheidung darauf, was durch das Verhalten des Verpflichteten (ob es nun ein Tun oder Unterlassen ist) für die Situation des Behandelten resultiert. Um jedoch einen normativen Vorrang der Nicht-Schlechterstellung vor der Besserstellung zu begründen, müssen wir die Besserstellung und Schlechterstellung anhand von anderen Kriterien bewerten. Dies geschieht durch Möglichkeit 3.
2.6.3 Die normative Unterscheidung Möglichkeit 3: Die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten wird normativ getroffen. Positive Pflichten sind Pflichten, die Situation anderer zu verbessern. Negative Pflichten sind Pflichten, andere nicht zu schädigen.30 Da Schädigen moralisch verwerflicher ist als unterlassenes Wohltun, haben negative Pflichten Vorrang vor positiven Pflichten (vgl. Pogge 2002 b, 130 ff. und Orend 2002, 142 ff.).31
30 Pogge behauptet einen begrifflichen Zusammenhang zwischen dem Schädigungsverbot und einer negativen Pflicht (vgl. Pogge 2006). Vgl. auch Birnbacher: „die Pflicht, andere nicht zu schädigen wiegt schon aus begrifflichen Gründen schwerer als die Pflicht, anderen Wohltaten zu erweisen“ (Birnbacher 1995, 173). 31 „One advantage of separating the moral responsibility for a bad situation and the duty to respond to the bad situation appropriately is to make clear that those who are morally responsible for a bad situation have a negative duty to respond to the bad situation appropriately, while those who are not morally responsible for the bad situation have, if they do, only positive duties to respond to the same situation. A duty is negative not in the sense that one should never violate it, all things considered, but in the sense that it is always morally wrong not to take it to be a sufficient reason against our conduct that it will violate the duty. While we may sometimes have to violate a negative duty, all things considered (as when something important is at stake, for example, in the situation in which by not saving a person for whose drowning I would be morally responsible, I will be able to warn 1000 people who
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Thomas Pogge entwickelt diese Unterscheidung innerhalb der Sphäre interpersoneller Verantwortung (Pogge 2002 b, 130). Dabei wird die Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten gemäß der normativen Vorentscheidung getroffen, dass negative Pflichten stärker sind: „to vindicate its moral significance, that is, the popular idea that, given equal stakes for all involved, negative duties have greater weight“ (ebd.). Die genaue Definition lautet: I propose, then, to call negative any duty to ensure that others are not unduly harmed (or wronged) through one’s own conduct and to call positive the remainder: any duty to benefit persons or to shield them from other harms. This negative/positive distinction is doubly moralized, because its application requires us to decide whether A’s conduct harms P (relative to some morality-stipulated baseline), and, if so, harms P unduly (ebd.).
Die Unterscheidung steht ferner im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung mit der so genannten nationalistischen Position. Ihre Vertreter verteidigen die Idee, dass Mitbürger in moralischen Fragen Priorität genießen (justice-forcompatriots priority; vgl. auch Kapitel 3.1). Pogge will diese Position in zwei Schritten relativieren. Erstens möchte er zeigen, dass die justice-for-compatriotspriority nur im Hinblick auf positive Pflichten plausibel und zulässig ist. Im Hinblick auf stärkere, negative Pflichten, andere nicht zu schädigen, sei diese Idee unplausibel und unzulässig. Zweitens möchte er zeigen, dass wir die von Armut Betroffenen in fernen Ländern durch die Verletzung negativer Pflichten schädigen. Aus Pogges Rekonstruktion unserer moralischen Intuitionen ergibt sich folgendes Bild der Rangordnung unserer Pflichten: (1) Negative duties not to wrong (unduly harm) others; (2 a) Positive duties to protect one’s next of kin from wrongdoing, (2 n) Positive duties to protect one’s compatriots from wrongdoing, (2 z) Positive duties to protect unrelated foreigners from wrongdoing (ebd., 132).
Hier spielen zwei Prioritätsregeln eine Rolle. Erstens haben negative Pflichten Vorrang vor positiven Pflichten. Zweitens haben innerhalb der positiven Pflichten die näher stehenden immer Vorrang vor den weiter entfernten Personen. Innerhalb der negativen Pflichten gibt es eine solche Verbindlichkeitsabstufung allerdings nicht. In der Rekonstruktion unserer moralischen Urteile möchte Pogge keinesfalls auf ein revisionäres Verständnis hinaus.32
would otherwise die), it is also undeniably true that by violating this negative duty, we have harmed (wronged) the person“ (Shei 2005, 141). 32 Problematischerweise definiert Pogge allerdings an dieser Stelle positive Pflichten nur als Schutzpflichten („to protect X from wrongdoing“) und nicht als Hilfspflichten. Natürlich mag es Vorrang haben, selbst niemanden zu verletzen als jemanden davor zu schützen, dass er von
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An dieser Stelle ist etwa Dieter Birnbacher weniger optimistisch, was die Bindungskraft negativer Pflichten betrifft. Birnbacher beobachtet faktisch bestehende Kriterien der Verantwortungsbegrenzung. Dabei finde die größte Annäherung von Handlungs- und Unterlassungspflichten „im extremen Nahbereich wie auch im extremen Fernbereich“ statt (Birnbacher 1995, 306). Im extremen Nahbereich, etwa bei Fürsorgepflichten, wird schädigendes Unterlassen als ebenso schlimm empfunden und ebenso schwer bestraft wie schädigendes Handeln. Eltern, die ihr Kind verhungern lassen, müssen sich mit Straftatbeständen wie Totschlag oder fahrlässiger Tötung konfrontiert sehen. Im extremen Fernbereich (also etwa gegenüber Bürgern fremder Staaten in anderen Kontinenten und gegenüber künftigen Generationen) würden Schädigungen durch Handeln als ebenso erlaubt empfunden wie Schädigungen durch Unterlassen. Eine Wirtschaftspolitik, von der abzusehen ist, dass sie die Lebensgrundlagen geographisch oder zeitlich weit entfernt Lebender zerstört, wird gemeinhin mit ebensolcher Nachsicht beurteilt wie ein Verzicht auf mögliche Hilfs- oder Vorsorgemaßnahmen mit denselben Folgen (ebd.).
Traurigerweise erscheint diese Beschreibung als völlig zutreffend. Man versteht nun besser, dass sich Singer und Unger so vehement gegen die priority-forcompatriots-thesis wenden. So plausibel Birnbachers Beschreibung allerdings sein mag, sie belegt nur, dass das Verhalten gegenüber den weit Entfernten moralisch nicht hinnehmbar ist. Allerdings rekonstruiert Birnbacher unsere alltäglichen moralischen Intuitionen ungleich realistischer als Pogge: Während wir im Nahbereich die Unterlassung von Leistungen, etwa wenn Eltern ihr Kind verhungern lassen, als Schädigung bewerten, kümmert uns im extremen Fernbereich wenig, wenn unser Handeln schädigende Auswirkungen hat. Nun ist die Frage nach der Angemessenheit dieser Beschreibung eine andere als die nach der Rechtfertigbarkeit dieser Intuitionen. Moralisch scheinen sie wohl unangemessen. Wir können aber an dieser Stelle schon festhalten, dass, wenn Birnbachers empirische These richtig ist, Pogges empirische These, dass wir glauben, wir müssten die negativen Pflichten auch gegenüber den Fernstehendsten einhalten, falsch ist. Es ist also nicht prima facie leichter, zu zeigen, dass wir gegenüber den Fernstehendsten indirekte negative Pflichten haben, dafür zu sorgen, dass wir sie auch nicht sehr vermittelt schädigen, als zu zeigen, dass wir gegenüber den Fernstehendsten direkte posi-
einem Dritten verletzt wird. Doch daraus ergibt sich nicht, dass Hilfspflichten keine starken Pflichten sein können oder dass negative Pflichten generell Vorrang vor positiven Pflichten haben.
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tive Hilfspflichten haben. Birnbachers skeptische Beobachtung ist ein Indiz dafür, dass Pogge schon dort falsch liegen könnte, wo er meint, dass seine Position breiter akzeptabel sei als die von Theorien, die positiven Pflichten einen zentralen Stellenwert einräumen, weil man bei negativen Pflichten keine Abstufungen zwischen Nah- und Fernstehenden kenne. Nach wie vor scheint also das Problem der Distanz in der Moral eines, das für die Bestimmung unserer Pflichten einen zentralen Stellenwert einnimmt (vgl. Kapitel 3.1). Ausgehend davon, dass negative Pflichten schwerer wiegen, möchte Pogge bei der Zuordnung unserer Armutsbekämpfungspflichten ein revisionäres Verständnis erreichen. Pogge zufolge denken wir fälschlicherweise, unsere Pflichten gegenüber den von schwerer Armut Betroffenen fielen in die Kategorie (2 z), d. h. die positive Pflicht, fernstehende Fremde vor Schädigung zu schützen. Doch fallen unsere Armutsbekämpfungspflichten nach Pogge in die Kategorie (1), d. h. unter die negative Pflicht, andere nicht zu schädigen. Mit der zweiten These, dass wir die von Armut Betroffenen durch die Verletzung negativer Pflichten schädigen, werden wir uns später noch befassen (Kapitel 3.7). Zunächst soll uns die Frage beschäftigen, ob die Priorität negativer Pflichten vor positiven Pflichten unter der von Pogge angebotenen normativen Unterscheidungsmöglichkeit 3 plausibel ist. Die dritte Möglichkeit kann man so interpretieren, dass sie die konsequentialistische Unterscheidung zwischen Besserstellen und Nicht-Schlechterstellen auf der Seite des Handelnden als Wohltun bzw. Nicht-Schädigen bewertet. Wer dazu beiträgt, dass jemand besser gestellt wird, tut ihm wohl, wer dazu beiträgt, dass jemand schlechter gestellt wird, schädigt ihn. Andersherum wird die Nicht-Erfüllung der entsprechenden Pflichten als unterlassenes Wohltun (Nicht-Erfüllung einer positiven Pflicht) bzw. als Schädigung (Verletzung einer negativen Pflicht) bewertet. Nun verstehen wir besser, wo die Vorurteile gegen positive Pflichten herkommen. Denn warum sollten wir dazu verpflichtet sein, andere besser zu stellen? Warum reicht es nicht aus, keinem zu schaden? Ferner könnte man glauben, dass sich diese dritte Unterscheidungsmöglichkeit mit der ersten, handlungstheoretischen Unterscheidungsvariante deckt. Schädigen wir nicht meist aktiv durch ein Tun, und unterlassen Besserstellungen passiv? Umgekehrt geht man davon aus, dass klassische positive Pflichten, wie Wohltätigkeit, Handlungen oder auch Leistungen von uns verlangen, während klassische negative Pflichten, wie das Tötungsverbot, Unterlassungen von uns verlangen. Aber: Können wir nicht auch durch Unterlassen wohltun? Etwa wenn wir von jemandem, der in großer finanzieller Not ist, ein Darlehen nicht zurückverlangen? Ferner scheint es möglich, jemanden durch Unterlassen zu schädigen, etwa wenn eine easy-rescue-Situation vorliegt. Während es klar
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scheint, dass man durch ein Tun sowohl das Wohlergehen anderer befördern als auch andere schädigen kann, ist die umstrittene Frage, ob man durch Unterlassen wohltun, und noch einschlägiger: ob man durch Unterlassen schädigen kann.
2.6.3.1 Kann man durch Unterlassen wohltun? Das Standardbeispiel für Wohltun durch Unterlassen ist der Verzicht auf das Eintreiben einer Schuld. Für den Handelnden bedeutet das, auf ein Recht zu verzichten. Diese Handlung ist erlaubt, aber nicht geboten (vgl. Birnbacher 1995, 186 ff. und Kersting 1997). Umgekehrt hat der Behandelte nicht das Recht, den Verzicht zu verlangen. Auch bei Kant kann die unvollkommene Pflicht zur Wohltätigkeit ein Unterlassen erfordern. Kants Idee ist, man solle niemanden zu etwas verleiten, für das ihn das Gewissen straft (MST 6, 394). Die Pointe dabei ist, dass man durch Unterlassen nur dann wohltun kann (im Sinne von: jemanden besser stellen), wenn man das Recht hätte, ihn schlechter zu stellen. Ich kann nur zugunsten eines anderen auf etwas verzichten, das mir zusteht. Ich kann auf mein Stück vom Kuchen verzichten, um es Peter zu schenken. Durch diesen Verzicht stelle ich Peter besser (als ohne meinen Verzicht auf den Kuchen): Ich kann nur durch Unterlassen wohltun, wenn das Besserstellen nicht schon von vorneherein geboten ist. Ich kann nicht zu Peters Gunsten auf ein Stück Kuchen verzichten, das ihm zusteht. Haben wir es mit gebotenem Wohltun, also einer gebotenen Besserstellung, zu tun, so kann diese natürlich nicht durch Unterlassen dieser Verbesserung erreicht werden, höchstens durch einen, dann aber gebotenen, Verzicht auf ein anderes Recht. Ein Vater etwa, der dem Sohn 1000 Euro geliehen hat, muss wohl darauf verzichten, diese 1000 Euro zurückzufordern, wenn der Sohn sonst in noch größere Schwierigkeiten gerät, um seine Fürsorgepflicht gegenüber dem Sohn zu erfüllen. Wohltun ist hier unterbestimmt. Es kann erstens heißen, jemanden besser zu stellen, ohne dazu verpflichtet zu sein. Das scheint sowohl durch Tun wie durch Unterlassen möglich. Das unterlassene Wohltun ist in diesem Fall keine Pflichtverletzung. Zweitens kann damit gemeint sein, jemanden besser zu stellen, weil man dazu durch eine andere positive Pflicht, etwa eine Fürsorgepflicht, verpflichtet ist. Dies kann ebenfalls durch Tun und Unterlassen erreicht werden. Das unterlassene Wohltun ist in diesem Fall eine Pflichtverletzung.
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2.6.3.2 Kann man durch Unterlassen schädigen? Für die These, dass man durch Unterlassen schädigen kann33, werden verschiedene Beispiele angeführt, die sich in zwei Gruppen unterteilen lassen (vgl. Kapitel 1.2). Die erste Beispielgruppe betrifft Garantenpflichten. Garanten sind im juristischen Sinn Personen mit speziellen Pflichten und Aufgaben, die anderen Personen nicht in derselben Weise zukommen. So haben Eltern eine Fürsorgepflicht für ihre Kinder. Wenn die Eltern ihr Säuglingsbaby in der Wohnung zurücklassen und eine Woche in den Urlaub fahren, so geht der Hungertod des Kindes nicht auf unterlassenes Wohltun zurück, sondern wird sowohl moralisch intuitiv als auch juristisch als Schädigung bewertet.34 Die Nachbarn, die diese spezielle Pflicht nicht haben, werden dagegen nicht belangt. Ebenso verhält es sich mit Ärzten oder Bademeistern. Sie haben spezielle Pflichten. Wenn ein abgelenkter Arzt es unterlässt, einem Patienten ein lebensnotwendiges Medikament zu verabreichen, weil er sich zu sehr in das Fernsehprogramm im Aufenthaltsraum vertieft hat, so wird dies als Schädigung angesehen. Ebenso verhält es sich mit einem Bademeister, der einen Drogenrausch seiner Aufsichtspflicht vorzieht, wenn dabei ein Badegast ertrinkt, der von einem einsatzfähigen Bademeister hätte gerettet werden können. Die Unterlassungen dieser Garanten scheinen in allen Fällen schwerwiegender als die von dritten Personen, die nicht als Garanten zuständig sind. Und hier sind wir bei der zweiten Beispielgruppe. Der Passant, der das ertrinkende Kind in Singers Beispiel retten soll, hat keine Garantenpflicht. Kann man seine unterlassene Hilfeleistung auch als Schädigung bewerten? Wie kommen wir überhaupt bei der ersten Beispielgruppe dazu, die Nichterfüllung einer Pflicht als Schädigung zu bewerten? Worin unterscheiden sich die Fälle? Um das zu sehen, müssen wir die Fälle möglichst parallel konstruieren. Fall 1: Ein kleines Kind ist in einer spärlich besuchten Badelandschaft ins Wasser gefallen. Der Bademeister unterlässt es, das Kind herauszuziehen. Das Kind ertrinkt. Fall 2: Ein kleines Kind ist in einer spärlich besuchten Badelandschaft ins Wasser gefallen. Ein Badegast unterlässt es, das Kind herauszuziehen. Das Kind ertrinkt.
33 Zur Frage, ob Unterlassungen Ursachen sein können vgl. Gewirth (1978, 221–226 und 1984, 233–341) und Birnbacher (1995, Kapitel 3). 34 Vgl. Birnbacher (1995, 15). § 13 StGB wertet es als „Tötung durch Unterlassen“, wenn ein Elternteil oder eine Kinderkrankenschwester oder ein Arzt ein ihnen anvertrautes Kind nicht retten, obwohl sie es vermocht hätten und dafür zuständig waren. Das wäre etwa der Fall, wenn der Arzt vergisst, ein überlebensnotwendiges Medikament zu verabreichen.
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Nehmen wir an, dass alle anderen Umstände tatsächlich gleich sind. Der Bademeister bzw. der Badegast sind jeweils die einzigen, die helfen könnten. Ihre Motive, nicht zu helfen, sind auch dieselben, welche auch immer. Die fatalen negativen Konsequenzen sind gleich: In beiden Fällen ertrinkt das Kind. Wenn wir die Beispiele rein konsequentialistisch betrachten, müssen wir sagen, dass in beiden Fällen eine Schädigung vorliegt oder in keinem der Fälle. Der moralisch relevante Unterschied besteht, falls er überhaupt besteht, nicht in den Konsequenzen, sondern im Unterschied zwischen den Aufgaben eines Bademeisters und den Aufgaben eines Badegastes: in der Zuständigkeit. Wir erwarten von einem Bademeister in höherem Maße, dass er uns vor Badeunfällen beschützt, als von anderen Badegästen. Es scheint aber trotzdem, als würden einerseits beide als Menschen gleichermaßen versagen. Das liegt daran, dass das Beispiel so gewählt ist, dass der Bademeister keine besondere Kompetenz braucht, um das Kind zu retten. Beide Personen sind zu einer easy rescue gleichermaßen in der Lage. Andererseits versagt der Bademeister zusätzlich als Bademeister. Er verfehlt diese Aufgabe, die gerade darin besteht, andere vor Badeunfällen zu beschützen, in grotesker Weise. Die normativen Erwartungen, die wir an die beiden Personen richten, sind verschieden. Das wird besonders deutlich, wenn wir das Beispiel in einer Hinsicht abwandeln: Fall 1‘: Ein kleines Kind ist in einer spärlich besuchten Badelandschaft ins Wasser gefallen. Der Bademeister nimmt das nicht wahr, weil er gerade mit Bier trinken und Skat spielen beschäftigt ist. Das Kind ertrinkt. Fall 2‘: Ein kleines Kind ist in einer spärlich besuchten Badelandschaft ins Wasser gefallen. Ein Badegast nimmt das nicht wahr, weil er gerade mit Bier trinken und Skat spielen beschäftigt ist. Das Kind ertrinkt.
Während der Bademeister immer noch eine Garantenpflicht verletzt, können wir dem Badegast nichts vorwerfen. Durch Garantenpflichten scheint sich die Bewertung von „besser stellen“ und „nicht schlechter stellen“ zu verschieben. Ich sehe an dieser Stelle zwei Möglichkeiten. Erstens können wir sagen, dass der Bademeister das Kind nicht besser stellt, obwohl er im Unterscheid zum Badegast eine spezielle positive Pflicht dazu hatte, das Kind zu beschützen. Zweitens können wir sagen, dass der Bademeister das Kind dadurch schlechter stellt (als es in einem berechtigterweise erwartbaren Alternativszenario der Fall wäre), dass er unaufmerksam ist und es nicht beschützt. Wie auch immer wir uns entscheiden, zwei Dinge sind klar: Erstens geschieht in beiden Fällen die Pflichtverletzung durch Unterlassung. Zweitens können wir aus der konsequentialistischen Unterscheidung von Besserstellen
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und Nicht-Schlechterstellen keine vernünftige Bestimmungsmöglichkeit von Schädigen und Nichtschädigen gewinnen. Wenn wir von Schädigen durch Unterlassen sprechen wollen, dann scheint das nur dadurch plausibel, dass bestimmte Handlungserwartungen stärker oder schwächer normativ aufgeladen sind. Wir interpretieren, so meine Vermutung, die Verantwortung für den Schaden von da her. Das macht auch der Fall mit zwei Kindern im Teich deutlich: Petra geht mit dem Kind einer Freundin im Park spazieren. Am Kiosk kauft sie in aller Ruhe eine Zeitung und sucht ein Eis für das Kind aus. Petra dreht sich um und sieht im nahe gelegenen Zierteich zwei ertrinkende Kinder: das, auf das sie aufpassen sollte, und noch ein anderes. Natürlich wird sie zuerst versuchen, das Kind der Freundin zu retten, da sie die Aufsichtspflicht für dieses Kind übernommen hatte. Der Fall gleicht dem des Bademeisters. Ich glaube im Gegensatz zu Pogges Untersuchungsziel, dass hier die einschlägige Frage nicht ist, ob wir Kompensationspflichten für begangenes Unrecht haben oder nicht, sondern ob wir in besonderer Weise zuständig waren oder nicht bzw. ob wir für Schäden haftbar gemacht werden können oder nicht. Die Frage ist, ob wir vorher schon eine positive Pflicht übernommen hatten oder ob man uns eine solche zuschreiben kann. Im Sinne der handlungstheoretischen Unterscheidung impliziert gerade der Aspekt negativer Pflichten, den Pogge betont, nämlich dafür Sorge zu tragen, dass andere durch das eigene Verhalten nicht zu Schaden kommen, positive Leistungen im Sinne der Aufmerksamkeit und Vorsorge. Man muss eben umsichtig und defensiv Auto fahren. Man sollte Warnschilder anbringen und andere Maßnahmen treffen, wenn man einen bissigen Hund im Garten hat. Natürlich werde ich eher dem Briefträger helfen, den mein Hund gebissen hat, als dem, den zeitgleich der Nachbarshund angegriffen hat. Die zu diskutierenden Fälle betreffen weniger klassisch negative Pflichten wie das Verbot, andere zu töten oder zu stehlen. Hier geht es eher um Haftung für Fahrlässigkeit.35 Bezeichnend ist, dass in diesen Fällen meistens keine schädigende Absicht vorliegt, sondern eher Gleichgültigkeit, Gedankenlosigkeit und
35 In § 15 StGB wird betont: „Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht.“ Das BGB lässt hingegen Fälle zu, in denen eine besondere Sorgfaltspflicht besteht, die durch fahrlässiges Verhalten verletzt wird, auch wenn dies nicht vorsätzlich geschieht. So heißt es im BGB, § 276, Abs 2, Satz 2: „Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.“ Dabei bemüht sich das BGB um einen einigermaßen objektiven Standard der Sorgfalt, der jedenfalls ausschließt, dass man einfach gleichsam von sich selbst ausgehen kann. In § 277 heißt es: „Wer nur für diejenige Sorgfalt einzustehen hat, welche er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt, ist von der Haftung wegen grober Fahrlässigkeit nicht befreit.“
Vier Unterscheidungsmöglichkeiten von positiven und negativen Pflichten
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mangelnde Umsicht bzw. Sorgfalt. Was hier zurechenbar ist, hängt allerdings sehr von gesellschaftlichen Konventionen und den empirischen Kenntnissen der Umstände ab. Ein Beispiel dafür ist das Rauchen, das jahrzehntelang für unschädlich gehalten und dann als schädlich erkannt wurde. Schließlich wurde in den USA Klagen gegen Tabakfirmen stattgegeben, die die Konsumenten vor den Folgen des Tabakkonsums hätten warnen müssen, da ihnen klar war, wie schädlich das Rauchen ist. Die unterlassene Warnung wurde vor Gericht als Schädigung interpretiert.36 In der Rechtsprechung der USA sind auch Ärzte, sofern sie im Dienst sind, für das Wohl der Patienten verantwortlich. Verabreicht ein Arzt nicht das richtige Medikament, obwohl er hätte wissen können, welches das gewesen wäre, kann ihm dies auch als schädigende Unterlassung ausgelegt werden. Pogges Rückgriff auf Jonathan Bennetts Blumenbeispiel unterstreicht diesen Punkt. Wir erinnern uns: Ich muss nur die Blumen derjenigen Nachbarin gießen, der ich das Blumengießen versprochen habe. Laut Pogge habe ich jetzt die negative Pflicht, die Blumen nicht vertrocknen zu lassen. Daraus folgt die positive Verpflichtung, sie zu gießen. Die Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten wird hier im Hinblick auf den Verpflichtungsgrund getroffen. Positive Pflichten sind Pflichten, die wir vorverhaltensunabhängig und freiwillig übernehmen, negative Pflichten sind Pflichten, die uns qua Menschsein zukommen. Andersherum heißt das: Zur Übernahme positiver Pflichten darf uns keiner zwingen. Zur Einhaltung negativer Pflichten dürfen wir von anderen gezwungen werden. Positive Pflichten sind speziell: Wir haben sie nur gegenüber denjenigen, gegenüber denen wir uns freiwillig verpflichtet haben. Negative Pflichten sind universell: Wir sind gegenüber allen zu ihrer Einhaltung verpflichtet. Das spiegelt genau Pogges Bild wider: Positive Pflichten sind schwächer als negative Pflichten. Pogges Versprechensbeispiel ist hier allerdings verwirrend. Denn er hält Versprechen für negative Pflichten (vgl. Pogge 2005 und 2007). Das ist aber nur richtig, was die strenge Verpflichtung zur Einhaltung betrifft, wenn man ein Versprechen überhaupt erst eingegangen ist. Habe ich versprochen, die Blumen meiner Nachbarin zu gießen, bin ich dazu verpflichtet, mich um das Wohlergehen der Blumen zu kümmern. Das trifft für die anderen Nachbarn und die Passanten, die im Vorbeigehen den Verfall des Gartens beobachten können und ihn durch eine Ladung Wasser vom nahe gelegenen öffentlichen Teich, an dem zufällig ein Eimer steht, aufhalten könnten, nicht zu. Dass ich das Versprechen, mich um die Blumen zu kümmern, abgegeben habe, war allerdings selbst nicht Gegenstand einer Verpflichtung oder einer Pflicht. Nur wenn man
36 Vgl. Michael Adams, Das Geschäft mit dem Tod, Frankfurt/M. 2007.
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Prioritätsthese
Versprechen für positive Pflichten hält, nimmt der Verpflichtungsgrad mit der zunehmenden Entfernung der Akteure ab, da wir uns unbekannten Menschen keine Versprechen geben. Gegenüber denen, denen wir nichts versprochen haben, haben wir dann auch keine Verpflichtungen.
2.6.4 Die gütertheoretische Unterscheidung Möglichkeit 4: Die Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten wird gütertheoretisch getroffen. Negative Pflichten dienen dazu, grundlegende Güter zu erhalten. Positive Pflichten dienen dazu, weitere Güter bereitzustellen.
Die gütertheoretische Unterscheidung, wie sie etwa Brian Orend vorschlägt, liefert eine Interpretation der normativen Unterscheidung. Zunächst wird sie von der handlungstheoretischen Unterscheidung abgegrenzt: „we redefine the meaning of ‚negative‘ away from factual inaction and toward the norm of not inflicting harm“ (Orend 2002, 143). Im Anschluss an Henry Shues Theorie von Freiheit, Sicherheit und Subsistenz als grundlegenden Rechtsgütern wird Schädigen gütertheoretisch bestimmt. Zur Erhaltung grundlegender Güter bedarf es, wie Orend in Anschluss an Shue (1996) betont, sowohl handlungstheoretisch positiver als auch handlungstheoretisch negativer Pflichten. Grundlegenden Rechten korrespondieren nach Shue drei Arten von Pflichten. Erstens negative Pflichten, die es verbieten, die Rechtsgüter anderer zu zerstören. Zweitens positive Schutzpflichten und drittens positive Hilfspflichten. Alle drei Arten von Pflichten beziehen sich auf grundlegende Rechte und die durch sie geschützten Güter. Diese menschenrechtskorrelativen Pflichten bezeichnet Orend als normativ negativ: „If we make use of this normative reconception, we can retain our intuitions about negative duties being more important than positive ones: we agree that it is more important to avoid inflicting harm than it is to do someone some good“ (Orend 2002, 143). Diese Unterscheidung hält Orend mit Marcia Baron für analog zu der Unterscheidung von Gerechtigkeitspflichten (duties of justice) und Wohltätigkeitspflichten. Duties of justice, or normatively negative duties, are duties that it is imperative to perform. So important are they that one’s failure to perform them properly exposes oneself to both resistance and punishment. The duties correlative to human rights, I suggest, are all duties of justice. Duties of benevolence, or normatively positive duties, are of lesser importance (ebd.).
Starke und schwache Pflichten gütertheoretisch voneinander abzugrenzen, erscheint sinnvoll, bereits im ersten Kapitel haben wir einen ähnlichen Versuch
Vier Unterscheidungsmöglichkeiten von positiven und negativen Pflichten
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unternommen, um die beiden Supererogationsgrenzen zu bestimmen (vgl. Kapitel 1.5). Allerdings sprechen gegen Orends terminologischen Vorschlag, zwischen normativ negativen und normativ positiven Pflichten zu unterscheiden, mehrere Punkte. Erstens ist der Terminus normatively negative duty ein bloßes Label. Er kann nicht erklären, warum negative Pflichten stärker sein sollten als positive. Das leistet allein das gütertheoretische Argument. Zweitens ist der Vorschlag terminologisch verwirrend, da sowohl normativ verstandene negative und positive Pflichten als auch handlungstheoretisch verstandene negative und positive Pflichten nun in der Theorie herumgeistern, die sich keinesfalls auf dasselbe beziehen. Aus diesen Gründen scheint es plausibler, bei starken Pflichten von Gerechtigkeitspflichten und bei schwachen Pflichten von Wohltätigkeitspflichten zu sprechen, und die Terminologie positiv und negativ für die handlungstheoretische Unterscheidung zu reservieren. Es liegt allerdings nahe, auch Pflichten, die sich aus Versprechen und aus Verträgen ergeben, zu den Gerechtigkeitspflichten zu zählen, selbst wenn sie sich nicht auf lebensnotwendige Güter beziehen. Das bringt uns zusätzlich den Vorteil, dass Gerechtigkeitspflichten auch diejenigen Pflichten aus Versprechen und Verträgen umfassen, die allein gütertheoretisch betrachtet nicht besonders stark wären, denen aber aufgrund eingegangener Verbindlichkeiten ein besonderer normativer Status zukommt. Allerdings stellt sich schon hier die Frage nach einer Präzisierung der Gütertheorie. Denn wenn sich ernst zu nehmende Gerechtigkeitspflichten nur auf sehr grundlegende Güter wie den Erhalt des Lebens beziehen würden, dann wäre nicht zu erklären, warum das Einhalten von Verträgen und Versprechen auch zu den Gerechtigkeitspflichten zählen soll. Alan Gewirth hat eine differenzierte Gütertheorie entwickelt, die zwischen drei Arten von Grundgütern unterscheidet, die für den Erhalt der Handlungsfähigkeit notwendig sind. Da die Handlungsfähigkeit als Voraussetzung unserer Verfolgung von Zwecken ein notwendiges Gut ist, haben wir, so die Argumentation von Gewirth, ein notwendiges Interesse daran, dass die Bedingungen dieser Handlungsfähigkeit, Freiheit und Wohlergehen, geschützt werden. Seine Idee ist, dass wir ein Recht auf die notwendigen Güter der Freiheit und des Wohlergehens haben. Zunächst mag es genügen, sich den Vorschlag zu verdeutlichen, dass wir Pflichten, die sich auf den Erhalt, die Gewährleistung oder Förderung bestimmter grundlegender Formen menschlichen Wohlergehens richten, als Gerechtigkeitspflichten bezeichnen können. Dabei soll der Terminus Gerechtigkeitspflicht zweierlei zum Ausdruck bringen. Erstens geht es um das, was wir einander als Menschen schulden (vgl. Gewirth 2007, 221). Zweitens geht es um starke Pflichten, denen moralische Rechte
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Prioritätsthese
anderer korrespondieren (vgl. ebd., 219). Behauptet wird, dass es drei Dimensionen menschlichen Wohlergehens gibt, denen jeweils bestimmte Rechtsgüter entsprechen. Nach Gewirth (2007, 222) lassen sich folgende Formen des Wohlergehens unterscheiden: Wohlergehensform
Interpretation
Rechtsgut
Basic well being
„having the elemental abilities and conditions that are needed for any purposive action at all“
life, physical integrity, mental equilibrium
Non-substractive well-being
„having the abilities and conditions that are needed in order to maintain undiminished one’s level of purposefulfilment“
not being lied to, not having promises to oneself broken
Additive well-being
„having the conditions and abilities that are needed for increasing one’s level of purpose-fulfilment“
Education, self-esteem, and other conditions of making progress in one’s abilities of agency
Tabelle 6: Formen des Wohlergehens nach Gewirth
Diese Rechtsgüter muss jeder rational Handelnde für sich beanspruchen. Er muss auch ein Recht auf sie beanspruchen, das allen anderen korrespondierende Pflichten auferlegt. Diese Pflichten können positiv und negativ sein. Gewirth ist also ein Vertreter der These, dass Gerechtigkeitspflichten handlungstheoretisch positiv und negativ sein können. Worauf es ankommt, ist der Schutz des Rechtsgutes. So argumentiert, wie wir bereits gesehen haben, auch Henry Shue (1996). Wichtig für uns ist an dieser Stelle, dass die hier illustrierte gütertheoretische Unterscheidung von Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten nicht den vermeintlichen normativen Implikationen der handlungstheoretischen Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten entspricht. Das heißt: Es kann starke positive Gerechtigkeitspflichten geben, die sich auf die Bereitstellung, den Schutz oder den Erhalt grundlegender Güter beziehen. Alle vier Unterscheidungsmöglichkeiten von positiven und negativen Pflichten haben ein gewisses Maß an Plausibilität. Eine oder eine meist implizite und unerläuterte Kombination von ihnen liegt vielen bekannten Positionen zugrunde. Ich möchte hier eine möglichst kohärente Verbindung aus allen vier Modellen vorschlagen. Dazu müssen wir zunächst die grundlegend plausible handlungstheoretische Unterscheidung beibehalten. Um innerhalb der Pflichten eine Priorität festlegen zu können, brauchen wir allerdings die gütertheoretische Unter-
Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten
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scheidung. Es ist weiterhin nicht naheliegend, hier von negativen und positiven Pflichten zu sprechen, da dies mit der handlungstheoretischen Verwendungsweise der Begriffe teilweise inkompatibel ist. Ich möchte deswegen dort, wo grundlegende Güter im Sinne von Gewirth betroffen sind, von Gerechtigkeitspflichten sprechen. Der Terminus scheint mir deswegen treffend, weil wir die Erfüllung dieser Pflichten anderen schulden, einfach aufgrund unseres Menschseins. Sie zu erfüllen, kann sowohl Handlungen als auch Unterlassungen fordern. Sie können ferner sowohl durch Handeln als auch durch Unterlassen verletzt werden. Ferner können sie sowohl verlangen, jemanden nicht schlechter zu stellen als auch, jemanden besser zu stellen. Relevant wird hier dann allerdings die gütertheoretische Frage, ob grundlegende oder andere Güter betroffen sind. Mit dem Begriff der Schädigung verhält es sich schwieriger. Dort, wo wir grundlegende Güter wegnehmen oder nicht bereitstellen, obwohl wir dazu eine positive Pflicht haben, schädigen wir andere. Allerdings ist die Schädigung durch Verletzung positiver und durch Verletzung negativer Pflichten nicht deckungsgleich auf diesen Bereich der Grundgüter beschränkt. Denn wir können offensichtlich jemanden schädigen, dem wir die geliehenen 100 Euro nicht zurückgeben, auch wenn er das Geld nicht notwendig braucht. Umgekehrt wird unter normalen Umständen niemand geschädigt, dem wir 100 Euro nicht schenken, wenn er diese nicht notwendig braucht. Doch dazu gibt es eben auch keine Pflicht.
2.7 Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten Was ich bis hierhin gezeigt zu haben glaube, ist, dass die handlungstheoretische Unterscheidung von positiven Pflichten und negativen Pflichten nicht aus sich heraus irgendeinen normativen Vorrang generieren kann. Pogges Idee war dagegen, die Unterscheidung gleich schon normativ aufzuladen. Das führt dann dazu, dass die von der handlungstheoretischen Unterscheidung abgekoppelte Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten nicht mehr trennscharf ist. Dadurch gerät auch ein Problem aus dem Blick, das tatsächlich mit positiven Pflichten verbunden ist: das Überforderungsproblem. Dieses bringt Dieter Birnbacher sehr gut auf den Punkt, indem er innerhalb verschiedener handlungstheoretisch bestimmter positiver Pflichten verschiedene Stufen der Heteronomie beobachtet. Birnbacher formuliert dort eine Begründung für den problematischen Status positiver Pflichten, wo Pogge einfach von einer Priorität negativer Pflichten ausgeht. Handlungspflichten sind, so Birnbachers Argument, mit Kosten für den Akteur verbunden (vgl. Kapitel 2.1). Diese wird er umso leichter auf sich nehmen, je mehr er selbst über ihr Zustandekommen entscheiden kann. Deshalb entspreche der großen Reichweite der Nächstenliebe bzw. des Mitleids deren einge-
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Prioritätsthese
schränkte Rigorosität (vgl. Birnbacher 1995, 282). Sie ist als allgemeine Wohltätigkeit auf Stufe 6, der letzten Verbindlichkeitsstufe positiver Pflichten, anzusiedeln. Eine Gleichstellung von Handlungs- und Unterlassungspflichten würde den Akteur „zwangsläufig überfordern“ (ebd.). Doch daraus folgt nicht, dass Handlungspflichten immer schwächer sind als Unterlassungspflichten. Natürlich darf man fremdes Eigentum beschädigen, um ein Kind zu retten, wenn eine Rettung anders nicht möglich ist (vgl. dazu Kapitel 3.4). Dieses gütertheoretische Argument lässt sich auch gegen Pogges Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten anführen. Die Pointe ist, dass es keinen Sinn hat, einfach alle auf eigenem Vorverhalten beruhenden Pflichten als negativ und damit vorrangig zu bezeichnen. Erstens ist nicht jede Verletzung eines Versprechens gleich eine Schädigung. Außerdem hat nicht jede als Schädigung zu interpretierende Verletzung von negativen Pflichten Vorrang vor der Erfüllung positiver Pflichten. Hier ist wiederum der Fall einschlägig, in dem wir das Eigentum Dritter beschädigen dürfen, um ein Kind zu retten. Pogge würde jetzt sagen, dass der Vorrang negativer Pflichten bloß ceteris paribus gilt. Die Pflicht, ein Kind zu retten, das wir selber in den Teich gestoßen haben, wäre stärker als die, ein Kind zu retten, das ein anderer hineingestoßen hat. Meine Antwort darauf lautet: Dies ist nur relevant, wenn wir vor der Frage stehen, welche von zwei (oder mehreren) Personen das Kind retten soll. Dann geht es um eine gerechte Lastenverteilung, die dem Verursacherprinzip folgt. Bin ich mit einem Kind alleine, muss ich das Kind auf jeden Fall retten, da reicht schon die allgemeine positive Nothilfepflicht hin. Ich brauche keine Kompensationspflicht, um das Kind retten zu müssen. Deshalb glaube ich trotz Birnbachers Argumentation, die grundsätzlich überzeugend ist, dass wir an der gütertheoretischen Unterscheidung der Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten festhalten können. Wir müssen allerdings genau bestimmen, wer für welche Leistungen zuständig ist, damit sich keine moralische Überforderung ergibt. Dazu darf man nicht einfach alle positiven Pflichten auf Stufe 6, der letzten Verbindlichkeitsstufe, ansiedeln, wie Pogge das suggeriert. Vielmehr gibt es verschiedene Arten von positiven Pflichten und verschiedene Arten von Zuständigkeiten, die auf faire Weise zugeteilt werden müssen. Mein terminologischer Vorschlag lautet: Nichtschädigungspflichten sind Gerechtigkeitspflichten, die sich dadurch auszeichnen, dass wir sie anderen schulden. Wohltätigkeitspflichten sind Tugendpflichten, deren Erfüllung wir anderen nicht schulden. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung vertrete ich die These, dass es Handlungspflichten gibt, die Gerechtigkeitspflichten sind, und Unterlassungspflichten, die Wohltätigkeitspflichten sind, und umgekehrt. Ferner gibt es Gerechtigkeitspflichten, die wir anderen aufgrund von Verträgen (z. B. die Aufsichtspflicht als Bademeister) oder Vorleistungen schulden
Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten
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(Pflichten gegenüber den eigenen Eltern), sowie Gerechtigkeitspflichten, die wir anderen bloß aufgrund ihres Menschseins schulden (z. B. Nothilfepflichten). Es ist nicht einzusehen, warum wir nicht auch Gerechtigkeitspflichten haben sollten, unseren zumutbaren Anteil daran zu leisten, dass jeder auf einem Subsistenzminimum leben kann. Gerade die Bindung der Abstufung von Handlungspflichten an Kosten für den Akteur ist nicht unbedingt mit ihrer zunehmenden Heteronomie verbunden, wie Birnbacher suggeriert. Die Kosten für die Rettung eines Kindes in Singers Teichfall können zum Beispiel geringer sein als die Kosten für die Übernahme der Wehrpflicht. Und die Kosten für einen institutionell organisierten Beitrag zur Armutsbekämpfung von 1% des Jahresgehalts wären weitaus geringer als die Kosten individueller Wohltätigkeit mit demselben Effekt.37
2.7.1 Drei Arten von positiven Pflichten Aus dem bisher Erarbeiteten ergibt sich folgende gütertheoretische Präzisierung der baseline für Schädigung: Wer anderen grundlegende Güter wegnimmt oder sie nicht damit ausstattet, obwohl es zumutbar wäre und er zuständig ist, schädigt. Wer andere mit weiteren Gütern ausstattet (ohne durch Vorleistungen wie Versprechen oder Verträge dazu verpflichtet zu sein), tut wohl. Wir können folgenden Zwischenstand festhalten: Erstens gibt es mindestens drei Arten von positiven Pflichten: Fürsorge- und Garantenpflichten, Nothilfepflichten und Wohltätigkeitspflichten. Fürsorgepflichten sind vorverhaltensabhängig und richten sich auf Nahestehende. Die stärksten Fürsorgepflichten haben Eltern gegenüber den eigenen Kindern.38 Denn sie
37 Wir könnten uns auch für unseren individuellen Beitrag zur Armutsbekämpfung an dem Anteil orientieren, den wir hätten, wenn auch alle anderen ihre Armutsbekämpfungspflicht erfüllen würden – so bliebe dieser Beitrag zumutbar. „How much should we contribute to such reform and protection efforts? I would think: as much as would be necessary to eradicate the harms if others similarly placed made analogous contributions (regardless of what they actually contribute). Thus, if 1 per cent of the collective income of the citizens of the hight-income countries were sufficient to eradicate world poverty within a few years […], then we citizens of these countries should prevail upon our governments to contribute 1 per cent of our national income or else should contribute individually about 1 percent of our incomes, if we can, or make some equivalent non-monetary contribution“ (Pogge 2002 b, 245, FN 246; vgl. Parfit 1984 und Murphy 2003). 38 Deswegen wird bei Vernachlässigung der Fürsorgepflicht durch die Eltern eine Schädigung des Kindes moralisch und rechtlich für ebenso verwerflich gehalten wie eine aktive Schädigung (vgl. Birnbacher 1995, 21).
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haben diese ohne deren Zustimmung in die Welt gesetzt (Höffe 1999, 78; vgl. Höffe 1996, 210). Deswegen sind die Pflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern stärker als die Pflichten von Kindern gegenüber ihren Eltern. Ferner kann es zu diesen natürlichen Fürsorgepflichten analoge Pflichten geben, etwa wenn man ein Kind adoptiert. Wichtig für unsere Untersuchung ist, dass diese Fürsorgepflichten nicht mit Nothilfepflichten zu verwechseln sind. Denn Nothilfepflichten haben wir auch vorverhaltensunabhängig gegenüber Fremden. Allerdings können wir bei akuten Notlagen nur Soforthilfe leisten, wenn wir von der Notlage wissen und effizient gegen sie vorgehen können. Von Nothilfepflichten zu unterscheiden sind ferner Wohltätigkeitspflichten. Diese richten sich auf die allgemeine Beförderung fremder Glückseligkeit. Die Wohltätigkeitspflichten decken erstens einen Bereich ab, der analog zu dem Bereich ist, den wir im ersten Kapitel der Handlungssupererogation zugeordnet hatten. Hier liegt, wenn überhaupt, jedenfalls keine strenge, erzwingbare Pflicht vor. Die Frage ist hier, ob der Bereich von Freundlichkeiten und allgemeiner Hilfsbereitschaft, wie in Feinbergs Streichholzbeispiel, durch das Konzept der Supererogation oder durch die Kantische Alternative der Tugendpflicht besser beschrieben wird. Dabei hat das Kantische Konzept der Tugendpflicht sicherlich den Vorteil, dass es deutlich macht, warum entsprechende Handlungen moralisch gut und entsprechend anzustreben sind. Gleichwohl haben bestimmte andere keinen Anspruch auf ein entsprechendes Verhalten im Sinne eines einklagbaren Rechts. Das ist aber gleichzeitig auch das Problem, wenn man zweitens unter Wohltätigkeitspflichten auch Pflichten fasst, denen zu helfen, denen notwendige Güter fehlen, für die wir aber nicht klarerweise zuständig sind, wie eben im Fall von Urmsons zweitem Arzt, der sich freiwillig in ein Krisengebiet begibt, um zu helfen. Wohltätigkeit scheint auch einen Bereich abzudecken, der in Richtung Heiligensupererogation geht. Während der Paradefall für Heiligensupererogation, Mutter Theresa, ihr ganzes Leben den Armen widmet(e), ist das Maß, in dem die meisten Menschen, wenn überhaupt, etwa Geld spenden, durchaus zumutbar. Allerdings scheint nicht klar, wer ein Recht hat, von wem Hilfe einzufordern, wenn es sehr viele gibt, die objektiv bedürftig sind. Das sind allerdings zwei Aspekte des klassischen Wohltätigkeitskonzepts, die wir auseinander halten sollten. Einerseits geht es um eine Steigerung des Wohlergehens anderer. Diese Steigerung des Wohlergehens ist, wie ich hier vorschlage, nicht unbedingt notwendig. Dieser Aspekt rechtfertigt es, gütertheoretisch betrachtet, die entsprechende Pflicht als schwach (d. h. ohne korrespondierendes Recht) oder entsprechende Handlungen als supererogatorisch zu bezeichnen. Das unterscheidet Wohltätigkeit von Nothilfe, denn bei der Nothilfe geht es darum, etwas Notwendiges für den Empfänger der Hilfe bereitzustellen,
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sodass ein Normalstandard seines Wohlergehens bzw. eine Befriedigung seiner objektiven Bedürfnisse erreicht wird. Wichtig ist, dass nach dem Empfang von Nothilfe keine Besserstellung im Vergleich zu einer baseline des Notwendigen stattfindet. Das Kind aus Singers Teichbeispiel lebt nach der Rettung vor dem Ertrinken einfach weiter wie vorher. Hier wird der Status quo ante reetabliert. Es bekommt nicht noch ein Fahrrad hinzu, das sein Wohlergehen steigert, da es sich jetzt in spannenderer und erfreulicherer Weise körperlich betätigen kann, als wenn es immer nur zu Fuß herumlaufen muss. Andererseits werden unter das klassische Wohltätigkeitskonzept Pflichten gefasst, die sich darauf beziehen, notwendige Güter bereitzustellen. Die Wohltätigkeitspflichten, die sich auf notwendige Güter beziehen, können dann aus dreierlei Gründen als schwach verstanden werden. Einmal kann man behaupten, dass einfach aus pragmatischen Gründen nicht klar ist, wer wem Hilfe leisten muss.39 Zweitens kann man den Eindruck gewinnen, dass Armut ein Problem eines niedrigen Lebensstandards ist. Nun geht es bei der Hilfe für die Armen nicht, wie bei der Nothilfe, darum, den Status quo ante wiederherzustellen, sondern darum, den Status quo zu verbessern. Und diese Verbesserung wird dann als Steigerung des Wohlergehens interpretiert, auf die das Gegenüber keinen Anspruch im Sinne eines Rechts hat. Und das ist, wie die hier vorgetragene gütertheoretische Argumentation in Kapitel 1 und 2, wenn sie überzeugend ist, gezeigt hat, unplausibel. Drittens kann man behaupten, dass die unter gravierender Armut Leidenden wohl einen Anspruch auf Hilfe haben, dass sich dieser allerdings zunächst gegen ihre Verwandten und Mitbürger richtet und wir daher für die Hilfe nicht zuständig sind. Wir können also dadurch zu Wohltätern werden, dass wir jenseits dessen etwas tun, wofür wir zuständig sind. Mit diesen Aspekten werden wir uns in Kapitel 3.1 noch eingehend befassen. Zunächst ist weiterhin festzuhalten, dass wir zwischen Fürsorgepflichten, Nothilfepflichten und Wohltätigkeitspflichten unterscheiden können. Dabei ist der revisionistische Vorschlag hier, unter Wohltätigkeitspflichten einerseits diejenigen Pflichten zu fassen, die sich auf nichtnotwendige Güter beziehen. Andererseits können wir darunter diejenigen Handlungen fassen, die im Hinblick auf Zuständigkeit und Aussicht auf Erfolg unterbestimmt sind, sich aber in puncto Zumutbarkeit unterhalb der Akteurssupererogation bewegen:
39 Angesichts des unübersichtlichen Verhältnisses von Rechtsträgern und Pflichtenträgern entscheidet sich Markus Stepanians, nicht nur von unvollkommenen Pflichten zu sprechen, wie die Kantianerinnen O’Neill (1996) und Pauer-Studer (2009), sondern von den „unvollkommenen Rechte[n] Fremder“ (Hinsch/Stepanians 2005).
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W1-Wohltätigkeitspflichten sind Pflichten, die sich auf die Bereitstellung nicht-notwendiger Güter beziehen. W2-Wohltätigkeitspflichten sind Pflichten, die sich auf die Bereitstellung notwendiger Güter beziehen und gleichzeitig im Hinblick auf Zuständigkeit und Aussicht auf Erfolg unterbestimmt sind, deren Ausführung aber die Zumutbarkeitsgrenze nicht überschreitet.
Dabei entspricht der Bereich, auf den sich W1 bezieht, dem der Handlungssupererogation. Ob man hier besser von supererogatorischen Handlungen oder von schwachen Pflichten spricht, müssen wir hier nicht entscheiden. Allerdings entspricht W2 nicht dem Bereich, auf den sich die Akteurssupererogation bezieht. Vielmehr deckt W2 den Bereich ab, in dem wir etwa Geld für die von gravierender Armut Betroffenen spenden. Diese Leistung ist zumutbar, aber die Zuständigkeit einzelner ist nicht so klar bestimmbar wie in Singers Teichfall. Im Teichfall geht es nicht um eine Wohltätigkeitspflicht, sondern um eine Nothilfepflicht (zu den Unterschieden zwischen dem Teichfall und dem Armutsfall vgl. unten, Kapitel 3.1 bis 3.7). Wenn man diesem Vorschlag folgt, ergibt sich erstens, dass nicht alle positiven Pflichten schwache Wohltätigkeitspflichten sind. Starke und schwache Pflichten unterscheiden sich dadurch, dass starke Pflichten sowohl auf notwendige Güter bezogen, als auch bestimmt sind (im Hinblick auf Zuständigkeit und Aussicht auf Erfolg). Schwache Pflichten dagegen sind entweder auf nichtnotwendige Güter bezogen (wie W1-Wohltätigkeitspflichten bzw. supererogatorische Handlungen) oder auf notwendige Güter bezogen, aber unterbestimmt (wie W2Wohltätigkeitspflichten). In diesem Modell sind eben die positiven Pflichten stark, die sich auf den Erhalt oder die Bereitstellung von notwendigen Gütern richten und bei denen eine klare Zuständigkeit des Akteurs, sowie eine eindeutige Handlungsoption (Aussicht auf Erfolg) besteht. Zweitens können wir festhalten, dass innerhalb der hier entwickelten gütertheoretischen Betrachtungsweise positive Pflichten nicht generell schwächer sind als negative Pflichten. Vielmehr gibt es starke positive Pflichten, die sich auf die Sicherung grundlegender Güter beziehen. Wenn wir, wie hier vorgeschlagen, die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten handlungstheoretisch verstehen, dann ergibt sich aus ihr keine Priorisierung negativer Pflichten. Vielmehr liegt es nahe, Priorisierungen gütertheoretisch vorzunehmen. In Konfliktfällen können dann bestimmte positive Pflichten sogar stärker sein als bestimmte negative Pflichten. So darf man etwa fremdes Eigentum beschädigen, um jemandem das Leben zu retten. Drittens ergibt sich daraus, dass Gerechtigkeitspflichten, verstanden als starke Pflichten, deren Erfüllung wir einander schulden, negativ und positiv sein können. Ich knüpfe hier an die vor allem in der anglo-amerikanischen Debatte verbreitete
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Verwendung des Terminus Gerechtigkeitspflichten an.40 Dabei wird davon ausgegangen, dass Gerechtigkeitspflichten Rechte korrespondieren. Ferner ist ein Verstoß gegen eine Gerechtigkeitspflicht ein Unrecht. Unterschieden wird zwischen starken Gerechtigkeitspflichten mit korrespondierenden Rechten und schwachen Wohltätigkeitspflichten ohne korrespondierende Rechte. Wenn wir, was ich hier vorschlage, diese Terminologie übernehmen, dann haben wir, wie meine Argumentation gezeigt hat, gute Gründe, bestimmte positive Pflichten aus dem Bereich der Wohltätigkeit herauszulösen und sie in den Bereich der Gerechtigkeitspflichten hineinzunehmen. Das erscheint terminologisch sinnvoller als etwa der Alternativvorschlag, zwischen (als normativ stark verstandenen) negativen Pflichten und (als normativ schwach verstandenen) positiven Pflichten eine Trennlinie der Verbindlichkeit zu ziehen. Vielmehr können wir das naheliegende handlungstheoretische Verständnis positiver und negativer Pflichten beibehalten, können allerdings die Frage der hohen oder niedrigen Verbindlichkeit von dort aus nicht beantworten. Stattdessen muss diese Frage primär gütertheoretisch beantwortet werden. Geht es um notwendige Güter, liegt es nahe, dass wir es mit Gerechtigkeitspflichten zu tun haben, geht es um nichtnotwendige Güter, deren Bereitstellung wir anderen nicht vorverhaltensabhängig schulden, könnten wir es mit Wohltätigkeitspflichten zu tun haben. Dieser Vorschlag grenzt den Bereich der Wohltätigkeit in Abweichung von traditionellen Wohltätigkeitstheorien massiv ein. Echte Wohltätigkeitspflichten sind der hier vorgetragenen Position zufolge insbesondere diejenigen Pflichten, die sich darauf beziehen, das Wohlergehen anderer dort zu steigern, wo diese gerade keinen Anspruch darauf geltend machen können. Es sind vorverhaltensunabhängige Pflichten, die sich analog zur Handlungssupererogation auf die Bereitstellung nichtnotwendiger Güter beziehen. Was wir noch klären müssen, ist, ob sich diese Pflichten auch auf die Bereitstellung notwendiger Güter in Situationen beziehen, in denen a) analog zur Akteurssupererogation die Bereitstellung dieser Güter für den Akteur unzumutbar ist, oder b) der Akteur nicht für die Bereitstellung der Güter zuständig ist (vgl. Kapitel 3.1 bis 3.3). Klar ist bis jetzt, dass davon vorverhaltensabhängige positive Pflichten, wie Fürsorgepflichten, und Pflichten, die sich aus Verträgen und Versprechen ergeben, zu unterscheiden sind. Diese Pflichten sind nach dem hier vorgetragenen Vorschlag Gerechtigkeitspflichten. Die umstrittene, hier vorgeschlagene Kategorie von vorverhaltensunabhängigen positiven Gerechtig-
40 Mill (2006, Kapitel 5), Rawls (1971), Pogge (2002 b), O’Neill (1996) u.v.m. Gewirth spricht von „perfect, stringent, and in principle enforceable duties of justice“ als menschenrechtskorrelativen Pflichten (Gewirth 2007, 219). Dabei geht es darum, was Menschen einander schulden (vgl. ebd., 221).
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keitspflichten, sofern notwendige Güter beim Empfänger betroffen sind, wird weiter zu rechtfertigen sein. Ferner wird in Kapitel 3 damit umzugehen sein, wie die hier entwickelte gütertheoretische Position durch die in Kapitel 1.7 entwickelten einschränkenden Kriterien auf der Geberseite (Zuständigkeit, Zumutbarkeit, Zulässigkeit, Aussicht auf Erfolg) dem Überforderungseinwand entgehen kann.
2.7.2 Nothilfe als positive Gerechtigkeitspflicht? Sehen wir uns zunächst die Unterscheidung von Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten nochmals genauer an. Sie entstammt der anglo-amerikanischen Tradition und geht insbesondere auf das folgende, auch von Urmson zitierte Diktum Mills zurück: „Pflicht ist etwas, das von jemandem erzwungen werden kann, so, wie man die Bezahlung einer Schuld erzwingt“ (Mill 2006, 145, 147; vgl. Urmson 1958, 208). Das, wozu wir verpflichtet sind, sind wir anderen entsprechend schuldig. In der deutschsprachigen Debatte wird diese Terminologie vor allem von Otfried Höffe verwendet. Er unterscheidet zwischen einer „geschuldete[n] Sozialmoral“ (Höffe 2001, 28) und einem darüber hinaus gehenden Bereich der Wohltätigkeit. Entsprechend decke die Gerechtigkeit, ebenso wie bei Mill, nicht den gesamten Bereich der Moral ab, sondern nur „den geschuldeten Teil: die so genannten Rechtspflichten bzw. die Rechtsmoral“ (ebd., 29; vgl. O’Neill 1996, 181 f.). Mills Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs41 findet sich im Kapitel V der Schrift Utilitarismus. Wichtig ist für uns im Folgenden, dass die Plausibilität der Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs, wie Mill sie an dieser Stelle vornimmt, nicht von utilitaristischen Annahmen abhängig ist. Mill setzt sich zwar das Beweisziel, uns davon zu überzeugen, dass Gerechtigkeit und Nützlichkeit keine Gegensätze sind. Doch dazu verwendet er einen sehr weiten Begriff von Nützlichkeit, der einfach auf der Annahme beruht, dass Rechte dazu da sind, grundlegende Interessen an Freiheit und Sicherheit zu schützen, die man bei jedem Menschen voraussetzen kann. Von einer Nutzenmaximierung ist an keiner Stelle die Rede. Vielmehr geht es darum, einen Bereich der Gerechtigkeit, in dem es um Rechte und Pflichten geht, vom allgemeinen Bereich des moralischen Handelns abzugrenzen. Bei der Abgrenzung des Bereichs der Gerechtigkeit von einem weniger verbindlichen Bereich der Wohltätigkeit wird auf moralische Gefühle rekurriert:
41 Zur Interpretation vgl. Rinderle (2006).
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Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Dinge, von denen wir zwar wünschen, dass die Menschen sie tun und wofür wir sie schätzen und bewundern und, wenn sie sie nicht tun, vielleicht verachten, von denen wir aber dennoch sagen, dass sie nicht verpflichtet sind, sie zu tun. Dies sind keine eigentlichen moralischen Pflichten: Wir tadeln niemanden, der sie nicht tut, d. h., wir glauben nicht, dass sie einen Grund zur Bestrafung darstellen (Mill 2006, 147).42
Unsere Frage ist, ob Mills Ansatz hilfreich ist, um den umstrittenen Status vorleistungsunabhängiger positiver Pflichten zu verstehen. Zunächst scheint es „allen Formen der Pflicht eigentümlich, dass eine Person zu ihrer Erfüllung rechtmäßig gezwungen werden kann“ (ebd., 145). Nun kommen wir schon, wenn wir die Frage empirisch betrachten, auf eine Art Pattsituation: Wie schon erwähnt, stellt die unterlassene Hilfeleistung in den meisten europäischen Ländern einen Straftatbestand dar, wohingegen England, die USA und Australien eine solche Sanktionierung unterlassener Hilfeleistung nicht in ihre positiven Gesetze mit aufgenommen haben. Die Frage, die uns hier interessiert, ist im Anschluss an Mill, welche Regelverstöße ungerechte sind.43 Auf sie reagieren wir mit Vergeltungswunsch bzw., um mit Höffe oder Tugendhat zu sprechen, mit Empörung (vgl. Höffe 2001, 30). Wenn wir mit Mill danach fragen, welche Regelverstöße ungerecht sind, kommen wir auf folgende fünf Kriterien: (1) Legal rights: Es ist ungerecht, die „gesetzlich verbürgten Rechte einer Person“ zu verletzen (Mill 2006, 131). Mill nennt hier „persönliche Freiheit“, „Eigentum“ und andere Sachen, „die ihm kraft Gesetzes“ zustehen (ebd., 129). (2) Moral rights: Diese sind der Maßstab für die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der legalen Ordnung. Es kann auch ungerechte Gesetze geben, die sich dadurch auszeichnen, dass sie die moralischen Rechte einer Person verletzen (vgl. ebd., 133). (3) Unverdientes Gut oder Übel: Gutes soll mit Gutem, Schlechtes mit Schlechtem sanktioniert werden (vgl. ebd.).
42 Vgl. Höffe, der den Unterschied zwischen Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten an der Unterscheidung von Enttäuschung und Empörung fest macht: „Während man bei Verstößen gegen Tugendpflichten wie Mitleid, Wohltätigkeit und Großzügigkeit, auch Dankbarkeit und die Bereitschaft zu verzeihen, enttäuscht ist, regen sich bei Gerechtigkeitsverstößen Empörung und Protest. Die Anerkennung von Tugendpflichten kann man vom anderen nur erbitten und erhoffen, die der Gerechtigkeit dagegen verlangen“ (Höffe 2004, 29). 43 Dabei sind nicht alle moralischen Verstöße als ungerecht (unjust) zu werten. Wenn keine Gerechtigkeitspflichten betroffen sind, spricht Mill einfach von moralisch falschen Handlungen. „Justice implies something which it is not only right to do, and wrong not to do, but which some individual person can claim from us as his moral right“ (Mill 2006, 150). Und ein solches Recht zu verletzen, ist ungerecht.
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(4) Wortbruch: Die Nichterfüllung von Verträgen oder Versprechen gilt gemeinhin als ungerecht. Ferner gilt dies für die Enttäuschung von Erwartungen, die wir bewusst und willentlich geweckt haben (vgl. ebd., 135). (5) Parteilichkeit und Begünstigungen sind ungerecht, wenn sie unzulässig sind: wenn sie gegen die Rechte einer Person verstoßen (vgl. ebd., 136 f.).
Was die Genese des Begriffs Gerechtigkeit betrifft, so hält Mill die erste Dimension der Gerechtigkeit, die Übereinstimmung mit dem „positiven Recht oder mit seiner Vorform, der herkömmlichen Sitte“ für zentral (ebd., 139; vgl. 141). Gleichwohl ist das wichtigste normative Kriterium zur Beurteilung der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit eines Gesetzes, einer Konvention oder einer individuellen Verhaltensweise das zweite Kriterium, das moralische Recht. Wenn es verletzt wird, richtet sich „das Gefühl der Ungerechtigkeit“ auch gegen ungerechte Gesetze, die gelten, aber nicht gelten sollten (ebd., 143). Ferner hängt das Kriterium (5) der Unparteilichkeit direkt vom moralischen Recht ab, denn unparteilich muss man nur dort behandelt werden, wo ein Recht im Spiel ist, das durch Parteilichkeit verletzt würde. Die Verdientheit von Gut oder Übel (3) steht ebenfalls im Zusammenhang mit moralischen Rechten. Hier geht es um gerechte Strafe für Verletzungen von moralischen Rechten und gerechten Lohn für Verdienste. Die Einhaltung von Verträgen gehört zu den Rechtspflichten, während die Einhaltung von Versprechen, wie wir schon gesehen haben, zwar in den Bereich der Gerechtigkeit, aber nicht in den Bereich des positiven Rechts fällt.44 Hier ist die Vorstellung von einem moralischen Recht abermals zentral. Wenn Peter mir verspricht, morgen um 13 Uhr mit mir essen zu gehen, dann habe ich ein moralisches Recht darauf, dass er pünktlich um 13 Uhr im verabredeten Restaurant erscheint. Dieses moralische Recht ist aus offensichtlichen Gründen der Effizienz des Rechtssystems und des Schutzes der Privatsphäre kein legales Recht, dennoch wäre es in Mills Terminologie ein Unrecht, wenn Peter sein Versprechen nicht einhielte. Die Kriterien (1), (3), (4) und (5) sind von Kriterium (2), dem moralischen Recht, abhängig.
44 Wir erinnern uns daran, dass die Pflicht, Versprechen zu halten, bei Kant einen ungeklärten Status zwischen Rechtspflicht und einem Bereich, „wo kein Zwang besorgt werden darf“ (MSR 6, 220) hat. Mill orientiert sich hier einfach an der Alltagspraxis, die eine über den Bereich des positiven Rechts hinausgehende Anwendung des Gerechtigkeitsbegriffs aufweist: „Freilich lassen die Menschen den Begriff der Gerechtigkeit und die aus ihm abgeleiteten Pflichten darüber hinaus für viele Dinge gelten, für die es keine gesetzliche Regelung gibt und für die eine solche Regelung auch gar nicht wünschenswert erscheint. Niemand wünscht, dass sich die Gesetze mit allen Einzelheiten des Privatlebens befassen, und doch wird jeder zugeben, dass man sich auch im Alltagsleben als gerecht oder ungerecht erweisen kann“ (Mill 2006, 143).
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Kommen wir nun zu der uns interessierenden Frage: Können vorverhaltensunabhängige positive Leistungen, die sich auf notwendige Güter beziehen, Gegenstand von Gerechtigkeitspflichten sein? Ist die Nothilfepflicht gegenüber dem Kind in Singers Teichbeispiel als Gerechtigkeitspflicht adäquat beschreibbar? Diese Frage ist von zentraler Bedeutung, denn Höffe konfrontiert uns mit folgendem Einwand: Wegen des besonderen Ranges der Gerechtigkeit droht eine Verschiebungsgefahr, die man bewußt einsetzen kann, was auf Mißbrauch hinausläuft: Man erklärt zu einer geschuldeten Grundleistung, was in Wahrheit zum verdienstlichen Mehr gehört. Ohne Zweifel gebietet die Moral, persönlich großzügig und wohltätig zu sein; eine zwangsbefugte Gesellschaftsordnung, ein Staat, ist aber im Wesentlichen nur für Gerechtigkeit zuständig. Insbesondere die Mehrleistungen von Mitleid und Wohltätigkeit sind freiwillig zu erbringen, daher nicht zu erzwingen, sondern zu erbitten (Höffe 2001, 30).
Zur Beantwortung der Frage, ob, wie hier vorgeschlagen, Nothilfepflichten als positive Gerechtigkeitspflichten korrekt beschrieben werden können, müssen wir uns nochmals genau ansehen, was Mill unter Gerechtigkeit versteht. Klar ist jedenfalls aus der obigen Herausarbeitung eines moralischen Rechts als zentralem Kriterium für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit von Gesetzen, Institutionen und Verhaltensweisen, dass Mills Gerechtigkeitsbegriff nur, was seine Genese, nicht, was seinen Geltungsanspruch betrifft, an die Trias der positiven Rechte auf Freiheit, Leben und Eigentum anknüpft. Mill schreibt: Der Begriff der Gerechtigkeit setzt zweierlei voraus: eine Verhaltensregel und ein Gefühl als Sanktion der Regel. Das eine, die Regel, muss der ganzen Menschheit gemeinsam sein und ihrem Wohl dienen. Das andere, das Gefühl, ist der Wunsch, dass die, die gegen die Regel verstoßen, bestraft werden. Hinzu kommt die Vorstellung einer bestimmten Person, die unter dem Verstoß leidet oder (um hier den passenden Ausdruck zu verwenden) deren Rechte durch den Verstoß verletzt werden (Mill 2006, 159).
Die Verhaltensregel ist in unserem Fall die Regel der Hilfeleistung in der Not. Diese ist in der Tat „der ganzen Menschheit gemeinsam“ und dient „ihrem Wohl“. Zweitens kann man sich sehr gut vorstellen, dass die Angehörigen eines Kindes, das jemand hat ertrinken lassen, statt es zu retten, sich wünschen, die Person würde bestraft werden – oder sie sogar selbst bestrafen möchten. Dazu muss allerdings auch eine Person, die gegen die Regel verstoßen hat, in klarer Weise zu identifizieren sein. Hinzu kommt drittens auch in Singers Beispiel „die Vorstellung von einer bestimmten Person“, dem Kind, das unter einem Verstoß leiden könnte. Hat das Kind ein Recht darauf, gerettet zu werden, ist das obige zweite Gerechtigkeitskriterium des moralischen Rechts erfüllt?
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Mill führt Rechte auf begründete und anerkannte Ansprüche zurück: „Hat jemand (aus welchen Gründen auch immer) einen unserer Ansicht nach begründeten Anspruch darauf, dass ihm die Gesellschaft ein bestimmtes Gut verbürgt, dann sagen wir, dass er ein Recht darauf hat“ (ebd.). Dabei ist das Kriterium dafür, etwas in den Rang eines Rechts zu erheben, das der Nützlichkeit.45 Diese Definition ist so offen, dass sie auf ein Recht auf Nothilfe ebenso zutreffen könnte wie auf ein soziales Recht auf Unterstützung im Falle von Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Mill nennt ein zentrales Interesse an Sicherheit46, dessen Aspekte durch Rechte geschützt werden. Es geht also nicht um beliebige Interessen, die von persönlichen Präferenzen abhängen, sondern um ein allen Menschen gemeinsames Grundinteresse. Das Interesse, um das es geht, ist das Interesse an Sicherheit, in jedermanns Augen das wesentlichste unter allen Interessen. Von nahezu allen anderen irdischen Gütern lässt sich sagen, dass der eine sie braucht, der andere nicht. Viele von ihnen kann man, wenn nötig, ohne weiteres entbehren oder durch anderes ersetzen. Aber auf Sicherheit kann ein Mensch unmöglich verzichten (ebd., 161).
Bezüglich der Bestimmung des Gerechten gibt es genau so viel Dissens wie bezüglich des Nützlichen (vgl. ebd., 165). Mills These lautet nun, dass Widersprüche hinsichtlich dessen, was gerecht ist, unter Rekurs auf die Nützlichkeit aufgelöst werden können. Und das meint hier: unter Rekurs auf das grundlegende menschliche Interesse an Sicherheit, das durch Rechte geschützt wird. Gerechtigkeit bezieht sich einfach auf diejenigen Regeln, die darum besonders
45 „Ein Recht zu haben bedeutet demnach, etwas zu haben, das mir die Gesellschaft schützen sollte, während ich es besitze. Wenn nun jemand fragt, warum sie das tun sollte, kann ich ihm keinen anderen Grund nennen als die allgemeine Nützlichkeit“ (Mill 2006, 161). Man muss kein Utilitarist sein, um das zu verstehen. Im Bereich, der „basic justice“ genannt wird, geht es zunächst darum, grundlegende Bedürfnisse aller zu erfüllen. Es geht um die „Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen für alle“, um eine „Grundversorgung für alle. Bedürfnisse zeigen, was wir anderen als Menschen schulden“ (Schmitz 2007, 255; vgl. Miller 1999, Krebs 2005 und Nussbaum 2006). Damit ist weder das utilitaristische Maximierungsprinzip vorausgesetzt, noch folgt aus der Annahme, dass Rechte auf grundlegenden Interessen oder Bedürfnissen beruhen, dass das Wohlergehen der Betroffenen irgendwie maximiert werden soll. 46 „Der Anspruch nimmt jene Unbedingtheit, jene scheinbare Unendlichkeit und Unvergleichbarkeit mit allen anderen Erwägungen an, auf die der Unterschied zwischen dem Gefühl von Recht und Unrecht und dem Gefühl bloßer Zuträglichkeit und Unzuträglichkeit zurückgeht. Jenes Gefühl ist so mächtig, und wir rechnen so fest damit, dasselbe Gefühl bei den anderen (die ja dasselbe Interesse haben) wiederzufinden, dass sollte zu muss und die erkannte Unentbehrlichkeit zu einer moralischen Notwendigkeit wird, die einer physikalischen Notwendigkeit vergleichbar ist und ihr an Unbedingtheit oft nicht nachsteht“ (Mill 2006, 163).
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wichtig sind und darum höhere Verbindlichkeit haben. Welche Regeln könnten das sein? Mills Antwort ist gütertheoretisch motiviert: Es sind Regeln, die „für das menschliche Wohlergehen unmittelbar bestimmend“ sind, d. h., so die hier vorgeschlagene Interpretation, Regeln, die grundlegende Güter schützen. Deswegen korrespondiert Gerechtigkeitspflichten auch ein Rechtsanspruch. Mill schreibt: Gerechtigkeit ist der Name für eine Reihe moralischer Regeln, die für das menschliche Wohlergehen unmittelbar bestimmend und deshalb unbedingter verpflichtend sind als alle anderen Regeln des praktischen Handelns: In dem Begriff, in dem wir das Wesen der Gerechtigkeitsvorstellung gefunden haben, dem eines Rechtsanspruchs eines Individuums gegenüber anderen, ist diese höhere Verbindlichkeit ausgesprochen (ebd., 177).
Die Frage ist, welche Regeln unsere grundlegenden Interessen am besten schützen. An diesen Regeln haben wir dann, wie Mill folgert, ebenfalls ein Interesse. Wir möchten, dass sie gelten, dass sie in der Regel befolgt werden, und sind bereit, die damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen auf uns zu nehmen. Diese Fragestellung ist von Ansätzen zu unterscheiden, die die normative Stärke oder Schwäche von Pflichten aus der Unterscheidung von Tun und Unterlassen bzw. von Handlungspflichten und Unterlassungspflichten ableiten wollen. Hier ist die Frage vielmehr, welche Regeln zum Schutz grundlegender Güter oder Interessen unverzichtbar sind. An solchen Regeln muss man dann auch ein Interesse haben, selbst um den Preis, nicht nur von ihnen zu profitieren (Rechte), sondern sie auch befolgen zu müssen (Pflichten). An welchen Regeln haben alle Menschen ein Interesse? Mill glaubt, es bestehe ein unverkennbares Interesse […] an der gegenseitigen Ermahnung zur Wohltätigkeit […], wenn auch in weniger hohem Maße, da manche auf die Wohltätigkeit anderer nicht angewiesen sein mögen; aber jeder hat stets ein Interesse daran, dass ihm von den anderen kein Schaden zugefügt wird (ebd., 179).
Für Mill scheinen hier sowohl Wohltätigkeit als auch Nicht-Schädigung zu unseren grundlegenden Interessen zu gehören, allerdings stuft er die Wohltätigkeit weniger stark ein. Unsere Frage ist, wie schon mehrfach betont, ob Nothilfepflichten als allgemeine Wohltätigkeitspflichten adäquat beschrieben werden. Die hier vertretene These lautet, dass dies nicht der Fall ist. Kant geht bei der Begründung von Hilfspflichten sogar über die Überlegung, dass jemand sich nicht auf Hilfe anderer angewiesen sehen könnte, hinaus. Während Mill glaubt, dass manche auf die Wohltätigkeit anderer nicht angewiesen sein könnten, betont Kant, dass wir rationalerweise davon ausgehen müssen, dass sich Fälle ereignen können, in denen wir auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Dies wird gleich an mehreren Stellen betont. In der Grund-
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legung weist Kant darauf hin, dass es „unmöglich“ sei, zu wollen, dass die Maxime, anderen in Notlagen nicht zu helfen, als allgemeines Gesetz gelte. Ein solcher Wille steht aber nur dann mit sich selbst im Widerspruch, wie Kant behauptet (GMS 4, 423), wenn man notwendigerweise wollen muss, dass man in der Not Beistand erhält. So spricht Kant davon, dass der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er anderer Liebe und Theilnehmung bedarf, und wo er, durch ein solches aus seinem eigenen Wollen entsprungenes Naturgesetz [der Nichthilfe, CM], sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde (ebd.).
Auch in § 27 der Tugendlehre geht Kant davon aus, dass der Beistand der Anderen etwas ist, was sich jeder notwendig wünscht: „Ich will jedes anderen Wohlwollen (benevolentiam) gegen mich; ich soll also auch gegen jeden Anderen wohlwollend sein“ (MST 6, § 27, 451; vgl. 6, § 30, 453). Dieses Wollen ist eine anthropologische Notwendigkeit. Die Geltung der Hilfspflicht wird von Kant letztlich anthropologisch begründet. Aus der Bedürfnisnatur des Menschen folgt, dass mit Situationen zu rechnen ist, in denen er der Hilfe anderer bedarf. Deswegen kann er die Maxime, nach der jeder bloß für sich sorgt, nicht als allgemeines Gesetz wollen. Menschen haben Hilfspflichten gegen einander, „weil sie als Mitmenschen, d. i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen, anzusehen sind“ (ebd., § 30, 453). Auch bei Kant gibt es also, wenn man so sprechen möchte, grundlegende Interessen, von denen man wollen muss, dass sie durch bestimmte moralische Regeln geschützt werden. Um wieder mit Mill zu sprechen, scheint die Verbindlichkeit bestimmter moralischer Regeln deswegen legitim, weil grundlegende Interessen durch sie geschützt werden.47 Mills Pointe ist, dass diejenigen Regeln den Rang von Gerechtigkeitspflichten haben, die für unser Wohlergehen als Menschen besonders wichtig sind. Die Trennlinie zwischen starken und schwachen Pflichten verläuft entsprechend für Mill nicht zwischen handlungstheoretisch verstandenen negativen und positiven Pflichten, sondern zwischen Gerechtigkeitspflichten und Quasi-Pflichten der Wohltätigkeit, wobei Gerechtigkeitspflichten einfach dadurch bestimmt werden, dass sie sich auf wichtige Güter beziehen und daher besonders nützlich sind:
47 Auch in Höffes Theorie des transzendentalen Tausches und sogar in Stemmers moralischem Kontraktualismus (vgl. Stemmer 2002, 200 f.) sind Nothilfepflichten starke Pflichten. Allerdings wird dabei davon ausgegangen, dass sich Notfallopfer nach einer Hilfsaktion wieder selbst versorgen können. Starke Sozialstaatlichkeitsforderungen sind aus den Theorien von Höffe und Stemmer zunächst nicht abzuleiten.
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Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Gerechtigkeit der Name für bestimmte moralische Forderungen ist, die, als Ganzes betrachtet, auf der Skala der sozialen Nützlichkeit einen höheren Platz einnehmen und deshalb in höherem Maße verpflichtend sind als alle anderen, obgleich es Fälle geben mag, in denen eine andere soziale Pflicht so sehr ins Gewicht fällt, dass sie vor allen allgemeinen Gerechtigkeitsgrundsätzen Vorrang genießt. Um jemandem das Leben zu retten, ist es unter Umständen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, die nötige Nahrung oder Arznei zu stehlen oder gewaltsam davon Besitz zu ergreifen oder den einzigen Arzt, der helfen könnte, gewaltsam zu entführen und zur Hilfeleistung zu zwingen (Mill 2006, 189).
Mill lehnt nun explizit die Idee ab, für solche Nothilfefälle davon zu sprechen, dass Wohltätigkeitspflichten ausnahmsweise Vorrang vor Gerechtigkeitspflichten genießen. Vielmehr schlägt er einen einheitlichen Sprachgebrauch vor, der gütertheoretisch fundiert ist: In einem solchen Fall sagen wir gewöhnlich nicht, dass die Gerechtigkeit einem anderen Moralprinzip weichen muss (da wir nichts Gerechtigkeit nennen, was nicht zugleich eine Tugend ist), sondern vielmehr, dass das, was im gewöhnlichen Fall gerecht ist, im besonderen Fall wegen eines anderen Prinzips nicht gerecht ist. Diese nützliche Anpassung des Sprachgebrauchs belässt der Gerechtigkeit ihren Unangreifbarkeitscharakter und bewahrt uns vor der Verlegenheit, behaupten zu müssen, es könne lobenswerte Ungerechtigkeiten geben (ebd., 191).
Warum ist „das, was im gewöhnlichen Fall gerecht ist“ (die Achtung der Eigentumsrechte anderer) „im besonderen Fall“ (wenn man jemandem nur unter Missachtung der Eigentumsrechte Dritter das Leben retten kann) ungerecht? Was ist das „andere […] Prinzip“, das den Vorrang der Lebensrettung vor dem Schutz des Eigentums rechtfertigt? Ein Blick in den englischen Text bringt hier etwas mehr Klarheit: Mill meint, dass die Gerechtigkeit nicht einem anderen Prinzip weicht, sondern dass es aufgrund dieses anderen Prinzips (der Hilfeleistung in der Not), ungerecht wäre, sich an den Buchstaben des Gesetzes zu halten, was das Eigentumsrecht betrifft.48 Das liegt daran, dass das Kriterium legal rights nicht das letztgültige Kriterium für Gerechtigkeit sein kann, dieses ist vielmehr das moralische Recht (zu dieser Position vgl. auch Horster 1993, Kapitel 6). Wenn Mills Position konsistent sein soll, dann muss er behaupten, dass die Person, deren Leben in Gefahr ist, ein moralisches Recht auf Rettung hat, das in dem von Mill diskutierten Fall impliziert, dass der Retter die Pflicht (duty) hat, „die
48 „In such cases, as we do not call anything justice which is not a virtue, we usually say, not that justice must give way to some other moral principle, but that what is just in ordinary cases is, by reason of that other principle, not just in the particular case“ (Mill 2006, 190).
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nötige Nahrung oder Arznei zu stehlen oder gewaltsam davon Besitz zu ergreifen“. Hätte die gefährdete Person dieses moralische Recht nicht, wäre unbegreiflich, wie Mill schreiben kann, dass es in diesem Fall „nicht gerecht“ ist, die Einhaltung der Eigentumsrechte zu verlangen. Alles steht oder fällt also an dieser Stelle mit der Frage, ob es plausibel ist, anzunehmen, dass es ein moralisches Recht auf die Rettung in Notlagen gibt. Entsprechende Nothilfepflichten zählen dann nicht zu den schwachen Wohltätigkeitspflichten, sondern zu den starken Gerechtigkeitspflichten, wofür hier schon in Kapitel 2.5 und 2.6 argumentiert wurde. Problematisch an Mills Theorie ist allerdings, dass die Idee des moralischen Rechts zu sehr vom berechtigten Vergeltungsgefühl abhängig gemacht wird.49 Der alternative Versuch, moralische Rechte auf die grundlegenden Interessen an Freiheit und Sicherheit zu gründen, wird von Mill nicht genau ausbuchstabiert. Es fehlt, wie Rinderle konstatiert, „eine tiefere Verwurzelung in einer Fähigkeit des freien Menschen […], einen grundsätzlichen Anspruch auf Anerkennung seiner Interessen und Ansprüche an seine Mitmenschen zu stellen“ (Rinderle 2006, 118). Zunächst muss also weiter geklärt werden, ob es überzeugend ist, angesichts starker, vorverhaltensunabhängiger positiver Gerechtigkeitspflichten von einem korrespondierenden moralischen, wenn nicht gar juridischen Recht des Hilfsempfängers zu sprechen. In Kapitel 2.8 werden wir uns darum zunächst mit einer alternativen Sichtweise befassen, die bestreitet, dass es ein Recht auf Rettung in Notlagen gibt.
2.8 Einwände gegen ein Recht auf Nothilfe Auch wenn sich Hilfspflichten, wie wir gesehen haben, in vielfacher Weise von allgemeinen Wohltätigkeitspflichten unterscheiden, könnte es sein, dass sie ebenso wie Wohltätigkeitspflichten Pflichten ohne korrespondierende Rechte sind, wie viele behaupten. Was spricht dagegen, ein Recht auf Hilfe anzunehmen? Ich werde drei Einwände gegen ein Recht auf Hilfe diskutieren und zu zeigen versuchen, dass sie nicht überzeugen. Der erste Einwand besagt, dass der Rechtsbegriff überstrapaziert wird, wenn man ihn auf ein Recht auf Nothilfe bezieht. Denn es sind viele Fälle vorstellbar,
49 Dadurch kommt ein Zirkelverdacht auf: „Wenn nämlich ein Rechtsanspruch nur darin bestehen sollte, einen guten Grund zur Bestrafung einer Rechtsverletzung zu haben, und der Grund zur Bestrafung dann in der Verletzung eines Rechts angesiedelt wird, dann gelten Rechte nur aus dem Grund, weil man Gründe hat, Verletzungen des Rechts zurückzuweisen und zu verhüten“ (Rinderle 2006, 119).
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in denen wir Nichthilfe als Rechtsverletzung interpretieren müssten und das wäre kontraintuitiv. Dieser Einwand besagt, dass es keine Rechte auf die Leistungen anderer geben kann, wenn die entsprechenden Pflichtenträger nur schwer oder gar nicht zu bestimmen sind. Er geht von der Symmetriethese aus, dass Rechte immer mit korrespondierenden Pflichten verbunden sein müssen. Daraus ergibt sich, dass dort keine Rechte sein können, wo keine Pflichtenträger bestimmbar sind. Und nun wird behauptet, dass bei Hilfspflichten keine Pflichtenträger identifizierbar seien.50 Es handle sich hier um unvollkommene im Unterschied zu vollkommenen Pflichten. Wir werden zur Überprüfung dieser These den Fall heranziehen, in dem einem ertrinkenden Kind zehn potentielle Retter gegenüber stehen. Nennen wir diesen Einwand den Unterbestimmtheitseinwand. Der zweite Einwand behauptet, dass zwischen negativen Rechten und positiven Quasi- oder Manifestrechten eine Asymmetrie bezüglich der korrespondierenden Pflichten besteht. Nur negativen Rechten, so die These von O’Neill, entsprechen universelle (negative) Pflichten. Positiven Rechten könnten nur spezielle positive Pflichten korrespondieren, die nicht gegenüber allen erfüllbar sind. Diese Asymmetrie wird dann als normative Schwäche positiver Rechte bzw. positiver Pflichten interpretiert. Diesen Einwand kann man so interpretieren, dass er nicht auf die Unterbestimmtheitsthese des ersten Einwands, sondern auf eine Überforderungsthese hinausläuft. Wenn es mehr Bedürftige gibt als potentielle Helfer, könnte es so aussehen, dass der Helfer, auch wenn er so vielen hilft, wie er kann, die Rechte derer verletzt, die er nicht rettet. Wieder wäre, so der Einwand dann analog zu Einwand 1, der Rechtsbegriff überstrapaziert worden. Wir werden dazu den Fall heranziehen, in dem ein Retter zehn ertrinkenden Kindern gegenübersteht. Diesen Einwand können wir den Überforderungseinwand nennen. Der dritte Einwand, den wir den Bedürftigkeitseinwand nennen können, besagt, dass sich Rechte darauf beziehen und auch beschränken, unsere schon vorhandene Autonomie zu schützen. Aus Hilfsbedürftigkeit folgt kein Recht auf Hilfe, sondern die Bedürftigkeit zeigt einen Autonomieverlust an, der zwar behoben werden sollte, aber dafür kein subjektives Recht in Anschlag bringen kann. Die entsprechenden Pflichten gehen auf verschiedene Handlungsgründe zurück.
50 Diese Position vertritt z. B. Onora O’Neill. „Es gibt weder ein Recht auf Solidarität noch ein Recht auf Rettung aus Gefahr. Pflicht zu Solidarität und Pflicht zu Rettung sind – ebenso wie sonstige soziale Tugenden – unvollkommene Pflichten“ (O’Neill 1996, 254; vgl. ferner Höffe 2004, 30 und Narveson 2003).
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2.8.1 Der Einwand der Manifest-Rechte 1: Unterbestimmtheit Der Einwand gegen sogenannte Manifest-Rechte ist ein Einwand, der sich auf positive Rechte, denen Leistungen anderer entsprechen, bezieht. Im Unterschied dazu werden negative Rechte, die Unterlassungen anderer erfordern, für unproblematisch gehalten.51 Die Sorge der Kritikerinnen von Manifest-Rechten ist zunächst, dass alle möglichen Ansprüche und wünschenswerten Dinge zu Rechten erklärt werden. Dagegen können wir unsere gütertheoretische Argumentation vorbringen: Nur, wenn notwendige Güter betroffen sind, besteht ein gerechtfertigter moralischer Anspruch auf Hilfe. Die zweite Sorge der Kritikerinnen ist dann, dass solche Ansprüche allerdings faktisch bedeutungslos bleiben, da keine korrespondierenden Pflichtenträger festgelegt sind. Nennen wir das die Unterbestimmtheitsthese. Nur wenn die Träger der Pflichten von den Inhabern der Rechte ermittelt werden können, sind Rechtsansprüche mehr als bloße Rhetorik. Denn nichts kann beansprucht, preisgegeben oder durchgesetzt werden, wenn nicht feststeht, wo der Anspruch angemeldet werden soll, bei wem darauf verzichtet werden kann oder bei wem er sich durchsetzen lässt (O’Neill 1996, 170).
Die Skepsis gegen die Ermittelbarkeit von korrespondierenden Pflichtenträgern wurde vor allem gegen die sogenannten Wohlfahrtsrechte in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorgebracht. Diese werden als bloße ManifestRechte, als rhetorische Gebilde, denen keine tatsächliche Wirksamkeit zukommt, kritisiert. Dabei ist die Frage, ob man diese Rechte für institutionalisierungsabhängig hält (vgl. O’Neill 1996) oder ob man generell skeptisch dagegen ist, dass sich ihre Institutionalisierung rechtfertigen lässt (vgl. Nozick 1974). Wir werden in Kapitel 3.4 und 3.8 nochmals darauf zurückkommen. Hier soll zunächst die Frage im Vordergrund stehen, ob es in Singers Teichbeispiel unplausibel ist, ein Recht des Kindes auf Rettung anzunehmen. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass das nicht der Fall ist, wäre es immer noch möglich, dass es gravierende Einwände gegen soziale Rechte gibt, falls diese von anderer Art sind als das hier zu untersuchende Recht auf Nothilfe in Singers Teichfall (vgl. Kapitel 3.6 und 3.7). Fragen wir uns also zunächst, ob es eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen negativen und positiven Rechten gibt. Rechte sind Ansprüche auf bestimmte Verhaltensweisen anderer, auf Unterlassungen oder Handlungen von
51 „On typical accounts, negative rights impose only duties of forbearance, while positive rights impose duties to perform some action(s)“ (Cohen 2004; vgl. dagegen Shue 1996 und Gewirth 1987).
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Seiten anderer. Ein Recht (im Unterschied zu einem Manifest-Recht) zu haben setzt also voraus, dass klar ist, wem gegenüber man diesen Anspruch geltend machen kann.52 O’Neill geht davon aus, dass die klassisch liberalen Freiheitsrechte dieser Bedingung genügen. Diese beziehen sich auf den Bereich der Gerechtigkeit. Nur hier ist „die Symmetrie zwischen Rechten und Pflichten“ deutlich erkennbar. Universellen Freiheitsrechten entsprechen universelle Unterlassungspflichten: Wenn A das Freiheitsrecht zur Ausführung von x hat, wird jeder die Pflicht haben, A die Ausführung von x zu gestatten (O’Neill 1996, 178).
Im Unterschied dazu setzen positive Rechte auf Leistungen allerdings, so O’Neill, spezielle Pflichtzuweisungen voraus. Sie spricht hier auch von „distributiv universelle[n] Spezialrechte[n]“, denen durch Institutionen spezielle Pflichtenträger zugewiesen werden (ebd.): Wenn A das Leistungsrecht auf x hat, müssen bestimmte Institutionen bestimmten anderen die entsprechenden Pflichten zugewiesen haben.
Die Rechte auf Sicherheit oder Unterhalt sind solche Rechte, deren Gegenstückpflichten institutionellerseits auf bestimmte Pflichtenträger verteilt werden müssen, etwa durch die Erhebung von Steuern oder durch die Bestimmung gewisser Garantenpflichten. Wie verhält es sich nun in Singers Teichbeispiel? Hier scheint keineswegs unterbestimmt, wer dem Kind helfen kann und ihm auch offensichtlich helfen soll. Der Unterbestimmtheitseinwand greift hier einfach nicht. Die Pflicht des Passanten, dem Kind zu helfen, gleicht aber auch nicht der speziellen Pflicht eines Bademeisters. Der Passant muss helfen, obwohl er keine spezielle vorverhaltensabhängige Pflicht hat. Warum sollten wir nicht folgendes Recht des Kindes formulieren können: Wenn A ein Recht auf Hilfe hat, hat jeder, der Hilfe leisten kann, die Pflicht, ihm zu helfen.
Man kann jetzt zwar sagen, dass sich das Recht auf Hilfe in einem wichtigen Punkt von einem Freiheitsrecht unterscheidet. Jeder hat laut der Formulierung des Freiheitsrechts durch O‘Neill die Pflicht, A die Ausführung von x zu ge-
52 Die Idee ist, tatsächlich einklagbare Rechte gegen Hoffnungen, Ideale und Wunschvorstellungen abzugrenzen (vgl. Cullity 2007, 55 und Griffin 2008, 25).
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statten. Unsere Formulierung des Rechts auf Nothilfe bestätigt A jedoch nur einen Rechtsanspruch gegenüber denjenigen, die ihm helfen können. Allerdings versteht man bei genauem Hinsehen nicht, worin die Pointe, dass laut der Formulierung des Freiheitsrechts jeder die Pflicht hat, A die Ausführung von x zu gestatten, eigentlich besteht. Denn ein Recht scheint genau dann relevant zu sein, wenn man den entsprechenden Rechtsanspruch gegenüber jemandem geltend machen will. Wenn also B A daran hindern will, x zu tun, hat A gegenüber B das Recht, x zu tun, d. h. von B zu verlangen, dass er ihn nicht daran hindert, x auszuführen. Angenommen, A, eine Frau aus irgendeinem nahen oder fernen Land, will von zu Hause in ein Restaurant gehen, um sich dort mit ihrer Freundin zu treffen. Nun hat ihr Mann B die Idee, dass sie lieber zu Hause bleiben sollte. Die Abwesenheit seiner Frau macht ihn nämlich nervös. Da sie nicht auf ihn hören will, hält er sie fest und sperrt sie ein. Nun hat A aber das Recht, sich frei zu bewegen, und B hat die Pflicht, sie in Ruhe zu lassen. Natürlich habe ich diese Pflicht auch, und Sie und alle anderen. Bloß scheint das für diesen Fall nicht besonders relevant, da wir weder tatsächlich die Möglichkeit haben, A daran zu hindern, aus dem Haus zu gehen, noch ein Interesse daran. Ein Nachbar könnte die Möglichkeit haben, sie daran zu hindern, aus dem Haus zu gehen, aber wenn er daran kein Interesse hat, wird er es nicht tun. Warum sollte man O’Neills Formulierung nicht folgendermaßen umformulieren dürfen: Wenn A das Freiheitsrecht zur Ausführung von x hat, wird jeder, der A daran hindern kann, x auszuführen, die Pflicht haben, A die Ausführung von x zu gestatten.
Wenn das korrekt ist, rücken Handlungspflichten und Unterlassungspflichten näher zusammen, weil beide von bestimmten Faktoren abhängen, um gleichsam relevant zu sein: dass es in der Macht des Pflichtenträgers steht, die Pflicht sowohl erfüllen als auch verletzen zu können. Nun wollen wir es uns nicht zu leicht machen. Denn eine O’Neillianerin könnte uns vor folgendes Problem stellen: Angenommen, nicht nur B, sondern auch seine neun Brüder sind in einem nahen oder fernen Land anwesend. Sie alle sind der Überzeugung, dass A lieber zu Hause bleiben sollte. Nun ist klar, dass keiner von ihnen sie aufhalten darf. Jeder von ihnen und auch alle anderen, die A hindern könnten oder wollten, haben die Pflicht, dies zu unterlassen. Alle können dieser Pflicht gleichzeitig nachkommen, indem sie A einfach in Ruhe lassen. Aber wie sieht das im Teichfall aus? Jemand könnte uns dazu herausfordern, das Beispiel abzuändern. Wie sieht es aus, wenn wir die Zahl der potentiellen Helfer erhöhen? Ist dann nicht völlig unterbestimmt, wer die Pflicht hat, das Kind zu retten?
Einwände gegen ein Recht auf Nothilfe
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Teichfall mit vielen Helfern: Ein Kind ist an einem warmen Sommermorgen in einen Park in einen Zierteich gefallen, um den zehn Erwachsene sich in gleicher Entfernung aufhalten.
Nun ergibt sich folgende Frage: Welcher der zehn Erwachsenen hat die identifizierbare Pflicht, das Kind zu retten? Denn nur, wenn wir mindestens einen ausmachen können, der die dem Recht korrespondierende Pflicht hat, das Kind zu retten, können wir den Unterbestimmtheitseinwand kontern. Aus der Literatur zum so genannten Bystander-Phänomen ist bekannt, dass sich paradoxerweise die Chance auf Rettung in Notfällen mit der Zahl der potentiellen Helfer nicht etwa erhöht, sondern drastisch verringert.53 Nun gibt es eine Reihe psychologischer Faktoren, die bei der „Lähmung“ der Bystander eine Rolle spielen können. Erstens kann es einem peinlich sein, sich hervorzuwagen. Man hat Angst, etwas falsch zu machen oder glaubt von vorneherein an eine konstruierte Situation, die der Beobachtung des eigenen Verhaltens gilt (vgl. Birnbacher 1995, 264). Nicht jedem liegt es, hier die Initiative zu übernehmen. Diese motivationalen Phänomene sind für die Praxis sehr bedeutsam, doch für unsere normativen Überlegungen sollten wir sie ausblenden. Denn es ist auch so, dass sich, z. B. bei einer kollektiven Straftat, die in Körperverletzung besteht, gruppendynamische Effekte ergeben können, die es einzelnen, weniger gewaltbereiten Gruppenmitgliedern schwer machen, sich gegen die Gruppenstimmung aufzulehnen, indem sie sich nicht beteiligen, sofern das von ihnen erwartet wird. Gangbeispiel: Die Schlägergang der fiesen Zehn ist unterwegs, um einen alten Mann zusammenzuschlagen. An der Körperverletzung beteiligen sich alle zehn Gangmitglieder.
In beiden Fällen können wir wohl kaum sagen, dass sich die Schuld mit der Anzahl der Täter auf einen Bruchteil verringert. Vielmehr liegt es nahe, in beiden Fällen jedem der Beteiligten die Schuld 1 für unterlassene Hilfeleistung zuzu-
53 Siehe Birnbacher (1995, 262 ff.). Der schockierende Paradefall für das Bystander-Phänomen ist ein Fall der unterlassenen Hilfeleistung aus den siebziger Jahren: Catherine Genovese wurde 1964 durch mehrere Messerstiche verletzt, als sie von der Nachtschicht nach Hause ging. Dies geschah in einer dicht besiedelten Gegend im New Yorker Stadtteil Queens. 38 Personen gaben zu, dass sie den Überfall oder Teile davon wahrgenommen hatten, doch keiner griff ein. Nicht einmal die Polizei wurde gerufen, bevor die Frau tot war (vgl. Stanley Milgram, Das Erleben der Großstadt: Eine psychologische Analyse, in: H.E. Lück (Hrsg.); Mitleid – Vertrauen – Verantwortung. Ergebnisse der Erforschung prosozialen Verhaltens, Stuttgart 1977, 131–144, hier: 135, zit. nach Birnbacher 1995, 263).
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weisen und nicht etwa nur 1/10. So wie im Fall der Körperverletzung jedes der zehn Gangmitglieder die Pflicht hat, den alten Mann nicht zu verprügeln, hat im Teichfall jeder der zehn Bystander die Pflicht, das Kind zu retten. Wenn eine Person ausreicht, um diese Pflicht zu erfüllen, ist es umso besser. Sobald einer diese Pflicht erfüllt hat, erlischt die Pflicht der anderen. In der Literatur zum Bystander-Phänomen wird darauf hingewiesen, dass man als Opfer einer Notlage bessere Chancen auf Hilfe bei mehreren potentiellen Helfern hat, wenn man einen potentiellen Helfer direkt anspricht. Das ist allerdings kein Argument gegen ein Recht auf Hilfe, sondern vielmehr scheint diese Beobachtung gerade die hier vorgeschlagene Position zu bestätigen. Denn der moralische Anspruch auf Hilfe scheint bei einem beliebigen der potentiellen Helfer durchaus einklagbar. Wenn wir die Sache so betrachten, dass ein moralischer Anspruch auf Hilfe gegenüber jedem der zehn potentiellen Helfer besteht, da er bei jedem von ihnen gleichsam eingefordert werden kann, dann ist der Unterbestimmtheitseinwand jedenfalls nicht plausibler als im Parallelfall des Gangbeispiels. Allerdings hat die Idee, dass wir, um von einer Rechtsverletzung sprechen zu können, ein Opfer und einen Täter brauchen, ihre Grenzen. Denn je größer und unübersichtlicher die Menge der Täter ist, desto schwieriger wird es, einzelnen für eine Rechtsverletzung ihren Teil der Verantwortung genau zuzuweisen. Je mehr Beteiligte wir in unseren Beispielen Teich und Gang hinzufügen, desto unklarer wird die moralische Verantwortungszuschreibung. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn wir auch mehrere Opfer annehmen. Deswegen wird neuerdings von Elizabeth Ashford (2007) die These vertreten, dass auch negativen Rechten unvollkommene Pflichten korrespondieren können. Das ist dann der Fall, wenn nicht klar ist, wem Verletzungen negativer Pflichten eindeutig zugerechnet werden können.54 An dieser Stelle reicht es für uns allerdings festzustellen, dass der Unterbestimmtheitseinwand in Singers Teichfall nicht greift.
54 Ashford greift zur Illustration der These, dass auch negative Pflichten unvollkommen sein können, auf ein Beispiel von Pogge zurück: „Wenn eine Fabrik fahrlässig in einer Weise die Umwelt verschmutzt, die vorhersehbar zahlreiche Tote fordert und zu schweren Gesundheitsproblemen in der lokalen Bevölkerung führt, muss der Fabrikeigentümer damit rechnen, für eine Menschenrechtsverletzung verantwortlich gemacht zu werden. Nehmen wir nun aber den Fall, dass zwei Fabriken Schadstoffe in denselben Fluss leiten, wo es zu einer chemischen Reaktion und einer schweren Verschmutzung des Flusses kommt. Für sich betrachtet würde keiner der jeweils von einer Fabrik produzierten Schadstoffe einen gravierenden Schaden erzeugen. Zusammen bilden sie aber eine tödliche Mischung, die wiederum zu zahlreichen Toten und schweren Gesundheitsproblemen der Flussanwohner führt. Unterstellen wir weiter, dass es für jeden der Fabrikbesitzer vollkommen vorhersehbar ist, wie katastrophal das Resultat sein wird, wenn sie beide den Fluß verschmutzen. Da eine solche Schädigung unstrittig als Menschenrechtsverletzung gilt, wenn sie von einer einzelnen Fabrik
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Unser Gegner kann noch einen anderen Einwand vorbringen. Er kann sagen, dass es ungerecht ist, dass der, der die Rettungspflicht ausführt, die doch anscheinend alle zehn Personen haben, die Kosten der Rettung, die nassen Kleider, alleine auf sich nehmen muss, wo andere doch auch etwas tun könnten. Der Einwand, dass die Lasten der Hilfe ungerecht verteilt sein könnten, ist aber ein anderer Einwand als der Unterbestimmtheitseinwand. Er ist durchaus ernst zu nehmen, aus ihm folgt aber nicht, dass es kein Recht auf Hilfe geben kann. Er könnte eher in die Richtung dessen gehen, was O’Neill über positive soziale Rechte sagt: Sie bedürfen der institutionellen Pflichtenallokation. Diese These gewinnt an Substanz, wenn wir uns an den in Kapitel 1.6 untersuchten klassischen Samariterfall aus der Bibel erinnern. Wir waren zu dem Ergebnis gekommen, dass die Rettung des verletzten Mannes aus dem Straßengraben nicht als supererogatorisch zu bewerten ist, die Übernahme der Kosten beim Wirt dagegen schon. Wenn das Kind nach der Lebensrettung noch ärztlich versorgt werden muss, übernimmt das in den westlichen Industriestaaten nicht der Ersthelfer, sondern ein Krankenhaus. Die Kosten dafür trägt die (gesetzliche) Krankenversicherung. Hier könnte in der Tat ein Übergang zwischen einem Recht auf Nothilfe und einem weiteren Recht auf medizinische Grundversorgung, das der institutionellen Pflichtenallokation bedarf, zu lokalisieren sein. Allerdings, und darauf kommt es an dieser Stelle an, lässt sich aus all dem kein Grund dafür gewinnen, ein Recht auf Hilfe in Singers Teichfall für unplausibel zu halten. Es ist richtig, dass eine Asymmetrie zwischen Freiheitsrechten und einem Recht auf Nothilfe darin besteht, dass im Falle von Freiheitsrechten alle betroffenen Personen ihre Pflicht gleichzeitig erfüllen können. Bei Nothilfepflichten ist das nicht der Fall. Im abgewandelten Teichfall können nicht alle gleichzeitig das Kind retten und damit gleichzeitig ihre Rettungspflicht erfüllen. Doch die Frage ist, ob das gegen die Idee, ein Recht auf Hilfe anzunehmen, spricht. Ich glaube nicht, dass das so ist. Denn so wie A gegenüber jedem der zehn Brüder ihr Recht geltend machen kann, das Haus zu verlassen, wann immer sie will, so kann das Kind gegenüber jedem der zehn potentiellen Helfer den Anspruch geltend machen, gerettet zu werden.
verursacht wird, ist nicht einzusehen, weshalb sie keine Menschenrechtsverletzung sein soll, wenn die beiden Fabriken sie gemeinsam verursachen“ (Ashford 2007, 204; vgl. Pogge 2005, 29–53). Dies gelte auch für Beispiele mit noch mehr Firmen. Die Pflichten, die den verletzten Menschenrechten entsprechen, sind hier unvollkommene Pflichten.
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2.8.2 Der Einwand der Manifest-Rechte 2: Überforderung Offensichtlich fällt der hier zur Debatte stehende Anspruch des Kindes auf Rettung in Singers Teichbeispiel zunächst nicht unter die positiven Sozialrechte, die eine institutionelle Pflichtenallokation voraussetzen (zur These der Verschiedenheit der Notlagen beim Teichfall und der Weltarmut vgl. unten, Kapitel 3.6). Für O’Neill fallen Nothilfepflichten vielmehr gar nicht in den Bereich von Pflichten, denen Rechte korrespondieren (können). Damit unterscheiden sie sich sowohl von negativen Pflichten, denen negative Rechte korrespondieren, als auch von durch institutionelle Allokation ebenso zuweisbaren wie bedingten positiven Pflichten, denen soziale Rechte korrespondieren. Sie vertritt im Anschluss an Kant die These, dass es gebotene Tugenden gibt, denen gar keine Gegenstückrechte entsprechen. Sie gehören zu den prinzipiell unvollkommenen Pflichten. O’Neill nennt hier „Ehrlichkeit und Fairneß, Wohltätigkeit und Mut“ als „universelle Pflichten ohne Rechte“ (O’Neill 1996, 179). Diese Eigenschaften fallen nicht in den Bereich der Gerechtigkeit, in dem Rechte und Pflichten direkt oder indirekt miteinander korrespondieren. Warum nicht? O’Neills Antwort ist, dass das tugendhafte Handeln nicht geschuldet ist (vgl. ebd., 181 f.). Warum sind wir dem Kind in Singers Beispiel die Hilfe nicht schuldig? O’Neills Antwort setzt voraus, was wir wissen wollen, nämlich dass es kein Recht auf Hilfe gibt. Wenn z. B. in einer Situation, in der es keine Rechte auf Hilfe gibt, Hilfsbereitschaft gegenüber anderen geboten ist, aber nicht geschuldet wird, äußert sich die Tugend der Hilfsbereitschaft in einer Lebensweise, die geprägt ist von dem Prinzip, überall dort zu helfen, wo Hilfe möglich und nötig ist, obwohl in diesem Fall laut Voraussetzung niemand ein Recht hat auf spezifische Arten der Hilfe von spezifizierten anderen. Das Prinzip der Hilfsbereitschaft würde eine Pflicht definieren, deren Äußerung nicht nur enorm variieren kann, sondern enorm variieren muss (ebd., 182).
Einen solchen Spielraum bei der Pflichtbefolgung von unvollkommenen Wohltätigkeitspflichten, wie ihn Kant und auch Mill vorsehen, kann man sich, wie Joel Feinberg vorschlägt, als Ergebnis logistischer Probleme vorstellen. Wenn die Zahl der Bedürftigen größer ist als unsere Kapazität zu helfen, dann scheint eine unvollkommene Pflicht zu entstehen. It follows from their equal worthiness and my inadequate capacity to serve them all, that none of them have a right to my help, even though I have a duty to help as many of them as I can. In short, the reason why my duty is ‘imperfect‘, lacking determinate recipients with correlative claims against me, is entirely a logistic one, a problem of coordination, that could be solved, if at all, by a cooperative scheme among similarly situated donors, defined by set rules (Feinberg 1985, 221).
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Das wäre der Fall von O’Neills speziellen Universalrechten. Sie könnten von Manifest-Rechten in Rechte umgewandelt werden, wenn Institutionen eine entsprechend effektive Pflichtenallokation durchführen würden. Doch all dies ist in Singers Teichbeispiel nicht gegeben. Es scheint völlig unangemessen, den Fall so zu beschreiben, dass wir gegenüber allen Bedürftigen eine Wohltätigkeitspflicht haben, die sich in diesem konkreten Fall als Nothilfepflicht äußert. Es scheint keineswegs optional, ob man dem Kind hilft oder eine andere Wohltat zur Erfüllung der allgemeinen Wohltätigkeitspflicht wählt – oder gar keine. Denn der zentrale Test dafür, ob wir es mit einer Gerechtigkeitspflicht zu tun haben oder nicht, scheint, wenn wir, wie in Kapitel 2.7 vorgeschlagen, in diesem Punkt Mill folgen, die Frage zu sein, ob es bei einer Pflichtverletzung einen berechtigten Grund gibt, Vergeltungsgefühl (Mill) bzw. Empörung (Höffe) zu empfinden, oder nur Enttäuschung. Auch Feinberg verwendet diesen Test. Gegenüber einer Person, die das Kind nicht rettet, würden wir uns berechtigterweise empören – und das scheint ein unschlagbarer phänomenologischer Indikator dafür, dass hier ein moralischer Anspruch verletzt wurde (Feinberg 1985, 224). Hier wiederholt sich, was uns schon in Kapitel 2.5 begegnet ist: Nothilfepflichten in konkreten Fällen als allgemeine Wohltätigkeitspflichten zu beschreiben, ist einfach nicht plausibel. Machen wir es uns wieder nicht leicht: Was tun wir, wenn wir mit einem Fall konfrontiert werden, in dem wir notwendig die Rechte anderer verletzen müssen? Singers Beispiel führt nicht zu einer Überforderung des Helfers. Doch wir können uns Beispiele vorstellen, in denen wir notwendig Rechte verletzen. Stellen wir uns zur Illustration wiederum einen abgewandelten Teichfall vor: Teichfall mit vielen Kindern: In einen Zierteich sind zehn kleine Kinder gefallen. Nur eine Person, Miriam, die sich gerade auf dem Weg zur Arbeit befindet, kann eingreifen. Sie kann unter Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen nur drei Kinder retten.
Die anderen sieben Kinder kann unsere Helferin nicht retten, so sehr sie es ehrlich will und alles dafür tut. Nun ist das Bedenken, dass unsere Helferin, wiewohl bester Absicht, die Rechte von sieben Kindern verletzt hat. Hier droht ein Dilemma: Entweder wir entscheiden uns dafür, dass keines der Kinder ein Recht auf Rettung hat. Dann scheint die entsprechende Pflicht bloß schwach und unvollkommen. Oder wir entscheiden uns dafür, dass jedes Kind gegenüber Miriam ein Recht auf Rettung hat, mit dem Ergebnis, dass unter den angegebenen Umständen die Rechte von sieben Kindern verletzt werden. Oder können wir behaupten, dass die Rettungspflicht stark ist, obwohl ihr kein Recht korrespondiert? Leider ist dieser Versuch wenig erfolgversprechend. Denn die Konsequenz wäre einfach, dass wir im Teichfall mit vielen Kindern
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sieben Mal eine starke Pflicht verletzen – was keine so große Verbesserung gegenüber der Rechtsverletzung ist. Vielmehr glaube ich, dass keine Verletzung der Rechte der sieben Kinder vorliegt, obwohl jedes der zehn Kinder gegenüber Miriam einen gerechtfertigten moralischen Anspruch auf Rettung hat. Da Sollen Können impliziert, und Miriam immer nur ein Kind – und insgesamt nur drei Kinder retten kann, ist sie zu der Zeit, während der sie diese drei helfenden Handlungen ausführt, nicht dazu in der Lage, den anderen zu helfen. Sie kann nicht und deshalb gibt es hier auch kein Sollen. Eine Rechts- oder Pflichtverletzung könnte höchstens vorliegen, wenn Miriam bei der Auswahl der drei Kinder, die sie rettet, nach illegitimen Maßstäben vorgeht. Ich bin der Meinung, dass Miriam keine Pflicht und auch kein Recht verletzt, wenn sie ihr eigenes Kind zuerst rettet. Denn hier hat sie eine zusätzliche Fürsorgepflicht. Während sie diese Pflicht ausführt, kann sie nicht gleichzeitig eine andere Pflicht ausführen, etwa Kind 2 zu retten. Sobald sie allerdings ihre Pflicht gegenüber ihrem eigenen Kind erfüllt hat und wieder einsatzfähig ist, hat sie die Pflicht, eines der anderen neun Kinder zu retten. Wenn sie nun Kind 3 aus rassistischen Gründen nicht rettet, sondern Kind 2, so ist dies kein legitimes Auswahlkriterium. Rettet sie allerdings zwei beliebige Kinder, während die anderen untergehen, so ist ihr wohl kaum etwas vorzuwerfen. Tragisch ist gleichwohl, dass sie die anderen sieben ertrinken lassen musste – und das gerade weil sie einen moralischen Anspruch auf Rettung gehabt hätten, wenn Miriam ihnen noch hätte helfen können. Was hier übrig bleibt, ist eine gewisse Asymmetrie zwischen positiven und negativen Pflichten. Sie ist aber, wie ich behaupten möchte, nicht so groß, wie es O’Neill suggeriert. Nehmen wir an, jeder Mensch hat ein Recht darauf, von Miriam nicht aktiv an Leib und Leben geschädigt, also nicht etwa in einen Teich hineingeworfen zu werden. Dann kann, so die Idee, Miriam der entsprechenden universellen negativen Pflicht gegenüber jedem anderen nachkommen, indem sie einfach gar nichts (Entsprechendes) tut. Bei Miriams positiver Pflicht, anderen in lebensbedrohlichen Notlagen zu helfen, funktioniert das offensichtlich nicht analog. Dieser Pflicht kann sie erstens nicht jedem anderen gegenüber nachkommen und zweitens nicht, indem sie gar nichts tut. Nun dürfen wir fragen, ob es wirklich Sinn macht, zu behaupten, dass Miriam ihrer Pflicht, alle anderen nicht in Teiche zu werfen, tatsächlich gegenüber allen anderen nachkommt. Denn Amartya in Indien erreicht sie von Bottrop aus nicht, um ihn in den Teich zu werfen. Es gibt also gar keine Handlungsoption, deren Unterlassung wir sinnvoller Weise als Pflichterfüllung beschreiben könnten. Die Asymmetrie besteht einfach nur darin, dass wir viel mehr Dinge zu einem Zeitpunkt unterlassen als tun können. Während Miriam in Bottrop ihre Zähne putzt, unterlässt sie unzählige Dinge: nach Mallorca zu fliegen, eine neue physikalische Theorie
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zu entwerfen, ihre Mutter anzurufen, Fernsehen zu schauen, Sport zu machen, andere in Teiche zu werfen usf. ad infinitum. Während Miriam das erste Kind rettet, unterlässt sie auch unzählige Dinge, vor allem eines der anderen neun Kinder zu retten. Die Frage ist, um es kurz zu machen, welche der unzähligen Unterlassungen normativ relevant sind. Obwohl es natürlich evident ist, dass zwischen Tun und Unterlassen eine Asymmetrie besteht, da wir, während wir etwas tun, Millionen anderer Dinge unterlassen, glaube ich nicht, dass daraus irgendetwas über die Stärke oder Schwäche von negativen und positiven Pflichten folgt. Meine These ist schlicht, dass Sollen nicht nur Können, sondern auch Anders-Können voraussetzt. Sollen und Pflichten sind dazu da, unser Handeln in eine bestimmte Richtung zu lenken, gerade wenn wir auch anders können bzw. anders wollen. Dass ich die Pflicht habe, andere nicht zu bestehlen, ist genau dann relevant, wenn ich das zu tun gedenke. Ich hatte oben dafür argumentiert, die Unterscheidung von Tun und Unterlassen insgesamt auf verantwortliches Handeln zurückzuführen (vgl. Kapitel 2.6.1). Handeln als bewusstes, intentionales, zurechenbares, menschliches Verhalten kann sowohl als ein Tun, aktiv, als auch als ein Unterlassen, passiv, realisiert werden. Die Frage ist, welche unserer tatsächlichen Handlungen erlaubt und welche verboten sind. Wenn wir die Sache so betrachten, bringt uns das viele Vorteile. Erstens müssen wir nicht die unplausible Annahme machen, dass ich, während ich in meinem Büro am Schreibtisch sitze, zugleich eine unendlich hohe Anzahl an negativen Pflichten gegenüber allen Menschen auf der Welt „erfülle“. Vielmehr handle ich moralisch erlaubt, da ich gegen keine Pflicht verstoße. Pflichten entstehen ihrerseits aus meinen Interaktionsmöglichkeiten mit anderen. Ich muss mein Handeln so einrichten, dass es den anderen keinen Schaden zufügt. Die anderen setzen ihrerseits, so Kants Idee, meiner Selbstliebe Grenzen: Ich muss mein Handeln daran messen, ob es mit den basalen Interessen der anderen vereinbar ist. Kant bringt dies in der Menschheit-als-Zweck-an-sich-Formel des Kategorischen Imperativs durch die Formulierung, dass wir andere nie bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst behandeln sollen, auf den Punkt.55 Dabei ist die Forderung, andere als Zweck an sich zu behandeln, die zentrale.56 Aus ihr ergibt sich erst
55 Vgl. GMS 4, 429: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ 56 Vgl. GMS 4, 438: „Denn daß ich meine Maxime im Gebrauche der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer Allgemeingültigkeit als eines Gesetzes für jedes Subject einschränken soll, sagt eben so viel, als: das Subject der Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst, muß niemals bloß als Mittel, sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller
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das Instrumentalisierungsverbot. Wen ich auf ein bloßes Mittel-Sein reduziere, den behandle ich nicht als Zweck an sich, sondern als Mittel zu meinen Zwecken. Der Wert, den er hat, ist kein absoluter, sondern ein relativer: gemessen an seinem Nutzen für mich. Das heißt, dass ich dem anderen seinen absoluten Wert abspreche bzw. ihn nicht in seiner Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen, respektiere, indem ich seine Zwecke meinen unterordne. Das geschieht etwa, wie in Kants Beispiel, wenn wir jemanden betrügen, indem wir ihn durch ein Versprechen dazu bringen, uns Geld zu leihen, das wir dann nicht zurückgeben. Wem ich in einer lebensbedrohlichen Notlage nicht helfe, den behandle ich allerdings auch nicht als Zweck an sich. Es geht darum, die legitimen Ansprüche anderer in das eigene Handeln einzubeziehen. Unter extremen Bedingungen sind diesem Anspruch, sowohl, was die Erfüllung negativer als auch, was die Erfüllung positiver Pflichten betrifft, Grenzen gesetzt. Miriam kann in unserem Beispiel nicht alle zehn Kinder retten. Da sie aber so viele gerettet hat, wie sie konnte, hat sie keine Pflicht und auch keine moralischen Rechte verletzt. Auch klassische negative Pflichten geraten unter Knappheitsbedingungen unter Druck. Jeder hat das Recht, sich eine Karte für das ultimative Stones-Konzert zu kaufen. Nachdem die 10 000 Karten verkauft sind, die es auf dem Markt gibt, würde man wohl nicht davon sprechen wollen, dass die Rechte der restlichen Anwärter verletzt wurden, wenn sie nun nicht mehr durchgelassen werden. Solche Beispiele sind jedenfalls weniger weit hergeholt als unser Teichbeispiel mit vielen Kindern. Worauf es ankommt, ist, dass die Rede davon, dass wir bestimmte Pflichten gegenüber anderen haben, insbesondere dadurch Sinn hat, dass wir die Pflicht sowohl erfüllen können als auch verletzen können. Die problematische Frage ist nicht, ob wir im Miriam-Fall Rechte verletzen, wo wir nicht anders können als nur drei Kinder zu retten, sondern ob wir immer dort eine Hilfspflicht haben, wo wir können und anders können. Das ist die Frage nach der Zumutbarkeitsgrenze bei positiven Pflichten. Allerdings stellt sich diese Frage bei negativen Pflichten auch. So wird etwa in der philosophischen Tradition schon lange über das sogenannte Notrecht diskutiert, das es erlaubt, jemand anderen zu töten, um sich selbst in einer extremen Notlage zu retten.57 Diesem
Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grunde gelegt werden.“ 57 Vgl. dazu den brillanten Aufsatz von O’Neill (2008). Sie geht davon aus, dass das Recht, nicht getötet zu werden, nicht unbedingt gilt: „Even if persons have no rights other than a right not to be killed, this right can justifiably be overridden in certain circumstances. Not all killings are unjustifiable. I shall be particularly concerned with two sorts of circumstances in which the right not to be killed is justifiably overridden. The first of these is the case of unavoidable killings; the second is the case of self-defense“ (ebd., 2).
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Recht korrespondiert keine Pflicht, da man natürlich von keinem anderen erwarten kann, dass er einem den Vortritt lässt, wenn er selbst in Lebensgefahr schwebt. Erleidet man auf hoher See Schiffbruch und kann sich nur auf eine Planke retten, wenn man andere hinunter stößt, so scheint dies erlaubt. Negativen Rechten korrespondierende negative Pflichten scheinen, ebenso wie positive, nicht bedingungslos zu gelten (vgl. MSR 6, 235). Die Asymmetrie von Handeln und Unterlassen ist jedenfalls kein überzeugendes Argument dafür, ein Recht auf Hilfe zurückzuweisen. Vielmehr müssen wir die Bedingungen, unter denen ein solches Recht sinnvoll ist, genau spezifizieren. Zunächst wollen wir den dritten Einwand gegen ein Recht auf Hilfe betrachten, der davon ausgeht, dass Rechte sich nur auf die Sicherung schon bestehender Autonomie richten, nicht auf Notlagen, die sich gerade durch einen akuten oder dauerhaften Verlust der Autonomie auszeichnen.
2.8.3 Der Bedürftigkeitseinwand In der neueren Debatte um das Weltarmutsproblem geht Garret Cullity implizit davon aus, dass der Teichfall und der Armutsfall analog zu betrachten sind (vgl. Cullity 2007, 56). Er glaubt allerdings nicht, dass im Teichfall ein Recht auf Rettung vorliegt. Er konstruiert einen zum Teichfall analogen Fall, den ertrinkenden Malcom. Malcombeispiel 1: Malcom, ein unangenehmer Mitreisender auf einer Kreuzfahrt, betrinkt sich und fällt von Bord. Hat er ein Recht darauf, von den anderen gerettet zu werden?
Cullity verneint diese Frage, und zwar nicht etwa, weil Malcom sich durch das Trinken selbst in Gefahr gebracht hat. Wir könnten uns also auch einen nüchternen und netten Malcom vorstellen, der einfach von einer plötzlich auftauchenden starken Welle über Bord gespült wird, als er gerade über das Geländer gelehnt gedankenverloren in den Sonnenuntergang blickt. Worauf es ankommt, ist, dass er, sobald er im Wasser strampelt, vor allem bedürftig ist und nicht etwa autonom. Cullity geht davon aus, „dass die zentrale Rolle von Rechten darin besteht, die autonome Handlungsfähigkeit zu schützen“ (ebd., 60; vgl. 61). Im Unterschied zu Gewirth (1987) und Griffin (2000 a, Abs. 5) bestreitet er, dass andere ein Recht darauf haben, dass wir die materiellen Grundlagen ihrer autonomen Handlungsfähigkeit für sie bereitstellen, falls diese ihnen fehlen. Gegen diesen Ansatz erhebt Cullity das Bedenken,
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dass man damit eine Unterscheidung zu verwischen droht, die getroffen werden sollte: Wir sollten Menschen einerseits dabei helfen, den wertvollen Status zu erreichen, zu autonomem Handeln in der Lage zu sein, und wir sollten diesem Status andererseits Achtung entgegen bringen, sobald er erreicht worden ist (Cullity 2007, 60).
Um diesen Punkt zu illustrieren, wählt Cullity ein anderes Malcombeispiel: Malcombeispiel 2: Malcom, ein unangenehmer Mitreisender auf einer Kreuzfahrt, besteht auf seinem Recht, auf einer Versammlung von den anderen bei der Entscheidung, was angesichts einer Motorpanne zu tun ist, gehört zu werden.
In diesem Fall glaubt Cullity nun, dass Malcoms Recht verletzt wird, wenn ihn die anderen nicht anhören.58 Entsprechend seinen beiden Beispielen unterscheidet Cullity zwischen zwei Arten von Handlungsgründen: (G1) Gründe dafür, anderen zu helfen, die auf Bedürftigkeit basieren (Wohltätigkeitspflichten), (G2) Gründe dafür, andere zu achten, die auf Rechten basieren.
Cullitys erste These ist, dass wir keinen (G2)-Grund haben, Malcom zu retten. „Wenn Malcom ins Wasser fällt, besteht der Grund, ihn wieder herauszuziehen, nicht darin, dass wir seine Autonomie missachten würden, wenn wir es nicht täten“ (ebd.): (T1) Malcoms Autonomie wird nicht verletzt, wenn wir ihn nicht retten.
Da Rechte nach Cullity die autonome Handlungsfähigkeit schützen sollen, folgt aus dieser These (T2): (T2) Es wird kein Recht von Malcom verletzt, wenn wir ihn nicht retten.
Nach Cullity gibt es einen (G2)-Grund dafür, Malcom zu helfen, der direkt ist, da er nicht über die von Gewirth und Griffin vorgeschlagene Konstruktion eines Rechts auf Bereitstellung der materiellen Grundlagen der Autonomie zurückgreift, sondern auf die Bedürftigkeit Malcoms: Er braucht verzweifelt unsere Hilfe. Ihm nicht zu helfen, wäre falsch, weil wir auf drastische Weise versäumen würden, auf seine Bedürfnisse zu reagieren – und nicht weil wir
58 Man kann sich natürlich hier fragen, warum Malcom ein Recht hat, gehört zu werden. Geht es um freie Meinungsäußerung oder um Gleichberechtigung?
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sonst eine geschützte Sphäre verletzen würden, die durch seine Rechte abgesteckt wird (ebd.).
Die Darstellung von Cullity scheint mir in zwei Hinsichten nicht überzeugend. Erstens lässt sich nicht aus jeder Bedürftigkeit eine Hilfspflicht ableiten, wie ich im Folgenden argumentieren werde. (G1)-Gründe scheinen für sich genommen keine plausiblen Kandidaten, um starke moralische Pflichten zu generieren. (G1) muss also modifiziert werden. Das führt dann allerdings dazu, dass man zwischen Bedürftigkeiten unterscheiden kann, aus denen moralische Ansprüche gegen andere entstehen, und Bedürftigkeiten, aus denen diese nicht entstehen. Erstere Bedürftigkeiten, die moralische Ansprüche generieren können, sind dann nicht prinzipiell verschieden von anderen moralischen Ansprüchen, wie Cullity behauptet. Zweitens wird, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, Malcoms Autonomie verletzt, wenn wir ihm nicht helfen. (T1) ist also falsch. Einwand 1: Nicht jede Art von Bedürftigkeit kann Pflichten generieren.
Kommen wir zum ersten Punkt: Warum entsteht nicht aus jeder Bedürftigkeit eine starke Hilfspflicht? Hier können wir der Argumentation von Peter Schaber folgen. Er bringt gegen die Idee, dass das Angewiesensein auf Hilfe ausreiche, um Pflichten zu generieren, ein Beispiel vor: Mount-Everest-Beispiel: „Paul plant seit langem eine Mount-Everest-Tour mit seinen Freunden. Um seinen Plan zu realisieren, braucht er Hilfe“ (Schaber 2007, 140).
Offensichtlich resultiert aus Pauls Bedürftigkeit keine Hilfspflicht. Auch wenn die Realisierung des Mount-Everest-Plans ihm sehr viel bedeutet und er zu ihrer Umsetzung auf die Hilfe seines Freundes angewiesen ist, hat dieser keine entsprechende Pflicht. Paul hat seit Jahren auf die Tour hingearbeitet und viele Opfer für sein Ziel gebracht. Nichtsdestotrotz wäre niemand verpflichtet, ihm die Hilfe zu geben, die ihn ans Ziel seiner Wünsche gelangen lässt. Bedürftigkeit mag Gründe liefern, um jemandem zu helfen; entsprechende Pflichten generiert sie offenbar nicht (ebd.; Hervorhebungen CM).
Nun weist Schaber meines Erachtens die Bedürftigkeit zu schnell zurück. Cullity könnte sich darauf berufen, dass Malcoms Fall von anderer Art ist als der Pauls. Dabei könnte er sich auf die hier in Kapitel 1.5 entwickelte Unterscheidung von
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subjektiven und objektiven Notlagen berufen. Denn Malcom wird sterben, wenn er keine Hilfe bekommt, während Paul nur ein für ihn wichtiges Ziel nicht realisieren kann. Cullity könnte also versuchen, (G1) zu modifizieren. Denn offensichtlich generiert nicht jede Art von Bedürftigkeit Hilfspflichten. Mein Vorschlag wäre, hier zu ergänzen, dass objektive Bedürftigkeit Hilfspflichten generieren kann: (G1‘) Gründe dafür, anderen zu helfen, die auf objektiver Bedürftigkeit basieren.
Doch was ist objektive Bedürftigkeit? Ich glaube, dass es hier gerade um die Grundlagen der autonomen Handlungsfähigkeit geht (vgl. Gewirth 1978 und Steigleder 1992). Der Gegensatz, den Cullity zwischen Rechten, die die Autonomie schützen, und Bedürfnissen aufbaut, ist demnach irreführend. Denn der Unterschied zwischen subjektiver Bedürftigkeit, wie in Pauls Fall, und objektiver Bedürftigkeit ist gerade, dass aus objektiver Bedürftigkeit moralische Ansprüche auf Hilfe erwachsen, während das bei subjektiver Bedürftigkeit offensichtlich nicht der Fall ist. Die Unterscheidung von (G1‘) und (G2) im Hinblick auf einen bestehenden bzw. nicht bestehenden moralischen Anspruch ist dann nicht mehr plausibel. Es geht nämlich in beiden Fällen um die Sicherung der Autonomie: Im einen Fall um ihre Berücksichtigung, im anderen Fall um ihre Wiederherstellung. Naheliegender als Cullitys Konzeption ist es, mit Mill anzunehmen, dass moralische Rechte dazu da sind, grundlegende Interessen oder Bedürfnisse zu schützen. So formuliert es auch Alan Gewirth: „Rechte [sind] in ihrem anspruchsvollsten Sinne gerechtfertigte Ansprüche auf den Schutz zentraler personaler Interessen“ (Gewirth 1995, 776). Ein „moralisches Recht“ ist, wie Cullity selbst formuliert, „ein von der Moral geschützter Anspruch – ein Anspruch darauf, etwas zu tun oder zu haben, der gegen Angriffe anderer durch die Moral geschützt ist“ (Cullity 2007, 58). Warum dieser Anspruch sich nicht auch auf Hilfe in akuten Notlagen beziehen sollte, wird von Cullity nicht überzeugend begründet. Warum sollten wir nicht sowohl ein moralisches Recht darauf haben, nicht verletzt zu werden und bei einer Versammlung gehört zu werden, als auch ein Recht darauf, gerettet zu werden? Cullity glaubt, starke Hilfspflichten, die auf Bedürftigkeit beruhen, unabhängig von den Rechten der Betroffenen etablieren zu können (vgl. ebd., 73). Er vertritt also nicht wie die meisten Kantianer die These, dass Pflichten, denen keine Rechte korrespondieren, normativ schwächer sind als Pflichten, denen Rechte korrespondieren (vgl. dazu unten, Kapitel 2.8.3). Vielmehr glaubt er, dass seine Unterscheidung zwischen Pflichten, die auf Rechten beruhen, und Pflichten, die auf Not oder Bedürftigkeit beruhen, nicht zu einer geringeren Wichtigkeit der Hilfspflichten führt oder dazu, „dass ein Unterlassen eine weniger ernsthafte Sache wäre“ (Cullity 2007, 72).
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Cullitys Idee ist also bei genauer Betrachtung, dass (G1) und (G2) jeweils starke moralische Gründe sind. Und das sind sie im Sinne eines der im ersten Kapitel bestimmten Kriterien für Pflichten, dem der overridingness: Sie überwiegen andere eigeninteressierte Handlungsgründe. Dann versteht man allerdings nicht, warum nicht auch in beiden Fällen moralische Ansprüche im Spiel sein sollten. Cullity weist explizit die Auffassung zurück, dass ein „Anspruch“ von Malcom verletzt wird, wenn er nicht gerettet wird (ebd., 56). Gleichwohl hält er daran fest, dass Malcom sowohl ein „Unrecht“ geschieht, wenn man ihn ertrinken lässt, als auch, wenn man ihn nicht anhört (ebd.). Wie andere Kritiker von Manifest-Rechten, hat Cullity das Anliegen, die Sprache der Rechte nicht überzustrapazieren, sondern sie auf unstrittige Fälle zu beschränken. Gleichzeitig ist Cullitys Idee, dass Helfen zwar eine Wohltätigkeitspflicht ist, aber keinesfalls eine „supererogatorische“ oder „eine barmherzige Handlung“ (ebd.).59 Dadurch verschiebt sich allerdings nur das Problem. Was aus diesen beiden Anliegen resultiert ist, dass das Label Unrecht nun für Verstöße gegen beide Pflichtarten zuständig ist. Warum sollte man diesen Begriff weiter dehnen können als den eines moralischen Rechts? Mein Einwand ist einfach der, dass die Rede von einem Unrecht, die auf beide Malcomfälle angewendet werden soll, sich darauf beziehen muss, dass ein moralischer Anspruch von Malcom verletzt wird. Die moralischen Ansprüche Malcoms mögen in beiden Fällen verschieden sein, doch wenn im Fall des ertrinkenden Malcoms kein moralischer Anspruch – und was soll das anderes sein als ein moralisches Recht, das den anderen die entsprechende Pflicht auferlegt – vorliegt, dann ist nicht klar, inwiefern man ihm Unrecht tut, wenn man ihm nicht hilft. Wenn man Schabers Einwand kontern will, dann muss man
59 Cullitys Formulierungen wollen einfach nicht zusammenpassen. Einerseits behauptet er, Malcom habe kein Recht und keinen moralischen Anspruch auf Rettung (Cullity 2007, 56), andererseits behauptet er, helfen sei weder supererogatorisch noch barmherzig. Gleichwohl sei die angemessene Reaktion Dankbarkeit: „Wir haben nämlich mehr getan, als einfach nur diejenigen Rechte anzuerkennen, die er berechtigter Weise gegen uns einfordern kann“ (ebd., 57; Hervorhebung CM). Dann heißt es wiederum, zumutbare Hilfe sei „nur anständig“ (ebd., 66). Völlig unbegreiflich ist, wie es starke Hilfspflichten ohne korrespondierende Rechte geben soll, wenn Pflichten von korrespondierenden Rechten abhängig sind: „Mit der Zuschreibung moralischer Rechte geht nämlich eine Konzeption des moralischen Akteurs als Träger von Rechten einher – und damit die Einsicht, dass uns die Verpflichtungen, die wir haben, aufgrund dieses Status zukommen. […] Die andere Person als Trägerin von Rechten vorzustellen heißt, ihr die Achtung gebietende Fähigkeit autonomen Handelns zuzuschreiben – und zwar ganz unabhängig von jedem Nutzen, der für sie daraus resultieren könnte, das zu tun oder zu bekommen, worauf sie ein Recht hat“ (ebd., 59 f.). Diese Probleme ergeben sich daraus, starke Hilfspflichten ohne korrespondierende moralische Ansprüche konzipieren zu wollen.
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zwischen objektiven Bedürfnissen unterscheiden, die moralische Ansprüche generieren können (Malcombeispiel), und subjektiven Bedürfnissen, bei denen das nicht der Fall ist (Mount-Everest-Beispiel). Cullity kann nicht beides haben: Starke Hilfspflichten, denen keine moralischen Rechte entsprechen, sind nicht plausibel von irgendwelchen anderen Handlungen zu unterscheiden, die sich auf die subjektive Bedürftigkeit und die allgemeine Beförderung der Ziele anderer richten. Einwand 2: Unterlassene Hilfeleistung ist eine Verletzung des Interesses an Autonomie.
Sehen wir uns nochmals an, wofür Cullity die Sprache der Rechte reservieren möchte: (R1) Moralische Rechte schützen bestimmte Interessen. (R2) Unumstrittene Interessen, die moralische Ansprüche generieren, sind „Ansprüche, die vorangegangenen Versprechen oder bestehenden Rollen entspringen“ und „allgemeine Ansprüche auf Unterlassung von schädigenden Eingriffen“ (ebd., 59). (R3) Rechte beziehen sich auf den Schutz der Autonomie: „Rechte sind Ansprüche darauf, diese Autonomie geltend machen zu dürfen – klar umgrenzte Ansprüche, für uns selbst entscheiden zu dürfen, was wir tun, ob das nun gut für uns ist oder nicht“ (ebd.). (R4) Aktuelle Autonomie impliziert den Anspruch auf Achtung durch andere.
Unumstritten sind für Cullity nach (R2) klassische negative Pflichten, denen Ansprüche auf Unterlassung von schädigenden Handlungen entsprechen. Ebenfalls unproblematisch sind Ansprüche, die sich auf vorverhaltensabhängige positive Pflichten richten, die aus Versprechen und Rollen (und wir dürfen wohl ergänzen: aus Verträgen) entstehen. Problematisch sind die uns schon lange beschäftigenden vorverhaltensunabhängigen positiven Pflichten. Ihnen, so behauptet Cullity, entsprechen keine moralischen Ansprüche. Denn Anspruch hat man laut (R3) nur auf den Schutz der bestehenden Autonomie – und dieser scheint die Hilfe in Notlagen nicht zu umfassen. Was versteht Cullity unter Autonomie? (A1) Autonomie bezeichnet aktuelle Handlungs- und Entscheidungsfreiheit.
Die Idee dabei ist folgende: „Wir sollten Menschen einerseits dabei helfen, den wertvollen Status zu erreichen, zu autonomem Handeln in der Lage zu sein, und wir sollten diesem Status andererseits Achtung entgegen bringen, sobald er erreicht worden ist“ (ebd., 60). Doch warum sollten wir den Autonomiebegriff auf
Einwände gegen ein Recht auf Nothilfe
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aktuelle Handlungs- und Entscheidungsfreiheit einschränken? Warum sollte die Achtung anderer davon abhängen, ob wir aktualiter einen autonomen Status im Sinne der aktualisierten Handlungs- und Entscheidungsfreiheit innehaben? Zentral ist zunächst, dass sich die Hilfeleistung hier direkt auf den „wertvollen Status“ der autonomen Handlungsfähigkeit bezieht. Autonomie scheint also ein grundlegendes Interesse, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre Erhaltung sondern auch im Hinblick auf ihre Erlangung, wenn wir noch nicht oder zeitweilig nicht über sie verfügen. Im Hinblick darauf kann man (G1) und (G2) folgendermaßen umformulieren: (G1“) Gründe dafür, anderen zu helfen, die auf objektive Bedürftigkeit bezüglich der (Wieder-)Herstellung der autonomen Handlungsfähigkeit basieren. (G2‘) Gründe dafür, andere zu achten, die auf Rechten zugunsten der Erhaltung der autonomen Handlungsfähigkeit und ihrer Grundlagen basieren.
Die Erhaltung und (Wieder-)Herstellung autonomer Handlungsfähigkeit scheint also zu unseren grundlegenden Interessen zu gehören. Wie oben argumentiert, ist jetzt nicht mehr zu sehen, wieso nicht beides im Sinne Mills als Gegenstand moralischer Ansprüche, die gegenüber anderen geltend gemacht werden können, zu interpretieren sein sollte. Wenn wir wie Mill (2006), Gewirth (1987) oder Shue (1996) Rechte als Ansprüche auf den Schutz grundlegender Güter oder Interessen verstehen, dann ist nicht klar, warum grundlegende Interessen, wie das an der Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit oder an ihren materiellen Voraussetzungen, nicht Gegenstand von Rechten sein sollten. Wenn wir in beiden Fällen ein Interesse an Autonomie verletzen, dann ist nicht zu sehen, wieso dieses Interesse nicht auch in beiden Fällen Gegenstand moralischer Ansprüche oder moralischer Rechte sein sollte. Das zweite Malcombeispiel kann man gegen Cullitys Intention so deuten, dass das Problem gar nicht darin besteht, dass Malcom ein Recht darauf hat, gehört zu werden, so wie er ein Recht darauf hat, nicht verletzt zu werden. Vielmehr hat er ein Recht darauf, dass seine Interessen bei der Diskussion über die Weiterfahrt gleiche Berücksichtigung finden wie die der anderen. Aber darauf scheint er auch einen Anspruch zu haben, wenn er verletzt ist und deswegen besondere Rücksicht von den anderen einfordern möchte. Immer wenn wir etwas von anderen fordern, dass sie uns anhören oder aus dem Wasser ziehen sollen, ist die Frage gleichermaßen, ob hinter unserer Forderung ein gerechtfertigter moralischer Anspruch, ein moralisches Recht, steckt.
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2.9 Formulierung des Hilfsprinzips Am Ende des zweiten Teils soll nun ein Vorschlag gemacht werden, wie ein Recht auf Nothilfe in Singers Teichbeispiel und eine entsprechende positive Nothilfepflicht konzipiert werden können. Dabei werde ich in zwei Schritten vorgehen. Im ersten Schritt möchte ich vorschlagen, die Grundlage moralischer Ansprüche und entsprechender Pflichten mit Kant in der Achtung vor dem anderen als moralfähigem und verletzlichem Wesen zu verankern. Und das heißt eben nicht, die Achtung an das aktuelle Vorhandensein von Autonomie zu binden.60 Im zweiten Schritt werde ich ein Hilfsprinzip vorschlagen, das sowohl der Perspektive des Empfängers als auch der Perspektive des Gebers Rechnung trägt.
2.9.1 Die Achtung vor dem anderen als moralfähigem Wesen als Grundlage positiver und negativer Pflichten Cullitys Anliegen bestand darin, eine Unterscheidung zu etablieren: „Wir sollten Menschen einerseits dabei helfen, den wertvollen Status zu erreichen, zu autonomem Handeln in der Lage zu sein, und wir sollten diesem Status andererseits Achtung entgegen bringen, sobald er erreicht worden ist“ (Cullity 2007, 60). Demnach haben wir verschiedene Gründe, uns um andere zu kümmern und sie zu achten. Wenn man von Cullitys Terminologie absieht, findet man bei Kant eine ähnliche Unterscheidung. In der Rechtslehre vertritt Kant die liberale Position, dass wir die Freiheit des anderen, verstanden als Handlungsfreiheit, respektieren müssen. Darauf beruht in seiner Rechtsphilosophie die Genese von Rechten und Pflichten. Den Staat, der diese Freiheitsrechte schützt, braucht selbst ein „Volk von Teufeln“ (ZeF, 7, 366), denn auch ohne moralische Motivation macht es Sinn, sich einer Staatsgewalt zu unterwerfen, die bestimmte Rechte schützt. Es hat neuerdings mehrere Versuche gegeben, Kants Rechtslehre so zu interpretieren, dass sie nicht nur negative Freiheitsrechte, sondern auch Wohlfahrtsrechte impliziert (Kühl 1999; in diese Richtung auch Steigleder 2002, 259; dagegen Kersting 1997; eine generelle Sozialstaatskritik findet sich bei Kersting 2000). Diesen Versuchen soll hier kein weiterer hinzugefügt werden. Vielmehr will ich im Folgenden herausstellen, dass in Kants Moralphilosophie, insbesondere in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft, die
60 Dieser Vorschlag ist so umstritten wie verbreitet (vgl. z. B. Stemmer 2002, § 8; Nida-Rümelin 2002, Kapitel 12).
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Achtung vor dem anderen als moralfähigem Akteur – und das heißt in Kants Terminologie als autonomer Person, in dem Sinn der Fähigkeit, sich selbst moralische Gesetze aufzuerlegen – zentral für die Begründung der Pflichten gegen andere ist. Der Grund dafür, sich um andere zu kümmern, und der Grund dafür, andere nicht am legitimen Gebrauch ihrer Freiheit zu hindern, ist dann derselbe: Es ist die Achtung vor dem anderen als moralfähigem Wesen, das gleichzeitig ein verletzbares und bedürftiges Wesen ist. Nur Menschen können sich (im Unterschied zu Tieren) als vernünftige Wesen Zwecke setzen und diese gemäß moralischen Gesetzen einschränken. Insofern sie selbst Quellen von Zwecksetzungen sind, d. h. sofern sie handlungsfähig und moralfähig sind, haben sie selbst unbedingten Wert. Kant spricht hier auch von Würde, die den Aspekt eines unbedingten Wertes illustriert, der nicht auf ein bloßes Mittel eingeschränkt werden darf. Sachen haben im Unterschied zu Menschen einen Gebrauchswert, sie sind für uns bloß Mittel zum Zweck. Andere Menschen hingegen dürfen wir nicht bloß als Mittel behandeln, sie sind selbst Quellen von Werten und damit selbst Zwecke, die unserer Zwecksetzung Grenzen auferlegen.61 Seine Zwecke so zu beschränken, dass die eigene Selbstbestimmung im Handeln die Zwecksetzung der anderen berücksichtigt, ist mehr als Selbstbestimmung im Sinne von Wahlfreiheit, es ist die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung, zur Selbstbestimmung gemäß allgemeinen Gesetzen, zur Autonomie. Unsere Würde ist gleichzeitig der Grund, aus dem wir unser Handeln moralisch einschränken können, und der Grund, aus dem wir eine ebensolche moralische Einschränkung von anderen erwarten dürfen. Mit Kant gesprochen ist die Autonomie der „Grund der Würde“ (GMS 4, 436). Autonomie (von griech. autos: selbst und nomos: Gesetz) wiederum bezeichnet die Fähigkeit zur moralischen Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft oder einfacher gesagt: zum verantwortlichen Handeln.62 Als vernünftige Wesen sind wir zur moralischen Gesetzgebung in der Lage. Als sinnlich-vernünftige Wesen sind wir dieser Gesetzgebung unterworfen. Letzteres wird durch den Begriff der Pflicht erläutert: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (GMS 4, 400). Wir dürfen ergänzen: Pflicht ist die
61 Auch Rawls spricht davon, dass Personen sich als „selbstschaffende Quellen berechtigter Ansprüche“ verstehen können (Rawls 1992, 119). 62 „Unser eigener Wille, so fern er nur unter der Bedingung einer durch seine Maximen möglichen allgemeinen Gesetzgebung handeln würde, dieser uns mögliche Wille in der Idee ist der eigentliche Gegenstand der Achtung, und die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein“ (GMS 4, 440).
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Achtung fürs selbstgegebene Gesetz. Da das selbstgegebene Gesetz allerdings nichts Individuelles enthält – es kommt ja als Gesetz aus unserem vernünftigen Teil, der mit dem vernünftigen Teil aller anderen vernünftigen Wesen identisch ist – bedeutet Selbstachtung (oder anders gesagt: Achtung vor der Menschheit in unserer Person) für Kant nichts anderes als die Achtung vor dem moralischen Gesetz.63 Insofern sind auch alle moralischen und rechtlichen Pflichten letztlich Pflichten gegen uns selbst, was ihren Verpflichtungsgrund angeht (Steigleder 2002, 263). Selbstachtung beinhaltet also die Achtung vor dem eigenen und jedem anderen vernünftigen Selbst als potentiellen Urheber moralischer Gesetze64, was einem selbst und allen anderen Menschen Würde verleiht. Würde bringt zum Ausdruck, dass wir die Würde anderer achten oder respektieren sollen, sie als moralische Selbstgesetzgeber, d. h. als zur Selbstachtung fähige Wesen, (an)erkennen sollen und nicht wie bloße Dinge der eigenen Zwecksetzung als Mittel unterordnen dürfen. Würde hat also den Aspekt der moralischen Selbst- und Fremdanerkennung.65 Wir dürfen andere, so Kants bekannte Formel des Kategorischen Imperativs, nie nur als Mittel (wie Sachen) behandeln, sondern andere müssen von uns immer auch als Zweck an sich selbst behandelt werden (GMS 4, 429; zur Interpretation vgl. Horn 2004).
63 „Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Werth bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Werth, haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgiebt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (GMS 4, 436). 64 „Aus unserer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem moralischen Gesetz (dessen Heiligkeit und Strenge) muß unvermeidlich wahre Demuth folgen: aber daraus, daß wir einer solchen inneren Gesetzgebung fähig sind, dass der (physische) Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung, als Gefühl seines inneren Werths (valor), nach welchem er für keinen Preis (pretium) feil ist und eine unverlierbare Würde (dignitas interna) besitzt, die ihm Achtung (reverentia) gegen sich selbst einflößt“ (MST 6, 436). 65 „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so nothwendigen Selbstschätzung Anderer als Menschen entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen nothwendig zu erzeigende Achtung bezieht“ (MST 6, 462).
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Diese Formulierungen Kants hat man vor allem unter dem Aspekt des Instrumentalisierungsverbots betrachtet. Das greift allerdings zu kurz. Denn weder ist es grundsätzlich verboten, andere als Mittel zu behandeln, wir tun das ständig und können es kaum umgehen, noch ist der Aspekt unzulässiger Instrumentalisierung der einzige moralisch relevante Aspekt des Kategorischen Imperativs. Vielmehr geht es um die Forderung, andere immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln. Als solche setzen sie unseren Zwecken Grenzen, und zwar einerseits die Grenze, den anderen nicht auf ein Mittel zu meinen Zwecken zu reduzieren. Dies geschieht etwa bei Raub oder Betrug. Andererseits geht es um die Grenze meines Verfügens über meine Handlungsspielräume, wenn ich wie in Singers Teichbeispiel einem anderen in einer akuten Notlage helfen muss. Hier behandle ich das Kind wiewohl nicht als Mittel, so auch nicht als Zweck an sich selbst, das meinen Zwecksetzungen Grenzen setzt, wenn ich einfach weiterlaufe. Achtung vor einer anderen Person bedeutet, so die hier vorgeschlagene Interpretation, insbesondere, sie als Zweck zu behandeln, der meinen Zwecksetzungen Grenzen setzen kann. Ohne diese Überlegungen wäre gar nicht zu sehen, wie wir anderen ein Unrecht tun können, wenn wir ihnen nicht helfen.66 Mit Kant soll also hier die Achtung vor dem anderen als Grundlage moralischer Verpflichtungen angenommen werden. Gegen Kant und mit Mill soll allerdings ein gütertheoretisch fundiertes Konzept von Gerechtigkeitspflichten und Wohltätigkeitspflichten verteidigt werden. Was wir anderen schuldig sind, richtet sich, wie in Kapitel 1.5 vorgeschlagen wurde (vgl. dazu auch Kapitel 2.7), primär nach der Wichtigkeit ihrer grundlegenden Interessen und Bedürfnisse.
2.9.2 Das Hilfsprinzip Wenn wir klären wollen, welcher Bereich der Hilfe verpflichtend ist, liegt es nahe, zunächst von der Perspektive des Hilfsbedürftigen auszugehen, von sei-
66 Auch Dieter Sturma sieht die Pointe von Kants Position darin, dass „die Selbstzweckhaftigkeit“ derer, mit denen wir umgehen, „unangetastet bleibt“ (Sturma 2004, 176). Er kommt zu dem Ergebnis, dass „dort, wo soziale Anerkennungsverhältnisse und institutionelle Abhängigkeiten nicht symmetrisch gestaltet werden – sei es mit ökonomischen, politischen, religiösen oder ideologischen Absichten […] von ethisch nicht haltbaren Zuständen auszugehen“ sei (ebd., 177). Allerdings wertet er solche Asymmetrien als Verstoß gegen das Instrumentalisierungsverbot, während wir hier davon ausgegangen waren, dass etwa Menschen, deren grundlegende Interessen wir in unsere Entscheidungen nicht einbeziehen, obwohl sie von diesen betroffen sind, nicht als Selbstzwecke behandelt werden, obwohl es kontraintuitiv wäre, davon zu sprechen, dass wir sie als Mittel behandeln (vgl. oben, Kapitel 2.5).
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nen notwendigen Interessen und Bedürfnissen. Die Frage ist dann, unter welchen Bedingungen ein Anspruch auf Hilfe besteht. Die zweite Frage ist, für wen eine Hilfspflicht besteht. Dazu müssen wir von der Situation des Helfenden ausgehen. Die entscheidende Frage ist: Wem müssen wir wann, wie viel und wodurch helfen? Dem entsprechen fünf Kriterien: das Kriterium der Bedürftigkeit, das Kriterium der Zuständigkeit, das Kriterium der Zumutbarkeit, das Kriterium der Effizienz bzw. der Aussicht auf Erfolg und das Kriterium der Zulässigkeit (Angemessenheit der Mittel). Ziel ist, ein Hilfsprinzip zu formulieren, das eine moralisch angemessene Pflichtenallokation für diejenigen Situationen ermöglicht, in denen ein Anspruch auf Hilfe besteht. Die Herausforderung liegt entsprechend darin, berechtigte moralische Ansprüche auf Hilfe von bloß konventionellen Ansprüchen abzugrenzen. Meine These ist, dass wir diese Abgrenzung über eine gütertheoretische Unterscheidung zwischen notwendigen und nichtnotwendigen Gütern vornehmen können. Diese Unterscheidung findet sich schon bei Thomas von Aquin und wurde von neueren gütertheoretischen Positionen weiterentwickelt. Ich gehe davon aus, dass ein moralischer Anspruch auf Hilfe besteht, wenn grundlegende Güter ohne Hilfe nicht beschafft oder erhalten werden können. Diese Ausgangsthese ermöglicht einen Perspektivenwechsel vom ergänzenden Status der Hilfspflichten gegenüber der Gerechtigkeit, die in manchen Gebieten nicht ausreicht, um notwendige Güter zu sichern (z. B. O’Neill 1996), zur Frage, wo Hilfspflichten nicht ausreichen: welche Aspekte der Hilfspflichten Gerechtigkeitsfragen betreffen. Dabei geht es zunächst um die Verteidigung der These, dass Hilfspflichten Gerechtigkeitspflichten sein können. Ferner geht es um die ungerechte Verursachung von Notlagen (etwa, wenn sich die Zuständigkeit der Beseitigung eines Übels an den Verursacher richtet) und um die gerechte Lastenverteilung bei der Beseitigung von Notlagen. Hier müssen Aspekte der korrektiven Gerechtigkeit und Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit mit einbezogen werden. Ergänzenden oder supererogatorischen Status haben diejenigen Hilfeleistungen, auf die kein moralischer Anspruch besteht. Am besten nennen wir diese Leistungen Höflichkeiten, Geschenke, Gefälligkeiten oder Nettigkeiten. Wir können hier auch von W1-Wohltätigkeitspflichten sprechen, wenn man die Rede von schwachen Pflichten der von der Supererogation vorzieht. Gegenstand des zweiten Kapitels war es, das, was bei Kant unter die generell moralisch gebotene Beförderung fremder Glückseligkeit fällt, von dem Bereich abzugrenzen, in dem andere berechtigte Ansprüche stellen können. Dabei scheinen berechtigte Ansprüche auf zwei Hilfsintuitionen zu beruhen: Je weniger es mich kostet und je mehr es der objektiven Bedürftigkeit des Anderen Abhilfe schafft, desto stärker ist die Hilfspflicht. (Zumutbarkeitsprinzip)
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Je näher man einer objektiv bedürftigen Person ist, desto mehr darf die Hilfe kosten. (Zuständigkeitsprinzip)
Die erste Intuition lässt sich an Singers klassischem Teichbeispiel erläutern: Der vorbeigehende erwachsene Passant hat eine unbedingte Hilfspflicht, den Schaden von dem Kind abzuwenden. Hier liegt eine klassische easy rescue vor: Die Hilfe kostet wenig und bringt dem Kind maximal viel: die Rettung des Lebens. An solchen Beispielen sehen wir deutlich, dass Kants Idee, in der Tugendlehre alle positiven Pflichten unter der Maxime, fremde Glückseligkeit zu befördern, zusammenzufassen, zu allgemein ist. Sie umfasst eben Schabers Paul, der den Mount Everest besteigen will und dazu Hilfe braucht, und Cullitys ertrinkenden Malcom. Der Spielraum, den uns Kant bei der Befolgung dieser Pflicht offen lässt, ist allerdings wohl kaum so zu verstehen, dass ich wählen kann, ob ich lieber mit Paul zum Mount Everest gehe oder Malcom rette. Hier scheint es nötig, berechtigte von unberechtigten Ansprüchen zu unterscheiden bzw. Geschenke, Aufmerksamkeiten und Nettigkeiten als etwas, worauf keiner einen vorleistungsunabhängigen Anspruch hat, von verpflichtender Hilfe abzugrenzen. Ferner können wir hier zwischen einer Notlage (des Kindes) und der Beförderung des Wohlergehens unseres Freundes Paul unterscheiden. Hilfspflichten entstehen nicht nur daraus, dass jemand etwas braucht, das ihm ein anderer ohne Aufwand geben könnte. So wäre es z. B. kein Problem für mich, einem Schuhfetischisten zu helfen, der danach verlangt, meinen Schuh kurz auszuleihen. Gleichwohl würden wir nicht sagen, dass er darauf einen moralischen Anspruch hat oder dass ich eine entsprechende Pflicht habe. Die Notlage, in der sich jemand befindet, muss für den anderen objektiv nachvollziehbar sein. Ferner können wir zwischen existentiellen und nichtexistentiellen Notlagen unterscheiden. Diese Unterscheidung wird am besten gütertheoretisch getroffen. Im Anschluss an Alan Gewirth können wir zwischen Grundgütern, Nichtverminderungsgütern und Zuwachsgütern unterscheiden. Gehen wir davon aus, dass keine spezielle Beziehung zwischen dem Bedürftigen und dem Helfenden besteht, so ist die Hilfe dann verpflichtend, wenn es darum geht, ein Grundgut oder ein Nichtverminderungsgut für den Hilfsbedürftigen zu sichern. So gelangen wir zu einer allgemeinen Definition der Hilfe: Allgemeine Definition der Hilfe: Eine helfende Handlung (oder Unterlassung) intendiert oder bewirkt eine Verbesserung der Situation desjenigen, dem geholfen wird.
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Das erste Problem, mit dem diese allgemeine Definition konfrontiert ist, besteht darin, dass eine Nicht-Schädigung (A unterlässt es, B zu berauben) als Hilfe angesehen werden kann. Darum bedarf es folgender Ergänzung: Ergänzung 1: Eine helfende Handlung (oder Unterlassung) von A intendiert oder bewirkt eine Verbesserung der Situation desjenigen, dem geholfen wird (B), gegenüber der Situation, in der B sich ohne das Einwirken von A befindet.
Das zweite Problem besteht in der Frage, was eine Verbesserung ist. Eine subjektive Verbesserung nimmt die Wünsche von B zum Maßstab. Die Grenze einer legitimen Verbesserung ist dann das Kollidieren dieser Wünsche mit den Wünschen oder den Rechten anderer. Das Modell einer solchen, subjektiven Verbesserung ist etwa Kants Tugendpflicht der Beförderung fremder Glückseligkeit, die sich daran orientiert, was der andere für eine Beförderung seiner Glückseligkeit hält. Eine objektive Verbesserung besteht etwa in der Bereitstellung eines Gutes für B, das dieser notwendig zur Erhaltung oder Beförderung seiner Handlungsfähigkeit braucht. Andererseits kann eine objektive Verbesserung auch in der Verhinderung eines Schadens bestehen, der wiederum die Handlungsfähigkeit einer Person massiv einschränken oder zerstören würde. Wenn wir etwa einen Ertrinkenden retten, wollen wir einen solchen Schaden abwenden. Meine These ist, dass strenge Hilfspflichten in einem Beitrag zu einer solchen objektiven Verbesserung oder in einer objektiven Schadensverhinderung bestehen. Daraus ergibt sich folgende Konkretisierung: Ergänzung 2: Objektive Hilfsbedürftigkeit besteht für B, wenn B (a) aus eigener Kraft (b) einen objektiven Schaden nicht abwenden kann oder eine notwendige Verbesserung seiner Situation nicht bewirken kann.
Diese Überlegungen führen insgesamt zur normativen Definition von Hilfe: Normative Definition der Hilfe: Eine Verpflichtung zu einer helfenden Handlung besteht für A, wenn A durch diese Handlung (oder Unterlassung) eine notwendige Verbesserung der Situation für B herstellen kann oder einen objektiven Schaden von B abwenden kann (was B aus eigener Kraft nicht vermag).
Diese Definition orientiert sich am Kriterium der Bedürftigkeit. Objektive Bedürftigkeit ist gegeben, wenn notwendige Interessen oder notwendige Güter auf dem Spiel stehen. Klassische Freigebigkeits- oder Wohltätigkeitstheorien (z. B.
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Aristoteles, Kant) verstehen das Helfen als Tugend des Gebers. Sie weisen ein großes Defizit an dem Punkt auf, wo es um die Frage nach einem moralischen Anspruch auf Hilfe auf Seiten des Empfängers geht. Wir können hier zwischen subjektiven und objektiven Notlagen unterscheiden, je nachdem, ob es sich für den Empfänger der Hilfe um ein notwendiges oder um ein nichtnotwendiges Gut handelt. Gehen wir davon aus, dass es ein Set von grundlegenden Gütern gibt, die zur Voraussetzung der Handlungsfähigkeit oder zur Befriedigung von Grundbedürfnissen gehören, nehmen wir ferner an, dass dieses Set interkulturelle Gültigkeit hat und aus der Perspektive verschiedener Begründungsansätze anerkannt werden kann. Inhaltlich kommen alle Ansätze auf ähnliche Güter, die dazu notwendig sind, ein lebenswertes oder würdiges Leben zu führen. Nennen wir sie die Grundlagen der Autonomie. Dazu gehören: angemessene Nahrung, Unterkunft, Kleidung und die Möglichkeit, seinen eigenen Lebensplan zu entwickeln und zu verfolgen. Ich möchte keine Moralbegründung versuchen, sondern beanspruchen, dass meine Hilfskonzeption aus der Perspektive all dieser Ansätze akzeptiert werden kann. Wie wir vorhin schon gesehen haben, implizieren diese notwendigen Güter nicht nur Unterlassungen von anderen Menschen, sondern auch positive Leistungen. Geht man von einer solchen Gütertheorie aus, dann sind positive und negative Rechte gleichursprünglich, da man diese Güter weder aktiv zerstören oder beeinträchtigen darf noch passiv versäumen darf, sie für jemanden bereitzustellen, der sie nicht hat. Vielmehr ist man sogar dazu angehalten, diese Güter bei sich selbst und bei anderen zu befördern (vgl. Horn 2001). Angesichts der desolaten Lage, in der sich die Welt befindet, wenn man nur an das Armutsproblem denkt, treffen wir hier wieder auf den Überforderungseinwand, obwohl wir unsere Position präzisiert und notwendige von nichtnotwendigen Gütern unterschieden haben: Wir müssten eigentlich ständig helfen. Deswegen mache ich den Vorschlag der Präzisierung der Gütertheorie durch ein Hilfsprinzip und durch die Differenzierung von Notlagen. Die Differenzierung von Notlagen folgt, wie unten weiter auszuführen sein wird, drei Kategorien: (1) der Art nach: akut, permanent, strukturell; (2) dem Grad nach: notwendige Güter (Grundlagen der Autonomie, die ganz oder zeitweilig fehlen), nichtnotwendige Güter (spezielle Ziele, die Autonomie schon voraussetzen); (3) der Ursache nach: natürliche Ursachen für Deprivation (Naturkatastrophen, Unfälle), natürliche Kontingenz (Pflegebedürftigkeit), menschliches Versagen: selbstverschuldet, fremdverschuldet (aktive oder passive Rechtsverletzung, gestuft nach Absichtlichkeit, Fahrlässigkeit, Unabsichtlichkeit).
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Prioritätsthese
Dabei liegt es nahe, im Falle knapper Ressourcen eine Abnahme der Stärke der Hilfsansprüche anzunehmen. Die stärksten Ansprüche liegen vor bei Fremdverschulden. Hier besteht ein Recht auf Kompensation gegenüber dem Verantwortlichen (korrektive Gerechtigkeit) oder ein Recht auf Hilfe gegenüber Dritten (Nothilfe, Solidarität). Bei natürlicher Kontingenz besteht etwa ein Recht auf Versorgung von Seiten der Kinder gegenüber den Eltern (Fürsorge). Bei natürlichen Ursachen von Notlagen wie Unfällen und Krankheiten basiert das Recht auf Hilfe auf Institutionalisierung: Gemeinsame Lastenverteilung wird etwa durch die Pflichtversicherung (Solidarität) erreicht. Bei Naturkatastrophen besteht ein moralischer Anspruch auf Hilfe, der sich auf kollektive Nothilfepflichten bezieht. Allerdings hat auch die individuelle Hilfe an Opfer von Naturkatastrophen den Charakter einer W2-Wohltätigkeitspflicht. Bei Selbstverschulden von Notlagen liegen (ceteris paribus) die schwächsten Ansprüche vor. Wie man sich sofort klar machen kann, wird eine Hilfspflicht für den Einzelnen schnell zur Überforderung, wenn man sie auf mehr als auf selten vorkommende, akute Notlagen anwendet. Muss man jedem, der objektiv bedürftig ist, um jeden Preis helfen? Kann man das überhaupt? Hier kommen zusätzlich einschränkende Kriterien auf der Geberseite ins Spiel. Beide Elemente, die Differenzierung der Notlagen und die einschränkenden Kriterien, die das Hilfsprinzip auf der Geberseite enthält, sind wichtig zur Beantwortung der zentralen Frage: Wann besteht für wen eine Pflicht zur Hilfe? Zu nennen sind hier mindestens vier einschränkende Kriterien. Erstens das Kriterium der Zuständigkeit: Muss man allen, die gleich bedürftig sind, mit demselben Aufwand helfen? Kommen hier nicht Nahestehende zuerst? Kann es nicht sein, dass wir für die Hilfe gegenüber Nahestehenden, etwa unseren eigenen Kindern, viel mehr Mühe und Einschränkungen auf uns nehmen müssen als für die Hilfe gegenüber Fernstehenden wie etwa den Notleidenden der Entwicklungsländer? Haben nicht bestimmte Berufsgruppen wie Ärzte, Feuerwehrmänner, Polizisten oder Soldaten ein größeres Maß an Zuständigkeit in bestimmten Notlagen als andere? Zweitens das Kriterium der Zumutbarkeit: Wie viel darf die Hilfe gegenüber objektiv Bedürftigen uns kosten? Müssen wir, wie etwa Peter Unger oder Henry Shue verlangen, im Zweifelsfall unseren luxuriösen Lebensstandard aufgeben? Sicher stellt sich hier die Frage, wie sich dieses Kriterium zu dem der Zuständigkeit verhält. Wenn es gestufte Zuständigkeiten gibt, dann gibt es auch schwächere Hilfspflichten gegenüber Menschen, die in diesen oder jenen Zuständigkeitsbereich nicht fallen. Drittens das Kriterium der Zulässigkeit der Hilfe: Darf man stehlen, um jemanden mit lebensnotwendigen Gütern zu versorgen? Darf man, wie bei der humanitären Intervention, Unschuldige gefährden oder sogar töten, um anderen
Fazit des zweiten Kapitels
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das Leben zu retten? Hier geht es um eine Güterabwägung, die wir noch genauer untersuchen müssen. Viertens das Kriterium der Aussicht auf Erfolg: Schließlich sollte versucht werden, die Hilfe effektiv zu gestalten, sodass, wenn möglich, eine Beseitigung der Ursachen, die zur objektiven Gefährdung von B geführt haben, geleistet wird. Zusammen mit dem Kriterium der Bedürfigkeit sind die vier Kriterien einzeln notwendig und zusammen hinreichend. Sie führen uns zu folgender vorläufiger Formulierung des Hilfsprinzips: Ein moralisches Recht auf Hilfe besteht für B, wenn (a) sich B in einer objektiven Notlage befindet (daher einen Anspruch auf Hilfe hat), es für A möglich ist, zu helfen, (b) A zuständig ist, (c) der Aufwand für die Hilfe zumutbar ist, (d) die angewendeten Mittel zulässig sind und (e) die Hilfe Aussicht auf Erfolg hat. Sind diese Kriterien erfüllt, hat A eine starke Nothilfepflicht gegenüber B.
Das Hilfsprinzip grenzt Nothilfepflichten, die stark sind, von Wohltätigkeitspflichten ab, die schwach sind. Denn durch die Kriterien der Betroffenheit notwendiger Güter zusammen mit den Kriterien der Zuständigkeit und der Aussicht auf Erfolg ist die Nothilfepflicht sowohl auf ein notwendiges Gut bezogen als auch bestimmt und somit stark. Zusätzlich müssen die Kriterien der Zumutbarkeit und der Zulässigkeit erfüllt sein. Nothilfepflichten sind denen geschuldet, die ein moralisches Recht darauf haben. Sie beziehen sich auf grundlegende Güter und sind durch die einschränkenden Kriterien auf der Geberseite klar bestimmt, daher sind sie stark. Das unterscheidet sie von W2-Wohltätigkeitspflichten, die zwar auf grundlegende Güter bezogen, aber nicht klar bestimmt sind. Weil sie nicht klar bestimmt sind und ihre Verletzung nicht eindeutig zurechenbar ist, sind W2-Wohltätigkeitspflichten schwach. Gleichwohl verlangen sie von uns, dass wir etwas und nicht vielmehr nichts für andere tun, die sich in objektiven Notlagen befinden. Dadurch unterscheiden sie sich von supererogatorischen Handlungen bzw. von W1-Wohltätigkeitspflichten.
2.10 Fazit des zweiten Kapitels Wir haben uns im zweiten Kapitel mit der Frage beschäftigt, ob positive Pflichten per se schwächer sind als negative Pflichten. Wieso sollte das so sein? Eine mögliche Antwort liefert Birnbachers These, dass eine Gleichstellung von Handlungspflichten und Unterlassungspflichten uns zwangsläufig überfordern würde. Das liegt daran, dass wir das Zustandekommen von vorverhaltensunabhängigen positiven Pflichten wie im Teichfall oder im Armutsfall nicht kontrollieren können, da ihr Zustandekommen eben nur von der Bedürfnislage anderer und unse-
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Prioritätsthese
rer Fähigkeit zu helfen abhängt. Nun ist es aber, so die hier vertretene These, nicht sinnvoll, alle möglichen vorverhaltensunabhängigen positiven Pflichten einfach auf einer Stufe zusammenzufassen und sie dann aus pragmatischen Gründen (Überforderungsgefahr) für schwächer als negative Pflichten zu behaupten. Als Beispiel für eine Position, die zwischen strengen Rechtspflichten und weiten Tugendpflichten unterscheidet, haben wir Kants Metaphysik der Sitten untersucht. Unsere Frage war, ob es plausibel ist, mit Wolfgang Kerstings Kantinterpretation einen generellen Vorrang von Rechtspflichten gegenüber Tugendpflichten zu verteidigen, wie Kant sie versteht. Die Antwort auf diese Frage lautet: nein. Diese Antwort haben wir gegen das Kantische Konzept gegeben, das positive Pflichten als schwache Tugendpflichten entwirft und sie von starken negativen Rechtspflichten abgrenzt (Kapitel 2.3 und 2.4). Wir haben Singers Teichbeispiel gegen einen generellen Vorrang negativer Pflichten unter allen Umständen (wie er etwa aus Kerstings Kantinterpretation folgt) ins Feld geführt. Denn im Teichfall ist die Hilfspflicht nicht unterbestimmt und damit unvollkommen. Vielmehr ist, wie schon in Kapitel 1.9 diskutiert, die Hilfspflicht unter zumutbaren Bedingungen stärker als etwa die Pflicht, eine Verabredung zum Essen einzuhalten. Ferner scheint es nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, fremdes Eigentum zu beschädigen, um das Kind zu retten (vgl. Steigleder 2002). Nothilfepflichten sollten, so unser Zwischenergebnis, von anderen, generelleren Pflichten zur Beförderung fremder Glückseligkeit unterschieden werden (Kapitel 2.5). Nun gibt es zwei Möglichkeiten, die problematischen Fälle aufzulösen. Erstens kann man behaupten, dass bestimmte vorverhaltensunabhängige positive Pflichten bei Kant fälschlich zu den Tugendpflichten zählen, die eigentlich zu den Rechtspflichten zählen müssten (wie die Nothilfepflichten). Zweitens kann man behaupten, dass es bestimmte Tugendpflichten gibt, die viel bestimmter und verbindlicher sind als andere. Wenn allerdings Bestimmtheit und Verbindlichkeit gerade Kriterien für eine Rechtspflicht sind, scheint die zweite Lösung nicht attraktiv. Die Paare positive Pflicht – schwache Wohltätigkeitspflicht und negative Pflicht – starke Gerechtigkeitspflicht gehen keine unauflösliche Verbindung ein. Es gibt positive Pflichten, die stark sind und negative Pflichten, die schwach sind. Deswegen wurde in Kapitel 2.6 vorgeschlagen, die Unterscheidung positive Pflicht – negative Pflicht so, wie es intuitiv plausibel ist, handlungstheoretisch zu treffen: Positive Pflichten sind Handlungspflichten, negative Pflichten sind Unterlassungspflichten. Diese Unterscheidung ist allerdings mit der normativen Unterscheidung zwischen starken Pflichten, deren Erfüllung wir anderen schulden, und schwachen Pflichten, deren Erfüllung wir anderen nicht schulden, nicht kongruent. Vielmehr macht es Sinn, die normative Unterscheidung gütertheoretisch zu fundieren. Dort, wo grundlegende Güter betroffen sind, kann es nicht nur negative, sondern auch starke positive Pflichten geben, wie in Singers Teichfall.
Fazit des zweiten Kapitels
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Wesentlich für die Stärke einer Pflicht ist erstens ihr Bezogensein auf notwendige Güter und zweitens ihre Bestimmtheit. Eine Nothilfepflicht im Teichfall ist, so die hier vorgeschlagene Terminologie, eine positive Gerechtigkeitspflicht (vgl. Kapitel 2.7). In Kapitel 2.8 haben wir ein Recht auf Hilfe im Teichfall gegen Einwände verteidigt. Dabei habe ich vor allem mit der objektiven Notlage argumentiert (Malcombeispiel), die auf der Seite des Hilfsbedürftigen einen moralischen Anspruch auf Hilfe rechtfertigen kann, was bei einer subjektiven Notlage nicht der Fall ist (Mount-Everest-Beispiel). In Kapitel 2.9 wurden einschränkende Bedingungen für ein moralisches Recht auf Nothilfe formuliert: Zuständigkeit, Zumutbarkeit, Zulässigkeit und Aussicht auf Erfolg. Das Problem, mit dem wir uns im Folgenden befassen müssen, ist folgendes: Die gütertheoretische Fundierung positiver Gerechtigkeitspflichten könnte viel zu stark sein. Wenn der Teichfall und der Armutsfall analog zu betrachten wären, dann müssten wir ständig helfen. Deswegen werden wir im zweiten Teil der Studie fragen, ob die Fälle analog zu bewerten sind oder ob sie sich in moralisch relevanten Hinsichten voneinander unterscheiden. Dabei gilt es insbesondere zu fragen, welcher Stellenwert der Wohltätigkeit zukommt. Sie ist von einer Nothilfepflicht zu unterscheiden, da sie sich auf Fälle beziehen kann, in denen es um nicht-notwendige Leistungen geht (W1-Wohltätigkeit). Hier ist Wohltätigkeit parallel zur Handlungssupererogation zu sehen. Zweitens scheint W2-Wohltätigkeit diejenigen Fälle von Hilfeleistungen abzudecken, die sich auf objektive Notlagen beziehen, in denen wir aber nicht direkt zuständig sind, die Hilfe aber nicht unzumutbar ist. Eine 100 Euro-Spende für die Armen scheint der Paradefall von Wohltätigkeit als einer schwachen W2Wohltätigkeitspflicht im Gegensatz zu einer starken Nothilfepflicht. Dabei wird die Nothilfepflicht stark, wenn sie einerseits auf grundlegende Güter bezogen und andererseits bestimmt ist, sofern die Kriterien für eine Hilfspflicht auf der Geberseite ebenfalls erfüllt sind, d. h. der Helfer zuständig ist, die Hilfe zumutbar und zulässig ist und Aussicht auf Erfolg verspricht (vgl. Kapitel 2.9.2). Eine W2-Wohltätigkeitspflicht ist dagegen schwach, da sie zwar auf grundlegende Güter bezogen, aber unterbestimmt ist. In Kapitel 3 werde ich die These vertreten, dass sich die Fälle Teich und Armut in mehreren moralisch relevanten Hinsichten unterscheiden. Das führt dazu, dass wir im Hinblick auf die verschiedenen Fälle verschiedene Arten von Pflichten haben.
Zweiter Teil: Positive Pflichten in Bezug auf das Weltarmutsproblem Im ersten Teil der Studie hatten wir Einwände gegen die Position diskutiert, dass in Singers Teichfall eine starke Hilfspflicht besteht. Was wir bislang gesehen haben, ist, dass eine generelle Wohltätigkeitsthese nicht überzeugen kann. Weder sind alle positiven Leistungen zugunsten anderer supererogatorisch (vgl. Kapitel 1), noch sind positive Pflichten generell schwächer als negative Pflichten (vgl. Kapitel 2). Es hat sich gezeigt, dass die Standardeinwände gegen positive Pflichten nicht überzeugen. Nothilfepflichten unterscheiden sich darin von allgemeinen Wohltätigkeitspflichten, dass sie nicht unterbestimmt sind. Deswegen ist es auch möglich, im Teichfall eine Nothilfepflicht zu rekonstruieren, die den Kriterien für ein Recht auf Hilfe entspricht. Individuelle Nothilfepflichten, die die Kriterien der objektiven Bedürftigkeit (auf der Empfängerseite), der Zuständigkeit, der Zumutbarkeit, der Aussicht auf Erfolg und der Zulässigkeit (auf der Geberseite) genügen, sind plausible Kandidaten für starke positive Pflichten, denen ein moralisches Recht auf Hilfe entspricht. Dieses moralische Recht auf Hilfe kann als gerechtfertigter moralischer Anspruch verstanden werden, den die hilfsbedürftige Person gegenüber der Person geltend machen kann, die zuständig ist, für die die Hilfe zumutbar ist, deren Hilfe Aussicht auf Erfolg hat und deren Hilfe zulässig ist. Das ist das Ergebnis des ersten Teils dieser Studie. Die Frage, die uns nun beschäftigen muss, ist, ob wir vom Vorliegen einer starken individuellen Hilfspflicht in Singers Teichbeispiel darauf schließen müssen, dass wir angesichts des Weltarmutsproblems ebenfalls starke individuelle Hilfspflichten haben. Die Frage ist also, ob Singers Beispiele, Teich und Armut, in moralisch relevanter Hinsicht analog funktionieren. Nun gibt es viele TheoretikerInnen, die davon ausgehen, dass der Teichfall und der Armutsfall analog zu betrachten sind (z. B. Singer 1972; 1984 und 2005, Unger 1996, Hare 2007). Wenn dem so ist, dann begehen wir einen ebenso schweren Fehler, wenn wir nicht so viel Geld spenden, wie wir können, um so viele der Armen wie möglich zu retten, wie wenn wir das Kind im Teichfall ertrinken lassen würden. Offensichtlich schrecken vor dieser Konsequenz der Analogiethese dann aber viele TheoretikerInnen wieder zurück. Auch in unserem Handeln zeigen sich die meisten von uns von der Analogiethese wenig überzeugt. Während wohl fast alle von uns versuchen würden, das Kind zu retten, sieht es mit der Ernsthaftigkeit unserer Spendenbereitschaft nicht so gut aus. Nun kann man natürlich als Moralphilosoph behaupten, dass es ganz weitreichende positive Pflichten gibt, und sich in seinem eigenen Leben einfach nicht darum kümmern. Das ist insbesondere dann eine bequeme Lösung, wenn
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Zweiter Teil: Positive Pflichten in Bezug auf das Weltarmutsproblem
man verkündet, dass uns positive Pflichten moralisch ganz streng und kategorisch verpflichten, dass sie aber rechtlich nicht sanktionierbar sind. Denn wenn man selbst kein schlechtes Gewissen hat und auch keine formellen Sanktionen zu fürchten braucht, scheint es ganz unproblematisch zu behaupten, dass es ganz viele strenge positive Pflichten gibt (die am besten vor allem die anderen erfüllen sollen). Aber diese Replik gegenüber einem Moralphilosophen, der behauptet, dass wir in beiden Fällen dieselbe starke positive Hilfspflicht haben, ist ein argumentum ad hominem. Auf solche Argumente (die in hitzigen Debatten oft vorgebracht werden) möchte ich hier verzichten. Ich vertrete die These, dass wir im Teichfall und im Armutsfall verschiedene Arten von positiven Pflichten haben. Das liegt daran, dass sich die Fälle, so meine zweite These, in moralisch relevanter Hinsicht voneinander unterscheiden. Und dieser Unterschied in den Merkmalen der Notlagen Teich und Armut sowie der Unterschied zwischen Nothilfepflichten und Wohltätigkeitspflichten erklärt, so meine dritte These, auch, dass sich der Teichfall offensichtlich vom Armutsfall unterscheidet, was informelle Sanktionen betrifft. Denn die Rüge wird im Teichfall auch in England, wo unterlassene Hilfeleistung keinen Straftatbestand darstellt, lauten: „Du hast dieses Kind ertrinken lassen! Du bist schuld an seinem Tod!“, während man sich im Armutsfall höchstens auf allgemeine Rügen der Art „Es wäre schön, wenn Du auch etwas spenden würdest“ einzustellen braucht. Ist es korrekt, dass wir „mit zweierlei Maß messen“, was die Beurteilung der beiden Fälle angeht? Oder liegen wir hier gänzlich falsch, wie Singer glaubt? Das ist die Frage danach, ob die Analogiethese richtig ist. Wenn sie richtig ist – und wenn gleichzeitig korrekt ist, wofür hier im ersten Teil der Studie argumentiert wurde: dass wir im Teichfall eine starke Pflicht haben, zu helfen –, dann müssen wir, wie Singer behauptet, unsere moralischen Urteilsgewohnheiten ändern: Wir begehen alle täglich schwere Fehler, wenn wir nichts spenden. Unsere Frage lautet, wie Pflichten einzuschätzen sind, die sich auf eine objektive Notlage beziehen, bei denen die Hilfe zumutbar ist, jedoch nur eine indirekte Beziehung zwischen einer unüberschaubaren Menge von Hilfsbedürftigen und dem Helfer besteht. Sind diese auch als Nothilfepflichten zu betrachten? Oder sind sie tatsächlich aufgrund ihrer Unterbestimmtheit schwache und unvollkommene W2-Wohltätigkeitspflichten? Ich werde in diesem dritten Kapitel die Analogiethese bestreiten. Und zwar glaube ich, dass sich die Fälle Teich und Armut im Hinblick auf Zuständigkeit, Zumutbarkeit, Zulässigkeit und Aussicht auf Erfolg der Hilfeleistung in moralisch relevanter Hinsicht unterscheiden (Kapitel 3.1 bis 3.5). Ich glaube, dass das Beste, was wir durch die Analogiethese erreichen, die Verteidigung einer unvollkommenen W2-Wohltätigkeitspflicht ist, da sich sowohl W2-Wohltätigkeitspflichten als auch Nothilfepflichten auf grundlegende Güter beziehen. W2-Wohltätig-
Zweiter Teil: Positive Pflichten in Bezug auf das Weltarmutsproblem
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keitspflichten sind stärker als W1-Wohltätigkeitspflichten, doch sind sie, wie ich argumentieren werde, nicht ausreichend, um mit dem Armutsproblem umzugehen. Wohltätigkeitspflichten sind erstens ineffizient, wenn sie sich auf individuelle Hilfe konzentrieren. Sie tendieren zweitens dazu, systemische Ungerechtigkeiten zu perpetuieren, wenn die Hilfe nur lindert und nicht die Ursachen von Notlagen beseitigt. Wohltätigkeit ist nicht immer nachhaltig und verspricht damit für Notlagen, zu deren Abschaffung Nachhaltigkeit erforderlich ist, keinen Erfolg. Drittens kann sie für die Hilfsempfänger demütigend sein. Eines der Hauptprobleme ist, dass sich Nothilfe idealerweise darauf bezieht und auch beschränkt, für die bedürftige Person den Status quo ante wiederherzustellen. Sie ändert nichts an der sozialen Stellung und den sozialen Rechten der Person. Armut ist allerdings meistens ein Problem des Status quo selbst. Sie entsteht nicht unvorhergesehenerweise, wie die Lebensgefahr in Singers Teichfall, sondern sie entsteht in unserer Welt oft als vorhersehbare und vermeidbare Folge institutionellen Versagens. Armut und unvorhersehbare akute Notlagen können dem Grad nach gleich lebensbedrohlich sein, der Art nach aber verschieden (Kapitel 3.6). Während die eine Art der Notlage durch einen unvorhersehbaren Unfall entsteht, geht die andere oft aus einem vermeidbaren institutionellen Versagen hervor. Deswegen, so meine These, sind diesen verschiedenen Notlagen auch verschiedene Hilfsmodelle angemessen. Während wir im Fall von akuten Notlagen individuelle oder kollektive Nothilfepflichten haben, ist im Armutsfall eine Solidaritätspflicht angemessen, die sich auf die Abschaffung der Ungerechtigkeit bezieht, die beim Zustandekommen der Notlage im Spiel ist. Meine These lautet, dass wir angesichts des institutionellen Versagens, das für das Armutsproblem verantwortlich ist, gegenüber den Armen nicht primär Nothilfe- oder Wohltätigkeits-, sondern Solidaritätspflichten haben. Während Singers Kind im Teich und Cullitys Malcom gegenüber denen, die sofort eingreifen können, ein moralisches Recht auf Rettung haben, hat jemand, der arm ist, ein Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard und Institutionen, die dieses Recht absichern. Wenn man Armut als Menschenrechtsverletzung beschreiben will, was ich im Anschluss an Thomas Pogge verteidigen werde, dann besteht diese Menschenrechtsverletzung in einem institutionellen Versagen und nicht in individueller unterlassener Hilfeleistung. Einige vertreten an dieser Stelle die These, dass wir angesichts der nicht institutionalisierten sozialen Rechte der Armen dafür eine Institutionalisierungspflicht haben (z. B. Pogge 2002 b, Orend 2002, Ashford 2007, Gosepath 2007). Da in einer Welt, in der die sozialen Rechte der Armen institutionalisiert wären, diese keinen Hunger mehr leiden müssten, haben wir nicht die Pflicht, ihnen etwas zu spenden, sondern die Pflicht, diese Institutionen zu errichten. Pogge behauptet, dass wir, die BürgerInnen der reichen Staaten, zum Weltarmutsproblem beitragen und
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Zweiter Teil: Positive Pflichten in Bezug auf das Weltarmutsproblem
davon profitieren. Deswegen, so argumentiert er, haben wir gegenüber den Armen Kompensationsverpflichtungen (vgl. dazu auch Valentini 2011, 415). Wie stark sind diese individuellen Pflichten? Sind sie stärker als W2-Wohltätigkeitspflichten? Darauf komme ich zurück. Zunächst soll im dritten Kapitel die Überprüfung der Analogiethese im Vordergrund stehen.
3 Einwände gegen die Analogiethese Singer kennt nur zwei Parameter für die Bestimmung von Hilfspflichten: erstens die Bedürftigkeit des Hilfsempfängers und zweitens die Zuständigkeit durch das Helfen-Können. Die Frage ist allerdings, ob wir Zuständigkeit durch Helfenkönnen interpretieren dürfen. Anders gefragt: Müssen wir überall dort helfen, wo wir eine objektive Notlage mildern können? Ist die Analogiethese korrekt, derzufolge die Fälle Teich und Armut analog funktionieren? Wir werden in Kapitel 3 vier Einwände gegen diese These diskutieren: den Zuständigkeitseinwand, den Zumutbarkeitseinwand, den Effizienzeinwand und den Einwand der Verschiedenheit der Notlage. Die Frage des dritten Kapitels dieser Studie lautet, ob es moralisch legitime Gründe dafür gibt, eine Abstufung des Verbindlichkeitsgrades von individuellen Handlungspflichten anzunehmen. Meine These lautet, dass dies möglich ist. Sehen wir uns aber zunächst nochmals die Struktur von Singers Beispielen an: Der Teichfall: (1) Der Unfalltod eines Kindes ist schrecklich. (2) A kann das Kind aus dem Teich ziehen. Dadurch kann er verhindern, dass das Kind stirbt. (3) A muss nichts „von vergleichbarer moralischer Bedeutung“ opfern (eine Stunde Zeit und ein paar nasse Kleider gegen ein Menschenleben). (4) A muss dem Kind helfen. Der Armutsfall: (1') Absolute Armut ist schrecklich. (2') A ist reich. A kann durch Spenden verhindern, dass (einige) Menschen an armutsbedingten Krankheiten sterben. (3') A muss nichts „von vergleichbarer moralischer Bedeutung“ opfern (Verzicht auf Luxusgüter gegen Menschenleben). (4') A muss so viel spenden, wie er kann, ohne selbst bedürftig zu werden. Die Behauptung Singers ist, wie wir wissen, dass die Fälle analog funktionieren. Zu dieser Analogiethese gibt es mittlerweile eine ganze Reihe Untersuchungen (Cullity 1996, Kamm 1999 a; 1999 b; 2000, Miller 2007, Schmidtz 2000, McKinsey 1981, Hare 2007, Stepanians 2006, Mieth 2009 a, Igneski 2001, Kesselring 2003, Gosepath 2007). Für zentral halte ich die Einsicht von Frances Kamm, dass sich die Fälle Teich und Armut gleich in mehreren moralisch relevanten Hinsichten voneinander unterscheiden. Deswegen ist es schwierig, herauszufinden, welcher Faktor in moralischer Hinsicht einen Unterschied macht. Denn dazu müsste man diesen Faktor isolieren und alle anderen Faktoren konstant halten. Wenn wir also wissen wollen, ob Nähe (im Teichfall) versus Distanz (im Armutsfall) mora-
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lisch relevante Faktoren sind, dann müssen wir die Fälle so umkonstruieren, dass alle anderen Faktoren gleich sind. Kamms Untersuchungen sind voller Beispiele, die nach dieser Verfahrensweise gebildet sind. So denkt sie sich etwa einen Fall aus, in dem wir ein Kind, das hier in unmittelbarer Nähe in einen Teich gefallen ist, und ein Kind, das 10.000 Meilen entfernt in einen Teich gefallen ist, jeweils retten könnten, indem wir auf einen Knopf drücken, der eine komplizierte Maschine mit sehr langen Armen betätigt, die bei Knopfdruck auch die Rettung des entfernten Kindes gewährleisten kann. Man sieht, dass hier andere moralisch relevante Faktoren künstlich angeglichen sind, z. B. ist die Zumutbarkeit in beiden Fällen gleich hoch oder niedrig, da jedes Mal nur der Knopf gedrückt werden muss. Anders in Singers Teichfall und dem Armutsfall. Im Teichfall muss man einem Kind helfen, im Armutsfall allen Armen. Das dürfte einen wesentlichen Unterschied bezüglich der Zumutbarkeit machen. In diesem Kapitel wird eine zweifache Vorgehensweise gewählt. Zunächst ist es wichtig zu benennen, hinsichtlich welcher Faktoren sich Singers Armutsfall vom Teichfall unterscheidet. Wir werden diese Faktoren durchgehen und sie auf ihre moralische Relevanz prüfen (Kapitel 3.1–3.5). Dabei geht es allerdings nicht nur darum, wie Kamm zu fragen, welche Relevanz ein Faktor wie Nähe an sich hat. Vielmehr glaube ich, dass man die Faktoren nur isolieren kann, wenn man die Notlagen Teich und Armut auf eine Weise aneinander angleicht, die ihre spezifische Differenz zum Verschwinden bringt. Und diese spezifische Differenz besteht, so meine These, in der Verschiedenheit der Art der Notlage. Denn im einen Fall handelt es sich tatsächlich um einen unvorhergesehenen Notfall, im anderen Fall um ein social justice issue, um eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Bezüglich der relevanten unterschiedlichen Merkmale, die die beiden Fälle aufweisen, scheinen folgende Faktoren relevant: Erstens unterscheiden sich die Fälle bezüglich der Zuständigkeit. Im Teichfall kann nur der Passant helfen. Deswegen ist er für das ertrinkende Kind zuständig. Im Armutsfall scheinen alle Reichen gemeinsam zuständig zu sein, aber keiner einzeln für eine bestimmte Person (Kapitel 3.1). Zweitens unterscheiden sich die Fälle bezüglich der Zumutbarkeit der Hilfeleistung. Dem Kind an einem Nachmittag eine Stunde lang zu helfen, scheint auf jeden Fall zumutbar. Doch wenn erst einmal feststeht, dass wir allen Bedürftigen auf dieser Welt helfen müssen, werden wir ständig etwas tun müssen. Ja, wir dürfen für uns nur noch das nötigste an Geld und Zeit behalten und müssen ansonsten (so gut wie immer) anderen helfen (vgl. Unger 1996 und Kapitel 3.2).1
1 Stefan Schlothfeldt vertritt die These, dass die Zumutbarkeitsgrenze bei allen bekannten Moraltheorien ähnlich hoch ist, wenn wir positive Pflichten nur ernst nehmen würden. So
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Drittens unterscheiden sich die Fälle im Hinblick auf die jeweilige Erfolgsaussicht der individuellen Hilfe. Zugespitzt kann man sogar sagen, dass es im Armutsfall gar keine Rettungsmöglichkeit gibt, wenn ich 100 Euro spende, während ich das Kind im Teich durchaus retten kann. Denn wenn ich Geld spende, kommt dieses in der Regel nicht der Rettung einer einzelnen Person zu Gute, sondern wird auf mehrere Projekte verteilt (vgl. dazu Cullity 1996 und Kapitel 3.3). Und alle Armen kann ich ohnehin nicht retten. Viertens unterscheiden sich die Fälle Teich und Armut hinsichtlich der Art der jeweiligen Notlage. In der englischsprachigen Literatur unterscheidet man zwischen einer Nothilfepflicht und einem social justice issue, einer Frage der sozialen Gerechtigkeit im Armutsfall (Kamm 1999 a, 2004 u. ö., Igneski 2001, Pogge 2002 b, 2006 u.ö., Mieth 2008 und 2009 a). Auch Singer diskutiert diesen Einwand schon in Kapitel 8 von Praktische Ethik unter dem Stichwort Sache der Regierung. Man könnte sich dann im Armutsfall dafür rechtfertigen, dass man nichts spendet, indem man darauf verweist, dass nicht man selbst, sondern die Regierung etwas gegen die Armut in anderen Ländern unternehmen sollte (Kapitel 3.4). Und zwar, so könnte man die Sache noch zuspitzen, zahlen wir ja schon Steuern an den Staat, der sich dazu verpflichtet hat, 0,56% des Bruttosozialprodukts in Entwicklungshilfe zu investieren.2 Ich werde die These vertreten, dass Institutionen sogar berechtigt wären, uns noch mehr Geld abzuziehen, um zu einer sinnvollen und erfolgversprechenden Armutsbekämpfung beizutragen. Allerdings ist damit nicht gesagt, dass Individuen unter nichtidealen institutionellen Bedingungen einfach von ihren positiven Pflichten freigesprochen werden können. Im Anschluss daran stellt sich dann auch die Frage nach den Rechten Dritter: Darf eine Person oder Institution zur Erfüllung positiver Pflichten die Rechte Dritter verletzen? Während es im Teichfall durchaus geboten scheint, fremdes Eigentum, sofern es zur Rettung des Kindes notwendig ist, zu beschädigen, liegt dies im Armutsfall nicht nahe. Im Unterschied zu Ungers Vorschlägen darf ich nicht das Geld meiner reichen Freundin stehlen, um es den Armen zu geben (Kapitel 3.5).
müsste nicht nur ein Utilitarist, sondern auch ein überzeugter Anhänger des Thomas von Aquin oder ein Kantianer sein meistes Geld spenden, solange andere Hunger leiden (Schlothfeldt 2007; vgl. Gewirth 1987, siehe dazu auch Bleisch 2009). 2 Allerdings bleiben die EU-Staaten in der Realität hinter diesem 2005 für das Jahr 2010 formulierte Ziel zurück, vgl. http://www.welthungerhilfe.de/ entwicklungshilfe_schoen_gerechn.html (letzter Zugriff 31. 3. 2009) und die Daten des OECD Development Assistance Committee: http://www.oecd.org/document/60/0,3746, de_34968570_35008930_44986364_1_1_1_1,00.html (letzter Zugriff am 30. 4. 2011).
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Einwände gegen die Analogiethese
In Kapitel 3.6 werde ich die These vertreten, dass es sich bei den Fällen Teich und Armut um zwei der Art nach verschiedene Notlagen handelt. Diesen verschiedenen Notlagen entsprechen verschiedene Hilfspflichten. Ich glaube, dass wir zwischen mindestens vier verschiedenen Arten von positiven Pflichten unterscheiden können, die sich auf verschiedene Notlagen beziehen: Fürsorgepflichten, Nothilfepflichten, Wohltätigkeitspflichten und Solidaritätspflichten (Kapitel 3.7). Erst in Kapitel 3.7 werde ich die These von Thomas Pogge untersuchen, dass sich die beiden Notlagen Teich und Armut darin unterscheiden, dass im einen Fall (Teich) eine echte Hilfspflicht vorliegt, da der Passant am Zustandekommen der Notlage unschuldig ist. Im Armutsfall sind wir dagegen, so Pogges These, mitschuldig an den schlechten Lebensbedingungen für die Armen, da wir zu einer ungerechten globalen Ordnung beitragen und von ihr profitieren. Die Frage ist dann, wie sich Hilfspflichten zu Gerechtigkeitspflichten verhalten. Sind Kompensationspflichten stärker als Pflichten, die sich aus der Kompetenz der Helferin ergeben? Ich vertrete die These, dass das nicht in jedem Fall so ist. Doch die Zumutbarkeitsgrenze kann bei Kompensationspflichten höher liegen als bei Hilfspflichten. Die Frage ist allerdings, ob man den Reichen gegenüber den Armen Kompensationspflichten zuschreiben kann. Diese Frage werde ich in Kapitel 3.7 untersuchen.
3.1 Der Zuständigkeitseinwand Die Diskussion um das Zuständigkeitskriterium wird entweder unter dem Stichwort Problem der Distanz in der Moral oder unter dem Stichwort Priority for Compatriots geführt. Beide Debatten haben, so meine These, dort einen großen blinden Fleck, wo es um die Differenzierung verschiedener Pflichtarten geht. Das liegt daran, dass beide Debatten so geführt werden, dass sie die Analogiethese zunächst in der Hinsicht akzeptieren, dass es beim Teichbeispiel und beim Armutsbeispiel um dieselbe Art von Pflicht geht. Dann wird versucht, aus den unterschiedlichen Parametern Nähe-Distanz, Mitbürger-Fremder die These abzuleiten, dass im Fall von Nähe bzw. Mitbürgerschaft eine Hilfspflicht vorliege, im anderen Fall jedoch nicht. Andersherum wird versucht, die Parameter NäheDistanz bzw. Mitbürger-Fremder als moralisch irrelevant auszuweisen. Es ist wieder Peter Singer, der behauptet, dass die Unterscheidungen Nähe-Distanz und Mitbürger-Fremder durch eine revisionäre Moral überwunden werden müssen. Sie beruhen, wie Singer meint, auf einem Vorurteil, das sich moralisch nicht rechtfertigen lässt. Er hält die Bevorzugung von räumlich nahen Nothilfebedürf-
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tigen, sowie die Bevorzugung von Mitbürgern für moralisch ebenso ungerechtfertigt wie den Rassismus. Wir werden uns die beiden Diskussionskontexte Priority for Compatriots und Nähe-Distanz nun nacheinander ansehen. Die Leitfrage wird jeweils sein, ob die Parameter Nähe-Distanz bzw. Mitbürger-Fremder von moralischer Bedeutung sind, und falls ja, wird zu klären sein, inwiefern dies der Fall ist. Ich werde die These vertreten, dass beide Parameter für bestimmte Pflichtarten durchaus moralische Relevanz haben können. Es kann etwa nicht nur zulässig sein, dass Eltern besondere Pflichten gegenüber ihren Kindern haben, sondern dies ist sogar sehr sinnvoll, um die Effizienz der Pflichtenverteilungen zu erhöhen. Problematisch sind dagegen diejenigen Kriterien für Zuständigkeit, die moralisch nicht zulässig sind. Wir werden dies an Fällen sehen, bei denen dieselbe Pflichtart gegenüber gleichermaßen anspruchsberechtigten Personen unterschiedlich bewertet wird. Wir können einerseits zwischen verschiedenen Pflichtarten unterscheiden und andererseits fragen, ob den Parametern Nähe-Distanz, Mitbürger-Fremder in Bezug auf die jeweilige Pflichtart eine moralische Bedeutung zukommt. Dabei ist insbesondere die Unterscheidung zwischen Hilfspflichten in akuten Notlagen und denjenigen Pflichten relevant, die sich aus sozialer Gerechtigkeit ergeben. Diese Unterscheidung wird von Singer selbst nicht getroffen. In der Debatte wird aber die These vertreten, dass es sich beim Teichfall um eine Hilfspflicht, bei der Armut dagegen um ein social justice issue handle (vgl. z. B. Kamm 1999 und 2004, Feinberg 1985, Igneski 2001, Mieth 2008 und 2009 a). Diese Unterscheidung wird Gegenstand von Kapitel 3.6 sein. Zunächst soll es um die Frage gehen, ob die Unterscheidung Nähe-Distanz bzw. Mitbürger-Fremder für individuelle Hilfspflichten einen moralisch relevanten Unterschied macht. Singers und auch Peter Ungers Grundidee besteht darin, dass wir allen, die in lebensbedrohlicher Not sind, so viel abgeben müssen, wie wir können, ohne selber hilfsbedürftig zu werden – und das so lange, bis das Weltarmutsproblem gelöst ist (vgl. Unger 1996, 147 u.ö.). Dabei geht Singer, wie wir schon gesehen haben, von einer unbedingten Hilfspflicht aus, die sowohl im Teichfall als auch im Armutsfall vorliege (vgl. Singer 1984, 185). Beide Fälle werden unter dem oben schon genannten Hilfsprinzip bzw. einem Schadensverhinderungsprinzip zusammengefasst: Wann immer es in unserer Macht steht, etwas Schreckliches zu verhindern, ohne dass etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung geopfert wird, sollten wir es tun (ebd., 229).
Singer glaubt, dass das Prinzip hinreichend allgemein und grundlegend ist, um sowohl für Konsequentialisten als auch für Nicht-Konsequentialisten Geltung
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Einwände gegen die Analogiethese
beanspruchen zu können. Er formuliert also ein allgemeines Moralprinzip.3 Der Tatsache, dass unsere moralischen Intuitionen die beiden Fälle Teich und Armut unterschiedlich bewerten, widmet Peter Unger eine eigene Untersuchung. Seine beiden Modellsituationen sind diese: Einerseits würden wir es für moralisch zwingend halten, einem selbstverschuldeten Unfallopfer, das (nur) sein Bein zu verlieren droht, mit einigem Aufwand zu helfen: Wir würden sogar in Kauf nehmen, dass die teuren Sitze unseres schönen, neuen Autos beschädigt werden. Andererseits sind wir jederzeit bereit dazu, einen Spendenaufruf von UNICEF im Müll verschwinden zu lassen, obwohl wir durch eine geringe Geldspende – so Unger – die Leben mehrerer Kinder retten könnten. Was Unger mit seinen Beispielen zeigen will, sind vier inkohärente moralische Bewertungsweisen: Erstens helfen wir den Not leidenden Kindern nicht, obwohl es weniger Unannehmlichkeiten brächte als die Hilfe gegenüber dem Unfallopfer. Zweitens helfen wir den Kindern nicht, obwohl wir mehrere von ihnen vor dem Tod retten könnten – das Unfallopfer dagegen ist nur eine Person, die auch nur ihr Bein verloren hätte, wenn sie nicht sofort Hilfe bekommen hätte. Drittens nimmt Unger an, dass der Unfall selbstverschuldet war, wohingegen die Kinder, die wir retten könnten, an ihrer Armut unschuldig sind. Trotzdem helfen wir dem Unfallopfer, den Kindern nicht. Viertens sind wir von der UNICEF direkt auf die Situation der Kinder aufmerksam gemacht und um Hilfe gebeten worden – wir wissen also genau wie bei dem Unfallopfer über die Notlage Bescheid und darüber, dass wir helfen
3 Dieses Moralprinzip ist allerdings schon durch den Teichfall nicht abgedeckt, aus dem Singer es ableitet. Denn aus dem Teichfall folgt nicht, dass man jedes Mal helfen muss, wenn man helfen kann und etwas Schlimmes auf dem Spiel steht. Wenn also schon das Hilfsprinzip nicht durch den Teichfall abgedeckt ist, dann auch nicht dessen Anwendung auf den Armutsfall. An dieser Stelle könnte man entsprechend Singers Hilfsprinzip zurückweisen, und damit auch den Armutsfall als einen, der diesem Prinzip folgt (diesen Punkt verdanke ich Norbert Anwander). Eine Variante dieses Einwandes vertritt auch Michael McKinsey. Er verteidigt die These, dass aus Singers Hilfsprinzip nicht folgt, dass wir etwas falsch machen, wenn wir den Armen nicht helfen, sondern stattdessen andere Übel beseitigen: „no individual-benevolence principle supports the claim that individual members of affluent societies are obligated to help the starving“ (McKinsey 1981, 315). Allerdings kann dieser direkte Einwand nicht gegen Ungers Beispiele ankommen, die gar kein allgemeines Hilfsprinzip brauchen, um unsere moralischen Intuitionen in Frage zu stellen. Geht man hingegen davon aus, dass ein solches Prinzip nötig ist, um zu begründen, dass wir sowohl gegenüber nahestehenden Unfallopfern als auch gegenüber den Armen starke Hilfspflichten haben, so endet man ebenfalls in der Sackgasse, dass sich die Prinzipien, die sich aus Ungers Buch rekonstruieren lassen, nicht dazu eignen, zu zeigen, dass wir insbesondere den Armen gegenüber Hilfspflichten haben und nicht allgemein gegenüber Bedürftigen (diesen Punkt macht Feldman 1999).
Der Zuständigkeitseinwand
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können, sowie darüber, dass die Kinder sterben könnten, wenn wir nicht helfen. Warum tun die meisten von uns dennoch nichts? Wie Singer kommt Unger zu dem Ergebnis, dass unsere (nicht besonders strengen) Intuitionen in Bezug auf unsere Hilfspflichten gegenüber den Armen in den Entwicklungsländern falsch und illusionär sind und also revidiert werden müssen. Sie sind, wie Unger meint, aus der moralisch ungerechtfertigten Annahme erwachsen, dass wir nur denen verpflichtet sind, die uns nahe stehen, mit denen wir uns in derselben Situation befinden. Dieses Vorurteil, das einer kohärenten Interpretation unserer Wertvorstellungen widerspreche, gelte es durch eine revisionäre Moral zu überwinden. Diese revisionäre Moral würde ausschließlich gütertheoretisch fundiert sein. Die Frage, wozu wir verpflichtet sind, würde sich grundsätzlich aus Güterabwägungen ergeben. Ungers Argumentation lautet: Wenn ich hier schon unter einigem Aufwand das Bein eines Verletzten rette, dann muss ich ja wohl erst recht mit mindestens demselben Aufwand versuchen, das Leben mehrerer Personen zu retten. Wenn ich für meine Kinder alles tun würde, dann muss ich für Personen, die sich in größerer Not befinden, auch alles tun. Wie revisionär diese Moral in ihren Konsequenzen ist, zeigt sich in den letzten Kapiteln von Ungers Buch: Wir müssten unser gesamtes Leben so umgestalten, dass wir möglichst effizient helfen können. Wir müssten insbesondere unsere Berufswahl nicht nach eigenen Vorlieben und Interessen, sondern so treffen, dass wir möglichst viel Geld verdienen, um es spenden zu können. Ferner sollten wir unseren Nächsten: Eltern, Partner und Kindern, nur das Nötigste zukommen lassen und selbst ebenfalls allem überflüssigen Luxus entsagen. Am Ende steht das ganze Leben im Dienst der Hilfe für die (unschuldig) Notleidenden. Dass hier etwas im Übergang von intuitiv plausiblen Hilfsbeispielen zum Helfen als Lebensaufgabe nicht stimmen kann, hat David Lewis angemerkt (Lewis 2000). Er ist im Unterschied zu Unger nicht der Meinung, dass eine konsequente Anwendung unserer moralischen Grundüberzeugungen so weit führen würde, wie Unger behauptet. Das Phänomen der separation sei vielmehr gerade grundlegend für unsere moralischen Bewertungen: Wir fühlen uns nur gegenüber Menschen zur Hilfe verpflichtet, die „mit uns in derselben Situation sind“. Ich nenne das den Zuständigkeitseinwand: Zuständigkeitseinwand: Daraus, dass A jemandem helfen kann, folgt nicht, dass er ihm auch helfen muss. Wir müssen nur denen helfen, für die wir in besonderer Weise zuständig sind.
Das bedeutet, dass Singers Schadensverhinderungsprinzip insgesamt in Frage gestellt wird. Wir müssen eben, so Lewis‚ These, nicht immer helfen, wenn wir etwas Schreckliches verhindern könnten. Vielmehr muss noch etwas hinzutre-
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ten, damit wir eine entsprechende Pflicht haben: Wir müssen irgendwie mit demjenigen, der unsere Hilfe braucht, in einer speziellen Verbindung stehen. Das, so Lewis, sagen uns unsere alltäglichen moralischen Intuitionen, zu denen es gehört, dass sie verschiedene Fälle unterschiedlich bewerten; separation soll also zu unseren moralischen Urteilen gehören. Wir sind für den Beinverletzten zuständig, nicht aber für fremde Kinder, die in großer Not sind. Wir sind mit dem Beinverletzten „in the same situation“, mit den Notleidenden in den am wenigsten entwickelten Ländern nicht. Aber was meint Lewis mit separation? Was ist das Kriterium dafür, mit jemandem „in einer Situation“ zu sein? Lewis meint, wir seien mit Ungers Beinverletztem durch die face-to-face-situtation „grouped together psychologically within a salient situation“ (ebd., 156). Für das entfernt notleidende Kind gelte dies jedoch nicht. Lewis erläutert das Phänomen der separation an zwei eigenen Beispielen. Im ersten Beispiel steht im Zweiten Weltkrieg ganz England unter Beschuss. Die Briten erreichen durch einen Trick, dass die Deutschen ihre Bomben nicht auf London, sondern auf ein weniger dicht besiedeltes Gebiet werfen. Diese Variante von Gottspielen würden die „Geopferten“ laut Lewis akzeptieren. Doch man würde es nicht akzeptieren, so Lewis’ zweites Beispiel, sich als (lebender, gesunder) Organspender zur Rettung mehrerer Kranker ausnehmen zu lassen (zum Problem der Zulässigkeit der Verletzung der Rechte Dritter vgl. Kapitel 3.4). Im zweiten Fall sei separation angemessen: „those who could be butchered to provide the needed organs are most naturally viewed just as uninvolved bystanders“ (ebd., 157). Im ersten Fall dagegen seien Opfer und Gerettete „all involved in the same salient situation“ (ebd.). Aber wie passt das zu Singers Teich und Ungers Beinverletztem? Die Bedürftigen und der potentielle Helfer sind doch hier nicht wie die Briten einer gemeinsamen Bedrohung ausgesetzt. Worauf will Lewis hinaus? Darauf, dass wir Mitbürgern oder Verwandten eher helfen und zu größeren Opfern bereit sind als gegenüber Fremden? Darauf, dass wir denen helfen müssen, mit denen wir direkt konfrontiert sind? Darauf, dass Helfen nicht zuviel kosten darf? Seine Beispiele sind dafür nicht sehr hilfreich. Es gibt unabhängig von Lewis’ Vorschlag vier plausible Arten, Zuständigkeit zu verstehen: Erstens kann man Zuständigkeit im Sinne vorverhaltensabhängiger positiver Pflichten verstehen, d. h. wir müssen nur denen helfen, für die wir besonders verantwortlich sind. Solche Verantwortung kann sich aus speziellen Pflichten (wie der Fürsorge- und Aufsichtspflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern) oder aus Berufspflichten (wie den Berufspflichten des Arztes, Bademeisters oder Feuerwehrmanns) ergeben (vgl. Kapitel 1.2). Wir erinnern uns: Dieter Birnbacher hat vorgeschlagen, zwischen verschiedenen Verbindlichkeitsgraden von Hand-
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lungspflichten zu unterscheiden. Gemeinsam ist diesen Pflichten, dass sie in der Regel Leistungen vom Pflichtträger verlangen und dass sie die Situation dessen, der einen entsprechenden moralischen Anspruch hat, verbessern. Differenziert werden diese Pflichten bei Birnbacher im Hinblick auf ihren jeweiligen Verpflichtungsgrund und den Verpflichtungsumfang. Grundsätzlich geht Birnbacher von der liberalen Grundeinstellung aus, dass Handlungspflichten eine größere Einschränkung der Autonomie nach sich ziehen können als Unterlassungspflichten. In diesem Sinne spricht er von Stufen der Heteronomie bei Handlungspflichten. Eine Minimalmoral würde nur verlangen, andere nicht zu verletzen und denen, die man selbst verletzt hat, zu helfen (vgl. Birnbacher 1995, 276). Dies wäre allerdings in unserer Terminologie eine Handlungspflicht, aber keine Hilfspflicht im eigentlichen Sinn, sondern eine Kompensationspflicht. Eine weitergehende Moral würde verlangen, auch denen zu helfen, die von anderen verletzt wurden. Auf einer dritten Stufe wäre eine Moral angesiedelt, die verlangen würde, auch denen zu helfen, die aus natürlichen Gründen bedürftig sind. Von diesen Überlegungen ausgehend kommt Birnbacher zu der bereits in Kapitel 2.1 erläuterten Auflistung der zunehmenden Stufen der Heteronomie bei Handlungspflichten. Allerdings haben die Analysen des zweiten Kapitels gezeigt, dass es kein prinzipielles Argument gegen starke vorverhaltensunabhängige positive Pflichten gibt. Vorverhaltensabhängigkeit versus Vorverhaltensunabhängigkeit kann keine prinzipielle Disanalogie zwischen den Fällen beschreiben. Es könnte höchstens sein, dass aus empirischen Gründen gerade im Armutsfall Vorverhaltensabhängigkeit vorliegt, wie Thomas Pogge behauptet. Dann wären unsere Pflichten gegenüber den Armen allerdings nicht schwächer, sondern höchstens noch stärker als im Teichfall: Wir hätten es nicht mit Hilfs-, sondern mit Kompensationspflichten zu tun. Mit dieser These von Thomas Pogge werden wir uns in Kapitel 3.7 befassen. Zweitens kann man Zuständigkeit im Sinne der Unterscheidung MitbürgerFremder verstehen. Mit diesem Versuch werden wir uns in Kapitel 3.1.1 befassen. Drittens kann man Zuständigkeit im Sinne der Nähe und Distanz bzw. der Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit der Hilfsmöglichkeit verstehen, d. h. wir müssen nur denen helfen, mit deren Notlage wir räumlich und zeitlich direkt konfrontiert sind. Wir werden die beiden letzteren Möglichkeiten, Zuständigkeit zu verstehen, im Folgenden untersuchen und prüfen, ob sich ein moralisch relevanter Unterschied zwischen der Zuständigkeit im Bein- bzw. Teichfall und dem Armutsfall ergibt (Kapitel 3.1.2). Ich werde im Anschluss an Violetta Igneski die These vertreten, dass der moralisch relevante Unterschied der beiden Fälle in puncto Zuständigkeit im Hinblick auf die Bestimmtheit (Teichfall) und Unterbestimmtheit (Armutsfall) der Situation besteht (Kapitel 3.1.3).
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Darüber hinaus wäre es denkbar, dass im Teichfall individuelle, im Armutsfall dagegen institutionelle Zuständigkeit besteht. Diese These werden wir in den Kapiteln 3.7 bis 3.9 untersuchen. Mit ihr ist schwer umzugehen, da Institutionen einerseits im Armutsfall effizienter helfen und auch die Lasten der Hilfe gerechter verteilen könnten. Andererseits haben wir es mit nichtidealen Bedingungen zu tun: Unter den gegebenen nichtidealen institutionellen Voraussetzungen bleiben für Individuen Hilfspflichten übrig, deren Inhalt genau zu bestimmen ist. Ich werde in diesem dritten Kapitel die These vertreten, dass es sich bei Teich und Armut um verschiedene Notlagen handelt. Dies schließt allerdings noch nicht aus, dass es auch im Armutsfall individuelle Hilfspflichten geben kann.
3.1.1 Mitbürger und Fremde In der Debatte um das Weltarmutsproblem gibt es eine Fraktion, die die sogenannte priority-for-compatriots-thesis vertritt. Die Idee ist hier, dass wir Mitbürgern gegenüber in anderer Weise verpflichtet sind als Fremden (vgl. Miller 1995, 1998, 2005, Goodin 1988, dagegen Pogge 2002 b, Kapitel 5). Universalisten wie Singer und Pogge können sich mit einer solchen Sichtweise nicht anfreunden. Singer glaubt, dass moralische Unparteilichkeit nicht mit der Mitbürgerprioritätsthese vereinbar ist. Er stellt die Idee, dass uns mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern spezielle Pflichten verbinden, die wir gegenüber anderen nicht haben, sogar in den Kontext des Rassismus (vgl. Singer 2004, 12 und 17). Thomas Pogge ist dagegen der Meinung, dass die Idee, Familienmitgliedern und Mitbürgern zuerst wohlzutun, nicht an sich verwerflich ist. Problematisch ist das nur, wenn es die negativen Rechte Dritter verletzt. Hinsichtlich unserer negativen Pflichten, die Pogge als Schädigungsverbote versteht, sind wir allen gleich verantwortlich, hier wäre ein Vorrang der Mitbürgerinnen ungerechtfertigt. In Bezug auf positive Pflichten lässt Pogge jedoch im Unterschied zu Singer Differenzierung zu (vgl. Pogge 2002 b, Kapitel 5). Sehen wir uns nun an, inwiefern eine Priorität der Belange von Mitbürgern überhaupt plausibel ist. Diesbezüglich werden zwei Hauptthesen vertreten: die Effizienzthese (vgl. Goodin 1988) und die Motivationsthese (vgl. Miller 1995 und 1999). Die Effizienzthese besagt, dass wir Nahestehenden einfach besser helfen können als Fernstehenden. Die Motivationsthese besagt, dass wir Nahestehenden lieber helfen wollen als Fernstehenden. Beide in der englischsprachigen Debatte prominente Thesen gehen auf ein bestimmtes Bild zurück, das David Hume, Adam Smith und Henry Sidgwick entworfen haben. Adam Smith vertritt in der Theorie der ethischen Gefühle eine Position, die man als natürliche Parteilichkeit verstehen könnte. Er vertritt eine Effizienzthe-
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se, die mit einer Motivationsthese verbunden ist. Die Idee ist, dass es bezüglich der Pflichten der Fürsorge und Wohltätigkeit eine Rangordnung gibt. Diese natürliche Rangordnung besteht deswegen, weil sie effizient ist – und deswegen hat uns auch die Natur motivational so eingerichtet, dass wir motivierter sind, Nahestehenden eher zu helfen als Fernstehenden. Dieses Effizienzprinzip vertraut jeden Menschen zunächst der Selbstsorge (Stoa) an: „Jeder Mensch ist […] in erster Linie und hauptsächlich seiner eigenen Obsorge empfohlen; und sicherlich ist jeder Mensch in jeder Beziehung geschickter und geeigneter, für sich selbst zu sorgen als für irgendeinen anderen“ (Smith 1926, 371). Denn der Maßstab für Wohlergehen, eigene Lust und Unlustempfindungen, ist einem selbst am besten zugänglich. In Bezug auf andere haben wir davon, so Smith, nur Abbilder in Form von reflektierten oder sympathetischen Bildern von Empfindungen. Gegenstand der Zuneigung sind dann Familienmitglieder. Dabei kommt es allerdings nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern auf die soziale Nähe an. Denn Sympathie wird durch Anpassung aneinander generiert. Die stärksten Pflichten gegenüber anderen sind natürliche Fürsorgepflichten, denn von Natur hängen Kinder von der Fürsorge ihrer Eltern ab, diese ist als intensivere Bindung als die der Kinder an die Eltern naturgegeben und damit naturgewollt. Das Naturgewollte, das Eigeninteressierte und das Moralische fallen bei Smith bezüglich der natürlichen Fürsorgepflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern idealiter zusammen. Gleichzeitig vermindert sich die Zuneigung, je weiter Personen vom eigenen Lebenszusammenhang entfernt sind: „Die Zuneigung vermindert sich gradweise in dem gleichen Verhältnis, als die Verwandtschaftsbeziehungen mehr und mehr entfernte werden“ (ebd., 373). Gegenstand der Zuneigung und Sympathie sind diejenigen, auf die sich diese Gefühle beziehen, und daraus entsteht „unser Wunsch, jenes Glück zu befördern und jenes Elend zu verhindern“ (ebd., 374). Zuneigung führt Smith dann auch auf „eingewurzelte, gewohnheitsmäßige Sympathie“ zurück (ebd., 373). Nun ist ein Standardeinwand gegen eine solche Gefühlsethik, dass nicht klar ist, warum jemand moralisch handeln sollte, dem die Zuneigung fehlt, bzw. warum wir Personen gegenüber moralisch handeln sollten, zu denen wir keine Zuneigung haben. Nahestehende scheinen hier natürlicherweise „besser weg“ zu kommen als Fernstehende – und das scheint moralisch kontraintuitiv. Nun ist allerdings für Smith die Tugend ein Ersatz der natürlichen Zuneigung. Fehlt die natürliche Zuneigung (etwa bei Trennung von Familienmitgliedern), kann sie bei tugendhaften Menschen (vgl. ebd., 375) durch Befolgung moralischer Regeln ersetzt werden:
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[S]o wird doch häufig die Rücksicht auf die allgemeine Regel bis zu einem gewissen Grade deren Stelle vertreten und ein Gefühl hervorbringen, das zwar mit jener Zuneigung nicht völlig einerlei ist, aber doch eine sehr beträchtliche Ähnlichkeit mit dieser besitzen kann (ebd., 374).
Bei lasterhaften und eitlen Menschen kann zwar keine Tugend, aber wenigstens der „Anschein“ von Rücksichtnahme, anstatt der „Achtung vor der allgemeinen Regel“ aber „bloß eine kühle und geheuchelte Höflichkeit“ erreicht werden (ebd., 376). Insgesamt kann man bei Smith drei Stufen der Moral unterscheiden. Erstens die natürliche Tugend. Hier fallen das Zuneigungsmotiv und das moralisch Gebotene, der Inhalt der Tugend, zusammen. Natürliche Tugenden basieren auf familiärer Zuneigung gegenüber Nahestehenden, sie sind gleichsam die Keimzelle der Moral. Auf einer zweiten Stufe spielt die öffentliche Erziehung eine große Rolle. Hier geht es um die künstliche Schaffung von sozialen und moralischen Regeln („Erfindung von Menschen“), die das Zusammenleben dort regeln, wo die Zuneigung keine Verhaltenssicherheit mehr garantiert. Hier geht es um soziale Tugenden, die auf die Gemeinschaft als ganze bezogen sind. Wer diese Tugenden hat, handelt aus innerer Einsicht moralisch und folgt allgemeinen Regeln. Auf der dritten Stufe befinden sich Personen, die die Regeln nur aus Angst vor Sanktionen befolgen. Sie haben von den natürlichen und sozialen Tugenden nur den äußeren Anschein. Meiner Ansicht nach kann man an dieser Stelle sehr viel Sinn aus Smiths Theorie machen, wenn man sich klar macht, dass es sich bei den Pflichten, von denen er spricht, um Fürsorgepflichten handelt. Solche Fürsorgepflichten, wie sie insbesondere von Eltern gegenüber ihren eigenen Kindern bestehen, haben drei Merkmale: Erstens sind sie vorverhaltensabhängig, zweitens sind sie sehr umfangreich. Drittens beziehen sie sich auf das objektive Bedürfnis eines Kindes, Fürsorge zu erfahren. Fürsorgepflichten decken so einen grundlegenden, allgemein gültigen und objektiven Bereich menschlicher Bedürfnisse ab. Als Kinder brauchen wir die Fürsorge unserer Eltern, um ungestört und unbeeinträchtigt aufwachsen zu können. Zentrale menschliche Grundfähigkeiten, wie etwa Martha Nussbaum sie benennt, können ohne das Aufwachsen in einem liebevollen und unterstützenden Umfeld nicht entwickelt werden. Dazu gehört mit Sicherheit die „Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu haben, diese zu lieben, für sie zu sorgen, um sie zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden“ sowie die „Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und kritisch über die eigenen Lebensplanung nachzudenken“ und die „Fähigkeit, für andere und bezogen auf andere zu leben, Verbundenheit mit anderen Menschen zu erkennen und
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zu zeigen und verschiedene Formen von sozialen Beziehungen einzugehen“ (Nussbaum 1999, 57 f.). Man kann sich natürlich mit Platon fragen, warum Fürsorgepflichten insbesondere von den leiblichen Eltern eines Kindes und nicht vielmehr von allen zusammen übernommen werden sollten. Die Antwort darauf ist die, die Adam Smith gibt: Es ist eine natürliche Pflicht, seine eigenen Kinder so gut wie möglich zu versorgen und zu unterstützen. Die natürliche Neigung, die wir dazu in der Regel haben, kompensiert den großen Aufwand, der bei der Erfüllung dieser Pflicht entsteht. Ja, eine Fürsorgepflicht, die so erfüllt wird, dass tatsächlich die Grundbedürfnisse des Kindes optimal befriedigt werden, geht über ein für alle festzulegendes Mindestmaß hinaus. Eine solche Pflicht geht auf die spezifische Elternliebe zurück, die für das optimale Aufwachsen des Kindes notwendig ist. Diese natürliche Liebe und Fürsorge, die zur Aufmerksamkeit auf das Wohl eines Kindes motiviert, kann aber selbst nicht von anderen eingefordert oder gar vom Staat erzwungen werden.4 Gefühle zu haben, kann, wie Kant betont, nicht Gegenstand einer Pflicht sein. So kann auch „Liebe als Neigung […] nicht geboten werden“, nur das „Wohlthun aus Pflicht“ (GMS 4, 399). Aber wenn wir alle unseren Kindern gegenüber nur Pflichten erfüllen würden, ohne dass wir ihnen Gefühle entgegen bringen, wären sie schlechter versorgt, als wenn wir ein Interesse daran haben, für unsere eigenen Kinder zu sorgen, was noch über die Pflicht hinaus geht. Bezüglich der Fürsorgepflichten ist Smiths Konzeption völlig einleuchtend. Erstens ist es natürlich und effizient, wenn jeder seine eigenen Kinder versorgt. Denn wer diesen Kindern am nächsten ist und weiß, was sie brauchen, wird sie am besten versorgen. Wer seine Kinder liebt, wird darauf achten, was sie brauchen und sensibel auf ihre Bedürfnisse eingehen können. Auch wer freiwillig die Fürsorge für ein Kind übernimmt, das nicht das Leibliche ist (Adoption), kann für dieses Kind besser sorgen, wenn er ihm nahe ist und es liebt. Wir können, so meine These, auf zwei Arten zu diesen Fürsorgepflichten gelangen: erstens durch unser Vorverhalten, wenn wir eigene Kinder gezeugt haben, zweitens durch freiwillige Übernahme einer Fürsorgepflicht, wenn wir ein Kind adoptieren oder zeitweilig bei uns aufnehmen. Von einer solchen
4 Vgl. O’Neill (1996, 250 f.): „Die sozialen Tugenden stellen selektive Forderungen. Dabei lassen sie es offen, gegenüber wem, wann oder in welcher Weise die Tugend zum Ausdruck kommen soll. Sie verlangen weder allgemeine noch maximale, noch ein bestimmte Menge von Barmherzigkeit oder Wohltätigkeit, sondern nur selektive und wirklich umsetzbare Hilfsbereitschaft, Fürsorge, Zuneigung, Großzügigkeit, Unterstützung oder Solidarität. Folglich können Akte der Tugend weder beansprucht noch preisgegeben, noch mit Rechtsmitteln durchgesetzt werden; und es wird keine allgemeinen Rechte auf tugendhaftes Handeln von Seiten anderer geben.“
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Fürsorgepflicht müssen wir andere positive Pflichten wie Nothilfepflichten und Wohltätigkeitspflichten unterscheiden. Fürsorge gehört in der Tat zu den „selektiven Forderungen“ sozialer Tugenden (O’Neill 1996, 251). Aber ich würde bestreiten, dass es „offen“ ist „gegenüber wem, wann oder in welcher Weise die Tugend zum Ausdruck kommen soll“ (ebd.). Diese Unterbestimmtheit gilt eben für die Tugend der Wohltätigkeit, doch bei der Fürsorge ist klar, dass sie in ihrer Grundform eine natürliche, vorverhaltensabhängige, positive Pflicht darstellt, die gegenüber den eigenen Kindern und später, in abgeschwächter Form, gegenüber den eigenen Eltern besteht. Insofern konkurriert bei einer Fürsorgepflicht gar nicht das eigene Kind mit anderen Kindern. Es wäre absurd, zu erwarten, dass ich für das Kind meiner Nachbarin eine Fürsorgepflicht übernehme. Das liegt daran, dass es ineffizient und unzumutbar ist, von Fremden zu verlangen, dass sie Fürsorgepflichten übernehmen.5 Eine Wohltätigkeitspflicht unterscheidet sich eben dadurch von einer Fürsorgepflicht, dass sie sich nicht auf eine bestimmte Person bezieht, für die umfassend gesorgt werden soll. Hier stellt sich das Problem der Parteilichkeit viel schärfer: Wie können wir legitimieren, dass wir A wohltun und nicht B? Eine Nothilfepflicht unterscheidet sich dadurch von einer Fürsorgepflicht, dass sie zeitlich beschränkt ist: Sie erlischt, wenn die Notlage für eine Person beseitigt ist. Und sie entsteht auch nur, weil eine (fremde) Person sich in einer Notlage befindet und ist vom eigenen Vorverhalten unabhängig. Während die Fürsorgepflicht der Eltern zunächst gar nicht im Widerspruch zu anderen Pflichten wie etwa Nothilfepflichten oder Wohltätigkeitspflichten steht und sich ganz natürlich ergibt, haftet den Pflichten, die wir als Mitbürger einer bestimmten Gemeinschaft haben, etwas Willkürliches an. Das Problem entsteht an der Stelle, wo es um die gemeinsame Verteidigung der natürlichen Gemeinschaft geht.6 In Analogie zur Familie betrachtet Smith den Staat als organisches Ganzes. Dort, wo die Zuneigung und Fürsorge die Familie zusammenhält, erfüllt im Staat
5 Das Problem der Ineffizienz der Übernahme von Fürsorgepflichten durch Fremde begegnet uns oft in Zeitungsschlagzeilen. Es geht dann darum, dass das Jugendamt, das eine Fürsorgepflicht hat, wenn die Eltern nicht im Stande sind, die ihre wahrzunehmen, ein Kind nur, wenn überhaupt, vor dem Schlimmsten bewahren kann. Ein störungsfreies Aufwachsen ist erst gewährleistet, falls sich eine geeignete Person findet, die die Fürsorgepflicht für dieses Kind freiwillig übernimmt. 6 Auch David Hume vertritt die These, „dass die Großmut der Menschen sehr begrenzt ist und nicht leicht über ihre Freunde und Verwandte hinausgeht, und höchstens bis zu ihrem Vaterlande reicht. Auf Grund solcher Kenntnis der menschlichen Natur erwarten wir nichts Unmögliches von Menschen, sondern beurteilen ihren sittlichen Charakter darnach, wie er sich zeigt in dem engen Kreis, in dem sie sich bewegen“ (Hume 1978, 356).
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die „Autorität des Gesetzes“ (Smith 1926, 378) die entsprechende Schutzfunktion. Erstrebt wird Eintracht nach Innen und Verteidigung nach Außen. Dabei trägt schon die innere Eintracht problematische Züge, denn besonders wichtig ist die Anerkennung der sehr Glücklichen (als potentielle Wohltäter) und der sehr Unglücklichen (als Bedürftige). Die Rangeinteilung, der Friede und die Ordnung der Gesellschaft beruhen zum großen Teile auf der Achtung, die wir naturgemäß für die ersteren empfinden. Die Linderung und Tröstung menschlichen Elends hängt ganz und gar von unserem Mitleid mit anderen ab. […] Der Friede und die Ordnung der Gesellschaft ist aber von größerer Wichtigkeit als selbst die Unterstützung der Unglücklichen (ebd., 383).
Die Ordnung der Gesellschaft beruht von Natur auf Unterschieden „der Geburt und des Vermögens“, nicht auf Unterschieden von „Weisheit und Tugend“. Es ist natürlich (und damit moralisch korrekt), der Größe „Gunst und Parteilichkeit“ entgegen zu bringen, besonders wenn sie „mit Weisheit und Tugend vereint ist“ (ebd., 384). So beantwortet Smith auch die Frage nach der Rangordnung der „wohltätigen Neigungen“ (ebd., 385). Insbesondere sollen wir denen helfen oder wohl tun, die für das Fortbestehen der Gemeinschaft wichtig sind. Denn von dieser Gemeinschaft sind wir abhängig, und gleichzeitig ist sie die größte Einheit, auf deren Gestaltung wir Einfluss haben. Der Staat oder die Landesherrschaft, in der wir geboren und erzogen worden sind, und unter deren Schutz wir weiter leben, ist in der Mehrzahl der Fälle die größte Gemeinschaft, auf deren Glück oder Elend unser gutes oder schlechtes Verhalten einen großen Einfluß haben kann. […] Er umfaßt nicht nur uns selbst, sondern meistens auch alle diejenigen, die das Ziel unserer zärtlichsten Zuneigung bilden, unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Verwandten, unsere Freunde, unsere Wohltäter, kurz alle, die wir von Natur aus am meisten lieben und verehren; ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit hängen in gewissem Maße von seinem Wohlergehen und seiner Sicherheit ab (ebd., 386; Hervorhebung CM).
Dabei scheint die Priorität des Wohlergehens und der Sicherheit des eigenen Staates durchaus ambivalent. Einerseits wird von Smith der Patriotismus verteidigt: „Der Patriot, der sein Leben für die Sicherheit oder sogar für die eitle Ruhmgier dieser Gemeinschaft einsetzt, scheint uns durchaus im Sinne der sittlichen Richtigkeit zu handeln“ (ebd., 387). Denn er stellt sein eigenes Wohlergehen unter das des Staates.7 Andererseits steht Smith dem Patriotismus skep-
7 „Er scheint sich selbst in dem Lichte zu betrachten, in dem ihn der unparteiische Zuschauer natürlicher- und notwendigerweise ansieht, nämlich bloß als einen einzelnen aus der großen
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tisch gegenüber, da er auf ungerechtfertigte Weise parteiisch ist. Verdienste der eigenen Nation werden „mit einer höchst parteiischen Bewunderung“ betrachtet, und „äußerst ungerechterweise“ höher gestellt „als diejenigen aller anderen Nationen“ (ebd.). Patriotismus, die „Liebe zu unserem eigenen Volke“ (ebd., 388), führt sogar zu „Eifersucht und […] starkem Neid“ gegenüber anderen Völkern (ebd.). Auf internationaler Ebene wirkt sich diese Parteilichkeit destabilisierend aus. Während die familiäre Parteilichkeit durch die Gesetze innerhalb des Staates korrigiert und eingeschränkt wird, herrscht auf internationaler Ebene ein Naturzustand. Zwischen den Völkern bestehen Furcht und Misstrauen; sie befinden sich in einem ständigen Wettrüsten. Denn die Völker haben „keinen gemeinsamen Vorgesetzten, […] der ihre Streitigkeiten entscheiden könnte“ (ebd.). Außerdem steht der Patriotismus im Widerspruch zum universellen Wohlwollen. „Die Liebe zu unserem eigenen Lande scheint nicht von der Liebe zur Menschheit herzustammen. Jenes Gefühl ist von diesem durchaus abhängig und scheint uns mitunter sogar geneigt zu machen, im Widerspruch zu letzterem zu handeln“ (ebd., 389). Während natürliche Fürsorgepflichten sich gut begründen lassen, da es effizienter ist, wenn sich Eltern vor allem um ihre eigenen Kinder kümmern, da sie deren Bedürfnisse am besten kennen, scheint die Einheit Staat eher willkürlich. Auch Smith scheint zwar natürliche Fürsorgepflichten zu verteidigen, dem Patriotismus gegenüber allerdings eher skeptisch eingestellt zu sein. Jene Weisheit, welche das System der menschlichen Neigungen und Gefühle ebenso erfunden hat wie jeden anderen Teil der Natur, scheint der Überzeugung gewesen zu sein, daß der Vorteil jener großen Gemeinschaft der Menschheit dann am besten gefördert würde, wenn sie die Aufmerksamkeit eines jeden Individuums in erster Linie gerade auf jenen Teil derselben lenke, der am meisten innerhalb des Bereiches seiner Fähigkeiten ebenso wie seines Verständnisses gelegen ist (ebd., 390).
Gleichwohl fallen bei Smith die Grenzen der Wohltätigkeit mit den Grenzen des Staates zusammen. Dafür nennt er ein Effizienzargument: Man kann nicht allen Menschen wohltun. In den meisten Fällen können wir eher denen wohltun, die unsere Mitbürger sind. Dabei scheint es allerdings kontingent, dass wir unseren Mitbürgern eher wohltun können als Fremden. Ein prinzipielles Argument für die Beschränkung der Wohltätigkeit auf Mitbürger liefert Smith nicht.
Menge, der in den Augen jenes gerechten Richters nicht mehr Bedeutung besitzt als irgendein anderer aus dieser Menge, der aber jederzeit verpflichtet ist, sich der Sicherheit, dem Dienste und selbst dem Ruhme der Mehrzahl zu weihen und zu opfern“ (Smith 1926, 387). Eine positive Bewertung der gemeinschaftskonstitutiven Tugend des Patriotismus findet sich auch bei MacIntyre (1987, 338 f.).
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Unsere guten Dienste können sich zwar in wirksamer Weise nur sehr selten auf einen größeren Kreis von Menschen erstrecken als auf denjenigen unseres eigenen Landes, unser guter Wille jedoch ist durch keine Grenzen eingeschränkt, sondern kann die Unendlichkeit des Universums umfassen (ebd., 397).
Während das Wohltun aus Effizienzgründen (in „wirksamer Weise“) auf Landesgenossen beschränkt wird, ist das Wohlwollen universell. Was einen an dieser Argumentation verwundern kann, ist Folgendes: Wenn der Einzelne bereit ist, sein Privatinteresse seinem Stand oder der Gemeinschaft zu opfern, wie Smith behauptet, warum dann nicht die Interessen des Standes oder der Gemeinschaft dem Interesse des Universums (vgl. ebd., 398)? Smiths Antwort lautet schlicht, dass der Einzelne damit überfordert wäre. Der Einzelne ist nicht dazu bestimmt, sich um alles zu kümmern, das sei vielmehr Gottes Aufgabe: Die Verwaltung des großen Systems des Universums, die Sorge für die allgemeinste Glückseligkeit aller vernünftigen und fühlenden Wesen ist indessen das Geschäft Gottes und nicht das des Menschen. Dem Menschen ist ein weit niedrigerer Arbeitsbezirk zugewiesen, aber einer, der der Schwäche seiner Fähigkeiten und der Enge seiner Fassungskraft weit angemessener ist: die Sorge für seine eigene Glückseligkeit, für die seiner Familie, seiner Freunde und seines Landes (ebd., 400 f.). Mehr noch: Durch die „Betrachtung jener erhabeneren Gegenstände“ darf er nicht das Wohlergehen, das in seinen Aufgabenbereich fällt, vergessen (ebd., 401).
Henry Sidgwick zieht mehr als ein Jahrhundert später in Bezug auf die moralischen Standards des viktorianischen Englands eine ähnliche Konsequenz: We should all agree that each of us is bound to show kindness to his parents and spouse and children, and to other kinsmen in a less degree. And to those who have rendered services to him, and any others whom he may have admitted to his intimacy and called friends. And to neighbors and to fellow-countrymen more than others: and perhaps we may say to those of our own race more than to black or yellow men, and generally to human beings in proportion to their affinity to ourselves (Sidgwick 1907, 246).
Hier ist dann der Punkt erreicht, an dem Peter Singer gegen die Mitbürgerprioritätsthese den Rassismusverdacht erhebt (Singer 2004, 17). Er stellt die Parteilichkeit des Rassismus in eine Reihe mit der Parteilichkeit der familiären Beziehungen und der Parteilichkeit für die Mitbürger. Nun glaube ich, dass in dieser Debatte einiges durcheinander geht. Ich möchte die These vertreten, dass die Frage Mitbürger-Fremder für die Begründung und Stärke einer individuellen Nothilfepflicht in einer akuten Notlage, in der die unterlassene Hilfeleistung zurechenbar ist, gar keine Rolle spielt. Es ist
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nicht dieser Faktor, der die beiden Fälle Teich und Armut unterscheidet. Ein einfaches Beispiel zeigt das. Spanienfall: Silke ist in Spanien im Urlaub. Da Silke Massentourismus hasst, ist Silke extra außerhalb der Touristensaison in einen kleinen Ort gefahren, in dem sich nur Einheimische aufhalten. Nun sieht Silke auf ihrem Weg zum Strand, dass ein (einheimisches, spanisches) Kind in einem Zierteich ins Wasser gefallen ist. Silke kann das Kind retten, um den Preis, dass sie ihren 500 Euro teuren Surfkurs verpasst.
Es wird kaum von Belang für die Hilfspflicht von Silke sein, ob das Kind ein Mitbürger oder ein Fremder ist. Auch wenn vor ihrer Universität in Frankfurt eine Somali in den Zierteich gefallen wäre, hätte sie das Kind natürlich genauso retten sollen und wohl auch genauso umstandslos gerettet wie eine deutsche Mitbürgerin. Wer die beiden Fälle Spanienfall und Singers Teichfall, oder Singers Teichfall und den Teichfall mit einem somalischen Kind verschieden bewertet, steht in der Tat unter Rassismusverdacht. Aber um die beiden Beispielfälle Teich und UNICEF (Unger) unterschiedlich zu bewerten, muss man, so meine These, kein Rassist sein. Denn es scheint auch im UNICEF-Fall, in dem wir aufgerufen werden, Geld für ein Medikament zu spenden, keine große Rolle zu spielen, ob es um ein Mitbürgerkind oder ein fremdes Kind geht. Den Spendenaufruf würde eine deutsche Durchschnittsperson wohl mit ebenso hoher oder niedriger Wahrscheinlichkeit ignorieren, wenn es um ein Mitbürgerkind ginge, wie bei einem Kind in einem fernen Land. Wir können hier an Aufrufe zu Beiträgen zur Krebsforschung für Krebsarten, die insbesondere Kinder betreffen, denken, oder an Aufrufe zur Knochenmarkspende oder zur finanziellen Unterstützung von Knochenmarkspenderdateien. Andererseits glaube ich, dass die Mitbürgerprioritätsthese in folgenden zwei Hinsichten überzeugend sein kann. Erstens ist sie angesichts einer gemeinsamen Bedrohung als Bürger eines Staats plausibel. Wir erinnern uns an Lewis’ Beispiel aus dem zweiten Weltkrieg. Wenn ganz England unter Beschuss steht, ist die Solidarität der Engländer füreinander als gemeinsam Bedrohte und Angegriffene entsprechend groß. Zweitens macht die Mitbürgerprioritätsthese Sinn, wenn es um gemeinsame Lastenverteilung innerhalb eines Sozialsystems geht. Hier behandeln wir, wie Goodin sich ausdrückt, Mitbürger schlechter als Fremde (vgl. Goodin 1988). Damit meint er, dass wir Mitbürgern Lasten wie Steuern oder den Wehrdienst auferlegen, die wir Fremden nicht abverlangen. Jetzt könnte es natürlich sein, dass die Armen einer Art der Unterstützung bedürfen, die eben von ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern erbracht werden sollte. Das heißt aber dann schon, dass sich die Fälle im Hinblick auf die Art der Notlage unterscheiden (vgl. Feinberg 1985, Mieth 2008
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und 2009 a). Die Mitbürgerprioritätsthese setzt, um sinnvoll zu sein, schon die Disanalogie der beiden Fälle bezüglich eines anderen Faktors voraus. Wir haben oben gesehen, dass sie in einem abgewandelten Teichfall, in dem wir nur die Nationalität des Kindes ändern und alle anderen Faktoren gleich lassen, keine Rolle spielt. Wenn sie eine Rolle spielt, dann aufgrund eines anderen Faktors, der zwischen den beiden Fällen verschieden ist. Und das ist, so meine These, die Art der Notlage. Die beiden Notlagen Teich und Armut sind zwar dem Grad nach gleich, da in beiden Fällen das (Über-)Leben auf kurz oder lang bedroht ist. Sie sind aber der Art nach verschieden, denn im einen Fall handelt es sich um eine akute Notlage, die durch ein besseres institutionelles Arrangement nicht verhindert werden kann, im anderen Fall handelt es sich um eine strukturelle Notlage, die, sofern sie durch realisierbare institutionelle Arrangements vermeidbar wäre, ein Gerechtigkeitsproblem darstellt (dazu Kapitel 3.6 und 4.3). Es könnte jetzt sein, dass ein solches Gerechtigkeitsproblem primär die Mitbürger derer, die sich in solch einer strukturellen Notlage befinden, angeht und Fremde nicht. Die Mitbürgerprioritätsthese wird also für uns wieder relevant, wenn wir fragen, ob sich die Fälle Teich und Armut in der Hinsicht unterscheiden, dass das Teichbeispiel eine Frage individueller Nothilfe ist, während es sich bei der Armut um ein social justice issue handelt (dazu unten, Kapitel 3.6).
3.1.2 Nähe und Distanz Neben der Frage, ob die Unterscheidung Mitbürger-Fremder eine Rolle für die unterschiedliche Beurteilung der beiden Fälle spielt, kann man fragen, ob die Unterscheidung physische Nähe-Distanz eine Rolle spielt. Diese Unterscheidung ist mit der Unterscheidung Mitbürger-Fremder nicht deckungsgleich. Sie kann zunächst besser erklären, warum Silke in den oben konstruierten Parallelfällen auch das spanische Kind retten soll. Wenn alle anderen Faktoren gleich sind und nur die Nationalität des Kindes variiert wird, so scheint diese für die Stärke der Hilfspflicht keine Rolle zu spielen. Vielmehr scheint die physische Nähe des jeweiligen Kindes die Hilfspflicht stark zu machen. Andersherum könnte man dann meinen, dass wir gegenüber Menschen, die sich an weit entfernten Orten befinden, weniger starke oder gar keine Pflichten haben. Die Frage ist nun, ob wir die Zuständigkeit im Teichfall und die abgeschwächte oder nicht vorhandene Zuständigkeit im Armutsfall über die Differenz von Nähe und Distanz erklären können. Dazu lautet meine These: Die Differenz von Nähe und Distanz kann allein die moralisch relevante Differenz zwischen den Beispielen nicht beschreiben. Es sind andere Parameter, die allerdings oft mit Distanz gekoppelt
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sind, die zu einer Abschwächung der individuellen Hilfspflichten gegenüber den von Armut Betroffenen führen. Das Problem der Distanz in der Moral hat insbesondere Frances Kamm ausführlich untersucht. Sie kommt zu folgender Problembeschreibung: The problem of distance in morality (PDM): „the problem of whether the degree of physical distance per se between ourselves and strangers who need help should ever affect our obligation to help“ (Kamm 1999 a, 177).
Sie fährt fort: To say distance matters is just to say, minimally, that, other things equal, we will have to do more for the near than for the distant. One measure of this difference could be whom we have a duty to save when we cannot save all; another measure could be differential upper limits on required costs to ourselves for saving – higher for the near and lower for the far (ebd., 178).
Kamm vertritt die These, dass diese Standardversion von PDM irreführend ist: „Common-sense intuitions about cases suggest that we think that at least sometimes we have a stronger obligation to help those in need who are physically near us than those who are at a greater distance“ (ebd.). Die Singer-Beispiele scheinen das zu belegen. Allerdings sieht Kamm hier folgendes Problem: „If we are using cases to see whether distance per se matters, all other factors in the cases should be held constant“ (ebd., 176). Genau das sei aber bei Teich (Pond) und Armut (Overseas) nicht der Fall. Weitere Faktoren scheinen sich in beiden Fällen zu unterscheiden und für die moralische Beurteilung der Fälle eine zentrale Rolle zu spielen. Kamm kommt auf fünf Faktoren, die wir im Sinne der oben entwickelten Kriterien für Hilfspflichten zuordnen können (siehe oben, Kapitel 2.9): (1) Geldverlust als Nebenfolge der Hilfe/Geldverlust als Mittel zur Hilfe (Direktheit vs. Indirektheit); (2) Mitbürger/Fremder (spezielle Zuständigkeit I); (3) einziger Helfer/mehrere Helfer (Zuständigkeit II: Zurechenbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung); (4) Nähe erhöht die Erfolgsaussicht/Distanz vermindert sie (Aussicht auf Erfolg); (5) Gerechtigkeitsproblem (strukturelle Notlage)/akute Notlage (Nothilfeproblem) (Art der Bedürftigkeit) Diese Unterschiede müssen, so Kamms Idee, eliminiert werden, um zu sehen, ob Distanz an sich einen Unterschied macht. Ihr Ziel ist „equalizing the cases“:
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if we are trying to find out whether a factor x matters per se in our intuitions, we must construct a set of comparable cases, one with factor x and one without it, and hold all other factors in the two cases constant […] if there is even one case in which it does matter, this shows that it matters per se intuitively (Kamm 1999 a, 179).
Es muss dann aber Distanz sein, die den Ausschlag gibt, und nicht einer der anderen Faktoren. Meine These lautet allerdings, dass andere Faktoren den Ausschlag geben. Physikalische Distanz ist nur moralisch relevant, sofern sie mit einem der anderen fünf Faktoren korreliert ist – und das ist, wie schon Kamms eigene Auflistung nahelegt, in der Regel der Fall. Kamm glaubt, dass für die Standardversion von PDM gilt: „[it] arises through an apparent conflict between (a) intuitions that proximity matters, and (b) the possibility of theoretical justification of these intuitions“ (ebd., 180 f.). Daher schlägt sie folgende Reformulierung vor: Zu untersuchen gelte es das „problem of whether proximity per se between ourselves and strangers who need help should affect our obligation to aid“ (ebd. 181). Zusammengefasst vertritt Kamm drei Thesen: These (1): Die Standardbeschreibung von PDM ist irreführend. These (2): „I hope to show that the actual contours of our intuitions express the belief that I can be strongly obligated to help those far from me even while they also express the belief that proximity matters morally“ (ebd.). These (3): „intuitions that proximity matters are correct: that is, might be revealing of what our obligations really are“ (ebd.).
Die Thesen (2) und (3) sind erläuterungsbedürftig. Wenn wir einerseits starke Pflichten gegenüber Menschen haben sollen, die von uns entfernt sind, und Nähe andererseits über die Stärke unserer Pflichten entscheidet, so klingt das zunächst paradox. Die Frage ist, was überhaupt unter Nähe und Distanz verstanden werden soll. Kamm interpretiert Nähe nicht im Sinne einer schon normativ eingefärbten Zuständigkeit, die sich etwa aus familiärer Nähe ergeben könnte. Vielmehr ist mit Nähe und Distanz die rein physikalische Entfernung zwischen den Körperteilen des Handelnden, also des potentiellen Helfers, und den Körperteilen des Opfers gemeint (vgl. ebd., 186 f.). Dabei unterscheidet Kamm zwischen vier für das Zustandekommen einer Pflicht relevanten Faktoren: Dem Handelnden, dem Opfer, der Bedrohung und dem Mittel. Eine Relation der Nähe kann nun sowohl zwischen dem Handelnden und dem Opfer bestehen, selbst wenn etwa die Mittel oder die Bedrohung von beiden entfernt sind. Andererseits kann eine Relation der Nähe dadurch entstehen, dass die Mittel des Handelnden nahe beim Opfer sind, oder der Handelnde der Be-
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drohung für das Opfer nahe ist, sodass er eingreifen und einen möglichen Schaden vom Opfer abwenden kann. Durch diese Unterscheidung gelingt es Kamm, das Problem der Distanz in der Moral (PDM) zu reformulieren. These: „the intuition that nearness matters morally does not, contrary to the standard interpretation of the PDM, conflict with our having a strong obligation to help distant strangers“ (ebd., 189).
Denn wenn wir eine Bedrohung, die sich in unserer Nähe befindet, von einem entfernten Fremden abwenden können, dann haben wir eine starke Pflicht, dies zu tun. Wir können also Pflichten gegenüber entfernten Fremden haben und gleichzeitig kann die Nähe (zur Bedrohung) den Ausschlag dafür geben, dass wir eine starke Hilfspflicht haben. Die Nähe des Handelnden zu Opfer, Bedrohung oder Hilfsmitteln gibt den Ausschlag über die Stärke der Pflicht: „we can conclude that, intuitively, we think that we have greater obligations to take care of what is in the area near us, whether this is threats that will cause harm at a distance, or persons who are or will be victims“ (ebd., 190). Da die Standardversion von PDM nur die Nähe zwischen Handelndem und Opfer berücksichtigt, ist sie zu eng. Was dem Handelnden gehört, muss als Hilfsmittel effizient sein, um ihn zu verpflichten: wenn (a) er und seine Mittel nahe dem Opfer sind; (b) er nahe ist, seine Mittel bloß verfügbar; (c) seine Mittel nahe sind, er aber nicht. This is contrary to the standard construal of the PDM, where the significance of nearness is taken to eliminate as strong an obligation to distant strangers. In our most recent cases, it is distance between the agent’s efficacious device and either the threat or the victim that is morally relevant. Our most recent cases also show that describing the PDM so that it involves reference to the distance between ourselves and strangers or threats is misleading, since it may also pertain to distance between our means and strangers or threats (ebd. 191).
Kamms Vorschlag ist, PDM so zu reformulieren, dass es sich auf unseren Aktionsradius bezieht. Wir sind verantwortlich dafür, anderen zu helfen, wenn wir auf ihre Lage wesentlichen Einfluss nehmen können. Und dies ist der Fall, wenn Opfer, Bedrohung oder Mittel in unserer Nähe sind. Revised PDM: the PDM should be understood as whether we can justify our intuition that we have a greater responsibility to take care of needy victims, threats, or means belonging to the victim than we are or were in the areas near us or our efficacious means (ebd., 197).
Nun bleibt die Frage, warum Nähe in moralischer Hinsicht relevant ist. Kamm macht zwei Vorschläge:
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(N1) „One suggestion for justifying the patterns of our intuitions is that the relation that events have to our bodies and the fact that we are embodied persons have significance in the correct moral theory“ (ebd., 198). (N2) „proximity matters as a heuristic device that correlates with morally significant factors, though it itself is not morally significant“ (ebd.).
(N1) scheint aus demselben Grund abzulehnen wie (PDM): Es ist unzureichend, da wir auch verpflichtet sind, wenn das Opfer entfernt, aber die Mittel nah sind. (N2) scheint dagegen erläuterungsbedürftig. Man könnte es erstens im Sinne der Notwendigkeit interpretieren, unseren Hilfspflichten gegenüber Fremden Grenzen zu setzen. Allerdings begrenzt die Verantwortung für die physisch Nahen nicht notwendig die Mühseligkeit von Hilfspflichten. Wer in einem Krisengebiet wohnt oder in eines hineinreist, hat dann automatisch viel mehr und viel stärkere Hilfspflichten als alle anderen. Ferner scheint es willkürlich, die Zumutbarkeitsgrenze bei Hilfspflichten über Nähe und Distanz zu Hilfsbedürftigen zu bestimmen: „if setting limits on aid were all that justified giving us greater obligations for what goes on in the area near us, there would be no more reason to choose the form of limitation than any other geographic way of limiting responsibility“ (ebd., 199). Zweitens könnte man (N2) so interpretieren, dass wir bloß denen helfen müssen, mit denen wir möglicherweise zusammen arbeiten können. Allerdings fällt die Unterscheidung potentieller Kooperationspartner/kein potentieller Kooperationspartner nicht mit der Unterscheidung Nähe/Distanz zusammen. Kamm schlägt vor, die Relevanz der Nähe für Hilfspflichten am Unterschied zwischen positiven und negativen Pflichten fest zu machen. Kamm geht wie auch Thomas Pogge davon aus, dass Nähe zwar für positive, nicht aber für negative Pflichten eine Rolle spielt (vgl. Pogge 2002 b, 2005 a und 2005 b u.ö.; vgl. auch O’Neill 1996, Igneski 2001). Negative Pflichten werden als Schädigungsverbote interpretiert. Sie gelten universell: “We have at least as strong a duty not to harm someone who is far as not to harm someone who is near“ (Kamm 1999 a, 199). Dieser verbreiteten Idee zufolge korrespondieren negative Pflichten mit negativen Rechten. Negative Rechte schützen Güter, die andere unabhängig von uns haben. Jemanden zu schädigen (harming) bedeutet dann, jemandem etwas wegzunehmen, das er unabhängig von uns beziehungsweise von unserer Hilfe haben würde. Dieser Schutz durch negative Rechte (denen von Seiten aller anderen negative Unterlassungspflichten korrespondieren) begleitet die Person überall hin (vgl. ebd., 200). Die Pointe ist, dass das negative Recht und das, was es schützt, seinen Grund in der Person hat, die geschützt wird. Sie ist gleichsam Quelle des Rechts und der korrespondierenden Unterlassungspflicht.
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So the strength of her negative right is something that has its source in her, not us, and is based on properties located where she is. […] Efforts we make not to harm her involve doing things in order not to impose first on that to which she has right. […] This contrasts with someone who needs our help: if we do not aid, he will lose something that he would not retain without our aid, i.e. something he would not have independently of our aid (ebd.).
Wenn wir etwas für andere tun, liegt dieser Anspruch nicht nur in ihnen, sondern in ihrem Verhältnis zu uns begründet. Die Frage ist, wie viel wir der Person zusätzlich geben können. Helfen heißt, die Situation für jemanden zu verbessern und dem, was das Opfer ohne Hilfe hätte, etwas hinzuzufügen. Der Fokus liegt beim Geber und seinen Hilfsmöglichkeiten. Kamm fasst zusammen: All this suggests that (a) we have to show that we have a special responsibility to do something about what goes on in the area near us or our means (so nearness is a sufficient condition for some duties), and (b) we have to show that there is a duty to aid whose origin lies in nearness, so that when nearness stops, the duty stops (hence nearness is necessary for some duties) (ebd.).
Kamm vertritt die These, dass die Zuständigkeit für das Helfen aus der Nähe erwächst. Daher kommt auch die Pflicht (vgl. z. B. ebd., 192). Diese These scheint allerdings angreifbar. Es ist nicht die Nähe, sondern das effiziente Helfen-Können, das die Pflicht hervorbringt. Dabei mag das effiziente Helfen-Können mit der Nähe korreliert sein, doch es scheint mir im Gegensatz zur Nähe der eigentlich moralisch relevante Faktor. Ich vertrete folgende These: Pflichten erwachsen nicht primär aus der physischen Nähe, sondern aus dem Helfen-Können. Dabei kann physische Nähe eine Bedingung des Helfen-Könnens sein. Wenn ich sehe, dass es der Nachbarstochter schräg gegenüber schlecht geht, kann ich ihr nur helfen, wenn ich sie rechtzeitig erreiche. Umgekehrt habe ich wohl keine Pflicht, meine direkten Nachbarn zu retten, die sich in ihrer Wohnung vergiftet haben, wenn ich gar nichts davon wissen konnte, obwohl sie physisch näher sind als das Kind von schräg gegenüber. Schlagend für Kamm scheint das Argument, dass unsere Mittel, die dem Opfer nahe sind, aber von uns entfernt, und Bedrohungen, die uns nahe sind, aber dem Opfer nicht, gerade Beispiele für die moralische Relevanz der Nähe sind, aus der dann Pflichten gegenüber entfernten Fremden erwachsen. Dabei hat Kamm die Beispiele gewechselt: Jetzt geht es nicht mehr um Unfälle, sondern um Bedrohungen von Seiten Dritter. Aber ist es z. B. im Fall der humanitären Intervention so, dass wir eingreifen, wenn wir (a) nahe beim Opfer sind oder (b) nahe bei der Bedrohung oder (c) unsere Mittel nahe dem Opfer sind? Wohl nicht. Hier macht vielmehr einfach das Helfen-Können im Zusammenhang mit der Schwere der Rechtsverletzung, die es zu verhindern gilt, die Pflicht aus.
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Besonders problematisch ist, dass Gerechtigkeitsprobleme als supererogatorische Hilfsprobleme erscheinen. Weil wir intuitiv nicht sagen würden, dass wir eine Nothilfepflicht gegenüber den Armen in Indien haben, schließt Kamm, dass Helfen gegenüber den Armen in Indien supererogatorisch ist, weil wir den Indern nicht nahe sind. Diejenigen in Krisengebieten haben also sehr viele Pflichten und wir sehr wenige, wenn unser Geld nicht als Mittel, das den Opfern nahe ist, zählt. Das ist aber nicht plausibel. In vielen Hilfsfällen, wie der humanitären Intervention, ist die Idee, dass man helfen soll, weil man helfen kann – und gerade nicht, weil man den Opfern nahe ist. Diejenigen, die das sind, können nicht helfen oder sind gerade die Übeltäter. Kamms Analyse ist nur für akute Notlagen plausibel. Wenn es stimmt, dass das Armutsproblem sich auf Notlagen von anderer Art bezieht, ist Kamms Analyse dafür nicht hilfreich.
3.1.3 Bestimmtheit und Unbestimmtheit Während Kamm behauptet, dass Nähe die Fälle Teich und Armut unterscheidet, vertritt Violetta Igneski in einer dezidierten Auseinandersetzung mit Kamms Position die These, dass es die Bestimmtheit der Teichsitutation ist, die diese von der Unbestimmtheit des Armutsszenarios unterscheidet (vgl. Igneski 2001). Beide Autorinnen glauben also im Unterschied zu Singer und Unger, dass die Fälle nicht analog funktionieren. Während Kamm jedoch die These vertritt, dass die Parameter Nähe vs. Distanz einen Unterschied in moralisch relevanter Hinsicht machen, geht Igneski davon aus, dass die Parameter Bestimmtheit vs. Unbestimmtheit erklären können, warum wir intuitiv die Fälle in moralisch relevanter Hinsicht verschieden bewerten. Präziser vertritt Igneski die These, „that distance is not morally significant in itself but that it is a proxy for another morally relevant feature – the moral determinacy of a situation“ (ebd., 606). Allerdings konzentrieren sich Kamm und Igneski aus methodologischen Gründen auf Rettungspflichten, da beide von vornherein konstatieren, dass sich Teich und Armut nicht nur in einer moralisch relevanten Hinsicht unterscheiden. Igneskis These lautet, dass in den Fällen Teich und Armut jeweils starke Ansprüche auf Hilfe bestehen, dass die entsprechenden Pflichtenträger allerdings auf je verschiedene Weise verpflichtet sind. While agreeing with Singer and Unger that both groups (i.e., near and far) have an equal claim on our aid, I will show that the situations morally bind the agent to act in different ways. I will argue that Drowning Child is a morally determinate situation that gives rise to a very specific obligation – ‚rescue the drowning child‘ – and that no specific action is demanded from us in Famine – the agent is not specifically obligated to rescue the Bengali
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Einwände gegen die Analogiethese
refugee, instead she may fulfill her obligation to the needy by supporting Earthquake victims in Turkey or by volunteering her free time in homeless shelters (ebd., 606 f.).
Diese Analyse Igneskis deckt sich mit den im ersten Teil dieser Studie entwickelten Kriterien für Hilfspflichten. In unserer Terminologie ist die objektive Bedürftigkeit in beiden Fällen gegeben. Deswegen entsteht sowohl für das Kind als auch für einen entfernten Fremden, dessen Leben aufgrund einer Hungersnot oder aufgrund von Armut bedroht ist, ein moralischer Anspruch auf Hilfe (an dieser Stelle schlägt Igneski sehr knapp eine konsequentialistische oder kantische Begründung der Hilfspflicht vor, vgl. ebd., 607). Bestimmtheit versus Unbestimmtheit fällt bei Igneski mit der Unterscheidung zwischen einer Rettungspflicht (bestimmt) und einer Wohltätigkeitspflicht (W2) (unbestimmt) zusammen. Im Teichfall haben wir eine starke, vollkommene Rettungspflicht, im Armutsfall eine schwächere, unvollkommene Wohltätigkeitspflicht. Wir hatten oben (Kapitel 2.6.5) ebenfalls zwischen Nothilfepflichten (Rettungspflichten) und Wohltätigkeitspflichten unterschieden. Dabei hatten wir bei den unvollkommenen Wohltätigkeitspflichten wiederum zwischen Wohltätigkeitspflichten unterschieden, die sich auf nicht-notwendige Güter des Empfängers beziehen (W1) und damit supererogatorischen Handlungen analog sind, und Wohltätigkeitspflichten, die sich auf die Bereitstellung notwendiger Güter beziehen und gleichzeitig jenseits der Zuständigkeit des Akteurs liegen (W2). Nun ist die Frage, ob man Zuständigkeit aus der Bestimmtheit einer Situation erklären kann. Wir hatten mit Igneski zugegeben, dass in beiden Fällen ein berechtigter moralischer Anspruch auf Hilfe besteht. Allerdings erwächst daraus nicht dieselbe Hilfspflicht, sondern im einen Fall eine klar bestimmte Nothilfepflicht, im anderen Fall eine unterbestimmte W2-Wohltätigkeitspflicht. Igneski macht folgenden Vorschlag: „Determinate situations do not generate obligations to aid merely because of their determinacy; the determinacy of the situations does, however, determine the structure of the obligation“ (Igneski 2001, 611). Das bedeutet dann, genau wie wir es im ersten Teil der Studie gesehen haben, dass nicht alle Hilfspflichten unvollkommen sind (vgl. ebd., 612). Vielmehr gibt es positive Pflichten, die vollkommen sind. Bei ihnen ist klar, wer gegenüber wem wozu verpflichtet ist. Das Opfer muss objektiv bedürftig sein, daraus resultiert der moralische Anspruch auf Hilfe. Der Handelnde muss in einer klar bestimmbaren Weise eingreifen können: Er muss zuständig sein. Und das heißt, dass die Mittel, die er zur Hilfe einsetzt, klar bestimmt sein müssen. Dagegen gibt es andere Fälle, in denen das Kriterium der objektiven Bedürftigkeit erfüllt ist, jedoch nicht klar ist, wer genau die entsprechende Pflicht hat und was genau die entsprechende Pflichterfüllung beinhaltet. Das Kriterium der Zuständigkeit ist hier entweder gar nicht oder nur in abgeschwächter Weise erfüllt.
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Nun könnte man natürlich auf die naheliegende Idee kommen, dass es sich im einen Fall um ein individuell, im anderen Fall um ein kollektiv oder institutionell zu lösendes Problem handelt. Mit der Frage, ob im einen Fall eine akute Notlage vorliegt, der gegenüber individuelle Hilfspflichten angemessen sind, und im anderen Fall eine Frage sozialer Gerechtigkeit angesprochen ist, werden wir uns in Kapitel 3.6 noch ausführlich befassen. Wichtig ist, dass sowohl die Analyse von Kamm als auch die von Igneski diesen Unterschied ausblendet. Beide konzentrieren sich bei der Beantwortung der Frage, ob Distanz an sich moralisch relevant ist, auf Fälle, die sich in Hinsicht auf andere Faktoren nicht unterscheiden. Es geht also im Folgenden um zwei akute Notlagen, von denen die eine sich zwischen einem Helfenden und einem nahen Opfer abspielt, während im Vergleichsfall das Opfer entfernt ist. Und hier ist Igneskis These, dass wir Distanz nur vordergründig für einen moralisch relevanten Faktor halten, da sie in der Regel mit der größeren Unterbestimmtheit einer Situation korreliert ist: „The reason we think that distance makes a moral difference to our duty to aid is that when the agent and victim are near each other it is more likely that the situation is morally determinate than when they are far from each other“ (ebd., 610 f.). Dabei ist eine Situation moralisch bestimmt, wenn klar ist, welche Mittel der Handelnde ergreifen muss, um dem Opfer zu helfen bzw. eine Bedrohung von ihm abzuwenden. Deswegen muss Kamm Distanz auf eine spezifische Weise interpretieren, und zwar so, dass auch die Nähe zur Bedrohung oder zu den Mitteln eine starke Pflicht produziert. Igneskis Einwand ist völlig plausibel: Eben dann ist es nicht die Nähe oder Distanz an sich, die in moralischer Hinsicht ausschlaggebend sind, sondern es ist die Bestimmtheit der Situation. Wir haben dadurch eine starke Hilfspflicht, dass wir in der Lage sind, auf spezifische Weise zu helfen. Und in genau diesen Fällen, in denen wir etwas Spezifisches tun können, um eine Gefahr von anderen abzuwenden, scheint Distanz keine Rolle zu spielen (vgl. ebd., 614). Daraus zieht sie folgenden Schluss: „But if being ‚near‘ just means being able to do something determinate that will save someone from a perilous situation, why not just say that it is the determinacy of the situation that affects the structure of our obligations to aid and not nearness“ (ebd.). Wenn wir also in der Regel keine Rettungspflichten gegenüber entfernten Personen haben, so liegt das nicht an der moralischen Relevanz der Distanz an sich, wie Kamm behauptet, sondern daran, dass wir in der Regel bei Fällen, die sich weit entfernt von uns abspielen, gar nicht effizient eingreifen können (vgl. ebd.). Wenn nicht die Distanz, sondern die Bestimmtheit der Situation darüber entscheidet, wie stark unsere Hilfspflichten sind, dann ist jedenfalls durch den Zuständigkeitseinwand Singers Argument nicht prinzipiell widerlegt. Zum einen haben wir immer noch eine unvollkommene W2-Pflicht gegenüber den fernen
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Armen. Zum anderen könnten wir ihnen gegenüber sogar stärkere positive Pflichten haben, sofern Umstände gegeben sind, unter denen klar bestimmt ist, inwiefern wer wem helfen kann. Wenn Distanz an sich keinen Unterschied für das Bestehen oder die Stärke unserer Pflichten macht, bleibt Singers Argument zumindest insofern gültig, als wir mehr für die Armen tun müssen. Auch wenn wir ihnen gegenüber nur unvollkommene Pflichten haben sollten, müssten wenigstens diese erfüllt werden. Igneski bilanziert: „Either way, Singer’s main claim that we must do more to help the needy stands and it stands unless someone can show that we have no obligation to aid distant persons“ (ebd., 616). Auch wenn dies korrekt ist, so scheint es, dass die Bestimmtheit einer Situation noch nicht ausreicht, um eine starke Hilfspflicht zu begründen. In dieser Hinsicht würde aus der Bestimmtheit zu viel folgen. Angenommen, einer meiner Verwandten sei erkrankt und ich lasse testen, ob ich als potentielle Spenderin eines Organs in Frage kommen würde. Dies wäre nicht der Fall, doch meine Daten würden im Krankenhaus gespeichert. Die ihrerseits erkrankte Krankenschwester Catrin fände heraus, dass ich für sie eine passende Spenderin wäre. Sie bräuchte das Organ dringend und es gäbe keinen anderen Spender, der zur Verfügung steht. Sie teilt mir dies mit. Die Situation ist vollständig bestimmt. Es ist klar, was ich zu tun habe, um ihr zu helfen. Gleichwohl ist nicht klar, ob hier eine starke Hilfspflicht vorliegt. Es könnte ebenfalls sein, dass eine solche Organspende für die Krankenschwester Catrin jenseits der Zumutbarkeitsgrenze und damit im Bereich des Supererogatorischen liegt. Ich hatte unten ausgeführt, dass sich Supererogationsgrenzen verschieben können (vgl. Kapitel 1.8). Dies scheint auch im Fall der Zumutbarkeit von Organspenden der Fall zu sein. Jedoch scheint mir klar, dass mit der Bestimmtheit dessen, was in einer Situation zur Hilfe bei objektiver Bedürftigkeit erforderlich wäre, noch nicht notwendig eine starke Hilfspflicht gegeben ist. Allerdings, und das sollte Igneskis Analyse ja zeigen, ist eine starke Hilfspflicht unter sonst gleichen Bedingungen, die diese etablieren, wie wir hinzufügen, dann gegeben, wenn bestimmt ist, was wir tun sollen. Und das heißt, dass wir für die Hilfeleistung zuständig sind, sofern andere einschränkende Kriterien erfüllt sind. Ist hingegen nicht klar, was wir tun bzw. wem wir helfen sollen, so scheinen wir auch nicht in derselben Weise zuständig, wie wenn dies der Fall ist.
3.2 Die Zurechenbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung Im Falle einer unterbestimmten Beziehung zwischen Bedürftigem und Helfer schwindet die Möglichkeit der Zurechnung der negativen Folgen einer unterlassenen Hilfeleistung. Wer das Kind nicht aus dem Teich rettet, obwohl er der einzige
Die Zurechenbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung
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an der Unfallstelle ist, wird sich für dessen Tod in höherem Maße verantwortlich fühlen als jemand, der noch nie etwas für die Notleidenden in den Entwicklungsländern gespendet hat, für deren schlechten Gesundheitszustand. Kann man so weit gehen zu sagen, dass man schwächere individuelle Pflichten zur Hilfe in Notlagen hat, wenn das Verhältnis zwischen Rechte- und Pflichtenträger sehr komplex und vermittelt ist? Ich halte diese Auffassung für plausibel. Sie deckt sich mit der oben herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen unvollkommenen W2-Wohltätigkeitspflichten und vollkommenen Hilfspflichten. Wenn eine Pflicht zur Hilfe in der Not die Erste Hilfe oder die Rettung aus der Notlage bei einem akuten Notfall meint, ist es in der Regel nicht möglich, eine solche Pflicht gegenüber weit entfernten Menschen auszuüben. Markus Stepanians (2006) stellt die These auf, dass wir trotzdem „strenge globale Hilfspflichten“ haben, die sich auf die Unterstützung von karitativen Organisationen beziehen. Er geht davon aus, dass Helfen eine „knappe Ressource“ ist, und verdeutlicht dies an Joel Feinbergs Szenario mit zwei ertrinkenden Kindern, von denen nur eines gerettet werden kann (Feinberg 1985, 222 f.). Ich halte es allerdings für problematisch, die Szenarien mit den ertrinkenden Kindern auf das Armutsproblem anzuwenden. Denn das Armutsproblem scheint weder so beschaffen, dass die Armen nur mit einem potentiellen Helfer konfrontiert sind (zwei ertrinkende Kinder, ein Helfer: zu viele Rechtsträger), noch so, dass von mehreren potentiellen und willigen Helfern nur genau einer seine Hilfspflicht ausüben kann, die Armen zu retten (zwei Helfer, ein ertrinkendes Kind: zu viele Pflichtenträger). Helfen ist eine knappe Ressource. Wenn wir nur eines von zwei ertrinkenden Kindern retten können, haben wir eine gute Entschuldigung dafür, Kind 2 nicht zu retten. Aber ist teuer Essen gehen auch eine gute Entschuldigung dafür, das entsprechende Geld nicht stattdessen zu spenden? Hier sehen wir die Disanalogie der Fälle aus Sicht des potentiellen Helfers. Es wäre natürlich absurd, Essen zu gehen, statt ein Kind vor dem Ertrinken zu retten (auch wenn man ein zweites nicht gleichzeitig retten kann). Aber ist es absurd, Essen zu gehen, statt mit 50 Euro zwei Kinder einen Monat lang vor armutsbedingten Krankheiten und Unterernährung zu bewahren? Einerseits scheinen im zweiten Fall die Folgen nicht so fatal wie im ersten, denn die armen Kinder überleben vielleicht, wenn auch unter schlechten Bedingungen. Falls sie an einer Krankheit sterben, sind die Ursachen diffus: Die Armut bedingt vielleicht die Krankheit, aber bedingt die unterlassene Hilfeleistung den Tod so eindeutig, wie im Fall des ertrinkenden Kindes? Oder ist es die schiere Menge der Armen, die uns überfordert? Stellen wir uns 100 ertrinkende Kinder vor und einen potentiellen Helfer. Feinberg betont die Absurdität der Idee, dass ein Nichthelfer mit der Menge der ertrinkenden Kinder, denen er nicht hilft, immer unschuldiger wird. Denn hilft er keinem, hat er auf jeden Fall einen Fehler begangen. Wenn er nur einem helfen kann, müsste er wenigstens diesem einen helfen, kann er mehreren
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helfen, muss er dies versuchen. Ja, er muss laut Feinberg sogar so viele retten „as he reasonably can“ (ebd., 223). Klar scheint mir, dass dieses Szenario den Fall unserer Hilfsmöglichkeiten gegenüber den Armen nur begrenzt darstellen kann. Wir können uns den Armutsfall weder so vorstellen, dass ein bestimmtes Kind das Recht darauf hat, von einer bestimmten reichen Person versorgt zu werden, noch so, dass alle Armen das Recht darauf haben, von dieser einen Person versorgt zu werden (vgl. Horn 2001). Falls man ein adäquates Szenario für den Armutsfall entwerfen wollte, müsste es wohl so aussehen, dass die von Armut Betroffenen nur gerettet werden können, wenn sowohl A als auch B als auch C als auch D usf. je ihren Teil dazu leisten. Im Armutsfall wäre es dabei möglich, dass die Helfer die Lasten der Hilfe gerecht unter sich aufteilen, wie bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Was aber, wenn keiner hilft? Hier droht die kontraintuitive Konsequenz, dass sich die moralische Verantwortung für die Folgen der unterlassenen Hilfe auf die Schultern der Nichthelfer verteilt und so mit der Anzahl der potentiellen Helfer immer geringer wird (bei 1000 potentiellen Helfern hätte jeder Nichthelfer nur noch 1/1000 Schuld usf.). Oder man muss sagen, dass jeder der Nichthelfer die volle Schuld trägt. Diese Intuition verliert aber an Überzeugungskraft, je mehr Hilfsbedürftige und je mehr Helfer in einem Beispiel vorkommen. Der Zurechenbarkeitseinwand hat also einiges an Überzeugungskraft, wenn man ihn auf Nothilfepflichten anwendet. Er kann plausibel machen, warum jemand sich innerhalb des deutschen Rechtssystems nach § 323 c StGB strafbar macht, wenn er im Teichbeispiel die Rettung unterlässt, wohingegen man jemanden, der für entfernte Notleidende kein Geld spendet, nicht im selben Maß verantwortlich machen würde. Vielmehr verhält sich eine Person, die entfernt Notleidenden Geld spendet, der moralischen Intuition zufolge wohltätig. Allerdings kann der Einwand nicht erklären, warum so viele Menschen den Opfern von Naturkatastrophen wie den Betroffenen der Katrina-Katastrophe oder des Tsunami einiges an Geld spenden, den von Armut Betroffenen dagegen nicht. Geht man davon aus, dass die Pflicht einer Person, andere aus einer Notlage zu retten, umso strenger ist, je klarer man ihr die negativen Folgen einer unterlassenen Hilfeleistung zurechnen kann, wird es schwer, ihre Pflicht gegenüber den Armen als Pflicht dieser Art zu konzipieren. Die Situation ist im Armutsfall nicht, dass von drei Bystandern keiner das Kind rettet, obwohl es jeder einzelne von ihnen alleine vermocht hätte. Vielmehr kann das Armutsproblem nur gemeinsam bewältigt werden: Einer allein kann hier kaum jemanden retten.8 Aus
8 Zu diesem Ergebnis kommt auch Michael McKinsey (1981, 312): „In a situation in which there is one and only one person drowning in a pond, and there is one and only one person standing
Der Zumutbarkeitseinwand
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dem Zurechenbarkeitseinwand folgt nicht, dass wir gegenüber den Armen keine Hilfspflichten haben. Meine These ist allerdings, dass diese Hilfspflichten von einer anderen Art sind als Nothilfepflichten. Auch Feinberg macht am Ende einen Unterschied zwischen unvorhersehbaren Notfällen, bezüglich derer man bestimmte Individuen aufgrund unterlassener individueller Hilfeleistung bestrafen sollte, und von Armut betroffenen Bettlern. Im zweiten Fall sei ein durch Steuern finanziertes „state system of income maintenance“ angemessen (Feinberg 1985, 228). Der Zurechenbarkeitseinwand ist in dieser Hinsicht bloß die Kehrseite der Zuständigkeitsfrage.
3.3 Der Zumutbarkeitseinwand Wie kommt es, dass wir die beiden Fälle Teich und Armut so unterschiedlich bewerten? Peter Unger hat sich zwei weitere, oben schon erwähnte, Beispielfälle ausgedacht, die zeigen sollen, dass unsere übliche Beurteilungsweise inkonsistent ist. Seine beiden Fälle sind so konstruiert, dass es zumutbarer ist, im Armutsfall zu helfen als in seinem Vergleichsfall mit einem Unfallopfer. Sehen wir uns die beiden Fälle nun nochmals genauer an. Fall 1: Die Limousine Ein Fremder hatte einen Unfall, bei dem er sich schwer am Bein verletzt hat. Wenn er nicht sofort in ein Krankenhaus gebracht wird, muss sein Bein amputiert werden. A kann den Fremden ins Krankenhaus fahren. Das kostet ihn Zeit, Mühe und Geld, da der Fremde die Sitze seines neuen Autos (einer Limousine) vollblutet. Dadurch entsteht für A ein Schaden von 1000 $ (der aus ungenannten Gründen nicht ersetzt werden kann).
on the pond’s bank who can without danger to himself save the drowning person, then clearly the person on the bank is obligated to save the person who is drowning. But the relationship between each starving person and each member of an affluent society who can help that starving person is seriously disanalogous to that which exists in the life-saving case between the drowning person and the one who can save him. For unfortunately, there is not just one, but there are many thousands of starving persons each of whom any member of an affluent society is in a position to save. The actual situation regarding world hunger is thus more closely analogous to one in which a good-sized ship with several hundred persons on board is sinking, and I am close by in my rowboat which holds eleven persons at most. I can save only ten persons of the hundreds who are drowning, and so […] it is clear that there is no particular drowning person whom I am obligated to save.“
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Einwände gegen die Analogiethese
Damit vergleichen will Unger einen zweiten Fall: Fall 2: UNICEF A findet in seinem Briefkasten ein Schreiben von Unicef. Darin steht, dass mehrere Kinder in einem fernen Land dringend Medikamente benötigen. Sonst werden einige von ihnen sterben. A könnte mit geringem Aufwand eine Überweisung von 100$ tätigen, um den Kindern zu helfen.
Unsere Intuitionen bezüglich der beiden Fälle werden präzise von David Lewis zusammengefasst: Most of us would think it seriously wrong to refuse to come to the aid of the wounded stranger. Yet we would think it not very seriously wrong, perhaps not wrong at all, to refuse to come to the aid of the distant child. Sending the contribution that would save the child’s life strikes us not as doing what one must, but as a commendable act of optional generosity. Very strange! Because, after all, the cases are much alike. Insofar as they differ, it would seem that you have more reason to aid the child than to aid the stranger: the benefit is more, a life instead of a leg, and the cost is less (Lewis 2000, 153).
Nun ist allerdings in Bezug auf die Zumutbarkeit gleich etwas anzumerken. Unger will zeigen, dass aus unseren alltäglichen moralischen Urteilen eigentlich folgen müsste, dass wir in beiden Fällen helfen sollten. Denn wenn wir im Limousinenfall helfen, dann müssten wir, so Ungers Argument, im UNICEF-Fall erst recht helfen, weil es uns weniger kostet (und mehr Nutzen bringt). Allerdings ist der UNICEF-Fall nur relativ zumutbarer als der Limousinenfall. Beide Leistungen scheinen, sowohl je für sich als auch zusammen betrachtet, für A zumutbar zu sein. Das Problem liegt an einer anderen Stelle. David Lewis hat das scharf erkannt. Er glaubt, dass Ungers Argumentation ziemlich überzeugend wäre, wenn sie zu dem Ergebnis führen würde, dass wir 100$ oder 1000$ pro Jahr spenden sollten (vgl. ebd., 154). Allerdings kommt Unger zu einem ganz anderen, und in Lewisʼ Augen viel weniger attraktiven Ergebnis. Wir müssen nämlich, weil die Fälle in moralisch relevanter Hinsicht gleich zu bewerten sind, und weil es sehr viele Fälle gibt, die dem UNICEF-Fall gleichen, jedem helfen, der in großer Not ist und dem oder der wir helfen können. Nun geht es nicht mehr um relative, sondern um absolute Zumutbarkeit. Gleichwohl scheint es, als sei es immer noch zumutbar, allen zu helfen, denen wir helfen können, wenn wir dabei nicht unser Leben oder unsere Gesundheit opfern müssen. Das Problem ist ein anderes, wie Lewis es genau erfasst: Wenn Unger Recht hätte, und die Fälle in den moralisch relevanten Hinsichten analog funktionieren würden, müssten wir alles aufgeben, was das Leben lebenswert macht. Erwartet wird von uns nicht Helden-, sondern Heiligensupererogation (vgl. dazu Kapitel 1.3).
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You are not asked to give away your life so that the distant children may live. But neither are you asked to give away just a few trivial luxuries. You may well be asked to give away most of what makes your life worth living. And this in the name of our ordinary morality, in the name of the basic values we already accept! (Lewis 2000, 155).
Hier muss, so Lewis’ Überlegung, etwas schief gelaufen sein. Er möchte gleichsam irgendwo den Fuß in die Tür bekommen, um die Überforderungskonsequenz der Analogiethese zu vermeiden. Dabei ist seine Idee einfach die, unsere oben genannten moralischen Urteile zu verteidigen. Wir haben, in der hier erarbeiteten Terminologie ausgedrückt, im Limousinenfall eine Nothilfepflicht und im UNICEF-Fall eine W2-Wohltätigkeitspflicht. Es ist, so Lewis, völlig legitim, die Fälle verschieden zu bewerten. Und Unger habe auch die richtige Erklärung für die unterschiedliche Bewertung der Fälle gefunden. Allerdings mache Unger den Fehler, diese Erklärung nicht zu akzeptieren. Für die unterschiedliche Bewertung der Fälle führt Peter Unger folgende Erklärung an: Er glaubt, dass wir fälschlicherweise davon ausgehen, dass wir nur denen helfen müssen, mit denen wir uns in einer bestimmten Situation befinden. Often we view the world as comprising just certain situations. Likewise we view a situation as including just certain people, all of them well grouped together within it. […] Often we view a certain serious problem as being a problem for only those folks viewed as being (grouped together) in a particular situation; and, then, we’ll view the bad trouble as not any problem for all the world’s other people (Unger 1996, 97).
David Lewis bezeichnet die Intuition, dass wir Menschen, mit denen wir uns nicht in einer gemeinsamen Situation befinden, auch nicht helfen müssen, als das Phänomen der separation. Im Unterschied zu Unger vertritt Lewis allerdings die These, dass mit diesem Phänomen alles in Ordnung ist. Er hält separation für ein „legitimate feature of our ordinary morality“ (Lewis 2000, 157). Separation macht es legitim, nur dann zu helfen, wenn man sich mit dem Hilfsbedürftigen in einer bestimmten Situation befindet. Und das ist bei der Limousine der Fall, bei UNICEF nicht: „separation breaks the parallel between the case of the wounded stranger and the case of the distant child“ (ebd.). Ich glaube, dass diese These von Lewis falsch ist. Wie wir im Folgenden sehen werden, können Lewisʼ eigene beiden Beispiele nicht überzeugend darstellen, inwiefern sich Teich vs. Limousine und Armut vs. UNICEF voneinander unterscheiden. Separation bleibt zu unterbestimmt, um die Parallele zwischen den Fällen Teich–Armut und Limousine–UNICEF aufzubrechen. Gleichwohl kann die andere Überlegung von Lewis überzeugen: Hilfspflichten im Ausmaß dessen, was wir oben als Heiligensupererogation bezeichnet haben, sind unzumutbar. Das ist das stärkere Argument, mit dem wir uns weiter unten nochmals befassen
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Einwände gegen die Analogiethese
werden. Zunächst betrachten wir Lewisʼ Beispiele, die zeigen sollen, inwiefern separation ein legitimes moralisches Prinzip ist. Lewis möchte zeigen, dass wir tatsächlich nur denen helfen müssen, mit denen wir uns in einer Situation befinden. Wir können davon ausgehen, dass seine Beispiele illustrieren sollen, was das genau bedeutet (vgl. ebd., 156). Beispiel 1: Ganz Großbritannien unter Beschuss Ganz Großbritannien steht unter Beschuss. Im zweiten Weltkrieg wollen die Deutschen Bomben auf London werfen. Die Regierung hat die Chance, durch eine Täuschung die Bomben auf weniger dicht besiedelte Gebiete umzulenken.
Lewis hält es nun für legitim, die Täuschung zu versuchen. Die Regierung spielt Gott, aber sie hat keine Wahl, sie kann es nur auf mehr oder weniger tödliche Weise tun (vgl. ebd.). Die Briten sind alle zusammen in einer Situation. Deswegen ist es legitim, einige von ihnen für das Überleben von vielen anderen zu opfern. Davon zu unterscheiden ist nun nach Lewis ein zweiter Fall, in dem sich die Beteiligten nicht miteinander in derselben Situation befinden. Beispiel 2: Organe In naher Zukunft ist die Transplantationsmedizin perfekt. Leider gibt es nicht genug Organspender. Dürfen wir Gott spielen und einige gesunde Menschen opfern, um viele andere zu retten?
Lewis geht davon aus, dass wir die zweite Idee für monströs halten würden. Die Unterschiede in der Bewertung seiner beiden Fälle führt Lewis auf das von Unger abgelehnte separation-Prinzip zurück: The Londoners and the suburbanites, and the rest of the British as well, are all in it together. Wherever the missiles may happen to be aimed, all of Britain is under attack. Those who would be sacrificed and those who would be saved are all involved in the same salient situation. Not so in the other case. Those who need organs are united by a shared predicament. But those who could be butchered to provide the needed organs are most naturally viewed just as uninvolved bystanders. Why should others’ need for spare organs be seen as their problem? (Just because their organs could solve it?) (ebd., 157).
Nun muss man sich natürlich fragen, was dieses Beispiel eigentlich mit unseren Ausgangsfällen Teich und Armut bzw. Limousine und UNICEF zu tun hat. In philosophischen Diskussionen ist es immer verdächtig, wenn mitten in der Argumentation die Beispiele gewechselt werden, so auch hier. Großbritannien unter Beschuss soll illustrieren, was es heißt, gemeinsam in einer Situation zu sein, sodass eine Hilfspflicht entsteht, analog zum Limousinenfall. Doch wer hat im Fall Großbritannien eigentlich eine Hilfspflicht? Inwiefern verhält sich Limousine
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zu UNICEF wie Ganz England unter Beschuss zu Organe? Ich glaube, dass aus Lewisʼ Beispielfällen für die Bewertung von Ungers Beispielfällen nichts folgt. Inwiefern sind die Briten in derselben Situation? Sie werden als Briten von den Deutschen bedroht. Was rechtfertigt die Entscheidung der Regierung, den Täuschungsversuch zu unternehmen und einige Bürger zu opfern, um dafür mehr Londoner Bürger zu retten? An dieser Stelle sind zwei plausible Antworten möglich. Erstens kann man sagen, dass die Entscheidung der Regierung nicht gerechtfertigt ist. Das ist dann der Fall, wenn es keine Pflicht der Bewohnerinnen und Bewohner der ländlichen Gebiete gibt, sich für die Londoner zu opfern. Sollte das so sein, ist auch die Regierung nicht legitimiert, dieses Opfer zu erzwingen. Zweitens kann man sich auf eine Patriotismuspflicht der Bürger berufen, die es in einem solchen Fall beinhaltet, sein Leben dem Erhalt seines Landes zu opfern. So ist es ja auch mit dem Wehrdienst. Er ist eine vorverhaltensunabhängige positive Pflicht – und wer Soldat ist, von dem kann auch verlangt werden, sein Leben für sein Land einzusetzen. Wenn wir glauben, dass es eine solche Patriotismuspflicht gibt und dass sie so weitreichende Konsequenzen hat, dann ist es plausibel mit Lewis zu meinen, dass die Regierung die ländliche Bevölkerung opfern darf.9
9 Doch das darf sie nicht einfach deswegen, weil ein gemeinsames Bedrohtsein vorliegt. Wir können das an Bernard Williamsʼ Fall mit Jim und den Indianern sehen. Williams hat diesen Fall konstruiert, um einen prinzipiellen Einwand gegen den Utilitarismus stark zu machen. Williams glaubt, dass wir psychisch nicht verkraften, das zu tun, was der Utilitarismus von uns verlangt: das Leben einer Person zu opfern, damit viele andere Personen weiter leben können. Sehen wir uns den Jim-Fall an: „Jim befindet sich auf dem Marktplatz einer südamerikanischen Kleinstadt. Dort stehen zwanzig Indianer an einer Wand. Einige sind verängstigt, einige keck. Vor ihnen stehen mehrere bewaffnete Männer in Uniform. Ein dicker Mann in einem durch und durch verschwitzten Khakihemd stellt sich als der Hauptmann vom Dienst heraus. Nachdem er Jim eine ganze Zeit lang befragt hat, wobei sich herausstellt, dass Jim zufällig hierher gelangte, während er auf einer botanischen Expedition war, erklärt er ihm, dass die Indianer eine zufällig zusammengesetzte Gruppe von Einwohnern seien, die wegen ihrer Proteste gegen die Regierung jetzt getötet werden sollen, um andere mögliche Protestierer an die Vorteile des Nichtprotestierens zu erinnern. Wie auch immer, da Jim ein angesehener Besucher aus einem fremden Land ist, freut sich der Hauptmann, ihm das Privileg eines Gastes zu gewähren, selber einen von den Indianern zu töten. Falls Jim einwilligt, werden die restlichen Indianer aufgrund der besonderen Umstände laufen gelassen. Falls sich Jim natürlich weigert, liegen keine besonderen Umstände vor, und Pedro wird dann das tun, was er vorhatte, als Jim ankam, und sie alle töten“ (Williams 1979, 61 f.). Die Indianer fordern nun Jim sogar auf, sich auf den Handel einzulassen. Dadurch wird es legitim, einen von ihnen zu töten: das ist nur der Fall, wenn die Person freiwillig zugestimmt hat. Dennoch ist eben umstritten, ob Jim auch die Pflicht hat, den Indianer zu töten, wie es aus einer utilitaristischen Position folgen würde. Eben diese Pflicht wird von Williams bestritten.
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Einwände gegen die Analogiethese
Lewis meint, dass ohne das separation-Prinzip Unger in der Tat mit seinen radikalen Forderungen Recht behielte, dass wir aber mit diesem Prinzip (das laut Lewis zu unseren moralischen Grundüberzeugungen gehört) gegenüber denen, die unter absoluter Armut leiden, zu gar nichts verpflichtet sind. Doch mit diesem Ergebnis fühlt er sich nicht ganz wohl: Er hätte gerne ein Argument, das zeigen würde, dass wir z. B. 10% unseres Einkommens oder auch nur 100$ im Jahr spenden müssten. Das Problem bei Lewis’ eigenen Beispielen ist gar nicht separation, sondern Instrumentalisierung. Das lässt sich an Lewis’ zweitem Beispiel zeigen: dass man sein Leben nicht als Organspender für mehrere Gesunde opfern wolle, geht für ihn auf separation zurück. Doch schon Singer will durch die Klausel „ohne dass etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung geopfert werden muss“ im oben genannten Hilfsprinzip genau diese Fälle ausschließen. Auch trägt er mit der Forderung, man solle 10% seines Einkommens spenden, der auch von Lewis geteilten Intuition Rechnung, dass wir auf jeden Fall etwas abgeben müssen. Beide halten also explizit – im Gegensatz zu Unger – die Überforderungskonsequenz, die sich unter den vorliegenden empirischen Umständen aus der Analogie der beiden Beispiele ergäbe, für falsch. Doch warum 10%? Diese Forderung ergibt sich nicht aus Singers Position, die konsequent angewendet genauso weitreichende Forderungen enthielte wie die von Unger, sondern sie wird ad hoc eingeführt. Singer trägt damit, so meine These, einer anderen Intuition Rechnung: dass mehr als 10% für den Helfenden nicht zumutbar wären. Der Zumutbarkeitseinwand setzt dabei an, dass sowohl Singer als auch Lewis die Idee haben, dass man ca. 10% abgeben sollte. Warum? Ich glaube, dass man mehr schlicht allgemein für unzumutbar hält, weil mehr die Implikation einer wesentlichen Änderung des eigenen Lebensplans zur Folge hätte. Dieser Einwand muss also behaupten, dass unser Lebensplan „von vergleichbarer moralischer Bedeutung“ ist, und dass es keine strenge Pflicht geben kann, ihn um der Hilfe gegenüber den Armen willen einzuschränken. Der Einwand hat dann folgende Form: Zumutbarkeitseinwand: Unser Lebensplan ist selbst von vergleichbarer moralischer Bedeutung und es ist moralisch falsch, seine völlige Aufgabe zu verlangen.
Ein derartiges Maß an Hilfe, wie es als Konsequenz aus Singers und Ungers Überlegungen folgen würde (Aufgabe oder Einschränkung des eigenen Lebensplanes), ist dann höchstens als supererogatorisch zu interpretieren. Der Zumutbarkeitseinwand kann teilweise überzeugen, denn die Aufgabe oder wesentliche Einschränkung des eigenen Lebensplanes wäre in unserer Terminologie Akteurssupererogation im Sinne der Heiligensupererogation. Fer-
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ner ist in Singers Teichbeispiel keine Rede davon, dass die Rettung des Kindes massive Opfer in der Dimension der Änderung des Lebensplans fordert. Rettungen von kleinen Kindern aus stehenden Gewässern wie Teichen oder Swimmingpools werden in der englischsprachigen Literatur deswegen als easy rescues (vgl. Feinberg 1985, 225) bezeichnet, weil sie dem Retter nicht viel abverlangen. Große Opfer sind wir in der Tat nur zu bringen bereit, wo wir spezielle Pflichten haben, wie man es in Bezug auf Fürsorgepflichten, wie z. B. denen von Eltern gegenüber ihren Kindern, behaupten könnte (vgl. Kapitel 3.1). Worin genau besteht die Disanalogie? In der Verallgemeinerung, dass wir, wenn wir einem Bedürftigen helfen, allen helfen müssen? Während wir in einem Fall nicht überfordert sind, sind wir es gegenüber der Summe aller Fälle jedoch schon? Ich glaube, dass dieser Überforderungseinwand gegenüber der Konsequenz aus der Analogiethese, dass wir allen gleichermaßen helfen müssen, richtig ist. Wir können gar nicht allen Menschen direkte Hilfe in Notlagen leisten, weil wir uns nicht an allen Stellen gleichzeitig aufhalten können. Doch wir könnten ein gewisses Maß an Armut verhindern. Dies gilt aber auch, wenn wir uns an eine niedrigere Zumutbarkeitsgrenze als die 10% halten würden. Das hat Unger durch sein zweites Beispiel mit dem Spendenaufruf von UNICEF gezeigt. Daraus, dass wir den Zumutbarkeitseinwand ernst nehmen müssen, folgt nicht, dass wir gegenüber den Armen in den Entwicklungsländern überhaupt nicht zur Hilfe verpflichtet sind. Solange wir davon ausgehen, dass Teich und Armut analoge Notlagen darstellen, die sich nicht in puncto Zuständigkeit, sondern nur in puncto Zumutbarkeit unterscheiden, haben wir die Möglichkeit, den Armutsfall unter Berücksichtigung des Zumutbarkeitskriteriums umzuformulieren: A muss bei der Armenhilfe nichts „von vergleichbarer moralischer Bedeutung“ opfern (ein zumutbarer Verzicht auf Luxus steht jetzt gegen mehrere Menschenleben). Die Konsequenz wäre: A muss so viel spenden, wie zumutbar ist. Die Frage, wo genau die Zumutbarkeitsgrenze liegt, bedarf einer eigenen Untersuchung, die ich hier nicht durchführen, sondern nur andeutungsweise skizzieren kann. Klar ist jedoch, dass sich das Zumutbarkeitskriterium primär am Helfenden orientiert und nicht an der Hilfsbedürftigkeit. Gemäß diesem Kriterium muss man so viel helfen, wie zumutbar ist, was darüber hinausgeht, ist supererogatorisch. Wenn wir die Autonomie, den Lebensplan des Helfers, als Zumutbarkeitskriterium betrachten, dann ist es eben so, dass wir noch wesentlich mehr Menschen helfen könnten, wenn wir auf einen gewissen Lebensstandard verzichten würden. Dieser Verzicht kann dann jedoch nicht verlangt werden, auch wenn dadurch einige Menschen keine Hilfe erhalten (vgl. dazu Wolf 1997 und Goodin 2009, 9). Wir können dann durch die Einführung einer Zumutbarkeitsgrenze Pflichten gegenüber den Armen in den Entwicklungsländern konzipieren, die jedoch ein gewisses Maß an Kosten nicht überschreiten dürfen.
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Wir haben eingeräumt, dass der Zumutbarkeitseinwand teilweise plausibel ist. Doch er erklärt nicht, warum wir so handeln, wie Unger es in seinen beiden Beispielen beschreibt. Warum reagieren die meisten Menschen nicht auf den Spendenaufruf der UNICEF, der sie nur ein wenig Geld kostet? Warum würden wir aber einige Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, um das Bein des Unfallopfers zu retten? Warum helfen wir im UNICEF-Fall nicht, obwohl die Hilfe ohne Weiteres zumutbar wäre? Warum spenden wir im Fall von Naturkatastrophen oft sehr viel Geld und im Fall von alltäglicher Armut so wenig oder gar nichts? Eine plausible Erklärung für die Disanalogie der Fälle in dieser Hinsicht bietet die Analyse von David Schmidtz. Er erklärt, warum sich die Fälle in Puncto Zumutbarkeit unterschiedlich verhalten mit der Unterscheidung von Token-cost und Type-cost: „Token-cost is the cost of a particular rescue. Type-cost is the cost of undertaking a kind of rescue whenever the occasion comes up in the course of our lives“ (Schmidtz 2000, 691). Diese These illustriert Schmidtz mit zwei Beispielen (ebd.): Van Gogh im See: A sitzt mit einem Van Gogh-Gemälde in einem Rettungsboot. Muss er das wertvolle Gemälde über Bord werfen, wenn er nur so Platz schaffen kann, um einen Ertrinkenden zu retten? Van Gogh bei der Auktion: Muss A denselben Van Gogh verkaufen, um den Erlös an die Armen zu spenden?
Schmidtz‘ Idee ist, dass die Fälle im Hinblick auf die Token-Kosten gleich sind. Jedes Mal ist es der Van Gogh, der eingesetzt werden muss, um Leben zu retten. Doch rufen die beiden Beispiele verschiedene Pflichten auf, die verschiedene Type-Kosten haben. Der erste Typ von Pflicht, in der hier entwickelten Terminologie eine klassische Nothilfepflicht oder auch eine Samariterpflicht, verlangt nur, den Van Gogh herzugeben, wenn unerwarteterweise eine Situation eintritt, die dies erforderlich macht. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies der Fall ist, ist relativ klein. Ebenso verhält es sich auch mit Singers Teichfall. Dass wir an einem Teich mit einem ertrinkenden Kind vorbeikommen, wird jedem von uns wohl nur ein, höchstens zweimal im Leben passieren, wenn überhaupt (vgl. Miller 2007). Danach darf ein Samariter auf seinem Weg bleiben und nach der Rettung wieder sein vorheriges Leben führen. Anders ist eine Pflicht, situationsunabhängig allen Armen oder überhaupt allen Bedürftigen zu helfen. Diese hat ungleich höhere Type-Kosten, nämlich konsequent zu Ende gedacht eben die, auf die auch Singer und Unger kommen: Es muss im Grunde genommen alles verkauft werden, das der Besitzer nicht selbst notwendig braucht, welches (oder dessen finanziellen Gegenwert) aber andere notwendig brauchen. Inwiefern sind Teich und Armut bzw. Van Gogh im See und
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Van Gogh bei der Auktion verschiedene Pflichttypen zugeordnet? Schmidtz ist folgender Ansicht: Distant problems are types of which there are innumerable tokens. Local emergencies are simply tokens. If one falls in your lap today, you can be fairly sure there won’t be another in your mailbox tomorrow. You help and that’s the end of it. Life goes on (Schmidtz 2000, 691).
Schmidtz führt also die Unterschiedlichkeit der Fälle letztlich wieder auf Nähe vs. Distanz zurück. Mir scheint allerdings der Unterschied nicht primär auf der Linie local und distant zu verlaufen (siehe Kapitel 3.1). Auch muss gefragt werden, von welchem Pflichttyp lokale Probleme eigentlich Token darstellen. Hier wäre zu zeigen, dass und inwiefern die Pflichttypen verschieden sind. Meine These ist, dass es sich bei der Armut um eine andere Art der Notlage handelt als in Singers Teichbeispiel oder in Ungers Beispiel mit dem Beinverletzten. Verschiedene Arten von Notlagen verlangen verschiedene Arten von Hilfspflichten. Die Unterscheidung von Type-Kosten und Token-Kosten ist nichtsdestoweniger extrem hilfreich. Denn allgemeine W2-Wohltätigkeitspflichten, die sich auf Bedürftige überhaupt beziehen, scheinen, wenn man sie ernst nimmt, eben die Konsequenzen der Positionen nach sich zu ziehen, die Singer, Unger und auch schon Thomas von Aquin vertreten. Unklar ist hier die Kantische Position: Darf oder soll man sogar seine eigenen Talente, etwa das Klavierspielen, mit zeitlichem und finanziellem Aufwand fördern, solange es Bedürftige gibt, die diese Ressourcen dringend benötigen würden (siehe dazu Baron 1995 und Wolf 1997)? Wir müssen diese Frage hier nicht beantworten. Es genügt wieder darauf hinzuweisen, dass eine Erklärung für die allgemein angenommene Schwäche unvollkommener W2-Wohltätigkeitspflichten in der moralphilosophischen Tradition wohl in dieser Überforderungstendenz zu suchen ist. Der Type W2-Wohltätigkeitspflicht, der sich darauf bezieht, allgemein objektiv Bedürftigen zu helfen, dürfte immer schon und heute erst recht unzählige Token haben. Dagegen hat der Type direkte individuelle Nothilfepflicht in akuten Notlagen in der Regel nicht so viele Token. Doch dies hängt von empirischen Umständen ab. In Fällen von Krieg und Naturkatastrophen können Nothilfepflichten auch sehr herausfordernd sein. Gleichwohl werden sie wieder weniger von uns verlangen, genau wie Schmidtz dies für „lokale Probleme“ behauptet, nachdem die Krise überwunden ist. Bevor wir uns meiner These der Verschiedenartigkeit der Notlagen zuwenden, sei in diesem Kapitel der Versuch angedeutet, etwas zur Zumutbarkeitsgrenze zu sagen. Singer und Unger operieren mit einem direkten Gütervergleich. Sie stellen auf der einen Seite die objektive Bedürftigkeit des Kindes/des Beinverletzten bzw. der Armen fest. Auf der anderen Seite stellen sie bei den poten-
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tiellen Helfern fest, dass diese weniger opfern müssten als für den Bedürftigen auf dem Spiel steht. Diese Überlegung kennen wir aus dem ersten Teil der Studie (Kapitel 1.5) schon von Thomas von Aquin und sie scheint intuitiv sehr plausibel. Allerdings führt diese Herangehensweise zu der von Lewis beobachteten Konsequenz, dass wir – angesichts des Übermaßes von Bedürftigkeit in der Welt – ständig helfen könnten, bis für uns selbst ein notwendiges Gut auf dem Spiel steht. Und schon scheinen starke Hilfspflichten auf das hinauszulaufen, was in Kapitel 1.4 als Heiligensupererogation bezeichnet wurde: die Opferung der eigenen Lebenspläne. Allerdings haben wir auch gesehen, dass sich die Fälle zwar hinsichtlich der objektiven Bedürftigkeit der Behandelten gleichen, dass sie jedoch im Hinblick auf die Bestimmtheit und Unbestimmtheit der positiven Pflichten verschieden sind (vgl. Igneskis Analyse in Kapitel 3.1). Ich glaube, dass wir bezüglich der Zumutbarkeitsfrage zwei Ebenen trennen müssen. Erstens: Welche konkreten positiven Pflichten haben wir? Zweitens: Wie viel darf bei der Erfüllung dieser Pflichten von uns verlangt werden? Was die erste Ebene betrifft, berührt sich die Zumutbarkeitsfrage mit der Zuständigkeitsfrage. Denn die Eingrenzung der Zuständigkeit ermöglicht größere Zumutbarkeit. Davon zu unterscheiden wäre dann die Frage, wie viel eine Pflicht, bei der das Zumutbarkeitskriterium erfüllt ist, kosten darf. In der Tat scheinen Heilige Pflichten zu übernehmen, die jenseits ihrer Zuständigkeit liegen, während Helden Pflichten, die wir alle haben, auch dann erfüllen, wenn es unzumutbare einmalige Opfer von ihnen verlangt. Hier geht es allerdings nicht um objektive Supererogationsgrenzen, sondern um das, was ich in Kapitel 1.8 als Erwartungssupererogationsgrenzen bezeichnet habe. Diese können sich, wie wir anhand des Samariterbeispiels gesehen haben, durch exemplarische Handlungen verschieben (vgl. Kapitel 1.6). Durch seine exemplarische Handlung, die jenseits der Erwartungssupererogationsgrenzen liegt, stellt der Samariter diese in Frage. Wer in eine vergleichbare Situation kommt, muss sich damit auseinander setzen, wie der Samariter gehandelt hat. Dadurch kommt ein flexibles und kontextabhängiges Moment in unsere Überlegungen hinein. Wo die Zumutbarkeitsgrenze liegt, wird von verschiedenen Hintergrundfaktoren abhängen, die insofern normativ relevant sind, als sie das, was wir für zumutbar halten, prägen. Der einzige absolute Faktor, auf den wir bislang gestoßen sind, ist der Gütervergleich. Doch dieser scheint eben zu stark, da aus ihm zu viele Pflichten folgen, die dann in der Praxis nicht befolgt werden, weil sie eben zu herausfordernd und zu kostspielig sind. Wir stoßen hier auf ein generelles moralphilosophisches Problem: Ist eine Moral angemessen, die von uns, ernst genommen, verlangen würde, unser Leben komplett umzukrempeln und alle unsere Interessen moralischen Forderungen unterzuordnen (vgl. Wolf 1997)? Ich kann diese Grundsatzfrage hier nicht beantworten. Klar scheint jeden-
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falls, dass, wenn wir den im ersten Teil der Studie verfolgten Ansatz, nach starken positiven Pflichten zu suchen, weiterführen, Zumutbarkeit ein wesentlicher Faktor ist, der diese Pflichten von schwächeren Pflichten oder supererogatorischen Handlungen trennt. Und ein Ansatzpunkt für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze scheint, so unbestimmt das hier bleiben muss, dass die Akteurin für die Erfüllung vorverhaltensunabhängiger positiver Pflichten nicht ihren Lebensplan oder ihre langfristigen Interessen, und auch nicht ihren Lebensstil aufgeben muss. Es sei denn, dass dieser Lebensstil andere aktiv schädigt. Mit dieser These Thomas Pogges werden wir uns in Kapitel 3.6 befassen.
3.4 Die Zulässigkeit der Hilfeleistung Wie kann man auf die Idee kommen, dass Hilfeleistungen unzulässig sein könnten? Das Bild, das die Moralphilosophie und insbesondere Ethiken mit christlichem Hintergrund zeichnen, ist doch das eines selbstlosen Helfers, der die Situation anderer verbessert. Was kann daran falsch sein? Grundsätzlich gibt es zwei Felder von Einwänden gegen Hilfeleistungen: Erstens können sie langfristig die Situation dessen, dem geholfen wird, verschlechtern, sie können also in dieser Hinsicht ineffizient oder sogar kontraproduktiv sein. Die Frage, ob unsere beiden Beispielfälle sich in Bezug auf das Kriterium der Aussicht auf Erfolg in moralisch relevanter Hinsicht unterscheiden, werde ich im nächsten Kapitel (3.5) eigens untersuchen. In diesem Kapitel steht eine andere Frage im Vordergrund: Könnten bestimmte Hilfeleistungen insbesondere deswegen unzulässig sein, weil sie die Person, der geholfen wird, in spezifischen Weisen schädigen? Es geht also nicht bloß um Ineffizienz, sondern um Weisen der Hilfe, die die Person, der geholfen wird, (langfristig) nicht nur nicht besser, sondern schlechter stellen, als dies ohne die Hilfe der Fall gewesen wäre (Kapitel 3.4.1). Das zweite Feld, auf dem sich die Frage der Zulässigkeit von Hilfeleistungen stellt, sind die Rechte Dritter. Dabei gilt es zu überprüfen, ob wir die Rechte Dritter, insbesondere deren Eigentumsrechte, verletzen dürfen, um Bedürftigen zu helfen. Hier wird Ungers These zu überprüfen sein, dass wir nicht nur alles, was wir selbst nicht notwendig brauchen, den Armen spenden müssen, sondern auch alles, was andere nicht notwendig brauchen, diesen entwenden sollen, um es den Armen zu geben. Es geht also darum, herauszufinden, was genau eigentlich gegen ein Robin-Hood-Prinzip spricht (Kapitel 3.4.2).
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3.4.1 Negative Effekte der Hilfe Unter schädigenden Effekten der Hilfe will ich zwei prinzipiell mögliche herausgreifen, die Demütigung und die Abhängigkeit oder den Verlust der Autonomie. Diese scheinen prinzipielle Einwände gegen Hilfeleistungen in sozialen und institutionellen Kontexten zu sein. Sie scheinen mir insgesamt relevant für die Frage, ob wir das Weltarmutsproblem überhaupt analog zum Teichfall als ein Hilfsproblem auffassen sollten. Was ich in diesem Zusammenhang nicht besprechen werde, sind Fälle, in denen mit voller Absicht, unter dem Deckmantel der Entwicklungshilfe, Waffen verkauft, Unternehmen saniert und Binnenmärkte zerstört wurden.10 Aktionen, die nur dem Helfenden nutzen, dem Hilfsempfänger absichtlich schaden, sind als Hilfeleistungen eben nur fälschlicher Weise bezeichnet. Angemessener wären die Bezeichnungen Betrug oder Ausbeutung. Was hier im Vordergrund stehen soll, ist die prinzipielle Frage, ob Hilfe, die dem Helfenden nichts nützt und die er auch durchaus aus integren Motiven leistet, demjenigen, dem geholfen wird, dennoch schaden kann. Insbesondere ist die Frage, ob sich unsere beiden Beispielfälle Teich und Armut in dieser Hinsicht unterscheiden.
3.4.2.1 Demütigung Beginnen wir mit dem Aspekt der Demütigung. Inwiefern kann Hilfe demütigend sein? Erstens kann es demütigend sein, dass man auf Hilfe angewiesen ist. Zweitens kann das Ergebnis der Hilfe sein, dass man abhängig wird und insofern man weiterhin auf Hilfe angewiesen ist, sich gedemütigt fühlt. In diesem Sinne ist der mögliche demütigende Aspekt der Hilfe die Kehrseite des Punktes, den wir weiter unten besprechen: Abhängigkeit und Autonomieverlust. Die hier angesprochenen problematischen Voraussetzungen und möglichen Folgen der Hilfe treten dann auf, wenn der Empfänger der Hilfe nicht als gleichberechtigter Akteur anerkannt wird. Eine Asymmetrie zwischen Helfendem und Hilfsempfänger drängt sich schon dort in unsere Debatte, wo der Empfänger der Hilfe als passiv, bedürftig, als „Opfer“ (Kamm 1999 a) beschrieben wird. Auch schon bei Thomas von Aquin finden wir entsprechende Stellen, die die Asymmetrie zwischen Geber und Nehmer betonen. Der Nehmer scheint schwach und abhängig, er scheint ungleichwertig zu sein.11 Wir können uns hier an Cullitys Idee er-
10 Vgl. dazu Vallely (1990). 11 In ST II-II, 30,4 finden wir folgende Stellen, die die Asymmetrie zwischen Geber und Nehmer deutlich betonen: „An sich ist das Erbarmen [misericordia] die größte Tugend. Denn es gehört zum Erbarmen, dass es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der
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innern, dass einem Ertrinkenden aufgrund seiner Bedürftigkeit die Autonomie abgehe, auf deren Grundlage man Rechte erst einfordern könne (vgl. Cullity 2007 und Kapitel 2.8). Ihm fehlt also genau das, was einen gleichberechtigten Akteur ausmacht: Autonomie oder noch genauer Autarkie, die Herrschaft über sich selbst, ohne auf andere angewiesen zu sein. Dies scheint mir grundlegend, wenn von Autoren wie David Schmidtz die Viktimisierung von Armen problematisiert wird. Denn sich als Opfer zu verstehen, ruiniert, wie Schmidtz betont, einen Menschen. Warum? Ich kann mir nur die Antwort vorstellen, dass es als demütigend empfunden wird, sich als abhängig von anderen sehen zu müssen. Schmidtz schreibt: I mentioned I was raised on a Canadian farm. I don’t know much about violence. (I know a little. Writing this reminds me I once was shot at by a poacher.) In that sense I have lived a privileged and sheltered life. However, I do know about being poor. My parents grew up in houses with dirt floors. I was the fifth of six children and the first born into a house with electricity. Running water and an indoor toilet came a little later. I remember when water was delivered and sewage was removed by truck. Given the expense, our parents did not allow our toilet to be flushed more than once a day (and it served a family of eight). We didn’t feel sorry for ourselves. We didn’t ask America to rescue us. We didn’t see ourselves as victims, […] it would have ruined us, for such teaching is poisonous, doing more violence to a poor person’s mind than mere lack of money ever could (Schmidtz 2000, 704).
Nun gibt es, das halte ich an dieser Stelle für zentral, verschiedene Arten von Bedürftigkeit (und entsprechend auch verschiedene Arten von Notlagen, vgl. unten, Kapitel 3.6), die zu unterscheiden sind. Es gibt permanente oder temporäre Bedürftigkeiten. Kleine Kinder und auch viele alte Menschen, sowie einige behinderte Menschen sind permanent auf die Hilfe anderer angewiesen. Dahingegen sind die meisten Unfallopfer nur temporär bedürftig. Hilfe, die nicht Hilfe zur Selbsthilfe ist, ist in vielen Fällen unangemessen. Die Fälle Teich und Armut sind, wie schon oft bemerkt, insofern ungünstig gewählt, als sie eine Analogie zwischen einem bedürftigen Kind (Teich) und den bedürftigen Armen (Armut) im Hinblick auf die Art der Notlage nahelegen (zu diesbezüglicher Kritik an Singer vgl. insbesondere Wisor 2011). Das kann man an sich schon als problematisch begreifen. Denn Kinder sind prinzipiell hilfsbedürftig. Sie können keine (voll-
anderen aufhilft; und das gerade ist Sache des Höherstehenden. Deshalb wird das Erbarmen gerade Gott als Wesensmerkmal zuerkannt; und es heißt, daß darin am meisten seine Allmacht offenbar wird.“ Ferner schreibt Thomas: „Aber unter allen Tugenden, die sich um den Nächsten bemühen, ist das Erbarmen die höchste und wichtigste, weil sie auch einen höheren Akt hat; denn der Schwäche des anderen aufhelfen ist, an sich betrachtet, Sache des Höheren und Besseren.“
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ständige) Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen. So geraten sie auch oft unverschuldet in Notlagen, aus denen sie dann von (überlegenen) Erwachsenen gerettet werden müssen. Dabei wissen die Erwachsenen, was gut für das Kind ist, auch wenn das Kind selbst es oft nicht weiß. Was ist eigentlich das Problem mit der Armut? In der Literatur wird meistens zwischen absoluter Armut, die lebensbedrohlich ist, und relativer Armut unterschieden. Relativ arm ist man im Vergleich zu anderen Menschen. So kann ein Hartz IV-Empfänger im Vergleich zu einem W3-Professor relativ arm sein. Absolut arm ist er jedoch nicht, da es ihm nicht an den zum Überleben notwendigen Gütern fehlt. Bei absoluter Armut geht es entsprechend um das Überleben, bei relativer Armut dagegen um das gute Leben (vgl. z. B. Ladwig 2008). Nun ist es ein möglicher demütigender Aspekt an absoluter Armut, dass Erwachsene auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Ebenso mag es demütigend für sie sein, dass sie die Versorgung ihrer eigenen Kinder nicht gewährleisten können, sondern dazu ebenso von der Hilfe Dritter abhängig sind. Insofern gleicht die Armut einer permanenten Notlage. Lebensbedrohlich ist sie allerdings auch aufgrund der akuten Notlagen, vor allem in Form von vermeidbaren Krankheiten, die mit ihr einhergehen. Problematisch erscheint Hilfe dort, wo sie nicht das Ziel verfolgt, die von Armut Betroffenen in eine Position zu bringen, in der es ihnen möglich ist, sich selbst zu versorgen. Wenn Hilfe gegenüber Erwachsenen, die prinzipiell in der Lage sind, eigene Ziele zu formulieren, den Charakter der Fürsorge annimmt, so scheint sie problematisch. Allerdings ändert auch die richtige Form der Hilfe, die das Ziel hat, die Betroffenen in den Stand der Selbstsorge (zurück) zu versetzen, nichts daran, dass schon die Bedürftigkeit als demütigend empfunden werden kann. Doch das ist dann eher ein Problem, bei dem man nach den Gründen und der Verantwortlichkeit für das Zustandekommen der Notlage fragen kann (Kapitel 3.7). Wichtig für eine angemessene Hilfskonzeption ist eher die Frage, ob sich die Bedürftigen als Bittsteller empfinden müssen oder ob sie ein Recht auf Hilfe haben.12 Avishai Margalit (1999) stellt sich die Frage, wann man eine Gesellschaft anständig nennen kann. Damit meint er eine Gesellschaft, deren Institutionen
12 Neera Chandhoke (2010) kritisiert an Thomas Pogges Ansatz, der die BürgerInnen der reichen westlichen Staaten für mitschuldig am Weltarmutsproblem erklärt, dass er die Armen als Opfer betrachte, die Kompensationen verlangen, anstatt unabhängig von vergangenem Unrecht ihre einklagbaren sozialen Rechte zu betonen. Umgekehrt hält sie einen menschenrechtlichen Ansatz, der von unbedingten positiven Rechten ausgeht, für vorteilhaft, denn „the global poor are not seen as victims who have to be given cash transfer because the West is guilty but instead are treated as right-bearers and thus as people who possess irreducible moral status“ (ebd., 80).
Die Zulässigkeit der Hilfeleistung
209
nicht demütigen. Er fragt sich, ob angesichts des Armutsproblems eine Wohltätigkeitsgesellschaft angemessener ist oder eine Wohlfahrtsgesellschaft mit einem Wohlfahrtsstaat.13
3.4.1.2 Die Wohltätigkeitsgesellschaft Die Wohltätigkeitsgesellschaft wird durch den individuellen Helfer, den Philanthropen, repräsentiert. Wir können uns hier im Sinne des Aristoteles Bürger vorstellen, die die Tugend der Großzügigkeit ausüben. Das markante Kennzeichen der Wohltätigkeitsgesellschaft ist, dass sie Wohltaten für rein freiwillige Mehrleistungen hält, die vom Staat nicht erzwungen werden können. Sie basiert auf der Vorstellung, dass freiwillige Spenden aus Gnade oder Mitleid gegeben werden. Vom Empfänger wird dafür Dankbarkeit erwartet. Dadurch wird die Asymmetrie zwischen aktivem Geber und passivem, bedürftigem Empfänger verschärft. Denn „Almosen zu empfangen ist beschämend und demütigend und für einen Menschen mit Selbstachtung ein unerträglicher Zustand.“14 Der Hilfsgrundsatz der wohltätigen Gesellschaft ist das Prinzip der Barmherzigkeit. Dabei entsteht folgendes Problem: Der Empfänger kann die Spende nur als Geschenk entgegennehmen, er hat keinerlei Anspruch auf sie, auch wenn der Gebende verpflichtet ist zu geben. Anders gesagt: Die Verknüpfung von Pflichten und Rechten wird gänzlich gelöst (Margalit 1999, 276).
Viel weniger demütigend ist es, wenn man ein Recht auf ein Existenzminimum hat, und nicht vom guten Willen oder der Barmherzigkeit der Bessergestellten abhängig ist.15 Diesen Punkt sieht auch Kant, wenn er betont, derjenige, der seine Tugendpflicht zur Wohltätigkeit erfüllt, solle dies am besten im Verborgenen tun.16 Doch dadurch wird das Problem nicht gelöst. Auch in Kants Moral-
13 Zum Folgenden vgl. auch Mieth (2009 a). 14 Ludwig von Mises, Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, München 1980, 230, zit. nach Margalit 1999, 271. 15 „Rights do not justify merely requests, pleas, petitions. It is only because rights may lead to demands and not something weaker that having rights is tied as closely as it is to human dignity“ (Shue 1996, 14 f.; vgl. Feinberg 1973, 58 f.). 16 „So werden wir gegen einen Armen wohlthätig zu sein uns für verpflichtet erkennen; aber weil diese Gunst doch auch Abhängigkeit seines Wohls von meiner Großmuth enthält, die doch den Anderen erniedrigt, so ist es Pflicht, dem Empfänger durch ein Betragen, welches diese Wohlthätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt, die Demüthigung zu ersparen und ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten“ (MST 6, 448 f.).
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Einwände gegen die Analogiethese
und Rechtsphilosophie gibt es kein Recht auf Unterstützung, sondern nur eine moralische Wohltätigkeitspflicht, die nicht vom Staat erzwingbar ist.17
3.4.1.3 Die Wohlfahrtsgesellschaft Im Unterschied zur Wohltätigkeitsgesellschaft wird die Wohlfahrtsgesellschaft nicht durch den Philanthropen, sondern durch den Bürokraten repräsentiert. In dieser Gesellschaft haben die unverschuldet Armen durchaus einen Anspruch darauf, vom Staat und seinen Institutionen versorgt zu werden. Der Hilfsgrundsatz ist hier ein Rechtsprinzip. Gleichwohl kann es dazu kommen, dass die bürokratische Struktur die Selbstachtung der Leistungsempfänger untergräbt (Margalit 1999, 273). Dies hängt dann vom Verhalten der Beamten ab: „Werden in einer Wohlfahrtsgesellschaft die Bedürftigen von den Beamten nach den Normen der Wohltätigkeitsgesellschaft behandelt, so ist das demütigend“ (ebd., 277). Trotzdem geht Margalit davon aus, dass die Wohlfahrtsgesellschaft der individuellen, freiwilligen Hilfe auf jeden Fall vorzuziehen ist. Seine These lautet, „daß eine Gesellschaft, in der die Bedürftigen ein Anrecht auf Unterstützung haben, grundsätzlich weniger entwürdigend ist als eine Gesellschaft, die auf Barmherzigkeit beruht“ (ebd., 276). Ziehen wir eine Zwischenbilanz in Bezug auf unsere Ausgangsfrage in diesem Kapitel nach der Analogie bzw. Disanalogie der Fälle Teich und Armut. Wir können zunächst festhalten, dass Hilfe dann unzulässig zu werden droht, wenn sie zwar die Situation des Hilfsbedürftigen verbessert, diesen aber demütigt. Wenn Margalits Analyse korrekt ist, dann ist es für die von Armut Betroffenen demütigend, wenn sie in einer Gesellschaft leben, die individuelle Wohltätigkeit für die angemessene Umgangsform mit dem Armutsproblem hält. Da es hier aber nicht um die Frage geht, ob die Angewiesenheit auf Hilfe an sich demütigend ist, müssen wir fragen, welche Art der Hilfe im Resultat demütigend ist. Mir scheint, dass sich hier ein Problem ergibt, das nicht aus einer genuinen Disanalogie der Fälle bezüglich der Frage der Zulässigkeit und Unzulässigkeit der Hilfe, sondern aus anderen Disanalogien hervorgeht. Der Hauptpunkt ist, dass es sich bei der Armut um eine sehr spezielle Notlage handelt, die zu akuten Notlagen wie Teich oder Limousine eben nicht analog ist (vgl. dazu ausführlich Kapitel 3.6). In der Regel ist es nämlich so, dass bei akuten Notlagen, z. B. im Fall Limousine oder im klassischen Samariterfall, nur eine temporäre Beeinträchtigung der Autonomie oder Autarkie vorliegt. Der Mann, dessen Bein verletzt ist, kann, davon dürfen
17 Vgl. O’Neills Kantische Position (O’Neill 1996) und dagegen die neueren Versuche, Kant als Sozialstaatstheoretiker zu deuten (z. B. von Christian Kühl 1999, 128 ff.).
Die Zulässigkeit der Hilfeleistung
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wir ausgehen, im Leben für sich selbst sorgen. Er muss nur wieder gesund werden. Wenn dieser Status quo ante wieder hergestellt ist, braucht er keine weitere Hilfe mehr. Anders verhält es sich bei den von absoluter Armut Betroffenen. Hier ist der Status quo selbst das Problem. Er muss dauerhaft so angehoben werden, dass eine Selbstversorgung möglich ist. Dadurch, dass die Ziele der entsprechenden Hilfeleistungen verschieden ausfallen müssen (Reetablierung des Status quo ante vs. Etablierung eines Status quo ohne Armut), ergeben sich verschiedenartige Einschränkungen für die Zulässigkeit der Hilfeleistung. Diese betreffen insbesondere die Frage, was für eine Art von Status quo errichtet werden soll, um die absolute Armut zu bekämpfen.
3.4.2 Einwände gegen das Robin-Hood-Prinzip (negative Rechte Dritter) Eine weitere Disanalogie zwischen den Fällen Teich und Armut sowie zwischen Limousine und UNICEF scheint darin zu bestehen, dass wir im jeweiligen Ausgangsfall Teich bzw. Limousine die Entwendung zum Gebrauch, die Beschädigung und sogar die zwangsweise Herausgabe fremden Eigentums zum Zweck der Hilfeleistung, wenn es dazu keine Alternative gibt, für angemessen halten. Bei den Fällen Armut und UNICEF ist dies jedoch keineswegs der Fall. Peter Unger hat sich mehrere Fälle ausgedacht, die unsere Bereitschaft, den Respekt vor den Eigentumsrechten Dritter zu verlieren, in akuten Notlagen dokumentiert. Sehen wir uns einen dieser Fälle an: Boot: You’re employed on the waterfront estate of a billionaire. Through binoculars, you see a woman out in the waves, already in danger of drowning. And, in under an hour, a hurricane will pass through the area. So, there’s this: If you go to aid her soon, she’ll be saved; if not, she’ll soon die. But, there’s also this: To aid her, you must use a motor yacht worth many millions of dollars. And, if you go, then, on the return trip, to avoid complete wreckage by the hurricane, you must pass through a channel where the yacht will suffer a few million dollars damage. Since the boat’s the billionaire’s and you don’t have his permission to do this, it’s against the law. And, being far from rich, you can’t help much with the repair bill that, even after insurance, will be over a million bucks. Still, you take the yacht and save the woman (Unger 1996, 63 f.).
Damit sollen wir folgenden Fall vergleichen: Bank: You’re one of many accountants who work in the large firm among whose clients is a certain billionaire. As you know, he gives a lot to several fashionable charities, but does hardly anything to aid the world’s neediest people. Today, you’ve the rare chance to decrease, by only a million dollars, the billionaire’s huge account. Partly because it can be
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Einwände gegen die Analogiethese
done without ever being noticed, for the billionaire this won’t ever mean even as much as mild annoyance. What’s more, via a sequence of many small anonymous contributions, the million will all go to UNICEF and, as a result, ten thousand fewer children will die in the next few months. Now, largely because you’ve long been in the habit of giving most of your own money to UNICEF, you’ll never be in a position to reimburse the magnate to any significant degree. Still, you shift the funds and, in consequence, ten thousand more children don’t die long but live long (ebd., 64).
Dabei kommt Unger zu folgender Bewertung, die der intuitiven common senseIdee, Boot als richtig und Bank als falsch zu bewerten, entgegen gesetzt ist: „the Account’s conduct is very good behaviour, at least as good as the Yacht’s“ (ebd., 65). Nun kann man, nach dem hier vorgeschlagenen Verfahren, natürlich die These vertreten, dass die Fälle zwar analog sind, dass aber schon im Fall Boot keine strenge Hilfspflicht besteht, da die Hilfeleistung, bzw. die daraus zu erwartende Folge für den Helfenden unter den gegebenen Rahmenbedingungen (das Recht verbietet, die Yacht zu nehmen, der Retter wird nach der Hilfe bankrott sein und sein ganzes Leben ändern müssen) schlicht unzumutbar ist. Auch die Gefahr der Bestrafung könnte in einem oder beiden Fällen die Pflichterfüllung unzumutbar machen. Gehen wir aber, um des Argumentes willen, davon aus, dass im Fall Boot eine Hilfspflicht besteht, wenn man ihn so abwandelt, dass die Kosten der Hilfe zumutbar sind. Warum würden wir nicht Ungers Konsequenz ziehen wollen, dass es im zweiten Fall korrekt ist, das Geld zu entwenden? Müssen wir hier unsere Intuitionen korrigieren oder stimmt etwas mit Ungers Analogiethese nicht? Wie kann es sein, dass es im ersten Fall korrekt ist, fremdes Eigentum zu entwenden, im zweiten jedoch nicht? Sehen wir zunächst, welche Möglichkeiten es gibt, im ersten Fall zu begründen, warum ein Helfer in einer akuten Notlage fremdes Eigentum entwenden oder beschädigen darf: (E1) Entsprechend unserer Analyse im ersten Teil der Studie (vgl. Kapitel 2.9) hat C, der sich in einer objektiven Notlage befindet, einen moralischen Anspruch auf Rettung, der in ein Recht auf Rettung übergeht, wenn A zuständig ist, die Hilfeleistung zumutbar ist, Aussicht auf Erfolg hat und die Hilfe zulässig ist. Die Frage ist nun, wenn wir davon ausgehen, dass alle anderen Kriterien erfüllt sind, ob es zulässig ist, dass A das Eigentum von B entwendet (und unabsichtlich beschädigt). Welche Argumente könnten dafür sprechen? (E2) Wenn der Besitzer des Bootes anwesend gewesen wäre, hätte er selbst die Pflicht gehabt, mit dem Boot hinauszufahren und den Rettungsversuch zu unternehmen. Der Schaden wäre derselbe gewesen. A hat nur stellvertretend für B, den Bootsbesitzer, dessen Rettungspflicht ausgeführt. Wenn es also für B zumutbar ist, sein Boot zur Rettung einzusetzen, dann ist es für A erlaubt, gleichsam stellvertretend unter Rückgriff auf B’s Eigentum die Rettung durchzuführen. Dies gilt unter der Bedingung, dass
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A keine andere Möglichkeit hat, die Rettung auszuführen. Hat er selbst ein Boot, muss er dieses einsetzen. (E3) Das heißt, dass es nur dann legitim ist, fremdes Eigentum im Rahmen von Rettungspflichten einzusetzen, wenn der Eigentümer selbst, sofern er könnte, die Pflicht hätte, sein Eigentum im Rahmen der Rettungspflicht einzusetzen, und wenn die Person, die auf fremdes Eigentum zurückgreift, keine andere Möglichkeit hat, die Rettung auszuführen.
Wenn (E3) korrekt ist, dann gilt auch: (E4) Es ist nicht zulässig, fremdes Eigentum für eine Rettung zu entwenden oder zu beschädigen, wenn der Besitzer selbst keine Pflicht hätte, dieses zur Rettung einzusetzen, sofern er diese selbst ausführen könnte.18
Wenn diese Analyse korrekt ist, dann sind wir bei der Beurteilung der Fälle Boot und Bank auf unsere Ausgangsfrage des dritten Kapitels zurückgeworfen. Wir können die Frage nach der Zulässigkeit der Entwendung fremden Eigentums aus der Beurteilung gleichsam heraus kürzen. Die Frage ist: Hat der Bootsbesitzer eine Rettungspflicht, die es verlangt, sein teures Boot einzusetzen – und: hat der Besitzer des Geldes auf dem Konto eine dazu analoge Rettungspflicht den Armen gegenüber? Mir scheint eine Antwort auf diese Frage mit der obigen Analyse der Fälle Van Gogh im See und Van Gogh bei der Auktion vorzuliegen (vgl. Kapitel 3.3). Angenommen, B hat die Pflicht, sein Boot einzusetzen, um C zu retten. Angenommen, ihm gehen dadurch 1000 $ verloren. Folgt daraus, dass er 1000 $ einsetzen muss, um beliebige andere, die objektiv bedürftig sind, zu retten? Wir erinnern uns an die Antwort, die wir oben unter Rückgriff auf Schmidtzʼ Unterscheidung von Token-Kosten und Type-Kosten gegeben haben. Die Token-Kosten mögen gleich hoch sein, doch die Type-Kosten sind verschieden. Im BootFall muss der Schaden von 1000 $ nur einmal in Kauf genommen werden, im Armutsfall muss im Grunde alles abgegeben werden, was B nicht notwendig
18 An dieser Stelle müssen wir Fälle der Art ausblenden, dass der Besitzer keine Pflicht hat, ein überlebensnotwendiges Gut für die Rettung herzugeben, dass der Helfer allerdings dieses Gut, etwa weil er selbst reicher ist, leicht ersetzen könnte. Also angenommen, C befindet sich in der objektiven Notlage des Ertrinkens. A kann ihm helfen, wenn er Bs Boot einsetzt, das im Zuge der Rettung sicher zerstört wird. Da das Boot für den Fischer B die Überlebensgrundlage darstellt, hätte dieser keine Pflicht, das Boot einzusetzen. A kann ihm aber ein neues Boot kaufen, weil er reich ist. Hier darf A das Boot nehmen, weil er es ersetzen kann und B das Boot dadurch gar nicht verliert. Die Pflicht für B, das Boot zur Rettung bereitzustellen beruht also darauf, dass A es ersetzen kann und wird. Dasselbe scheint zu gelten, wenn klar ist, dass C selbst so reich ist, dass er B das Boot ersetzen kann.
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Einwände gegen die Analogiethese
braucht, andere aber notwendig brauchen. Ich hatte oben schon darauf hingewiesen, dass es sich bei den Fällen um verschiedene Notlagen und entsprechend um verschiedene Pflichttypen handelt. Diese Unterscheidung werde ich in Kapitel 3.6 näher erläutern. Wenn sie überzeugend ist, dann erklärt sie, warum es im Bootsfall (wenn (E1) bis (E4) gültig sind) legitim ist, fremdes Eigentum zu entwenden und im Bankfall nicht. Nun wollen wir es uns allerdings an dieser Stelle nicht zu einfach machen. Was sollte eigentlich dagegen sprechen, dass B eine Pflicht hat, Teile seines Reichtums abzugeben, damit andere nicht an Armut und Unterernährung sterben müssen? Auch wenn wir davon ausgehen, dass es ein anderer Pflichttyp ist als eine individuelle Nothilfe- oder Samariterpflicht, der im Armutsfall greift, so können wir fragen, ob es grundsätzlich legitim sein kann, von jemandem zu verlangen, dass er Teile seines Reichtums für die Unterstützung Bedürftiger abgibt. Wir sehen schon, dass diese Art der Fragestellung die potentielle Pflicht von B, Teile seines Reichtums abzugeben, in einen von Nothilfepflichten verschiedenen Kontext rückt. Wenn es sich bei der Armut um ein social justice issue handelt, so haben wir es mit der Frage zu tun, ob Sozialstaatlichkeit grundsätzlich legitim ist oder nicht. Diese Frage hat deswegen mit der Frage nach der Zulässigkeit der Hilfe zu tun, weil sie sich für den Sozialstaat in folgender Form stellt: Ist es legitim, wenn der Staat die wohlhabenderen Bürger zwingt, Teile ihres Reichtums abzugeben, um ärmere Bürger zu unterstützen? Diese Frage hat sich Jeremy Waldron (1986) vorgelegt. Auch er fragt, unter welchen Bedingungen es legitim sein könnte, Eigentumsrechte anzutasten. Wir könnten also, um diese Frage auf die obigen Fälle zu übertragen, die Fälle nochmals unter dem Aspekt betrachten, ob B eine Pflicht zur Rettung von C bzw. zur Unterstützung der Armen hat, zu deren Erfüllung ihn der Staat zwingen darf. Nun scheint klar, dass im Falle einer Rettungspflicht der staatliche Zwang primär in der straf- oder zivilrechtlichen Verfolgung der unterlassenen Hilfeleistung bzw. in der Androhung der Sanktionen besteht. Dagegen scheint der Umgang mit Armutsproblemen auf der Ebene der Erhebung von Steuern und Sozialabgaben zu liegen (vgl. auch die Analyse von Feinberg (1985), in der er vorschlägt, in den USA die unterlassene Hilfeleistung in akuten Notlagen unter Strafe zu stellen und für permanente Notlagen ein sozialstaatliches System einzuführen). Hier stellen sich ganz verschiedene Fragen, die nochmals die Disanalogie der Fälle beleuchten können. So ist es etwa in Ungers Beispielfällen Limousine und Boot nicht ausgeschlossen, zu verlangen, dass die Personen, denen geholfen wird, den jeweiligen Helfern ihren Schaden ersetzen, sofern sie dazu in der Lage sind. Dass A auch helfen müsste, wenn C nicht in der Lage ist, ihm den Schaden zu ersetzen, und auch kein anderes institutionelles Setting dafür zur Verfügung steht, heißt nicht, dass dies notwendig so sein muss. Wir haben dies oben schon kurz an der
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Analyse der klassischen Samaritersituation gesehen (vgl. Kapitel 1.6). Heute müsste in Deutschland ein Samariter nicht die Heilungskosten für den aus dem Straßengraben geretteten Mann übernehmen, sondern dessen Krankenversicherung wäre dafür zuständig. Auch Ärzte und die Pharmaindustrie, die oft die einzig möglichen Mittel besitzen, uns vor den fatalen Folgen schwerer Krankheiten zu retten, arbeiten nicht umsonst bzw. stellen die Medikamente nicht umsonst her. Dass jemand in einer bestimmten Notlage helfen kann und helfen muss, heißt nicht notwendig, dass er dafür keine Gegenleistung in Form einer Aufwandsentschädigung fordern darf. Die Frage, die uns hier interessiert, ist natürlich die, ob die Pflicht entfällt, wenn der Hilfsbedürftige keine Aufwandsentschädigung leisten kann, bzw. wenn es keine anderen gesellschaftlichen Arrangements gibt, in denen etwa die Allgemeinheit diese Entschädigung übernimmt. Nun entfällt die Pflicht nicht, wenn die Hilfe im Sinne der oben erläuterten Kriterien zumutbar ist. Genau dann scheint es auch legitim zu sein, die Pflichterfüllung zu erzwingen. Waldrons Frage lautet, unter welchen Bedingungen es legitim ist, die Erfüllung einer Wohltätigkeitspflicht, bzw. in unserer Terminologie, einer W2Wohltätigkeitspflicht, zu erzwingen. Und das ist für ihn gleichzeitig die Frage nach der Legitimität des Wohlfahrtsstaates.19 Nun nimmt diese Frage zunächst die Form an, die auch wir ihr im ersten Teil der Studie gegeben haben. Wohltätigkeit könnte generell supererogatorisch sein (ob man sie ausübt oder nicht steht der Akteurin frei) oder sie könnte eine schwache moralische Pflicht sein, deren Pointe gerade in ihrer Nicht-Erzwingbarkeit liegt. Unter welchen Bedingungen kann nun Wohltätigkeit erzwingbar sein, bzw. in unserer Terminologie: Kann es vorverhaltensunabhängige positive Gerechtigkeitspflichten geben? Die Frage stellt sich uns an dieser Stelle in der folgenden konkreten Form: Kann es positive Pflichten geben, die eine Einschränkung von Eigentumsrechten legitim machen, sodass die Ausführung der positiven Pflichten erzwungen werden darf? Wir hatten diese Frage oben in Bezug auf ein Recht auf Rettung gestellt und dieses verteidigt (vgl. Kapitel 2.8), und dabei die Frage einer Kollision dieses Rechts mit Eigentumsrechten außer Acht gelassen. Waldrons Aufmerksamkeit
19 „Charity is usually understood to involve a person giving part of his wealth to others who are less well-off than he is. The welfare state can be seen as an institutionalization of this charitable giving, with the important qualifications that the donation is compulsory, collected as taxation, and the nature and destination of the tax or ‚gift‘ is not under the direct control of the giver. The welfare state, to put it crudely, is a form of government-directed charity. […] The moral legitimacy of welfare provision in the modern state is sometimes denied. Many of those who deny it are particularly concerned about the element of compulsion that it introduces into the sphere of philanthropy“ (Waldron 1986, 463).
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richtet sich nicht auf ein Recht auf Rettung aus akuten Notlagen, sondern auf ein Wohlfahrtsrecht, genauer ein Subsistenzrecht, das in Konkurrenz zu einem Eigentumsrecht stehen kann. Seine Grundidee ist, dass man nicht nur aktiv, wie in der klassischen Samaritergeschichte, sondern auch passiv wohltätig sein kann. Letztere Idee erläutert er mit einer Variante der Samaritergeschichte: A man wandering in the mountains is overtaken by a blizzard. He loses his way and is soon tired and hungry and in danger of perishing form exposure. Suddenly through the snow he sees a log cabin with a light burning in the window. He shuffles towards it, pushes open the door, and is about to take off his jacket, warm his hands by the fire, and begin serving himself some soup from the pot that is simmering on the stove, when out from another room come a priest and a Levite. ‚What do you think you are doing?‘ they shout, ‚Don’t you know this is private property? Get out!‘ And grabbing hold of him, but using no more than what the law would deem to be reasonable force, they throw him out into the snow. Having done this, they go back to their own abundant supplies of hot soup and sandwiches. Meanwhile our hero struggles on and, by a miracle perhaps, he spies another log cabin, again with a light burning and the door slightly ajar. He pushes it open, enters, takes off his jacket, warms his hands, and prepares to serve himself a cup of soup as before. The owner of the hut – you guessed it, a Good Samaritan – comes in from the other room. When he sees what the weary traveller is doing – helping himself to his property – he does … nothing. He sits down with his pipe on one side of the stove and watches while the weary traveller finishes his meal and prepares to bunk down on the floor for the night. Eventually when the traveller is asleep, the Samaritan retires to his own bed, and in the morning when the blizzard has cleared, they depart without a word, and go their separate ways (Waldron 1986, 469).
Die Idee von Waldron ist, dass der Priester und der Levit aktiv die Hilfe verweigern. Sie werfen den Mann hinaus. Dahingegen bleibt der gute Samariter passiv und lässt den Mann gewähren, darin äußert sich die Hilfe. Er besteht nicht auf der Verteidigung seiner Eigentumsrechte. Charity […] involves giving; but giving – the exercise of the power of alienation one’s property – need not involve any active or onerous expenditure of effort. […] To give you something, I do not have to put myself out for your sake or come actively to your assistance. The airiest waiver of my property rights is quite sufficient (ebd., 470).
Demzufolge gibt es zwei Arten von Wohltätigkeit: ein aktives Hilfeleisten und ein passives Nicht-auf-seinen-Eigentumsrechten-Bestehen. Wer nun doch, wie der Priester und der Levit in dem Beispiel, gegenüber einem Bedürftigen auf seinen Eigentumsrechten bestehe, übe Zwang aus, dem seinerseits legitimerweise Zwang entgegengestellt werden dürfe. Wenn der Zwang, den der Priester und der Levit ausüben, Unrecht ist, darf diesem Unrecht wiederum entgegen gewirkt werden (vgl. ebd., 471 ff.).
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Since the withholding of charity on this model is already coercive (remember we have in mind the priest and the Levite grabbing the weary traveller and throwing him out into the snow), the enforcement of charity can always be seen as a liberal response to that coercion (ebd., 473).
Doch warum sollte es illegitim sein, den Mann daran zu hindern, sich etwas zu essen zu holen? In der Tradition der klassischen politischen Philosophie finden wir folgende Antwort: Niemand darf gewaltsam daran gehindert werden, sich selbst zu erhalten.20 Waldron fasst diese Idee unter folgendem Prinzip der legitimen Befriedigung der Grundbedürfnisse zusammen: Nobody should be permitted ever to use force to prevent another man from satisfying his very basic needs in circumstances where there seems to be no other way of satisfying them (ebd., 476).
Wenn das Prinzip korrekt ist, dürfen der Priester und der Levit den Mann nicht davon abhalten, seine grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen. Waldrons Idee ist nun weiter, dass ein Wohlfahrtsstaat, der allen ein Subsistenzminimum zur Verfügung stellt, Fälle verhindert, in denen objektive Bedürftigkeit in der Weise auftritt, dass jeder sich selbst zu seinem Recht verhilft. Wenn der Priester und der Levit keine Gewalt anwenden dürfen, um ihr Eigentum vor dem objektiv bedürftigen Mann zu schützen, dann darf er, falls sie es doch tun, legitime Gegengewalt anwenden. Das darf auch ein anderer, der dem Mann gegenüber dem Priester und dem Leviten zu seinem Recht verhilft. Ein Wohlfahrtsstaat, der ein Subsistenzminimum für alle gewährleistet, würde dafür sorgen, so Waldron, dass es zu solchen Situationen in der Regel nicht kommt (vgl. ebd., 479). Die Limitierung der Eigentumsrechte auf der Ebene der Wohlfahrtsstaatlichkeit soll also dafür sorgen, dass keine Situationen mehr auftreten, die eine individuelle Limitierung erforderlich machen. Was zunächst vielversprechend an Waldrons Argumentation zu sein scheint, ist, dass auf der Ebene des Wohlfahrtsstaates von allen Mitgliedern gemeinsam ein Subsistenzminimum für alle Bedürftigen garantiert wird. Die Lastenverteilung für die Hilfe kann so fair vorgenommen werden. Gleichwohl ist seine Argumentation in mehreren Hinsichten problematisch. Erstens wird auch ein Wohlfahrtsstaat Szenarien wie das von Waldron beschriebene nicht ausschließen können, sofern es um akute Notlagen geht. Hier ist
20 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, § 6; vgl. Hobbes, Leviathan, Kapitel 14.
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dann doch individuelle Hilfe gefragt, und es scheint dabei keine Rolle zu spielen, ob diese aktiv darin besteht, den Mann von draußen herein zu holen, wenn man ihn halb erfroren vor der Tür liegen sieht, oder passiv darin, ihn eintreten zu lassen, wenn er dazu noch die Kraft hat. Zweitens wird ein Wohlfahrtsstaat nichts daran ändern können, dass es andere Bedürftige gibt, die nicht Mitglieder sind und nach dem Prinzip der legitimen Befriedigung der Grundbedürfnisse aber nicht daran gehindert werden dürfen, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen (vgl. dazu Valentini 2011). Wir können hier an die Flüchtlingsschiffe denken, die regelmäßig die Küsten Italiens und Spaniens ansteuern. Dürfen die Flüchtlinge, wenn sie es bis dorthin schaffen, nur etwas für den nächsten Tag zu essen holen oder auch im Land bleiben, wenn es für sie keine andere aussichtsreiche Überlebensmöglichkeit gibt? Drittens ist das Prinzip der legitimen Befriedigung der Grundbedürfnisse zu stark. Wenn wir niemanden daran hindern dürfen, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen, wo er keine andere Möglichkeit dazu hat als eine, die uns sehr viel abverlangt, scheint das Prinzip an seine Grenzen zu geraten. Wenn A unbedingt eine Spenderniere braucht, um überleben zu können, und B der einzig zur Verfügung stehende Spender ist, wird es dennoch legitim sein, dass B A oder den mit A befreundeten Arzt C daran hindert, die Niere zu entnehmen. Ziehen wir an dieser Stelle eine Zwischenbilanz: Es galt zu untersuchen, unter welchen Umständen eine individuelle Hilfspflicht gegeben ist. Wir haben uns hier mit dem Kriterium der Zulässigkeit der Hilfeleistung unter dem Gesichtspunkt der Legitimität der Einschränkung der Eigentumsrechte Dritter befasst. Unsere erste Antwort auf die Frage, wann eine solche Einschränkung legitim ist, war, dass ein Helfer dann legitimerweise das Eigentum Dritter verwenden und auch beschädigen darf, wenn der Eigentümer selbst die Pflicht dazu hätte, sofern er anwesend wäre. Dies wiederum verschiebt die Frage auf die Zumutbarkeit der Ausführung einer Hilfspflicht. Dabei müssen wir, wie schon in Kapitel 3.3 gezeigt, zwischen der Zumutbarkeit bei der Ausführung einer Pflicht (Token-Kosten) und der Zumutbarkeit der Übernahme einer Pflicht (Type-Kosten) unterscheiden. Auch wenn die Token-Kosten gleich hoch sind, kann es zwar zumutbar sein, eine Nothilfepflicht auszuführen, aber nicht, eine generelle Pflicht zu übernehmen, allen Bedürftigen zu helfen. Im Anschluss daran haben wir mit Waldron die Frage gestellt, ob es legitim sein kann, dass wir vom Staat daran gehindert werden, gegenüber Personen, die objektiv bedürftig sind, auf unseren Eigentumsrechten zu beharren. Dabei zeigt sein Beispiel allerdings nur, was wir schon wussten: Wenn jemand ein Recht auf Nothilfe hat, und diese zumutbar ist, so muss ihm diese Hilfe auch in Form der Nichtintervention zuteil werden, wenn er selbst noch in der Lage ist, sich die notwendigen Güter zu beschaffen. Das von Waldron eingeführte Prinzip der legitimen Befriedigung der
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Grundbedürfnisse zeigt dagegen zu viel, insbesondere weil es kein Zumutbarkeitskriterium impliziert. Wenn es so wäre, dass wir niemanden daran hindern dürften, sich das zu nehmen, was er notwendig braucht, dann wäre ein Wohlfahrtsstaat wohl noch zu wenig, um zu garantieren, dass keine entsprechende Bedürftigkeit mehr auftritt. Hier zeigt sich ein Mal mehr: Objektive Bedürftigkeit kann nicht das einzige Kriterium sein, wenn es darum geht, zu bestimmen, welche positiven Pflichten wir gegenüber anderen haben.
3.5 Zur Aussicht auf Erfolg Eine weitere Hinsicht, in der sich die Fälle Teich und Armut unterscheiden könnten, ist die Aussicht auf Erfolg der Hilfeleistung. Erstens kann man der Meinung sein, dass nur im Fall Teich Aussicht auf Erfolg besteht, im Fall Armut dagegen nicht. Denn A kann das Kind vor dem Ertrinken retten, doch A kann nicht alle Armen vor der Armut und den damit verbundenen Gefahren retten. Dabei kann man zum einen meinen, dass die Verschiedenheit der Anzahl an Bedürftigen den Unterschied macht. Oder man kann meinen, dass die Art der Notlage die unterschiedlichen Erfolgsaussichten bedingt (Kapitel 3.6). Zweitens kann sich die Erfolgsaussicht der Hilfe dahingehend unterscheiden, dass im Fall Teich eine Rettung möglich ist, während im Fall Armut nur eine Linderung, eine temporäre Verbesserung der Umstände möglich ist. Es läge also hier der Unterschied zwischen einer absoluten und einer relativen Verbesserungsmöglichkeit in Bezug auf die jeweilige Notlage vor (Kapitel 3.5.2).
3.5.1 Das Vergeblichkeitsargument Eine Erklärung, die Peter Unger für das Phänomen anbietet, dass wir in Fällen wie Teich und Limousine helfen, in Fällen wie Armut und UNICEF dagegen nicht, ist das Vergeblichkeitsdenken (futility-thinking). Wir sehen im Armutsfall einfach nicht, welchen Unterschied unsere individuelle Hilfe macht, wo wir doch das Armutsproblem alleine nicht lösen können. Nun kann man diesen Einwand eher psychologisch oder aber prinzipiell verstehen. Was uns hier interessiert, sind Möglichkeiten, den Einwand prinzipiell zu verstehen. Wenn diese Möglichkeiten überzeugen, dann hätte Unger Unrecht damit, dass wir uns nur in die eigene Tasche lügen, wenn wir glauben, dass unsere Hilfe den Armen gegenüber gar nicht oder nur wenig erfolgversprechend sein kann. Ich sehe zwei prinzipielle Argumente gegen den Erfolg der Hilfe im Armutsfall. Erstens kann unsere individuelle Hilfe ineffizient sein. Sie ist nicht dafür geeignet, das Armuts-
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problem zu lösen. Oder im schlimmsten Fall könnte sie sogar kontraproduktiv sein, dann muss man ihre Zulässigkeit prüfen (vgl. Kapitel 3.4.1). In diesem Fall bestünde prinzipiell keine Aussicht auf Erfolg. Ferner ist es möglich, dass unsere Hilfe nur lindert, aber das Problem nicht löst. Doch dann ist durchaus eine Aussicht auf Erfolg gegeben, wenn es um das Lindern geht. Was man sich dann allerdings klar machen muss, ist, dass wir das Kind retten und die Notlage vollständig beseitigen können, während wir die Notlage Armut nicht beseitigen können. Meiner Meinung nach unterscheiden sich die beiden Fälle in Bezug auf die Möglichkeit der Beseitigung der Notlage, weil es sich um zwei verschiedene Notlagen handelt, denen verschiedene Hilfsmodelle entsprechen. Diese These will ich in Kapitel 3.6 erläutern.
3.5.2 Ineffizienz der Hilfe Es gibt einige Theoretiker, die darauf hinweisen, dass Singers Ansatz aus empirischen Gründen inadäquat ist. Besonders deutliche Worte findet Andrew Kuper: if Singer’s exhortations make you want to act immediately in the ways he recommends, you should not do so. First, be wary, for he tells us something we so want to hear: that there is a simple way to appease our consciences, that there is a royal road to poverty relief. Sadly, as much as we wish it, this is not the case. […] We must be careful not to make ourselves feel better in ways that damage the capabilities and well-being of the vulnerable (Kuper 2005, 158 f.).
Im Zweifelsfall, so Kuper, kann individuelle Wohltätigkeit in Form von Spenden sogar kontraproduktiv sein und den Armen schaden. Das liegt daran, dass individuelle Handlungen in soziale und politische Systeme eingebettet sind. Systemmängel werden zum Teil durch individuelle Wohltätigkeit nur aufrechterhalten, wenn nicht gar verstärkt. Bevor wir also unser schlechtes Gewissen durch Spenden heilen, sollten wir uns damit befassen, worin eigentlich die Ursachen der Armut liegen. Eine solche Analyse könnte auch darauf hinauslaufen, dass wir es zunächst unterlassen müssen, die Armen zu schädigen, etwa durch das Festlegen von ungerechten Handelsregeln, die dazu beitragen, dass die Armen auf dem Weltmarkt schlechtere Chancen haben als die Reichen (vgl. dazu auch Pogge 2002 b). Selbst wenn Kuper recht haben sollte, was ich hier nicht beurteilen kann, so könnten wir dann immer noch versuchen, effizientere Strategien zu finden, um den Armen zu helfen. Dafür wäre auch Singers Argument offen. Es schließt nicht aus, dass wir uns politisch, etwa gegen unfaire Handelsregeln, engagieren sollten, statt Geld an Oxfam zu senden, wenn wir wüssten, dass die eine Strategie
Zur Aussicht auf Erfolg
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effizient ist und die andere wirkungslos oder gar kontraproduktiv. Das Problem an Kupers Kritik ist, dass sie gleichsam das Kind mit dem Bade ausschüttet. In kommunistischer Tradition hat schon Bertolt Brecht in seinem Badener Lehrstück vom Einverständnis formuliert: „Gewalt und Hilfe geben ein Ganzes. Und das Ganze muss verändert werden.“ Die Idee ist, dass wir durch Hilfe nur eine ungerechte Struktur perpetuieren, die als solche abgeschafft werden müsste, dann wäre auch weniger Hilfe nötig. Doch ist die Frage, ob wir den Erfolg, den eine lindernde Handlung haben kann, selbst wenn sie nicht das gesamte System verändern kann, nicht auch wertschätzen sollten. Sicher ist jedenfalls, dass der Passant das Kind in Singers Teichbeispiel tatsächlich retten kann, so dass die Notlage vollständig behoben ist. Nun könnte zwar nicht jeder von uns, aber eine sehr reiche Person, auch einen Armen retten, indem sie diesen, sagen wir, in die USA holt, und ihm dort sehr viel Geld zur Verfügung stellt. Damit wäre dieser Arme aus der Notlage Armut gerettet. Allerdings ist damit die Notlage Armut als Strukturproblem nicht beseitigt. Es würde weiter sehr viele arme Menschen geben, deren Notlage nicht verbessert oder aufgehoben wird. Das liegt meines Erachtens daran, dass es sich in den beiden Fällen um ganz verschiedene Notlagen handelt. Im Teichfall geht es darum, das Kind zu retten, die Notlage selber kann man nicht verhindern. Es ist prinzipiell nichts dagegen zu machen, dass Kinder ab und zu in Teiche fallen. Man kann nicht alle Teiche umzäunen oder überall Bademeister und Polizisten patroullieren lassen. Im Armutsfall muss es allerdings gerade darum gehen, diejenige Notlage zu beseitigen, die in einem insgesamt niedrigen Lebensstandard besteht. Einen Armen zu retten, würde dazu nicht beitragen. Außerdem kann man die Rettung eines Armen selbst problematisch finden, wenn man die These vertritt, dass Rettung aus der Armut durch fremde Hilfe und ohne Eigenleistung prinzipiell unmöglich ist. Die Abhängigkeit von einem Helfer kann sowohl demütigend sein (vgl. Kapitel 3.4.1) als auch ineffizient, weil es denkbar ist, dass die Person in unserem Beispiel in den USA gar nicht in der Lage ist, ein selbständiges Leben zu führen. Jürgen H. Wolff vertritt die These, dass der Ausweg aus der Armut nur durch Eigenleistung und wirtschaftlichen Aufschwung der Schwellenländer erreicht werden kann (vgl. Wolff 2005). Das Armutsproblem und die Notlage, in der sich ein in den Teich gefallenes Kind befindet, sind in vielen Hinsichten verschieden. Deswegen hat unser Umgang damit auch unterschiedliche Erfolgsaussichten. Im einen Fall können wir die Notlage durch Rettung beheben, im anderen Fall können wir individuell nur lindern, aber nicht retten.
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Einwände gegen die Analogiethese
3.6 Der Einwand der Verschiedenheit der Art der Notlage Im Folgenden vertrete ich die These, dass wir es bei den beiden Beispielen des ertrinkenden Kindes und des Weltarmutsproblems mit zwei der Art nach verschiedenen Notlagen zu tun haben und deshalb die Analogie von Teich- und Armutsfall nicht gegeben ist.21 Es kann jedoch sein, dass in beiden Fällen die Not dem Grad nach gleich ist. Darauf möchte Unger mit seinem zugespitzten UNICEF-Beispiel hinaus: Unschuldige Kinder werden an armutsbedingten Krankheiten sterben, wenn wir nicht ein wenig Geld spenden, das ihre Behandlung ermöglicht. Gehen wir also davon aus, dass in beiden Beispielfällen akute Lebensgefahr besteht und grundlegende Güter betroffen sind. Doch wie kommt es jeweils dazu? Das Teichbeispiel stellt eine klassische akute Notlage dar: Sie ist sowohl für den Hilfsbedürftigen als auch für den Helfenden unvorhersehbar. Der Helfer ist mit dem Kind und seiner Notlage direkt konfrontiert und kann sofort helfen. Sobald die Hilfe erfolgt ist, ist der Status quo ante ohne Notlage wiederhergestellt. In diesem Fall möchte ich von einer akuten Notlage sprechen. Sie kann durch eine bestimmte Handlung behoben werden, danach besteht keine Notlage mehr. Im Fall des Kindes können wir sogar von einer Rettungspflicht sprechen, da es möglich ist, das Kind aus der akuten Notlage des Ertrinkens zu retten. Armut ist hingegen eine strukturelle oder permanente Notlage. Sie kann allerdings bewirken, dass man sich in akuten Notlagen befindet: Schlechte Hygiene und schlechte Ernährung können zu lebensbedrohlichen Krankheiten führen. Doch durch eine bestimmte Handlung kann die permanente Notlage nicht beseitigt werden. Der Status quo ante ist zwar wiederhergestellt, wenn die eine Krankheit geheilt ist. Doch ist dieser Status quo ante selbst eine Notlage. Während sich die Hilfe im einen Fall auf die Wiederherstellung des Status quo ante ohne Notlage bezieht, muss sie sich im zweiten Fall auf die Herstellung eines Status quo ohne Notlage konzentrieren. Ein Mensch, der sich in einer akuten Notlage befindet, kommt normalerweise nicht ohne fremde Hilfe zurecht. Ein Mensch, der sich in einer permanenten Notlage befindet, kann entsprechend dauerhaft nicht ohne fremde Hilfe ein notlagenfreies Leben führen. Er ist auf Hilfe bei der Herstellung einer Situation angewiesen, in der er sich selbst versorgen kann. Armut ist ein Problem des Lebensstandards, das nur langfristig und durch eine Absicherung der Strukturen, die die Lebensbedingungen ausmachen, gelöst werden kann. Der Einwand lässt sich wie folgt zusammenfassen:
21 Zu den folgenden Überlegungen vgl. Mieth (2009 a).
Der Einwand der Verschiedenheit der Art der Notlage
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Einwand der Verschiedenheit der Notlage: Teichfall und Armutsfall beziehen sich auf zwei der Art nach verschiedene Notlagen.
Der Teichfall bezieht sich auf eine akute Notlage. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass (a) eine plötzliche, unvorhersehbare Gefahrenlage besteht, (b) diese sofortiges Handeln erfordert, das (c) auf eine Reetablierung des Status quo ante ohne Notlage zielt (Erfolgskriterium). Der Armutsfall bezieht sich auf eine permanente Notlage. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass Subsistenz, die Möglichkeit, aus eigener Kraft ein notlagenfreies Leben zu führen, nicht gegeben ist. Dadurch entsteht (a) eine permanente Gefahrenlage, die sowohl (b) zu akuten Notlagen führen kann, die sofortiges Handeln erfordern, als auch (c) die Bekämpfung der Ursachen fordert, die zu der permanenten Notlage führen. Ziel ist das Erreichen der Subsistenz durch die Etablierung und Absicherung eines Status quo, in dem es zu diesen Notlagen nicht mehr kommt. Dadurch sollen betroffene Personen vor bestimmten Standardbedrohungen geschützt werden. In Bezug auf die permanente Notlage kann man sich daraus resultierende Fälle von akuten armutsbedingten Krankheiten vorstellen. Ein Arzt könnte dann einen akuten Fall von Lungenentzündung heilen. Die Person würde danach aber nicht in einen Status quo ante ohne Notlage entlassen. Vielmehr bestünde auch nach der Heilung der Krankheit die permanente Notlage, in der die Person nicht gegen Armut und die mit ihr verbundenen Gefahren abgesichert ist, weiter. Dem Arzt ist es nur möglich, die akute Notlage, den medizinischen Notfall, zu versorgen. Für die Behebung der strukturellen Notlage und damit der Prävention gegen das Auftauchen weiterer akuter Notlagen wäre eine ganz andere Handlung erforderlich, die ein institutionelles Setting hervorbringen müsste, durch das die Person vor Standardbedrohungen geschützt ist. Die Person müsste die Möglichkeit haben, sauberes Wasser zu trinken, sich einigermaßen gesund zu ernähren, unter hygienisch angemessenen Bedingungen zu wohnen usf. Die Verschiedenheit der Notlagen führt zusätzlich dazu, dass die Zumutbarkeit angesichts akuter Notlagen viel öfter gegeben ist als bei permanenten Notlagen.22 Ich hatte oben schon erwähnt, dass Beispielfälle, die sich auf die Rettung von Kindern aus stehenden Gewässern durch Erwachsene beziehen, als easy rescues bezeichnet werden. Es scheint mir jedoch gerade problematisch, wenn man eine Parallelität der Notlagen des ertrinkenden Kindes und der Welt-
22 Diesen Punkt macht auch David Schmidtz (2000, 700 f.): „it seems inescapable that emergencies and chronic problems are two different things. When we assume a burden of longterm care, we give up the life we had. When we help out in a one-shot emergency, we are inconvenienced, maybe even at risk, but we are not abandoning life as a member of a kingdom of ends and replacing it with a new life as a mere means.“
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Einwände gegen die Analogiethese
armut annimmt, und dann das Zumutbarkeitskriterium dem easy-rescue-Fall entlehnt. Die Beseitigung einer permanenten Notlage kann erheblichen Zeitaufwand und erhebliche finanzielle Kosten mit sich bringen. Andererseits können sich akute Notlagen zu permanenter Pflegebedürftigkeit auswachsen, etwa wenn jemand nach einem Unfall eine aufwändige medizinische Versorgung braucht oder längere Zeit nicht zur Selbstversorgung in der Lage ist. Die alleinige Last der Hilfe sind wir allerdings nicht mehr zu übernehmen gewohnt, da in unserer Lebenswelt die Lasten der Hilfe durch Institutionalisierung mehr oder weniger gerecht verteilt sind. Gerade diese Institutionalisierung, etwa in Form der (gesetzlichen) Krankenversicherung, führt dazu, dass wir zwar von einer (permanenten) Pflegebedürftigkeit, aber nicht von einer permanenten Notlage sprechen würden, sofern die Person die entsprechende medizinische Versorgung qua Rechtsanspruch und auch tatsächlich erhält. Müssen bei akuten Notlagen Ärzte hinzugezogen werden, wird durch die Krankenversicherung deren Entschädigung gedeckt. Der Passant, der das Unfallopfer entdeckt, muss nur helfen, bis der Arzt eintrifft. Gibt es jedoch keinen Rechtsanspruch auf Versorgung bei permanenten Notlagen, können wir auch von strukturellen Notlagen sprechen. Eine strukturelle Notlage zeichnet sich dadurch aus, dass institutionelle Arrangements fehlen, die permanente Notlagen kompensieren und die Lasten der Hilfe bei akuten Notlagen gerecht verteilen, sowie einen gewissen Schutz gegen das Auftreten von Notlagen bewerkstelligen können.
3.6.1 Verschiedene Ursachen der Notlagen Wenn wir unseren Blick darauf konzentrieren, was die beiden von Singer dargestellten Fälle voneinander unterscheidet, dann ist meines Erachtens zunächst die Art der Notlage ein guter Kandidat. Beim Teichfall scheint es sich um einen unvorhergesehenen Fall zu handeln, der etwa mit nicht selbstverschuldeten Unfällen oder Naturkatastrophen vergleichbar ist. Es geht um eine akute Notlage, die durch Soforthilfe behoben werden kann. Reetabliert werden muss im Falle des Kindes, davon können wir ausgehen, der Status quo ante. Bei der Armut hingegen handelt es sich um eine permanente Notlage. Der niedrige Lebensstandard selbst ist das Problem bei gravierender Armut. Es ist vorhersehbar, dass Menschen, die von gravierender Armut betroffen sind, eine niedrigere Lebenserwartung haben als wir. Es geht also darum, den Lebensstandard insgesamt anzuheben: Es braucht Zugang zu Nahrung, sauberem Wasser, Kleidung, Unterkunft, medizinischer und schulischer Grundversorgung. Hier ist eine langfristige institutionelle Hilfe angesagt, die den Erhalt dieser Güter sichert. Wenn wir einen Blick in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte werfen,
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können wir feststellen, dass es ein Menschenrecht auf den Erhalt dieser Güter gibt: Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (in: Randelzhofer 2004), Art. 22).
Die Artikel 23–27 formulieren weitere soziale und wirtschaftliche Rechte: ein Recht auf Arbeit (Art. 23), ein Recht auf Erholung und Freizeit (Art. 24), ein Recht auf Kleidung, Nahrung, Wohnung und Kinderschutz (Art. 25), das Recht auf Bildung (Art. 26) und das Recht auf Kultur (Art. 27). Der Punkt ist folgender: Wenn der Passant in Singers Beispiel das Kind nicht rettet, haben wir es mit einem individuellen Fehler zu tun. Das Armutsproblem scheint im Unterschied dazu auf einen institutionellen Fehler zurückzugehen. Doch von wessen Fehler sprechen wir hier? Selbst wenn man Armut als Verletzung positiver, sozialer Menschenrechte betrachtet, scheint uns dafür in der Regel primär das Missmanagement diktatorischer Regimes in den entsprechenden Ländern verantwortlich zu sein. Armut erscheint als lokales, hausgemachtes Problem. Thomas Pogge hat seit Jahren darauf hingewiesen, dass die bislang skizzierte Sicht des Armutsproblems falsch sei. Er vertritt drei Gegenthesen: Erstens: Das Armutsproblem ist ein Strukturproblem, das auf eine ungerechte globale Wirtschaftsordnung zurückgeht, die Menschenrechte verletzt. Zweitens: Wir, die BürgerInnen, sind dafür (mit)verantwortlich, da unsere demokratisch gewählten Regierungen diese ungerechte Ordnung formen und aufrechterhalten. Drittens: Unsere Pflichten zur Armutsbekämpfung sind keine Hilfs- oder Wohltätigkeitspflichten, sondern Kompensationspflichten.
Laut der zweiten These ist nicht nur die Art der Notlage bei der Armut eine andere als beim Teichbeispiel, sondern auch die Ursache der jeweiligen Notlage ist in moralisch relevanter Hinsicht verschieden zu bewerten. Pogge ist der Meinung, dass Singers wirkungsmächtiges Beispiel unsere Intuitionen in eine völlig falsche Richtung lenkt. Denn laut Pogge unterscheiden sich die Beispiele Teich und Armut in moralischer Hinsicht primär dadurch, dass der Passant an der Notlage des Kindes unschuldig ist, während wir das Weltarmutsproblem mit verursachen und dadurch eine negative Pflicht verletzen. Die Hauptgefahr des Hilfsarguments sieht Pogge darin, dass es dazu beitrage, unsere kausale Beteiligung am Armutsproblem zu verschleiern, die uns eine stärkere Pflicht auferlegt,
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das Armutsproblem zu lösen, als eine Hilfspflicht. Pogges Gegenthese können wir an folgenden Beispielen illustrieren: Beispiel 1: Am Straßenrand liegt ein verletztes Kind. Der unbeteiligte Passant A muss dem Kind helfen und es ins Krankenhaus bringen. Die Verletzung dieser positiven Pflicht ist unterlassene Hilfeleistung. Beispiel 2: B fährt unvorsichtig (zu schnell oder unkonzentriert, betrunken …). B verletzt fahrlässigerweise ein Kind. B hat eine negative Pflicht verletzt. Er hat das Kind geschädigt.
Pogge möchte durch das Landstraßenbeispiel Folgendes verdeutlichen: B’s Unterlassung, das Kind ins Krankenhaus zu bringen, ist verwerflicher als A’s unterlassene Hilfeleistung. Dieser intuitiven moralischen Beurteilung liegt folgende implizite These zugrunde: Negative Pflichten, andere nicht zu schädigen, sind stärker als positive Pflichten, anderen zu helfen. Wenn wir durch unser Verhalten negative Pflichten gegenüber den Armen verletzen, haben wir einen stärkeren Grund, diese Pflichtverletzung zu kompensieren, als aus einer positiven Hilfspflicht heraus. Die Beispiele sollen also, übertragen auf unsere Stellung zum Weltarmutsproblem, Folgendes zeigen: Wir sind nicht etwa in der Lage des Passanten, der als unbeteiligter Helfer das Kind aus einer Notlage rettet. Vielmehr sind wir, wie der fahrlässige Autofahrer, schon am Zustandekommen der Notlage der Armen beteiligt. Deswegen haben wir ihnen gegenüber keine (schwache) Hilfspflicht, sondern eine (stärkere) Kompensationspflicht. Pogge will nicht bestreiten, dass es positive Hilfspflichten gibt und dass wir viele davon haben. Er geht allerdings von der gängigen These aus, dass die Pflicht, andere nicht zu schädigen, schwerer wiegt als die Pflicht, anderen zu helfen. Dabei verteidigt er zwei allgemein akzeptierte Vorrangregeln (vgl. dazu Kapitel 2.6.3): Erstens: Negative Pflichten haben Vorrang vor positiven Pflichten. Zweitens: Innerhalb der positiven Pflichten haben Pflichten gegenüber Landsleuten Vorrang vor positiven Pflichten gegenüber Fremden.
Wenn diese Vorrangregeln richtig sind, dann sind Singers Forderungen nach einer revisionären Moral unbegründet. Die Armen stehen hier tatsächlich an letzter Stelle der Erfüllung positiver Pflichten. Pogge fordert von uns nicht in normativer, sondern in empirischer Hinsicht ein Umdenken bzw. ein Erkennen der tatsächlichen Mitschuld, die wir seiner Ansicht nach am Weltarmutsproblem tragen. Hier bedarf es einer Revision: Wir müssen einsehen, dass wir für das Fortbestehen der Armut primär mitverantwortlich sind, dann stehen Kompen-
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sationsverpflichtungen, die sich aus der Schädigung der Armen durch uns ergeben, gleich oben an erster Stelle dessen, was wir tun sollen. Die strukturelle und institutionelle Dimension des Menschenrechtsschutzes wird auch von Art. 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte betont: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können“ (Art. 28, in Randelzhofer 2004). Ob die bestehende globale Ordnung den Armen schadet, bemisst sich nach Pogge daran, ob sie ungerecht ist. Er schlägt folgende Kriterien zur Bewertung der Gerechtigkeit einer Zwangsordnung vor, die vom Schadensbegriff unabhängig sind: a.) Werden die Menschenrechte erfüllt oder bleiben einige Rechte unerfüllt? Sind absolute Ansprüche der Rechtsträger hinsichtlich (sozialer) Sicherheit, Eigentum, Bedarfsgütern erfüllt? b.) Sind relative Ansprüche erfüllt: Liegt Gleichbehandlung oder Diskriminierung vor? Pogges Pointe ist nun, dass die bestehende Weltwirtschaftsordnung diese menschenrechtlichen moralischen Ansprüche nicht erfüllt, obwohl deren Erfüllung eine leicht realisierbare Alternative wäre. Daraus, dass die Ordnung in diesem Sinn ungerecht ist, folgt, dass sie die Armen, die ihr unterworfen sind, schädigt. Pogge glaubt nun weiter, dass wir, die Bürger der reichen Staaten, für diese Schädigung primär verantwortlich sind. Denn unsere Staatsoberhäupter gestalten die ungerechte Weltwirtschaftsordnung in unserem Namen und mit unserer demokratischen Legitimation. Zwei gravierende Strukturdefizite der Weltwirtschaftsordnung sind das Rohstoff- und das Kreditprivileg für Diktatoren. Wer die Kontrolle über die Rohstoffe eines Entwicklungslandes an sich reißt, wird zumeist international als Handelspartner anerkannt und kann die Rohstoffe verkaufen, ohne die Bevölkerung am Gewinn zu beteiligen. Ebenso werden Diktatoren Kredite gewährt, die sie zur Machterhaltung mit Waffengewalt einsetzen, während demokratische Nachfolgeregimes dann auf deren Schulden sitzen bleiben. So tragen globale Faktoren zur lokalen Aufrechterhaltung von Armut und anderen Menschenrechtsverletzungen bei. Vermittelt durch die Gestaltung der globalen Ordnung durch unsere mächtigen Regierungen, tragen auch wir laut Pogge zur Verletzung der Menschenrechte der Armen bei. Unsere Kompensationspflichten entstehen also daraus, dass wir die Armen, wenn auch sehr indirekt, schädigen. Wir verstoßen laut Pogge gegen die negative Pflicht, eine ungerechte Ordnung nicht zu unterstützen oder davon zu profitieren. Aus der Verletzung der negativen Pflicht, andere nicht zu schädigen, entsteht eine positive Kompensationsverpflichtung. Nun ist es so, dass
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wir alle durch die hoffnungslos dichten Vernetzungen, Interdependenzen und Verwicklungen kaum vermeiden können, die Armen zu schädigen. Es gibt zu viele schädigende Handlungen unseres alltäglichen Lebens, etwa wenn wir Öl kaufen, um unser Haus zu heizen, oder wenn wir Sportschuhe kaufen, die in Niedriglohnländern hergestellt wurden, usf. Die Idee ist jetzt nicht, dass wir diese Käufe unterlassen sollen, sofern wir das überhaupt könnten, sondern dass wir die Verletzungen anderer, die wir ständig durch das Eingebundensein in unsere Lebenswelt begehen, kompensieren. So versteht Pogge unsere positive Verpflichtung zur Armutsbekämpfung als menschenrechtskorrelative Pflicht. Aus Pogges Position ergeben sich zwei bemerkenswerte Konsequenzen: Erstens machen es Pogges negative Pflichten nicht falsch, zu einer ungerechten Weltordnung beizutragen oder davon zu profitieren, wenn man kompensierende Anstrengungen der Reform und des Schutzes der Benachteiligten unternimmt. Nur wer von einer ungerechten Ordnung profitiert und an ihr mitwirkt, ohne Reformversuche zu unternehmen, verletzt Menschenrechte. Genau wie für Singer besteht also letztlich auch für Pogge unser Fehler darin, dass wir nicht genug für die Armutsbekämpfung tun. Gleichwohl sind die Gründe, aus denen wir etwas tun sollten, bei beiden verschieden. Und das ist die zweite bemerkenswerte Konsequenz aus Pogges Position. Die Armen haben einen menschenrechtlich begründeten Anspruch auf unsere Schutz- und Reformversuche, denn unser Mitwirken an und Profitieren von der ungerechten Weltwirtschaftsordnung machen uns zu Menschenrechtsverletzern, wenn wir keine Kompensationsversuche unternehmen. Singers ertrinkendes Kind, dem wir alle zu Hilfe eilen würden, hat dagegen einen weit schwächeren Anspruch auf unsere Hilfe, da seine Notlage nicht durch ungerechte, menschenrechtsverletzende Regeln verursacht ist. Gegenüber dem Kind haben wir keine Kompensationspflicht, sondern bloß eine stringente positive Hilfspflicht, die auf jeden Fall schwächer ist als die Pflicht, ein Kind zu retten, das wir selber, wenn auch unabsichtlich, in den Teich gestoßen haben. Wenn Pogges These korrekt ist, unterscheiden sich die Fälle Teich und Armut qua Ursache der Notlage. Während A im Teichfall am Zustandekommen der Notlage unschuldig ist, und nur qua Zurechenbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung zuständig wird, sind wir als BürgerInnen reicher und einflussreicher, demokratischer Staaten für das Weltarmutsproblem mit verantwortlich und deswegen für seine Behebung mit zuständig. Wenn die Verursacherthese korrekt ist, dürfte auch die Zumutbarkeitsfrage in anderem Licht erscheinen, da Mitverantwortlichen höhere Beseitigungskosten für Unrecht auferlegt werden dürfen als Unbeteiligten. Wie wir oben gesehen haben, funktionieren die eingangs beschriebenen Fälle Teich und Armut nicht analog. Aus ihnen ergeben sich verschiedene Arten
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von Pflichten: Im Teichfall als akuter Notlage ergibt sich eine starke Nothilfepflicht, im Armutsfall zunächst einmal nur eine schwächere W2-Wohltätigkeitspflicht. Sofern sich Armut als strukturelle Notlage betrachten lässt, resultiert allerdings eine starke Solidaritätspflicht. Institutionen sind berechtigt, in zumutbarer Weise den Schutz wirtschaftlicher und sozialer Menschenrechte sicherzustellen. Strukturelle Notlagen können weiterhin selbst Resultat von institutionellem Versagen sein. Das ist dann der Fall, wenn bestehende institutionelle Ordnungen ungerecht sind. Wenn Pogges revisionäre empirische These korrekt ist, entsteht für die BürgerInnen reicher und mächtiger Staaten aus der Mitwirkung an und dem Profitieren von einer ungerechten Ordnung die Pflicht zur Kompensation der Opfer durch Hilfs- und Reformanstrengungen. Je nachdem, ob und in welchem Ausmaß man unsere Mitwirkung am Armutsproblem nachweisen kann, können sich aus Pogges Ansatz ähnlich weitreichende Konsequenzen ergeben wie bei Singer, wobei aber unsere Zuständigkeit für das Armutsproblem, falls die Verursacherthese überzeugen kann, dann anders begründet ist. Am Ende schädigen wir die Armen laut beiden Positionen, derjenigen Singers und derjenigen Pogges, dadurch, dass wir zu wenig zur Armutsreduktion tun. Bei Pogge verletzen wir Menschenrechte, indem wir nicht für unser Fehlverhalten kompensieren. Dabei ist es hochproblematisch, dass Pogge selbst zugibt, dass wir diesem Fehlverhalten, was das Mitwirken und Profitieren betrifft, kaum entgehen können. Durch einfaches Unterlassen kann man hier Schädigungen nicht vermeiden. Schädigungen können erst auf einer zweiten Ebene vermieden werden, auf der wir etwa für unser ungerechtes Profitieren kompensieren. Bei Singer sollen wir gleich helfen, einfach weil wir es können, unabhängig davon, ob wir für das Zustandekommen der Notlage mit verantwortlich sind. Helfen wir nicht, schädigen wir durch Unterlassen. Interessant ist, dass beide Positionen das Bild des fahrlässigen Autofahrens heranziehen. Singer glaubt, unterlassene Hilfeleistung sei, konsequentialistisch betrachtet, bei gleichem Schaden in moralischer Hinsicht nicht so schlimm wie Mord, aber doch so gravierend wie fahrlässige Tötung einzustufen. Unsere verschwenderische Lebensweise, bei der wir den Armen nichts abgeben, obwohl wir genau wissen, dass sie Hilfe brauchen, und diese recht einfach zu bewerkstelligen und das verfrühte Sterben der Armen damit vermeidbar wäre, vergleicht Singer mit der Zebrastreifenraserin. Sie will immer schnell vorankommen und fährt dabei rücksichtslos durch die Stadt. Dabei intendiert sie nicht, andere zu verletzen, doch wenn es – absehbarerweise – dazu kommt, würde man sie nicht entschuldigen können. Pogges Bild scheint mir nun einerseits plausibler und andererseits unplausibler. Die Kompensationsidee scheint doch angreifbar. Wir würden nicht sagen, dass ein fahrlässiger Autofahrer seine Schuld dadurch kompensieren kann, dass er sein Opfer
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nach einem von ihm verschuldeten Unfall ins Krankenhaus bringt. Seine Strafe könnte durch die sofortige Hilfe gemildert werden, doch bestünde immer noch der Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung. Eine bestimmte Art aktiver Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen scheint daher nicht bloß durch Kompensation ausgleichbar, sondern darüber hinaus strafbar und an sich unbedingt zu vermeiden. Die Beteiligungen an Unrecht, bei denen Kompensation die Pflichtverletzung gleichsam wett machen kann, erscheinen allerdings gleichzeitig als schwach und individuell unvermeidbar, so wie etwa der Kauf von Heizöl aus Ländern, deren Machthaber sich am Erlös der Rohstoffverkäufe bereichern, ohne ihre arme Bevölkerung miteinzubeziehen. Hier liegt eben keine eindeutige, intentionale Menschenrechtsverletzung vor, die an sich ein großes Unrecht wäre. Aber wenn man uns eigentlich gar nicht vorwerfen kann, etwas falsch gemacht zu haben bzw. wenn es unzumutbar wäre, von uns zu verlangen, in dieser Hinsicht unseren Lebensstandard zu ändern, warum müssen wir dann kompensieren? Ich glaube, dass Pogges Argument, dass wir von einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung profitieren, mehr Erfolgsaussichten hat als das Argument, dass wir in schuldhafter Weise aktiv zu ihr beitragen. Wir können von Ungerechtigkeiten profitieren, ohne daran aktiv mit schuld zu sein. Wir profitieren zum Beispiel von Menschenrechtsverletzungen, etwa von Kinderarbeit, wenn wir bestimmte billige Waren kaufen, auch wenn wir nicht selber Menschenrechte aktiv verletzen. Ein Großteil unseres Reichtums geht, je nachdem, was man alles als strukturelle Menschenrechtsverletzung beschreiben will, auf das Profitieren von einer ungerechten Ordnung zurück. Hieraus ergibt sich, glaube ich, ein direktes Argument für institutionelle und individuelle Pflichten zur Armutsbekämpfung: Auf so erworbenen Reichtum hat man keinen vollständigen Anspruch (diese Position vertreten auch Anwander/Bleisch 2007). Teile davon müssen gerechterweise umverteilt werden. Effizient und gerecht könnte dies durch eine institutionell organisierte Lastenverteilung erreicht werden. Doch so lange diese nicht etabliert ist, muss die mangelnde Institutionalisierung durch individuelle Erfüllung von W2-Wohltätigkeitspflichten kompensiert werden. Wir sollten uns allerdings deutlich machen, dass dieses Konzept, ebenso wie individuelle Hilfspflichten in akuten Notlagen, nicht geeignet ist, um eine dauerhafte und effiziente Armutsbekämpfung zu bewirken. Auch eine gerechte Lastenverteilung kann dadurch nicht garantiert werden. Gravierende Armut erscheint uns nur aufgrund der mangelnden Institutionalisierung gerechter Umverteilung als Wohltätigkeits- oder Hilfsproblem. Tatsächlich haben wir es aber auch mit einer Gerechtigkeitsfrage zu tun. Nur ist nicht klar, was daraus für die Stärke der Pflichten, die Individuen unter den gegebenen Umständen bei der Armutsbekämpfung haben, folgt. Insbesondere gehen wir in Bezug auf starke Pflichten im
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Allgemeinen von interaktionalen Verhältnissen aus, bei denen Rechtsverstöße eindeutig zurechenbar und Kompensationen relativ klar bestimmbar sind. Dies ist auf die Art der Verstrickung der BürgerInnen der reichen Staaten in die Weltarmutsproblematik nicht direkt übertragbar (vgl. dazu Mieth 2010 und 2012 und Ci 2010). Es kann sein, dass das Armutsproblem zwar ein Gerechtigkeitsproblem ist, dass unsere Armutsbekämpfungspflichten aber dennoch nicht stärker sind als W2-Wohltätigkeitspflichten, einfach, weil sie relativ unterbestimmt sind.
3.6.2 Unvermeidbarkeit vs. Vermeidbarkeit Ich habe oben dafür argumentiert, einen Hauptunterschied zwischen den Fällen Teich und Armut in der Art der Notlage zu suchen. Dabei ist ein zentraler Faktor bezüglich der Art der Notlage, dass akute Notlagen, die Unfälle sind, wie der Teichfall, in der Regel unvermeidbar sind, was ihr Zustandekommen betrifft. Strukturelle Notlagen dagegen zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie durch geeignete institutionelle Vorkehrungen vermeidbar gewesen wären. Vermeidbarkeit und Unvermeidbarkeit von Notlagen scheinen wichtige moralische Faktoren zu ihrer Bewertung zu sein. Deswegen wollen wir uns an dieser Stelle eingehender mit ihrer moralischen Relevanz beschäftigen. Vermeidbarkeit und Unvermeidbarkeit scheinen in unserem Kontext an zwei Stellen eine Rolle zu spielen. Zum einen bei der Frage, wie es zu einer Notlage kommen kann: War das Zustandekommen der Notlage vermeidbar oder unvermeidbar? Zum anderen bei der Frage, wie eine Notlage behoben werden kann: Ist ein aus der Notlage entstehender Schaden durch einen potentiellen Helfer vermeidbar oder unvermeidbar? Zunächst gilt es, sich grundsätzlich Folgendes klar zu machen: Aus der Unvermeidbarkeit eines Ereignisses scheint zu folgen, dass für sein Eintreten in moralischer Hinsicht niemand verantwortlich gemacht werden kann. Dagegen scheint Vermeidbarkeit alleine noch kein hinreichendes Kriterium für moralische Vorwerfbarkeit zu sein. Denn ich könnte natürlich vermeiden, dass mein wie immer schlecht organisierter Kollege, der sich mal wieder nichts zu Essen mitgebracht hat und auch kein Geld dabei hat, heute Mittag Hunger leidet, indem ich ihn mal wieder zum Essen einlade. Wenn ich dies nicht vermeide, scheint mir allerdings in moralischer Hinsicht nichts vorwerfbar zu sein. Das scheint wiederum, ihm Rahmen der hier entwickelten Theorie, daran zu liegen, dass kein notwendiges Gut betroffen ist. Umgekehrt ist aber nicht in allen Fällen, in denen ein notwendiges Gut auf dem Spiel steht und seine Beschädigung vermeidbar ist, die Erhaltung dieses notwendigen Gutes legitim. Dazu müssen wir uns wieder
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den Fall vorstellen, in dem A dringend eine Niere braucht, um nicht sterben zu müssen. Sein Tod wäre vermeidbar, wenn der Arzt B dem C, der sich im Krankenhaus befindet, und, wie B weiß, ein geeigneter Spender wäre, gegen seinen Willen die Niere entnähme und sie dem A transplantieren würde. Dass das Eintreten eines schädlichen Ereignisses vermeidbar gewesen wäre, ist ein notwendiges, kein hinreichendes Kriterium für das Zusprechen moralischer Verantwortung in Bezug auf das Zustandekommen eines Ereignisses. Die Frage ist, welche der Dinge, die wir vermeiden können, wir vermeiden sollen. Die Frage nach der Vermeidbarkeit und der Zurechenbarkeit einer moralischen Schuld, wenn bestimmte vermeidbare Ereignisse eintreten, funktioniert analog zu der Frage nach schädigenden Unterlassungen. Wir müssen also immer doppelt fragen: Eingriffsbedingung: Hätte A verhindern können, dass Ereignis e eintritt? Legitimitätsbedingung: Hätte man legitimerweise von A verlangen können, dass er verhindert, dass e eintritt?
Dabei ist die Eingriffsbedingung eine notwendige und die Legitimitätsbedingung eine hinreichende Bedingung für die Zurechnung moralischer Verantwortung für das Eintreten von e. Die Eingriffsbedingung wird allerdings immer schon im Hinblick auf die Legitimitätsbedingung interpretiert werden müssen. Wenn A viel zu schnell fährt und dadurch die Katze von B verletzt, dann ist die Frage natürlich nicht, ob er unter der Bedingung des zu schnellen Fahrens hätte verhindern können, dass die Katze verletzt wird. Vielmehr müssen wir die Eingriffsbedingung im Lichte der Legitimitätsbedingung interpretieren. Wäre es unter der Bedingung, dass A nicht zu schnell gefahren wäre, möglich gewesen, zu verhindern, dass die Katze verletzt wird? Wenn wir also sagen wollen, dass A moralisch verantwortlich für e (die Verletzung der Katze) ist, dann müssen wir fragen: Regelbedingung: Hätte A unter der Bedingung der Einhaltung der Norm X verhindern können, dass e eintritt? Zumutbarkeitsbedingung: Kann man von A verlangen, dass er die Norm X befolgt?
Wenn die Regelbedingung und die Zumutbarkeitsbedingung erfüllt sind, dann ist A moralisch verantwortlich für das Eintreten von e. Das heißt aber auch, dass A nicht für jedes e, für das er kausal verantwortlich ist, moralisch verantwortlich sein muss. Unter bestimmten Bedingungen ist es eben nicht so, dass A die Katze nicht verletzt hätte, wenn er vorschriftsmäßig gefahren wäre. Die spannende Frage ist jetzt natürlich, wie sich diese Kriterien auf unsere Beispiele anwenden lassen. Singer und Gewirth liefern uns jedenfalls Interpretationen der Zumutbarkeitsbedingungen durch ihre Hilfsprinzipien, die, wie wir oben gesehen haben, einen schweren Schaden auf Seiten des potentiellen Hilfs-
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empfängers gegen etwas von moralischer Bedeutung auf Seiten des potentiellen Helfers abzuwägen verlangen. Insofern führt die Frage nach der Vermeidbarkeit von Notlagen zur Frage der Vermeidbarkeit ihrer Ursache zurück.
3.6.2.1 Vermeidbarkeit und Unvermeidbarkeit beim Zustandekommen der Notlage Den Teichfall können wir uns sowohl als vermeidbare wie auch als unvermeidbare Notlage vorstellen. Da es sich um ein kleines Kind handelt, das in den Zierteich gefallen ist, liegt dies im Wesentlichen daran, was wir uns bezüglich der entscheidenden Aufsichtsperson vorstellen. Angenommen, die Mutter war mit einem zweiten Kind schwanger und kurz ohnmächtig geworden. In diesem Zustand konnte sie das Kind nicht daran hindern, in den Teich zu laufen. Ihr Verhalten ist auch nicht moralisch vorwerfbar, weil weder die Regelbedingung noch die Zumutbarkeitsbedingung verletzt sind. Es handelt sich um einen Unfall. Anders verhält es sich, wenn der Vater, der die Aufsichtspflicht hat, gerade MP3Player hört und zudem in ein Buch vertieft ist, sodass er gar nichts davon mitbekommt, dass das Kind in Gefahr gerät. Er hätte das Kind davon abhalten können, in den Teich zu laufen, wenn er die Regelbedingung erfüllt hätte, seine Fürsorgepflicht wahrzunehmen; und dies hätte von ihm als Garant auch verlangt werden können. Man würde also sagen, dieser zweite Fall war nicht unvermeidbar. Es gibt natürlich viele Grenzfälle. Wichtig ist, dass es sich im Teichfall, wenn überhaupt, um individuelles Versagen – und wohl nicht um institutionelles Versagen handelt, wenn das Kind in den Teich fällt.23 Gehen wir also davon aus, dass Notlagen wie der Teichfall zumindest von institutioneller Seite unvermeidbar sind. Denn wie könnte eine Institution vermeiden, dass Kinder in Teiche fallen? Man könnte natürlich in allen Parks Polizisten patroullieren lassen, die prüfen, ob Mütter und Väter auch ihrer Aufsichtspflicht nachkommen. Doch der Preis dafür scheint viel zu hoch. So scheint es auch, dass wir nicht legitimerweise von Institutionen erwarten können, dass sie Situationen wie die Teichsituation durch besondere institutionelle Settings irgendwie ausschließen.
23 Auch hier ist der Übergang fließend. Wenn es bestimmte institutionelle Strukturen gibt, die etwa verlangen, dass alleinerziehende Mütter arbeiten müssen, um sich und ihre Kinder zu ernähren, und sie dabei so überfordert sind, wenn sie gleichzeitig noch alleine auf die Kinder aufpassen müssen, dass sich so mehr Unfälle ereignen als in einem anderen institutionellen Setting, kann man natürlich auch dafür argumentieren, dass hier eine strukturelle Notlage vorliegt. Doch für uns soll der Teichfall für eine zumindest institutionell unvermeidbare Notlage gelten.
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Einwände gegen die Analogiethese
Anders verhält es sich beim Armutsfall. Wenn wir diesen zunächst innerstaatlich betrachten, dann scheint in vielen Fällen ziemlich klar, dass eine andere Güterverteilung möglich wäre, die dazu führen würde, dass keine absolute Armut entstünde. Entsprechend würden auch nicht die aus ihr folgenden akuten Notlagen entstehen. Armut, armutsbedingte Krankheiten und armutsbedingte verfrühte Todesfälle wären also gemäß der Regelbedingung vermeidbar. Kann man legitimerweise von Institutionen erwarten, dass sie solche Notlagen beseitigen? Ist die Zumutbarkeitsbedingung erfüllt? Die Antwort lautet: ja. Institutionen sind, wenn wir eine klassische kontraktualistische Rechtfertigung wählen, nur dann legitim, wenn diejenigen, die ihnen unterworfen sind, ihnen rationalerweise selbst zustimmen können. Und Institutionen, die ein Leben in absoluter Armut zulassen, zu wählen, solange es alternative institutionelle Arrangements gibt, ist nicht rational (vgl. Pogge 2002 b und Pogge 2006; zur Diskussion vgl. Koller 2010 und Kelly/McPherson 2010; zur Kritik an Pogge vgl. Tan 2010).
3.6.2.2 Vermeidbarkeit und Unvermeidbarkeit bei der Behebung der Notlage Die Vermeidung des Todes des Kindes ist offensichtlich für den Passanten in Singers Beispiel ohne Weiteres möglich. Wie sieht es mit der Armut aus? Ist ihr Fortbestehen vermeidbar? Die Frage ist, ob institutionelle Arrangements nicht nur denkbar, sondern auch realisierbar wären, unter denen kein Armutsproblem mehr auftreten würde. Ob es diese gibt, ist letztlich eine empirische Frage. Jedoch ist es für die Zurechnung eines moralischen Fehlers von entscheidender Bedeutung, dass das Fortbestehen einer Notlage vermeidbar wäre, wenn X eingreifen würde bzw. wenn die Institution Y so reformiert würde, dass die Notlage behoben wäre. Davon, dass eine institutionelle Ordnung ungerecht ist, kann man gemäß Thomas Pogges Definition dann sprechen, wenn in ihr Menschenrechte unerfüllt bleiben und es zu ihr eine realisierbare Alternative gäbe, die auch bekannt ist. Unter diesen Umständen wäre nämlich das Unerfülltbleiben von Menschenrechten vermeidbar. Dieser Vorschlag ist sehr plausibel. Er enthält allerdings, da Pogge positive und negative Menschenrechte zum Maßstab nimmt, schon implizit die Forderung nach der Allokation positiver Pflichten. Wenn in einer Ordnung keine negativen Rechte verletzt würden, aber 10% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten, so müsste man diese Ordnung gemäß Pogges Kriterien als ungerecht klassifizieren, wenn es zu ihr eine realisierbare Alternative gäbe, die auch bekannt ist. Armut ginge dann auf ein institutionelles Versagen zurück: auf die Ungerechtigkeit der entsprechenden Institutionen. Wenn es richtig ist, dass es sich beim Teich und bei der Armut um verschiedene Arten von Notlagen handelt, so macht es auch Sinn, verschiedene Arten von positiven Pflichten auf diese Notlagen zu beziehen. Zum einen können
Vier Hilfsmodelle: Fürsorge, Nothilfe, Wohltätigkeit, Solidarität
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wir zwischen Nothilfepflichten, Wohltätigkeitspflichten und Fürsorge- und Garantenpflichten unterscheiden, zum anderen können wir zwischen individuellen und institutionellen Pflichten unterscheiden. Allerdings gibt es einen Übergang: Gerechte Institutionen müssten im Sinne von Pogges Kriterien dafür sorgen, dass Menschenrechte erfüllt werden, und das kann auch die Allokation von positiven Pflichten implizieren. Individuelle Pflichten werden hier erst durch institutionelle Allokation klar bestimmt und effizient. Ich werde diese Pflichten Solidaritätspflichten nennen.
3.7 Vier Hilfsmodelle: Fürsorge, Nothilfe, Wohltätigkeit, Solidarität Anhand der im ersten Teil entwickelten Kriterien der objektiven Bedürftigkeit, der Zuständigkeit, der Zumutbarkeit, der Zulässigkeit und der Aussicht auf Erfolg lassen sich die Probleme von Singers Position nochmals verdeutlichen: Das intuitiv plausible Startbeispiel 1, das Kind im Teich, beschreibt eine klassische Nothilfesituation. Die Pointe ist die zeitliche Begrenztheit der direkten Hilfe, sodass das Kriterium der Zumutbarkeit und das Erfolgskriterium durch die Wiedergewinnung des Status quo ante erfüllt sind. Zuständig wird man hier aus der konkreten Situation heraus – und zuständig bleibt man nur für bestimmte Leistungen, die sich aus dem akuten Notfall ergeben. Der Aufwand bleibt zumutbar, da er nicht eine Änderung des Lebensplans verlangt. Die Übertragung der akuten Notfallsituationen auf den Fall der absoluten Armut erfüllt zwar das Kriterium der Bedürftigkeit, was deren Grad angeht, allerdings nicht, was ihre Art betrifft. Beim Spendenaufruf geht es nicht nur um eine akute, spezielle, sondern um eine permanente, oft auch strukturelle Notlage. Die strukturelle Notlage besteht darin, dass die davon betroffene Person nicht durch ein institutionelles Arrangement gegen Standardbedrohungen geschützt ist. Arme Menschen leben oft in Ländern, die zwar reich an Bodenschätzen sind, die aber von korrupten Eliten regiert werden, die nicht daran denken, ihnen soziale Rechte zu garantieren oder sie politisch partizipieren zu lassen, wodurch ihre permanente Notlage behoben werden könnte. Eben dadurch befinden sich arme Menschen dann zusätzlich in einer strukturellen Notlage. Was wir jetzt erneut sehen, ist, dass die Beispielfälle Teich und Armut nicht analog sind. Hilfe in Bezug auf permanente oder strukturelle Notlagen ist keine Nothilfepflicht. Nothilfepflichten sind die falsche Kategorie, um strukturelle Armutsprobleme zu bewältigen, da sie sich auf akute Notlagen beziehen. Hier reicht die Wiederherstellung des Status quo ante für den Hilfsbedürftigen aus. Bei permanenten oder strukturellen Notlagen muss allerdings erst ein Status quo
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Einwände gegen die Analogiethese
hergestellt werden, der gegen diese Notlagen absichert. Singers und Ungers Problem ist, dass sie die Hilfspflichten gegenüber den Armen in den Entwicklungsländern wie Nothilfepflichten konzipieren. Doch was ist, wenn entsprechende Institutionen nicht bestehen? Haben wir dann nicht Nothilfepflichten gegenüber denjenigen, deren strukturelle Notlage zu immer neuen akuten Notlagen führt? Müssen wir nicht doch, wie Singer und Unger behaupten, helfen, einfach, weil wir dazu in der Lage sind, einige akute Notlagen zu lindern? Wer einmal für zuständig erklärt ist, was den Spendenaufruf der UNICEF betrifft, muss laut Unger immer helfen, auch wenn dabei das Kriterium der Zumutbarkeit überschritten wird. Dieses Kriterium ist aber zentral, denn seine Nichterfülltheit macht die Hilfe im Ausnahmefall einer klassischen Samaritersituation zum Regelfall der Fürsorge: Das Helfen ist für Unger die Aufgabe, der alle anderen Lebenspläne untergeordnet werden müssen. Unter der Hand hat sich die Situation verkehrt. Musste man beim Kind-im-Teich-Beispiel von Singer noch einen Nachmittag lang ausnahmsweise die Arbeit ausfallen lassen, so ist die Hilfe gegenüber den Notleidenden in den Entwicklungsländern bei Unger schließlich zum Lebensinhalt geworden, dem sogar die Berufswahl untergeordnet wird: zum Regelfall. Und die Auferlegung einer solchen Hilfspflicht erscheint uns dann eben selbst als moralisch kontraintuitiv, nicht nur weil sie den Einzelnen überfordert, sondern weil sie seine Autonomie, die selbst moralisch wertvoll ist, erheblich einschränkt. Doch das heißt andersherum nicht, dass wir keine Hilfspflichten angesichts des Weltarmutsproblems hätten. Diese bestehen, doch sie müssen durch entsprechende Institutionalisierung gerecht verteilt werden. Sie sind keine direkten Nothilfepflichten, die sich der Institutionalisierung entziehen, sondern vielmehr Institutionalisierungspflichten. Solange eine Institutionalisierung nicht erreicht ist, ist kompensatorisch der Einzelne durch Wohltätigkeit gefragt, doch es wäre ungerecht zu verlangen, dass er die ganze Last der Hilfe übernimmt. Wir können schließlich zwischen vier verschiedenen Hilfsmodellen unterscheiden: Erstens: das Nothilfemodell. Hier geht es um eine akute Notlage, die (1) eine Ausnahmesituation darstellt. Sie kann sowohl natürliche Ursachen haben (Unfall, Naturkatastrophe) als auch auf die Verletzung von Gerechtigkeitspflichten zurückgehen (Überfall mit Körperverletzung, Mordversuch, Autounfall mit Fahrerflucht). (2) ist die Hilfe für die betreffende Person von (a) begrenzter zeitlicher Dauer und (b) begrenztem Aufwand für den Helfenden. (3) ist deswegen nach der Rettung aus der akuten Notlage in der Regel von Seiten des Helfenden keine weitere Versorgung mehr nötig – es geht hier um Wiedererlangung des Status quo. Kann dieser nicht wieder erreicht werden, tritt die Frage nach der gerechten Verteilung der Last der Hilfe auf: Wer ist zuständig, wenn das Unfallopfer eine
Vier Hilfsmodelle: Fürsorge, Nothilfe, Wohltätigkeit, Solidarität
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aufwändige ärztliche Behandlung braucht oder zum Pflegefall wird? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir das Hilfsmodell wechseln. Zweitens: das Fürsorgemodell. Hier geht es um eine permanente Notlage, die (1) für die davon Betroffenen den Regelfall darstellt. (2) müssen sich die Helfenden (a) für einen längeren Zeitraum (mehrere Jahre) und (b) mit großem Aufwand für die Betroffenen einsetzen. (3) geht es hier nicht um die Wiedererlangung, sondern die Erlangung der Möglichkeit zur Selbstversorgung oder um deren stellvertretende Wahrnehmung. Dieses Modell ist hauptsächlich durch spezielle Pflichten realisierbar, die etwa Eltern gegenüber ihren Kindern oder Kinder gegenüber ihren Eltern haben. Die Zumutbarkeitsgrenze kann hier recht hoch liegen, doch dafür geht das Modell von spezieller Zuständigkeit aus. Drittens: das Wohltätigkeitsmodell. Hier handelt es sich sowohl um akute Notlagen (z. B. als Resultat von Naturkatastrophen) als auch um permanente Notlagen, indem durch Spenden die Not zeitweise gelindert wird. Eine Ursachenbekämpfung findet aber nicht notwendig statt. In der Regel orientiert sich dieses Modell an einer individuell verschiedenen Zumutbarkeitsgrenze. Zuständig ist man je nach eigener Einschätzung, wo die Hilfe besonders gebraucht wird. Eine klare Zuständigkeit ist jedoch nicht herstellbar. Dadurch unterscheiden sich Nothilfepflichten von W2-Wohltätigkeitspflichten. Viertens: das Solidaritätsmodell. Dieses legt einen Mindeststandard für die Versorgung mit notwendigen Gütern für alle fest. Eine permanente Notlage kann man als das Sinken unter diesen Standard verstehen. Um dies zu vermeiden, werden die Lasten der Hilfe durch Institutionalisierung gerecht verteilt (wie z. B. bei der gesetzlichen Krankenversicherung). Hier geht es nicht um eine individuelle, sondern kollektive Hilfspflicht, die – aus Sicht des Einzelnen betrachtet – zwischen den anderen Modellen liegt: Die Belastung für den Einzelnen ist u. U. permanent, doch zumutbar. Wenn man das Solidaritätsmodell als ein Lastenverteilungsmodell versteht, dann muss die Frage der Zumutbarkeit gemäß dem gerechten Beitrag, den der Einzelne bringen muss, um eine allgemeine Absicherung gegen Standardfälle von Notlagen zu erreichen, beantwortet werden. An dieser Stelle geht es dann nicht mehr um die Frage, wie viel jeder spenden sollte, sondern darum, wie viel Last jedem legitimerweise von institutioneller Seite auferlegt werden darf. Zuständig für die Absicherung aller gegen Standardfälle von Notlagen sind in der Regel alle Gesellschaftsmitglieder. Falls es allerdings universale soziale Menschenrechte gibt, die jedem einen Anspruch auf ein Existenzminimum zusprechen, in bestimmten Gesellschaften aber keiner bereit ist, die entsprechenden Pflichten zu übernehmen, stellt sich die Frage, ob hier nicht andere einspringen müssen. Die Frage ist in diesem Fall aber nicht nur, ob man ein Recht auf Hilfe in der Not hat, sondern ob man ein Recht auf Subsistenz hat. Eine weitere Frage
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Einwände gegen die Analogiethese
ist, ob sich dadurch auch ein Recht auf Institutionen ergibt, die einen gegen strukturelle Notlagen absichern.24 Eine Anschlussfrage ist, wer die Pflicht hat, solche Institutionen zu schaffen, sofern es sie noch nicht gibt. Sind Individuen aus westlichen Ländern z. B. dafür zuständig, in Bangladesch Institutionen zu schaffen, die eine Absicherung gegen Armut und armutsbedingte Krankheiten gewährleisten würden? Es ist fraglich, ob einzelne Individuen überhaupt dazu in der Lage sind, so etwas zu erreichen. Gibt es keine Institutionen, die eine gerechte und zugleich obligatorische Lastenverteilung erwirken, bleibt für die individuelle Hilfe gegenüber den von Armut Betroffenen nur das Wohltätigkeitsmodell, in Form von W2-Wohltätigkeitspflichten, die sich zwar auf notwendige Güter beziehen, aber unterbestimmt sind, übrig. Dabei muss man die Wohltätigkeit durchaus nicht als pflichtüberschreitende, freiwillige Leistung interpretieren, sondern aus einer Kantischen Perspektive kann man sie durchaus als eine zwar unvollkommene, aber doch moralisch zwingende Pflicht verstehen. Wir können folgendes Zwischenergebnis festhalten. Erstens: Zwischen dem Teichfall und dem Armutsfall besteht der Hauptunterschied in der Art der Notlage. Beim Teichfall handelt es sich um eine akute Notlage, beim Armutsfall um eine permanente oder strukturelle Notlage. Gegenüber der akuten Notlage im Teichfall ist das Samaritermodell angemessen. Es zeigt, dass wir über die Grenzen von separation bezüglich Gruppenzugehörigkeit hinweg zur Hilfe bereit sind und auch einen gewissen Aufwand in Kauf nehmen. Ein Teil dieses Aufwandes kann durch Institutionalisierung auf mehrere Schultern gerecht verteilt werden. Hier kommt das Element der Solidarität (z. B. in Form der gesetzlichen Krankenversicherung) ins Spiel. Sie reduziert die helfende Handlung auf ein zumutbares Maß für den Einzelnen. Gleichwohl zeichnen sich akute Notlagen dadurch aus, dass es zu ihnen auch trotz der angemessensten Institutionalisierung kommen kann. Das liegt vor allem an ihrer Unvorhersehbarkeit. Ein Unfallopfer muss immer noch ins Krankenhaus gebracht oder der Krankenwagen gerufen werden. Erforderlich ist dann aber nur die Erste Hilfe. Umgekehrt folgen strukturelle Notlagen aus mangelnder Institutionalisierung. Menschen, deren soziale Rechte nicht abgesichert sind, und die arm sind, leiden daran auch in Form von immer wieder auftretenden akuten Notlagen. Doch diese können nicht im Sinne einer Wiedergewinnung des Status quo ante ohne Notlage behoben werden. Die strukturelle Notlage muss durch etwas Anderes als durch das Samaritermodell behoben werden. Auch Wohltätigkeit kann hier nur lindern. Sie ist nicht darauf
24 In diesem Sinne macht etwa Thomas Pogge § 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stark: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung aufgeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können“ (vgl. Pogge 2002 b).
Fazit des dritten Kapitels
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ausgerichtet, die Ursachen der strukturellen Notlage zu beheben. Dem Wohltätigkeitsmodell geht es um eine Pflicht speziell der Reichen, ein gewisses Maß an Großzügigkeit walten zu lassen, das sich bei Singer an der Zumutbarkeitsgrenze der 10% orientiert. Das Ende der Hilfe ist allerdings im Wohltätigkeitsmodell nicht durch die (Re)etablierung des Status quo für den Hilfsbedürftigen (wie bei akuten Notlagen) – oder die Etablierung eine Status quo ohne Notlage (wie bei strukturellen Notlagen) – gekennzeichnet, sondern durch das Erreichen der Grenze der Zumutbarkeit (auch, wenn der Hilfsbedürftige noch keinen Status quo erreicht haben sollte, der seine strukturelle Notlage behebt). Wohltätigkeit ist also möglicherweise nicht nachhaltig, sie orientiert sich nicht notwendig an der Bekämpfung der Ursachen von Notlagen. Bei der Ursachenbekämpfung kann das Solidaritätsmodell eine Rolle spielen: Die Hilfe orientiert sich an der Gewinnung eines Status quo ohne Notlage und geht davon aus, dass die Lasten der Institutionalisierung der Hilfe gerecht verteilt werden müssen. Das Problem bei Singer und Unger ist, dass sie die verschiedenen Hilfsmodelle implizit auf eine ungünstige Weise vermischen. Ihre Startbeispiele, das ertrinkende Kind und das Unfallopfer, beziehen sich auf Nothilfe- oder Rettungspflichten, wie sie im Samaritermodell vorkommen. Singer wählt dann in Bezug auf das Weltarmutsproblem aber das Wohltätigkeitsmodell als Lösungsansatz, das sich nicht primär an der Bedürftigkeit, sondern an der Zumutbarkeit für den Geber orientiert. Hier geht es um die moralische Pflicht der Reichen, etwas abzugeben, um die Not der Armen zu lindern. Allerdings impliziert dieses Modell keine Ursachenbekämpfung im Fall struktureller Notlagen. Es führt nicht zu einer Absicherung der Rechte derjenigen, die von strukturellen Notlagen betroffen sind. Unger dagegen verschiebt die Zumutbarkeitsgrenze so weit, wie wir es nur vom Fürsorgemodell her kennen. Den eigenen Lebensplan würde man vielleicht ändern müssen, um seinen eigenen Kindern zu helfen oder seine eigenen Eltern zu pflegen, doch ist dieses Maß an Hilfe für Fremde sicherlich nicht zu erwarten, zumal wir gegenüber diesen eben auch keine Fürsorgepflichten haben. Das geeignetste Modell, um mit permanenten oder strukturellen Notlagen zurechtzukommen, scheint das Solidaritätsmodell zu sein. Dieses fokussiert allerdings nicht auf die individuellen Samariterpflichten, sondern setzt auf eine kollektive Lastenverteilung bei der Etablierung eines Status quo ohne Notlage durch die Absicherung von sozialen Rechten.
3.8 Fazit des dritten Kapitels In diesem Kapitel habe ich zu zeigen versucht, dass sich der Teichfall und der Armutsfall in mehreren moralisch relevanten Hinsichten unterscheiden. Dabei
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Einwände gegen die Analogiethese
bin ich davon ausgegangen, dass Distanz an sich für die Bewertung der Fälle keinen moralisch relevanten Unterschied macht. Vielmehr ist Nähe vs. Distanz in der Regel mit anderen moralisch relevanten Faktoren gekoppelt. Erstens unterscheiden sich die Fälle hinsichtlich der Zuständigkeit. Während diese im Teichfall klar ist, da nur ein potentieller Helfer zur Verfügung steht, ist sie im Armutsfall diffus, da es unzählige potentielle Helfer sowie unzählige Hilfsbedürftige gibt. Genauer gesagt unterscheiden sich die Fälle im Hinblick auf die Bestimmtheit vs. Unbestimmtheit der Zuständigkeit (vgl. Kapitel 3.1). Ferner unterscheiden sie sich im Hinblick auf die Bestimmtheit vs. Unbestimmtheit der Zurechenbarkeit einer unterlassenen Hilfeleistung.25 Darüber hinaus unterscheiden sich die Fälle im Hinblick auf die Bestimmtheit vs. Unbestimmtheit der Art der Hilfeleistung bzw. der jeweiligen Mittel der Hilfe. Im Teichfall ist klar, was der Passant zu tun hat, um das Kind zu retten, im Armutsfall ist nicht klar, was wer zu tun hat, um wen zu retten. Zweitens unterscheiden sich die Fälle im Hinblick auf die Zumutbarkeit der jeweiligen Pflichtübernahme. Außerdem sind die Notlagen der Art und Ursache nach verschieden (vgl. Kapitel 3.6), so dass sich auch verschiedene Erfolgsaussichten für die individuelle Hilfe ergeben. Eine moralisch zentrale Analogie zwischen den Fällen bleibt allerdings bestehen: Auch wenn die Art der Notlage verschieden ist, so bleibt doch der Grad der Notlage gleich. Es handelt sich in beiden Fällen um objektive Bedürftigkeit, aus der ein moralischer Anspruch auf Hilfe entsteht. Allerdings folgt daraus nicht schon ein Recht auf Hilfe, sofern nicht auch die Bedingungen der Zuständigkeit, Zumutbarkeit, Zulässigkeit und Aussicht auf Erfolg beim potentiellen Hilfeleister erfüllt sind. Daraus ergibt sich, dass im Teichfall eine Nothilfepflicht des Passanten vorliegt, auf die das Kind ein Recht hat (vgl. Kapitel 2.9), wohingegen diese Bedingungen im Armutsfall nicht erfüllt sind. A hat weder die Nothilfepflicht einen, noch alle Armen zu retten, noch hat jeder einzelne Arme gegenüber A ein Recht darauf, gerettet zu werden.
25 So kann man auch die Einschätzung von McKinsey verstehen: „But the relationship between each starving person and each member of an affluent society who can help that starving person is seriously disanalogous to that which exists in the life-saving case between the drowning person and the one who can save him. For unfortunately, there is not just one, but there are many thousands of starving persons each of whom any member of an affluent society is in a position to save. The actual situation regarding world hunger is thus more closely analogous to one in which a good-sized ship with several hundred persons on board is sinking, and I am close by in my rowboat which holds eleven persons at most. I can save only ten persons of the hundreds who are drowning, and so […] it is clear that there is no particular drowning person whom I am obligated to save“ (McKinsey 1981, 312).
Fazit des dritten Kapitels
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Der Vorschlag zur Bestimmung individueller positiver Pflichten gegenüber den Armen, der sich aus Kapitel 3 ergibt, baut auf der in Kapitel 2 entwickelten Unterscheidung zwischen zwei Arten von Wohltätigkeitspflichten auf: W1-Wohltätigkeitspflichten sind Pflichten, die sich auf die Bereitstellung nichtnotwendiger Güter beziehen. W2-Wohltätigkeitspflichten sind Pflichten, die sich auf die Bereitstellung notwendiger Güter beziehen und gleichzeitig jenseits der Zuständigkeit des Akteurs liegen, deren Ausführung aber die Zumutbarkeitsgrenze nicht überschreitet.
Es handelt sich dann im Armutsfall um eine W2-Wohltätigkeitspflicht. Dabei kommt es für die Festlegung der Zumutbarkeitsgrenze auf die jeweilige Hintergrundtheorie an, die man vertritt. Eine Wohltätigkeitspflicht ist eine moralische Pflicht, die dem Akteur sehr viel abverlangen kann, wenn man Kantianerin, Utilitarist oder eine Anhängerin der Lehren eines Thomas von Aquin ist. Denn dann ist zwar immer noch offen, wem wir wann helfen sollen, doch klar ist, dass wir angesichts der nicht enden wollenden Bedürftigkeit auf der Welt helfen müssen, bis es uns selbst an die notwendigen Güter geht. Gleichwohl sind diese Pflichten keine Rechtspflichten, für deren Missachtung man bestraft werden dürfte, was daran liegt, dass sie zu unbestimmt sind. Dies ist allerdings ein empirischorganisatorisches und kein prinzipielles Problem. W2-Wohltätigkeitspflichten haben, da sie auf notwendige Güter bezogen sind, das Potential, zu starken positiven Pflichten zu werden, sobald sie bestimmt sind. Dies kann zum einen durch Institutionalisierung geschehen. Zum anderen können individuelle positive Pflichten, die auf notwendige Güter bezogen sind, dadurch stark werden, dass sie bestimmt sind. Die Bestimmtheit von Pflichten kann sich abhängig von institutionellen und epistemischen Rahmenbedingungen verändern. Wer als Supererogationistin die Position vertritt, dass alles, was jenseits der Zumutbarkeitsgrenze liegt, supererogatorisch ist, kann W2-Wohltätigkeitspflichten auch als supererogatorische Handlungen verbuchen. Je nachdem, in welchem Ausmaß diese ausgeübt werden, kann dann sogar Heiligensupererogation vorliegen, wenn jemand wirklich so viel hilft, wie die klassischen moralphilosophischen Positionen es vorschlagen. Zu denken gibt jedoch die Überlegung, dass einer solchen Wohltätigkeit in Bezug auf das Weltarmutsproblem nicht unbedingt Aussicht auf Erfolg beschieden ist. Im Zweifelsfall lindert sie nur, statt das Strukturproblem zu beseitigen, das zur Armut führt. In einer schlimmeren Version ist sie kontraproduktiv, schafft Abhängigkeiten, demütigt und ist selbst Ursache neuer Strukturprobleme. Wie stark diese Argumente sind, kann hier nicht geklärt werden, das ist eine empirische Frage, die einer eingehenden eigenen Untersuchung bedarf. Deutlich wurde jedoch, dass, wenn es richtig ist, Armut als institutionell verursachtes Problem zu begreifen, dieses auch einer institutionellen Lösung
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Einwände gegen die Analogiethese
bedarf. Pogges Argument, dass wir als Individuen der reichen Länder zu dieser Notlage beitragen und deswegen Kompensationspflichten haben, um sie aus der Welt zu schaffen, ist nur teilweise überzeugend, da die individuellen Pflichten, die aus seiner Position folgen, genauso unterbestimmt bleiben wie unsere W2Wohltätigkeitspflichten. Ferner scheint das Kompensationskonzept nicht bis auf die Ebene individueller Mitläufer in den reichen Ländern sinnvoll anwendbar. Die Schädigungen, auf denen das Kompensationsmodell beruht, sind nicht eindeutig zurechenbar, ferner sind sie, sofern es keine zumutbaren Handlungsalternativen gibt, individuell unvermeidbar.
4 Schlussbemerkung Im Laufe meiner Auseinandersetzung mit positiven Pflichten hat sich ergeben, dass diese nicht, wie oftmals in der philosophischen Tradition behauptet, generell schwach sind. Ihr Stärke- und Bestimmtheitsgrad kann abhängig von empirischen Faktoren wie institutionellen Rahmenbedingungen, epistemischen Rahmenbedingungen und zumutbaren Handlungsalternativen variieren. Es gibt echte positive Pflichten, die stark sind, wenn sie dem Kriterium der objektiven Bedürftigkeit des Empfängers, und auf der Geberseite den Kriterien der Zumutbarkeit, der Zuständigkeit, der Zulässigkeit und der Aussicht auf Erfolg entsprechen. Ein Paradefall dafür ist Singers Teichfall. Hier handelt es sich um eine starke Nothilfepflicht. Gleichwohl sind der Armutsfall und der Teichfall nicht analog, sie unterscheiden sich in zu vielen moralisch relevanten Hinsichten voneinander. Da Armutsbekämpfungspflichten zwar auf notwendige Güter beim Empfänger bezogen sind, aber zumeist im Hinblick auf die anderen Kriterien unterbestimmt bleiben, sind sie bloß schwache Pflichten. Das ist im Hinblick auf die Debatte um das Weltarmutsproblem ein sehr unbefriedigendes Ergebnis. Andere Versuche, die Pflichten gegenüber den von Armut Betroffenen als starke Pflichten zu konzipieren, sind allerdings ebenfalls nicht überzeugend, wenn die Bestimmtheit ein zentrales Kriterium für die Stärke einer Pflicht ausmacht. Denn auch Thomas Pogges Versuch, die (positiven) Pflichten zu Hilfs- und Reformanstrengungen in Bezug auf eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung als Verpflichtungen zu begreifen, die sich aus der Verstrickung der BürgerInnen der reichen Staaten in diese ungerechte Ordnung, und insofern aus der Verletzung (starker) negativer Pflichten ergeben, krankt daran, dass beide Pflichtarten unterbestimmt sind. Iris Marion Young (2006) hat hier zwischen einem Haftungsmodell von Verantwortung, das retrospektiv für klar zuweisbare individuelle Schädigungen kompensiert, und einem Modell der sozialen Verbundenheit unterschieden. Ebenso wie Pogge vertritt sie die plausible These, dass wir als BürgerInnen der reichen und mächtigen Staaten in die Gestaltung einer ungerechten globalen Ordnung verstrickt sind und als KonsumentInnen von ungerechten Produktionsbedingungen, etwa von der Produktion preiswerter Textilien in Sweatshops, profitieren. Anders als Pogge entwirft sie jedoch ein das Haftungsmodell ergänzendes Modell prospektiver Gestaltungsverantwortung, das diejenigen, die durch den Kauf der Produkte in den Produktionsprozess verstrickt sind, die als BürgerInnen reicher und einflussreicher Demokratien Gestaltungsmacht haben und diejenigen, die Privilegien genießen, mit der Verpflichtung, die ungerechte Ordnung durch politische Aktionen des Boykotts oder der Aufklärung ungerechter Produktionsverhältnisse zu verändern, belegt. Allerdings ist auch diese Verpflichtung im Lichte der hier vertretenen Konzeption als
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Schlussbemerkung
schwach anzusehen, da sie sowohl in den Faktoren, die ihr Zustandekommen beschreiben, als auch im Hinblick auf die Handlungen, die Verantwortungsübernahme als Verpflichtung realisieren können, unterbestimmt bleibt. Ein Ausweg bietet sich darin, die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Pflichten nicht als kategorial, sondern als Kontinuum zu verstehen. Pflichten, die auf grundlegende Güter bezogen sind, haben das Potenzial, starke Pflichten zu werden, wenn sich ihr an empirische Faktoren gebundener Bestimmtheitsgrad ändert. Die Aufgabe besteht dann darin, schwache Pflichten stark zu machen, indem man ihren Bestimmtheitsgrad erhöht. Dies kann aber selbst nicht Gegenstand einer starken Pflicht sein. Vielmehr wird es VorreiterInnen geben, die mehr tun, als es ihre klar bestimmbare, starke Pflicht wäre. Ihre Handlungen sind nicht im engeren Sinn supererogatorisch, da sie weder bloß auf nichtnotwendige Güter bezogen sind (Handlungssupererogation) noch notwendigerweise den Einsatz des eigenen Lebens oder die Aufgabe eigener Ziele fordern (Helden- oder Heiligensupererogation). Gleichwohl ist die Erfüllung unterbestimmter, aber auf notwendige Güter bezogener Pflichten lobenswert, da sie jenseits dessen liegt, was wir klarer- und eindeutigerweise voneinander fordern können. Solche exemplarischen Handlungen, die etwa zur Aufklärung der Öffentlichkeit über ungerechte Produktionsbedingungen von Konsumgütern führen, können gleichwohl den Bestimmtheitsgrad auf notwendige Güter bezogener positiver Pflichten verändern. Sie zeigen zum einen, dass und inwiefern konkrete Produktionsverhältnisse ungerecht sind. Ferner zeigen sie, wie es möglich ist, etwa durch Boykott, erfolgreich ungerechte Produktionsbedingungen zu verändern. Je mehr Menschen ihre schwachen Pflichten ernst nehmen, desto stärker werden die Pflichten der anderen, die ihnen aufgezeigten Möglichkeiten zu nutzen und ungerechte Verhältnisse zu verändern. Wie genau es gelingen kann, Pflichten stark zu machen, bedarf weiterer Untersuchung. Alternativ kann man sich fragen, ob der Pflichtbegriff überhaupt geeignet ist, um mit dem Weltarmutsproblem angemessen zurechtzukommen. Es kann sein, dass sich eine Verantwortungskonzeption im kritischen Anschluss an Young als tragfähiger erweist. Aber auch dies bedarf weiterer Untersuchung in Bezug darauf, wie sich der Pflichtbegriff vom Verantwortungsbegriff unterscheidet und wie man denselben so auslegen kann, dass daraus klarer bestimmte Handlungen folgen, als dies mit den gegebenen Mitteln einer Konzeption positiver Pflichten erreicht werden kann. Der Pflichtbegriff weist dort Grenzen auf, wo seine Stärke gerade darin zu verorten ist, dass er Handlungsalternativen klar und eindeutig bewertbar macht. Der Verantwortungsbegriff scheint hier mehr Raum für individuell zuschreibbare Handlungsspielräume zu eröffnen, deren Relevanz in Bezug auf die normative Stärke dessen, was wir voneinander erwarten können, genauer geprüft werden müsste. Weiterhin gilt es zu untersuchen, welche Rolle ungerechte Institutionen
Schlussbemerkung
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und nicht-ideale Bedingungen für die normative Stärke von individuellen Verpflichtungen spielen. Denn das Individuum ist unter den gegebenen nicht-idealen Bedingungen einerseits relativ machtlos, andererseits sind individuelle Handlungen, die sich auf eine Reform ungerechter Institutionen richten, unter nicht-idealen Bedingungen oftmals die einzige Hoffnung zur Bekämpfung des Weltarmutsproblems und zu einem Menschenrechtsfortschritt.
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Begriffsregister Achtung 72, 92, 127, 142, 146 ff., 176 Akteurssupererogation 3, 29 ff., 36 f., 43, 46, 52, 54, 58, 69, 117 ff., 200 Aktivitätskriterium 11, 15 f., 18 Analogiethese 2, 5, 7, 161 f., 165, 168, 197, 201, 212 Anspruchskriterium 12, 19, 27, 31 Armutsfall 2, 5, 9, 118 f., 141, 157, 159, 161 ff., 165 ff., 173 f., 183, 190, 194 f., 201, 213 f., 221 ff., 229, 234, 238 ff., 243 Aussicht auf Erfolg 4, 6, 7, 9, 50, 60, 94, 117 f., 120, 152, 157, 159, 161 f., 167, 184, 205, 212, 219 ff., 230, 235, 240, 241, 243 Autonomie 44, 129, 141 ff., 155, 173, 201, 206 f., 210, 236 Barmherzigkeit 38 f., 177, 209 f. Bedürfnisthese 35 Bedürftigkeit 7, 35, 40 f., 43, 48, 50, 143, 165, 184, 207 f., 239, 241 – objektive 4 f., 42, 45, 53, 60, 68, 94, 144, 147, 152, 154, 161, 190, 192, 203 f., 217, 219, 235, 240, 243 – seinwand 129, 141 f. – subjektive 144, 146 Demütigung 206, 165 Distanz – Nähe 9, 104, 168 f., 173, 183, 185 ff., 189, 191, 203, 240 Dringlichkeit 19, 20, 60, 87, 93 Easy rescue 33, 46, 104, 107, 153, 201, 223 f. Effizienz 122, 152, 165, 169, 174 f., 180 f., 220 Eigentum 7, 41, 50, 87 f., 114, 118, 121, 123, 127 f., 158, 167, 205, 211 ff., 227 Erzwingbarkeit 12 f., 15 f., 19, 21, 29, 53, 60 f., 81, 84, 215 Fremder – Mitbürger (siehe Mitbürger – Fremder) 50, 102, 168 f., 172 ff., 180 ff.
Freundlichkeitssupererogation 28, 32, 116 Fürsorgepflichten 7, 15, 17 f., 20, 29, 44, 47 ff., 51, 54, 60, 64 f., 103, 105 f., 115 ff., 119, 138, 168, 172, 175 ff., 180, 201, 233, 235, 237 Garantenpflicht 15 ff., 27, 29, 35, 44, 48, 55, 64, 71, 106 f., 115, 131 Gemeinschaft 176, 178 ff. Gemeinwohl 40 Gerechtigkeitspflicht 4, 9, 29, 40, 69 f., 77 f., 89, 95, 111 ff., 118 ff., 123, 125 ff., 137, 151, 158 f., 168, 215, 236 Gesinnungsverdienst 88 f. Grundbedürfnisse 177, 217 ff. Gütekriterium 22 ff. Güter – grundlegende 3 ff., 44, 110 ff., 115, 118, 125, 147, 152, 155, 157 ff., 222, 244 – notwendige 43 ff., 60, 94, 111, 116 ff., 123, 130, 152, 154 f., 157, 159, 190, 208, 218, 237 f., 241, 243 f. Handeln (siehe auch Tun und Unterlassen) 97, 113, 139, 141 Handlungssupererogation 5, 29, 31 ff., 36 f., 42 f., 69, 116, 119, 244 Heiligensupererogation 24 f., 29, 33, 44, 66, 79, 116, 196 f., 200, 204, 241 Heteronomie 62 ff., 113, 115, 173 Hilfe – normative Definition von 154 – Recht auf 7, 20, 38, 41 f., 61, 88, 116, 124, 128 ff., 134 ff., 141, 144, 148, 156 f., 159, 161, 190, 208, 212, 218, 237, 240 Hilfspflicht IX, 2 f., 7, 9, 20, 35 f., 41 f., 45 ff., 50 f., 57, 59, 68, 94, 125 f., 140, 144, 152, 154, 161, 168 f., 183 f., 193, 198, 218, 226, 230, 236 Hilfsprinzip 148, 151 f., 155, 157, 169, 200, 232 Institutionalisierungspflicht 163, 236 Instrumentalisierungsverbot 140, 151
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Begriffsregister
Kategorischer Imperativ 79, 89 f., 139, 150 Kompensationspflicht 9, 108, 114, 168, 173, 225 ff., 242 Kosten 24, 49, 51, 58, 63, 113, 115, 135, 153, 172, 201 ff., 212 f., 218 Lebensplan 44, 52, 63, 155, 200 f., 205, 235, 239 Legitimitätsbedingung 232 Leistungsverdienst 88 Manifest-Rechte 129 ff., 136 f., 145 Menschenrecht IX, 44, 130, 163, 224 f., 227 ff., 235 Mitbürger – Fremder 102, 168 f., 172 ff., 178, 180 ff. Motivationsthese 174 f. Nähe – Distanz (siehe Distanz – Nähe) 9, 104, 168 f., 173, 183, 185 ff., 189, 191, 203, 240 Nicht-Schädigung 125, 154 Nicht-Verpflichtungskriterium 22 Nothilfepflicht 3 ff., 7, 20, 57, 60, 64, 66 f., 68, 88 f., 93, 95, 114 ff., 123, 136 f., 156 f., 159, 161, 163, 167 f., 178, 190, 194, 197, 203, 235 f., 243 Notlage – akute 6, 9, 51 f., 92, 116, 144, 151, 163, 183 f., 193, 203, 210 ff., 216, 222 ff., 229, 236 f. – permanente 208, 214, 222 ff., 235, 237 ff. – strukturelle 6 f., 183 f., 222 ff., 227, 229, 231, 235 f., 238 f. Overridingness-Kriterium 12, 57, 63 Parteilichkeit 122, 174, 178, 180 f. Patriotismus 179 f., 199 Pflichten – individuelle 4, 6 f., 9, 42, 68, 73, 93, 161, 163, 165, 169, 174, 184, 193, 203, 218 ff., 230, 235, 239 – positive, negative – gütertheoretische Unterscheidung 4, 69, 110 ff., 119, 151 ff., 158
– handlungstheoretische Unterscheidung 95 f., 98 f., 101, 104, 108, 110, 113, 119 – konsequentialistische Unterscheidung 99 ff. – normative Unterscheidung 101 f., 104 – starke, schwache 69, 77, 79, 95, 110 f., 118 f., 126, 158, 229, 241, 244 – unvollkommene, vollkommene 70, 73 ff., 81, 84, 89, 129, 190 – vorverhaltensabhängige und – unabhängige 17 f., 31, 35, 40, 44 f., 48, 59 ff., 63 f., 94, 115, 119, 146, 158, 173 Prioritätsthese 4, 10, 19, 62, 88, 98 f. Rechtskriterium 12, 61 Rechtspflicht 4, 21, 68, 70, 72 f., 75, 79, 81–87, 120, 122, 158, 241 Regelbedingung 232 ff. Rettung 18, 20, 25, 33, 37, 53, 57 ff., 128, 133, 137, 141, 167, 212 f., 219, 222 Revisionsthese 2 Robin-Hood-Prinzip 205, 211 Samariter 34, 47–55, 60, 135, 210, 214, 216 – pflicht 6, 202 Schädigung 16, 64, 103 f., 106 f., 113 ff., 227, 229, 243 Schadensverhinderungsprinzip 1, 169, 171 Sittengesetz 89 Social justice issue 166 f., 169, 183, 214 Solidarität(spflicht) 6 f., 156, 163, 182, 229, 235, 237 ff. Spende 2, 25, 57 f., 116, 118, 159, 161 ff., 165, 167, 170 f., 182, 192, 194, 200 ff., 209, 220, 235 ff. Staat 123, 148, 167, 177 ff., 209 f., 214, 218 Status quo 16, 50 ff., 117, 163, 211, 222 f., 235 f., 238 f. Steuern 16, 131, 167, 182, 195, 214 Supererogation 11, 22, 26, 69, 75 – seinwand 3 f., 9, 11 f., 14 ff., 18 f., 47, 60 – sgrenzen 34 f., 42 ff., 47 f., 56, 111, 192 – sthese 3, 10 f., 93 – Erwartungs- 47 f., 51, 53, 55, 204 – objektive 47 f., 53 f., 55, 204 Sympathie 175
Begriffsregister
Teichfall 2, 5, 10, 59 f., 79, 94, 118, 132 f., 137, 141, 159, 161 ff., 165 f., 169, 182, 190, 223 f., 229, 233, 238, 240, 243 Tugendpflicht 4 f., 19 ff., 67 ff., 79, 81 ff., 86, 87 f., 94, 114, 116, 158 Tun (i. Ggs. zu Unterlassen) 14 f., 68, 79, 95 ff., 104 f., 125, 139 Überforderung(seinwand) 2, 63, 65, 67, 94, 113 f., 120, 129, 136 f., 155 f., 201 Ungerechtigkeit 121 ff., 163, 234 Unterbestimmtheit 82, 130 f., 133 f., 162, 173, 178 Unterlassen 14 f., 41, 68, 77, 79, 95 ff., 103 ff., 109, 113, 125, 132, 139, 141, 220, 228 f. Unterlassene Hilfeleistung 3, 7, 13, 17, 20, 46, 50, 60, 74, 90, 92, 121, 133, 146, 162 f., 181, 192 ff., 214, 226, 229, 240 Unvermeidbarkeit – Vermeidbarkeit 231, 233 f. Verantwortung 51, 53, 66, 102, 108, 134, 172, 187, 194, 208, 232, 243 Verbesserungskriterium 11 f., 15 f., 18 Vergeblichkeitsargument 219 Vermeidbarkeit – Unvermeidbarkeit 231, 233 f.
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Verursacherthese 228 f. Verurteilbarkeitskriterium 12 f., 15 ff., 21, 60 Weltarmut(sproblem) 1, 45, 62, 136, 161, 163, 169, 206, 222, 226, 231, 241, 243 Wohlfahrtsgesellschaft 209 f. Wohltätigkeit – W1- 5, 118, 152, 159, 163, 190, 241 – W2- 5, 118, 157, 159, 162, 190, 197, 203, 215, 229, 230, 237, 241 – sgesellschaft 209 f. – spflicht 3–8, 20 f., 60 ff., 65 ff., 92, 95, 110 ff., 113, 115–120, 137, 142, 157 f., 161 f., 168, 178, 190, 237, 241 – sthese 1, 9, 66, 161 Würde 44, 149 f., 225 Zulässigkeit 4, 7, 50, 94, 120, 152, 156, 159, 162, 205, 210, 213 f., 235, 243 Zumutbarkeit 4, 7, 9, 19, 25, 45 f., 50 f., 60, 93, 117, 120, 152, 156, 161, 166, 187, 192, 195 f., 200 ff., 204, 218, 228, 232, 235, 239 ff. Zurechenbarkeit 4, 50, 184, 192 ff., 228, 232, 240 Zuständigkeit 4, 7, 18, 50 f., 60, 76, 94, 107, 114, 117 f., 120, 152, 156, 159, 161, 165 f., 168 f., 171 ff., 183 f., 188, 190, 204, 237, 240 f.